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Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

2017
978-3-8233-9125-8
Gunter Narr Verlag 
Herbert Huesmann

Die vorliegende Studie ist die erste Monographie über das gesamte Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Da Wajsbrot mehrfach die Bedeutung von Orten und Räumen für ihr Erzählen betont hat, konzentriert Huesmann seine kontextualisierenden Analysen, in denen er hermeneutische und semiotische Methoden integriert, auf die Aspekte "Raum und Bewegung". Aufgrund persönlicher Konflikte, der Nachwirkungen des II. Weltkriegs, des Holocaust und des Verlustes der Heimat oder aber in der Auseinandersetzung mit der Kunst bewegen sich die handelnden Figuren der inhaltlich und formal ansonsten sehr unterschiedlichen Romane stets in einem Raum zwischen zwei Welten.

lendemains Die vorliegende Studie ist die erste Monographie über das gesamte Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Da Wajsbrot mehrfach die Bedeutung von Orten und Räumen für ihr Erzählen betont hat, konzentriert Huesmann seine kontextualisierenden Analysen, in denen er hermeneutische und semiotische Methoden integriert, auf die Aspekte „Raum und Bewegung“. Aufgrund persönlicher Konflikte, der Nachwirkungen des II. Weltkriegs, des Holocaust und des Verlustes der Heimat oder aber in der Auseinandersetzung mit der Kunst bewegen sich die handelnden Figuren der inhaltlich und formal ansonsten sehr unterschiedlichen Romane stets in einem Raum zwischen zwei Welten. edition lendemains 43 ISBN 978-3-8233-8125-9 Herbert Huesmann Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots Herbert Huesmann Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots Eine literarische Suchbewegung Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots edition lendemains 43 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) Herbert Huesmann Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots Eine literarische Suchbewegung Umschlagabbildung: Caspar David Friedrich, Nordische See im Mondlicht, 1823-1824 Photographs © National Gallery in Prague 2017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8125-9 Für M. J. A. 15 19 1 21 1.1 22 1.2 24 1.3 30 1.4 38 2 40 2.1 41 2.2 48 2.3 57 59 1 61 1.1 61 1.2 68 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cécile Wajsbrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung des literarischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums . . . . . . . Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi . . . . . . . . . . . . . . . . ZWEITER TEIL (B) ANALYSE DER LITERARISCHEN SUCHBEWEGUNGEN IM ERZÄHLWERK CÉCILE WAJSBROTS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche und methodische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 2 72 2.1 73 2.1.1 74 2.1.2 74 2.1.3 91 2.2 93 2.2.1 93 2.2.2 95 2.2.3 98 2.2.4 101 2.2.5 103 2.3 105 2.3.1 106 2.3.2 108 2.3.3 109 2.3.4 113 2.4 116 2.4.1 116 2.4.2 119 2.4.3 143 2.4.4 144 2.4.5 147 2.4.6 148 2.5 150 3 151 3.1 152 3.1.1 153 Themenfeld I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atlantique - Entfaltung eines personalen Beziehungsgeflechts in Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der Orte der Vorder- und Hintergrundhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gewebe örtlich-räumlicher und personaler Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Le Désir d’Équateur - Eine Suchbewegung „zwischen Welten“ Reale Schauplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reisebewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Äquator als virtuelles Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Mariane Klinger - Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidelberg und die Hinreise nach New York . . . . . . . . . New York vs. Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Reise in die Ungewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Voyage à Saint Thomas - Suchbewegungen zwischen Paris und Saint-Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels Die Schauplätze - Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medial vermittelte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intertextuell vermittelte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung Themenfeld I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenfeld II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Trahison - Louis Mérians Suche nach der eigenen Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung von Raum und (Nicht-)Bewegung für die Charakterisierung des Louis Mérian . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 3.1.2 160 3.1.3 163 3.2 164 3.2.1 165 3.2.2 172 3.2.3 180 3.2.4 182 3.3 186 3.3.1 187 3.3.2 192 3.3.3 195 3.3.4 196 3.4 199 3.4.1 201 3.4.2 215 3.4.3 226 3.4.4 240 3.4.5 246 3.5 248 3.5.1 249 3.5.2 262 3.6 265 Die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Charakterisierung der Ariane Desprats . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Nation par Barbès - Räume und „Nicht-Räume“ als handlungsauslösende und Gedanken und Gefühle widerspiegelnde Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronotopische Markierungen der familiengeschichtlichen Herkunft Lénas, Anielas und Jasons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Métro - ein klassischer „non-lieu“ als „générateur de texte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Parc Monceau - ein heterotopisches Refugium in der „ville du dessus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Beaune-la-Rolande - Annäherung an einen literarischen Erinnerungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beaune-la-Rolande - Annäherungen an einen Ort . . . . Von Beaune-la-Rolande nach Auschwitz - Orte der Identitätsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumlandschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung - die Literatur als „sinnlicher Erinnerungsraum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mémorial - Die Erzählerin auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln und dem Sinn ihres Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warten auf einem Bahnsteig - Beginn eines „[…] voyage particulier, sur les traces d’une histoire, pour tenter de trouver une origine […]“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Bahnfahrt nach Kielce - Fortsetzung und Vertiefung der „recherche de l’origine“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufenthalt in Kielce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurse über die Schneeeule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Fugue - Die Geschichte einer Flucht- und Suchbewegung . . . Entfaltung einer Seelenlandschaft in der Abfolge der Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung Themenfeld II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 4 266 4.1 267 4.1.1 267 4.1.2 270 4.1.3 277 4.1.4 284 4.2 285 4.2.1 289 4.2.2 298 4.2.3 304 4.2.4 307 4.3 309 4.3.1 311 4.3.2 326 4.3.3 330 4.4 331 4.4.1 335 4.4.2 354 4.4.3 362 4.5 365 4.5.1 369 Themenfeld III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Une vie à soi - Anne Figuières’ Anverwandlung ihres Vorbildes Virginia Woolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entdeckung einer Leitfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annes Annäherung an die Lebensräume Virginia Woolfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annes Annäherung an die innere Befindlichkeit Virginias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Caspar Friedrich Strasse - Der Ich-Erzähler auf dem Weg zu einem von Caspar David Friedrich inspirierten Verständnis seiner „histoire personnelle“ und der „histoire collective“ . . . Die Klosterruine bei Greifswald und Eichbaum im Schnee - Bemühungen um Orientierung in Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meeresküste bei Mondschein - rester ou partir? . . . . . Das Riesengebirge - die Caspar-Friedrich-Strasse als Straße der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Le Tour du lac - Das sonntägliche Kreisen um einen See als Methode und Symbol einer Suchbewegung . . . . . . . . . . . . . . . Von Neuilly nach Paris - Schreiben als Akt der Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dilemma des jungen Mannes - „gefangen im Labyrinth einer unmöglichen Beziehung“ . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Conversations avec le maître - Die Ich-Erzählerin und ihre Begegnungen mit dem Maître und einer illegal eingewanderten Ukrainerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Maître in der Parallelwelt seines tatsächlichen und imaginierten Lebensumfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ukrainerin in der Parallelwelt einer illegalen Einwanderin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . L’Île aux musées - Die vier Protagonisten als Zeugen einer „[…] fusion […] entre deux mondes, l’art et la vie’“ . . . . . . . . . „Suchbewegungen“ in der „realen Welt“ der vier Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 10 4.5.2 389 4.5.3 404 4.6 408 4.6.1 409 4.6.2 421 4.6.3 428 4.6.4 440 4.7 442 4.7.1 443 4.7.2 462 4.8 464 5 466 5.1 466 5.2 467 475 1 477 2 478 3 492 505 507 508 515 523 535 Die Parallelwelt der Kunst als „[…] le miroir des temps“ Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Sentinelles - Die Vernissage eines Videokünstlers - Einladung zu einer künstlerisch-intellektuellen Suchbewegung unter erschwerten Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Phase vor Einbruch der Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . Die Phase der Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Phase nach der Rückkehr des Lichts . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Totale Éclipse - Über die existentielle und künstlerische Krise der Erzählerin-Fotografin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „errance intérieure“ der Erzählerin . . . . . . . . . . . . . Perspektivierende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung zum Themenfeld III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kurzen Erzähltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung der kurzen Erzähltexte in das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La Ville de l’oiseau - Bindeglied zwischen vertrauter und neuer Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DRITTER TEIL (C) ZUSAMMENFASSUNG UND VERTIEFUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenfeld I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenfeld II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenfeld III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kurzen Erzähltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 539 539 539 541 542 543 545 545 546 550 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrfach zitierte Sammelbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cécile Wajsbrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Internetquellen (geordnet nach Bezugstexten bzw. Anlässen) Sekundärliteratur zu Cécile Wajsbrot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviews (chronologisch geordnet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Rezensionen zu einzelnen Werken Cécile Wajsbrots (Bezugstexte in eckigen Klammern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende (Sekundär)literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 12 Die vorliegende Studie Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Eine literarische Such‐ bewegung ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die ich im No‐ vember 2015 beim Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Univer‐ sität Osnabrück eingereicht habe. Die Disputation hat am 8. Juli 2016 stattgefunden. Dass es mir als Pensionär ermöglicht wurde, ein Forschungsprojekt im Rahmen einer Promotion durchzuführen, verdanke ich in erster Linie der Be‐ reitschaft von Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, mich trotz ihrer vielfältigen Ver‐ pflichtungen als Doktoranden über einen Zeitraum von annähernd fünf Jahren zu betreuen. Von ihrer immensen Erfahrung, ihren berechtigten Einsprüchen und konstruktiven Anregungen habe ich in allen Phasen der Arbeit in hohem Maße profitiert. Aufrichtigen Dank schulde ich auch Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder für die Übernahme des Korreferats und hilfreiche Empfehlungen, die in die Schlussfassung des Textes eingegangen sind. Sehr gerne richte ich meinen Dank an Herrn Prof. Dr. Asholt für seine Be‐ reitschaft, meine Dissertation in die edition lendemains aufzunehmen, und Frau Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre kompetente lektoratsmäßige Betreuung des Projekts. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie, die meine zeitintensive Beschäf‐ tigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots mit großer Geduld und liebevoller Ermunterung begleitet hat. Danken möchte ich vor allem Veronika und Frank, die mir immer dann geholfen haben, wenn mir meine Unerfahrenheit in der digitalen Bearbeitung großer Textmengen im Wege stand. (H.H.) 1 In: Roswitha Böhm / Margarete Zimmermann (Hrsg.’), Du silence à la voix - Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot, Göttingen, V&R unipress, 2010, S. 127-143, hier: S. 127, (Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010/ / Zimmermann 2010). 2 Ebd. 3 Vgl. ebd., S. 133. 4 Der vollständige Titel lautet: ZwischenWeltenSchreiben - Literaturen ohne festen Wohn‐ sitz - ÜberLebenswissen II. Das Buch ist 2005 bei Kadmos in Berlin erschienen. - Zu den auf Mémorial bezogenen Ausführungen vgl. ebd., S. 239-250, (Ette 2005). Einleitung Margarete Zimmermann markiert im Titel ihres Artikels „Trop de mémoire - trop de silence. Schweigen und Vergessen im Werk von Cécile Wajsbrot“ jene „Pole“, „[…] zwischen denen sich das Werk der Cécile Wajsbrot bewegt“ 1 . Tat‐ sächlich stellen die Lasten der Erinnerung und die Unfähigkeit bzw. die man‐ gelnde Bereitschaft, über die eigene Vergangenheit oder zurückliegende Kapitel der „großen“ Geschichte zu sprechen, ebenso wichtige Themen in den Romanen und Erzählungen Wajsbrots dar wie die Versuche der handelnden Figuren, ver‐ loren geglaubte Spuren, nicht zuletzt auch das rätselhaft Geheimnisvolle der persönlichen Herkunft aufzudecken, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und Brücken in die Zukunft zu schlagen. Dabei sind, wie das Beispiel der Ich-Er‐ zählerin in dem 2004 erschienenen Roman Le Tour du lac zeigt, die Bemühung um ein Gespräch mit einem - in diesem Fall fremden - Gegenüber und die Bewegung im Raum, und handle es sich nur um das sich sonntäglich wie ein Ritual wiederholende Umkreisen des Sees, immer auch „[…] Ausdruck der Suche nach einem ‚Ort‘ - als Individuum, als Schriftstellerin - in der Gegenwart und in der Zukunft“ 2 . Dass Orte, Räume und die Suchbewegung zwischen den Orten, im Raum der Geschichte, für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von großer Wich‐ tigkeit sind, betont Margarete Zimmermann auch noch an anderer Stelle, aller‐ dings ohne diesen Aspekt zu vertiefen. 3 Dies gilt für die ganze bisherige wis‐ senschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin, sieht man einmal davon ab, dass Ottmar Ette sie bereits 2005 in den Kreis jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeordnet hat, deren Schaffen er sehr treffend als ZwischenWel‐ tenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz 4 charakterisiert hat. Diese geniale, aber gleichwohl globale „Verortung“ des Erzählwerks Cécile Wajsbrots vermag indes nicht das Desiderat einer Studie aufzuheben, die im Detail die Funktion und Bedeutung, die Raum und Bewegung in ihren Romanen und erzählerischen Kurztexten zukommt, analysiert und differenziert darstellt. Der Differenzie‐ 5 Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns - Neuorientierungen in den Kultur‐ wissenschaften, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 4 2010, (Bachmann-Medick 4 2010). 6 Cécile Wajsbrot et Dominique Dussidour, „en littérature il n’est pas d’autre urgence que l’urgence d’écrire“, in: http: / / remue.net/ spip.php? article1107, Abruf: 06. 03. 2012 (Wajs‐ brot / Dussidour 2005, article 1107). rungsanspruch betrifft zu allererst den Begriff „Ort“, der im Hinblick auf das Erzählwerk Cécile Wajsbrots immer auch auf „innere Orte“, d. h. Standpunkte, Sichtweisen und Empfindungen zu beziehen ist. Bei der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit lässt sich der Verfasser nicht in erster Linie von jener Debatte über „Cultural Turns“ leiten, in deren Verlauf der Raum eine Aufwertung erfahren hat, die keineswegs nur die Lite‐ raturwissenschaften, sondern alle unter dem Dach der Kulturwissenschaften vereinten Disziplinen erfasst hat. 5 Primär entscheidend ist vielmehr, dass die Suchbewegungen der handelnden Figuren im Erzählwerk Cécile Wajsbrots, die vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raumbzw. ortsbezogene Titel gegeben hat, von besonderer Bedeutung sind. Dies drängt sich als Ergebnis einer ersten Lektüre der Texte geradezu auf. Zudem hat Cécile Wajsbrot inzwischen mehr‐ fach, besonders deutlich in einem Gespräch mit Dominique Dussidour im Ok‐ tober 2005, erklärt, welche Funktion der Raum für ihr Schreiben hat: Alors comment écrire, comment dire ce qu’on a à dire? En passant par des biais qui ne peuvent être ni tout à fait des personnages, ni tout à fait une action romanesque, ni un simple constat des choses. D’abord, il me semble que dans mes livres, cela passe par un ancrage, qu’il y a, à chaque fois ou presque, un lieu - au sens large du terme. La radio dans La Trahison, le métro dans Nation par Barbès, Berlin dans Caspar Friedrich Strasse, Kielce et la Pologne dans Mémorial, le bois de Boulogne dans Le Tour du lac. En même temps, ce lieu n’est pas donné, il est gagné (ou perdu), il est parcouru, constitué ou reconstitué. L’ancrage dans le lieu permet un ancrage dans le temps, car le lieu - souvent une ville - est imprégné de ce qui s’y est produit à différentes périodes et ce sont ces strates temporelles qui lui donnent existence. Les figures sans nom de mes romans les traversent et sont à leur tour traversées par ce qui s’y passe, ainsi y a-t-il une sorte d’échange entre le dedans et le dehors, une sorte de mécanique des fluides, un phénomène de vases communicants. 6 Mit dem Bild des „[…] échange entre le dedans et le dehors […]“ bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass einerseits Orte und Räume durch geschichtliche Entwicklungen geprägt sind, andererseits die Figuren, die sie „durchqueren“, in ihrem Denken und Handeln durch die sich ebendort abspielenden Ereignisse beeinflusst werden. Die Metapher der kommunizierenden Röhren hebt somit die Interpendenz zwischen Raum, Zeit und handelnden Figuren als konstituie‐ Einleitung 16 7 Von einer „literarischen Suchbewegung“ sprechen erstmals Roswitha Böhm / Margarete Zimmermann, „Cécile Wajsbrots Œuvre innerhalb einer europäischen Gedächtnis‐ kultur“, in: Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010, S. 7-28; hier: S. 12, (Böhm / Zimmermann 2010). renden Elementen der erzählten Welt hervor. Diese Faktoren sind in einem Er‐ zähltext wie die Fäden eines Gewebes, einer „texture“, miteinander verknüpft. Die Ankermetapher weist dem Ort / Raum gleichwohl eine besondere Bedeu‐ tung zu. So wie ein Anker immer nur das temporäre Verbleiben eines Schiffes an einem bestimmten Platz sichert, bevor es seine Fahrt fortsetzt, so hat man sich den Raum nicht als etwas unumstößlich Gegebenes, sondern eher, im Sinne eines dynamischen Prozesses, als ein stets neu zu gewinnendes und zu entde‐ ckendes, aber zugleich als ein gefährdetes Gut vorzustellen. Die damit impli‐ zierte „Unbestimmtheit“ des Raumbegriffs bedeutet konsequenterweise auch, dass die Vorstellung von „Raum“ die Idee der „Bewegung“ geradezu voraussetzt, die beiden Begriffe also in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Be‐ deutung und die Funktion des Raums werden dadurch in einen Bezugsrahmen eingeordnet, der auch im Titel der oben zitierten Studie von Ottmar Ette implizit zum Ausdruck kommt. Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots kann daher, ungeachtet seiner thematischen Differenziertheit, in seiner Gesamtheit als eine literarische Suchbewegung bezeichnet werden. 7 Der erste Teil der vorliegenden Arbeit präsentiert in Kapitel A 1 Informati‐ onen über die Biographie Cécile Wajsbrots sowie über ihre literarhistorischen und literaturtheoretischen Äußerungen zum Roman als literarischer Gattung (A 1.1 und A 1.2). Dabei wird keineswegs Vollständigkeit angestrebt, die Auswahl der Aspekte orientiert sich vielmehr an ihrer funktionalen Bedeutung für die Schwerpunkte der Analyse in Teil B. Ergänzt wird Kapitel A 1 durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots (A 1.3) und Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Deutschland und Frankreich (A 1.4). Auch die Ausführungen zur „Darstellung des Raums“ in Kapitel A 2 erheben keineswegs den Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema in seiner ganzen historischen Breite und Tiefe sowie in seiner komplexen theoretischen Differenziertheit abzubilden. Gleichwohl sollen die der Analyse zugrunde liegenden Fragestellungen und der methodische Weg der Erarbeitung in einer historisch und theoretisch fundierten Weise aufgezeigt werden. Der zweite, der Hauptteil der Arbeit, führt in einem ersten Schritt (Kapitel B 1.1) zu einer inhaltlich-thematisch bestimmten Aufteilung des erzählerischen Werks auf drei Felder (B 2, B3, B4). (Die kurzen Erzähltexte werden in dem gesonderten Kapitel B 5 exemplarisch anhand der Erzählung La Ville de l’oiseau behandelt.) Eine Beschränkung auf eine exemplarische Auswahl im Bereich der Einleitung 17 Romane empfiehlt sich angesichts der inhaltlichen und formalen Verschieden‐ heit dieser Texte nicht. Unter Bezugnahme auf die Kapitel A 1 und A 2 werden sodann (Kapitel B 1.2) die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte der Untersuchung festgelegt und das Thema der Studie ausführlich begründet. Grundsätzlich orientieren sich alle Werkanalysen an den in B 1.2 dargelegten Grundsätzen, passen sich aber immer auch der inhaltlichen und formalen Struktur der einzelnen Texte an. Aufgrund des kontextualisierenden Ansatzes der Analyse vermittelt die Studie trotz der konsequent eingehaltenen Konzent‐ ration auf die Thematik der literarischen Suchbewegung gelegentlich auch Ein‐ blicke in mit der zentralen Fragestellung verwobene inhaltliche und formale Details der Textgestaltung. Die wesentlichen Ergebnisse der Werkanalysen werden jeweils themenfeldbezogen zusammengefasst. Der abschließende dritte Teil C arbeitet themenfeldbezogen und themenfeld‐ übergreifend die Entwicklung der Suchbewegungen in ihrer räumlichen und ideellen Dimension heraus (C 2). In den Schlussfolgerungen (C 3) werden die Beziehungen zwischen dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots und von ihr vertre‐ tenen literaturtheoretischen Positionen beleuchtet sowie das den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Kunstverständnis in Ansätzen eruiert, bevor der Begriff der literarischen Suchbewegung in einer vertiefenden Gesamtschau abschließend definiert wird. Um das Verständnis der vorliegenden Studie für alle Leserinnen und Leser zu erleichtern, sind im Anhang strukturierte inhaltliche Zusammenfassungen aller analysierten Texte beigefügt. Einleitung 18 ERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR 1 Zu den in dieser Arbeit behandelten bzw. erwähnten Erzähltexten liegen - in der Rei‐ henfolge ihres Erscheinens - folgende Übersetzungen vor: - Mann und Frau den Mond betrachtend, Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller, München, Liebeskind, 2003, (Caspar-Friedrich-Strasse). - Im Schatten der Tage, Übersetzung: Holger Fock u. Sabine Müller, München, Lie‐ beskind, 2004, (Nation par Barbès). - Der Verrat, Übersetzung: Holger Fock u. Sabine Müller, München, Liebeskind, 2006, (La Trahison). - Aus der Nacht, Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller, München, Liebes‐ kind, 2008, (Mémorial). - Nocturnes. Geschichten vom Meer, Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller, München, Liebeskind, 2009, (Nocturnes). - Die Köpfe der Hydra, Übersetzung: Brigitte Große, Berlin, Matthes & Seitz, 2012, (L’Hydre de Lerne). - Éclipse, Übersetzung: Nathalie Mälzer, Berlin, Matthes & Seitz, 2016, (Totale Éc‐ lipse). 1 Cécile Wajsbrot Cécile Wajsbrot gehört seit vielen Jahren zu den vielseitigsten und produk‐ tivsten Autorinnen und Autoren des extrême contemporain in Frankreich. Durch die Übersetzung einiger ihrer Romane und Erzählungen ins Deutsche 1 hat sie auch in Deutschland eine Lesergemeinde gefunden. Gleichzeitig ist sie durch die Übersetzung deutscher Autoren ins Französische zu einer Brückenbauerin zwischen beiden Ländern geworden. Am Anfang einer Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots sollte ihr biographischer Hintergrund in dem Maße erhellt werden, in dem dies den Zugang zu ihren Romanen und Erzäh‐ lungen erleichtert. Dasselbe gilt für ihre literaturtheoretischen, vor allem auch für ihre auf den Roman bezogenen Positionierungen, die sie in einem Essay und in Interviews dargelegt und erläutert hat. Ergänzt werden die Ausführungen durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajs‐ brots sowie durch Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Frankreich und Deutschland. 2 Zum folgenden Abschnitt vgl. insbesondere Cécile Wajsbrot, „Euphemismus“, in: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 178, 2006, S. 197-206, (Wajsbrot 2006); Cécile Wajsbrot: „chat“ avec Cécile Wajsbrot (2006), in: http: / / www.linternaute.com/ sortir/ auteurs/ cecile-wajsbrot-chat.shtml (Abruf: 23. 11. 2012), (chat avec Cécile Wajsbrot 2006); Böhm / Zimmermann 2010, S. 7-10. 3 Im Jahre 2014 wurde C. W. der Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis verliehen. Vgl. www.sr.de/ sr/ home/ der_sr/ kommunikation/ aktuell/ 20140625_pm_uebersetzerpreis100.html (Abruf: 22. 04. 2015). Im November 2016 erhielt sie den Prix de l’Académie de Berlin. 4 Elke Richter / Natascha Ueckmann, „‚L’irréparable et la vie quotidienne‘. Entretien avec Cécile Wajsbrot“, in: Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010, S. 71-78, hier: S. 71, (Richter / Ueckmann 2010). 5 Ebd. 6 Cécile Wajsbrot, Berliner Ensemble, Berlin, éditions la ville brûle, 2015, (Wajsbrot 2015). 1.1 Biographischer Hintergrund 2 Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Ihre Mutter, deren jüdische Eltern aus Polen stammten, galt zwar als „Ausländerkind“, war aber, da sie in Paris geboren wurde, Französin. Sie überlebte den Krieg im Département Lot-et-Ga‐ ronne in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat. Ihr Vater, der im Alter von 17 Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Frankreich emigriert war, fand während der Kriegszeit Schutz in einem Versteck in der Auvergne. Der Großvater mütterlicherseits wurde im Mai 1941 von Beaune-la-Rolande in ein Lager im Loiret verbracht und im Juni 1942 von dort nach Auschwitz deportiert, wo er einige Wochen später starb. Cécile Wajsbrot hat nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissen‐ schaft zunächst einige Jahre als Französischlehrerin und als Rundfunkredak‐ teurin gearbeitet, bevor sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin deutscher und englischer Autorinnen und Autoren und als Mitarbeiterin der Zeitschriften Autrement, Les Nouvelles littéraires und Le Magazine littéraire einer breiten Öf‐ fentlichkeit bekannt wurde. 3 Das umfangreiche literarische Werk Cécile Wajs‐ brots umfasst neben den in dieser Studie vorgestellten und analysierten Ro‐ manen und Erzählungen Biographien, Essays, Dialoge und Hörspiele. Nachdem Cécile Wajsbrot erstmals 1995 bei einer Reise nach Litauen einige Tage in Berlin verbracht hat, erlebt sie fünf Jahre später bei einem eineinhalb Monate dauernden Besuch der Stadt „[…] un véritable coup de foudre“ 4 , der ihr Leben verändern sollte: „J’ai aimé la ville et eu du mal à la quitter au point que j’ai trouvé la solution d’avoir eine zweite Wohnung à Berlin et de pendeln zwi‐ schen Paris und Berlin […]“ 5 . Als Stipendiatin des DAAD lebt sie von März 2007 bis März 2008 ein Jahr ununterbrochen in Berlin. Während dieser Zeit und im Jahr 2012 entsteht ein als Berliner Ensemble 6 erschienenes, facettenreiches Ka‐ 1 Cécile Wajsbrot 22 7 Johannes Dahlem, „Transformation du paysage urbain et mélancolie du flâneur dans Berliner Ensemble de Cécile Wajsbrot“, in: Margarete Zimmermann (Hrsg.’), Après le Mur: Berlin dans la littérature francophone, Tübingen, Narr Francke Attempto Verlag, 2014, S. 179-193, hier: S. 179. 8 Zitiert nach http: / / www.faz.net/ -gqz-x483, (Abruf: 13. 04. 2015). 9 Zitiert nach Richter / Ueckmann 2010, S. 72. Vgl. auch Cécile Wajsbrot, „L’autre“, in: Wajsbrot 2015, S. 83-86, hier: S. 83. 10 In: Richter / Ueckmann 2010, S. 72. leidoskop literarischer Impressionen, die „[la] réflexion [de C. W.] sur les ra‐ vages causés par l’histoire du XX e siècle et, en particulier, sur les lieux de mé‐ moire de la Seconde Guerre mondiale“ 7 widerspiegeln. In einem FAZ -Gespräch mit Katharina Narbutovic erklärt Cécile Wajsbrot im April 2008 eine eindeutige Vorliebe für Berlin: Ich fühle mich in Berlin besser als in Paris. In Berlin lässt es sich freier atmen. In Paris ist der Kulturbetrieb sehr eng, geschlossen, auch narzisstisch. Da denke ich, wenn ich in Frankreich schon außen vor stehe, dann kann ich mich auch noch weiter aus der Stadt zurückziehen. 8 Ihr Gefühl, in Frankreich nicht in die Gesellschaft voll integriert zu sein, sondern als Außenseiterin betrachtet zu werden, erklärt sie in dem Gespräch mit Elke Richter und Natascha Ueckmann mit einer Lebenserfahrung, die der ungarische Schriftsteller Imre Kertész in seinem in deutscher Sprache unter dem Titel Ich - ein anderer sinngemäß folgendermaßen zum Ausdruck gebracht habe: „Es ist etwas anderes sich zu Hause heimatlos zu fühlen als in der Fremde, wo man in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden kann.“ 9 Cécile Wajsbrot erklärt sodann ausführlich, warum diese aphoristische Beobachtung ihr eigenes Lebensgefühl so treffend wiedergibt: Je me suis toujours sentie un peu étrangère en France, en tout cas pas comme les Français de souche, comme on dit. Donc toujours un peu différente, étrangère alors que je suis née en France, que ma langue maternelle est le français. Si je sens une différence à Berlin, c’est normal parce que je suis vraiment étrangère, je suis réellement une Française à Berlin, une Française en Allemagne. En France, ce n’est pas normal que je ne me sente pas tout à fait française comme les autres. Il est plus confortable que la réalité coïncide avec le sentiment intérieur. 10 Unter dem Einfluss der migratorischen Geschichte ihrer Familie und ihrer ei‐ genen Biographie hat sich Cécile Wajsbrot im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit und auf der Suche nach ihren ei‐ genen Wurzeln, ihrer „origine“, immer wieder „zwischen den Welten“ bewegt, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Perspektive ihres Schreibens auf Einzel‐ 1.1 Biographischer Hintergrund 23 11 Vgl. dazu Ette 2005. Bzgl. Cécile Wajsbrot s. insbesondere die S. 239-250. 12 Vgl. insbesondere - Pour la littérature, Zulma, 1999, (Wajsbrot 1999b) - Le son du silence, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (RZLG), Heft 3 / 4, 2008, S. 241-254, (Wajsbrot 2008b) - Traverser les grandes eaux, in: Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010, S. 47-57, (Wajs‐ brot 2010b). Vgl. dazu auch Zimmermann 2010, S. 135-139. 13 Vgl. Wajsbrot 1999b, S. 7f: Je veux parler de la littérature. Le mot n’existe plus, presque plus, il n’est guère employé et on lui préfère un autre mot, écriture. […] Lorsque l’écri‐ ture apparaît, la singularité de la littérature disparaît, autant dire son essence. 14 Vgl. Wajsbrot 2008b, S. 245: Écrire, c’est savoir hériter, savoir trouver la juste distance entre le passé et l’avenir, entre soi et les autres, entre la rupture et la continuité. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Wajsbrot 1999b, S. 41-59, und Wajsbrot 2010b, S. 53. schicksale, und sei es ihr eigenes Leben, zu fokussieren. Allerdings wurde für sie wie für viele andere Autorinnen und Autoren mit einem ähnlichen biogra‐ phischen Hintergrund die eigene oder, wie in ihrem Fall, die durch den Abstand der Generationen nur noch mittelbar erlebte Erfahrung der Migration zu einem bestimmenden Movens ihrer „quête littéraire“ in sehr unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsräumen. 11 1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans Cécile Wajsbrot hat sich mehrfach in literaturhistorisch und literaturtheoretisch argumentierender Form zur Bedeutung und Funktion der Literatur geäußert, wobei sie sich im Wesentlichen auf den Roman bezieht. 12 Schon 1999 beklagt sie, dass der klassische Begriff der „littérature“ der Vergangenheit angehöre und einer weitgehend sinnentleerten Vorstellung von „écriture“ gewichen sei. 13 Sie versäumt nicht, ihre eigenen Vorstellungen von „littérature“ zu entwickeln. Dabei fühlt sie sich einerseits dem literaturgeschichtlichen Erbe verpflichtet, andererseits will sie sich aber auch nicht mit der Beibehaltung alter Strukturen und Erzählungen begnügen, sondern unter Berücksichtigung aller Brüche und neuer Entwicklungen Kontinuität pflegen und Eigenständigkeit leben. 14 Den Vorwurf des literarischen und geschichtlichen Kontinuitätsbruchs richtet Cécile Wajsbrot an Theoretiker des Nouveau Roman, namentlich an Na‐ thalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet: […] Nathalie Sarraute dans l’Ère du soupçon et Alain Robbe-Grillet dans Pour un nou‐ veau roman édifiaient la théorie des villes nouvelles du roman, réfutant toute 1 Cécile Wajsbrot 24 15 Wajsbrot 2008b, S. 243. 16 Zu den vorangegangenen Zitaten und zum Kontext vgl. Wajsbrot 2008b, S. 243. 17 Wajsbrot 1999b, S. 23. Zum Kontext vgl. ebd. S. 23 ff. 18 Ebd., S. 27. 19 Ebd., S 25. 20 Ebd. narration, toute présence d’un récit, de personnages, pour accepter comme seul élément fiable de la littérature, comme base unique sur laquelle elle pourrait reposer, pour n’accepter que le langage. 15 Nathalie Sarraute habe „bei vollem Bewusstsein“ (en pleine conscience) die Frage gestellt, wie man nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts noch an die „Menschheit“ bzw. an „Menschlichkeit“ (humanité) und an die den Roman be‐ völkernden literarischen Figuren glauben könne. Der vor der Katastrophe die Augen verschließende Robbe-Grillet habe im Namen des „Überdrusses und der Langeweile“ (ennui) die „Tyrannei der Sinnhaftigkeit“ (la tyrannie du sens) an‐ geprangert, sich aber nicht im Gefolge Camus’ oder Becketts der Theorie des Absurden, sondern in gewisser Weise der „l’art pour l’art“- Bewegung des 19. Jahrhunderts verschrieben, mithin einer Literaturform „[…] dont l’élégance suprême serait de ne rien dire, de ne rien signifier“ 16 . Der Kontinuitätsbruch ist indes in einen größeren Rahmen einzuordnen. Die Schriftsteller - und die Intellektuellen - haben sich mit ihrer Haltung des „Weg‐ sehens“, wie C. Wajsbrot 1999 feststellt, lange Zeit lediglich dem „mainstream“ der französischen Gesellschaft angeschlossen. So haben sie die Zeit von 1939 bis 1945, den Schrecken der Naziherrschaft mit der von allgemeinem Schweigen begleiteten systematischen Vernichtung der europäischen Juden, die Okkupa‐ tion und Kollaboration und ihre Folgen, aber auch den Abwurf der ersten Atom‐ bombe von den 50er bis in die 70er Jahre und sogar „[…] jusqu’à au‐ jourd’hui […]“ 17 ausgeblendet und stattdessen lieber gegen den Einsatz der USA in Vietnam protestiert. Die Autorin mag von der Idee des „péché originel“, der Erbsünde und ihrer Wirkungen, geleitet worden sein, wenn sie feststellt: „Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à oublier.“ 18 Die Erinnerung an den Krieg sei zwar überall - „[…] sur les plaques des immeubles, dans les rues des villes et des grandes capitales, sur le calendrier et sur les monuments aux morts, partout […]“ - 19 gegenwärtig, nicht jedoch in der Literatur. Und wenn sich die zeitgenössische Literatur in Frankreich mit Vichy-hörigen faschisti‐ schen Autoren wie Céline oder Brasillach noch immer arrangiere, dann übersehe man geflissentlich die von ihnen vermittelten Inhalte, um sich an ihrem Stil zu delektieren: „[…] il faudrait écouter la musique et non les paroles.“ 20 Mit ihrer 1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans 25 21 Ebd., S. 24. 22 Ebd., S. 25. 23 Wajsbrot 2008b, S. 250. Zu Bezügen der Definition auf Hegel (und vermutlich auch auf Lukács) vgl. Zimmermann 2010, S. 139. 24 Ebd., S. 250 f. resignierenden Feststellung „Céline est à l’image de la France […]“ 21 schließlich bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach die zeitgenös‐ sische Literatur Frankreichs durch eben diese Negation des Inhalts auf die Stufe der reinen „écriture“ herabgesunken ist. Hingegen stehe die Erinnerung an den Krieg in den Literaturen Zentraleuropas, von Deutschland bis Russland […] au cœur des romans, au cœur de la réflexion de ceux qui l’ont vécue comme de ceux qui sont nés après, dans l’ombre portée du souvenir. Oui, il est des pays dont la littérature porte la trace de tout cela, le désarroi, l’interrogation, ou le silence, tandis que chez nous, alors que ce monde s’écroule à son tour, depuis la chute du mur, l’exploration vient à peine de commencer. 22 Für Cécile Wajsbrot definiert sich der Roman - genauer: der literarische Roman (roman littéraire), den sie vom „Unterhaltungsroman“ (roman romanesque) un‐ terscheidet - durch eine von ihr als „totalité“ bezeichnete Einheit aus Form und Inhalt: „Le roman est totalité - totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu.[…] Le roman est totalité. C’est sa définition même.“ 23 Der Totalitätsanspruch des Romans beruht für Cécile Wajsbrot jedoch keines‐ wegs nur auf der durchaus als klassisch-tradiert zu bezeichnenden Entspre‐ chung zwischen Form und Inhalt, sondern ebenso auf der sich ins Unendliche öffnenden inhaltlich-thematischen Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven, die sie mit dem Hinweis auf eine Auswahl von Romanen - von La Princesse de Clèves bis zu Anna Karenina - überzeugend zu belegen vermag. Welche Anforderungen an Autorinnen und Autoren mit diesem Anspruch einhergehen, erläutert Cécile Wajsbrot in der für sie fundamental wichtigen Form einer Raummetapher, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: Notre installation sur les terres du roman littéraire, le parcours de ses forêts ne peut se faire que dans le temps où nous sommes ou plutôt, ne peut se faire sans s’inscrire dans le temps où nous sommes, ce qui signifie à la fois connaître ce qui nous a précédés dans l’histoire et savoir que nous écrivons maintenant. Ni avant ni apres mais précisément dans le lieu et le temps où nous vivons. 24 Beim Prozess des Schreibens sieht Cécile Wajsbrot die Autorinnen und Autoren eines Romans folglich in eine Tradition hineingestellt, die sich einerseits auf die Vergangenheit im Ganzen, andererseits jedoch auch auf die von ihnen selbst 1 Cécile Wajsbrot 26 25 Zitate ebd., S. 253. 26 Ebd., S. 251. 27 Vgl. Wajsbrot 1999b, S. 18. 28 Vgl. ebd., S. 21 f. 29 Vgl. ebd., S. 16: […] la voie ouverte par Proust demeure sans suite - l’expérience, la recherche, l’exploration littéraire se situent ailleurs, dans des zones encore inconnues, aux frontières du récit et du rêve, dans des promenades, des errances au carrefour des villes et de l’inconscient […]. Vgl. auch Wajsbrot 2008b, S. 246. 30 Vgl. Wajsbrot 2008b, S. 251: […] le roman a affaire au temps. Au temps dans son ensemble avec ses passés, ses présents, ses futurs éventuels. 31 Ebd. ge- und erlebte Zeit bezieht, mithin auf die jeweils aktuellen räumlich-örtlichen und zeitlichen Bedingungen, den Chronotopos. In demselben Text präzisiert Wajsbrot etwas später, dass sich die Verpflichtung gegenüber dem Erbe der Ge‐ schichte auch auf „[…] une succession de livres“ beziehe, dass sich das Schreiben gleichermaßen „[…] dans le temps biographique et le temps littéraire“ einfüge. Wohl auch unter dem Einfluss ihrer eigenen Biographie und der Geschichte ihrer Familie betrachtet sie daher das Schreiben als eine dreifache Verpflichtung: „[…] c’est aussi prendre la parole, rompre le silence, et porter témoignage“. 25 In der bewussten Annahme dieses Auftrags der Literatur zur Stellungnahme und einer das Verschweigen überwindenden Zeugenschaft liegt wohl der eigentliche Grund für die Befreiung, die, wie Cécile Wajsbrot überzeugt feststellt, von der Beschäftigung mit der Vergangenheit ausgeht: „La connaissance des autres, de l’histoire […] la connaissance de l’histoire pourrait nous libérer.“ 26 Mit der Robbe-Grillet zugeschriebenen Inhaltsleere des Nouveau Roman vermag Cécile Wajsbrot dieses Konzept nicht in Einklang zu bringen. 27 Demge‐ genüber verteidigt sie vehement die Comédie humaine Balzacs. 28 Starke Sympa‐ thien hegt sie insbesondere für Marcel Proust, dessen Innovationen leider fol‐ genlos geblieben seien, und Virginia Woolf. 29 Gerne beruft sie sich auf Proust, um den Totalitätsanspruch des Romans und die ihm daraus erwachsende Auf‐ gabe, die Zeit als vielschichtige Einheit aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu behandeln, 30 hervorzuheben, hat Proust doch in seiner Re‐ cherche „[…] la totalité de l’iceberg, sa partie émergée et sa part im‐ mergée […]“ 31 erforscht. Dass sich der Roman als literarisches Genre mit der Zeit nicht in einer verkürzten, distanzlosen, unreflektiert abbildhaften und als „éc‐ riture“ einzustufenden Art und Weise auseinandersetzen sollte, unterstreicht die Autorin mit der folgenden programmatischen Erklärung: Le roman travaille sur le temps, travaille le temps, c’est pourquoi se déposent en lui les travers de l’époque, le risque de l’éphémère mais aussi la possibilité de les transcender en dessinant le temps […] la possibilité de le configurer c’est-à-dire de le 1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans 27 32 Ebd. 33 Ebd., S. 254. 34 Zum Zitat und Kontext vgl. Wajsbrot 1999b, S. 47 f. 35 Ebd., S. 47. 36 Bzgl. einiger konkreter Beispiele vgl. ebd., S. 45-49. 37 Ebd., S. 49. Vgl. zu diesem Abschnitt ebd., S. 48 f. relier aux chaînes d’événements des époques passées et de le décrire non platement comme le ferait le journalisme […] mais dans ses trois dimensions comme un objet holographique. 32 Cécile Wajsbrot ist sich sehr wohl bewusst, dass die Möglichkeiten der unmit‐ telbar-direkten Zeitzeugenschaft aufgrund der Begrenztheit der eigenen Erfah‐ rungen stark eingeschränkt sind. So gilt im Hinblick auf die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sie, dass sie als Angehörige der „[…] génération venue après […]“ auf in unterschiedlichster Form vermittelte Erzählungen an‐ gewiesen ist, um sodann über eigene Fragestellungen - […] pas au sens d’un historicisme anachronique mais au sens d’un renouvellement […] - zu einer „[…] reconstitution de repères“ 33 , d. h. zu einer Kontinuität sichernden, Orien‐ tierung ermöglichenden neuen Sicht auf Vergangenes zu gelangen. Um dem an ihn gerichteten „Totalitätsanspruch“ gerecht zu werden, muss der Roman sowohl die „Innenwelt“ - le dedans -, also das die handelnden Figuren in ihrem Denken und Fühlen Bewegende, als auch die „Außenwelt“ - le dehors -, also die durch Raum und Zeit konstituierten Bedingungen darstellen. Zu diesen beiden elementaren Faktoren gesellt sich „[…] un troisième ingrédient qu’on peut appeler mystère ou secret, une chose qui crée la tension et qui repose autant sur l’art du récit - […] que sur la croyance en la littérature, un troisième ingré‐ dient qui donne à l’œuvre sa troisième dimension.“ 34 Im Bilde des Eisbergs ge‐ sprochen, ist es der unter Wasser liegende Bereich, der die dritte Dimension des Romans ausmacht: L’exploration est infinie, et le roman […] n’a encore découvert que la surface émergée de l’iceberg, n’a rien couvert encore de l’espace qui va du silence à la parole, de la vie à la mort, n’a rien franchi de cette distance infranchissable qui sépare Achille et la tortue. 35 Gewiss mag man Cécile Wajsbrot vorwerfen, dass ihre Erklärungen bzgl. des „mystère de la littérature“ recht vage bleiben. 36 Es ist für sie jedoch von ent‐ scheidender Bedeutung, dass es in einer durch und durch rationalisierten Zeit, in der man alle Fragen - bis in die „[…] zones obscures de la personnalité […]“ 37 - für erklärbar hält und den Tod nur noch als ursächlich genau zu bestimmende „Panne“ (accident de parcours) betrachtet, mit dem Roman einen poetischen 1 Cécile Wajsbrot 28 38 Ebd., S. 49. 39 Vgl. ebd., S. 54. Raum für das „Geheimnisvolle“ gibt. Das „Geheimnisvolle“, in welcher Form es sich auch äußern mag, bewirkt jedoch, wie Cécile Wajsbrot andeutet, etwas als angenehm Empfundenes: Das „grelle Licht“ einer umfassenden Erklärbarkeit aller Belange des Lebens wird von der das „Geheimnisvolle“ umgebenden Dun‐ kelheit umhüllt und eben dadurch auch erträglicher: Peu importe la forme ou le visage que prend le mystère, les agissements de quelqu’un, une venue, une disparition, une question d’identité, ce qui compte, c’est qu’il soit là, c’est qu’un peu de ses ténèbres vienne obscurcir enfin la lumière crue. 38 Der Unterschied zwischen einer nur an Fakten orientierten, um Aktualität be‐ mühten, abbildhaften „écriture“ und der aus einer zeitlichen und gedanklichen Distanz abwägenden, eine eigene Weltsicht vermittelnden und dabei um Ant‐ worten auf existentiell wichtige Fragen ringenden „littérature“ wird auch an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich. Aufgrund der hier skizzierten Ei‐ genschaften von „littérature“ kann Cécile Wajsbrot daher auch mit Fug und Recht von der „[…] universalité de la littérature […]“ sprechen, insofern, um eines ihrer Beispiele zu zitieren, Tolstois Krieg und Frieden nicht nur in nostal‐ gischer Erinnerung an die napoleonische Zeit lebende Russen interessieren dürfte. 39 Es macht den besonderen Charakter von Literatur aus, dass sich im Beispiel des Einzelfalles stets allgemein Menschliches spiegelt. Für eine Studie über die Darstellung literarischer Suchbewegungen im Er‐ zählwerk Cécile Wajsbrots liefern die hier zusammengefassten literaturtheore‐ tischen und -historischen Überlegungen der Autorin verschiedene Anhalts‐ punkte. Dies gilt insbesondere für • ihre These, dass der Roman eine „[…] totalité de la forme et du contenu“ darstellt • ihre Überzeugung, dass das Schreiben eines Romans Vertrautheit einer‐ seits mit der Geschichte und der literarischen Tradition, andererseits mit den örtlich-räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen der Gegen‐ wart (im Sinne der Entstehungszeit des Romans) voraussetzt • ihre Forderung, dass ein „roman littéraire“ dem Anspruch eines Zeit‐ zeugnisses gerecht zu werden habe. 1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans 29 40 Vgl. dazu Johannes Dahlem, „Roswitha Böhm / Margarete Zimmermann (Hrsg.’), Du si‐ lence à la voix. Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot (Formen der Erinnerung, 37), Göttingen: V&R unipress, 2010, 245 S.“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Lite‐ ratur 122 / 3, 2012, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, S. 286-291, (Dahlem 2012). 41 „Cécile Wajsbrots Œuvre innerhalb einer europäischen Gedächtniskultur“ (S. 7-28). 42 Ebd., S. 12. 43 Ebd., S. 15-21. 44 Ebd., S. 22-28. 45 In: Böhm / Zimmermann Hrsg’. 2010, S. 31-37, (Wajsbrot 2010a). Vgl. dazu B 5. 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots Einen überaus hilfreichen und gewinnbringenden Zugang zum Erzählwerk Cé‐ cile Wajsbrots eröffnet der bereits in der Einleitung erwähnte, 2010 erschienene, von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann herausgegebene Sammelband Du Silence à la voix - Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot. 40 Einer der Vorzüge des Buches ist, dass die Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Aufsatz 41 im Sinne einer „grobe[n] Typologisierung“ (S. 9) die thematischen Schwerpunkte des Werks der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und ihres persönlichen Werdegangs herausarbeiten und es insgesamt treffend als „litera‐ rische Suchbewegung“ bezeichnen, die zwar durchaus an historische Dokumente und überlebende Zeitzeugen anknüpft, deren Anliegen es aber ist, den Grenzbereich zwischen dem Sagbaren und dem Un‐ gesagten, zwischen öffentlicher Geschichte und privater Erinnerung, zwischen Ge‐ denken und Vergessen auszuloten. 42 Dass neben der Beschäftigung mit historischen bzw. zeitkritischen Themen die Auseinandersetzung mit den Künsten ab Caspar-Friedrich-Strasse (2002) die Ro‐ mane Cécile Wajsbrots beherrscht, stellen die Herausgeberinnen in einer kriti‐ schen Sichtung der bis zum damaligen Zeitpunkt erschienenen Werke dar, indem sie den Zusammenhang zwischen dem „Zyklus der Künste und ihrer Re‐ zeption“ betonen. 43 Verdienstvoll ist nicht zuletzt die beigefügte Bibliographie, 44 die einen Überblick über die bis 2010 erschienenen Werke Wajsbrots (ein‐ schließlich der Hörspiele und einer Auswahl von Übersetzungen aus dem Eng‐ lischen und Deutschen), Interviews, Rezensionen in der französisch- und deutschsprachigen Presse sowie über die Forschungs- und weiterführende Li‐ teratur bietet. Ein weiterer Vorzug des Sammelbandes ist, dass im Kapitel I Cécile Wajsbrot nicht nur mit dem eigens für den Band verfassten kurzen Erzähltext La Ville de l’oiseau 45 , sondern auch mit dem literaturtheoretischen Text Traverser les grandes 1 Cécile Wajsbrot 30 46 Ebd., S. 47-57, (Wajsbrot 2010b). - Es handelt sich um einen am 25.06.2006 in der Bib‐ liothèque nationale de France gehaltenen Vortrag. 47 Ebd., Richter / Ueckmann 2010, S. 71-78. 48 Ebd., Dominique Dussidour, „Passer par écrire“. Du proche et du lointain dans le travail romanesque de Cécile Wajsbrot“, S. 91-101, hier: S. 100, (Dussidour 2010). 49 Ebd., „Stimmen im Kontext - Beaune-la-Rolande von Cécile Wajsbrot“ S. 115-126, (Schubert 2010). 50 Zimmermann 2010. 51 Zitate Schubert 2010, S. 115. eaux 46 und in einem Interview zu Wort kommt, das von Elke Richter und Nata‐ scha Ueckmann zum Thema „L’irréparable et la vie quotidienne“ geführt wird. 47 Inhaltliche Schwerpunkte des an Pour la littérature (1999) anknüpfenden Essays Traverser les grandes eaux - der Titel wirkt wie ein Echo auf den Haute Mer-Zyklus - sind insbesondere die Auseinandersetzung der Autorin mit der Rolle der Sprache und Literaturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Nouveau Roman, Probleme des eigenen Schreibens und die Bedeutung li‐ terarischer Vorbilder. Ein besonderer Akzent des Interviews liegt auf der Frage der Herkunft der Autorin und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihr Werk und ihre Wohnsitze in Paris und Berlin. Zwei Themenkreise, die für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von besonderer Bedeutung sind, werden in den Aufsätzen der Kapitel II - (Gegen) Das Schweigen schreiben - und III - Dialog der Künste - multiperspektivisch beleuchtet. In Kapitel II arbeitet zunächst Dominique Dussidour in einer subjektiv-es‐ sayistischen Form wichtige Merkmale der Romane Nation par Barbès, Caspar-Friedrich-Strasse, Le Tour du lac und Mémorial heraus und gelangt zu dem Schluss, dass „[…] c’est bien d’un temps et d’un espace à eux, et à eux seuls, non partageables, qu’ont besoin les écrivains […] ils ont autant besoin, et même né‐ cessité, d’un temps et d’un espace communs avec vous, avec tous“ 48 . Aus einer literarhistorisch-kulturwissenschaftlichen Sicht setzen sich Katja Schubert 49 und Margarete Zimmermann 50 mit Beaune-la-Rolande (Schubert, Zimmermann) bzw. Le Tour du lac, Mémorial, Conversations avec le maître und L’Île aux musées (Zimmermann) auseinander. K. Schubert „ [zeichnet] die interne Bewegung des Textes zwischen Beaune-la-Rolande / Auschwitz als Ursprungs- und Gründungsereignis mit my‐ thischen Konnotationen auf der einen und als radikaler universaler Frage auf der anderen Seite [nach]“. Neben einer historischen Kontextualisierung des Textes vermittelt K. Schubert wertvolle Einblicke in die ihn prägenden „Kom‐ positions- und Schreibverfahren“. 51 Margarete Zimmermann analysiert die Opposition zwischen „[…] Erinnern und Vergessen, Reden und Schweigen“ im konkreten Rückgriff auf „[…] eine 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots 31 52 Zimmermann 2010, S. 128. 53 Ebd., S. 139. 54 Vgl. ebd., S. 135 ff. 55 In: Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010, S. 143-154, (Oexle 2010). 56 Ebd., S. 143. 57 Ebd., S. 144. 58 In: Böhm / Zimmermann Hrsg.’ 2010, S. 157-164, (Gateau 2010). 59 Ebd., S. 175-189, (Siepe 2010). 60 Ebd., S. 191-205, (Bung 2010). Beschreibung der zu ihnen gehörenden semantischen Felder innerhalb des Wajsbrotschen Œuvres“. Darüber hinaus „[…] ergibt sich über diese Begriffe, vor allem über den des Schweigens, eine Positionierung Cécile Wajsbrots in ihrem Verhältnis zur Tradition der Moderne (hier vor allem zu Virginia Woolf); ferner ist es auf diese Weise möglich, sie präziser im Kontext der Gegenwarts‐ literatur, des extrême contemporain, zu situieren.“ 52 In der Literatur der Gegen‐ wart seien Robert Antelme, Charlotte Delbo, Maurice Blanchot, Marguerite Duras und Primo Levi für C. Wajsbrot Autoren, die aufgrund der „[…] Rückho‐ lung einer geschichtlichen Substanz in die erzählende Literatur der Gegen‐ wart […] vorbildlich und traditionsstiftend […]“ waren. 53 Wichtige literaturthe‐ oretische Positionen der Autorin arbeitet M. Zimmermann unter Bezugnahme auf die Essays Pour la littérature und Le Son du silence heraus. 54 In seinem Beitrag „Geschichten vom Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison“ 55 geht der Historiker Otto Gerhard Oexle, ausgehend von La Trahison, aus historisch-philosophischer Sicht auf die „[…] Problemgeschichte von Gedenken und Vergessen in der Mo‐ derne“ 56 ein. Nach einer historisch-systematischen Auseinandersetzung mit dem „[…]Problem der Historizität der Welt […]“ 57 skizziert Oexle, u. a. unter Bezug‐ nahme auf die Causa Hans-Robert Jauß, welche Konsequenzen sich aus dem Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen bis in die Gegenwart ergeben haben. In Kapitel III lenken die Aufsätze von Marguerite Gateau - „La place de la radio dans l’œuvre de Cécile Wajsbrot“ - 58 und Hans T. Siepe - „Le dégel des paroles gelées oder Das Schweigen erzählen. Zum Thema des Schreibens bei Cécile Wajsbrot“ - 59 die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die in Deutschland weniger beachteten fiktionalen Texte, die Cécile Wajsbrot für das Radio verfasst hat. In „Mémorial oder die Verdichtung der Stimme(n)“ 60 beleuchtet Stephanie Bung einen wichtigen narratologischen Entwicklungsschritt innerhalb des Er‐ zählwerks Cécile Wajsbrots. 1 Cécile Wajsbrot 32 61 Ebd., S. 207-221 (Böhm 2010). 62 Ebd., S. 223-239, (Ette 2010). 63 Ebd., S. 232. Zum Kontext vgl. S. 223ff. 64 Vgl. S. 232. 65 Ebd., S. 235. 66 Ebd., S. 237. In ihrem Beitrag „‚Rien ne retient mon regard‘ - Tex-Bild-Relationen in Fugue“ 61 erschließt Roswitha Böhm über eine Analyse der Text-Bild-Relationen die tieferen Bedeutungsschichten einer kryptischen Erzählung. In seinem das Kapitel III beschließenden Aufsatz „’Caspar-David-Fried‐ rich-Strasse’. Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit“ 62 reflektiert Ottmar Ette zunächst über die Bedeutung verschiedener Phänomene der Ab‐ wesenheit in dem Roman, so z. B. die Abwesenheit des Namensteils „David“ im Titel; die Abwesenheit des jüngeren Bruders des Malers, der beim Versuch, seinen Bruder Caspar David vor dem Ertrinken zu bewahren, selber ertrank; oder aber die materielle Abwesenheit der Bilder […] die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, dass die stets gegebene Versuchung illustrativer Rückbindung an die Gemälde der Romantik gekappt beziehungsweise weitgehend reduziert und gleichsam eine Allge‐ genwart der Bilder suggeriert wird. 63 Die Abwesenheit der Bilder und ‚Illustrationen‘ erlaube, wie Ette weiter aus‐ führt, „ein freies transmediales Flottieren, in dem sich die ikonischen wie die literarischen Bildersprachen wechselseitig potenzieren.“ 64 Für Ette ist dies ein Anlass, über die Beziehung zwischen „Geschichte“ und „Leben“ und von diesem Punkt aus über die Funktion von Literatur - und damit über die Bedeutung des Schreibens - nachzudenken: Literatur […] ist jener Diskurs, der Geschichte aus der Perspektive des Lebens und konkreter Lebensprozesse wahrnimmt und re-präsentiert; vor allem aber ist Literatur ein diskursiver Kosmos, der Geschichte in Leben übersetzt und die einander oft wi‐ dersprechenden Blickwinkel verschiedenartigster Lebensgeschichten inszeniert. In diesem Sinne ist Literatur ein sich ständig verändernder und zugleich interaktiver, veränderbarer Speicher von Lebenswissen. 65 Über das Leben des Schriftstellers-Erzählers in Caspar-Friedrich-Strasse schließ‐ lich sagt Ette, dass er versuche, „[…] eine Kunst des Raumes nicht nur in eine Kunst der Zeit, sondern zugleich auch in eine Kunst des Lebens zu über‐ setzen“ 66 . 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots 33 67 Ottmar Ette, „Cécile Wajsbrot: L‘Île aux musées oder die verborgenen Choreographien der Anwesenheit“, in: Roswitha Böhm / Stephanie Bung / Andrea Grewe (Hrsg.’), Obser‐ vatoire de l’extrême contemporain - Studien zur französischsprachigen Gegenwartslite‐ ratur, Tübingen, Narr, 2009, S. 257-270, (Ette 2009/ / Böhm / Bung / Grewe Hrsg.’ 2009). Ottmar Ette, „Urbanität und Literatur. Städte als transareale Bewegungsräume bei Assia Djebar, Emine Sevgi Özdemar und Cécile Wajsbrot“, in: Markus Messling / Dieter Läplle / Jürgen Trabant (Hrsg.), Stadt und Urbanität - Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin, Kadmos, 2011, S. 221-246, (Ette 2011). 68 Zitate gleichlautend in Ette 2009, S. 262, Ette 2011, S. 240 69 Vgl. zu diesem Aspekt auch Patricia Oster, „KUNST ALS MEDIUM DES KULTUR‐ TRANSFERS - Methodische Reflexionen am Beispiel von Cécile Wajsbrots Berlinro‐ manen“, in: Christiane Solte-Gresser / Hans-Jürgen Lüsebrink / Manfred Schmeling (Hrsg.), Zwischen Transfer und Vergleich / Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2013, S. 383-396, (Oster 2013). 70 Ette 2011, S. 237 f. 71 Ette 2005. 72 Vgl. dazu ebd., S. 54-60. Zum Zitat vgl. S. 54. 73 Vgl. ebd., S. 239-250, Zitat S. 241. 74 Cornelia Klettke, „La communication des intensités émotionnelles: hétérotopies et hé‐ térologies dans L’Île aux musées de Cécile Wajsbrot“, in: Margarete Zimmermann, (éd.), Après le Mur: Berlin dans la littérature francophone, Tübingen, Narr Francke Attempto, 2014, S. 197-223. Zitat: S. 217, (Klettke 2014). Es überrascht nicht, dass auch die übrigen auf verschiedene Publikationen verteilten Beiträge zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots die im Themenfeld I dieser Arbeit vereinten Romane vernachlässigen und sich stattdessen schwerpunkt‐ mäßig auf die Thematik beziehen, die in den in den Themenfeldern II und III zusammengefassten Texte vorherrscht. In zwei weiteren Aufsätzen 67 stellt Ottmar Ette die Hintergründe und Auswirkungen der „[…] inter- und transkul‐ turellen Relationalität der Statuen […]“ in L’Île aux musées, „die unterschiedli‐ chen Zeiten und Räumen, Gesellschaften und Kulturen entstammen“ 68 , in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. 69 Überdies charakterisiert er die Welt der Kunst als eine von einer Ander-Logik beherrschte Parallelwelt, durch die „Zeit-Räume“ entstehen, die „[…] die Grenzen individuellen menschlichen Er‐ lebens“ 70 sprengen. - In dem großen Kontext seines Buches ZwischenWelten‐ Schreiben 71 betrachtet Ette Beaune-la-Rolande als eine „Vergegenwärtigung von Stimmen der Vergangenheit“ 72 und Mémorial als einen „Echoraum von Stimmen ohne festen Wohnsitz“ 73 . Cornelia Klettke erkennt in L’Île aux musées eine archipelartig-fraktale, he‐ terotopische Parallelwelt der Kunst, in der die „Heterologie“ der Statuen „[…] une espèce de choralité qui rappelle le chœur des tragédies antiques“ ermög‐ licht. 74 Die Bezüge zwischen dem gedanklichen Aufbau und der ästhetisch-for‐ malen Struktur des Romans werden in einer tiefschürfenden Textanalyse be‐ 1 Cécile Wajsbrot 34 75 Ebd., S. 199 f. 76 Katja Schubert, Notwendige Umwege - Voies de traverse obligées / Gedächtnis und Zeu‐ genschaft in Texten jüdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Ausch‐ witz, Hildesheim ∙ Zürich ∙ New York, Georg Olms Verlag, 2001, (Schubert 2001). Katja Schubert „’Landschaft mit Überlebenden’ - ein Abschied / Beaune-la-Rolande (2004) von Cécile Wajsbrot“, in: Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hrsg.’), NachBilder des Holocaust, Köln / Weimar / Wien, Böhlau, 2007, S. 170-187, (Schubert 2007). Katja Schubert „Gefährdete Zeugenschaft: Träume der ‚Endlösung‘ in Werken von Jean Cayrol, Ingeborg Bachmann, Peter Weiss, Barbara Honigmann und Cécile Wajsbrot“, in: Zeitschrift für Germanistik 18, 1, 2008, S. 169-183, (Schubert 2008a). Katja Schubert, „Les temps qui tremblent ou un passé possible de ce présent? À propos de l’œuvre de Cécile Wajsbrot“, in: Annelise Schulte-Nordholt, (éd.), Témoignages de l’après-Auschwitz dans la littérature juive-française d’aujourd’hui - Enfants de survivants et survivants-enfants, Amsterdam-New York, Éditions Rodopi B. V., NY 2008, S. 231-242, (Schubert 2008b/ / Schulte-Nordholt Hrsg.’ 2008). 77 Schubert 2001, S. 13. - Cécile Wajsbrot zieht dem Terminus „Shoah“ unter Berufung auf Raul Hilberg die Umschreibung „la destruction des Juifs d’Europe“ vor. Vgl. Cécile Wajsbrot, „Après coup“, in: Schulte Nordholt Hrsg.’ 2008, S. 25-29; hier: S. 25, (Wajsbrot 2008c). 78 Schubert 2001, S. 209. leuchtet, die den Austausch zwischen den „Inseln der Kunst“, den Protagonisten und den Leserinnen und Lesern folgendermaßen erklärt: Dans le roman, c’est l’émotionalisation qui semble être la stratégie textuelle prépondérante pour la production du sens. Les œuvres d’art en tant que dépôts d’énergie sont chargées d’intensités émotionnelles qui se transmettent aux protagonistes pour ensuite refluer vers les œuvres d’art. Le roman se révèle empreint d’un mouvement circulaire de transmission d’énergie entre le texte, l’homme et l’œuvre d’art, un mouvement qui englobe également le lecteur. 75 Von grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Holocaust im Erzählwerk Cécile Wajsbrots sind weitere Arbeiten Katja Schuberts. 76 Ausgangspunkt ihrer 2001 erschienenen Studie ist „[…] die Überzeugung, dass die Verfasserinnen als Opfer oder als Angehörige und Nachkommen von Opfern extremer Gewalt eine Deutungsautorität in Bezug auf das Geschehen der Shoah und deren Spätfolgen innehaben […]“ 77 . Dabei gelangt Katja Schubert zu der Erkenntnis, dass, „da […] die konkreten Orte des Geschehens ‚Auschwitz‘ nicht mehr existieren, […] Topographien des Gedächtnisses und des Zeugnisses durch das Schreiben selbst geschaffen werden müssen.“ 78 Sie führt jedoch auch aus, dass „[d]ie nach 1945 geborenen Schreibenden […] dennoch auf verschiedene Weise [versuchen], mit den Orten verbundene Erfahrungen und die dazugehörigen Geschichten der Deportierten 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots 35 79 Ebd., S. 210. 80 Die Aufsätze von 2007, 2008a und 2010 beziehen sich auf Beaune-la-Rolande. Ausfüh‐ rungen zu La Trahison, Beaune-la-Rolande und Mémorial befinden sich in Schubert 2008b, S. 237-242. 81 Bzgl. dieser Episode vgl. B 3.3.4. 82 Schubert 2008b, S. 233. 83 Ebd. 84 Matteo Majorano, „La Politique du malaise à l’âge du plastique“, in: Bruno Blan‐ ckeman / Marc Dambre / Aline Mura-Brunel, (éds.), Le roman français au tournant du XXIe siècle, Paris, Presses Sorbonne Nouvelle, 2004, S. 517-526, (Majorano 2004). Valeria Gramigna, „Dans la ville (Cathrine, Clerc, Haenel, Mestre, Wajsbrot)“, in: Thé‐ rèse Jacquet (dir.), Papier-villes, Bari, Edizioni B. A. Graphis, 2008, S. 5-19, (Gramigna 2008). Teresa Baquedano Morales, „Representaciones hostiles del espacio urbano en la novela francesa contemporanea: la sobremodernidad de los no lugares como ausencia de tras‐ cendencia“, in: Esperanza Bermejo Larrea (coord.), Regards sur le ’locus horribilis’. Ma‐ nifestations littéraires des espaces hostiles. Zaragoza, Prensas de la Universidad de Zara‐ goza (coll. Humanidades, 100), 2012, S. 237-252, (Baquedano Morales 2012). Fabien Gris, „Des paysages du peintre à la ville prise dans l’Histoire: Caspar Friedrich Strasse de Cécile Wajsbrot“, in: Revue critique de fixxion française contemporaine, Jg. 8, 1 / 2014, S. 15-27, (Gris 2014). einzuholen“ 79 . In ihren 2007, 2008 (und 2010) erschienenen Aufsätzen über Beaune-la-Rolande, La Trahison und Mémorial 80 hat Katja Schubert detailliert entfaltet, dass und warum Cécile Wajsbrot als typische Repräsentantin dieser Gruppe von Schriftstellerinnen zu betrachten ist. Wenn Cécile Wajsbrot die Funktion von Literatur anhand der von Rabelais im Quart Livre erzählten Haute Mer-Episode Pantagruels erläutere, 81 dann insistiere sie auf einer „[…] approche intertemporelle et intertextuelle malgré et avec Auschwitz“ und demonstriere damit, dass sie sich trotz „Auschwitz“, das den „[…] horizon culturel et politique en Europe […]“ 82 bis heute definiere, in die literarische Tradition einordne. Sie tue dies umso lieber, als sie hier, womöglich anders als im Bereich der Familie, eine „généalogie intacte“ vorfinde: La lecture et le commentaire d’autres textes littéraires portent les siens, tissent aussi leurs trames à l’intérieur des siens et créent une polyphonie qui exprime appartenance, interaction et, qui sait, aussi une généalogie intacte, contrairement à la généalogie familiale avec ses multiples ruptures. 83 Die Zahl der in Frankreich und in anderen europäischen Ländern erschienenen und für diese Dissertation relevanten Studien ist relativ gering. Zu erwähnen sind die Arbeiten von Matteo Majorano, Fabien Gris, Valeria Gramigna und Te‐ resa Baquedano Morales. 84 1 Cécile Wajsbrot 36 85 Majorano 2004, S. 524. 86 Gris 2014, S. 25 f. 87 Vgl. Gramigna 2008, S. 7 und S. 13 f. 88 Vgl. Baquedano-Morales, S. 240-243. 89 Vgl. „Einleitung“, S. 16, Anm. 6. Sowohl Matteo Majorano als auch Fabien Gris setzen sich mit Caspar-Fried‐ rich-Strasse auseinander. Matteo Majorano charakterisiert den Roman als „[…] un enchevêtrement d’histoire (l’écroulement du mur de Berlin), de réflexion sur l’art, à partir des tableaux de Caspar Friedrich (sic! ), et d’un amour impossible, à cause du mur infranchissable qui existe en chacun de nous“ 85 . Am Ende seines gedanklich vielschichtigen Aufsatzes fasst Fabien Gris die Art und Weise, in der Cécile Wajsbrot die Reflexion über Kunst und Geschichte fiktionalisiert hat, folgendermaßen zusammen: Avec la fiction élaborée dans Caspar Friedrich Strasse, Cécile Wajsbrot fait partie de ces auteurs qui ont contribué à redéployer les canons de l’histoire de l’art selon de nouvelles logiques - anachroniques, fantomales et figurales -, qui échappent a priori au seul décryptage des intentions du peintre. En cela, n’a-t-elle pas suivi Friedrich lui-même qui, fidèle à l’esprit du romantisme, donnait ce conseil: „L’un des plus grands mérites et peut-être le plus grand mérite d’un artiste [est] de stimuler intellectuellement et d’éveiller des pensées, des sentiments et des sensations chez le spectateur, quand bien même ce ne serait pas les siennes“? 86 Valeria Gramigna arbeitet in ihrer Studie über Stadtromane die besondere Be‐ deutung heraus, die in Fugue der Beziehung zwischen dem Text und den Foto‐ grafien von Brigitte Bauer sowie der Funktion der „écriture“ für die Erzäh‐ lerin-Protagonistin zukommt. 87 In einem Aufsatz mit einer ähnlichen Thematik konzentriert sich Teresa Baquedano Morales in dem auf das Werk von Cécile Wajsbrot bezogenen Abschnitt in Anlehnung an Augés Theorie der „non-lieux“ auf die Art und Weise, in der in Nation par Barbès das Schicksal Anielas mit der Métro als einem klassischen „non-lieu“ verknüpft ist. 88 Obwohl Cécile Wajsbrot die Bedeutung des Raumes für ihr Schreiben deutlich betont hat 89 und R. Böhm und M. Zimmermann das Erzählwerk Wajsbrots be‐ reits 2010 als „literarische Suchbewegung“ bezeichnet haben, hat die Forschung die Romane und Erzählungen der Autorin bislang nicht systematisch unter diesem Aspekt in den Blick genommen. Die vorliegende Studie erfüllt folglich ein Desiderat, das umso dringender erscheint, da die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Literatur insgesamt seit geraumer Zeit verstärkt in den Mit‐ telpunkt des Interesses gerückt ist. 1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots 37 90 Vgl. Böhm / Zimmermann 2010, S. 20. 91 Schubert 2001, S. 204. 92 Wajsbrot 2015, S. 8. 93 Hélène Cixous / Cécile Wajsbrot, Une Autobiographie allemande, Paris, Christian Bour‐ gois éditeur, 2016, S. 86. 1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann haben bereits ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich bzgl. der Rezeption der Romane Cé‐ cile Wajsbrots deutliche Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland ab‐ zeichnen. 90 Da eine gründliche und belastbare Antwort empirische Studien, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten sind, voraussetzte, seien hier nur zwei Beobachtungen zitiert, die erkennen lassen, dass die Erinnerung an den Holo‐ caust in Frankreich und Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit sehr un‐ terschiedliche Reaktionen hervorrief. Bereits 2001 vermutete Katja Schubert, dass ein Roman wie La Trahison auf‐ grund der „[…] direkte[n] Auseinandersetzung im Frankreich der 90er Jahre zwischen einer Jüdin und einem Nichtjuden […] von einem französischen Pub‐ likum auch als eine Provokation und als eine neuartige, jedoch weitgehende Hinterfragung der eigenen Geschichte gelesen werden [konnte]“ 91 . Das beson‐ dere deutsche Interesse für jene Romane Cécile Wajsbrots hingegen, die sich mit einer historischen Thematik auseinandersetzen, mag sich aus einem Phänomen erklären, das sie selber sehr bewusst wahrgenommen hat. Im ersten Kapitel ihrer Essaysammlung Berliner Ensemble zeigt sich die zwischen Paris und Berlin pen‐ delnde Autorin angesichts des Berliner Stadtbildes dermaßen beeindruckt „[…] par la présence du passé, des plaques commémoratives rapportant les événe‐ ments les plus sombres et par la croyance - concrétisée par le nombre de grues et de chantiers - en un avenir“, dass sie sich fragt: „Où est le présent? “ 92 Und in einem Gespräch mit Hélène Cixous stellt sie in einem Rückblick auf ihre inzwi‐ schen dreizehn Berliner Jahre fest, dass es in dieser Zeit wohl keinen einzigen Tag gegeben habe, an dem die Zeitungen oder das Radio nicht auf den Natio‐ nalsozialismus oder die Judenvernichtung - l’extermination - hingewiesen hätten. Zumindest zu Beginn habe sie für diese Einstellung eine stärkere Affi‐ nität empfunden als für „[…] l’amnésie et la bonne conscience - ou faut-il dire l’inconscience mauvaise - françaises“ 93 . Unstrittig ist, dass in Deutschland auf‐ grund der historischen Schuld des Landes die Sensibilität für Themen, die auf den Holocaust bezogen sind, stärker ausgeprägt ist als in Frankreich, das seine 1 Cécile Wajsbrot 38 94 Böhm / Zimmermann 2010, S. 20. - Im Hinblick auf die Einstellung Cécile Wajsbrots zu ihren Wohnorten Paris und Berlin vgl. A 1.1. durch die Kollaboration herbeigeführte Verstrickung in den Holocaust bekannt‐ lich lange verdrängt hat. Im Hinblick auf L’Île aux musées, den zweiten Haute Mer-Roman, stellen R. Böhm und M. Zimmermann die Frage, ob die schwache Resonanz in Frank‐ reich der „[…] allzu radikalen ‚Verstimmlichung‘ und ‚Entkörperung‘ der Pro‐ tagonisten, die für manchen Leser blass und konturenlos bleiben“, 94 geschuldet sei. Im Übrigen dürfe man „gespannt sein“, ob das Interesse für die Romane Cécile Wajsbrots auf französischer Seite wachse, sobald der - mittlerweile im‐ merhin in vier Bänden vorliegende - als Pentalogie geplante Haute Mer-Zyklus vollständig vorliege. Angesichts der Experimentierfreudigkeit der Autorin, die sich im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker einer abstrakt-theoretischen Thematik zugewandt hat und deren sich von Roman zu Roman verändernde Erzählweise dem Leser eine beträchtliche Verstehensleistung abverlangt, ist (leider) weder für Frankreich noch für Deutschland zu erwarten, dass die Ro‐ mane Cécile Wajsbrots Auflagenrekorde erzielen werden. 1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots 39 1 Vgl. Ansgar Nünning, „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grund‐ lagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven“, in: Wolfgang Hallet / Birgit Neumann (Hrsg.), Raum und Bewegung in der Literatur - Die Literatur‐ wissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld, transcript, 2009, S. 33-52, hier: S. 33, (Nünning 2009 / / Hallet / Neumann Hrsg. 2009); vgl. dazu auch den Artikel „Raum / Raumdarstellung, literarische(r)“ von A. Nünning in dem von ihm hg. Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, J. B. Metzler, 4 2008, S. 604-607, hier: S. 604, (Nün‐ ning 4 2008). 2 Zitiert nach Nünning 2009, S. 33. Bezugstext: Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München, Fink 4 1993, (Lotman 4 1993). 3 Zitiert nach Nünning 2009, S. 33. Bezugstext: Natascha Würzbach, „Raumdarstellung“, in: „Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Ge‐ schlechterordnung“, in: Jörg Helbig (Hrsg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhun‐ dert, Heidelberg, C. Winter, 2001, S. 105-129, (Würzbach 2001 / / Helbig Hrsg. 2001). 4 Karin Wenz, Raum, Raumsprache und Sprachräume, Tübingen, Gunter Narr, 1997; S. 99, (Wenz 1997). 2 Darstellung des literarischen Raums Ansgar Nünning hat den Terminus „Raumdarstellung“ als „[…] Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaften, Naturerscheinungen und Gegenständen in ver‐ schiedenen Gattungen“ 1 bezeichnet. Unter Bezugnahme auf Jurij Lotman weist Nünning darauf hin, dass die Funktion der Raumdarstellung in literarischen Texten sich keineswegs in einer „[…] Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“ 2 erschöpfe, sondern, wie Natascha Würzbach be‐ tone, vielmehr auch als „[…] fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Aus‐ druck der Geschlechterordnung […]“ 3 fungiere. In ähnlicher Weise argumentiert Karin Wenz, wenn sie feststellt, dass der literarische Raum zwar „als Kulisse für Handlungen“ diene, aber darüber hinaus „[…] zum Resonanzboden für Emoti‐ onen und Stimmungen und somit zur Projektionsfläche geistig-seelischer In‐ halte […] oder […] zum Medium für symbolische oder mythische Weltentwürfe [werde]“. 4 Wenn man sodann berücksichtigt, dass der Begriff „Raum“ grund‐ sätzlich zunächst auch philosophisch zu hinterfragen ist, tut sich ein überaus weiter Frage- und Problemhorizont auf, der eine Konzentration auf die für die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit relevanten Aspekte erfordert. Dabei geht es darum, jene Aspekte der Raumkonstitution zu beleuchten, die als Matrix für die Formulierung von Leitfragen im Hauptteil der Arbeit dienen können. 5 Bzgl. eines summarischen, aber immer noch hilfreichen Überblicks vgl. Max Jammer, Das Problem des Raumes - Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt, Wissen‐ schaftliche Buchgesellschaft, 1960, und Elisabeth Ströker, Philosphische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt, Vittorio Klostermann, 1965. Bzgl. eines umfassenden aktuellen Überblicks aus narratologischer Sicht vgl. Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin / New York, De Gruyter, 2009, (Dennerlein 2009). 6 Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur - Deutsche Literatur im transnatio‐ nalen Kontext, Stuttgart und Weimar, J. B. Metzler, 2005, S. X, (Böhme 2005); vgl. Ed‐ ward W. Soja, „Vom „Zeitgeist“ zum „Raumgeist“. New Twists on the Spatial Turn“, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn - Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld, transcript, 2008; S. 241-262, hier: S. 244f, (Soja 2008 / / Döring / Thielmann Hrsg. 2008). 7 Birgit Neumann, „Raum und Erzählung“, in: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin / Boston, Walter de Gruyter, 2015, S. 96-104, hier: S. 96, (Neuman 2015 / / Dünne / Mahler Hrsg. 2015). - Birgit Neumann schränkt ihre Übereinstimmung mit Böhme ein mit dem Hinweis, „dass die Theoretisierung der viel‐ schichtigen Relation von Raum und Erzählung seit Beginn des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der Literaturwissenschaft ist“. Sie bezieht sich u. a. auf Michail Bachtin, Ernst Cassirer und Jurij Lotman. (S. 96). - Ebd. (S. 103 f.) bietet B. Neumann einen Über‐ blick über eine Auswahl von Arbeiten zum Thema „Raum und Erzählung“. 2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung „Raum“ bzw. „Räumlichkeit“ haben nicht nur die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt, 5 sie sind als eines der konstitutiven Elemente des Romans seit jeher auch Forschungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse der „[…] historischen, archäologischen und philologischen Wissenschaften […]“ nach 1800 - nicht zu‐ letzt unter dem Einfluss Hegels und des deutschen Idealismus - in stärkerem Maße „[…] durch temporalisierende Wissensformen […]“ 6 gelenkt und geprägt. Vor diesem Hintergrund hält Birgit Neumann das Urteil Böhmes, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“, für nachvoll‐ ziehbar. 7 So spielt sowohl in älteren als auch in neueren Texten zur Erzähltheorie 2.1 Von Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung 41 8 Beispielhaft verweise ich auf drei Standardwerke aus drei unterschiedlichen Epochen: Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart, J. B. Metzler, 1955 / 1972, (Läm‐ mert 1955 / 1972), bedient sich unter Berufung auf Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern und München, 1948 / 1964, (Kayser 1948 / 1964), der Kategorie „Raum“ lediglich zur Typisierung, indem er den Raumvom Geschehnisroman unterscheidet (vgl. S. 15, 35, 40 ff.). In Gérard Genettes ursprünglich auf Prousts À la recherche du temps perdu bezogenen, aber als narratologisches Standardwerk schlechthin geltenden Nou‐ veau discours du récit von 1983 (in deutscher Übersetzung: Die Erzählung, Paderborn, Fink, 3 2010) spielt „Raum“ als Kategorie des Erzählens keine Rolle. Birgit Neumann (Neumann 2015, S. 96) weist allerdings darauf hin, dass Genette in „Boundaries of Nar‐ rative“, in: New Literary History 8, (1976), S. 1-13, Raum als „statisches Anderes der dynamisch fortschreitenden Erzählung“ definiert habe. Zu erwähnen sind auch Ge‐ nettes Aufsätze „Espace et langage“ in Figures I, Éditions du Seuil, 1966, S. 101-108, sowie „La littérature et l’espace“ in: Figures II, Éditions du Seuil, 1969, S. 43-48. Matias Martinez / Michael Scheffel haben in ihrer Einführung in die Erzähltheorie, München, C. H. Beck, 8 2009, immerhin die Raumsemantik Jurij M. Lotmanns skizziert (vgl. S. 140-144), das Thema „Raum“ ansonsten jedoch gänzlich vernachlässigt (Mar‐ tinez / Scheffel 8 2009). 9 Doris Bachmann-Medick 4 2010, S. 308. Beispielhaft verweist Bachmann-Medick in Anm. 111, S. 323, auf die Dissertationen von Elisabeth Bronfen, Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus „Pilgrimage“, Tübingen, Max Niemeyer, 1986 und Alf Mentzer, Die Blindheit der Texte. Studien zur literarischen Raumerfahrung. Heidelberg, C. Winter, 2001. - Für noch bedeutsamer halte ich die Studie von Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit - Poeto‐ logische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart 1978, die sich durch eine Verbindung anthropologisch-phänomenologischer und struk‐ turalistisch-semiotischer Ansätze sowie durch eine beeindruckend breite Auswahl an Referenztexten auszeichnet. Zum damaligen Stand der Forschung vgl. ebd. S. 28-46 (Hoffmann 1978). - Bzgl. neuerer Forschungsberichte vgl. Böhme 2005, S. IX-XXIII, Dennerlein 2009, S. 48-72, Wolfgang Hallet & Birgit Neumann, „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“, in: Hallet / Neumann Hrsg. 2009, S. 11-32, und Nün‐ ning 2009, S. 35-39. - Im Hinblick auf einen umfassenden, differenzierten Überblick über den aktuellen Forschungsstand bzgl. des Verhältnisses zwischen Literatur und Raum sei verwiesen auf Dünne / Mahler Hrsg. 2015. „Raum“ als eine der Grundkategorien der Erzähltheorie kaum eine Rolle, 8 ob‐ wohl Doris Bachmann-Medick zu Recht darauf hinweist, dass „[i]n der Litera‐ turwissenschaft […] der „erzählte Raum“- von der Phänomenologie bis zur Se‐ miotik des literarischen Raums - schon längst vor dem spatial turn behandelt worden [ist]“ 9 . Als unumstößliche Tatsache hat jedoch auch zu gelten, dass im Zuge der Integration der Philologien in den Bereich der Kulturwissenschaften die Bedeutung des Räumlichen in der Literatur im Allgemeinen und im Roman im Besonderen verstärkt in den Blick gerückt und neu akzentuiert und bewertet worden ist. Den ersten Anstoß dazu gab bereits im Jahre 1967 Michel Foucault in einem vor Architekten in Paris gehaltenen Vortrag über Heterotopien, den er mit einer klaren Abgrenzung des 20. vom 19. Jahrhundert einleitete: 2 Darstellung des literarischen Raums 42 10 Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt, Suhrkamp, 2006; S. 317-327, hier: S. 317, (Foucault 2006 / / Dünne / Günzel Hrsg. 2006). 11 Bzgl. der Zitate vgl. Bachmann-Medick 4 2010, S. 290 und S. 288 f. Die Konzeptualisierung des Raums als Behälter wurde erstmals 1974 von Henri Lefebvre kritisiert. Vgl. dazu Michael C. Frank, „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“, in: Hallet / Neumann Hrsg. 2009, S. 53-80, hier: S. 58, (M. C. Frank 2009) und Henri Lefebvre, „Die Produktion des Raums“, in: Dünne / Günzel Hrsg. 2006, S. 330-342, (Lefebvre 2006). 12 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Berlin, Bruno Cassirer, 1929, S. 165-187. Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergan‐ genen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Ne‐ beneinander und des Zerstreuten. 10 Ein Wandel hat auch im Hinblick auf das Verständnis der Kategorie „Raum“ an sich stattgefunden. Wenn Doris Bachmann-Medick allerdings unter Berufung auf „[…] postmoderne Geographen […]“ wie z. B. Edward W. Soja feststellt, dass „[…] in der neuen Konzeptualisierung […] Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen [meint]“, sondern vielmehr zu verstehen ist als „[…] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchli‐ chen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Prak‐ tiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten“, 11 so mag man zwar die in der Definition durchscheinenden gesellschaftspolitischen Implikationen als Novität betrachten, der prozes‐ sual-dynamische Argumentationsansatz hingegen ist keineswegs neu. So hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen in einem großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang, 12 in nuce in einem 1930 gehaltenen Vortrag zum Thema Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum in Anleh‐ nung an Leibniz „[…] die wahre Natur von Raum und Zeit […]“ mittels des 2.1 Von Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung 43 13 Vgl. Ernst Cassirer, „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, in: Dünne / Günzel Hrsg. 2006, S. 485-500, hier: Zitat S. 489, Kontext S. 489 f. (Cassirer 2006), sowie Gottfried Wilhelm Leibniz, „Briefwechsel mit Samuel Clarke (1715 / 1716)“, in: Dünne / Günzel Hrsg. 2006, S. 58-73, hier: S. 68-71. Vgl. zu Cassirer (und Lotman) auch Wolfgang Hallet, „Fictions of Space: Zeitgenössische Romane als fiktionale Mo‐ delle semiotischer Raumkonstitution“, in: Hallet / Neumann Hrsg. 2009, S. 81-113, (Hallet 2009); vgl. zu Cassirer, Bachtin und Lotman: Sylvia Sasse, „Literaturwissen‐ schaft“, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Raumwissenschaften, suhrkamp taschenbücher wis‐ senschaft 1891, 2009, S. 225-241, insb. S. 231-236, (Sasse 2009/ / Günzel Hrsg. 2009); zur Bedeutung von Cassirer und Bachtin vgl. Tim Mehigan / Alan Corkhill (Hrsg.) 2013, „Vorwort“, S. 7-21; hier: S. 8-10, in: Dies., Raumlektüren - Der Spatial Turn und die Li‐ teratur der Moderne, Bielefeld, transcript Verlag, 2013, S. 7-21, hier: S. 8-10, (Me‐ higan / Corkhill 2013). 14 Zitiert nach Cassirer 2006, S. 489. 15 Ebd., S. 489 f. 16 Ebd., S. 491. 17 Ebd., S. 491. 18 Ebd., S. 492. 19 Ebd., S. 490. Begriffs der „Ordnung“ bzw. der „Beziehung“ erklärt. 13 Raum und Zeit sind für Cassirer, anders als noch für Kant, der in ihnen apriorisch Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis erkannte und sie zu „[…] existierenden Un‐ dingen […]“ 14 erklärte, durch den Begriff der „Ordnung“ der metaphysischen Kategorie der „Substanz“, also dem „Sein“, übergeordnet. „Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.“ 15 Die sich daraus ableitenden Konsequenzen sind eindeutig: Wenn Raum und Zeit keinen Seinscharakter haben, fehlt ihnen „[…] die absolute Iden‐ tität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, [die] den logischen Grundcha‐ rakter des Seins [bildet]“. 16 Die Ordnung hingegen zeichnet sich aus durch „[…] das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit […]“ und der „[…] Mannigfaltigkeit […]“. 17 Für Cassirer hat dies epistemologisch den großen Vorteil, dass „[u]nter der Herrschaft des Ordnungsbegriffs […]“ 18 Raum nicht mehr in seiner Dinghaftigkeit gesehen, sondern dass die Welt insgesamt als ein „[…] System von Ereignissen […]“ betrachtet wird, in dessen „[…] gesetzliche Ordnung […] Raum und Zeit als Bedingungen, als wesentliche und notwendige Momente [eingehen]“. 19 Damit praktiziert Cassirer eine große Offenheit des Denkens, deren anfängliche Unbestimmtheit und Unbegrenztheit jedoch durch den Ordnungsbegriff bestimmt und eingegrenzt werden. Dies geschieht einer‐ seits auf der begrifflichen Ebene durch „[…] die reine Denkfunktion“, anderer‐ seits durch „[…] die Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstel‐ 2 Darstellung des literarischen Raums 44 20 Vgl. ebd., S. 492 f. 21 Ebd., S. 493. 22 Ebd. S. 494. 23 Ebd., S. 494. 24 Vgl. ebd., S. 495. 25 Ebd., S. 497. 26 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. lung“. 20 Letztere erfüllt die kritische Funktion der „Sonderung“ und „Verknüpfung“ nicht begrifflich-theoretisch, sondern indem „[…] sie individu‐ elle Gebilde erstehen [lässt], denen die schaffende Phantasie, aus der sie ent‐ stammen, den Atem des Lebens einhaucht, und die sie mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Lebens begabt“. 21 Der autonome Charakter jedes ein‐ zelnen Kunstwerks könnte kaum stärker betont werden als durch die Hervor‐ hebung seiner Individualität und Vitalität. Und so gilt für die Wahrnehmung und Gestaltung des Raums folgerichtig nicht eine „[…] schlechthin feststehende Raum-Anschauung […]“, vielmehr „[erhält] der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung […], innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet“. 22 Diese Sinnordnung ist nicht als eine „[…] schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur […]“ 23 zu denken, sondern sie resultiert aus der jeweiligen Anschauungsweise, in und aus der sich Raum kon‐ stituiert. Cassirer unterscheidet den mythischen vom ästhetischen und theoreti‐ schen Raum. Der mythische Raum korrespondiert mit einer „Denkform“ und einem „Lebensgefühl“, die sich, wenn es z. B. darum geht, ein Oben und Unten oder die Himmelrichtungen zu unterscheiden, nicht an mathematisch-physika‐ lischen Kategorien, sondern an „magischen Zügen“ und an der jedem Ort inne‐ wohnenden „eigentümlichen Atmosphäre“ orientieren. 24 Sowohl die Ganzheit des mythischen Raumes als auch seine „[…] Gestaltung und Gliederung im ein‐ zelnen […]“ sind nur im Lichte der „[…] universellen ‚Sinnfunktion‘ des My‐ thos […]“ 25 zu verstehen. Der ästhetische Raum hingegen führt uns in „[…] die Sphäre der reinen Darstellung“. Und wiederum ist zu beachten, wie sich Cassirer die „Konstitution“ des ästhetischen Raums „[…] in den bildenden Künsten, in der Malerei, der Plastik, der Architektur […]“ (und sicherlich auch im literari‐ schen Text) vorstellt. Auf keinen Fall handelt es sich um eine photographisch exakte Wiedergabe, „[…] ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt […]“. Viel‐ mehr entsteht „[…] ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt“. 26 Cassirers Vorstellung vom (ästhetischen) Raum wird somit nicht von einem statischen Bild, von einer vorzufindenden Gegebenheit geprägt, vielmehr erwächst sie aus einer subjektbezogenen, das Verhältnis von Raum und Zeit 2.1 Von Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung 45 27 Vgl. dazu auch Roger Lüdeke, „Einleitung“, in: Dünne / Günzel Hrsg. 2006, S. 449-469, hier: S. 449 (Lüdeke 2006). 28 Cassirer 2006, S. 498. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Lüdeke 2006, S 452. 32 Cassirer 2006, S. 499. 33 Vgl. Lüdeke 2006, S. 452. 34 Cassirer 2006, S. 498 f. systematisch aufeinander beziehenden Sichtweise. 27 Verständlicherweise betont Cassirer daher auch, dass der ästhetische Raum im Unterschied zum theoretischen Raum, der nur „gedacht“ wird, echter „Lebensraum“ ist, der jedoch nicht „[…] aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist“. 28 Mit dem mythischen ist der ästhetische Raum insofern verwandt, als beide „[…] konkrete’ Weisen der Räumlichkeit sind“. 29 Auch den künstlerischen Raum sieht Cassirer „[…] durchsetzt mit den inten‐ sivsten Ausdruckswerten“. 30 Zugleich jedoch erkennt er eine gewachsene Dis‐ tanz zwischen dem Subjekt und dem dargestellten Objekt, die darauf zurück‐ zuführen ist, dass sich der Mensch durch „[…] zeitlich bestimmte, chronologische Reflexionsformen […]“ aus der „[…] Topologik des mythischen Lebensraums […]“ 31 , d. h. aus dem „[…] Wechselspiel von Kräften, die [ihn] von außen her ergreifen und […] kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen“ 32 , be‐ freit. Dabei ist, wie Lüdeke betont, 33 ästhetische Raumerfahrung nicht mit rati‐ onal-analytischer Welterklärung zu verwechseln. Vielmehr liege der Vorzug des Ästhetischen darin, nicht der Zweckhaftigkeit und den Handlungszwängen all‐ täglicher Lebensbewältigung zu unterliegen, sondern „als Vermittlungs- und Reflexionsmedium“ zu dienen. Der Akt der ästhetischen Raumkonstitution ist ohne die Freiheit des Subjekts nicht vorstellbar. Cassirer hat jedoch auch die Konsequenzen im Blick, die sich aus dieser Freiheit ergeben: Die echte ‚Vorstellung‘ ist immer zugleich Gegenüber-Stellung; sie geht aus vom Ich und entfaltet sich aus dessen bildenden Kräften; aber sie erkennt zugleich in dem Gebildeten ein eigenes Sein, ein eigenes Wesen und ein eigenes Gesetz - sie lässt es aus dem Ich erstehen, um es zugleich gemäß diesem Gesetz bestehen zu lassen und es in diesem objektiven Bestand anzuschauen. So ist der ästhetische Raum […] ein In‐ begriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Ge‐ genstandswelt aufschließt. 34 Mit dieser Definition der ästhetischen Raumkonstitution stellt Cassirer bereits eindeutig ein semiotisches Verständnis von Raum unter Beweis: Er formuliert die Vorstellung, dass ein schöpferisches Subjekt Raumsignifikation schafft oder, 2 Darstellung des literarischen Raums 46 35 Vgl. zum folgenden Abschnitt Hallet 2009, S. 85-90. 36 Vgl. dazu Birgit Neumann, „Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur: Raumkonzepte der (Post-)Kolonialismusforschung“, in: Hallet / Neumann Hrsg. 2009, S. 114-138, (Neumann 2009). 37 Hallet 2009, S. 88. 38 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 90-93. anders ausgedrückt, dass der Raum seine Struktur der sinnstiftenden, kreativen Tätigkeit eines „Ich“, also eines Künstlers verdankt, dann aber seins-, wesens- und gesetzmäßige Eigenständigkeit gewinnt. Somit verdienen die folgenden Aspekte besondere Beachtung: 35 • Jeder Akt der Raumkonstitution ist ein subjektbezogener Prozess. Die Raumwahrnehmung und -darstellung wird subjektiv und intersubjektiv durch mannigfaltige Prozesse beeinflusst, die ihrerseits durch zeitbe‐ dingte Faktoren, aber auch durch arbiträre Entscheidungen und unter‐ schiedliche Gefühlslagen gesteuert werden können. • Der im literarischen Text repräsentierte Raum wird bei jedem Leseakt neu konstituiert. Die daraus resultierende Vielfalt unterschiedlicher Raum‐ deutungen birgt insbesondere im Kontext der kolonialen und postkolo‐ nialen Literatur ein nicht unerhebliches Konfliktpotential. 36 Dies gilt si‐ cherlich mehr oder weniger für alle Texte, denen eine kontroverse historische Thematik zugrunde liegt. • Die Subjektivität, Aspektgebundenheit und Zeitbedingtheit der Raum‐ darstellung können zur Folge haben, dass jeder an der Raumsemiosis Be‐ teiligte „Aktant im wahrgenommenen Wirklichkeitsraum“ 37 ist bzw. werden kann, d. h. konkrete Handlungsfunktionen bzw. -interessen ver‐ tritt. Der Prozess der Raumwahrnehmung und -darstellung ist ein komplexer Vor‐ gang, bei dem die einen (künstlerischen) Raum konstituierende Person eine Vielzahl von auditiven, visuellen, olfaktorischen und haptisch-taktilen Sinnes‐ eindrücken aufzunehmen, zu verarbeiten, zu ordnen und nicht zuletzt mit frü‐ heren Erfahrungen zu korrelieren hat. 38 Zu unterscheiden ist dabei u. a. zwischen der Wahrnehmung von • Räumen, deren Erschließung Bewegung voraussetzt • Geräuschen und Klängen, Formen und Farben, Düften und Gerüchen, Gewichten und Oberflächen • Menschen und anderen Lebewesen, ihrem individuellen Aussehen und Verhalten 2.1 Von Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung 47 39 Ebd., S. 91. 40 Vgl. dazu Harald Weinrich, Lethe - Kunst und Kritik des Vergessens, München, C. H. Beck, 1997, S. 21-26, (Weinrich 1997); Karin Wenz 1997, S. 137 f. und Dies., „Linguistik / Se‐ miotik“, in: Günzel Hrsg. 2009, S. 208-224; hier: S. 213, (Wenz 2009); Schubert 2001, S. 76-80. • einer Vielfalt von - symbolisch oder sprachlich-diskursiv - vermittelten Anordnungen der Raumdeutung bzw. -nutzung Angesichts der Fülle von Eindrücken, die in den Prozess der Raumsemiosis ein‐ gehen, muss man sich den Akt der Raumkonstitution „[…] als eine komplexe kognitiv-semiotische Tätigkeit und [einen] holistischen, synästhetischen und bedeutungssynthetisierenden Akt, der zudem […] sehr selektiv ist“ 39 , vorstellen. Das Merkmal der Selektivität gilt gerade auch für die literarische Darstellung von Räumen, da die komplexe Wahrnehmung eines Raumes, die stets auf einer Vielzahl von Sinneseindrücken sowie kognitiv vermittelter Daten und Infor‐ mationen beruht, nur so sprachlich angemessen „übersetzbar“ ist. Auch wird man ein inhaltlich-darstellerisches Interesse an der Selektion bzw. an der Her‐ vorhebung von Besonderheiten und Details voraussetzen dürfen. Die Erinnerung an jegliche sich aus vielfältigen Sinneseindrücken ableitende Raumwahrnehmung ist eindeutig dominant visuell gesteuert. Dies berichten bereits Cicero und Quintilian in einer Geschichte über den Dichter Simonides, der an einem Festbankett teilnahm, dann aber aus dem Saal gerufen wurde. Kurze Zeit später stürzte die Saaldecke ein, Gastgeber und Gäste waren unter den Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Simonides ver‐ mochte jedoch mühelos alle Toten zu identifizieren, da er sich den Sitzplatz jedes Einzelnen eingeprägt hatte. 40 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung be‐ schränkt sich jedoch nicht auf die detektivische Aufklärung spezieller räumli‐ cher Gegebenheiten, sie dient vielmehr der Erschließung von Welt schlechthin. In welchem Maße dies für die Literaturwissenschaften relevant ist, hat insbe‐ sondere Jurij M. Lotman in seinen Überlegungen zur Semiotik des Raums auf‐ gezeigt. Die Entwicklung seiner Gedanken soll daher in einem größeren Kontext nachgezeichnet werden. 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums Der 1922 geborene russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, der ab 1954 bis zu seinem Tod 1993 an der Universität Tartu in Estland lehrte, hat sich in seinem Werk mehrfach mit dem Problem des künstlerischen Raums ausei‐ 2 Darstellung des literarischen Raums 48 41 München, Wilhelm Fink, 4 1993, (Lotman 4 1993). Vgl. insbesondere Kapitel 8: Die Kom‐ position des Wortkunstwerks, S. 300-401. Hinzuweisen ist auch auf Lotmans bereits 1966 entstandenen Aufsatz „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s [sic] Prosa“ in: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronberg: Scriptor, 1974, S. 200-271, (Lotman 1974 / / Eimermacher Hrsg. 1974). 42 Die Innenwelt des Denkens ist 2010 in Berlin bei Suhrkamp erschienen (Lotman 2010). 43 Zeitschrift für Semiotik, 12, 1990, S. 287-305, (Lotman 1990). 44 Vgl. Lotman 4 1993, S. 301 und Lotman 1974, insbesondere S. 200-202. 45 Lotman 4 1993, S. 312. 46 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. nandergesetzt. Dabei wird die Entwicklung seines Denkens durch die diesbe‐ züglichen Darstellungen in seinem erstmals 1972 in deutscher Übersetzung er‐ schienenen Standardwerk Die Struktur literarischer Texte 41 und in dem erst 2010 in deutscher Sprache unter dem Titel Die Innenwelt des Denkens 42 veröffent‐ lichten Spätwerk markiert. Das in letzterem entwickelte Modell der Semiosphäre hat Lotman in kondensierter Form ebenfalls unter dem Titel „Über die Semio‐ sphäre“ in einem Zeitschriftenaufsatz vorgestellt. 43 Lotman geht - wie Cassirer - davon aus, dass im Kunstwerk „[…] ein endli‐ ches Modell der unendlichen Welt [dargestellt wird]“, die reale Welt dabei jedoch nicht kopiert, sondern in eine andere, künstlerische Wirklichkeit übersetzt wird. 44 Die unterschiedlichen Künste bedienen sich dabei unterschiedlicher Ko‐ dierungen. So wurde in der Malerei die Perspektive zu einem Mittel, die Pluri‐ dimensionalität des Raumes der Wirklichkeit in die Zweidimensionalität eines in einen Rahmen eingefügten Bildes zu übertragen. Für Lotman wird jedoch auch „[…] die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt […]“. 45 Er begründet dies damit, dass „[…] die Denotate verbaler Zeichen in ihrer Mehrzahl irgendwelche räumlichen, sichtbaren Ob‐ jekte sind […]“ und der Rezeption „verbalisierter Modelle“ ein ikonisches, An‐ schaulichkeit ermöglichendes Prinzip zugrunde liegt. 46 Um diese Behauptung zu belegen und zu veranschaulichen, schlägt er eine Art Gedankenexperiment vor: Man stelle sich einen in höchstem Grade abstrahierten Begriff, „irgendein Alles“, vor und definiere seine Merkmale. Dabei werde man sich eines räumlich bestimmten Terminus wie „Unbegrenztheit“ bedienen, was durch die Beziehung zur räumlichen Grenze und die durch den Ausdruck evozierten Assoziationen naheliege. Nimmt man den - von Lotman nicht genannten - Begriff „Vollkom‐ menheit“ als Beispiel, der landläufig mit den fünf „vollkommenen“ platonischen Körpern (Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder, Würfel, Dodekaeder) oder mit Kreis und Kugel in Verbindung gebracht wird, leuchten seine o. g. Erläuterungen 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums 49 47 Bzgl. dieses Absatzes vgl. Lotman 4 1993, S. 312. 48 A. D. Aleksandrov, „Abstraktnye prostranstva“, in: Matematika, eë soderžanie, metody i značenie, Bd. III, M., 1956, S. 151, (Aleksandrov 1956), zitiert nach Lotman 4 1993, S. 312. Zu den nachfolgenden Erläuterungen des Zitats vgl. ebd., S. 313, sowie Mar‐ tinez / Scheffel 8 2009, S. 141. ebenso ein wie seine Behauptung, dass der Begriff „[…] Universalität … für die Mehrzahl der Menschen einen deutlich räumlichen Charakter [habe]“. 47 Für Lotmans Vorstellung des künstlerischen Raums als eines Modells der Wirklichkeit ist sodann eine von A. D. Aleksandrov aufgestellte Definition des Raums konstitutiv, die einerseits den Begriffsumfang sehr weit fasst, anderer‐ seits Relationalität als ein allgemein gültiges Merkmal des Raums bestimmt. Für Aleksandrov ist Raum […] die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Fi‐ guren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den ge‐ wöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind. 48 Diese Betrachtungsweise erlaubt die Übertragung räumlicher Vorstellungen auf Bereiche, die eigentlich nicht räumlich geprägt sind. So spricht man daher in der Mathematik und in den Naturwissenschaften z. B. vom „Zahlenraum“, „Far‐ benraum“ oder „Phasenraum“. Auch richten wir in unserem Alltag gerne „Frei‐ räume“ ein und denken langfristig in größeren „Zeiträumen“. Zugleich aber be‐ dienen wir uns verschiedener topologischer Gegensatzpaare wie „hoch - niedrig“, „rechts - links“, „nah - fern“, „offen - geschlossen“, „abgegrenzt - nicht abgegrenzt“, „diskret - ununterbrochen“ keineswegs nur zur Beschreibung räumlicher Beziehungen, vielmehr setzen wir sie auch ein, um z. B. im sozialen (‚eine offene / geschlossene Gesellschaft‘, ‚nahe / ferne Bekannte‘) oder poli‐ tisch-ökonomischen (‚hohe / niedrige Gewinne‘) Bereich Beurteilungen und Wertungen vorzunehmen. Auch ist unser Denken durch vertikal strukturierte Hierarchisierungen, wie sie z. B. in der Unterscheidung zwischen „Himmel - Erde - Hölle / Unterwelt“ zum Ausdruck kommen, in einer räumlichen, zugleich jedoch wertmäßig differenzierenden Weise vorgeprägt. Zum „[…] wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes […]“ wird für Lotman jedoch die Grenze, die „[…] den Raum in zwei disjunkte Teilräume [teilt]“, deren „innere Struktur […] verschieden [ist]“. Die Grenze zeichnet sich zuvörderst durch ihre „Unüberschreitbarkeit“ aus, sie „[…] muss unüberwind‐ lich sein […]“. Die „disjunkten Teilräume“ sind nicht notwendigerweise als an‐ 2 Darstellung des literarischen Raums 50 49 Bzgl. der Zitate dieses Absatzes vgl. Lotman 4 1993, S. 327. 50 Vgl. ebd., S. 332. 51 Ebd., S. 334. 52 Vgl. ebd., S. 336. 53 Ebd., S. 332 f. 54 Ebd., S. 333. 55 Ebd., s. 333. einander grenzende, sich feindlich begegnende Territorien zu denken, vielmehr nennt Lotman beispielhaft „[…] eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere […]“. 49 In Lotmans Vorstellung vom künstlerischen Raum und damit auch in seiner Narratologie ist die Grenze auf das engste mit dem Begriff des „Sujet“ bzw. des „Ereignisses“ verbunden. Die Frage: „Was ist ein Ereignis als Einheit des Suje‐ taufbaus? “ beantwortet er folgendermaßen: „Ein Ereignis im Text ist die Ver‐ setzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.“ 50 Angesichts der Charakterisierung der Grenze als einer unüberwindbaren Trennungslinie überrascht es nicht, dass Lotman ein „Ereignis“ als „[…] revolutionäres Element, das sich der geltenden Qualifizierung widersetzt“, 51 bezeichnet. Da ein in diesem Sinne verstandenes „Ereignis“ also etwas gänzlich Unerwartetes bzw. Unwahr‐ scheinliches darstellt, nimmt seine „Sujethaftigkeit“ zu, je geringer die Wahr‐ scheinlichkeit seines Eintretens ist. 52 Allerdings bedarf die Unterscheidung zwischen „Ereignis“ und „Nicht-Er‐ eignis“ noch der Präzisierung, insofern ein Geschehen weder losgelöst von seinem „[…] sekundären semantischen Strukturfeld […]“ noch von den jewei‐ ligen „[lokalen] Geordnetheiten […]“ 53 zu beurteilen ist. Der Kontext der Zitate lässt vermuten, dass Lotman damit den sozio-kulturellen Kontext eines Hand‐ lungsablaufs mitsamt seinen bis auf lokaler Ebene zu beobachtenden Differen‐ zierungen meint. So weist er darauf hin, dass das „[…] Sujet […] organisch […] mit dem Weltbild [zusammenhängt], das den Maßstab dafür liefert, was ein Er‐ eignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt“ 54 . Die Relati‐ vität der Einschätzungen gelte für künstlerische und nicht-künstlerische Texte gleichermaßen, stellt Lotman mit einem Blick auf die „[…] Rubrik der ‚Tages‐ ereignisse‘ in Zeitungen verschiedener Epochen […]“ 55 fest und betont damit zugleich, dass Einstellungen und Wertmaßstäbe auch dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind. Man mag Lotmans Gedanken daher mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Ein Papstbesuch löst nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch in jedem einzelnen Land angesichts der Unterschiede z. B. zwi‐ schen ländlichen Gebieten und (Groß-)Städten sowie - in unterschiedlichem Maße - konfessionell-kirchlich gebundenen und kirchenfernen Bevölkerungs‐ 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums 51 56 Vgl. ebd., S. 338 f. und Martinez-Scheffel 8 2009, S. 140 f. 57 Vgl. Lotman 4 1993, S. 336. 58 Ebd., S. 313. 59 Vgl. dazu Martinez-Scheffel 8 2009, S. 144, sowie M. C. Frank 2009, S. 70, und Ders., “Sphären, Grenzen und Kontaktzonen - Jurij Lotmans räumliche Kultursemiotik am Beispiel von Rudyard Kiplings Plain Tales from the Hills“, in: Susi K. Frank, Cornelia Ruhe, Alexander Schmitz (Hrsg.), Explosion und Peripherie - Jurij Lotmans Semiotik der kulturellen Dynamik revisited, transcript Verlag Bielefeld 2012, S. 217-246, hier: S. 225 ff. (M. C. Frank 2012 / / Frank / Ruhe / Schmitz Hrsg. 2012). schichten unterschiedlichste Reaktionen aus, die von begeisterter Zustimmung („Jahrhundertereignis“) bis zu entschiedener Ablehnung („unnötige Geldver‐ schwendung“) reichen dürften, die darüber hinaus jedoch auch durch zeitbe‐ dingte Faktoren beeinflusst werden. Wenn Lotman den Akt der - unerwarteten - Grenzüberschreitung als Er‐ eignis bzw. Sujet eines Textes bezeichnet, dann sind die agierenden Figuren als bewegliche Helden zu bezeichnen. Er nennt beispielhaft Balzacs Rastignac, der sich - topologisch ausgedrückt - gesellschaftlich von „unten“ nach „oben“ em‐ porarbeitet, und Shakespeares Romeo und Julia, die sich - ungeachtet der die Häuser Montague und Capulet wie eine hohe Mauer voneinander trennenden Erbfeindschaft - zu ihrer Liebe bekennen. Die Beispiele zeigen, dass Grenz‐ überschreitungen (a) topologisch markiert, (b) angesichts der aufeinander treff‐ enden Einstellungen, Überzeugungen, Weltbilder zugleich semantisch aufge‐ laden und (c) selbstverständlich immer auch in einen topographisch mehr oder weniger genau bestimmten Rahmen eingefügt sind. 56 Während sujethaften Texten geradezu revolutionäre Eigenschaften eignen, geht von sujetlosen Texten eine die bestehenden Verhältnisse bestätigende Wir‐ kung aus, d. h. dass sie „[…] einen deutlich klassifikatorischen Charakter [haben]“ und die in ihnen agierenden Figuren unbeweglich sind. 57 Lotmans Anliegen, die Bedeutung des Raums für die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen darzustellen und zu begründen, ist so plausibel wie seine Feststellung, dass „[…] die Sprache räumlicher Relationen […] eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit“ 58 ist. Weniger zu über‐ zeugen vermögen jedoch der rigoros binäre Charakter seines Raummodells sowie die sich daraus ableitende Unterscheidung zwischen sujetlosen und su‐ jethaften Texten bzw. zwischen unbeweglichen und beweglichen Figuren, da sich die Frage aufdrängt, ob die komplexe Wirklichkeit ausschließlich in dieser schematisierten Form literarisch abgebildet bzw. übersetzt werden kann. 59 Un‐ erlässlich ist daher ein Blick auf das in seinem Spätwerk entfaltete Modell der Semiosphäre, in dem die Grenze als topologisches Hauptmerkmal zwar wei‐ terhin von zentraler Bedeutung ist, aber zugleich neu definiert wird. 2 Darstellung des literarischen Raums 52 60 Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf Lotman 1990 und Lotman 2010, S. 163-290. Bzgl. exzellenter Erläuterungen des Semiosphärenmodells s. das Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz in Lotman 2010, S. 383-416, (Frank / Ruhe / Schmitz 2010), sowie Cornelia Ruhe, La cité des poètes - Interkulturalität und urbaner Raum, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2004, S. 10-18, (Ruhe 2004). - Bzgl. des Vergleichs der Semiosphäre mit einem Organismus vgl. Lotman 1990, S. 289 f., und Lotman 2010, S. 165. 61 Vgl. Lotman 1990, S. 289. 62 Lotman 2010, S. 165. 63 Lotman 2010, S. 165. 64 Ebd., S. 169 f. 65 Ruhe 2004, S. 11. Lotman hat sein Modell der Semiosphäre in Anlehnung an Vladimir Ver‐ nadskijs Konzept der Biosphäre als ein organisches, holistisches Gebilde ent‐ wickelt. 60 Er betont, dass der Raum der Semiosphäre zwar von abstrakter Natur sei, der Begriff aber nicht metaphorisch gebraucht werde. 61 Entsprechend ihrem organischen Charakter „[…] ist […] die Semiosphäre zugleich Ergebnis und Vo‐ raussetzung der Entwicklung der Kultur“ 62 . In seiner zuweilen sehr bildhaften Sprache bringt Lotman damit zum Ausdruck, dass die Semiosphäre jenen Nähr‐ boden bildet, aus dem kulturelles Leben hervorgeht. Holistisch ist Lotmans An‐ satz, insofern für ihn „[…] jede einzelne Sprache […] von einem semiotischen Raum [umgeben ist]“ und „[der] kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, […] nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semioti‐ sche Raum einer Kultur [ist]“ 63 . Wenn Lotman hier offensichtlich von einer Vielzahl von in einer Semiosphäre nebeneinander existierenden Sprachen aus‐ geht, ist dies in hohem Grade missverständlich, solange man dabei nur an na‐ türliche Sprachen denkt. Gemeint sind vielmehr […] auch Partialsprachen, Sprachen mit eingeschränkten kulturellen Funktionen und sprachähnliche, unausgeformte Gebilde, die zu Trägern der Semiose werden können, wenn sie in einem semiotischen Kontext stehen: Etwa wie ein Stein oder ein seltsam gebogener Baumstamm als Kunstwerk fungieren können, wenn man sie als solches betrachtet. Ein Objekt nimmt die Funktion an, die man ihm zuschreibt. 64 Cornelia Ruhe betont, dass Lotman unter „Sprache“ in diesem Kontext „[…] nicht nur natürliche Sprache, sondern auch innerhalb einer Kultur geführte Diskurse, bestimmte kulturelle Phänomene [verstehe]“ 65 . Konkret wird er neben be‐ stimmten Fachsprachen oder Fachjargons z. B. auch verschiedene nonverbale künstlerische oder kunsthandwerkliche Ausdrucksformen im Blick gehabt 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums 53 66 Vgl. Lotman 2010, S. 167: „Die Geschwindigkeit, mit der die Kleidermoden wechseln, lässt sich nicht mit den wechselnden Entwicklungsstadien der Literatursprache ver‐ gleichen […]“ 67 Ebd., S. 166. 68 Ebd., S. 166. 69 Vgl. ebd., S. 168. 70 Bzgl. der vorangegangenen Zitate vgl. ebd., S. 168. 71 Ebd., S. 169. 72 Ebd., S. 169. haben, betrachtete er doch ganz offensichtlich auch „Kleidermoden“ 66 als „Spra‐ chen“. Angesichts der „[…] unterschiedlichen Art und Funktion […]“ 67 dieser „Sprachen“ und ihrer stark divergierenden Lebensdauer diagnostiziert Lotman Heterogenität als „[…] Kennzeichen der Semiosphäre […]“ 68 , da man bei syn‐ chroner Betrachtung immer „[…] verschiedene Sprachen in verschiedenen Ent‐ wicklungsstadien […]“ vorfinde. 69 Wenn Lotman nun in eben diesem Zusam‐ menhang überraschenderweise „[…] eine einheitliche Welt (der Semiosphäre) im synchronen Schnitt […]“ entdeckt, bedient er sich dabei eines Vergleichs mit einem Museumssaal, in dem „[…] Exponate aus unterschiedlichen Epochen […]“ mit darauf bezogenen Erläuterungen in „[…] bekannten und unbekannten Spra‐ chen […]“ sowie organisierte Rundgänge und kunsthistorische Führungen „[…] einen zusammenhängenden Mechanismus […] und damit die Abbildung einer Semiosphäre ergeben, deren „[…] Elemente […] nicht in einem statischen, son‐ dern in einem beweglichen, dynamischen Verhältnis zueinander stehen […]“. 70 Für Lotman ist eine einheitliche Welt also eindeutig nicht eine symme‐ trisch-gleichförmige, sondern eine asymmetrische, vielfältig strukturierte Welt, in der permanente Prozesse der Übersetzung zwischen verschiedenen „Spra‐ chen“, die „[…] in den meisten Fällen semiotisch asymmetrisch sind […]“, als „[…] Informationsgenerator […]“ 71 fungieren und damit innovativ-sinnstiftend wirken. Asymmetrie ist innerhalb der Semiosphäre besonders stark ausgeprägt „[…] im Verhältnis zwischen dem Zentrum und […] ihrer Peripherie“ 72 . Um diese Ge‐ setzmäßigkeit zu verstehen, bedarf es jedoch eines Blickes auf die Grenze als das topologische Hauptmerkmal der Semiosphäre. In deutlicher Abkehr von seinen frühen Schriften, in denen er, wie oben dargelegt wurde, das Prinzip einer strikten Opposition zwischen aneinander grenzenden Räumen vertrat, definiert Lotman die Grenze in Die Innenwelt des Denkens wesentlich differenzierter. Zwar erinnert er an das binäre Modell mit dem Hinweis, dass „[am] Beginn jeder Kultur […] die Einteilung der Welt in einen inneren („eigenen“) und einen äu‐ 2 Darstellung des literarischen Raums 54 73 Ebd., S. 174. 74 Ebd., S. 182. 75 Vgl. ebd., S. 193, und Frank / Ruhe/ Schmitz 2010, S. 415. 76 Lotman 2010, S. 169. 77 Vgl. ebd., S. 170. ßeren Raum (den der „anderen“) [stehe]“ 73 , als wesentliches Charakteristikum der Grenze bezeichnet er jedoch ihre „Ambivalenz“: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden anein‐ andergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache „unserer eigenen“ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das „Äußere“ zum „Inneren“ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen […]. 74 Die Grenze, oder, genauer: der Grenzraum bzw. die Peripherie stellen somit für Lotman einen überaus produktiv-kreativen Bereich dar, in dem aus der dyna‐ mischen, oft auch spannungsreichen Begegnung unterschiedlicher „Sprachen“ und der damit notwendigerweise einhergehenden Vermittlung zwischen unter‐ schiedlichen Kodierungen neue Ausdrucksformen („Sprachen“) hervorgehen. Die generative Kraft des Grenzraums könne so stark sein, dass sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zwischen Zentrum und Grenze umkehre. 75 Das Zentrum hingegen ist der Ort der Semiosphäre, an dem die „[…] am meisten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen“, also „[i]n erster Linie […] die natürliche Sprache der jeweiligen Kultur“ 76 dominieren und ihre die Kultur, die Rechts- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft nor‐ mierende Wirkung entfalten. Exemplarisch nennt Lotman den florentinischen Dialekt, der sich während der Renaissance als gesamtitalienische Literatur‐ sprache etablierte und, wie hinzuzufügen wäre, im Laufe der Jahrhunderte zur italienischen Hochsprache wurde; die Rechtsnormen, deren Geltungsbereich von Rom aus auf das ganze Imperium ausgeweitet wurde und die, wie einmal mehr zu ergänzen ist, bis heute das Rechtssystem in weiten Teilen Europas und der Welt mit prägen; die Etikette, die vom Hofe Ludwigs XIV . auf die Höfe Eu‐ ropas ausstrahlte. 77 Neben den zwischen unterschiedlichen Semiosphären liegenden Grenzen er‐ kennt Lotman jedoch auch Binnengrenzen innerhalb der Semiosphären, durch die „Sub-Semiosphären“ entstehen, deren wechselseitige Beziehung unter‐ schiedlich strukturiert sein kann. Binnengrenzen kommen z. B. durch die in einer Semiosphäre nebeneinander bestehenden Sprachen zustande. Für Lotman 2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums 55 78 Vgl. ebd., S. 184 79 Vgl. ebd., S. 212. 80 Vgl. dazu Ruhe 2004, S. 10, und M. C. Frank 2009, S. 69 f. und M. C. Frank 2012, S. 217-246, hier: S. 230 f. 81 M. C. Frank 2012, S. 230. 82 Vgl. dazu M. C. Frank 2009, S. 71. 83 Das Werk, das bereits 1937-1938 verfasst und vom Autor 1973 durch „Schlussbemer‐ kungen“ (S. 180-196) ergänzt wurde, ist in Deutschland zum ersten Mal im Jahre 1986 im Aufbau-Verlag und dann erneut 2008 in Frankfurt erschienen: Michail Bachtin, Chronotopos, Frankfurt, Suhrkamp, 2008 (Bachtin 2008). kann jedoch auch „[d]ie Grenze der Persönlichkeit […]“ zur „semiotischen Grenze“ werden, wobei der Begriff „Persönlichkeit“ nicht in einer kulturüber‐ greifend einheitlichen Weise interpretiert wird und keineswegs immer „mit den physischen Grenzen des menschlichen Individuums“ übereinstimmt. 78 Konsequenterweise geht im Denken Lotmans mit der modifizierten Defini‐ tion des Begriffs „Grenze“ eine Neudefinition des Sujet-Begriffs und der „be‐ weglichen Figuren“ einher. Statt - wie bisher - von einer einen „inneren“ von einem „äußeren“ Raum trennenden Grenze zu sprechen, die „[…] eine Figur … überschreiten kann“, geht er nun von einer „[…] davon abgeleitete[n], komple‐ xere[n] Situation“ aus. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass statt einer Figur „[…] ein paradigmatisches Bündel von Figuren […]“ auf eine „[…] Untergruppe von personifizierten Hindernissen […]“ bzw. auf „[…] unbewegliche Feind-Fi‐ guren […]“ trifft, so dass der „[…] Sujetraum […] mit zahlreichen, auf unter‐ schiedliche Weise miteinander verbundenen oder widerstreitenden Helden „be‐ siedelt“ ist“. 79 Die mit der komplexen Wirklichkeit nicht zu vereinbarende, dogmatisch anmutende Rigidität des ursprünglichen Ansatzes wird damit über‐ wunden, die Offenheit des Denkens nachdrücklich unterstrichen. 80 Die „beweg‐ liche Figur“ des binären Modells, die eine Grenze zwischen disjunkten Räumen überschreitet, mutiert zu einer „interkulturellen Übersetzerinstanz“ in einer Se‐ miosphäre, die sich durch „[…] die stete Umformung des semiotischen Raumes […]“ 81 auszeichnet. Weitaus weniger ergiebig hingegen ist Lotmans Beitrag zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Raum- und Zeitdarstellung in der Kunst und in der Literatur. Zu diesem Thema findet man in seinem Werk allenfalls einige Randbemerkungen. 82 Das Interesse der Literaturwissenschaft für diese Proble‐ matik wurde unterdessen neu geweckt durch Michail Bachtins Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. 83 Die zentralen Gedanken dieser Studie seien daher kurz zusammengefasst. 2 Darstellung des literarischen Raums 56 84 Bachtin 2008, S. 7. 85 Vgl. ebd., S. 8. 86 Vgl. dazu ebd., S. 191. 87 Bzgl. des folgenden Abschnitts vgl. das von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke ver‐ fasste „Nachwort“ zu Bachtin 2008, S. 201-242, hier: S. 207-211 (M. C. Frank / Mahlke 2008). 88 Vgl. dazu auch Abschnitt A 2.1, S. 44. 89 Zitiert nach M. C. Frank / Mahlke 2008, S. 209. 90 Bachtin 2008, S. 8. 91 Vgl. M. C. Frank / Mahlke 2008, S. 210. 2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi In der Einleitung zu Chronotopos kennzeichnet Bachtin das symbiotische Ver‐ hältnis zwischen Zeit und Raum „[i]m künstlerisch-literarischen Chrono‐ topos […]“, indem er feststellt, dass „[d]ie Merkmale der Zeit […] sich im Raum [offenbaren], und der Raum […] von der Zeit mit Sinn erfüllt [wird]“ 84 . Gerade auch für den literarischen Bereich sei der Chronotopos „von grundlegender Be‐ deutung“, allerdings sei „die Zeit das ausschlaggebende Moment“. Das von der Literatur gezeichnete „Bild vom Menschen“ sei immer „chronotopisch“ 85 . Beim Chronotopos ist indes nicht von der „darstellenden realen Welt“ auszugehen, vielmehr bezeichnet der Begriff die vom Autor in seinem Werk geschaffene, modellierte, abgebildete Welt bzw. die vom Hörer / Leser im Rezeptionsprozess „wiedererschaffene“ Welt. 86 In einer Fußnote trägt Bachtin eine philosophische Begründung für diese Auffassung vor. 87 Er stimmt - anders als Cassirer - 88 mit dem von Kant in der Kritik der reinen Vernunft definierten apriorischen Charakter von Raum und Zeit überein, insofern auch für ihn jegliche Erkenntnis ohne die Bindung an Raum und Zeit unmöglich ist. Kant definiert Raum und Zeit als „[…] Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Be‐ stimmung […]“ 89 . Bachtin teilt Kants „[…] Einschätzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozess“, versteht sie jedoch „[…] - im Unterschied zu Kant - nicht als ‚transzendentale‘, sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst“, und er will darstellen, „[…] welche Rolle diese Formen im Prozess der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens) unter Bedin‐ gungen, die dem Romangenre eignen, spielen“ 90 . Wenn Bachtin in diesem Zu‐ sammenhang von „der realen Wirklichkeit“ spricht, so denkt er dabei, wie Mi‐ chael C. Frank und Kirsten Mahlke wohl zu Recht - übrigens auch unter Berufung auf den von Michel Foucault geprägten Begriff des „historischen Apriori“ - betonen, an die jeweils epochenspezifischen Voraussetzungen, unter denen jeder Autor seine Vorstellungen von Raum und Zeit entwickelt. 91 2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi 57 92 Bachtin 2008, S. 180. 93 Ebd., S. 183. 94 Ebd. S. 187. 95 Zu den vorangegangenen Zitaten vgl. ebd., S. 188. 96 Ebd., S. 8. 97 Zu den „Verwendungsweisen“ der Chronotopoi vgl. die Einzelanalysen (Kapitel 1-9) in Bachtin 2008 und M. C. Frank / Mahlke 2008, S. 205-207. - Im „Nachwort“ von M. C. Frank und K. Mahlke wird auch auf die Bedeutung des Chronotopos für die „[…] Distinktion verschiedener Untergattungen des Romans […]“ (S. 205) hingewiesen. Dieser Gedanke werde jedoch „[…] im Chronotopos-Essay eher stillschweigend vo‐ rausgesetzt […]“ (S. 234, Anm. 26). In seinen Schlussbemerkungen analysiert Bachtin die wechselseitige Wir‐ kung von Raum und Zeit in einigen der „[…] typologisch beständigen Chrono‐ topoi […]“ 92 , um im Anschluss daran die Funktion der Chronotopoi für das Ganze des Romans zu bestimmen. Beispielhaft sei hier auf das „Schloss“ hingewiesen, das „[…] angefüllt [ist] mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit“ und „[…] in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnen‐ galerie, in den Familienarchiven, in den spezifischen Beziehungen der mensch‐ lichen Erbfolge […]“ 93 von sichtbaren Spuren der Vergangenheit gezeichnet ist. Die Funktion der Chronotopoi definiert Bachtin in einem ersten Ansatz nüchtern abstrakt, indem er sie als „[…] Organisationszentren der grundle‐ genden Sujetereignisse des Romans“ 94 bezeichnet. Sodann bedient er sich einer sehr anschaulich-bildlichen Sprache, indem er den Chronotopos im Hinblick auf seine „[…] gestalterisch[e] Bedeutung […]“ als „[…] Angelpunkt für die Entfal‐ tung der Szenen im Roman […]“ kennzeichnet, um in einer weiteren Steigerung in einer beinahe enthusiastisch anmutenden Sprache festzustellen: Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente - philosophische und soziale Verall‐ gemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. - werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig. 95 Neben der explizit genannten „gestalterischen Bedeutung“ haben die Chrono‐ topoi somit als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse“ zu‐ sätzlich eine wichtige erzähltheoretische Funktion. Auch wird durch die von Bachtin in der Einleitung als „[…] Form-Inhalt-Kategorie […]“ 96 bezeichneten Chronotopoi das den jeweiligen literarischen Text beherrschende Bild vom Menschen entscheidend mitgeprägt, insofern im Roman alles Abstrakte in kon‐ krete „Bildhaftigkeit“ übersetzt wird. 97 2 Darstellung des literarischen Raums 58 ZWEITER TEIL (B) ANALYSE DER LITERARISCHEN SUCHBEWEGUNGEN IM ERZÄHLWERK CÉCILE WAJSBROTS 1 Pierre Cendors et Cécile Wajsbrot, „L’appel du large“, in: http: / / remue.net/ spip.php? article2727, S. 5; Abruf 06. 03. 2012, (Wajsbrot / Cendors, L’appel du large). - Sinngemäß identisch und im Wortlaut ähnlich, nämlich unter Verwendung der Verankerungsme‐ tapher, äußerte sich Cécile Wajsbrot am 04. 07. 2013 in Berlin im Rahmen der Tagung „Stadt der Emotionen. Berlin in der frankophonen Gegenwartsliteratur“ auf eine Frage des Verfassers nach der Bedeutung des Raumes in ihrem Werk. 2 Bzgl. der Zitate und des Kontextes vgl. Wajsbrot / Cendors, L’appel du large, S. 2. 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen Bevor das Thema der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund der in A 1 und A 2 vorgetragenen Überlegungen inhaltlich begründet und darauf abgestimmte Untersuchungsfelder und methodische Entscheidungen dargelegt werden können, ist zu klären, nach welchen Gesichtspunkten sich das umfangreiche erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots ordnen und in ein Gliederungs‐ schema übertragen lässt. 1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder Dass die Bedeutung des Raumes für die Autorin außer Frage steht, hat sie nicht nur in dem bereits in der Einleitung zitierten Gespräch mit Dominique Dussi‐ dour, sondern in einer stark verallgemeinernden Form ebenfalls in einem auf Haute Mer bezogenen Dialog mit dem Romancier Pierre Cendors betont: „Les lieux ont toujours beaucoup d’importance, pour moi. C’est comme s’il me fallait avant tout ancrer le roman, l’installer quelque part.“ 1 Stellen Raum und Bewegung als primäre konstitutive Elemente eines jegli‐ chen Erzähltextes für Cécile Wajsbrot eine Konstante dar, so sind gleichzeitig in ihrem Werk inhaltlich-thematische und formale Entwicklungen zu be‐ obachten, die allerdings nicht streng linear-chronologisch verlaufen. So erklärt sie gegenüber Pierre Cendors, dass die Abfassung und Veröffentlichung vonei‐ nander isolierter Romane sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr zufrieden stellten. Vielmehr habe sie den Eindruck gehabt „[…] d’aller d’île en île, d’être dans la discontinuité, la dispersion“ 2 . Zu diesem Thema äußert sie sich in ähn‐ licher Weise gegenüber Dominique Dussidour. Sie bewundere ihren Kollegen Frédéric-Yves Jeannet, der, ohne sich zu wiederholen, in jedem neuen den Faden 3 Bzgl. des Zitats und des Kontextes vgl. Cécile Wajsbrot et Dominique Dussidour, „en littérature, il n’est pas d’autre urgence que l’urgence d’écrire“, in: http: / / remue.net/ spip.php? article1108, S. 3, Abruf: 06. 03. 2012, (Wajsbrot / Dussidour 2005, article 1108). 4 Vgl. ebd., S. 2. 5 Wajsbrot/ Dussidour 2005, article1107, S. 3. - Zum Aspekt der Anonymisierung der Fi‐ guren vgl. C 3, S. 497. des vorangegangenen Werkes wieder aufnehme. Ihre auf den Romanzyklus Haute Mer bezogenen eigenen Pläne präzisiert sie folgendermaßen: „C’est cette continuité que j’aimerais trouver, m’atteler à un ensemble cohérent […] écrire quelque chose qui serait le premier volet d’un ensemble de trois ou cinq livres autour de la question de la création, l’œuvre d’art et sa réception“. 3 Beklagt Cécile Wajsbrot hier eindeutig einen Mangel an inhaltlicher Kohä‐ renz in ihrem Werk, so kritisiert sie an einer anderen Stelle desselben im Jahre 2005 geführten Gesprächs ihren 2001 erschienenen Roman Nation par Barbès, da das zeitrelevante Thema der illegalen Einwanderung nicht in einem stim‐ migen Verhältnis zur traditionell-akademischen Form des Romans stehe. 4 Als positives Element ihrer schriftstellerischen Entwicklung hingegen be‐ trachtet Cécile Wajsbrot, wie sie 2005 gegenüber Dominique Dussidour erklärt, die - depuis plusieurs livres déjà - 5 praktizierte Anonymisierung der handel‐ nden Figuren in ihren Romanen. Mit der auf diese Weise vollzogenen Abstrak‐ tion, die einer „Entindividualisierung“ der handelnden Figuren gleichkommt, bewirkt die Autorin eine Verallgemeinerung der geschilderten „histoires“. Der von der Autorin beschriebene Prozess verläuft indes keineswegs ganz konsequent. In ihrem dritten, 1995 erschienenen Roman Le Désir d’Équateur wird die Vordergrundhandlung - die konfliktreichen Erfahrungen der namenlos bleibenden, bisexuell orientierten autodiegetischen Erzählerin - durch den zeit‐ geschichtlichen Hintergrund des Falls der Berliner Mauer reflektiert und damit auch verallgemeinert. Allerdings steht in dem zwei Jahre später publizierten Roman La Trahison die individuelle Geschichte des namentlich genannten Pro‐ tagonisten Louis Mérian zweifellos auch beispielhaft für das Verhalten der zur Zeit der Vichy-Regierung recht zahlreichen Anhänger der Kollaboration. Im Hinblick auf den 2001 folgenden Roman Nation par Barbès ist vielleicht zu ver‐ muten, dass die (oben erwähnte) Unzufriedenheit der Autorin mit der formalen Gestaltung u. a. ihrem Verzicht auf Anonymisierung der Charaktere geschuldet ist. Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass Cécile Wajsbrot bereits in ihrem ersten, 1982 erschienenen Roman Une vie à soi mit dem Streben nach schrift‐ stellerisch-literarischer Selbstverwirklichung ein auf Kunst und Literatur bezo‐ genes und damit eigentlich eher für den sehr viel später konzipierten Zyklus 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 62 Haute Mer geeignetes Thema in einer ihr heute vermutlich nicht mehr ange‐ messen erscheinenden Form und mit namentlich genannten Figuren aufge‐ griffen hat. Da die inhaltlichen und formalen Entwicklungen im Werk Cécile Wajsbrots zwar evident, aber nur in eingeschränktem Maße periodisierbar sind, sollte die Gliederung einer auf Suchbewegungen (und damit auch auf Räume) im Erzähl‐ werk der Autorin bezogenen Untersuchung nicht primär und ausschließlich di‐ achronisch angelegt sein. Um zu einem sachgerechten Gliederungssystem zu gelangen, ist es vielmehr notwendig, sich noch einmal genauer bewusst zu ma‐ chen, dass Cécile Wajsbrot, wie in der Einleitung dargestellt, Raum nie als eine vorgegebene und damit nur noch quasi photographisch abzubildende Größe betrachtet, sondern dass Raumkonstitution sich von Werk zu Werk neu in einem dynamischen Prozess als Bewegung und Suche nach einer optimalen „Veran‐ kerung“ der Handlung bzw. als „quête du lieu idéal“ vollzieht. Die in allen Werken inszenierten Suchbewegungen lassen sich drei unterschiedlichen, in erster Linie inhaltlich-thematisch definierten Themenfeldern zuordnen. Die an‐ gedeuteten Entwicklungslinien im Werk der Autorin werden durch diese An‐ ordnung keineswegs verdeckt. Da Cécile Wajsbrot ihre größeren, als „roman“ oder „récit“ veröffentlichten Werke selten monothematisch konzipiert, ist allerdings auch die Abgrenzung von Themenfeldern nicht ganz unproblematisch. Dennoch bietet sich eine grobe Einteilung in Werke mit • vorrangig individuell geprägten Konflikten (histoires individuelles) (I) • Bezügen zu historischen und / oder aktuellen politisch-gesellschaftlichen Problembereichen ( II ) • Bezügen zu Literatur und Kunst ( III ) an. Ohne weitere Begründung sind folgende Zuordnungen möglich: 1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder 63 6 Der 2011 bei Denoël erschienene, auf einer 10 Jahre älteren Fassung basierende Text ist die literarische Auseinandersetzung der Autorin mit der Alzheimererkrankung ihres 2001 verstorbenen Vaters und ihrer Tante. Cécile Wajsbrot hat den von ihr selbst als „récit autobiographique“ bezeichneten Text L’Hydre de Lerne (Paris, Denoël 2011) in einer ersten Fassung von April bis Oktober 2000 niedergeschrieben. Nach einer „relec‐ ture“ des Textes, den sie für wertlos hält, vernichtet sie das Manuskript und die elek‐ tronische Datei. Als sie im Herbst 2009 bei einer Aufräumaktion auf eine zu ihrer Über‐ raschung doch noch existierende Druckfassung stößt, beginnt sie mit einer Überarbeitung des dann 2011 erschienenen Textes. Der einen bekannten griechischen Mythos zitierende Titel ist eine Anspielung auf die sich stets erneuernden und stei‐ gernden Herausforderungen, mit denen sie sich als für die Organisation der Pflege verantwortliche Tochter bzw. Nichte konfrontiert sah. - In einem Gespräch mit Sand‐ rine Mariette ~ Factory weist C. W. darauf hin, dass es sich bei L’Hydre de Lerne nicht um eine Autobiographie, sondern lediglich um einen „[…] récit autobiographique […] une séquence de six mois de vie et d’écriture“ handle. Auf die Frage nach ihrem „point de vue“ in diesem Text antwortet sie: „C’est celui d’un écrivain, du côté du littéraire et pas du rapport, de l’état des lieux“. Vgl. Sandrine Mariette ~ Factory, „L’Hydre de Lerne - Cécile Wajsbrot“, http: / / www.sandrinemariette.com/ SandrineMarietteFactory/ ? p=1287 (Sandrine Mariette, L’Hydre de Lerne). - Der Text wird aufgrund der für das Erzählwerk C. Ws. im Ganzen nicht repräsentativen Thematik lediglich im Anhang ausführlich zusammengefasst, nicht aber detailliert analysiert, obwohl C. W. die Krank‐ heit des Vaters und ihre eigene „situation intérieure“ als eine literarische „errance“ cha‐ rakterisiert und diese an verschiedenen Stellen raum- und bewegungsmetaphorisch beschreibt. Vgl. dazu auch das o. g. Gespräch. Bzgl. der familiengeschichtlichen Aspekte (Emigration aus Polen und „Leben zwischen den Welten“) verweise ich auf Beaune-la-Rolande und Mémorial. Vgl. auch Lena Bopp, „Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra - Wenn sein Leben überläuft und alles flutet“, in: http: / / www.faz.net/ -gr3-6yu10 (Abruf: 13. 04. 2015). • (I) Voyage à Saint-Thomas (1998), L’hydre de Lerne (2011) 6 • ( II ) La Trahison (1997), Beaune-la-Rolande (2004), Mémorial (2005) • ( III ) Conversations avec le maître (2007), L’Île aux musées (2008), Sentinelles (2013), Totale Éclipse (2014) Nachfolgend soll die mit Vorbehalten erfolgende Einordnung der anderen Werke kurz begründet werden. Die Begründungen mögen nicht in jedem Einzelfall zwingend, sie sollten jedoch nachvollziehbar und vertretbar sein. Dem Themenfeld I mit Einschränkungen zuzuordnen sind: • Atlantique (1993) Atlantique ist ein kompliziertes zwischenmenschliches „Beziehungs‐ drama“, in dem der Tod einer jungen Frau, die das einzige weibliche Mit‐ glied eines Streichquartetts war, den Regisseur Gilles veranlasst, die drei anderen Mitglieder des Quartetts zu einem privaten Gedenkkonzert ein‐ zuladen, bei dem Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ (Text: Matthias Claudius) aufgeführt werden soll. Das von der Renais‐ 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 64 7 Auf der Rückfahrt nach Europa erinnert sich Mariane, dass sie eine historische Zeiten‐ wende zu einem klar bestimmbaren, gleichwohl nicht präzise benannten Zeitpunkt weit im Vorhinein erahnt hat (vgl. Wajsbrot 1996, S. 27: Pour elle, le doute avait commencé bien avant la défaite, avant la guerre et le nazisme, c’était sur le pont d’un bateau, elle pouvait en donner le jour, et presque l’heure de naissance). Ihre bereits in New York aufflammende Begeisterung für Thomas Manns Joseph und seine Brüder mag auch als Ausdruck ihrer Solidarität mit dem jüdischen Volk verstanden werden. - Zum Motiv der Eltern Marianes, ihre Tochter nach Amerika zu schicken, vgl. Anhang, Mariane Klinger. Von halbjüdischer Herkunft ist Judith, deren Mutter Jüdin war (vgl. Wajsbrot 1996, S. 40). sance bis in die Gegenwart in der Malerei (Hans Baldung Grien), Musik (Schubert) und Literatur (Walser, Michel Tournier) aufgegriffene und ver‐ arbeitete Thema wird von Cécile Wajsbrot in sehr eigenständiger Art be‐ arbeitet. Die von den vier Satzbezeichnungen des Streichquartetts über‐ nommenen Kapitelüberschriften bilden ein vornehmlich formales Bindeglied und spiegeln allenfalls teilweise die steigende Dramatik der Handlung wider. • Le Désir d’Équateur (1995) In ihrem Roman Le Désir d’Équateur behandelt Cécile Wajsbrot das Thema Bisexualität primär aus individualpsychologischer und nicht aus gesell‐ schaftskritischer Perspektive. Die zeithistorischen Bezüge - der 09. 11. 1990 als erster Jahrestag des Mauerfalls markiert das Ende der he‐ tero- und homoerotischen Beziehungen der autodiegetischen Erzäh‐ lerin - dienen der zeitlichen Strukturierung des Handlungsablaufs, sind jedoch darüber hinaus chronotopische Spiegelungen eines existentiellen Neuanfangs. • Mariane Klinger (1996) Im Zentrum der Handlung steht die Bemühung der Titelheldin, sich aus der „Gefangenschaft“ eines „mariage arrangé“ durch die Rückkehr von New York nach Europa zu befreien. Ihre Lektüre von Thomas Manns Joseph und seine Brüder, die Anwesenheit Thomas Manns an Bord des Schiffes, die Begegnung mit anderen Passagieren, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart führen, dienen dazu, die individuelle Suche Mariane Klingers nach einem Ort, der für sie Glück bedeuten könnte, zu perspektivieren. Entscheidend für die Zuordnung zum Themenfeld I ist jedoch, dass der Entschluss Marianes und auch Judiths, im Jahr 1929 in einen „mariage arrangé“ einzuwilligen, nicht eindeutig politisch motiviert war. 7 Die Entscheidung Marianes, 20 Jahre später ihren Mann und Sohn zu verlassen und nach Europa zu‐ 1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder 65 8 Böhm, 2010, S. 213. rückzukehren, ist zwar nicht monokausal erklärbar, primär jedoch auf das Scheitern des Ehe- und Familienlebens zurückzuführen. Für die Zuordnung der drei o. g. Romane zum Themenfeld I sprechen überdies die im Kapitel C 2 genannten inhaltlichen und formalen Parallelen sowie - in diesem Fall - die Tatsache, dass sie kurz nacheinander erschienen sind und somit - gemeinsam mit Voyage à Saint Thomas (1998) - einer zusammenhän‐ genden Schaffensperiode angehören, in der allerdings auch der sich durch eine Thematik sui generis auszeichnende Roman La Trahison (1997) entstanden ist. Dem Themenfeld II mit Einschränkungen zuzuordnen sind: • Nation par Barbès (2001) In Nation par Barbès werden die Glückssuche der in Paris beheimateten und sehr zurückgezogen lebenden Léna und der im Suizid endende Exis‐ tenzkampf der sich illegal in Paris aufhaltenden, nach Arbeit und Woh‐ nung suchenden Bulgarin Aniela zunächst parallel dargestellt und dann durch Jason, eine zwischen den beiden Frauen stehende dritte Person, miteinander verschränkt. Da Léna eindeutig für Aniela Partei ergreift, ist der Roman weniger im Hinblick auf die individualpsychologischen als vielmehr die gesellschaftskritischen Implikationen bedeutsam. • Fugue Der Text liest sich bei nur oberflächlicher Betrachtung wie die Erzählung einer psychopathisch veranlagten autodiegetischen Erzählerin, die nach den für sie nicht genau einzuschätzenden, u. U. jedoch tragischen Folgen eines weitgehend unmotivierten Steinwurfs von der fünften Etage eines Mietshauses von Paris nach Berlin geflohen ist, um sich dort von der Last der Erinnerungen zu befreien und noch einmal „bei Null anzufangen“. Roswitha Böhm weist sicherlich zu Recht darauf hin, dass der Text ei‐ nerseits „[…] eine Auseinandersetzung mit Schuld und Verstrickung […]“ ist, andererseits jedoch, wie schon zuvor Beaune-la-Rolande, auf „[…] das Gewicht der Geschichte[…]“ 8 , anspielt, das angesichts des Ausmaßes der Verbrechen nicht von nur einer Generation zu tragen sei. Dem Themenfeld III mit Einschränkungen zuzuordnen sind: • Une vie à soi (1982) Une vie à soi ist allenfalls auf den ersten Blick nur die persönliche Ge‐ schichte der (fiktiven) ehrgeizigen Journalistin Anne Figuières. Durch ihre Nachforschungen über das Leben und das Werk Virginia Woolfs und 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 66 ihre Suche nach einem der Dichterin zugeschriebenen, aber vielleicht gar nicht existierenden Text wird das die beiden Frauen verbindende Streben nach schriftstellerischer Selbstverwirklichung bzw. Identifikation mit Li‐ teratur als zentrales Lebensziel zum Ausdruck gebracht. Die emanzipa‐ torischen Parallelen in der persönlichen Lebensführung unterstreichen die Individualität der Charaktere, die sich wesentlich über ihre Entschei‐ dung für das Schreiben definieren. • Caspar-Friedrich-Strasse (2002) Vom zentralen fünften Kapitel an gewinnt eine gescheiterte Liebesge‐ schichte zwischen dem in Ostberlin beheimateten Erzähler und einer aus Westberlin stammenden Frau an Bedeutung. Da sich in der „histoire in‐ dividuelle“ die Tragik der deutschen Teilung als „histoire collective“ wi‐ derspiegelt, käme grundsätzlich eine Zuordnung zum Themenfeld II in Frage. Allerdings ist die Fokussierung auf Caspar David Friedrich im ganzen Roman von überragender Bedeutung. Jedes der neun Kapitel trägt den Namen eines seiner Bilder. In historisch-philosophisch grundierten Reflexionen thematisiert der autodiegetische Erzähler, der Dichter ist, die Bedeutung der Bilder C. D. Friedrichs für die heutige Zeit. Die Allegorie der fiktiven Caspar-Friedrich-Strasse als ein in eine unbelastete Zukunft führender Weg wird zum Leitbild des Textes, der daher dem Themen‐ feld III zuzurechnen ist. • Le Tour du lac (2004) Der Text nimmt sich zunächst wie eine Episode im Leben der autodiege‐ tischen Erzählerin aus: Die Schriftstellerin, die seit drei Jahren mit dem Schreiben aufgehört hat, trifft auf sonntäglichen Spaziergängen einen jungen Mann, den sie ermutigt, sich von seinen Eltern zu emanzipieren und sich zu seinen homosexuellen Neigungen zu bekennen. Da ihr jedoch durch die Gespräche bewusst wird, dass es für sie selbst existentiell not‐ wendig ist, ihr Schweigen zu brechen und zum Schreiben zurückzu‐ kehren, wird der Text zu einer persönlichen und zugleich exemplarischen Auseinandersetzung mit den Aufgaben und gesellschaftlichen Verpflich‐ tungen einer Schriftstellerin. 1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder 67 9 Hoffmann 1978, S. X. Zu den nachfolgenden Überlegungen vgl. auch ebd., S. 1-3. 10 Ebd., S. X. Die Aufteilung der Texte auf die drei Themenfelder im Überblick: I II III Atlantique (1993) Le Désir d’Équateur (1995) Mariane Klinger (1996) Voyage à Saint-Thomas (1998) La Trahison (1997) Nation par Barbès (2001) Beaune-la-Rolande (2004) Mémorial (2005) Fugue (2005) Une vie à soi (1982) Caspar Friedrich Strasse (2002) Le Tour du lac (2004) Conversations avec le maître (2007) L’Île aux musées (2008) Sentinelles (2013) Totale Éclipse (2014) Bzgl. der unter dem Titel Le Visiteur (1999) bzw. Nocturnes (2002) erschienenen kürzeren Erzähltexte verweise ich auf das Kapitel B 5. 1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas Cécile Wajsbrot hat, wie der Überblick in B 1.1 ausweist, vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raumbzw. ortsbezogene, z. T. auch Bewegung andeutende Titel gegeben. Orte und Räume scheinen an entscheidenden Stellen der Werke die Figuren in ihrer Denk- und Handlungsweise zu beeinflussen und im wahrsten Sinne des Wortes Suchbewegungen zu provozieren. Der Raum gehört wie die Zeit, die handelnden Figuren und das Geschehen bzw. die Handlung zu den konstitutiven Elementen eines jeden Erzähltextes, deren Interdependenz Gerhard Hoffmann als „[…] einen abstrakten Bedin‐ gungszusammenhang […]“ 9 bezeichnet hat. So unstrittig einerseits die wech‐ selseitige Bezogenheit der Komponenten aufeinander ist, so unstrittig ist ande‐ rerseits die Tatsache, dass sie „[…] eigene semantische Kohaerenzen [bilden], die an der immanenten Konsistenzbildung, der Sinnproduktion des Textes teil‐ nehmen“. 10 In eine einfache Sprache übersetzt bedeutet dies, dass jede Kompo‐ nente je eigene Bedeutungsmuster hervorbringt, die in den Prozess der Sinn‐ konstitution eingehen. Dies macht eine Hervorhebung eines einzelnen Elements wie z. B. des Raumes nicht nur möglich, sondern lässt sie als sinnvoll erscheinen, insbesondere dann, wenn man die funktionale Bedeutung dieser Komponente mit in den Blick nimmt. Im Sinne der Stringenz der Gedankenführung ist dabei 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 68 11 In der vorliegenden Studie wird „Raum“ generell als Komplementärbegriff zur „Zeit“ verwandt. - Bzgl. der Unterscheidung zwischen ‚Raum‘ (espace) und ‚Ort‘ (lieu) ver‐ weise ich auf Michel de Certeau, „Praktiken im Raum“, in: Dünne / Günzel Hrsg. 2006, S. 343-353: „Ein Ort ist die Ordnung […], nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […] Hier gilt das Gesetz des ‚Eigenen‘: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ‚eigenen‘ und abgetrennten Bereich, den es definiert […] Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Ge‐ schwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“ (de Certeau 2006, S. 345). K. Dennerlein, die (auch) für die erzählte Welt von einer „Containerraumvorstellung“ ausgeht, nimmt folgende Differenzierung zwischen „Ort“ und „Raum“ vor: „Die Vor‐ stellung des ‚Ortes‘ als einer Stelle im Raum ist auch für die Beschreibung des Raumes der erzählten Welt grundlegend.“ (Dennerlein 2009, S. 70). 12 Hartmut Böhme, „Kulturwissenschaft“, in: Günzel Hrsg. 2009, S. 191-207, (Böhme 2009, S. 191). jedoch auch das dieser Studie zugrunde gelegte, von Cassirer und Lotman in‐ spirierte Raumverständnis zu berücksichtigen. Cassirer betont, wie in A 2.1 dargestellt, dass Raum nicht auf seine Dinghaftigkeit zu reduzieren sei, sondern die Welt als ein ‚System von Ereignissen‘ betrachtet werden müsse, in das Raum und Zeit als Bedingungen eingehen. Auch Lotmans relational geprägte Raum‐ vorstellung ist prozesshaft-dynamisch angelegt. Dies gilt sowohl für die „be‐ wegliche Figur“ des frühen binären Modells, die in einem „revolutionären Akt“ eine als unüberwindlich geltende Grenze überquert, als auch für die „interkul‐ turellen Übersetzerinstanzen“ der vielgestaltigen Semiosphären, in denen Teil‐ räume (auch) über ihre Beziehungen zu benachbarten Räumen definiert werden. Die Pflege von Beziehungen setzt jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Be‐ wegung voraus, das Scheitern von Beziehungen hingegen löst oft mit Bedacht geplante oder aber fluchtartige Bewegungen aus. Für diese Arbeit gilt daher, dass „Orte“ und „Räume“ als relational zu definierende Konstituenten des Er‐ zähltextes stets mit „Bewegung“ und „Suche“ zu assoziieren sind. Zu bedenken ist ferner, dass „Räume“ und „Orte“ 11 immer durch ihre Vergangenheit und Ge‐ genwart, also durch Zeit, geprägt, Raum und Zeit mithin auf das engste mitei‐ nander verflochten sind. Bei der Fokussierung auf „Raum“ und „Bewegung“ darf folglich der Faktor „Zeit“ nicht ausgeklammert werden. Nur unter Einbeziehung dieses Aspekts kann die (funktionale) Analyse einer literarischen Raum- und Suchbewegungsdarstellung zufriedenstellend gelingen. Im Sinne der Interde‐ pendenz aller konstitutiven Elemente eines Erzähltextes gilt natürlich auch um‐ gekehrt, dass die Zeit durch den Raum, aber auch durch migratorische Phäno‐ mene beeinflusst wird und mit Fug und Recht gesagt werden kann: „Kultur ist ein Chronotopos.“ 12 1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung 69 13 Vgl. Wajsbrot 2008b, S. 250, und A 1.2, S. 26. 14 Vgl. „Einleitung“, S. 17, Anm. 7. Das in dem hier skizzierten Sinn „dynamisierte“ Raumverständnis steht im vollen Einklang mit den Vorstellungen, die Cécile Wajsbrot mit dem literari‐ schen Raum verbindet, den sie nicht als etwas fertig Abgeschlossenes, sondern als ein zu „konstituierendes“ und kontinuierlich zu „rekonstituierendes“ Grund‐ element, als „ancrage“ der Diegese betrachtet. Da sich dieses Konstituens in das Ganze des literarischen Genres „Roman“ einfügt, das die Autorin als „[…] totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu […]“, kurzum als „totalité“ 13 definiert, muss die Fokussierung auf dieses Element in einer den Kontext in angemessener Weise einschließenden Weise erfolgen. Da Cécile Wajsbrot „Raum“ nicht um seiner selbst willen, also im Sinne eines lediglich dekorativen Hintergrunds, gestaltet, sondern - in gezielter Hinordnung auf die handelnden Figuren - als „générateur de mouvements“ einsetzt, ist ihr inhaltlich und formal vielgestaltiges Erzählwerk in seiner Gesamtheit als „literarische Suchbewegung“ zu charakterisieren. Da eine „literarische Suchbewegung“ sich jedoch über eine Analyse der Beziehung zwischen unterschiedlichen Orten bzw. Räumen erschließt, bietet sich Lotmans „relational“ zu verstehende Raumse‐ mantik, sei es in ihrer frühen, streng binären oder der späteren, integrierenden Auslegung, als Analysemodell geradezu an. Im Hinblick auf die Wahl des Themas dieser Arbeit legen die vorangegan‐ genen Überlegungen die Schlussfolgerung nahe, die Idee der „literarischen Suchbewegung“ als das „tertium comparationis“ aller Romane (und Erzäh‐ lungen) Cécile Wajsbrots in das Zentrum des Erkenntnisinteresses zu rücken. In einer Studie mit dem Titel „Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - eine literari‐ sche Suchbewegung“ 14 werden Räume in ihrer Bezogenheit aufeinander und damit in ihrer Funktionalität, aber auch in ihrer Beschaffenheit, die immer auch funktionalisiert wird, analysiert. Mit der Fokussierung auf Raum und Bewegung lässt die Untersuchung thematische Schwerpunkte und Entwicklungen hervor‐ treten, die für das literarische Schaffen C. Wajsbrots von zentraler Wichtigkeit sind. Hermeneutischer Arbeitsweise gemäß soll im Zuge einer „relecture guidée“ ermittelt werden, ob und ggf. in welchem Maße bzw. in welcher Weise die vo‐ rangegangene globale Charakterisierung des Erzählwerks C. Wajsbrots bestä‐ tigt werden kann. Die Lektüre wird gelenkt durch die nachfolgend genannten narratologischen, semiotischen und traditionell-hermeneutischen Kriterien, die nicht der Reihe nach schematisch abgearbeitet, sondern - in Abhängigkeit von 1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen 70 15 Vgl. zum folgenden Katalog auch Natascha Würzbach 2001, S. 122, und Ansgar Nünning 2009, S. 45 f. 16 Vgl. Nünning 2009, hier: S. 39-44. - Zu dieser Thematik vgl. auch Birgit Neumann, „Raum und Erzählung“, in: Dünne / Mahler Hrsg. 2015, S. 96-104. 17 Nünning 2009, S. 39. 18 Ebd. ihrer textbezogenen Relevanz - bei einer kritischen, kontextualisierenden Ge‐ samtschau der Texte berücksichtigt werden sollen. 15 • Zu unterscheiden sind - in freier Anlehnung an das semiotische Modell Nünnings 16 - die Auswahl und die Relationierung der Schauplätze (para‐ digmatische / syntagmatische Achse) sowie eine Achse der Perspektivie‐ rung, die in der vorliegenden Arbeit anders als von Nünning definiert wird. Hier ist jeweils abschließend zu klären, ob und warum ein Text als „literarische Suchbewegung“ zu betrachten ist und in welcher Weise Lot‐ mans Raumsemantik sich als Analyseinstrumentarium bewährt. Der As‐ pekt der „erzählerischen Vermittlung“ 17 , den Nünning auf einer diskur‐ siven Achse ansiedelt, wird in dieser Studie auf die syntagmatische Achse verlagert, auf der somit nicht nur „[…] das Ergebnis der Verknüpfungen sowie die Relationen zwischen mehreren Schauplätzen greifbar“ 18 wird, sondern auch die Art und Weise, in der diese Zusammenhänge sprachlich vermittelt werden. • Zu überprüfen ist, ob und ggf. in welcher Art und Weise handelnde Fi‐ guren durch die Wahl des sie umgebenden Raums und / oder durch be‐ stimmte Raumerlebnisse und Bewegungen im Raum geprägt und in ihrer Denk- und Handlungsweise beeinflusst werden. • In diesem Zusammenhang zu beachten ist die Interdependenz zwischen Raum und Zeit, wie sie sich in klassischen Chronotopoi wie dem Heidel‐ berger Schloss (Mariane Klinger), aber auch in den von Erinnerungs‐ spuren gekennzeichneten „lieux de mémoire“ und beliebigen anderen, durch spezifische Zeitfaktoren beeinflussten Orten bzw. Räumen mani‐ festiert. • In formaler Hinsicht gilt bzgl. der Modi der Erzählweise und Beschreibung ein besonderes Augenmerk der Verräumlichung von Zeit. • Angesichts der von Cécile Wajsbrot angestrebten „totalité de la forme et du contenu“ stellt sich die Frage, welche inhaltlichen und formalen Ent‐ wicklungen sich in der Darstellung literarischer Suchbewegungen im er‐ zählerischen Werk der Autorin abzeichnen. 1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung 71 1 Vgl. Nünning 2009, S. 39-44, und B 1.2, S. 71. 2 Themenfeld I Trotz aller Abweichungen bzgl. der inhaltlichen und formalen Gestaltung sind die zwischen 1993 und 1998 erschienenen Texte des Themenfeldes I arbeitshy‐ pothetisch als - im Verlauf der Untersuchung näher zu analysierende - Such‐ bewegungen der handelnden Figuren zu bezeichnen. Dies wird in drei Fällen - in jeweils unterschiedlicher Art und Weise - bereits durch die Titel der Romane signalisiert: Atlantique (1993) evoziert, als den amerikanischen und europä‐ ischen Kontinent miteinander verbindender und voneinander scheidender Ozean, eine Menschen zusammenführende Brücke, aber auch einen sie ver‐ schlingenden tiefen Abgrund. Le Désir d’Équateur (1995) benennt ein konkretes Ziel und insinuiert zugleich, dass dieses Ziel möglicherweise gar nicht ange‐ steuert oder zumindest nicht erreicht wird. Voyage à Saint-Thomas (1998) kün‐ digt eine konkrete Handlung an, ohne ihren Ausgangspunkt zu benennen. Ma‐ riane Klinger (1996) hingegen fokussiert das Leserinteresse eindeutig auf eine einzige Person, ohne deren singuläres Schicksal anzudeuten. Erzähltechnisch hebt sich Le Désir d’Équateur durch eine autodiegetische Er‐ zählinstanz und eine assoziative, durch die „stream of consciousness“-Technik inspirierte Erzählweise von den drei anderen Texten ab, die von einer hetero‐ diegetischen Erzählinstanz präsentiert werden. Anders als Mariane Klinger folgt Atlantique keiner chronologisch-linearen Darstellungsform, vielmehr werden Vordergrund- und Hintergrundhandlung konsequent miteinander verschränkt und vereinzelt surrealistisch gefärbte Erzähltechniken verwandt. Die werkbezogenen, leitfragenorientierten Analysen der Funktionen von Raum und Bewegung setzen exemplarische Schwerpunkte, berücksichtigen aber alle bzgl. des methodischen Ansatzes (in abgewandelter Form) die in B 1.2 vorgestellte, von A. Nünning vorgeschlagene Differenzierung zwischen einer paradigmatischen und einer (jeweils neu definierten) syntagmatischen und per‐ spektivierenden Achse. 1 Die Erzählmodi werden nur insoweit in die Betrachtung einbezogen, als dies im Hinblick auf das zentrale Thema der Untersuchung zu vertieften Erkenntnissen führt. Dass Voyage à Saint-Thomas als letzter der innerhalb des Themenfeldes I er‐ schienenen Romane einer umfassenderen Analyse unterzogen wird, obwohl die 2 Vgl. dazu „Chat avec Cécile Wajsbrot 2006“, S. 6f.: Auf die Frage: Avez-vous écrit des romans qui ne parlent pas du tout du théme de la mémoire? antwortet C. W.: Cela dépend de ce qu’on appelle mémoire. J’ai écrit des romans qui ne parlent pas de la mémoire collective mais de la mémoire de quelqu’un, d’une histoire d’amour, par exemple. Et je crois avoir écrit deux romans qui se situent pleinement dans le présent, „Voyage à Saint-Thomas“, qui n’est pas terrible d’après le souvenir que j’en ai. Et „Nation par Barbès“ qui est plus consistant […] 3 Cécile Wajsbrot, Atlantique, Cadeilhan, Zulma, 1993, (Wajsbrot 1993). Autorin ihn offensichtlich nicht mehr besonders schätzt, 2 hat folgende Gründe: Die Hauptfigur Agathe und die dem Text zugrunde liegende „histoire“ spiegeln, in ungleich stärkerem Maße als die zum Teil konstruiert wirkenden Charaktere und „Geschichten“ der drei anderen Texte, einen zwar auf den ersten Blick mit‐ unter banal und sentimental anmutenden, aber insgesamt realistischen Aus‐ schnitt der Alltagswirklichkeit wider. Die Protagonistin verkörpert die Suchbe‐ wegungen einer auf die Erfüllung ihrer Liebe hoffenden Frau durchaus wirklichkeitsnahe, da die Erzählstimme die weitgehend aus der Perspektive Agathes dargebotene „histoire“ mit ihren Bezügen zu den semantischen Feldern „Reise“ und „Unterwegssein“ in einer für das Lesepublikum unmittelbar und leicht nachvollziehbaren Weise erzählt. Auf diese Weise wird deutlich, dass menschliches Denken, Sprechen und Handeln nicht nur in durch besondere Be‐ dingungen geprägten Konstellationen, sondern auch in keineswegs singulären bzw. außergewöhnlichen Auseinandersetzungen und Konflikten durch räum‐ liche Faktoren beeinflusst wird. Aus diesem Grunde ist eine ausführliche Text‐ analyse gerechtfertigt, durch die im Übrigen nachgewiesen wird, dass die Tri‐ vialität der Handlung in Voyage à Saint-Thomas durch eine durchaus anspruchsvolle Erzählweise kompensiert wird. 2.1 Atlantique 3 - Entfaltung eines personalen Beziehungsgeflechts in Raum und Zeit Ein Überblick über die Auswahl der wichtigen Schauplätze der Handlung (pa‐ radigmatische Achse) hat die den gesamten Text kennzeichnende Verschrän‐ kung der Vorder- und Hintergrundhandlung, d. h. des auf die Anbahnung und Durchführung des von Gilles angeregten Erinnerungstreffens und der vergan‐ gene Ereignisse reflektierenden Retrospektiven zu berücksichtigen. Das enge Gewebe von Abhängigkeiten zwischen örtlich-räumlichen und personalen Be‐ ziehungen wird sodann auf der syntagmatischen Ebene thematisiert, bevor in der perspektivierenden Zusammenfassung die „Beweglichkeit“ der handelnden Figuren (im Lotman’schen Sinn) und damit die Sujethaftigkeit des Romans an‐ 2.1 „Atlantique“ 73 4 Dass alle Mitglieder des Quartetts aus Paris stammen, können wir der folgenden Äu‐ ßerung Vincents entnehmen, die aus einem Gespräch in dem Haus am Meer stammt: […] en rentrant à Paris, nous penserons qu’il est trop tard. (Wajsbrot 1993, S. 95). 5 Vgl. ebd., S. 87. 6 Aus stilistischen Gründen wird auf die namenlose Frau fortan vornehmlich mit in An‐ führungszeichen gesetzten Personalbzw. Possessivpronomina („sie“, „ihre“) verwiesen. gesprochen werden. Die Suchbewegungen der Protagonisten werden auf diese Weise von ihren Ursprüngen bis zu den Endphasen transparent. 2.1.1 Auswahl der Orte der Vorder- und Hintergrundhandlung Zentraler Ort der Vordergrundhandlung ist neben Paris 4 ein an der Mündung der Somme gelegenes Haus am Meer, das das durch den Hinweis auf die in der Nähe gelegenen kleinen Seebäder Saint-Valéry und Le Crotoy relativ genau zu loka‐ lisieren ist. 5 • Für die Vorder- und Hintergrundhandlung ist insbesondere der mit zahl‐ reichen Spiegeln ausgestattete Antiquitätenladen François’ in Paris rele‐ vant. Rückblickend lenkt die Erzählinstanz den Blick vornehmlich auf • das Archiv Hugos (S. 7 f.) • die Wohnung Hugos als Ort einer Begegnung mit der Schwester Vincents • (S. 145-149) • „le café de l’avenue calme“ (s. inbesondere S. 28-32) • die Räume eines Empfangs, zu dem François seine Frau begleitet und bei dem sie auf Gilles trifft (S. 32-36) • eine Strandszene in Brasilien, in der Vincent auf seine Schwester trifft (s. insbesondere S. 96-103) 2.1.2 Das Gewebe örtlich-räumlicher und personaler Beziehungen Gilles lädt die drei noch lebenden Mitglieder des Quartetts zu einem Wiederse‐ henstreffen nicht an einen neutralen Ort in Paris, sondern in sein „Haus am Meer“ ein, um dort mit ihnen Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen zu spielen. Die Entfernung zwischen den Schauplätzen und die sich aus der Lage des Hauses ergebenden Unterschiede zwischen ihnen signalisieren eine Zäsur, die folgendermaßen definiert werden kann: Paris ist der Ort, an dem sich - in dem der Vordergrundhandlung vorgelagerten, retrospektiv vermittelten Zeit‐ raum - das Beziehungsdrama zwischen der namenlos bleibenden Frau 6 , dem mit 2 Themenfeld I 74 7 Vgl. Wajsbrot 1993, S. 143. ihr verheirateten François, ihrem Bruder Vincent und Hugo angebahnt hat. Zu‐ sätzlich involviert, wenn auch nur als Randfigur, ist der Theaterregisseur Gilles. Offenkundig werden die Spannungen durch die Entscheidung der Frau, das Quartett zu verlassen 7 und Vincent in Brasilien aufzusuchen. Dass mit der Auflösung des Quartetts, der Reise Vincents und der seiner Schwester nach Brasilien und mit ihrem Tod die Beziehungen zwischen Fran‐ çois, Vincent und Hugo keineswegs geklärt, sondern eher noch zusätzlich be‐ lastet werden, wird erst durch die innerhalb der Vordergrundhandlung stattfin‐ dende Bewegung, die Verlagerung der Handlung von Paris in Gilles’ Haus am Meer, bewirkt. Das Haus und seine Umgebung werden zu einer Bühne, auf der auch die Verstorbene noch immer anwesend zu sein scheint, die Akteure ihre unterschiedlichen Interessen und Ansprüche vertreten oder aber eine letzte verzweifelte Begegnung mit „ihr“ suchen. Um die Beziehung zwischen den Handlungsorten und das Verhältnis zwi‐ schen Raum und Bewegung angemessen beurteilen zu können, ist nun zunächst zu untersuchen, in welcher Weise die Erzählstimme in Paris gelegene Orte als den Gang der Handlung bzw. das Verhalten der Figuren beeinflussende Faktoren inszeniert. Sodann sind die sich aus den Reisebewegungen zu ergebenden Kon‐ sequenzen zu betrachten. Die Differenzierung zwischen der im ganzen Roman verschränkten Vordergrund- und Hintergrundhandlung ergibt sich dabei je‐ weils aus dem inhaltlichen Kontext und wird deswegen in der Gliederung des Textes nicht zusätzlich hervorgehoben. Schauplätze der Handlung in Paris Da eine Lokalisierung der in Paris gelegenen Schauplätze nicht erfolgt, können topographische oder topologische Bezüge zwischen ihnen nicht hergestellt werden. Ob und ggf. in welcher Art und Weise - in ihrer Einzelwirkung oder in ihrem wechselseitigen Verhältnis - die in Paris situierten Orte die handelnden Figuren beeinflussen, ist gleichwohl zu analysieren. Das Archiv - Hugo Der Arbeitsort Hugos sind „[l]es archives de la ville.“ Dort werden, wie wir zu Beginn des Romans erfahren, die Geschichten seit langem Verschollener sowie in Vergessenheit geratene Pläne und Ideen aufbewahrt und „[…] Hugo les clas‐ sait, les cherchait, il les trouvait, un travail d’archéologue, travail de géologue pour dessiner sous la ville apparente, présente, une autre ville, surgie des refus 2.1 „Atlantique“ 75 8 Zitate Wajsbrot 1993, S. 7. 9 Vgl. ebd., S. 8: Même si personne ne vous oublie, je garderai votre mémoire. 10 Ebd., S. 14. 11 Ebd., S. 14. 12 Vgl. ebd., S. 22: [il] tourna vers la droite pour s’asseoir derrière, sur le haut tabouret […] abîmé par le temps, usé par les heures de garde solitaire, les heures d’attente, témoin de tant de ventes ratées, ou de ventes conclues, tant de rencontres aussi. Il tourna vers la droite pour s’asseoir sur le haut tabouret, inchangé, et lui, avait-il changé, n’était-il pas demeuré le même, simplement abîmé, usé par la garde, l’attente sans but, le passage de la vie, d’une femme puis d’une autre, par sa venue à elle… 13 Ebd., S. 23. et des destructions, et qui n’existait pas.“ 8 Von „ihr“ hingegen, der von ihm be‐ gehrten Frau, gibt es keinerlei Hinterlassenschaft. In einem traumhaft anmu‐ tenden Dialog mit „ihr“ versichert er jedoch, dass er die Erinnerung an sie, die niemand vergessen könne, bewahren werde. 9 Obwohl Hugo als Archivar Do‐ kumente der Vergangenheit konserviert, wie ein Archäologe oder Geologe die verschütteten Schichten vergangener Zeiten aufdeckt und so das Bild einer an‐ deren, in der Vergangenheit lebenden Stadt entstehen lässt, ist dies offensicht‐ lich nicht sein wichtigstes Anliegen: „[…] rien de ce qui était conservé ne lui importait et ce qui lui importait n’était gardé nulle part.“ 10 Seinen eigentlichen Daseinszweck offenbart er, wenn er auf „ihre“ Frage „Tu seras ma mémoire? “ spontan „Je serai ta mémoire“ 11 antwortet. Er bietet sich ihr also nicht mehr nur als „gardien de sa mémoire“ an, sondern verschreibt sich ihrem Gedenken mit seiner ganzen Existenz und bekundet damit seine bedingungslose Hingabe. Was diese Aussage in letzter Konsequenz bedeutet, wird in 2.1.3 dargelegt. Antiquitätengeschäft - François und Hugo François bewegt sich als Inhaber eines Antiquitätengeschäftes in einem sein Leben prägenden Arbeitsraum, in dem Objekte der Vergangenheit wie geron‐ nene Zeit präsentiert und zum Kauf angeboten werden. Alterungs- und Abnut‐ zungsprozesse haben seit Eröffnung des Ladens nicht nur die Gegenstände wie z. B. seinen hohen Sitzhocker, sondern auch ihn selbst erfasst. Der Verlauf der Zeit wird im Ambiente der „boutique d’antiquités“ materialisiert, wobei sich sowohl die Gegenstände als auch François selbst nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrem äußeren Erscheinungsbild verändert haben. 12 Bei der Beschreibung des Antiquitätenladens lässt die Erzählinstanz der Wir‐ kung von Spiegeln, die den Raum in ein „[…] labyrinthe de reflets […]“ 13 ver‐ wandeln, besondere Bedeutung zukommen. „Ihr“ erstes Erscheinen in seinem Laden erlebt François keineswegs in unvermittelter Direktheit, sondern unter den besonderen Bedingungen eines Spiegelkabinetts: 2 Themenfeld I 76 14 Ebd., S. 8. 15 Ebd., S. 8. 16 Ebd., S. 8. 17 Zitate ebd., S. 9. En poussant la porte, on ne pouvait que se voir, mais elle était entrée sans hésiter. François avait aperçu son reflet dans le miroir vénitien qui lui faisait face, reflet encadré d’or vieilli, troublé par la patine d’un autre temps, qui lui allait bien. Après, levant les yeux, il l’avait vue, tellement présente. Ses yeux bleu océan l’avaient frappé - dans un miroir on ne remarque pas la couleur des yeux. 14 Der erste Anblick der Frau, der sich François bietet, kommt durch die Reflexion eines Spiegelbildes zustande, das in einen Rahmen aus gealtertem Gold einge‐ fasst und durch eine Patinaschicht eingetrübt ist. Der ihrem Abbild dadurch offensichtlich verliehene besondere Charme geht einher mit einem Mangel an Klarheit. Dies wird François bewusst, als er, ihr gegenüberstehend, die im Spie‐ gelbild nicht wahrnehmbare Farbe ihrer Augen erkennt, die bezeichnenderweise als „bleu océan“ 15 beschrieben wird, ein erstes proleptisches Signal, das beim Wiederlesen des Textes unschwer als Hinweis auf den Atlantik verstanden werden kann, in den das Flugzeug, mit dem „sie“ von Brasilien nach Europa zurückfliegt, abstürzt. Doch nicht nur der im Eingangsbereich der Boutique aufgestellte, sondern „[t]ous les miroirs renfermaient quelque chose d’elle.“ 16 François erlebt diese geheimnisvolle Aura als „[u]ne présence impalpable, invi‐ sible, impossible, sans réalité mais combien plus vraie que les objets qui l’en‐ touraient, présence qui l’accompagnait et le jour et la nuit“. Darüber hinaus entfaltet „das erste Mal“, die besondere Atmosphäre ihres ersten Erscheinens, auch weiterhin eine nachhaltige Wirkung „[…] dans chacun de ses gestes ou dans chaque pensée, et construisait le pont d’une rive à l’autre de sa vie - sa vie dévastée.“ 17 Mit „ihr“ ist somit eine Frau in den innersten Bezirk seines Lebens vorgedrungen, deren über Spiegel vermittelte Präsenz eine einem Vexierbild ähnliche Täuschung hervorruft: Einerseits verflüchtigt sich ihre Anwesenheit bis ins Unwirkliche, andererseits ist sie von ungleich größerer Authentizität als die der sie umgebenden Exponate, zumal der Eindruck ihres ersten Erscheinens in seinem „aufgewühlten Leben“ (sa vie dévastée) zunächst eine grundsätzliche Veränderung bewirkt und einen neuen Horizont eröffnet. Auf den Besuch Hugos reagiert François mit einer Geste eindeutiger Distan‐ zierung, die die Erzählinstanz durch die Beschreibung des Sitzarrangements, also durch eine räumliche Konstellation, klar zum Ausdruck bringt. Bereits die Ladentheke trennt die beiden klar voneinander. Der Abstand wird zusätzlich dadurch betont, dass François seinem Überraschungsgast einen unbequemen, 2.1 „Atlantique“ 77 18 Vgl. ebd., S. 23: La chaise était plus basse que le tabouret, le comptoir se trouvait entre eux, une masse rectangulaire […] où François pouvait s’appuyer, poser la main ou le coude, se croire derrière le zinc d’un vieux bar […] demander au client […] qu’est-ce que je vous sers? 19 Zitate ebd., S. 25. 20 Bzgl. des Zitats und des Kontextes vgl. ebd., S. 27. 21 Zum folgenden Abschnitt vgl. ebd., S. 28-32. niedrigen Stuhl zuweist, während er selbst auf seinem hohen Hocker hinter der Ladentheke Platz nimmt und sich mit der Hand oder dem Ellenbogen aufstützt. Die Szene erinnert an die Situation in einer Bar, in der ein Gastwirt einen Gast mit unbekannter Herkunft und unbekanntem Ziel empfängt und ihn beiläufig nach seinen Wünschen fragt. 18 Hugo seinerseits fixiert François mit einem prüfenden Blick, als ob er ihn zum ersten Mal sähe. Bei ihrer ersten Begegnung beeindruckte François ihn nicht durch besondere Ausstrahlung oder Ausdrucksstärke, vielmehr wirkte er auf ihn in seiner Schwerfälligkeit und mit seinem Mangel an Charme wie eines jener zahlreichen gewöhnlichen Exponate, die in seinem Laden ausgestellt und nicht zu übersehen waren, gleichzeitig jedoch die Kommunikation behinderten: „[…] il était posé là comme un vase au milieu d’une table, impossible à ignorer, qui obligeait sans arrêt à tourner la tête pour éviter de le voir […]“. Ein „inspirie‐ render Funke“ ging von ihm nicht aus, eher gewann Hugo den Eindruck, dass auch „sie“, in der er bislang „[…] une ombre de quelque chose […]“ wahrzu‐ nehmen meinte, in seiner geradezu monsterhaft-animalischen Natur aufzu‐ gehen schien: „[…] elle-même […] se fondait aussi dans l’animal monstrueux, l’incompréhensible chimère, le couple, cet être hybride sans destinée.“ 19 So ver‐ mochte Hugo nicht zu entscheiden, ob „sie“ sich in dem auf jedem Quadratmeter von Objekten überbordenden Laden für eines der präsentierten Möbelstücke bewusst entschieden oder aber ob sie sich „[…] dans l’univers étranger de Fran‐ çois […]“ 20 tatsächlich eingerichtet hatte. Le café de l’avenue calme - Begegnung zwischen Hugo und „ihr“ Für die Darstellung der Beziehung zwischen Hugo und „ihr“ wird die „terrasse intérieure“, also der Wintergarten in einem „café de l’avenue calme“, zu einem wichtigen Ort. 21 Zu dem vereinbarten Treffen erscheint „sie“ bewusst als erste, um zu vermeiden, dass ihr Kommen beobachtet wird. Ihre frühe Ankunft ver‐ schafft ihr den Vorteil, sich selbst, „[…] réfugiée comme un chat sous le dernier soleil“, als Abwartende wirkungsvoll „in Szene zu setzen“, was Hugo auch so 2 Themenfeld I 78 22 Vgl. ebd., S. 28: Elle était là avant lui, comme si elle ne voulait pas qu’on la voie arriver - il fallait qu’elle soit installée, déjà mise en scène - il l’avait pensé à ce moment-là, mise en scène. 23 Ebd., S. 28 f. 24 Ebd., S. 28. 25 Ebd., S. 29. 26 Ebd., S. 29. 27 Ebd. S. 30 empfindet. 22 Die Erzählstimme schafft damit von vornherein eine räumliche Konstellation zwischen den handelnden Figuren, die Dominanz und Abhängig‐ keit klar hervortreten lässt. Dieses Verhältnis wird sogleich in einer Bildfolge wasser-, raum- und stadtbezogener Metaphern entfaltet: Elle plongea en lui, traversant d’une coulée les remparts, les forteresses, les barrages accumulés par les épreuves du temps - ils se couchaient sur son passage, dociles ou vaincus, sans résister - accumulés ils se couchaient - et lui ne se sentait plus, devant elle, qui n’avait encore rien dit, rien demandé, qu’une place-forte désertée, une immense ville ouverte dont le centre, la place où convergeaient les avenues vides, se transformait en question, tendue vers elle, impossible à formuler, ou en termes si vains, qu’il ne pouvait la poser, quelque chose comme qui êtes-vous. 23 Unter „ihrem“ durchbohrenden Blick, mit dem sie in sein Innerstes „eintaucht“, fallen Hugos Abwehr- und Schutzmechanismen, sein innerer „Selbststand“, in sich zusammen. Die Erzählinstanz, die mit der „[…] terrasse intérieure […]“ 24 (Hervorhebung H. H.) einen mit dieser Szene inhaltlich optimal korrespondier‐ enden Schauplatz gewählt hat, übersetzt Hugos Hilflosigkeit und Isolation in Bilder einer verlassenen Festung und eines leblos-leeren Stadtzentrums, die in ihm die Frage nach „ihrer“ Identität aufkommen lassen, die er indes nicht an‐ gemessen zu formulieren vermag. Verschärft werden die Verzweiflung und Ver‐ einsamung Hugos noch dadurch, dass in der Mittagszeit der elegante Vincent erscheint, in dessen Nähe er sich selbst als „[…] épais, maladroit […]“ 25 emp‐ findet. Ausgerechnet in einem Moment, da François in den Hintergrund zu rü‐ cken scheint, glaubt Hugo zu erkennen, dass ihm in Vincent ein Rivale gegen‐ übertritt, der sich ihm wie eine „[…] tour de garde ronde et médiévale, de pierre pleine […]“ 26 in den Weg stellt. Überdies spiegelt das konfrontative Gegenüber der Sitzordnung die Erstar‐ rung wider, in der Hugos Werben um „sie“ ins Leere läuft: „Une seule chose lui tenait à cœur, lui parler, et au-delà, la saisir, et au-delà, la garder. Ils se plaçaient d’emblée de part et d’autre et leurs mains posées signifiaient l’immobile, l’image nette du statu quo.“ 27 Mit seinem schließlich in großer Schroffheit und Direktheit im Gespräch mit „ihr“ formulierten Ansinnen, das sonntägliche Quartett auf‐ 2.1 „Atlantique“ 79 28 Vgl. ebd., S. 31: - Est-ce une bonne idée, se réunir tous les quatre? - Qui voulez-vous enlever? - Tout le monde. - Là, évidemment… - Tout le monde sauf vous, et moi. 29 Ebd., S. 31. 30 Ebd., S. 32. 31 Ebd., S. 32. zulösen und auf ein aus ihm und „ihr“ bestehendes „Duett“ zu reduzieren, 28 brüskiert er nicht nur sein Gegenüber, vielmehr richtet er eine Barriere auf, die durch ihn selbst verläuft, insofern sie ihn blind werden lässt für die fatale Wir‐ kung seiner Worte und seines Handelns. Bedient sich die Erzählinstanz ver‐ schiedentlich eines Spiegels, um die gleichermaßen unwirklich und authentisch wirkende Präsenz der „Frau“ zu vermitteln, so versinnbildlicht sie die Verblen‐ dung Hugos, indem sie vor seinen Augen eine dicke, beschmutzte, für ihn un‐ durchsichtige und unzerstörbare Scheibe errichtet, die - ein Gegenbild des Spie‐ gels - für Hugo auf dem Weg zu „ihr“ ein größeres Hindernis darstellt als François und Vincent oder aber auch „sie“ selbst, die ihm im Café gegenüber sitzt: Entre ce qu’il avait imaginé et ce qui se produisait, entre lui et ce qu’il voulait dire, une vitre épaisse était tombée, sale, opaque, il avait beau tendre le poing pour heurter, vouloir casser […] et l’obstacle devenu invisible prenait plus de place que François, que Vincent, plus que les deux ensemble, plus de place encore qu’elle, en face de lui […] 29 Die Erzählinstanz schließt die „Café-Szene“ der Begegnung zwischen Hugo und „ihr“, indem sie Hugos blinde Entschlossenheit, sein Ziel zu erreichen, mit einem jener Bilder beschreibt, mit denen sie die Szene eröffnet hat. So wie „sie“ Hugo mit ihren Blicken durchbohrte, quasi in ihn „hineintauchte“, so versucht nun Hugo vergeblich, nach seiner plumpen Frage „Que faites-vous avec François? “ 30 „sie“ für sich mit seinen Blicken gefangen zu nehmen. Dass Hugo den Blick für die Realitäten und damit jegliche Bodenhaftung verloren hat, wird in einer iso‐ topischen, vom Wasser bestimmten Bildfolge dargestellt, die zeigt, wie der sich nicht auf festem Grund bewegende, sondern „schwimmende“ Hugo erfolglos nach einem sicheren Halt sucht: „À son tour de plonger, mais malgré son élan, l’intensité de ses yeux dans les siens, il avait beau nager, toujours au plus pro‐ fond, traverser les étendues bleues et puis vertes puis bleu sombre […] il n’avait - il n’y avait - aucune prise.“ 31 2 Themenfeld I 80 32 Vgl. zum Kontext ebd., S. 32-36. Die Räumlichkeiten befinden sich in einem Theater. Vgl. ebd. S. 121. 33 Ebd., S. 32. 34 Ebd., S. 33. 35 Ebd., S. 34. 36 Zitate ebd., S. 34. Einem im Haus am Meer geführten Gespräch zwischen Hugo, François und Gilles ist zu entnehmen, dass der Spiegel oberhalb des Kamins (au-dessus de la cheminée) angebracht war. Vgl. ebd., S 121. 37 Ebd., S. 35. 38 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd. Le salon d’une réception - Annäherung zwischen Gilles und „ihr“ Zu den für die Hintergrundhandlung wichtigen Schauplätzen in Paris gehören auch jene Räumlichkeiten eines Empfangs, in denen Gilles auf „sie“ trifft und sich spontan für sie begeistert. 32 Sie durchschreitet den Salon, der „[…] périlleux comme un étang gelé […]“ 33 ist und sie zwingt, ihre Bewegungen und Gesten zu kontrollieren. Die Erzählstimme lässt den „Parcours“ an einer zweiflügeligen gläsernen Tür beginnen und an dem den Kamin verdeckenden Buffet enden. Bezeichnenderweise trifft Gilles in der Nähe der gläsernen Tür auf „sie“, um ihr - […] devant le grand miroir qui répétait la scène […] - zu erklären: „Je vous tiens […] je ne vous lâche plus.“ 34 Nachdem „sie“ sich für eine Weile absentiert hat, kehrt sie in Begleitung François’ zurück, den sie Gilles vorstellt. Gilles hat den Eindruck, als ob „sie“ François „[…] comme une évidence, un rempart“ 35 betrachte, und er fragt sich, wovor sie Angst haben mag. Er spricht sie dann „[à] l’abri de l’immense miroir qui reflétait la scène“ mit den Worten „Vous êtes belle […]“ an. Der Spiegel wacht wie eine „[…] tour de garde solitaire […]“ über die Gesellschaft, und das Gewirr von Stimmen hüllt wie ein unsichtbares, durch‐ sichtiges Gewebe - une toile diaphane - alle Gäste ein, die auf diese Weise „[…] opaques, résistants, inaccessibles […]“ werden. Gilles wendet sich nun erneut an „sie“ mit den Worten: „[…] vous êtes belle […] l’êtes-vous plus de ce côté ou de l’autre, je ne sais pas.“ Auf ihre Frage: „L’autre côté de quoi? “ antwortet er: „Du miroir.“ 36 Als er sie dabei beobachtet, wie sie sich im Spiegel betrachtet, gewinnt er den Eindruck „[qu’] [i]l émanait d’elle quelque chose d’irréel, d’étranger, qu’il ne reconnaîtrait nulle part“ und er ergänzt seine Antwort mit den Worten: „De l’autre côté […] j’y serais entré, avec vous.“ 37 Ausgerechnet Gilles, der Theaterregisseur, reagiert damit auf die von „ihr“ erzeugte, durch die Virtualität des flüchtigen Spiegelbildes verstärkte Ausstrahlung des spielerisch Unwirklichen, indem er den Wunsch äußert, mit ihr gemeinsam durch einen Schritt „hinter den Spiegel“ in die Wirklichkeit zu gelangen. Damit wird jedoch auch verständlich, dass, nachdem François gegangen ist, zunächst „[…] le refuge d’un miroir […] les renvoyait chacun à sa solitude“ 38 . Erst nachdem sie zu den 2.1 „Atlantique“ 81 39 Ebd.: - Vous lirez la pièce. - Je la lirai. - Et vous me direz si vous acceptez. - Je vous dirai. 40 Ebd., S. 35. 41 Vgl. ebd., S. 36: - […] des débris survivaient, renaissaient, quelques mots - vous lirez - quelques faits - je lirai - des visages - acceptez - et sa voix - je dirai. 42 Zum folgenden Abschnitt vgl. ebd., S. 135-150. Bzgl. „ihrer“ Urheberschaft für die sonntäglichen musikalischen Treffen vgl. Hugos Hinweis S. 143: C’était ton idée, pour‐ quoi voulais-tu nous réunir? 43 Vgl. ebd., S. 139f: - Réponds-moi. Pourquoi viens-tu? […] - Pour toi. […] Pour te voir. […] …je préfère te voir seule. 44 Auf Hugos Einwand „Je parlais de moi, de mes raisons“ reagiert „sie“ mit den Worten: „En sachant que les raisons des autres étaient les mêmes.“ Ebd., S. 142. 45 Vgl. ebd., S. 143: Il n’y aura plus de dimanches après-midi. […] Je n’en pouvais plus de vos regards de biais […] 46 Vgl. hierzu ebd., S. 144. gläsernen Türen zurückgekehrt sind, wenden sie ihren Blick in die Zukunft, indem „sie“ ihm verspricht, sein Theaterstück, in dem sie eine Rolle übernehmen soll, zu lesen. 39 So erklärt sich, dass die Erzählstimme im Rückblick auf die theaterhaft ge‐ spiegelte Szenerie des Abends nur fragmentarische Erinnerungen an sich rasch verflüchtigende Eindrücke - [d]es débris d’une soirée ruinée par l’éphé‐ mère […] - 40 notiert. Erkennbar ist jedoch auch, dass aus der Sicht Gilles’ zu‐ mindest etwas Konkretes, ein Versprechen, Bestand haben mag. 41 Le café de l’avenue calme und Hugos Wohnung - Hugos Abschied von „ihr“ Als „sie“ und Hugo kurz vor ihrer Abreise nach Brasilien noch einmal im „café de l’avenue calme“ - ihrem üblichen Treffpunkt - zusammenkommen, sprechen sie zunächst über die „réunions du dimanche“ des Quartetts, die auf „ihre“ An‐ regung zurückgehen. 42 Als Hugo „ihr“ gesteht, dass er nur „ihretwegen“ daran teilnehme, 43 antwortet sie sinngemäß, dass dies für die anderen genauso gelte. 44 Im Übrigen erklärt „sie“, dass „sie“ der „regards de biais“, konkret: der ihm, Hugo, geltenden Verdächtigungen ihres Mannes François, der amusierten Beobachter‐ attitude ihres Bruders Vincent und seiner, Hugos, zur Verschleierung seiner Verliebtheit vorgetäuschten Kälte überdrüssig geworden sei und die sonntäg‐ liche Veranstaltung, die es nicht länger geben werde, für reine Heuchelei halte. 45 Nicht ein einziges Mal habe „sie“ den Eindruck gehabt, dass er in „sie“ verliebt gewesen sei, nie habe er mit „ihr“ aufbrechen (partir) wollen und sich für „sie“ Zeit genommen. Als Hugo erwidert, dass „sie“ nie bereit gewesen sei, das Ende eines Nachmittags mit ihm in seiner Wohnung zu verbringen, fragt „sie“ ihn, ob er beim „Verliebtsein“ sofort „an das Bett denke“. 46 Als Hugo auf „ihre“ Frage, ob er jeden Sonntag mit dieser Hoffnung gekommen sei, mit „Nein“ 2 Themenfeld I 82 47 Vgl. ebd., S. 145: […] maintenant que nous cessons cette comédie, je peux te le dire, tu aurais pu venir pendant des années […] jamais tu ne m’aurais trouvée seule, je ne t’au‐ rais pas invité, seule, jamais tu n’aurais vu ma chambre, jamais tu ne m’aurais amenée à mon lit ni déshabillée… 48 Ebd., S. 145. 49 Ebd., S. 149. 50 Ebd., S. 150. 51 Vgl. ebd., S. 148: La barrière à nouveau baissée, à jamais, il n’en savait rien sur le moment, il pressentait vaguement quelque chose, l’infini vide, vaguement le gouffre. antwortet, demütigt und verletzt sie ihn mit schneidenden Worten. 47 Völlig überrascht, aber zugleich sehr glücklich reagiert Hugo, als „sie“ ihm in eben diesem Moment vorschlägt: „C’est bien ça que tu veux, alors écoute, viens, em‐ mène-moi chez toi.“ 48 In seiner Wohnung, so scheint es, beglückt sie ihn, indem sie sich ihm hingibt und ihm sagt, ihn zu lieben, doch bereits beim Abschiedskuss wird ihm klar, dass „[c]ette rencontre était faite pour s’effacer et s’il la retenait, ce serait pour subir l’humiliation brûlante de s’être laissé duper.“ 49 Und als sie bei einem - angeblich unter Zeitdruck getätigten - Anruf am Tag danach den Eindruck erweckt, als wolle sie das Geschehene ungeschehen machen, gelangt Hugo, wie die von der Erzählinstanz gewählte Form der internen Fokalisierung eindeutig zu erkennen gibt, zu einer für ihn ernüchternden Schlussfolgerung: Beaucoup à faire, songeait-il à présent, préparer des bagages pour deux semaines ne dure pas des journées entières, et elle n’avait rien d’autre à faire. Tout était faux, depuis le début, le hasard du café n’était pas un hasard, elle l’avait attiré comme les sirènes ensorcellent les marins par leur chant, faux, la musique, tout, jusqu’à la visite chez lui, il avait vu une victoire, ce n’était que défaite, la reddition totale, après lui avoir donné cela, elle ne devait plus rien, elle avait réglé ses dettes avant de partir. Quelles dettes? Il n’en avait aucune idée. La route était barrée et derrière l’éboulis attendait le néant. 50 So wird Hugos Wohnung zu einem Ort des Betrugs und des Selbstbetrugs. Aus der von ihm erhofften Erwiderung seiner Liebe wird eine ihn demütigende Per‐ vertierung intimer Nähe. Bereits im Moment „ihres“ übereilten Abschieds steigen Vorahnungen einer abgrundtiefen, unendlichen Leere in ihm auf, 51 die sich wie ein düsterer Schatten über sein Leben legen. Reisebereitschaft der handelnden Figuren Als Gilles im Gespräch mit „ihr“ erstaunt feststellt, dass „sie“ sich innerhalb von drei Tagen entschlossen habe, „au bout du monde“ zu reisen, erwidert sie kühl, dass sie für diese Entscheidung nur eine Viertelstunde benötigt habe und es 2.1 „Atlantique“ 83 52 Vgl. ebd., S. 13. 53 Ebd., S. 55. 54 Ebd., S. 55. 55 Vgl. dazu Le Petit Larousse Illustré, 1999, S. 1764: „YS“ 56 Vgl. Wajsbrot 1993, S. 59 f. 57 Zitate ebd., S. 56. Der Bekräftigung geht folgende Erklärung der Erzählstimme voraus: Happé par ce regard qui le sortait de lui, il ne pouvait que répondre sans le vouloir, sans même le désirer. (S. 56.) - Bzgl. einer an die Wiederholung eines musikalischen Themas erinnernden echoähnlichen Erinnerung an dieses Gespräch vgl. den Beginn des dritten Kapitels - Scherzo - S. 85 f. und 87 f. Bei der Begegnung im Haus am Meer überlegt Hugo, ob er bei dem Gespräch im Café durch andere Antworten hätte erreichen können, gemeinsam mit ihr auf eine Insel zu enteilen. 58 Ebd., S. 58. übertrieben sei, Brasilien mit dem „Ende der Welt“ gleichzusetzen. 52 Die Erzähl‐ stimme lenkt das Leserinteresse somit bereits zu Beginn des ersten Kapitels - Allegro - auf „ihre“ Bereitschaft zum Aufbruch. Daran anknüpfend greift sie das Thema zu Beginn des zweiten Kapitels - Andante con moto - erneut auf, indem sie Vincents Schwester das an Hugo gerichtete Wort „Partir“ in den Mund legt und sodann ihrerseits hinzufügt: „[…] et dans son regard bleu océan défer‐ laient les vagues du voyage, du départ, de l’exil.“ 53 Mit der dreiteiligen, als Klimax angelegten Aufzählung „[…] les vagues du voyage, du départ, de l’exil“ deutet die Erzählinstanz unzweideutig an, dass sich „ihr“ Wunsch nach Aufbruch nicht aus schlichter Reiselust, sondern aus dem Gefühl einer wie auch immer gear‐ teten Gefährdung erklärt. Weiterhin an Hugo gewandt, fügt „sie“ hinzu, dass sie aus einem anderen Land - la ville d’Ys - 54 stamme, also einer sagenumwobenen bretonischen Stadt des 4./ 5. Jahrhunderts, die der Legende nach von Fluten ver‐ schlungen worden sein soll. 55 Neben der erneut genannten Augenfarbe „bleu océan“ ist die Erwähnung der legendären „ville d’Ys“ zwar kein expliziter, aber doch ein eindeutiger, subtextuell vermittelter proleptischer Hinweis auf den Flugzeugabsturz über dem Atlantik, bei dem Vincents Schwester zu Tode kommen wird. Von den drei anderen Mitgliedern des Quartetts ist Vincent, der einige Monate in der Millionenstadt Belem an der Mündung des Amazonas im Holzhandel ge‐ arbeitet hat, der einzige, der seiner Schwester bereits angeboten hat, ihn zu be‐ gleiten. 56 Hugo antwortet auf „ihre“ Frage, ob er bereit sei, mit „ihr“ aufzubre‐ chen, mit dem durch die überraschende Direktheit der Frage provozierten, reflexartig, aber nicht reflektiert hervorgebrachten Satz „Je partirais“, den er unter „ihrem“ ihn herausfordernden prüfenden Blick mit einem zwanghaft vor‐ gebrachten „Vraiment“ bekräftigt. 57 François reagiert auf „ihren“ Vorschlag „Par‐ tons“ eindeutig ablehnend, wobei sich die von ihm gesehenen Hindernisse „comme une chaîne de montagne“ 58 vor ihm auftürmen. Auch von Gilles wird 2 Themenfeld I 84 59 Vgl. ebd., S. 58 f. 60 Ebd., S. 17. 61 Ebd., S. 17. 62 Vgl. dazu ebd., S. 63-70. „sie“ enttäuscht, als er ihr erklärt, dass er mit seiner Theatertruppe keine Tour‐ neen unternehme, sondern immer in demselben Theater spiele. 59 Dass Vincent, dessen vom lateinischen Verb „vincere“ abgeleiteter Name der ‚Siegende‘ bedeutet, angesichts seiner beruflichen Tätigkeit von der Erzählin‐ stanz als flexible, reisefreudige Figur präsentiert werden kann, ist leicht nach‐ vollziehbar. Gleichwohl mag es auf den ersten Blick überraschen, dass er auf die Einladung Gilles’ zu einem von ihm als Hommage an „sie“ verstandenen Wie‐ dersehenstreffen zunächst mit entschiedener Ablehnung reagiert, die er folgen‐ dermaßen begründet: „Savez-vous une chose, Gilles? Elle avait horreur de ce qui restait, horreur des traces, de la durée, horreur du passé, mais surtout des écrits. Lui rendre hommage, c’est une idée ridicule, on ne l’emprisonne pas, il n’y a rien à ressaisir.“ 60 Aus der Sicht Vincents ist das von ihm entworfene Bild seiner Schwester positiv, insofern er suggeriert, dass eine Gedenkveranstaltung zu ihren Ehren der vergebliche Versuch wäre, sie im Rückblick klischeehaft auf eine bestimmte Rolle festzulegen und damit gleichsam ihrer Freiheit zu berauben. Für ihn steht fest, dass man damit einer Frau, die stets als nonkonformistische Außenseiterin gelebt hat, nicht gerecht wird. Gleichzeitig betont er durch das dreimal geäu‐ ßerte „Elle avait horreur […]“ 61 ihren Abscheu und ihr Entsetzen vor allen Zeug‐ nissen und Spuren der Vergangenheit. Damit gibt er jedoch auch seine Befürch‐ tung zu erkennen, dass bei dem geplanten Treffen sein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester ans Licht kommen mag. Sein und seiner Schwester hohes Maß an „innerer Beweglichkeit“, das in beider Bereitschaft zum Inzest zum Aus‐ druck gelangt, steht durchaus im Einklang mit seiner anfänglichen Abwehr in seiner Reaktion auf die Initiative Gilles’. Dafür bedarf es weder psychologisier‐ ender noch moralisierender Erklärungen, sondern nur der Erinnerung daran, dass die Erzählinstanz den Schauplatz des Tabubruchs sicherlich bewusst nach Brasilien verlegt hat, um die Grenzen überschreitende Qualität der Handlung zu unterstreichen. So lässt die Erzählinstanz zu Beginn des Romans eine Vor‐ stellung der Schwester Vincents entstehen, die in der Folge mehrfach durch ihr über einen Spiegel reflektiertes Auftreten, durch das sie sich genauerer Be‐ obachtung und Einordnung entzieht, bestätigt und ergänzt wird. In welchem Maße die Erinnerungen an die mit seiner Schwester in Brasilien verbrachte Zeit in Vincent nachwirken, vermittelt in besonders intensiver Weise die Beschreibung seiner Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer. 62 Die Erzählung wird in 2.1 „Atlantique“ 85 63 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 66. 64 Ebd., S. 66 f. 65 Vgl. ebd., S. 68-70. 66 Vgl. dazu ebd., S. 85-91. einer surrealistisch anmutenden Weise verschmolzen mit Rückblicken auf eine Autofahrt durch den brasilianischen Dschungel, bei der Vincent und seine Schwester in der Nähe eines Hafens eine Szenerie erleben, die, wie die großen Schwärme schwarzer und weißer Vögel „[…] qui s’apprêtaient au festin funèbre de leurs becs“ 63 signalisieren, durch eine Fülle von Gegensätzen gekennzeichnet ist: Exotische Farben unbekannter Spezies rufen Bewunderung hervor, der An‐ blick von Fäulnis und eiternden Wunden erregt Ekel. Auf der einen Seite wirkt das Marktgeschehen anziehend auf die Menschen, auf der anderen Seite locken Schlamm und Dreck die Vögel an. Die detaillierte Beschreibung des Nebenei‐ nanders von Leben und Tod gipfelt in einem sich fast über eine ganze Seite erstreckenden Satzgefüge, in dessen Schlussteil Vincents Angst vor tödlicher Bedrohung zum Ausdruck gelangt: […] d’un côté la vie - une vie de masse et de grouillement […] une vie nue ni pire ni meilleure que d’autres mais dure et coincée entre deux grands espaces, la forêt et le fleuve […] d’un côté la vie et de l’autre la mort, les charognards présents, massés, serrés, les pattes engluées dans les boues rouges, à attendre, à guetter, le suivant, flottant parmi les eaux, prêts à partir le chercher. 64 Die Schilderung der Erinnerungen Vincents an die morbide Atmosphäre des brasilianischen Dschungels wird von der Erzählinstanz nahtlos übergeleitet in die Beschreibung eines lebensgefährlichen Überholmanövers, bei dem Vincent - auf der Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer - glaubt, eine seiner Schwester täuschend ähnliche Frau erkannt zu haben. 65 Wenn in den Gedanken Vincents die Realität durch traumähnlich-halluzinatorische Zustände verdrängt wird, so macht dies deutlich, mit welcher Intensität die Schwester auch nach ihrem Tod - völlig unabhängig von räumlichen Veränderungen - für ihn präsent ist. Zugleich je‐ doch verbindet die Erzählinstanz mit Vincents Schwester Gedanken der Sterb‐ lichkeit und des Verfalls. Die Sehnsucht Vincents nach Freiheit, Aufbruch und Weite manifestiert sich auch bei der Ankunft im Haus am Meer, als er in der Nähe der Kaimauer mit Gilles über den Kampf zwischen Land und Meer streitet: 66 • C’est la terre qui l’emporte, Vincent. • C’est l’eau. 2 Themenfeld I 86 67 Ebd., S. 90. 68 Vgl. ebd., S. 89: C’est la baie, dit Gilles, détaché de Vincent, pas la mer. Elle est plus humaine. 69 Ebd., S. 89. 70 Vgl. ebd., S. 96-103. • La terre, les constructions. Regardez les maisons, là où courait le fleuve, au siècle dernier, construire est finalement plus durable. • Non, c’est détruire. 67 Der kurze Redeausschnitt lässt die disparaten Standpunkte klar hervortreten. Gilles sieht sich durch den Prozess der Landgewinnung in seinem Glauben und Vertrauen auf die konstruktiven Kräfte des Menschen bestätigt und in seiner Suche nach Sicherheit und einem festen Grund ermutigt. Konsequenterweise hält er die schützende Bucht für „menschlicher“ als das bedrohlich wirkende Meer. 68 Durch die Lage des Hauses mit seiner Nähe und seinem Abstand zum Meer ist Gilles prädestiniert, zwischen den extremen Positionen Vincents und François’ zu vermitteln. Während letzterer explizit erklärt: „Je n’aime pas la mer […]. Je ne l’avais pas revue, depuis.“ 69 , fühlt sich Vincent von der Macht des Wassers und der unendlich anmutenden Weite des offenen Meers - le large - angezogen. Die unterschiedlichen Positionierungen der beiden letztgenannten Figuren korrespondieren mit ihren schon zuvor deutlich gewordenen Einstel‐ lungen zum Aufbruch. Im Haus am Meer - Aufklärung und tragisches Ende eines Beziehungsdramas Die Erzählinstanz nutzt das Treffen im Haus am Meer, um das zwischen den vier beteiligten Figuren entstandene Beziehungsdrama aufzuklären. Die Bedeutung von Raum und Bewegung ist dabei einerseits im Rückblick auf den Aufenthalt Vincents und seiner Schwester in Brasilien von Bedeutung, andererseits im Hinblick auf die von Hugo gewählte Art des Suizids. Auf das in Brasilien offenbar gewordene und vollzogene inzestuöse Verhältnis zwischen Vincent und seiner Schwester wurde bereits verwiesen. Vincent be‐ kennt sich zu dem Geschehenen gegenüber Hugo in einer umfangreichen Er‐ klärung während eines Spaziergangs, der die beiden vom Strand zurück zu Gil‐ les’ Haus führt. 70 Für die Analyse ist entscheidend, ob und ggf. wie Vincent in seiner Erzählung einen Einfluss räumlicher bzw. den Raum prägender Faktoren auf das Geschehene geltend macht. Vincent und seine Schwester befinden sich an einem Strand in Rio, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich ein Armenviertel befindet. Die aus den Favelas die Hügel hinab-steigenden ausgehungerten Kinder wirken auf die beiden „[…] 2.1 „Atlantique“ 87 71 Ebd., S. 97. 72 Ebd., S. 98. 73 Ebd., S. 97. comme des animaux sauvages pour bondir sur leur proie, mais leur proie, ce n’est qu’un peu de viande à manger, du pain, un peu de sel, n’importe quoi pour remplir le vide […]“ 71 . Als Vincent und „sie“ einen ganz in Weiß gekleideten Mann erblicken, der soeben seinem Segelboot entstiegen ist, die Straße über‐ quert und dann in der Masse der Armen verschwindet, vermuten beide, dass dies seinen Tod bedeutet. Eine Bestätigung haben sie indes nie bekommen. Und in genau diesem Moment setzt eine Entwicklung ein, die Vincent als eine Ab‐ folge schicksalhaft vorbestimmter, unabwendbarer Ereignisse beschreibt: La même idée nous habitait au même moment et, à quel point un geste peut paraître stupide quand on le dit, nous nous sommes pris la main. C’était la veille de son départ, Hugo. La suite était inévitable, inévitable depuis le commencement, la seule surprise était que ce ne soit pas arrivé plus tôt. Nous avons eu vingt-quatre heures ensemble […] vingt-quatre heures de vérité contre une vie de faux-semblants. Il ne sert à rien de se cacher les choses, tout finit par se découvrir et par arriver, les désirs les plus fous savent attendre leur heure, même le délire a de la patience. 72 Unausgesprochen bleibt, weshalb sich Vincent und seine Schwester ihrer - wohl seit langem gespürten - intensiven Zuneigung füreinander in einem Augenblick voll bewusst werden, in dem sie das unmittelbare Nebeneinander von Armut und Reichtum, den Aufeinanderprall zweier Welten erleben. Insinuiert wird, dass der bezeichnenderweise weiß gekleidete und damit Reichtum und ver‐ meintliche Unschuld verkörpernde Mann den hungrigen Kindern, die „[…] la faim mène à tout, au désespoir, au vol, au meurtre […]“, im Schmutz der Favelas zum Opfer fallen wird. Denn „[…] si quelqu’un s’interpose entre le pain et la faim […] il faut l’éliminer.“ (Hervorhebung H. H.) 73 Dass das unmittelbare Er‐ leben bzw. Erahnen sozialer Ungerechtigkeit und daraus resultierender Gewalt‐ akte in Vincent und seiner Schwester als Beobachtern den Wunsch nach Schutz und Nähe, Geborgenheit und Liebe weckt, ist plausibel. Naheliegend ist jedoch auch ein durch das binnenreimähnliche phonetische Echo zwischen „le pain“ und „la faim“ hervorgerufener Bezug zwischen der instinkthaft-triebgesteuerten Handlung der qualvoll hungernden Kinder, die den in makellosem Weiß geklei‐ deten Mann aus schierer Verzweiflung töten, und der sich am Strand zwischen den Geschwistern abspielenden Szene, in der sich in einem enttabuisierenden Ambiente ein über Jahre verdrängtes erotisch-sexuelles Verlangen - la faim - triebhaft Bahn bricht. Zur Geltung gelangt somit hier die im Werk Cécile Wajs‐ brots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung, dass „…Räume und 2 Themenfeld I 88 74 Hallet 2009, S. 88. 75 Vgl. Wajsbrot 1993, S. 125 f. 76 Ebd., S. 125. 77 Ebd., S. 125 f. Raumkonstellationen immer auch handlungsauslösende oder -determinierende Faktoren [sind], und zwar allein schon wegen der in und zwischen ihnen statt‐ findenden Bewegungen“ 74 . Die Erzählinstanz bedient sich sodann einer raummetaphorischen Bilder‐ sprache voll intensiver Emotionalität, um Vincents Verstört- und Aufgewühlt‐ sein über den unwiderruflichen Verlust seiner Schwester zum Ausdruck zu bringen. 75 Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob „[…] la scène qui le hantait depuis l’accident[…]“ 76 , also der Vollzug der inzestuösen Liebe, eine Fortsetzung ge‐ funden hätte und „sie“ dies gewünscht hätte. Er erinnert sich, dass er sich vor der intimen Begegnung mit ihr täglich darum bemüht hatte, sich der von ihr ausgehenden erotischen Faszination zu entziehen, indem er das sich wie eine „forteresse“ ausnehmende Verhältnis zu ihr nur umkreiste oder sich weit ent‐ fernte, um sie nicht zu sehen, die Gedanken an sie zu verdrängen. Dies erwies sich jedoch als ebenso aussichtslos wie der Versuch, „den Horizont zu über‐ schreiten“, und in Brasilien führten alle Wege unweigerlich bis in das Zentrum - vers le cœur - ihrer sich bislang festungsartig verschließenden, sich nun aber öffnenden und frei entfaltenden Beziehung: […] car les chemins détournés construisaient la route pour y parvenir, et trouver le pont-levis baissé, les lourdes portes grandes ouvertes, aucun soldat pour garder les salles, avancer avec précaution vers le cœur, portes ouvertes, aucun soldat, avancer encore et enfin la trouver elle, seule, abandonnée, prête à ce qu’elle avait toujours refusé, ignoré - comme lui - prête à prendre au sérieux ce qu’elle feignait de croire un jeu, et lui, Vincent, désemparé par l’évidence, pris au dépourvu, continuait le chemin, avançait […] la rejoignait avec la sensation, dans ses bras, d’être arrivé pour la première fois, l’unique. 77 Die Bilderfolge gelangt an dieser Stelle zu einem isotopisch-konsistenten Hö‐ hepunkt. Der erinnerte, metaphorisch verfremdete Ort der Begegnung des sich liebenden Geschwisterpaars - la chambre où ils se trouvaient - entzieht sich jeglicher Vorstellung von Realität, sowohl dem geschlossenen Raum der aus der Fantasie der Erzählstimme geborenen „forteresse“ als auch der als grenzenlos gedachten Welt: 2.1 „Atlantique“ 89 78 Ebd., S. 126. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 116. 81 Zum folgenden Abschnitt vgl. ebd., S. 171-175. 82 Ebd., S. 171. 83 Ebd., S. 172. 84 Ebd., S. 175. 85 Ebd., S. 175. Les portes lourdes se refermaient d’un coup brutal. La forteresse était coupée du monde, comment tant de chemins comment tant de détours avaient pu y mener, et la chambre où ils se trouvaient était coupée de la forteresse coupée du monde. 78 Man muss sich Vincent im Haus am Meer als einen einsamen, trauernden Men‐ schen vorstellen, der sich verzweifelt fragt „[…] pourquoi son avion, à une se‐ maine de distance, n’avait pas eu la même défaillance, comme ils disaient, au-dessus de l’océan, pourquoi pas le sien, si elle était restée, au lieu de lui, que penserait-elle, à sa place, quels regrets? “ 79 Das Treffen am Meer bahnt Hugo, der die Frage François’: „Tu l’aimais? “ für alle hörbar mit „Oui“ 80 beantwortet, den Weg zum Suizid. 81 Die Erzählinstanz wählt für das tragische Ende einen angesichts des Ortes der Handlung im Wort‐ sinn naheliegenden, vor allem aber eine den Gefühlen und Sehnsüchten Hugos im höchsten Maße entsprechenden Ausgang. So beginnt der letzte Abschnitt des Schlusskapitels - Presto - mit den Worten: Hugo se releva […] il avait besoin de la mer. […] Quelle heure pouvait-il l’être, il s’en moquait, midi, une heure, deux heures, il était en retard, mais en retard pour quoi, il n’avait pas l’intention de revenir. Le soleil était haut, il entendait la rumeur de la mer et le reste - le reste n’existait pas. 82 Hugo nähert sich dem Meer und befindet sich „[…] à la limite des terres et de l’océan bleu“ 83 - eine Formulierung, die sofort die Erinnerung an „ihre“ Augen‐ farbe wachruft und darüber hinaus eine gedankliche Verbindung zum Flug‐ zeugabsturz über dem Atlantik evoziert. Hugo erinnert sich an sein letztes Te‐ lefonat und Treffen in einem Café mit „ihr“ und wirft sich vor, „sie“ nicht vor der Nähe Vincents bewahrt und von der Reise nach Brasilien zurückgehalten zu haben. Als er schließlich den Ruf „Hugo“ vernimmt, fragt er sich: „[…] était-ce elle encore, déjà? “ 84 Als ob er von „ihr“ gerufen würde, scheint er ihr geradezu entgegengehen zu wollen, um zumindest im Tod für immer mit „ihr“ vereint zu sein. Dabei lässt die Erzählinstanz in der Schwebe, ob er das Rufen seiner Ge‐ fährten noch wahrgenommen hat: Hugo! Ils l’avaient repéré, enfin, il s’enfonçait dans la mer, eux étaient loin encore. 85 2 Themenfeld I 90 86 Ebd., S. 143. 87 Ebd. S. 131. 88 Vgl. ebd., S. 21f: Je n’en ai pas envie mais cela me paraît, comment vous dire, nécessaire. 89 Vgl. ebd., S. 162. 2.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung Abschließend soll die Bedeutung, die der Suchbewegung der Figuren und dem wechselseitigen Verhältnis zwischen den Schauplätzen über die Ebene der „his‐ toire“ hinaus zukommt, näher betrachtet werden. Paris ist der Ort, an dem sich - in der in Rückblicken erfassten Hintergrund‐ handlung - das sich regelmäßig sonntags treffende Quartett konstituiert hat und später auflöst. Die Auflösung der Gruppe ist, wie oben ausgeführt, „ihrem“ Überdruss an den „regards de biais“ 86 der drei männlichen Mitglieder des Quar‐ tetts geschuldet, deren Verhalten durch ihren Lebens- und Arbeitsraum maß‐ geblich geprägt ist: • François als „ihr“ Ehemann scheint in seinem Antiquitätenladen durch die Beschäftigung mit „toten“ Gegenständen der Vergangenheit sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft entrückt. Umgeben von Spiegeln, steht er in der Gefahr, die ihm begegnenden Personen nur in reflektierten Ausschnitten wahrzunehmen. Aus der Sicht Vincents ist er „[…] un sé‐ dentaire […] un sédentaire dans l’âme, incapable de changer d’avis une fois qu’il se fixait sur un objet, un lieu, une personne […]“ 87 . Dass er der Einladung Gilles’ zu einem Treffen in seinem Haus am Meer ohne Be‐ geisterung folgt, sie aber für notwendig hält, 88 ist ein Zeichen für seine pragmatisch motivierte Einsicht in seine Lage. Der Tod seiner Frau, die ihn telefonisch aus Brasilien über ihre Scheidungsabsichten informiert hat, 89 ist für ihn offensichtlich nicht mehr als der Schlussstrich unter einer ohnehin abgestorbenen Beziehung. Im Sinne Lotmans ist er eine „unbe‐ wegliche Figur“. • Der Archivar Hugo, dessen Liebe von „ihr“ nicht angemessen erwidert wird, betrachtet sich als „Archäologen, Geologen“ der Zeit, eine bildhafte Formulierung, in der sich seine Sicht der Verräumlichung von Vergan‐ genheit, aber auch sein forschendes Suchen manifestieren. Sein „ihr“ ge‐ gebenes Versprechen „Je serai ta mémoire“ löst er auf „seine“ Art ein, indem er „ihr“ im (Frei)tod bis auf den Grund des Meeres folgt, um so einerseits auf ihr Sterben und andererseits auf seine Liebe zu ihr auf‐ merksam zu machen. Seine Erinnerung an „sie“ findet ihren Ausdruck in seiner symbolischen Bemühung um räumliche Nähe im Tode. Aufgrund der Radikalität seines Handelns, seines selbstbestimmten Überschreitens 2.1 „Atlantique“ 91 90 Ebd., S. 10. 91 Ebd., S. 12. der Grenze zwischen Leben und Tod ist er eine im Lotman’schen Sinn „bewegliche Figur“. • Vincent, der als geschäftlich Reisender und somit von vornherein als Bewegungsfigur vorgestellt wird, „umwirbt“ seine Schwester zu einem frühen Zeitpunkt mit der Einladung, ihn auf Reisen zu begleiten. „Sie“ möchte nicht von ihm verlassen werden, doch […] il était parti, Vincent, le premier, la mort dans l’âme, le voyage dans les yeux. Vers où? Les continents ne pouvaient pas l’assouvir, il partait pour le chemin le plus long, la recherche de ce qu’il avait, la recherche de ce qu’il fuyait.“ 90 Vincent wird zu Beginn des Romans von der Erzählinstanz kryptisch als eine suchende Person beschrieben, die, wie wir durch sein Gespräch mit Hugo er‐ fahren, das, was sie sucht, nämlich die Liebe zur Schwester, bereits besitzt, aber davor zunächst zu fliehen scheint. Während seiner und ihrer Reise von Paris nach Brasilien, die Gilles als Reise „au bout du monde“ 91 betrachtet, kommt es erst unter dem Einfluss der oben geschilderten Bedingungen vor Ort zum Ta‐ bubruch. Dadurch entstehen zwei durch den Atlantik und tiefe sozio-kulturelle Unterschiede getrennte „disjunkte Räume“ im Sinne Lotmans. Vincent und seine Schwester haben somit im wörtlichen und übertragenen Sinn „Grenzen“ über‐ schritten und sind dementsprechend als „bewegliche Figuren“ zu betrachten. Auf ihre Grenzüberschreitung folgt die Katastrophe des Flugzeugabsturzes über dem Atlantik, bei dem die Schwester ihr Leben lässt. Die „doppelte Grenzüber‐ schreitung“ des Geschwisterpaars bildet den „Sujetkern“ des Romans. Auf Hugo wirkt Vincents Offenlegung des inzestuösen Verhältnisses zu seiner Schwester wie eine reinigende Katharsis, die in der von Hugo gesuchten „Vereinigung“ mit ihr im Wasser des Atlantik symbolisch vollzogen wird. • Der Theaterregisseur Gilles, der „sie“ zwar kennen lernt, sich von ihrer blendenden und im Spiegel reflektierten Schönheit beeindruckt zeigt und vergeblich versucht, „sie“ für ein Theaterprojekt zu gewinnen, scheint als Nichtmitglied des (ursprünglichen) Quartetts zwar nur eine Randfigur zu sein. Aufgrund seines Berufes ist er jedoch prädestiniert, zu dem Wie‐ dersehenstreffen von Paris aus an einen Ort einzuladen, der sich durch die Nähe und Distanz zum Atlantik gleichermaßen auszeichnet und so zwischen „le large“, der Sehnsucht nach Weite und Entgrenzung des Le‐ 2 Themenfeld I 92 92 Cécile Wajsbrot, Le Désir d’équateur, Cadeilhan, Zulma, 1995, (Wajsbrot 1995). - Fol‐ gende Rezensionen wurden eingesehen: Jean-Baptiste Harang, „À chlore perdu“, in: Littérature Française (29. 06. 1995); Jean-Noël Pancrazi, „Les vertus de l’eau“, in: Le Monde des Livres (19. 05. 1995). 93 Wajsbrot 1995, S. 7. 94 Vgl. ebd., S. 19: J’essaie à chaque brasse d’écarter le souvenir […] bens einerseits und der Gebundenheit an den Ort, vertraute Verhältnisse und Konventionen andererseits vermittelt. Er wird als Initiator des Tref‐ fens am Meer zum Regisseur einer Rekonstruktion der Suchbewegungen, die erst dort transparent und gleichzeitig beendet werden. 2.2 Le Désir d’Équateur 92 - Eine Suchbewegung „zwischen Welten“ Eine summarische Analyse der Suchbewegungen in dem 1995 erschienenen Roman Le Désir d’Équateur sollte der Frage nachgehen, ob und ggf. wie Raum und Bewegung angesichts der Verschränkung realer und virtueller Ziele und der zeitgeschichtlichen Umbrüche das Verhalten der handelnden Figur(en) be‐ einflussen oder aber in welcher Form die Verhaltensweise der agierenden Figur(en) durch räumliche Konstellationen oder eine räumlich geprägte Bilder‐ sprache versinnbildlicht wird. Da die namenlos bleibende autodiegetische Er‐ zählerin sich selbst in den Mittelpunkt der als Suchbewegung inszenierten Die‐ gese rückt und alle anderen - ebenfalls namenlos bleibenden - Personen, insbesondere die Frau und der Mann, mit denen sie über einen längeren Zeit‐ raum über eine intime Beziehung verbunden ist, nur durch ihr Verhältnis zu ihr definiert werden, ist es naheliegend, in einem perspektivierenden Rückblick die Frage der „Beweglichkeit“ auf die Erzählerin zu fokussieren. 2.2.1 Reale Schauplätze „Je préfère aller à la piscine pour pleurer […]“ 93 - mit diesen Worten eröffnet die Erzählerin die Schilderung ihrer gescheiterten Beziehungen und erklärt - mit einer unüberhörbaren alliterativen Hervorhebung - das Schwimmbad zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort, an dem sie Trauerarbeit leistet, indem sie mit jedem Schwimmzug ihre Erinnerungen zu verdrängen versucht. 94 Ihr ist sehr wohl bewusst, dass sie beim Schwimmen auf jegliche Bodenhaftung verzichtet. Be‐ unruhigend findet sie dies jedoch nicht, vielmehr stört sie, dass sie - im Schwimmbad und andernorts - völlig unvermutet von Erinnerungen an „sie“, 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 93 95 Vgl. ebd., S. 36: […] je n’ai pas pied, ce n’est pas ce qui m’inquiète, j’ai souvent perdu pied, ce qui m’inquiète, c’est le souvenir qui attaque quand je n’y pense pas […] 96 Vgl. ebd., S. 27: J’en suis réduite à la piscine, la seule continuité dans ma vie au milieu des histoires, des ruptures, graves, anodines, je continue de nager […] 97 Vgl. ebd., S. 8. 98 Ebd., S. 44. Vgl. auch S. 20: Elle habitait assez loin, à l’époque, je passais les embranche‐ ments d’autoroute comme les haies d’une course à obstacles […] 99 Ebd., S. 50. 100 Zum Kontext vgl. ebd., S. 50 f. 101 Vgl. z. B. ebd., S. 10 und 71 ff. 102 Vgl. dazu ebd., S. 15-17. 103 Ebd., S. 16. 104 Ebd., S. 16. ihre Geliebte, heimgesucht wird. 95 Gleichwohl kennzeichnet es ihre Verlorenheit und Verzweiflung, dass sie in ihrem von Krisen und Brüchen beherrschten Leben ein Schwimmbad, konkret: das Wasser als die einzige Kontinuität versprechende Umgebung betrachtet. 96 Der durch das Wasser erzeugte Eindruck des Liquiden, nicht Greifbaren kennzeichnet in inhaltlicher Hinsicht die innere Instabilität, den Mangel an Beheimatung und Verortung der Erzählerin, deren Gegenwart, also die Zeit des Erzählens, überdies durch einen Eindruck der Leere und die ernüchternde mediale Wirkung des II . Golfkriegs verdunkelt wird. 97 Gleichwohl generieren das Wasser, das Schwimmen und Tauchen im Verlauf des Textes eine Fülle von Bildfolgen, die eindeutig erotische Konnotationen evozieren. Über den Wohn-, Arbeitsbzw. Aufenthaltsort ihrer bzw. ihres Geliebten teilt die Erzählerin relativ wenig mit. Um zu „ihr“ zu gelangen, fährt sie innerhalb von Paris vom Norden in den Süden und legt diese große Strecke offensichtlich hochmotiviert zurück: „Ces parcours, du nord au sud, je m’en souviens. Tout traverser, aller d’un bout à l’autre, je sais pourquoi.“ 98 Von „ihm“ wird „sie“ einmal in der kalten Apparateatmosphäre einer nicht lokalisierten Arztpraxis empfangen, in der sie - zunächst allein gelassen - eine „[…] tentation de partir […]“ 99 spürt, um unmittelbar nach seinem Erscheinen bereitwillig seinen überfallartigen sexuellen Avancen nachzugeben. 100 Näher beschrieben werden die o. g. Schauplätze genauso wenig wie die so‐ wohl mit „ihm“ als auch mit „ihr“ aufgesuchten Ziele „[…] à la mer […]“ 101 . Dies bedeutet, dass diese Orte ausschließlich funktional als Verankerung der Hand‐ lung dienen. Eine Ausnahme allerdings bildet die Reise, die die Erzählerin mit „ihm“ nach Istanbul unternimmt. 102 In der Europa und Asien verbindenden Stadt verwischen sich die Grenzen zwischen den Kontinenten - […] l’Europe comme l’Asie prenaient des contours imprécis […] - 103 und die Erzählerin stellt erfreut fest „[…] qu’il était possible de rêver ensemble, de regarder dans la même di‐ rection - la main dans la main, vouloir la même chose“ 104 . Sowenig Europa und 2 Themenfeld I 94 105 Ebd., S. 17. 106 Alle Zitate des Absatzes ebd., S. 17. 107 Ebd., S. 11. 108 Ebd., S. 12. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 17. Asien am Bosporus in Opposition zueinander stehen, sowenig trennt die un‐ terschiedlichen Geschlechter: „[…] la traversée nous unissait, entre Europe et Asie, dans l’un de ces villages […] nous aurions pu vivre […].“ 105 Die Erzählerin betont sehr bewusst die „Normalität“ der persönlichen Beziehung, indem sie dem gemeinsam genutzten Hotelzimmer mit einem „[…] lit ancien […]“ und fehlendem Anrufbeantworter den Anstrich des Altertümlichen und obendrein des sittlich Unbedenklichen verleiht: „[…] la fenêtre donnant sur le jardin abrita notre envie, enlacés nous roulions vers les rivages du soir, le village de pêcheurs et sa vie, où nous aurions abandonné la nôtre.“ 106 Gleichwohl gelingt es der Erzählerin in Istanbul nicht, ihre Aufmerksamkeit ungeteilt nur auf „ihn“ zu lenken. Bei der Ankunft in der Stadt am Bosporus hat sie, erotisch sensibilisiert, in seiner Begleitung mit dem Anblick von Minaretten gerechnet, schaut nun aber auch auf „[…]les coupoles des mosquées […]“ 107 und „[…] des dômes largement étalés […]“ 108 , die in ihr nicht nur Erinnerungen an „sie“, sondern geradezu das sehnsüchtige Verlangen nach „[…] ses bras, son é‐ treinte, ses mains, et, au-delà, son corps […]“ 109 wecken. Dass es sich dabei um einen, wie sie sagt, einer „Obsession“ ähnelnden Zustand handelt, verdeutlicht ihre Feststellung: „S’il m’avait laissée seule, j’aurais erré, je crois, de mosquée en mosquée, à sa recherche, et je serais tombée, quelque part, en extase.“ 110 2.2.2 Reisebewegungen Reiseziele und Bewegungsvorlieben des geliebten Mannes und der Erzählerin Indem die Erzählerin sich im Kontext der Schilderung der Reise nach Istanbul über ihre eigenen und die Bewegungsvorlieben des von ihr geliebten Mannes äußert, entwirft sie rudimentäre Charakterskizzen: Il aimait les îles désertes, les endroits isolés, les rochers escarpés, les pentes abruptes, surtout l’aridité, l’escalade - il recherchait l’exploit. Moi, je préférais le large et la navigation - qu’il appelait errance - les grandes étendues, mais pas arides […] 111 Eine kurze Zeit nach der Rückkehr aus Istanbul vervollständigt die Erzählerin das Bild: 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 95 112 Ebd., S. 19. 113 Ebd., S. 13. 114 Vgl. dazu ebd., S. 51: Lorsque j’étais avec lui, il m’apaisait, j’avais besoin de sa force […] et lorsque j’étais avec elle, c’était moi qui l’apaisais, c’était de mon calme […] dont elle avait besoin. Je me trouvais avec l’un et l’autre dans la même situation, mais les rôles étaient inversés. 115 Ebd., S. 47. Quelque temps après le retour du pays d’été, lui me faisait peur, la vie tracée qu’il m’offrait m’intimidait, m’ennuyait, je l’avais refusée, il m’avait dit on ne peut pas passer sa vie à naviguer quand j’avais dit que j’avais besoin de naviguer, et à force de ne plus le voir, je commençais à me demander s’il n’avait pas raison. 112 „Sein“ Verhalten ist - aus der Sicht der Erzählerin - folglich dadurch gekenn‐ zeichnet, dass „er“ zwar durchaus abenteuerähnliche Herausforderungen sucht, sich dabei aber stets in überschaubaren, eng umgrenzten Räumen bewegt. Wenn sein Leben dementsprechend in „vorgezeichneten Bahnen“ verläuft, ist es ihrer Meinung nach risikoarm, wenig überraschungsanfällig, langweilig. Ebendies jedoch und „seine“ Mahnung „[…] on ne peut pas passer sa vie à naviguer […]“ wirken auf die freiheitshungrige, auf eine Entgrenzung ihrer Erfahrungen be‐ dachte Erzählerin abschreckend und frustrierend, obwohl seine Worte, sobald sie „ihn“ längere Zeit nicht sieht, ihre Wirkung auf sie nicht ganz verfehlen. Wenn sie jedoch ihre Bahnen schwimmt, schweifen ihre Gedanken in die Wüste Namibias mit ihren in den südlichen Atlantik ragenden Sanddünen oder in die Gewässer zwischen Feuerland und die Antarktis, wobei sie die letztgenannte geographische Präferenz mit einem auf der Homonymie des Lexems „glaces“ beruhenden Wortspiel begründet: „[…] ah, les glaces, je les préfère en mer plutôt que dans les cœurs.“ 113 „[…] ce voyage si loin hors de mes frontières […]“ - die Erzählerin und ihre Geliebte Die Erzählerin erkennt zwar einen wesentlichen, von ihr als Rollenumkehr ver‐ standenen Unterschied zwischen ihren Beziehungen zu „ihm“ und „ihr“, 114 be‐ dient sich aber bei der Beschreibung beider Verhältnisse einer stark räumlich bestimmten Bildersprache. Auffällig ist die dabei sehr früh offenbar werdende Ambivalenz ihrer Empfindungen, insofern sie sich bereits beim Anblick der ihr unbekannten „[…] familles dans les rues […]“ unwohl und ausgegrenzt fühlt: „[…] j’étais mal à l’aise, je ne voulais pas de leur vie mais je me sentais au bord du monde, en dehors de tout.“ 115 In ungleich stärkerem Maße setzt jedoch das intime Zusammensein mit „ihr“ in der Erzählerin widerstreitende Reaktionen frei. Um zu verdeutlichen, welch außergewöhnliche Gefühle der Genuss gren‐ zenlos erlebter Freiheit dabei in ihr auslöst, bedient sich die Erzählerin eines 2 Themenfeld I 96 116 Ebd., S. 47 f. 117 Als Beleg für die Tradition dieses Topos sei als wohl bekanntestes Beispiel die erste Terzine des Canto Primo des Inferno der Divina Commedia zitiert: Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per una selva oscura / che la diritta via era smarrita. - In einem anderen Kontext, einem Moment der Erinnerung an „sie“, erwähnt die Erzäh‐ lerin: „J’ai lu l’Enfer, le Purgatoire, mais pas encore le Paradis.“ (S. 62). ganzen Arsenals isotopisch aufeinander bezogener Metaphern, um sodann zu einer abstrahierenden Schlussfolgerung zu gelangen: Entre les murs nous étions bien, d’une liberté sans frein, tous les rôles étaient permis, et les explorations sur les rives interdites, nous accostions, dans cette forêt nul encore n’avait pénétré, nous écartions les branches, les broussailles, marchant entre les serpents qui rampaient, fuyant notre venue, forêt de la confusion, de la perte, je me rendais compte que je n’étais pas pareille avec elle et avec les autres, parce qu’elle était femme et eux hommes, mais il y avait autre chose j’allais dire de plus profond, la transgression, ce serait peut-être plus proche, mais il y a autre chose encore, avec elle, j’oubliais quelque chose de moi, avec les autres, avec lui, j’oubliais ce que j’étais avec elle. 116 Die Erzählerin beschreibt intime Begegnungen mit „ihr“ hier als Akte zügelloser Freiheit, die gleichwohl nur in der abgeschirmten Sicherheit eines geschlos‐ senen Raumes vollzogen werden können. Wenn sie diese Akte bildhaft als ge‐ meinsame Erkundungsreisen zu einem „verbotenen Ufer“ schildert, so erhöht sie damit unweigerlich den Reiz der Spannung, den sie noch zu steigern vermag, indem sie in ihrer Phantasie mit „ihr“ auf der anderen Uferseite einen undurch‐ dringlich scheinenden Wald betritt und dort obendrein auf Schlangen trifft, die vor ihr und ihrer Begleiterin fliehen. Eine an dieser Stelle möglicherweise er‐ wartete triumphierende Reaktion tritt nicht ein, vielmehr wähnt sie sich in einer „[…] forêt de la confusion, de la perte […]“. So schafft die Erzählerin mit An‐ klängen an eine abenteuerliche Dschungelepisode und - in stark abgewandelter Form - einer Anspielung auf die Selbsterkenntnis Adams und Evas und ihre Vertreibung aus dem Paradies im Buch Genesis sowie nicht zuletzt mit dem Topos des dunkel-undurchdringlichen Waldes 117 eine Atmosphäre, in der sie die Erfahrung ihres Andersseins als „transgression“, als eine Grenzüberschreitung und darüber hinaus als ein „Sich Verlieren“ darstellen kann. Noch deutlicher formuliert sie diese Erfahrung an anderer Stelle: […] cherchant son corps et son désir, je ne savais plus ce qui était elle et ce qui était moi, j’ai oublié ma peur à cette dépossession, ce voyage si loin hors de mes frontières, 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 97 118 Wajsbrot 1995, S. 77. 119 Ebd., S. 49. 120 Dass es sich tatsächlich um „Abhängigkeit“ handelt, erhellt besonders klar aus folgender Beobachtung der Erzählerin: Je la raccompagnai chez elle, à nouveau, le cercle se re‐ fermait. […] je me rendais compte que la seule vérité qui avait cours entre nous, que ce fût dit ou non, était celle-là, et les voyages entre son désir et son refus, et que ma seule vérité, au plus souvent, était la sienne. (S. 45) 121 Ebd., S. 19. ces secondes où j’avais quitté mon corps et mon âme pour rejoindre le sien ou flotter entre deux […] 118 Die Erzählerin erlebt die intime Nähe zu „ihr“ jedoch nicht nur als eine die Grenzen ihrer eigenen Persönlichkeit aufhebende Extase, sondern zugleich als eine Form innerer Gefangenschaft: Entre les murs, aussi, nous étions prisonnières de l’éternel recommencement, l’extrême liberté et l’extrême prison se confondaient, inéluctablement, au bout d’une semaine, d’un mois, un an, je prenais sa main ou elle prenait la mienne et après, il n’y avait plus rien à faire. Et puis au cœur de la forêt, il y avait ce territoire, abordé une fois, et depuis, jamais reconnu, quelques semaines passées, du printemps à l’été, l’extrême péril. 119 So mutiert der abschirmende, Intimität ermöglichende geschlossene Raum im Laufe der Zeit zu einer Zelle, in der die Erzählerin und ihre Geliebte ihre zu‐ nächst als „extrême liberté“ erlebte und gelebte gegenseitige Hingabe als „ex‐ trême prison“, d. h. als einen äußersten Mangel an innerer Freiheit oder als eine Form von Abhängigkeit erfahren. 120 Ohne dass die Entwicklung zu diesem Punkt hin restlos klar wird, verdeutlicht die in drei Nominalphrasen einmündende Syntax den dramatischen Prozess, der die Erzählerin vom vermeintlichen Gipfel des Glücks zur Einsicht in die für sie lebensbedrohende Gefährdung führt. 2.2.3 Der Äquator als virtuelles Ziel Die zwischen „ihr“ und „ihm“ schwankende Erzählerin - […] je veux elle, je veux lui, elle pour me perdre et lui pour me sauver, ou l’inverse je ne sais pas […] - 121 glaubt, ein ideales Reiseziel gefunden zu haben, um der Kalamität ihrer Unent‐ schiedenheit zu entkommen: Quelque chose me guidait vers l’équateur, presque machinalement, comme les mouvements que je fais sur le ventre - sur le dos, l’effort est plus grand, les gestes moins familiers - après, on peut reconstruire, analyser, l’équateur me mettait à équidistance du pôle Nord et du pôle Sud, Quito, quitter, pour ce que je voulais quitter, 2 Themenfeld I 98 122 Ebd., S. 25. 123 Ebd., S. 25. 124 Vgl., ebd. S. 25 f. 125 Ebd., S. 26. 126 Ebd., S. 57. 127 Ebd., S. 59. il y avait l’embarras du choix. J’imaginais, davantage que les hauts-plateaux, les côtes du Pacifique, et bien sûr, l’archipel des Galapagos, malgré l’avertissement de Melville, la sinistre découpe de ses Encantadas, „royaume de la solitude“. 122 Der Äquator, Ecuador und Quito - die Aussprache des Namens der Hauptstadt klingt in dem zweifachen Echo des französischen Verbs „quitter“ nach - stellen für die Erzählerin ein Ziel dar, das eine ihren „embarras du choix“ neutralisie‐ rende Wirkung ausüben könnte. Die Anspielung auf Herman Melvilles aus zehn philosophischen „Sketches“ bestehende Novelle The Encantadas or Enchanted Isles - der achte Sketch handelt von der lange Zeit auf der Norfolk Isle in völliger Isolation lebenden Mestizin Hunilla - bringt zudem die Suche der Erzählerin nach Einsamkeit und Unabhängigkeit zum Ausdruck. Dieser Eindruck scheint sich jedoch schnell zu relativieren. Wenn sie nämlich feststellt: „Au Nouveau Monde, croyais-je, disparaîtraient les questions de l’ancien“ 123 , so verbindet sie damit durchaus auch hoffnungsvolle Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit der erträumten Idealfigur eines „[…] Andin au teint sombre, aux cheveux noirs, aux lèvres épaisses […]“, der ihre erotischen Phantasien auf lebhafte Weise anregt. 124 In dem heruntergekommenen Ambiente des für die Einreisegenehmi‐ gung zuständigen Verwaltungsgebäudes fühlt sie sich dann jedoch wieder „[…] loin de l’Andin, à vrai dire loin de tout.“ 125 Nach einem sich über mehrere Tage erstreckenden Zögern beschließt die Er‐ zählerin, nicht nach Ekuador zu reisen, ohne dies konkret zu begründen. Aller‐ dings erfahren wir in demselben Kontext über das Verhältnis zu „ihr“, dass „[…] la distance de Paris à Quito n’était rien face à celle qu’elle instaurait entre nous“. 126 So bleibt Ekuador für die Erzählerin ein Ziel, das durch seinen rein virtuellen Charakter ihre Lage als ausweglos erscheinen lässt. Die Entfremdung von „ihr“ empfindet sie daher als „[…] la chute dans le gouffre, la sensation de vide, l’arrachement physique à une chaleur douce, le rejet dans un monde froid […]“ 127 . Mit den raum- und bewegungsbezogenen Metaphern der „chute dans le vide“ und des „rejet dans un monde froid“, aber auch der plastischen Beschreibung des „arrachement physique à une chaleur douce“ - der metony‐ misch gebrauchte Ausdruck „chaleur“ ist ungleich ausdrucksstärker als eine pronominale Referenz - verleiht die Erzählerin ihrem Gefühl, ausgegrenzt, ver‐ stoßen und vereinsamt zu sein, eine geradezu dramatische Intensität. 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 99 128 Vgl. ebd., S. 99: Le monde est vide, l’océan, l’île, et mon appartement muet. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Vgl. ebd, S. 99: Je me débats entre leurs traces, elle, lui, les espoirs, l’illusion, le mur. A chaque mouvement de brasse, j’écarte l’eau, je serre les dents, j’espère qu’un souvenir lâchera prise. 132 Ebd. Wenn die Erzählerin die Welt am Ende der Diegese mit „[le] vide, l’océan, l’île et mon appartement muet“ assoziiert, 128 mag dies neben totaler Vereinsamung (le vide, mon appartement muet) zugleich die Sehnsucht nach dem Gegensatz zwischen der Weite des Ozeans und der Geborgenheit einer Insel und damit einen latenten „désir de départ“ offenbaren. Allerdings bekräftigt sie zugleich ihren Willen, den Verführungskünsten jener „[…] qui me piègent avec leurs yeux clairs et leurs fausses hésitations, leurs mains fines qui effleurent la vie et qui portent des gants, leurs tourments intellectuels […]“ 129 nicht länger nachzu‐ geben, da sie nicht mehr von ihnen fehlgeleitet und instrumentalisiert werden will und sich zudem ihrer eigenen Schwächen bewusst ist: […] je ne les suivrai pas, les yeux clairs sont des gouffres infinis où rien n’arrête la plongée, je n’irai plus, ils boiront leurs alcools sans moi, je ne fais plus semblant d’être un repère dans leur longue traversée, en ne dévoilant rien de moi, surtout pas mes faiblesses, en n’affichant que certitudes, je ne suis pas plus solide qu’eux. 130 Gleichwohl fühlt sie sich beim Schwimmen im Hallenbad von Erinnerungen an „sie“ und „ihn“, ihre Hoffnungen und Illusionen, die Mauer (mit ihrer symboli‐ schen Bedeutung) eingeholt und hofft, sie mit jedem Schwimmzug verdrängen zu können. 131 Dies wird ihr jedoch nicht gelingen, da, um im Bilde zu bleiben, die Erinnerungen sich wie das nach jedem Schwimmzug zurückflutende Ele‐ ment Wasser immer nur für einen sehr begrenzten Zeitraum beiseite schieben lassen. Auch denkt sie zurück an Reisen, die sie allein unternommen hat und bei denen sie weit in das offene Meer hinausgeschwommen ist in der Annahme, es befinde sich niemand am Strand. Als sie jedoch einmal zum Strand zurückkehrte, traf sie auf eine alte Dame, die ihr sagte: „[…] vous étiez allée loin, un moment, je ne vous voyais plus - il y a toujours quelqu’un qui veille“ 132 , eine Erfahrung, die ihre Überzeugung, auf sich allein gestellt zu sein, zumindest in Frage stellt. Gleichwohl tun sich vor ihren Augen Traumbilder auf, die eine von Melancholie nicht freie Sehnsucht nach Weite und Freiheit und den Wunsch ungehinderter 2 Themenfeld I 100 133 Vgl. ebd., S. 100: J’ai trois images devant les yeux, les eaux claires et le ciel sombre du Nord, des roches et des landes qui viennent se perdre dans une mer libre jusqu’à l’autre continent, des barques sur la rivière qu’effleurent les branches d’un saule pleureur, la vieille locomotive d’un train qui franchit les hauts plateaux, et je navigue des unes aux autres, sans elle, sans lui. 134 Ebd. 135 Ebd., S. 100. 136 Ebd., S. 25. 137 Zitate ebd., S. 24. 138 Ebd., S. 24 und 33. Vgl. zu diesem Aspekt die entsprechenden Abschnitte S. 24 und 33 sowie eine kurze Bezugnahme darauf S. 96. - Die Erzählerin spricht von einer „ville près de la frontière“ (S. 24) und präzisiert später: „[…] j’étais dans mon pays […]“ (S. 33). Bewegung zum Ausdruck bringen. 133 Die Suche nach dem „irdischen Paradies“ ist, wie die von der Erzählerin aufgezählten legendären Beispiele belegen, ein uralter Menschheitstraum: On a cherché les continents engloutis, le paradis terrestre, le pays des rois mages, le royaume du prêtre Jean, l’Eldorado, sur terre, sur mer, on a voulu perdre de vue l’étoile polaire et franchir, toujours, tracer la ligne d’équateur qui partage le monde et la franchir. 134 Sie macht sich diesen Traum zu eigen, wenn sie im Schlusssatz des Textes sagt: „Un jour, un navigateur viendra, et il découvrira un autre monde.“ 135 Ihre Hoff‐ nung auf einen „Nouveau Monde“, in dem „les questions de l’ancien“ 136 ver‐ schwinden, hat sie also keineswegs aufgegeben. 2.2.4 Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen Die Erzählerin rückt ihre Trennung von „ihr“ - […] il fallait que je cesse de la voir […] - und ihre Überzeugung, dass „er“ an einer Beziehung zu ihr nicht mehr interessiert ist - […] de lui, il n’y avait pas grand-chose à attendre […] - 137 in einen chronotopisch geprägten Rahmen. Sie berichtet, am Jahrestag des Mau‐ erfalls in einer grenznahen, aber „in ihrem Land“ gelegenen Stadt gewesen zu sein „[…] où des écrivains parlaient d’exil“. 138 An demselben Tag trifft sie im Nachtzug auf eine Frau, die ihr eine abenteuerliche Geschichte über ihren Sohn erzählt, und des Nachts plagen sie Alpträume, in denen sich eine absurde und 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 101 139 Die Frau erzählt die Geschichte ihres in die Prostitution abgeglittenen Sohnes, den sie und ihr Mann noch haben retten können. In einem Hotel trifft die Erzählerin in Alp‐ träumen auf eine Taxifahrerin im Mädchenalter, die sich selbst für fahruntauglich hält und beim Verlassen des Taxis auf einen Blinden-Gehstock zurückgreift. Es folgen Mordszenen, es fließt Blut in unterschiedlichen Farben und „[…] l’une des couleurs prouvait ma culpabilité“. Vgl. ebd., S. 24. 140 Die Erzählerin vergleicht die im Osten oft zu beobachtende Begeisterung für den Westen mit ihrer eigenen Hoffnung auf Ekuador / den Äquator. In beiden Fällen setze man auf „[de] fausses terres promises“. Vgl. dazu ebd. S. 53. ansonsten blutrünstige, in ihr Schuldgefühle wachrufende Szenen abspielen. 139 Der Moment ihrer Entscheidung, sich von „ihr“ und „ihm“ zu trennen, wird somit in den Kontext eines realen, umstürzenden historischen Ereignisses und erdachter, von der alltäglichen Normalität stark abweichender Geschehnisse gerückt. Die in ihrem Traum aufkommenden Schuldgefühle mögen durch ihre Trennungsentscheidung hervorgerufen werden. Angesichts der zum Teil wortgleichen Wiederholung der auf den Jahrestag des Mauerfalls bezogenen Erinnerungen und eines erneuten Verweises auf dieses Ereignis am Ende des Romans ist davon auszugehen, dass die Erzählerin die Zäsur in der Diegese des Romans auf diese Weise nicht nur zeitlich situieren, sondern in einen auf ihr persönliches Dilemma bezogenen Rahmen stellen will. Da der Fall der Mauer jedoch weit über Deutschland und Europa hinaus über‐ wiegend als ein glückliches historisches Ereignis betrachtet wird, wirken die von der Erzählerin imaginierten negativen Konnotationen auf den ersten Blick irritierend. Hilfreich für das Verständnis ist die bereits in B 2.2.2 zitierte Be‐ obachtung der Erzählerin, dass für sie und ihre Geliebte „Entre les murs […] l’extrême liberté et l’extrême prison se confondaient […]“. Für die Erzählerin dürften die beiden Teile des wiedervereinigten Deutsch‐ lands den von ihr in ihrer Beziehung zu „ihr“ erlebten Gegensatz zwischen „li‐ berté“ und „prison“ widerspiegeln. Der Westen steht dabei für „extrême liberté“, der von Mauer und Stacheldraht eingehegte Osten für „extrême prison“. Diese Gegenüberstellung ist allerdings nicht auf eine Opposition zwischen „Gut“ und „Böse“ zu reduzieren, sondern bedeutet vielmehr den Gegensatz zwischen bis ins Extreme gesteigerten Haltungen. 140 So werden die oben erwähnten Konno‐ tationen verständlich: Prostitution und Mord, wo immer sie geschehen mögen, dienen als Beispiele für libertäres und kriminelles, die Würde des Menschen und sein Recht auf Unversehrtheit verachtendes Verhalten. In der Konsequenz be‐ deutet dies, dass die Erzählerin die Teilung Deutschlands, deren Ende sich mit dem Fall der Mauer ankündigt und tatsächlich zum Zeitpunkt des ersten Jah‐ restages besiegelt ist, als Spiegelung der Spaltung ihrer eigenen Person be‐ trachtet. Diese manifestiert sich einerseits in ihrem sowohl „ihr“ als auch „ihm“ 2 Themenfeld I 102 141 Zitate ebd., S. 54. 142 Ebd., S. 33. 143 Ebd., S. 33. 144 Ebd., S. 54. 145 Vgl. A 2.2, S. 53-56. zugewandten erotischen Interesse, andererseits jedoch in ihrer sich zwischen den extremen Polen der „extrême liberté“ und der „extrême prison“ bewegenden Beziehung zu „ihr“ oder, anders ausgedrückt, ihrer zwischen „[…] l’ivresse d’er‐ rance et la gravité du destin“ bzw. „[u]ne liberté extrême, une solitude infinie“ 141 schwankenden Emotionalität. Wenn sie sich daher „[…] en exil de [sa] vie, de lui […] et elle“ sieht, so bedeutet dies - am Ende einer einjährigen Klärungs‐ phase - „[…] que c’était terminé“ 142 . Sie erlebt den Abschied von ihrem bishe‐ rigen Leben als eine Zeit des Rückzugs und Sich Verschanzens, des „[…] se bar‐ ricader, se retirer sur ses terres, dans ses meubles, ne pas oublier de verrouiller les portes pour être sûr de verrouiller les cœurs“ 143 . Für sie, die „le large, la na‐ vigation“ liebt und von sich selbst sagt „[…] que rien nulle part ne [la] retenait, dans aucun pays, ni celui que j’allais quitter ni celui où j’allais arriver. Une liberté extrême, une solitude infinie.“ 144 , scheint diese Form der Immobilisierung und Abschottung zunächst den Verzicht auf jegliche Form einer „terre promise“ oder, anders gewendet, eine neue Art des selbstgewählten Exils zu bedeuten. „Be‐ weglich“ hingegen sind die Schriftsteller, die über Exil sprechen, nicht im poli‐ tischen Zentrum des Landes, sondern in einer grenznahen Stadt, um politischer Einflussnahme zu entgehen und grenzüberschreitendes Denken, das auch zur Aufgabe der Heimat führen mag, zu praktizieren. Unklar bleibt allerdings nicht nur, um welche Grenze es sich handelt, sondern auch, warum die Schriftsteller das Thema zu diesem Zeitpunkt aufgreifen. Ohne dass der Text einen Beleg dafür liefert, mag man - angesichts der spezifischen historischen Situation - nicht ganz ohne Grund spekulieren, dass die Erzählerin an Schriftsteller denkt, die - an der Grenze zwischen den ehemals getrennten Teilen Deutschlands - für einen „dritten“ gesellschaftlichen Weg plädieren und sich aus diesem Grunde von der Hauptstadt an die Peripherie begeben. Dies entspräche der Lotman’schen The‐ orie von der Ambivalenz der Grenze, die nicht nur trennt, sondern auch ver‐ bindet und zwischen den Kulturen der aneinander grenzenden Semiosphären vermittelt. 145 2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung Die Frage, ob die Erzählerin, die nicht von einem festen Ausgangspunkt, sondern schwimmenderweise über ihr Leben reflektiert, als eine im (frühen) Lotman’‐ 2.2 „Le Désir d’Équateur“ 103 146 Der Äquator befindet sich tatsächlich ca. 240 Meter nördlich des Denkmals. 147 Wajsbrot 1995, S. 45. schen Sinn „bewegliche“, also die Grenze zwischen „disjunkten Räumen“ über‐ schreitende Figur betrachtet werden kann, erfordert eine differenzierte Ant‐ wort. Ohne sich auch nur ansatzweise in expliziter Form mit den Moral- oder Wertvorstellungen der Gesellschaft, in der sie lebt, auseinanderzusetzen, be‐ trachtet sie ihr eigenes Sexualverhalten als eine „transgression“. Sie über‐ schreitet also eine, wie sie zu glauben scheint, durch anerkannte Normen ge‐ setzte Grenze. Diese Wertung erfolgt unter Bezugnahme auf die durch die Erzählerin implizit vorgegebenen Normvorstellungen. Sie möchte sich als bise‐ xuell lebende Frau jedoch aus ihrer Notlage befreien, indem sie sich in eine topographisch symbolisierte Äquidistanz zu beiden Geschlechtern begibt. Der ihren Wünschen gerecht werdende Ort liegt in in der Nähe von Quito, der Hauptstadt Ekuadors. Ungefähr zwanzig Kilometer nördlich befindet sich ein „La mitad del mundo“ genanntes Denkmal, an dem eine gelbe Linie den Äquator und damit den, wie man bei der Errichtung des Denkmals annahm, exakt glei‐ chen Abstand zum Nord- und Südpol markiert. 146 Wenn sie in diesem Kontext an Touristen denkt „[qui] se font photographier un pied de part et d’autre, un pied dans chaque hémisphère“ 147 , verdeutlicht dieses Bild ihre illusionäre Wunschvorstellung eines durch eine „naturgegebene“ Linie normierten, quasi legalisierten Verhaltens. Somit ist es gerechtfertigt, ihren - nicht realisierten - „désir d’Équateur“ als eine angestrebte Form der Grenzüberschreitung im Lot‐ man’schen Sinn zu betrachten, insofern ihr Ausgangs- und ihr Zielort zwei nach ihrer Vorstellung unterschiedlichen Wertvorstellungen verpflichtet sind. Da sie jedoch am ersten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer die Beziehungen zu „ihr“ und „ihm“ beendet, scheint sie auf den ersten Blick zu einer „unbeweglichen Figur“ geworden zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch im Lichte des Romanendes zu relativieren, insofern ihr „désir d’Équateur“ keineswegs erloschen ist, viel‐ mehr in ihren Träumen weiterlebt. So mag man angesichts des Erscheinungs‐ datums des Romans (1995) und der damals allgemein vorherrschenden Intole‐ ranz gegenüber „besonderen“ sexuellen Orientierungen durchaus vermuten, dass die autodiegetische Erzählerin in Le Désir d’Équateur mit diesem von ihr nicht für realisierbar gehaltenen „Wunsch“ (auch) die Hoffnung auf eine Ände‐ rung der Haltung der Gesellschaft gegenüber dieser Frage zum Ausdruck bringt, ohne dass der individuelle Charakter ihrer Suchbewegung in Frage gestellt wird. 2 Themenfeld I 104 148 Cécile Wajsbrot, Mariane Klinger, Cadeilhan, Zulma, 1996, (Wajsbrot 1996). - Folgende Rezensionen wurden eingesehen: Jacques-Pierre Amette, „La traversée des apparences“, in: Argus de la presse (02. 03. 1996); Jean-Claude Lebrun, „Les six derniers jours du désert“, l’Humanité.fr; in: http: / / www.humanité.fr/ node/ 181058 (Abruf: 25. 05. 2012). 149 Vgl. Wajsbrot 1996, S. 10. 150 Zum Thema „hodologischer Raum“ vgl. Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 8 1997, S. 195-202, (Bollnow 8 1997). 151 Vgl. Wajsbrot 1996, S. 38: Au carrefour des routes, au confluent des fleuves, il y avait le choix, mais quel temps il fallait, pour revenir au confluent, des heures et des journées de marche, et sans savoir s’il existait encore, Mariane y revenait, pourtant, en retard de vingt ans, avec un fils en moins, un fils en plus, elle allait prendre la route - il faut la mort, parfois, ou ce qui lui ressemble, pour comprendre. 2.3 Mariane Klinger 148 - Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt Die Vordergrundhandlung ist auf einen einzigen Schauplatz, die legendäre Queen Mary 149 , den Ozeandampfer, mit dem Mariane Klinger innerhalb von sechs Tagen von New York nach Southampton reist, konzentriert. Aufgrund der Bewegung des Schiffes auf ein bestimmtes Ziel hin ist der Rückweg Mariane Klingers von den USA nach England in Anlehnung an K. Lewin und O. F. Bollnow durchaus als hodologischer Raum bzw. als „Wegeraum“ zu be‐ zeichnen, obwohl der Begriff i. d. R. nicht auf Seewege bezogen wird. 150 Für die Frage nach der Funktion von Raum und Bewegung für die Handlungsweise der Figuren, insbesondere der nach einer Neuorientierung ihres Lebens suchenden Titelheldin, ist dies bedeutsam, da ihr Nachdenken über Vergangenheit, Gegen‐ wart und Zukunft nicht von einem fixen, unbeweglichen Punkt, sondern von einem sich stetig auf ein Ziel hin bewegenden Schiff seinen Ausgang nimmt. Für Mariane Klinger, die sich die Zeit im Rückblick verräumlicht als eine Kreuzung unterschiedlicher Straßen und Flüsse vorstellt, ihre ihr aufgezwun‐ gene Wahlheimat in New York fluchtartig verlassen hat und nicht weiß, ob sie ihren Sohn verloren hat, bedeutet sein Verschwinden eine todesähnliche Erfah‐ rung. 151 Vor diesem auch durch andere Faktoren belasteten persönlichen Hin‐ tergrund und angesichts der chronotopischen Bedingungen vier Jahre nach dem Ende des II . Weltkriegs ist ihre Suche nach einem neuen Leben in der Alten Welt nicht vergleichbar mit ihrem abenteuerlichen, von großen Hoffnungen beglei‐ teten Aufbruch in die Neue Welt im Jahre 1929. Im Rahmen einer summarischen, die wesentlichen Leitfragen (B 1.2) integ‐ rierenden Analyse soll die Suchbewegung Marianes transparent dargestellt werden. Die Erinnerungen und die Zukunftsplanung der Protagonistin werden durch örtliche Fixpunkte oder zumindest durch grobe Zielvorstellungen gelenkt. 2.3 „Mariane Klinger“ 105 152 Vgl. ebd., S. 12 f., 23 f., 80 f. und die darauf bezogenen Ausführungen in B 2.3.1, B 2.3.2, S. 108 f. und B 2.3.4, S. 114. Zu beachten ist auch, dass Judith eine jüdische Mutter hatte. Vgl. Wajsbrot 1996, S. 40. 153 Vgl. ebd., S. 9. 154 Ebd., S. 12 f. 155 Ebd., S. 38. Die von ihr reflektierte Vergangenheit gliedert sich in ihre der Abfahrt nach New York vorausgehende Zeit in ihrer Heimat Heidelberg und die Hinreise nach New York einerseits und die zwanzig in den USA verbrachten Jahre andererseits. Ergänzt wird die Retrospektive durch Reflexionen über Gegenwart und Zukunft. 2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York Die Erzählinstanz widmet Heidelberg als der Herkunftsstadt Marianes und ihrer Freundin Judith nur wenige Zeilen, die sich gleichwohl im Tenor deutlich un‐ terscheiden. 152 Im ersten und zweiten Kapitel erscheint die Stadt im Kontext der Erinne‐ rungen an die Abfahrt. Hier ist zu erfahren, dass die beiden Mädchen nur wenige Häuser voneinander entfernt in derselben Straße wohnten 153 und gelegentlich die Neckarbrücke überquerten „[…] pour parvenir jusqu’au chemin des philo‐ sophes et là, en voyant les ruines du château sur l’autre rive veiller sur la ville comme un memento mori, elles se racontaient la vie qu’elles imaginaient, des voyages et des rêves“ 154 . Das „romantische“ Heidelberg wird auf diese Weise konnotiert mit einer Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Seins, zugleich aber auch mit den Zukunftsplänen und -träumen Marianes und Judiths, die durch den Anblick der Schlossruine nicht nur nicht unmöglich gemacht, son‐ dern sogar angeregt werden. Die Zeugnisse der Vergangenheit fungieren in der Gegenwart als Brücken in die Zukunft. Positive Erwartungen weckt überdies der Neckar. Wenn die Mädchen sich auf dem Philosophenweg in südlicher Rich‐ tung auf seine Quelle zu bewegten, wandten sich ihre Gedanken und Träume gleichwohl in die umgekehrte Richtung, weit über jenen Punkt hinaus, an dem der Fluss bei Mannheim in den Rhein einmündet. Es scheint, als ob sich ihr Aufbruch in die Ferne, aber auch ihre Suche nach einem eigenen Weg bereits am Horizont abzeichneten: Remontant vers la source, le fleuve approchait de la mer pourtant, s’élargissait, et les bateaux convergeaient, plus nombreux, pour aboutir au port où les chantiers navals construisaient les paquebots qui viendraient hanter d’autres mers, habités de passagers à la recherche d’eux-mêmes et de fuites, émigrants, voyageurs. 155 2 Themenfeld I 106 156 Ebd., S. 11. 157 Ebd., S. 13. 158 Ebd., S. 14. 159 Ebd., S. 13. 160 Ebd., S. 14. In einem seltsamen Kontrast zu dem zwar nur sehr skizzenhaft, aber unmiss‐ verständlich positiv dargestellten Ambiente Heidelbergs, das dem stark ver‐ breiteten „Image“ der zum Träumen einladenden Stadt entspricht, steht das Projekt der „mariages arrangés“, die, wie nur aus Randbemerkungen zu erfahren ist, auf Seiten beider Familien wirtschaftlich motiviert sind. Mariane und ihre Freundin Judith sind, als sie im Februar 1929 nach New York aufbrechen, 18 Jahre alt. Die Erzählungen eines Passagiers, dass sich zu dieser Jahreszeit riesige, sich von den Gletschern Grönlands abspaltende Eisberge den Schiffen auf der Transatlantikroute in den Weg stellen könnten, und sein Hin‐ weis auf historisch belegte Havarien vermögen sie nicht zu beunruhigen, wirken im Nachhinein jedoch wie eine proleptische Ankündigung künftigen Unheils. Den beiden jungen Frauen vermag dies nichts anzuhaben. „[…] pendant la tra‐ versée de l’Atlantique, entre l’Ancien et le Nouveau Monde, sur le bateau, j’ai cru à la liberté […]“ 156 , erinnert sich Mariane auf der Rückreise. Und als die beiden Freundinnen - noch vor dem von Judith angeregten Tausch der ihnen zuge‐ dachten Ehemänner - beim Anblick der Fotos ihrer künftigen Partner wohl nicht so recht an „[…] l’aventure avec lui […]“ 157 zu glauben vermögen, zerstreut Judith alle Bedenken mit ihrem Lachen und der Bemerkung: „[…] il y aura plus d’air qu’à Heidelberg“ 158 , einer Aussage, die vermuten lässt, dass das geistige Klima in der Stadt nicht nur durch ökonomische Zwänge eingeengt, sondern obendrein durch den autoritären Erziehungsstil der Eltern belastet war. Die Unbeküm‐ mertheit und Sorglosigkeit der beiden jungen Damen scheinen indes während der Überfahrt keine Grenzen zu kennen - Elles riaient de tout, du passager du Gallia ou de leur fiancé […] - 159 , allerdings deutet die Erzählinstanz auch feine Unterschiede zwischen den beiden an: Judith laissait ses cheveux flotter, et sous la bise de février elle se sentait au printemps, et quand elle se penchait pour regarder l’océan, ses yeux se teintaient d’un vert plus sombre, un peu de mystère voilait son regard - à la recherche de quelque chose. Elle relevait la tête et Mariane lui enviait la force qu’elle paraissait puiser dans les eaux tumultueuses. 160 Die Umstände der Überfahrt lassen nicht nur Judiths größere Härte und Belast‐ barkeit hervortreten, es umgibt sie auch ein Schleier des Geheimnisvollen, Un‐ durchdringlichen und Unberechenbaren. Der sich zwei Jahre nach der Ankunft 2.3 „Mariane Klinger“ 107 161 Vgl. ebd., S. 23 f. 162 Ebd., S. 24. 163 Ebd. 164 Ebd. 165 Ebd., S. 15. 166 Ebd., S. 24. in New York vollziehende Bruch zwischen den beiden Frauen wird damit pro‐ leptisch vorweggenommen. 2.3.2 New York vs. Heidelberg Ein weiteres Mal taucht Heidelberg im zweiten Kapitel auf. 161 Mariane erinnert sich, dass ihr Sohn John sie einige Male gebeten hat, ihm von Heidelberg zu erzählen. Allein der Name der Stadt habe ihr Herz höher schlagen lassen und in ihr den Wunsch geweckt, mit jemandem Deutsch zu sprechen. Da dies mit John nicht möglich war, vermochte sie seine Fragen nicht so zu beantworten, wie sie es eigentlich wollte: „[…] elle ne parvenait pas à lui répondre […].“ 162 Sie lieferte nüchterne Informationen, ohne in ihrer Muttersprache „ihr Herz sprechen lassen“ zu können. So wurde Heidelberg in ihrer Antwort zu „[…] une ville comme une autre […]“ 163 degradiert. Wenn John besonders drängte, erwähnte sie auch noch die Schlossruine, den Neckar und den Philosophenweg und sogar das etwas weiter stromaufwärts gelegene Tübingen mit Hölderlins berühmtem Turm. Und wenn John Worte wie Hölderlin und Tübingen wiederholte, als schlössen sie ein Geheimnis ein, dann hatte Mariane den deprimierenden Ein‐ druck „[…] qu’elle aussi, comme le poète, se trouvait enfermée dans une tour, depuis bien des années“ 164 . In diesen Momenten begreift sie, wie stark sie sprach‐ lich und kulturell in ihrer Heimatstadt Heidelberg verwurzelt und wie radikal sie in New York von dieser sie prägenden Verbindung getrennt ist. Das Beispiel Heidelbergs zeigt sehr deutlich, wie sich Marianes Blick auf die Welt durch ihr Leben in New York verändert hat. Dass sie ihre innere Mitte verloren hat, wird ihr - unter dem noch frischen Eindruck der von Judith an‐ geregten und von ihr hingenommenen Vertauschung der ihnen zugedachten Ehemänner - bereits bewusst, als sie Harry Loom zum ersten Mal sieht. Am Tag ihrer Hochzeit ist sie davon überzeugt „[…] que ce oui ne lui était pas destiné, qu’elle vivait en dehors de sa vie - mais sa vie, où était-elle? “ 165 . Den Namen „Mariane Loom“ empfindet sie als „[…] un masque supplémentaire posé sur sa vraie vie“ 166 . Im Rückblick auf die sie frustrierende Helferinnentätigkeit in der Praxis ihres Mannes bilanziert sie, dass „[…] de vingt années à New York il ne lui restait rien, pas une rue, une maison, un magasin, pas un être à qui elle se 2 Themenfeld I 108 167 Ebd., S. 37. 168 Beide Zitate ebd., S. 38. 169 Vgl. ebd., S. 10: […] la pleine mer avait lavé Mariane de sa vie, le cabinet médical de Harry n’existait plus, ni les années passées à inscrire ses rendez-vous, à accueillir ses patients, il ne restait que l’air du large, qu’elle respira pleinement. 170 Ebd., S. 42. 171 Ebd., S. 41. 172 Zitate ebd., S. 42. 173 Ebd., S. 41. serait attachée, pas une aventure, la grande ville était un grand désert, l’erreur était plus vaste“ 167 . Die von ihr erlebte Wirklichkeit steht somit in schärfstem Kontrast zur Erwartung eines „[…] espace inconnu, qui laissait cours à l’inspi‐ ration“, die Judith in Heidelberg im Anblick eines „[…] horizon […] bas, cerné par la forêt […]“ 168 auch in ihr geweckt hatte. Die Begriffe „espace inconnu“ und „un grand désert“ veranschaulichen, dass Marianes Hoffnungen auf eine ihren Geist anregende, ihr Leben bereichernde Zukunft in einer Stadt der unbe‐ grenzten Möglichkeiten und ihre Bewertung der erlebten Zeit in krassem Ge‐ gensatz zueinander stehen. Durch den Gebrauch einer räumlichen Begrifflich‐ keit unterstreicht die Erzählerin, dass Mariane, wie oben bereits angedeutet, ihre zwanzig Jahre in New York als eine Zeit der inneren Gefangenschaft betrachtet. 2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit Inspiriert durch die endlos wirkende Weite des Meeres, erlebt Mariane den Be‐ ginn ihrer Rückreise als einen fast sakral anmutenden Akt der Reinwaschung ihres Lebens, als eine Auslöschung der bedrückenden Erinnerungen an ihr per‐ sönlich-berufliches Umfeld und als ein Einatmen von Freiheit. 169 In einem Ge‐ spräch mit dem Engländer John Dee erklärt sie dieses Gefühl der Befreiung mit den Worten: „[…] j’ai l’impression de sortir de prison et de voir le soleil pour la première fois […].“ 170 Nachdem sie eine Rückkehr nach Amerika kategorisch ausgeschlossen hat und John Dee sie daraufhin auf ihren zurückgebliebenen Mann anspricht, erklärt sie unmissverständlich: „Il fait partie de ce que je ne veux plus retrouver […].“ 171 Gänzlich unbestimmt bleibt indes zunächst das Ziel ihrer Reise. Mit nur einem Koffer unterwegs - […] moins chargée qu’au départ - et plus libre - stellt sie lapidar fest: „[…] je ne vais vers rien.“ 172 Es entspricht Marianes Bedürfnis nach Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung des Lebens, dass die Rückreise nach Europa, anders als die Hinreise, „[…] dans le sens du temps […]“ 173 gerichtet ist. Gleichzeitig jedoch wird sie sich ihrer Unsicherheit bewusst, die von der Erzählinstanz in räumlich inspirierter Metaphorik zum Ausdruck gebracht wird. So spürt sie in der Nähe des Exilanten 2.3 „Mariane Klinger“ 109 174 Ebd., S. 35. 175 Vgl. ebd., S. 61: Elle vit le gouffre […] s’ouvrir à ses pieds, et les eaux inonder, un tour‐ billon cherchant à l’aspirer, où était le sol, la vie était mouvante, les lignes ondulaient, les formes changeaient, un mari délaissé et un fils disparu, voilà ce qu’elle laissait. 176 Ebd., S. 43. 177 Ebd., S. 39. 178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd., S. 39 f. 181 Ebd., S. 40. Thomas Mann „[…] l’immensité du gouffre qui séparait la vie qu’elle avait menée de la vie que menaient d’autres, l’impossible rencontre des sphères […]“ 174 , und bei der Frage Peter Lemms, ob sie etwas in New York zurückgelassen habe, fühlt sie sich, eingeholt von der Erinnerung an den von ihr verlassenen Ehemann und den Sohn, wie von einem mächtigen Strudel in einen tiefen Abgrund ge‐ zogen. 175 Mariane leidet jedoch nicht nur unter der aus „[…] vingt années de men‐ songe […]“ 176 resultierenden Veränderung ihrer Persönlichkeit, sondern auch unter den gravierenden Folgen des Krieges, die sie bis in den Schlaf verfolgen: Dans les draps blancs où elle ne dormait pas, elle voyait le monde se diviser en deux, les gens plutôt, les innocents et les autres, ceux qui avaient cédé à la tentation et ceux qui n’avaient pas cédé […] Harry était un innocent, John Dee aussi, mais pas elle, pas Judith […] Et dans ce bar où elle avait vu Thomas Mann, elle se demandait à cet instant si la division n’était pas entre vainqueurs et vaincus, de la guerre, certes, mais d’une autre guerre aussi, plus intérieure. 177 Die Teilung der Welt lässt sich, folgt man der Argumentation Marianes, durchaus unterschiedlich erklären, je nachdem, ob man Kriterien der persönli‐ chen Schuld bzw. Unschuld anwendet oder aber sich an der durch das Ergebnis der Kriege geschaffenen Unterteilung in Sieger und Besiegte orientiert. Dass Mariane davon ausgeht, dass die Sieger gemeinhin als unschuldig, die Besiegten als schuldig gelten, erhellt aus ihrer an Dee gerichteten Bemerkung: „[…] la vie est simple pour vous, vous faites partie d’un pays vainqueur.“ 178 Als Dee ihr entgegnet: „Vous aussi […] l’Amérique“ 179 , distanziert sich Mariane von dieser - sicherlich freundlich gemeinten - Zuordnung mit den Worten: „En vingt ans, il n’est pas une seconde où je me sois sentie chez moi. J’ai vu disparaître la statue de la Liberté avec un soulagement, vous ne pouvez pas imaginer.“ 180 Auf den ergänzenden Hinweis Dees, dass sie während der fraglichen Zeit nicht in Deutschland gewesen sei, gibt Mariane zu bedenken: „Je n’étais pas là-bas mais je suis de là-bas, de ce pays, de cette langue.“ 181 Und sie fügt hinzu, dass sie sich 2 Themenfeld I 110 182 Ebd., S. 13 183 Vgl. zum folgenden Abschnitt S. 42 f. 184 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 43. 185 Ebd. 186 Ebd. gedrängt fühle, ihr in Ruinen liegendes Land, das von amerikanischen Offizieren mit Pompei verglichen werde, zu besuchen. - Mit ihren Äußerungen beklagt sie nicht nur erneut die von ihr als eine Zeit der Gefangenschaft empfundenen Jahre in New York, sie distanziert sich darüber hinaus von dem ganzen Land, dem sie implizit vorwirft, seinen Einwanderern bei ihrer Ankunft mit dem in Bronze gegossenen Pathos der Freiheitsstatue ein utopisches Bild vom Leben in den USA zu vermitteln. Gleichzeitig identifiziert sie sich mit ihrem Herkunftsland Deutschland und seiner Sprache als einem wesentlichen Merkmal kultureller Identität und lässt damit deutlicher erkennen, was sie unter jener in dem Ge‐ spräch mit John Dee erwähnten „guerre intérieure“ versteht. Sie war zwar wäh‐ rend der Schreckensjahre nicht in ihrer Heimat, betrachtet diese Zeit jedoch als eine „[…] vie de fausseté“ 182 und sucht daher nach einem neuen Weg. Dabei erweist sich für Mariane ein Blick auf die Gesellschaft an Bord des Schiffes eher als verwirrend. 183 Während Joan Hawks und andere Angehörige der Schickeria sich in oberflächlicher Selbstzufriedenheit einem trivialen musi‐ kalischen Vergnügen hingeben - […] chacun paraissait se contenter de la surface sans chercher à voir dessous - 184 , diskutieren Hans Vögli und John Dee ernsthaft über die Einheit Deutschlands, die der Eine befürwortet, der Andere strikt ab‐ lehnt. Mariane entdeckt Bezüge zwischen dieser röntgenhaft „unter die Haut gehenden“, tiefschürfenden Analyse und der europäischen Trümmerlandschaft und sieht sich selbst als Gefangene, eingeschlossen und ohne Hoffnung auf Be‐ freiung: „[…] elle se sentait cernée, entourée de grillages ou de fils barbelés, et frapper à une porte qui ne s’ouvrirait pas puisqu’elle n’existait pas.“ 185 Ihre Suche nach Wahrheit droht zu scheitern, auch angesichts ihrer eigenen Vergangenheit und im Anblick einer lächelnden, alle Umgangsformen respektierenden Gesell‐ schaft: „Sa quête de vérité se désintégrait - quelle vérité, vingt années de men‐ songe et les ruines, partout - et au milieu du désastre, tout le monde souriait, en tenue impeccable.“ 186 In ihrem eigenen Innern tobt eine „guerre intérieure“ um die Frage nach per‐ sönlicher Schuld und Verantwortung, die in einen Entschluss zum Handeln ein‐ mündet. Für Mariane bedeutet dies die Verpflichtung zum Aufbruch in die Rich‐ tung ihrer alten Heimat. Die Erinnerung an ihren Sohn John wirkt immer wieder belastend, vermag sie aber nicht zurückzuhalten. 2.3 „Mariane Klinger“ 111 187 Ebd., S. 96. 188 Vgl. ebd., S. 28 f. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den zahlreichen, auf den ganzen Roman verstreuten Bezügen auf Thomas Mann und seinen vierteiligen Roman Joseph und seine Brüder (vgl. insb. S. 28-30, 32 ff, 44-46, 62-64, 71-74, 80 ff, 117 f., 141, 160, 172, 195-198, 210 f.) muss einer Arbeit über intertextuelle Einflüsse auf das Er‐ zählwerk Cécile Wajsbrots vorbehalten bleiben. Im Kontext dieses Kapitels sind die Stellen, die auf das Joseph und Mariane verbindende Exilantenschicksal bezogen sind, von Interesse. 189 Ebd., S. 29. 190 Ebd., S. 44. 191 Zitate ebd., S. 64. Wie sehr die Teilung der Welt in zwei Hälften gerade auch die Deutschen in ihren konkreten Lebensvollzügen treffen wird, sagt John Dee voraus, wenn er der sich nach dem Gebrauch ihrer Muttersprache sehnenden Mariane erklärt: „[…] et dans votre pays, Mariane, ce qui va se passer, un pays coupé en deux, une ville coupée en deux. Il y aura des familles, des amis qui ne pourront plus se voir ou qui devront traverser une frontière, présenter des papiers pour parler la même langue.“ 187 Mariane, die zum Zeitpunkt ihrer Rückreise seit 20 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen hat, erinnert sich, vor sechs oder sieben Jahren die Bände I und II von Thomas Manns Joseph und seine Brüder in einer Bücherei in Man‐ hattan erstanden zu haben. 188 Für sie war dieser Kauf, obwohl es sich um eine englische Übersetzung handelte, „[…] le signe qu’elle attendait depuis des an‐ nées, une lumière dans ses ténèbres […] comme la terre d’un nouveau continent que l’on va aborder“ 189 . An Bord des Schiffes ist der Exilant Thomas Mann, Autor eines Romans über den alttestamentarischen Exilanten Joseph, dessen Auslie‐ ferung durch seine Brüder an einen ismaelitischen Sklavenhändler der Exilant Peter Lemm mit den „mariages arrangés“ Marianes und Judiths vergleicht, für sie eine Person, deren Anwesenheit „[…] lui indiquait la voie à suivre“ 190 . Als einziges Buch hat sie diesen Roman mitgenommen, da die in ihm bezeugte „[…] existence de voies impénétrables, de chemins détournés […]“ ihrer „[…] vision du monde […]“ 191 entspricht. So stellt sie sich vor, dass, sollte sie Thomas Mann auf der Schiffsbrücke treffen, sie ihm folgendes sagen würde: C’est en lisant Joseph […] que j’ai compris qu’il fallait partir pour vivre. […] Joseph est parti, il a quitté son père, et puis ses frères, et lui qui, dans son pays, n’était qu’un membre de la famille, là-bas, en Égypte, descendu au plus bas il montait au plus haut, il observait les dieux, leurs coutumes et leurs songes, il expliquait les choses autrement, et son regard étranger éclaircissait le monde. Car le départ ne suffit pas, il faut en faire quelque chose, et moi, je n’ai rien décidé au cours de ma vie - ma première décision 2 Themenfeld I 112 192 Ebd., S. 117 f. 193 Ebd., S. 210. 194 Ebd., S. 211. (Hervorhebung H. H.), je l’ai prise il y a quelques jours, et ce fut de partir, aussi. Vous voyez, c’est pour cela que je crois que John a eu raison. 192 Mariane fühlt sich dem Schicksal Josephs verbunden, insofern sie und er im Alter von 18 Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Darüber hinaus wird er für sie zu einem beneideten Vorbild, da er sich, anders als sie, die sich in ihrer Ehe und in ihrem ganzen Leben in New York unfrei fühlte, in seiner neuen Heimat Ägypten nicht von der Gesellschaft isolierte, sondern die Autoritäten und Bräuche des Landes achtete und bekanntlich bis zum angesehenen Berater des Pharaos aufstieg. Als seine Brüder in einer Zeit der Hungersnot nach Ägypten kamen und ihn um Hilfe baten, fanden sie bei ihm „[…] la nourriture matérielle et spirituelle […]“ 193 , also eine nicht nur den leiblichen, sondern auch den geis‐ tigen Hunger stillende Nahrung. Und als die Brüder ihn schließlich zu ihrem Vater Jakob kurz vor dessen Tod in die Heimat zurückführten, bedeutete dies für alle, dass „[…] l’unité s’était reformée […]“ 194 . Vor diesem Hintergrund be‐ deutet die Entscheidung Marianes zum Aufbruch ihren - verspäteten - Eintritt in die Selbstständigkeit des Erwachsenenalters. Ihre verständnisvolle Hinnahme des Verschwindens ihres Sohnes ist nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie: Da sie ihrem Sohn ein Leben des Stillstands und der Erstarrung ersparen will, das dem ihrigen ähnelt, heißt sie seinen unangekün‐ digten, die Eltern in Ratlosigkeit stürzenden Aufbruch nachträglich gut. 2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung Die Reise Marianes (und Judiths) von Heidelberg nach New York bedeutet für die Mädchen einen Wechsel in einen anderen Kulturraum, insofern sie eine Grenze überschreiten, die als topographisch, sprachlich und semantisch kodiert einzustufen ist. Die Grenze ist jedoch nicht von vornherein als „unüberwindlich“ im Sinne Lotmans zu bezeichnen, da vor der - von den Eltern veranlassten - Reise weder erkennbare Hindernisse institutioneller Art noch eine Weigerungs‐ haltung der Mädchen erkennbar sind. Wohl aber erweist sich der Aufenthalt in New York für Mariane von Anfang an als krasses Gegenteil der erhofften Be‐ freiung aus der (vermeintlichen) provinziellen Enge Heidelbergs. In einem von ihr auf der Rückfahrt nach Europa an Bord des Schiffes imaginierten Dialog mit Judith sagt sie: „[…] car tu ne t’imagines pas à quel point ma vie était fermée, de 2.3 „Mariane Klinger“ 113 195 Ebd., S. 80. 196 Ebd., S. 81. 197 Ebd., S. 194. 198 Le Petit Larousse Illustré 2000, S. 932: „SENS“, Bedeutungen Nr. (6) und (4). tous côtés […].“ 195 Mit dem räumlich inspirierten Bild der „vie fermée“ suggeriert sie, dass die Jahre in New York für sie eine Zeit der Unfreiheit und Fremdbe‐ stimmung waren. Zu einer eindeutig „beweglichen Figur“ wird Mariane erst durch die in B 2.3.3 zitierte „première décision“, die erste bewusst von ihr selbst getroffene Entscheidung, mit der sie sich, zusätzlich belastet und beunruhigt durch das plötzliche Verschwinden ihres Sohnes, aus ihrer zwanzigjährigen Ge‐ fangenschaft losreißt, indem sie sich zum Aufbruch, zur Rückkehr nach Europa entschließt. Wenn sie auf der Rückfahrt an Bord des Schiffes in dem o. g. „Zwiegespräch“ mit Judith auch an Heidelberg denkt, nicht an das Heidelberg ihrer Jugend, son‐ dern an das Heidelberg ihrer Gegenwart, in dem die Ruine des Schlosses die Ruinen des Weltkriegs überragt und wie ein mächtiges chronotopisches Signal Zukunft verheißt, in dem sie sich über den Fluss beugen möchte, um aus ihrem Spiegelbild einen Hinweis auf ihre Zukunft abzulesen, „verräumlichen“ sich ihre Zeit- und Zielvorstellungen in einer traumhaft anmutenden Rückbesinnung auf die Stadt ihrer Herkunft. Gleichzeitig erinnert sie sich neidvoll an die Heidel‐ berger Studenten, deren Leben mit seiner Freiheit und geistigen Entdecker‐ freude sie gerne geteilt hätte: „Et moi, je les enviais, j’aurais voulu faire des études, un jour, comme eux, passer ma vie avec les livres, les lire et les expli‐ quer.“ 196 Obwohl der Text keine definitive Auskunft darüber gibt, wohin dieser Aufbruch Mariane führen wird, ist ein Gespräch aufschlussreich und rich‐ tungweisend, das Hans Vögli, dessen ebenfalls Mariane heißende Frau vor Jahren verstorben ist, mit ihr führt. In einer durch interne Fokalisierung ge‐ prägten Passage stellt die Erzählinstanz - aus der Perspektive Vöglis - die Frage, ob Mariane begriffen hat, was sie verloren hat, um sogleich eine Zukunftsper‐ spektive zu eröffnen: Mais savait-elle ce qu’elle avait perdu? Il y avait tant de choses, Heidelberg, ses parents, John, Judith, sa vie, le sens de sa vie […] elle allait retrouver, oui, et elle saurait alors ce qu’elle avait perdu. 197 Dass die Erzählinstanz „le sens“ hier in der doppelten Bedeutung ’direction, orientation dans laquelle se fait un mouvement’ und ‚raison d’être de qqch; ce qui justifie et explique qqch, signification‘ 198 gebraucht, wird durch die Hervor‐ hebung im Anschluss an „sa vie“ deutlich. Und die unmittelbare Reaktion Ma‐ 2 Themenfeld I 114 199 Wajsbrot 1996, S. 194. 200 Vgl. B 2.3.3, S. 113, Anm. 194. 201 Ebd., S. 211. rianes: „Je reviens pour cela, pour tenter de trouver l’unité de ma vie“ 199 unter‐ streicht, dass sie Vöglis Botschaft verstanden hat: Wenn ihr Aufbruch sie aus ihrer Gefangenschaft befreien soll, müssen sich ‚Sinn‘ und ‚Richtung‘ ihres Le‐ bens ergänzen, um es in seiner Ganzheit wiederherzustellen. Im Übrigen findet der Gedanke der Wiederherstellung der „unité de la vie“ eine Parallele in der Biograhie des in seine Heimat zurückkehrenden Joseph. 200 Mariane gibt durch ihre starke Identifikation mit dem Werk Thomas Manns, das sich ihr über Joseph und seine Brüder zu erschließen beginnt, zu erkennen, mit welcher Gesinnung und Absicht sie auf der Suche nach einer Neuausrich‐ tung ihres Lebens vom Nouveau in den Ancien Monde zurückkehrt. Auch wenn die Erinnerung an ihre Heimatstadt Heidelberg in ihr sehnsuchtsvolle Gefühle wachruft und die Stadt auf sie eine große Anziehungskraft ausübt, wird sie auf der Suche nach einer geistigen Heimat insbesondere den Spuren des mit ihr gemeinsam nach Europa zurückkehrenden Thomas Mann folgen. Sie hat er‐ kannt, dass die Beschäftigung mit seinem Werk ihr Leben verändert hat und ihr auch in Zukunft entscheidende Orientierungshilfen liefern kann. In einem ima‐ ginierten Zwiegespräch mit ihm erklärt sie: J’ai lu vos livres et je les garde en moi, chaque lecture m’a rendue différente, je tournais les pages dans des draps blancs et vides qui s’emplissaient de vie […] j’ai reçu quelque chose de vous que je garde […] Vous poursuivez votre chemin […] Je lirai les comptes rendus de votre visite en Allemagne, ou j’irai peut-être vous écouter, à Francfort […] et puisque vous souhaitez que votre visite s’adresse à l’Allemagne entière, elle s’adressera un peu à moi. 201 Anders als vor zwanzig Jahren hat Mariane gelernt, den Sinn und die Richtung ihrer Suchbewegungen selbst zu bestimmen, da sie eine geistige Beheimatung gefunden hat und zu einer - im Lotman’schen Sinn - „beweglichen“ Figur ge‐ worden ist. 2.3 „Mariane Klinger“ 115 202 Cécile Wajsbrot, Voyage à Saint-Thomas, Paris, Zulma, 1998, (Wajsbrot 1998). - Folgende Rezensionen wurden eingesehen: Dominique Durand, „Mélo de mer“, in: Le Canard enchaîné (23. 09. 1998); Yves-Marie Lucot, „Le Voyage à Saint-Thomas“, in: Le Magazine Littéraire (Octobre 1998, p. 75). 203 Vgl. Wajsbrot 1998, S. 5 f. 204 Vgl. ebd., S. 5: Toute sa vie était le chemin qu’il avait fallu parcourir pour décider ce départ, une lente ascension, ce voyage était sa vie même et maintenant qu’il était différé, sa vie se défaisait, rien ne la tenait plus et elle gisait, éparse, comme les morceaux d’un puzzle sans image. 2.4 Voyage à Saint Thomas 202 - Suchbewegungen zwischen Paris und Saint-Thomas Die insgesamt ereignisarme Handlung des Romans Voyage à Saint Thomas ist, orientiert man sich lediglich am oberflächlichen Ablauf der Geschehnisse, im Wesentlichen auf zwei Orte, nämlich Paris und Saint Thomas, beschränkt. Trotz dieser eher sparsamen Aufteilung des literarischen Raums entfaltet der Roman ein komplexes System räumlicher Vorstellungen sowohl in der Erzählweise als auch in der Imagination der Charaktere, insbesondere Agathes, deren Blick‐ winkel die heterodiegetische Erzählinstanz fast im ganzen Roman einnimmt. Diese Form der dominant internen Fokalisierung kündigt sich bereits zu Beginn des ersten Kapitels an. Sie wird unterstrichen durch einen ungewöhnlichen Er‐ zählmodus, wie er zum Beispiel zu Beginn des zweiten Absatzes zu beobachten ist: Die Beschreibung des Dorfes Saint-Thomas erfolgt eindeutig aus dem Blick‐ winkel Agathes, die den Ort jedoch noch nicht aus eigener Anschauung kennt, sondern sich auf die Erzählungen Marcs bezieht, sich mit seiner schwärmeri‐ schen Darstellung identifiziert und hofft, nach einer langen Zeit des Wartens dort in der Begegnung mit Loïc ihr persönliches Glück zu finden. 203 2.4.1 Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels In welcher Weise Kapitel 1 eine grundlegende raumkonstituierende Funktion zukommt, sei anhand folgender Aspekte erläutert: • Agathe empfindet ihr bisheriges Leben als einen ansteigenden Weg, den sie notwendigerweise hat zurücklegen müssen, um mit ihrem Geliebten zu einer Reise aufbrechen zu können. Die Erwartung dieser Reise bedeutet für sie „das Leben schlechthin“. Nach dem Aufschub der Reise stellt sich ihr Dasein wie ein in seine Einzelteile zerfallenes, ausdrucksloses Puzzle dar. 204 - Die im Roman an vielen Stellen wieder aufgenommene meta‐ phorische Umschreibung des Lebens als Weg bzw. Reise erinnert an 2 Themenfeld I 116 205 Zitiert nach Bollnow 8 1997, S. 199. Bzgl. der Ausführungen zum hodologischen Raum bei K. Lewin und J. P. Sartre vgl. ebd. S. 195-199. 206 Vgl. Wajsbrot 1998, S. 7: Il a peur, se dit-elle, c’est pour cela qu’il ne veut pas aller à Saint-Thomas. Il comprend ce que cela signifie, ces choses-là se sentent. 207 Vgl. ebd., S. 5: Le soleil était déjà là, et le ciel bleu pur, l’avenue calme, qui auraient pu infuser un sentiment de paix, laissait Agathe sans envie. - Dass es sich bei der Stadt um Paris handelt, erfahren wir erst durch den Hinweis auf das „[…]grand café de Beau‐ bourg […]“ auf S. 11. 208 Ebd., S. 5. 209 Der Ausdruck „astre nouveau“ (ebd.) ist zwar syntaktisch auf „[…] les dates fixées [du voyage]“, inhaltlich aber eindeutig auf Saint-Thomas zu beziehen. Sartres Interpretation des hodologischen Raums. Anders als K. Lewin, für den der hodologische Raum einen „ausgezeichneten“, d. h. bestimmten Bedingungen genügenden, nachvollziehbaren Weg zu einem Ziel be‐ zeichnet, sieht Sartre darin lediglich „[…] eine[r] irgendwie unbestimmt gedachte[n] Beziehung zu einem räumlich entfernten Menschen (oder Ding)“. 205 Damit ist die Ausgangssituation, in der sich Agathe zu Beginn des Romans befindet, charakterisiert: Datum und Ziel der vereinbarten Reise verlieren durch den (ersten) Aufschub (dem bald ein zweiter folgen wird) jenen sternenartigen Glanz, der ihr Leben zuvor erhellte. Ihre Be‐ ziehung zu Loïc schließlich wird durch ihre Vermutung belastet, dass er vor der gemeinsamen Reise angesichts der damit verbundenen Bedeutung Angst habe. 206 • Die den Roman kennzeichnende Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas ist in der Vorstellung Agathes bereits in Kapitel 1 deutlich ausgeprägt. Sogar bei Sonne, einem blauen Himmel und einer ruhigen Umgebung, also bei optimalen äußeren Bedingungen, die in ihr eigentlich eine friedliche Stimmung hätten erzeugen können, hinterlässt die na‐ mentlich noch nicht genannte Stadt, in der Agathe lebt, in ihr einen Zu‐ stand der Lustlosigkeit. 207 Durch die Platzierung am Anfang des ersten Kapitels erhält dieser Satz ein besonderes Gewicht. Demgegenüber ver‐ bindet Agathe - unter Bezugnahme auf Erzählungen Marcs - den als Ziel der geplanten Reise vorgesehenen, zunächst mit dem Hinweis „[…] près de la baie du Mont-Saint-Michel […]“ 208 nur grob lokalisierten, aber nicht namentlich erwähnten Ort mit bis ins Extreme gesteigerten positiven Vorstellungen bzgl. seiner geographischen Lage und Beschaffenheit sowie der leitsternähnlichen Bedeutung 209 , die er für sie - bis zum Auf‐ schub der Reise - besitzt. In einer asyndetischen, viergliedrig gesteigerten Aufzählung führt eine aufsteigende Linie von „[…]des plages désertes immenses […]“ über „[…]des marées infinies[…]“ und „[…] les reflets de 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 117 210 Ebd. 211 Ebd., S. 6. 212 Vgl ebd.: […] elle s’était juré d’aller là-bas, avec Loïc, et dans ses rêves […] le village de Saint-Thomas […] avait le pouvoir de transformer les couples illégitimes en couples légitimes […]. 213 Zitate ebd. 214 Vgl. ebd., S. 6 f.: […] Marc, après Saint-Thomas, avait entamé un périple qui le conduisait à une séparation, que son amie Véronique faisait le même chemin et qu’ils allaient bientôt se rejoindre comme elle espérait que Loïc et elle le feraient aussi. 215 Vgl. B 2.1.2, S. 88 f., Anmerkung 74. la lune sur la mer […]“ bis zu „[…] le ciel étoilé d’autant plus vaste qu’il était bas comme il devait l’être près des pôles […]“. 210 Darüber hinaus zeichnet sich der Ort aus als „[…] le lieu secret qui abritait ceux qui s’ai‐ ment et se cachent […]“ 211 . Er besitzt mithin eine Qualität, die Agathe - bis zu Loïcs Absage der Reise - in ihrer Entschlossenheit zum Aufbruch bestärkt und in ihr verschiedenste Träume geweckt hat, die im Wunsch einer Legalisierung der Beziehung zu ihrem Geliebten gipfeln. 212 In einem krassen Gegensatz zu diesen Traumvorstellungen steht jedoch die von Agathe täglich erlebte Realität, die, metaphorisch als „[…] jours de dé‐ sert […]“ umschrieben, die regelmäßige Wiederkehr einer Arbeit be‐ deutet, bei der „[…] l’ennui succédait à l’ennui, où toutes les vérifications, les contrôles qu’elle devait faire, s’alignaient comme les colonnes d’une armée dans le désert à des milliers de kilomètres d’un objectif dont on se demandait s’il existait […]“ 213 . Agathe sieht sich somit in Paris mit einer Arbeitswelt konfrontiert, in der sich in ihrer Vorstellung die von ihr vor‐ zunehmenden Kontrollaufgaben zu Armeekolonnen verselbständigen, die, aufgereiht in einer Wüstenlandschaft, nach einem weit entfernten, nicht einmal mit Sicherheit existierenden Ziel suchen. So bedient sich die Erzählstimme bereits im ersten Kapitel einer räumlich bestimmten Bil‐ dersprache, um die von Agathe erlittene Entfremdung, Vereinsamung und Frustration, d. h. ihre Erfahrung eines als absurd und sinnlos empfun‐ denen Lebens zum Ausdruck zu bringen. • In den Träumen Agathes gewinnt Saint-Thomas obendrein eine prolep‐ tische Bedeutung. So wie sich Marc nach dem Aufenthalt ebendort von seiner damaligen Partnerin trennte, um sich mit Véronique zusammen‐ zuschließen, hofft Agathe - nach dem Ende der kurzen Beziehung zu Marc - auf eine klare Entscheidung Loïcs für sie. 214 An dieser Stelle ge‐ langt die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung zur Geltung, dass Handlungen durch Räume bzw. Raum‐ konstellationen ausgelöst und mitbestimmt werden. 215 2 Themenfeld I 118 216 Bzgl. des Zitats s. Wajsbrot 1998, S. 7. Dass dem Aspekt der Darstellung von Raum und Bewegung auch aus dem Blickwinkel der Intertextualität große Bedeutung zukommt, deutet der Kontext der zitierten Stelle bereits an. Auf intertextuelle Aspekte wird im Rahmen dieser Arbeit jedoch nur am Rande hingewiesen. • Schließlich spricht das erste Kapitel auch bereits die Bedeutung der Lite‐ ratur für Agathe an. Wenn der Erzähler unter Bezugnahme auf den von Agathe gelesenen Roman Le marin rejeté par la mer des Japaners Mishima sinngemäß erklärt, dass selbst eine präzise Zusammenfassung dem Buch nicht gerecht werde, da „[…] chacun y trouve ce qui lui convient, comme un miroir qu’on promènerait dans le monde […]“, so manifestiert sich hier neben einem rezeptionsaesthetisch bestimmten Literaturverständnis die Überzeugung, dass Literatur eine die Selbsterkenntnis und damit die Ori‐ entierung in Raum und Zeit fördernde Funktion hat. 216 Nachdem die grundlegende Bedeutung, die das erste Kapitel bzgl. der Raum‐ konstitution für den ganzen Roman hat, dargestellt worden ist, soll die Funktion von Raum und Bewegung nun in einer kapitelübergreifenden Analyse in An‐ lehnung an das in Kapitel B 1.2 vorgestellte, modifizierte narratologische Modell Nünnings untersucht werden. 2.4.2 Die Schauplätze - Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen Im Hinblick auf Voyage à Saint-Thomas bietet sich auf der paradigmatischen Achse eine Differenzierung in von den handelnden Figuren unmittelbar bzw. nur medial erlebte Orte und Räume an. Während Paris der Ort ist, an dem alle Figuren beheimatet sind, bleiben die Reise nach Saint-Thomas und der Aufent‐ halt ebendort und auf den benachbarten Inseln Agathe und Marc vorbehalten. Agathe sucht als einzige die - museal vermittelte - Begegnung mit der Land‐ schaft der (Ant-)Arktis. Der Überblick über die Handlungsorte in Paris lässt erkennen, dass die Zusammenkünfte größtenteils jeweils an einem neutralen Ort stattfinden. Dass Beschreibungen der Wohnungen der handelnden Personen fehlen, unterstreicht das bereits im Titel des Romans zum Ausdruck gelangende „Unterwegssein“ der Protagonisten. Die der syntagmatischen Achse zuzuordnende Betrachtung der Relationie‐ rung der Orte bzw. Räume ist zugleich eine Analyse der Beziehung zwischen den Handlungsträgern. Das für die Diegese zentrale Spannungsverhältnis zwi‐ schen Paris und Saint-Thomas spiegelt die Problematik des Verhältnisses zwi‐ schen Agathe und Loïc bzw. Marc wider. Die diachronische Form der „histoire“ 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 119 217 Wajsbrot 1998, S. 11. Zur elektronischen Uhr vgl. auch ebd. S. 66. 218 Ebd., S. 17. 219 Ebd., S. 33. 220 Vgl. ebd., S. 161. 221 Ebd., S. 27, 65, 76, 159-161. 222 Ebd., S. 60. 223 Ebd., S. 143. 224 Vgl. ebd., S. 20 f. legt es nahe, die Analyse textchronologisch zu strukturieren und dabei inhalt‐ liche und formale Aspekte zu integrieren. Die Überlegungen, die auf die Cha‐ pelle Notre Dame als sakralen Ort, der nicht in den Handlungsablauf integriert ist, bezogen sind, sowie die Beobachtungen zu den von Agathe nur medial er‐ lebten Landschaften (der Ant-Arktis) werden aus heuristischen Gründen aus‐ gegliedert. Inhaltlich und formal bleiben sie eng auf die zentrale Beziehungs‐ problematik bezogen. Paradigmatische Achse - Auswahl der Orte An erster Stelle sind die mit einem unterschiedlichen Grad an Genauigkeit re‐ ferentialisierbaren, von den handelnden Figuren erlebten Orte zu nennen. Zu dieser Gruppe gehören (1) die Stadt Paris mit mehreren Schauplätzen, von denen die nachfolgend genannten (relativ) präzise lokalisiert werden können: • „[…] le grand café près de Beaubourg […]“, in dessen Nähe eine elektro‐ nische Uhr mit grünen Ziffern den zeitlichen Abstand bis zum Beginn des Jahres 2000 anzeigt 217 • der Jardin du Luxembourg 218 • der Jardin des Plantes mit der vermutlich im - namentlich nicht er‐ wähnten - Muséum national d’Histoire naturelle zu situierenden Aus‐ stellung über den Polarkreis 219 • der Ort der ersten Begegnung zwischen Agathe und Loïc in einer Woh‐ nung auf der Île Saint-Louis im Zentrum von Paris 220 Andere Orte in Paris werden nur durch die dort stattfindenden Handlungen definiert. Dies gilt für • bestimmte, namenlos bleibende Cafés 221 • die Wohnung Loïcs, der „de chez lui“ 222 telefoniert • die Straßen von Paris („ […] dans les rues de Paris […]“) 223 (2) die Chapelle Notre-Dame de Grâce oberhalb von Honfleur 224 2 Themenfeld I 120 225 Vgl. ebd., S. 110 ff. 226 Vgl. ebd., S. 104-110. 227 Vgl. ebd., S. 34-40. 228 Vgl. ebd., passim. 229 Ebd., S. 17. (3) der Ort Saint-Thomas, sofern man davon ausgeht, dass er identisch ist mit dem in der Baie du Mont-Saint-Michel gelegenen Dorf Saint-Jean-le-Thomas, sowie die von dort leicht erreichbaren Inseln 225 und der Mont-Saint-Michel 226 . An zweiter Stelle zu erwähnen sind referentialisierbare, von den handelnden Figuren medial erlebte Räume wie • die (beim Besuch Agathes) in der o. g. Ausstellung präsentierten Orte und Räume 227 • die in Verbindung mit berühmten Entdeckern genannten Ziele 228 Auf eine Nennung der intertextuell vermittelten Räume wird aus dem in B 2.4.1, S. 119, Anm. 216, genannten Grund verzichtet. Syntagmatische Achse - Relationierung der Orte Paris - Saint Thomas: Etappen einer Entwicklung Abkehr von Paris: Saint-Thomas als Agathe und Loïc verbindendes Ziel Die bereits in Kapitel 1 angelegte Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas wird im Verlauf der Romanhandlung schrittweise weiter entwi‐ ckelt. Agathe erlebt das Stadtviertel von Paris, das sie nach dem Verlassen eines Cafés gemeinsam mit Jeanne betritt, als einen Kontrast zu dem ihr bisher un‐ bekannten, in ihrer Vorstellung gleichwohl präsenten Küstenort Saint-Thomas: Il faisait beau, Jeanne lui [à Agathe] proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles, tandis qu’Agathe se demandait quel temps il faisait, à Saint-Thomas, tandis que la plage et la mer qu’elle n’avait jamais vues et qu’elle imaginait, immenses et vides, d’une sérénité apaisante, se substituaient aux rues étroites et sombres qui contournaient des églises sans âme d’une architecture lourde et banale, elles arrivèrent au jardin du Luxembourg où subsistaient, en cette fin de journée, quelques havres de paix […] 229 Die Erzählstimme fokalisiert das Leserinteresse von vornherein nicht auf eine sachliche Gegenüberstellung dieser disparaten Orte, sondern auf die subjektive Sehweise Agathes. Dies gelingt ihr durch die hypotaktische Verschränkung einer auktorial präsentierten Abfolge von drei Hauptsätzen - Il faisait beau, Jeanne lui proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles […] elles arrivèrent au jardin du Luxembourg […] - mit einem komplexen Gefüge unter‐ 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 121 230 Vgl. ebd. 231 Ebd., S. 18. 232 Vgl. ebd.: […] la vie […] semblait ennuyeuse et contraignante. 233 Vgl. ebd.: Depuis trois ans qu’ils se connaissaient, jamais Agathe et Loïc n’avaient passé un dimanche ensemble. 234 Vgl. ebd., S. 22: […] c’était la nuit […] Loïc avait l’aspect irréel, prometteur, de la terre qu’on aborde […] ses yeux d’un bleu profond […] scintillaient au loin comme les lu‐ mières d’un navire au large, comme les lumières du village de Saint-Thomas. 235 Ebd. geordneter Nebensätze, die sie zwischen die den dritten Hauptsatz eröffnende adverbiale Ergänzung und die Kernaussage einfügt. So werden für Agathe die „rues tranquilles“ des Erzählers zu „rues étroites et sombres“, welche Kirchen umgeben, die sie offensichtlich als Beispiele einer seelenlosen, dumpfen Archi‐ tektur empfindet. Strand und Meer in Saint-Thomas hingegen evozieren in ihr ein Gefühl der Weite und einer friedlich stimmenden Heiterkeit. Einige hingegen als „havres de paix“ erlebte Orte in Paris, die Agathe im Jardin du Luxembourg findet, genießt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihre Helligkeit eine Vorstellung jenes Lichts vermittelt, in das die Bucht des Mont Saint-Michel vor Sonnenuntergang getaucht ist. 230 Obwohl ein gemeinsames Leben mit Loïc Agathe wie ein unerreichbarer Stern erscheint, ist sie realistisch genug zu er‐ kennen, dass für diejenigen, die das Ziel des Zusammenlebens erreicht haben, „[l’étoile] n’avait plus rien d’une étoile et rien d’inaccessible […]“ 231 , und das Miteinander kaum miteinander kommunizierender Paare erscheint ihr eher langweilig und beklemmend. 232 Agathes Sehnsucht nach Saint-Thomas verbindet sich mit ihrer Sehnsucht nach Loïc, mit dem sie in den drei Jahren ihrer Bekanntschaft noch keinen ge‐ meinsamen Sonntag hat verbringen können. 233 Als sie eines Nachts an ihn denkt, verkörpert er auf eine zugleich unwirkliche und verheißungsvolle Art ihre Hoffnungen auf diesen Ort, und seine tiefblauen Augen werden für sie glei‐ chermaßen zu den Lichtern eines Schiffes auf hoher See und des Dorfes Saint-Thomas. 234 Wenn die Erzählinstanz hier noch bildhaft zwischen Trennung und Angekommensein unterscheidet, so unterstreicht der syntaktisch-lexikali‐ sche Parallelismus in der resumierenden Feststellung „Oui, cette nuit, elle croyait à Saint-Thomas et elle croyait à Loïc […]“ 235 , dass Agathe Saint-Thomas und Loïc gleichsetzt, Ort und Person für sie gleichsam miteinander ver‐ schmelzen. Innerlich bewegt, aber auch überrascht reagiert Agathe auf Loïcs Drängen, die Reise nach Saint-Thomas zum ursprünglich geplanten Termin, aber begrenzt auf vier Tage, anzutreten: 2 Themenfeld I 122 236 Ebd., S. 27. 237 Ebd. 238 Vgl. ebd., S. 28. 239 Ebd., S. 29. Agathe le regardait, émue par tout ce qui venait de lui, ses yeux, sa voix, ses mains, le fait qu’il ait l’air de tenir à ce départ, qu’il y revienne, elle se disait - cela lui arrivait parfois - qu’il y avait quelque chose de miraculeux dans cette histoire, et l’émerveillement qu’une telle chose existe, qu’un homme comme Loïc avec une telle expérience de la vie, une telle allure, montre de cette façon qu’il tenait à elle, l’illuminait d’une telle certitude qu’elle dit: bien sûr, on part. Quatre jours avec Loïc, c’était le bout du monde, le but de sa vie, l’important n’était pas la durée, le temps n’était pas aux additions, aux soustractions. 236 Wiederum spiegelt eine stark hypotaktische Syntax die Verästelungen der Ge‐ danken und Gefühle Agathes wider. Die Erzählstimme gibt die Gedanken Aga‐ thes zunächst in einer auktorial knapp kommentierten Form der indirekten Rede - […] elle se disait - cela lui arrivait parfois - que […] - wieder, um die Erzählung sodann durch eine kurze, entschiedene Aussage Agathes in direkter Rede, durch die die interne Fokalisierung des auktorialen Erzählstils noch ver‐ stärkt wird, fortzusetzen - […] qu’elle dit: bien sûr, on part -. Angesichts der sich konkretisierenden Aussicht auf den Aufenthalt in Saint-Thomas zählt für Agathe nicht die Dauer, sondern der Ort des Aufenthalts, wobei das alliterie‐ rende „b“ - […] le bout du monde, le but de sa vie […] - verdeutlicht, dass Saint-Thomas für Agathe ein weit außerhalb der ihr vertrauten und verhassten Wirklichkeit gelegenes, aber wohl auch deswegen zutiefst herbeigesehntes Ziel ist. Der Ort, an dem das Gespräch stattfindet, ein Café, das lediglich durch einen seine Funktion für Agathe und Loïc definierenden Relativsatz näher beschrieben wird - […] où ils prenaient leur petit déjeuner quelquefois […] - 237 ist im Ver‐ gleich dazu völlig unbedeutend. Nachdem Agathe Loïc erklärt hat, dass sie eine Hotelreservierung in Saint-Thomas veranlassen werde, 238 wird die Bedeutung des Seebades in einem Telefonat zwischen Agathe und Marc erneut hervorgehoben. Als Kenner des Ortes assoziiert Marc Saint-Thomas in überschwänglicher Begeisterung mit un‐ endlicher Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten: „Tu verras, c’est magni‐ fique, tout cet espace qui s’ouvre donne une impression d’infinie liberté, l’im‐ pression que tout est possible.“ 239 Die Aussage Marcs und der sich anschließende Wortwechsel sind aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen findet der beson‐ dere Charakter von Saint-Thomas eine durch persönliche Erfahrungen unter‐ mauerte Bestätigung. Zum andern wird die Aussage Marcs - […] tout est pos‐ 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 123 240 Zitate ebd. 241 Vgl. ebd., S. 29 f. 242 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 31. 243 Ebd., S. 31 f. sible - von Agathe sogleich wortgleich wiederholt - Et tout est possible -. Diese Bekräftigung seiner eigenen Äußerung schränkt Marc spontan mit den Worten „Par moments, oui.“ ein. 240 Das Telefongespräch zwischen Agathe und Marc er‐ füllt somit eine eindeutig proleptische Funktion, insofern es auf die sich in Saint-Thomas ergebende - kurzfristige - intime Beziehung zwischen den beiden hindeutet. Durch die Hinweise Marcs auf die Belastungen seines Verhältnisses zu Véronique 241 wird die proleptische Wirkung verstärkt. Zugleich provozieren sie eine nachhaltige Verunsicherung Agathes, die in sich und um sich herum, ganz konkret in den Straßen von Paris, eine große, als beunruhigend empfun‐ dene Leere und Apathie verspürt, die sie veranlasst hat, die Hotelreservierung vorzunehmen. Danach, aber auch unter dem Eindruck des Gesprächs mit Marc weicht die Vorstellung, dass das Zimmer am Ufer des Meeres „[…] l’avant-poste d’un autre monde, la promesse d’un voyage sans retour, de quelque chose qui créerait une situation irréversible […]“ 242 sei, der Empfindung, sich wieder am Anfangspunkt, in einer Sackgasse, zu befinden, da sie die Nachricht von der Hotelreservierung nicht telefonisch an Loïc weiterleiten kann. Paradoxerweise ist er gleichzeitig an- und abwesend. In ihrer formal durch den „discours indirect libre“ bestimmten Reflexion lässt sich Agathe zunächst von geopolitischen Sze‐ narien der Trennung inspirieren, um im Sinne einer finalen Steigerung ihren aktuellen Zustand mit dem völligen Alleinsein zu vergleichen: Quelqu’un était à portée de main et hors d’atteinte, quelqu’un était là sans être là, à quoi cela servait, en quoi la solitude avec Loïc au loin, à l’horizon comme un bateau dont on apercevait les lumières en sachant qu’on ne pouvait pas monter à bord malgré la beauté de sa forme, son élégance, comme les lumières d’Aqaba qu’on voyait à Eilat, autrefois, qui signalaient la présence de la ville et son inaccessibilité, à l’époque où la frontière était infranchissable, comme Berlin ouest que les Berlinois de l’est pouvaient voir du sommet de la tour de la télévision, à Alexanderplatz, ville offerte et ville interdite, c’était cela, Loïc était offert et interdit; en quoi cette solitude différait-elle de l’autre solitude, celle absolue, quand il n’y a personne, n’était-elle pas pire lorsqu’on connaissait le nom qui pouvait y mettre fin? 243 Zunächst evoziert der von ihr getrennte Loïc die - bereits vertraute - Vorstel‐ lung eines Schiffes, das zwar mit seinen Lichtern und der Schönheit und Eleganz seiner Formen am Horizont erkennbar ist, aber unerreichbar bleibt. Die Lichter des Schiffes wiederum wecken die Assoziation der Lichter der Stadt Akaba, die 2 Themenfeld I 124 244 Vgl. ebd., S. 51: C’est comme un paysage qui était vide et qui se remplit à nouveau, un endroit désert qui devient habité, comme si ma vie avait enfin retrouvé un sens. 245 Vgl. ebd., S. 53. 246 Ebd., S. 55. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 56. 249 Vgl. ebd., s. S. 57-60. in früheren Zeiten von Eilat aus gesehen werden konnten, ohne dass die Stadt zugänglich war. Damit vergleichbar war die Situation der auf der Spitze des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz stehenden Ostberliner, deren Blicken sich Westberlin darbot, ohne dass es betreten werden durfte. Westberlin blieb somit „[…] ville offerte et ville interdite […]“, ein Paradoxon, das die Erfahrungen Agathes mit Loïc widerspiegelt: „[…] c’était cela, Loïc était offert et interdit[…]“. Für Agathe stellt sich an diesem Punkt ihrer Überlegungen die Frage, ob eine solche, mit ihrer aktuellen Situation in Paris übereinstimmende Form des Ge‐ trenntseins, das nicht geographisch, sondern durch „den menschlichen Faktor“ bedingt ist, nicht noch gravierender sei als eine „[solitude] absolue“, also der Zustand, niemanden zu kennen. So steigert Agathe ihren Leidensdruck in der schlimmst möglichen Form. Paris soll für sie noch unerträglicher werden, die Konstellation zwischen Paris und Saint-Thomas jedoch erfährt eine deutliche Änderung. Saint-Thomas: ein Reiseziel, das nicht einigend, sondern trennend wirkt Nachdem Jeanne gegenüber ihrer Freundin Agathe in zwei räumlich-bildlich bestimmten Vergleichen erläutert hat, dass sich ihre zeitweilig gestörte Bezie‐ hung zu Éric zu erneuern scheine, 244 teilt Loïc Agathe telefonisch kurz und bündig mit, dass er nicht mit ihr wie geplant nach Saint-Thomas reisen könne, da Lucie nicht im Mai zu ihren Eltern fahre, sondern ihr Vater in Paris operiert werde. 245 In einem Gespräch mit Marc über die erneute Absage Loïcs antwortet Agathe auf die Frage, was sie nun zu tun gedenke, lakonisch: „Attendre“. 246 In einem sich an diese Aussage direkt anschließenden inneren Monolog lässt sie den Leser jedoch wissen, dass „[…] l’attente n’est pas un but, n’est pas un mode de vie […]“ 247 . Einige Momente später fragt Agathe Marc unvermittelt, ob er sich eine gemeinsame Reise mit ihr nach Saint-Thomas vorstellen könne, und Marc bejaht spontan. In Anspielung auf Loïcs zweifache Absage fügt er kokettierend hinzu: „Pour une fois, ce serait nous qui ne pourrions pas.“ 248 Die innere Zerrissenheit Agathes tritt deutlich hervor, als Loïc sie anruft und um ein Gespräch bittet. 249 Ohne den Namen „Lucie“ ein einziges Mal zu er‐ wähnen, macht Agathe unmissverständlich klar, dass es Lucie ist, die wie eine 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 125 250 Vgl. ebd., S. 58: Il y a toujours cette limite, ce mur, cet obstacle, appelle-le comme tu veux, il y a cela et qu’on se voie ou qu’on ne se voie pas, ce sera toujours là. 251 Vgl. ebd., S. 59: […] cet obstacle dont il ne savait que faire, dont lui aussi souffrait, autant qu’Agathe, ou plus qu’Agathe. 252 Vgl. ebd., S. 60. 253 Vgl. ebd., S. 66 und 11. 254 Ebd., S. 67. 255 Vgl. ebd.: […] pourquoi ne pouvaient-ils pas se retrouver chez eux, c’était toujours dans les lieux neutres, ces cafés, la rue, mais peut-être que quand on se retrouvait chez soi, il n’y avait pas l’envie de se coucher à terre, l’un contre l’autre, peut-être qu’on sou‐ haitait se retrouver dans un café ou, pire encore, retrouver quelqu’un d’autre. Grenze, eine Mauer, ein Hindernis zwischen ihnen steht. 250 Die Erzählstimme betont, dass Loïc darunter ebenso oder sogar noch stärker als Agathe leidet. 251 Als Loïc erfährt, dass Agathe am Vorabend mit Marc, dem „Entdecker“ von Saint-Thomas, gespeist hat, glaubt Agathe, sein Schweigen so interpretieren zu müssen, dass er eine genaue Vorstellung vom Verlauf dieses Abends habe. Als ihr bewusst wird, dass er seine Anrufe nur von zu Hause tätigen kann, wenn seine Frau Lucie schläft, und dass damit ihr Leben vom Schlaf Lucies abhängt, empfindet Agathe ihre Aufforderung an Marc, mit ihr nach Saint-Thomas zu reisen, erstmals als „[…] une réaction saine […]“. 252 Das telefonisch vereinbarte Treffen findet in dem bereits zuvor erwähnten Café im Quartier Beaubourg statt, in dessen Nähe der o. g., inzwischen entfernte elektronische Zeitmesser den Sekundenabstand bis zum Jahr 2000 markiert hatte. 253 Wenn man dieses auch die Lage des Ortes definierende Detail als Hin‐ weis auf eine deutliche zeitliche Zäsur in Verbindung mit dem plus-que-parfait betrachtet, so signalisiert dieser Agathe und Loïc vertraute, neutrale Ort, dass ihre gemeinsame „histoire“ inzwischen in ein neues Stadium eingetreten ist. Gleichwohl erschließt allein der Name „Loïc“ für Agathe „[…] la force de ce qui les unissait, le désir d’être avec lui - et, dans ce nom, il y avait tout le pré‐ sent“. 254 Dass der Ort auf Agathe und Loïc gleichermaßen anziehend wirkt und in ihnen ein intensives sexuelles Verlangen auslöst, dem allerdings jegliche Er‐ füllung versagt bleibt, ist der Neutralität und Öffentlichkeit des Ortes ge‐ schuldet. Überrascht und irritiert ist Agathe, wie die knappe Kommentierung „pire encore“ der Erzählstimme verrät, über die in ihr aufblitzende Vorstellung, „jemanden anders“ zu treffen, womit die bevorstehenden Ereignisse in Saint-Thomas wiederum angedeutet werden. 255 Die Opposition zwischen Agathe und Loïc spiegelt sich zu Beginn ihrer Aus‐ einandersetzung im Gegenüber des Sitzarrangements wider, mit dem die Ge‐ gensätzlichkeit im Denken der beiden korrespondiert. Formal wird dies durch einen lexikalisch-syntaktischen Parallelismus unterstrichen: „[…] Loïc s’était 2 Themenfeld I 126 256 Ebd. - Vgl. zu den folgenden Ausführungen insgesamt ebd., S. 67-74. 257 Vgl. ebd., S. 69: […] tout ce que j’ai toujours dit est vrai, aujourd’hui comme hier. Je t’aime et je souffre autant que toi de cette situation. 258 Ebd., S. 71. 259 Ebd. 260 Ebd., S. 72. 261 Vgl. ebd., S. 72 f.: […] Agathe se disait que […] l’histoire de Saint-Thomas qui avait, quelque temps, ouvert leur horizon sur un avenir vaste […] un avenir qui ne ressemblait pas au présent, le refermait […] le montrait tel qu’il avait toujours été, bouché, pas plus bouché qu’avant mais le fait d’avoir cru qu’il pouvait s’ouvrir rendait sa fermeture à la fois plus définitive et plus difficile à supporter. 262 Das Bild der Mauer - J’ai l’impression d’un mur - taucht mehrfach auf, vgl. z. B. ebd., S. 78, 89. rassis, elle s’asseyait à son tour et ils se retrouvaient de part et d’autre de la table, de part et d’autre d’une pensée.“ 256 Loïc zeigt Verständnis dafür, dass er - nach zweifachem Rücktritt von den gemeinsamen Reiseplänen - in den Augen Aga‐ thes seine Vertrauenswürdigkeit verloren hat. Gleichzeitig bekundet er Agathe seine Liebe und beteuert, immer ehrlich gewesen zu sein und unter seinen Le‐ bensbedingungen genauso wie Agathe zu leiden. 257 Warum Agathe Saint-Thomas eine so große, ihm unangemessen erscheinende Bedeutung bei‐ messe, könne er nicht nachvollziehen. - Agathe widerspricht keineswegs der Aussage Loïcs, die Wahrheit bzgl. seiner ehelichen Beziehungen nie verborgen zu haben, vielmehr gesteht sie sich selbst ein: „[…] c’était elle qui changeait, qui était infidèle à quelque chose […]“. 258 Zugleich betont sie jedoch: „Le fond du problème, ce n’est ni Saint-Thomas ni toi ou moi - elle n’arrivait pas à dire notre amour comme lui, naturellement, simplement - c’est Lucie.“ 259 Loïc ist für sie mal ein „[…] héros tragique victime de circonstances contre lesquelles il ne pouvait rien, enfermé dans une vie avec Lucie et sa mystérieuse maladie […]“, mal ist er „[…] enfermé en lui-même, barricadé dans une vie qui, finalement, lui convenait comme elle était, avec d’un côté une part de stabilité peut-être un peu trop stable et de l’autre, une aventure aux risques limités […]“ 260 . Agathe gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass „die Geschichte von Saint-Thomas“ für sie und Loïc zunächst einen weiten, sich von der Gegenwart abhebenden Zukunftshorizont erschlossen habe. Die Vorstellung, dass er selbst sich für etwas öffnen könne, habe Loïc sodann jedoch veranlasst, sich dem Neuen endgültig zu verschließen, was schwer zu ertragen sei. 261 Hatte Agathe Saint-Thomas bislang mit Loïc identifiziert, insofern sie hoffte, dort zumindest für kurze Zeit die in Paris trennend zwischen ihnen stehende „Mauer“ 262 über‐ winden und das Leben uneingeschränkt und „exklusiv“ mit ihm teilen zu können, wendet sie sich nun mit dem Eingeständnis: „Je ne peux plus, Loïc, je 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 127 263 Ebd., S. 73. 264 Ebd., S. 74. 265 Vgl. ebd., S. 82: […] j’ai seulement dit à Loïc que je ne supporterais pas de rester à Paris les quatre jours où nous devions partir ensemble […] und […] ce silence qu’elle parta‐ geait avec quelqu’un, même si c’était Marc, donnait à leur voyage des allures de fugue […] 266 Ebd., S. 81. ne peux plus continuer“ 263 grußlos und ohne zurückzuschauen von ihm ab. Die Erzählung lässt allerdings in der Schwebe, ob Agathes Erklärung nur für den Augenblick oder für immer gilt. Verstärkt wird diese Unsicherheit durch den Hinweis darauf, dass Agathe Loïc in jenem Café verlassen habe, in dem Jeanne und Eric wieder zueinander gefunden haben. Somit werden die Lesererwar‐ tungen implizit einerseits bereits auf das Ende der Romanhandlung gelenkt. Andererseits jedoch wird das Leserinteresse auf die unmittelbare Gegenwart fokussiert und damit auf die nun anstehende, in ihrer Bedeutung noch unbe‐ stimmte Reise Agathes und Marcs nach Saint-Thomas. Dass in der Vorstellung Agathes beim Verlassen des Cafés „[l’image] d’exilés silencieux chassés de quelque part et se dirigeant vers nulle part […]“ 264 auftaucht, unterstreicht, dass Saint-Thomas für sie weiterhin das Ziel einer immer schon als Flucht aus Paris verstandenen Reise ist. 265 Diese hat jedoch nicht mehr jenen besonderen Reiz und die klare Funktion, die sie ursprünglich für Agathe besaß. Agathe und Marc auf dem Weg nach bzw. in Saint-Thomas Der Wandel in den Erwartungen, die Agathe mit der Reise verbindet, wird be‐ reits im ersten Absatz des in der Mitte des Romans platzierten 7. Kapitels deut‐ lich, in dem die Fahrt nach Saint Thomas und der Beginn des Aufenthalts eben‐ dort erzählt werden. In einer Mischung aus auktorialem Erzählstil und erlebter Rede vermittelt der Text einen Einblick in die Gedanken und Gefühle, von denen Agathe im Moment der Abreise nach Saint Thomas beherrscht wird. Als sie vor ihrer Haustür auf Marc wartet, freut sie sich keineswegs auf die nun beginnende Reise mit ihm, sondern stellt sich vor, wie kostbar ein gemeinsamer Aufbruch mit Loïc gewesen wäre: Qu’aurait été cette journée, cette matinée, ce réveil, si au lieu de partir avec Marc, elle était partie avec Loïc, se demandait Agathe, quelle excitation aurait-elle éprouvée au lieu de ce calme en l’attendant sur le trottoir, devant chez elle sous un ciel mitigé qui annonçait la pluie, une pluie prévue pour les jours à venir […] 266 Die gezielte Zuspitzung auf „ce réveil“ in der als Trikolon formulierten Aufzäh‐ lung des ersten Satzes, der Agathes Resignation und Enttäuschung ausdrückt, 2 Themenfeld I 128 267 Ebd.: [la pluie] paraissait frapper de vacuité ce voyage de remplacement […] 268 Ebd.: […] Loïc aimait la pluie et savait lui donner l’aspect magique que l’enfant étranger de Hoffmann donne à toute chose […] 269 Ebd., S. 83. 270 Vgl. ebd.: Ne t’inquiètes pas, dit Marc en souriant, on s’arrangera. Je peux dormir par terre aussi […] Ne t’inquiètes pas […] on part pour se détendre, pas pour se créer des problèmes supplémentaires. 271 Vgl. hierzu ebd., S. 84 (L’étrangeté des départs…) bis S. 85 (…on avait laissé un peu de soi, là-bas.) erinnert an ihre Hoffnung auf den Anfang eines gänzlich neuen Lebensab‐ schnitts und einer anderen Lebensweise. In der Begleitung Marcs jedoch ver‐ kümmert das Projekt zu einer von Leere gekennzeichneten „Ersatzreise“, die obendrein durch Regen beeinträchtigt zu werden droht. 267 Mit und für Loïc hätte dies kein Problem bedeutet, da er, ähnlich wie „das fremde Kind“ in E. T. A. Hoffmanns gleichnamigem Märchen, dem Regen etwas Magisches ab‐ zugewinnen vermag. 268 Mit der Präsenz Loïcs in den Gedanken und Gefühlen Agathes und dem äu‐ ßerlich atmosphärischen Element des Regens sind leitmovische Elemente ge‐ nannt, die in allen Abschnitten der Reise - von der Hinfahrt bis zum Abschied von Saint-Thomas - integraler Bestandteil der Darstellung sind. Die Situation Agathes und Marcs bei der Abfahrt nach Saint-Thomas ist in‐ sofern vergleichbar, als sie Loïc bzw. Véronique jeweils nicht darüber informiert haben, wohin und mit welcher Begleitung sie zu reisen gedenken. Während Marc darin kein Problem sieht, ist Agathe irritiert: „[…] la superposition de la présence de Marc et l’absence de Loïc, donnait un caractère étrange à ce dé‐ part.“ 269 Als belastend empfindet sie auch, dass sie das von ihr für Loïc und sich selbst vorbestellte Zimmer - […] cette chambre vers laquelle ses désirs conver‐ geaient […] qui devait être le prélude à d’autres chemins ensemble […] - nun mit Marc wird teilen müssen, dessen Wohlbefinden jedoch, wie er zweimal be‐ tont, durch diese Erwartung mitnichten beeinträchtigt wird. 270 Im Hinblick auf die konkrete Situation des Aufbruchs skizziert die Erzählin‐ stanz den Vorzug der Distanzierung von Gewohntem und der Öffnung für neue Lebensweisen, um sogleich die von den „Loïcs, Lucies und Vätern von Lucie“ bevorzugte Alternative eines „einzigen“, immer in denselben Bahnen verlauf‐ enden, Sicherheit garantierenden Lebens vorzustellen. Führt schon die unbe‐ deutendste Reise zu einem möglicherweise irritierenden Vergleich zwischen dem „ici“ und „là-bas“, also den Vorzügen und Nachteilen des Herkunfts- und Zielorts, so bleibt den Nichtreisenden jegliche aus einer solchen Gegenüber‐ stellung resultierende Irritation erspart. 271 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 129 272 Ebd., S. 85. 273 Ebd. 274 Ebd., S. 85f: Certes, ce roman, on y reviendrait mais pour l’heure, ses personnages, son atmosphère et son action s’éloignaient, nous quittaient pas à pas, nous libéraient de leur présence […] Diese in die Darstellung des Handlungsablaufs eingefügte auktoriale Refle‐ xion spiegelt die von Agathe bereits durchlebten und sie auch weiterhin quä‐ lenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reise nach Saint Thomas wider. Gleich‐ wohl entfernen sich Agathe und Marc mit zunehmendem Abstand von Paris auch von ihrem dort geführten Leben. Mit der Nähe zu Saint-Thomas erreichen sie einen Punkt, an dem „[…] l’espace et le temps se confondent pour former une sorte de pont suspendu entre un aller et un retour, entre deux rives d’une même vie […]“. 272 Mit der Brücken- und Ufermetapher gelangt sowohl das Vo‐ rübergehende als auch das qualitativ Besondere dieses Augenblicks zum Aus‐ druck. Die Wirklichkeit wird zwar keineswegs ausgeblendet, aber von beiden Figuren anders wahrgenommen. Loïc und Véronique scheinen entrückt „[…] comme les silhouettes d’une ville lointaine, les habitants d’une contrée dé‐ laissée […] les personnages d’un roman qu’on aurait commencé de lire mais qu’on reposerait quelque temps pour en entreprendre un autre, plus facile d’accès“. 273 Wird somit die von Agathe und Marc real erlebte Vergangenheit als romanhaft bezeichnet, da sie von beiden in der Rückschau des von der Nähe zu Saint-Thomas beherrschten Augenblicks als unwirklich empfunden wird, so präsentiert sich auch die unmittelbare Zukunft in all ihrer vagen Unbestimmt‐ heit als romanhaft und unwirklich. Mit welcher Entschiedenheit Agathe und Marc sich von Vergangenem zu lösen versuchen, unterstreicht in diesem aus ihrer gemeinsamen Perspektive erzählten Abschnitt der Übergang von der dritten zur ersten Person Plural des Personalpronomens (Ils > nous) bzw. zum indefiniten Pronomen „on“, ein Vorgang, der die interne Fokalisierung zusätzlich steigert und damit die innere Befindlichkeit Agathes und Marcs im Moment der Ankunft in Saint-Thomas unmittelbar zum Ausdruck bringt. 274 2 Themenfeld I 130 275 Ebd., S. 86. 276 Ebd. S. auch den sich anschließenden Figurendialog, der auf die Situation des Abschieds von Loïc bezogen ist. 277 Ebd., S. 88. 278 Ebd., S. 87. 279 Ebd. Aufenthalt in Saint-Thomas Vor diesem Hintergrund wirkt die - aus dem Blickwinkel Agathes erfolgende - Beschreibung der Ankunft in Saint-Thomas wie ein inhaltlicher Kontrapunkt. Wohl unter dem Eindruck einer heranbrandenden Welle wird das Meer mit einer aufbrausenden Musik verglichen. Sodann weckt das Meer, darin vergleichbar mit Eisbergen, die aus dem Nichts auftauchen und an denen Segelschiffe vor‐ beigleiten, „[…] la sensation contradictoire d’une exaltation et d’un apaisement, d’être ailleurs et en même temps, au fond de soi“. 275 Diese überschwängliche Begeisterung einerseits und innere Befriedung andererseits, das gleichzeitige Außer-sich und Ganz-bei-sich-Sein sind jedoch nicht dem Zusammensein Aga‐ thes mit Marc geschuldet, denn schließlich enthüllt ein Bewusstseinsbericht, in welchem Maße Agathe, schweren und bedrückten Herzens und mit einem an Verzweiflung grenzenden Schmerz, auch in Saint-Thomas in Gedanken Loïc verbunden bleibt: „[…] Agathe se dit qu’elle aurait aimé voir cela avec Loïc, qu’elle avait cru un peu trop facilement avoir laissé à Paris.“ 276 Marc hingegen erweckt bei der Ankunft in Saint-Thomas mit seiner Behaup‐ tung „Rien n’a changé […]“ 277 den Eindruck, als habe sich aus seiner Sicht seit seinem Aufenthalt im Herbst nichts geändert, als sei die Zeit stehen geblieben. Trotz der chaotischen, ungeklärten Verhältnisse, in denen er lebt, scheint er zu hoffen, dass sich, wie im Herbst, seine sich mit dem Ort verbindenden Erwar‐ tungen, welcher Art sie auch seien, erfüllen mögen. Er betrachtet Saint-Thomas ganz offensichtlich als einen aus dem Verlauf der Zeit herausgenommenen Ga‐ ranten des Glücks. Die erhoffte Befreiung von der „Gegenwart“ Loïcs vermag der Ort Saint-Thomas in Agathe einstweilen nicht zu bewirken. Ihr Warten (l’attente), im Fluss der Erzählung metaphorisch konkretisiert zum „[…] lieu des espoirs permis, de ce qu’on imaginait, qui allait se produire, l’accomplissement était la fin des espoirs, le début du décalage entre ce qu’on imaginait et ce qui se pro‐ duisait“ 278 , projiziert sie in ihrem Bewusstsein einstweilen eindeutig weiterhin auf Loïc, wobei sie offensichtlich nicht mehr an eine Erfüllung ihrer Hoffnung zu glauben vermag. Dafür sprechen folgende Indizien: • Liebe ist für Agathe nicht mehr ein Dialog, sondern „[…] une série de monologues alternés […]“ 279 . 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 131 280 Vgl. ebd.: […] ce sommeil dans lequel elle se livrait totalement, était proche de la mort […] 281 Ebd., S. 88 f. 282 Ebd., S. 89. 283 Ebd., S. 90. 284 Zum Begriff des „gestimmten Raums“ vgl. Hoffmann 1978, insbesondere S. 55-58; hier: S. 56. 285 Bzgl. der Hinweise auf das Wetter, insbesondere den Regen vgl. Wajsbrot 1998, S. 91, 93, 95, 96; hier: S. 93: Assis sur le lit, il regardait par la fenêtre […] on avait l’impresson qu’il en serait toujours ainsi, un horizon bouché, une pluie diluvienne, et l’obligation de rester à l’intérieur, cloîtré dans une vie sans issue. • Das Bild „Der Kuss“ von Gustav Klimt wird von der Erzählstimme mit der morbiden, im Kontext auf Agathe projizierten Vorstellung in Verbindung gebracht, dass die Frau im Moment der völligen Hingabe dem Tode nahe ist. 280 • Und schließlich reagiert Agathe auf den Vorschlag Marcs, mit Loïc nach Saint-Thomas zu reisen, abweisend, da sich vor ihr eine Mauer aufzu‐ türmen scheint: „Je n’y crois plus […] J’ai l’impression d’un mur […] qui se dresse devant moi […]“ 281 Es ist kennzeichnend für die Befindlichkeit Agathes, dass sie sich in eben diesem Moment bewusst macht, dass sie sich „mit anderen“ (avec les autres) in einer Sackgasse (une impasse) wähnt, während ein Gespräch mit Loïc bewirkte „[qu’] elle voyait le monde s’ouvrir, l’horizon s’éclaircir“. 282 Und trotz aller Bemü‐ hungen Agathes, sich von Loïc innerlich zu lösen, bleibt er gegenwärtig. Ver‐ stärkt drängt sich ihr Gefühl seiner anhaltenden Präsenz insbesondere „[…] dans cette chambre […]“ auf, wo „[…] tout ce qui aurait eu un sens avec Loïc n’en avait pas avec Marc […]“. 283 Für „dieses Zimmer“, mit dem sich ursprünglich so viele Hoffnungen Agathes verknüpften, trifft die Beobachtung Gerhard Hoff‐ manns zu, dass „[…] die Anwesenheit bestimmter Personen ein Zimmer, ein Haus ‚eng‘ oder ‚weit‘ machen kann“, so dass eine „Gestimmtheit des Raumes“ entsteht. 284 Zur „Gestimmtheit des Raumes“ im weiteren Sinne tragen daneben die wiederholten Hinweise auf den Regen bei, der auf dem Höhepunkt der Ent‐ wicklung ein sintflutartiges Maß annimmt, den Horizont verschließt und in Agathe und Marc den Eindruck einer „vie sans issue“ aufkommen lässt. 285 In eben diesen Kontext platziert die Erzählstimme auch die in Agathe aufsteigende Erinnerung an den Suizid Virginia Woolfs, Robert Schumanns und einiger be‐ rühmter Schriftsteller. Ausgelöst wird diese Erinnerung durch ihre Beschäfti‐ gung mit dem Roman Soleil couchant von Ozamu Dazai, der 1948, ein Jahr nach Erscheinen dieses Buches, den Freitod wählte. 2 Themenfeld I 132 286 Ebd., S. 89. 287 Vgl. ebd., S. 95: Et le nom de Loïc prononcé par Marc lui fit un effet étrange, comme si Loïc venait d’entrer dans la pièce et de s’interposer entre eux, et, ce qui était encore plus étrange, sa présence avait quelque chose de dérangeant car dans l’histoire, c’était Loïc, l’intrus. 288 Alle Zitate ebd., S. 97. 289 Vgl. zu diesem Abschnitt ebd., S. 97f: Dans la chambre […] on ne sait pas ce que tout cela veut dire. 290 Vgl. ebd., S. 98. Gleichzeitig gibt es eindeutige Signale für eine sich anbahnende neue Ent‐ wicklung: Als Agathe beim Anblick des Gewitters ausruft: „Et voir l’orage de notre chambre […]“, 286 erschrickt sie darüber, dass sie anstelle des bestimmten Artikels „la“ den Possessivdeterminanten „notre“ verwendet und so den Ein‐ druck erweckt hat, als spräche sie mit Marc wie mit Loïc. Sobald Marc den Namen „Loïc“ ausspricht, hat sie zwar den Eindruck, als ob Loïc das Zimmer beträte und sich zwischen sie setzte. Dass sie dabei Loïc jedoch inzwischen als „Eindringling“ empfindet, ist ein klares Indiz dafür, dass sich ihre Gemütsver‐ fassung ändert. 287 Schließlich denkt Agathe inzwischen auch darüber nach, dass bzw. warum sie und Loïc stets nur ihre Zweisamkeit gepflegt und sich nie ge‐ genseitig ihre Freunde vorgestellt haben. Das „[être] seuls au monde, sans passé, sans attache […]“ bedeute auch „[être] sans avenir […]“, eine Diagnose, die zur Veranschaulichung noch durch eine Insel-Metapher ergänzt wird, die eine Hal‐ tung der Selbstgenügsamkeit und der bewussten Isolation von der persönlichen Umgebung als Ursache für Vitalitätsverlust benennt: „[…] une île isolée en plein océan qui n’est reliée à aucun continent est vouée à rester une île, belle, protégée mais sans vie […]“. 288 Zusätzlich sind es atmosphärische Signale, konkret das Nachlassen des Re‐ gens und die sich andeutende Öffnung des Horizonts, die eine Zäsur in der Ro‐ manhandlung ankündigen. Nach einem Strandspaziergang befinden sich Agathe und Marc in ihrem Zimmer. Der Regen hat aufgehört, der Himmel ver‐ färbt sich, die sich auflösenden grauen und schwarzen Wolken weichen einer orangefarbenen Kulisse, hinter der die Sonne verborgen bleibt, aber doch mal ihre Präsenz erahnen lässt und mal ihre Absenz demonstriert. Auf die dieses Schauspiel aus ihrem Zimmer betrachtenden Agathe und Marc wirkt dieses Phänomen verwirrend, versinnbildlicht es doch einen Zustand der Unklarheit und Unentschiedenheit. 289 Es folgen Signale der Klärung und Befreiung: der Schrei der Mutter aus Soleil couchant, 290 der Hinweis auf Polarforscher wie Amundsen und Ross, die „[…] un horizon inconnu […]“ und bisher unberührte Zonen entdeckt und erforscht haben, und schließlich die Nachricht bzgl. der 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 133 291 Zitate ebd., S. 99. 292 Vgl. ebd., S. 102: Au réveil, alors que le jour entrait pleinement dans la chambre et que la mer s’étalait comme une grande plaine argentée, à l’horizon, sous un ciel gris lumi‐ neux et sans pluie, Marc sourit à Agathe […] 293 Vgl. ebd., S. 101 f. […] voilà qu’elle habitait deux univers parallèles […] et ces deux uni‐ vers […] se rencontraient en elle […] 294 Vgl. ebd., S. 102f: […] il y avait des interférences, de telles interférences que cela ne justifiait sans doute pas de dire qu’il existait une autre Agathe ou s’il y avait une fron‐ tière, elle passait à l’intérieur et son tracé était sinueux, discontinu, variait d’un moment à l’autre. 295 Vgl. ebd., S. 103: […] ils avaient représenté l’un pour l’autre, en tout cas Marc pour Agathe, le sol ferme qui leur permettait d’avancer, et voilà que ce sol tremblait, et que la vie entière pouvait s’engouffrer et disparaître dans ces sables mouvants. reinigenden Wirkung des Regens: „C’était la nuit, la pluie avait lavé le monde et le ciel dégagé brillait de mille étoiles […].“ 291 Auch als Agathe und Marc aus ihrer ersten Liebesnacht erwachen und das Licht des Tages in ihr Zimmer dringt, präsentieren sich das Meer und der Himmel von ihrer besten Seite. 292 Agathe jedoch ist angesichts ihres eigenen Verhaltens irritiert und verunsichert. Erzählerisch wird ihr Empfinden durch eine Fülle von in der Mehrzahl räumlich bestimmten Bildern wiedergegeben, die ihre innere Zerrissenheit und Desorientierung zum Ausdruck bringen: • Sie glaubt, mit Loïc und Marc in jeweils zwei parallelen Universen zu leben, die sich in ihrer Person treffen. 293 • Agathe sieht sich selbst zwar nicht in zwei Persönlichkeiten gespalten, erkennt aber in ihrem Innersten eine Grenze, deren Verlauf kurvenreich und hochgradig unstet ist und zwei einander nicht unähnliche, aber auch nicht zur Übereinstimmung gelangende Teile ein und derselben Person voneinander trennt. 294 • Hatte Agathe bislang den Eindruck, sich in ihrer Beziehung zu Marc auf einem „festen Grund“ zu bewegen, so empfindet sie nach der Liebesnacht das exakte Gegenteil. In zwei unmittelbar aufeinander folgenden Meta‐ phern findet ihr Gefühl des Bedrohtseins in Bildern von Naturkatastro‐ phen einen sehr plastischen Ausdruck. 295 • Nicht zuletzt erinnert sie sich an die vielfältigen Gefahren der Seefahrt. Von dem sie umgebenden Schweigen fühlt sie sich wie von Packeis ein‐ geschlossen, und sie vergleicht ihre Situation mit der von überwinternden Booten, die auf das Schmelzen der Eisschollen warten, dabei auch durch 2 Themenfeld I 134 296 Vgl. ebd., S. 104: Agathe se trouvait prise comme les bateaux en hivernage obligés d’at‐ tendre la fonte des glaces, dans un silence qui l’enfermait autant qu’ une banquise et la pression sur la coque était telle qu’elle pouvait la faire éclater, faire basculer le bateau à la verticale […] 297 Ebd. 298 Ebd., S. 106. 299 Ebd., S. 106 f. 300 Ebd., S. 107. 301 Ebd. den auf dem Rumpf lastenden Druck zum Kentern gebracht werden können. 296 In ihrer von Selbstzweifeln und -vorwürfen bestimmten Haltung unterscheidet sich Agathe deutlich von Marc, „[…] qui semblait tout considérer avec na‐ turel“. 297 Unter dem Eindruck der Besichtigung der Abbaye Mont-Saint-Michel, deren Wirkung auf die Besucher nicht zuletzt auch durch eine Jahrhunderte umspannende Geschichte geprägt wird, die ganz wesentlich den Genius des Ortes ausmacht, fühlt sich Agathe „[…] comme si elle n’était pas faite pour ce monde, pas faite pour la vie […]“. 298 In ihrer Erinnerung an ihre Kindheit sieht sie sich in eine arktische Landschaft versetzt, in der sie als Einzelne von einem isolierten Boot aus Eisberge und unbekannte Gegenden an sich vorbeiziehen sieht. Als wie abweisend und abwehrend sie ihre Mitmenschen empfunden und wie schutzlos sie sich selbst erlebt haben muss, vermittelt die folgende, vom Erzähler auf sie fokalisierte Beobachtung, in der sich Raum-, Natur- und Kriegs‐ führungsmetaphern zu einer ins Extreme gesteigerten Bedrohungskulisse ver‐ einen: „C’était cela, les autres étaient des terres inconnues, des masses com‐ pactes, des blocs de glace, des citadelles imprenables, des murailles sans prise, et elle, au milieu d’eux, se sentait sans défense comme un homme nu au milieu de chevaliers en armes.“ 299 Auf ihre berufliche Tätigkeit anspielend, erinnert sich Agathe daran, dass ihr - wohl im Rahmen einer kontrollierenden Tätigkeit - die Zahlen (chiffres) als „Rüstung“ gedient, sich aber als „[…] une armure fragile […]“ 300 erwiesen hätten. Was ihr als elementarer Schutzschild, als Quelle der Kraft und Energie, als „protection de fond“ gefehlt habe, sei „[…] celle de l’éducation, celle du milieu, celle de l’adéquation parfaite entre ce qu’on est et ce qu’on fait, entre soi et les autres, la protection de ceux qui ne sont pas des transfuges mais des héritiers et des continuateurs[…]“ 301 . Agathe leidet unter ihrer Vereinzelung, dem Nichteingebundensein in die Tradition und Geschlech‐ terfolge einer auf eine lange Reihe von Ahnen zurückblickenden und auf ihre Nachkommenschaft bauenden Familie und allen Nachteilen, die daraus für ihr Leben erwachsen sind. Wenn sich diese Identitätskrise Agathes in der „[…] sur 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 135 302 Ebd. 303 Ebd., S. 110. 304 Aufgrund des Hinweises auf Granville handelt es sich um die Îles Chausey, eine vor der Küste der Halbinsel Cotentin in der westlichen Normandie gelegene Inselgruppe. 305 Vgl. ebd., S. 111: […] c’était comme une aventure, d’embarquer à Granville d’où partaient les corsaires, les marins et les explorateurs d’autrefois […] 306 Ebd. - Die Frage ergibt sich aus dem folgenden, hier verkürzt wiedergegebenen Kontext: Ce fut sur l’île […] sur les chemins qui faisaient passer […] du port aux étendues désertes d’herbe rase et d’eaux grises qui paraissaient infinies malgré le territoire limité, qui se parcourait facilement à pied […] ce fut là qu’Agathe posa la question qui avait attendu tant de jours et de nuits […] car le temps s’était distendu, étiré comme la mer au-delà. 307 Vgl. ebd., S. 111f: - Nous promener […] - Retourner à l’hôtel. - […] - Profiter de cette journée […] - Agathe, nous sommes sur cette île… 308 Ebd., S. 112. la roche et les temps lointains […]“ 302 erbauten Abtei durch die Anwesenheit Marcs und ihr Gefühl, dass sie nicht mit ihm als Liebespaar Hand in Hand an diesem Ort sein sollte, verstärkt, so liegt dies daran, dass der Ort in ihrem Be‐ wusstsein den Konflikt zwischen ihrem aktuellen Verhalten und einem tra‐ dierten Verhaltens- und Moralkodex, der ihr zumindest nicht gleichgültig ist, verstärkt. Die auf die erste Liebesnacht folgenden Tage in Saint-Thomas sind für Agathe und Marc eine vom Liebesrausch beherrschte Zeit, die Agathe gleichwohl nicht als ungetrübtes Glück empfindet. Mag man die von der Erzählstimme vorge‐ nommene Gleichsetzung des Paares mit „[…] une île au large de toute terre […]“ 303 für einen durchaus situationsadaequaten und genregemäßen Topos halten, so wird die Ambivalenz der Metapher sehr bald deutlich. Als Agathe mit Marc von Granville, einem Ort, von dem aus in früheren Zeiten Entdecker in See gestochen sind, zu den „Inseln“ 304 aufbricht, ist dies auch für Agathe zu‐ nächst ein Abenteuer. 305 Auf der Insel jedoch wird der alle Grenzen aufhebende Eindruck des räumlich und zeitlich scheinbar Unendlichen durch die Übersicht‐ lichkeit des leicht fußläufig zu „erobernden“ Raumes, eine mithin sehr alltäg‐ liche Erfahrung, relativiert. In eben diesem Ambiente, das zur Entdeckung und zum Abenteuer einlädt, aber zugleich von engen natürlichen Grenzen eingehegt wird, die Realitätssinn einfordern, stellt Agathe die sie zutiefst bewegende, über den Tag hinausgehende Frage: „Marc, qu’allons-nous faire? “ 306 , der Marc zu‐ nächst gezielt ausweicht, indem er sie auf die unmittelbare Gegenwart be‐ zieht. 307 Auf das Drängen Agathes hin stellt er dann klar: „Tu ne comprends pas […] je veux être avec toi, pleinement […]“, um sogleich präzisierend hinzu‐ zufügen: „[…] sans que rien vienne s’interposer, ni le passé ni l’avenir, je veux être avec toi“. 308 Mit dem Ausschluss der Vergangenheit und Zukunft beschränkt Marc seine Beziehung zu Agathe auf die kurze „Gegenwart“ der Tage in 2 Themenfeld I 136 309 Ebd. 310 Ebd. 311 Ebd. 312 Ebd., S. 112 f. 313 Vgl. ebd., S. 113: Tu as aimé cette île? - Marc stellt die Frage auf der Rückfahrt von den Îles Chausey nach Granville. 314 Vgl. ebd., S. 114: J’aurais voulu rester […] car il lui semblait entendre dans ses propres paroles comme un début de renoncement, un premier pas vers ce que Marc disait et qu’elle n’aimait pas, profiter du samedi, profiter du dimanche. 315 Vgl. ebd., S. 113f: - Tu ne penses jamais à Véronique? […] - Non, je n’y pense pas. 316 Vgl. ebd., S. 114: […] étaient-ce les hommes qui étaient ainsi, qui possédaient la faculté de poser des cloisons étanches dans leur vie tandis que les femmes ne le pouvaient pas […] 317 Vgl. ebd.: Pouvait-elle dire qu’elle pensait à Loïc […] ce n’était pas vraiment cela, c’était avoir quelque chose en main […] un bel objet, et ne pas savoir où le mettre, parce que, chez soi, rien n’est dans ce style, ou il faudrait changer d’endroit - mais change-t-on d’endroit pour un objet auquel on ne trouve pas de place? Saint-Thomas, die er allerdings „voll“ auszuleben gedenkt. Agathe hat dies wohl auch verstanden, insofern sie zu Beginn eines längeren, durch ein „verbum di‐ cendi“ eingeleiteten Gedankenberichts feststellt: „L’amour est une île […] une succession d’îles qui forme au mieux un archipel, mais pas un continent“. 309 Das Bild der Insel evoziert in ihr sodann die Vorstellung der Diskontinuität, da schon die Annahme „[…] que le trajet et l’instant peuvent se confondre ou s’unir dans une continuité […]“ 310 , illusorisch sei. Folglich ist Zeit für sie eine „[…] succession d’instants, et pour aller de l’un à l’autre, il fallait sauter, de rocher en ro‐ cher […]“ 311 . Mit der Aufhebung von Kontinuität und Verlässlichkeit geht die enge Befristung und Unverbindlichkeit von Beziehungen einher. Agathe ist sich bewusst „[qu’] on ne pouvait prendre appui sur rien, le passé ne garantissait aucun avenir […] on n’était lié par rien, par aucune promesse […] il n’y avait aucun rapport entre une promesse et un rapport“. 312 Auf die Frage Marcs, ob sie die Insel geliebt habe, 313 antwortet Agathe zitternd, dass sie gerne geblieben wäre. Dabei bemerkt sie jedoch in ihren eigenen Worten eine erste Spur von Verzicht, und sie wird sich bewusst, dass sie sich der von ihr nicht geschätzten Haltung Marcs, den Augenblick zu genießen, annähert. 314 Und als Marc ihre Frage, ob er nie an Véronique denke, glatt verneint, 315 fragt sie sich, dabei auch an Loïc denkend, ob Männer im Unterschied zu Frauen in der Lage seien, „dichte Trennwände“ in ihrem Leben zu installieren. 316 Im Übrigen ist sie sich nicht im Klaren darüber, welche Bedeutung Loïc für sie noch hat, kommt er ihr doch momentan eher wie „[…] un bel objet […]“ vor, das sie „bei sich“ aus Gründen des Stils nicht unterbringen kann, was wiederum die Frage aufwirft, ob sie daher einen Ortswechsel vornehmen sollte. 317 Diese Haltung der Unentschiedenheit 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 137 318 Vgl. ebd.: Ils étaient sur le bateau et elle voyait la vie ainsi, une embarcation qui tente de se diriger quelque part, vers un port […] la meilleure façon d’y parvenir […] c’était […] d’avoir la patience que le ciel […] se dégage, se découvre, que quelque chose apparaisse. 319 Vgl. ebd., S. 116: - J’étais sur l’île […] - […] Je voulais que tu le saches. 320 Zitate ebd., S. 118 f. 321 Ebd., S. 119. 322 Ebd. 323 Ebd., S. 120. ist bei Agathe auch auf der Rückfahrt von der Insel nach Saint-Thomas zu be‐ obachten. In einem eindeutig intern fokalisierten, metaphorischen Erzählmodus wird berichtet, dass das Leben für Agathe wie ein Boot sei, das zwar einen Hafen ansteuere, sich dabei jedoch auch treiben lasse und geduldig darauf warte, dass sich der Himmel öffne. 318 Rückfahrt und Neuanfang in Paris In den Gedanken Agathes bleibt Loïc auch in den letzten in Saint-Thomas ver‐ brachten Stunden und auf der Rückfahrt nach Paris präsent. In der Nacht vor der Abfahrt erscheint Loïc Agathe in einem Traum und lässt sie wissen, dass er sie und Marc auf der Insel gesehen habe. 319 Agathe, die so viele Hoffnungen mit Saint-Thomas verbunden hatte, befindet sich nun in einem Zustand der Orien‐ tierungslosigkeit - Je ne sais plus où je suis -, der völligen Erschöpfung - Elle se sentait à bout, à bout d’elle-même […] - und einer inneren Zerrissenheit, die dem „[…] partage, l’un et l’autre au lieu de l’un ou l’autre […]“, also ihrer „double vie“ geschuldet ist. Das Doppelleben bedeutet für sie, dass zwischen sie und die anderen, zwischen sie und die Welt etwas Trennendes getreten ist. Und schließ‐ lich wird ihr bewusst, dass „[…] entre elle et Loïc il y aurait ce silence, entre elle et elle-même, ce décalage qui l’empêcherait d’être entièrement d’un côté ou de l’autre“. 320 Marc hingegen, der nach Saint-Thomas gereist ist „pour [se] distraire“, gesteht angesichts des unerwarteten Ablaufs immerhin ein: „[…] j’ai été surpris autant que toi par ce qui arrivait, il y avait quelque chose d’inéluctable.“ 321 Mit ihrer Reaktion „C’est Saint-Thomas“ 322 gibt Agathe zu verstehen, dass der Ort wohl eine Magie ausübt, der man sich nicht entziehen kann. Allerdings scheint deren Wirkung begrenzt zu sein, lässt die Erzählstimme uns im Moment des Abschieds doch wissen: „[…] il n’y avait pas de pont jeté vers l’avenir, peut-être pas d’avenir, et ils rentraient chacun chez soi.“ 323 Im Moment der Rückkehr nach Paris befindet sich Agathe in einem Zustand anhaltender Orientierungslosigkeit, aus dem ihr auch Jeanne nicht herauszu‐ helfen vermag. Mit ihrem Rat, Loïc nicht über ihre Affäre mit Marc zu infor‐ 2 Themenfeld I 138 324 Vgl. ebd., S. 129: - Oui, et je ne sais pas comment je pourrais lui dire tout ça et je ne sais pas non plus comment je pourrais ne pas lui dire. - Ne dis rien. 325 Vgl. ebd., S. 163: La transgression, dit Jeanne. C’est cela qui t’attire, ce n’est pas Marc, il n’y a rien qui t’attache à lui, rien d’autre que ce qu’il représente. […] franchir un cap interdit, transformer une amitié en amour, je ne sais pas comment dire. 326 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 161 ff. 327 Ebd., S. 162. 328 Vgl. ebd. mieren, 324 erschwert sie Agathe die Rückkehr zu ihm. Zu einem späteren Zeit‐ punkt wird sie ihr jedoch erklären, dass sie sich nicht von Marc als Person, sondern von dem, was er repräsentiere, anziehen lasse. Er verkörpere die „trans‐ gression“, also die Überschreitung einer Grenze, in diesem Fall der Grenze zwi‐ schen Freundschaft und verbotener Liebe. 325 In demselben Gespräch entlockt Jeanne ihrer Freundin Agathe Details über ihre ersten Begegnungen mit Loïc bzw. Marc, die im Nachhinein einige Merkmale der späteren Beziehungen wi‐ derspiegeln. Agathe lernt Loïc „bei Freunden von Freunden“ in einer offensicht‐ lich großbürgerlichen Wohnung im Herzen von Paris kennen. 326 Außer den sie begleitenden und die Gesellschaft früh verlassenden Freunden kennt Agathe niemanden, bricht daher selber früh auf und trifft im Moment des Abschied‐ nehmens im Hausflur auf Loïc. Er bestätigt ihre Vermutung, dass er gehen müsse, fragt aber, ob er sie anrufen dürfe „[…] pour qu’on se voie un peu plus au calme“. 327 Ob Lucie zur Gesellschaft gehörte, ist ungewiss. Charakteristisch ist diese Szene insofern, als Agathe und Loïc eine von allen Freunden und Be‐ kannten abgeschirmte Zweierbeziehung pflegen werden und jedes Zusammen‐ treffen immer bereits auch durch die Erwartung des Aufbruchs geprägt ist. 328 - Die erste Begegnung mit Marc geht auf gemeinsame Studienzeiten zurück. Man traf sich während eines Studentenstreiks in einer nur kurze Zeit existierenden Gruppe, die weder politisch noch gewerkschaftlich geprägt war. Marc wirkte auf Agathe nicht sonderlich anziehend, zumal er ein Verhältnis mit einer min‐ destens zehn Jahre älteren, ihn, wie Agathe meint, stark, wenn nicht zu stark bewundernden Frau pflegte und er, als E. N. A.-Kandidat ehrgeizig vertieft in seine Studien, auch kein Interesse an Agathe erkennen ließ. So liefert das erste Zusammentreffen der beiden keinerlei Indiz für ein möglicherweise entste‐ hendes engeres Verhältnis. Wohl aber zeichnen sich bei Marc - im Hinblick auf seine berufliche Karriere - ein Zug elitärer Ambitioniertheit und - bezüglich seines Verhältnisses zu Frauen - eine verführerisch anmutende Ausstrahlung ab, auch wenn Agathe ihr damals nicht erlegen ist. Was Agathe in der Erinnerung an Saint-Thomas als „[…] le reliquat du voyage, l’apparence que prennent les rêves qui ont tenté de se réaliser, la différence entre 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 139 329 Ebd., S. 122 f. 330 Ebd., S. 123 f. 331 Ebd., S. 125. 332 Ebd., S. 126. 333 Ebd. 334 Vgl. ebd.: […] depuis qu’elle avait l’impression d’avoir quitté les rives du monde […] d’avoir quitté ce monde, de s’être lancée - d’avoir été projetée - dans cette course tandis que Marc était resté dans l’autre monde, l’ancien, et qu’il la regardait, du bord des abîmes, des rives du fleuve de feu, du port des mers impossibles, se retournait et repartait vers sa vie. l’attente et l’accomplissement […]“ 329 vorfindet, fasst die unerwartete Entwick‐ lung des Aufenthalts in Saint-Thomas, durch die sie in ein Doppelleben geraten ist, zusammen. Der Prozess, der durch die von Marc angekündigte Fortführung seiner Beziehung zu Véronique und das bislang ungeklärte, durch die Ereignisse in Saint-Thomas zusätzlich belastete Verhältnis zwischen Agathe und Loïc aus‐ gelöst wird, steht, anders als die Geschehnisse in Saint-Thomas, nicht mehr unter dem Einfluss oder gar der Magie des Ortes. Wohl aber werden die (vor‐ nehmlich) aus der Perspektive Agathes erzählten Entwicklungen in der Wahr‐ nehmung ihrer Beziehung zu Loïc und Marc im Wesentlichen als Raumerfah‐ rungen dargestellt. Dies wird bereits am Abend ihrer Heimkehr deutlich, als sie den gleichermaßen erwarteten, erhofften und befürchteten Anruf Loïcs entge‐ gennimmt und den Eindruck gewinnt „[…] d’appartenir à un autre monde, d’être partie longtemps, et d’être revenue changée ou de n’être pas encore revenue“ 330 . Von ähnlichen Empfindungen wird sie eingeholt, als sie unmittelbar danach ihrerseits Marc anruft und - […] parce que tout était question de vie ou de mort […] - 331 atemlos auf seine Reaktion wartet. Seine routinemäßig gestellte Frage „Comment tu vas? “ erinnert sie an „[…] le monde stable qu’elle avait quitté, où elle savait qu’elle aimait Loïc et personne d’autre, dans ce monde où des mots comme amour, amitié, avaient un sens défini, où rien ne risquait de se superposer, de se confondre - de troubler“. 332 Aufgegeben hat sie diesen sicheren Grund, um sich - wie der Fliegende Holländer der Legende - auf „[…] une er‐ rance, une navigation perpétuelle […]“ 333 zu begeben. Dabei hat sie jedoch den Eindruck, nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben, sondern fremden Kräften ausgeliefert gewesen zu sein, während Marc mental stets in seiner „alten Welt“ verblieben war. Darum befindet er sich auch wieder auf dem sicheren Ufer, d. h. auf dem Weg zurück zu seinem alten Leben und damit abseits all jener Abgründe von Gefahren, die Agathes Vorstellung wie danteske Höllenbilder gefangen nehmen und sie zu verschlingen drohen. 334 Für ihn ist es, wie er Agathe im Telefongespräch und später noch einmal bei einem Treffen in einem Café erklären wird, nicht „vernünftig“, das den „circonstances de Saint-Thomas“ ge‐ 2 Themenfeld I 140 335 Vgl. ebd., S. 128: Comment te dire? Je me suis laissé emporter […] mais ce n’est pas raisonnable de continuer […] und S. 148: Nous nous sommes laissés emporter par les circonstances, nous sommes allés un peu loin, c’est tout. 336 Ebd., S. 148. 337 Ebd., S. 131. 338 Vgl. ebd., S. 133: […] pour leur amour qui avait fait naufrage […] 339 Ebd. 340 Vgl. ebd., S. 122: […] après le vide qui l’avait aspirée et laissée sans ressource et presque sans conscience […] 341 Ebd., S. 134. schuldete „Sich-gehen-lassen“ 335 über den Ort und den begrenzten Zeitraum hi‐ naus fortzusetzen. Mit den Worten „Là-bas, c’était comme ça, ici c’est autre‐ ment“ 336 bringt er in lakonischer Kürze zum Ausdruck, dass es für ihn durch den jeweiligen Ort und die Umstände beeinflusste, letztlich von seiner Interessen‐ lage bestimmte Verhaltenskodices gibt, die auf Empfindlichkeiten anderer Per‐ sonen, in diesem Falle Agathes, keine Rücksicht nehmen. Agathe, die nach der Rückkehr nach Paris den Kontakt zu Marc sucht, wird ihrerseits von Loïc angesprochen, der ihr seine Absicht „[…] de tout dire à Lucie“ mitteilt. 337 Loïc wirkt danach so befreit, als verlasse er ein Gefängnis, während Agathe angesichts dieses Entschlusses zwar von tiefem Mitgefühl für ihn und seine Handlungsweise ergriffen wird, zugleich jedoch angesichts des „Schiff‐ bruchs ihrer Liebe“ 338 und aller vergangenen und zu erwartenden Widrigkeiten ihres Verhältnisses zu Loïc eine Katastrophe erwartet, die sich in ihrer Vorstel‐ lung in dramatischen Bildern darstellt: „Elle contemplait les morceaux de l’avion écrasé, les restes de la ville bombardée, les façades sans fenêtres qui se dressaient encore, les murs sans intérieur, et des larmes coulaient.“ 339 Die Metapher des Flugzeugabsturzes und seiner Folgen, die in ihrer Wucht die Schiffbruchmeta‐ pher noch übertrifft, übersetzt zunächst das Empfinden Agathes, aus einer großen Erwartungs- und Erlebnishöhe jäh abgestürzt zu sein. Sodann bringt sie die von Agathe in und um sich herum empfundene Leere zum Ausdruck, von der sie sich „aufgesogen“ und fast um ihr Bewusstsein gebracht sieht. 340 Gestei‐ gert wird ihre Irritation schließlich noch dadurch, dass sie sich im Moment des Abschieds von Loïc auf unwiderstehliche Weise zu Marc hingezogen fühlt, wobei ihr durchaus bewusst ist, dass dabei „[…] l’attrait de l’impossible face à la certitude du possible, l’inconnu face au connu […]“ 341 eine Rolle spielen dürfte. Dieser Reiz der Suche nach dem Äußersten, der risikoreiche Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, evozieren ein Bild aus dem Bereich der See‐ fahrt: Agathes - nicht erwiderte - Hinwendung zu Marc gleicht dem „[…] besoin d’affronter les mers du Sud quand tant d’autres océans sont assez vastes et moins 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 141 342 Ebd. 343 Ebd., S. 139. 344 Ebd., S. 141. 345 Ebd., S. 153. 346 Vgl. ebd., S. 155 f.: […] l’impression grandissait, l’impression d’un écran entre elle et le monde, d’une communication directe devenue impossible […] 347 Vgl. ebd., S. 156: Et tout cela faisait qu’elle parlait moins, en toute circonstance, car le mal, l’opérateur, le révélateur des zones ignorées, était là tout le temps […] - Der von der Erzählstimme bemühte Vergleich mit den alten „opérateurs téléphoniques“ scheint insofern unglücklich, als diese lediglich die Funktion einer technischen Gesprächsver‐ mittlung hatten. 348 Ebd., S. 157. 349 Ebd. extrêmes […]“ 342 . Der in dieser bildhaften Gegenüberstellung zum Ausdruck ge‐ langende innere Zwiespalt Agathes wird erneut sichtbar, nachdem Loïc sie über ein Gespräch mit seiner Frau in Kenntnis gesetzt hat. Er hat Lucie eröffnet, dass er in der Beziehung zu ihr nicht mehr Liebe, sondern nur noch „[…] la force de l’habitude, le sens du devoir, quelque chose lié à la situation plutôt qu’à la per‐ sonne“ 343 erkenne. Agathe ist angesichts dieser Mitteilung, die Loïcs Liebe zu ihr und das ganze Ausmaß seines Verzichts und seines Leidens offenbart, tief be‐ rührt, zugleich löst die Möglichkeit eines Anrufs Marcs in ihr jedoch eine Mi‐ schung aus Furcht und Hoffnung aus. Sie empfindet den Unterschied zwischen diesen emotionalen Zuständen nicht als „simple écart“, sondern als „[…] un gouffre, un abîme, deux rives d’un fleuve qui n’appartenaient pas au même pays“ 344 , mithin als Spaltung ihrer eigenen Persönlichkeit. In einem späteren Kontext wird das Bild des wankenden Bodens, der „sables mouvants“ variiert, wenn Agathe sich in ihrer Orientierungsnot in der Nähe eines kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkans wähnt und ihre einstmals klaren Leitvorstel‐ lungen und Wertmaßstäbe - [l]a netteté en laquelle elle avait toujours cru […] - in einer „[…] dans les brumes épaisses et humides […]“ 345 eingehüllten Land‐ schaft verschwinden. Die innere Isolation Agathes entwickelt indes eine rasante Eigendynamik, insofern eine direkte, ungefilterte Kommunikation mit ihren Mitmenschen für sie nicht mehr möglich ist. 346 Zwischen sie und ihre Kommu‐ nikationspartner hat sich eine Art innerer Prüf- und Vermittlungsinstanz ein‐ geschlichen, die ihre Sprechbereitschaft auf ein Minimum einschränkt. 347 So‐ dann werden ihre Treffen mit Loïc zu einem „[…] combat intérieur […]“ 348 , der, wie sie hofft, Loïc verborgen bleibt, denn „[…] chacune de ses avancées, de ses propositions, déclenchait comme la rupture, en elle, d’un barrage que les flots emportaient et qu’il fallait à tout prix reconstruire“ 349 . Agathe erlebt einen Auf‐ lösungs-und Desintegrationsprozess ihrer Person, durch den sie sich selbst so stark verändert fühlt, dass sie sich nicht mehr für wiedererkennbar hält. Der 2 Themenfeld I 142 350 Ebd. 351 Vgl. ebd., S. 164: Je lui ai demandé ce qu’elle voulait dire. Elle m’a dit voilà, ce n’est pas difficile, je te donne quinze jours pour décider, c’est elle ou moi. 352 Vgl. ebd.: Elle ne voulait pas demander ce qu’il avait répondu, pas le savoir, ce choix, en ces termes, imposé par Lucie, était affreux, avait quelque chose d’humiliant […] 353 Vgl. ebd., S. 166: Elle aurait voulu poser la tête sur son épaule et tout lui raconter mais elle ne s’en sentait pas le droit. 354 Ebd., S. 167. 355 Vgl. ebd., S. 20 f. Vergleich ihrer inneren Verfasstheit mit dem Bruch eines Staudamms drückt auf überaus drastische Weise aus, in welchem Maß sie jeglichen Halt und jegliche Verhaltenssicherheit verloren hat. Die Ursache dieser pathologisch zu nenn‐ enden Persönlichkeitsstörung wird im auktorialen Erzählmodus und daher mit besonderer Autorität auf sehr einfache Weise so erklärt: „Quelque chose s’était perdu qu’on pouvait appeler l’innocence, le droit de juger les autres, de se sentir entière et sans faille […].“ 350 Nachdem Lucie Loïc ultimativ aufgefordert hat, sich innerhalb von zwei Wo‐ chen zwischen ihr und Agathe zu entscheiden, 351 wird Agathe ihrerseits von Loïc vor die Wahl gestellt. Agathe fühlt sich einerseits gedemütigt, 352 andererseits möchte sie Loïc zwar nahe sein und ihm „alles erzählen“, meint aber, dazu nicht berechtigt zu sein. 353 So bleibt es Loïc, der, anders als Agathe, durch eine klare Entscheidung seine „Unschuld“ wiedererlangt hat, vorbehalten, das Thema Saint-Thomas anzusprechen und Agathe seine Hilfe anzubieten. Agathe jedoch vermag nicht mehr ihre Worte und Taten in Übereinstimmung zu bringen und damit die Voraussetzungen der „Unschuld“ zu erfüllen. Sie gesteht, dass sie in‐ folgedessen den Eindruck einer völligen Auflösung ihrer selbst hat: […] j’ai l’impression, si je me lève, que tout va s’écrouler, que les différentes parties de mon corps n’appartiennent plus au même corps, que mes pensées ne sont plus totalement les miennes, que certaines appartiennent à quelqu’un d’autre qui loge à l’intérieur de moi. Je ne peux plus rien dire. 354 2.4.3 Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“ Nach einem Gespräch mit Jeanne, das Agathe nach Loïcs erster Reiseabsage geführt hat, erinnert sich Agathe, allein in ihrer Wohnung, daran, dass sie vor einiger Zeit an einem Sonntagabend mit ihrer Freundin Éliane an einer Messe in der Chapelle Notre-Dame-de-Grâce in Honfleur, deren hölzerne Dachkon‐ struktion einem umgedrehten Schiff gleicht, teilgenommen hat. 355 Vom Licht, 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 143 356 Ebd., S. 21. 357 Ebd. 358 Ebd. 359 Vgl. ebd. der schlichten Schönheit der Architektur der Anfang des 17. Jahrhunderts von Bürgern und Fischern errichteten Kapelle, von den Votivtafeln, die im Namen von vor dem Schiffbruch geretteten Matrosen angebracht waren, aber auch vom Gesang der versammelten Gemeinde fühlt sich Agathe zu Tränen gerührt. In diesem Moment erwacht in ihr, und in ihrer Freundin gleichermaßen, ein Ge‐ danke, dessen Unerfüllbarkeit sie sich sofort bewusst wird: „[…] elle aurait sou‐ haité être avec eux, habiter là, être femme de pêcheur et croire en Dieu pour assister à cette messe et rentrer chez elle […] faire partie de quelque chose, mais sa vie n’était pas là, cette paix n’était pas pour elle […].“ 356 Ihre Wunschvorstel‐ lung, aus ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Isolation auszubrechen, sowie ihre Sehnsucht nach einem einfachen, auf einem sicheren Wertefunda‐ ment gegründeten Leben durchschaut Agathe bereits beim Verlassen der Kapelle als etwas nicht zu ihr Passendes. Gleichzeitig jedoch wirkt das für die Rückfahrt bereit stehende Auto auf sie wie „[…] l’instrument d’une errance stupide“ 357 , d. h. dass sie die Fortsetzung ihres Lebens in der bisherigen Form für eine ziel- und damit sinnlose Angelegenheit hält. Die tiefere Ursache für ihre durch die Cha‐ pelle Notre-Dame-de-Grâce ausgelöste emotionale Bewegung hat sie indes nach einer Zeit des Schweigens erkannt: „La chapelle éclairée était un peu à l’image de la vie qu’elle entrevoyait avec Loïc […].“ 358 So vermag ein realer Ort, dessen konfessionell-religiöse Prägung keineswegs mit dem Weltbild Agathes über‐ einstimmt, gleichwohl ihre Träume von einem gemeinsamen Leben mit Loïc zu konkretisieren, und sie schließt eine Änderung ihres Lebens nicht aus für den Fall, dass Lucie Loïc verlässt. Als sie über eine solche Perspektive nachsinnt, glaubt sie, für einen Moment durch das Autofenster im Halbschatten zu er‐ kennen, wie „jemand“, also eine nicht identifizierte Person, unbekümmert über das Dach (der Kapelle) spaziert - eine Illusion, die das Unwirkliche des sehnlich Erwünschten unterstreicht. 359 2.4.4 Medial vermittelte Räume Die Mitteilung über die von Agathe getätigte Hotelbuchung für Saint-Thomas wird kontextuell eingerahmt von einem Exkurs über ihre Begeisterung für den Vendée Globe, die größte, mit zahlreichen Risiken und Gefahren verbundene Einhand-Segelregatta der Welt, und ihren Besuch einer Ausstellung über Polar‐ 2 Themenfeld I 144 360 Vgl. ebd., S. 32-37. 361 Ebd., S. 32. 362 Ebd., S. 33. 363 Ebd. 364 Ebd. 365 Ebd. 366 Ebd. expeditionen im Jardin des Plantes, bei dem sie von Jeanne begleitet wird. 360 Erzähltechnisch wird auf diese Weise eine Konstellation geschaffen, bei der dis‐ parate Ereignisse wie die in Sables-d’Olonne endende Weltumseglung einerseits und eine Wochenendreise von Paris nach Saint-Thomas andererseits durch die interne Fokalisierung in eine wechselseitige Beziehung gebracht werden. Die Länge und die Herausforderungen der Regatta, an die sich jeder Teilnehmer nur „[…] avec un mélange d’effroi et de nostalgie […]“ 361 erinnert, werden formal bereits durch die extrem mäandrierende Syntax widergespiegelt. Sodann werden die realen Gefahren durch die Erwähnung des im Januar 1998 verschol‐ lenen kanadischen Seglers Gerry Roofs und den Hinweis auf die Ursachen der existentiellen Gefahren untermauert: „[…] les certitudes n’existaient plus, […] les limites s’estompaient, entre les océans, entre l’eau et la glace, entre le ciel et l’eau, la surface et le fond, et même l’ultime limite, entre la vie et la mort.“ 362 Agathe ist von den „[…] récits de terreur apaisée […]“ 363 gleichermaßen fasziniert und erschüttert. Sie geben Grenzerfahrungen wieder, die von der „[…] alter‐ nance des pics et des abîmes, ce vertige du très haut et du très bas […]“ 364 , mithin sehr gegensätzlichen Erlebnissen, geprägt sind und beim Hörer zwar ein ge‐ wisses Behagen, vor allem jedoch das Gefühl auslösen, dass das eigene Leben „[…] peu de choses au regard des terrifiantes aventures […]“ 365 bietet. In ihrer sie verzehrenden Vereinsamung einer schlaflosen Nacht erkennt Agathe jedoch eine Parallele zum Lebensgefühl der Segler, die durch die Orientierung an einem angestrebten Zielort zum Ausdruck gebracht wird: „[…] dans la nuit où le som‐ meil se dérobait, Saint-Thomas paraissait aussi lointain et irréel que les Sa‐ bles-d’Olonne à ceux qui se trouvaient au bord de l’Antarctique.“ 366 Das Naturkundemuseum des Jardin des Plantes ist ein Ort, der Agathe aus folgenden Gründen besonders anspricht und in ihrer Nachdenklichkeit bestärkt: • Vor dem Hintergrund des Schicksals des französischen Seefahrers Binot Paulmier de Gonneville, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts glaubte, die legendäre Terra Australis entdeckt zu haben, in Wirklichkeit jedoch in Brasilien gelandet war, stellt sich ihr die Frage, ob die Menschen nicht auch in der fortschrittsgläubigen Gegenwart, in der durch die Möglich‐ keiten der Vermessung von Raum und Zeit Forscher- und Entdeckergeist 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 145 367 Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 34 f. Zitat S. 35. 368 Ebd., S. 35. 369 Ebd. 370 Ebd., S. 36. 371 Vgl. ebd.: Depuis longtemps, depuis toujours, ces images qu’elle n’avait jamais vues logeaient au cœur d’elle-même […] 372 Zitate ebd., S. 36 f. Vgl. auch ebd., S. 75 und S. 106. geweckt wird, Dinge als „certitudes“ betrachten, die sich in zwei oder drei Jahrhunderten als „[…] le comble du ridicule ou de la naïveté […]“ he‐ rausstellen. 367 • Trotz der Gegensätzlichkeit der beiden Pole, des bewohnten Nord- und des nicht bewohnten Südpols, haben „gewisse Forscher“ - […] certains explorateurs […] - 368 bewusst die Herausforderung dieser beiden „Ext‐ reme“ gesucht. • Die „[…] blancheur absolue […]“ 369 der polaren Landschaft, die Unter‐ schiedlichkeit der Pole, kurzum: „[…] cette étrangeté extrême […]“ 370 ge‐ bietet, wie Agathe im Unterschied zu ihrer sich in Banalitäten flüchtenden Freundin Jeanne meint, ehrfurchtsvolles Schweigen. Noch verstärkt wird diese Haltung staunender Bewunderung in Agathe durch Bilder der Er‐ innerung an berühmte Polarforscher wie den Norweger Roald Amundsen und den Franzosen Jean-Baptiste Charcot, die beide verschollen sind. Ob‐ wohl Agathe die in der Ausstellung präsentierten Darstellungen der Po‐ largegenden zuvor nicht gesehen hatte, glaubt sie, dass sie seit langem „ihrem Herzen innewohnten“. 371 Vielleicht spürten jenes “ […] serrement de cœur […]“, die durch die Pole ausgelöste Beklemmung, sogar alle Men‐ schen, denn „[…] ces terres désolées […]“, diese vom ewigen Eis bedeckten Zonen seien „[…] l’image des zones intérieures auxquelles on ne pourrait jamais avoir accès, gelées dès le commencement, dès avant le début, et qui faisaient que, malgré toute la chaleur qu’on pouvait trouver auprès de quelqu’un, malgré le réconfort, on se sentait cruellement seul en pleine nuit, en pleine maladie - en pleine vie“ 372 . Besteht das vom Vendée Globe ausgehende Faszinosum vor allem aus dem Mut des einzelnen Individuums zum Aufbruch in ein Abenteuer, das höchste Risiken bis zur Gefahr des Todes einschließt, so zeichnen sich die Expeditionen der Po‐ larforscher zusätzlich durch das Erlebnis der Besonderheit der polaren Land‐ schaften, nicht zuletzt auch durch die Konfrontation mit der abweisenden Un‐ durchdringlichkeit des ewigen Eises aus. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch jener Reiz, der davon ausgeht, dass sich das Vertrauen in die durch tech‐ nischen Fortschritt erlangten „certitudes“ als trügerisch erweisen könnte. Wenn 2 Themenfeld I 146 373 Vgl. B 2.4.1, S. 119, Anm. 216. 374 Es handelt sich um Osamu Dazai, Soleil couchant (vgl. Wajsbrot 1998, S. 92) und Yasumari Kawabat, Kyoto (vgl. Wajsbrot 1998, S. 60). 375 Wajsbrot 1998, S. 62. 376 Ebd., S. 62 f. Agathe den Zustand ihrer eigenen „Seelenlandschaft“ mit Erfahrungen von In‐ dividualisten in Verbindung bringt, die außergewöhnliche Herausforderungen suchen und alle damit verbundenen Entbehrungen und Nöte, von der extremen Einsamkeit bis zur Todesangst, in Kauf nehmen, so verdeutlicht dies einerseits das Ausmaß ihrer Vereinsamung und ihres Leidensdrucks, andererseits jedoch auch ihre geradezu heroisch anmutenden, in Wirklichkeit wohl eher verzwei‐ felten, mit Ahnungen des Scheiterns verbundenen Anstrengungen, die Not der Isolation zu überwinden. 2.4.5 Intertextuell vermittelte Räume Welche Bedeutung Literatur insbesondere für Agathe hat, wurde bereits bei einem Blick in das erste Kapitel deutlich. 373 Neben dem ebenda und an mehreren anderen Stellen zitierten Roman Le marin rejeté par la mer von Yukio Mishima nimmt die Erzählinstanz auf zahlreiche andere literarische Werke, insbesondere von Agathe gelesene japanische Romane, Bezug. 374 In welchem Maße Agathe sich in Literatur „behaust“ fühlt, offenbart eine Szene, in der sie nach einem Gespräch mit Jeanne eine Buchhandlung betritt und dies von der Erzählstimme folgendermaßen kommentiert wird: „[… ] elle entra - et parfois, entrer dans une librairie, c’était entrer dans un autre monde, une autre dimension.“ 375 In dieser Welt sind die Bücher nicht tote Gegenstände, sondern [ils] attendaient comme des animaux au repos dans la jungle, ils avaient l’air anodins, inoffensifs, qu’est-ce que c’était, un peu de papier, du carton et de l’encre […] mais l’apparence était trompeuse, comme la tranquillité des bêtes de la jungle est trompeuse. Il suffisait de quelque chose qui donne l’éveil […] et l’animal bondissait, on était à la fois l’animal et la proie, le combat sans merci qui déchire les savanes écrasées de chaleur, qui s’enfonce au cœur des forêts les plus épaisses, on était la savane, les ténèbres, la forêt, on croyait seulement se distraire, lire un livre, et voilà qu’on devenait un personnage de l’histoire, l’histoire même, voilà que le chemin sur lequel on marchait et qui paraissait sûr se perdait dans les broussailles […] 376 Der kühne Vergleich von Büchern mit im Dschungel sprungbereit wartenden Tieren, sodann die Übernahme verschiedenster Rollen durch den Leser simu‐ 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 147 lieren eine kampfähnliche, überfallähnliche Situation, die den Lesevorgang in bester rezeptionsaesthetischer Manier bildhaft-dramatisch als eine Auseinan‐ dersetzung zwischen Text und Leser, die hier in eine ausführliche Wegemeta‐ pher einmündet, erscheinen lässt. Für den Zweck dieser Untersuchung ent‐ scheidend ist die Erkenntnis, dass die Herausforderungen des Leseprozesses in räumlichen Kategorien vermittelt werden. 2.4.6 Perspektivierende Zusammenfassung Abschließend soll die sich im Titel des Romans andeutende und in seinem ersten Kapitel in einigen Punkten bereits entfaltende Bedeutung, die der „Reise nach Saint-Thomas“ und damit der Suchbewegung der Protagonistin über die Ebene der „histoire“ hinaus insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Handlungsorten und der Figurenkonstellation zukommt, zusammengefasst werden. Paris und Saint-Thomas (Saint-Jean-le-Thomas) werden - bei objektiver Be‐ trachtung - natürlich nicht durch eine „klassifikatorische“ Grenze im Sinne Lotmans getrennt, zumal der kleine Ort in der Normandie (auch) für viele Pa‐ riserinnen und Pariser ein attraktives Ausflugs- und Urlaubsziel sein dürfte. Die in Voyage à Saint-Thomas gleichwohl vom ersten Kapitel an deutlich werdende Opposition zwischen den beiden Orten erklärt sich daher aus den ihnen im Ver‐ lauf der Diegese zugewiesenen Funktionen bzw. der Bedeutung, die sie für Agathe haben. Im Hinblick auf die in Voyage à Saint-Thomas stattfindenden „Ereignisse“, also die „Sujethaftigkeit“ des Textes, sind drei unterschiedliche Aspekte zu unter‐ scheiden: 1. Zu Beginn der Diegese sind Agathe und Loïc geeint in dem Wunsch, vier Tage in Saint-Thomas zu verbringen. Für Agathe würde mit dem Aufent‐ halt in Saint-Thomas ein von ihr seit langem gehegter Wunsch in Erfül‐ lung gehen. Sie hätte damit, wie in Kapitel 2.4.2 gezeigt wurde, „[…] le bout du monde, le but de sa vie […]“ erreicht. Das hyperbolische „bout du monde“ signalisiert, welch immense Bedeutung Agathe dem Ort Saint-Thomas beimisst, der sich durch seine periphere Küstenlage und sein dörfliches Gepräge in markanter Weise von Paris unterscheidet. An‐ gesichts dieses asymmetrischen Verhältnisses und aufgrund ihrer exis‐ tentiell hohen Erwartungen käme die Realisierung der Reise für Agathe einer „Grenzüberschreitung“ im Lotman’schen Sinne gleich, bedeutete sie doch - u. a. - die drei Jahre lang für unmöglich gehaltene öffentliche Ma‐ 2 Themenfeld I 148 377 Vgl. ebd., S. 82. 378 Vgl. ebd., S. 81. 379 Vgl. ebd., S. 168: Alors ce qu’elle avait cru impossible arriva […] nifestation einer bislang nur in privater Abgeschiedenheit gepflegten Be‐ ziehung. Loïc wird im Unterschied zu Agathe nicht nur durch berufliche bzw. fa‐ miliäre Verpflichtungen an der Reise gehindert. Da er seine Ehefrau Lucie einstweilen noch nicht über sein Verhältnis mit Agathe informiert hat, wäre für ihn angesichts seines zwar an keiner Stelle explizit definierten, sondern nur aus seinem Verhalten ableitbaren Verhaltenskodex eine nicht schlüssig erklärte längere Abwesenheit ein eindeutiger Tabubruch und damit eine Grenzüberschreitung. Von Saint-Thomas geht - nach Loïcs Reiserücktritt - eine das Verhältnis zwischen Agathe und Loïc keineswegs festigende, sondern, wenn nicht entzweiende, so doch stark belastende Wirkung aus. Sodann beeinflusst der Ort die Figurenkonstellation einerseits und die Befindlichkeit Agathes andererseits in einer tiefgreifenden Weise. 2. Nicht mit Loïc, sondern mit Marc nach Saint-Thomas zu reisen, kommt Agathe zunächst wie eine „fugue“ 377 bzw. ein „voyage de remplacement“ 378 vor. Saint-Thomas und die Ereignisse, für die der Ort wie eine Chiffre verwendet wird, bewirken in Agathe, wie in B 2.4.2 herausgearbeitet wurde, einen Zustand innerer Zerrissenheit, einen Verlust ihrer „inno‐ cence“ in ihrer nach- und fortwirkenden Beziehung zu Loïc, zugleich je‐ doch eine leidenschaftliche Hinwendung zu Marc. So geht der Orts‐ wechsel von Paris nach Saint-Thomas für Agathe mit einer sicherlich nicht geplanten, aber psychologisch folgenreichen „Grenzüberschrei‐ tung“ (in einem übertragenen Sinn) einher. Ihre Lage wird noch dadurch kompliziert, dass Marc zu einer gänzlich anderen Bewertung der mit ihr in Saint-Thomas verbrachten Zeit gelangt. Für ihn haben die den „cir‐ constances“ geschuldeten Begegnungen keine über den örtlichen und zeitlichen Rahmen hinausgehende Wirkung. Daraus wird ersichtlich, dass, wie in Kapitel A 2.2 ausgeführt wurde, die Bewertung eines Vor‐ gangs als „Grenzüberschreitung“ nur in Relation zu den für die betrof‐ fenen Personen gültigen Weltbildern erfolgen kann. Da Agathe und Marc aus einem sich durch die Pluralität der Meinungen und Wertvorstellungen auszeichnenden Raum kommen, ist dies leicht nachvollziehbar. 3. Mit der Bereitschaft, sich von Lucie zu trennen, gewinnt Loïc gegenüber Agathe seine innocence“ zurück. In der Schlussszene geschieht, was, wie die Erzählstimme anmerkt, Agathe für unmöglich gehalten hatte, 379 also 2.4 „Voyage à Saint Thomas“ 149 ein im Sinne Lotmans „sujethaftes Ereignis“, das über zarte Gesten ver‐ mittelt wird. Wenn Agathe ihren Kopf auf Loïcs Schulter legt und dabei in Tränen ausbricht, während er ihr Gesicht streichelt, ist dies als Zeichen der Versöhnung und der Befreiung Agathes aus der Sprachlosigkeit zu verstehen. Auf eine gänzlich unerwartete Weise hat der Ort „Saint-Thomas“, auf den Agathe und Loïc zu Beginn der Diegese wie auf ein Fanal der Hoffnung blickten und den sie dennoch nicht gemeinsam erreichten, dazu beigetragen, beide über alle sie trennenden Grenzen zu‐ sammenzuführen. 2.5 Zusammenfassung Themenfeld I Die in den Romanen des Themenfeldes I erzählten „errances“ zeichnen sich durch - mehr oder weniger große - Wirklichkeitsnähe der Figuren und Hand‐ lungen aus. Topographisch nachvollziehbar sind die Aufbrüche und Suchbewe‐ gungen allesamt, so unterschiedlich sie motiviert und ausgerichtet sein mögen. Sie sind als Geschichten einzelner Individuen, in gewisser Weise als „Privatan‐ gelegenheiten“ konzipiert und nur in begrenztem Maße verallgemeinerbar. In Mariane Klinger kündigt sich jedoch die das Themenfeld II beherrschende The‐ matik „Krieg und Holocaust“ an. Die auch gesellschaftlich relevante Frage der Ausgrenzung von Menschen mit besonderer sexueller Orientierung (Atlantique, Le Désir d’Équateur) wird im Wesentlichen in ihren Auswirkungen auf die betroffenen Figuren beschrieben. Die Protagonisten der Romane des Themenfeldes I bewegen sich jedoch alle auf ein - mehr oder weniger konkretes - Ziel zu, das sich in Le Désir d’équa‐ teur, obwohl es sich bei Quito bzw. dem Denkmal La mitad del mundo um ein‐ deutig referentialisierbare Orte handelt, virtualisiert. Sie haben ihren jeweiligen Ausgangspunkt verlassen und leben - zwischen zwei Welten - in der hoff‐ nungsvollen Erwartung, dass sie ihr Glück an ihrem jeweiligen Wunsch- oder Sehnsuchtsort finden. Für Vincent und seine Schwester erfüllt sich diese Hoff‐ nung in einem auf 24 Stunden begrenzten Zeitraum. 2 Themenfeld I 150 1 Le Petit Robert 2006, S. 1605, „MÉMORIAL, IAUX“. 2 Zur Intermedialität in Fugue vgl. Böhm 2010, S. 207-221. 3 Themenfeld II Auch die im Themenfeld II vereinten, zwischen 1997 und 2005 erschienenen Erzähltexte können arbeitshypothetisch als Suchbewegungen bezeichnet werden. Der Aspekt der Bewegung wird bei vier von fünf Texten erneut bereits durch die Titel mehr oder weniger deutlich signalisiert. Nation par Barbès (2001) verweist auf eine mehrere Stationen verbindende Strecke der Metro in Paris. Beaune-la-Rolande (2004) - der Name des ca. 100 km südlich von Paris gelegenen Dorfs dient als metonymische Bezeichnung des 1941 eingerichteten Durch‐ gangslagers für Juden, die nach Auschwitz deportiert wurden - suggeriert als Titel eines Erzähltextes gleichermaßen ein Ankommen und Abfahren. Der dop‐ peldeutige Titel Mémorial (2005) insinuiert in der Bedeutung ‚monument com‐ mémoratif ‘ 1 , dass an einem Erinnerungsanlass Interessierte sich auf den Weg zu einem Denkmal machen. Mit Fugue schließlich (2005) assoziiert man spontan einen Ausgangs- und Zielort und die Frage nach dem Grund für die Fluchtbe‐ wegung. Lediglich der Titel La Trahison (1997) gibt keinen direkten Hinweis auf Bewegung, weckt dafür jedoch die Erwartung nach Suche und Aufklärung eines wann auch immer begangenen Verrats. Da La Trahison und Nation par Barbès Probleme behandeln, die für die Zeit der Okkupation und die Nachkriegszeit bzw. die Gegenwart repräsentativ sind, sollen die in diesen Werken erzählten Suchbewegungen zumindest in ihren Grundzügen analysiert werden. Angesichts der Bedeutung, die der Holocaust für das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots hat, sollen jedoch die thematisch eng ver‐ wandten, durch die Familiengeschichte und Biographie der Autorin beein‐ flussten Texte Beaune-la-Rolande und Mémorial im Mittelpunkt der Untersu‐ chung stehen. Obwohl Fugue aufgrund der Verbindung von Text und Fotografien sich eher als Gegenstand einer intermedialen Analyse anbietet, sollen die für das Thema dieser Arbeit relevanten Aspekte doch einer gründlichen Betrach‐ tung unterzogen werden. 2 3 Cécile Wajsbrot, La Trahison, 2005 (ern.), Ersterscheinungsjahr: 1997 (Wajsbrot * 1997; die Seitenangaben beziehen sich auf die Neuerscheinung von 2005.). - Folgende Re‐ zensionen wurden eingesehen: Dominique Bona, „Cécile Wajsbrot - Une grâce lunaire“, in: l’Argus de la presse, 1 er avril 1997, und André Rollin, „L’acenseur pour la mémoire - Le passé d’un homme de radio bouleverse son présent: c’est „La Trahison“ de Cécile Wajsbrot (Zulma). À lire à l’heure du procès Papon“, in: l’Argus de la presse, 5 février 1997. 4 Wajsbrot * 1997, S. 20. 5 Vgl. ebd., S. 107. - Zum Aspekt der „Verschränkung jüdischer und nicht-jüdischer Ge‐ schichte“ im Frankreich der Kriegs- und Nachkriegszeit vgl. Schubert 2001, insb. S. 203 f. 3.1 La Trahison 3 - Louis Mérians Suche nach der eigenen Vergangenheit Die Begegnung der Protagonisten Louis Mérian und Ariane Desprats weckt in Louis Mérian die Bereitschaft und den Wunsch, seine bislang verdrängte Ver‐ gangenheit aufzuarbeiten und nach seiner wahren Identität zu suchen. Die an‐ fänglich große Distanz zwischen den beiden in unterschiedlichen Semiosphären lebenden Figuren resultiert keineswegs nur aus dem zwischen ihnen beste‐ henden Altersabstand von dreißig Jahren, sondern vorrangig aus jenen Unter‐ schieden, die durch die Besonderheiten der familiären Herkunft und die Prägung ihrer Weltanschauung bedingt sind. Der zu Beginn des zweiten Weltkrieges 17 Jahre alte Louis Mérian entstammt einer Familie von „spectateurs“, deren „seul combat“ im Krieg und in der Zeit danach stets darin bestand „[…] d’avoir assez de pain, ou assez de viande […]“ 4 und die in ihrer Überlebensstrategie und vor allem in ihrer Entscheidung, Paris während des Krieges nicht - wie so viele andere - zu verlassen, einen Nachweis ihres Heldentums erblickten. Die 1952 geborene Jüdin Ariane Desprats, deren Großeltern mütterlicherseits deportiert wurden, betrachtet Frankreich nicht als ihre Heimat, sondern als ein Land, das die Wahrheit über die aus Kollaboration und Denunziation erwachsene Schuld bis in die Gegenwart konsequent verschweigt. Vor dem Hintergrund ihrer ei‐ genen Familiengeschichte sieht sich Ariane aufgrund dieser Art der Geschichts‐ fälschung als „Gefangene“. 5 Für sich zieht sie daraus die Konsequenz, in ihrem Beruf als Journalistin gegen Verschleierung und Verdrängung anzukämpfen. Ihr Wunsch, den von ihr in ihrer Kindheit als Radiojournalist verehrten Louis Mé‐ rian nach seiner Tätigkeit während des Krieges zu befragen, mag sich psycho‐ logisch aus ihrer Hoffnung erklären, dass er die ihm von ihr entgegengebrachte Wertschätzung auch durch ein aus ihrer Sicht tadelloses Verhalten während der Okkupationszeit rechtfertige. 3 Themenfeld II 152 6 Wajsbrot * 1997, S. 11. 7 Vgl. ebd., S. 13: […] elle l’avait tiré d’embarras en lui tendant la main et en disant Ariane Desprats, il avait répondu Louis Mérian […] 8 Vgl. ebd., S. 21: […] il avait habité des appartements clairs […] comme celui qu’il habitait depuis une vingtaine d’années […] 9 Vgl. ebd., S. 43. Wichtige Phasen der „histoire“ der beiden Protagonisten werden durch chro‐ notopische Markierungen hervorgehoben. In der nachfolgenden Analyse soll herausgearbeitet werden, in welcher Weise die Suchbewegung des Louis Mérian, sein Denken und Empfinden auf der Ebene des „discours“ durch die Darstellung von Raum und (Nicht-)Bewegung widergespiegelt werden. 3.1.1 Die Bedeutung von Raum und (Nicht-)Bewegung für die Charakterisierung des Louis Mérian À travers les stores à demi baissés flottait une lumière douce, et les bruits de la rue paraissaient atténués. […] il aimait cette période où la ville se vidait peu à peu, s’apaisait doucement, s’endormait comme il parvenait quelquefois à le faire en début d’après-midi, à cette heure-ci, précisément, quand la chaleur s’abattait lourdement et qu’il n’y avait qu’à attendre que cela passe. Venait-il de se réveiller ou était-il dans cet état intermédiaire qu’il n’aimait pas, entre veille et sommeil, et qui gagnait, d’année en année, qui se confondait presque avec sa vie? La nuit, c’était comme s’il courait sans cesse après quelque chose, comme s’il courait sur une route qui s’interrompait soudain, se perdait au milieu d’elle-même et le laissait hors d’haleine, au matin, épuisé d’une recherche dont il ignorait l’objet mais qu’il recommençait la nuit d’après. Le jour, il n’y avait pas de but, pas de recherche mais les lambeaux de vie épars qui s’assemblaient sans former une image d’ensemble, et qu’il regardait avec perplexité. 6 Louis Mérian, dessen Name - wie der seiner Gesprächspartnerin Ariane Des‐ prats - im Sinne einer Spannungssteigerung erst in einer nachträglich einge‐ fügten Erwähnung der gegenseitigen Begrüßung 7 genannt wird, befindet sich, wie der Textauszug und ein späterer Hinweis 8 belegen, zu Beginn der Diegese in einer von ihm seit etwa 20 Jahren gemieteten Wohnung. Dem weiteren Ver‐ lauf des Textes ist zu entnehmen, dass es sich um eine Wohnung in der von ihm bevorzugten fünften Etage eines modernen, an einer verkehrsarmen Straße im Westen von Paris gelegenen Wohnhauses handelt, die mit einem Balkon aus‐ gestattet ist und einen Ausblick auf den Invalidendom bietet. 9 In starkem Kon‐ trast zu den lichtdurchfluteten, in einer Vorzugslage befindlichen Räumlich‐ 3.1 „La Trahison“ 153 10 Ebd., S. 21. Zum Kontext vgl. ebd. S. 21 und 43. 11 Vgl. ebd., S. 15. keiten stand die Behausung seiner Kindheit und Jugend. Aufgewachsen ist er in einer engen Straße in der Nähe des Louvre, und […] de toute cette période, il gardait l’impression d’une absence de lumière, d’un long tunnel, peut-être parce que les circonstances l’avaient obligé à rester chez ses parents plus de temps qu’il ne l’aurait voulu, peut-être parce que sa chambre donnait sur une petite cour et les autres pièces sur une rue obscure […] 10 Mit diesen auszugsweise zitierten Beschreibungen verfolgt die Erzählinstanz keineswegs nur das Ziel einer atmosphärischen Schilderung der Lebensum‐ stände Louis Mérians, die sich im Laufe der Jahre offensichtlich stark verändert haben. Vielmehr spiegeln verschiedene chronotopische Details in symbolischer Form Hintergründe der Biographie des Protagonisten, die im Hinblick auf die Entwicklung der Diegese eine eindeutig proleptische Funktion ausüben. In chronologischer Anordnung sei zunächst auf die durch das Bild des Tunnels veranschaulichte räumliche Enge und Dunkelheit hingewiesen, die das Lebens‐ umfeld seiner Kindheit und Jugend kennzeichnen und nicht nur auf bescheidene materielle Voraussetzungen schließen lassen, sondern auch einen Mangel an Offenheit und Weite im Denken und Empfinden der Familie Mérian widerspie‐ geln. Die aktuelle und alle von ihm seit der Zeit seiner beruflichen Tätigkeit bevorzugten, niemals unter dem vierten Stockwerk gelegenen Wohnungen zeichnen sich hingegen durch Helligkeit und den Vorzug aus, ihm durch ihre Höhe einen weiten Blick, zugleich jedoch einen hinreichenden Abstand zum Geschehen auf der Straße zu verschaffen. Beachtenswert ist darüber hinaus, dass die Erzählinstanz den Roman mit den Worten „À travers les stores à demi baissés […]“ eröffnet. Dieses auf den ersten Blick gänzlich unauffällige, sich scheinbar durch die natürlichen Umstände der nachmittäglichen Sonnenein‐ strahlung erklärende Detail gewinnt im Kontext eine besondere Bedeutung. Der Wechsel von Tag und Nacht geht, wie der oben zitierte Textauszug belegt, für Louis Mérian einher mit der Abfolge eines auf keinerlei Ziel zusteuernden und um keinerlei Aufklärung bemühten Lebens - le jour - und einer albtraum‐ ähnlichen, ihn in Atemlosigkeit versetzenden, plötzlich abbrechenden Suche und Jagd nach einem geheimnisumwobenen, in Vergessenheit geratenen Er‐ eignis in seiner Vergangenheit - la nuit -. In welch starkem Maße diese Verun‐ sicherung, zumal nach Arianes Frage, ob er auch während des Krieges für das Radio gearbeitet habe, 11 ihn in Verwirrung stürzt, wird deutlich, als Louis Mérian sich nach dem ersten Gespräch mit der Journalistin an einem typischen Schwel‐ 3 Themenfeld II 154 12 Ebd. - Zur Bedeutung von Schwellenorten in La Trahison vgl. Schubert 2001, S. 205 f. 13 Wajsbrot * 1997, S. 16. 14 Vgl. ebd., S. 11. 15 Ebd., S. 19. In dem einleitenden Textabschnitt über einen erneuten Besuch Arianes bei Louis Mérian findet sich ebenfalls der Hinweis „[…] les stores étaient relevés […]“ (S. 43). - Bzgl. des Kontrastes zwischen Innen- und Außenräumen in La Trahison vgl. Schubert 2001, S. 204-206. 16 Ebd., S. 22. 17 Ebd., S. 25. 18 Ebd., S. 13. lenort, nämlich im Hausflur vor dem Aufzug von ihr verabschiedet und sich vor seiner Wohnung „[…] comme un étranger devant une porte inconnue […]“ 12 wähnt. In diesem Moment lässt ihn ein zwar diffuser, von der Erzählinstanz gleichwohl in einprägsamer Raummetaphorik zum Ausdruck gebrachter Ein‐ druck erahnen „[…] qu’il existait en lui des zones ignorées, des zones inconnues de sables mouvants où depuis si longtemps qu’il vivait, il ne s’était encore jamais aventuré“ 13 . So dienen die zu Beginn des Gesprächs mit Ariane Desprats noch immer halb heruntergelassenen Rollos 14 offensichtlich nicht nur dazu, Louis Mérian vor den eindringenden Sonnenstrahlen zu schützen. Vielmehr deutet die Erzählstimme damit symbolisch an, dass er sich nicht dem hellen Licht der voll‐ ständigen Wahrheit auszusetzen bereit ist, sich mithin in einen Innenraum zu‐ rückzieht, der ihn vor von außen eindringenden Einflüssen und Gefahren ab‐ schirmt. So ist es folgerichtig, dass er am Tag danach, nachdem Ariane Desprats telefonisch um ein weiteres Gespräch gebeten und er sein Einverständnis erklärt hat, eine über sich selbst hinausweisende Handlung, über deren Folgen er sich noch nicht im Klaren sein kann, vollzieht: „La voix s’était tue, il avait relevé le store […]“. 15 Das Geheimnis wird gelüftet werden, die Wahrheit ans Licht des Tages geraten. Louis Mérian führt als Rentner ein Leben in einer beinahe monadenhaft wir‐ kenden Abgeschiedenheit. Er verlässt seine Wohnung selten, verreist nicht gerne, verbringt nur jedes Jahr im Juli einige Tage in dem unweit von Paris gelegenen Haus seiner verwitweten Schwester Anne, um danach „[…] avec un goût renouvelé de la solitude“ 16 zurückzukehren. In gewisser Weise außerhalb von Zeit und Raum - […] en dehors du temps et en dehors du monde […] - 17 vollzog sich das Berufsleben Louis Mérians, wenn er in seinem fensterlosen Radiostudio in seiner spätabendlichen Sendung seinen Auftrag erfüllte „[…] d’aller du soir à la nuit, de mener ses passagers sur l’autre rive, dans des contrées nocturnes inhabitées où parfois une silhouette errante cherche le sommeil“ 18 . Mit der Metapher des Fährmanns, der seine Passagiere „auf das andere Ufer“, in jene unbewohnten nächtlichen Gegenden übersetzt, 3.1 „La Trahison“ 155 19 Ebd. 20 Vgl. ebd., S. 18: Eh bien, je t’écoute, disait-il à la voix, qu’y a-t-il, qui es-tu? 21 Ebd. überträgt er die Vorstellung des Übergangs vom Abend zur Nacht in ein an‐ schauliches räumliches Bild. Wie stark er seine Rolle als Fährmann verinnerlicht hatte und wie sehr er von seinem Auftrag, seine Zuhörerschaft in die Stille der Nacht zu entlassen, überzeugt war, zeigt seine anfängliche Enttäuschung, als sein Sender das Programm nicht mehr mit seinen Interviews beendete, sondern auch noch während der Nachtstunden fortsetzte. Die Erzählinstanz überträgt die Vorstellung einer ununterbrochenen Abfolge nächtlicher Sendungen in räumliche Bilder und gibt mittels interner Fokalisierung, d. h. durch ihre Iden‐ tifizierung mit der Sichtweise Louis Mérians, zu verstehen, dass die Illusion be‐ völkerter Landschaften, bewohnter Dörfer und Städte sowie erleuchteter Auto‐ bahnen, die durch die nach Mitternacht ausgestrahlten Sendungen erzeugt wird, nicht den Wert des zuvor den Zeitraum der Nacht beherrschenden „silence“ aufwiegt: Pendant des années, son émission fermait l’antenne, puis la nuit s’était peuplée, on avait construit des maisons isolées, des villages, c’étaient des villes, maintenant, qui s’étendaient d’un bord à l’autre de la nuit, des barres d’immeubles, des autoroutes éclairées plus monotones que le vide, mais même s’il avait eu l’impression, les premières fois qu’on avait ôté à sa mission une part d’absolu en supprimant le silence qui suivait, il avait fini par s’habituer à céder l’antenne au lieu de la rendre. 19 Louis Mérian sah sich selbst während seiner Zeit als Radiojournalist jedoch kei‐ neswegs nur in der Rolle des Fährmanns, vielmehr glaubte er, noch eine andere Mission erfüllen zu müssen. So erinnert er sich in einem Dialog mit seiner „in‐ neren Stimme“ 20 an ein Interview mit einem Experten, der sich darauf speziali‐ siert hatte, gesunkene Schiffswracks zu lokalisieren und anschließend zu bergen. Auf die Frage, was ihn an einer solchen Aufgabe reize, habe der Mann geantwortet: […] l’exhumation des secrets. Remonter des choses restées au fond des mers pendant des siècles, ou seulement des années, voir le travail du temps, sous les eaux, le temps enlève, le sel ronge et les objets s’érodent, et ils rouillent, mais le temps ajoute, aussi, des choses s’agglomèrent, des coquillages, des algues, d’autres substances qui finissent par former une matière unique et belle […] qui fait corps avec l’objet et qui […] en fait partie. 21 Zeit und Raum, hier der Meeresboden mit dem von Rost angefressenen und von Muscheln und Algen überwucherten Schiffswrack, treten in dem Bericht des 3 Themenfeld II 156 22 Vgl. ebd., S. 18 f. 23 Ebd., S. 19. 24 Vgl. ebd., S. 27. 25 Ebd., S. 121. 26 Ebd., S. 152 f. 27 Ebd., S. 127. 28 Ebd., S. 153. Bergungsfachmanns eindeutig in ein symbiotisches Verhältnis ein. Fasziniert spricht der Experte jedoch auch über Schiffe, die neben ihrer offiziell erklärten auch noch eine geheime Fracht beförderten, 22 um, wie Louis Mérian sich in seinem Selbstgespräch erinnert, abschließend folgende Schlussfolgerung zu ziehen: „[…] la vie est pareille, chacun de nous a une mission apparente et une mission cachée mais la plupart du temps, les gens ne le savent pas et ne prennent pas la peine de chercher l’objet de leur mission cachée.“ 23 Es grenzt an tragische Ironie, dass die Erzählstimme Louis Mérian, der einen entscheidenden Abschnitt seiner eigenen Biographie konsequent verdrängt hat und von sich sagt, dass sein Leben erst mit dem Radio begonnen habe, 24 als journalistischen Vermittler bei der Enthüllung von über Jahrhunderte auf dem Meeresboden verborgenen Ge‐ heimnissen auftreten lässt. Raum und Bewegung spielen auch im Kontext der in das Gedächtnis Louis Mérians zurückgekehrten Sarah Lipsick eine bedeutende Rolle. So verwandelt Sarah beim ersten Rendezvous mit Louis auf den von ihm zuvor nicht sehr ge‐ schätzten Champs-Élysées die Prachtstraße in seinen Augen mit ihrer bloßen Gegenwart in eine „approche du paradis“ 25 . In welch radikaler Weise die Bezie‐ hung zu der Jüdin Sarah Lipsick das Leben Louis Mérians in eine andere Rich‐ tung hätte lenken können, erhellt aus der Beschreibung ihrer ersten Begegnung. Sarah vermag offenbar allein mit ihrem Blick alle Hindernisse, die den Zugang zum „Herzen“, d. h. zum Kern der Persönlichkeit Louis Mérians versperren, zu überwinden. Die Hindernisse werden bezeichnenderweise sowohl durch kon‐ kret räumliche als auch durch zeitbezogene Assoziationen evoziert: „Dès le pre‐ mier regard Sarah avait traversé tous les barrages, toutes les couches déposées par le temps, pour s’installer au cœur de Louis […] Sarah était directement venue frapper là, au cœur de l’idéal.“ 26 Die Auswirkungen, die Sarahs Gegenwart auf Louis Mérian ausübt, erfassen den ganzen Menschen, lassen ihn zu sich selbst, zu seiner eigentlichen Wesen‐ heit gelangen: „Par Sarah, il devenait, il était lui.“ 27 Für die Louis bislang prägende Beziehung zu seinen Eltern bedeutet seine „Umkehr“ jedoch, dass er sich „[…] à l’opposé de leurs valeurs […]“ 28 befindet. Diese Spannung nicht ausgehalten, die von Sarah vorgelebten und ihm ans Herz gelegten Ideale verraten zu haben, 3.1 „La Trahison“ 157 29 Vgl. ebd., S. 27: Ma vie a commencé avec la radio. 30 Ebd., S. 81 f. 31 Ebd., S. 95. 32 Ebd., S. 95 f. 33 Ebd., S. 102. Zum Kontext vgl. S. 101 f. 34 Ebd., S. 102. macht die Tragik seines Lebens aus, der er vergeblich zu entkommen sucht, indem er behauptet, sein Leben habe mit seiner Radiotätigkeit begonnen. 29 Die Wiederbelebung dieser und anderer verschütteter Erinnerungen im Ge‐ dächtnis Louis Mérians wird von der Erzählstimme wie die „Wiederauferste‐ hung“ eines in Ruinen daniederliegenden Schlosses beschrieben: […] Sarah Lipsick, un nom qu’il n’avait pas prononcé depuis des années […] ce nom ne remontait pas seul, il venait avec un flot de paroles et d’événements oubliés, comme un château dont il ne restait que des ruines, quelques murs effondrés, reviendrait d’un seul coup à la vie avec non seulement tous ses murs mais aussi tous ses meubles, ses tapisseries, ses habitants, et encore ses remparts, son pont-levis, son fossé, et la rivière d’autrefois qui s’était asséchée au fil du temps. 30 Sarah Lipsick wird als eine Person präsentiert, die Louis Mérian mit ihrer Liebe und der an ihn gerichteten Aufforderung, ihr „[…] sur le chemin de la ré‐ volte […]“ 31 in die Résistance bis nach London zu folgen, zum Aufbruch aus der erstickenden geistig-ideologischen Enge seines bisherigen Lebens bewegen will. Obwohl er sich dafür zwischenzeitlich zu begeistern scheint, wirken die von seinem Elternhaus ausgehenden Beharrungskräfte auf ihn und seine Schwester Anne ungleich stärker und bilden „[…] un pays sûr de lui qui ne regardait jamais en arrière pour ne pas voir les cadavres qu’il laissait en avançant sur sa route […]“ 32 . Diese Haltung des Wegsehens sollte auch das weitere Leben Louis Mérians prägen. In einem Gespräch mit seiner Schwester, das er nach seiner „Wiederentdeckung“ Sarahs führt, spricht Louis Mérian im Hinblick auf seine Radiotätigkeit, also die Gespräche mit bald narzisstischen, bald erfolgsabhän‐ gigen, bald untalentierten Künstlern, die sich alle für eine oberflächliche Exis‐ tenzweise entschieden haben, von seinem eigenen Leben als einer „[…] fuite en avant“ 33 . Nicht umsonst habe er sich bei seiner Sendung für die Nachtzeit ent‐ schieden „[…] parce que la nuit, on ne voit rien […]“ 34 . Auch die Probleme Louis Mérians, die Gründe für sein Vergessen zu ver‐ stehen, werden von der Erzählstimme in einer raum-zeitlich geprägten Bilder‐ sprache geschildert. So sieht sich Louis nicht in der Lage, jene Kreuzung - le 3 Themenfeld II 158 35 Vgl. ebd., S. 136. 36 Ebd., S. 130. 37 Ebd., S. 148. 38 Ebd., S. 149. 39 Ebd. carrefour - bzw. jenen Moment zu benennen, der zum Bruch seines Verhält‐ nisses mit Sarah geführt hat. 35 Und an einer anderen Stelle heißt es: […] il était impossible de se souvenir de l’oubli, de repérer, dans l’étendue du temps, dans ce paysage de prairies et de déserts, la frontière, le passage du souvenir à l’oubli, de la prairie au désert, l’instant précis où tout avait commencé à s’effacer, où tout s’était effacé. 36 Von großer Bestimmtheit geprägt ist das Verhalten Louis Mérians bei der Vor‐ bereitung seines Suizids, die von der Erzählinstanz ausführlich in Szene gesetzt wird. Er steht am Fenster und schaut in eine„[…]clarté dorée“, einen „[…]ciel bleu ponctué de légères traînées de chaleur […]“ und genießt eine Phase des Übergangs, in der er, wie viele Male zuvor, „[…] le soleil qui baissait à l’horizon et qui disparaissait derrière les immeubles […]“ 37 beobachtet. Das einen Ausblick bis zum Invalidendom bietende Fenster, die klare Atmosphäre und die Erwar‐ tung des Sonnenuntergangs bilden jenen verklärten, alle Enge überwindenden raum-zeitlichen Rahmen, in dem Louis Mérian sich anschickt zu sterben, wäh‐ rend er Ariane einen Abschieds- und Dankesbrief schreibt. In diesem Brief spricht er einleitend von jener (oben erwähnten) Sendung mit dem Experten für die Bergung von Schiffswracks, die ihn in einen „[…] état second […]“ versetzt und habe verstehen lassen, dass er das Leben nicht nach oberflächlichen Ein‐ drücken beurteilen dürfe, sondern „[…] qu’il fallait chercher ailleurs, au fond […]“ 38 . Er dankt Ariane ausdrücklich, da sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Sarah Lipsick und ihrer Frage „[…] qu’avez-vous fait pendant la guerre […]“ jene „remontée“ von Erinnerungen ausgelöst habe, die ihn nun befähige, das zu tun, was er tun müsse: „ - […] suivre la route abandonnée il y a cinquante ans, la reprendre enfin et rejoindre Sarah là où elle est aujourd’hui.“ 39 Mit dieser Ent‐ scheidung beweist er - aus seiner Sicht - jenen Mut zum Aufbruch aus einer selbstverschuldeten Isolation und Verweigerungshaltung, der ihm fünfzig Jahre vorher gefehlt hatte. 3.1 „La Trahison“ 159 40 Vgl. ebd., S. 73: Mais chez elle, pas moyen de dormir, elle avait l’impression d’être seule dans une barque à la dérive sur des eaux noires, de traverser des paysages sans âme et d’être vouée à parcourir le monde sans pouvoir se reposer. 41 Ebd., S. 60. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 115. 3.1.2 Die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Charakterisierung der Ariane Desprats Anders als im Falle Louis Mérians wird die Pariser Wohnung der Ariane Des‐ prats an keiner Stelle des Romans lokalisiert geschweige denn beschrieben. Le‐ diglich ein knapper Passus, der nicht ein Zu-Hause-Sein und Geborgenheit, sondern in gespenstischer, an die Geschichte des Fliegenden Holländers erin‐ nernder Seefahrts- und Reisemetaphorik ihre Einsamkeit und Gefährdung, aber auch ihr missionarisches, ruheloses Unterwegs-Sein evoziert, verweist auf einen Wohnsitz. 40 Überaus aufschlussreich ist zudem ein Gespräch zwischen Ariane und ihrem ehemaligen Gefährten Léo, in dem sie ihm von der Geschichte ihrer Familie - ihre Großeltern mütterlicherseits wurden deportiert, ihr Vater, ange‐ blicher Résistancekämpfer, verließ die Familie, als Ariane acht Jahre alt war - und ihrer Kindheit erzählt. Obwohl nach dem Krieg geboren, habe sie stets „[…] dans le souvenir de cette période […]“ 41 gelebt. Ihre Mutter habe an die Kriegszeit sogar gedacht, wenn sie nicht darüber gesprochen habe, während im alltägli‐ chen Leben ansonsten niemand zu wissen schien, worum es sich dabei handelte. Dieser Zustand führte dazu, dass Ariane sich, wie sie Léo erklärt, in ihrem engsten Umfeld fremd fühlte: „Quand je sortais de chez moi, c’était comme si je passais une frontière pour aller dans un autre pays.“ 42 Ihre im Mädchenalter wohl im Wesentlichen emotional wahrgenommene Sonderstellung und die innere Verfasstheit Frankreichs vermag Ariane als Erwachsene genau zu analysieren. So erinnert sie sich an Gespräche, die Louis Mérian in seiner Sendung mit Künstlern führte, die sie zwar nicht zum Sendezeitpunkt, wohl aber heute nur noch ironisch als „[…] les piliers de la France nouvelle et ancienne, de la France éternelle […]“ 43 betrachten kann. Wie Ariane die von Louis Mérian interviewte Künstlerelite, mit der sie sich einst glaubte identifizieren zu können, heute ein‐ schätzt, lässt die Erzählinstanz in einer - die Sichtweise Arianes wiederge‐ benden - intern fokalisierten Passage durchscheinen: Mais le château qu’habitaient les chansonniers, les comédiens de théâtre de boulevard, les acteurs de la Comédie-Française ou les chanteurs populaires, était aussi irréel que celui de la Belle au bois dormant, et le pays entier dormait sous l’effet d’un sort qu’une 3 Themenfeld II 160 44 Ebd. 45 Zitate ebd. 46 Ebd., S. 107. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 108. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 60; vgl. auch B 3.1.2, S. 160, Anm. 42, und den Kontext. 51 Ebd., S. 170. mauvaise fée lui avait jeté - et aujourd’hui, il n’était pas encore sorti de son sommeil. 44 Arianes einstiges Bild märchenhaft idolisierter Schlossbewohner ist mittler‐ weile einer kritischen Sicht gewichen. Ihr ist bewusst geworden, dass Mérians Interviews jenen „[…] dicussions de café du commerce […]“ glichen, die sich durch „[…] quelque chose de paisible et de rassurant, une image réconfortante du pays qui était le sien“ 45 auszeichneten. Konsequent verschwiegen und ver‐ drängt wurden dabei in dem in einen Dornröschenschlaf versunkenen Land die belastenden Momente der eigenen Vergangenheit. Ariane begreift ihr eigenes Leben daher […] comme un effort, une tentative permanente de se dégager de cette histoire qui l’emprisonnait, la guerre et la déportation, l’attitude des uns et des autres, et qui l’empêchait de se sentir vraiment chez elle dans un pays où elle était pourtant née, à cause de la collaboration, de la dénonciation, mais aussi à cause du silence qui se prolongeait aujourd’hui, à cause de cette volonté farouche de détourner les yeux, de poser le regard ailleurs […] 46 Die Erzählstimme verstärkt diesen Gedanken noch, indem sie, wiederum aus dem Blickwinkel Arianes, die als Alibi für die „Abwendung des Blicks“ dienende Wiederaufbauphase in Frankreich mit den Voraussetzungen und Folgen der Überplanung des Ghettos in Warschau vergleicht. Dort habe man aus Zeit‐ gründen „[…] sur les ruines de l’ancien ghetto […]“ 47 ein neues Stadtviertel er‐ richtet, das ein Meter höher liege als der Rest der Stadt. Dies habe zur Folge „[…] que cette dénivellation marquait à la fois la volonté d’oubli et l’impossibilité de l’oubli“ 48 . So sei auch ganz Frankreich wiederaufgebaut worden „[…] avec ce mètre de décalage que les gens feignaient d’ignorer mais qu’ils ne pouvaient pas ne pas remarquer“ 49 . Für die erwachsene Ariane bedeutet dies, dass sie nicht mehr wie in ihrer Kindheit, als sie glaubte, beim Verlassen der Wohnung „[…] un autre pays“ 50 zu betreten, annimmt „[…] qu’il y avait deux mondes […]“ 51 . Vielmehr ist sie zu der Erkenntnis gelangt, dass die Trennlinie nicht „[…] dans 3.1 „La Trahison“ 161 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 162. 55 Ebd., S. 56. 56 Vgl. ebd. 57 Ebd., S. 57. la réalité mais dans l’appréhension de la réalité […]“ 52 verläuft. Entscheidend sei vielmehr […] la question de vouloir ou de ne pas vouloir être en accord avec la réalité, et l’accord, contrairement à ce qu’Ariane avait toujours pensé, n’était pas du côté de ceux qui se taisaient mais du côté de ceux qui, comme elle, voulaient parler et parlaient. Le silence menait à la mort de Louis Mérian et la parole, elle ne savait pas au juste mais elle menait quelque part. 53 Vor diesem Hintergrund werden die das Leben Arianes kennzeichnende Ruhe‐ losigkeit, ihr Aufklärungsdrang und ihre Fähigkeit, im Leben Louis Mérians als „[…] l’instrument du souvenir […]“ 54 zu dienen, verständlich. So wie Ariadne - Ariane ist die französiche Form dieses griechischen Namens - es Theseus er‐ möglichte, nach dem Sieg über den Minotaurus mit Hilfe eines Wollfadens den Ausgang der labyrinthischen Kampfstätte zu finden, so gelingt es Ariane Des‐ prats, mit ihren bohrenden Fragen Louis Mérian dazu zu bewegen, sich aus dem Gespinst seiner Selbsttäuschungen und Lebenslügen zu befreien. Immer und überall ist sie auf der Suche nach Klarheit. Dies ist auch der Grund für ihre starke Abneigung gegen „[…] les rues qui grimpaient […] vers les hauteurs de la ville […]“, wo sie sich als „[…] prisonnière de ces arcanes étroites et sombres“ 55 fühlt. Eine Anwandlung von Unentschiedenheit und Lähmung, die Arianes häufig auftretende Unfähigkeit, Straßenkreuzungen zu überqueren, verursacht, wird von der Erzählinstanz mit dem Unvermögen der Personen in Buñuels Film Der Würgeengel, nach einer nächtlichen Party das Haus der Gastgeber zu ver‐ lassen, verglichen. 56 Völlig im Einklang mit ihrem Entdeckungsdrang steht hin‐ gegen ihre Begeisterung für einen im Garten der Maison de Balzac befindlichen Stadtplan, der das Paris des 19. Jahrhunderts darstellt und dazu einlädt, Balzacs unterschiedliche Adressen und die Abweichungen zwischen den damaligen und heutigen Straßennamen herauszufinden. Zu begeistern vermag sich Ariane nicht zuletzt für die Maison de Balzac selbst, die für sie „[…] l’unique havre de paix dans la succession de façades austères des années vingt ou trente […]“ 57 darstellt. Eine besondere Faszination geht von den auf drei Wänden in einem Zimmer des Hauses angebrachten genealogischen Tafeln mit den Namen aller Personen der Comédie humaine aus, die - […] emprisonnés dans le papier et les 3 Themenfeld II 162 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Vgl. A 2.2, S. 53f. rayons des bibliothèques […] - auf diesem Wege „[…] le statut de personnes existantes […]“ 58 erlangen. Wenn die Wirkung der Maison de Balzac in ihrer Gesamtheit von der Erzählstimme als „[…] preuve matérielle du pouvoir de la littérature“ 59 eingeschätzt wird, so vermittelt damit implizit auch die Autorin Cécile Wajsbrot eine wichtige Botschaft: Die Literatur eröffnet ihr als einer An‐ gehörigen der dritten Generation polnisch-jüdischer Einwanderer einen Raum der Erinnerung und damit eine eigene Art des Holocaust-Gedenkens. Dabei strebt sie keine reproduzierende Wiedergabe historischer Ereignisse an, viel‐ mehr sieht sie in einer aus der Sicht der heutigen Zeit erfolgenden selbststän‐ digen literarischen Reflexion über einen für ihre eigene Familie so verhängnis‐ vollen Abschnitt der Geschichte die ihr gemäße Form der Erinnerungsarbeit. 3.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung Zu Beginn der Diegese ist es, wie bereits in B 3.1 festgestellt, evident, dass die beiden Protagonisten Louis Mérian und Ariane Desprats in unterschiedlichen Semiosphären leben. Die Begegnungen zwischen Louis Mérian und Ariane Des‐ prats bewirken jedoch, dass die Unterschiede zwischen ihren „Sprachen“, im Lotman’schen Sinne verstanden als Unvereinbarkeit der Diskurse und der Wahrnehmung von Wirklichkeit, 60 eingeebnet werden. Durch die Begegnungen mit Ariane gelangt Louis Mérian zu der ihn befrei‐ enden Einsicht, dass er nach der Trennung von Sarah ein Leben der „Uneigent‐ lichkeit“ geführt hat. Angesichts der äußeren Ähnlichkeit und der „inneren“ Verwandtschaft zwischen Sarah und Ariane ist es in sich schlüssig, dass Ariane Louis bereits bei ihrem ersten Gespräch aus seiner inneren Erstarrung zu be‐ freien vermag. Die Erzählinstanz bringt dies zum Ausdruck, indem sie die hei‐ lenden Auswirkungen der Anwesenheit Arianes auf die Befindlichkeiten Louis’ beschreibt. Wiederum bedient sie sich dabei einer zeitlich-räumlich geprägten Bildersprache, durch die das Sarah und Ariane Verbindende zusätzlich unter‐ strichen wird. Mit einem Lächeln vermag Ariane Louis von der nachwirkenden Erinnerung an seine albtraumähnliche nächtliche Unruhe zu befreien: Elle avait souri et c’était à ce moment-là que quelque chose s’était ouvert en lui, il avait tressailli, oh, pas à cause d’un charme auquel il aurait été sensible, non, c’était la poursuite de la nuit qui s’apaisait, la route brusquement interrompue qui reprenait, 3.1 „La Trahison“ 163 61 Wajsbrot * 1997, S. 12. 62 Vgl. ebd., S. 151 ff. 63 Ebd., S. 151. 64 Cécile Wajsbrot, Nation par Barbès, Paris, Zulma, 2001, (Wajsbrot 2001). - Folgende Rezensionen wurden eingesehen: Dominique Bona, „Cécile Wajsbrot - Mélancolie sous un ciel de faïence“, in: Le Figaro Littéraire, 1 er mars 2001; Stéphane Bouquet, „Quai des brunes - Amour et lignes de fuite pour trois rêveurs souterrains. Direction „Nation par Barbès“, in: Libération, 5 avril 2001. une image qui se dessinait enfin, qu’il allait ressaisir et qui s’évanouit dès qu’il tendit le bras pour lui servir du jus de fruit. 61 Am Ende seines Läuterungsprozesses, der erfolgreichen Aufklärung seiner für ihn selbst unter dem Schleier des Vergessens lange Zeit verborgenen Vergan‐ genheit, beschließt Louis Mérian, sich das Leben zu nehmen. Die Erzählstimme inszeniert die Vorbereitungen seines Suizids als eine Art Wiederbegegnung zwischen Louis und Sarah. 62 Für Louis ist die Entscheidung zum Suizid die ra‐ dikale Konsequenz aus seinem Wunsch, sich von der Last seiner Lebenslüge, seines „Verrats“ an den von Sarah vertretenen und gelebten Idealen zu befreien, um mit ihr, wie Hugo in Atlantique, zumindest im Tode vereint zu sein. Eine Wegemetapher fasst diese Verkettung prägnant zusammen, indem sie sein ganzes Leben als eine ihn zu Sarah zurückführende Suchbewegung darstellt: „[…] sa vie avait été un long chemin pour trouver Sarah, pour la perdre et puis la retrouver.“ 63 So ist Louis Mérian am Ende eines langen Lebensweges dank der Hilfe der als „instrument du souvenir“ wirkenden Ariane doch noch von einer „unbeweglichen“ zu einer „beweglichen“ Figur geworden. 3.2 Nation par Barbès 64 - Räume und „Nicht-Räume“ als handlungsauslösende und Gedanken und Gefühle widerspiegelnde Elemente Der Roman Nation par Barbès handelt von den Suchbewegungen der Protago‐ nistinnen Léna und Aniela sowie der männlichen Hauptfigur Jason, die sich bzgl. ihrer Herkunft stark unterscheiden und deren Wege zur Erfüllung ihrer indivi‐ duellen Wünsche und Sehnsüchte sich gleichwohl kreuzen. Die Analyse folgt einem deduktiven methodischen Ansatz, insofern als be‐ kannt vorausgesetzt wird, dass die Handlung mit dem Suizid Anielas und der von Léna vollzogenen Beendigung ihres Verhältnisses zu Jason ein tragisches Ende nimmt. Ebenso ist davon auszugehen, dass die räumliche und familienge‐ schichtliche Herkunft der drei Figuren (B 3.2.1), die Métro (B 3.2.2) und der Parc 3 Themenfeld II 164 65 Eine genaue Lokalisierung erfolgt nicht. Da Léna jedoch in ihrer Kindheit im Parc Monceau gespielt hat (vgl. Wajsbrot 2001, S. 50) und abends bis zur Métrostation Mon‐ ceau fährt (vgl. ebd., S. 14), ist anzunehmen, dass ihre Wohnung sich in der Nähe dieser Orte befindet. 66 Ebd., S. 75. 67 Vgl. ebd.,: […] elle pensa à son père, dont elle avait peu de souvenirs […] 68 Vgl. zum Kontext ebd., S. 48, bzgl. des Zitats S. 145. Monceau (B 3.2.3) jene Räume, „non-lieux“ und Orte bilden, die entweder den Gang der Handlung beeinflussen oder aber verschiedene Gedanken, Empfin‐ dungen und Eigenschaften der handelnden Figuren widerspiegeln. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, die Gliederung der Analyse an den drei genannten Räumen bzw. Orten zu orientieren, da so einerseits ihre auf die Handlung be‐ zogene Wirkmächtigkeit, andererseits ihre Bedeutung für die Personenzeich‐ nung am besten darzustellen sind. 3.2.1 Chronotopische Markierungen der familiengeschichtlichen Herkunft Lénas, Anielas und Jasons Léna lebt mit ihrer Mutter in einer Wohnung in der Nähe des Parc Monceau. 65 Ihr aus Spanien eingewanderter Vater ist früh verstorben und hat seine Frau und seine Tochter in einem „[…] face à face implacable […]“ 66 hinterlassen. Ob‐ wohl Léna sich kaum an ihren früh verstorbenen Vater erinnert, 67 hat sie nicht vergessen, was dieser über seinen Vater berichtet hat. Er habe erzählt, dass in der Zeit des Bürgerkriegs das plötzliche Verschwinden eines Menschen immer ein Indiz für eine Sammelhinrichtung gewesen sei. Diese Erinnerungsbilder sind, wie die Erzählinstanz berichtet, für Léna ebenso Teil ihrer Kindheit ge‐ wesen wie „[…] une autre forme de guerre civile [qui] s’était déclarée, entre la voix de son père et la voix de sa mère, entre la génération de ses parents et la sienne, entre ce qu’elle percevait du monde et ce dont elle avait envie […]“. 68 Die hier angedeuteten familiären Disharmonien, die Léna während ihrer Kindheit offensichtlich stark belastet haben, beeinträchtigen in veränderter Form und in einem gravierenden Maße auch das Verhältnis zwischen der Mutter und ihrer erwachsenen Tochter. Infolge eines - von der Erzählinstanz zeitlich nicht situierten - Unfalls ist die Mutter irreversibel gelähmt und von fremder Hilfe abhängig. Léna ist damit eine Aufgabe zugefallen, die neben ihrer sie of‐ fensichtlich nicht wirklich befriedigenden beruflichen Tätigkeit „son autre vie“ ausmacht, […] celle qu’elle avait en horreur, qu’elle repoussait de toutes ses forces mais qui revenait à chaque fois qu’elle ouvrait la porte et qui durait jusqu’au lendemain matin, 3.2 „Nation par Barbès“ 165 69 Ebd., S. 15. 70 Ebd., S. 20. 71 Vgl. ebd., S. 18: Léna prépara le repas […] disposa le tout sur la table roulante […] et, pendant que sa mère mangeait avec une avidité qui lui répugnait tant qu’elle détournait les yeux pour ne pas la voir […] 72 Vgl. zum Kontext und Zitat ebd. S. 20: […] et Léna finissait par quitter la chambre, vaincue. 73 Ebd., S. 75. 74 Ebd., S. 142. 75 Ebd., S. 177. 76 Zum Kontext und Zitat vgl. ebd., S. 52. jusqu’au moment où, après avoir pris le petit déjeuner en compagnie de sa mère, dans sa chambre, sur le bord de son lit, elle rouvrait la porte. 69 Die von der kranken Mutter und ihrer Tochter Léna geteilte Wohnung be‐ schreibt die Erzählstimme aus dem Blickwinkel Lénas als einen Ort quälender Spannungen und Auseinandersetzungen, den die Mutter gleichwohl wie eine „[…] forteresse imprenable […]“ 70 behaupte. Die Tochter, die bei den gemein‐ samen Mahlzeiten mit der gierig ihr Essen verschlingenden Mutter den Blick angeekelt von ihr abwendet 71 und - anders als die als Pflegekräfte engagierten Nachbarinnen und Krankenschwestern - für ihren Einsatz nicht nur keinerlei Dankbarkeit erfährt, sondern Vorwürfe und Tadel hinnehmen muss, verlässt das als Konfliktfeld erlebte Zimmer der Mutter jedes Mal als „Besiegte“. 72 In ihrer Abhängigkeit empfindet sie sich als „[…] prisonnière de sa mère“ 73 . Die Bedeu‐ tungsinhalte „Gefangenschaft“ bzw. „Gefängnis“ überträgt die Erzählinstanz in einem anderen Kontext indirekt auch von der Person Lénas auf ihre jetzige Wohnung, insofern Léna in einem Gespräch mit Jason mit großem Bedauern feststellt, dass sie in einer früheren Wohnung - manchmal sogar von ihrem Bett aus - den Mond habe betrachten können. Da der Mond für Léna zu einem „[…] signe lointain de son indépendance, mais d’une indépendance sous protec‐ tion […]“ 74 geworden ist, das sich ihrem Blick nun gänzlich entzogen hat, weckt ihre an einer wiederum anderen Stelle der Diegese aus ihrer eigenen Perspektive als „sombre“ 75 beschriebene derzeitige Wohnung Assoziationen mit einer dumpfen, dunklen Gefängniszelle, sodass eine kontextübergreifende, als isoto‐ pisch zu qualifizierende Vorstellung des „Gefangenseins“ bzw. der „Unfreiheit“ entsteht. Zusätzlich gestützt wird diese Leitidee durch Lénas Erinnerung an jene „[…] appartements lumineux et spacieux […]“, die sie in ihren Kindertagen an‐ lässlich seltener Einladungen als scharfen Kontrast zu ihrer eigenen Behausung kennen gelernt hat. 76 Im Erwachsenenalter, auch und gerade in der Zeit ihrer Bekanntschaft mit Jason, hasst sie ihre Wohnung, die sie als „[…] les murs étroits 3 Themenfeld II 166 77 Ebd., S. 71. 78 Ebd., S. 25. 79 Ebd., S. 135. 80 Ebd., S. 136. 81 Ebd., S. 137. d’une vie qu’elle n’avait pas choisie“ 77 betrachtet, also als äußeres Abbild eines durch Einschränkungen und Einengungen beeinträchtigten Lebens. Und wenn die Erzählstimme schließlich anmerkt „[…] qu’elle restait cloîtrée chez elle et qu’elle n’en sortait que pour prendre le métro et se rendre à son travail“ 78 , so verbindet sie mit der Anspielung auf eine klösterliche Behausung sicherlich nicht die Vorzüge wohltuender kontemplativer Ruhe, sondern die Last mono‐ toner, sich täglich wiederholender, frustrierender Pflichterfüllung. Eine Wende in Lénas Zusammenleben mit ihrer Mutter scheint sich anzu‐ bahnen, als sie sich entschließt, sie über ihre Bekanntschaft mit Jason zu infor‐ mieren. Als die Mutter auf Lénas Mitteilung „J’ai rencontré quelqu’un“ 79 weder verbal noch mit einer Änderung ihres Gesichtsausdrucks reagiert, deutet Léna die „immobilité“ der Mutter zunächst als […] un refus d’avancer dans la vie et dans l’âge […] une façon de s’arcbouter sur le passé dans une position immuable, une stagnation qui refusait le temps comme tout le monde autour refusait le temps, dans un pays où on avait l’impression que la piqûre au doigt de la Belle au bois dormant avait plongé le château dans le sommeil. 80 Wenn Léna ihrer Mutter und Frankreich gleichermaßen unterstellt, sich in einem Zustand der Stagnation einzurichten, d. h. sich dem Voranschreiten der Zeit entgegen zu stemmen, so evoziert dies zugleich die Vorstellung, dass die Vergangenheit im Raum, d. h. im Falle der Mutter in der Beengtheit der mit der Tochter geteilten Wohnung, konserviert und gleichsam „eingesperrt“ wird. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig. Frankreich hingegen ist, wie Léna meint, zu einem Land ohne jegliche Zukunftsvisionen geworden, da das Inte‐ resse der Politiker sich in der Erhaltung ihrer Macht erschöpft und jegliche Weiterentwicklung des Landes, einschließlich der Gestaltung des Raumes, un‐ terbleibt. Aus welchem Grunde sowohl ihre Mutter als auch Frankreich in einen Dornröschenschlaf versunken sind, bleibt für Léna letztlich rätselhaft. Über‐ rascht ist sie jedoch, als ihre Mutter mit einem scheinbaren Einverständnis, einer „[…] apparente acceptation […]“ 81 , auf ihre Nachricht reagiert. Für Léna scheinen sich damit völlig neue Perspektiven zu eröffnen, die von der Erzähl‐ instanz in einer dreigliedrigen Steigerung räumlicher Metaphern skizziert werden: „L’horizon était libre, la voie ouverte, et tant d’espace lui faisait peur, 3.2 „Nation par Barbès“ 167 82 Ebd. - Zum Kontext vgl. S. 136 f. 83 Ebd., S. 139. - Zum Kontext vgl. S. 138 f. 84 Ebd., S. 10. 85 Ebd., S. 11. 86 Vgl. ebd., S. 37. 87 Vgl. ebd., S. 9: […] le village de ses parents […] la désespérait par son isolement […] tout n’était que stagnation […] 88 Ebd., S. 29. 89 Ebd., S. 58. 90 Ebd., S. 31. tout à coup, à elle qui avait l’habitude de marcher à pas comptés sur une bande de terre étroite.“ 82 Auf die spontan aufkommende Begeisterung folgen vage, böse Vorahnungen, die, wie die von der Mutter am Abend des nächsten Tages gestellten „[…] ques‐ tions insidieuses […]“ 83 beweisen, keineswegs unbegründet sind. Die Bulgarin Aniela unterscheidet sich zwar bzgl. ihrer Herkunft und Le‐ bensweise recht deutlich von der gleichaltrigen Léna, ist ihr jedoch auch in mancherlei Hinsicht ähnlich. Da sie seit ihrer Kindheit den Wunsch hegte, nach Frankreich, „[…] vers un pays de rêve […]“ 84 , aufzubrechen, war es für sie selbst‐ verständlich, Französischlehrerin zu werden. Beim Erlernen der französischen Sprache, also auf dem Weg zu ihrem Berufsziel, überwand sie mühelos „[…] tous les obstacles […]“ 85 . Sie lebte drei Jahre in einem spartanisch einfach eingerich‐ teten Zimmer in einem Heim für Mädchen in der an der Donau gelegenen Großstadt Ruse, 86 bevor sie sich bei einer Busreise nach Frankreich in Paris von ihrer Reisegruppe absetzt. Obwohl Aniela - im Unterschied zu Léna - nicht in einer Großstadt, sondern in einem Dorf aufgewachsen ist, in dem ihre Eltern noch immer einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschaften, litt sie in ihrer Kindheit und Jugend unter der das dortige Leben kennzeichnenden Stagnation und Isolation, 87 mithin unter Zuständen, die unter anderen Voraussetzungen ebenfalls Léna belasten. Auch nach der Öffnung der Grenzen hält Aniela an ihrer Absicht fest, Bulgarien zu verlassen und nach Frankreich zu ziehen. Für sie ist Bulgarien „[…] un pays à l’abandon […]“ 88 bzw. „[…] un pays déshérité, un pays oublié de tous, oublié de Dieu […]“ 89 und Ruse eine Stadt „[…] d’une richesse passée […]“ 90 . Die Er‐ zählinstanz lässt Aniela in einem als Apostrophe an die politische Klasse for‐ mulierten Gedankenzitat ihre Verurteilung des alten Gesellschaftssystems und ihre Empfindungen in einer anklagenden Art und Weise zum Ausdruck bringen, die in ihrem Kern, dem Vorwurf der Freiheitsberaubung, an die - aus gänzlich anderen Umständen resultierenden - Befindlichkeiten Lénas erinnert: 3 Themenfeld II 168 91 Ebd., S. 27. 92 Ebd. S. 68. 93 Vgl. ebd.: Elle acquiesça en silence mais sentit la lame lui pénétrer le cœur, les diffé‐ rences, l’injustice du sort, qu’elle aimerait pouvoir dire d’un ton léger, et puis, ce n’est pas cher! 94 Ebd., S. 150, 151. - An anderer Stelle (S. 63) verweist das Ortsadverb „là-bas“ im positiven Sinne auf Frankreich. 95 Vgl. zu den Nachwirkungen des alten Systems ebd., S. 63: […] la France, patrie des droits de l’homme, et parmi ces droits, il y avait celui de partir […] de quitter un pays embourbé dans une phase de transition qui durerait encore des années, une ville où se dressait un Panthéon dont la coupole dorée continuait d’abriter de fausses gloires […] un pays où on ne savait pas à quelle distance du passé se placer […] 96 Ebd., S. 151. 97 Vgl. zum Kontext ebd., S. 9 f. und 29. Vous n’aviez pas le droit, avait-elle envie de crier, de nous emprisonner dans cette grisaille, cette noirceur déguisée en pompe, toutes les cérémonies, la glorification de l’héroïsme, y avez-vous vraiment cru ou n’était-ce que le masque de votre impuissance? 91 In einem anderen Kontext erinnert die Erzählinstanz an eine Begegnung Anielas mit französischen Touristen, die ihr erklärten, dass sie nach Reisen auf die Ba‐ learen und nach Griechenland Bulgarien als Ziel ausgewählt hatten, da sie es als warmes Land mit langen Stränden und zudem günstigen Preisen zu schätzen wussten. Aniela, die sich in diesem Moment als „[…] prisonnière à l’intérieur de terres reléguées à l’extrémité d’un continent […]“ 92 fühlte, vermochte auf diese oberflächliche, die „Ungerechtigkeit des Schicksals“ ignorierende Einschätzung ihres Heimatlandes nur mit stillschweigendem inneren Protest zu reagieren. 93 Ihre Abwendung von ihrer bulgarischen Heimat richtet sich daher keineswegs gegen ihr Land als solches, sondern gegen die dort - là-bas - 94 in der Vergan‐ genheit lange vorherrschende und noch immer nachwirkende, von ihr als heuchlerisch und verlogen empfundene Ideologie. 95 Ihre Begeisterung für Frankreich als ihr „pays de rêve“ bzw. eine „[…] terre mythique […]“ 96 wird indes auch nicht durch die ernüchternde Begegnung mit einigen mehr an ihren ei‐ genen materiellen Vorteilen als an der inneren Verfasstheit Bulgariens interes‐ sierten französischen Touristen geschmälert. Genauso wenig vermag ihre Fa‐ milie sie aufzuhalten, weil sie sich sowohl von ihrem Bruder als auch von ihren Eltern verraten fühlt. Dem Bruder wirft sie vor, noch vor ihr Bulgarien verlassen zu haben, um illegal in Italien zu arbeiten. Die Eltern kritisiert sie, weil sie den Bruder dabei finanziell unterstützt haben. 97 Anders als ihr Bruder, der in Italien 3.2 „Nation par Barbès“ 169 98 Ebd., S. 11. 99 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 63. 100 Ebd., S. 63 f. Zu den auf Paris und die Provinz bezogenen Beschreibungen vgl. insbe‐ sondere ebd. S. 28 f., 62-64. 101 Ebd., S. 31. 102 Vgl. ebd., S. 29: À Paris, les gens devaient être lumineux et fiers, forts de la certitude que donne un pays libre, indépendant depuis longtemps, un pays qui compte dans la marche du monde, elle les voyait se promener d’un pas tranquille, franchir les ponts sans se demander ce qu’ils trouveraient de l’autre côté, vivre à l’abri, sans manquer de rien. 103 Ebd., S. 63. 104 Ebd., S. 32. - Zum Kontext vgl. S. 31 f. 105 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 63. illegal als Mechaniker arbeitet, möchte sich Aniela nicht heimlich, sondern „[…] au grand jour […]“ 98 auf den Weg nach Frankreich machen. Angezogen fühlt sie sich von diesem Land, das sich vor allem durch „[…] l’image d’une patrie des droits de l’homme […]“ 99 auszeichnet, daneben aber durch die von der Erzählinstanz anhand vieler Beispiele bewusst klischeehaft beschriebene Attraktivität der französischen Hauptstadt und Provinz, durch die Aniela zu der Überzeugung gelangt „[…] qu’en France […] tout était fait, ac‐ compli, chaque chose à sa place“ 100 . Konsequenterweise repräsentiert für Aniela Paris noch vor Wien „[…] la véritable Europe […]“ 101 , und die dort lebenden Menschen stilisiert Aniela zu stolzen, selbstbewussten, sorglos und beschützt lebenden Lichtgestalten eines freien Landes von Weltgeltung. 102 Angesichts der Grobheit und Mediokrität der ihr in Ruse begegnenden Männer geht sie selbst‐ verständlich davon aus, in Frankreich „[…] l’amoureux dont parlaient les chan‐ sons […] celui qui correspondait à ses rêves […]“ 103 zu finden. Gleichzeitig mischt die Erzählstimme in die enthusiastische Aufbruchstimmung Anielas jedoch proleptische Signale einer zutiefst pessimistischen Erwartung. Bei der Beauf‐ sichtigung ihrer still arbeitenden Klasse erinnert sie sich an eine Strophe aus Lamartines Gedicht À Une Jeune Personne Qui Prédisait L’Avenir, die mit fol‐ genden Versen endet: Le destin n’a pour tous qu’une même réponse, L’oubli, le silence et la mort! 104 Und als sie, am Ufer der Donau stehend, sehnsuchtsvoll an die Seine und die herrschaftlichen Stadtvillen denkt, die als Zeugnisse einer glänzenden Vergan‐ genheit die Ufer säumen, erinnert sie sich an die folgenden Verse aus Lamartines Gedicht L’Isolement: Je parcours tous les points de l’immense étendue, Et je dis: Nulle part le bonheur ne m’attend. 105 3 Themenfeld II 170 106 Der Vater besitzt eine kleine Firma in der Pariser Gegend (vgl. Wajsbrot 2001, S. 88), die Mutter arbeitet nicht. Die Jason in Paris zur Verfügung stehende „chambre de bonne“ gehört zu „[…] deux ou trois chambres“ (vgl. ebd., S. 88 f., 103), die von den Eltern früher bewohnt wurden und ihnen nach wie vor gehören. Ebenso besitzen sie ein (Ferien-)haus in der Normandie (vgl. S. 116). 107 Vgl. dazu ebd., S. 21 f., 55, 85,117,146. 108 Ebd., S. 55 f. - Zur Unterscheidung zwischen den Funktionen von Sprache als „ergon“, als Verständigungsmittel, und „energeia“, als erkenntnisförderndes, eine Weltansicht vermittelndes Medium vgl. Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschen‐ geschlechts, hg. von Donatella Di Cesare, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schön‐ ingh 1998 (Humboldt 1998); s. insbesondere die Einleitung der Herausgeberin, S. 89-93. 109 Zu dem „séjour linguistique“ vgl. Wajsbrot 2001, S. 116. 110 Vgl. ebd., S. 14. 111 Vgl. ebd., S. 103. Jason als die einzige männliche Hauptfigur der Diegese entstammt - im Unter‐ schied zu Léna und Aniela - einer wohlhabenden Familie. 106 Seine ursprüngliche Absicht, an der Sorbonne Geschichte zu studieren, hat er zugunsten eines Eng‐ lischstudiums als Vorbereitung auf eine Dolmetschertätigkeit aufgegeben. Sein an mehreren Stellen der Diegese erwähntes Interesse an der Geschichte 107 sieht er jedoch auch in einem Sprachenstudium berücksichtigt, da er - wie Wilhelm von Humboldt - Sprache offensichtlich nicht nur als Verständigungsmittel, son‐ dern als ein erkenntnisförderndes, „Weltsicht“ vermittelndes Medium be‐ trachtet: „[…] car il aimait passer d’une langue à une autre, d’un univers à un autre, comme il pouvait voir le passé à l’aune du présent ou le présent à l’aune du passé.“ 108 Mit seiner Begeisterung für Fremdsprachen und für Geschichte sowie seiner Entscheidung, sein Sprachenstudium in England zu intensi‐ vieren, 109 ist Jason eher Aniela als Léna wesensverwandt. Während Aniela sich seit ihrer Jugend intensiv mit der französischen Sprache und Frankreich be‐ schäftigt hat, war Léna weder an Fremdsprachen noch an einem Studium inte‐ ressiert. 110 Jason bewohnt als Student in Paris eine seinen Eltern gehörende „chambre de bonne“ mit einem daran angrenzenden, von den Eltern als Rumpelkammer genutzten weiteren Raum, den er der verzweifelt nach einer Schlafgelegenheit suchenden Aniela auf unbestimmte Zeit zur kostenlosen Nutzung anbietet. 111 Zu den wenigen in den Text eingestreuten Angaben über die Beschaffenheit der Wohnung gehört die Beschreibung der spontanen Reaktion Lénas, als sie zum ersten Mal die Wohnung Jasons betritt: […] Léna eut un choc en découvrant la vue, le ciel restitué dont elle avait fini par oublier l’existence, à force de ne plus le voir, et c’était comme si l’immensité noire 3.2 „Nation par Barbès“ 171 112 Ebd., S. 145. 113 Die Funktionsbeschreibung „générateur de texte“ für die Métro in Nation par Barbès ist entnommen aus Oster 2009, S. 237-256; hier: S. 238. 114 Wajsbrot 2001, S. 7. 115 Marc Augé, Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Édi‐ tions du Seuil, 1992, S. 100, (Augé 1992). - Zum Begriff „Nicht-Orte“ s. auch Teresa Baquedano Morales 2012, S. 237-252, und Matei Chihaia, „Nicht-Orte“, in: Dünne / Mahler (Hrsg.) 2015, S. 188-195, (Chihaia 2015). 116 Augé 1992, S. 139. parsemée d’étoiles - mais où était la lune? - lui montrait la voie, lui disait l’horizon existe, il suffit de lever les yeux. 112 In der Wohnung Jasons öffnet sich für Léna, der jeglicher Blick zum Himmel von ihrer eigenen Wohnung aus versperrt ist, im wörtlichen und übertragenen Sinn der verloren geglaubte Horizont. Gleichwohl setzt die Erzählinstanz mit der eingefügten Frage nach dem (nicht erkennbaren) Mond, der für Léna Freiheit und Unabhängigkeit bedeutet, ein das traurige Ende der Beziehung zwischen ihr und Jason vorausdeutendes Signal. 3.2.2 Die Métro - ein klassischer „non-lieu“ als „générateur de texte“ 113 Le quai du métro ressemblait à un vaste débarcadère où venaient échouer ceux qui avaient embarqué pour un plus long voyage et qui se voyaient obligés d’interrompre leur périple pour une raison qui leur échappait. Des flots de gens se déversaient des escaliers, des rames qui arrivaient, repartaient, avec une cargaison insuffisante pour qu’enfin le quai se vide. 114 Das Ankommen und die Abfahrt von Zügen, das Ein- und Aussteigen der Pas‐ sagiere, Massen von Menschen auf den Treppen und Bahnsteigen, kurzum: eine alltägliche Transit-Situation - mit diesem allgemein vertrauten Bild der Métro eröffnet die Erzählstimme den Roman Nation par Barbès, in dessen Titel zwei Métrostationen, als Zielort und als Knotenpunkt, einen für die Diegese wich‐ tigen Streckenabschnitt markieren. Für den Anthropologen Marc Augé ist die Métro, wie z. B. auch Flughäfen, Supermärkte oder Autobahnen, ein „non-lieu“, ein Nicht-Ort, dem die entscheidenden Merkmale des Ortes fehlen: „Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, relationnel et historique définira un non-lieu.“ 115 Augé bezeichnet die Nicht-Orte als „[…] l’espace de la surmodernité […]“ 116 , also der „Übermoderne“, „[…] einer Spätphase und Steigerungsstufe der Mo‐ 3 Themenfeld II 172 117 Wolfram Nitsch, „Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart“, in: Andreas Mahler (Hrsg.): Stadt-Bilder. Allegorie - Mimesis - Imagi‐ nation, Heidelberg: C. Winter 1999, S. 305-321; hier: S. 306, (Nitsch 1999). 118 Augé 1992, S. 130. 119 Ebd., S. 134 f. 120 Vgl. ebd., S. 127 f. 121 Vgl. Oster 2009, S. 239. 122 Wajsbrot 2001, S. 7. 123 Ebd., S. 7. 124 Vgl. ebd., S. 8. derne, die durch eine Überfülle an Ereignissen, an Raum und an Sinn gekenn‐ zeichnet ist“ 117 . Für das einzelne Individuum bedeutet dies jedoch, dass „[l’]espace du non-lieu ne crée ni identité singulière, ni relation, mais solitude et similitude“ 118 . Den auf diese Weise abstrakt zum Ausdruck gebrachten Ge‐ gensatz zwischen den Nicht-Orten und den „anthropologischen“ Orten bringt Augé konkret auf den Punkt, indem er „[…] les réalités du transit […]“ und „[…] celles de la résidence ou de la demeure […]“ 119 gegenüberstellt. Der zutiefst per‐ sönlichen Beziehung der Bewohner zu einem „anthropologischen“ Ort entspricht ein quasi vertragliches Verhältnis der Nutzer zum Nicht-Ort, das - im Falle der Métro - durch den Kauf eines Fahrscheins in Kraft gesetzt wird. 120 Obwohl die ersten Sätze von Nation par Barbès die Erwartung wecken, dass der Roman ein der Theorie Augés entsprechendes Bild der Métro vermitteln wird, trifft dies nur in einem eingeschränkten, noch genauer zu definierenden Maße zu. In gewisser Weise ist nämlich auch der Analyse Patricia Osters zuzu‐ stimmen, dass Cécile Wajsbrot die Métro nicht im Sinne Augés als einen „[…] transitorischen sozialen Raum […]“, sondern als einen „[…] Ort des Erlebens von Geschichten“ inszeniert. 121 Die Métro wirkt zweifellos als „générateur de texte“, insofern sie nicht primär als ein Passagiere zu einem gewünschten Ziel beför‐ derndes Transportmittel, sondern vielmehr als ein Menschen zusammenführ‐ ender Ort dargestellt wird. Dies deutet sich bereits im ersten Kapitel an. Léna, die sich auf einem der wenigen zur Verfügung stehenden Sitzplätze niederge‐ lassen hat und durch die unablässige Bewegung - […] le mouvement inces‐ sant […] - 122 des Zuges angeekelt wird, kann, von einer Menschentraube ein‐ gekreist, nichts mehr sehen und steht auf, da sie eine ganz bestimmte Erwartung hegt: „[…] elle se releva, scrutant la foule à la recherche du visage qu’elle espérait et qui ne venait pas.“ 123 Und kurze Zeit später erfährt man, dass die enttäuschte Léna sicher ist, dass Jason nicht mehr kommen wird. 124 So wird Léna zwar zu‐ nächst als Teil einer anonymen Menschenmasse vorgestellt, dann aber aus ihr bewusst herausgehoben als eine Frau, die hoffnungsvoll auf eine nun auch na‐ mentlich genannte männliche Person wartet und offensichtlich davon ausgeht, 3.2 „Nation par Barbès“ 173 125 Ebd., S. 14. 126 Zum Palimpsestcharakter des Romans vgl. Oster 2009, S. 237 ff. 127 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. Wajsbrot 2001, S. 16. dass ihr dies in der Métro, die somit bereits zu Beginn der Diegese als ein Be‐ ziehungen anbahnender „Ort“ präsentiert wird, gelingen mag. Der Eindruck, dass Léna die Métro, nachdem sie Jason kennen gelernt hat, in veränderter Weise erlebt, wird im Verlauf der Erzählung durch die Schilderung der Annäherung zwischen den beiden konsequent verstärkt. Als sie bei ihrer zweiten Begegnung auf der abendlichen Heimfahrt nebeneinander sitzen, pro‐ voziert die Einfahrt des Zuges in einen Tunnel in Lénas Gedankenwelt die fol‐ gende Assoziation: „[…] et tandis que le métro pénétrait dans le tunnel, délais‐ sant la lumière, Léna se demanda où allait sa vie.“ 125 Ihr Nachdenken über ihre eigene Zukunft scheint sich in der Finsternis des von der Métro durchquerten Tunnels zu verlieren. Léna wird sich jedoch auch eines grundlegenden Wandels ihrer täglichen Métro-Erfahrungen bewusst, den die Erzählstimme in einer die Ambivalenz ihrer Empfindungen ingeniös beschreibenden Art und Weise wie‐ dergibt. In einem sich über dreiundzwanzig Zeilen erstreckenden, aber nur aus zwei hypotaktisch konstruierten syntaktischen Perioden bestehenden Passus werden die von Léna bei der Nutzung der Métro durchlittenen Schrecken und Ängste detailliert beschrieben. Exakt in der Mitte des Absatzes werden die durch die endlos langen, düsteren Gänge der Station Stalingrad evozierten Vorstel‐ lungen eines die Einwohner von Paris verschlingenden Ungeheuers erwähnt. Während sich in der verästelten Syntax die spinnenartige Vernetzung der un‐ terirdischen Gänge widerspiegelt, evoziert der Name der Station, ähnlich wie Nation und Barbès, palimpsestähnliche historische Erinnerungen, in diesem Fall an eine der grausamsten Schlachten des zweiten Weltkriegs. 126 Dass Léna ihre täglichen Métrofahrten gleichwohl in einer grundsätzlich anderen Stimmungs‐ lage absolviert, signalisiert die Erzählinstanz an drei markanten Stellen: Nachdem sie zu Beginn des Absatzes feststellt: „Désormais, le métro était ha‐ bité […]“, erklärt sie am Ende der ersten syntaktischen Einheit: „[…] entre Mon‐ ceau et Barbès, Léna entendait l’écho des paroles de Jason, revoyait son sourire.“ Die zweite Hälfte eröffnet sie mit einer nur durch das Adverb „Même“ am Satz‐ anfang angedeuteten Veränderung jener bislang von den „[…] couloirs sans fin de la correspondance de Stalingrad“ ausgehenden Wirkungen, um erst in dem an das Ende der Periode platzierten Hauptsatz Lénas „neuen“ Blick auf die Métro zu erläutern: „[…] le trajet fastidieux s’estompait et la monotonie des allées sou‐ terraines rectilignes ou de leurs virages soudains qu’elle connaissait par cœur se trouvait illuminée de l’éclat de leurs retours ensemble.“ 127 3 Themenfeld II 174 128 Ebd., S. 45. 129 Ebd., S. 24. Die Bekanntschaft mit Jason führt bei Léna indes keineswegs zu einer Ein‐ buße an Sensibilität. Als nach dem gewaltsamen Tod eines Bediensteten der RATP (Régie autonome des transports parisiens) ein Schuldiger unter den Schwarzhändlern gesucht wird, ist Léna entsetzt, da sie es für absurd hält, dass diese als Täter in Frage kommen. Sie sieht in den Verdächtigungen vielmehr ein Zeichen der […] pollution […] des pensées qui s’exprimaient dans la rue, les cafés, les bureaux, et des pensées qui ne s’exprimaient pas mais qui suivaient leur cours comme un fleuve souterrain qui soudain voit le jour et ressort, à la surprise des géographes, comme les gens s’étonnent qu’advienne une dictature alors qu’il suffit d’écouter et de regarder […] 128 Der als Gedankenbericht Lénas gestaltete Textabschnitt ist in seiner Bildhaftig‐ keit sehr stark durch die verborgene Welt der Métro beeinflusst. In ihrer Vor‐ stellung sammelt sich das gewaltige Potential schädlicher Gedanken, die Men‐ schen in ihrem Alltag austauschen, in einem unterirdischen Fluss, der, sofern man versäumt, „hinzuhören“ und „hinzuschauen“, unversehens ans Tageslicht hervortreten und verheerende Wirkungen zeitigen kann, die durch das wie ein Schreckbild wirkende Beispiel einer Diktatur konkret veranschaulicht werden. Die Konsequenzen, die sich für Jason aus seiner Bekanntschaft mit Léna er‐ geben, werden ebenfalls durch Hinweise auf seine Einstellung zur Métro ange‐ deutet. Wenn die Erzählstimme die Strecke über sieben Stationen zwischen Barbès und Monceau, die Léna und Jason gemeinsam zurücklegen, aus der Per‐ spektive Jasons als „[…] chemin initiatique“ 129 bezeichnet, so mag man dieses Bild in erster Linie als angemessenen Ausdruck eines sich zwischen den beiden anbahnenden Verhältnisses verstehen. In ihrem Kontext bringen diese Worte jedoch zugleich Jasons wachsendes Verständnis für das auf ihn zunächst be‐ fremdlich wirkende Verhalten Lénas zum Ausdruck. Angesichts der Unsicherheit, mit der Léna auf seine Avancen und sein Werben reagiert, übt sich Jason im Warten. Im Kontext der Diegese kann sein Warten auf die Métro nicht selten als eine Anspielung auf sein Warten auf Léna einge‐ schätzt werden, insbesondere dann, wenn auf die Konfrontation mit der Dun‐ kelheit Zeichen des Lichts folgen: Jason attendait le métro depuis un temps qui paraissait anormalement long […] Il regarda dans l’obscurité du tunnel, d’un côté, de l’autre, scrutant au-delà du visible 3.2 „Nation par Barbès“ 175 130 Ebd., S. 20. 131 Ebd., S. 184. 132 Vgl. ebd., S. 122. 133 Vgl. zu diesem Thema ebd., S. 56 f. dans l’espoir d’apercevoir la lumière rassurante des deux phares, d’entendre le grondement familier du moteur, mais rien ne venait. 130 Der ehrgeizige Versuch Jasons, jenseits des Möglichen - au-delà du visible - das „beruhigende Licht“ der zwei Scheinwerfer zu erkennen, mag als Indiz dafür gelten, dass sich seine Hoffnungen nicht auf die Ankunft des Zuges be‐ schränken, sondern in ungleich stärkerem Maße auf Lénas Kommen bezogen sind. Beachtung verdienen die „deux phares“ und das wie eine Bedrohung wir‐ kende, durch das Epitheton „familier“ gleichwohl abgemilderte „grondement du moteur“ indes noch aus einem anderen Grund. Berücksichtigt man, dass die Erzählstimme an die oben zitierte Passage in indirekter und erlebter Rede eine Reflexion Jasons über die Motive für die sich oft in der Métro ereignenden Su‐ izide anschließt und die „deux phares“ in der Suizidszene am Ende der Diegese mit den „deux yeux jaunes“ 131 eines zuvor mit einem Monster assoziierten We‐ sens 132 verglichen werden, dann lassen sich die oben zitierten Zeilen, sofern sie in ihrem Kontext betrachtet werden, im Sinne eines „hermeneutischen Zirkel‐ schlusses“ durchaus als ambivalenter Ausdruck der Hoffnung einerseits und eines proleptischen Hinweises auf nahendes Unglück andererseits lesen. Über die Figur des historisch interessierten und gut informierten Jason ver‐ mittelt die Erzählinstanz Einblicke in die Geschichte der Métro, die nach einem ersten Leseeindruck nicht im Zusammenhang mit der Diegese zu stehen scheinen, aber sehr wohl auf sie bezogen sind. Erinnert wird, aus dem Blick‐ winkel Jasons, an die Entstehung der Métro, die nach den ursprünglichen Plänen des Staates an das bestehende Eisenbahnnetz angeschlossen werden sollte. Dies scheiterte jedoch am Widerstand der Stadt Paris, die unbedingt das Einströmen einer großen Masse von „banlieusards“ in das Stadtzentrum verhindern wollte und aus diesem Grunde darauf bestand, für die Métro einen anderen Gleisab‐ stand zu wählen und ein separates unterirdisches Verkehrsnetz zu schaffen, das die über der Erde befindlichen Verbindungslinien nachahmte. Ähnliche Wider‐ stände habe es noch einmal bei der Verbindung mit den neuen Linien des RER (Réseau express régional) in dem großen unterirdischen Bahnhof der Halles ge‐ geben. 133 Die wiederholten Anstrengungen der Stadt Paris, eine Abschottung vor unerwünschten Eindringlingen zu erreichen, wirken im Kontext der Diegese wie ein historisches Echo auf den bereits im ersten Kapitel zu findenden Hin‐ weis, dass die Sitzplätze aus den Métrozügen entfernt worden seien „[…] pour 3 Themenfeld II 176 134 Ebd., S. 7. 135 Ebd., S. 85. 136 Vgl. dazu ebd., S. 96 f. 137 Ebd., S. 100. 138 Ebd., S. 101. 139 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. éviter que les sans-abri, les SDF , les clochards, ceux qui changeaient de nom selon les époques mais pas de vie, ne puissent venir s’y endormir“ 134 . Darüber hinaus verweisen sie auf das Schicksal Anielas, deren Bemühungen, in Paris eine neue Heimat zu finden, tragisch scheitern. In einem Gespräch mit Léna erklärt Jason ein anderes Detail des Métrosys‐ tems. Ursprünglich habe man nach dem Vorbild der Londoner U-Bahn eine „[…] ligne circulaire […]“ bauen wollen, dann habe man sich aber für „[…] deux semi-circulaires“ 135 entschieden. Eine Übertragung dieser Struktur eines Wege‐ netzes auf das Verhältnis zwischen Jason und Léna ist zwar keineswegs zwin‐ gend, aber angesichts der engen Verquickung der Entstehung und Entwicklung ihrer Beziehung mit der Métro doch naheliegend: So wie sich „deux lignes semi-circulaires“ berühren und ergänzen, von ihrem Namen her jedoch einen Status der Selbstständigkeit suggerieren, so finden Jason und Léna zwar in einem „Komplementärverhältnis“ zueinander, ihre Beziehung reift dabei jedoch nicht zu jener Ganzheit und Vollkommenheit, die durch die Form eines Kreises dar‐ gestellt wird. Als Aniela sich von ihrer Reisegruppe absetzt, steigen in ihr - zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer - Erinnerungen an ihre - nicht allzu zahlreichen - Landsleute auf, die einst versucht haben, den Eisernen Vorhang zu über‐ winden. 136 Mit dem Gefühl „[…] d’être la seule à être seule […]“ 137 sucht sie nach Orientierung, um dabei festzustellen, dass es ihr nicht gelingt „[…] la ville du dessus et celle du dessous […]“ 138 in einer einheitlichen Schau zu erfassen. Zwi‐ schen den „zwei Welten“ scheint es - trotz aller Treppen und Rolltreppen - keinen wirklichen Übergang, keine Vermittlung zu geben, sodass sich in ihr der zutiefst erschreckende, die „Grundlagen des Lebens“ - [le]fondement de la vie - in Frage stellende Eindruck verfestigt „[…] que les uns - à ciel ouvert - se pro‐ menaient, heureux de vivre tandis que les autres - dans les tunnels - étaient accablés, asservis“. 139 Damit korrespondiert die Beobachtung, dass […] la ville entière signifiait ce mélange de terreur et d’attrait, avec ses quartiers riches et ses quartiers pauvres, avec ses règles secrètes indéchiffrables, une alternance de certitudes et d’inquiétudes, la beauté des monuments témoins du passé comme cet arc de triomphe qui l’avait fascinée, la pierre blanchie, et d’autres murs plus gris, couverts 3.2 „Nation par Barbès“ 177 140 Ebd., S. 122. 141 Vgl. dazu ebd., S. 105. 142 Ebd., S. 188. 143 Vgl. dazu ebd., S. 172 ff. 144 Ebd., S. 180. d’inscriptions jetées à la peinture comme des hiéroglyphes, signes d’une époque difficile à comprendre, la ville entière mais le métro en était la quintessence. 140 Für Aniela ist die auf den ersten Blick wahrnehmbare Vielgestaltigkeit der Stadt Paris mit ihren Gegensätzen zwischen reichen und armen Stadtvierteln, den in hellem Stein ihre Schönheit zur Schau stellenden Zeugnissen der Vergangenheit auf der einen und den von unverständlichen Graffiti bedeckten Häuserwänden auf der anderen Seite ein Faszinosum. Das Wesentliche, „la substantifique moelle“ im Charakter der Stadt entdeckt sie jedoch in der Métro, jenem Ort, an dem sie, die aus der Heimat des Orpheus stammt, auf Jason trifft, dessen Name an den mythischen Helden erinnert, der - gemeinsam mit Orpheus - das Gol‐ dene Vlies von Kolchis nach Thessalien zurückgeholt hat. 141 Die Métro erscheint ihr nach einem Blick auf den Streckenplan wie ein Spinnennetz, das sich unter der Stadt tentakelhaft in alle Richtungen ausbreitet. Die rhizomatische Struktur der Métro, die Verbindungsmöglichkeiten zwischen allen Stationen garantiert, relativiert daher die Bipolarität zwischen Arm und Reich, zwischen einer in imponierenden Denkmälern und Bauwerken idealisierten Vergangenheit und einer durch Obdachlose und Illegale personifizierten Gegenwart. Sie schafft auf diese Weise auch die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass sich drei Men‐ schen mit so unterschiedlichen Biographien wie Jason, Léna und Aniela be‐ gegnen können. Die rhizomatisch-spinnennetzähnliche Struktur der Métro zeichnet sich je‐ doch auch auf dem tragischen Höhepunkt der Handlung ab. Im Moment des von Aniela in tiefster Verzweiflung gewählten Todes tritt an einem Ort permanenter Bewegung in sich überkreuzenden Richtungen ein Moment der Erstarrung ein, die nicht auf den begrenzten Bereich eines Bahnsteigs beschränkt bleibt, son‐ dern sich auf das ganze „Netz“ ausbreitet: „La mort d’Aniela atteignait d’autres lieux que cette portion de rail où elle avait vu son corps recroquevillée, elle s’étendait à toute la ligne, à l’ensemble du réseau […].“ 142 Zuvor hat eine vor einer Métrostation stattfindende zufällige Begegnung zwischen Léna und Aniela jedoch eine gewisse emotionale Nähe zwischen den beiden Frauen herbeigeführt. 143 Nachdem Aniela, allein gelassen und tief ent‐ täuscht über die Indifferenz, die Jason nach der gemeinsam verbrachten „nuit de douceur“ 144 ihr gegenüber an den Tag gelegt hat, in der Métro von vier grün 3 Themenfeld II 178 145 Ebd., S. 122. 146 Vgl. ebd., S. 184: […] elle ne supportait rien, plus rien, comment faisaient les gens pour vivre, comment arrivaient-ils à prendre le métro, elle n’y arriverait plus, plus jamais […] 147 Ebd., S. 174. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 184. Zum Kontext vgl. S. 180-184. uniformierten Kontrolleuren nach ihrem Fahrausweis, ihren Papieren und ihrer Adresse gefragt worden ist, ergreift sie in ihrer Angst vor einer Festnahme die Flucht. Die von ihr zunächst als „la quintessence de la ville“ 145 geschätzte Métro empfindet sie inzwischen mit den Kontrollen, die, wie sie meint, einen Mangel an Vertrauen ausdrücken, als genauso unerträglich wie die Vorstellung, in ihre Heimat zurückzukehren. So hat sie einen Punkt erreicht, an dem sie „nichts mehr erträgt“ 146 . Die Gründe für diese extreme Verletzlichkeit analysiert Léna sehr klar, nachdem Aniela ihr angekündigt hat, dass sie ihre Eltern anrufen werde, um deren Stimme zu hören. Auf die Ankündigung Anielas: „Je vais les ap‐ peler […] Chez nous, c’est déjà le soir“ 147 lässt die Erzählstimme das folgende auf Léna bezogene Gedankenzitat folgen: Léna hocha la tête […] ces quelques mots, chez nous, lui avaient fait entrevoir à la fois la place d’Aniela dans une autre vie, son insertion dans un pays dont elle n’avait aucune image, aucune idée, mais qui existait autant que le sien, et son absence de place ici, le sens du mot déracinement, les faux-semblants du mot transplantation, la difficulté du départ […] 148 Angesichts des Scheiterns all ihrer Bemühungen, sich in ihrer Wahlheimat Paris einzuwurzeln, assoziiert Aniela beim Herannahen des Zuges in ihrer tiefen Ver‐ zweiflung und Verlorenheit die von zwei Scheinwerfern beherrschte Vorder‐ front der herannahenden Lokomotive mit einem Gesicht mit zwei großen gelben Augen, und es scheint, als ob sie von ihnen wie von einer unwiderstehlichen Macht angezogen würde: „[…] elle les regardait, hypnotisée, ils étaient tout près, une force l’attirait vers eux, une poussée, un vertige.“ 149 Aniela überschreitet damit die Grenze zwischen Leben und Tod, nachdem sie ihre Heimat aufgegeben hat und in ihrem „Traumland“ nie wirklich „angekommen“ ist. So präsentiert sich die Métro am Ende der Diegese als ein Ort, der Begeg‐ nungen herbeigeführt hat, zugleich aber zum Fokalisationspunkt der Anony‐ misierung und Indifferenz der Gesellschaft sowie zum Schauplatz eines tragi‐ schen Einzelschicksals und einer gescheiterten Beziehung geworden ist. So makaber es ist, bleibt festzustellen, dass die Métro damit letztendlich doch auch wieder zu einem Ort des Transits, zu einem „Nicht-Ort“ geworden ist. 3.2 „Nation par Barbès“ 179 150 Ebd., S. 122. 151 Ebd., S. 106. 152 Ebd., S. 13; vgl. auch S. 73, 98, 176. 153 Vgl. ebd., S. 46: Ils se donnèrent rendez-vous à la sortie du métro vers six heures et demie, Léna partirait plus tôt du bureau […] ce qui leur permettrait de se promener un peu dans le parc Monceau comme Jason l’avait proposé plusieurs fois. 154 Vgl. ebd., S. 73: Alors qu’ils se trouvaient à nouveau devant les grilles de ce parc qui semblait délimiter un domaine interdit, Jason la regarda encore, et elle baissa les yeux. 155 Ebd., S. 50. 156 Ebd., S. 51. 3.2.3 Der Parc Monceau - ein heterotopisches Refugium in der „ville du dessus“ Der 1769 eröffnete Parc Monceau hat in dem langwierigen Prozess der Annä‐ herung zwischen Jason und Léna, aber auch für die in Paris angekommene, nach Orientierung suchende Aniela eine bedeutende Funktion. Er stellt in der „ville du dessus“ eine Gegenwelt zu der mit einem „[…] antre mystérieux d’un monstre […]“ 150 verglichenen Métro der „ville du desssous“ dar. Mit seinen Nachbauten fremdländischer Architekturbeispiele, seiner „[…] nature artifici‐ elle […]“ 151 und seiner „[…] grille monumentale […]“ 152 hebt er sich deutlich von der ihn umgebenden städtischen Umwelt ab. Jason gelingt es erst nach mehreren Versuchen, Léna zu einem gemeinsamen Besuch des Parks zu bewegen, 153 der von der Erzählstimme als „abgegrenzter, verbotener Bezirk“ 154 bezeichnet wird und somit eindeutig eine heterotopische Insel in der Pariser Stadtlandschaft bildet. Léna betritt mit Jason einen Ort, den sie als Kind ausgiebig besucht und schließlich gehasst hat, da sie „[…] les limites étroites qui venaient se confondre avec l’ennui et les limites de sa vie […]“ ebenso wenig ertrug wie „[…] les ruines mensongères et les statues anonymes ou porteuses de noms oubliés […]“ bzw. „[…] les petites filles sages en jupe plissée et les garçons en culotte courte signe d’une appartenance sociale qui l’avait toujours blessée parce qu’elle en était exclue […]“. 155 Wie bereits in der Métro erlebt sie jedoch auch im Parc Monceau, dass sich ihr Blick auf die Welt im Beisein Jasons verändert, also ein ihr aufgrund seiner räumlichen Enge und seines Mangels an Authentizität verhasster und darum lange Zeit gemiedener Ort zu einem begehrten Refugium werden kann: „[…] toute cette vision, tandis qu’elle marchait avec Jason, s’était évanouie pour faire place à un sentiment de bonheur et de reconnaissance envers la vie qu’elle voyait comme une récompense pour avoir supporté les longues années d’ob‐ scurité.“ 156 3 Themenfeld II 180 157 Vgl. ebd., S. 117. 158 Ebd., S. 118. 159 Vgl. ebd., S. 107. 160 Ebd., S. 133. 161 Zum Kontext vgl. ebd., S. 106 f. Jason ist sich seines Einflusses auf die ihm rätselhaft und verschlossen er‐ scheinende Léna bewusst und sieht sich daher in der Rolle des Orpheus, wobei er allerdings beansprucht, sich auf der Suche nach Eurydike-Léna umwenden zu dürfen. 157 Als er, von erotischen Wünschen erfüllt, mit Léna „[…] dans la partie la plus sauvage du parc Monceau […]“ vordringt, wird er, stark verunsi‐ chert, von zwiespältigen Gefühlen heimgesucht: […] tout semblait aventure, et ces allées étroites auraient pu mener jusqu’au cœur de la jungle tant Jason se sentait en pays inconnu, dans une contrée où chaque pas était une découverte, mais une découverte à deux voies, l’une allant vers le bonheur, l’autre vers le malheur. À cet instant, par exemple, il aurait été incapable de dire à quoi elle pouvait penser, sur laquelle des deux voies elle cheminait, tant son visage était impénétrable, lointain. 158 Das dschungelhaft-unzugängliche Ambiente des Parc Monceau wird als eine Spiegelung jenes undurchdringlichen Gesichtsausdrucks Lénas beschrieben, den Jason nicht zu deuten weiß. So wähnt er sich bei seinem Versuch, Léna zu verstehen und so zur Erkenntnis über die weitere Richtung seines Lebensweges zu gelangen, auf einer abenteuerlichen Entdeckungsreise, die, wie er zu ahnen scheint, ihn alternativ ins Glück oder Unglück führt. Leichte Anklänge an die Geschichte vom Baum der Erkenntnis im Buch Genesis (Kapitel 2 und 3) sind nicht zu überhören und werden noch deutlicher wahrnehmbar, wenn man auch Anielas Reaktionen auf den Parc Monceau berücksichtigt. Nachdem sie mit Jason durch den Park flaniert ist und seine Einladung in ein Café angenommen hat, stellt sie sich selbst in einer teilweise als „discours indirect libre“ wieder‐ gegebenen Reflexion die Frage, ob sie sich „au paradis“ befinde. 159 Und aus einem anderen Kontext wird ersichtlich, dass der Parc Monceau für sie durch ihre „[…] promenade avec Jason dans les allées de sable […]“ schließlich „[…] un lieu par‐ ticulier, le symbole du ressourcement, un endroit bienfaisant […]“ 160 geworden ist. Schließlich ist sie auch davon überzeugt, dass Jason ihr mehr als nur mate‐ rielle Hilfe bieten möchte, d. h. ein erotisches Interesse an ihr haben könnte. 161 Sowohl für die Beziehung zwischen Jason und Léna als auch für das Verhältnis zwischen Jason und Aniela wird der Parc Monceau somit zu einem Ort, der erotische Wünsche verstärkt, Zukunftshoffnungen weckt und zugleich Ent‐ scheidungen reifen lässt. In welchem Maße die Erzählstimme zudem die „grilles“ 3.2 „Nation par Barbès“ 181 162 Vgl. ebd., S. 176: À la sortie du métro Monceau, près des grilles du parc, tout à coup elle vit Jason […] ils furent dans les bras l’un de l’autre […] le monde était complet […] 163 Ebd., S. 177. 164 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd. 165 Vgl. ebd., S. 88: […] les grilles retombaient lourdement entre eux, noires et luisantes comme celles du parc, avec des pointes dorées auxquelles se déchirer […] 166 Ebd. 167 Ebd., S. 177. des Parc Monceau, also die den heterotopischen Charakter des Ortes unterstrei‐ chende Abgrenzung von der ihn umgebenden Stadt, symbolisch instrumentali‐ siert, illustriert die folgende Szene: Als Jason aus den Ferien zurückkehrt, Léna wiedersieht und beide in inniger Umarmung den Eindruck haben, dass die Welt sich für sie „vollendet“ habe, befinden sie sich bezeichnenderweise nicht im Parc Monceau, sondern in der Nähe der eisernen Gitterstäbe. 162 Einer spontanen Ein‐ gebung folgend, lädt Léna just in dieser Situation Jason in ihre Wohnung - […] l’appartement sombre […] - 163 ein, um diese Entscheidung, kaum dass sie ge‐ äußert war, auch schon zu bedauern. 164 Die symbolische Bedeutung der Gitterstäbe ist übrigens auch bereits in einem früheren Kontext hervorgetreten. Als Jason Léna - auf ihre Frage hin - nach einer gemeinsamen Métrofahrt über seinen familiären Hintergrund unter‐ richtet, wird ihr bewusst, dass sie und Jason durch eine hohe soziale Schranke voneinander getrennt sind. Die Erzählstimme veranschaulicht dies durch eine Anspielung auf die den Parc Monceau einfassenden schwarz leuchtenden Git‐ terstäbe mit ihren vergoldeten, aber Risse verursachenden Spitzen 165 und erin‐ nert damit an die abschreckende Wirkung, die der Park in seiner exklusiven und exkludierenden Wirkung als heterotopische Insel auf die junge Léna ausgeübt hat, um sie sodann lakonisch feststellen zu lassen: „Nous ne sommes pas du même monde […]“. 166 Die Erzählstimme weist mit der Abfolge der Handlungsorte und dem Hinweis auf die innere Unsicherheit Lénas auf die Fragilität ihres Glücks hin. Ihr Weg führt nicht mehr auf eine von der lähmenden Frustration ihres alltäglichen Le‐ bens abgetrennte Insel, sondern zurück in die höhlenhafte Dunkelheit einer Wohnung, in der nur noch „[…] quelques vestiges de sa vie indépendante […]“ 167 zurückgeblieben sind. 3.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung Die Bewertung des Ausgangs der unterschiedlich motivierten und ausgerich‐ teten Suchbewegungen Anielas, Lénas und Jasons erfordert eine differenzierte Betrachtung. So offensichtlich es ist, dass die drei Figuren unterschiedlichen 3 Themenfeld II 182 168 Ebd., S. 162. 169 Vgl. B 3.2.1, S. 171, Anm. 107. Semiosphären angehören, so evident ist es zugleich, dass es zwischen diesen Bereichen Überschneidungen und folglich gemeinsame Schnittmengen gibt. Als eindeutig „bewegliche Figur“ ist Aniela zu betrachten, die sich bewusst von ihrem Heimatland Bulgarien abwendet, das sich ihrer Meinung nach nur langsam und mühsam von den Fesseln des alten Regimes befreit und in ihr ein Gefühl des Gefangenseins auslöst. Den Schritt in die Illegalität nimmt sie in Kauf, um in ihr „Traumland“ zu gelangen. Weder der ihr von Jason zur Verfügung gestellte Raum noch die mit ihm verbrachte Zeit, nicht einmal die ihm von ihr angebotene emotionale und körperliche Nähe führt zu jener bescheidenen Form von Integration, von der sie, neben ihm liegend, träumt. Ihr Versuch, Jasons Panzer der Indifferenz zu durchbrechen, endet in einer sie demütigenden Er‐ niedrigung, die - aus Anielas Blickwinkel - in erlebter Rede in einem dreiglied‐ rigen, durch das anaphorische „elle“ verstärkten Parallelismus bitter ironisch zum Ausdruck gebracht wird: Comment dire, cela signifiait qu’il y aurait peut-être une place pour elle, pas celle qu’elle occupait maintenant, un strapontin dans le métro dont il fallait se lever dès qu’un peu de monde arrivait, mais une vraie, sur la banquette, dans le sens de la marche, d’où personne ne la délogerait. Elle avait une fonction, elle avait une utilité, elle gardait le sommeil de Jason […]. 168 Während sie die erste „Grenzüberschreitung“ (von Bulgarien nach Frankreich) in voller Freiheit und in klarem Bewusstsein vollzogen hat, folgt ihre „Flucht in den Tod“ einer gänzlich anderen Dramaturgie: Sie wird durch die Verquickung unglücklicher Momente: das allgemeine Verhalten einer in sich verschlossenen, Ausländer abweisenden Gesellschaft, die Verständnislosigkeit eines Kontrol‐ leurs und ihre eigene Panikreaktion in den Tod getrieben. Die Suche nach Frei‐ heit und persönlichem Glück einer am Ende ihres Weges physisch und psychisch erschöpften Frau ist auf tragische Weise gescheitert. Obwohl Léna und Jason beide in Paris aufgewachsen sind, gehören sie kei‐ neswegs ein und derselben Semiosphäre an. Die Lebensweise des Fabrikanten‐ sohns Jason unterscheidet sich einerseits aufgrund der stark divergierenden materiellen Voraussetzungen vom Alltag Lénas. Darüber hinaus differieren die Einstellungen der beiden: Jason ist aufgrund seiner fremdsprachlichen Kompe‐ tenz nicht ortsgebunden, sondern flexibel und - zumindest im landläufigen Sinn - beweglich und historisch interessiert. 169 Er scheint zudem keine Klas‐ senschranken zu kennen und scheut auch vor der illegalen Beherbergung 3.2 „Nation par Barbès“ 183 170 Vgl. ebd., S. 14f: […] elle avait enfin une place stable, du moins espérait-elle, il voulut savoir ce que c’était, rien de très intéressant, dit-elle, du secrétariat dans les bureaux d’une société commerciale qui allait se développer mais elle n’avait jamais pensé que l’essentiel, dans la vie, était le travail. 171 Vgl. ebd., S. 14: […] il lui restait du lycée de vagues souvenirs d’espagnol mais rien de l’anglais […] 172 Zitat ebd., S. 82 und 83; zum Kontext vgl. S. 82 ff. 173 Vgl. ebd., S. 142. 174 Vgl. Vgl. B 3.2.2, S. 174, und B 3.2.3, S. 180. 175 Ebd., S. 116. 176 Ebd., S. 137. 177 Ebd., S. 188. Anielas, einer unbekannten Ausländerin, nicht zurück. Wenn er die ihm von ihr angebotene emotionale und körperliche Nähe genießt, dann geschieht dies nicht um ihretwillen, sondern weil er selbst aufgrund seiner Probleme mit Léna Trost sucht. Dabei lässt er Aniela spüren, dass sie von ihm nur instrumentalisiert wird. So bleibt Jason eine ambivalente Figur. Trotz seines - unbestreitbaren - mit‐ menschlichen Engagements bleibt seine „innere Beweglichkeit“ durch sein aus‐ geprägtes Eigeninteresse in enge Grenzen eingeschlossen. Das Leben Lénas erschöpft sich bis zu dem Zeitpunkt, da sie Jason kennen lernt, in reiner Pflichterfüllung, nämlich der von ihr weder als sonderlich inte‐ ressant noch überhaupt als bedeutsam für ihr Leben empfundenen Arbeit als Sekretärin 170 und der sie gefangen nehmenden Fürsorge für ihre Mutter. Für die sich für Fremdsprachen nicht sonderlich interessierende Léna 171 zählt jedoch nicht „le grand départ“, sondern die Solidarisierung mit den „sans-papiers“, den illegal Eingewanderten, eine Haltung, die sie durch die Teilnahme an einigen zu Gunsten der illegalen Immigranten organisierten Demonstrationen unter Be‐ weis gestellt hat. 172 Und anders als der Amateursegler Jason, der gerne in einem Segeltörn als Solitärsegler wochenlang den Wellen des Ozeans trotzen möchte, um sich selbst zu beweisen, zieht Léna das nur selten erlebte Glück eines See‐ ufers, mithin eine überschaubare, sicher eingehegte Umgebung vor. 173 Obwohl die gegenseitige Zuneigung den Blick Lénas auf die Métro und den Parc Monceau zwischendurch verändert hat 174 und die „Zeit vor Léna“ auf Jason „[…] comme l’ombre d’une autre vie qui, une fois aperçue, ne pouvait plus s’oublier“ 175 wirkt, finden die beiden nicht wirklich zueinander, da sie, im Sinne Lotmans, nicht dieselbe Sprache sprechen. Der endgültige Bruch zwischen ihnen vollzieht sich, als Jason auf die Nachricht vom Tode Anielas zunächst fatalistisch mit der Frage „Que pouvait-on faire d’autre? “ und kurz darauf mit der Auffor‐ derung „Essayons d’oublier …“ 176 reagiert. Léna versteht die Haltung Jasons als Ausdruck des „[…] ultime abandon […]“ 177 . Diese Verurteilung Jasons wirkt wie 3 Themenfeld II 184 178 Ebd., S. 29. 179 Vgl. ebd., S. 174: Léna hat Aniela die von ihr erbetenen 200 F nicht geliehen, sondern geschenkt, um eine Fortsetzung ihrer Beziehung zu unterbinden. 180 Vgl. ebd., S. 188: […] elle voulait au moins conserver quelque chose, un souvenir […] une trace dans sa mémoire. 181 Aleida Assmann, Erinnerungsräume - Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt‐ nisses, München: Beck, 5 2010; zum Zitat und Kontext vgl. S. 33. ein Echo auf das als „pays à l’abandon“ 178 charakterisierte Bulgarien, das Aniela verlassen hat, um in Frankreich, der „patrie des droits de l’homme“, zu leben. Aus der Sicht Lénas kommt die jedes Gedenken an Aniela unterdrückende Re‐ aktion Jasons jener Verachtung und Vernachlässigung gleich, die Aniela mit ihrer bulgarischen Heimat assoziiert. Léna, die wegen ihres Verhaltens gegen‐ über Aniela selber von einem schlechten Gewissen geplagt wird, 179 möchte für sie zumindest einen Gedächtnisraum der Erinnerung bewahren. 180 Das Totengedächtnis, das Aleida Assmann als „[…] anthropologischen Kern“ 181 des „kulturellen Gedächtnisses“ bezeichnet, hat für Léna keine religiöse, wohl aber eine bedeutsame weltliche Dimension. Léna, in deren Ge‐ dächtnisraum auch die Erinnerung an ihren früh verstorbenen Vater weiterlebt, möchte einer Frau, die in dem „stagnierenden Frankreich“ keinen Platz gefunden hat und deren Hoffnungen und Erwartungen auch Jason und sie selbst aus un‐ terschiedlichen Gründen enttäuscht haben, eine letzte Würdigung erweisen. Der nach dem Tod Anielas eintretende Bewusstseinswandel der hochsen‐ siblen Léna drückt eindeutig „Bewegung“ aus, insofern ein Gespür für die Nöte der Anderen eine zwar nicht hinreichende, aber notwendige Voraussetzung dafür ist, die durch Indifferenz, Vorurteile und Voreingenommenheit aufgerich‐ teten gesellschaftlichen Barrieren, mithin jede Art von Xenophobie zu über‐ winden. So sind die Suche Lénas nach persönlichem Glück in einer Partnerschaft und ihre Hoffnung auf Befreiung aus der Enge ihres Lebensumfelds zwar ge‐ scheitert, ihre gewachsene Empathiefähigkeit jedoch bedeutet nicht mehr und nicht weniger als einen persönlichen Entwicklungsschritt. 3.2 „Nation par Barbès“ 185 182 Cécile Wajsbrot, Beaune-la-Rolande, Paris, Zulma, 2004, (Wajsbrot 2004b). - Folgende Rezensionen wurden eingesehen: Ghislain Cotton, „Le dégel des voix“, in: Le Vif/ L’Ex‐ press, 23 janvier 2004; Michaëlle Petit, „Coup De Cœur - Les saisons de Cécile Wajsbrot“, in: La Croix, 12 février 2004. 183 Vgl. Ette 2005; S. 57. - Als wichtige Veröffentlichungen zu Beaune-la-Rolande sind u. a. die in A 1.1.3, S. 35, Anm. 76, genannten Arbeiten von Katja Schubert zu nennen. Inso‐ fern inhaltliche Überschneidungen zwischen den dort genannten Aufsätzen bestehen, erfolgen Bezugnahmen vornehmlich auf Schubert 2007. 184 Ette 2005, S. 56. 185 Vgl. Foucault 2006, S. 324. 3.3 Beaune-la-Rolande 182 - Annäherung an einen literarischen Erinnerungstext Der 2004 erschienene literarische Erinnerungstext Beaune-la-Rolande ist zwar durch die Familiengeschichte Cécile Wajsbrots stark beeinflusst, gleichzeitig zeichnet er sich jedoch durch eine Amalgamierung biographischer und fiktio‐ naler Elemente aus, die den ausgeprägten Gestaltungswillen Cécile Wajsbrots erkennen lässt. Ottmar Ette weist daher zu Recht darauf hin, dass sich eine Gleichsetzung der Ich-Erzählerin mit der „realen Autorin“ verbiete. 183 Gleich‐ zeitig hebt er hervor, dass die „[…] Annäherung an das Thema des Lagers und der Judenverfolgung in Frankreich von unterschiedlichsten Bewegungsfiguren sowie von linearen wie zyklischen Zeitvorstellungen geprägt ist“ 184 . Dies ist da‐ rauf zurückzuführen, dass Beaune-la-Rolande in Cécile Wajsbrots Text in zwei unterschiedlichen Funktionen dargestellt wird: einerseits als Transitlager, in dem zwischen 1941 und 1943 in Frankreich lebende polnische Juden interniert waren, bevor sie in Vernichtungslager wie Auschwitz und Birkenau deportiert wurden, andererseits als „lieu de mémoire“, an dem in jedem Jahr jener Men‐ schen gedacht wird, die an diesem Ort unter dem nationalsozialistischen Terror und Rassenwahn gelitten haben. Dies bedeutet zugleich, dass sowohl das „his‐ torische“ Transitlager als auch der aktuelle „Erinnerungsort“ Beaune-la-Rolande als Heterotopien zu bezeichnen sind, die beide jeweils „in Verbindung mit zeit‐ lichen Brüchen [stehen]“, also einen „[…] Bezug zu Heterochronien […]“ haben. 185 Folgerichtig gedenkt die Ich-Erzählerin jener einmalig-linearen, ihren Großeltern aufgezwungenen Fahrt nach Beaune-la-Rolande im Mai 1941 sowie des gescheiterten Fluchtversuchs ihres Großvaters, andererseits thematisiert sie ihre eigene freiwillige, sich in jährlichen Zyklen wiederholende Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen, wobei aus einer Tagebuchnotiz hervorgeht, dass sie 1992 erstmals ohne ihre Großmutter an der Gedenkfeier teilgenommen 3 Themenfeld II 186 186 Wajsbrot 2004b, S. 11. 187 Foucault 2006, S. 320. hat. 186 Die unterschiedlichen Zeiten zuzuordnenden Handlungen werden im ganzen Text mit- und ineinander verschränkt. Da es sich bei Beaune-la-Rolande nicht um einen klassisch-fiktionalen Er‐ zähltext, sondern um einen persönlichen, stark biographisch geprägten, aller‐ dings zahlreiche narrative Elemente enthaltenden literarischen Erinnerungstext handelt, ist die dieser Studie für die Untersuchung literarischer Suchbewe‐ gungen zugrunde gelegte, auf Lotmans Modell der Raumsemantik basierende Analysemethode im vorliegenden Fall nur in begrenztem Umfang von Nutzen, obwohl der heterotopische Charakter des Ortes ihn als „Gegenort“ im Sinne Foucaults 187 ausweist und er somit von dem ihn umgebenden Raum „abgegrenzt“ ist. Im Hinblick auf die im Text ineinander verschränkten Zeitebenen und die dadurch bewirkten Unterschiede in der erzählerischen Sichtweise der Orte ist anzumerken, dass sowohl Beaune-la-Rolande als auch Auschwitz mit der Um‐ wandlung von einem Internierungsbzw. Vernichtungslager in einen „lieu de mémoire“ in ein in einem umfassenden Sinn gewandeltes Umfeld, in eine neue „Semiosphäre“ eingetreten sind. Beaune-la-Rolande ist - sowohl aus der historischen als auch aus der aktu‐ ellen Perspektive - ein Ort des zeitlich begrenzten Aufenthalts und zugleich ein „point de départ“ bzw. „générateur de mouvements“. Dabei ist zu berücksich‐ tigen, dass sich die Bedeutung der Begriffe „Aufenthalt“ und „mouvements“ mit dem Übergang von der historischen zur aktuellen Ebene der Betrachtung radikal ändert. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Analyse der Suchbewegungen er‐ geben sich daher aus der Überlagerung der Zeitebenen und der doppelten Funk‐ tion des Ortes Beaune-la-Rolande sowie der von dort ausgehenden „Bewe‐ gungen“. Die Untersuchung zielt vorrangig darauf ab darzustellen, in welcher Weise die handelnden Figuren in ihren Suchbewegungen durch die in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext zu betrachtenden Räume beeinflusst werden. 3.3.1 Beaune-la-Rolande - Annäherungen an einen Ort Die Ich-Erählerin eröffnet ihre Schilderung einer Reise nach Beaune-la-Rolande nicht mit einer Erinnerung an die Fahrt ihres Großvaters in die Gefangenschaft, vielmehr beschreibt sie eine Autofahrt von Paris nach Beaune-la-Rolande in einer Art und Weise, die eine so starke Unmittelbarkeit des persönlichen Erle‐ bens suggeriert, dass man als Leser meint, die Fahrt mitzuerleben und die Emp‐ 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 187 188 Wajsbrot 2004b, S. 7. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Vgl. zur Einleitung auch Ette 2005, S. 56; Schubert 2007, S. 171f; Schubert 2010, S. 115 f. 192 Wajsbrot 2004b, S. 7. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Ebd. 196 Vgl. ebd., S. 7f: Certes, il y a un nom inscrit sur les panneaux, une direction indiquée, mais je marche plutôt dans un désert, et ce départ ne ressemble pas aux autres. 197 Ebd., S. 8. findungen der Erzählerin teilen zu können. Präsentiert wird zunächst das Bild einer flachen, monoton und horizontal wirkenden Landschaft: „[…] un paysage monotone, plat, impitoyablement horizontal“ 188 . Ort und Zeit - […] et les années défilent comme des kilomètres […] - 189 scheinen miteinander zu verschmelzen. Die Bewegungsrichtung wird mit zwei knappen Ortsangaben (Chartres - Or‐ léans, Nantes - Bordeaux) bestimmt, der Sonntag als Tag überhaupt und der Sonntag als Reisetag werden als „[…] le pire des jours et ce dimanche, le pire des dimanches […]“ 190 abgewertet. Der Eindruck der Stille und Eintönigkeit der durchfahrenen Landschaft wird hervorgerufen durch das Zusammenwirken ge‐ schickt ausgewählter sprachlicher Mittel. Zu nennen ist an erster Stelle die hy‐ potaktische Struktur des ersten, einen Absatz von elf Zeilen umfassenden, endlos wirkenden Satzes. Die Ich-Erzählerin bedient sich hier ausschließlich des „présent“ und des in seiner Funktion als Zustandsbeschreibung verwendeten „passé composé“ - l’autoroute est devenue […] tout ce qui a changé - 191 . Zu Beginn des zweiten Absatzes markiert das Personalpronomen „Je“ 192 die Präsenz der Ich-Erzählerin, die sich ihres Unterwegsseins vergewissert - Je suis donc sur la route - 193 , als ob sie ihre in knappen Syntagmen vorgetragenen Beobachtungen während des Fahrens direkt in ein Diktaphon spräche. Dabei nimmt sie das Auto, in dem sie mitgenommen wird, nicht wahr. Zeitlich ist sie auf den mit einer bestimmten Kennzeichnung - un chiffre - 194 versehenen Tag und den Monat fixiert, nicht aber auf ein bestimmtes Jahr, was sich daraus er‐ klären mag, dass sie sich zu einer sich jährlich wiederholenden Veranstaltung begibt. Die durch die Landschaft vermittelte Stimmung korrespondiert mit ihrem eigenen Zeitempfinden und Lebensgefühl: „[…] l’étendue du temps - l’é‐ tendue de ma vie - me semble monotone, plate, impitoyablement horizontale.“ 195 Als ein durch Verkehrsschilder angezeigter, im Text nicht namentlich bezeich‐ neter Richtungswechsel in der Ich-Erzählerin die Vorstellung evoziert, durch die Wüste zu wandern, 196 ist im Erzählfluss ein Punkt erreicht, an dem zum ersten Mal eine aus der unmittelbaren Gegenwart - aujourd’hui - 197 erfolgende Re‐ 3 Themenfeld II 188 198 Ebd. 199 Vgl. dazu Ette 2005, S. 56 f., und Schubert 2007, S. 172 f. 200 Wajsbrot 2004b, S. 8. 201 Auf die von der Verfasserin möglicherweise beabsichtigte Echowirkung weist zum ersten Mal Ette 2005, S. 56, hin. Katja Schubert (Schubert 2007, S. 173) deutet Ettes Ent‐ deckung der Homophonie folgendermaßen: Die Variante „j’ai perdu la voie“ würde bedeuten, dass die Ich-Erzählerin orientierungslos geworden sei und sich nur „auf das Nichts, die Leere, dass Schweigen“ stütze. 202 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 11: Et j’ai pensé, dimanche, c’est vrai, Beaune-la-Rolande, je n’y suis pas mais au moins, je suis dans un train. 203 Ebd., S. 12. trospektive erfolgt. Signalisiert wird dieser Wechsel der Blickrichtung durch das - in einem kurzen Absatz von neun Zeilen zweimal wiederholte - Morphem „Voilà“ 198 , jenes Wort, mit dem die seit langem verstorbene Großmutter der Ich-Erzählerin offensichtlich in jedem Jahr ihre mit Beaune-la-Rolande zusam‐ menhängenden Erfahrungen resümierte, ohne dass sie, wie die Erzählerin ver‐ mutet, den Namen des Ortes jemals ausgesprochen hätte. 199 Die Erzählerin hat die Stimme - la voix - der Großmutter zwar längst „ver‐ loren“, aber doch „[…] une nuance abstraite et pourtant particulière“ 200 in ihrer Erinnerung bewahrt. Vielleicht handelt es sich dabei tatsächlich um das „Echo‐ wort“ zu „la voix“, nämlich das Homophon „la voie“, 201 das sie daran erinnert, sich regelmäßig auf den „Weg“ zu machen in jenen Ort, dessen Name nun zum ersten Mal im Text erscheint: Beaune-la- Rolande. In welchem Maße die Ich-Er‐ zählerin sich verpflichtet fühlt, aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit, die aus ihrer Bindung an die Großmutter erwächst, auch die „mémoire collective“ zu pflegen, geht aus den ersten beiden Tagebucheintragungen hervor: Als sie am 14. Mai 1991 aus einem nicht genannten Grund nicht an der Gedenkfeier in Beaune-la-Rolande teilnimmt, empfindet sie eine Zugfahrt zu einem nicht ge‐ nannten Ziel offensichtlich als einen angemessenen Ersatz für ihre Nicht-Teil‐ nahme. 202 Allein die Bewegung auf irgendein Ziel hin konnotiert sie - zumindest am Tag der Gedenkfeier - offensichtlich mit der in ihr mental präsenten Ver‐ anstaltung in Beaune-la-Rolande. Und ein Jahr später, am 18. Mai 1992, beob‐ achtet sie unter den ca. 200 teilnehmenden Personen zwar mancherlei Unter‐ schiede im Habitus, im Alter und der sozialen Herkunft, stellt jedoch gleichzeitig eine verblüffende Übereinstimmung fest: „Pourtant, chacun a sa vie et suit sa voie, faisant comme si, mais sur la route, il y a Beaune-la-Rolande, et tout le monde s’y retrouve, avouant au moins pour un jour dans l’année qu’existe une blessure qui ne se refermera pas.“ 203 (Hervorhebung H. H.) In welcher Weise sich der Abtransport ihres Großvaters nach Beaune-la-Ro‐ lande genau vollzog, hat die Erzählerin im Laufe der Jahre nur bruchstückhaft 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 189 204 Vgl. ebd., S. 8-10. 205 Ebd., S. 10. 206 Ebd., S. 30. Zum Kontext vgl. S. 30 f. 207 Ebd., S. 20. 208 Vgl. dazu S. 20 f. von ihrer Großmutter erfahren. So hat die Großmutter berichtet, dass sie, wie eine nicht genannte Zahl anderer Frauen, ihren Mann zu einem in einer Kaserne in der Nähe der Porte de Bagnolet stattfindenden Vorladungstermin begleitet hat, der einer „vérification d’identité“ diente und in ihr Misstrauen weckte. 204 Den vor dem Eingang wartenden Frauen wurde über eine Lautsprecherdurch‐ sage mitgeteilt, was sie zu tun hatten. Diese Anweisung hat die Erzählerin, ohne den exakten Wortlaut zu kennen, folgendermaßen übersetzt: „Rentrez chez vous. Allez chercher des affaires pour vos maris. Ils vont partir.“ 205 Gleichzeitig ver‐ mutet sie, dass ihr Großvater auch als Gefangener noch optimistisch war. Sollten die Gefangenen, was die Erzählerin nicht weiß, bei der Abfahrt durch die Fenster des Zuges geschaut haben, dann hätten sie sich eingeredet, dass auch das be‐ setzte Paris noch Paris war. An der Gare d’Austerlitz hätten sie schließlich re‐ gistriert, dass man nicht nach Deutschland, sondern gen Süden fuhr, was, wie die Erzählerin vermutet, auf ihren Großvater und seine Leidensgenossen zwar zunächst beruhigend gewirkt haben könnte, aber auch die Frage aufgeworfen haben dürfte: „[…] qu’avons-nous fait? “ 206 Die Eisenbahngleise, die in vielen Lesern eine spontane Assoziation mit einem Foto des vor den Eingangstoren des Lagers Auschwitz endenden Schie‐ nenstrangs wachrufen dürften, führten ebenfalls nicht, wie die Erzählerin la‐ konisch anmerkt, zu Ferienzielen, sondern in ein - in seiner Beschaffenheit kaum beschriebenes - Barackenlager, das zuvor Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg aufgenommen hatte. In einem Gedankenbericht versetzt sie sich in seine Lage: „Pour une raison mystérieuse, pensait mon grand-père, ils veulent nous éloigner, nous détacher, nous isoler du reste de la population, mais tôt ou tard, ils nous relâcheront.“ 207 In derselben Weise imaginiert sie die Mutmaßungen der Mitgefangenen des Großvaters. 208 Sie wälzen alle Schuld auf die deutsche Besatzungsmacht ab, obwohl die Vorladung durch die französische Polizei er‐ folgte. Frankreich scheint für sie noch immer ein Garant der Sicherheit zu sein, ist die revolutionäre Losung „Liberté, égalité, fraternité“, die seit der Dritten Republik immer stärker zur Leitidee des Staates wurde und in ganz Frankreich als Inschrift auf vielen öffentlichen Gebäuden angebracht ist, doch als eine Zu‐ sage von Rechtssicherheit auch in ihrer Vorstellung fest verankert. Wie ein Me‐ netekel künftigen Unheils spukt jedoch gleichzeitig die Losung der Vichy-Re‐ gierung „Travail, famille, patrie“ in ihren Köpfen herum. Aufschlussreich ist 3 Themenfeld II 190 209 Ebd., S. 46 f. Zum Kontext vgl. ebd. S. 46 f. 210 Ebd., S. 21. auch ein Abschnitt über den vom Großvater der Ich-Erzählerin und einem Mit‐ gefangenen unternommenen Fluchtversuch. Der Großvater geht in seinem Ver‐ steck auf dem Pferdefuhrwerk noch immer davon aus, dass es sich bei seiner Gefangennahme, der von ihm erlebten und erlittenen Trennung von seiner Fa‐ milie, um einen heilbaren Irrtum bzw. einen Alptraum gehandelt hat: Mon grand-père pense, si tout se passe bien, il va bientôt rejoindre sa femme et ses enfants, cent kilomètres les séparent, cent kilomètres mais un monde, un abîme, comme ceux qui traversent les villes en fourgon cellulaire, en ambulance, sont dans la même rue que les passants mais enfermés ou malades, ne peuvent les rejoindre, séparés par leur vie, mais ce cheval et cette charrette permettront peut-être aux deux mondes de se rejoindre. 209 Wenn man bedenkt, dass er als Ausländer für die Verteidigung seiner Wahl‐ heimat Frankreich noch im Jahre 1939 gekämpft hat, ist leicht nachvollziehbar, dass er, der aus Polen geflohene und in Frankreich um Integration bemühte Jude, den erlittenen Freiheitsverlust rational nicht versteht. In naiver Unschuld hofft er auf die Rückgewinnung seiner Freiheit, aber die von ihm nur 100 Kilometer getrennte Familie und die aus den Fenstern des Gefangenentransporters zu er‐ kennenden, sich frei bewegenden Passanten sind durch „eine Welt, einen Ab‐ grund“ von ihm getrennt. Ohne die innere Spaltung Frankreichs zu durch‐ schauen, hofft er - wider alle Hoffnung - auf eine Versöhnung zwischen der „Welt der Freiheit“ und der „Welt der Unfreiheit“. Über die Funktion und Verbindung des Lagers mit den Schreckensorten des systematisch betriebenen Völkermords, die dem unschuldig-ahnungslosen Großvater und seinen Gefährten im Moment ihrer Ankunft im Lager überhaupt nicht bewusst sein konnten, spricht die Erzählerin in sehr unterschiedlichen Tonlagen. Unüberhörbar ist eine gewisse innere Distanz zu den Erinnerungs‐ veranstaltungen, wenn sie folgendermaßen über Beaune-la-Rolande als erste Etappe auf dem Weg in den Tod spricht: „[…] une portion d’Europe centrale transplantée à cent kilomètres de Paris, un avant-goût, comment disent-ils, dans leurs discours, ah oui, l’anti-chambre de la mort.“ 210 Mit großer innerer Bewegung hingegen spricht sie über ihre ersten Besuche in Beaune-la-Rolande. Nach dem offiziellen Teil pflegte sie gemeinsam mit ihrer Mutter die hinter dem Gedenkstein noch erhaltenen Spuren des Lagers aufzu‐ suchen. Sie erinnert sich intensiv an ihre damaligen Empfindungen: 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 191 211 Ebd., S. 31. 212 Ette 2005, S. 56. Zu „Überlieferung und Genealogie“ vgl. auch Schubert 2001, S. 355-421, und Schubert 2010, S. 125 f. 213 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 10: Le début d’un voyage qui, ce jour où j’allais, une fois de plus, au rendez-vous de Beaune-la-Rolande, n’était peut-être pas terminé. Vgl. dazu auch Schubert 2007, S. 175. 214 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 16. Das repetitive Element wird auch durch die Wiederholung von „Beaune-la-Rolande“ zu Beginn fast aller Eintragungen unterstrichen. Vgl. dazu auch Schubert 2007, S. 176. 215 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 14. 216 Ebd., S. 13. 217 Vgl. ebd., S. 16. […] je devais avoir la peur des cauchemars, croire avancer sur un terrain miné - et c’est vrai, tous les terrains de la mémoire sont des terrains minés, le passé risque d’exploser à chaque instant - et j’avançais dans cette histoire, trop lourde pour moi, à pas comptés. 211 In welchem Ausmaß die Erzählerin „[…] eingesperrt und eingebunden in eine Genealogie [ist]“ 212 , deutet sie bereits am Ende des ersten Kapitels an. Durch die Fahrten nach Beaune-la-Rolande ist ihr bewusst geworden, dass die Vorladung des Großvaters in Paris den Auftakt einer Reise bildete, die - für die Familie - noch nicht beendet ist. 213 3.3.2 Von Beaune-la-Rolande nach Auschwitz - Orte der Identitätsstiftung Der Tagebucheintragung der Erzählerin von 1990 ist zu entnehmen, dass sie die seit 1964 geübte Praxis ihrer Familie, an den jährlichen Gedenkveranstaltungen in Beaune-la-Rolande „mit denselben Reden derselben Vereinigungen und der‐ selben Offiziellen“ teilzunehmen, als „[…] une absurde répétition […]“ emp‐ findet. 214 Im Mai 1996 notiert sie dann allerdings mit einem unverkennbaren Befremden, dass der neue Bürgermeister des Ortes in seiner Rede „technokra‐ tisch“ und durch den Gebrauch der Siezform „vous“ innerlich unbeteiligt ge‐ wirkt habe. 215 Zweimal trägt sie ein, dass ihr die Entscheidung, nach Beaune-la-Rolande zu fahren, im Laufe der Jahre zunehmend schwerer fiel, sie jedoch, sobald sie dort angekommen war, „[…] la justesse d’y être“ 216 empfand bzw. begriff, dass es nicht möglich war, nicht zu fahren. 217 In ihrer chronologisch letzten Eintragung vom Mai 1999 erklärt sie, in welcher Weise sich ihr Ver‐ ständnis der Veranstaltung gewandelt hat. Nicht mehr die Katastrophe der Ver‐ 3 Themenfeld II 192 218 Vgl. ebd., S. 15. 219 Die Tagebucheinträge sind nicht streng chronologisch geordnet. Hier gilt die Reihen‐ folge ihres Erscheinens im Text: 15 mai 1995: S. 13 f. und 12 septembre 1990: S. 15 f. 220 Ebd., S. 14. 221 Vgl. dazu die Beschreibung des gescheiterten Fluchtversuchs, ebd., S. 47. 222 Vgl. zu diesem Aspekt Schubert 2007, S. 177. 223 Vgl. dazu ebd., S. 177 f. 224 Wajsbrot 2004b, S. 20. gangenheit sei das gravierende Problem, vielmehr gelte es, sich der Gegenwart und Zukunft zuzuwenden. 218 Im Mai 1995 und im September 1990 219 spricht sie über ihren Großvater, der nach einjährigem Aufenthalt in Beaune-la-Rolande nach Auschwitz deportiert worden und dort gestorben sei. „Et cette mort le définit, ce destin. […] un évé‐ nement fondateur - une origine, au lieu du vide de tant de vies.“ 220 Dass die Erzählerin ihren Großvater durch den Tod in Auschwitz - den gewaltsamen Tod - „definiert“ sieht, erklärt sich aus der Schrecklichkeit des dort praktizierten, rassistisch motivierten Massenmordes. Durch das nachgeschobene „ce destin“ wird die Aussage zusätzlich in den Kontext seines Lebens gerückt. Er hat sich nicht nur, wie bereits in Abschnitt B 3.3.1 angedeutet, durch Freiheitsliebe und die Identifikation mit seiner Wahlheimat Frankreich ausgezeichnet, sondern bei seiner Flucht aus dem Lager Beaune-la-Rolande auch geweigert, zum Zweck seiner eigenen Rettung andere zu töten. 221 Der zweite Teil der Definition erklärt den Tod zu einem Gründungsakt, einem Ursprung, aus dem sich, wie erläuternd hinzuzufügen ist, bleibende Verpflichtungen für die Nachfahren ableiten. 222 Für die Erzählerin, die sich mit dem Schicksal der in Sangatte als „sans-papiers“ kasernierten Ausländer solidarisiert, 223 bedeutet dies, dass sie ihre eigene Exis‐ tenz mit Beaune-la-Rolande, d. h. mit dem Schicksal ihres Großvaters identifi‐ ziert: J’ai ce qu’il faut, mes papiers sont en règle mais je porte le nom de Beaune-la-Rolande, ni un nom de famille ni un lieu de naissance, ni une adresse, des syllabes sonores, faciles à prononcer, qui résonnent comme une annonce sur le quai d’une gare. 224 In dieser Erklärung ist der bewusste Verzicht auf den eigenen Namen und alle persönlichen Bezugsdaten auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar. Ver‐ ständlich wird diese Entscheidung im Licht der letzten Tagebucheintragung, in der die Erzählerin ihre Reise nach Auschwitz erwähnt und deren Nachwir‐ kungen auf ihr Leben beschreibt: J’ai l’impression de traîner un poids qui n’est pas le mien, une vie qui n’est pas la mienne mais dont l’ombre varie avec les heures. Je suppose qu’il y en a d’autres, je 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 193 225 Ebd., S. 16. 226 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd. S. 55. 227 Ette 2005, S. 58. 228 Vgl. zum folgenden Abschnitt Wajsbrot 2004b, S. 35-38. 229 Ebd., S. 36. 230 Ebd., S. 37. sais que nous sommes nombreux, je suppose que cette catastrophe était trop énorme pour pouvoir la supporter d’un bloc et qu’il a fallu la morceler entre les générations. 225 Angesichts des unvorstellbaren Ausmaßes der Verbrechen, für die der Name Auschwitz stellvertretend steht, ist die Verarbeitung des entstandenen Unrechts und Leids eine die Generationen übergreifende Aufgabe, in die sich die Erzäh‐ lerin nicht nur mit zahlreichen Nachfahren anderer Opfer auf der ganzen Welt teilt, in die sie vielmehr die ganze Menschheit einbeziehen will. Eben darum begreift sie Auschwitz, wo ihr Großvater bereits zwei Monate nach seiner An‐ kunft starb, nicht mehr (nur) als einen in Polen befindlichen „lieu de mémoire“: „[…] Auschwitz ne se trouve pas en Pologne, c’est un lieu indéfinissable qui est partout et nulle part.“ 226 Für die Erzählerin ist Auschwitz daher „nicht mehr ein‐ fach lokalisierbar, sondern ubiquitär“ 227 . Die Erfahrungen ihrer Reise nach Auschwitz als „lieu de mémoire“ hat die Erzählerin in zwei Tagebucheintragungen im Abschnitt À L’Est des dritten Ka‐ pitels festgehalten. 228 Sie beschreibt relativ ausführlich, welche körperlichen und seelischen Qualen die Annäherung an den Ort ihr bereitet hat: Sie leidet an Magenkrämpfen, die sie wie „[…] des coups de poignard […]“ 229 spürt. Die Ent‐ deckung, dass sie bei ihrer Reiseagentur für den Besuch in Auschwitz ein fal‐ sches Datum angegeben hat, deutet sie als Ausdruck ihres Wunsches, nicht dorthin zu fahren. Den Namen Saski ihres Krakauer Hotels vermag sie sich, trotz oder wegen der Ähnlichkeit mit dem Namen Sas ihres Großvaters, nicht einzu‐ prägen. In der Nacht vor der Fahrt nach Auschwitz wird sie von Alpträumen heimgesucht. Ihren Besuch der Lager Auschwitz und Birkenau fasst sie in z. T. stichwortartigen, syntaktisch unvollständigen Formulierungen zusammen: Auschwitz - et d’abord Birkenau, puis le film sur la libération des camps dans une salle pleine de lycéens polonais, puis le musée. Quel effet cela fait? Rien, rien du tout. La lumière crue du soleil de midi. Les montagnes de cheveux, tout de même, derrière la vitre - j’ai pris des photos machinalement, j’ai tout fait machinalement. 230 Dass die Erzählerin den Besuch der beiden Lager quasi „mechanisch absolviert“ hat und sie darüber nur in protokollarischer Kürze spricht, erklärt sich aus den Ängsten, mit denen sie der Konfrontation mit der Vergangenheit entgegenge‐ 3 Themenfeld II 194 231 Ebd., S. 38. 232 Der folgende Abschnitt B 3.3.3 lehnt sich an den Abschnitt mit derselben Überschrift in Schubert 2007, S. 178-180, an. 233 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 23-27. 234 Ebd., S. 26 235 Schubert 2007, S. 179. sehen hat. Auch kommt es ihr nicht einfach nur unangemessen, sondern „ab‐ surd“ vor, mit einem Taxi nach Auschwitz zu fahren, und ebenso „absurd“, es nicht zu tun. Dann jedoch spürt sie, dass die Wirkung der Begegnung mit dem dunkelsten Kapitel der Vergangenheit wie der Inhalt eines giftigen Infusions‐ tropfes langsam, aber stetig in ihr Inneres eindringt. Doch bereits bei der Rück‐ kehr in ihr Hotel ist sie mit der Banalität des Alltags konfrontiert, die in diesem Fall durch die Person einer gänzlich unsensiblen Hotelangestellten verkörpert wird: […] je sens l’horreur qui me pénètre goutte à goutte et va m’empoisonner lentement. Au retour, c’était la femme habituelle, à la réception. Et elle m’a demandé, Was [sic] Auschwitz OK? 231 3.3.3 Traumlandschaften 232 Eine gründliche Auseinandersetzung mit den sieben Traumberichten, die sich auf die Jahre 1991 bis 2000 verteilen, 233 würde ein psychoanalytisches Analyse‐ verfahren erfordern, das für diese Studie nicht vorgesehen ist. Da jedoch in allen Träumen Bewegung thematisiert wird, sollen an dieser Stelle insbesondere ei‐ nige diesbezügliche Beobachtungen aus einem Artikel von Katja Schubert (2007) zusammengefasst werden. Mit Ausnahme der vom 8. Juli 1997 datierenden Eintragung sind alle Traum‐ berichte auf Reisebewegungen unterschiedlicher Art bezogen. Die Ziele liegen fast alle im Osten, nur am 13. März 1992 träumt die Erzählerin von New York. Die im Osten liegenden Ziele sind Prag, Moskau, Auschwitz und Berlin. Wäh‐ rend die Ankunft in Prag, Moskau und Berlin durch unterschiedliche Umstände verhindert wird, erreicht die Erzählerin Auschwitz: „J’étais à Auschwitz.“ 234 Der Traumbericht über das Lager ist wesentlich detaillierter und konkreter als der in B 3.3.2 erwähnte Bericht über eine reale Reise. In Anlehnung an Sigmund Freuds Traumtheorie erklärt Katja Schubert diese Differenz damit, dass der Traum die „[…] Darstellbarkeit eines ansonsten Undarstellbaren […]“ 235 ermög‐ licht. Die Erzählerin wähnt sich, mit anderen, am Rande, vielleicht auch bereits in einem mit Wasser gefüllten Graben und damit in Gefahr, während die Besu‐ cher an ihr vorbeigehen. In der über ihre enge Beziehung zu ihrer Großmutter 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 195 236 Ebd. 237 Wajsbrot 2004, S. 26. 238 Schubert 2007, S. 178 f. 239 Ebd., S. 178. 240 Der Begriff „sinnlicher Erinnerungsraum“ stammt von Ette 2005, S. 59. Vgl. zum fol‐ genden Abschnitt auch Schubert 2007, S. 182-184, und Schubert 2010, S. 122-124. 241 Vgl. B 3.3.1, S. 192, Anm. 212, 213. 242 Vgl. zum folgenden Abschnitt Wajsbrot 2004b, S. 49 f. 243 Ebd., S. 49. entstandenen gedanklichen Verbundenheit mit ihrem in Auschwitz gestorbenen Großvater identifiziert sie auf diese Weise sich und die neben ihr Stehenden mit der Vergangenheit, während die Vorbeigehenden die Gegenwart repräsentieren. Um welch „[…] exklusive Form der Identifikation mit den Menschen in den Vernichtungslagern […]“ 236 es sich dabei handelt, offenbart der Schlusssatz des Traumberichts vom 6. Dezember 1995: „Il aurait suffi de se mêler à eux pour sortir, mais entre eux et nous, entre le présent et le passé, la barrière était invi‐ sible, infranchissable.“ 237 Dass die Erzählerin die anderen im Osten gelegenen Ziele in ihren Träumen nicht erreicht, erklärt Katja Schubert damit, dass „ […] ’der Osten’ […] auf fast mythische Weise zum verbotenen Land, zur Gefahr […]“ 238 für die Juden ge‐ worden ist. Es handle sich um „[…] eine Gegen- und Parallelbewegung zum Schicksal des Großvaters […]“ 239 , der, nachdem er aus Polen vertrieben worden sei, auf keinen Fall in den Osten zurückkehren wolle. Das Scheitern der sehn‐ süchtig gen Osten gerichteten Traumbewegungen der Erzählerin unterstreicht daher möglicherweise ihre mental und emotional noch immer nicht voll akzep‐ tierte, aber faktisch vollzogene Verankerung im ‚Westen‘. 3.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung - die Literatur als „sinnlicher Erinnerungsraum“ 240 Den Tagebuchaufzeichnungen der Erzählerin ist zu entnehmen, dass es ihr im Laufe der Jahre immer mehr Überwindung abverlangt hat, an den stark rituali‐ sierten jährlichen Gedenkveranstaltungen in Beaune-la-Rolande teilzunehmen, ihr „Eingeschlossensein in die Genealogie ihrer Familie“ 241 ein Fernbleiben je‐ doch unmöglich machte. Im Schlussteil ihres literarischen Erinnerungstextes bekennt sie sich zudem zu den Aufgaben, die ihrer und den nachfolgenden Ge‐ nerationen, also jenen, die weder den Holocaust erlebt haben noch zu den Überlebenden gehören, auferlegt sind. 242 Die Nachfahren, die jeglicher persön‐ lichen Erfahrung der historischen Ereignisse entbehren und die von der Erzäh‐ lerin daher bildlich „[à] l’étage en dessous […]“ 243 angesiedelt werden, neigen 3 Themenfeld II 196 244 Ebd., S. 50. 245 Wajsbrot 1999b, S. 8 f. 246 Ette 2005, S. 58 f. Vgl. zu den Bezügen auf das Quart Livre auch Schubert 2010, S. 122-124. 247 Zitiert nach Wajsbrot 2004b, S. 51. Das von C. W. genannte 55. Kapitel bezieht sich, wie die Autorin sagt, auf die Suche Pantagruels nach der Dive Bouteille. Die von C. W. zitierte Antwort des „pillot“ befindet sich jedoch nicht, wie Ette sagt, im 55., sondern zu Beginn des 56. Kapitels. Vgl. Rabelais, Le Quart Livre, Paris, Éditions Gallimard et Librairie Générale Française, 1967, S. 493. dazu, das Geschehene zu „rekonstituieren“, indem sie aus verschiedenen Quellen „theoretische“, aber nicht auf eigener Erfahrung basierende Kenntnisse zusam‐ mentragen. Das Ergebnis ist, wie die Erzählerin anschaulich ausführt, „[…] un récit troué […]“, buntes Patchwork, gar ein Harlekin-Kostüm. 244 Damit ent‐ spricht diese Art des Schreibens weitgehend dem, was Cécile Wajsbrot in ihrem Essay Pour la littérature als „écriture“ bezeichnet hat: L’écriture est abstraction au sens où elle retire quelque chose, au sens de soustraction, et cette chose qu’elle retire, c’est tout simplement la vie. L’écriture est un squelette, mais un squelette dont la colonne vertébrale aurait disparu, un amas d’os épars, un amas de phrases brèves, de mannequins bourrés de sable pour donner l’apparence d’une forme, de la vie, mais qui ne fait pas illusion pour peu qu’on l’approche d’assez près, l’écriture […] recense le monde pour en faire d’interminables listes, l’écriture utilise les fragments, les notes, les bribes […] 245 Ein literarischer „sinnlicher Erinnerungsraum“ hingegen erwächst, wie Ottmar Ette ausführt, aus dem „[…] Bestreben, die Stimmen der Vergangenheit gegen‐ wärtig zu machen, die voix und die voies, die Stimmen (nicht nur dieser Groß‐ mutter) und die Wege (nicht nur dieses Großvaters) zu re-präsentieren und aus einer gefrorenen, distanten Vergangenheit herauszulösen“ 246 . Ette bezieht sich damit auf den von der Erzählerin zitierten Abschnitt aus dem 56. Kapitel des Quart Livre von Rabelais, in dem der „pillot“ Pantagruel erklärt, dass die Stimmen, die ihn und andere Reisende so erschreckt haben, aus einer Schlacht stammen, die „[…] au commencement de l’hyver dernier passé […]“ stattge‐ funden hat. Die Worte und Schreie der Männer und Frauen - […] les parolles et crys des hommes et femmes - sind dann in der „[…] sérénité et temperie du bon temps […]“, also in der heiter stimmenden, warmen Frühlingsatmosphäre auf‐ getaut und gehört worden. 247 An dieses Bild knüpft die Erzählerin an, wenn sie ihr Verständnis der Funktionsweise von Literatur erklärt: C’est la littérature qui nous fait passer du gel au dégel et changer de saison, c’est la littérature qui nous fait entendre les paroles des combattants, celles qu’ils croyaient 3.3 „Beaune-la-Rolande“ 197 248 Wajsbrot 2004b, S. 52. 249 Ebd. S. 53. 250 Ebd. S. 56. 251 Ebd. S. 57. 252 Zu den sicht- und hörbaren Spuren vgl. S. 30 f. und 56 f. perdues et qui, demeurées en suspens, sont entendues et restituées plus tard, par les navigateurs du large que sont aussi les écrivains. 248 So hat die Erzählerin aus den spärlichen Informationen ihrer Großmutter und aus den bei ihren jährlichen Fahrten nach Beaune-la-Rolande gewonnenen Er‐ fahrungen einen Erinnerungsbericht verfasst, in dem sie die Stimmen ihres Großvaters und ihrer Großmutter hörbar werden lässt. Sie erfüllt diese Aufgabe in einem Land, von dem man, wie sie sagt, nicht wisse, ob es in ihm eine „[…] mémoire collective“ 249 noch gebe. Auf dem Weg nach Beaune-la-Rolande er‐ kennt sie „[…] des ombres, des silhouettes, les contours d’une époque terminée depuis longtemps“ 250 , einer Zeit, die nur in den Worten und Bildern der Literatur aufgehoben werden kann. Sie beschließt daher ihre Betrachtung mit einer Über‐ legung, die in hintergründiger Form die Überlegenheit der Literatur betont: Nous n’avons que des mots, des images, qui deviendront d’autres mots, d’autres images, s’éloignant peu à peu de la réalité - d’une réalité - comme la route de Beaune-la-Rolande s’éloigne des autres routes, et, vide, prolonge le silence des rues du dimanche - le silence. 251 (Hervorhebung H. H.) Gesteht die Erzählerin auf diese Weise nicht eher die Ohnmacht der sich von „der Wirklichkeit“ immer stärker entfernenden „Worte und Bilder“, also der klassischen Mittel der Literatur, ein? Verstünde man den Schlusssatz des Erin‐ nerungstextes in dieser Weise, übersähe man den entscheidenden Wechsel vom bestimmten zum unbestimmten Artikel, durch den die Wirklichkeit zu einer Wirklichkeit umdeterminiert und damit von einer absoluten zu einer relativen Größe verändert wird. Die Erzählerin konzediert, dass eine Wirklichkeit, näm‐ lich die durch konkrete Spuren wie z. B. die Reste des alten Lagers und die Stimmen von Zeitzeugen erlebbare Vergangenheit, 252 in immer weitere Ferne rückt, schließlich gänzlich aus dem Blick- und Hörfeld verschwindet und sich damit auch der Darstellung in Worten und Bildern entzieht. Im zweiten Teil des Schlusssatzes erinnert die Erzählerin jedoch daran, dass sich auch die nach Beaune-la-Rolande führende Straße von den anderen Straßen entferne und „le silence des rues du dimanche - le silence“ verlängere. „Le vide“ und „le silence“, also jene den Weg nach Beaune-la-Rolande kennzeichnenden Charakteristika, 3 Themenfeld II 198 253 Wajsbrot 1999b, S. 39. - Zur Bedeutung von „silence“, „vacance“, „vide“ für den Prozess der Kreativität vgl. auch Zimmermann 2010, S. 136 f. 254 Ebd. S. 34. 255 Schubert 2010, S. 124. 256 Cécile Wajsbrot, Mémorial, Paris, Zulma, 2005a, (Wajsbrot 2005a). - Folgende Rezensi‐ onen wurden eingesehen: Johanna, Adorjàn, „Roman einer Heimatlosen“, in: http: / / www.faz.net/ -gr3-wib0 (Abruf: 13. 04. 2015) und Dominique Dussidour, „Nous, leurs enfants“, in: http: / / remue.net/ spip.php? article972 (Abruf: 25. 05. 2012). sind jedoch, wie Cécile Wajsbrot in Pour la littérature erläutert, die entschei‐ denden Voraussetzungen für die Entstehung wahrer Literatur: La littérature a besoin de vacance, de silence et de vide, la littérature a besoin d’être injoignable, de ne pas répondre à chaque appel pour pouvoir répondre à l’appel majeur de la vie. L’écrivain a besoin de silence et de temps pour écrire […] 253 Der auf diese Weise gewonnene Abstand zwischen dem Zeitpunkt, an dem Ereignisse stattfinden, und dem Moment des Erzählens garantiert jene Vorzüge, die für die Verfasserin das Wesen literarischer Texte ausmachen: La durée de ce qui est saisi, la distance temporelle dans laquelle on écrit et le désir de dire autre chose que la chose qu’on paraît raconter - d’aller plus loin qu’une simple transcription - créent tout ensemble un relief qui fait du récit non pas un texte linéaire qui n’intéresse que celui qui l’a écrit et ceux qui lui ressemblent, mais un texte littéraire où l’expérience humaine s’est déposée. 254 Mit Beaune-la-Rolande hat Cécile Wajsbrot einen „sinnlich-literarischen Erin‐ nerungsraum“ geschaffen, der seine Entstehung einer distanzierten, persönlich reflektierten und durch die Verschränkung von Ort- und Zeitebenen multiper‐ spektivischen Betrachtungsweise verdankt. Mit- und ineinander verwoben sind das grausamste Kapitel ihrer Familiengeschichte und ein wichtiger Abschnitt der politischen Geschichte Frankreichs, einschließlich der lange Zeit verschwie‐ genen, durch die Kollaboration herbeigeführten Verstrickung des Landes in die Gräueltaten des Nationalsozialismus. So sind „[d]ie Gesetze und die Kraft von Kunst und Literatur […] das Entscheidende für Autoren wie Cécile Wajsbrot, um sich den Stimmen der toten Kämpfer anzunähern“ 255 . 3.4 Mémorial 256 - Die Erzählerin auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln und dem Sinn ihres Lebens Der im Jahre 2005, also ein Jahr nach Beaune-la-Rolande, erschienene Roman Mémorial ist zwar weitaus weniger stark durch die Familiengeschichte der Ver‐ 3.4 „Mémorial“ 199 257 Über ihre Mutter berichtet die Erzählerin, dass sie, da sie „[…] cette densité trop forte […]“ im Verhältnis innerhalb der Triade, d. h. zwischen der Großmutter der Er‐ zählerin, deren Sohn (dem Vater der Erz.’) und deren Tochter (der Tante der Erz.) nicht ertragen habe, früh „aus dem Leben geschieden sei“: „[elle] avait laissé la vie, vaincue, sans avoir le temps de me donner les armes pour les affronter“ (S. 17). 258 Vgl. dazu Wajsbrot / Dussidour 2005 article 1107, S. 3f. 259 Ette 2005, S. 244. fasserin geprägt als der 2004 veröffentlichte, über weite Strecken sehr persönlich gehaltene Erinnerungstext, thematisch jedoch sind Beaune-la-Rolande und Mé‐ morial eng miteinander verwandt. In beiden Texten begibt sich die autodiege‐ tische Ich-Erzählerin auf einen Weg in die Geschichte ihrer Familie, in beiden Texten ist diese Exploration für die Protagonistin zugleich eine Suche nach ei‐ gener Orientierung. So werden auch in Mémorial in allen drei Teilen des Romans Ort- und Zeitebenen miteinander verschränkt. Auf diese Weise verbindet die Erzählerin die Suche nach ihrem eigenen Ursprung („l’origine“) und ihrer ei‐ genen Bestimmung stets mit einer Reflexion über die Geschichte und das aus ihr resultierende Selbstverständnis ihrer Familie sowie mit Betrachtungen über das Verhältnis zwischen sich selbst und ihren nächsten Angehörigen, der aus ihrer Großmutter, ihrem Vater und ihrer Tante bestehenden Triade. 257 Die un‐ terschiedliche Prägung aller Figuren durch Ort und Zeit tritt auf diese Weise deutlich hervor. Obwohl die Erzählerin im ersten Teil des Romans keine Ortsnamen nennt, 258 sind als Handlungsorte bzw. -räume - unter Ausschluss der im Verlauf der Die‐ gese zusätzlich genannten Orte - auf der paradigmatischen Ebene neben Paris als implizit vorauszusetzendem Ausgangs- und Endpunkt der Reise ein Bahn‐ steig eines Bahnhofes einer unbekannt bleibenden Stadt (Teil I), der „Wegeraum“ der Bahnfahrt nach Kielce (Teil II ) sowie die Stadt Kielce (Teil III ) zu unter‐ scheiden. Um „[…] Zugang zu einem ihr individuelles Leben überschreitenden Gedächtnis ihrer Familie“ zu gewinnen, hat die Erzählerin mit der Reise nach Kielce „[…] eine Staatsgrenze, eine Systemgrenze und eine Sprachgrenze“ 259 zu überwinden. Durch diese Opposition ist die syntagmatische Beziehung zwi‐ schen den Handlungsorten bzw. -räumen grundsätzlich definiert, ohne dass die sich daraus für die handelnden Figuren ergebenden persönlichen Konstellati‐ onen von vornherein erkennbar wären. Angesichts der klaren Strukturierung des Romans bietet es sich an, die Ana‐ lyse textchronologisch anzulegen, also von der Frage auszugehen, in welcher Weise die Suchbewegung der Protagonistin in jedem der drei Kapitel durch raum-zeitliche Faktoren beeinflusst wird. In einem weiteren Schritt ist zu un‐ tersuchen, in welcher Weise die sieben in die Erzählung eingefügten Betrach‐ 3 Themenfeld II 200 260 Wajsbrot 2005a, S. 13. - In dem in Anm. 258 erwähnten Gespräch mit Dominique Dus‐ sidour berichtet C. W., dass die Arbeit an Mémorial „[…] par l’idée du train, d’un quai de gare, d’un train qui doit arriver et n’arrive pas - l’incertitude par excellence, l’entre-deux de l’espace et du temps“ (S. 3) begonnen habe. 261 Die Lautsprecherdurchsagen kündigen jeweils eine fünfzehn-, ca. dreißig- und schließ‐ lich sechzigminütige Verspätung an (vgl. S. 12, 20, 27). Die genaue Wartezeit bleibt un‐ bestimmt, vgl. Wajsbrot 2005, S. 63: […] la voix se décide enfin à informer que le train allait entrer en gare dans quelques instants, sans expliquer pourquoi il avait tant tardé ni pourquoi il arrivait. (Hervorhebung H. H.) - Der Hinweis Ettes (Ette 2005, S. 243), dass die Wartezeit schließlich einen ganzen Tag betragen habe, ist m. E. unzutreffend. Diese Zeitangabe (Wajsbrot 2005, S. 40) bezieht sich auf die Verspätung des Zuges, mit dem der Vater und die Tante der Erzählerin von Kielce nach Paris gereist sind. 262 Wajsbrot 2005a, S. 9. 263 Ebd., S. 10: J’étais arrivée en avance et j’attendais depuis un certain temps […] tungen über die Schneeeule („harfang des neiges“) in ihrem Lebensraum für das Thema dieser Studie relevant sind. In einer perspektivierenden Schlussbetrach‐ tung soll die Frage geklärt werden, ob und ggf. in welchem Maße die Analyse durch Lotmans Theorie der Raumsemantik zusätzlich fundiert werden kann. 3.4.1 Warten auf einem Bahnsteig - Beginn eines „[…] voyage particulier, sur les traces d’une histoire, pour tenter de trouver une origine […]“ 260 Eine Schicksalsgemeinschaft von „transfuges“ In Kapitel I beschreibt die Erzählerin eine Zeit des Wartens auf einem Bahnsteig, die ungleich länger dauert, als eine Lautsprecherstimme ankündigt. 261 Die un‐ bestimmte, aber endlos wirkende Länge des Wartens korrespondiert mit der sehr vagen Beschreibung des Ortes, der zu Beginn des Kapitels in seiner reinen Funktionalität vorgestellt und dabei sogleich mit dem Schicksal der ihn bevöl‐ kernden Menschen in Verbindung gebracht wird: Et les quais ne cessaient de s’emplir, se vider, et les gens affluaient, repartaient, régis par des mécanismes complexes en rapport, peut-être, avec les flux migratoires, ou les grandes marées, gagnant chacun une destination de hasard ou longtemps méditée sans bien savoir pourtant, malgré les préparatifs, les bagages emportés, les rendez-vous accumulés, sans bien savoir ce qui les attendait. 262 Die Unklarheiten bzgl. des Erzählrahmens klären sich im Hinblick auf die Hand‐ lungszeit zu Beginn des übernächsten Absatzes auf mit der Information der Ich-Erzählerin, dass sie verfrüht angekommen sei und schon seit einiger Zeit warte. 263 So wird im Nachhinein verständlich, warum sie ihre Erzählung mit dem zu Beginn eines Textes extrem selten verwandten, da als Iunktor zwischen einer 3.4 „Mémorial“ 201 264 Vgl. ebd., S. 10 und 20 und insb. S. 70: Le train s’arrêta à la première gare, la ville fron‐ tière […] 265 Ebd., S. 9. 266 Ette 2005, S. 239. 267 Vgl. Wajsbrot 2005a, S. 10. vorangegangenen und nachfolgenden Aussage fungierenden „Et“, eröffnet: Schon seit längerem beobachtet sie das Kommen und Gehen der Reisenden. Durch den Gebrauch des „imparfait“ und die Häufung von Verben und Partizi‐ pialkonstruktionen läuft die Handlung vor dem Auge des Lesers wie ein Film ab. Dieser Eindruck eines prozesshaften Geschehens wird noch verstärkt durch die Metapher der „flux migratoires“, mit der die Erzählerin den nicht abreiß‐ enden Strom von Reisenden evoziert, die sich auf dem Wege zu einem eher zufällig oder bewusst gewählten Zielort befinden und einer ungewissen Zukunft entgegensehen. - Bzgl. des Ortes der Handlung legen mehrere Hinweise die Vermutung nahe, dass der Bahnhof sich in der Nähe einer Grenze zu Polen be‐ finden muss. 264 In welch starkem Maße in Mémorial Ort und Zeit aufeinander bezogen sind und als mit dem Schicksal der handelnden Figuren eng verbundene Faktoren verstanden werden, illustriert „in nuce“ der zweite Absatz des Kapitels I. Mit der Aussage „C’était une verrière datant du siècle dernier, enfin, de l’autre siècle puisqu’il fallait s’habituer désormais à se considérer comme transfuges d’un bord à l’autre, débarqués d’un ailleurs remontant au passé pour aborder vers l’avenir, un avenir dont nous étions une part mais qui nous échappait […]„ 265 hat die Erzählerin durch das bereits im ersten Satz auftretende Lexem „les quais“ den als Bahnhof zu identifizierenden Ort der Handlung bestätigt, zugleich je‐ doch die Handlungszeit eindeutig im 21. Jahrhundert verankert. Mit dem Über‐ schreiten der Jahrhundertgrenze sind sie und alle auf dem Bahnsteig versam‐ melten Mitreisenden - das als „sujet“ und „objet indirect“ fungierende Personalpronomen „nous“ lässt eine Art Schicksalsgemeinschaft entstehen - jedoch zu „transfuges“ geworden, die aus einer in einem „Anderswo“ verorteten Vergangenheit ausgestiegen sind und eine Zukunft betreten haben, die ihnen zu entkommen scheint. Sie verkörpern damit „[…] die Bewegungsfigur einer has‐ tigen Flucht, eines oft überstürzten Verlassens des Herkunftsraumes […], in der sich die Zukunft als Ankunft andernorts verräumlicht“ 266 . Die Art und Weise, in der die Erzählerin ihre Mitreisenden wahrnimmt, än‐ dert sich jedoch rasch. Ist sie zunächst darum bemüht, anhand z. B. des Ge‐ sichtsausdrucks, des Benehmens und der gesprochenen Sprache zu erraten, wer diesseits bzw. jenseits der Grenze aussteigen und wer aus der letztgenannten Gruppe tatsächlich von dort (de là-bas), wer von hier (d’ici) stammen mag, 267 3 Themenfeld II 202 268 Ebd., S. 13. 269 Ebd. 270 Zitat und Kontext vgl. ebd. 271 Vgl. ebd., S. 10f: […] chacun essaie de transporter son monde, de préserver sa vie et son identité, de s’entourer d’une protection invisible […] pour traverser, indemne, toutes les intempéries et arriver exactement tel qu’il est parti, niant ainsi l’essence du voyage. 272 Ebd., S. 11. stellt sie kurze Zeit später fest, dass sie ihre „[…] compagnons d’attente […]“ 268 als unwirkliche, schattenhaft-schweigsame Wesen erlebt. Sie hat dafür die ihr naheliegend erscheinende Erklärung, dass „[…] personne ne décide de rien, nous sommes le jouet des circonstances et notre vie ballotte au gré d’événements qui nous poussent dans une direction ou dans une autre“ 269 . Mit diesem Eindruck einer alle Menschen betreffenden totalen Schicksalsabhängigkeit geht ein Ge‐ fühl der persönlichen Verlassenheit und Bedrohung einher. Der Bahnhof er‐ scheint ihr nunmehr eingehüllt in Schweigen, menschenleer und verlassen. Zuvor nicht gespürte Kälte legt sich auf die Schienen und Bahnsteige. Die un‐ bekannte Stadt wirkt plötzlich so finster und angsteinflößend, wie es ihrem Ruf entspricht. Die Erzählerin erkennt in ihr „[…] une puissance terrible et malé‐ fique […]“ und fühlt sich ihrer örtlichen und zeitlichen Orientierung beraubt: „[…] je ne savais plus où j’étais ni dans quel temps“ 270 . Einen expliziten Grund für die auf sie bedrohlich wirkende Ausstrahlung der Stadt nennt die Erzählerin indes nicht. Der Kontext der hier zitierten Aussage offenbart jedoch zweifelsfrei, dass die eisige, Angst und Schrecken verbreitende äußere Atmosphäre der Stadt und des Bahnhofs die inneren Nöte und Qualen der Erzählerin widerspiegelt. Reisemotive der Erzählerin vor dem Hintergrund der nachwirkenden Migrationsgeschichte ihrer Familie Schon bei einem Blick auf ihre Mitreisenden hat die Erzählerin festgestellt, dass niemand eine Reise voraussetzungslos bzw. „unbelastet“ antritt, dass vielmehr jeder sich darum bemüht, das für ihn Bedeutsame, Identitätsstiftende und Be‐ schützende mitzunehmen und unverändert zu bewahren, was allerdings der „essence du voyage“ nicht gerecht werde. 271 Sie ergänzt diesen Gedanken, indem sie allgemeines und persönliches Erleben klar unterscheidet und implizit bereits auf den besonderen Charakter ihrer Reise hinweist: Non, il n’était pas si simple de laisser, de quitter, et de s’abandonner à ce qui pouvait se produire - et ces mots, laisser, quitter, abandonner, éveillaient en moi d’autres échos qui, au milieu des trains […] pouvaient paraître incongrus. 272 3.4 „Mémorial“ 203 273 Ebd. 274 Ebd. 275 Ebd., S. 13. Beschreibt die Erzählerin in der ersten Hälfte ihrer Äußerung eine weit ver‐ breitete, als „normal“ zu betrachtende Abwehrhaltung gegen einen Reiseauf‐ bruch, wie sie z. B. in dem französischen Sprichwort „Partir, c’est toujours mourir un peu“ zum Ausdruck kommt, so spielt sie in der zweiten Hälfte ein‐ deutig auf die außergewöhnliche Situation ihrer aus Polen vertriebenen Familie an, für die im Echo der Verben „laisser, quitter, abandonner“ das - im Text un‐ genannt bleibende - direkte Objekt „la patrie“ mitschwingt. Der Aufbruch be‐ deutete für ihre Eltern und Verwandten den endgültigen Verlust der Heimat. Gleichwohl ist zu fragen, warum die Erzählerin selbst sich mit ihrer Reiseent‐ scheidung schwertut und alles versucht „[…] pour que ce voyage qui me faisait si peur advienne sans se dérouler, ait lieu sans se produire, pour que toutes les questions qui m’avaient amenée à décider ce départ restent en suspens […] pour que toutes ces questions demeurent sans réponse“ 273 . Die ihr Innerstes berüh‐ rende Unsicherheit und Unentschiedenheit, ihr zögerndes Abwägen zwischen „[…] partir et ne pas partir, découvrir et ne pas découvrir, et surtout, savoir et ne pas savoir“ 274 finden jedoch - zunächst - eine schlüssige Erklärung in der grundsätzlichen Zielsetzung, mit der sie eine Reise antritt, die für sie von exis‐ tentieller Bedeutung ist: […] certes, un voyage particulier, sur les traces d’une histoire, pour tenter de trouver une origine, une explication au sentiment que mon pays n’était pas tout à fait mon pays mais celui où j’allais (où j’irais si ce train arrivait) n’était pas non plus le mien - je croyais simplement partir et voilà que je me sentais captée, comme attirée vers d’autres lieux et d’autres temps […] 275 Die Konkretisierung und Realisierung der Suche nach ihrem Ursprung stellt die Erzählerin gleichwohl vor weitere Probleme. Trotz und wohl auch aufgrund ihrer Recherchen, der Suche nach verlorenen Adressen und Straßennamen ver‐ nimmt sie die bohrenden Fragen jener inneren Stimmen, die „[…] in einem 3 Themenfeld II 204 276 Die Erzählerin erklärt, dass sie unter dem von ihr gebrauchten Pronomen „ils“ den Zugführer, die Lautsprecherstimme, das Geschwisterpaar (ihren Vater und ihre Tante) und „[…] au-delà, la famille, l’origine, tout ce qui nous retient en arrière de nous-mêmes et nous fait reculer, régresser, y compris les voix intérieures, les sentiers des labyrinthes où nous nous perdons“ subsummiert. (Ebd., S. 28.) - Zu den „Stimmen“ in Mémorial vgl. Bung 2010, S. 191-205. Stephanie Bung weist darauf hin, dass die durch Spiegelstriche graphisch hervorgehobenen und zunächst anonymen Stimmen in den meisten Fällen dem jüngeren Geschwisterpaar, also dem Vater und der Tante der Erzählerin, gelegent‐ lich auch dem älteren Bruder der beiden, der dem vorausgereisten Vater gefolgt und dabei in einem Fluss ertrunken war, zuzuordnen sind. Auch können sie, wie im hier zitierten Beispiel, proleptische Hinweise auf den Fortgang der Geschichte enthalten. Vgl. Bung 2010, Zitat S. 196. - In dem Interview „’chat’ avec Cécile Wajsbrot“, 2006 (S. 6) erklärt die Autorin den Einsatz der Stimmen als einen „[…] procédé stylistique, une tentative de réponse à la question du dialogue, comment faire des dialogues qui ne sonnent pas artificiellement“. Und sie ergänzt „[que] la littérature est le lieu des incer‐ titudes et du flou, des espaces et états intermédiaires. Le dialogue des morts et des vivants en est une composante.“ 277 Wajsbrot 2005a, S. 14. manchmal komplementären, manchmal konkurrenziellen Verhältnis zur auto‐ diegetischen Erzählinstanz [stehen]“ 276 : - Que cherches-tu là-bas? - Que penses-tu trouver? - Imagine qu’il y a eu un tremblement de terre. - Il ne reste plus rien. - Une déflagration. - Car nous avons quitté. - Personne ne veut revenir en arrière. - Nul ne veut. - Nul ne doit. - Ne vous retournez pas, à cette condition, vous remonterez des Enfers. 277 Die hier eindeutig dem Vater und der Tante der Erzählerin zuzuordnenden Stimmen lassen vom allgemeinen Unverständnis für das nachforschende Inte‐ resse bis zu der an den Mythos von Orpheus und Eurydike erinnernden Auf‐ forderung, den Blick nicht in die Vergangenheit zurückzuwenden, einige denk‐ bare Einwände gegen ihre Reise anklingen. Der Vater und die Tante sind die letzten Überlebenden der Familie, die die Flucht aus Polen selbst erlebt haben. Ihre Erfahrung steht stellvertretend für das generationenübergreifende Schicksal jener unzähligen Menschen, die zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, aus mannigfaltigen Gründen und auf unterschiedlichsten Fluchtwegen ihre Heimat verlassen mussten: 3.4 „Mémorial“ 205 278 Ebd., S. 15. - Zur transgenerationalen Problematik der Flucht in Mémorial vgl. Ette 2005, S. 239-241. 279 Wajsbrot 2005a, S. 15. 280 Ebd., S. 15 f. 281 Zum Zitat und Kontext vgl. Ette 2005, S. 241. Car ils étaient partis comme tous ceux qui partaient, pour fuir des guerres ou des persécutions, la famine, la misère, la pauvreté ou seulement l’insatisfaction, croyant trouver ailleurs, plus à l’ouest, plus au nord, une vie meilleure, croyant apercevoir à l’horizon une lueur tremblante qui guidait leur chemin et ils avaient marché […] pour arriver un jour - ceux qui arrivaient - au pays dont ils avaient rêvé. 278 Das „erträumte Land“ wurde und blieb für die Fliehenden jedoch nicht mehr und nicht weniger als ein Ort des Überlebens: „[…] ils pouvaient s’installer mais ils ne pouvaient pas s’ancrer, s’enraciner […]“ 279 . Sie projizierten daher all ihre Hoffnungen auf die Gegenwart und Zukunft ihrer Kinder, die sich jedoch von der „Erblast“ ihrer Eltern nicht zu befreien vermochten, zumal diese nicht in der Lage waren, über den Verlust ihrer Heimat und die ihnen durch die Flucht zu‐ gefügten inneren Verwundungen zu sprechen: Mais la blessure qu’ils voulaient ignorer, cette cicatrice qu’ils oubliaient volontiers, ce nom qu’ils ne prononçaient jamais, nous l’entendions au cœur de leur silence se répercuter contre les murs de nos chambres, nous encerclant d’échos venus d’un autre monde, d’un autre temps, et tandis qu’eux nous voulaient - nous croyaient - pleinement d’ici, nous étions de là-bas avant d’y être allés […] de là-bas ou d’ailleurs, et d’emblée ils perdaient ce combat inégal - combat désespéré - contre les circonstances - et nous avec eux. 280 Mit ihrem „beredten Schweigen“ und ihrer Weigerung, auch nur den Namen ihrer Herkunftsorte zu nennen, schafft die Elterngeneration keineswegs die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass die Kinder die von ihren Eltern ge‐ wählten Zufluchtsorte als Heimat betrachten. Der elterliche Wunsch, dass ihr neues, von ihnen selbst dauerhaft als fremd empfundenes Lebensumfeld, ein „Dort“ (là-bas), für ihre Kinder zu einem „Hier“ (ici) werde, mit dem sie sich voll und ganz zu identifizieren vermöchten, geht fehl. Die Heimatlosigkeit der Eltern überträgt sich wie eine schwere Erblast auf die Kinder. Allerdings erzeugt das Schweigen der Eltern, ihre Weigerung, über ihre Heimat und die Gründe ihrer Flucht zu sprechen, eine Echowirkung, die sich - im Bild des Textes - „[…] an den Zimmerwänden der Nachgeborenen [bricht]“ 281 und sie nach dem „Dort“ - oder einem „Anderswo“ - fragen lässt. Diese Reaktion der Kinder bestätigt die 3 Themenfeld II 206 282 O. Marquard entfaltet diesen Gedanken in seinem Essay „Zukunft braucht Herkunft“ in: Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen, Stuttgart, Reclam 2000, S. 66-78. 283 Wajsbrot 2005a, S. 17. 284 Vgl. ebd., S. 30f: […] rien n’avait plus de sens, ni l’espace ni le temps […]. […] ils ne prononçaient plus que de rares mots, un par jour, un par semaine, des monosyllabes, oui, bien, ça va. 285 Ebd., S. 40. alte anthropologische Erfahrung, dass - im Sinne von Odo Marquard - Zukunft ohne Herkunft nicht möglich ist. 282 Für die auf dem Bahnsteig wartende Erzählerin indes besteht noch aus einem anderen Grund nicht mehr die Möglichkeit, Fragen an ihren Vater oder ihre Tante zu richten. Beide sind - nach einem Leben des Verdrängens und Ver‐ schweigens - tragischer Weise nicht mehr ansprechbar, sondern „[…] murés dans une étrange maladie qui s’attaquait à la parole, à la mémoire, murés dans cette maladie avant de disparaître“ 283 . Ihre Orientierung in Raum und Zeit haben sie verloren. Zu dem Mangel an Kommunikationsbereitschaft gesellt sich die Unfähigkeit, mehr als einsilbige Worte zu artikulieren. 284 Die Gründe der Er‐ zählerin für die Suche nach ihrem Ursprung werden nachvollziehbar. Der Gegensatz zwischen der „Unbeweglichkeit“ der Triade und der Flexibi‐ lität der Erzählerin und die daraus resultierenden Probleme ihres Zusammen‐ lebens wirken psychologisch auf den ersten Blick wenig plausibel, insofern das Leben des Geschwisterpaars und der Mutter durch die Zäsur des Aufbruchs aus der angestammten Heimat gekennzeichnet ist, ihr Leben also durch die Bereit‐ schaft zum Verlassen der Heimat und zum Verbleiben in fremder Umgebung wesentlich geprägt sein sollte. Zu berücksichtigen ist allerdings der Hinweis der Erzählerin auf den eigentlichen Initiator der Auswanderung: „Le frère et la sœur n’avaient pas choisi de partir, c’étaient leurs parents qui avaient décidé pour eux, le père, en avant-poste, pour voir si c’était possible […].“ 285 Die „inneren Stimmen“, die hier die Gedanken des Geschwisterpaars und ihres älteren, bei seiner Flucht aus Kielce in einem Fluss ertrunkenen Bruders wiedergeben, erschließen dem Leser jedoch die chronotopischen und familiären Hintergründe, ohne die weder die Auswanderung aus Polen noch das „Nicht-Ankommen“ in Frankreich zu verstehen sind. So weist die Stimme des Geschwisterpaars auf die besondere Situation Polens hin, eines Landes, das nach den drei Teilungen von 1772, 1793 und 1795 erst 1918 seine staatliche Unab‐ hängigkeit wiedererlangte. Die Nachwirkungen des über 120 Jahre dauernden Verlustes der staatlichen Einheit und Unabhängigkeit beeinträchtigten das Leben der Menschen noch lange Zeit und schufen ein Klima der Angst, Aggres‐ sivität und der gegenseitigen Verdächtigungen: 3.4 „Mémorial“ 207 286 Ebd., S. 53. 287 Der Name des Flusses - Silnica - wird erst in Kapitel III (S. 122) genannt. Er enthält die Wurzel von ’force’. 288 Vgl. zum Schicksal der Familie und insbesondere des älteren Bruders ebd., S. 46-54. - Eine genaue Datierung des fluchtartigen Aufbruchs des Vaters bzw. seiner Familie nach Frankreich ist dem Text nicht zu entnehmen. Die Aussage der Erzählstimme „[…] s’ils étaient restés, ils n’auraient sans doute pas survécu à la guerre où tous leurs cousins avaient disparu“ (S. 54) lässt jedoch darauf schließen, dass sie Polen vor Beendigung des Krieges verlassen haben. 289 Ebd. S. 56. Zum Kontext vgl. S. 56-58. - Das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zu den Katholiken wird an anderer Stelle (S. 33) als sehr ambivalent beschrieben: Für die jüdische Bevölkerung von Kielce war die im Zentrum der Stadt gelegene Kathedrale - […] le symbole du pays et sa religion […]- Schutz und Bedrohung zugleich: […] la cathédrale parfois veillait sur nous, parfois nous surveillait, suivant les périodes de guerre ou de paix, guerre intérieure, paix intérieure […]. […] nous, nous avons connu cela, nés après une guerre mondiale dans un pays qui renaissait, nous aurions pu nous construire ensemble mais ce pays partagé cent ans en trois zones d’occupation était divisé en lui-même et dans l’indépendance, la division restait, et les gens s’observaient, avaient peur, s’insultaient, se battaient, nés après une guerre mondiale, nous avons passé notre jeunesse durant une autre, pire encore, puis passé notre temps à nous abriter. 286 Zu einer zusätzlichen persönlichen Belastung wurde der Tod des älteren Bru‐ ders, der, nachdem der Vater zwei Jahre zuvor nach Frankreich vorausgereist war, nicht länger in der polnischen Heimat bleiben wollte. Mit seiner Überzeu‐ gung, dass es in Polen keine Zukunft gebe und die Länder des Westens Freiheit versprächen, und mit seinem Glauben an einen auf Wissen und Erfahrung ba‐ sierenden Fortschritt isolierte er sich zusehends von seiner Mutter und seiner Familie, verließ die Stadt und ertrank bei seiner Flucht in dem die Stadt durch‐ querenden Fluss. 287 Erst weitere drei Jahre nach seinem Tod folgte die Familie dem Vater nach Paris. 288 Auf diese Weise entkam man rechtzeitig dem im Juli 1946 von Polen ausgeübten, als Ritualmord inszenierten Pogrom: Nachdem das lediglich vorgetäuschte Verschwinden eines achtjährigen Kindes den Anhän‐ gern der „religion déicide“ 289 angelastet worden war, wurden 42 Juden, die von der Vernichtung durch die Nazis verschont geblieben waren, brutal ermordet und ihre Leichen in den Fluss geworfen. Für die Familie der Erzählerin jedoch wurden der Ertrinkungstod des älteren Bruders, der Verlust der Heimat und die Ankunft in einem Land, das ihnen fremd blieb, zu einem Inbegriff des Schre‐ ckens, einem Ur-erlebnis, das sie in eine dauerhafte innere Starre versetzte: […] ils étaient comme hypnotisés par une scène originelle, peut-être la noyade de ce frère ou leur départ d’un pays et l’arrivée dans un autre pour lequel ils n’étaient pas 3 Themenfeld II 208 290 Ebd., S. 53. 291 Ebd., S. 53. 292 Ebd. S. 13. 293 Ebd., S. 52. 294 Ebd. 295 Vgl. ebd., S. 61. 296 Ebd., S. 60. faits et où ils continuaient de vivre comme si rien n’avait changé, ni l’époque ni le lieu, faisant là le métier qu’ils auraient fait là-bas […] 290 Mit ihrer Weigerung, die sich aus ihrer Flucht, aus dem Wechsel des Ortes und Kulturkreises und dem Voranschreiten der Zeit ergebenden Konsequenzen an‐ gemessen zu verarbeiten, ziehen sich das Geschwisterpaar und die Mutter der Erzählerin in eine von der sie umgebenden Umwelt weitgehend abgeschirmte Enklave zurück. Sie leben in dem Bewusstsein, eine Jahrhundertkatastrophe überlebt zu haben, ohne ihr eigenes Leben in eine bestimmte Richtung weiter zu entfalten. Wenn die Stimmen der Geschwister ihre Lebenssituation mit den Worten - Nous sommes des réfugiés. - Il n’y a rien d’autre à dire. 291 zusammenfassen, so bringen sie damit zum Ausdruck, dass sie sich in fatalis‐ tisch-resignativer Weise als „[…] le jouet des circonstances […]“ 292 empfinden. Mehrere Stimmen beschreiben die Ankunft in Paris als einen „Sprung in Raum und Zeit“, der die Familie „[d]u XIX e siècle, autant dire le Moyen Âge, au XX e siècle“ 293 befördert habe. Man lebte, wie eine Geschwisterstimme mitteilt, in dem Gefühl „[…] qu’il fallait rester le plus près possible de l’endroit où nous étions, après avoir été si loin“ 294 . Wie wichtig dabei für sie die Identifikation mit der eigenen polnischen Sprache war, offenbaren die inneren Stimmen des Bru‐ ders und der Schwester. Sie erklären zunächst, dass Polen durch die polnische Sprache und das Wirken seiner Schriftsteller in der Zeit der Teilung seine nati‐ onale Identität bewahrt habe. 295 Nachdem sie, vielleicht in Anspielung auf das Elsass und Lothringen, eingeräumt haben, dass Frankreich zwar gelegentliche Grenzverschiebungen erlebt habe, aber niemals solche, die seine „essence“ bzw. „identité“ in Frage gestellt hätten, begeistern sie sich für das Polnische als ihre in ihrer Wahlheimat zu einer Sprache der „Minderheit“ gewordene Mutter‐ sprache. Es ist für sie, wie im Erzähltext betont wird, „[…] un élément de l’ori‐ gine, cette langue cachée“ 296 geworden. Diesen kostbaren Schatz haben sie al‐ lerdings nicht an die Erzählerin weitergegeben, der die Muttersprache ihrer 3.4 „Mémorial“ 209 297 Vgl. ebd., S. 60 f. 298 Vgl. ebd., S. 18: […] sans doute étaient-ils fiers, même s’ils ne le disaient pas […] 299 Ebd. 300 Ebd., S. 22. 301 Ebd., S. 51. 302 Vgl. ebd., S. 19. Vorfahren daher wie ein unterirdischer Verlauf einer verborgenen, nicht ver‐ siegenden Quelle erscheint. 297 Flucht der Erzählerin aus der Enge der Triade und Rückkehr nach Paris Bereits mit dem Auftakt des ersten Kapitels hat die Erzählerin den Rahmen der „histoire“ umrissen und wesentliche Aspekte der ihr zugrunde liegenden Prob‐ lematik thematisiert. Entscheidende Vertiefungen ergeben sich jedoch aus ihrer Erinnerung an den Versuch, sich aus ihrem als Gefangenschaft erlebten Zusam‐ menleben mit der „Triade“ zu befreien. Als Hoffnungsträgerin ihrer Familie hat die Erzählerin nach dem Erlernen von Fremdsprachen, umfangreichen Studien und mehreren Abschlüssen eine Anstellung als Auslandskorrespondentin bei einer Zeitung erlangt. Dass ihre Familie, auf die sie sich mit dem distanzierend wirkenden Personalpronomen „ils“ bezieht, darauf offensichtlich stolz war, ohne darüber zu sprechen, erwähnt sie beiläufig. 298 Über ihren Einsatzort berichtet die Erzählerin, dass es sich um eine Haupt‐ stadt in einem nicht im Kriegszustand befindlichen Land auf einem anderen Kontinent handelte, „[…] une capitale près de volcans où les restes d’une étrange civilisation côtoyaient des gratte-ciel ou des villas coloniales“ 299 , und präzisie‐ rend spricht sie etwas später von […] cette ville aux couleurs vives, aux sons prégnants, ancienne capitale de peuples qui n’existaient plus et qui n’avaient laissé, comme trace de leur passage, que quelques pyramides de pierre, vestiges de culte devenus indéchiffrables mais qu’on croyait pourtant comprendre […] 300 Da sie im erweiterten Kontext auch von „[…] ce monde qu’on appelait nouveau depuis des siècles […]“ 301 spricht und überdies von ihren Angehörigen durch einen Ozean und einige Zeitzonen getrennt war, 302 ist anzunehmen, dass die Hauptstadt in Lateinamerika zu situieren ist. Auf jeden Fall ist die Erzählerin bewusst in einen anderen Kulturkreis bzw. in eine andere Semiosphäre einge‐ treten, die sich durch ihre geographische Lage sowie ihre kulturelle und sprach‐ liche Prägung von ihrem bisherigen Lebensumfeld radikal unterscheidet. 3 Themenfeld II 210 303 Ebd., S. 51. 304 Vgl. ebd., S. 17. 305 Ebd., S. 18. 306 Ebd. 307 Vgl. ebd. 308 Ebd., S. 19. 309 Ebd. 310 Ebd. Die Motive für ihren Aufbruch in die „neue Welt“ erläutert sie anderer Stelle, indem sie die für sie wesentlichen Gegensätze zwischen ihrer eigenen und der Lebenseinstellung ihrer Angehörigen, die Unvereinbarkeit von „Erstarrung“ und „Bewegung“, hervorhebt: […] c’était que nos vies étaient incompatibles, leur immobilisme et mon mouvement, que l’attraction statique qu’ils exerçaient était dangereuse, mortelle, qu’il fallait échapper, s’arracher. Il fallait fuir et j’avais fui, doublant leur errance intérieure d’une errance géographique […] 303 Die Vermutung, dass sich die Erzählerin, deren Mutter früh verstorben ist, 304 durch die virtuose Beherrschung des Französischen und den Erwerb anderer Fremdsprachen vollständig von ihrem Vater und ihrer Tante emanzipiert und als Auslandskorrespondentin - [l]à bas, à quelques milliers de kilomètres d’eux - 305 eine sie in ihrer Unabhängigkeit bestätigende Existenz gefunden haben dürfte, trügt. Zwar erfahren wir, dass sie sich „relativ ruhig“ 306 gefühlt und ihr die Arbeit des Beobachtens und Berichtens durchaus gefallen habe. 307 . Diese Zufriedenheit jedoch schwindet in jenem Augenblick, als sie durch einen Telefonanruf vom Tod ihrer Großmutter erfährt, die ihr nie sehr nahegestanden hat. Ihre im Ausland in beruflicher Selbstständigkeit verbrachten Jahre schrumpfen zusammen auf einen „[…] essai illusoire d’échapper au destin“ 308 , und unmittelbar nach dem Telefonat vergleicht sie ihr eigenes Leben gar mit dem ihres Vaters und ihrer Tante, die - nicht wirklich eingebürgerten, sondern nur vorübergehend untergebrachten Einwohnern vergleichbar - ihre Wahl‐ heimat auch noch nach Jahrzehnten nicht aus eigener Anschauung und eigenem Urteil, sondern anhand überlieferter Klischees wahrnehmen: […] je n’étais pas installée mais posée, comme ils étaient posés depuis des dizaines d’années sans s’être vraiment adaptés, sans avoir essayé de comprendre le monde qui les entourait en croyant le connaître parce qu’ils en épousaient les stéréotypes. 309 Dass die - bezeichnenderweise leere - Wohnung in der fremden Hauptstadt für die Erzählerin zum „[…]unique ancrage - une ancre qu’il allait falloir arracher pour l’enfoncer ailleurs, dans le cœur de leur vie […]“ 310 wird, lenkt unseren 3.4 „Mémorial“ 211 311 Vgl. ebd., S. 21. 312 Ette 2005, S. 246. 313 Wajsbrot 2005a, S. 19: […] pour eux, cette mort était bien le tremblement de terre, la déflagration […] 314 Vgl. ebd., S. 20. 315 Ebd., S. 25. 316 Ette 2005, S. 246. 317 Ebd. Blick einerseits auf ihre nur provisorische Einwurzelung im Lebensumfeld der ihr fremd gebliebenen Hauptstadt. Andererseits wird unsere Aufmerksamkeit dadurch auf ihre Reaktion auf die Todesnachricht gelenkt, die ihre Verbunden‐ heit mit der Generation der Eltern zu erneuern scheint, in ihr selbst Todesängste weckt und eine tiefe Zäsur in ihrem Leben markiert: Sentaient-ils la menace, moi, je la sentais tourner autour, peut-être serions-nous les prochaines victimes, peut-être serions-nous sauvés cette fois mais ce serait reculer pour mieux sauter car un jour ou l’autre, l’abîme nous atteindrait, je la sentais et cette menace imprécise, indécise s’ajoutait - ou plutôt se fondait - à toutes celles connues, et à ce coup de téléphone reçu en pleine nuit sur un autre continent qui me semblait le début de ma vie - ma vraie vie. 311 Die Erzählerin gelangt zu der Erkenntnis, dass, wie Ottmar Ette formuliert, ihre „[…] Exterritorialität […] sich als „entfremdete“ Existenz in einer bloß gestun‐ deten Zeit [erweist]“ und sie „[…]ein Leben auf Abruf “ 312 führt. Die Nachricht über ein für sie persönlich nicht einmal emotional einschneidendes, für ihren Vater und ihre Tante hingegen wie ein „Erdbeben“ bzw. ein „explosionsartiger Brand“ 313 wirkendes Ereignis, das die beiden in ihren zaghaften Bemühungen, sich in ihrem neuen Umfeld „beheimatet“ zu fühlen, auf die Anfänge zurück‐ wirft, 314 weckt in ihr belastende Erinnerungen und löst zugleich Fragen von existentieller Bedeutung aus. So erkennt sie in ihrer Kindheit im Rückblick „[un] monde de silence, cet univers de glace où nous tentions d’apprendre à marcher, [où] vous avez voulu entraver nos pas, ayant trop peur de nos questions, des réponses que vous seriez obligés de donner, de ce que nous risquions de dé‐ couvrir […]“ 315 , mithin eine Umgebung, die Ette von einer „[…]Zone des für sie gleichsam Unbewohnbaren und Unbenennbaren“ 316 sprechen lässt und die von ihr „[…] eine beharrliche Inspektion, die zugleich Introspektion ist“ 317 , verlangt. Das „Unbewohnbare“ als Mangel an einem sicheren Fundament, das hier durch das Bild des abweisenden „univers de glace“ evoziert wird, drückt die Erzäh‐ lerin - wohl unter dem Eindruck des mit der „rivière“ in Kielce im Zusammen‐ hang stehenden Ur-erlebnisses - auch an anderer Stelle mit einer durch das Klassem [Wasser] konstituierten Isotopie aus. So spricht sie von „[…] des eaux 3 Themenfeld II 212 318 Wajsbrot 2005a, S. 18. 319 Ebd., S. 22. 320 Ebd., S. 51. 321 Vgl. ebd.: Après cette noyade […] sans doute s’étaient-ils sentis survivants et non vi‐ vants […] ils n’avaient plus cherché qu’à s’abriter, se refermant sur eux, s’agrippant aux restes d’une famille nombreuse, comme des naufragés aux planches du bateau en es‐ pérant atteindre le rivage. (Hervorhebung H. H.). 322 Vgl. ebd., S. 51. 323 Ebd., S. 24 f. marécageuses dans lesquelles ils vivaient“ 318 , einem „marécage infini de terres grises et brunes dont j’avais voulu m’extraire“ 319 . Und in einem späteren Kontext fasst sie den Prozess ihres Nachdenkens über ihren Vater und ihre Tante fol‐ gendermaßen zusammen: „Et je comprenais ce repli, cette peur, face aux dangers encourus, surmontés, ce désir que plus rien ne bouge, que la vie s’arrête enfin, ce désir de repos, mais tout cela s’était transformé en stagnation, en ma‐ rais […]“. 320 Sie beklagt die Konturlosigkeit, Unbeweglichkeit und Verzagtheit im Verhalten des Geschwisterpaars, die in der Abschottung, Angst und Freud‐ losigkeit ihres „monde de silence“ wie im Morast zu versinken scheinen. Ge‐ wünscht hätte sie sich stattdessen ein offenes, Bewegungen in alle Richtungen ermöglichendes Klima aus Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit als Voraus‐ setzung für ein gelingendes Zusammenleben. Elemente der oben erwähnten, durch das rekurrente Klassem [Wasser] gebildeten Isotopie finden sich - er‐ wartungsgemäß - auch in der Erinnerung an den Ertrinkungstod des älteren Bruders, die vom Eindruck der Rettung aus einer lebensgefährdenden Bedro‐ hung beherrscht wird. 321 Dass die Erzählerin eine enge Verbindung zwischen ihrem eigenen und dem Schicksal ihrer Familie erkennt, verdeutlicht sie auf sprachlicher Ebene dadurch, dass sie die Metapher des „naufrage“ auch auf die sie betreffenden „circon‐ stances“, den ihr aufgezwungenen Abbruch ihrer Tätigkeit in der „Hauptstadt“ bezieht. 322 Auf inhaltlicher Ebene manifestiert sich eine auch solidarische Be‐ ziehung in der Überzeugung der Erzählerin, das Schweigen der älteren Gene‐ ration durch Worte, ihre Zukunft durch das Bewusstsein einer Vergangenheit zu stützen: „[…] nous cherchions à mettre des paroles sous votre silence […] un passé sous votre avenir […].“ 323 Die Erzählerin versteht die Suche nach ihrem eigenen Ursprung und deren literarische Verarbeitung also auch als eine Ver‐ pflichtung gegenüber der Generation der Eltern und Großeltern. Analog dazu lassen die eindeutig dem Geschwisterpaar zuzuordnenden Stimmen verlauten: - Tu portes la mémoire. 3.4 „Mémorial“ 213 324 Ebd., S. 35. 325 Ebd., S. 30. 326 Ebd., S. 21. 327 Ebd. 328 Vgl. Bung 2010, S. 203. 329 Vgl. Wajsbrot 2005a, S. 55: Et moi, j’errais comme eux dans le déracinement qu’ils m’a‐ vaient transmis sans avoir pu ou su établir une vie, un mode d’existence qui aurait justifié leur départ et leur aurait permis de dire, maintenant nous savons la raison. - Nous avons oublié pour vivre. 324 Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen stellt sich die Erzählerin in einem längeren inneren Monolog die Frage: „Mais qu’était-ce, ma vie? Comment pou‐ vais-je la dissocier de la leur, qui étendait ses tentacules pour venir me trouver sur d’autres continents - de toute façon, pouvais-je ignorer ce qu’on appelait l’origine, ou la source? “ 325 Die Antwort auf diese an sich selbst gerichtete rhetorische Frage hat die Er‐ zählerin mit ihrer Entscheidung, nach Kielce zu reisen, um das für sie ungeklärte Rätsel ihres „Ursprungs“ zu klären, gegeben. Während des langen Wartens auf dem Bahnsteig in einer Atmosphäre, in der bei der Kälte „[…] tout s’était figé comme sous une fine pellicule de glace“ 326 , empfindet sie die Unsicherheit, ob der erwartete Zug überhaupt eintreffen wird, zwar keineswegs als beängstigend, gleichwohl fühlt sie sich dadurch erinnert an andere Umstände von Irrfahrten […] comme si l’errance, au lieu de disparaître, devenait un mode d’être, une façon d’exister qui passait, d’époque en époque, de pays en pays, et venait se fixer à tel endroit et tel moment pour étendre ses ailes, menacer de son ombre et saisir, dévorer, avant de reprendre son envol pour se poser sur d’autres horizons. 327 Wenn die Irrfahrt hier quasi als habitualisierter Seinsmodus gedacht und mit der Gestalt eines beutehungrigen Raubvogels in Verbindung gebracht wird, 328 so geschieht dies nicht zuletzt, um die generationen- und länderübergreifende Bedeutung menschlicher Irrfahrten, nicht zuletzt auch der von der Generation der Vorfahren der Erzählerin erlittenen Fahrten in die Vernichtungslager des Ostens, zu evozieren. Am Ende der Wartezeit, in der die Erzählerin von Zweifeln und Fragen bzgl. ihrer Herkunft und Klagen über die Versäumnisse der Generation der Eltern umgetrieben wird, steht für sie die Gewissheit, dass ihr Versuch, sich von der Last des elterlichen Erbes zu befreien, gescheitert ist. 329 Der Wunsch, nach Ant‐ worten auf die von den Eltern nicht geklärten Fragen ihres Ursprungs zu for‐ schen, ist offensichtlich stärker als die Erfahrung, dass sich die Vergangenheit nicht zurückholen lässt. Die „[…] Dialektik der Heimatlosigkeit […]“ wirkt somit 3 Themenfeld II 214 330 Ette 2005, S. 245. 331 Wajsbrot 2005a, S. 59. 332 Ette 2005, S. 245. 333 Wajsbrot 2005a, S. 69. Zum Kontext s. ebd. S. 69-71. zwar als „générateur de mouvement“, vermittelt aber zugleich die „[…] Einsicht in die Unmöglichkeit jeglicher Rückkehr“ 330 . So erklärt die Erzählerin ihre Lage in der Auseinandersetzung mit den inneren Stimmen folgendermaßen: On ne revient pas, on ne revient jamais, me disais-je sur le quai où la nuit tombait, ce qu’on a quitté a changé, même s’il n’y a pas eu de grandes transformations, par le simple passage du temps, ou on a changé soi, ce qui revient au même, et moi j’allais quelque part où je n’étais jamais allée, d’où venait ma famille et où elle ne voulait pas, n’avait jamais voulu retourner, à cause de la rivière et de bien d’autres choses, à cause de l’Histoire […] 331 Ottmar Ette stellt im Zusammenhang mit dieser Textstelle eine Beziehung zwi‐ schen der Erzählerin und der „Bewegungsfigur des Odysseus“ her und fragt, ob er - heimatlos geworden - nicht doch die Chance einer glücklichen Rückkehr habe, „[…]gerade weil seine Reise keine Rückkehr im strengen Wortsinn kennt“ 332 . 3.4.2 Bahnfahrt nach Kielce - Fortsetzung und Vertiefung der „recherche de l’origine“ Begegnung mit einer Dame aus Oswiecim Während der Fahrt nach Kielce trifft die Erzählerin in ihrem Zugabteil auf eine - wie alle Figuren des Romans namenlos bleibende - „Dame“, die sie trotz ihres bemerkenswerten Äußeren auf dem Bahnsteig nicht bewusst wahrgenommen hatte. Nun jedoch hat die Erzählerin den Eindruck „[…] qu’elle avait surgi, comme une apparition, une émanation de l’esprit des lieux“ 333 . Der Umstand, dass sie nur eine kleine Tasche mit sich führt, mag darauf hindeuten, dass sie nur kurze Zeit verreist war und nun in ihre Heimat zurückkehrt. Sie nimmt gegenüber der Erzählerin, in Fahrtrichtung, Platz, so dass ein Sitzarrangement zwischen den beiden Personen entsteht, das, da die Platzverteilung einer be‐ wussten, topologisch-psychologisch inspirierten Erzählintention folgen dürfte, der „Dame“ eine eher agierend-initiierende Rolle, der Erzählerin hingegen eine stärker reagierend-rezipierende Einstellung zuweist. Nachdem die Grenzkon‐ trollen völlig reibungslos verlaufen sind, obwohl alle Fahrgäste - auch noch Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs - bei der Erinnerung an die Ge‐ schichte der durch die Oder gebildeten Grenze einen Rest an Spannung emp‐ 3.4 „Mémorial“ 215 334 Ebd., S. 71 335 Ebd., S. 69. 336 Ebd., S. 71. 337 In allen Fällen, in denen das Wort „histoire“ in Mémorial mit einem großen Anfangs‐ buchstaben erscheint, bezieht es sich auf die „große (politische) Geschichte“. Vgl. ebd. S. 74, 133. 338 Ebd. S. 72. finden, scheint die Zeit des Wartens auf den Zug endgültig beendet. Wie zu vermuten war, eröffnet die „Dame“ das Gespräch mit der an die Erzählerin ge‐ richteten Frage, ob sie weit reise. Überrascht durch die Auskunft „Kielce“, stellt die „Dame“ weitere, aber nicht auf den Zielort, sondern lediglich auf die vorgesehene Reiseroute bezogene Fragen. Als schließlich die Erzählerin ihrerseits ihre Sitznachbarin nach dem Ziel ihrer Reise fragt, antwortet die „Dame“ wohl erst nach einem gewissen Zögern : „Je vais à Oswiecim.“ 334 Ihre das Kapitel II beherrschende, an ihrer ei‐ genen Biographie orientierte Erzählung über Auschwitz wird zu der angekün‐ digten „[…] émanation de l’esprit des lieux“ 335 , in der sich zugleich das Schicksal der Erzählerin und der mit ihr verbundenen Triade spiegelt und bricht. Die von der ein gutes Französisch sprechenden „Dame“ in einem schroffen Ton gegebene Antwort wirkt auf die Erzählerin wie ein Schock und lässt sie vor innerer Kälte erstarren. Aber auch die des Französischen eigentlich nicht mäch‐ tigen Gesprächszeugen spüren die außergewöhnliche Wirkung des Wortes, die von der Erzählerin durch zwei die grausame Geschichte des Ortes insinuierende Vergleiche zum Ausdruck gebracht wird: […] le mot jeta un froid […] et le mot résonnait, même ceux qui ne comprenaient pas la langue que nous parlions l’avaient entendu exploser comme une bombe, surgir comme un monstre - les eaux, après cela, mirent du temps à se refermer. 336 Die Erzählerin lässt auf den bildhaften Vergleich der Nennung des Namens Oswiecim mit einer Bombe bzw. einem Monster noch den Hinweis folgen, dass sich die durch die Schockwirkung aufgepeitschten Wellen der „Gewässer“ nur langsam legten. Mit „les eaux“ spielt sie auf den durch die „histoire“ ihrer Familie und die „Histoire“ 337 gleichermaßen belasteten, Kielce durchquerenden Fluss an und stellt damit eine Verbindung zu der bereits in Kapitel I durch das Klassem [Wasser] gebildeten Isotopieebene her, die mit einer Vielfalt negativer Bedeu‐ tungen konnotiert wird. Das fatale Echo des Namens Oswiecim, das die Zuhörenden „versteinert“ - […] le nom nous pétrifiait - 338 , lässt die „inneren Stimmen“ zu Wort kommen, durch die das auf „Auschwitz“ fokussierte Kapitel II schon zu Beginn mit der in 3 Themenfeld II 216 339 Ebd. 340 Zur Erzählung der „Dame“ über ihr Leben vgl. ebd., S. 73 ff. 341 Ebd. S. 73. 342 Ebd. S. 74. 343 Ebd. 344 Ebd. 345 Ebd. 346 Ebd. Kapitel I im Vordergrund der Handlung stehenden Familiengeschichte der Er‐ zählerin verknüpft wird: - Nous sommes de là-bas. - C’est la seule origine. - […] - Il fallait partir tous. 339 Offensichtlich löst auch die Information der „Dame“, dass sie nicht als Besu‐ cherin nach Oswiecim fahre, sondern dort wohne, in der Erzählerin ein Gefühl der Beklemmung aus. Für die „Dame“ ist dies keine neue Erfahrung, zumal sich ihre Einstellung zu ihrer Geburtsstadt im Verlauf ihres Lebens einige Male ge‐ ändert hat. 340 Wandlungen im Verhältnis der Dame zu ihrer Heimatstadt Oswiecim Obwohl sie in ihrer Kindheit verständlicherweise noch keinen rational gesteu‐ erten Zugang zu den mit dem Namen ihrer Geburtsstadt verbundenen Gräuel‐ taten fand und ihre Familie im Stadtzentrum immerhin zwei bis drei Kilometer vom Lager entfernt wohnte, nahm sie instinktiv „[…] une lourdeur, une pesan‐ teur anormale“ 341 in ihrer Umgebung wahr. Auch spürte sie, ohne es versprach‐ lichen zu können, dass ihre Eltern in ihrer Gegenwart bewusst nie über die Lagervergangenheit der Stadt sprachen, und in den Geschäften registrierte sie „[…] un silence épais et des regards qui s’évitaient“ 342 . Das Umfeld, in dem sie lebte, hatte somit für sie etwas Abweisendes, das sie als umso befremdlicher empfand, weil ihr die Ursache der irritierenden Wirkung rätselhaft blieb. Nachdem sie als Schülerin das Lager kennen gelernt hatte, wurde ihr das von diesem Ort ausgehende, bis in ihre Gegenwart reichende Leid voll bewusst. Mit ihrer Einsicht in „[…] l’origine de cette douleur […]“ 343 reift in ihr der Entschluss, Oswiecim zu verlassen und ein Studium der Literatur in Krakau zu beginnen. Dort fühlt sie sich - […] malgré le régime qui parfois se durcissait […] - 344 in der Lage, frei zu atmen. Bei ihren gelegentlichen Elternbesuchen jedoch trifft sie immer wieder auf „[…] l’écrasement, l’oppression d’Oswiecim“ 345 , und sie beklagt die „[…] pollution […] de l’Histoire“ 346 , die das Maß der durch die che‐ 3.4 „Mémorial“ 217 347 Ebd. S. 75. 348 Zitat und Kontext ebd. 349 Ebd. mische Industrie verursachten Verschmutzung weit übertreffe. Ihr zunächst noch diffuses kindliches Gefühl der Beklemmung und Befremdung angesichts merkwürdiger Verhaltensweisen in ihrer nächsten und näheren Umgebung mu‐ tiert in ihrer Jugend zur rationalen Einsicht in die Hintergründe jener epochalen, nach dem Namen ihrer Stadt benannten Verbrechen und zum auch physisch empfundenen Leiden an deren Folgewirkungen. Dass die präpositionale Ergän‐ zung „[pollution] de l’Histoire“ im Kontext sowohl als „genitivus subiectivus“ (in der Bedeutung einer ‚origine figurée‘) als auch als „genitivus obiectivus“ fungiert, „l’Histoire“ also gleichermaßen als Urheber und Opfer der Katastrophe von Auschwitz betrachtet werden kann, unterstreicht, dass die Entstehung von Auschwitz dem Handeln von in Raum und Zeit handelnden Menschen ge‐ schuldet war und dass ebenso Menschen die - nicht an einen einzigen Ort und einen begrenzten Zeitraum gebundenen - Folgen zu tragen haben. In den Gesprächen, die sie mit ihren Eltern über das Lager führt, erfährt die „Dame“, dass man gewusst habe, dass sich dort „etwas Schreckliches“ - […] quelque chose de terrible […] - 347 abspiele, vor allem aber habe man - zumal angesichts der unmittelbaren Nähe - in der Angst gelebt, dorthin verschleppt zu werden. Im Nachhinein vermutet sie, dass sie als Kind wohl vor allem diese Angst der Eltern wahrgenommen habe. Man habe die Geschichte des Landes damals in den Kategorien von „Martyrium“ und „Widerstand“ heroisiert, und das Schicksal Oswiecims sei am Punkt der Überschneidung dieser Leitideen einzuordnen gewesen. In der Schule habe man, ohne zwischen den Opfern zu differenzieren und die Rassenverfolgungen, die Vernichtung von Menschen‐ leben - […] la solution finale - 348 auch nur zu erwähnen, gelehrt, dass sich die jüngste Vergangenheit Polens in den Ablauf der Geschichte seiner Kriege und Teilungen einfüge. In demselben Geiste sei die Verantwortung der Sowjets für das Massaker von Katyn verschwiegen und Geschichtsklitterung bzgl. des Wi‐ derstands der Roten Armee während des Warschauer Aufstands von 1944 be‐ trieben worden. Erst ganz allmählich seien die „verschütteten historischen Wahrheiten“ ans Tageslicht gedrungen, zu denen auch die Opfer von Auschwitz gehörten, die namenlos geblieben waren, als ob man sie aus dem Gang der Ge‐ schichte getilgt hätte: „[…] ces vérités souterraines […] venaient au grand jour […] parmi elles, il y avait ces sacrifiés d’Auschwitz restés sans nom, comme privés d’Histoire.“ 349 3 Themenfeld II 218 350 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd. S. 76. 351 Vgl. ebd: […] je voyais défiler des jeunes gens […] de plus en plus éloignés de ces dates mais marqués par ce lieu sans le savoir, par ce nom. 352 Ebd. 353 Ebd. 354 Ebd. S. 76 f. 355 Ebd. S. 77. 356 Ebd. Nach der Beendigung ihres Studiums in Krakau kehrt die „Dame“ - […] presque par esprit missionnaire […] sans savoir pourquoi […] - 350 nach Os‐ wiecim zurück, um dort polnische Literatur zu lehren. In Oswiecim angekommen, stellt sie fest, dass die jungen Menschen - auch mit zunehmendem zeitlichem Abstand von der Lagervergangenheit - geprägt sind von dem Ort und seinem Namen, ohne es zu wissen. 351 Sie macht ihnen klar, dass die zahlreichen, als Besucher in die Stadt strömenden Menschen nicht nach Oswiecim, sondern nach Auschwitz kommen. Die durch Auschwitz provozierte Ablehnung und Empörung trifft jedoch die gegenwärtigen Bewohner, die „[…] dans des rues vides mais pleines de la réprobation, de la douleur des visi‐ teurs […]“ 352 herumirren, also in einem übertragenen Sinn nach eigener Orien‐ tierung suchen. Dies wird ihnen dadurch erschwert, dass sie „[…] sous l’emprise d’un silence“ 353 leben und den Eindruck erwecken, nichts zu wissen. Um das Bewusstsein ihrer Studierenden für diese besondere Problematik der Stadt Oswiecim zu schärfen, stellt sie jedem der von ihr unterrichteten Jahr‐ gänge dieselbe Aufgabe, die zu einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart führen soll: Je vous propose de ne pas faire comme si cela n’existait pas, de ne pas faire comme si cela ne vous concernait pas - je ne parle pas d’Auschwitz, où vous êtes sans doute allés avec le lycée, mais d’Oswiecim, et de la vie des ombres. Chacun d’entre vous peut en parler librement, et après, nous commencerons le cours. 354 Als Literarturdozentin hat die „Dame“ das hier vorgestellte Experiment in jedem Jahr wiederholt und dabei stets dieselben Erfahrungen gemacht. Den Studie‐ renden wird durch die einführenden Worte ihrer Dozentin bewusst, dass die Einwohner von Oswiecim „[…] par un secret, par ce nom et ces ombres […] 355 miteinander verbunden sind. Sobald sie sich von dieser „Erblast“, diesem „[…] chagrin d’origine jusque-là inconnue […]“ 356 befreit haben, entfaltet sich ihre literarische Phantasie und vermittelt ihnen die Gewissheit, dass sie „nicht für nichts da sind“ und ihre literarische Auseinandersetzung mit der Thematik Ant‐ 3.4 „Mémorial“ 219 357 Vgl. ebd: […] nous savions que nous n’étions pas là pour rien et que, peut-être, elle pouvait nous donner des réponses ou nous poser d’autres questions. 358 Ebd. 359 Ebd., S. 78. 360 Ebd. 361 Vgl. ebd. 362 Ebd. S. 79. 363 Ebd. 364 Ebd. worten liefert, aber auch zu neuen Fragen führt. 357 Auch die Ergebnisse des Nachdenkens und Sich-Hineinversetzens sind stets ähnlich: Es wiederholen sich die Klagen über „[…] l’injustice de devoir porter cela comme si nous en étions responsables, ou l’horreur, la culpabilité irrationnelle dont on ne peut se dé‐ faire“ 358 . Dem Vorbild ihrer Dozentin folgend, wollen alle Studierenden nach Krakau ziehen, einige - certains - 359 kehren jedoch zurück, „[…] comme attirés par le gouffre, par l’abîme“ 360 . Einen von ihr selbst aufgrund psychosomatischer Belastungen gestellten Versetzungsantrag hat die Dozentin zurückgezogen, da sie ihr Weggehen wie den Verrat eines Kapitäns empfunden hätte, der sein vom Schiffbruch bedrohtes Schiff verlässt. 361 Die Erzählerin auf der Suche nach dem Sinn ihrer Reise Die Erzählungen der „Dame“ veranlassen die Erzählerin, einmal mehr ihren ei‐ genen Standpunkt zum Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart und damit auch zum Sinn und Zweck ihrer Reise gedanklich zu klären. Die Erinne‐ rung ist, wie sie in einem inneren Monolog feststellt, zwar einerseits „[…] le pire poison, il nous fait vivre dans d’autres temps […]“, „unsere Zeit“ ist jedoch so eng mit der Vergangenheit verbunden, dass wir uns aus ihrer Umklammerung gar nicht befreien können: „[…] mais notre temps […] repose sur les ramifica‐ tions du passé qui nous enserrent comme les lianes d’une forêt vierge - comment s’en délivrer? “ 362 Das Bild der einen Baumstamm umschlingenden und sich an ihm emporrankenden Lianen evoziert in der Erzählerin die Vorstellung eines „[…] lien entre les générations faisant que les choses que ceux d’avant ne pou‐ vaient accomplir, ceux d’après les accomplissaient […]“ 363 . Damit hat sie ihre Entscheidung, nach Kielce zu fahren, begründet: Sie betrachtet es als ihre Auf‐ gabe, Spuren des von der schweigenden Triade in Kielce zurückgelassenen Ge‐ dächtnisses (la mémoire) - einen nicht gehobenen Schatz an Erinnerungen - zurückzuholen, und zwar in einem Moment, da die Alzheimererkrankung ihrem Vater und ihrer Tante das Gedächtnis raubt. Sie ist realistisch genug einzusehen, dass es sich um „[…] des traces effacées, brouillées - niées“ 364 handelt. 3 Themenfeld II 220 365 Christoph Lienkamp, Messianische Ursprungsdialektik. Die Bedeutung Walter Benjamins für Theologie und Religionsphilosophie. Frankfurt, Verlag für interkulturelle Kommuni‐ kation, 1998, S. 15 f. Zitiert nach: Schubert 2001, S. 96. 366 Schubert ebd., S. 96. 367 Schubert ebd., S. 96 und 97. 368 Paul Ricœur: Temps et récit, Tome III, Paris 1985, S. 175. Zitiert nach Schubert 2001, S. 97. Aus welchem Grunde „Spuren“ die Voraussetzung für das Verständnis von Vergangenheit sind und was aus ihnen „ablesbar“ ist, erläutert Christoph Lien‐ kamp: Unter Spur versteht man den sichtbaren und materialen Hinweis auf etwas, das selbst gegenwärtig nicht mehr da ist, d. h. die Spur hat sowohl einen Ort im Raum und eine bestimmte Zeitstruktur. Aus den Markierungen des Raums ergibt sich die Vorstellung der Vergangenheit, indem das gegebene Material in seiner Gegenwärtigkeit an etwas erinnert, das an diesem Ort zu einer Zeit gewesen ist. Ebenso weisen Spuren den Weg, auf dem man das Vorbeigegangene erreichen könnte. So vermittelt sich das Vorbei‐ gehen der Vergangenheit durch die Gegenwart des von der Spur gewiesenen Weges mit der zukünftig möglichen Erreichbarkeit des Vergangenen. 365 Da die Erzählerin sich als Bewahrerin des Gedächtnisses ihrer Vorfahren sieht, die sich - wie die Einwohner von Oswiecim - über ihre leidvolle Vergangenheit ausschweigen und somit als Zeitzeugen nicht zur Verfügung stehen, ist sie auf „Spuren“ im oben definierten Sinn angewiesen. „Spuren“ künden jedoch, wie Katja Schubert formuliert, „[…] von ihrem Überleben genauso wie von ihrem möglichen Verlöschen“ 366 , d. h. dass sie den Ablauf der Zeit von der Vergangen‐ heit über die Gegenwart in die Zukunft und damit auch das Ineinandergreifen von „[…] An- und Abwesenheit […]“ 367 abbilden. Paul Ricœur hat, ausgehend vom Begriff der „Spur“, erläutert, was (für ihn) „Geschichte“ bedeutet: Ainsi, la trace indique ici, donc dans l’espace, et maintenant, donc dans le présent, le passage passé des vivants; elle oriente la chasse, la quête, l’enquête, la recherche. Or, c’est tout cela qu’est l’histoire. Dire qu’elle est une connaissance par traces, c’est en appeler, en dernier recours, à la signifiance d’un passé révolu qui néanmoins demeure préservé dans ses vestiges. 368 Durch die Begegnung mit der Literaturdozentin aus Oswiecim hat sich für die Erzählerin der Sinn ihrer Reise in die Vergangenheit ihrer Familie bestätigt. In ihrer Suche nach ihrem Ursprung - l’origine - fühlt sie sich ihrer Reisegefährtin eng verbunden, erkennt jedoch auch einen markanten Unterschied. Die „Dame“ aus Oswiecim könne, auch wenn sie darunter leide, zumindest sagen, dass sie 3.4 „Mémorial“ 221 369 Zitate Wajsbrot 2005a, S. 85. 370 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. S. 108. 371 Ebd., S. 104. 372 Vgl. ebd. „bei sich zu Hause“ - chez elle - sei, während ihr „chez moi“ angesichts eines Lebens mit der „Triade“ einem „[…] être là par erreur […]“ gleiche und sie sich „[…] au bord du monde“ fühle. Sie vermag die als unheilbar empfundene inner‐ liche Trennung von ihrem Vater und ihrer Tante zwar nicht zu analysieren, stellt jedoch fest, dass „[…] quelque chose d’existentiel […] me mettait à part et m’em‐ pêchait de m’installer“ 369 . Statt sich in ein „chez moi“ zurückziehen zu können, verortet sie sich in einer permanenten Heimatlosigkeit. Vor diesem biographi‐ schen Hintergrund wird auch ihre Sympathie „[…] pour les exilés de tous hori‐ zons, de tous les continents […]“ ebenso verständlich wie ihre Distanzierung und Abneigung gegenüber den gesellschaftlich arrivierten, saturierten Klassen, also jenen, die - […] installés depuis des générations, enracinés […] - ihr das Gefühl vermitteln, sich „im Gefängnis“ zu befinden. 370 Für ihre eigene Erfahrung der Individualität des Leidens findet die Erzählerin im Übrigen eine Bestätigung in den Erzählungen der Frau aus Oswiecim. Nachdem sie für ihren Vorschlag, eine Städtepartnerschaft zwischen Oswiecim und Hiroshima herbeizuführen, keine Unterstützung fand, forschte die Dozentin nach Zeugnissen und Berichten über die Katastrophe des 6. August 1945 und entdeckte dabei, dass viele einfach nur daran interessiert waren zu vergessen, ohne nach der Ursache ihres Leidens zu fragen. Sie übersetzt diesen Wunsch in das räumliche Bild einer Insel, das einerseits die gewünschte quarantäneähn‐ liche Exklusion, andererseits jedoch den Wunsch zum Ausdruck bringt, sich aus diesem Eingeschlossensein ohne weiteres Hinsehen zu befreien: „La souffrance est une île dont les abords sont interdits et qu’ils préfèrent quitter, abandonner, sans l’explorer.“ 371 Verallgemeinernd gelangt die lebenserfahrene und literarisch gebildete Frau für sich zu der Schlussfolgerung, dass niemand an unsere Stelle treten kann „[…] ni pour penser ni pour éprouver“ und dass der „Abstand“ zwi‐ schen zwei (historischen) Ereignissen „unermesslich“ ist. 372 Vertiefte Einsichten in das Schweigen der Triade und die Hoffnungen und Zweifel der Erzählerin, das Vergessen verhindern zu können Die Gespräche mit der „Dame“ lassen die Erzählerin zwar nicht zu grundsätzlich neuen, aber vertieften Einsichten in die Denkweise der Triade gelangen. Er‐ zähltechnisch werden diese Einblicke durch die inneren Stimmen vermittelt, die sich in unmissverständlicher Form zur Radikalität der Trennung von der Er‐ zählerin bekennen: 3 Themenfeld II 222 373 Ebd., S. 89. 374 Vgl. ebd., S. 25: Encerclés, vous nous avez encerlés […] vous avez voulu entraver nos pas […] 375 Ebd., S. 89. 376 Ebd., S. 90. - Notre monde. - Et le tien. - N’ont aucun rapport. - Ce ne sont pas les mêmes. - Ne l’ont jamais été. 373 Die Erzählerin, die (in Teil I) in Erinnerung an ihre Kindheit den Personen der Triade vorwirft, dass sie von ihnen, die sich selbst als „eingeschlossen“ betrach‐ teten, „eingeschlossen“ und an freier Bewegung und Entfaltung gehindert wurde, 374 vernimmt nun über eine innere Stimme die Klage der Alten, die sich vom Voranschreiten der Zeit „eingeschlossen“, „gefangen genommen“ fühlen. Die durch die Idee des [Gefangenseins] gebildete, Teil I und II verbindende Iso‐ topie betont ein das Leben beherrschendes Gefühl der Unfreiheit und mono‐ tonen Freudlosigkeit, das durch die konsequente Verräumlichung zeitlicher Vorstellungen hervorgerufen wird: „[…] les heures s’enchaînent, monotones, et nous encerclent, nous emprisonnent derrière des barreaux trop solides pour être secoués, rien ne s’ébranle autour de nous mais en nous, la faille se creuse.“ 375 Das Gefühl des Bedrohtseins durch den nahenden Tod lässt Erinnerungen an den schicksalsträchtigen, Kielce durchquerenden Fluss wachwerden. Die Angst vor dem Sterben konkretisiert sich zu der Furcht, vom Wasser überschwemmt zu werden und zu ertrinken. Durch die Wiederaufnahme der aus Teil I be‐ kannten, durch das Klassem [Wasser] begründeten Isotopie wird erzähltech‐ nisch unterstrichen, dass die Angst das Leben der Triade nicht nur beeinflusst, sondern beherrscht: - Une rivière qui coule à flots tumultueux et nous menace, et nous emportera. - Nous voulions traverser, trouver le gué, le passage. - Et nous sommes submergés. - Personne ne peut imaginer. - L’angoisse. - Et il faudra mourir. 376 In der Abfolge der von einem Gefühl der Angst, der Bedrohung und des Einge‐ schlossenseins beherrschten inneren Stimme finden sich jedoch auch einige Kontrapunkte. An erster Stelle sei auf eine Äußerung verwiesen, in der man 3.4 „Mémorial“ 223 377 Zitat und Kontext vgl. ebd. S. 99. Vgl. zu dieser Stelle auch Bung 2010, S. 203 f. 378 Vgl. Wajsbrot 2005a S. 100: - Une bombe lâchée, Hiroshima, le 6 août 1944… - Et on aura beau faire, jamais la commémoration n’atteindra l’événement […] 379 Ebd., S. 100. 380 Ebd., S. 101. wohl am ehesten die Meinung der Erzählerin zu erkennen vermag. Vor dem dunklen Hintergrund aller negativen Erfahrungen bricht sich in ihrer Vorstel‐ lung ein heller Strahl der Hoffnung Bahn, die Befreiung aus einem als Gefan‐ genschaft empfundenen Leben. Die Klage, dass das Leben „keine Höhe ge‐ winne“, dass man mit „zum Boden gesenkten Augen“ voranschreite, leitet über zu der alternativen Vorstellung […] qu’il suffirait de regarder plus haut, de voir le ciel, non pour y trouver un dieu mais pour prendre la mesure de notre existence, voir que nous sommes autre chose que ce que nous paraissons, certes, rattachés par les lois de la gravité à notre espace et notre temps, mais aussi reliés aux époques précédentes et suivantes, à un ensemble. 377 Der topologische Gegensatz zwischen „unten“ und „oben“, die Absicht, das der menschlichen Existenz innewohnende Potential von Möglichkeiten der Lebens‐ gestaltung zu nutzen, und die Einsicht, dass die Gesetze der Schwerkraft uns nicht daran hindern, über die Grenzen der Gegenwart hinaus auch in die Ver‐ gangenheit und Zukunft zu blicken, erweitern den Horizont der Betrachtung. Auf die Erinnerung an Hiroshima und die Mahnung, dass keine Gedenkfeier dem Ereignis gerecht werde, 378 folgt ein Gedankenaustausch, der ein Selbstge‐ spräch der Erzählerin wiedergeben dürfte: - Mais oublier? - N’est pas une solution. Nous sommes coincés, acculés à l’errance […] 379 Als ein solches Selbstgespräch zu verstehen ist wohl auch die folgende Ausei‐ nandersetzung über Spuren, auf deren Suche sich die Erzählerin begibt: - On cherche les traces. - On les efface. - On s’oppose. - On s’identifie. 380 Am Ende des Kapitels II fühlen sich die eindeutig den noch lebenden Alten zu‐ zuordnenden inneren Stimmen offensichtlich in ihrer Haltung des Vergessens und des Schweigens über ihre Vergangenheit bestätigt durch die Erzählungen 3 Themenfeld II 224 381 Vgl. ebd., S. 106: - Tu comprends pourquoi nous avons oublié? - Pourquoi nous n’avons plus jamais parlé de notre vie ici? - Ta vie est unie, se déroule dans la continuité, sans rupture ni chaos, tu n’as rien quitté, tu n’as rien dû abandonner. 382 Vgl. ebd. 383 Vgl. dazu ebd., S. 110 f. 384 Ebd., S. 106 f. 385 Ebd., S. 107. der „Dame“ aus Oswiecim. Die Erzählerin habe, so die Stimmen, keinerlei Grund zur Klage, da ihr Leben in einem bruchlosen Kontinuum verlaufen sei, 381 ein Argument, das diese in einem inneren Monolog in Erinnerung an ihre Flucht ins Ausland energisch zurückweist. 382 Die Alten, deren „Horizont“ auf die engen Grenzen einer lange Zeit auch noch als Wohnung dienenden Schneiderwerkstatt beschränkt war, 383 bekennen sich jedoch mit trotzigem Stolz zu ihrer Verweige‐ rungshaltung. Sie haben aus ihrer auf die Vergangenheit fixierten Opposition gegen das Voranschreiten der Zeit eine philosophisch verbrämte Weltan‐ schauung gemacht, deren Realitätsferne sich nicht zuletzt auch in der aberwit‐ zigen Auflehnung gegen den Tod manifestiert und - zumal angesichts ihrer Alzheimererkrankung - die Tragik ihres Lebens unterstreicht: - Nous refusons. - Nous avons refusé. - Arc-boutés contre le passé, tirant en arrière, de toutes nos forces pour ne pas, surtout pas avancer. - Car avancer, c’est reconnaître le temps. - Et reconnaître le temps, c’est accepter la mort. - Nous avons essayé, notre vie s’est tendue vers le refus, un refus qui s’est consolidé et qui est devenu un mode d’être, bien plus qu’une habitude. - Une philosophie. 384 Die Reaktion der Erzählerin auf diese Stimmen ist am Ende des Kapitels II viel‐ schichtig. Sie sieht sich einerseits „[…] condamnée à la mémoire, l’éternel sou‐ venir […]“ 385 , andererseits stellt sie sich selbst Fragen nach dem Sinn des Lebens, die einem Essay Albert Camus’ über das Absurde entstammen könnten: Est-ce vivre, me disais-je en regardant l’étendue des rails et leur alignement, abattre la besogne jour après jour, avoir le soir pour horizon, les échéances les unes après les autres, gagner, faire face, payer, acheter, consommer, remplacer l’ancien par le 3.4 „Mémorial“ 225 386 Ebd., S. 110 f. 387 Vgl. ebd., S. 115. 388 Zitate Ette 2005, S. 247 f. 389 Wajsbrot 2005a, S. 122. 390 Ebd., S. 121. 391 Ebd. nouveau, n’y a-t-il pas autre chose qui permette de lever la tête, d’entrevoir l’horizon, une perspective? 386 Es ist daher psychologisch plausibel, dass sie, während sie in Warschau noch auf ihren Zug nach Kielce wartet, darauf hofft, dass die Fahrt „[…] au centre, au cœur du mystère que je tentais de percer […]“ nicht nur das Rätsel ihres Ur‐ sprungs klären, sondern damit zugleich ihren Blick für „andere Dinge“ öffnen möge. Dies gelte allerdings unter der Voraussetzung, dass das Leben sich nicht in der „Antwort auf die einzige Frage“ erschöpfe. 387 Ottmar Ette interpretiert diesen Schlusssatz des Kapitels II in einem ersten Schritt als einen Versuch, „[…] der Gefangenschaft in der Vergangenheit und einem Einfrieren des Lebens zu entkommen“. In einem zweiten Schritt formuliert er die positiven Erwartungen: „Ihre Zugreise dient dem Ziel, heute leben zu können, ohne auf den - wie der Sänger Orpheus und das Schicksal Eurydikes zeigten - lebensgefährlichen Blick zurück in die Vergangenheit zu verzichten.“ 388 3.4.3 Aufenthalt in Kielce Erleichterung über die Ankunft in Kielce - Erstaunen über die von der Stadt ausgehende Abwehrhaltung Die Beschreibung des Ortes beschränkt die Erzählerin auf wenige Angaben, die sie, bevor sie einige Details nennt, in der Beobachtung „C’était une ville comme une autre […]“ 389 zusammenfasst. Wichtiger ist für sie die von dem Ort und seinen Bewohnern ausgehende Wirkung auf ihr inneres Empfinden. So inter‐ pretiert sie gleich zu Beginn des Kapitels die auf sie gerichteten Blicke der auf ihr Kommen gleichgültig reagierenden Menschen als Ausdruck des Unver‐ ständnisses für ihren Besuch, als wollten sie sagen „[que] cette ville n’a plus de rapport avec toi - elle n’en a jamais eu - ni avec ta famille. Le temps a passé, ce que tu cherches n’existe pas“ 390 . In der Rezeption des Hotels fällt sie auf, ist doch bereits ihr - offensichtlich polnisch klingender - Name nicht nur eine Art Eti‐ kett, sondern „[…] une essence, une révélation de la raison pour laquelle je me trouvais ici […] 391 “. Beim Gang durch die Straßen hat sie zwar den Eindruck, als könne sie Angehörige ihrer Familie treffen und als ob sie schon „hier“ gelebt 3 Themenfeld II 226 392 Vgl. ebd., S. 123. 393 Vgl. bzgl. des erstgenannten Aspekts ebd., S. 121 und 122, ansonsten das ganze Kapitel. S. weitere Verweise. 394 Vgl. ebd., S. 124. 395 Ebd., S. 125. 396 Vgl. ebd. 397 Ebd. 398 Ebd. habe. 392 Beim ersten Anblick des Flüsschens beginnt jedoch ihr Herz zu schlagen, und immer wieder hört sie die „Stimmen“ der Alten, die ihr besserwisserisch vorhalten, sie auf die Sinnlosigkeit ihres Besuchs hingewiesen zu haben, und die sie fortan begleiten werden. 393 Als eine der „Stimmen“ der Erzählerin schließlich einen Gang zum Fluss anrät, 394 wehrt sie sich zunächst, hält dann jedoch rasch ihren Widerstand für sinnlos „[…] comme si ma présence ici, le but, était cette rivière dont le seul tracé sur la carte me faisait peur“ 395 . Verstärkt wird ihre Angst noch durch ihre Erin‐ nerung an die sprachliche Herkunft des Ortsnamens Kielce, der nach ihren In‐ formationen die Pluralform eines „schneidenden Gegenstands“ (objet coupant) darstellt, also die Bedeutung ‚Messerklingen‘ [des lames] hat. 396 In ihrer Vor‐ stellung verselbstständigt sich dieses Wissen zu der Überlegung, ob der Name tatsächlich etwas über das Leben der Stadt aussagt. Der Prozess des Nachden‐ kens spiegelt sich innerhalb eines Gedankenberichts in der Abfolge von Frage und Antwort: „Tranchant dans la chair et le vif de la mémoire, des lames arti‐ sanales - servant à quels métiers? Chacun coupait dans l’existence des autres, rompait les fils, laissant le désarroi s’installer - la discontinuité.“ 397 Lässt der erste Teil der adverbialen Bestimmung (dans la chair) am Anfang des zweiglied‐ rigen Partizipialsatzes noch an die handwerkliche bzw. medizinisch gebotene Tätigkeit eines Metzgers oder Chirurgen denken, so lenkt der zweite Teil (le vif de la mémoire) die Aufmerksamkeit des Lesers in eine gänzlich andere Richtung, nämlich den bewussten Angriff auf das Gedächtnis als eine zentrale Vorausset‐ zung menschlichen Lebens. Bestätigt wird diese Erwartung durch die Antwort, die den Abbruch der Weitergabe des Gedächtnisses metaphorisch als einen „Einschnitt in die Existenz“ und als ein „Abreißen des (Lebens)fadens“ beschreibt und diese Grausamkeit als ein kollektives, also von der ganzen Stadt zu verant‐ wortendes Vergehen - Chacun coupait […] - darstellt. Es entspricht der ambi‐ valenten Haltung der Erzählerin, dass sie in eben diesem Moment einerseits ihre Verachtung Kielces als „[…] une bourgade provinciale tranquille, apparemment tranquille, de celles où se commettent sans doute les pires crimes […]“ 398 zum Ausdruck bringt, andererseits jedoch feststellt, dass „etwas sie zurückhielt“, „[…] 3.4 „Mémorial“ 227 399 Ebd., S. 125 f. 400 Vgl. ebd., S. 126: - La paix, dis-tu. / - Tu ne te souviens pas de ce que nous avons raconté? Ils ne m’avaient rien raconté […] 401 Ebd. 402 Vgl. ebd: Vous avez toujours préféré le silence, et le silence se confond désormais avec votre vie […] 403 Ebd. 404 Vgl. ebd.: - Pourtant, nous avons appris. - Quelques années d’école. - L’histoire et la géographie. - Et nous y avons cru. - À ce pays. une impression de paix - l’arrivée à destination après un long voyage“ 399 . Die Polarität, die zwischen der aggressiv-abweisenden Ausstrahlung der Stadt ei‐ nerseits und dem die Erzählerin friedlich stimmenden Gefühl des Angekom‐ menseins andererseits herrscht, wird verstärkt durch den immer wieder neu aufgenommenen Dialog mit den „Stimmen“ der in Paris zurückgebliebenen Ver‐ wandten. Deren Vorhaltungen, sie über Kielce gründlich informiert zu haben, weist sie nicht nur als unwahr zurück, 400 vielmehr wirft sie ihnen vor, orientie‐ rungs- und ziellos zu leben, indem sie die Dimensionen von Ort und Zeit im Bild einer in ein Chaos führenden Irrfahrt synthetisiert: „[…] vous errez dans les grandes plaines du temps, sans repère et sans but […] votre monde est le vide qui m’aspire, le chaos auquel je cherche à échapper …“ 401 . In demselben Kontext deutet sie dezent an, dass die das Chaos verursachende Haltung des Verschwei‐ gens der Vergangenheit infolge der Alzheimererkrankung des Geschwisterpaars mit deren Leben quasi symbiotisch verbunden sei. 402 Suche nach Spuren des eigenen Ursprungs - Auseinandersetzung mit einer Familie, die ihre Vergangenheit verschweigt Für die Erzählerin stellt die Fahrt nach Kielce nicht nur den Versuch dar, der chaotischen Welt ihres Vaters und ihrer Tante zu entfliehen, vielmehr will sie erkunden, ob es für sie - „jenseits“ ihrer durch das Geschwisterpaar bzw. die Triade bestimmten Herkunft - einen eigenen „Ursprung“ gibt. Sie distanziert sich damit erneut von der an dieser Stelle durch eine Insel-Metapher zum Aus‐ druck gebrachten raum-zeitlichen Isolation des Lebens des Vaters und der Tante, um ihre eigene Herkunft einerseits in einen großen kontinentalen Rahmen ein‐ zuordnen, andererseits auf eine bestimmte Zeitspanne und einen Fluss zu fo‐ kussieren: „Oui, je suis venue, voir si au-delà de vous, il existait une origine qui ne me conduirait pas à votre île isolée mais à la terre d’un continent, un cours du temps, un fleuve …“ 403 Die „Stimmen“ korrigieren nicht nur „un fleuve“ spontan zu „une rivière“, sondern rufen in Erinnerung, dass sie aufgrund ihres „Andersseins“ einerseits Kielce seit langem als ihre Heimat betrachteten, 404 andererseits Verunglimp‐ 3 Themenfeld II 228 405 Als wesentlicher Grund wird ihre jüdische Herkunft genannt. Vgl. ebd. S. 126 f.: - Il n’y avait nulle part où aller. / - Mais les enfants se jetaient sur nous. - Nous insultaient. - Leurs parents leur avaient appris. / - Que nous n’étions pas comme les autres. / - Au catéchisme on leur disait. / - Que nous avions tué Jésus. / - Et ils nous en voulaient. - Pour cela. […] - Ce que nous avions fait. / - À part tuer Jésus. / - Il y a deux mille ans. 406 Vgl. ebd., S. 127. 407 Ebd., S. 128. 408 Ebd. 409 Ebd. 410 Ebd. 411 Ebd., S. 128 f. fungen und Schikanen unterschiedlicher Art ausgesetzt waren. 405 Unter dem Eindruck der Erwähnung des Flusses und der durch die „Stimmen“ wachgeru‐ fenen historischen Reminiszenzen fühlt sich die Erzählerin, obwohl sie über einen Stadtplan verfügt, wie in einem „Labyrinth“ 406 , und - […] sans le vou‐ loir - 407 kommt sie am Fluss an, einem „[…] cours d’eau paisible et étroit […]“, einer „[…] trouée liquide qu’on franchissait presque d’une enjambée“ 408 . Die Vorstellung, dass man gleichwohl in dem Rinnsal ertrinken konnte und im Sommer und Winter eine Gefahr von ihm ausging, versetzt die Erzählerin in so starke Panik, dass sie in ihr Hotelzimmer flieht. Die Inselmetapher und das Bild des Schiffbruchs wendet sie nun in abgewandelter Form auf sich selbst an, und die durch das Klassem [Wasser] gebildete, seit dem Kapitel I bekannte Isotopie spiegelt die Angst und Verlassenheit, die sie beim Anblick der Stadt empfindet: Le soir tombait et par la fenêtre, je voyais des toits qui m’étaient indifférents, voire hostiles, j’étais le naufragé échoué sur son île déserte, même si la mienne était habitée, trop habitée, et bordée non d’un océan mais d’une rivière, une simple rivière […] 409 Die Erzählerin steigert die Kohaerenz des Textes dadurch, dass sie die „Wasser-Isotopie“ oder konkret: das Ertrinken im Hinblick auf die Triade - ils - in einer übertragenen Bedeutung verwendet: „Ils avaient échappé à la rivière pour se noyer dans les eaux de la vie, celles de la perdition […]“ 410 , um unmit‐ telbar danach mittels eines der Bergsteigerei entlehnten Bildes zu veranschau‐ lichen, wie „sie“ sich, um sich zu retten, an ihr, einer empfindsam-verletzlichen Person, wie an einem harten, gefühllosen Felsen festklammerten: […] et je me trouvais sans défense face à leurs attaques involontaires, car comme les gens perdus, ils se raccrochaient à ce qu’ils trouvaient et ils m’égratignaient, comme l’alpiniste qui tombe griffe la paroi, comme si j’étais la roche et non un être fait d’une matière vivante, sensible - comme si rien ne m’atteignait. 411 3.4 „Mémorial“ 229 412 Zitat und Kontext vgl. ebd. S. 129: C’est le passé qui m’insupporte et me détruit […] la vie des autres m’envahit […] 413 Ebd.,S. 129 f. 414 Ebd., S. 129. 415 Vgl. ebd., S. 130. 416 Die Erzählstimme spricht von „[…] les horreurs d’un monde que je ne soupçonnais pas“. Ebd. 417 Ebd., S. 131. In ihrem Schmerz vergleicht die Erzählerin die Last der Vergangenheit mit einer sie zerstörenden Kraft und „das Leben der anderen“, insbesondere „[…] la vie […] de cette famille qui n’est pas la mienne, ne l’a jamais été, ne l’a que trop été […]“ 412 mit der sie überrollenden Gewalt einer „Invasion“. Allerdings verall‐ gemeinert sie diese persönliche Erfahrung, indem sie, die „Wasser-Isotopie“ va‐ riierend, erklärt: „La vieillesse nous submerge […]“ und diese Beobachtung noch zweimal wiederholt. 413 Sie leitet die persönliche Klage über in ein generelles Lamentieren über das Alter, das für die unmittelbar Betroffenen eine Last und für die nachfolgende Generation eine belastende Verpflichtung, einen „[…] de‐ voir d’assistance […]“ bzw. eine „[…] obligation alimentaire […]“ 414 bedeute. Sich selbst sieht die Erzählerin eingeschlossen in einen „circulus vitiosus“, aus dem es kein Entrinnen gibt. Sie übersetzt diese Vorstellung einer besonders qual‐ vollen Art der Gefangenschaft in ihrer Phantasie in ein einprägsames Bewe‐ gungsbild: Bei einem trostlosen Volksfest ist sie dazu verurteilt, dem Geister‐ bahnzug zu folgen. Von Gespenstern angegriffen, entdeckt sie zuvor ungeahnte Schrecken. 415 Das Bild trifft die Situation einer pflegenden Person recht genau, insofern es einerseits ihre sich monoton wiederholenden Tätigkeiten, anderer‐ seits jedoch das unerwartet Schreckliche, das im Verlauf der Betreuung an Al‐ tersdemenz leidender Patienten nicht ausbleibt, widerspiegelt. 416 Die Enttäuschung über das Verhalten der Generation der Eltern ist in der Erzählerin so tief verwurzelt, dass sie ihnen vorwirft, sich nach einem Leben des Verschweigens in eine Krankheit geflüchtet zu haben, die ihnen die Sicherheit garantiert, dass ihnen auch weiterhin Fragen jeglicher Art erspart bleiben. Was andernfalls geschähe, deutet die Erzählerin in einer rhetorischen Frage an, in der sie das Leben der Alten mit einem auf Lügen errichteten Gebäude vergleicht: „Car si la brèche s’ouvrait, si on s’apercevait du mensonge sur lequel s’est bâtie votre vie, si l’édifice s’effondrait, que resterait-il? “ 417 3 Themenfeld II 230 418 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd. S. 132 ff. 419 Vgl. ebd. S. 132: […] une plaque attestait d’un événement, d’une réalité. 420 Ebd. 421 Ebd., S. 134. 422 Vgl. ebd. 423 Vgl. ebd., S. 133: Die Stimme spricht von einer „fosse commune“. 424 Ebd. 425 Ebd. Dialog mit der Stimme eines „homme sans âge“ über das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart Die Annäherung an den „Fluss“, also jenen Ort, der für die Geschichte von Kielce von zentraler Bedeutung ist, wird für die Erzählerin zu einer starken seelischen Herausforderung. 418 Beim Anblick eines alten, an der Ecke zwischen der Ufer- und einer angrenzenden Straße gelegenen zweistöckigen Hauses wünscht sie sich angesichts der hier wie fast überall herrschenden Stille sehnlichst, dass das Gebäude ihr etwas über das an diesem Ort Geschehene erzählen möge. Sie stößt jedoch lediglich auf eine kaum erkennbare Gedenktafel, die von „einem Ereignis, einer Wirklichkeit“ 419 Zeugnis gibt. Als sie dann plötzlich in der Nähe des Hauses eine schattenhafte Erscheinung wahrnimmt, die sich auf den Fluss zubewegt und sie anzusehen scheint, verliert sie jegliche örtlich-zeitliche Orientierung und fühlt sich wie jemand, der Schiffbruch erlitten und dabei nicht nur die Kon‐ trolle über den Kurs, sondern auch über sich selbst verloren hat: […] je n’étais sûre de rien, d’aucune limite, d’aucune frontière, le passé, le présent, le souvenir, l’oubli, la vie et la mort - je me sentais échouée dans cette ville comme un bateau sur le rivage, sans boussole, sans instrument de mesure, j’étais loin de tout - et surtout de moi-même. 420 Das schemenhafte Wesen eröffnet einen Dialog mit der Erzählerin, ohne im Verlauf des Gesprächs seine Identität zu verraten. Die Erzählerin glaubt, eine männliche, einem „homme sans âge“ 421 zuzuordnende Stimme zu hören. Ihre Frage, ob sie mit einem „Moralisten“ oder „Lehrer“ spreche, bleibt unbeant‐ wortet. 422 Nachdem der „Unbekannte“ die über das Pogrom von 1945 bereits unterrich‐ tete Erzählerin darüber informiert hat, dass die Opfer des Massakers auf einem ehemaligen Friedhof in einem Massengrab 423 beigesetzt worden seien, fragt er sie nach dem Grund ihres Kommens. Ihre Antwort: „Découvrir, retrouver“ 424 veranlasst die „Stimme“ zu einem langen Exkurs über den todbringenden, ge‐ schichtsprägenden Fluss - Cette rivière charrie la mort, par elle vient l’Histoire, la maladie, les événements marquants […] Je te le dis, c’est la mort qui coule dans ses eaux - 425 und über das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Ge‐ 3.4 „Mémorial“ 231 426 Ebd., S. 135. 427 Ebd. 428 Ebd. 429 Ebd., S. 134. 430 Vgl. ebd., S. 79, und B 3.4.2, S. 220 f., Anm. 364-368. genwart, das sich exemplarisch an Ort und Stelle dem Blick der Betrachter dar‐ biete: […] ces paysages de destruction sans ruines sont à l’image de notre monde et des temps à venir, on croit reconnaître le danger mais il prend un autre visage, à chaque fois, si bien que nous restons les yeux fixés sur le passé, hypnotisés par certaines formes sans savoir en tirer la vraie leçon. 426 Jedes Zeitalter versuche, sich aus der Perspektive der vorangegangenen Epoche zu betrachten und die von den Menschen dieser Zeit begangenen Irrtümer zu vermeiden. Dabei unterlägen die Regierenden jedoch einem folgenschweren Missverständnis: Une fois aux postes de commande, ils croient avoir compris, ils disent tout va changer, on ne commettra plus les mêmes erreurs, mais les changements dont ils parlent, les erreurs qu’ils ne veulent pas commettre datent d’une autre époque car le temps a passé, et ils se trompent sans s’en rendre compte, ils ne comprennent pas plus le temps où ils se trouvent que leurs parents ne comprenaient celui où ils étaient. 427 Es liegt daher in der Konsequenz des Denkens des „homme sans âge“, wenn er der Erzählerin erklärt: „Ce que tu viens chercher n’existe pas.“ 428 Aus seiner Sicht besser verständlich wird nun auch etwas von ihm schon vorher Gesagtes: „Tu n’es pas la première à venir. Vous croyez qu’il reste des traces. Mais la seule façon d’être ici, ce n’est pas de regarder, c’est de prendre part.“ 429 Die Bedeutung dieser Worte erschließt sich der Erzählerin allerdings nicht sofort, ist sie doch nach Kielce gekommen, um Spuren ihres Ursprungs zu finden, wobei ihr klar war, dass es sich um „verwischte, geleugnete Spuren“ handeln würde. 430 In der Konsequenz ihres Denkens und Handelns liegt es daher, dass sie nach dem Austausch mit der Stimme des „Unbekannten“ den ehemaligen Friedhof aufsucht. Auf dem Friedhof von Kielce - Entdeckung der Spuren einer „geschlossenen Gesellschaft“ Die Reste des alten Friedhofs befinden sich auf einer von einem Gitter umge‐ benen, verschlossenen Brachfläche in einem abseitig gelegenen, trostlos wir‐ kenden Stadtteil. Durch die Gitterstäbe sind einige Stelen als „[des] vestiges d’un 3 Themenfeld II 232 431 Wajsbrot 2005a, S. 141. 432 Vgl. ebd., S. 144. 433 Vgl. ebd., S. 142. 434 Ebd. 435 Ebd., S. 143. 436 Ebd. 437 Vgl. ebd.: Étrangement, devant ces pierres énigmatiques dont la présence, plutôt qu’un témoignage de résistance, révélait l’ampleur d’un naufrage, j’entrevoyais une société fermée où tout se jouait à l’avance, les rôles, le partage des tâches, où l’avenir était tracé, et l’horizon barré. autre temps“ 431 erkennbar. Als die Erzählerin, mit dem Friedhofsschlüssel in der Hand, das Tor aufstößt und hinter sich verschließt, 432 fühlt sie sich wie eine „[…] gardienne du temple“ 433 . Sie wählt damit ein Bild, das ihrer Rolle als Retterin und Bewahrerin versunkener Erinnerungen sakrale Würde verleiht. Auf dem Friedhof findet die Erzählerin einen Erinnerungsstein für die zwei‐ undvierzig Opfer des „[…] pogrom de l’après-guerre […]“ 434 . Die Stelen mit den Namen der verstorbenen jüdischen Einwohner Kielces bilden ein enges Rechteck, dessen an die Ausgrenzung der Juden erinnernde räumliche Isolation die Erzählerin metaphorisch als „[…] un îlot de pierre […]“ 435 beschreibt. Da sie die jüdischen Inschriften nicht entziffern und daher nicht feststellen kann, ob der Name ihrer Familie auf einem der Steine eingraviert ist, vergleicht sie sich mit ihrer Familie in Paris: „[…] j’étais ici comme ils étaient à Paris, ignorante des usages, illettrée […]“ 436 . Ihr Gefühl des Ausgeschlossenseins wird noch ver‐ stärkt durch ihre Vermutung, dass der Name ihrer Familie, die nicht zur Schicht der Reichen gehörte, ohnehin nicht auf den Stelen vertreten ist. Die „rätsel‐ haften“ Steine wirken auf sie daher nicht wie ein „Zeugnis des Widerstands“, sondern sie enthüllen das ganze Ausmaß eines „Schiffbruchs“, den sie hier als vorpragrammiertes Scheitern versteht, insofern ihre Familie in einer „geschlos‐ senen Gesellschaft“ mit einer klaren Rollenverteilung und einer vorab festge‐ legten Zukunft lebte. 437 Genoss die nach Frankreich eingewanderte Familie, wie die Erzählerin meint, zumindest „die Illusion einer Bewegung“, also einer Ver‐ änderung, so fragt sie sich völlig desillusioniert, welch eine Art von Leben in der Abgeschiedenheit einer durch „die Traditionen, die Religion“ determinierten Gesellschaft überhaupt möglich ist. Geradezu schockiert ist sie angesichts eines vergessenen, von niemandem besuchten Friedhofs, auf dem die Angehörigen einer „geschlossenen Gesellschaft“ zu ihrem Schutz noch nach ihrem Tode einer gefängnisähnlichen Abschirmung bedürfen: „[…] quelle expérience de vie abou‐ tissant à ce cimetìère rescapé qu’il avait fallu grillager, verrouiller, pour que nul 3.4 „Mémorial“ 233 438 Ebd. 439 Ebd., S. 149. 440 Vgl. ebd., S. 149 f. 441 Ebd., S. 152. 442 Vgl. ebd., S. 155-161. ne puisse le profaner? Aucun descendant ne venait plus prier ni même se re‐ cueillir, seul le silence l’entourait.“ 438 Beim Verlassen des Friedhofs hat die Erzählerin zwar den Eindruck, „etwas zurückzulassen“, vermag jedoch den „Sinn und die Tragweite“ - […] le sens et la portée […] - 439 dieses „etwas“ ebenso wenig zu beurteilen wie die Frage, ob sie sich davon befreien sollte. Dass sie sich - anders als Orpheus - nicht zu‐ rückwendet, lässt ihre Absicht erkennen, sich von diesem Ort der Vergangenheit ihrer Familie endgültig zu trennen. 440 Die Suche nach ihrem „Ursprung“ ist al‐ lerdings noch nicht abgeschlossen. Dies belegt auch der folgende Ausschnitt aus dem Chor der „Stimmen“, den die Erzählerin vernimmt, nachdem sie den Fried‐ hofsschlüssel zurückgegeben hat: - Mais au fond, tu erres. - Comme nous. - À la recherche de ta vie. - Tu ne sais pas plus que nous. - Où aller. - Car il faut être perdu, profondément perdu, pour revenir ici et croire trouver quelque chose. 441 Dialog mit der Stimme des „älteren Bruders“ Der fatalistisch-resignative Ton der unschwer dem Geschwisterpaar zuzuord‐ nenden „Stimmen“ hält die Erzählerin gleichwohl nicht davon ab, die Suche nach ihrem „Ursprung“ fortzusetzen. Bei Einbruch der Dunkelheit geht sie erneut zum Fluss, wo sie eine „Stimme“ hört, die sich als die des vor Jahrzehnten im Fluss ertrunkenen älteren Bruders ihres Vaters und ihrer Tante erweist. 442 Die surre‐ alistisch anmutende Atmosphäre der Begegnung zwischen den beiden erhellt der folgende, von der Erzählerin eröffnete Wortwechsel: - Nous sommes dans la nuit, de part et d’autre d’une frontière, chacun dans un pays, un territoire, sur une rive. - Sais-tu ce qui nous sépare? - La rivière. - Sais-tu ce qu’est la rivière? 3 Themenfeld II 234 443 Ebd., S. 156. 444 Ebd., S. 157. 445 Ebd. 446 Ebd., S. 158. 447 Ebd., S. 158 f. 448 Ebd., S. 159. - Le cours des choses. 443 Der geschichtsträchtige Fluss, der hier als Grenze zwischen Leben und Tod und in seinem Dahinströmen zugleich als Symbol des fortschreitenden Lebens fun‐ giert, ist der Ort, an dem die Erzählerin ihr Anliegen, ihre Suche nach „[…] une source, une origine…“ 444 noch einmal präzisiert: „Quelque chose qui m’aide à exister. Je croyais qu’en revenant aux sources, je puiserais la force de continuer, ou plutôt de recommencer, d’ouvrir une autre voie, d’explorer un autre chemin. Car je suis fatiguée de l’ancien.“ 445 Sie erklärt der „Stimme“ ihres früh verstorbenen Onkels, warum er für sie zum Vorbild geworden ist: - Tu es la possibilité qu’ils n’ont pas prise, le chemin que je cherche à emprunter. - Et tu appelles cela comment? - La liberté. - Un bien grand mot. - Trouver sa voie, si tu préfères. 446 In einer langen Rede erzählt die „Stimme“ des ertrunkenen Onkels noch einmal die Geschichte der Loslösung von einer Familie, als deren „erstes Opfer“ er sich über den als schicksalhaft empfundenen Tod hinaus betrachtet: „J’étais avec eux, j’ai partagé leur sort et j’en suis mort, j’ai été leur première victime […]“ 447 . Dass der Aufbruch nicht nur ein Gefühl der Freiheit, sondern auch der Abhängigkeit und Unfreiheit ausgelöst hat, beschreibt die „Stimme“ in sehr konkreten Bildern der Gefangenschaft, des Eingekreistseins und der Umzingelung: - Croire partir, s’en aller le cœur léger, laisser le poids derrière soi, et la peine, les entraves, croire partir et tomber, succomber - parce qu’on est seul et qu’on ne peut se passer des autres, de la famille, on se croit libre mais la prison demeure et les gardiens, leur image est partout, vous entoure et vous cerne. 448 Symbolisch aufgeladen ist auch die Beschreibung des todbringenden Unfalls: - […] j’ai trébuché, tout à coup, et puis je suis tombé, j’ai senti un froid, une sensation de glace - il n’avait pas neigé, pourtant - une lame me traversait la poitrine - pourtant, il n’y avait personne - et j’ai compris, c’était l’eau, l’eau 3.4 „Mémorial“ 235 449 Ebd., S. 160. 450 Vgl. ebd., S. 125. 451 Zum „Gefrorensein der Worte“ vgl. Ette 2005, S. 244 und 250. 452 Wajsbrot 2005a, S. 25. de la rivière, je me suis débattu mais il était trop tard, et l’eau m’enveloppait, au-dessus, au-dessous, un poids inexprimable, impossible à soulever, plus lourd que le métal, plus lourd que le passé, le poids de l’eau - de l’eau glacée… 449 Kurz aufeinander folgende, im „passé composé“ wiedergegebene Handlungen, die den Ablauf des Geschehens wiedergeben, sind mit im „plus-que-parfait“ bzw. im „imparfait“ dargestellten Erläuterungen des Hintergrunds verschränkt. Der zweimalige Gebrauch des stets etwas Gegensätzliches markierenden Adverbs „pourtant“ unterstreicht die Bemühung des Erzählenden, die Gleichzeitigkeit des Auftretens unvereinbar scheinender Phänomene hervorzuheben. Mag es noch weniger verwundern, dass ihn bei seinem Sturz ein Gefühl eisiger Kälte überkam, ohne dass es geschneit hatte, so ist es zweifellos schwerer nachvoll‐ ziehbar, dass er zu spüren meinte, eine Klinge durchbohre seine Brust, ohne dass jemand in seiner Nähe war. Allerdings erinnert sich der Leser an die am Anfang des dritten Kapitels eingestreute Erklärung des Namens „Kielce“, der soviel wie ‚objet coupant, lame‘ bedeutet, 450 und ordnet den Schlussteil des Satzes in den gesamten Kontext ein. Der Hinweis auf das eisige, den Ertrinkenden von allen Seiten, von unten und oben „einhüllende“ Wasser, das nicht nur schwerer auf ihm lastet als „Metall“, sondern als die „Vergangenheit“, und die „mise en relief “ der Nominalgruppe „le poids de l’eau - de l’eau glacée…“ am Ende der Rede bewirken eine Annäherung zwischen dem realen Sterben des „älteren Bruders“ und jener Atmosphäre eisigen Schweigens, die sein Leben mit seiner Familie und der Gesellschaft von Kielce prägte und sein einsames Sterben gleichsam präfigurierte. 451 In seinem Leben spiegeln sich zugleich die persönlichen Erfah‐ rungen der Erzählerin wider, die aus der als „univers de glace“ 452 erlebten Nähe des Geschwisterpaars flieht, um sich auf der Suche nach ihrem Ursprung zurück in jenen Ort zu begeben, aus dem ihre Vorfahren vertrieben wurden. Der unerfüllt bleibende Wunsch der Erzählerin nach einem „[…] au revoir de ceux qui partent“ So plötzlich die mit der „Stimme“ des älteren Bruders verbundenen schatten‐ haften Umrisse einer Person auf dem anderen Ufer des Flusses erschienen waren, so plötzlich haben sie - und die „Stimme“ - sich verflüchtigt. In ihr Hotel zu‐ rückgekehrt, ist sich die Erzählerin ihrer zeitlichen und räumlichen Orientie‐ rung nicht sicher, ihr wird jedoch bewusst, dass „er“ wortlos verschwunden war 3 Themenfeld II 236 453 Zitat und Kontext ebd., S. 160. 454 Ebd., S. 160 f. 455 Vgl. Ette 2005, S. 59. 456 Bzgl. der Zitate und des Kontextes vgl. Wajsbrot 2005a, S. 165. „[…] comme les gens disparaissent sans dire au revoir“ 453 . Durch diese Enttäu‐ schung wird ihr jedoch bewusst, was sie auf ihrer Reise eigentlich suchte und nie erlangen wird: C’était cela que j’étais venue chercher, comprenais-je enfin, cet au revoir qui m’avait tant manqué et me manquait encore, l’au revoir de ceux qui partent, ma mère d’abord, et d’autres - le frère et la sœur, qui eux-mêmes en manquaient, et qui allaient déjà vers d’autres rives, silencieuses, inaccessibles à ceux qui, comme moi, restaient de l’autre côté - combien de temps encore? Cet au revoir, comprenais-je en regardant le ciel noir, ne me serait jamais donné, il ne fallait pas l’attendre, il ne fallait rien attendre - de personne. 454 Desillusioniert durch das plötzliche, nicht angekündigte Verstummen der „Stimme“ des - früh verstorbenen - „älteren Bruders“, den sie wegen seines Muts zum Aufbruch aus den verkrusteten Strukturen seiner Familie und der Gesell‐ schaft von Kielce besonders geschätzt haben dürfte, ist der Erzählerin am Ende ihres Aufenthalts in der Stadt ihrer Vorfahren klar geworden, woran sie bisher gelitten hat: Sie hatte nicht verstanden, dass alle Aufbrüche, die sie erleben musste, stets auch Brüche bedeuteten, da sie nie von einem heilenden „au revoir“ begleitet waren. In Anlehnung an die von Ottmar Ette entdeckten wechselsei‐ tigen Beziehungen, die in Beaune-la-Rolande und Mémorial zwischen den Ho‐ mophonen voie und voix herrschen, 455 läge es im Interesse der Erzählerin, wenn jedes „engagement d’une nouvelle voie“ mit einer „action de la voix“ verbunden wäre, die durch ein „au revoir“ die Härte der Trennung milderte und der Hoff‐ nung auf ein Wiedersehen Raum ließe. Am Ende ihres Besuchs in Kielce ist der Erzählerin bewusst, dass es für sie kein „[…] entre-deux possible […]“, keine zwischen Kielce und Paris vermit‐ telnde Kompromisslösung geben kann, sondern eine - von der jeweiligen Blick‐ richtung abhängige - Entscheidung zwischen „[…] ici ou là-bas […]“ zu treffen ist. Sie beschließt zu fliehen und sieht sich dabei in der Nachfolge ihrer Familie, die „[…] la prégnance d’un passé et l’absence d’avenir“ als ihre Devise be‐ trachtet. 456 Vor dem Stammhaus der Familie der Erzählerin Die Erzählerin möchte Kielce nicht verlassen, ohne das Stammhaus ihrer Familie entdeckt zu haben, das sich topographisch in ihrer unmittelbaren Nähe befinden 3.4 „Mémorial“ 237 457 Ebd., S. 165 f. 458 Ebd., S. 168. 459 Ebd., S. 169. 460 Ette 2005, S. 249. muss, zu dem sie emotional jedoch keinen leichten Zugang findet. So hört sie bei ihrer Suche ihr Herz schlagen „[…] comme lorsqu’on pénètre dans une zone interdite, qu’on franchit une limite, la grille d’une propriété privée[…]“ 457 . Bei der Suche lässt sie sich von den „Stimmen“ des Geschwisterpaars leiten, stellt jedoch, nachdem sie glaubt, das Haus gefunden zu haben, resigniert fest: „Et puis, si c’était là, cette adresse n’était pas la mienne, n’était qu’une origine - et qu’est-ce qu’une origine? “ 458 Und in ihren Ohren hallen die rechthaberischen Stimmen der beiden Alten wider: - Il n’y a rien. - Nous te l’avions dit. - Mais il fallait que tu le voies. - Que tu te rendes compte. - Tu comprends maintenant. 459 Rückkehr in eine „Zwischenwelt zwischen den Lebenden und den Toten“ Nach einer - nur in 2 ½ Zeilen knapp erwähnten - Bahnfahrt in Paris ange‐ kommen, fühlt sich die Erzählerin in ihrer eigenen Wohnung nicht „[…] rentrée à la maison […]“, vielmehr glaubt sie, ihren Vater und ihre Tante aufsuchen zu müssen. Sie erzählt von ihrer Reise und hat gelegentlich auch den Eindruck, verstanden zu werden. An die Stelle des - mittlerweile durch die Alzheimerer‐ krankung bedingten - Schweigens der Geschwister rücken ihre von Beginn des Textes an bekannten, während der gesamten Reise nie verstummten „Stimmen“, sodass, wie Ottmar Ette analysiert, auch infolge der Ausblendung der Bahnfahrt Raum- und Zeitebenen wirkungsvoll miteinander verschränkt werden: Das Dort ist im Hier auf unheimliche Weise heimisch geworden. Aus dem Weder-Noch fehlender Zugehörigkeit ist ein Sowohl-Als-Auch der Kopräsenz sich überlagernder, sich durchdringender Zeit- und Raumebenen geworden: eine Zwischenwelt, die Cécile Wajsbrots Mémorial bedrückend entwirft. Der Gegensatz zwischen Hier und Dort hat sich in eine oszillierende Zwischenwelt verflüchtigt, die sich von einer äußeren To‐ pographie ins Innere der Protagonistin, dieses Kinds der Migration, verlagert. 460 Präsent ist auf diese Weise auch wieder der „ältere Bruder“, dessen Stimme sogar eine Bewegung seiner Geschwister zum Fluss hin und auf ihn zu erwartet: „Mais aujourd’hui, ils arrivent au bord de cette rivière où ils vont enfin me rejoindre. 3 Themenfeld II 238 461 Wajsbrot 2005a, S. 173. 462 Ebd., S. 174. 463 Ebd. 464 Ette 2005, S. 250. 465 Ette ebd., S. 250 466 Bung 2010, S. 199. Nous sommes plus proches que nous ne l’avons jamais été.“ 461 Dem Ansinnen der Erzählerin, dem Vater und der Tante zu folgen, erteilt die „Stimme“ des er‐ trunkenen Bruders eine energische Absage: „Il ne faut pas. Ta place n’est pas là.“ 462 Die bisher kämpferisch-aufklärerisch aufgetretene Erzählerin jedoch ge‐ steht ihre Frustration und Erschöpfung ein, um sodann eine verblüffende Kon‐ sequenz zu ziehen: - Ma place n’est pas ici. Je ne suis pas faite pour ce monde, cette vie de conflits, de batailles et de guerres intestines, j’ai essayé - j’ai parfois réussi - mais il faut tant de calculs, tant d’armes que je n’ai pas … J’aspire au repos. - […] - Je vais m’étendre à côté d’eux, rester dans leur univers sans lutte où rien n’arrive, un monde sans enjeu, sans passé qui écrase, sans avenir qui fait peur, un monde uniforme, éternel - je vais m’étendre à côté d’eux comme j’en rêvais parfois, et puis fermer les yeux, m’endormir. 463 Hat die Erzählerin mit diesem Romanende ein Scheitern ihrer „Suche nach ihrem Ursprung“ eingestanden oder lässt sie vielmehr, wie Ette meint, mit der „Viel‐ deutigkeit“ und „Offenheit“ des Ausgangs des Romans „[…] die Frage unbeant‐ wortet, ob die Auflösung der Grenzen zwischen dem Reich der Toten und jenem der Lebenden eher traum- oder alptraumartige Züge trägt“ 464 ? Ette verortet die Ich-Erzählerin „[…] am Ende in einer Zwischenwelt zwischen den Lebenden und den Toten, im Hier und Dort einer Migrationsgeschichte, die eine von vielen auf einem migratorischen Planeten ist“ 465 . Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch der Hinweis von Ste‐ phanie Bung, dass, wie die Spiegelstriche zweifelsfrei erkennen lassen, die letzten Sätze eindeutig Äußerungen des erlebenden, nicht des erzählenden Ich sind. So gebe es keine Instanz mehr, die dem Leser in der Retrospektive mitteile, wie es „tatsächlich gewesen sei“. Der Ausgang der Geschichte bleibe offen, der resignative Tonfall der Stimme suggeriere jedoch eine Ausweglosigkeit, die - zumindest auf der Ebene der „histoire“ - endgültig zu sein scheine. 466 Tatsäch‐ lich, so wäre hinzuzufügen, ist der Ertrag der „recherche de l’origine“ der Er‐ zählerin sehr bescheiden. Im Verlauf dieser Untersuchung stellte sich heraus, dass sie die Notwendigkeit eines „au revoir“, also eines angemessenen Ab‐ 3.4 „Mémorial“ 239 467 Der erste, dritte und fünfte Exkurs befinden sich jeweils am Beginn des ersten, zweiten und dritten Kapitels. Der zweite und vierte Exkurs sind in in das erste bzw. zweite, der sechste und siebte in das dritte Kapitel eingefügt. 468 In dem Gespräch mit Dominique Dussidour erklärt C. W. die Rolle des „harfang“ mit folgenden Worten: „Il a l’avantage, comme la musique, de ne pas parler, de ne pas dire ce qu’il a à dire mais seulement de le signifier.“ (Wajsbrot/ Dussidour 2005, article 1107, S. 2). 469 Wajsbrot 2005a, S. 7 f. - Bzgl. in den laufenden Text eingefügter und durch Anfüh‐ rungszeichen markierter wörtlicher Übernahmen aus dem ersten Exkurs - auch in übersetzter Form - vgl. ebd. schiednehmens, als wichtigste Erkenntnis ihrer Reise nach Kielce betrachtet, dabei aber zugleich hinzufügt, dass ihr ein solches „Geschenk“ nie zuteil wurde und sie dies auch für die Zukunft nicht erwarte. Spekulationen bzgl. des Fort‐ gangs der „histoire“ jenseits der Grenzen des Romans sind nur seriös, wenn sie sich aus dem Text ableiten lassen. Angesichts der im zweiten Kapitel zu be‐ obachtenden existentialistisch geprägten Haltung der Ich-Erzählerin liegt daher die Vermutung nahe, dass sie nach einer Phase der Erschöpfung ihr pflichten‐ orientiertes Leben mehr oder weniger unverändert fortsetzen wird - nach dem Vorbild des einen Stein unermüdlich, aber vergeblich zum Gipfel des Berges rollenden Sisyphus. 3.4.4 Exkurse über die Schneeeule In den Erzähltext eingestreut sind sieben durch Kursivdruck hervorgehobene Exkurse über die Schneeeule. 467 Dass und in welcher Art und Weise die Exkurse auf den Erzähltext bezogen sind, kann im Rahmen dieser Studie nur exempla‐ risch im Hinblick auf den Aspekt der Suchbewegung analysiert werden. Aus‐ gehend von den aus der „histoire“ abzuleitenden Bezügen soll auf der Ebene des „discours“ die durch das „Gegenbild“ der Schneeeule symbolisierte Bedeutung erklärt werden, die sich insbesondere aus ihrem migratorisch-suchenden Ver‐ halten und den Räumen, in denen sie sich bewegt, herleiten lässt. 468 Die Schneeeule als vorzugsweise solitär lebender Vogel mit großem Freiheits- und Bewegungsdrang Im ersten Exkurs 469 wird die Schneeeule als ein Raubvogel vorgestellt, der sich in seinem Verhalten durch „son absence de vie en société“ und in seinem Er‐ scheinungsbild durch sein schneeweißes Gefieder und seinen „goldfarbenen, starren und zugleich durchbohrenden Blick“ auszeichnet. Der „harfang des neiges“ vermag riesige Distanzen zurückzulegen und „den Ozean zu über‐ queren“. Er hat eine Präferenz „für kalte, aber eisfreie Meere“, aber auch für 3 Themenfeld II 240 470 Ebd., S. 25. 471 Ebd., S. 67 f. 472 Ebd., S. 67. „dürres Land, die Vorgebirge, von denen aus er die Umgebung kontrolliert“. Nur zur Verteidigung seines Reviers gegen Gegner verbündet er sich vorübergehend mit Artgenossen, um danach seine solitäre Lebensweise fortzusetzen. Einige Bezüge zur „histoire“ des Romans sind leicht erkennbar. Wie die Schneeeule trachtet auch die Triade nicht danach, ein „Leben in Gemeinschaft“ zu führen, d. h. Kontakte zu anderen Menschen zu suchen und zu pflegen. Neben dieser Parallele zeichnen sich jedoch markante Unterschiede ab, die auf der Ebene des „discours“ die im Verlauf der Diegese hervortretenden Charakterzüge der Triade umso stärker hervortreten lassen. Die Weite des Habitats, das sich jenseits der normalerweise von Menschen bewohnten Zonen ausdehnt, der Freiheits- und Bewegungsdrang und die Unabhängigkeit der Schneeeule kon‐ trastieren mit der bewusst gewählten Zurückgezogenheit und Isolation der Triade. Gebiete, in denen Menschen allenfalls Strafkolonien unterhalten oder aber als „[…] ermites désireux de silence et de recueillement […]“ leben, werden von der erfolgreich nach Nahrung suchenden Schneeeule souverän überflogen. Die entlegene Welt der Schneeule ist ein transparenter Raum der Freiheit, der die Enge und Abgeschlossenheit der mitten in Paris gelegenen Schneiderwerk‐ statt der Triade umso stärker als einen „monde de silence“ bzw. ein „univers de glace“ 470 , d. h. einen von der Gesellschaft als unzugänglich und abweisend er‐ fahrenen Raum, erscheinen lässt. Die Schneeeule als Bote in Raum und Zeit und als Unheilsbote Der dem zweiten Kapitel vorangestellte dritte Exkurs 471 thematisiert Assoziati‐ onen, die durch die phonetische Verwandtschaft zwischen dem lateinischen Gattungsnamen der Eule: „strigidae“, der sich vom griechischen „stryx“ herleitet und ‚Hexe‘ bedeutet, und dem griechischen „Styx“, dem größten Fluss der Un‐ terwelt, hervorgerufen werden. Der Styx markiert in der Unterwelt die Grenze, die die Lebenden von den Toten trennt. Eulen zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, mit ihren Augen die Dunkelheit zu durchdringen und „die unendlichen Schneegebiete“ zu erforschen. Dabei werden sie zu „Boten im Raum und in der Zeit“, die all jenen, die auf „ein Zei‐ chen“ warten, eine sinn- und richtungweisende Botschaft - une phrase qui a un sens 472 überbringen. In der Mythologie der Antike erscheint die Eule jedoch oft als Unheilsbote, und mit dem Namen „Styx“ verbindet sich nur Abscheu: 3.4 „Mémorial“ 241 473 Ebd. 474 Ebd., S. 95 f. 475 Ebd., S. 96. D’un côté ceux qui sont encore là, et de l’autre, ceux qui ont franchi le seuil dans la barque de Charon et qui sont arrivés dans la mort. Il n’y a pas de retour, il n’y a pas d’hésitation possible, déjà les vivants sont destinés à devenir des morts, dans l’entre-deux où ils se trouvent, ils n’essaient pas de revenir, désormais, une impulsion les pousse à continuer, à aborder de l’autre côté. 473 Die Platzierung dieses Exkurses am Anfang des zweiten Kapitels ist wohlbe‐ dacht, insofern hier das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Mittelpunkt der während der Zugfahrt nach Kielce geführten Gespräche zwischen der Er‐ zählerin und einer aus Oswiecim stammenden Frau steht. In Auschwitz-Bir‐ kenau wurden ca. 1 100 000 Menschen, darunter 1 000 000 Juden, vernichtet. So wie die beiden Ufer des Styx die Todgeweihten von den bereits Verstorbenen schieden, so wurde Auschwitz-Birkenau zu einem Ort, an dem die (meisten der noch) Lebenden mit der grausamen Erwartung ihres Todes konfrontiert waren. Die Schneeeule als Bewohnerin eines „monde d’avant la Genèse“ Der vierte Exkurs 474 unterstreicht erneut die Fähigkeit der als „être solitaire“ charakterisierten Schneeeule, „Hunderte, ja Tausende von Kilometern“ zurück‐ zulegen, um auf der Suche nach Nahrung „vor einer zu großen Trockenheit“ zu fliehen. Man mag darin eine Parallele zum Verhalten der Ich-Erzählerin er‐ kennen, die, um der „seelischen Austrocknung“ in der Umgebung der Triade zu entfliehen, Tausende von Kilometern zurücklegte, um in der Hauptstadt eines fernen Landes zu arbeiten. Im Falle der Schneeeule ist die Überwindung riesiger Distanzen jedoch keineswegs nur pragmatischen Gründen geschuldet, vielmehr entspricht sie einem Grundbedürfnis dieses Vogels, dessen „Welt“ nicht die der Menschen ist: […] il a besoin d’immensité. Son horizon ne supporte pas les limites […] non, il lui faut l’infini, il faut l’ininterrompu, l’étendue pour que le harfang donne sa pleine mesure […] il habite un monde d’avant la Genèse […] il habite un monde d’avant le chaos; un monde ignoré de tous où le temps et l’espace n’ont pas la même mesure, où l’homme ne se risquerait pas, où ses pauvres boussoles ne serviraient à rien, pas plus que le compas de ses pensées habituelles. 475 Die Erzählerin entwirft hier das Bild einer Welt, deren Merkmale des „Unend‐ lichen“ und „Unbegrenzten“ jene Vollkommenheit ausmachen, die in dem ma‐ 3 Themenfeld II 242 476 Vgl. ebd., S. 7. 477 Vgl. Ette 2005, S. 247. 478 Wajsbrot 2005a, S. 110. 479 Ebd., S. 119. 480 Zitat und Kontext vgl.ebd. kellosen Erscheinungsbild und der „Harmonie der Bewegungen“ 476 der Schnee‐ eule eine Entsprechung findet und im Gegensatz zum „chaotischen“ Zustand der „Menschenwelt“, des „monde d’après la Genèse“, steht. So ist einerseits die Schneeeule in der Lage, „[…] sich jenseits der gewöhnlichen Geometrie der Menschen und ihrer Kompassnadeln zu orientieren und zu bewegen“ 477 . Ande‐ rerseits de-finiert die Stimme des Geschwisterpaars im zweiten Kapitel die Grenzen des eigenen „Horizonts“ anhand des Kontrastbildes einer handwerkli‐ chen Tätigkeit in der in Paris betriebenen Schneiderwerkstatt: „[…] les ciseaux, le centimètre pour prendre les mesures, un ruban de couleur qui s’enroulait et se déroulait, et le grand mètre en bois pour reporter les mesures sur le tissu à la craie, c’était notre horizon.“ 478 Die Schneeeule als migratorisches Wesen Der dem dritten Kapitel vorausgehende fünfte Exkurs 479 betont das „migratori‐ sche Verhalten“ der Schneeeule, also die durch die Notwendigkeit der Nah‐ rungssuche bedingten häufigen Richtungswechsel - les changements d’ho‐ rizon - ihrer ausgedehnten Flüge. Dieser Aspekt führt zu der Frage: „Dans ses voyages, va-t-il toujours au même endroit et revient-il au même, garde-t-il en mémoire les lieux pour retourner chez lui, si cette notion a un sens, et si tel est le cas, de quelle façon? “ 480 Die Erzählerin erwägt - in zurückhaltend-behutsamer Frageform - vier Ant‐ wortmöglichkeiten: - Hat die Schneeeule ein differenziertes Bild der Landschaften im Gedächtnis bewahrt? - Wird sie durch einen Instinkt, eine innere Kompassnadel geleitet? - Hat sie eine abstrakte Idee, eine Vorstellung von einem „Zuhause“, nach dem sie im Flug sucht, bis das wahrgenommene Bild und die Idee, die Vorstellung über‐ einstimmen? - Oder gibt es ein Ereignis, das sie an einen bestimmten Ort bindet und sie ani‐ miert, dorthin zurückzukehren? Wenn die Erzählerin im Anschluss an diese Erwägungen, unmittelbar vor der Beschreibung ihrer Ankunft in Kielce, feststellt: „Tout possède une mé‐ 3.4 „Mémorial“ 243 481 Ebd. 482 Ebd., S. 139 f. Nachfolgende Zitate, soweit nicht anders gekennzeichnet, S. 139. 483 Ebd., S. 140. moire […]“ 481 , unterstreicht sie damit zusätzlich die Beziehung dieses Exkurses zur Romanhandlung. Die instinktgesteuerte „quête de la nourriture“ der Schnee‐ eule korrespondiert mit der „recherche de son origine“ bzw. der Spurensuche der Ich-Erzählerin, die aufgebrochen ist, um die - aufgrund des Schweigens des Geschwisterpaars - sehr abstrakte Idee, die sie mit dem Herkunftsort ihrer Fa‐ milie verbindet, bildhaft an der Wirklichkeit zu messen und um das Geheimnis jener Ereignisse zu ergründen, die sich mit dem kleinen Fluss - la rivière - ver‐ binden. Die Schneeeule und ihr im Flug wahrgenommenes Wächteramt Den sechsten Exkurs 482 platziert die Erzählerin innerhalb des dritten Kapitels zwischen das Gespräch, das sie mit der Stimme eines „homme sans âge“ über die unheilvolle Geschichte der Silnica führt, und die Schilderung ihres Fried‐ hofsbesuchs. Sie greift in dem Text erneut die der Eule traditionell zugeschrie‐ bene Funktion des Unglücksboten auf - […] elle tournoie sans relâche, annon‐ çant le malheur - weist jedoch zugleich darauf hin, dass man sie „anderswo“ auch noch mit den „[…] forces de l’inconscient, […] la balance des planètes - le mystérieux équilibre de la terre et de la lune, le rythme des marées“ in Verbin‐ dung bringe, die Eule also durch ihre Bewegung das lebensnotwendige Gleich‐ gewicht in der Natur bewirke und dadurch ein Wächteramt ausübe, ihre Bewe‐ gungslosigkeit hingegen das Leben zum Stillstand bringe: „De son vol, elle détermine l’écoulement des eaux, veille sur le cours des fleuves et sur celui des choses, sur la végétation, son mouvement rythme la croissance des herbes, celles des arbres, des plantes, la vie, et son absence, son immobilité en signifie l’arrêt.“ Verstärkt wird die Bedeutung, die dem Flug der Eule im Prozess des Wachs‐ tums und der Abläufe der Natur, des Lebens beigemessen wird, schließlich auch dadurch, dass sie sehr oft betrachtet wird als „[…] une divinité de la mort, une sorte d’ombre nocturne qui plane sur les jours et qui se manifeste dans le silence, c’est pourquoi on la trouve en gardienne des cimetières, pétrifiée sur les stèles dressées, gravée dans la pierre des mémoriaux - gardant le seuil du temps“. 483 Mit dem Verweis auf den Einfluss, den die Eule auf den Verlauf der Gewässer und Flüsse ausübt, und mit der Beschreibung der Eule als Todesgottheit übt der sechste Exkurs eine Scharnierfunktion im Ablauf des dritten Kapitels aus. Der in der mythischen Welt „d’avant la Genèse“ beheimateten Eule werden - die Möglichkeiten des Menschen weit übertreffende - aufklärerische Fähigkeiten 3 Themenfeld II 244 484 Ebd., S. 139. 485 Ebd. S. 163. 486 Bung 2010, S. 203. Vgl. auch B 3.4.2, S. 224, Anm. 377. 487 Vgl. Wajsbrot 2005a S. 99, und B 3.4.2, S. 224, Anm. 377. zugeschrieben, die sie zur Verkörperung schicksalhafter Mächte werden lassen. Sie repräsentiert zuweilen, wie es am Anfang des Textes heißt, […] la réflexion qui domine les ténèbres, l’esprit de clairvoyance, la lumière, non celle du jour […] mais celle qui perce la nuit et rend l’obscur visible, parfois compréhensible. Cependant, pour être éclair dans la nuit, lueur, une sorte d’espoir, il faut d’abord plonger dans les ténèbres, en connaître les secrets et avoir parcouru toutes les sentes du labyrinthe, reconnu tous les pièges. 484 Mit ihrem erfolgreich „die Nacht durchbohrenden“ und die Dunkelheit über‐ windenden Verstand und Klarblick wird sie zum Gegenpol der zweifelnd und tastend nach Spuren der Vergangenheit suchenden Erzählerin, die sich - im Unterschied zur Schneeeule - in einer Welt bewegt, die ihre „Unschuld“ verloren hat. Dieser Gegensatz wird durch den siebten Exkurs besonders hervorgehoben. Die Schneeeule als Bewohnerin einer „terre immaculée“ Im siebten Exkurs 485 wird ihr Habitat als „[…] un lieu sans avenir ni passé où n’existe nulle trace, nul vestige d’aucune civilisation, une terre immaculée […]“ beschrieben, mithin als eine dem Ablauf der Zeit enthobene, zivilisatorischen Einflüssen entzogene, „makellos“ gebliebene „[…] terre [qui] garde l’innocence des premiers temps […]“. Der „harfang des neiges“, der sich mit seinem schnee‐ weißen Gefieder in seine äußerlich „[…] par la blancheur de ses neiges […]“ bestimmte Umgebung in vollkommener Weise einfügt, ist ihr idealer Bewohner, ein Zeuge „anderer Zeiten“: „[…] en lui se dessine la carte d’autres temps“. Wenn es im Schlusssatz über ihn heißt: „[…] il est l’essence et la présence - il est totalité“, so mag damit eine ideale Symbiose zwischen Essenz und Existenz, die „totale“ Übereinstimmung zwischen seinem „inneren Kern“ und dem Lebens‐ vollzug oder „la concrétisation de l’innocence des premiers temps“ gemeint sein. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Schneeeule, die in ihrem Flug in majestätischer Würde grenzenlos scheinende Räume durchmisst, in Mémorial „[…] wie das Gegenbild eines Menschen [wirkt], der mit gesenktem Blick in den immergleichen Spuren seines Daseins umherirrt, ohne es zu bemerken“ 486 . Sie steht damit in Opposition zu den Mitgliedern der Triade und der Ich-Erzählerin, die sich - aus unterschiedlichen Gründen - als „Gefangene ihrer tatsächlichen oder selbstauferlegten Pflichten“ betrachten und sich als „durch die Gesetze der Schwerkraft an [ihren] Raum und [ihre] Zeit angebunden“ 487 empfinden. 3.4 „Mémorial“ 245 488 Vgl. zu diesem Aspekt Bung 2010, S. 192 ff. 489 Vgl. A 2.2, S. 52-55. Die stark mythologisch beeinflussten Exkurse haben eine narratologisch wichtige Funktion. 488 In ihnen wird die Stimme des „erlebenden“ in besonders intensiver Weise zur Stimme des „erzählenden“ Ich, die nicht der Ebene der „histoire“, sondern des „discours“ zuzuordnen ist. Dies bedeutet, dass die Ex‐ kurse in besonderer Weise eine im doppelten Sinn ‚verdichtete‘ Form der lite‐ rarischen Auseinandersetzung mit der Thematik des Romans darstellen. So wie die Eule unterliegt die Literatur keinerlei Beschränkung und Eingrenzung. Dies gilt sowohl für die von ihr frei ausgewählten „Räume“, also die inhaltlich und thematisch definierten Felder, als auch für die Art und Weise, in der sie mit den ihr eigenen Bewegungen und Ausdrucksformen dort erkennbare Spuren hin‐ terlässt. Mit der „sagesse“ der Eule ausgestattet, wird sie den Sinnsuchenden Sinn und Richtung vermittelnde Botschaften hinterlassen. 3.4.5 Perspektivierende Zusammenfassung Da nach dem Tod der Großmutter und mit der Alzheimererkrankung des Vaters und der Tante alle Stimmen verstummt sind, die der Erzählerin über die Ver‐ gangenheit der Familie und damit ihren „Ursprung“ Auskunft geben könnten, ist ihre Entscheidung, sich selbst auf „Spurensuche“ zu begeben, in sich durchaus schlüssig. Ihre desillusionierenden Erfahrungen bei ihrer Reise nach Kielce, ihre nicht nur abstrakte Erkenntnis, sondern ihr zutiefst emotionales Erlebnis des „Zurückgeworfenseins auf sich selbst“, das auf der Enttäuschung über das bei allen von ihr (mit-)erlebten Abschieden ausgebliebene „au revoir“ beruht, be‐ stätigen die Einschätzung der „Stimmen“, dass auch ihr Leben, wie das der Ge‐ schwister, eine „errance“ ist. Eine Anwendung des streng bipolaren Lotman’schen Erklärungsmodells der Trennung zwischen klar voneinander abgegrenzten „disjunkten Teilräumen“ und der Unterscheidung zwischen grenzüberschreitenden „beweglichen“ und „unbeweglichen“ Charakteren würde, wie die Zusammenfassung der Detailun‐ tersuchungen zeigt, der Vielschichtigkeit der Handlung und der handelnden Fi‐ guren in Mémorial nicht gerecht. Wohl aber bietet das von Lotman in seinem Spätwerk vorgelegte Semiosphärenmodell die Möglichkeit einer zusätzlichen theoretischen Fundierung der Analyse. Wenn Lotman die zwei- oder mehrsprachigen Grenzen zwischen aufeinander treffenden Semiosphären als ambivalent bezeichnet, insofern sie stets einerseits trennen, andererseits verbinden, 489 so muss man sich den Prozess der Überset‐ 3 Themenfeld II 246 490 Vgl. B 3.4.3, S. 239, Anm. 464 und 465. 491 Ette 2005, S. 241. 492 Auf die jüdische Religion wird von einer fremden „Stimme“ in abschätziger Weise als „Leur religion déicide“ hingewiesen (Wajsbrot 2005a, S. 56). Weitere Bezüge in den „Stimmen“ der Geschwister, ebd. S. 126 f., vgl. B 3.4.3, S. 229, Anm. 405. zung von einer in eine andere Sprache bzw. von einer in eine andere Semio‐ sphäre als differenziert und vielgestaltig vorstellen. Wie unterschiedlich er ver‐ laufen kann, zeigt der Vergleich zwischen dem Geschwisterpaar auf der einen, der Ich-Erzählerin auf der anderen Seite. Obwohl Paris für das Geschwisterpaar zur Ersatzheimat geworden ist, fühlen sie sich dort nicht angekommen, klam‐ mern sich an ihre Vergangenheit und verweigern sich dem Wandel der Zeit. Und obwohl die Erzählerin in Paris geboren, mit der französichen Sprache bestens vertraut ist und ihre Assimilation an die französische Kultur und Gesellschaft perfekt gelungen zu sein scheint, spürt sie, dass ein „Teil von ihr“ in einem „un‐ definierbaren Anderswo“ verblieben ist, in einer in ihr Inneres verlagerten „os‐ zillierenden Zwischenwelt“, wie Ottmar Ette es formuliert hat. 490 In welcher Art und Weise transgenerationale Beziehungen im Kontext ihrer chronotopischen Voraussetzungen nachhaltig wirkende Folgen für die nachfolgende Generation haben, beschreibt Ette folgendermaßen: […] die Kinder der Migration bewegen sich in einem raum-zeitlichen Koordinaten‐ system, in das die Raum-, Zeit- und Bewegungsstrukturen der Vorfahren hineinragen und vielfach gebrochene fraktale Muster bilden, die unter den eigenen Reisen stets andere Reisen vermuten lassen. So verkörpert die Protagonistin eine komplexe, viel‐ fach sich verzweigende Bewegungsfigur, für die das Hier nicht zum „natürlichen“ festen Wohnsitz geworden ist, sondern nach einem Dort verlangt, das trotz des Schweigens - und gerade auf Grund des Schweigens - der elterlichen Generation immer schon vorhanden und markiert war. Das von vielfachen Brüchen durchzogene Ineinanderragen verschiedener transgenerationaler Zeitebenen mag erklären, warum die Bewegungsfigur der Erzählerin - und ihrer in der ersten Person Plural präsenten Generation - weder die einer simplen Rückkehr im Sinne einer Rückkunft noch jene eines harmlosen Besuches in einer längst distant, vielleicht sogar pittoresk gewor‐ denen Heimat sein kann. Es geht vielmehr um eine fundamentale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Lebensbedingungen auf einem von Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung gekennzeichneten migratorischen Planeten - und um eine Welt nach der Shoah. 491 Mémorial ist eine literarische Form einer solchen Auseinandersetzung mit den Folgen der Shoah, obwohl dieser Begriff und auch das Wort „Juif “ an keiner Stelle des Romans erscheinen. 492 Durch die Auswahl der Orte und Räume wird 3.4 „Mémorial“ 247 493 Vgl. ebd., S. 14 f. 494 Vgl. ebd., S. 154 f. 495 Cécile Wajsbrot, Fugue, Fotografien von Brigitte Bauer, Blandain / Tournai, Estuaire, 2005b, (Wajsbrot 2005b). 496 Zur Entstehung des Textes vgl. Böhm 2010, S. 207-209. 497 Le Petit Robert 2006, S. 1140: „“FUGUE“. jedoch nicht nur die Bedeutung der Semiosphären für die Befindlichkeit und das Handeln einer einzigen, von der Shoah betroffenen Familie erhellt, vielmehr konnotiert der Leser den durch die Kapitelabfolge betonten Dreischritt der Die‐ gese: das Warten auf einem an der Nähe der polnischen Grenze gelegenen Bahnhof, den „hodologischen Raum“ der langen Zugfahrt nach Kielce und schließlich den Besuch in Kielce mit den in die östlichen Vernichtungslager führenden Transporten europäischer Juden und folglich mit der Shoah insge‐ samt. Die Erzählerin stellt überdies Beziehungen her zu den Flüchtlingsbewe‐ gungen, die in allen Zeiten und auf allen Kontinenten stattgefunden haben, 493 sowie zu aktuellen armutsbedingten Migrationen 494 . 3.5 Fugue 495 - Die Geschichte einer Flucht- und Suchbewegung Fugue ist 2005 als „Roman“ in der von dem belgischen Verlag Estuaire edierten Reihe Carnets littéraires erschienen, die eine „collection de romans inédits il‐ lustrés par des artistes contemporains“ darstellt. Ob Fugue als ein Text, der, ab‐ züglich der von Brigitte Bauer stammenden dreißig Schwarz-Weiß-Fotos, einen überschaubaren Umfang von 54 kleinformatigen Druckseiten hat und sich weder durch eine komplexe Handlungsstruktur noch durch eine große Zahl von Charakteren auszeichnet, als „Roman“ definiert werden kann, ist zumindest fraglich. 496 Nach ihrem ebenfalls 2005 erschienenen Roman Mémorial legt Cécile Wajs‐ brot mit Fugue erneut einen Text vor, dessen Titel doppeldeutig ist: Das Lexem „fugue“ wird in seiner ersten Bedeutung definiert als ’composition musicale é‐ crite dans le style du contrepoint, caractérisée par une entrée successive des voix, un thème répété ou suvi des imitations, qui forme plusieurs parties […]’. Daneben jedoch wird „fugue“ erkärt als ’action de s’enfuir […] du lieu où l’on vit habituellement’ 497 . Die Geschichte der autodiegetischen Erzählerin hat von Anfang an, wie bereits der Titel andeutet, den Charakter einer Flucht, und in seinem Aufbau ähnelt der „Roman“ mit der engen Verwobenheit der Kapitel, der Wiederholung leitmotivisch verwandter Sätze, der nicht selten kontrapunk‐ 3 Themenfeld II 248 498 Bzgl. der Textstruktur vgl. Böhm 2010, S. 209 ff. 499 Vgl. Wajsbrot 2005b, S. 9: Je recommence tout, je repars à zéro. Vgl. auch ebd. S. 10. 500 Die Formulierung „Echoraum“ ist entnommen aus Böhm 2010, S. 215. Bzgl. der inter‐ medialen Beziehungen zwischen Text und Fotografie vgl. ebd. S. 215-219. Eine Einbe‐ ziehung der Fotografien in die vorliegende Analyse bleibt auf Ausnahmen beschränkt. - Von einem „Echoraum“ im Hinblick auf Mémorial spricht Ette 2005, S. 241 ff. 501 Wajsbrot 2005b, S. 9. tischen Wirkung „realer“ oder „fingiert-echohafter“ Gegenstimmen sowie den Bezügen zwischen dem Text und den Fotografien durchaus einer Fuge. 498 Im ersten, dritten, vierten und fünften Kapitel ist der Ort der Handlung Berlin, jene Stadt, in die die autodiegetische Erzählerin von Paris aus flieht. Das zweite Kapitel beschreibt die Zugfahrt von Paris nach Berlin. Im fünften Kapitel notiert die in einem Café sitzende Ich-Erzählerin ihre Erinnerungen an ein Ereignis in Paris, das sie in tiefe Verzweiflung stürzte und in ihr den Wunsch wachrief, durch einen Umzug nach Berlin „noch einmal bei Null neu anzufangen“ 499 . Be‐ sonders akzentuiert wird der Erzählfluss durch die eingestreuten Schwarz-Weiß-Fotografien von Brigitte Bauer, die den Text wie ein „Echoraum“ ergänzen. 500 Das Ziel der Analyse ist aufzuweisen, dass und in welcher Weise in der in Fugue erzählten Geschichte einer Flucht- und Suchbewegung die Gedanken und Emotionen der Protagonistin durch raum- und bewegungsbezogene Elemente geprägt und reflektiert werden. Der Gang der textnahen, wiederum semiotische und hermeneutische Ansätze integrierenden Untersuchung folgt dabei zunächst der Abfolge der Kapitel, bevor im Anschluss daran geprüft wird, ob und ggf. in welcher Weise einerseits die Ergebnisse der Untersuchung im Lichte der raum‐ semantischen Theorien Lotmans vertieft werden können und andererseits die „histoire“ der Erzählerin paradigmatisch auf die große „Histoire“ zu übertragen ist. 3.5.1 Entfaltung einer Seelenlandschaft in der Abfolge der Kapitel Kapitel 1 (Hasard): Geflohen aus Paris und angekommen in Berlin - über die Bemühung der Erzählerin, unerkannt zu bleiben und keine Spuren zu hinterlassen Je recommence tout, je repars à zéro, je ne sais même plus qui je suis, bien sûr, j’ai un nom mais c’est bien tout ce qu’il me reste et encore, je ne sais même plus s’il me correspond - j’entends des pas dans l’escalier. 501 3.5 „Fugue“ 249 502 Vgl. ebd.: Les gens vont et viennent, s’exclament, s’extasient […] 503 Ebd. 504 Ebd. 505 Vgl. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant - Essai d’ontologie phénoménologique, Paris: Gal‐ limard 1943, S. 292-341, (Sartre 1943). - Vgl. auch B 4.1.2, S. 274, Anm. 39; B 4.4.1, S. 335, Anm. 329; B 4.7.1, S. 447, Anm. 868. Der das erste Kapitel eröffnende Satz führt die Leserschaft „medias in res“. Eine offensichtlich völlig verzweifelte Ich-Erzählerin hat beschlossen, ein neues Leben zu beginnen, ist dabei jedoch bis in den Kern ihrer eigenen Existenz so stark verunsichert, dass sie an der Übereinstimmung zwischen ihrem Namen und ihrer Identität zweifelt. Der nachgeschobene Hinweis auf von ihr im Trep‐ penhaus wahrgenommene Stimmen deutet auf starken Verfolgungswahn hin. Bereits in den folgenden Sätzen erfahren wir, dass die Erzählerin sich in einem Museum für Moderne Kunst befindet, in dem sich Besucherströme durch eine Flucht ineinander übergehender Säle bewegen und ihre Begeisterung für die ausgestellten Objekte lautstark bekunden. 502 Die Erzählerin jedoch teilt diesen Kunstenthusiasmus keineswegs. In ihrer tiefen Verzweiflung ist das Museum für sie zu einem Zufluchtsort geworden, den sie, wie die Kapitelüberschrift Hasard signalisiert, keineswegs aufgrund einer zielgerichteten Planung aufge‐ sucht hat: „[…] rien ne retient mon regard, de toute façon, je n’aime pas les musées et si j’ai dû me réfugier ici, c’est que, vraiment, je ne pouvais pas faire autrement.“ 503 . Der heterotopische Charakter des Museums, dessen Exponate in ihrer Gesamtheit den Ort zu einer Stätte des Bewahrens und der deutenden Auseinandersetzung mit alltäglichen und existentiellen menschlichen Erfah‐ rungen machen und daher die Blicke der interessierten Besucherinnen und Be‐ sucher auf sich ziehen, garantiert der Erzählerin dann jedoch für einen kurzen Zeitraum die sie entlastende Annahme, unerkannt und unbeachtet zu bleiben. Eben darin liegt für sie der entscheidende Vorzug des Museums im Vergleich zu „[…] ces rues sans fin qui m’angoissent, il y a des personnes qui se parlent à voix basse […] il y en a toujours plus, toujours d’autres, à peine est-on habitué à un visage que d’autres visages apparaissent, ils vous regardent, vous observent, vous surveillent […]“ 504 . Wenn die Erzählerin sich durch die Blicke der Passanten auf den Straßen verängstigt fühlt, erinnert ihre Reaktion an ein von Jean-Paul Sartre beschrie‐ benes Phänomen. In L’Être et le Néant entwickelt der Philosoph in seiner Ab‐ handlung über zwischenmenschliche Beziehungen eine „philosphie du regard“ und stellt die These auf, dass wir uns durch den „regard d’autrui“ (zunächst) gleichsam erstarrt, auf die Ebene eines Objekts reduziert und daher unserer persönlichen Würde und Sicherheit beraubt fühlen. 505 So sieht sich die Erzäh‐ 3 Themenfeld II 250 506 Wajsbrot 2005b, S. 9. - Vgl. zu den Aspekten des Sehens und Verfolgtwerdens Böhm 2010, S. 212 f. 507 Vgl. Wajsbrot 2005b, S. 10: Ne me regardez pas comme ça […] Vous me faites peur, votre intérêt comme votre indifférence, car vos regards me traversent, ne voient que l’enve‐ loppe, une surface. Ce que je suis vous est opaque, m’est opaque à moi-même. 508 Ebd., S. 12. 509 Ebd., S. 12 f. 510 Ebd., S. 20. 511 Ebd., S. 21. Zum Kontext vgl. S. 20 f. 512 Ebd., S. 21. lerin zu Beginn des Romans als Getriebene: „[…] le monde m’est subitement devenu étranger et je cours pour le fuir“ 506 . Der Gedanke, von anderen betrachtet zu werden, nimmt die Erzählerin wie eine Obsession so stark gefangen, dass sie an eine anonyme Menge - vous - die Aufforderung richtet, sie nicht weiter anzuschauen, zumal man nur „Oberfläch‐ liches“ wahrnehme und ihr Wesen nicht nur für andere, sondern auch für sie selbst undurschaubar sei. 507 Und als sie sich von jemandem direkt angeblickt glaubt, wünscht sie sich, dass sie gleichsam „vollkommen durchschaubar“, „nicht-existent“ und folglich auch nicht Trägerin irgendeines Geheimnisses sei und mit „der Ordnung der Dinge“, also der Welt schlechthin verschmelze: „[…] je ne veux pas exister, je ne veux pas être là - j’aspire à la transparence absolue, à la fusion dans l’ordre des choses […].“ 508 Und als ihr bewusst wird, dass sie vieles von dem, was sich am Morgen ereignete, bereits vergessen hat, stellt sie zufrieden fest: „[…] et c’est ainsi que je veux vivre, désormais, oublier au fur et à mesure, que rien, surtout, ne laisse de trace, que rien ne s’imprime.“ 509 Ihr Vorsatz, der Nachwelt selber keinerlei „Spuren“ zu hinterlassen, geht je‐ doch mit ihrer auf den ersten Blick erstaunlichen Angewohnheit einher, in einem „schwarzen Heft“ bestimmte Ereignisse mit der Angabe des Datums zu notieren. Für sie ist dies eine Methode, ihr Gedächtnis zu erleichtern: „[…] car une fois l’événement noté, il sort de ma mémoire et c’est cela que je cherche, à vider ma mémoire.“ 510 Auch informiert sie sich anhand der Zeitung über Ver‐ brechen wie z. B. den Überfall auf einen Reisenden, der in einem U-Bahn-Kor‐ ridor hinterrücks angegriffen wurde, dabei jegliche Orientierung in Raum und Zeit verlor und nun nicht mehr weiß „[…] qui il est“ 511 . (Anders als die Erzählerin, die sich ihrer Identität auch nicht mehr sicher ist, darüber aber reflektiert, vermag das Unfallopfer seine Lage nicht mehr zu analysieren.) Bei ihrer Be‐ schäftigung mit einem Ereignis wie diesem verfolgt die Erzählerin jedoch ein bestimmtes Ziel: „Je note l’histoire des autres pour ne pas raconter la mienne dans l’espoir qu’un jour, elle soit écrite par quelqu’un […].“ 512 3.5 „Fugue“ 251 513 Ebd., S. 10. 514 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 4 2008; S. 424, § 854 (Lausberg 4 2008). 515 Wajsbrot 2005b, S. 20. 516 Ebd., S. 12. 517 Ebd., S. 17. Mit ihren Hinweisen auf ihre Herkunft aus Paris klärt die Erzählerin das Rät‐ selhafte ihrer Person zwar keineswegs auf, provoziert vielmehr Fragen nach ihrer Vergangenheit. Sie leidet keinesfalls an einer totalen Amnesie, hat sie doch nicht vergessen, dass sie in Paris mehrfach umgezogen ist und einen ihren Le‐ bensunterhalt sichernden Beruf, der ungenannt bleibt, ausgeübt hat. Nicht ver‐ gessen hat sie vor allem, welche zutiefst persönlichen Verletzungen und Ent‐ täuschungen sie veranlasst haben, Paris zu verlassen: „[…] je n’ai rien oublié ni des vrais ni des faux sourires, rien de ceux qui m’ont accompagnée ou poussée dans le vide, j’ai trop de mémoire, voilà le vrai problème, voilà pourquoi je suis partie.“ 513 In einem späteren Kontext fügt die Erzählerin eine Bemerkung ein, die ihrer Figur, wie es die Technik des „semina spargere“ mit sich bringt, „einen gewissen verhüllend-rätselhaft-emphatischen Charakter“ 514 verleiht: […] je me suis trouvée à un carrefour, à la croisée des chemins et j’ai pris une direction, ou j’ai cru la prendre, et ce n’était pas celle qu’il fallait. Je suppose, car c’était peut-être celle qu’il fallait, au fond, en tout cas, ce n’est plus la mienne, quand on arrive à une impasse, il faut savoir faire demi-tour ou prendre une issue secrète jusqu’alors invisible et qui, tout à coup, se dévoile. 515 Angekommen ist die Erzählerin in Berlin, einer Stadt, die sie als „[…] le premier pilier de ma nouvelle vie“ bezeichnet, wo sie „[…] un mouvement d’ensemble, une sorte de convergence […] une disposition des lieux faite pour que des évé‐ nements adviennent“ 516 vorfindet. Bei ihren Besuchen in hauptsächlich von Stu‐ denten aufgesuchten Cafés gewinnt sie zudem den Eindruck, dass sowohl die Menschen als auch die Stadt insgesamt eine Art Aufbruchstimmung vermitteln, der Prozess der Veränderung allerdings auch von einer gewissen Unsicherheit gekennzeichnet ist: „Mais leur vie semble encore à construire, ressemble à ces bâtiments qu’on peut voir à Berlin, en chantier, des façades en cours de ravale‐ ment, des cours boueuses, barricadées, l’incertitude - la métamorphose sera-t-elle réussie? “ 517 Den Gedanken des Umbruchs und der Instandsetzung der Stadt nimmt die Erzählerin am Ende des Kapitels mit der Beschreibung einer Szene wieder auf, die auch in einer Fotografie auf der Nachbarseite dargestellt 3 Themenfeld II 252 518 Ebd., S. 23. 519 Ebd., S. 26. 520 Ebd. Bzgl. der Häufigkeit des Gebrauchs von Verben, die eine Fluchtbewegung bzw. Erleichterung und Befreiung ausdrücken, vgl. Böhm 2010, S. 212 f. und ebd., S. 213, Anm. 7 und 8 mit Listen von Belegen. 521 Wajsbrot 2005b, S. 29. 522 Ebd. 523 Ebd. ist. Mit dem auf ihre Person bezogenen Vergleich stellt sie implizit eine Ver‐ knüpfung mit der zu Beginn des Romans beschriebenen Museumsszene her: Certains travaillent encore, décapent des murs ou des parquets, décapent des vies, des couches d’histoire qu’ils enlèvent une à une pour tout repeindre à neuf - comme j’aimerais repeindre ma vie et lui donner ce nom des tableaux d’aujourd’hui, sans titre - sans histoire, sans nom. 518 Der in dem Vergleich zum Ausdruck gebrachte Wunsch unterstreicht erneut die Bemühung der Erzählerin, alle Spuren der Vergangenheit aus ihrer Biographie zu tilgen. Auch ihr Wunsch, ihrem Leben wie einem der modernen Kunstwerke die Bezeichnung „ohne Titel“ zu verleihen, verrät ihre Anstrengung, etwas ge‐ heimnisvoll in den Tiefenschichten ihrer Vergangenheit Verborgenes nicht dem Blick der Betrachter preizugeben. Kapitel 2 (Départ): Zugfahrt von Paris nach Berlin - über den Wunsch der Erzählerin, nicht wahrgenommen zu werden und keine Spuren zu hinterlassen, über die Last der Erinnerung und über die Ankunft in einer Neugier weckenden Stadt In einer bruchlosen Anknüpfung an die Thematik und Tonlage des ersten be‐ schreibt die Protagonistin zu Beginn des zweiten, Départ überschriebenen Ka‐ pitels ihre Gefühlslage im Moment einer offensichtlich überstürzten Abfahrt. Die Abfolge der kurzen Aussagen: „Je pars. / Je disparais“ 519 ist Ausdruck großer Erleichterung, durch die Interpunktion jedoch nicht als Ausruf markiert, was auf eine reflektierte Handlungsweise schließen lässt. Konsequenterweise erklärt die Erzählerin im folgenden, mit dem Infinitiv „Disparaître“ eröffneten Absatz, wie wichtig es ist, keine Spuren zu hinterlassen und dauerhaft unsichtbar zu bleiben: „[…] car il ne suffit pas de disparaître, il faut continuer d’avoir dis‐ paru“ 520 . Sie verstärkt diesen Gedanken noch einmal nach der Wiedergabe eines Gesprächs mit Mitreisenden, deren Frage, warum sie nach Berlin reise, sie aus‐ weichend mit „Quelques jours de vacances“ 521 beantwortet. Auf die Reaktion „Vous avez de la chance“ 522 folgt die Überlegung der Protagonistin: „La chance de couper une fois pour toutes, d’ôter le poids qui s’attache à mes pieds.“ 523 3.5 „Fugue“ 253 524 Ebd. 525 Ebd., S. 30. 526 Ebd. (Hervorhebung H. H.) 527 Ebd. - Die „Stimmen“ in Fugue erinnern an die „Stimmen“ in dem ebenfalls 2005 er‐ schienenen Roman Mémorial. Vgl. dazu B 3.4.1, S. 205, Anm. 276, und Bung 2010. 528 Wajsbrot 2005b, S. 31. 529 Ebd. Indes wird die Loslösung von der eigenen Vergangenheit für die Erzählerin während der nächtlichen Bahnfahrt zu einem qualvollen Prozess. Hinter den heruntergelassenen Gardinen wirkt die Nacht auf sie genauso undurchdringlich wie ihr künftiges Leben - […] la suite de ma vie - 524 . Den Gang ihrer Erinne‐ rungen übersetzt sie in ein räumliches Bild, das ihre Verzweiflung und Enttäu‐ schung als einen in einer Sackgasse endenden Abstieg wiedergibt: „Mes pensées suivaient un chemin chaotique […] descendant une à une les marches de ma vie, celle du dehors et celle du dedans qui allaient se rejoindre dans une même im‐ passe.“ 525 Und schließlich wird sie durch „[…] le grincement des voies, sous les roues décalées […]“ 526 an die Stimmen - les voix - von Menschen erinnert, die Teil ihrer Vergangenheit waren. Die „Stimmen“ fordern die Erzählerin zwar nicht zum Bleiben auf, ermahnen sie jedoch zur Besonnenheit, indem sie auch auf ihre Präsenz im Leben der Protagonistin hinweisen: - N’allez pas si vite. - Prenez le temps de nous regarder. - De vous attarder. - Loin de nous l’idée de vous retenir. - Indûment. - Mais nous sommes là. - Ne nous méprisez pas. 527 Die Erzählerin empfindet den „Chor der Stimmen“ als „[…] une mélodie grin‐ çante, une complainte sans paroles […]“ 528 . Sie fühlt sich auf der Liege des Schlafwagens nicht nur wie in einem Gefängnis, sondern wie in einem Grab, in das sie hinabsteigt. Dabei liest sich die Beschreibung ihrer Lage: - Je me tournais, me retournais, enveloppée d’un drap qui m’emprisonnait comme un linceul, j’étais couchée comme les morts dont les cris m’assaillaient et descendais vers eux, vers ceux que je n’avais pas prévenus de mon départ - 529 zugleich wie ein proleptischer Hinweis auf den in Kapitel V geschilderten Abtransport des Leich‐ nams eines Radfahrers, der möglicherweise von einem durch sie aus ihrer Pa‐ 3 Themenfeld II 254 530 Ebd., S. 86. 531 Vgl. ebd. S. 34. 532 Ebd. 533 Ebd., S. 37. 534 Vgl. ebd., S. 40. 535 Ebd., S. 40. Vgl. zu Kapitel III auch Böhm 2010, S. 210 f. 536 Wajsbrot 2005b, S. 41. riser Wohnung auf die Straße hinabgeworfenen Stein getötet worden ist: „De‐ hors, on emmenait un corps recouvert d’un drap.“ 530 Als der Zug sich in den Hoffnung verheißenden Morgenstunden Berlin nä‐ hert, 531 schaut sie in eine Landschaft, in der „[…] tout était en place“ 532 . Dieser Eindruck wird durch die von streng geometrischen Formen beherrschten Foto‐ grafien auf den S. 35 f. verstärkt. Der Anblick der Stadt weckt in der Erzählerin Neugier auf Neues, auf Raum und einen von ihr selbst zu besetzenden Platz: „[…] la nouveauté m’aspirait, le mouvement que je sentais, l’élan, tout était neuf, se construisait, était en cours, et dans ce cours je pourrais m’insérer, il y avait de l’espace, de la place - j’arrivais.“ 533 Kapitel 3 (Rencontre): Begegnung der Erzählerin mit einem Fremden, in dem sie „le premier pilier de ma nouvelle vie“ erblickt, bevor er sie nach kurzer Zeit „glacée, pétrifiée“ zurücklässt Im dritten, Rencontre betitelten Kapitel beschreibt die Erzählerin eine flüchtige Bekanntschaft mit einem Mann, der sich durch ihre „présence“ angezogen fühlt in einem Moment, da sie ihre „absence“ zu genießen beginnt. 534 Das Verhältnis zwischen den beiden, das zunächst durch eine gegenseitige erotische Anziehung geprägt ist, endet damit, dass der namenlos bleibende Mann leugnet, die Erzäh‐ lerin zu kennen. Ihr Urteil über ihn formuliert sie im Eröffnungssatz, der - wie das ganze Kapitel - direkt an ihn adressiert ist: „Vous étiez donc de ceux qui fuient, de ceux qui ne supportent pas qu’on les approche et qui partent avant que tout ne commence vraiment.“ 535 Dass sie ihn damit in gewisser Weise zu ihrem männlichen Gegenbild erklärt, ist nicht zu übersehen. Für diese Unter‐ suchung relevant ist die Frage, in welcher Weise sich das Charakterbild des Mannes und das Seelenleben der Erzählerin in im weitesten Sinne räumlichen Vorstellungen widerspiegeln. Die Selbsteinschätzung des Mannes zeugt von einem äußerst starken Ich-Ge‐ fühl: „Parfois […] j’ai l’impression d’être le pilier, l’unique point fixe dans un monde qui vacille au milieu d’une houle de plus en plus forte, et je maintiens le cap.“ 536 Hatte die Erzählerin bereits die Stadt Berlin in ihrer ersten Erwähnung 3.5 „Fugue“ 255 537 Ebd., S. 12. 538 Ebd., S. 44. 539 Ebd., S. 46. 540 Ebd., S. 53 metaphorisch als „[…] le premier pilier de ma nouvelle vie […]“ 537 bezeichnet, so erscheint hier dasselbe Bild, allerdings in einem größeren Bezugsrahmen, insofern der Mann sich als einen den Himmel tragenden Atlas stilisiert. Nach‐ haltig unterstützt wird das sprachliche durch die fotografischen Bilder auf den Seiten 42 f, die den Fernsehturm auf dem Alexanderplatz und den Stützpfeiler einer Brückenkonstruktion als starke vertikale Linien präsentieren. Aber auch die Erzählerin, die sich den Mann als Kapitän, der bei stürmischer See Kurs hält, vorstellt, zeichnet ein positives, von einer (auch) räumlichen Idee ausgehendes Bild, das ganz von ihm und seiner Autorität ausstrahlenden Aura beherrscht wird. Dementsprechend verkehrt sich die Welt in seiner Abwesenheit in einen leeren, unbewohnten, unbeschützten und letztlich auch unbewohnbaren Raum: „[…] tout me semblait vain, comme un quai de gare désaffectée, une plate-forme vide au grand large, les remparts dont je voulais m’entourer n’avaient aucune solidité, le monde était inhabité - il me manquait quelqu’un.“ 538 In ähnlicher Weise beschreibt die Erzählerin ihre Seelenlage, nachdem ihr geheimnisvoller Bekannter sie bei einer ihrer Begegnungen in einem Café un‐ vermittelt und ohne ein Abschiedswort verlassen hat. Sie fühlt sich in einer ausweglosen Lage, mit der in der Ferne sich abzeichnenden Kulisse einer ihre Einsamkeit und Verlassenheit widerspiegelnden, in Nebel verhüllten, trostlosen Winterlandschaft. Nach ihrem von Hoffnungen begleiteten Aufbruch aus in‐ nerer Erstarrung in eine Stadt des Aufbaus und der Erneuerung sieht sie sich, regungslos, umgeben von den „Trümmern“ einer gerade erst begonnenen Be‐ ziehung: […] nous n’avions eu le temps de rien et c’était là qu’il aurait fallu s’arrêter, le chemin ne menait nulle part, au loin, des forêts et des brumes, des arbres dénudés, un paysage d’hiver reflétant ma vie et j’étais là, immobile parmi les débris, les ruines d’une histoire à peine commencée. 539 Vertieft wird die Entfremdung der Erzählerin von dem Mann, dessen Wesen und Identität - […] qui étiez-vous? - 540 sie nicht zu entschlüsseln vermag, auch durch ihre angestrengten Versuche, sich ihm durch die Beschäftigung mit der von ihm angeblich geschätzten, ihr aber bislang unzugänglich gebliebenen Dichtung an‐ zunähern. Die Lektüre des von ihr unbedacht gekauften Gedichtbands Die Nie‐ mandsrose von Paul Celan, der dem russischen Dichter Ossip Mandelstam, einem Opfer des stalinistischen Terrors, gewidmet ist, erschließt ihr jedoch keine neue, 3 Themenfeld II 256 541 Ebd., S. 50. 542 Alle vorangegangenen Zitate ebd. S. 58. 543 Ebd., S. 59. 544 Ebd. 545 Zitate und Kontext vgl. S. 60. Rettung verheißende Welt, sondern stürzt sie in einen Zustand tiefer Verwir‐ rung. Sie versteht ihre Irritationen als Vorboten des bevorstehenden Endes ihrer flüchtigen Beziehung. Ihre durch die Lektüre entstandene Konfusion beschreibt sie wiederum in durch räumliche Vorstellungen beherrschten Metaphern und mit Anspielungen auf die von Tod und Trauer kündenden Gedichte Celans: Mais dans ce livre, il y avait plus de néant que de roses, un gouffre s’ouvrait sous mon bonheur, une sorte de présage. Les mains qui se tendaient étaient noires, l’or ne surgissait que de cendres, et partout se dressaient des pierres - les stèles de la mort. 541 Als die Erzählerin im Café vergeblich auf den Mann wartet, erlebt sie dies als „[…] un temps infini“. Gleichzeitig hüllt Nebel die Stadt in ein „[…] inquiétant mystère […]“ und lässt sie damit zu einem Abbild jenes Geheimnisses werden, das der Mann, in den sie sich verliebt hat, für sie geworden ist. Die Frage „rester ou partir“ 542 verlangt nach einer Antwort. Die wenigen mit dem Mann aufge‐ suchten Orte meidet die Erzählerin wie „[…] une zone interdite, radioac‐ tive […]“ 543 , da er überall unsichtbar, aber gleichwohl auf bedrohliche Weise gegenwärtig zu sein scheint. Als sie dann eines Tages das Café betritt, in dem ihr erstes Treffen stattfand, sieht sie, dass der Mann allein an einem Tisch in der Nähe des Fensters sitzt und nach draußen schaut, als ob er auf jemanden warte. Sie reagiert unreflektiert-reflexhaft und erlebt einen Zustand, in dem sie mit ihrer örtlichen Orientierung zugleich das Bewusstsein ihrer selbst verliert: „J’a‐ vais les jambes qui se dérobaient, la gorge qui battait - que faire? aller vers vous? C’étaient mes pas qui me menaient, je n’étais nulle part, je n’allais nulle part - je n’étais personne.“ 544 Als sie ihn schließlich ungewollt anlächelt, fühlt sie sich von seinem zuvor „[…]sur […] l’infini“ fokussierten Blick nicht nur getroffen, sondern hat vielmehr den Eindruck, als schaue er durch sie hindurch - […] votre regard me traversa sans un signe de reconnaissance -, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Sie fühlt sich dadurch so stark erniedrigt, dass sie - [g]lacée, pétrifiée […] - um Fassung ringt. 545 3.5 „Fugue“ 257 546 Ebd., S. 66. 547 Ebd. 548 Zitate ebd. 549 Ebd. S. 67. 550 Ebd. 551 Ebd. 552 Vgl. ebd., S. 67. 553 Vgl. ebd., S. 72. 554 Ebd. 555 Ebd. Kapitel 4 (Errance): Über die Schwierigkeit der Erzählerin, Flucht und Vergessen zu perpetuieren, über ihre Vorliebe für die chaotische Leere des Alexanderplatzes und den Fernsehturm als ihre „raison d’être“ sowie ihre Suche nach „des histoires d’amnésie“ In Errance, dem vierten Kapitel, schildert die Erzählerin ihr Leben als ein Leben der permanenten Flucht. „Fuir n’est pas difficile - comme je le pressentais, c’est continuer de fuir qui est problématique, assurer la cohérence du renoncement, de l’oubli.“ 546 Die Schwierigkeit des verstetigten Davonlaufens und Vergessens wird der Erzählerin bewusst, weil sie sich - vor allem auch des Nachts - der Gesichter und Stimmen der Vergangenheit zu erwehren hat: „[…] la nuit, je repousse les assauts - et leurs voix, leur histoire.“ 547 Sie lebte in Paris ohne engere familiäre Bindungen, nur „[avec] un cercle lâche qui s’est distendu avec les é‐ preuves et les années […]“, und im Übrigen blieb ihr stets „[…] une ressource, changer d’adresse et de pays pour changer d’existence“ 548 . Ein beliebtes Ziel in Berlin ist für sie der Alexanderplatz geworden, den sie gleichwohl ohne Umschweife als „[…] un centre dévasté“ 549 bezeichnet. Was sie am Alexanderplatz schätzt, ist der noch anhaltende Prozess des Wiederaufbaus - […] tout est reconstruit ou en passe de l’être […]- 550 , aber auch die Planlosigkeit der Bebauung, der chaotische Eindruck der Leere, der ihrem von vagabundier‐ ender Ziellosigkeit bestimmten Lebensgefühl entgegenkommt: „[…] ce chaos me rassure car il me correspond. Il y a des magasins où entrer, où errer et chercher sans trouver - il y a la place du vide.“ 551 Sie schätzt den Alexanderplatz daher auch, weil er mit seinem Bahnhof ein Durchgangsort für Reisende ist 552 und die auf ihm anzutreffenden Menschen hier nicht wohnen, sondern nur vorüberge‐ hend verweilen. 553 Er verschafft ihr die Möglichkeit, in die Menge einzutauchen, ohne jemandem zu begegnen: „[…] Alexanderplatz m’absorbe, sa banalité, son absence de beauté, je suis là où je dois être, à ma place.“ 554 Nicht zuletzt aber liebt die Erzählerin den Fernsehturm, der zur Zeit seiner Entstehung „[…] une fierté scientifique […]“ 555 war, für sie jedoch eine sehr persönliche, höchst ambivalente 3 Themenfeld II 258 556 Zitate ebd., S. 73. 557 Ebd. 558 Ebd. 559 Vgl. ebd.: […] ces gens qui se réveillent un jour sans savoir qui ils sont et qui errent dans les rues où nul ne les connaît […] 560 Kontext und Zitate vgl. ebd. 561 Vgl. ebd., S. 78: Alors je vais vous raconter et ensuite, je serai délivrée - […] - Zur kreisförmigen Struktur des Romans und zur „venue à l’écriture“ vgl. Böhm 2010, S. 215. 562 Wajsbrot 2005b, S. 79. Bedeutung hat, da er sie mit seiner in die „Unendlichkeit“ hineinragenden Höhe gleichermaßen verunsichert und beruhigt: „[…] c’est un veilleur qui pointe vers l’infini, qui m’inquiète et me rassure à la fois“. Ihre ergänzende Bemerkung, dass dieser Turm für sie „[…] la raison d’être là“ 556 sei, lässt die Vermutung zu, dass sie in der „Unendlichkeit“ eine die engen Grenzen des Lebens überwindende, Ängste und Hoffnungen gleichermaßen provozierende Dimension sieht. Auf ihrer „errance“ durch Berlin geht die Erzählerin in Buchläden, da sie auf der Suche nach Texten ist „[…] qui parlent de disparitions, des héros qui s’en vont sans donner de nouvelles“ 557 . Diese Bücher seien jedoch rar, und es handle sich bei ihnen um „[…] l’histoire de ceux qui sont restés et qui attendent le retour - comme si l’histoire de ceux qui disparaissent n’était pas racontable“ 558 . Sie interessiert sich schließlich für „[c]es histoires d’amnésie […]“, also die Ge‐ schichte von Menschen, die das Bewusstsein ihrer Identität verloren haben, un‐ erkannt bleiben und ziel- und orientierungslos herumirren. 559 Von ihnen unter‐ scheide sie sich fundamental: „[…] - tandis qu’ils cherchent en vain, je les envie car moi, je sais trop“ 560 . Mit dem Thema „Schreiben“ schlägt sie eine Brücke zum fünften, Silence betitelten Kapitel, das den in Hasard eingefädelten Erzählfaden wiederaufnimmt und ihr eine „venue à l’écriture“ ermöglicht, die sie, wie sie hofft, von ihrem „trop-plein de savoir“ zumindest teilweise entlastet. 561 Kapitel 5 (Silence): Über den Steinwurf der Erzählerin und ihren Versuch, durch die Niederschrift des Erlebten noch einmal „bei Null anzufangen“ Obwohl die Erzählerin ihre vor einiger Zeit abgelegte Uhr noch nicht wieder angelegt hat und sich damit symbolisch dem Voranschreiten der Zeit und ihrer eigenen Geschichte zu entziehen versucht, fühlt sie sich angesichts des bevor‐ stehenden Jahreswechsels und ihrer noch immer unbeantworteten Fragen - […] qui je suis et ce que je vais faire - 562 gedrängt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Sie denkt zurück an eine Zeit, in der „ihr Leben und das der anderen“ nichts 3.5 „Fugue“ 259 563 Ebd. 564 Ebd. 565 Ebd. S. 82. Zum Kontext vgl. ebd., S. 81 f. 566 Böhm 2010, S. 211. 567 Wajsbrot 2005b, S. 84. 568 Ebd. 569 Ebd., S. 86. anderes war als „[…] un long labyrinthe dont nul ne savait sortir“ 563 . Ihre damals morbide Stimmung, die offensichtlich durch ein Gefühl absoluter Ausweglosig‐ keit hervorgerufen war, fasst sie zusammen in der Aussage: „Nous étions tous piégés et peut-être déjà morts mais nous nous croyions vivants.“ 564 Ihre damalige Wohnung lag im fünften Stock eines Mietshauses und hatte einen kleinen, zur Straße liegenden Balkon. Ein Gewitter am Vorabend, ein sich verfinsternder Himmel, die schwül-warme Luft schufen eine irreal anmutende Atmosphäre, in der am Horizont die Grenzen zwischen einer Hügelkette und den Wolken verschwammen und eine gespenstisch wirkende Stimmung ent‐ stand, in der die hynotisierte Erzählerin paradoxerweise „die Stille zu hören glaubte“: „[…] tout n’était plus qu’ombres aux portes du désert - je crus entendre le silence.“ 565 In dieser Situation entstand in ihr […] ein Gefühl der Auflehnung auch gegen den Rest der Menschheit, der angesichts eines nicht näher bekannten, die Naturelemente zum Stillstand und zum Schweigen bringenden Ereignisses seine Alltagsgeschäfte ungerührt fortführt: ’Est-ce ainsi, pensai-je, chacun continue de vivre sa vie alors qu’il se passe des choses étranges? J’avais envie de descendre, de leur crier, levez les yeux, regardez le ciel au lieu de continuer votre vie d’en bas.’ (ebd. S. 82). 566 Die - im doppelten Sinn auf die Menschen herabsehende - Erzählerin gab jedoch nicht ihrem Drang nach, auf die Straße hinunter zu gehen und den Menschen angesichts einer wie auch immer entstandenen kollektiven Schuld ins Gewissen zu reden, vielmehr griff sie nach einem in Fensternähe liegenden Stein, der von einem Strandspaziergang „[…] avec quelqu’un qui s’était ensuite éloigné de moi […]“ stammte und sie an „[…] une histoire qui m’emprisonnait […]“ 567 er‐ innerte. Um die dadurch in ihrem Leben entstandene „Stagnation“ zu über‐ winden und „[pour] créer un mouvement“ 568 , warf sie den Stein auf die Straße und hörte unmittelbar danach Schreie. Dadurch beunruhigt und verunsichert verließ sie nun doch eilends ihre Wohnung und erfuhr, dass tatsächlich ein Rad‐ fahrer verunglückt war - Un cycliste, renversé - 569 , vermochte aber nicht zwei‐ felsfrei herauszufinden, ob sie den Unfall durch den Steinwurf verursacht hatte. Diese Unsicherheit stürzte sie in eine tiefe Verzweiflung, die sie nun bei der 3 Themenfeld II 260 570 Ebd., S. 87. 571 Ebd. 572 Ebd., S. 89. 573 Ebd. 574 Bzgl. dieser Metapher vgl. Böhm 2010, S. 215. Niederschrift ihrer „Geschichte“ in Bilder einer wüstenleeren, wie vom Krieg zerstörten Landschaft überträgt: „Je marchai dans les rues sans savoir où j’allais, sans regarder, devant moi s’étendaient des voies désertes, des cours vides, des chaussées défoncées - un paysage dévasté, les ruines d’une guerre.“ 570 Darüber hinaus wurde ihr bewusst, dass die Erinnerung an dieses Ereignis sie dauerhaft verfolgen und von ihren Mitmenschen trennen würde. Erneut be‐ dient sich die Erzählerin konkret-räumlicher Bilder, um ihrer damaligen Erwar‐ tung einer totalen Isolation Ausdruck zu verleihen: „Le souvenir me poursuivrait toujours, un mur épais me séparait des autres, un mur donnant sur d’autres murs, une succession d’infranchissables barrières.“ 571 Ihren Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft glaubte die Erzählerin schließlich auch, wie bereits in den Ausführungen zum Kapitel I gesagt wurde, über das Phänomen des Blicks bzw. der Blicke zu erleben. Während sie den Eindruck hatte, dass die Blicke aller Menschen auf sie gerichtet waren - und sie damit ihrer persönlichen Würde beraubt war -, wagte sie, von Ängsten und einem Gefühl des Verfolgtseins geplagt, nicht einmal mehr, sich selbst im Spiegel zu betrachten und sich damit zu ihrer eigenen Existenz zu bekennen: „J’étais invisible, sans existence, inerte […] j’étais poursuivie, pourchassée […].“ 572 So führte die Flucht nach Berlin die Erzählerin an einen Ort, an dem sie sich schreibend von den Lasten der Vergangenheit zu befreien versucht: „[…] et voilà, je suis dans ce café et j’écris ces lignes - je voudrais repartir, recommencer à zéro.“ 573 Dass sie an einer Wegkreuzung ihres Lebens steht, wird - im „Echoraum der Fotografie“ - 574 durch das Bild auf S. 88, das einen eine Straßenkreuzung überquerenden Passanten zeigt, zusätzlich betont. Zu beachten ist jedoch auch, dass in der „structure circulaire“ der Erzählung das „Je recommence tout, je repars à zéro […]“ der ersten Zeile am Schluss des Textes nicht nur wieder auf‐ genommen, sondern mit der Feststellung „[…] et j’écris ces lignes […]“ ver‐ bunden wird. Der Text spiegelt, wie Valeria Gramigna treffend beobachtet, eine Entwicklung wider, die für die Erzählerin mit „[…] la tentative de l’annulation du moi […]“ einsetzt und sie zu „[…] la conscience du moi et à la possibilité de tout recommencer à partir de l’écriture“ hinführt. Dies bedeutet, dass „[l]’écri‐ ture des notes sur le carnet, qui évolue parallèlement à celle du roman, soutient 3.5 „Fugue“ 261 575 Gramigna, Valeria, „Dans la ville (Cathrine, Clerc, Haenel, Mestre, Wajsbrot)“, in: Thé‐ rèse Jacquet (dir.), Papier-villes, Bari, Edizioni B. A. Graphis, 2008, S. 5-19, (Gramigna 2008), hier: S. 14. 576 Vgl. Lotman 1993, S. 342. 577 Vgl. Wajsbrot 2005b, S. 20: […] et c’est cela que je cherche, à vider ma mémoire. 578 Ebd., S. 26. 579 Ebd., S. 9, (Hervorhebung H. H.). 580 Vgl. ebd., S. 17. 581 Vgl. ebd., S. 72, und B 3.5.1, S. 258, Anm. 554. cette reconstruction du moi“. 575 Der Prozess des Schreibens wird für die Erzäh‐ lerin zu einem Akt der Selbstvergewisserung und zur Therapie ihres gebro‐ chenen Ich. 3.5.2 Perspektivierende Zusammenfassung Lotmans Modelle der Raumsemantik bieten sich für eine Analyse von Fugue nur bedingt an. Im Zentrum der (vordergründigen) Handlung des „Romans“ steht die „Geschichte“ einer verwirrten, einen Stein auf die Straße werfenden Frau, die, von Gewissensqualen geplagt, flieht. Zwar überschreitet die Ich-Erzählerin dabei eine durch unterschiedliche Sprachen und Kulturen geprägte Grenze, diese aber kann nicht als „unüberwindbar“ bzw. „impermeabel“ im Sinne der ursprünglichen Vorstellung disjunkter Räume bezeichnet werden. Dies würde ja bedeuten, dass sie grundsätzlich für alle - außer für die Protagonistin - un‐ überwindbar wäre. 576 Unstrittig ist, dass die Ich-Erzählerin in Berlin in eine für sie neue, ihr bisher unbekannte Semiosphäre eintritt. Dies geschieht jedoch nicht primär aus einem besonderen Interesse für eben diesen Kulturraum, son‐ dern weil sie nichts mehr wünscht als zu vergessen, „ihr Gedächtnis zu leeren“. 577 Allerdings scheint ihr Berlin ein dafür in besonderem Maße geeigneter Ort zu sein - la destination s’est imposée - 578 , insofern es sich um eine in einem Prozess der Erneuerung und des Neuaufbaus befindliche Stadt handelt, die, wie sie hofft, ihren „Neustart“ erleichtern mag. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie dort einen Ort fände, an dem sie sich heimisch und geborgen fühlen könnte. Weder das Museum für moderne Kunst - un musée d’art moderne - 579 , in das sie sich zu Beginn der Diegese flüchtet, noch die von ihr frequentierten Cafés 580 werden lokalisiert geschweige denn durch eine Namensnennung identifiziert. Vielmehr fühlt sie sich von dem spröden Charme des Alexanderplatzes ange‐ zogen, einem typischen „non-lieu“ im Sinne Augés, an dem sie sich „à sa place“ 581 fühlt, da er als typischer Transitort allenfalls zu kurzzeitigem Verweilen einlädt, mit dem in die Höhe ragenden Fernsehturm jedoch zugleich eine ent‐ grenzende, Unendlichkeit suggerierende Wirkung ausübt. Zu sich selbst findet 3 Themenfeld II 262 582 Vgl. ebd., S. 10. 583 Eine Parallele zu der Steinwurfepisode findet sich in dem bereits 1996 erschienenen Roman Mariane Klinger. Nachdem die Protagonistin sich an das ihrem Aufbruch nach Europa vorausgehende Gespräch mit ihrem ungeliebten Mann, Harry Loom, erinnert hat, träumt sie des Nachts folgende Szene: […] en haut d’un immeuble de cinq ou six étages, elle regarda par la fenêtre […] Il n’y avait personne dans la rue, mais quelqu’un approchait. À côté d’elle il y avait une pierre et elle se dit, si je la lance et qu’elle tombe sur lui, personne ne saura que c’est moi. Elle lança la pierre et l’homme, en dessous, s’écroula. L’instant d’avant, la rue était déserte, mais d’un seul coup, il y eut un attrou‐ pement autour du corps gisant, certains levaient les yeux mais elle s’était reculée, et elle pouvait les voir sans qu’ils la voient. (Wajsbrot 1996, S. 36) 584 Böhm 2010, S. 213. die Erzählerin jedoch, wie die Ringstruktur des Textes verdeutlicht, im Prozess des Schreibens im geschlossenen Raum eines Cafés. Nicht zu übersehen sind überdies die zu Beginn des ersten Kapitels geäu‐ ßerten Vorbehalte gegen Paris, die Erinnerung an gravierende persönliche Ver‐ letzungen und Enttäuschungen, allesamt Einwände, die zwar nur vage und un‐ bestimmt formuliert sind, aber für die Erzählerin doch „le vrai problème“ darstellen und von ihr als Grund für ihren Aufbruch genannt werden. 582 Und obwohl es in dem Text auf der Ebene der „histoire“ nicht primär um ein kon‐ kurrenzielles oder gar antagonistisches Verhältnis zwischen Paris und Berlin als urbanen Zentren eines großen, vielgestaltigen Kulturraums geht, projiziert die Erzählerin ihre individuelle Problematik offensichtlich auf das Ganze der Stadt Paris. Man würde dem Text sicherlich nicht gerecht, wenn man ihn vordergründig auf die Steinwurfepisode und ihre Folgen reduzieren wollte. 583 Die Geschichte einer individuellen Flucht ist nämlich, wie Roswitha Böhm beobachtet, „[…] paradigmatisch von der erzählten individuellen auch auf die ‚große‘ Geschichte, die Histoire, [zu] übertragen“ 584 . In B 3.5.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Frau vor ihrem Steinwurf überlegt, ob sie nicht verpflichtet ist, die Menschen zu mahnen, „ihre Augen gen Himmel zu richten“ anstatt „ihr Leben hier unten“ fortzuführen. Mit dem topologischen Unterschied zwischen „oben“ und „unten“, der Gegenüberstellung zwischen „Himmel“ und „Erde“, dem Stein‐ wurf und der Andeutung verschwiegener individueller und kollektiver Schuld wird somit auf der Ebene des „discours“ in dichterisch verschlüsselter Form die Möglichkeit gravierender zwischenmenschlicher Konflikte und Auseinander‐ setzungen, einschließlich der Anwendung von Gewalt, zum Ausdruck gebracht. Es ist ein Zeichen der „poetischen Offenheit“ des Textes, dass die Formulierung 3.5 „Fugue“ 263 585 Wajsbrot 2005b, S. 82. 586 Bzgl. möglicher Bezüge auf den Holocaust vgl. Böhm 2010, S. 214. 587 Vgl. ebd., S. 40. 588 Vgl. ebd., S. 60. 589 Ebd., S. 41. 590 Ebd., S. 59. 591 Vgl. ebd. 592 Böhm 2010, S. 215. „[…] il se passe des choses étranges“ 585 eine schier unbegrenzte Fülle von Aus‐ legungen zulässt. 586 Zusätzlich gestützt wird diese Auslegung im Übrigen durch die Darstellung des kurzzeitigen Berliner Bekannten der Erzählerin, der als eine von Geheim‐ nissen umgebene Figur präsentiert wird. Die Beziehung zwischen „présence“ und „absence“ hat sich im Verhältnis zwischen den beiden auf merkwürdige Weise verändert: Er verwandelt die „absence“, in die sie sich zurückgezogen hatte, in eine „présence“, 587 während er seine „présence“ zu einer „absence“ werden lässt. 588 Aus einer gegenseitigen Annäherung ist einseitige Ablehnung geworden, eine scheinbar harmonische hat sich in eine asymmetrische Bezie‐ hung verkehrt. Auch in Berlin erweist sich das Leben für die Erzählerin in diesem Moment als ein abweisender Raum. Neben der vollmundigen Selbsteinschätzung des Mannes als „le pilier, l’u‐ nique point fixe dans un monde qui vacille“ 589 und seiner Mitteilung, „un métier aventureux“ 590 auszuüben, gibt es die Mutmaßung der Erzählerin, er könne in geheimer Mission in die Ferne gesandt worden sein, um Verhandlungen zur Beendigung eines Krieges zu führen. 591 Gerade vor dem Hintergrund dieser An‐ deutungen ist es legitim, auch seine „Geschichte“ paradigmatisch als eine An‐ spielung auf jene ‚großen‘ Enttäuschungen, Verleugnungen und Vertrauens‐ brüche zu interpretieren, aus denen krisenhafte Zustände hervorgehen. Ein paradigmatisches Verständnis der „histoire“ wird möglicherweise auch durch den Hinweis auf die „nicht erzählbaren Geschichten der Verschwun‐ denen“ nahegelegt. Roswitha Böhm ist davon überzeugt, dass C. Wajsbrot mit dieser Formulierung auf ihre eigenen Zweifel anspielt, „[…] inwiefern die Ge‐ neration der Nachgeborenen, die nicht über die Kraft der Zeugenschaft verfügt, weil sie die Ereignisse nicht selbst miterlebt hat […] die Berechtigung zur lite‐ rarischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat und welche Form diese finden sollte.“ 592 Im Hinblick auf Fugue mag man in dem hohen Grad an Ver‐ schlüsselung bzw. „Verdichtung“ der „histoire“ einen Hinweis auf die „Nicht-Er‐ zählbarkeit“ einer die Autorin in besonderer Weise berührenden Thematik er‐ kennen. 3 Themenfeld II 264 Für ein ‚paradigmatisches‘ Verständnis des Textes insgesamt sprechen nicht zuletzt auch seine Poetizität und der kompositorische Formwille der Erzählerin. Die daraus resultierenden Qualitäten des Textes vertrügen sich nicht mit der trivialen Geschichte einer verwirrten Steinwerferin, die auf der Suche nach einem sie vor Verfolgung schützenden Versteck nach Berlin flieht. Vielmehr ist er als eine abstrahierende dichterische Auseinandersetzung mit global zu be‐ obachtenden, vielfältig motivierten Konflikten und daraus resultierenden Flucht- und Suchbewegungen zu verstehen. 3.6 Zusammenfassung Themenfeld II Auch in den Romanen des Themenfeldes II sind die Handlungsorte topogra‐ phisch eindeutig identifizierbar. Darüber hinaus sind sie ausnahmslos durch zeitgeschichtliche und noch immer aktuelle Ereignisse, also eindeutig chrono‐ topische Merkmale, semantisch stark aufgeladen. Die handelnden Figuren repräsentieren daher - trotz des fiktionalen Rahmens, in dem sie sich bewegen - zeittypische Lebensläufe. Sie begeben sich aus Beweggründen, die in ihre bzw. die Vergangenheit ihrer Familien und deren durch die politischen Verhältnisse geprägten Lebensräume zurückreichen und ihre Gegenwart beherrschen, auf - im wörtlichen oder übertragenen Sinn zu verstehende - Suchbewegungen. Diese „Aufbrüche“ resultieren aus der Auseinandersetzung mit eigener Schuld (La Trahison, Fugue), dem Wunsch nach Befreiung aus persönlich übermäßig belastenden oder systembedingt einengenden Lebensverhältnissen (Nation par Barbès), dem Bedürfnis des Gedenkens (Beaune-la-Rolande) oder der Ungewiss‐ heit über den eigenen Ursprung (Mémorial). Sie zielen darauf ab, eine als per‐ sönliche Notlage empfundene Situation zu überwinden oder zumindest die Ge‐ nese bestehender Verhältnisse besser zu verstehen. Reale Orte des kollektiven Erinnerns und Gedenkens (Beaune-la-Rolande) und der persönlichen Suche nach dem eigenen Ursprung (Mémorial) werden dabei mit traumhaft erlebten Bedro‐ hungsszenarien oder einer Ander-Welt der Natur, in der ein poetisch durch‐ drungenes Gegenbild der erfahrbaren Wirklichkeit aufscheint, verschränkt. 3.6 Zusammenfassung Themenfeld II 265 1 Der Terminus wird hier - wie in B 2 und B 3 - im Sinne einer Arbeitshypothese ver‐ wandt. 2 Ette 2010, S. 236. 4 Themenfeld III Obwohl auch die dem Themenfeld III zugeordneten, zwischen 1982 und 2013 erschienenen Romane wie die in den Kapiteln B 2 und B 3 behandelten Werke im weitesten Sinne Suchbewegungen 1 beschreiben, heben sie sich von allen an‐ deren Texten dadurch ab, dass in ihnen vorrangig Kunst und Literatur thema‐ tisiert werden und eine richtungweisende und sinngebende Funktion haben. Die von Ottmar Ette auf Caspar-Friedrich-Strasse bezogene Einschätzung, dass „[…] in den Worten des Schriftstellers die vitale Dimension von Literatur immer wieder neu überdacht, immer wieder neu als Lebenswissen perspektiviert wird“ 2 , lässt sich, wenn man Literatur exemplarisch als eine Kunstform be‐ trachtet, die auch andere Bereiche der Kunst medial vermittelt, auf alle Romane des Themenfeldes III übertragen. Bei einem Blick auf das schriftstellerische Schaffen Cécile Wajsbrots stellt man fest, dass sie die Thematik einer sich an Kunst und Literatur orientierenden Lebensführung bereits in ihrem schon fast in Vergessenheit geratenen Erst‐ lingswerk Une vie à soi (1982) und dann erneut in Caspar-Friedrich-Strasse (2002) und Le Tour du lac (2004) aufgreift, um sie schließlich in ihrem auf fünf Bände angelegten Zyklus Haute Mer in einem engen Bezug zu bestimmten Themen zu entfalten. Der die Bedeutung der Musik reflektierende Roman Conversations avec le maître erschien 2007, die auf die bildenden Künste und die Videokunst bezogenen Romane L’Île aux Musées und Sentinelles folgen 2008 bzw. 2013. Totale Éclipse, ein thematisch um die Fotokunst und das Chanson kreisendes Werk, ist im September 2014 erschienen. Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel nachzuweisen, dass auch für die in den o. g. Romanen des Themenfeldes III erzählten Suchbewegungen der handelnden Figuren die Darstellung von Raum und Bewegung von großer Bedeutung ist. 3 Cécile Wajsbrot, Une vie à soi, Paris, Mercure de France, 1982, (Wajsbrot 1982). 4 Zum Alter (31) und zur vollständigen Namensnennung der Protagonistin vgl. ebd., S. 158. 4.1 Une vie à soi 3 - Anne Figuières’ Anverwandlung ihres Vorbildes Virginia Woolf In Une vie à soi strebt die Protagonistin Anne Figuières 4 eine möglichst voll‐ kommene Anverwandlung ihres Vorbildes Virginia Woolf an. Ihre prozesshaft verlaufende Identifikation mit der englischen Schriftstellerin wird als eine durch Orte, Räume und Bewegungen beeinflusste Suchbewegung dargestellt. Emotio‐ nale Befindlichkeiten werden durch eine räumlich inspirierte Bildersprache zum Ausdruck gebracht. Ausgelöst wird die Spurensuche der Anne Figuières durch ihren Wunsch, eine bisher unbekannte, von ihr für möglich gehaltene Abhand‐ lung Virginia Woolfs über die Frage nach der „déraison“ aufzufinden. Im ersten Abschnitt geht die Untersuchung der Frage nach, unter welchen Umständen Anne „Virginia Woolf “ als Thema einer zunächst rein journalisti‐ schen Recherche entdeckt und warum Virginia bereits in dieser Phase der Die‐ gese einer „anderen Welt“ zugeordnet wird. In einem zweiten Schritt wird die Annäherung Annes an jene Orte analysiert, die im Leben der Schriftstellerin eine besondere Rolle gespielt haben und auf Anne eine stark anziehende Wir‐ kung ausüben. Die Annäherung Annes an die Virginia prägenden Lebensräume korrespondiert, wie in einem dritten Abschnitt aufgezeigt werden soll, im Ver‐ lauf der Diegese mit einer wachsenden Übereinstimmung der inneren Befind‐ lichkeit der beiden Frauen. Dies bedeutet, dass Annes Leben in vielerlei Hinsicht als eine mise en abyme der Biographie Virginias erscheint. Schließlich ist zu klären, ob die Suchbewegungen der Hauptfigur als Grenz‐ überschreitungen im Lotman’schen Sinne zu beurteilen sind. Die nachfolgende summarische Analyse integriert semiotische und stärker hermeneutische Interpretationsansätze. Angesichts der eher marginalen Be‐ deutung des Romans für das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots soll die Untersu‐ chung auf wesentliche Entwicklungen der Diegese und Textstellen von exemp‐ larischer Aussagekraft beschränkt bleiben. 4.1.1 Entdeckung einer Leitfigur Anne entdeckt „Virginia Woolf “ bei drei aufeinander folgenden und sich er‐ gänzenden Ereignissen: Beim Besuch einer nicht lokalisierten Buchhandlung stößt sie auf Virginia Woolfs 1928 erschienenen Essay Une chambre à soi (A Room of One’s Own), der zu einem der Gründungsmanifeste der feministischen Lite‐ 4.1 „Une vie à soi“ 267 5 Vgl. ebd., S. 11: […] elle étouffait chaque jour davantage und S. 12: […] depuis son arrivée, elle ne pouvait plus s’isoler. Sa vie s’était rétrécie, comme son appartement. - Zum Kontext vgl. ebd. S. 11-13. 6 Ebd., S. 11. 7 Ebd., S. 12. 8 Vgl. ebd.: Entre ces livres et elle se dessinait une histoire, secrète et précieuse, qu’elle ne partagerait pas. 9 Ebd., S. 13. 10 Ebd. S. 14. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd. S. 9-11. 13 Ebd. S. 11. ratur in Europa geworden ist. Anne fühlt sich bereits durch den Titel angespro‐ chen, da sie unter ihren eigenen Wohnverhältnissen zu „ersticken“ droht und ihren privaten Rückzugsbereich eingebüßt hat, nachdem ihr Mann Olivier seinen in Scheidung lebenden Freund Jérôme zwei Monate zuvor als Gast auf‐ genommen hat. 5 Einen nachhaltigen Eindruck auf Anne übt ein in dem Buch wiedergegebenes Porträtfoto Virginias aus, die Anne mit ihrem „[…] regard obstinément fixé ailleurs […]“ 6 geradezu hypnotisiert und deren Gesicht „[…] les abysses d’un autre monde“ 7 , also Abgründe erahnen lässt, die der Dichterin die Aura des Geheimnivollen und Rätselhaften verleihen. Anne vertieft sich in die Bücher Virginias und spürt, wie sich zwischen ihnen und ihr eine Beziehung anbahnt, gegen die sie sich jedoch zunächst noch aufzulehnen scheint. 8 Zu einer zweiten „Begegnung“ mit Virginia Woolf gelangt Anne, als sie mit ihrer Kollegin Véronique anlässlich einer Reportage über das Oktoberfest - la fête de la bière - 9 in München weilt. Beim Besuch in einer Buchhandlung für Frauen entdeckt sie auf der Rückwand des Geschäfts ein großes Plakat der Schriftstellerin, deren melancholischer Blick wiederum abgewandt ist und die aus diesem Grunde „[…] inaccessible dans son monde“ 10 zu sein scheint. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Begegnung: „Mais Anne eut le sentiment d’une communication ou d’un appel. Cette autre rencontre ne pouvait pas ne rien signifier.“ 11 Bei dem Poster handelt es sich um eine Aufnahme, deren Entstehung am 23. Juni 1939 im Text zuvor aus der Perspektive Virginias, die eine starke Abneigung gegen Porträtfotos hegte, beschrieben worden ist. 12 Sie hatte den Eindruck, dass dieser Tag - als eine jener ihr lästigen „[…] intrusions du monde extérieur […]“- durch „[…] l’empreinte de la contrainte“ 13 gekennzeichnet war. Anne ist vom Anblick des Gesichts der 40 Jahre zuvor verstorbenen Dichterin tief bewegt. Die von Virginia am 23. Juni 1939 empfundene „contrainte“, ihre an jenem Tag vorherrschende „[…] mauvaise humeur“ zeichnen sich, wie die Er‐ 4 Themenfeld III 268 14 Zitate ebd., S. 15. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd. - Bzgl. einer detaillierten Beschreibung des sich wiederholenden Alptraums vgl. ebd. S. 18 f. 19 Ebd., S. 16. 20 Le Petit Robert 2006, „Déraison“, S. 700. zählinstanz betont, in dem Porträt nicht ab, vielmehr komme „[…] l’essence de l’écrivain“ zum Vorschein. 14 Auch sei der „décor“ des Fotos von Bedeutung: „Les livres désignent l’écrivain. Les fleurs, posées dans un vase qui se devine dans l’ombre, signalent le jardin proche, au-delà d’une fenêtre dont on n’aperçoit que le départ. Tout se dessine en ombres noires et grises […]“ 15 . Mit diesem Porträt, so heißt es im Erzähltext weiter, sei das Bild, das die Öffentlichkeit mit Virginia Woolf verbinde, fortan festgelegt gewesen: ein durch Bücher definiertes Leben, das sich in einer Gartenlandschaft abspielt, aber gleichwohl von düsteren Schatten eingeholt wird. Diese Schatten hüllen jedoch nicht nur die Person Virginias ein, sie werden vielmehr zu einem Symbol jener Zeit, die nur wenige Wochen nach dem 23. Juni 1939 über Europa und die ganze Welt hereinbrechen sollte. Die Metaphern des Bombenregens und des sich häus‐ lich niederlassenden Krieges kündigen die damit einhergehende Perversion eines von Virginia (und ihrem Mann Leonard) stets bekämpften bellizistischen Denkens und Empfindens an: „Quelques dizaines de jours après cette photo, les bombes pleuvent sur l’Europe, la guerre s’installe, les camps de concentration s’organisent […]“ 16 . Das dritte „Entdeckungserlebnis“ wird nur in wenigen Zeilen, bzgl. seiner Wirkung aber mit nicht zu überbietender Deutlichkeit beschrieben, was schon der erste Satz des Abschnitts mit seiner dreigliedrigen, mit einer Geburtsmeta‐ pher endenden Aufzählung emphatisch und dezidiert unterstreicht: „La trois‐ ième fois, ce fut la révélation, la découverte décisive, la naissance.“ 17 Als Anne erneut das Tagebuch der Schriftstellerin - Journal d’un écrivain - liest, um den nächtlichen Alptraum eines aus den Wassern auftauchenden Gesichts 18 - eine Anspielung auf den von Virginia gewählten Tod durch Ertrinken in der Ouse - zu vertreiben, drängt sich ihr ein schon mehrfach gelesener, durch Kursivdruck hervorgehobener Satz geradezu auf und lässt alle anderen zurücktreten: „Terri‐ fiant, la déraison! Écrirai-je un jour un livre là-dessus? “ 19 Das Rätselhaft-Geheim‐ nisvolle dieser Worte, die Frage, ob Virginia Woolf u. U. tatsächlich ein Buch über die „déraison“, den „[m]anque de raison dans les paroles, la conduite“ 20 , also ‚die Unvernunft, den Wahnsinn‘, geschrieben hat, lenken das Leben Annes in eine neue Richtung. 4.1 „Une vie à soi“ 269 21 Wajsbrot 1982, S. 16. 22 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 28 f. Zunächst jedoch wird die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die o. g. Frage fokussiert, die Virginia sich selbst gestellt hat. In interner Fokalisierung werden aus der Perspektive der Schriftstellerin die Probleme einer Frau zur Sprache gebracht, die am Fortgang ihres Werkes und ihrem eigenen Talent zweifelt, die zudem die von ihr geschaffenen Räume an der Wirklichkeit misst und nicht weiß, ob sie mit ihren Worten die schwer zu verstehenden Signale ihres Be‐ wusstseins angemessen übersetzt und mit der Struktur ihrer Sätze den mäand‐ rierenden Formen ihrer nächtlichen Schreckvorstellungen gerecht wird: Voilà que ses mains tremblent à force d’écrire sans relâche, d’aligner des mots, des rivières, des fleuves, des océans de mots qui concurrencent les vraies rivières, les vrais océans, sans parvenir à leur fluidité. Le fleuve de la conscience, les myriades d’impressions, quelle plaisanterie! Quels mots pourront traduire le brouillage de la conscience, quel dessin de phrase suivra les méandres des terreurs nocturnes? 21 So wird von Beginn der Diegese an betont, dass die historische, für die Eman‐ zipation der Frau kämpfende und somit bewusst und gezielt in die Welt hinein‐ wirkende Virginia Woolf sich gleichzeitig in eine „eigene Welt“ zurückzog, von Selbstzweifeln und diffusen Ängsten und angesichts der Zeitläufte obendrein von der realen Furcht vor einem Krieg heimgesucht wurde. Die Beschreibung ihrer komplizierten inneren Befindlichkeit wird durch eine räumlich inspirierte Bildersprache geprägt, die das überbordende Maß ihres „Schreibflusses“ in eine wertende Beziehung zur unerreichbaren „fluidité“ wahrer Flüsse und Ozeane setzt. Die durch das Klassem [Wasser] gebildete Isotopiekette erzeugt eine Stim‐ mung, die Vergeblichkeit und Scheitern erahnen lässt. 4.1.2 Annes Annäherung an die Lebensräume Virginia Woolfs Dass einerseits Paris als die Stadt, in der Anne wohnt und arbeitet, als Lebens‐ umfeld im ganzen Roman auch nicht ansatzweise vorgestellt wird, andererseits insbesondere jene Teile Londons und Rodmells mit Monk’s House in Sussex, wo Virginia Woolf gelebt hat, detailliert beschrieben werden, ist sowohl ein Indiz für die fast magisch anmutende Anziehungskraft, die diese Orte auf Virginia auszuüben scheinen, als auch für den verklärenden Blick, mit dem sie von Anne wahrgenommen werden. Schon bei der Busfahrt nach London hat Anne, wie im Erzähltext berichtet wird, zum ersten Mal seit langer Zeit „das Gefühl zu leben“. 22 Trotz der vor‐ 4 Themenfeld III 270 23 Ebd., S. 28. 24 Ebd., S. 29. 25 Vgl.ebd.: […] par une myriade d’impressions […] 26 Ebd., S. 29 f. herrschenden Eintönigkeit der „banlieue londonienne“ geht von dem Ort, wie Anne beobachtet, ein „Lächeln“ aus, und der leere Bus wirkt auf sie „einladend“. Anne begibt sich nach Bloomsbury, jenem nördlich der Themse in Zentral‐ london gelegenen Stadtteil, in dem sich das Britische Museum mit seiner großen Bibliothek, aber auch jenes Viertel befinden, in dem Virginia Woolf ihre Jugend verbracht hat. Der Stadtteil gab seinen Namen weiter an eine Gruppe von Künstlern, Gelehrten und Intellektuellen (Bloomsbury Group), die von 1907 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs das englische Kulturleben maßgeblich prägten. Virginia Woolf war die bedeutendste literarische Vertreterin dieses Kreises. Die Schilderung der Ankunft Annes ebendort, die einen jener Eindrücke wieder aufnimmt, die sie in der dritten Phase ihrer Entdeckung Virginia Woolfs geradezu überwältigten, signalisiert die Intensität und Sicherheit ihrer Erwar‐ tungen, nicht zuletzt aber auch die von ihr auf den Ort projizierten Hoffnungen: „À la sortie du métro, elle reçut Bloomsbury comme une révélation.“ 23 Anne scheint jedoch auch zu spüren, in welchem Maße sie in den Bannkreis der von ihr verehrten Schriftstellerin zu geraten scheint, und wählt daher - […] il fallait garder sa liberté - 24 für die Übernachtung ein Quartier in Gower Street, da Virginia dort nie gewohnt hat. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme vermag sich Anne dem Schatten der Erin‐ nerungen an Virginia Woolf nicht lange zu entziehen. Als sie in der Nähe von Victoria Station nach einem Blumenladen sucht, wird sie „von einer Unzahl von Eindrücken“ 25 überwältigt, und diese Eindrücke ergeben in ihrer Gesamtheit ein „Muster“ bzw. einen Stadtplan: Ce dessin, c’était Londres, ses façades blanchies et uniformes, ses restaurants de fast food, son odeur de ville du dix-neuvième siècle trop vite grandie, ses taxis luisants comme des chats noirs, ses parcs généreusement offerts au promeneur. St James’s Park, derrière ces murs. Elle y pénétra avec la sensation d’échapper à une ombre qui l’aurait poursuivie dans Victoria Street, elle aussi à la recherche d’un fleuriste […] 26 Diese Beschreibung des Stadtplans von London könnte mit der klischeehaften Aneinanderreihung einiger das Stadtbild prägender Details einem Touristen‐ führer entnommen sein, wäre da nicht auch der Hinweis auf das seltsame Gefühl Annes, einem sie verfolgenden Schatten entkommen zu müssen. Sie, die Paris auch gerne verlassen hat, da sie so Olivier und Jérôme eine Zeitlang ausweichen 4.1 „Une vie à soi“ 271 27 Ebd., S. 31. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 31 f. 30 Ebd., S. 34. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. kann, sieht sich erneut auf der Flucht. Der Schatten, der sie am Ende von Victoria Street verlassen hat, kehrt jedoch zurück, und es handelt sich um den Schatten von Clarissa Dalloway, der Protagonistin von Virginia Woolfs 1925 erschie‐ nenem Roman Mrs Dalloway. Als Gastgeberin eines abendlichen Empfangs, des zentralen Ereignisses des Romans, kaufte auch Clarissa Dalloway Blumen ein. Anne jedoch verliert auf ihrer Suche nach einem Blumenladen im Gewirr der Straßen jegliche Orientierung, stellt dann jedoch fest: „[…] elle revenait sur ses pas. […] Clarissa Dalloway lui avait fait suivre son propre itinéraire et avait voulu lui faire acheter des fleurs pour sa réception du soir.“ 27 Dies jedoch be‐ deutet, dass Anne sich inzwischen aus dem Schatten Clarissas, die als Roman‐ figur stellvertretend für die Autorin, die sie ins Leben gerufen hat, steht, ebenso wenig zu lösen vermag, als wäre es ihr eigener. Die Erzählstimme lässt diese traumhaft wirkende Szene mit dem Ausruf Annes: „C’est impossible! […] Impossible! Un personnage de roman! “ 28 aus‐ klingen. Um die in ihrem Gedächtnis präsenten Erinnerungen an ihre häuslichen Auseinandersetzungen mit Olivier und Jérôme zu vertreiben, aber auch ange‐ sichts des „[…] monde envahissant de Virginia Woolf […]“ 29 beschließt Anne, Kontakt mit der Sängerin Jane Handy aufzunehmen, die in Covent Garden, einem ebenfalls in Zentrallondon gelegenen Stadtteil, wohnt. Bei ihrer Ankunft in Covent Garden ist Anne überrascht, in der Nähe der berühmten Oper auf eine Abfolge von Brachflächen und baufälligen Häusern zu treffen. Nur das hinter einigen Fenstern zu erkennende Licht signalisiert, dass die Gebäude noch bewohnt sind. Gleichwohl hegt Anne die Hoffnung „[…] de pénétrer dans un univers où la façade masquait l’être“ 30 . Auch vermutet sie, dass Jane, die von Véronique offensichtlich als unkonventionell und nonkonformis‐ tisch beschrieben worden ist, gut in das Ambiente dieses „[…]bric-à-brac de maisons qui semblait pourtant régi par un ordre mystérieux“ 31 hineinpasst. Dass Jane in der obersten Etage wohnt, ihre Wohnungstür „[…] en rouge vif “ 32 ge‐ strichen ist und Anne beim Hinaufsteigen der Treppe hofft „[…] qu’il ne se dé‐ roberait pas sous elle“ 33 , sind räumliche Details, die ebenfalls die Lesererwar‐ tung, dass es sich bei Jane um eine außergewöhnliche Persönlichkeit handeln 4 Themenfeld III 272 34 Ebd. 35 Ebd., S. 38. 36 Vgl. ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. muss, verstärken. Die Bestätigung liefert die knappe Beschreibung der Begrü‐ ßungsszene: Au moment de sonner, elle prit conscience du bouquet qu’elle avait à la main, quelques œillets achetés à un marchand ambulant. Jane Handy lui ouvrit aussitôt. Anne la photographia mentalement: abondante chevelure bouclée, jean, chemisier blanc ouvert, l’irruption de la vie dans le labyrinthe désolé de Covent Garden. Jane se précipita pour baisser la musique assourdissante qui envahissait tout l’immeuble. 34 Mit ihrem Unverständnis für tradierte Rituale - für die mitgebrachten Blumen gibt es in ihrer Wohnung keine Vase -, mit ihrer Hingabe an eine Wohnungs‐ grenzen durchdringende Musik, insbesondere jedoch mit ihrer Schranken nie‐ derreißenden Vitalität begehrt Jane gegen überkommene bürgerliche Lebens‐ formen auf und behauptet ihre Autonomie und Selbstständigkeit in einem „labyrinthisch“ anmutenden Ambiente. Weniger selbstständig hingegen fühlt sich Anne. Sie genießt es zwar, eine Woche lang Jérôme und seine Probleme - […] sa vie tentaculaire qui les empri‐ sonnait, Olivier et elle - 35 vergessen zu können, glaubt aber in obsessiver Weise, bei ihrem Gang durch London von jemandem anders geführt worden zu sein. 36 Als die realistische Jane ihr vorhält, sie dürfe sich nicht von einer Romanfigur, also „[par] quelqu’un qui n’existe pas“ 37 vereinnahmen lassen, reagiert Anne gereizt. Anne gesteht gegenüber Jane, dass sie von ihrem Thema, d. h. von Vir‐ ginia Woolf, inzwischen in den Bann gezogen wird: Ce n’est pas un simple sujet, Jane. Virginia Woolf est un être. […] Si j’écrivais un article sur n’importe quel écrivain, ce ne serait pas pareil. Mais elle, quand tu la côtoies, elle t’oblige à pénétrer son univers, tu comprends? Ils viennent tous te sauter au visage, envahir tes nuits, et elle encore plus que les autres. L’intensité de son regard […] son regard te hante jour et nuit. 38 Für sie erscheint dies jedoch selbstverständlich, insofern sie nicht nur für sich, sondern in verallgemeinernder Form (quand tu la côtoies, Hervorhebung H. H.) erklärt, dass die Schriftstellerin ein „Universum“ sei, dem man sich nicht ent‐ ziehen könne. Die mit dem neutralen Personalpronomen „Ils“ gemeinten Pro‐ tagonisten ihrer Romane, vor allen anderen jedoch Virginia selbst suchten ihre 4.1 „Une vie à soi“ 273 39 Bzgl. möglicher Einflüsse von Sartres Ausführungen über den „regard d’autrui“ vgl. auch B 3.5.1, S. 250, Anm. 505; B 4.4.1, S. 335, Anm. 329; B 4.7.1, S. 447, Anm. 868. 40 Wajsbrot 1982, S. 47. 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 49. 43 Ebd. 44 Vgl. ebd. - Dass sie sich fragt, wer dort wohne, wirkt im Kontext wenig überzeugend, da Monk’s House sicherlich auch im Jahre 1980 in erkennbarer Weise museal genutzt wurde. „Opfer“ in nächtlichen Alpträumen heim, der einzigartige Blick 39 Virginias ver‐ folge einen sogar Tag und Nacht. Da Anne nach von Virginia Woolf zurückgelassenen Spuren sucht, begibt sie sich - chauffiert von Jane - auch nach Rodmell in der Grafschaft Sussex. Hier erwarb das Ehepaar Woolf bereits 1919 einen kleinen, bescheidenen Landsitz mit dem Namen Monk’s House. Als die beiden Frauen sich dem Ort nähern, entdecken sie zunächst das Flüsschen Ouse, in dem Virginia Woolf sich am 28. 03. 1941 ertränkt hat. „Malsain, se disait Anne. Le culte des lieux … Il y a maintenant quarante ans… La rivière suit toujours le même cours. Et après? “ 40 Anne zeigt sich enttäuscht, dass die Zeit sich in ihrem „Dahinfließen“ nicht hat aufhalten lassen. Ihr Touristenführer hat Rodmell nur wenige Zeilen, der be‐ rühmten Bewohnerin nur eine „allusion“ gewidmet. 41 Als sie - ohne Jane - im Ortskern Monk’s House sucht, mit dem sie nur verblasste Fotoerinnerungen verbindet, findet sie noch nicht einmal ein Hinweisschild. Nachdem sie sich nach dem Weg erkundigt hat, stellt sie fest, dass sie an dem Haus Virginias bereits zweimal vorbeigegangen ist, ohne es wahrzunehmen. Mag die Erzählinstanz dieses „Übersehen“ mit der Redewendung „Au temps pour son intuition! “ 42 he‐ runterspielen, so ist es doch zugleich ein Indiz für die Schwierigkeit Annes, den Geheimnissen Virginias „auf die Spur“ zu kommen. Die Verwirrung Annes wächst noch, als sie die historische Inschrift „Monk’s House“ entdeckt, die das Haus für sie vor dem Hintergrund des Jahres 1941 gleichermaßen als „[i]rréelle et présente“ 43 erscheinen lässt. Geradezu schockiert reagiert sie, als sie vor der Haustür eine am späten Vormittag noch nicht hereingeholte Zeitung und eine Flasche Milch sieht. 44 Für sie kommt dies vermutlich der Profanierung einer Kultstätte gleich. Als sie dann durch das Fenster in das Wohnzimmer schaut, erkennt sie immerhin auf der Rückenlehne eines Stuhls die in ein Medaillon eingravierten Initialen V. W. Dass das Innere des Hauses für sie jedoch unzu‐ gänglich bleibt, symbolisiert, dass sie - einstweilen - noch nicht zu dem von ihr gesuchten Wesenskern Virginias vorzudringen vermag, ihre Erkenntnisse über „Äußerlichkeiten“ noch nicht hinausgelangen. 4 Themenfeld III 274 45 Vgl. ebd., zweiter Absatz. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd., S. 50. 49 Ebd. 50 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 50-52. Die entscheidenden Gedanken, die Anne während ihres Besuchs in Rodmell bewegen, sind in einer in erlebter Rede verfassten Reflexion wiedergegeben. 45 Sie ermahnt sich selbst, sich nicht einem „[…] attendrissement malsain“ 46 hin‐ zugeben. Skeptisch ist sie jedoch bzgl. der von ihr selbst betriebenen Spuren‐ suche. Wenn es sich um einen vor langer Zeit Verstorbenen wie z. B. Shakespeare handle, sei es, wie sie meint, sinnvoll „[de] remonter le temps“, um die Epoche neu entstehen zu lassen und so den „wahren Shakespeare“ zu entdecken. Doch im Falle Virginias ist alles anders, zumal sich allseits Bekanntes und Rätselhaftes gegenüberstehen und sie sich im wahrsten Sinne des Wortes auf den Weg ge‐ macht hat, das Ungeklärte, den Sinn eines geheimnisvollen Satzes, aufzuklären: Mais elle, morte et vivante, elle dont on savait tout sans rien deviner, sur qui on avait déjà tant écrit! Et ce livre illusoire découvert au hasard d’une phrase qui pouvait ne pas avoir eu de suite! C’était […] pour cela qu’elle se trouvait dans ce village du sud de l’Angleterre, seule, pour une phrase peut-être sans importance. 47 Die - an Virginia Woolf erinnernde - Widersprüchlichkeit im Verhalten Annes kommt zum Vorschein, als sie sich beim Abschied von Monk’s House vornimmt, nach der „lebenden Virginia Woolf “ zu forschen und „das Ende der Geschichte zu ignorieren“ 48 , dann aber doch - [s]ans penser à rien. En se forçant à ne penser à rien - 49 zum Flüsschen Ouse hinuntergeht. 50 Mit welcher Konsequenz Anne Figuières und Virginia Woolf als zentrale Figuren der Vorder- und Hintergrund‐ handlung im Erzählfluss aufeinander bezogen werden, verdeutlicht der un‐ merkliche Wechsel der internen Fokalisierung von Anne zu Virginia. Es entsteht für die Leserschaft der Eindruck, dass sich - am tatsächlichen Ort des Gesche‐ hens - nicht nur der Ablauf des Suizids in allen Phasen vor dem inneren Auge Annes abspielt, sondern dass sie die z. T. im „discours indirect libre“ wiederge‐ gebenen Reflexionen Virginias über ihr Leben und den zeitlichen Hintergrund des Jahres 1941 intensiv nachvollzieht. Bestätigt wird diese Beobachtung durch eine Reaktion auf den von Anne nach ihrer Rückkehr nach Paris veröffentlichten Artikel über ihre Englandreise und den Suizid Virginia Woolfs. Jérôme, der selbst 4.1 „Une vie à soi“ 275 51 Vgl. ebd. S. 27: J’ai voulu prendre une boîte de comprimés, celle qui était dans le tiroir de ma table de nuit. Elle était vide. Je te jure que c’est vrai. (Adressatin dieser Worte ist Anne.) 52 Ebd., S. 112. 53 Vgl. ebd., S. 189 f. 54 Ebd., S. 113. Zum Kontext vgl. ebd. S. 112 f. 55 Ebd., S. 90. 56 Ebd. nur aufgrund eines glücklichen Zufalls seinen Suizidplan nicht ausführte, 51 äußert anerkennend: Que cherches-tu encore, après cet article? Je voulais t’en parler dès mon retour mais je n’ai pas osé. Te souviens-tu de ce que je t’ai dit, à ton départ en Angleterre? Que personne ne pouvait parler du suicide avec justesse sans en avoir eu l’expérience? À lire ton article, on a l’impression que tu l’as vécu. 52 Den von Jérôme geäußerten Verdacht, sie selbst könne einen Suizidversuch un‐ ternommen haben, weist Anne energisch zurück, so als gelte es, den Gedanken daran oder gar die Versuchung zur Tat zu vertreiben. (Als Anne sich zu einem späteren Zeitpunkt in Paris „am falschen Platz“ wähnt und ihr Leben als „un‐ erträglich“ empfindet, versucht sie vergeblich, sich das Leben zu nehmen. 53 ) Die Entschiedenheit ihrer Aussage unterstreicht sie mit einem Hinweis auf ihre Schwangerschaft. Auf seine noch einmal wiederholte Frage, was sie denn nach der Abfassung des Artikels noch suche, informiert sie ihn über den rätselhaften Satz V. Woolfs über ein Buch über die „déraison“ vom 25. Mai 1932. Sie sehe nur zwei mögliche Antworten: „Virginia Woolf portait ce livre en elle ou il était à déchiffrer dans ses œuvres connues.“ 54 Unerwartete Anerkennung für ihren Text über Virginia Woolf findet Anne nicht nur bei Jérôme, sondern auch bei ihrem Chefredakteur Mayer, der ihr anbietet, fortan anstelle ihrer bisherigen Gesellschaftschronik „[…] une rubrique hebdomadaire qu’on appellerait portrait, ou autrement, qui dépeindrait un ar‐ tiste, un écrivain, un personnage célèbre […]“ 55 zu verfassen. Anne hat damit nach ihrer Rückkehr aus England ihr angestrebtes Ziel, den Übergang vom reinen Boulevardjournalismus zu einem „seriösen Schreiben“ („Mayer la prenait au sérieux! “ 56 ), erreicht. Diese Entwicklung wird, wie in 4.1.3 zu zeigen sein wird, mit der Abfassung ihres „cahier rouge“ und insbesondere ihres „cahier noir“ eine Fortsetzung und Vertiefung finden, durch die Annes Annäherung an Virginia eine zusätzliche Steigerung erfährt. Eine gänzlich andere, stark emotionale Reaktion auf den Artikel Annes zeigt ihr Ehemann Olivier, nachdem er ihr nach ihrer Rückkehr zunächst mitgeteilt hat, dass er ein Kind mit ihr wünsche. Ihn überrascht „[…] cette démesure, cette 4 Themenfeld III 276 57 Ebd., S. 88. 58 Ebd., S. 89. 59 Ebd. Zum Kontext vgl. ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Indirekte Hinweise auf den zeitlichen Kontext sind die Erwähnung des 1931 erschie‐ nenen Romans The Waves (Les Vagues) und die Bezugnahme auf „la montée du fascisme“. Vgl. ebd., S. 123. 63 Ebd., S. 122 f. - Zum Kontext vgl. S. 122-125. émotion folle … folle…“ 57 so stark, dass er den Text als einen für seine Frau gänzlich untypischen „[…] hymne à la mort“ 58 bezeichnet, ihre Autorenschaft in Zweifel zieht und schließlich fragt: „Dis-moi la vérité. C’est Jane, n’est-ce pas? “ 59 Olivier lässt sich jedoch davon überzeugen, dass Anne die Autorin ist, sich nicht verändert hat und der „ton sombre“ dem traurigen Thema geschuldet ist. Trotz der Versöhnung und des „rêve d’enfant“ 60 denkt Anne des Nachts an „[…] ce court orage qui avait assombri son retour“ 61 . So gehen nach der Rückkehr aus England Annes zunehmende Annäherung an das Vorbild Virginia Woolf und die Sympathie für Jane einher mit einer beginnenden Entfremdung von ihrem Ehemann Olivier. 4.1.3 Annes Annäherung an die innere Befindlichkeit Virginias Die Parallelen zwischen der inneren Befindlichkeit Virginias und Annes, die sich im Abschnitt 4.1.2 bereits deutlich abzeichnen, treten noch klarer hervor, wenn man die nach ihrer eigenen Einschätzung für sie wichtigsten Lebensinhalte und -ziele vergleicht. Als Virginia irgendwann in der Zeit des in Europa aufkommenden Fa‐ schismus 62 von einem bei ihrer Freundin Vita Sackville-West verbrachten Tag nach Hause zurückkehrt, stellt sie sich - unter dem Eindruck eines aufgrund des Temperaments und der Emotionalität der Gastgeberin intensiv erlebten Tages - die Frage: D’une journée à Vita, le soir […] que reste-t-il? […] De la souriante campagne du Kent qu’elle découvre chaque fois avec le même émerveillement, que reste-t-il dans la nuit du Sussex, lorsque le soir pose ses ombres sur les collines douces qui descendent vers la mer? La mer … elle est cette épave qui remonte au gré des marées, chevauchant les vagues les plus folles, les plus démesurées. Le savent-ils, ceux qui ont voulu l’impossible, disséquer l’eau des Vagues, qu’elle se cache dans ses personnages mais surtout dans ces vagues qui s’élancent à la conquête de l’univers et se brisent contre les rochers les moins hérissés et déferlent sur une plage sans histoire, le savent-ils? 63 4.1 „Une vie à soi“ 277 64 Zitate ebd., S. 123. 65 Ebd., S. 123. 66 Ebd. 67 Ebd. Die im „discours indirect libre“ aus der Perspektive Virginias verfasste Passage ist von einer zutiefst melancholischen Stimmung getragen. Die Bilanz eines of‐ fensichtlich sehr anregenden Tages erschöpft sich - nach der Aufzählung einer Fülle von Erlebnissen - in der fatalistischen Frage, was von all dem bleibt. Der melancholische Grundton setzt sich fort. Zwar erfreut sich Virginia an der Lieb‐ lichkeit der Landschaft Kents, getrübt wird ihre Freude jedoch durch die traurige Erwartung, dass die Nacht die sanft zum Meer herabfallenden, anmutigen Hügel in Dunkelheit hüllen wird. Mit „la mer“ ist ein Leitwort gegeben, das wellenartig weitere Assoziationen freisetzt. Das Meer wird als ein von den Gezeiten em‐ porgetragenes, auf den „verrücktesten, größten Wellen reitendes Schiffswrack“ beschrieben und damit auf die Mitleid erregende, konkret sichtbare Wirkung seiner auch destruktiven Kraft reduziert. Unabhängig davon, ob man das Bild für geglückt hält oder nicht, ist diese einseitige Sichtweise des Meeres Ausdruck einer zutiefst negativen Weltsicht. Der wiederum in Frageform gekleidete zweite Teil der Überlegung bezieht sich auf den achten, 1931 erschienenen Roman Vir‐ ginia Woolfs, Les Vagues (The Waves), in dem sechs Personen, drei Männer (Ber‐ nard, Louis, Neville) und drei Frauen (Rhoda, Jinny, Susan) in einem in Meeres‐ nähe gelegenen Garten in inneren Monologen ihre persönlichen Lebenserfahrungen reflektieren. Virginia weiß nicht, ob den Kritikern bekannt ist, dass sie sich selbst in den Personen, vor allem aber in den „vagues“, d. h. in den wechselhaften Schicksalen der sechs Personen, verbirgt, die ihr Leben auf große Ziele - à la conquête de l’univers - ausrichten, sich aber auch mit kleinen Hindernissen (les rochers les moins hérissés) konfrontiert sehen. 64 Letztendlich ist ihr Schicksal in seiner Vergänglichkeit vergleichbar mit dem Verlauf der Wellen, die sich nach einem Auf und Ab am Strand brechen. Mit großer Emp‐ findlichkeit und Verletzlichkeit denkt Virginia über die Kritiker ihres Buches nach, die „das Wasser“, also den Inhalt des Romans, zu „sezieren“ versuchen und damit, wie sie meint, etwas Unmögliches anstreben. In einer Zeit, in der sich die Gefahr faschistischer Tyrannei und Barbarei deutlich am Horizont abzeichnet, nimmt sich eine solche Erwartung in der Um‐ gebung der „[…] campagne souriante du Kent, cet immense jardin à l’ang‐ laise […]“ 65 für Virginia als „irreal“ - […] tout paraissait irréel - 66 aus. Aufgrund ihrer großen Sensibilität verändern ihre Erwartungsängste ihre Wahrnehmung der ländlichen Idylle, die Rodmell eigentlich ist: „Et ce soir, où l’ombre d’un clocher d’église inquiète les collines, comme tout semble possible! “ 67 4 Themenfeld III 278 68 Ebd., S. 124. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 124 f. 73 Ebd., S. 125. Es entspricht der zweifelnden, alles in Frage stellenden Grundhaltung Virgi‐ nias, dass sie nicht zuletzt sich selbst kritisch betrachtet. Sie tut dies im wörtli‐ chen Sinn, indem sie einen Blick in einen Spiegel wirft und sich mit Rhoda, der verträumt-introvertierten Protagonistin aus Les Vagues vergleicht: „Est-elle dif‐ férente de Rhoda, enfant sans présence ni visage? Elle se regarde dans le miroir ovale et se répète: ’Je n’ai pas de visage. Mon œuvre est mon visage, elle seule justifie ma vie.’“ 68 In ihrer totalen Identifikation mit ihrem Werk ähnelt Virginia einer existentialistischen Heldin, die dem von ihrem Spiegelbild vermittelten Eindruck einer „[…] présence fantomatique […]“ 69 zunächst mit dem Mut des Sisyphos trotzigen Widerstand leistet: „Elle regarde le miroir, pleine de défi.“ 70 Als der Spiegel daraufhin das Bild eines „[…] corps tremblant qui réclame de vivre, de sentir …“ 71 reflektiert, tut sie dem Spiegel - und damit sich selbst - Gewalt an: Elle marche à grands pas à la rencontre de son reflet. Il est tout proche, mais encore très déformé. Elle le violente. Va-t-il comprendre enfin qui elle est, ce qu’elle veut? N’est-ce que la force qui lui fera comprendre? S’il le faut… Elle contemple le miroir brisé, les éclats à terre. N’est-il que là, le résultat de cette formidable violence qu’elle sentait déferler, ce désir de vivre, de montrer son être véritable? Dérisoire! Elle arrache les fleurs encore fraîches d’un vase de Chine qu’elle emporte dans une chute vertigineuse. D’autres éclats se mêlent à ceux du miroir. Briser! Tout briser, comme sa vie l’a été. 72 Eine zusätzliche Steigerung ihrer Qualen erlebt Virginia, nachdem Leonard sie durch Bettruhe zu beruhigen versucht: „[…] ce lit qu’elle abhorre, l’obscurité qui la livrera aux pires tourments, le noir: vivre sans lire, sans écrire, sans amis, sans Vita. Ne pas vivre.“ 73 Die Spiegelszene veranschaulicht exemplarisch, in welcher Weise die Erzähl‐ stimme mentale und emotionale Prozesse und Befindlichkeiten Virginias in eine bildhaft konkrete, raumbezogene Sprache übersetzt. Virginias Angriff auf ihr eigenes Spiegelbild und der Anblick zerbrochenen Glases und Porzellans sind Ausdruck einer radikalen In-Frage-Stellung der Ergebnisse ihrer Arbeit, auf die sie aufgrund krankhafter Selbstzweifel und sicherlich auch z. T. kritischer Re‐ aktionen und Rezensionen nicht wie auf ein strukturiertes Ganzes, sondern wie 4.1 „Une vie à soi“ 279 74 Zum folgenden Abschnitt vgl. ebd., S. 141-143. 75 Ebd., S. 142. 76 Ebd., S. 142 f. 77 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 211-213. auf eine diffuse Menge versprachlichter Gedankensplitter, eben einen Scher‐ benhaufen, zurückschaut. Gleichwohl klammert sie sich mit großer Entschlos‐ senheit an ihre Arbeit als solche. Wenn sie ein tiefer Schrecken angesichts der ihr von Leonard aufgezwungenen Ruhigstellung ergreift, so deswegen, weil die Abgeschlossenheit eines abgedunkelten Raumes ihr den Zugang zu allem ver‐ sperrt, was ihr das Leben lebenswert macht: das Lesen und Schreiben, der Kon‐ takt mit Freunden, vor allen anderen mit ihrer Gefährtin Vita Sackville-West. Wieviel ihr die Beziehung zu Vita Sackville-West bedeutet hat, illustriert eine (allerdings fiktive) Tagebucheintragung aus dem Jahr 1933. 74 Als Virginia auf Initiative Vitas mit ihr zu einer einwöchigen Reise nach Burgund aufbricht, zieht sich ihr Ehemann Leonard immer stärker in sich zurück, je näher der Tag der Abreise rückt. Im Nachhinein, notiert Virginia, werde ihr klar, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn er seine Bedenken vorher hätte aussprechen können, zumal sie ihn als ihren Mann und Vita als ihre Partnerin gleichermaßen schätze. Die Frage, die sich noch immer stelle, ob sie das Recht habe „[…] de partir sans lui, de vivre sans lui, si je l’ai choisi pour écarter tous les autres“ 75 erübrige sich dann. So verbindet Virginia mit dieser Reise gleichwohl eine überaus wertvolle, allerdings ambivalente Erinnerung: Ce voyage […] le souvenir me le rend plus précieux encore. Jamais je ne me suis sentie plus portée par les ailes de la liberté. Vaut-il la peine d’avoir écrit Une chambre à soi pour se sentir prisonnière au moindre écart? La vie est difficile pour une jeune femme, aujourd’hui comme hier. Mais, ce qui est pire, c’est qu’à cinquante ans […] elle est encore difficile et procure moins de satisfactions que le souvenir ou l’imagination. Une vie à soi: tel sera mon prochain livre. 76 Es ist kennzeichnend für die Gemütslage Virginias, dass ihre Freude über eine überaus positive Erfahrung getrübt wird durch die ernüchternde Einsicht, dass ihr kämpferisch-emanzipatorischer Essay A Room of One’s Own nicht einmal sie selbst stärker gegen Anmutungen der Unfreiheit gefeit hat. Zu beklagen sei, dass nicht nur das Leben junger Frauen weiterhin schwierig sei, sondern dass sie im Alter von 50 Jahren ihr Glück weniger in der Gegenwart als vielmehr entweder in Erinnerungen oder aber in ihrer Phantasie, womit sie den unbegrenzten Raum ihrer dichterischen Kreativität meinen dürfte, finde. Von sehr zwiespältigen Gedanken heimgesucht wird Virginia auch zu Beginn des Jahres 1939. 77 Sie erinnert sich in der Form des „discours indirect libre“, dass 4 Themenfeld III 280 78 Ebd., S. 212. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 239. 81 Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 213. 82 Ebd. sie zehn Jahre zuvor nach der Veröffentlichung des biographischen Romans Orlando (1928) an ihrem nächsten Werk, The Waves (1931), arbeitete. Ihre an‐ genehmen Erinnerungen an diese insgesamt glückliche Zeit überträgt die Er‐ zählstimme in eine Wohn- und Wegemetaphorik: „Entre le succès passé et celui à venir, elle habitait une zone de clair-obscur où l’avenir se pavait de certi‐ tudes.“ 78 Pessimistisch stimmt Virginia jedoch das offensichtlich nicht in Ver‐ gessenheit geratene, aber nicht vorangebrachte Projekt über „la déraison“. Ihre Empfindungen finden ihren Ausdruck in Raumbildern, die in diesem Fall die Bereiche des Bewussten und Unterbewussten in einer Phantasiewelt verorten: „Ce livre sur la déraison ne veut pas venir. Il se dérobe. Sous le flot de la con‐ science coule une autre rivière inaccessible et qui charrie ses eaux noires et folles. 79 Und am 17. Februar 1941, nur wenige Wochen vor ihrem Tod, erklärt sie, sicherlich in Anspielung auf dieses Buch, gegenüber Vita: „J’ai aussi cet odieux roman à terminer.“ 80 In demselben Kontext ruft die Erzählstimme ein Gespräch Virginias mit Vita in Erinnerung. Virginia beschreibt ihr Leben als eine Durchquerung von „dunklen Wüsten“ (déserts sombres), während der ganze Rest der „écriture“ ge‐ widmet gewesen sei. Sie betont zugleich sinngemäß, dass die Visionen eines Septimus, eines von seinen Kriegserlebnissen traumatisierten Protagonisten aus Mrs Dalloway, kaum eine Idee ihrer eigenen Belastungen vermitteln. 81 Auf die Frage Vitas „Virginia, vis-tu pour écrire? “ anwortet sie, ohne zu zögern: „Mon œuvre et ma vie se justifient l’une l’autre.“ 82 Die Befindlichkeit Virginias wird in Une vie à soi in vielfacher Weise durch eine „mise en abyme“ im Persönlichkeitsbild Annes widergespiegelt. Zusam‐ menfassend hingewiesen sei auf die wichtigsten Parallelen: V. Woolf war mit Leonard Woolf verheiratet, betrachtete aber Vita Sackville-West als ihre Le‐ benspartnerin. Anne Figuières ist verheiratet mit Olivier, findet aber in Jane Handy eine Lebensgefährtin. Außerdem verbindet die beiden das Schicksal der Kinderlosigkeit, die Neigung zu einem übermäßig selbstkritischen, ja selbstzer‐ störerischen Verhalten sowie die Abneigung gegen Porträtfotos. Das stärkste Band zwischen den beiden ist jedoch die Bedeutung, die sie der „écriture“ bei‐ messen. Für Anne führt die Niederschrift eines Tagebuchs ( Journal) über Vir‐ ginia, ihr Leben und ihre Epoche nach einer Phase der Annäherung vorüberge‐ hend zu einem Verzicht auf ihre eigene Identität, denn „[…] depuis quelque 4.1 „Une vie à soi“ 281 83 Ebd., S. 157. 84 Zum „cahier rouge“ und zum „cahier noir“ vgl. ebd., S. 157 und 203 ff. 85 Ebd., S. 157 f. 86 Ebd., S. 205. 87 Ebd., S. 235. 88 Vgl. ebd., S. 204: Als Jane in einem Gespräch mit Anne deren bisher unbekanntes „cahier rouge“ entdeckt, entwickelt sich folgender Dialog: En apercevant le cahier rouge […] elle [ Jane] ajouta: „Et celui-là? “ - Un journal. / - Ton journal? dit-elle en appuyant sur le „ton“. / - Pas exactement. / - Non seulement tu réécris son œuvre mais tu refais aussi son journal! temps, elle éprouvait le besoin de tenir le journal d’une époque qu’elle n’avait pas connue, sous un nom qui n’était pas le sien.“ 83 Ihre Empfindungen während des Schreibprozesses - für das Journal benutzt sie ein „cahier rouge“ - 84 be‐ schreibt die Erzählstimme als einen die Person Annes in frühere Zeiten zurück‐ versetzenden Prozess, in dessen Verlauf sich „ein anderes Leben“ in ihr einnistet, sie Ort und Zeit vergessen lässt und ihr Seh- und Hörvermögen beeinträchtigt. Sie selbst empfindet diesen Vorgang als so seltsam, dass sie darüber nicht zu sprechen vermag: […] il lui semblait que son cœur battait différemment, comme si une autre vie s’installait en elle, remontant le cours des âges. Elle aurait aimé le dire, décrire ces étranges symptômes, oubli du lieu et du temps, confusion entre les dates, flou de la vision et de l’audition, mais elle n’avait osé en faire part ni à Olivier, ni à Jane, ni à Jérôme. 85 An anderer Stelle beschreibt die Erzählerin die Identifikation Annes mit dem Leben Virginias als einen osmotisch anmutenden Prozess des Übergangs von ihrer eigenen in eine andere Welt. Für die Erzählinstanz ist dies ein Anlass zu verdeutlichen, dass Anne sich von ihrem Leben in Paris innerlich verabschiedet hat, „in eine neue Welt“ eingedrungen ist und - im Unterschied zu früher - darüber auch zu sprechen bereit ist: Avec quelle facilité se fondait-elle dans ce monde, dans cette époque aux couleurs plus réelles que les quatre murs de son bureau, la pipe de Mayer ou le téléphone qui ne cessait de sonner. Elle éprouvait pourtant le besoin de confier ces incursions dans un autre monde, de faire partager l’émotion qui l’étreignait au simple nom de Virginia. 86 Als besondere Herausforderung betrachtet Anne ihren in einem „cahier noir“ niedergeschriebenen „roman sans nom“ 87 , die Reflexionen über Virginia, ihre Romanhelden und Zeitgenossen, die Jane ironisch als eine „réécriture de son œuvre“ 88 bezeichnet. Bei diesem Projekt handelt es sich zugleich um Annes An‐ näherung an das alles überwölbende, aus dem Werk Viriginia Woolfs zu destil‐ 4 Themenfeld III 282 89 Ebd. 90 Ebd., S. 145 f. 91 Vgl. ebd., S. 243. lierende Thema der „déraison“. Sie ringt um jedes Wort - Dans le cahier noir, il fallait s’arrêter à chaque mot […] - 89 und versucht, sich in die Gedankenwelt Virginias hineinzuversetzen. Welche existentiell fordernde, mental und emoti‐ onal belastende Anstrengung dies in einem umfassenden Sinn darstellt, verge‐ genwärtigt sie sich selber im Verlauf eines Gesprächs mit Jane. Die Erzählstimme lässt Anne in Form eines „discours indirect libre“ über Janes Vorschlag, das Buchprojekt abzubrechen, nachdenken: Croyait-elle réellement qu’elle avait choisi ce livre comme on choisit un objet d’étude? Ne savait-elle pas que pour faire ce livre, il lui fallait presque être Virginia Woolf, glisser parfois d’une époque à l’autre, ne pas avoir d’enfant puisque Virginia avait souffert de ne pas en avoir? 90 Als Jane ihrer Freundin Anne am 28. März 1981 mitteilt, dass sie nach New York aufbrechen werde, lässt Anne sie wissen, dass sie die Arbeit an ihrem „roman sans nom“ am Vortage abgeschlossen habe, obwohl er „unvollendet“ (inachevé) und obendrein „nutzlos“ (inutile) sei. 91 Ihr Schreiben gewinnt damit einen selbst‐ zweckhaften Charakter, insofern es nicht mehr primär auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist, sondern der schöpferische Prozess sinnstiftend wirkt. Anne hat damit einen entscheidenden Entwicklungsschritt vollzogen, da sie sich im Modus des Schreibens Virginia in einem nicht mehr zu steigernden Maß anver‐ wandelt hat. Die Annäherung an Virginia ist somit von den Äußerlichkeiten zu dem „Wesenskern“ vorgedrungen, der für die Schriftstellerin in der Gleichset‐ zung von Werk und Leben bzw. in der Überzeugung besteht, dass sich für sie nur in der „écriture“ der Sinn des Lebens erfülle. Doch obwohl sich Anne damit in der denkbar intensivsten Form mit Virginia Woolf identifiziert hat, bekennt sie sich nun gleichzeitig ausdrücklich zu ihrem eigenen Leben, in dem sich eine entscheidende Wende vollziehen wird: La vie de Virginia Woolf se glissait dans les interstices de la sienne, mais la sienne seule devait compter, le reste était erreur. […] Elle avait sa vie à elle, elle venait de le comprendre le jour de la mort de Virginia Woolf, le jour où Jane lui annonçait son départ. Sans Jane, pourrait-elle l’emplir, se contenter d’Olivier pour horizon? Devrait-elle la suivre à New York où se trouvaient encore d’autres manuscrits de Virginia Woolf, d’autres textes à décrypter… En pénétrant dans le salon où tous étaient réunis, Anne eut l’impression d’entrer dans un monde d’artifices où elle n’avait rien à faire. Elle capta le regard d’ennui de Jérôme et lui sourit. Celui-ci, la voyant entrer 4.1 „Une vie à soi“ 283 92 Ebd., S. 245. - Annes befreiter Ausruf „Oui […] j’ai eu ma vision“ findet am Schluss des Textes ein Echo in denselben Worten Virginia Woolfs, mit denen die an einer „lassitude extrême“ leidende Dichterin unmittelbar vor ihrem Suizid gleichsam einen Schluss‐ strich unter ihr Leben zieht. avec Jane, lui rendit son sourire et la dévisagea avec tant d’insistance qu’elle eut le sentiment qu’il avait compris et qu’il l’encourageait à suivre la voie qu’elle venait de choisir. Jane. Elle sentit le ciel se découvrir. Avec une intensité soudaine […] elle traça un trait, là, au centre. C’était fait, c’était fini. „Oui, songea-t-elle, j’ai eu ma vision.“ 92 Die Entscheidung für Jane bedeutet also zugleich den Aufbruch nach New York, in die Neue Welt, in der sie gleichwohl Virginia Woolf verbunden bleiben wird, warten doch auch dort Spuren der Schriftstellerin darauf, enträtselt zu werden. In Opposition zu der sich damit eröffnenden weiten Perspektive wird Olivier mit einem „Horizont“ assoziiert, in dessen engen Grenzen Anne nicht glaubt, sich entfalten zu können. So vermittelt ihr die Entscheidung zum Aufbruch, die mit einer Abkehr von ihrer bisherigen Lebensform und der Aufgabe ihrer be‐ ruflichen Stellung einhergeht, das euphorische Gefühl, dass sich ihr der Himmel auftut. 4.1.4 Perspektivierende Zusammenfassung Von dem Zeitpunkt, da Anne Figuières Virginia Woolf als ihr literarisches und persönliches Vorbild entdeckt hat, verläuft ihr Leben als kontinuierliche Such‐ bewegung. Da eine radikale Veränderung ihres Lebensentwurfs mit einer bereits vollzogenen und einer noch bevorstehenden Grenzüberschreitung in geogra‐ phischer, sprachlicher und soziokultureller Hinsicht korrespondiert, ist Anne als Musterbeispiel einer „beweglichen Figur“ im Sinne Lotmans zu verstehen. Die Bedeutung der Kategorie des Räumlichen manifestiert sich, wie die Analyse gezeigt hat, überdies in sprachlich-formaler Hinsicht, insofern wichtige, zeitlich bestimmte und strukturierte Entwicklungsphasen durch verräumlichte Vorstel‐ lungen wiedergegeben werden. Abschließend ist festzuhalten, dass Cécile Wajsbrot ihren ersten großen Er‐ zähltext der „Literatur“ widmet, die als sinnstiftende „Institution“ nicht nur das Leben der „Literaturschaffenden“ prägt, sondern auch auf vielfältige Weise in die Gesellschaft hineinwirkt. In ihrem literarischen Essay A Room of One’s Own beklagt Virginia Woolf, dass Frauen in der Vergangenheit der Zugang zu Bildung weitgehend vorenthalten worden sei und ihnen überdies die finanziellen und damit die einfachsten räumlichen Voraussetzungen fehlten, um ihre schriftstel‐ 4 Themenfeld III 284 93 Cécile Wajsbrot, Caspar-Friedrich-Strasse, Paris, Zulma, 2002a, (Wajsbrot 2002a). 94 Zur „Abwesenheit Davids“ im Titel des Romans vgl. Ette 2010, S. 223-226. 95 Wajsbrot 2002a, S. 10. lerischen Fähigkeiten und Neigungen zu entfalten. Sie verbindet damit im fünften Kapitel ein Plädoyer für lesbische Beziehungen. In welch starkem Maße Une vie à soi durch A Room of One’s Own beeinflusst worden ist, wird dadurch noch deutlicher. Für diese Studie relevant bleibt, dass für die Protagonistin Anne Figuières die Abkehr vom Boulevardjournalismus und die Hinwendung zum literarischen Schreiben sowie der Wechsel ihrer Lebensform eine Verlagerung ihres Lebensraums voraussetzen. 4.2 Caspar Friedrich Strasse 93 - Der Ich-Erzähler auf dem Weg zu einem von Caspar David Friedrich inspirierten Verständnis seiner „histoire personnelle“ und der „histoire collective“ Mit dem Hinweis auf eine Straße weist der Titel auch dieses Romans von Cécile Wajsbrot einen Ortsbezug auf, ohne damit eine Lokalisierung zu ermöglichen oder eine Richtung anzuzeigen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Person und das Werk Caspar David Friedrichs 94 für die Diegese des Romans von ent‐ scheidender Bedeutung sind. Die Erwartung, dass die Handlung des Romans aufgrund seines Titels in Greifswald, der Geburtsstadt des Malers, auf der von ihm oft und gern aufge‐ suchten Insel Rügen oder in seinem Studienort Dresden angesiedelt sein könnte, erfüllt sich nicht. Tatsächlich spielt die fiktive Handlung im Berlin des Jahres 2000, wo es eine Straße dieses Namens realiter nicht gibt. Der - namenlos blei‐ bende - autodiegetische Ich-Erzähler ist ein 1945 im Ostteil der Stadt geborener Dichter, der eine Straße einweiht, von der er sagt, dass sie durch keinerlei his‐ torische Hypothek belastet sei und zwei geschichtlich bedeutungslose Avenuen kreuzen werde. Die Situation wirkt von vornherein befremdlich, da es sich um eine noch im Bau befindliche Straße handelt und der Redner sich mit den Worten „Je vous parle d’un lieu qui n’existe pas […]“ 95 an seine Zuhörerschaft wendet. Er wählt damit eine Formulierung, die dem Ort einen utopischen Charakter verleiht. Als einer Realsituation nicht angemessen ist auch der Umstand zu be‐ werten, dass es neben dem Dichter keine weiteren Redner gibt und die mono‐ logische Rede nur sehr selten von einer adressatenbezogenen Redeform unter‐ brochen wird. Patricia Oster gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass er seine Worte an eine „fiktive Zuhörerschaft“ richtet, „[…] sein eigentliches Pub‐ 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 285 96 Oster 2009, S. 248. 97 Wajsbrot 2002a, S. 11. 98 Vgl. ebd., S. 9: Ce n’est sans doute pas ce que vous avez envie d’entendre […] und S. 11: Vous m’en voulez déjà, je le sens à votre silence, à l’immobilité que vous conservez en apparence […] 99 Ebd., S. 12. Zum Kontext vgl. S. 11 f. 100 Ebd., S. 15. 101 Ebd., S. 26. Der Satz ist auf das Gemälde Der Eichbaum im Schnee (Kapitel 2) bezogen. likum […] die Leserinnen und Leser [sind], die seinem von Abschweifungen gekennzeichneten Diskurs geduldig folgen müssen“ 96 . In scharfem Kontrast zur Geschichtslosigkeit der Straße steht das Los der vom Ich-Erzähler angesprochenen fiktiven Zuhörer, mit denen er sich solidarisiert, wenn er feststellt: […] car notre destin est de nous souvenir, même de ce que nous n’avons pas connu, et la cruauté de notre mémoire est sans appel, de même qu’elle est insondable. Les abîmes de nos parcours ne sont pas creusés par l’oubli mais par un trop-plein de souvenirs. 97 Der Dichter eröffnet seine Rede nicht mit einer klassischen „dispositio“, viel‐ mehr ist er bemüht, seine Zuhörerschaft in direkter Ansprache mit der Sprung‐ haftigkeit seiner Gedankenführung vertraut zu machen. 98 So kündigt er an, im‐ provisieren zu wollen, insofern er einerseits darauf hinweist, nichts vorbereitet und keinerlei Notizen zu haben, andererseits jedoch anmerkt, ins Museum ge‐ gangen zu sein, um erneut die Bilder Caspar David Friedrichs zu betrachten. Sie hätten ihn in seinem Leben begleitet und „verfolgt“, was er jedoch nicht in einem obsessiven, vielmehr in einem positiven Sinn verstanden wissen will: „[…] je sens qu’ils étaient là, en moi, qu’ils traçaient une route dont je n’avais pas cons‐ cience mais que je suivais pas à pas.“ 99 Der Einfluss der Gemälde Caspar David Friedrichs auf den Dichter lässt sich nur im Kontext seiner assoziativ verschränkten Betrachtungen voll ermessen. Maßgeblich geprägt sieht er sich und seine Zuhörer, wie oben angedeutet, durch geschichtliche und zutiefst persönliche Erfahrungen, die sich in räumlichen Er‐ innerungen und der Wahrnehmung von „Bewegung“ konkretisieren: das Auf‐ wachsen in einer Trümmerlandschaft und das Erleben des Wiederaufbaus, die Teilung und Wiedervereinigung der Stadt und nicht zuletzt jener daraus resul‐ tierende „[…] vaste mouvement de convergence vers Berlin“ 100 . Orientierungs‐ hilfe auf seinem Lebensweg empfängt der Ich-Erzähler gleichermaßen von Caspar David Friedrich und der Stadt Berlin als einem Fokalisationspunkt po‐ litisch-geschichtlicher und zutiefst persönlicher Erfahrungen: „C’est l’arbre qui me parle, ce chêne dans la neige, mais c’est aussi Berlin.“ 101 Caspar David Fried‐ 4 Themenfeld III 286 102 Vgl. ebd., S. 22. 103 Ette 2010, S. 231. 104 Gris 2014, S. 18. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 21. 107 Ebd. rich hätte, wie er meint, zur Zeit der Berliner Mauer dieselben Bilder gemalt, 102 d. h. dass der Redner der Kunst des bedeutenden Malers der Romantik eine transhistorische, überzeitliche Bedeutung und Aussagekraft beimisst bzw. dass, wie Ottmar Ette unter Bezugnahme auf das Gemälde Meeresküste bei Mondschein ausführt, die Bilder „[…] gleichsam von Cécile Wajsbrots Text semantisch auf‐ geladen, umkodiert und in das Spiel der Erzählung selbst miteinbezogen [werden]“ 103 . Fabien Gris spricht in diesem Zusammenhang „[…] d’une logique de la réappropriation ou de la réénonciation“ 104 , die er im Hinblick auf ihre Funktionsweise und die beabsichtigte Wirkung folgendermaßen erklärt: Le poète intériorise l’œuvre du peintre et les savoirs qu’elle entraîne, les met en perspective avec sa propre trajectoire et son discours sur l’Histoire. Il s’agit moins d’une confiscation ou d’un détournement du „sujet Friedrich“ que de la tentative de le faire véritablement dialoguer avec le présent et le passé proche. Friedrich n’est pas un prétexte mais un appui: le discours délocuté sur les œuvres est ramené dans une énonciation à la première personne - je et nous. 105 Angesichts des Abstands von annähernd zwei Jahrhunderten zwischen der Ent‐ stehungszeit der Bilder und der Epoche deutscher Geschichte, auf die sie vom Dichter in seiner Ansprache bezogen werden, führt Fabien Gris aus, dass der Redner die Gemälde Friedrichs nicht wie „museale“ Objekte, sondern „[…] in situ […] à travers un lieu et un regard qui ne lui sont pas (plus) contempo‐ rains“ 106 betrachte. Im Verlauf dieses Prozesses entstehe eine Vernetzung und gegenseitige Durchdringung unterschiedlicher Zeiten, Wissensgebiete und Denkweisen, die zu erhellenden Einsichten führe: Le savoir artistique est remotivé par une pensée de la mise en relation, qui va plus loin que la simple évocation d’analogies et de ressemblances. Il est davantage question d’un ensemble complexe de continuités, de passages et de recombinaisons qui envisagent le temps comme un réseau, où les différentes strates de passé et de présent s’éclairent mutuellement. […] les images de l’art et les mémoires historiques se croisent et se répondent à travers des motifs, des hantises, des revenances. 107 So bezieht sich der Ich-Erzähler als fiktiver Redner sowohl auf Caspar David Friedrich als auch auf die Stadt Berlin, wenn er die seinen Betrachtungen zu‐ 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 287 108 Wajsbrot 2002a, S. 27. 109 Ebd., S. 112. 110 Vgl. Ette 2010, S. 230. 111 Vgl. Wajsbrot 2002a S. 37: […] car j’aimais quelqu’un, de l’autre côté, celle à qui tous mes poèmes s’adressaient et qui ne les lisait pas […] 112 Vgl. ebd., S. 33. grunde liegende Leitfrage folgendermaßen formuliert: „Où sommes-nous, dans quels lieux de l’espace et du temps, c’est la question que pose le chêne dans la neige, c’est la question que pose Berlin à ceux qui passent, à nous qui y vi‐ vons.“ 108 Im Namen aller bei der - surreal wirkenden - Eröffnungszeremonie Anwe‐ senden deutet der Dichter damit den Anspruch an, eine letztlich der individu‐ ellen und kollektiven Identitätsfindung dienende „Ortsbestimmung“ sowohl im konkreten, räumlich-zeitlichen als auch im geistigen Sinn anzustreben. Unver‐ kennbar ist dabei die Funktion der neun Bilder Caspar David Friedrichs, deren Titel als Überschriften der neun Kapitel dienen. Sie sind, wie das Gesamtwerk des Malers, Ausdruck „[de] nos angoisses et nos aspirations qui prennent la forme d’abbayes ou de forêts, de vastes grèves, de rochers découverts à marée basse“ 109 , d. h. dass sie sowohl die Ängste und Nöte der Menschen als auch ihr Streben nach Idealen widerspiegeln. Die Diegese ähnelt dabei, wie Ottmar Ette beobachtet, einem Parcours durch die Ausstellung, der „[…] weder einer festen chronologischen, räumlichen noch einer thematischen Anordnung“ verpflichtet ist. 110 So zutreffend diese Analyse insgesamt ist, so ist doch einzuwenden, dass die Wiedergabe der „histoire personnelle“ des Ich-Erzählers mit dem prolepti‐ schen Hinweis auf ein Liebesverhältnis in Kapitel 3 111 und der in den Kapiteln 5-9 beschriebenen unglücklichen Entstehung und Entwicklung der Beziehung ihrem chronologischen Ablauf folgt. Da die Werke Caspar David Friedrichs den Lebensweg des hochsensiblen, an das Ideal des „homme nouveau“ 112 glaubenden Dichters nach seiner eigenen, oben zitierten Einschätzung in seinem Unterbewusstsein vorzeichneten und be‐ stimmten, fungieren die in den Kapitelüberschriften genannten Gemälde als „générateurs d’associations“. Im Prozess der erzählerischen „Umkodierung“ lösen sie mannigfaltige Reflexionen über die Verwobenheit der „histoire collec‐ tive“ und der „histoire personnelle“ aus und werden für ihn auf seiner Suche nach einer Leitidee für sein Leben zu richtungweisenden und sinnstiftenden Botschaften. Gemäß der Aufgabenstellung dieser Studie soll exemplarisch dargestellt werden, dass und in welcher Weise in diesem Zusammenhang das reflektierende Suchen des Dichters durch räumliche Vorstellungen beeinflusst und ggf. ver‐ 4 Themenfeld III 288 113 Ebd., S. 12. mittelt wird. Für diese Untersuchung werden schwerpunktmäßig die Kapitel 1, 2, 5 und 9 ausgewählt, da sie erste räumlich-zeitliche Orientierungen, einen Hö‐ hepunkt der „histoire personnelle“ und schließlich einen Ausblick auf die Zu‐ kunft der geschichtlich unbelasteten Caspar Friedrich Straße beinhalten. Auch ist durch diese Auswahl gewährleistet, dass die das Werk Caspar David Fried‐ richs kennzeichnende Bipolarität zwischen „angoisse“ und „aspirations“ wie auch die durch sie erzeugte Fülle räumlicher Assoziationen angemessen be‐ rücksichtigt werden. In der perspektivierenden Zusammenfassung ist schließ‐ lich unter Berzugnahme auf Lotmans Raumsemantik zu fragen, ob und ggf. in welcher Weise die Diegese durch trennende Grenzen oder aber durch sich ge‐ genseitig durchdringende Semiosphären geprägt wird. So wie man in einer Ausstellung zwischen zwei oder mehr Bildern hin- und hergeht und Vergleiche anstellt, um Entwicklungen innerhalb des künstleri‐ schen Schaffens und wechselseitige Beziehungen zwischen einzelnen Werken zu erkennen, so soll auch die Analyse durch die Gliederung nicht auf die in den Überschriften der Absätze genannten Kapitel „sensu stricto“ eingeengt werden. Vielmehr sollen, wo immer es aufgrund des inhaltlichen Zusammenhangs ge‐ boten erscheint, kapitelübergreifende Zusammenhänge in den Blick genommen werden. 4.2.1 Die Klosterruine bei Greifswald und Eichbaum im Schnee - Bemühungen um Orientierung in Raum und Zeit Das erste und zweite Kapitel werden, wie bereits die einleitenden Sätze ankün‐ digen, vom Anblick verfallener Bauwerke, trostloser Trümmerlandschaften und absterbender Natur beherrscht und inspiriert. Das 1824 / 25 entstandene Ge‐ mälde Klosterruine Eldena bei Greifswald, das Caspar David Friedrich schuf, als er 50 Jahre, also fast so alt war wie der Ich-Erzähler im Moment der Einweihung der Caspar-Friedrich-Strasse, bildet eine Symbiose zwischen den in den Himmel ragenden Bauresten und der alle Mauerspalten mit zartem Frühlingsgrün be‐ deckenden Natur, die der Redner folgendermaßen beschreibt: […] je voyais les arbres et les pierres se mêler, les piliers imposants de l’ancien monastère devenus inutiles, la végétation s’insinuait dans les moindres espaces, les interstices, les feuilles neuves d’un vert tendre comme les troncs noueux, et leurs branches dénudées qui ressemblaient à des fantômes agités par le vent ou à des sémaphores oubliés. 113 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 289 114 Vgl. dazu Gris 2014, S. 19, und zur Bedeutung von „Spuren“ B 3.4.2, S. 221. 115 Zum Zitat und Kontext vgl. Wajsbrot 2002a, S. 13. 116 Ebd., S. 13 f. 117 Ebd., S. 13. 118 Ebd., S. 14. 119 Vgl. ebd. Das für die Romantik typische Motiv der Ruine stellt auch einen Bezug von der Vergangenheit zur Gegenwart her, insofern die Baureste des Klosters von Eldena Spuren einer vergangenen Epoche in die Gegenwart hineintragen und als Brücke in das Hier und Jetzt des Kontextes der Erzählung fungieren. 114 Die gleichsam aus den Rippen der alten Chorwand „auftauchende“ Hausruine, aus der zwei Personen herauszutreten scheinen, weckt im Erzähler Assoziationen mit der Berliner Mauer, mit besetzten Häusern, mit Häusern mit zertrümmerten Fensterscheiben und Wänden mit „gewaltsamen Inschriften gegen die Gewalt“, mit überladenen Mülltonnen „[…] dont les détritus sont les fosses communes de nos ambitions“ 115 . Die zwei Menschen mögen, wie der Redner vermutet, das Haus bewohnt haben wie Menschen, die in Kairo friedhofsähnlich in fenster- und schmucklosen Wohnungen hausen und verinnerlicht haben […] que la barrière érigée entre les morts et les vivants est une barrière artificielle, aussi artificielle que l’orgueilleux monastère qui pensait vaincre la nature et qui se trouve en ruine, défait par l’âge et l’arrogance, par les guerres que se livrent les croyants et les incroyants, finalement habités par les herbes et les arbres - comme ils habitent les cimetières, disais-je, ayant compris […] que nous passons notre temps à avoir peur de tout alors qu’il suffirait, pour pouvoir enfin vivre, de n’avoir peur de rien. 116 Der Redner zeichnet jedoch nicht nur holzschnittartig „[…] l’image triste du destin des sociétés matérielles qui n’ont d’autre but que la consommation, le renouvellement des équipements[…]“ 117 und des, wie er meint, an der eigenen Hoffart und Arroganz sowie an den Folgen der Glaubenskriege zugrunde ge‐ gangenen Klosterlebens. Er erkennt in den noch immer gen Himmel gerichteten Säulen und den zerborstenen Bögen ebenso einen Hinweis auf „[…] une vie inachevée comme la mienne, imparfaite, qui aurait pu être différente“ 118 . Diese persönliche Reminiszenz setzt wiederum Erinnerungen an die kollektive Ge‐ schichte frei, an das Leben unter dem alten Regime, unter dem sich die Menschen gezwungen sahen, ihre eigene Meinung zumindest teilweise zu verbergen bzw. sich einer sorgfältig verschlüsselten Ausdrucksweise zu bedienen, an ein Leben in einem „Raum der Dissimulation“. 119 Bei näherer Betrachtung des Gemäldes gewinnt der Redner schließlich den Eindruck, als ob der gemauerte Spitzbogen 4 Themenfeld III 290 120 Vgl. ebd., S. 14 f. 121 Ebd., S. 16. 122 Rüdiger Safranski, Romantik - Eine deutsche Affäre, München: Carl Hanser Verlag 2007; S. 142, (Safrankski 2007). - Zum Kontext vgl. S. 138-149. 123 Zitate ebd., S. 143. 124 Ebd., S. 143 f. 125 Dem religiösen Denken und Empfinden Caspar David Friedrichs werden die Ausfüh‐ rungen des „Redners“ wohl eher nicht gerecht. Vgl. dazu Johannes Grave, Caspar David Friedrich - Glaubensbild und Bildkritik, Zürich: Diaphenes 2011, (Grave 2011). Für Grave steht fest, dass Friedrich ein Anhänger der Kreuzestheologie Martin Luthers war, also eine stark personenhaft geprägte Gottesvorstellung hatte. (Vgl. Grave 2011, S. 52-55) mit dem durchscheinenden Licht des Himmels auf ihn wirke „[…] comme un œil, l’œil de la conscience […] une sorte de veille, de veilleur invitant à rester au plus haut, au meilleur de soi-même, invitant à l’exigence - à se garder des fai‐ blesses et des facilités“ 120 . Etwas später wird der Redner diesen Gedanken prä‐ zisieren, indem er eine Definition des Begriffes „romantique“ entwickelt: Romantique, qu’est-ce que cela signifie, sinon un rapport à la nature, à l’univers, sinon cet œil qui nous regarde - j’en reviens à cela - où passe le ciel, c’est-à-dire un mélange d’horizon et de transcendance dont nous manquons cruellement aujourd’hui. Mais ce que l’œil regarde devient aussi témoin, par la présence de ce regard, nous sommes là, et nous donnons un sens à sa présence, nous en sommes la justification - car que serait un regard sur le désert, un œil posé sur des étendues vides, immobiles et glacées, inhumaines, sans personne pour le refléter, sans personne pour en rendre compte? 121 Das Romantische wird hier, wie bei Schleiermacher, als „[…] naturnahe Seins‐ mystik […]“ 122 , als eine Vereinigung des Gefühls des Individuums mit der Natur und dem Universum verstanden. Ein Bedürfnis nach Transzendenz wird aus‐ drücklich betont, nicht jedoch im Sinne der „[…] Annahme eines himmlischen Gesetzgebers […]“, sondern als „[…] Partizipation am himmlischen Leben hier und jetzt“. 123 Dies impliziert immer auch, dass diejenigen, die sich von jenem „œil de la conscience“ betrachtet wissen, also von einer transzendenten, quasi religiösen Erfahrung berührt werden, diese sinnstiftend und richtungweisend in ihr Leben übersetzen und davon Rechenschaft abgeben, sie also auch anderen mitteilen. Es gehört zu den Glaubenssätzen der Romantik, dass es dafür „[…] keiner Hierarchie, keiner Priesterämter, überhaupt keiner Kirche und eigentlich auch keiner Rituale und Sakramente [bedarf]“ 124 . Nur so wird verständlich, wenn der Redner über Caspar David Friedrich - ob zu Recht oder zu Unrecht, bedürfte einer ausführlichen Erörterung 125 - folgendes ausführt: […] celui qu’on voudrait nous présenter comme un homme religieux, un dévot, a pourtant peint la chute des édifices créés à la gloire d’un dieu - mais peut-être le 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 291 126 Wajsbrot 2002a, S. 17. 127 Ebd. 128 Zitate und Kontext vgl. ebd. 129 Ebd., S. 113. 130 Ebd., S. 17. sentiment religieux est-il plus fort dans les ruines qu’entre les murs entiers des temples et des églises où on ne sent que la présence des hommes et leur désir de pouvoir, peut-être la lumière qui paraît dans le ciel est-elle plus forte que les lueurs mystérieuses qui voudraient être le signe d’une présence divine. 126 So beruft sich der Redner auf Caspar David Friedrich, um seine eigene Vorstel‐ lung vom Platz des Menschen innerhalb des Universums zu umreißen. Stellver‐ tretend für die Menschheit - […] nous sommes eux et ils sont nous […] - 127 erscheinen in dem Gemälde, als Mann oder Frau kaum zu unterscheiden, die zwei Figuren, die vor dem verfallenen Haus stehen bzw. sitzen. In der Umgebung hoch aufragender Bäume und Säulen wirken sie geradezu verloren - […] perdus dans l’inextricable croisée des chemins, au-jourd’hui, entre hier et demain […] - nur mit einem „Anschein von Gegenwärtigkeit und Leben“ und ohne daran zu denken „[…] à lever les yeux pour voir autre chose“ 128 . Gerade darauf jedoch kommt es an, wie der Redner am Ende seiner Betrachtungen feststellt: „Mais il suffit d’un changement de perspective, d’un mouvement - lever les yeux au lieu de les baisser - et nous découvrons d’autres possibilités, des ouvertures que nous n’aurions jamais imaginées.“ 129 Der Dichter bringt damit seine Überzeugung zum Ausdruck, dass, wie oben ausgeführt, jedes Individuum in der Lage ist, sich im harmonischen Einklang mit der Natur und dem Universum, also in der bewussten Wahrnehmung jener „[…] lumière qui paraît dans le ciel […]“ 130 zielsicher zu orientieren und die Ge‐ genwart als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verstehen. Dem Dichter selbst jedoch, dem Autor des Cycle du Veilleur, kommt die besondere Funktion eines „Wächters“ zu, ein Privileg, das, wie er berichtet, in einem gleichsam schöpferischen, weihevoll anmutenden Akt auf ihn übertragen 4 Themenfeld III 292 131 Vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, B 4.2.3, S. 304, Anm. 192. - Hingewiesen sei auch auf die Erzählerin in Le Tour du lac, die ihre Verpflichtung zur „Zeitzeugenschaft“, zum „témoignage“, als eine „mission“ betrachtet, die „tous les gardiens de phare et les veil‐ leurs de nuit“ wahrzunehmen haben (vgl. B 4.3.1, S. 322, Anm. 275); auf die Erzäh‐ lerin-Immobilienmaklerin in Conversations avec le maître, die mittels der „écriture“ das Vermächtnis des gescheiterten Maestro für die Nachwelt bewahrt (vgl. B 4.4.3, S. 364, Anm. 484); auf das Wächteramt des Malers und der Statuen (B 4.5.1, S. 384, Anm. 589, und B 4.5.2, S. 397 Anm. 645); auf den um „l’ordre des choses“ bemühten „gardien“ (B 4.6.1, S. 414 Anm. 720, 722) und die Ausstellungsbesucher in Sentinelles, die in einer digitalisierten Welt zu „[…] sentinelles, témoins de choses invisibles […]“ (B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846) geworden sind. 132 Vgl. Gris 2014, S. 20 f. 133 Ebd., S. 21. 134 Wajsbrot 2002a, S. 72. 135 Ebd., S. 73. wurde: „La conscience du monde avait versé en moi […].“ 131 Das Amt des „Wäch‐ ters“, das ebenfalls ein wichtiges Element im Motivrepertoire der deutschen Ro‐ mantik ist und gelegentlich mit der tief in der Volksmythologie verwurzelten Gestalt des „Wanderers“ in Verbindung gebracht wird, 132 setzt geschärfte Wahr‐ nehmungsfähigkeit und nicht zuletzt die Bereitschaft, andere zu schützen, vo‐ raus. Beide haben ihren Platz sowohl in der von Caspar David Friedrich darge‐ stellten Welt als auch in der „wirklichen“ Welt des Erzählers, die Fabien Gris als einen in seiner räumlichen und zeitlichen Dimension zu „durchmessenden“ und in seinen verborgenen Wirkungsweisen zu „erklärenden“ Raum beschreibt: „[…] un espace à arpenter et à contempler, dont il faut déchiffrer les dynamiques souterraines et les strates temporelles“ 133 . Es mag zunächst überraschen, eine solche Aufgabe mit der Dichtkunst in Verbindung zu bringen. Bedenkt man jedoch, dass die ästhetische Durchdringung aller Lebensbereiche ein Charakte‐ ristikum der Romantik war, ist diese Gedankenverbindung leicht nachvoll‐ ziehbar. In einem anderen Kontext, bei einem seiner nächtlichen Spaziergänge in Berlin, evoziert der Anblick des wie ein Leuchtturm in den Himmel emporra‐ genden Fernsehturms auf dem Alexanderplatz im Dichter eine gänzlich andere Vorstellung: „[…] le soir, j’avais la sensation d’être en pleine mer, d’affronter le danger - la solitude - de côtoyer le phare […]“ 134 . Sodann gewinnt er den Ein‐ druck „[que] l’horizon s’ouvrait comme si j’étais l’un de ces navigateurs qui participent aux courses solitaires […] j’étais seul à bord comme je l’avais toujours été - comme nous le sommes tous - […] à la fois protégé et perdu“ 135 . Obwohl sowohl ein „veilleur“ als auch ein „navigateur“ mit der „solitude“ konfrontiert sind, gehören die Lexeme „veilleur“ und „navigateur“ unterschied‐ lichen semantischen Feldern an. Dies bedeutet, dass sich die Funktionen des 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 293 136 Ebd., S. 29. 137 Ebd., S. 37. Dichters auf zwei verschiedene, sich gleichwohl ergänzende Bereiche erstre‐ cken. Das Bild des „navigateur (solitaire)“, der seinen Kurs selbstständig be‐ stimmen und einhalten muss, ruft in Erinnerung, in welcher Weise der Dichter zuvor die ihm bei seiner ureigenen Tätigkeit zur Verfügung stehenden Mittel eingeschätzt hat: […] je n’ai pas d’arme pour vous intimider, je n’ai que des mots et le fond de ma pensée, et quand j’écris, c’est pour essayer de donner un sens, à tout cela serait beaucoup dire mais à ma vie, pour combler les vides et les silences, jeter des ponts, rendre les passages possibles au-dessus des abîmes sans trop avoir le vertige. 136 Der Dichter, der sich selbst nicht nur „beschützt“ weiß, sondern auch - wie ein „navigateur solitaire“ - die Erfahrung des „Verlorenseins“ kennt, verleiht seinem eigenen Leben durch sein Schreiben „Sinn“ und „Richtung“. Als ein mit außer‐ gewöhnlicher Sensibilität und ästhetischer Gestaltungskraft Begabter wird er durch das von ihm Geschriebene auch für andere zum „Brückenbauer“ und „Lotsen“ über die „Abgründe“ von Herausforderungen und Gefahren, die jeden Lebensweg säumen. Das beschützende „Wächteramt“ und die wegweisende Funktion des „Navigators“ vereinigen sich symbiotisch in der Aufgabe des Dich‐ ters. Die stärkste Inspiration für seine Dichtung empfängt der melancho‐ lisch-nachdenkliche Dichter vor dem Mauerfall bei seinen Spaziergängen auf einem Friedhof, bei denen er sich nicht nur der Teilung der Stadt, sondern ins‐ besondere der räumlichen Trennung von seiner Geliebten bewusst wird, mithin einer Entbehrung, die er durch die Kraft der Vorstellung zu kompensieren ver‐ sucht: […] c’est là que je sentais la division de la ville - celle de mon cœur, aussi, car j’aimais quelqu’un, de l’autre côté, celle à qui tous mes poèmes s’adressaient et qui ne les lisait pas, j’imaginais que nous étions chacun de part et d’autre du mur et que, malgré le béton gris, le métal qui l’habitait, les gardes et les armes, que malgré tout cela nous étions réunis dans ce rendez-vous irréel où ne pouvions pas nous voir. 137 Ein Zug der Auflehnung - malgré tout cela - verbindet sich bei seiner Suche nach Glück und einem sinnerfüllten Leben mit der Flucht in eine Welt der Ge‐ danken, Träume und Wunschvorstellungen, die in seinen Gedichten Gestalt an‐ nehmen. Nachdem jedoch - nach dem Fall der Mauer - ein guter Freund, der Literatur unterrichtete und die Werke in Russland verbotener Dichter ins Deut‐ 4 Themenfeld III 294 138 Vgl. ebd., S. 49. 139 Vgl. S. 21-29, passim. 140 Vgl. ebd., S. 22: […] nous avons retrouvé une continuité, une fluidité, une circulation […] mais pour les trouver, nous avons perdu une part de notre identité, une part difficile à définir qui est celle des tableaux de Caspar Friedrich. 141 Ebd., S. 24. 142 Ebd., S. 26. 143 Vgl. dazu Gris 2014, S. 20. 144 Wajsbrot 2002a, S. 23. sche übersetzte, gestorben ist, hat der Ich-Erzähler kein Gedicht mehr ge‐ schrieben und sich, ähnlich wie Caspar David Friedrich nach bitteren Erfah‐ rungen, immer stärker in sich selbst zurückgezogen. 138 Wie er selbst - auch noch nach dem Tod des Freundes - diese Mittlerrolle lebt, demonstriert er durch seine Auseinandersetzung mit dem Bild Eichbaum im Schnee im ganzen zweiten Kapitel. Die Sprache seiner Rede ist hier gekenn‐ zeichnet durch eine Verbindung aus „fonction expressive“ und „fonction cona‐ tive“: Die Bezugnahme auf sich selbst, die sich im Gebrauch der Personalpro‐ nomina „je“ und „me“ manifestiert, und der Adressatenbezug, der markiert wird durch das Personalpronomen „vous“ bzw. den Imperativ, wechseln durch‐ gängig. 139 Überbrückt wird diese Unterscheidung mehrfach durch das den „Sender“ und „Empfänger“, den Dichter und seine Zuhörerschaft verbindende „nous“. Für die Annäherung an das Werk von Caspar David Friedrich ist dies von großer Bedeutung, da, wie der Dichter meint, die mit dem Fall der Mauer wiedergefundene „Bewegungsfreiheit“ mit einem schwer zu definierenden par‐ tiellen Verlust an Identität einhergehe, einer Identität, die den Bildern Friedrichs gleichsam innewohne. 140 „Mais l’arbre se dresse, sa présence signifie quelque chose, même nue, même entravée […]“ 141 - das ist die Botschaft des Dichters, der sich von der Eiche geradezu angesprochen fühlt - C’est l’arbre qui me parle, ce chêne dans la neige […] - 142 und seine Erkenntnisse an seine Zuhörer wei‐ tergibt. Der Dichter verwendet nur wenige Worte auf den Aufbau des Bildes, in dem der entblätterte, nackt wirkende Baum als vertikale Linie drei horizontale Ebenen: Erde, Wald und Himmel durchschneidet. 143 Sehr differenziert sind hin‐ gegen seine Deutungen, die er in Gegensatzpaaren so aneinanderreiht, dass die herrscherliche Wirkung, die der Baum ausstrahlt, noch erhöht wird durch die „Leiden“, die er zu ertragen hat: „[…] regardez cet arbre, voyez sa force et sa solitude à la fois, coupé, pourtant - une partie du tronc gît à terre - il domine encore, et peut-être domine-t-il d’autant plus qu’il est incomplet et dénudé, qu’il n’est ni entier ni protégé par le feuillage - parce qu’il connaît la souffrance.“ 144 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 295 145 Ebd. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 24. 148 Ebd., S. 24 f. Bzgl. möglicher Verbindungen zur „Goethe-Eiche“ vgl. Ette 2010, S. 224 f. Die „souffrance“ des Baumes findet ihren stärksten Ausdruck in jenem am Fuß der Eiche liegenden gekrümmten Stamm, der im Redner Assoziationen mit einer Pietà - […] une pietà sans Christ […] - 145 weckt und ihn an die von Käthe Kollwitz geschaffene Skulptur „Eine Mutter beweint ihren toten Sohn“ erinnert, die seit 1993 als (vergrößerte) Kopie in der Neuen Wache, der zentralen Ge‐ denkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Berlin, aufgestellt ist. Ein auf den ersten Blick vielleicht unbedeutendes Detail des Bildes - [c]ette souche sans âme […] - 146 spricht den Dichter intensiv an und stellt über die Assoziation mit der Skulptur von Käthe Kollwitz einen ersten Bezug zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts her. Ein anderes Bildelement, der weiße, harte Schnee, evoziert weitere raum-zeitlich definierte Erinnerungsbilder: die Schlachtfelder von Stalingrad, die Sterbeorte hingerichteter Geiseln und aus‐ gehungerter Gefangener und jene an der Ostsee gelegenen Wälder und Dünen, in die man die Juden aus den baltischen Ländern trieb „[…] pour creuser, non leur tombe, trop humaine, mais leur fosse, des tranchées servant de dernière demeure tandis qu’à l’abri des mêmes sables, avant, après, des gens viendraient s’étendre au soleil“ 147 . Die Präsenz der Eiche weckt schließlich Erinnerungen an die Jahrhunderte alten Bäume im Bezirk Tiergarten, die im Bombenhagel in sich zusammenbra‐ chen, deren Reste frierenden Menschen in Berlin aber noch als Brennholz dienten. Bürger, die, wie der Redner ergänzt, sich gewiss nicht um das traurige Schicksal der frierenden, nackten Menschen in den Vernichtungslagern der pol‐ nischen Ebene sorgten. Wie die sich hier andeutende Frage der Verstrickung der Zivilbevölkerung in die Verbrechen der Nazis zu beurteilen sei, werde durch Filmdokumente erhellt: […] il n’est besoin que de voir, sur les films d’actualité, les visages pétrifiés des habitants de Weimar que les Américains ont fait défiler à Buchenwald, leur stupeur quand ils découvrent les charniers, les visages et les corps squelettiques, il n’est besoin que de voir leurs pleurs ou leur rigidité, l’état de choc dans lequel ils se trouvent pour comprendre que, s’ils avaient vu, ils auraient refusé. Mais voilà, ils savaient dans l’abstrait, ils connaissaient les lois, les restrictions, le lent chemin qui menait de l’impossibilité à vivre une vie normale à l’impossibilité de rester en vie, ils savaient mais détournaient les yeux. 148 4 Themenfeld III 296 149 Wajsbrot 2002a, S. 25. 150 Ebd. - Zum Kontext vgl. ebd. S. 25-27. 151 Vgl. ebd., S. 26: […] un jour ou l’autre, une force nous conduit, comme Orphée au retour des Enfers, à nous retourner, regarder en arrière et à perdre Eurydice - l’innocence, notre croyance aux possibilités d’emprunter un chemin par lequel nul serait encore passé. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 27. 154 Ebd., S. 87. Die von Cécile Wajsbrot in ihrem Erzählwerk erstmals 1997 in La Trahison thematisierte Problematik der „spectateurs“, der vermeintlich ahnungslosen Zi‐ vilbevölkerung, die ihren Blick konsequent von den Spuren der Verbrechen ab‐ wandte, lenkt den Blick des Redners auf die sichtbare Allgegenwärtigkeit der Vergangenheit im Berliner Stadtbild: Zahlreiche Schilder erinnerten - […] avec une terrible précision […] - 149 an die von den Nazis erlassenen Rassengesetze, ohne dass viele Passanten davon Kenntnis nähmen. Dies sei auch nicht „[…] un but de promenade, plutôt une descente aux enfers du silence“ 150 . Diese „descente“ als Konfrontation mit der Vergangenheit betrachtet der Redner jedoch als eine den Menschen („nous“) früher oder später aufgezwungene Handlung. Sie führe ihnen, wie dem ohne seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt zurückkeh‐ renden Orpheus, vor Augen, dass sich die Vergangenheit nicht auslöschen lässt, sich ihnen mithin ein nie zuvor beschrittener Weg in die Zukunft eröffnet. 151 Die Chance eines unbelasteten Neuanfangs gebe es nicht: „[…] on ne repart pas à zéro.“ 152 Mit dieser Einsicht hat der Redner jedoch noch keinesfalls einen si‐ cheren Standpunkt erlangt. Vielmehr stellt er fest, dass auch die bewusst ge‐ pflegten Erinnerungspraktiken, die reflektierte Visualisierung der Vergangen‐ heit in Form von Gedenktafeln und Denkmälern, offensichtlich nicht zu einer Überwindung der Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit geführt haben. Mit dem Gebrauch des Pronomens „nous“ signalisiert er, dass er auch selbst davon betroffen ist: Où sommes-nous, nous qui lisons ces plaques, ces incessants rappels, où sommes-nous quand nous assistons aux commémorations, en quels temps, en quels lieux? Nous errons dans le labyrinthe du monde, à distance du présent - le présent serait ne rien savoir - à distance du passé, puisque l’événement commémoré, par la force des choses n’est pas en train de se produire. 153 Zu einer von größerer Zuversicht und Zukunftsgewissheit geprägten Einschät‐ zung gelangt der Redner im siebten Kapitel, das von dem Bild Abtei im Eichwald inspiriert ist. Zusammenfassend charakterisiert er das Gemälde mit den Worten: „Car c’est le paysage d’après la tempête, c’est là que nous en sommes.“ 154 Die 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 297 155 Ebd. 156 Ebd., S. 87 f. 157 Vgl. ebd., S. 14: […] j’aurais envie de vous raconter ma vie […] mais on ne raconte pas sa vie au premier venu. 158 Vgl. dazu ebd., S. 58-60. Annäherung zwischen dem Bild und der Situation der Gegenwart, in der er und seine Zuhörerschaft leben, darüber hinaus eine durch die leuchtenden Farben des Himmels symbolisierte Zukunftsvision präzisiert er mit folgenden Worten: […] je n’oublie pas ce que je suis venu vous dire […] notre mélange d’ancien et de nouveau, comme ce tableau, exactement, cette abbaye dans les chênes, où la terre figure l’ancien, les restes, les ruines, les traces, tandis que le ciel et son espace désignent le nouveau. 155 Die Botschaft des Bildes führt schließlich von der früheren quälenden Vorstel‐ lung labyrinthischer Verirrung zu einer von starker Hoffnung getragenen Er‐ wartungshaltung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander ver‐ söhnt. Die Welt ist nicht vorstellbar als „tabula rasa“, vielmehr muss sie als ein durch die Spuren der Geschichte geprägter Raum gedacht werden. Einmal mehr bedient sich der Redner einer weitgehend räumlich bestimmten Bildersprache, um die Komplexität der Zeit und den Einfluss und die Wirkmächtigkeit trans‐ zendenter Kräfte zu veranschaulichen: Les noms des rues sont des rappels, tout nous renvoie à quelque chose, nous ne sommes pas dans un monde vierge mais dans un monde marqué, chaque nom a un sens, une histoire […] il faut garder le souvenir, les vestiges et les traces, nous apposons des plaques pour raconter ce qui s’est passé, nous gardons la mémoire comme un temple mais même les temples, même les abbayes finissent en ruine, c’est ce que dit Caspar Friedrich, et il nous dit aussi qu’à cette condition le jour peut apparaître, à cette condition, le ciel se dégage et nous révèle la splendeur de ses lumières. 156 4.2.2 Meeresküste bei Mondschein - rester ou partir? Im fünften Kapitel, Meeresküste bei Mondschein, spricht der Redner - entgegen seinen ursprünglichen Absichten - 157 über eine Begegnung, die für sein Leben von zentraler Bedeutung wurde. Auf die außerordentliche Wichtigkeit dieses Ereignisses deutet bereits implizit seine Beschreibung des im Titel genannten Bildes hin. 158 Eindeutig ist dessen Gliederung in zwei gleich große, durch eine schwarze Linie voneinander getrennte horizontale Flächen, die das Meer und den Himmel darstellen. Die dunklen Farben und der Vollmond erzeugen eine 4 Themenfeld III 298 159 Ette 2010, S. 230. 160 Im Unterschied zum Ich-Erzähler geht Ette (ebd.) davon aus, dass es sich bei den Fi‐ schern um Schiffbrüchige handelt. 161 Wajsbrot 2002a, S. 59. 162 Ebd., S. 60. 163 Ette 2010, S. 228. nächtliche Stimmung. Die sich zu einem Wirbel zusammenballenden Wolken und der geneigte Mast des Bootes, der „[…] eine gleichsam transzendente Ver‐ bindung zwischen Himmel, Meer und Erde [bildet]“ 159 , lassen auf einen Sturm schließen. Weniger eindeutig jedoch ist, ob die beiden Figuren - vermutlich handelt es sich um Fischer - heimkehren oder ob sie ins Meer hinausfahren wollen, ob sie gerettet oder in Gefahr sind. 160 Die Ostsee beschreibt der Redner nicht als ein Meer gewaltiger Unwetter, sondern als „[…] la mer des profondeurs et du mystère, d’un calme parfois inaccessible, d’un secret qu’elle refuse de livrer […]“, und er ergänzt diese Charakterisierung mit einer Aussage, die eine „Botschaft“ der Ostsee von großer Wichtigkeit anzukündigen scheint: „[…] la Baltique parle du cœur des choses, et sans l’immensité des océans, elle révèle, à qui sait la regarder l’essence de la vie.“ 161 Unter dem Eindruck der Sogwirkung des Bildes, das seine Betrachter in die aufziehende Nacht, in die Ungewissheit des sich in Dunkelheit hüllenden Horizonts zu ziehen scheint, schweifen die Gedanken des Redners in die Zukunft: „[…] nous allons tous, un jour ou l’autre, vers les ténèbres et l’invisible nous guette - nous ne savons même pas ce que demain nous réserve, sans parler d’aujourd’hui.“ 162 Die melancholisch eingefärbten Überlegungen des Redners sind im fünften Kapitel verwoben mit zwei Ereignissen von schicksalhafter Bedeutung. Zu Be‐ ginn erinnert der Redner daran, dass Christoffer Friedrich am 8. Dezember 1787 im Alter von zwölf Jahren seinen um ein Jahr jüngeren Bruder Caspar David vor dem Ertrinkungstod gerettet hat und dabei selber zu Tode kam. Dieses Er‐ eignis, die Erfahrung, sein Überleben dem Opfertod des eigenen Bruders zu ver‐ danken, dürfte den Maler zeit seines Lebens geprägt haben. Über ein vergleich‐ bares Geschehnis, eine „[…] analoge Figuration, die freilich in inverser Darstellung modelliert wurde […]“ 163 , berichtet der Redner im Schlussteil des Kapitels. Vor vielen Jahren hat er nach der Beerdigung seiner Großmutter in Westberlin auf einem Nachbarfriedhof eine junge Frau kennen gelernt, die das Grab ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester pflegte und in die er sich spontan verliebte. Die beiden Schwestern waren in einen Autounfall verwickelt, bei dem die ältere lediglich einige Brüche davontrug, die jüngere, vor ihr sitzende und sie dadurch möglicherweise schützende hingegen ihr Leben ließ. „Le temps s’est 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 299 164 Wajsbrot 2002a, S. 65. 165 Ebd., S. 64. 166 Ebd., S. 99. 167 Ebd. 168 Das Verb „rester“ taucht in dem zitierten Kontext des fünften Kapitels zwar nicht explizit auf, die Idee des ‚Zürückbleibens am selben Ort‘ gibt aber das Verhalten der jungen Frau wieder. 169 Im Hinblick auf West- und Ostberlin kann man bis zum Bau der Mauer im Jahre 1961 von unterschiedlichen, aber durchlässigen Semiosphären sprechen, insofern trotz der Differenzen in den politisch-kulturellen „Kodierungen“ bis zu diesem Zeitpunkt unge‐ hinderte Kontaktmöglichkeiten bestanden und wahrgenommen wurden. Das Trenn‐ ende zwischen beiden Semiosphären wurde von 1961-1989 rein „äußerlich“ maßgeblich verstärkt, zugleich jedoch durch das „innerliche“ Aufbegehren zahlreicher Bürger in beiden Teilen der Stadt Berlin relativiert. arrêté sur cette route […]“ 164 - mit diesen Worten beschreibt die am Grab ste‐ hende Frau die Wirkung, die der Unfalltod ihrer Schwester und ihr eigenes Überleben auf ihr Weiterleben hatten. Der Redner hatte sich ihr mit den Worten „Je suis de l’Est […]“ vorgestellt, die er hervorbrachte, als wolle er sagen: „[…] n’ayez pas peur, je ne fais que passer“ 165 . Im gesamten Kontext der Diegese ent‐ falten die hier zitierten Äußerungen ihre volle Bedeutung erst im Zusammen‐ hang mit einem Ausschnitt aus dem achten Kapitel, das die letzte, zufällig zu‐ stande gekommene Begegnung zwischen dem Redner und der von ihm geliebten Frau auf der Insel Rügen beschreibt. Als die beiden sich treffen, kommt es zu folgendem Wortwechsel: - Vous êtes de passage? - Oui, dit-elle. Et vous? - Je reste quelques jours. 166 Der Redner kommentiert diesen Austausch mit den Worten: „C’était toute notre histoire, elle passait, je restais.“ 167 Das Wechselspiel zwischen „passer“ und „rester“ 168 - mit einem Rollentausch zwischen „ihm“ und „ihr“ von der ersten zur letzten Begegnung - spiegelt das von vornherein zum Scheitern verurteilte Verhältnis zwischen den beiden wider. Die Bewegungsrichtungen ihrer Lebens‐ läufe waren inkompatibel. Dass ein Zusammenleben für sie nicht zuletzt durch die Teilung der Stadt Berlin, die politisch-kulturellen Unterschiede zwischen West und Ost und damit die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Teilräumen bzw. Semiosphären 169 unmöglich gemacht wurde, ist leicht nachvollziehbar. Wie der Redner die Teilung erlebt und bewertet hat, erklärt er seiner Zuhörer- und Leserschaft recht anschaulich. Einerseits empfand der Redner die durch den Bau der Mauer verursachte Trennung der Familien als „brutal“, andererseits kehrte er von seinem ersten 4 Themenfeld III 300 170 Wajsbrot 2002a, S. 62. 171 Ebd. 172 Fundstelle: http: / / 17emesiecle.free.fr/ Prince_charmant2.html. - Bzgl. dieses Märchens vgl. auch Wajsbrot 2008b, S. 245. 173 Wajsbrot 2002a, S. 63. - Zum besseren Verständnis des Hintergrunds sei die Entwick‐ lung des Verhältnisses zwischen dem Dichter und der von ihm geliebten Frau zusam‐ mengefasst: Nach ihrer Rückkehr von Hamburg nach Berlin teilt die Frau dem Dichter mit, dass seine Briefe für sie „[…] des balises […] des viatiques“ (S. 79) gewesen seien. Gleichzeitig wirft sie ihm jedoch vor, dass sie bei jedem seiner Briefe auf „un aveu“, also eine Lie‐ beserklärung, gewartet, diese aber nie erhalten habe. Der Ich-Erzähler, der nach eigener Aussage im Rufe eines „chantre de l’amour conjugal“ stand und die Gedichte den Briefen nicht beilegte, nimmt jedoch für sich in Anspruch, dass er sie mit der Bekundung seiner Gefühle und Empfindungen nicht bedrängen wollte: „[…] j’ai toujours tu mes senti‐ ments pour ne pas vous charger […]“ (S. 80). Auch behauptet er, dass er sie vor seinen allumfassenden Erwartungen und Ansprüchen habe schützen wollen, gesteht dabei je‐ doch auch ein, befürchtet zu haben, sie verlieren zu können. Dies jedoch beweise, wie sie sinngemäß entgegnet, dass er nur sich selbst habe schützen wollen, indem er sein „normales“ Leben fortsetzte und - parallel dazu und mit dem zusätzlichen Reiz des Selbstmitleids - in seinen gewiss schönen Gedichten seine Liebe zu ihr pflegte. (S. 80f). In der Enttäuschung darüber hat sie, die ehemalige Literaturdozentin, sich von jeglicher Literatur ab- und einem vermögenden Mann zugewandt, der den „monde des affaires“, eine Welt ohne Gefühle, repräsentiert, die es ihr erleichtern soll, den Dichter zu ver‐ gessen. 174 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 76-81. Besuch bei seiner Großmutter väterlicherseits aus „Berlin-West“, wie er in Über‐ einstimmung mit der offiziellen DDR -Terminologie formuliert, desillusioniert zurück. Für die Großmutter, die immer in Kreuzberg, einem vor dem Bau der Mauer als Hort aller Gegner der Konsumgesellschaft geltenden Bezirk, gelebt hatte, war Berlin „[…] une ville échouée dans un monde qu’elle ne comprenait pas, une ville siège du luxe et de son refus […] épave d’un autre monde errant à la recherche d’un port d’attache“ 170 . Er selbst und sein ihn begleitender Vater erlebten den Westen Berlins als „[…] une terre ennemie, trop de lumière, trop d’artifice, de séduction […]“ 171 . Nachdem er den Lichterglanz auch noch mit der vorgetäuschten Schönheit der Prinzessin Fausse-Gloire aus dem Märchen Le Prince Charmant von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont 172 verglichen hat, ur‐ teilt er rigoros: „[…] l’Ouest me paraissait dangereux, faux, pour rien au monde je n’aurais voulu y vivre […]“ 173 . Nach dem Fall der Mauer kehrt die vom Redner-Dichter ersehnte Frau von Hamburg nach Berlin zurück. Sie hatte Berlin verlassen „[…] pour ne plus être là, à l’endroit où cela s’est passé, pour oublier un peu“, erklärt dem Redner bei einer erneuten Begegnung am Grab ihrer Schwester nun jedoch sinngemäß, dass es unmöglich sei, vor der eigenen Vergangenheit zu fliehen. 174 Beide stimmen 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 301 175 Vgl. ebd., S. 77: (Elle: ) Oui, la ville a changé. Il me semble que tout est plus ouvert, plus diffus, aussi, moins concentré. Le luxe gagne, les traces de la guere s’effacent. On ne sait pas si c’est le cours du temps, l’essence de la ville… (Lui: ) Ça va dans le même sens. 176 Ebd. 177 Vgl. ebd., S. 79-80. 178 Ebd., S. 103. 179 Vgl. ebd., S. 103: Je ne travaille plus. 180 Ebd., S. 103 f. - Zu dieser „Abschiedsszene“ s. Majorano 2004, S. 525. 181 Ebd., S. 104. darin überein, dass die Stadt Berlin offener geworden ist und sich wohl sogar in ihrem Wesen verändert hat. 175 Während sie befürchtet, dass ihr das Leben ent‐ gleitet, zeigt er sich optimistischer: „Mais cette vie contient une belle force […] il y a une direction même si on ne la distingue pas, une lumière dans la nuit.“ 176 Zu einem Zerwürfnis kommt es, als er ihren Verdacht bestätigt, dass sie die Bezugsperson, das „objet“ seiner - von ihr bislang nicht gelesenen - Gedichte sei. Sie wirft ihm vor, sie ausgenutzt, mit ihren Gefühlen gespielt zu haben. 177 Bei dem oben erwähnten Zufallstreffen auf Rügen befindet sie sich in Begleitung eines offensichtlich wohlhabenden älteren Mannes. In einem Gespräch mit dem Dichter erneuert sie ihren Vorwurf, durch seine - von ihr inzwischen gele‐ senen - Gedichte gekränkt zu sein, sich „[…] dévoilée, découverte … offerte“ 178 zu fühlen. Auf seine Entgegnung, dass es sich bei seinen Gedichten um „Ab‐ straktionen“, um individuell auslegbare „Anrufungen“ handle, und auf seinen dezenten, nichtsdestoweniger unmissverständlichen Hinweis, dass sie doch Li‐ teratur unterrichte (und „es“ eigentlich besser wissen müsse), antwortet sie, dass sie nicht mehr arbeite. 179 Gänzlich desillusionierend ist dann ihre Reaktion auf seine Replik, dass sie doch noch lese. Noch einmal unterstreicht sie ihren Vor‐ wurf, von ihm instrumentalisiert worden zu sein, indem sie erklärt, dass sie jedes „tu“ in einem Gedicht als „Raub (einer Persönlichkeit)“ betrachte und sie sich daher in „[l]e monde des affaires [où] il n’y a pas de sentiments“ zurückgezogen habe: Je ne lis plus. Je ne peux plus. Je vois chaque personnage, chaque tu, dans chaque poème comme un vol, quelqu’un dont la souffrance a été dérobée […] Cet homme, je l’ai choisi parce qu’il ne lit pas, parce qu’il ne s’intéresse pas à ces choses, tout ce qu’il veut, c’est de l’argent et au moins, l’argent ne fait pas de mal à personne. Le monde des affaires est insensible, il n’y a pas de sentiments, c’est ce qui perd les hommes, voilà ce que j’ai compris, grâce à vous, voilà pourquoi je ne vous ai pas écrit. 180 Mit ihrer Erklärung „Je veux vous oublier“ 181 lässt sie jedoch gleichzeitig er‐ kennen, dass sie die Folgen ihrer Beziehung zum Ich-Erzähler noch keineswegs endgültig verarbeitet hat. Emotional gelenkt und ermutigt durch Caspar David 4 Themenfeld III 302 182 Ebd. 183 Vgl. ebd.: Nous pourrions partir […] et tout recommencer, vous ne sentez pas que tout recommence […] que nous sommes dans un monde en pleine construction, un nouveau monde auquel nous avons le droit de prendre part? Vous ne voyez pas que tout est possible, que les voies sont en train de s’ouvrir? Je vous en prie, réveillez-vous, et venez avec moi… 184 Ebd. 185 Ebd., S. 104 f. 186 Ebd., S. 105. Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer - […]c’était la mer et son mouvement qui gouvernait le flux et le reflux de mes émotions […] j’étais en prière auprès des éléments pour qu’ils me donnent une chance de la convaincre - 182 versucht der Dichter verzweifelt, in der von ihm geliebten Frau den Glauben und das Vertrauen in einen „Aufbruch in eine neue, im Aufbau befindliche Welt“ 183 zu wecken. Sie reagiert auf seinen Appell mit der niederschmetternden Aussage: „Vous ne vivez pas […] vous rêvez.“ 184 Für den Dichter bedeuten „vivre“ und „rêver“ jedoch keinen Gegensatz. In einem inneren Monolog stellt er fest: „Je rêve, et je préfère rêver, si vivre, c’est ne plus croire à rien, ou croire au jeu faussé, à la dureté des squelettes, aux manipulations.“ 185 Positiv gewendet, bedeutet dies, dass „leben“ der Orientierung an - und sei es nur erträumten - Zielen, aber auch an Werten oder Idealen bedarf. Auf seine letzte Frage an sie: „Vous aimez? “ be‐ kommt er eine ausweichende Antwort, nachdem er ihre innere Zerrissenheit und ihre nach wie vor bestehende Verbundenheit mit ihm klar erkannt hat: Elle me regarda, pour la première fois depuis longtemps, plongea ses yeux dans les miens comme elle l’avait fait au cimetière, des années et des années auparavant, qui paraissaient des siècles, ses paroles, ses démentis, n’existaient plus, elle croyait en quelque chose - on n’a pas ce regard quand on ne croit pas. […] je ne voulais rien dire parce que ce regard me répondait, puis elle baissa les yeux, la déchirure se fit d’un coup sec, et elle dit: Il faut que je parte. 186 Seiner kurz zuvor in beschwörenden Worten geäußerten Bitte, mit ihm in eine gemeinsame Zukunft aufzubrechen, erteilt sie mit ihrer knappen Antwort eine klare Absage: Sie wird ihrem neuen Partner folgen, lebt aber innerlich in zwei Welten, da sie in eine ihren eigentlichen Neigungen und Talenten nicht gerecht werdende Semiosphäre zurückkehrt. 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 303 187 Ebd., S. 10. 188 Ebd. S. 110. 189 Oster 2009, S. 246. 190 Wajsbrot 2002a, S. 110. 191 Ebd. 192 Ebd., S. 110 f. - Zum Bild des „veilleur“ bzw. des „gardien de phare“ vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589, und B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.1, S. 414 Anm. 720, 722 und B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846. 193 Ebd., S. 111. 4.2.3 Das Riesengebirge - die Caspar-Friedrich-Strasse als Straße der Zukunft Hatte der Ich-Erzähler zu Beginn seiner Rede von der Caspar-Friedrich-Strasse noch zögerlich als von „[…] un lieu qui n’existe pas […]“ 187 gesprochen und ihr damit einen utopischen Charakter verliehen, so eröffnet er den Schlussteil seiner Ansprache in einem weitaus zuversichtlicheren Ton, indem er feststellt: […] cette rue existe, maintenant, elle fait partie du paysage, du quartier, et elle porte un nom, Caspar David Friedrich. Elle ne suit pas le tracé d’une rue ancienne, elle ne passe pas sur le trajet d’un ancien mur, elle n’a pas été débaptisée ou rebaptisée, c’est une rue simple, une rue droite, ni longue ni courte, une rue sans histoire, la rue dont nous avons besoin pour continuer de vivre. Une rue normale comme il y en a dans d’autres villes, dans d’autres capitales, comme il y en a peu ici. 188 Die Normalität werde, so der Redner, auch darin zum Ausdruck kommen, dass der Straßenname nicht an ein historisches Ereignis erinnere. Patricia-Oster Stierle nennt die Caspar-Friedrich-Strasse daher, in Anlehnung an Pierre Nora, einen „non-lieu de mémoire“ 189 . Trotz oder gerade wegen der „Geschichtslosig‐ keit“ der Straße spricht der Ich-Erzähler in geradezu euphorischen Tönen von der Straße als „[…] notre planche de salut […] notre avenir […]“ 190 . Sofern man sie zu „nutzen“ und zu „leben“ verstehe, könne sie auch „[…] notre innocence retrouvée […]“ 191 bedeuten und nach den schrecklichen Katastrophen einen neuen Kurs markieren. Dieser könne sich aus zwei Gründen an Caspar David Friedrich orientieren: Einerseits sei das Zeitalter, in dem er gelebt habe, nicht mit der belastenden Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Sodann sei da der Name „[…] qui nous parle d’aspiration et d’idéal, qui nous invite à la contemp‐ lation, loin des affaires du monde, qui fait de nous des veilleurs et des gardiens de phare“ 192 . Der Redner ist bemüht, den bislang stark betonten Einfluss bzw. die Gegenwärtigkeit des Vergangenen im Gegenwärtigen zu relativieren: „[…] il faut laisser au passé la place du passé, qu’il n’envahisse pas tout […].“ 193 Auch 4 Themenfeld III 304 194 Ebd. 195 Vgl. dazu ebd., S. 111 f. 196 Vgl. Anm. 128 und 129. 197 Vgl. Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“, in: Was ist Auf‐ klärung? - Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wie‐ land, Hrsg. Ehrhard Bahr, Stuttgart: Reclam 1974; S. 8-17; hier: S. 9. 198 Vgl. Wajsbrot 2002a, S. 22. 199 Vgl. zum folgenden Absatz / Zitat ebd. S. 113 f. gebe es „mehrere Vergangenheiten“, und schließlich sei durch den Fall der Mauer der Stillstand der Zeit überwunden worden: „[…] notre mur, en tombant, a remis le temps en marche […].“ 194 Gleichzeitig betont er jedoch, dass die „[…] innocence retrouvée […]“ nicht „[…] celle de l’inconscience […]“, sondern „[…] celle de la conscience“ sei. Um das Konstrukt einer von der Vergangenheit unbelasteten Straße aufrecht erhalten zu können, ohne Geschehenes zu vergessen, geht der Ich-Erzähler jedoch notwendigerweise von der - mit der Regel der „vraisem‐ blance“ schwer zu vereinbarenden - Idealvorstellung aus, dass kein Bewohner der Caspar-Friedrich-Strasse in die Verbrechen der Vergangenheit oder Gegen‐ wart verstrickt ist. Nur so könne „ein neues Kapitel“ der Geschichte aufge‐ schlagen werden. 195 Damit einhergehen muss nach Meinung des Ich-Erzählers ein Prozess der inneren Befreiung, den er metaphorisch als „Perspektiv- und Bewegungsänderung“ und als ein „Anheben des Blicks“ anschaulich-räumlich beschreibt. 196 Die Idee einer bewusst vollzogenen Öffnung des Blicks, eines Wechsels der Perspektive und der Bewegungsrichtung ist gedanklich nicht weit entfernt von Immanuel Kants Antwort auf die Frage Was ist Aufklärung? aus dem Jahre 1784. Wenn Kant Aufklärung definiert als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und wenn Unmündigkeit zu verstehen ist als „[…] das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ 197 , dann ist damit sicherlich die grundsätzliche Einstellung des Redners wiedergegeben. Aufgewachsen in einem Land, in dem „der Staat“ und das herrschende „Regime“ nicht voneinander zu trennen waren und jegliche Denkrichtung bestimmten, 198 begreift er den Fall der Mauer für sich und seine Zuhörerschaft als eine epochale Zäsur, als einen Neustart der Zeit, als Möglich‐ keit und Verpflichtung, Raum und Zeit selbstständig zu gestalten und auf diese Weise eine eigene Identität zu gewinnen. Das Bild Das Riesengebirge, das der Ich-Erzähler bei seinem Parcours durch die Ausstellung der Bilder Caspar David Friedrichs als letztes vorstellt, scheint auf den ersten Blick in keinerlei Beziehung zur Szenerie einer neuen Straße zu stehen. 199 Weder Menschen, Häuser noch irgendwelche Spuren von Zivilisation sind zu erkennen. Farben und Formen sind schwer zu bestimmen, die Berge 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 305 200 Ebd., S. 113. 201 Ebd., S. 114. 202 Ebd. 203 Den Begriff „récit“ übernehme ich von C. Wajsbrot. Vgl. ebd., S. 115. 204 Zum Kontext und den Zitaten vgl. Ette 2010, S. 237. Die Bezugsstelle im Text (Vous ne savez pas vivre) befindet sich auf S. 86. 205 Wajsbrot 2002a, S. 111. 206 Vgl. ebd., S. 111 f. gehen wie mächtige Wellen ineinander über. Bei ausreichendem Abstand er‐ kennt man jedoch, so der Redner, welche Botschaft von dem Bild ausgeht: „[…] ce pourrait être l’aube du temps, une naissance où tout est à venir, où les choses n’ont pas encore pris forme mais sont en instance, en devenir, tout est possible mais surtout, tout est calme, tout est beau.“ 200 Die räumlich vermittelte Stimmung des Anbruchs einer neuen Zeit verbindet sich für den Redner mit dem Eindruck einer „[… légèreté […]“ und „[…] dématérialisation […]“, die ihn an einen „[…] paysage de l’âme […]“ 201 denken lassen. Zugleich assoziiert er die zahlreichen Lichtspiele und Farbschattierungen mit einer großen Vielfalt von Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen und interpretiert sie als „[…] une ouverture, la place faite pour recevoir ce qui va venir“ 202 . Die - für Friedrich und die Ro‐ mantik typische - Öffnung für transzendente Kräfte gelangt an vielleicht keiner anderen Stelle des „récit“ 203 so klar zum Ausdruck wie hier. Ottmar Ette hält es nicht für vertretbar anzunehmen, dass die das Historische transzendierenden Elemente in den Werken Caspar David Friedrichs bedeuten, dass seine „[…] Gemälde nicht nur erlebbar, sondern im eigentlichen Sinne lebbar würden“. Der Dichter bei Cécile Wajsbrot versuche gleichwohl, „[…] eine Kunst des Raumes nicht nur in eine Kunst der Zeit, sondern zugleich auch in eine Kunst des Lebens zu übersetzen“. Es bleibe jedoch offen, ob ihm dies gelinge, zumal ihm seine „ersehnte Partnerin“ vorwerfe, „nicht leben zu können“. 204 Vertretbar ist es daher wohl auch, die Idee der Einweihung einer - noch im Bau befindlichen - Straße mit dem Namen Caspar Friedrich als die Allegorisie‐ rung der Wünsche und Sehnsüchte des Dichters zu bewerten. Die Caspar Fried‐ rich Strasse, die bezeichnenderweise weder im Westen noch im Osten Berlins lokalisiert wird, ist die erträumte bzw. imaginierte Alternative eines „dritten Weges“. Der Dichter stellt sie sich vor als Enklave einer „innocence retrou‐ vée“ 205 , die bewohnt wird von Menschen, die weder Zeugen noch gar Mitwir‐ kende der Verbrechen der Vergangenheit oder Gegenwart waren. Sie stellt für ihn nicht den Neuanfang der Geschichte, sondern lediglich den Beginn eines „neuen Kapitels“ dar. 206 Diese Idee korrespondiert, wie der Dichter meint, mit der von Friedrichs Gemälde Das Riesengebirge ausgehenden Stimmung des An‐ bruchs einer neuen Epoche. Ein deutlicher Widerspruch ergibt sich jedoch zu 4 Themenfeld III 306 207 Ebd., S. 26. 208 Vgl. ebd., S. 100 und 101: - Vous n’êtes pas heureuse. / - Je ne le serai jamais. / / - Je devrais me tuer, dit-elle. […] - Je ne supporte pas la vie, dit-elle. - Zum Kontext vgl. S. 100-105. 209 Vgl. ebd., S. 105. 210 Vgl. ebd., S. 33. 211 Ebd., S. 33. seinen Reflexionen über das Bild Der Eichbaum im Schnee und der ebenda in der Formel „[…] mais on ne repart pas à zéro […]“ 207 zusammengefassten Überzeu‐ gung, dass die Vergangenheit in unserem Alltag allgegenwärtig ist. Ein absoluter Neubeginn ist daher schlechterdings nicht vorstellbar in der „realen Welt“, son‐ dern nur in einem von einem künstlerischen Ideal beherrschten „monde à part“, der sich für den Ich-Erzähler - und die Leserschaft - im Simulacrum Schrift als Caspar Friedrich Straße konkretisiert und als Fluchtraum anbietet. 4.2.4 Perspektivierende Zusammenfassung Die Hoffnung des Dichters auf eine Erfüllung seiner Liebe zu der aus Westberlin stammenden Frau zerbricht in zwei unterschiedlichen Lebensphasen bzw. Epo‐ chen, die als die Zeit vor bzw. nach der Teilung der Stadt klar zu definieren sind. Bildet zunächst die Mauer jene unüberwindliche Grenze, die ein Zusammen‐ leben der beiden verhindert, so stellt danach die durch unglückliche Umstände und Missverständnisse zu erklärende Abkehr der Frau von einem geistig-lite‐ rarisch motivierten zu einem an rein materiellen Interessen orientierten Leben ein sie trennendes Hindernis dar. Dass sie sich allerdings mit ihrer ganzen Person und aus voller Überzeugung für ein rein konsumorientiertes Leben ent‐ schieden hat, ist auszuschließen, umso mehr, als sie ihr Unglück und ihren Le‐ bensüberdruss offen eingesteht 208 und ihr Blick gleichzeitig verrät, dass sie „an etwas glaubt“ 209 . Ihre von ihrem ehemaligen Dichterfreund beobachtete innere Zerrissenheit bedeutet, dass sie mental in einem „Raum zwischen zwei Welten“ bzw. zwischen zwei Semiosphären lebt. Der Ich-Erzähler, der sich auf seine eigene Art zu dem bis zum Fall der Mauer im Osten der Stadt verkündeten Ideal vom „neuen Menschen“ bekennt, 210 sagt im Rückblick über sich selbst: „[…] je n’étais pas fait pour la réalité“ 211 . Aus diesem Grunde werden auch die Bilder Caspar David Friedrichs für ihn zu Zu‐ fluchtsräumen, in denen er Antworten auf seine Fragen nach der Komplexität der Zeit und dem Sinn des Lebens und nicht zuletzt das Wirken transzendenter Kräfte entdeckt. Aufschlussreich sind auch seine Anmerkungen über jene Be‐ obachtungen, die er bei einem Besuch am Grab seines Freundes anstellt: 4.2 „Caspar Friedrich Strasse“ 307 212 Ebd., S. 47. Zum Kontext vgl. S. 46-49. 213 Ebd., S. 88. […] mais ce jour où je me rendais sur la tombe d’un ami, je compris qu’au-delà des régimes politiques, les oiseaux migrateurs désignaient notre condition et nos difficultés à être libres, à nous éloigner de la terre et du sol pour prendre, comme on dit, un peu de hauteur. 212 Der Dichter setzt sich persönlich und die Menschen allgemein wohl nicht ohne Neid in Beziehung zu den Zugvögeln, die - anders als die Menschen - nicht an eingegrenzte Territorien gebunden sind, sondern in uneingeschränkter Freiheit Länder- und Kontinentalgrenzen überfliegen können und so ihr Überleben si‐ chern. Die Mauer als verhängnisvolle Grenze zwischen West- und Ostberlin stand dem persönlichen Glück des Ich-Erzählers im Wege. Mit dem Tod seines gegen die Unfreiheit aufbegehrenden Freundes ist seine eigene dichterische Stimme verstummt. Trotz oder vielleicht auch wegen dieser enttäuschenden Erfahrungen reklamiert er für sich einen Freiraum des Träumens, in dem er, der sich als „veilleur“ und „navigateur“ seiner Mitmenschen versteht, unerreichbar scheinende Ziele avisiert und damit, im Lotman’schen Sinn, zwar nicht realiter, aber zumindest virtuell zu einer beweglichen Figur wird. Dabei ist er sich seiner eigenen Grenzen voll bewusst, denn auf ihn trifft jene Charakterisierung zu, die er im siebten Kapitel folgendermaßen formuliert: […] nous ne sommes pas faits d’une pièce et nous portons souvent quelqu’un ou quelque chose en nous qui, à la fois, nous aide et nous empêche de vivre, l’image incomplète de notre idéal qui a peine à s’intégrer à la réalité, autant que le passé au présent. 213 Im Simulacrum der Schrift vermag der Dichter, im vollen Bewusstsein seiner eigenen und der Unvollkommenheit seiner Mitmenschen, seiner Leserschaft die Ideale Caspar David Friedrichs in der Allegorie einer ihm gewidmeten Straße zu vermitteln. Der Dichter-Erzähler flieht in einen vom ihm selbst imaginierten Raum einer nach Caspar David Friedrich benannten Straße, die von allen his‐ torischen Lasten befreit sein soll. Dies ist jedoch eine utopische Vorstellung, da auch das Werk Caspar David Friedrichs als typisches Zeugnis der Romantik nicht aus seinem geschichtlichen Kontext herausgelöst und voraussetzungslos verstanden werden kann. Jeder Neuanfang, und als solchen versteht sich die Romantik, resultiert schließlich aus der kritischen Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Geschichte und dem daraus abgeleiteten Willen, die Zukunft neu zu gestalten. Für den Dichter-Erzähler gewinnt die Caspar Friedrich Strasse ihre Authentizität daher lediglich im Akt des Schreibens, in einer „Vereinnah‐ 4 Themenfeld III 308 214 Cécile Wajsbrot, Le Tour du lac, Paris, Zulma, 2004a, (Wajsbrot 2004a). - Folgende Re‐ zensionen wurden eingesehen: Jean-Claude Lebrun, „Cécile Wajsbrot - Le passage né‐ cessaire“, in: l’Humanité, 8 avril 2004; Michaëlle Petit, „Coup De Cœur - Les saisons de Cécile Wajsbrot“, in: La Croix, 12, février 2004. 215 Wajsbrot 2004a, S. 7. 216 Ebd., S. 7 f. mung“ Caspar David Friedrichs für seine von einer naiven Sehnsucht nach einem Neuanfang geleiteten Imagination. 4.3 Le Tour du lac 214 - Das sonntägliche Kreisen um einen See als Methode und Symbol einer Suchbewegung Dass der Titel Le Tour du lac des 2004 erschienenen Romans von Cécile Wajsbrot nicht auf die Erzählung einer einmaligen, von geographisch-landeskundlichen oder kunsthistorischen Entdeckungen beherrschten Handlung oder auf die li‐ terarische Verarbeitung eines sportlichen Großereignisses bezogen ist, wird be‐ reits durch die Eröffnung des ersten Kapitels deutlich. Im einleitenden Satz er‐ klärt die autodiegetische Erzählerin ihrem Gesprächspartner, wie „man“ zu einseitigen, vorschnellen Urteilen über andere Menschen gelangt, und sie hat den Eindruck, dass ihr seit langem niemand so aufmerksam zugehört hat wie „[…] ce jeune homme rencontré par hasard en faisant le tour du lac“ 215 . Im An‐ schluss daran teilt die Erzählerin mit, dass die Sonntagnachmittage für sie ein sich regelmäßig wiederholendes Ritual von großer Bedeutung geworden sind: C’était l’après-midi, l’heure des familles et des circonstances anodines où chacun est à sa place et dans son rôle, où ceux qui n’en ont pas se sentent particulièrement seuls dans un monde particulièrement cruel ou absurde, et où le sentiment de solitude s’accompagne d’un sentiment d’éternité, de permanence, oh, ces dimanches après-midi où, comme les eaux du lac, le temps ne bouge pas, où une stagnation s’empare des corps et des âmes, où on croirait que rien d’imprévu ne peut arriver. […] Je marchais comme tant d’autres fois, laissant ma pensée dériver sur peu de choses, au fond, toujours les mêmes, qu’avais-je vraiment fait depuis ma dernière venue, où en était ma vie, étais-je plus près, plus loin du but que je m’étais fixé - y avait-il un rapport entre les deux? Un rayon de soleil filtrait à travers les nuages […] ce rayon tombait sur une île artificielle, artificielle comme le reste puisque le bois de Boulogne avait été redessiné sous le Second Empire […] 216 Mit dem hier skizzierten Einstieg zeichnet sich die formale Grundstruktur des Textes ab: Reflektierende Abschnitte wechseln ab mit Dialogen, die die Erzäh‐ 4.3 „Le Tour du lac“ 309 217 Ebd., S. 10. 218 Ebd. 219 Ebd. lerin mit „dem jungen Mann“ führt, während die beiden gemeinsam einen See umkreisen. Ort der Handlung ist der im Westen von Paris gelegene Bois de Boulogne. Bezug genommen wird in den Gesprächen auf Paris als Wohnort der Erzählerin sowie auf Neuilly als Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Auch ein Teil der inhaltlichen Problematik deutet sich an: In der Umgebung von promenierenden Familien empfindet die Erzählerin ihr Alleinsein offen‐ sichtlich als quälend, umso mehr, als es sich zu perpetuieren droht, da sie in der ihr „grausam“ und „absurd“ scheinenden Welt keinerlei „Platz“, d. h. keinerlei Funktion innehat. Darüber hinaus diagnostiziert sie eine die Atmosphäre der Sonntagnachmittage kennzeichnende „Stagnation“, da die Zeit - wie das Wasser des künstlichen Sees - still zu stehen scheint. Die Ursache für ihre Verirrung und Konfusion ist dem ersten Kapitel zumin‐ dest in Umrissen zu entnehmen. Als Kind einer Einwandererfamilie hatte die Erzählerin sich für „das Schreiben“ entschieden - […] j’avais choisi d’é‐ crire […] - 217 , nach einiger Zeit aber beschlossen, damit aufzuhören, ohne bereits die Gründe genau definieren zu können: „[…] j’étais devant un puzzle dont j’a‐ vais reconstitué le cadre, un peu de ciel, un peu de terre, mais dont le centre était vide, dont l’image refusait de se dessiner […]“ 218 . Diese Unklarheit konkretisiert sich in ihrer Vorstellung zu einer soliden Wand, die sich zwischen die Wirk‐ lichkeit und ihren unerreicht bleibenden Zielen aufrichtet: „[…] je tournais au‐ tour des mêmes choses, de la même question, de la même muraille qui se dressait entre ce qui se passait et ce que j’aurais voulu sans jamais s’effondrer.“ 219 Die Gespräche mit dem „jungen Mann“, dem Adressaten des einleitenden Satzes, haben nicht nur die narratologische Funktion, den Prozess der inneren Entwicklung der Erzählerin dialogisch darzustellen, vielmehr präsentieren sie gleichzeitig die emanzipatorischen Anstrengungen eines jungen Erwachsenen, der sich aus der finanziellen und familiär-emotionalen Abhängigkeit von seinem Vater zu befreien sucht und dabei von der Erzählerin unterstützt wird. Dass die personale Entwicklung der beiden Protagonisten, ihre Suche nach einer sinnstiftenden Lebensaufgabe, durch - im Kontext der Zeit zu betrach‐ tende - Orte bzw. Räume beeinflusst wird und die erzählerische Gestaltung dieses Prozesses (auch) durch eine räumliche Bildersprache gekennzeichnet ist, steht außer Frage. Obwohl die „histoire“ der autodiegetischen Erzählerin im Mittelpunkt des analytischen Interesses steht, da sich in ihrem Leben tatsächlich eine Wende vollzieht und sie in ihrer Person die lebenswichtige Bedeutung des literarischen Schreibens verkörpert, soll zumindest exemplarisch auch gezeigt 4 Themenfeld III 310 220 Ebd., S. 16 f. 221 Vgl. ebd., S. 70. werden, welche Rolle Raum und Bewegung für die emanzipatorische Entwick‐ lung des „jeune homme“ spielen. Da die Orientierungssuche der Protagonisten mit Bewegungen im Raum ein‐ hergeht, bietet sich Lotmans raumsemantisches Erklärungsmodell als Analy‐ seinstrumentarium an. Methodisch beeinflusst wird die Analyse zudem durch hermeneutische und rhetorische Erklärungsansätze. 4.3.1 Von Neuilly nach Paris - Schreiben als Akt der Befreiung Kindheit und Jugend in Neuilly - Rückschau und Nachwirkungen Das Bewusstsein und Lebensgefühl der Erzählerin wird in der Zeit ihrer in Neui‐ lly verbrachten Kindheit und Jugend maßgeblich dadurch bestimmt, dass sie als Spross einer Einwandererfamilie unter der Dominanz einer wohlhabenden, das gesellschaftliche Leben bestimmenden Schicht von Bürgern leidet, deren luxu‐ riöse Wohnungen und Häuser das äußere Stadtbild prägen. Der Schulbesuch ermöglicht der Erzählerin, ihre Talente zu entdecken und zu entfalten, fördert aber keineswegs die Integration in die Gesellschaft. Das Schreiben wird für sie zu einem Mittel, sich aus ihrer Isolation zu befreien, büßt aber seinen positiven Einfluss auf das Selbstwertgefühl der Erzählerin ein, als die öffentliche Aner‐ kennung ausbleibt und sie an der Nützlichkeit ihrer schriftstellerischen Tätig‐ keit zu zweifeln beginnt. Erst im Verlauf ihrer Gespräche mit dem „jungen Mann“ wird ihr bewusst, dass sie ihre Schreibblockade überwinden muss, um ihrem Leben Sinn und Richtung zu geben. Die Erzählerin fühlt sich, wie sie uns schon im ersten Kapitel wissen lässt, jenen zugehörig, „[…] qui n’ont pas de patrie car celle que leurs parents ont quittée n’existe plus tandis que celle où eux sont nés reste une terre étrangère où nulle racine ne prend“ 220 . Im Gespräch mit dem „jungen Mann“ kommt sie verschiedentlich auf die Bedeutung der fehlenden Einwurzelung in die eigene Umgebung zurück. Für ihre Familie gelte, dass sie „ihr Land“ verlassen, aber „[…] son mode de vie tel quel […]“ beibehalten habe. 221 Am Ende der Diegese fragt sich die Erzählerin beim Anblick des Hauses, in dem sie mit ihrer Familie gewohnt hat, ob Wohnen in diesem Zusammenhang tatsächlich der angemessene Begriff ist: J’étais posée, dans ma famille comme au lycée, comme dans la vie, comme maintenant, sans attaches, sans racines, flottant dans l’espace et les temps, je croisais les uns et les autres sans dévoiler mes questions tout en ayant l’impression de trahir quelque chose. 4.3 „Le Tour du lac“ 311 222 Ebd., S. 155. 223 Ebd., S. 22. 224 Vgl. ebd., S. 69. Et si tout s’était noué là, dans ce lycée et cet appartement, je n’avais aucun souvenir pour me guider, aucun fil d’Ariane pour en sortir. 222 Mit diesen Worten bringt die Erzählerin zum Ausdruck, dass sie sich nie als „natürlicher Spross“ einer gewachsenen, in solidarisch-liebevoller Zusammen‐ gehörigkeit lebenden Familie empfand, daher auch keinerlei innere Bindungen entwickeln konnte und sich folglich wie ein Gegenstand „abgestellt“ fühlte. Diese Erfahrung der Wurzellosigkeit und der fehlenden Beziehungen übertrug sich auch, wie noch nachzuweisen ist, auf ihre Schulzeit. Das Gefühl der Ent‐ fremdung von der eigenen Umgebung, ihre eigene Verschlossenheit empfand sie jedoch zugleich als unehrlich, vermutlich, weil sie ihren Protest und ihr Auf‐ begehren gegen die ihr widerfahrene Behandlung gerne artikuliert hätte, dazu aber nicht in der Lage war. So fand sie weder in ihrer Familie noch in der Schule einen „Ariadnefaden“, eine Hilfe, sich aus dem „Gefängnis von Neuilly“ zu be‐ freien. Angesichts des Immigrantenschicksals ihrer Familie steht die Erzählerin vor der Frage: „[…] comment être ici ou comment être d’ici“ 223 . Offensichtlich kann das gelebte „être ici“ den Nachteil des fehlenden „être d’ici“ nicht aufwiegen. In einem späteren Kontext wird dieser Gedanke ausgeweitet. Die Erzählerin weist ihren Gesprächspartner, der sich mit seinen (französischen) Eltern überworfen hat und sie verlassen will, auf die sprachliche Verwandtschaft zwischen „père“ und „patrie“ sowie zwischen „mère“ und „langue maternelle“ hin. 224 Dieser Zu‐ sammenhang ist auch für sie selbst von elementarer Bedeutung: Dass sich die Eltern nicht darum bemüht haben, sich nach dem Verlassen ihrer Heimat an ihre neue Umgebung zu assimilieren, hat es der Erzählerin sicherlich erschwert, Frankreich als ihre „patrie“ und das Französische als ihre „langue maternelle“ zu betrachten, obwohl sie - jenseits des Elternhauses - in einer durch die fran‐ zösische Sprache und Kultur geprägten Umgebung bzw. Semiosphäre aufge‐ wachsen ist. Das von der Erzählerin beschriebene Gefühl der Entfremdung von ihrem ei‐ genen Lebensumfeld ist jedoch in erster Linie auf die Stadt Neuilly zurückzu‐ führen, die sie im Rückblick als kalt-abweisend und deren Einwohner sie als Menschen beschreibt, die eher ihr Geld arbeiten ließen, als dass sie sich selber anstrengten. Mit ihnen wollte sie sich nicht gemeinmachen: […] Neuilly m’apparaissait comme une ville froide, une suite de rues bordées de pierres, de façades austères, où venaient vivre ceux qui se reposaient de leurs 4 Themenfeld III 312 225 Ebd., S. 58. 226 Zum Zitat und Kontext vgl.ebd., S. 68. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Ebd., S. 69 transactions immobilières ou financières, un lieu de villégiature où se mûrissaient les décisions du lendemain qui influeraient sur la vie du pays, un lieu de pouvoir où je n’avais rien à chercher, rien à trouver et rien à faire. 225 Die „feine Gesellschaft“ von Neuilly legte es, wie die Erzählerin meint, obendrein darauf an, jene, die nicht über die Wesensmerkmale der „haute bourgeoisie“, also „[…] les signes d’un passé, d’une installation remontant à plusieurs généra‐ tions […]“ 226 verfügten, unter dem Deckmantel der „Freundlichkeit“ (amabilité) ihre „Verachtung“ (mépris) spüren zu lassen. Den „Anderen“ begegnete man mit einer „Gleichgültigkeit“ (indifférence), als seien sie nicht „von derselben Welt“. Die Erzählerin hat als Kind erlebt, dass diese Form von Ausgrenzung keineswegs nur von der reichen Oberschicht praktiziert wurde. Vielmehr erinnert sie sich, dass die Stadt als Ganzes - ihre Menschen, aber auch Gegenständliches - auf sie abweisend und abschreckend wirkte: „Le sourire des commerçants, les arbres des avenues, les noms des magasins, tout était fait pour d’autres que moi, enfant déjà, j’allais dans leurs boutiques trop vastes avec un sentiment d’inquiétude, comme si le monstre allait surgir […].“ 227 Das Bild des bedrohlich auftauchenden „monstre“ verleiht der Beschreibung für einen Moment einen hyperbolischen Anstrich. Mit der Fortsetzung der syntaktischen Periode lenkt die Erzählerin unseren Blick jedoch von den Angst und Schrecken auslösenden Personen und Objekten, die in ihren Augen „Neuilly“ repräsentieren, auf sich selbst und die „monströsen“ Phobien, unter denen sie damals und Jahre später bei der Wie‐ derbegegnung mit der Stadt litt bzw. leidet: „[…] mais le monstre était en moi, c’était mon incertitude, ma différence, et le monstre continuait de m’habiter, me poussant à revenir sur les mêmes lieux pour me faire croire que tout avait changé alors que tout était semblable.“ 228 In der Rückschau urteilt sie, dass es ihr in Neuilly nicht schlechter ergangen wäre, wenn sie tatsächlich Ausländerin und der französischen Sprache nicht mächtig gewesen wäre. Mit „ihnen“ konnte sie schlechterdings nicht kommu‐ nizieren, da sie das schichtenspezifische Idiom nicht beherrschte und als Person nicht wahrgenommen wurde: „[…] je ne parlais pas leur langue. Devant eux, j’étais sans voix, tout ce qui me constituait n’existait pas.“ 229 Gemeint ist damit, dass in der Kommunikation zwischen ihr und den Abkömmlingen der „Gesell‐ schaft von Neuilly“ allenfalls die Signifikanten, aber nicht die Signifikate über‐ 4.3 „Le Tour du lac“ 313 230 Ebd., S. 69 f. 231 Ebd., S. 68 232 Ebd., S. 69. 233 Ebd., S. 70. 234 Ebd. 235 Ebd., S. 127. 236 Ebd., S. 112. Zum folgenden Abschnitt vgl. S. 112 f. 237 Ebd., S. 112. 238 Ebd. 239 Ebd. einstimmten. „Sie“ (Eux) - das waren die oben bereits erwähnten alteingeses‐ senen, ihre Ansprüche und Privilegien nicht in Frage stellenden Vertreter der „bourgeoisie d’argent“, die aufgrund ihrer Abgehobenheit von der Erzählerin als Wesen betrachtet werden, die sie aus ihrer Außenseiterposition in ironischer Auflehnung einer eigenen „Rasse“ zuordnet, zu deren rätselhaft verschlossenen „Welt“ sie - trotz all ihrer Bemühungen - keinen Zugang fand: Ceux qui étaient là depuis toujours, auquel [sic! ] le monde appartenait sans qu’ils aient de questions à se poser […] […] les autres constituaient une race à part […] le monde était un lieu de mystère, une énigme dont je cherchais en vain la clé, un écran demeurait, entre moi et le monde […] 230 So lebte die Erzählerin in Neuilly in einem Zustand einer zwar nicht durch äu‐ ßere Zeichen markierten, aber innerlich erlebten und erlittenen Segregation, die auf der lexikalischen Ebene durch die topologische Differenzierung zwischen „ici“ und „d’ici“ und semantisch durch eine durch das Klassem [Abgrenzung] gebildete Isotopiekette - […] pas du même monde […] 231 / […] débarquée d’un autre pays […] 232 / […] une race à part […] 233 / […] un écran demeurait, entre moi et le monde […] 234 - ausgedrückt wird. Aufgrund dieser Erfahrungen ist sie zeit‐ lebens davon überzeugt, sich in einer „[…] position d’émigré de l’inté‐ rieur […]“ 235 zu befinden. Spürbar wird die Bedeutung der „origine sociale“’ 236 für die Erzählerin erneut bei ihren Gesprächen mit dem aus einer arrivierten Familie stammenden jungen Mann. Sie ist davon überzeugt, dass „[…] quelque chose d’irréductible […]“ 237 sie von ihrem Gesprächspartner trennt. Sie führt dies darauf zurück, dass sie zwar einen Einblick in seine Art, Mitteilungen zu ko‐ dieren bzw. zu kommunizieren, gewonnen habe und die Bedeutung seiner Worte verstehe - […] j’avais acquis certains codes et la compréhension de certains mots, je connaissais ses références - 238 , er hingegen mit bestimmten Begriffen und Bedeutungen, die für sie elementar wichtig seien, nicht vertraut sei - […] certains mots, certaines références qui me constituaient lui étaient étran‐ gères […] - 239 . Wenn sie versuche, ihren Partner die Differenzen nicht spüren 4 Themenfeld III 314 240 Ebd., S 113. 241 Ebd., S. 84. 242 Ebd. 243 Ebd., S. 84 f. zu lassen, so könne man dies „Assimilation“ oder „Integration“ nennen. Es be‐ deute aber zugleich, dass sie „einen Teil von sich“ leugne „[…] pour être ac‐ cueillie“ 240 . Das von der Erzählerin besuchte Gymnasium, das in einem „[…] bâtiment gris aux entrées et sorties surveillées […]“ 241 untergebracht war, nahm sich von seinem äußeren Erscheinungsbild her wie eine gut beschützte, abwehrbereite Trutzburg aus. Die von den Schülerinnen getragenen „[…] blouses obliga‐ toires […]“ 242 erweckten den Anschein, dass Unterschiede der sozialen Herkunft keine Rolle spielten und auch nicht durch eine individuell gewählte Wahl der Kleidung betont werden durften. Zudem schien der uniformierende Eindruck die Identifikation der Schülerinnen mit ihrer Schule auszudrücken. Die Erzäh‐ lerin schaut indes mit sehr ambivalenten Erinnerungen und Gefühlen auf ihre Schulzeit zurück: L’école, m’apercevais-je, avait été la voie de mon intégration […] car tout ce que j’avais appris venait de là, mes connaissances, y compris en littérature, s’étaient forgées au lycée […] au lycée, j’avais appris l’existence de Proust ou de Corneille, de Voltaire, de Nerval ou Vigny, c’était là que s’était formé mon goût, et plus tard, c’était encore par les études que j’avais eu accès, après la tradition, à la critique de la tradition. Intégration par le savoir mais exclusion par la société. Je restais à l’écart, j’étais plus jeune et plus effarouchée, plus vulnérable, l’école n’apprenait pas à se battre, il fallait le savoir déjà et par la suite, on n’apprenait pas plus, au mieux, on pouvait faire semblant […] et je ne savais toujours pas sourire à quelqu’un que je n’aimais pas, répondre à une attaque sans me sentir déconcertée ou atteinte, parler pour ne rien dire. C’était l’art de la conversation qui me manquait, l’art de la repartie […] peut-être exagérais-je la différence entre eux et moi, que savais-je de leurs hésitations, de leurs scrupules, mais le pas me semblait infranchissable, l’écart, définitif. 243 Anerkennend und dankbar äußert sich die Erzählerin über die Vermittlung so‐ lider Kenntnisse, wobei sie - bedingt durch ihr literarisches Interesse - den ihr in diesem Bereich zugute gekommenen, an einem klassischen Kanon von Cor‐ neille bis Proust orientierten Unterricht besonders hervorhebt. An der Schule und später an der Universität hat sie wichtige Vertreter und Epochen der fran‐ zösischen Literatur kennen gelernt. Darüber hinaus ist sie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition angeleitet worden. Durch die Vertrautheit mit dem geistig-literarischen Erbe Frankreichs fühlt sie sich 4.3 „Le Tour du lac“ 315 244 Ebd., S. 74. 245 Ebd. kulturell in die maßgeblich (auch) literarisch geprägte Semiosphäre des sie um‐ gebenden Lebensumfelds integriert. Ausgeschlossen fühlt sie sich jedoch in ge‐ sellschaftlicher Hinsicht. Ihre an die Schule gerichteten Vorwürfe sind indes subtiler Art. So stellt sie als gesellschaftliche Außenseiterin mit bitterer Ironie fest, dass die Schule die zum „Kämpfen“, also zur Durchsetzung eigener Inte‐ ressen notwendigen, ungenannt bleibenden Eigenschaften - man mag an starkes Selbstbewusstsein, aber auch an Egoismus und Rücksichtslosigkeit denken - nicht vermittelt, sondern vorausgesetzt habe. Die Erzählerin hat ein solches Verhalten ebenso wenig beherrscht wie die eingeübten, durch Förm‐ lichkeit und Unaufrichtigkeit geprägten Konventionen des zwischenmenschli‐ chen Verhaltens. Die „Kunst der Konversation“ schließlich bestand ihrer Mei‐ nung nach in der Verschleierung der eigenen Ansichten, in einer Technik des Camouflierens und Täuschens. Zwar gibt sie zu, in ihrem Urteil möglicherweise zu streng gewesen zu sein, besteht jedoch darauf, dass die Kluft zwischen ihr und ihren Mitschülerinnen unüberbrückbar war. Die Schule bleibt in der Erinnerung der Erzählerin einerseits die verdienst‐ volle Institution, die ihr kulturelle Initiation und Integration ermöglicht hat. Andererseits hat sie sich ihrem Gedächtnis als eine keineswegs nicht nur nach „außen“, sondern auch nach „innen“ abwehrbereite Trutzburg eingeprägt, an der das gesellschaftliche Gefälle zwischen den Kindern aus gutsituierten und eingewanderten Familien keineswegs aufgehoben, sondern nachhaltig ver‐ größert wurde. Das Leben ihrer Mitschülerinnen blieb der Erzählerin zwar insgesamt „un‐ durchsichtig“ - opaque - 244 , weil sie nur wenige Details über deren Familien und Lebensumfeld erfuhr. Aus Andeutungen hat sie jedoch geschlossen, dass die aus besonders begüterten Familien stammenden Mitschülerinnen ihre Feste in Deauville oder Saint-Tropez feierten und die aus bescheideneren Verhält‐ nissen stammenden Mädchen sich in ihrer Freizeit immerhin auf großelterliche Besitzungen an „entlegenen Plätzen“ - des endroits insaisissables - 245 in den burgundischen Départements Yonne oder Nièvre zurückziehen konnten. Sie ge‐ nossen damit eine Bewegungs- und Handlungsfreiheit, die in starkem Maße mit dem Leben in den beengten Verhältnissen kontrastierte, unter denen die Erzäh‐ lerin als Kind von Eltern, deren Schicksal unter dem Zeichen der Flucht und des Verlustes der Heimat stand, aufwuchs. Gleichzeitig wirkten die Reisemöglich‐ keiten und der Lebensstil der Mitschülerinnen auf die Erzählerin in ähnlicher Weise abweisend, ausgrenzend und befremdlich wie „[…] ces grilles noires, sur 4 Themenfeld III 316 246 Ebd., S. 75. 247 Ebd., S. 74. 248 Ebd. 249 Ebd., S. 75. 250 Ebd., S. 73. le boulevard, protégeant les immeubles en pierre de taille aux balcons orientés vers le sud […]“ 246 , die noch immer ein typisches Merkmal jener Stadtviertel von Neuilly sind, in denen die begüterten Bevölkerungsschichten residieren: „Oui, la vie des autres était une demeure à l’accès interdit, et malgré mes efforts, mes tentatives pour trouver des points de repère, j’étais étrangère […].“ 247 Ihres „Andersseins“ wurde die Erzählerin sich schließlich auch dadurch be‐ wusst, dass sie ihre Mitschülerinnen nicht auf ihrem Weg in den im laizistischen Frankreich aus dem Schulleben ausgegliederten katholischen Katechismusun‐ terricht begleitete. Es tat sich dadurch zwischen ihr und ihren Altersgefährt‐ innen ein „Abgrund“ - [un[ abîme - 248 auf, der die „Welt“ der Erzählerin von der ihrer Mitschülerinnen trennte und eine Verständigung zwischen den unter‐ schiedlichen Semiosphären verhinderte: C’est à cause de cela […] à cause des cours de catéchisme et de la communion, à cause de l’absence de Jésus, d’un nom que, dans ma famille, personne ne prononçait, de même que les noms que nous connaissions n’existaient pas chez les autres, rien de ce qui était important chez les uns ne l’était chez les autres, et dans ces conditions, comment se comprendre, et comment exister? 249 Auf dem Weg zum Schreiben In ihren z. T. schmerzlichen und leidvollen Erinnerungen an ihre Schulzeit stößt die Erzählerin an zentraler Stelle auf jenen Prozess, der ihre Entscheidung, Schriftstellerin zu werden, hat reifen lassen. Der Entschluss erwuchs aus einer Krisensituation, die bildhaft als Zustand der Ausweg-, Hoffnungsbzw. Zu‐ kunftslosigkeit und Umzingelung beschrieben wird. Aus dieser Notlage der Ein‐ kreisung und Umklammerung vermochte sie sich nur zu befreien, indem sie beschloss, mit dem Schreiben zu beginnen: […] la vie m’apparaissait comme un rond-point, une place de l’Étoile où chaque avenue menait à une impasse, j’étais tellement incapable de me représenter l’avenir que je croyais que cela signifiait que je n’en avais pas, que je ne vivrais pas longtemps. C’est alors qu’était apparue la nécessité, l’impulsion d’écrire, non comme un remède mais comme un acte pour briser l’encerclement […] 250 4.3 „Le Tour du lac“ 317 251 Ebd. 252 Bzgl. der sich aus der Homophonie zwischen la voie und la voix ergebenden Bezüge vgl. ebd. S. 63 ([…] je m’acharnais à écrire dans différentes directions, cherchant ma voie sans le savoir - ou faudrait-il dire ma voix […]) und die Ausführungen zu Beaune-la-Ro‐ lande in B 3.3.1, S. 189, Anm. 201. 253 Wajsbrot 2004a, S. 73 f. 254 Vgl. dazu ebd., S. 28 ff. Die poetologischen Begründungen weisen starke Parallelen zu den in Pour la littérature entfalteten Überlegungen auf. Vgl. dazu A 1.2, S. 24-29. 255 Wajsbrot 2004a, S. 29 f. Die räumliche Vorstellung des „encerclement“ generiert eine Fülle weiterer Bilder, mit denen die Erzählerin einerseits die befreiende Wirkung des Schreibens, andererseits die Ursachen des Gefühls des Eingeschlossenseins ver‐ anschaulicht. Für sie wurde das Schreiben zu einer Brücke der Verständigung, zu „[…] le détour ou la voie, comme si, pour aller de Neuilly à un point du monde, ou de ma vie à celle des autres, il fallait passer par écrire“ 251 . Der Weg - la voie -, den das Schreiben ebnete, schuf der Stimme - la voix - der Erzählerin Gehör. 252 Jedoch vermittelte ihr nur das Schreiben das Gefühl, intensiv zu leben, ohne dabei in Kontakt mit ihren Mitmenschen treten zu müssen. In der Abge‐ schiedenheit ihrer Schreibstube lebte sie in einer von ihr imaginierten „Gegen‐ welt“, die aus ihrer Kreativität entstand und sich in ihrer Vorstellung materia‐ lisierte, indem sie metaphorisch zu einem „Blätter- und Tintenwald“, zu einem Ort konzentrierter Stille und Abgeschiedenheit wurde : „[…] je vivais dans une forêt de pages et d’encre, un univers aussi complexe que l’autre, mais dans lequel il n’était nécessaire ni de parler ni de se montrer.“ 253 Über die Entscheidung zur Schreibabstinenz und das Wesen der Literatur Die Gründe dafür, dass die Erzählerin, vom Beginn der erzählten Zeit an ge‐ rechnet, vor drei Jahren mit dem Schreiben aufgehört hat, können an dieser Stelle nur knapp nachgezeichnet werden. 254 Einerseits betont sie, dass sich zwi‐ schen ihren eigenen, auf mühevoller, kontinuierlicher Arbeit beruhenden Er‐ wartungen und der Rezeption ihrer Werke eine immer tiefer werdende Kluft auftat: […] ce qui compte, c’est écrire, continuer de travailler, construire pierre à pierre - et pourtant, un peu plus tôt, un peu plus tard, je retombais dans le puits qui devenait un gouffre, qui devenait l’abîme, cette attente infinie, effrayante, d’une reconnaissance absolue qui ne viendrait jamais. Mais qui pouvait comprendre - la réalité semblait si différente - et cette sensation d’exposition, de mise à nu? 255 Als sie nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans zwar weiterhin schrieb, ihre Texte aber ein Jahrzehnt lang nicht veröffentlicht wurden, empfand sie diese 4 Themenfeld III 318 256 Ebd., S. 121. - Ohne die gebotene Unterscheidung zwischen der Verfasserin C. W. und der autodiegetischen Erzählerin in Le Tour du lac relativieren zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass Une vie à soi, der erste Roman der Autorin, und Atlantique, der zweite Roman, in den Jahren 1982 bzw. 1993 erschienen sind. 257 Vgl. Wajsbrot 2004a, S. 34. 258 Ebd., S. 33. 259 Ebd., S. 33 f. 260 Ebd., S. 32. 261 Ebd. Zeit als „[…] la traversée du désert […]“ 256 . Ihre Unzufriedenheit hatte jedoch auch einen anderen Grund. Sie litt daran, ihrem eigenen Anspruch, Ereignisse zu erzählen - […] raconter quelque chose […] - und dabei ihre „eigene Stimme“ zur Geltung zu bringen - […] avoir sa propre voix […] - nicht gerecht wurde. 257 Die „eigene Stimme“ ist für die Erzählerin das, was die Literarizität eines Textes ausmacht, nämlich „[la] révélation d’un savoir, quel que soit l’objet sur lequel il porte, d’une connaissance de soi, de la vie […]“ 258 . Diese theoretisch verklausu‐ lierte Sprache übersetzt die Erzählerin sodann in das räumliche Bild einer Tun‐ neldurchquerung, das den „literarischen Prozess“ veranschaulicht. Sie be‐ trachtet das aus Handlungen und Dialogen bestehende literarische Instrumentarium als ein Hilfsmittel, das „[…] comme un tunnel sous la mon‐ tagne […]“ eingesetzt wird „[…] pour parvenir de l’autre côté, libéré des paysages ingrats pour découvrir enfin la vue (j’allais dire la vie) à laquelle nous aspi‐ rions“ 259 . Der literarische Text zeichnet sich also durch einen Überschuss bzw. einen Mehrwert aus, der ihn über die Ebene der Fakten bzw. des „récit“ hinaus‐ hebt und durch eine Weitung und Vertiefung des Blicks Möglichkeiten der Sinn‐ deutung eröffnet. In ähnlicher Weise hilfreich ist der Vergleich zwischen einem rein autobio‐ graphischen Text und dem autobiographischen Anteil in einem Roman. Wäh‐ rend der „[…] narrateur autobiographique […]“ 260 einen fakten- und ereigniso‐ rientierten, aber „oberflächlichen“ Lebenslauf verfasst, ist die „[…] part autobiographique […]“ in einem fiktionalen Text im Vergleich dazu „[…] plus forte, plus profonde, plus authentique […]“ 261 . Um diese Differenz präziser he‐ rauszuarbeiten, ergänzt die Erzählerin auch in diesem Fall ihre theoretische Er‐ klärung im Sinne einer exemplarischen Veranschaulichung um ein räum‐ lich-szenisches Bild, das den Begriff der „surface“ aus dem abstrakten Bereich der Textanalyse auf die konkrete „surface“ der „Gewässer“ bzw. des „Sees“ lenkt. In metaphorischer Analogie zum „narrateur autobiographique“ und zum „nar‐ rateur fictionnel“ lässt sie einen Beobachter die Oberfläche des Wassers gewis‐ senhaft registrieren bzw. einen Taucher die geheimnisvolle Unterwasserwelt er‐ 4.3 „Le Tour du lac“ 319 262 Vgl. ebd.: […] un narrateur autobiographique pouvait se situer en un point de surface qui ne saurait capter que des séries d’événements, leur enveloppe, tandis qu’un narra‐ teur, comment l’appeler, fictionnel, […] se situerait en un point central, nodal et essentiel qui ferait qu’il verrait passer toutes sortes d’éléments imperceptibles au narrateur au‐ tobiographique. C’était cela, le narrateur autobiographique était un observateur installé dans sa barque scrutant la surface des eaux, souvent tranquille comme celle du lac, tandis que le narrateur fictionnel était un plongeur qui s’engouffrait dans les courants sous-marins et attrapait parfois un de ces poissons multicolores dont on croit qu’ils n’existent que dans les rêves. 263 Ebd., S. 97. 264 Ebd. 265 Ebd., S. 80. 266 Ebd., S. 97. 267 Ebd., S. 98. forschen. 262 Auch dieses Beispiel zeigt, mit welcher Konsequenz die Erzählerin sich räumlicher Vorstellungen und Bilder bedient, um theoretische Zusammen‐ hänge in einer unmittelbar einleuchtenden Art und Weise zu erläutern. Obwohl die Erzählerin die hier nur grob skizzierten konzeptionellen Vorstel‐ lungen bzgl. der von ihr angestrebten Art des Schreibens entwickelt hatte, ver‐ ordnete sie sich, wie oben angedeutet, eine Schreibabstinenz, da sie den Ein‐ druck hatte, „[…] d’écrire toujours la même chose, peut-être sous des formes différentes mais de me répéter, de tomber, à chaque fois, de part et d’autre de la même ligne de crête […]“ 263 . Gescheitert ist sie an einer von ihr versuchten „Gratwanderung“, da die von ihr avisierte „[…] zone risquée qui n’était ni celle de l’expérimentation totale ni celle de la tradition […]“ sich als „[…] une sorte de mélange impossible […]“ 264 erwies. Die ihr Schreiben bisher leitende Grund‐ überzeugung, „[…] que la connaissance du passé était nécessaire pour vivre le présent […]“ 265 , hat sie zwischenzeitlich leicht modifiziert, indem sie nun davon ausgeht „[qu’] il fallait poser la question sous une forme différente, définir la part du passé dans le présent, et surtout, savoir comment vivre au présent“ 266 . In einem langen inneren Monolog, in dem die hypotaktische Syntax das gewis‐ senhafte Abwägen unterschiedlicher Möglichkeiten spiegelt, betont sie, dass sie dieses Ziel eigentlich immer im Auge gehabt habe. Ihre „vie écrite“ sei stets eine „Verlängerung“ ihrer „vie réelle“ gewesen, allerdings sei dies nicht verstanden worden: […] tandis que je parlais ou croyais parler de la France, on s’obstinait à penser que je parlais d’histoires sentimentales, tandis que certains personnages représentaient, d’une façon ou d’une autre, des tendances que je percevais dans mon pays - l’oubli de situations embarrassantes, la paralysie de la pensée […]. 267 4 Themenfeld III 320 268 Als erster Präsident der V. Republik hat Jacques Chirac in einer am 16. Juli 1995 im Vélodrome d’Hiver in Paris gehaltenen Rede eine Mitwirkung Frankreichs an der De‐ portation der französischen Juden in die nationalsozialistischen Vernichtungslager ein‐ gestanden. 269 Wajsbrot 2004a, S. 156: […] ce lac autour duquel je ne cessais de tourner et qui repré‐ sentait ma vie, le cercle de ma quête […] 270 Ebd., S. 120. 271 Ebd., S. 122. Zum Kontext vgl. ebd. S. 122 f. 272 Ebd., S. 123. Sie bezieht sich damit eindeutig auf die von der französischen Gesellschaft und der „classe politique“ in Frankreich lange Zeit aufrecht erhaltene Weigerung, sich mit der eigenen nationalen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. 268 Die Unaufrichtigkeit, die die Erzählerin in ihrer Kindheit und Jugend in einem anderen gesellschaftlichen Kontext in Neuilly erleben musste, hat in einer an‐ deren Gestalt auch die Kultur des Zusammenlebens auf nationaler Ebene be‐ lastet, zugleich jedoch ihre Sensibilität und Kritikfähigkeit geweckt. Die Gespräche mit dem jungen Mann und die Rückkehr zum Schreiben Durch die Gespräche mit dem „jungen Mann“ und ihre gemeinsamen Spazier‐ gänge rund um den See, der für sie zu einem Symbol ihres Lebens wird, sodass sie die Umkreisungen als „[…] le cercle de ma quête […]“ 269 erlebt, gelangt die Erzählerin zu der Einsicht, dass sie ihrem Leben eine neue Richtung geben muss. Sie nennt dafür einen konkreten Grund: „Mais ce n’était pas ma vie qui était en cause, quel que soit le chemin par lequel elle passait, tantôt escarpé, tantôt facile, comme ce sentier autour du lac, non, ce qui était en cause, ce dont il s’agissait, c’était ce que j’écrivais, ou plutôt, ce que je n’écrivais plus.“ 270 Sie erklärt den hier sichtbar werdenden Zwiespalt, in dem sie sich befindet, mit dem Hinweis „[…] que l’intérieur et l’extérieur ne correspondaient pas, puisque, à l’intérieur, j’éprouvais toute la nécessité de la littérature comme si j’étais un véritable éc‐ rivain tandis qu’à l’extérieur, rien ne le montrait“ 271 . Ihr Wunsch und Wille drängen sie zum Schreiben, aber sogar die Texte, die ihrer Meinung nach noch am ehesten ihren Ansprüchen an sich selbst genügen, werden von niemandem gewollt. Und als sie die Frage, ob sie bei einer öffentlichen Veranstaltung etwas vorlesen könne, verneint, ist ihre Antwort nichts anderes als ein verschlüsselter Hinweis auf einen seelischen Zustand, den sie als „[…] la prison d’où je ne pou‐ vais pas sortir“ 272 definiert. Sie erinnert sich an ihre durch ihr „Anderssein“ ver‐ ursachte Isolation während ihrer Schulzeit in Neuilly und ist überzeugt, dass eben darin auch der Grund für ihr bisheriges Scheitern als Schriftstellerin liegt: 4.3 „Le Tour du lac“ 321 273 Ebd., S. 122. 274 Ebd., S. 118. Zum Kontext vgl. S. 118 f. 275 Ebd., S. 125. - Zum Bild des „veilleur“ bzw. des „gardien de phare“ in den Romanen Cécile Wajsbrots vgl. B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131; B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589 und B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.1, S. 414, Anm. 720, 722 und B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846. 276 Ebd. „[…] je pleurais mon impuissance car c’était comme eux qu’il fallait être pour réussir à vivre et même à écrire.“ 273 Zu einer erneuten Wende in ihrem Leben führt die Überlegung, dass der Sinn des Schreibens für sie weder in der gezielten Hervorbringung eines „Meister‐ werks“, einer „pièce maîtresse“, noch in einer ziellosen, sich im Nebulösen ver‐ lierenden Schreiberei liegen kann. In der Analogie der Wegemetaphorik hält sie offensichtlich den auf die kontinuierliche Entwicklung und Vertiefung angeleg‐ ten Prozess des Schreibens, der das unablässige Suchen und Forschen zum Ziel des Schreibens werden lässt, für entscheidend. Die in zahlreiche Syntagmen zergliederte Periode spiegelt die gedankliche Suchbewegung der Erzählerin an‐ schaulich wider: La fin, pourtant, avais-je découvert en écrivant, n’était pas l’essentiel […] ce n’était pas le but, toutes ces pages couvertes, toutes ces phrases écrites ne l’étaient pas dans l’attente du dernier mot, la tension d’une visée qu’on atteindrait en bout de course. La fin, sauf en de rares cas, arrivait en chemin, quand elle ne se cachait pas comme une terre qu’on croirait aborder et qui s’éloigne à l’approche ou se voile de brume, la fin ne venait pas après de longs préparatifs cherchant à l’établir, n’était pas la pièce maîtresse mais quelque chose à quoi il fallait aboutir comme une ligne d’arrivée mar‐ quant une limite sans exister en soi. 274 Die Entschiedenheit der Erzählerin, zum Schreiben zurückzukehren, wächst, als sie auf dem Rückweg nach Paris den Bois de Boulogne durchquert, also statt einer zirkularen eine lineare Bewegung vollzieht, aus der Überlegungsin eine Entscheidungsphase übertritt. Die Rückbesinnung der autodiegetischen Erzäh‐ lerin auf ihre „[…] mission implicite qui échoit à […] tous les gardiens de phare et les veilleurs de nuit“ 275 bedeutet für sie konkret die Verpflichtung „[…] de témoigner de quelque chose, d’une difficulté, d’entraves sur le chemin, c’était le sens de ma vie, et pour cette raison j’écoutais les histoires, comme celle du jeune homme rencontré au bord du lac […]“ 276 . Präzisierend fügt sie eine Erklärung hinzu, mit der sie sich eindeutig von der politisch-ideologischen Zielen ver‐ pflichteten „littérature engagée“ (Sartre’scher Prägung) distanziert, aber gleich‐ 4 Themenfeld III 322 277 Ebd., S. 125 f. 278 Ebd., S. 79. zeitig betont, dass Literatur ihrer Meinung nach inhaltlich problemorientiert sein muss: […] je ne confondais pas le sens de ma vie avec la littérature mais il passait par là, j’empruntais cette route, et sans vouloir assigner à la littérature une mission morale […] j’estimais cependant qu’elle n’avait de sens qu’avec un contenu. Il ne s’agissait pas de littérature engagée mais d’un engagement dans la littérature. 277 Bemerkenswert ist das implizite Eingeständnis der Erzählerin, dass sie nicht allein aus ihrer von ihr selbst gewählten Isolation herausfindet, sondern z. B. der „histoire“ des jungen Mannes als eines gesellschaftlichen Außenseiters bedarf, der zwar selbst in besonderer Weise beratende Hilfe benötigt, aber aus eben diesem Grunde auch Einblicke in tradierte und noch immer aktuelle Probleme der Gesellschaft vermittelt. Wie der „gardien de phare“ den Schiffen auf hoher See die Einhaltung ihres oft im dichten Nebel verschwimmenden Kurses er‐ leichtert und der „veilleur de nuit“ die Sicherheit und Orientierung der Ein‐ wohner einer Stadt in der Dunkelheit der Nacht garantiert, so besteht für die Erzählerin die anspruchsvolle Aufgabe des Dichters darin, Wege aufzuzeigen, die dem Leben Sinn und Richtung geben. Dies ergibt sich für sie aus der überaus ehrgeizigen, immer auch vom Scheitern bedrohten, aber gleichwohl stets neu anzunehmenden Verpflichtung zur Suche nach der Wahrheit: C’est ce qu’on cherche […] en écrivant, pour moi, c’était cela, chercher une vérité sur soi, sur les autres, sur le monde, quelque chose de voué à l’échec, comme si j’allais trouver la clé, qu’elle soit quelque part et qu’à force de creuser - et donc d’écrire - elle apparaisse. 278 Obwohl sie inzwischen bedauert, dass sie vor drei Jahren der Entmutigung und Frustration nicht widerstanden und das Schreiben aufgegeben hat, tauchen auf dem Weg nach Paris, auf dem Weg zu einer Neuorientierung in ihrem Leben erneut Zweifel auf. Die Erzählerin inszeniert die in ihrem Innern entstehende Unsicherheit wie einen Angriff, für den der „verzauberte Wald“ für einige Mo‐ mente als düstere Kulisse dient, aus der die verhassten „Wörter“ als kriegerische, kampf- und abwehrbereite Gegner hervortreten, bevor „die Lichter von Paris“ ihre Irritation in aufkeimende Entschlossenheit umkehren: Et le découragement vint à nouveau s’abattre parmi les ombres grandissantes, le Bois semblait immense, une forêt enchantée dont je ne sortirais jamais, et vinrent m’assaillir tous les mots que je détestais, entrer dans l’arène, se défendre, se battre, ce 4.3 „Le Tour du lac“ 323 279 Ebd., S. 126 f. 280 Ebd., S. 127. 281 Ebd. 282 Vgl. ebd., S. 127 f. 283 Ebd., S. 134 f. vocabulaire guerrier à l’opposé de ce que j’étais. Sans savoir se défendre, fallait-il continuer d’écrire? Non, avais-je répondu quelques années auparavant, oui, avais-je tendance à penser maintenant que des lumières annonçaient l’approche de Paris […] 279 In der Fortsetzung ihres inneren Monologs wägt die Erzählerin die Gefahren und Herausforderungen, die mit einem neuen Aufbruch einhergehen: „Mais pour repartir, briser l’encerclement et de nouveau y croire, il fallait se sentir un minimum en phase avec son époque, son pays - ou était-ce une illusion? Pou‐ vait-on établir une œuvre sur des bases hostiles, écrire contre son temps et son espace […]? “ 280 Sie ist bereit, die Einsamkeit als ständige Wegbegleitung zu ak‐ zeptieren, fragt sich jedoch, ob sie auch offene Feindschaft und Ablehnung er‐ trägt. Dann jedoch, bezeichnenderweise in dem Moment, als sie aus dem Ver‐ wirrung und Irreführung symbolisierenden Wald heraustritt, umreißt sie die Aufgabe, die sie aufgrund ihrer Herkunft und der persönlichen Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend möglicherweise zu ihrer eigenen machen könnte: […] - je venais de sortir du Bois - je me disais qu’au fond, rien ne m’empêchait de prendre appui sur cette position d’émigré de l’intérieur pour écrire quelque chose qui témoignerait de l’impossible adaptation et de la déception - quel mot faible -, l’impossibilité de faire partie en n’étant pas issu des rangs. 281 Allerdings stellen sich der zögernden Erzählerin weiterhin Fragen: Welche Ge‐ schichte könnte sie über Neuilly, wo „alles nur Wüste“ war, wo sie nur Einsam‐ keit und Verständnislosigkeit erfahren hat, erzählen? 282 Ist die reine Lust, wieder zu schreiben, ein hinreichender Grund für einen neuen Aufbruch? 283 Vor allem aber weiß sie nicht, ob sie als Schriftstellerin angesichts ihrer eigenen Unvoll‐ kommenheit mit den ihre Gestaltungsfreiheit einschränkenden „ungeschrie‐ benen Verboten“, die sie sich wie eine Gefangennahme in von Stacheldraht um‐ schlossenen Zonen vorstellt und wohl mit den von der vorherrschenden literarischen Mode ausgewiesenen Tabuisierungen identifiziert, zu leben bereit ist: […] et moi, au moment d’écrire, je me trouvais non seulement enfermée dans les limites de mon être, mais aussi cernée de règles et d’interdits m’empêchant d’aller où je voulais, sans que je m’en aperçoive forcément. C’était le plus insidieux, ces interdits 4 Themenfeld III 324 284 Ebd., S. 151. 285 Ebd., S. 155. 286 Ebd., S. 154. 287 Ebd., S. 113. 288 Ebd., S. 156. 289 Ebd., S. 157. informulés qu’on rejetait sur d’autres alors qu’ils ne tenaient qu’à soi, ces zones cernées de barbelés devant lesquelles on renonçait. 284 In welchem Maße die Erzählerin unter ihrer inneren Zerrissenheit leidet, erhellt daraus, dass sie nach einem Gang über den Friedhof und durch die Straßen den Eindruck gewinnt „[…] que le passé était à la fois présent et invisible, proche mais inaccessible“ 285 . Und als sie noch einmal ihr altes Gymnasium aufsucht, empfindet sie die Atmosphäre als so bedrückend „[…] comme les ténèbres d’un tunnel“ 286 . Andererseits stellt sie sich vor, dass eine ihrer ehemaligen Mitschü‐ lerinnen eines ihrer Bücher lesen könnte und über die Lektüre eine Brücke der Verständigung zustande käme mit der Folge „[…] qu’après, nous pourrions nous rencontrer et nous parler afin que je puisse voir que, finalement, nos vies n’é‐ taient pas si dissemblables“ 287 . So erscheint es ihr - trotz aller Zweifel - im Rückblick als folgerichtig, dass in ihr im Laufe der Zeit der Entschluss reifte, einen radikalen, mit einem Orts‐ wechsel verbundenen Neuanfang zu wagen, der ihr durch das Schreiben neue Perspektiven eröffnete: „[…] il m’avait fallu partir et trouver Paris - ses possi‐ bilités, son horizon.“ 288 Und so ist sie sich gleichermaßen am Ende der Diegese sicher, was sie zu tun hat, und mit einer existentialistisch anmutenden Ent‐ schlossenheit bestätigt und bekräftigt sie ihren damaligen Entschluss und über‐ windet so ihre innere Blockade: J’allais écrire, rien d’autre ne comptait, et j’avais la première phrase, venue tandis que je traversais la place […] la première phrase prise au milieu d’un dialogue entre une femme d’un certain âge et un jeune homme rencontré au bord d’un lac. 289 Diese „première phrase“, die den Roman eröffnet und abschließt, legt sich wie ein Ring um die gesamte Handlung. Der Satz fasst die allgemeingültige Erfah‐ rung zusammen, dass man den Menschen nicht gerecht wird, wenn man sie nach einem vorgefertigten Bild beurteilt. Dies gilt auch für die Zufallsbekanntschaft zwischen der Erzählerin und dem jungen Mann. Beide haben ihre Einschätzung des jeweils Anderen im Verlauf ihrer Seeumkreisungen, bei denen sie gedanklich ihrer beider Leben umkreisten, ergänzen und korrigieren müssen, sind durch den regard d’autrui jedoch gleichzeitig zu einer besseren Selbsteinschätzung gelangt: 4.3 „Le Tour du lac“ 325 290 Ebd. (und S. 7). 291 Vgl. ebd., S. 66. 292 Ebd., S. 25. 293 Ebd., S. 66. Zum Kontext vgl. ebd. 294 Ebd., S. 22. Zum Kontext vgl. ebd. S. 19-23. 295 Ebd., S. 22 f. Car on croit tout savoir les uns des autres, lui disais-je, on se fait une image, une idée de quelqu’un et on ne retient que ce qui va dans ce sens, et le reste, on l’oublie, ou on ne veut pas le voir, tout ce qui, bien souvent, contredirait l’image et révélerait enfin une vérité, mais nous sommes ainsi faits qu’à la fois nous cherchons la vérité et nous la redoutons - empêtrés dans nos contradictions, nous essayons d’avancer tant bien que mal. 290 Zu einem noch vertieften Verständnis dieses Satzes gelangt man bei einem ge‐ naueren Blick auf die verworrene Lebenslage, in der sich der Gesprächspartner aus Sicht der Erzählerin befindet. 4.3.2 Das Dilemma des jungen Mannes - „gefangen im Labyrinth einer unmöglichen Beziehung“ 291 Versuch der Emanzipation von den Eltern Aus dem Mund des jungen Mannes, der dem „[…] milieu de Neuilly […]“ 292 entstammt und sich „[…] dans le labyrinthe d’une relation impossible comme il en existe tant dans les familles […]“ 293 zu befinden scheint, erfährt sie, dass sein Vater ihm nur Geld gebe, um ihn seine Abhängigkeit spüren zu lassen. Die Ver‐ lässlichkeit seiner Angaben vermag sie jedoch nicht zuverlässig einzuschätzen. Aus einem früheren Gespräch mit dem Aushilfskellner ist der Erzählerin be‐ reits bekannt, dass er „aufbrechen“, „das Land verlassen“ will, da er mit seiner persönlichen Situation sehr unzufrieden ist. Er wohnt in der Nähe - […] trop près, en tout cas - 294 seiner Eltern in einem von seinem Vater finanzierten Zimmer. Mit dem Vater spricht er selten, während die Mutter ihn täglich anruft. Das Verhältnis zu seinen Eltern ist, wie der junge Mann erklärt, durch eine eisige Atmosphäre gekennzeichnet, die jede positive Entwicklung verhindert: Il y a d’autres choses, aussi, l’atmosphère, une sorte de glaciation qui dure, depuis toujours, me semble-t-il, depuis que je suis en âge de sentir les choses. J’ai l’impression que tout est bloqué, que chaque rue, chaque avenue est une impasse, ou plutôt, que la vie est une salle de spectacle où toutes les places sont prises […] vous entrez, vous regardez, mais il n’y a pas un fauteuil, pas même un strapontin […] 295 4 Themenfeld III 326 296 S. 23, zum Kontext s. ebd. 297 Ebd., S. 67. 298 Ebd., S. 106. Durch die Metaphern der Einbahnstraße und des bei seiner Ankunft bis auf den letzten Platz besetzten Theatersaals evoziert der 25-jährige Zufallsbekannte der Erzählerin den Eindruck einer von ihm nicht verschuldeten Blockade und des Ausgeschlossenseins, womit er sich eindeutig in eine Opferrolle begibt. Es dürfte dieser larmoyanten, von Selbstmitleid bestimmten Haltung ihres Gegenübers geschuldet sein, dass die Erzählerin seiner Klage gemäß der altrömischen Devise des „audiatur et altera pars“ mit Skepsis begegnet und ihren im realen Leben oft einseitigen Informationsstand zum Anlass nimmt, die Vorzüge einer differen‐ zierten Betrachtung unterschiedlicher Standpunkte zu betonen. Als sie auf ihre Frage, wohin er aufzubrechen gedenke, lediglich die Antwort „N’importe où“ 296 bekommt, stellt sie seine grundsätzliche Bereitschaft, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, in Frage. Er gesteht daraufhin ein, bislang nichts selbst‐ ständig versucht zu haben. Aufgrund dieser Zögerlichkeit und Unentschieden‐ heit vergleicht die Erzählerin ihn in einem späteren Kontext mit […] ces jeunes héros qui défiaient le ciel sans oser lancer leur défi jusqu’au bout […] Il restait le départ, le voyage, mais l’appel était trop vague pour agir, et l’emprise sans doute encore trop forte. 297 Das Bekenntnis des jungen Mannes zur Homosexualität - Konsequenzen für seine emanzipatorischen Bestrebungen und die Beziehung zu seinem Vater Die Erzählerin nimmt das Bild des „gebremsten“ Aufbruchs wieder auf, nachdem ihr zaudernder Dialogpartner sie über seine homoerotischen Neigungen aufge‐ klärt und zugleich seine zweifelnd-halbherzige Haltung angesichts der Wieder‐ aufnahme einer ehemaligen Beziehung eingestanden hat. Den für den „jungen Mann“ typischen Mangel an Entschlossenheit überträgt sie in eine einprägsame Beschreibung seiner durch ein ständiges Zurückschauen gehemmten Fortbe‐ wegung: Il se trouvait à mi-chemin, sur la route du départ mais regardant en arrière pour s’as‐ surer qu’il partait, que la distance augmentait, et à chaque regard, quelque chose le retenait si bien que ces retournements constants ralentissaient sa marche et lui don‐ naient mauvaise conscience, comme ces chevaliers bravant les dangers de la forêt à qui on montre, dans un miroir, la misère, la vieillesse de leurs parents et qui, d’un coup, sentent baisser leur courage. 298 4.3 „Le Tour du lac“ 327 299 Vgl. ebd. 300 Ebd., S. 108. 301 Ebd., S. 22. 302 Ebd., S. 23. Bei einem „Blick zurück“ nimmt der junge Mann zwar nicht, wie die legendären Ritter, eine Notlage seiner gealterten Eltern wahr, vielmehr erinnert er sich daran, dass sein Vater ihn aufgrund seiner sexuellen Veranlagung für „nicht normal“ hält 299 und ihm die finanzielle Unterstützung nur unter der Bedingung gewährt, dass er seinen Lebensstil ändert. Unter dem Einfluss der Erzählerin fasst er daher einen grundlegenden Beschluss: Il faudrait que je déménage, que je quitte l’appartement où mon père m’a installé… […] … Que j’accepte de vivre dans un espace plus étroit, oui, vous avez raison, ce confort relatif, je le paie cher, et il vaut mieux une chambre plus petite, une vie vraiment indépendante, que ce lieu qui ne me ressemble pas dans un quartier qui ne me ressemble pas. 300 Der Wunsch nach einem eigenen, von ihm selbst bezahlten, seinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit gerecht werdenden Zimmer erin‐ nert zumindest entfernt an den Kampf Virginia Woolfs um „a room of her own“ in ihrem autobiographischen Essay A room of one’s own, der für den Titel und Inhalt des ersten Romans von Cécile Wajsbrot, Une vie à soi, wegweisend war. Die Distanzierung von seinem alten Wohngebiet - quartier - erinnert an Äu‐ ßerungen aus seinem ersten Gespräch mit der Erzählerin, der er seine Herkunft mit folgenden Worten erklärte: „[…] tout le monde a toujours été d’ici, ils ont un peu voyagé d’une région à l’autre, les colonies, aussi, mais ils sont tous bien français et moi, je me sens mal - peut-être justement parce qu’ils sont bien français.“ 301 Hatte die Erzählerin ihr eigenes Lebensgefühl damit erklärt, dass sie sich zwar „ici“ fühle, aber nicht „d’ici“ sei, was wiederum die Qualität des „être ici“ einschränkte, so betont ihr Gesprächspartner, dass seine Familie offensicht‐ lich seit Generationen „d’ici“ stammt, er sich aber trotzdem oder gerade des‐ wegen mit dem „être ici“ nicht zufrieden gibt. Er hat den Eindruck, in einem alt gewordenen, vergreisten Land mit einer ihn offensichtlich irritierenden Ver‐ gangenheit und damit in einer keinerlei Zukunftsperspektiven bietenden, skle‐ rotisierten Gesellschaft zu leben: „Nous sommes un vieux pays, un pays de vieux, voilà ce qui me dérange, l’âge, le passé. J’ai envie de présent, d’avenir - de pos‐ sibilités.“ 302 Was er mit dem ersten Teil dieser Äußerung konkret meint, präzisiert er in einem späteren Gespräch am Beispiel seines ihm verhassten Vaters, eines 84-jährigen ehemaligen Polizisten: 4 Themenfeld III 328 303 Ebd., S. 82. 304 Vgl. ebd., S. 83. 305 Ebd. 306 Vgl. ebd., S. 147 f. Il est l’image de […] cette France statique où chacun ne cherche qu’à se maintenir, à garder, conserver, ma mère ne jette jamais rien, et mon père classe tous ses papiers et les archive dans des dossiers numérotés […] J’ignore le contenu de ce qu’il garde, le fond de ce qu’il ne veut pas me dire, mais mon ignorance est peut-être plus encombrante qu’un savoir. Imaginez, dans la police, ce qu’on peut faire, la guerre d’Algérie, l’Occupation… 303 Der Vater steht somit stellvertretend für ein Frankreich, das, wie der junge Mann vermutet, die belastenden Aspekte seiner Vergangenheit, wie z. B. den Alge‐ rienkrieg und die Kollaboration mit den deutschen Okkupanten, konsequent unter Verschluss hält. Die vergangene Zeit wird nicht historisch-kritisch, son‐ dern lediglich archivarisch aufgearbeitet und, wie hinzuzufügen wäre, in dunklen, klimatisierten Räumen konserviert. So erklärt es sich auch, dass der Vater darauf bestand, dass der Sohn ein naturwissenschaftliches Fach und nicht, wie von ihm gewünscht, Geschichte studiere. Die Folge war, dass der junge Mann die Universität mied und versuchte, sich historisches Wissen auf anderem Wege anzueignen, worauf der Vater mit der Drohung reagierte, ihm den Le‐ bensunterhalt zu kürzen. 304 Als „verhinderter“ Student der Geschichte steht der Sohn stellvertretend für all jene Franzosen, die sich nach objektiver Aufklärung über die Vergangenheit auch ihres eigenen Landes sehnen, aber nur mühsam zuverlässige Informationsquellen finden. In seiner Phantasie verortet der Sohn seinen die Vergangenheit verschleiernden Vater in einer finsteren, Geheimhal‐ tung symbolisierenden Schattenwelt, die nur gelegentlich von einem Sonnen‐ strahl erhellt wird: „Je le voyais sur des chemins, marchant de longs jours à la recherche du passé, croisant des ombres qu’il ne pouvait reconnaître […] je le voyais sur des chemins traversant des forêts de sapins, sombres et épaisses, où filtrait parfois un rai de lumière blanche.“ 305 Gespräche mit dem Sohn führte der Vater wie Verhöre. Er brach die Beziehung zu seinem Sohn, die er wie ein Ver‐ tragsverhältnis betrachtete, ab, nachdem dieser sich zu seiner Homosexualität eindeutig bekannt hatte, obwohl die wieder aufgenommene Beziehung zu seinem Freund sich als wenig belastbar erwies. 306 Aufbruch der Erzählerin - Verzweiflung des jungen Mannes Auf aufmunternde Worte der Erzählerin reagiert der 25-Jährige angesichts des Beziehungschaos in seinem Leben mit der resignierenden Feststellung: „Je ne 4.3 „Le Tour du lac“ 329 307 Ebd., S. 150. 308 Ebd. 309 Ebd., S. 153. 310 Ebd. 311 Ebd. vois que les ruines.“ 307 Und seine Ankündigung, bald aufzubrechen, löst in der Erzählerin spontan den Gedanken aus: „D’une prison à l’autre […].“ 308 Tatsäch‐ lich sieht sich der „junge Mann“ als „[…] le jouet de mécanismes qui me dépas‐ sent […]“ 309 , und im Unterschied zur Erzählerin ist er, einem Spielball des Windes vergleichbar, nicht willens oder in der Lage, Entscheidungen zu treffen: „[…] je ne décide rien, je me laisse ballotter et je descends, je remonte, au gré du vent.“ 310 Für die Erzählerin hingegen wird eine neue Perspektive erkennbar, die sie einmal mehr in einem räumlichen Bild versprachlicht: […] et je me demandais si je ne profitais pas de la situation pour donner corps à ce pressentiment qui me tenait depuis longtemps, faisant de notre relation une sorte de pont jeté entre deux rives de nos vies qu’il fallait emprunter pour passer de l’autre côté. 311 Alle Indizien des Textes sprechen dafür, dass sowohl die Erzählerin als auch ihr Gesprächspartner die sich „auf dem jeweils anderen Ufer ihres Lebens“ bie‐ tenden Chancen und Herausforderungen erkannt haben, aber wohl nur die Er‐ zählerin die Brücke betreten und sich auf den Weg machen wird. 4.3.3 Perspektivierende Zusammenfassung Mit Le Tour du lac hat Cécile Wajsbrot ihrem neunten Roman einen die Bezie‐ hung zwischen Inhalt und Form in genialer Weise widerspiegelnden Titel ge‐ geben. In ihren Gedanken umkreist die autodiegetische Erzählerin im Dialog mit ihrem 25-jährigen Gesprächspartner - in einem dem Voranschreiten der Zeit scheinbar entzogenen Raum - beim Umrunden des Sees von Woche zu Woche stets dieselbe Frage nach der „Bilanz“ ihres Lebens. Die nicht zielgerichteten, sondern zirkularen Bewegungen ihres „tour du lac“ sind das visuelle Symbol des sich wiederholenden, „im Kreise drehenden“ Frage- und Suchprozesses, in dessen Verlauf die Erzählerin zu der Einsicht gelangt, sich mit ihrem Lebens‐ entwurf auf einem falschen Wege zu befinden: „Je tournais autour du lac comme autour d’une pensée, tout se fondait, se confondait dans une même insatisfaction qui me donnait le sentiment d’avoir choisi la mauvaise voie, de n’avoir pas abouti 4 Themenfeld III 330 312 Ebd., S. 9. 313 Ebd., S. 125. 314 Ebd., S. 113. Zum Kontext vgl. ebd. 315 Cécile Wajsbrot, Conversations avec le maître, Paris, Denoël, 2007, (Wajsbrot 2007). 316 Ebd., S. 173; zum Kontext vgl. S. 173 f. sur le chemin que je m’étais tracé […].“ 312 Der Titel insinuiert jedoch nicht nur die Vorstellung einer sich kontinuierlich wiederholenden Handlung, sondern auch die Idee der Rückkehr zu einem Ausgangspunkt, von dem aus ggf. eine neue, auf ein Ziel hin orientierte, lineare Richtung eingeschlagen werden kann. Mit der Überwindung ihrer Schreibblockade, einer durch das Innere ihrer Person verlaufenden Grenze, gelingt der Erzählerin im Verlauf der Diegese zum zweiten Mal in ihrem Leben eine entscheidende Richtungsänderung, nachdem sie sich Jahre zuvor durch die Hinwendung zum Schreiben und durch den Umzug von Neuilly nach Paris von familiären und gesellschaftlichen Fesseln befreit und damit eine unüberwindlich scheinende Grenze überschritten hatte. Auch die erneute Hinwendung zum Schreiben geht einher mit einer bewussten Bewe‐ gung in Richtung Paris: „Je traversais le Bois, me dirigeant vers Paris […]“ 313 . Die Durchquerung des Waldes symbolisiert für die Erzählerin die Beendigung, das „Hinter-Sich-Lassen“ eines einengenden, von Unklarheit und Verwirrung be‐ lasteten Lebensabschnitts. Der junge Mann ist durch die Gespräche mit der Erzählerin sicherlich zu einer Richtungsänderung seines Lebens ermutigt worden, die Ziele seiner Suche bleiben jedoch unklar. Immerhin stellt die Erzählerin zwischen sich selbst und dem jungen Mann - […] au-delà de cette différence irréductible […] - 314 ein gewisses durch den Erfahrungsaustausch gewonnenes Maß an gegenseitigem Verständnis und damit eine Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Semio‐ sphären, in denen sie leben, fest. 4.4 Conversations avec le maître 315 - Die Ich-Erzählerin und ihre Begegnungen mit dem Maître und einer illegal eingewanderten Ukrainerin Conversations avec le maître ist, wie Cécile Wajsbrot im Nachwort erläutert, der erste aus einer geplanten Serie von Romanen, die um das Thema „[…] l’œuvre d’art et sa réception“ kreisen und durch den Reihentitel Haute Mer thematisch zusammengehalten werden sollen. 316 Den Begriff „Roman“ als literarisches Genre versteht die Autorin in diesem Kontext als „[…] un espace à conquérir, une Amérique dont les frontières ne cessent de reculer, dont les limites sont 4.4 „Conversations avec le maître“ 331 317 Ebd., S. 174. 318 Vgl. ebd., S. 92: […] j’avais gravité autour de lui pendant deux ans […] 319 Zu den Altersangaben vgl. ebd., S. 117 und 51. 320 Ebd., S. 7. 321 Ebd., S. 20. toujours à franchir“, und Haute Mer betrachtet sie als „[…] un titre métaphorique qui n’engage pas un contenu mais qui écarte la tentation de revenir au port“. 317 Die Romane der Reihe betrachtet die Autorin also als Inszenierung einer raum‐ greifenden, Grenzen überwindenden „Reise“. Die Bezeichnung der Reihe setzt, wie die Metapher Haute Mer andeutet, Bewegung voraus und schließt obendrein eine Rückkehr zum Ausgangspunkt aus. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass alle Haute Mer - Romane „Entdeckungsreisen“ und folglich „Suchbewegungen“ darstellen. Allerdings impliziert die Haute Mer-Metapher gleichzeitig vielfältige Gefahren des Scheiterns bis zur Konfrontation mit dem Tod. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass die Autorin für den die Reihe Haute Mer eröffnenden, der Musik gewidmeten Roman einen Titel gewählt hat, der ein eher statisches Grundmuster der Diegese suggeriert, insofern „Ge‐ spräche“ Offenheit und Vertrauen zwischen den Gesprächspartnern voraus‐ setzen und - im Unterschied zur „Diskussion“ oder „Debatte“ - im Allgemeinen der Pflege von Beziehungen oder einem mehr informativen als kontroversen Gedankenaustausch dienen. Solchen oder ähnlichen Erwartungen entspricht die Eröffnung des Romans, mit der die autodiegetische Erzählerin, eine ca. 30-jäh‐ rige Immobilienmaklerin, auf ihre zwei Jahre lang 318 stattfindenden Begeg‐ nungen mit einem ungefähr 20 Jahre älteren Maestro (maître) 319 anspielt, ange‐ sichts der unpersönlichen Atmosphäre des sich täglich wiederholenden Begrüßungsrituals nur bedingt: Nous nous retrouvions tous les jours chez lui, en fin d’après-midi, à la même heure, je sonnais à la porte, il ouvrait et à son visage, je voyais s’il avait bien travaillé. Il ne disait rien, ni bonjour ni autre chose, nous n’avions pas l’habitude de nous serrer la main, encore moins de nous embrasser […] nous allions nous asseoir chacun dans un fauteuil […] 320 Etwas später präzisiert die autodiegetische Erzählerin den Gesprächsrahmen mit folgenden Worten: „Je l’ai peut-être déjà dit, il ne me parlait pas vraiment mais il avait besoin de moi, de quelqu’un devant qui exprimer ses idées, les développer […]“ 321 . Bei den „Gesprächen“ handelt es sich offensichtlich eher um Monologe des Maître, der in der Maklerin eine von ihm gesuchte, willige Zu‐ hörerin gefunden hat. Cécile Wajsbrot hat die Figur des Maître in ihrem Ge‐ spräch mit Pierre Cendors kunst- und gesellschaftskritisch interpretiert. Das 4 Themenfeld III 332 322 Wajsbrot / Cendors, L’appel du large 2008, S. 3. 323 Vgl. dazu insbesondere Wajsbrot 2007, S. 134. 324 Vgl. ebd., S. 33. 325 Ebd., S. 25 326 Ebd., S. 39. Publikum interessiere sich nicht in erster Linie für die Kunst oder das künstle‐ rische Schaffen, sondern vielmehr für die Stellung und die Person des Künstlers, der daraus das Recht ableite, dass ihm alles erlaubt sei. Der Protagonist in Con‐ versations avec le maître verkörpere diese Tendenz exemplarisch, sei aber mög‐ licherweise tatsächlich an einem Mangel an Anerkennung gescheitert: Le maître, d’une certaine façon, représente cette dérive. Il est compositeur parce qu’il se dit compositeur et on le croit sur parole, la narratrice le croit sans avoir jamais entendu une seule de ses œuvres. Le maître est le symbole d’une époque où le discours sur l’art remplace l’art et la narratrice représente ce public auquel nous appartenons tous […] Une partie du discours du maître est vraie et pose la question de la reconnaissance. Qu’aurait-il fait sans ce mur de barrage auquel il s’est heurté? 322 Am Ende des ersten Kapitels teilt die Erzählerin mit, dass sie ihre Gespräche mit dem Maître bzw. seine von kurzen Fragen ihrerseits unterbrochenen Monologe auf Bitten einer - wie alle Figuren des Romans namenlos bleibenden - dritten Person aufgezeichnet hat. Bei dieser Person handelt es sich um einen Mann, der in einem engen, aber rätselhaft bleibenden Verhältnis zum Maître gestanden hat 323 und der Erzählerin, die ihre Kontakte zu dem Komponisten vor ca. 2 Jahren abgebrochen hat, 324 die aktuelle Nachricht von dessen Freitod überbringt. Im fiktionalen Erzählrahmen wird somit am Ende des ersten Kapitels evident, dass der Roman (auch) den Inhalt jener „Gespräche“ wiedergibt, die die Erzählerin mit dem Maître geführt hat und die sie erst zwei Jahre nach seinem Tod schrift‐ lich festhält. Dass es für die Erzählerin neben „ihm“ indes auch noch „die Welt“ gibt, die sie als ein „[…] milieu d’annonces de destructions“ 325 bzw. als einen „[…] lieu de naufrage“ 326 wahrnimmt, ist ebenfalls bereits dem ersten Kapitel zu entnehmen. Neben der „Not im Großen“ rückt die Erzählerin vom zweiten Kapitel an zu‐ sätzlich das Einzelschicksal einer illegal in Paris lebenden, unter unzumutbaren Arbeits- und Wohnungsbedingungen leidenden Ukrainerin in den Vordergrund ihrer Beobachtungen. Nachdem die Gespräche zwischen dem Maître und der Erzählerin eine Zeit‐ lang in einem Café stattgefunden haben, treffen sich die beiden fortan auf Vor‐ schlag des Komponisten in seiner Wohnung, die zum wichtigsten Schauplatz 4.4 „Conversations avec le maître“ 333 327 Vgl. ebd., S. 23. 328 Vgl. ebd., S. 83 ff. und S. 147 ff. der Romanhandlung, ihrem eigentlichen „ancrage“ wird. 327 Das genannte Café wird auch zum Treffpunkt für zwei Begegnungen 328 zwischen der Erzählerin und der Ukrainerin. In der vorliegenden Studie ist in einem ersten Schritt zu untersuchen, in wel‐ cher Weise die Erzählerin den Maître in seinem Privatbereich wahrnimmt und welche Rückschlüsse daraus für die Zeichnung der Personen und ihr Verhältnis zueinander zu ziehen sind. Herauszuarbeiten ist sodann, welche Erkenntnisse sich für die Maklerin aus der Inspektion der Wohnung des Maître nach seinem Tode ergeben. Im Anschluss daran ist in einem zweiten Abschnitt zu klären, wie die Erzählerin die Lebenswelt der jungen Frau aus der Ukraine vor dem Hin‐ tergrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen und Lebensräume einschätzt. Auf beiden Untersuchungsfeldern ist zudem die von der Erzählerin angewandte Technik, ihre eigenen und die emotionalen Befindlichkeiten der anderen Figuren in räumlichen Bildern zu veranschaulichen, zu analysieren. Angesichts der oben zitierten Zielsetzungen, die Cécile Wajsbrot im Nach‐ wort von Conversations avec le maître für alle Romane der Reihe Haute Mer formuliert hat, ist zu klären, in welcher Weise dieser Roman der Vorstellung einer Entdeckungsreise bzw. Suchbewegung gerecht wird. In diesem Zusam‐ menhang drängt sich die Frage nach der Beweglichkeit der Charaktere und damit die Anwendung der Lotman’schen Analysekriterien geradezu auf. Wie für die Arbeit insgesamt gilt auch für diesen Abschnitt, dass die Analyse sich neben semiotischer auch klassisch-hermeneutischer Erklärungsansätze bedient. 4 Themenfeld III 334 329 Ebd., S. 8. Zur existentialistisch beeinflussten Bedeutung des „regard“ vgl. B 3.5.1, S. 250, Anm. 505; B 4.1.2, S. 274, Anm. 39; B 4.7.1, S. 447, Anm. 868. 330 Ebd. 331 Vgl. ebd., S. 8 f. 332 Ebd., S. 9. 333 Ebd. 334 Ebd. 4.4.1 Der Maître in der Parallelwelt seines tatsächlichen und imaginierten Lebensumfelds Eintritt der Erzählerin in das Leben des Maître Das Zustandekommen ihrer Bekanntschaft mit dem Maître präsentiert die Er‐ zählerin in einer Abfolge von „Szenen“, die sich an drei aufeinander folgenden Tagen in stets demselben Raum, einem Café, das sie jeden Morgen vor Beginn der Arbeit aufsucht, abspielen. Am ersten Tag erblickt sie den Herrn, der für sie bald zum „Maître“ wird, im hinteren Bereich des Cafés und ist unsicher, ob sie ihn zuvor bereits einmal gesehen hat. Als sie ihren Blick von der Zeitungslektüre abwendet, erlebt sie Außergewöhnliches: „[…] je sentis mon regard comme capté par le sien ou plutôt, par ce que je ne savais pas encore être son regard mais une sorte d’appel, une force.“ 329 Gleichzeitig entdeckt sie in seinem Blick „[…] une question qui ne m’était pas particulièrement destinée mais qui était posée aux autres, au monde en général“ 330 . Sie ist angesichts dieser Situation so irritiert, dass sie das Lokal fluchtartig verlässt. 331 Am folgenden Tag wiederholt sich der Vorgang, allerdings meint die Erzählerin „[…] un signe imperceptible de la tête m’invitant à le rejoindre“ 332 zu erkennen. „Versteinert“ (pétrifiée) 333 vermag sie sich nur mit größter Anstrengung auf die Zeitungsnachrichten zu konzentrieren. Erst nach einigem Zögern betritt sie am nächsten Tag das ihr zwar nach wie vor sympathische, aber nun auch aus unklaren Gründen „ge‐ fährlich“ scheinende Café. Als der Unbekannte ihr durch ein eindeutiges Hand‐ zeichen signalisiert, dass sie zu ihm kommen möge, durchlebt sie Momente, die ihre bisherige Raum- und Zeiterfahrung umkehren: „J’avançais lentement, la distance entre nous semblait augmenter au lieu de diminuer, en même temps, j’avais le sentiment d’une accélération ou plutôt, d’un rhythme différent - ce qu’on pourrait appeler une autre dimension.“ 334 Die Begegnungen mit dem Maître haben sie, wie sie zu Beginn der Nieder‐ schrift ihrer Erinnerungen notiert, in einem so außergewöhnlichen Maße be‐ eindruckt, dass ihr die Rückkehr in das Alltagsleben schwerfiel: […] c’était lui […] qui maintenait ses visiteurs prisonniers bien après leur départ, prisonniers de ses mots, de sa voix. Lorsque j’étais de nouveau dans la rue, tout ce qui 4.4 „Conversations avec le maître“ 335 335 Ebd., S. 22. Vgl. auch die ähnlich formulierten Eindrücke ebd. S. 80: […] en rentrant, je traversais les rues comme des paysages, les immeubles étaient un décor installé pour une pièce qui n’avait pas encore commencé tandis que je déambulais, plongée dans un autre monde - le monde hermétique du maître auquel j’avais eu accès pour la première fois. 336 Ebd., S. 11. 337 Ebd. 338 Ebd. 339 Die Nennung des Stockwerks erfolgt erst in Kapitel 4, S. 113. 340 Zu den Zitaten und zum Kontext des Absatzes vgl. ebd., S. 32. 341 Ebd., S. 22. m’entourait me semblait irréel, les formes et les bruits, les immeubles, les passants, je me sentais hors du temps […] je n’arrivais pas à réintégrer ma vie […] 335 . Ihre Gedanken kreisten weiterhin in der abstrakten Welt der Ideen ihres Gast‐ gebers um „[…] des formes immatérielles, des mirages qui s’effacent, des sen‐ sations fugitives qui s’évanouissent mais en laissant des traces […]“ 336 . In ihren Nächten vermeint sie seine Stimme zu hören „[…] lorsqu’il parlait, chez lui, perdu dans une dimension inaccessible […]“ 337 . Beim Blick durch das Fenster seiner Wohnung glaubt sie, in den zum Himmel aufsteigenden Türmen der Kir‐ chen Hinweise auf die Unendlichkeit zu erkennen: „[…] je regardais par la fe‐ nêtre les églises percer le ciel de Paris, les clochers esseulés tenter l’élévation vers l’infini“ 338 . Die Wohnung des Maître und ihre Wirkung auf die Erzählerin In welch starkem Maße das Persönlichkeitsbild des Maître u. a. durch die Be‐ schreibung seiner räumlichen Umgebung mitgeprägt wird, ist in allen wesent‐ lichen Aspekten bereits dem ersten Kapitel zu entnehmen. Einige Details über die Lage und Beschaffenheit seiner Wohnung - sie befindet sich im fünften Stock 339 eines als „modern“ bezeichneten siebenstöckigen Mietshauses aus den 60er Jahren - werden eher beiläufig und im Text verstreut in den Erzählfluss eingefügt. Lokalisiert wird das Gebäude nicht. Wir erfahren lediglich, dass es „[…] dans un quartier de maisons plutôt anciennes mais en pleine rénova‐ tion […]“ liegt und sich vor ihm ein weiter Horizont öffnet „[qui] permettait cette vue dégagée pointant vers l’infini des temps et des espaces tandis qu’en bas se pressait la superposition des âges“. Für den hier seit etwa zwanzig Jahren lebenden Maître ist die Wohnung mit allen von ihm zusammengetragenen „signes de l’installation“ zu einem „Ankerplatz“ (ancrage) geworden. 340 Emp‐ fangen wird die Erzählerin in einem großen Wohnzimmer (salon) - […] une vaste pièce aux fauteuils profonds […] - 341 , dessen auffälligstes Merkmal ein großes Fenster mit einem sich daran anschließenden Balkon ist. Die Erzählerin 4 Themenfeld III 336 342 Ebd., S. 24. 343 Ebd., S. 7 f. erinnert sich „[que] je ne vis que l’espace au-dehors, presque tout Paris s’étendre, s’offrir à mes yeux, une incroyable immensité embrassant des quartiers, des monuments qui d’ordinaire n’appartenaient pas au même horizon et donnaient l’impression de se trouver au-delà du temps“ 342 . Die Erzählerin bringt ihre Begeisterung über den sich von der Wohnung des Maître bietenden Blick auf Paris jedoch keineswegs mit zeitlicher Verzögerung zum Ausdruck, sondern zum ersten Mal auch bereits unmittelbar zu Beginn des Textes. Die Wiedergabe des Begrüßungsrituals ist eng verknüpft mit einer Schil‐ derung der Wirkungen, die der bzgl. seiner Beschaffenheit überhaupt noch nicht beschriebene Raum und die Gegenwart des Maître auf die Erzählerin ausüben: […] j’entrais, attirée par la vue, la lumière, et il disait souvent que c’était cette lumière qui lui permettait de travailler, qui l’inspirait […] je regardais Paris s’étendre, le ciel, je regardais l’alignement parfait de ses livres dans la bibliothèque et je me taisais, attendant qu’il commence à parler. Nous pouvions rester longtemps silencieux, il servait le thé, je regardais par la fenêtre, les coupoles lointaines luisaient au soleil comme les vestiges d’une gloire ancienne, et tandis qu’il versait le thé et que je contemplais la vue se produisait une sorte de rite de passage, comme lorsqu’on entend le gong appelant à la concentration ou à la prière, appelant à quitter la vie profane pour atteindre d’autres couches, une autre profondeur, et insensiblement, grâce au silence, aux gestes répétés, je quittais peu à peu ma vie, mes préoccupations, le souvenir de la journée pour n’être plus qu’à l’écoute de sa vie. 343 Der lichtdurchflutete Salon und der Maître scheinen in einer symbiotischen Be‐ ziehung ineinander zu verschmelzen. Die in den Raum eindringende Helligkeit, das mit Paris und dem unermesslichen Potential seiner Möglichkeiten zu iden‐ tifizierende Licht, scheint für den Protagonisten zu einer ihn inspirierenden, seine kreativen Kräfte weckenden Quelle zu werden. Dieser Prozess bewirkt zugleich eine tiefgreifende Änderung in der Erzählerin. Sie betrachtet nicht nur die sorgfältig aufgestellten Buchreihen in der Bibliothek, die einen Hang zu Systematik und formaler Korrektheit auf Seiten des Maître anzeigen. Vor ihren Augen breitet sich vielmehr Paris aus. In den in der Ferne in der Sonne leuch‐ tenden Kuppeln erkennt die Erzählerin die bis in die Gegenwart hineinreich‐ enden Spuren einer ruhmreichen Vergangenheit. Vor allem aber spürt sie in diesen Momenten, dass ihr Leben aus dem profanen Alltag der Immobilienmak‐ lerei unmerklich in Sphären hinübergleitet, die durch Gedankentiefe und sakrale Würde geprägt sind und sie darauf vorbereiten, dem Maître zuzuhören. Dass 4.4 „Conversations avec le maître“ 337 344 Ebd., S. 8. 345 Vgl. dazu ebd. 346 Ebd., S. 10. 347 Ebd. der Verweis auf „alten Ruhm“ - […] gloire ancienne […] - bei einer hermeneu‐ tisch-kritischen „relecture du texte“ durchaus als Anspielung auf den Karriere‐ verlauf des Maître verstanden werden kann, wird durch die Fortsetzung des Textes nachdrücklich bestätigt. In einem imaginierten Gespräch mit der dritten Person, die mit dem neutralen „vous“ angeredet wird, klagt die Erzählerin über die Schwierigkeit, ihre sich um den Maître rankenden Erinnerungen in einer angemessenen Anordnung niederzuschreiben, indem sie zeitliche und räum‐ liche Vorstellungen aufeinander bezieht: „La durée s’étend devant moi comme la vue de Paris par sa fenêtre et la perspective fausse les choses, leur donne une ampleur, un relief qu’elles n’avaient pas.“ 344 Wie der Fensterblick die „Dinge“, also die Gebäude und ihre Umgebung, in eine falsche Perspektive rücke, entstehe auch ein falscher Eindruck über die „Dauer“ ihrer Beziehung zu dem Maître, deren Entstehung und Entwicklung im Übrigen ein Produkt des Zufalls gewesen sei und nur so schließlich zu einer „histoire“ geführt habe. 345 Der Maître und der Zeitgeist In ihre Charakterisierung des Maître und der ihn umgebenden Aura mischt die Erzählerin jedoch von Anfang an auch kritisch-fragende Töne. So beobachtet sie „[…] que l’extérieur et l’intérieur ne correspondaient pas ou plutôt à l’inté‐ rieur, il se produisait des choses qui ne s’exprimaient pas au-dehors ou qui s’ex‐ primaient d’une façon qui m’était inconnue“ 346 . Obwohl ihr das, was ihn inner‐ lich bewegt und antreibt, verschlossen bleibt, äußert sie im Nachhinein - d. h. in Kenntnis seiner späteren Ausführungen - Verständnis für die von ihm wie‐ derholt geäußerte „[…] sensation de viser à côté de la cible, de ne pas être au cœur de ce qu’on a à dire, ce qu’on a à faire, de se heurter à l’épaisseur du réel, à une paroi impossible à percer ou à contourner - tels étaient ses mots - de ne pas pouvoir passer de l’autre côté“ 347 . Wenn der Maître beklagt, dass er „sein Ziel verfehlt“ und sich von der „realen Welt“ durch eine „undurchdringliche, un‐ überwindbare Wand“ getrennt sieht, so deutet er damit in einer unmissver‐ ständlichen, räumlich-konkreten Bildersprache an, dass er die Adressaten seiner Botschaften nicht erreicht. Die Ursache für das Misslingen seiner Ansprache liege darin, dass er, wie er meint, gegen den „Zeitgeist“ (l’esprit du temps) ver‐ stoße und deswegen wie ein Angeklagter in Handschellen - und damit zum 4 Themenfeld III 338 348 Vgl. ebd., S. 14: Je suis l’accusé […] qui comparaît menottes aux mains, condamné pour avoir contrevenu à l’esprit du temps. 349 Ebd., S. 13. 350 Ebd., S. 11. - In einem Gespräch mit Pierre Cendors hat Cécile Wajsbrot mitgeteilt, dass „Le Saut dans le vide“ ursprünglich als Romantitel vorgesehen gewesen sei. Vgl. Wajs‐ brot / Cendors, L’appel du large, S. 4. 351 Wajsbrot 2007, S. 12. 352 Ebd., S. 93. Nichtstun verurteilt - vor Gericht zu erscheinen habe, 348 vor einem Gericht, das, wie zu ergänzen wäre, im Namen des „Zeitgeistes“ ein öffentliches Geschmacks‐ urteil fällt. Mit einer Mischung aus Resignation und Auflehnung positioniert er sich selbst sowohl in als auch außerhalb „seiner“ Zeit und fordert im Sinne einer Kurskorrektur ein gewisses Maß an Opposition gegen den Zeitgeist als Quali‐ tätsgarantie für künstlerisch-kreatives Schaffen ein: „Il disait, je suis de mon temps et je suis en dehors du temps. Je n’aime pas la route que nous suivons. Mais peut-être faut-il ne pas être bien dans son époque pour faire vraiment quelque chose. Quand on est trop bien, on ne fait rien.“ 349 Der Maître über sein kreatives Schaffen, seine künstlerischen Ideale und Vorbilder Der Maître erläutert sein kreatives Schaffen, indem er die Wegemetaphorik va‐ riiert und mit bildhaften Vorstellungen konstruktiver Arbeit kombiniert. Musik entstehe nicht aus dem Nirgendwo, vielmehr gebe es „[…] une base à partir de laquelle elle construit pour l’oublier ensuite, comme le plongeur qui repousse le bord pour sauter“. Dabei handle es sich jedoch um „[…] un saut dans le vide. […] Sans filet.“ 350 Erläuternd fügt er hinzu: Le saut dans le vide […] Si vous n’acceptez pas, vous ne pourrez rien faire. Si vous partez avec tous vos bagages - vos certitudes - si vous savez où vous allez, vous n’arriverez nulle part. Ce n’est pas l’idée que vous avez en tête qui compte, ce sont les pierres que vous posez une à une, l’une qui mène à l’autre, qui est indispensable - chaque note est nécessaire. 351 Für den Maître stellt das Komponieren als kreatives Arbeiten einen „saut dans le vide“ dar, da er es als einen ergebnisoffenen, auf die Sicherheit eines vorab festgelegten Ziels bewusst verzichtenden Prozess betrachtet. Ein Werk entsteht dann in einem mühevollen, der Errichtung eines Bauwerks vergleichbaren Pro‐ zess. Entschieden wendet er sich gegen jene Professoren aus seiner Studienzeit, die als Anhänger der Inspirationstheorie vorgaben, „[…] sous la dictée […]“ 352 die gehörte Musik zu „transkribieren“. Er selbst habe stets nach anderen Regeln gearbeitet: „Moi, je n’ai jamais eu d’inspiration, j’ai toujours arraché les sons aux nappes du silence mais il m’est arrivé d’avoir une vision, une sorte de dessin 4.4 „Conversations avec le maître“ 339 353 Ebd. 354 Ebd., S. 12. 355 Ebd., S. 13. 356 Ebd., S. 21 f. 357 Ebd., S. 22. 358 Ebd., S. 132. d’ensemble que j’ai cherché à reproduire presque phonétiquement.“ 353 Als we‐ sentliche Voraussetzung für schöpferische Arbeit betrachtet der Maître Stille, die er metaphorisch ebenso in eine ausgedehnte Fläche überträgt wie seine „vi‐ sion“, die sich zu einem „dessin (visuel)“, also einem Muster fügt, das er „pho‐ netisch reproduziert“, d. h. in Töne übersetzt. Der Maître beschreibt jedoch nicht nur den konkreten Ablauf seiner Arbeit, sondern auch die ihn leitende Zielvorstellung. Nach seiner festen Überzeugung liegt diese jedoch jenseits menschlicher Möglichkeiten. Man verbringe sein Leben mit dem Versuch „[…] de reconnaître cette chose“ 354 . Für ihn gelte dies für den Bereich der Musik. Wenn er auf die Frage der Erzählerin, was er für sie und all jene, die nicht kreativ-künstlerisch tätig seien, für möglich halte, ant‐ wortet: „Tout est possible […] le travail, l’amour, la foi - pourvu que vous placiez quelque chose au-dessus de vous“ 355 , transzendiert er durch das topologische Signal „au-dessus de vous“ bewusst den raum-zeitlichen Rahmen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis, ohne allerdings zu präzisieren, ob er seine „Ideale“ z. B. in der platonischen Welt der Ideen oder einem religiös verstandenen „Jen‐ seits“ verortet. Seine in den soeben zitierten Worten zum Ausdruck gebrachte Konzession, dass jeder Mensch nach Idealen, nach „quelque chose au-dessus de lui“ streben könne, relativiert die Erzählerin jedoch kurze Zeit später. Zwar habe aus der Sicht des Maître jeder „[…] son histoire ou plutôt, chacun a ses moments, une chose à raconter, au moins, qui fut déterminante mais le maître refusait de reconnaître l’histoire des autres et croyait que lui seul détenait ce droit, cette faculté, qu’il menait une vie d’exception […]“ 356 . In seiner Selbstüberschätzung und Verachtung seiner Mitmenschen gehe er soweit, dass er sich in einer fast prometheisch anmutenden Attitude anmaße, anders als die mit Schutzbrillen und -handschuhen arbeitenden Schweißer das Feuer in direkter Konfrontation mit dem Element trennen zu können, um daraus zu folgern: „[…] vous êtes de‐ vant moi mais vous devriez rester à distance“ 357 . Seine theoretische Positionierung übersetzt der Maître für die Erzählerin in einprägsame Raumbilder. Angesichts der offenkundigen Verbindungen z. B. zwischen Haydn und Beethoven oder zwischen Beethoven und Schönberg sei die Frage naheliegend, welche „[…] vision de l’art et du temps […]“ 358 die An‐ 4 Themenfeld III 340 359 Ebd. 360 Vgl. ebd., S. 56. 361 Ebd., S. 81. 362 Ebd., S. 154. nahme solcher Übergänge voraussetze. Der Maître präsentiert den Kern seiner Vorstellungen in der einprägsamen Form einer Insel-Metapher: Comme s’il y avait une progression pour ne pas dire un progrès. Comme si une œuvre pressentait l’œuvre à venir. Une œuvre est seule dans son temps quand elle est véritable, une œuvre musicale est une île qui, certes, a besoin de l’océan - l’air du temps - pour surgir mais s’en détache, s’en distingue, de tous les océans, ceux passés, présents et à venir. L’ œuvre n’annonce rien d’autre qu’elle-même. 359 Nachdem der Maître, der seit Jahren nur noch mit dem Computer zu arbeiten behauptet, 360 im Voranschreiten der Zeit (progression) im Hinblick auf die Kunst zunächst einen Fortschritt (progrès) zu erkennen meint, insofern ein Werk ein Vorbote der Zukunft sei, betont er anschließend, dass ein „wahres“ Kunstwerk „allein“ in seiner Zeit stehe, also „Selbstständigkeit“ beanspruche und daher einer „Insel“ vergleichbar sei, die, um als solche herausgehoben zu sein, zwar des sie umgebenden Ozeans, also des Zeitgeschmacks, bedürfe, sich aber doch auch von diesem und allen anderen Ozeanen, allen anderen Geschmacksrich‐ tungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, abhebe und unterscheide. So gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass ein Werk nichts anderes als sich selbst ankündige. Der Maître vollbringt hier das Kunststück, jede seiner Aus‐ sagen durch die jeweils folgende in Frage zu stellen bzw. zu relativieren. Fest‐ zuhalten ist, dass er einerseits anerkennt, dass kein Werk voraussetzungslos - ex nihilo - entsteht, andererseits jedoch fordert, dass jedes echte Werk etwas unverwechselbar Eigenes, Singuläres, darstellt. In eine eigene Kategorie schließ‐ lich ordnet er - im Zusammenhang mit seiner Vorliebe für Beethoven und Chopin - jene „Meister“ ein „[qui] ont acquis cette intemporalité qui nous manque, cet aspect d’île surgie des eaux, d’île ayant survécu à la grande cata‐ strophe qu’est le passage du temps“ 361 . Er selber träumt von einer Komposition, die das Auditorium zu stets neuen Entdeckungen zu führen vermöchte. Bei‐ spielhaft nennt er drei in ihrer Qualität für ihn unerreichbare Werke: Ludwig van Beethovens Große Fuge, Arnold Schönbergs Moses und Aaron und Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, deren Erschließung er mit einer Expedition in noch nicht erforschte Urwaldzonen Amazoniens vergleicht: „Des œuvres complexes, touffues, dans lesquelles on pénètre comme dans la forêt amazonienne sans carte et sans chemin tracé, en se frayant une voie. Je n’y suis pas encore arrivé.“ 362 4.4 „Conversations avec le maître“ 341 363 Ebd., S. 162. 364 Ebd., S. 28. 365 Ebd. 366 Ebd., S. 36. 367 Ebd. Leicht verständlich ist seine wiederum raum-metaphorisch formulierte Ant‐ wort auf die Frage der Erzählerin, ob seine Musik nie verstanden worden sei: Au début, peut-être. Je voulais construire un pont entre la tradition et l’avant-garde mais sur un pont, vous êtes visible, il est facile de tirer sur vous. Ils m’ont traité de tous les noms, académique, ésotérique, éclectique, trop facile, trop difficile, tout sauf ce que j’étais. 363 Die eigentlich naheliegende Frage, ob der „Brückenschlag zwischen Tradition und Avant-garde“ ihm nicht die von ihm zuvor kritisierten Kompromisse ab‐ verlangt habe, stellt die Erzählerin dem Maître nicht. Zu seinem kompositori‐ schen Verständnis äußert er sich jedoch in seinen Ausführungen zu dem Re‐ quiem, an dem er zu arbeiten vorgibt und das er als die Krönung seines Lebenswerks, sein opus magnum, betrachtet. Seine Arbeitsweise beschreibt er plastisch als einen Akt des „Konstruierens“ und „Dekonstruierens“ und als die Suche nach „[…] une forme qui englobe les formes existantes […]“ 364 . Es gelte, die Werke der Vergangenheit nicht zu kopieren, sondern den Wesenskern der „formes existantes“ zu verinnerlichen bzw. so zu „absorbieren“, dass er in die Neuschöpfung integriert wird. Der Maître differenziert in diesem Sinn zwischen „[…] une part [qui] est commune“ und „[…] une part [qui] appartient à chaque compositeur“. Die von ihm zu leistende Arbeit beschreibt er als einen Prozess der Aneignung und des Vergessens, des langsamen Vordringens zu Geheim‐ nissen: J’écoute, je me laisse imprégner puis j’essaie d’oublier. Mais pour parvenir à oublier ces musiques, il faut que je les pénètre, que j’en perce le secret, que chaque note me soit connue - pour oublier, il faut d’abord connaître. Voilà en quoi consiste mon travail actuellement. 365 Die Komposition eines Requiems sei eine so vielseitige und anspruchsvolle He‐ rausforderung, da es als musikalische Gattung weit in die Vergangenheit zu‐ rückreiche. Es handle sich um „[…] la seule forme à explorer, la seule qui tienne par-delà les siècles parce que nous vivons imprégnés de catastrophes univer‐ selles“ 366 . Die Katastrophen haben jedoch, wie er hinzufügt, in unserer Zeit „[…] une dimension métaphysique qui oblige à les penser en dehors de l’his‐ toire […]“ 367 erreicht. Dies bedeutet, dass der Maître bei der Komposition des 4 Themenfeld III 342 368 Ebd., S. 82. 369 Ebd. 370 Vgl. ebd., S. 16: Je vis dans l’entrave […] dès que je touche à quelque chose, les ramifi‐ cations sont infinies, les murs se dressent, les routes sont déviées, barrées - les enjeux sont trop grands. 371 Ebd., S. 16. Requiems in Bereiche vorzudringen sucht, die - topologisch ausgedrückt - „au-dessus de lui“ liegen und seine Arbeit über die Grenzen menschlicher Ver‐ stehensmöglichkeit hinausheben. Um die Bedeutung des Requiems als Musik‐ gattung zusetzlich zu begründen, vergleicht er seine Generation mit jenen Über‐ lebenden von Science-fiction-Filmen, die als „[…] des voyageurs dans l’espace […]“ 368 nach einer Nuklearkatastrophe, die alles vernichtet hat, auf die Erde zurückkehren: […] - nous en sommes là car avant nous, un monde a forcément disparu dont nous sommes issus et nous vivons sur une île que nous tentons de préserver, nous organisons notre survie précaire comme nous le pouvons - pour cette raison, la forme la mieux adaptée à l’esprit du temps est bien le requiem. 369 Der Maître über seine „Gegner“ In einem inneren Widerspruch zu jener „Exzeptionalität“, die sich der Maître in einer von Raum- und Bewegungsmetaphorik gesättigten Sprache anmaßt, scheint sein Gefühl zu stehen, von Hindernissen und Gegnern unterschied‐ lichster Art umstellt zu sein. 370 Nur dadurch wird jedoch psychologisch nach‐ vollziehbar, dass er das Komponieren, über das er sich selbst definiert, nicht als souveräne Selbstverwirklichung einer freien Persönlichkeit, sondern vielmehr als Akt der Befreiung aus seiner „Einsamkeit“ und der „Umzingelung“ durch seine Gegner versteht: […] composer est une façon de briser la solitude, briser l’encerclement car notre solitude est cernée par ceux qui veulent à la fois s’emparer de nous et nous abandonner. C’est ce que je voudrais traduire, la dialectique de l’encerclement et de l’abandon au sein de laquelle il n’y a pas de dialogue possible. 371 Der weitere Verlauf der Erzählung bestätigt die bereits durch die hier zitierte Aussage hervorgerufene Vermutung, dass der Maître sich nicht nur vor einer beruflichen Isolierung, sondern vor einem totalen Ausschluss aus dem Kreis der öffentlich wahrgenommenen Kollegen zu fürchten scheint. So spricht er (im zweiten Kapitel) von „[…] une guerre […] une guerre sans merci entre les artistes 4.4 „Conversations avec le maître“ 343 372 Ebd., S. 43. 373 Zitate ebd. 374 Ebd. 375 Ebd., S. 56. 376 Ebd., S. 124. 377 Ebd. 378 Ebd., S. 105. et leurs ennemis“ 372 . Er nennt seine Gegner verächtlich „[l]es prosaïques […] les matérialistes […]“ und nährt damit die Vermutung, dass er an künstlerisch ein‐ fallslose, nur am Erfolg interessierte „Karrieristen“ denkt. Genau in diesem Sinne wendet er sich gegen „[…] les soi-disant artistes, assoiffés de pouvoir, qui dé‐ tiennent les postes et ne sont là que pour vous faire de l’ombre“ 373 . Und mit Nachdruck wiederholt er: „Quand je dis une guerre, je sais de quoi je parle. Une lutte perpétuelle, épuisante.“ 374 Als die Erzählerin im Verlauf der Gespräche fragt, ob er u. U. nicht die rich‐ tigen Zuhörer gehabt habe, antwortet er sinngemäß, dass er junge Komponisten zu sich eingeladen und sie gefördert habe, er dann aber ernüchtert und ent‐ täuscht habe feststellen müssen „[…] que leurs paroles étaient fausses, qu’elles avaient pour objet d’attirer mon attention pour que je puisse les aider - dans ce domaine, c’est la loi de la jungle et chacun ne pense qu’à soi.“ 375 Auf die präzise Frage der Erzählerin, warum man ihn verstoßen habe, reagiert er ausweichend und spricht nicht ohne Selbstmitleid von „[u]n enchaînement de circonstances plutôt qu’un événement précis […]“ 376 . Eines Tages habe er festgestellt, sich „au‐ ßerhalb“ - […] en dehors […] - 377 zu befinden. Damit dürfte er meinen, dass er, da er im Unterschied zu anderen nicht zu Kompromissen bereit war, von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr zu jenen einflussreichen Kräften des öf‐ fentlichen Musikbetriebs gehörte, die den Erfolg bestimmter musikalischer Richtungen steuerten. Durch die Praktiken seiner von ihm „bloßgestellten“ Gegner ist er, wie er der Erzählerin berichtet, in ein für ihn existentiell bedroh‐ liches Abseits gestellt worden: „Ils m’ont chassé de leurs cercles d’influence, ajouta-t-il, de leurs salons, de leurs conversations, et ils finiront par me chasser du monde, je vous assure. Ils me détestent, ils ne me pardonnent pas de les avoir démasqués.“ 378 (Erste) Reaktionen der Erzählerin auf ihre Begegnungen mit dem Maître Für die Erzählerin bedeuten die Monologe des Maître über die Musik sowie die Schilderung seines von Enttäuschungen und Misserfolgen geprägten Lebens Ausflüge in ihr bislang unbekannte Sphären eines Künstlerdaseins. In ihrem Bedürfnis nach Sicherheit klammert sie sich in dem Salon seiner Wohnung daher 4 Themenfeld III 344 379 Ebd., S. 24. 380 Ebd., S. 25. 381 Ebd. 382 Ebd., S. 25 f. 383 Ebd., S. 26. 384 Ebd. 385 Ebd. zunächst mit ihren Augen an die sich vor dem großen Fenster ausbreitende Stadtlandschaft von Paris: „Dès le premier moment, cette vue me sauva, m’em‐ pêcha de sombrer dans le tumulte des négations où sa pensée m’entraînait - au milieu du naufrage et des eaux agitées, il y avait un lieu, un point fixe auquel se raccrocher.“ 379 Beim Blick aus dem Fenster wird ihr dann jedoch auch bewusst, dass es nicht nur „[…]le monde d’en bas […]“ 380 gibt, in dem sie und alle anderen Passanten überhastet und fast ohne die Augen zu heben auf ein Ziel zusteuern, sondern auch „[…] un autre monde […]“ 381 mit einem alle Beschränkungen auf‐ hebenden Horizont: […] nous sommes entourés de forteresses et de barrières par lesquelles rien ne passe, par lesquelles rien ne nous parvient, sans soupçonner, accablés que nous sommes de lignes verticales, qu’il existe un autre monde, là-haut, où règne l’horizon, où se découvre la fin des formes, l’air libre, l’absence de contraintes. 382 Als der Maître in exakt diesem Moment den Tee serviert, stellt sie sich vor, welche Kraft von seinen durch den majestätischen Anblick von Paris inspi‐ rierten Kompositionen ausgehen muss, und sie staunt über „[…] un monde im‐ prégné de sa présence […]“ 383 . Es entspricht einem kontrapunktischen Kompo‐ sitionsprinzip, dass die Erzählerin in diesem Kontext sofort relativierend hervorhebt, dass das Zimmer (la pièce) zwar groß, gleichzeitig jedoch „[…] chargée, trop chargée, trop meublée […]“ 384 war. Von dieser Beschreibung des Raumes leitet sie direkt über zu einer Charakterisierung des Maître: […] et lui-même, comment s’y retrouvait-il? D’un côté la liberté, le lointain, une sorte d’appel à la sérénité et de l’autre, la pesanteur, le trop-plein, comme si le vide l’angoissait, comme s’il fallait absolument remplir, et non seulement les meubles mais les objets s’accumulaient […] 385 So wird die Wohnung des Maître zu einem Ort, der mit dem grandiosen, jegliche Enge überwindenden Fensterblick auf die Spuren der glorreichen Vergangenheit von Paris zu freier, schöpferischer Arbeit einlädt, andererseits jedoch mit der musealen Überfülle gesammelter Objekte die Last einer Vergangenheit symbo‐ lisiert, die die Gegenwart für den Maître unerträglich werden lässt. Die Woh‐ 4.4 „Conversations avec le maître“ 345 386 Vgl. ebd., S. 78. 387 Ebd., S. 101. Zum Kontext vgl. S. 101-103. 388 Ebd., S. 165. 389 Ebd., S. 170. 390 Ebd., S. 92. nung als zentraler Lebensraum des Maître wird zu einem Symbol seines Lebens schlechthin. Beendigung der Besuche der Erzählerin beim Maître und die schwierige Rückkehr in ein Leben ohne ihn Im Laufe der Zeit verlieren die Gespräche mit dem Maître für die Erzählerin ihren Sinn. Obwohl er betont, dass man über Musik nicht sprechen könne, ohne sie auch zu Gehör zu bringen, vermag er seiner Besucherin keine Aufnahme eines seiner Werke zu präsentieren. 386 Seine Glaubwürdigkeit leidet, als er wegen der Prüfung einer angeblichen Konzertnachfrage drei Tage unerreichbar ist und nach seiner Rückkehr erklärt, wegen der schlechten Akustik des Saales absagen zu müssen, ohne den Namen der Stadt zu erwähnen. Die Zeit seiner Abwesen‐ heit erlebt die Erzählerin „[…] comme une steppe sans merci que les haltes ne m’aidaient pas à supporter […]“ 387 . Nach zwei Jahren regelmäßiger Besuche hat sich das Interesse, das sie für die Gespräche hegte, jedoch erschöpft. Dass dies auch dem Maître nicht verborgen blieb, spürt sie, als er ihr eines Abends eröffnet, dass ihr Kommen auf ihn wie ein Krankenbesuch wirke. Ihre stille Überein‐ stimmung mit dieser Einschätzung überträgt sie in eine religiöse und geome‐ trische Metapher: „Il avait vu que je perdais la foi, que je ne croyais plus à nos rencontres, que je savais que nous décrivions le même cercle.“ 388 Die Rückkehr in ein Leben ohne den Maître stellt die Erzählerin nach zwei Jahren vor Probleme ungeahnter Art. Ihre Bemühung um eine Neuorientierung ihres Alltags beschreibt sie an zwei Stellen des Romans und bedient sich dabei wiederum u. a. einer raumbezogenen, den Reihentitel aufgreifenden Bilder‐ sprache. Den zweiten Tag nach der Trennung empfindet sie als besonders schwierig, da sich ihr das „normale Leben“ wie eine Luftspiegelung zu entziehen scheint „[…] comme la terre lointaine pour le navigateur en haute mer, un mi‐ rage“ 389 . Sie spürt ihre Orientierungsnot, als sie sich beim Besuch eines Cafés vergeblich am Gespräch der Stammgäste zu beteiligen versucht. In welchem Maße sie sich ihres alten Lebensumfelds entwöhnt hat, veranschaulicht auch eine in einem anderen Kontext erscheinende Cafészene: „[…] je me sentais res‐ capée, venue d’un autre temps, d’un autre monde, celui du tsunami et des épaves, des débris, celui de la jeune femme qui cherchait un appartement sans avoir les moyens d’en trouver un […]“ 390 . Ihr Raum-Zeit-Empfinden wurde, wie sie im 4 Themenfeld III 346 391 Ebd., S. 92 f. 392 Ebd., S. 94. 393 Vgl. dazu ebd., S. 118-121. 394 Ebd., S. 119. 395 Vgl. ebd.: […] je me demandais si elle n’était pas le requiem annoncé par le maître […] 396 Ebd. Rückblick begreift, so stark durch die Gespräche mit dem Maître beherrscht, dass ihr das Leid der Welt, das hier durch den Tsunami und seine verheerenden Folgen repräsentiert wird, ebenso aus dem Blick zu geraten drohte wie die Not vor der eigenen Haustür, an die sie immer wieder durch das Schicksal der jungen Ukrainerin erinnert wird. Ihre mentale Abhängigkeit von „ihrem“ Maître drückt sie aus im Bild eines in seiner Verzweiflung von seinem Kurs abgedrifteten Pla‐ neten, der von einem mächtigeren Planeten in seine Umlaufbahn gezwungen wird. Resumierend stellt sie fest: „[…] - et j’avais gravité autour de lui pendant deux ans, ses paroles avaient imprégné ma vie - ensuite, quand j’étais repartie, l’attraction n’avait pas cessé de s’exercer et c’était peut-être l’alcool, ce soir, qui me sauvait en désintégrant les résidus de son influence.“ 391 Als sie sich in dem Café von den Blicken eines allein an einem Tisch sitzenden Mannes angesprochen fühlt, vermag sie die noch immer wirksame Fixierung auf den Maître für kurze Zeit zu überwinden. Die Situation ändert sich jedoch schlagartig, als sie bemerkt, dass er von einer Dame begleitet wird: „Je me sens chassée de ce café comme d’un paradis, d’un havre de paix où je croyais retrou‐ ver ma vie d’avant - dans quel univers suis-je, celui de l’inconnu, celui du maître, dans quelle vie, celle d’avant le maître, celle d’après? “ 392 Suizid des Maître - Das Requiem und seine Wirkung auf die Erzählerin Nach weiteren zwei Jahren erfährt die Erzählerin von der dritten Person, dass der Maître sich mit einem Sprung aus dem Wohnzimmerfenster seiner Wohnung das Leben genommen hat. Welch nachhaltige Wirkung die tatsächliche oder aber vermeintliche Aus‐ strahlung des Maître auf sie ausgeübt hat, illustriert die Erzählerin mit ihrer Beschreibung des für ihn in einer Kirche von einem Priester geleiteten Ab‐ schiedsgottesdienstes. 393 Zwar empfindet sie als Ungläubige die Gebete allenfalls als „[…] consolation ambiguë […]“ 394 , mit tiefer Bewegung hört sie jedoch die Musik, und sie fragt sich, ob es sich dabei nicht um das vom Maître angekündigte Requiem handelt. 395 „Tout à coup, je comprenais la force, le sens de la musique, sa capacité à exprimer nos chemins les plus profonds, nos détours, en leur don‐ nant une autre dimension qui, échappant aux moyens de l’expression, de la pensée, les transcendaient tout en les accomplissant.“ 396 4.4 „Conversations avec le maître“ 347 397 Ebd., S. 120. 398 Ebd. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 402 Ebd., S. 120 f. Der „Sinn der Musik“ offenbart sich für die Erzählerin in den gehörten Klängen in vollem Maße, da sie ihrer Meinung nach die tiefsten Geheimnisse zum Ausdruck bringt, die das Leben, in welche Richtung es sich auch bewegen mag, birgt. Die üblichen Mittel der mündlichen und schriftlichen Rede, der ge‐ danklichen Anstrengung verblassen angesichts der Möglichkeiten der Musik, die verborgensten und erhabensten Gedanken und Empfindungen des Men‐ schen mitzuteilen und in ihrer Begrenztheit zu überschreiten. Die Erzählerin zeigt sich zutiefst berührt von einer Aufführung „[…] qui nous menait des rives de la vie aux rives de la mort, de la désolation à la paix, nous faisait revenir sans plus savoir de quel côté nous étions“ 397 . Die dreigliedrige Struktur des Relativ‐ satzes bildet jenen Prozess ab, der sich im Innern der Hörerinnen und Hörer vollzieht: Die Verzweiflung, die durch die metaphorische Vorstellung des Über‐ gangs vom „Ufer des Lebens“ zum „Ufer des Todes“ zunächst ausgelöst wird, weicht, wie die zweite präpositionale Ergänzung signalisiert, einem Gefühl des inneren Friedens. Der Schlussteil evoziert sodann jenen emotionalen Schwebe‐ zustand, in dem sich die Hörerinnen und Hörer unter dem Eindruck der Musik im vollen Bewusstsein ihrer Endlichkeit langsam wieder auf die „rive de la vie“ hin bewegen. Zutiefst ergriffen fühlt sich die Erzählerin vom Gesang des Chores, der in ihr „[…] une élévation de l’âme“ 398 bewirkt. Ohne sich daran erinnern zu können, ob der Maître mit ihr über die „Seele“ gesprochen hat, „spürt“ sie seine Gegen‐ wart nicht einfach nur im Sinne einer emotionalen Erinnerung, sondern fühlt sich von seinem „Leben“ und „Sein“, von seiner Präsenz geradezu durch‐ drungen : „[…] je ne le voyais pas, je ne le sentais pas mais j’étais enveloppée de sa vie, habitée de son être […]“ 399 . Mit dem Verklingen der Musik wird der Erzählerin jedoch auch bewusst, was die Worte „[…] n’être plus de ce monde“ 400 bedeuten: „[…] - qu’il s’était détaché de nous, comme enfui - puis tout à coup, ce fut la fin.“ 401 Trotz des definitiven Abschieds, der endgültigen Trennung, glaubt sie, dass er sich in einem „ailleurs“, nicht in einem von irgendeiner Reli‐ gion versprochenen, sondern „[…] dans un véritable ailleurs, dans la musique que nous venions d’entendre, les pensées - les souvenirs“ 402 befindet. Die Hoffnung der Erzählerin, dass es sich bei der aufgeführten Musik um ein Werk des Maître handeln möge, erfüllt sich indes nicht. Präsentiert wurde der 4 Themenfeld III 348 403 Ebd., S. 123. 404 Ebd., S. 129. 405 Vgl. ebd., S. 60 f. Bzgl. des erotischen Interesses der Erzählerin vgl. auch ebd. S. 81. 406 Ebd., S. 134. Coro von Luciano Berio. Die Erzählerin reagiert auf diese Nachricht jedoch kei‐ neswegs enttäuscht, sondern meint, dass der Maître mit der Auswahl dieses Werkes einverstanden gewesen wäre. Unter dem Eindruck der Abschiedsfeier und der emotionalen Wirkung der Musik verschmelzen in ihrer Erinnerung die Worte des Maître und die Musik Berios zu einer Einheit: „Plongée dans les pa‐ roles du maître qui affluaient, comme libérées par sa mort, j’en oubliais la mu‐ sique de Berio qui se déroulait pourtant et se fondait dans mes pensées.“ 403 Desillusionierende Enthüllungen bei der Besichtigung der Wohnung des Maître Gänzlich andere Erfahrungen sammelt die Erzählerin, als sie von der „dritten Person“ gebeten wird, die Wohnung des Maître zu vermieten. Mit Ausnahme des großen Wohnzimmers sind ihr alle Räume unbekannt. Bei einem Ortstermin betritt sie - in Begleitung ihres Auftraggebers - die Wohnung „[…] avec le sen‐ timent de marcher dans un rêve, redoutant de pénétrer dans la grande pièce à baie vitrée“ 404 . Die Schilderung spiegelt die Anspannung, mit der sich die nun in ihrem Beruf als Immobilienmaklerin geforderte Erzählerin ihrer Aufgabe ent‐ ledigt, in ingeniöser Weise wider. Der zuerst und der zuletzt besichtigte Raum, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer, wecken ihr Interesse in besonderem Maße. Die Beschreibung dieser Räume nimmt daher den breitesten Raum ein. Das am Ende des langen Flurs liegende Schlafzimmer ist für die Erzählerin von besonderer Bedeutung, da der Maître auf sie zumindest zeitweise eine starke erotische Anziehungskraft ausübte, jedoch auf ihre diesbezüglichen Avancen nicht reagierte. 405 Nun registriert sie aufmerksam, dass sich an beiden Seiten seines „grand lit“ ein Nachttisch befand. Sie glaubt, daraus schließen zu können, dass er sein Bett regelmäßig mit jemandem geteilt haben mag, vielleicht sogar mit dem sie begleitenden „Dritten“. Auf ihre an ihn gerichtete direkte Frage, ob er mit dem Maître zusammengelebt habe, bekommt sie jedoch die knappe Ant‐ wort: „Personne ne vivait avec lui […].“ 406 So bleibt das diesen Raum betreffende Geheimnis für immer unaufgeklärt. Das für die Erzählerin gewiss nicht weniger interessante und bedeutsame Arbeitszimmer liegt, was die Spannung nicht nur seitens der Erzählerin, sondern auch der Leserschaft steigen lässt, am anderen Ende des Flurs, sodass bei der Begehung zuvor noch das Badezimmer, eine „pièce aveugle“, also eine fenster‐ lose Abstellkammer, die Küche und das bereits bekannte Wohnzimmer inspiziert 4.4 „Conversations avec le maître“ 349 407 Ebd., S. 135. 408 Ebd. 409 Ebd. 410 In Kurzform lässt sich das Märchen folgendermaßen zusammenfassen: Judith begleitet den Herzog Blaubart, in den sie so intensiv verliebt ist, dass sie seinetwegen ihren Verlobten und ihre Familie verlassen hat, auf seine düstere Burg. Bei ihrem Bemühen, diesen Ort hell und freundlich werden zu lassen, stößt sie auf sieben verschlossene Kammern. Sie besteht darauf, dass Blaubart ihr die dazugehörigen Schlüssel der Reihe nach aushändigt, was er nur mit zunehmendem Widerwillen tut. Jede dieser Kammern steht für bestimmte Abschnitte in Blaubarts Leben, wie z. B. die Folterkammer hinter der ersten oder ein Garten hinter der vierten Tür. Überall jedoch findet sie Blut. In der siebten Kammer, die zu betreten Blaubart ihr unbedingt verwehren möchte, findet sie voller Entsetzen die von ihm verlassenen Frauen, denen sie sich sofort anschließt. 411 Wajsbrot 2007, S. 135 f. und bzgl. ihrer Fläche geschätzt werden. „Il reste une pièce“ 407 - mit diesen Worten weist die Erzählerin dann auf das Arbeitszimmer hin, dessen Bedeutung der Dritte mit dem Hinweis „Si vous en connaissez les dimensions approxima‐ tives, ce n’est pas la peine d’y aller“ 408 herunterzuspielen sucht. Die Erzählerin verrät nun jedoch, was die ihr von Anfang an wie ein Traum anmutende Be‐ sichtigung der Wohnung insbesondere an diesem Schlusspunkt bedeutet: „Je redoutais d’entrer dans cette pièce et pensais au Château de Barbe-Bleue, l’opéra de Bartók dont le maître m’avait parlé […]“ 409 . Die sich an das Märchen Herzog Blaubarts Burg anlehnende „Geschichte“ 410 erreicht bekanntlich mit der Inspek‐ tion der siebten Kammer ihren Höhepunkt. In der Wohnungsbesichtigung ins‐ gesamt eine Parallele zu dem Märchen bzw. Bartóks gleichnamiger Oper er‐ kennen zu wollen, mag zwar auf den ersten Blick aus inhaltlichen Gründen unangemessen erscheinen, obwohl die Erzählerin und ihr Begleiter insgesamt sieben Räume betreten, sofern man den Flur einbezieht. Die Erzählerin selbst jedoch sieht eine Fülle von Analogien zwischen dem Blaubart-Märchen und „ihrer“ Zeit mit dem Maître: […] ces portes qu’il ne fallait pas ouvrir - combien de fois avais-je eu ce sentiment, dans les conversations avec le maître, les sujets qu’il ne fallait pas aborder, les questions qu’il ne fallait pas poser? La vie du maître était composée de chambres closes, de périodes entières qu’il avait enfermées derrière de hauts murs et dont il était le seul à posséder la clé, comme le Barbe-Bleue de l’opéra, et ouvrir cette porte en son absence, cette porte qu’il m’avait refusée, me paraissait un sacrilège […] J’entendais confusément les voix de l’opéra, celle de Judith qui insistait pour faire entrer la lumière dans les ténèbres du château, qui insistait mais s’effrayait aussi, et celle de Barbe-Bleue […] il essayait d’empêcher l’inéluctable tout en sachant qu’il ne le pourrait pas - comme il fallait que je vous suive. 411 4 Themenfeld III 350 412 Ebd., S. 136 413 Ebd. 414 Ebd. 415 Vgl. dazu ebd. 416 Ebd. 417 Ebd., S. 137. 418 Ebd. Das zentrale, dem Märchen von Herzog Blaubarts Burg entlehnte Bild der „chambres closes“, in denen der Maître große Abschnitte seines Lebens verbirgt, bringt seine „Verschlossenheit“ und das „Geheimnisvolle“ seiner Persönlichkeit einprägsam zum Ausdruck. Die abstrakte Zeit, aber auch menschliches Ver‐ halten und die aus ihm resultierenden Konsequenzen werden durch eine inter‐ textuell verbürgte Raummetapher konkret visualisiert. Für den Gang der Er‐ zählung bedeutet dies eine nochmalige Erhöhung der Spannung in dem Moment, in dem die Erzählerin - […] le cœur battant […] - 412 ihrem Begleiter zum Ausgangspunkt des Flurs folgt und diesen „Rückweg“ mit einer „Reise in die Vergangenheit“ asssoziiert: „Je vous suivais dans le couloir car vous remon‐ tiez le temps […].“ 413 Es präsentiert sich ihr nicht, wie von ihr erwartet, „[…] une sorte de grenier inquiétant […]“, sondern „[…] une vaste pièce claire […] une vaste pièce aux murs blancs […]“ 414 . Das Rauminventar besteht aus einem Rechner und einer Tastatur als verschlüsselten Hinweisen auf die mathematischen Strukturen des Komponierens, einem kleinen, schwarzen Flügel, vier großen Lautsprechern, einer Reihe von Geräten sowie im hinteren Bereich einer Wand mit Regalen, in denen Schallplatten stehen, und einem zum Hof liegenden Fenster. 415 Auf dem Schreibtisch liegen offensichtlich geordnete Papiere. Der Kommentar des Ge‐ fährten: „C’est une belle pièce […]“ 416 irritiert die Erzählerin, da er sie an ihren Auftrag erinnert, die Grundfläche und den Wert der Wohnung zu taxieren, eine professionelle Angelegenheit, die in keinerlei Bezug zu ihrer Aufgabe steht, ihre Gespräche mit dem Maître niederzuschreiben. Maßlos enttäuscht, obwohl nicht völlig überrascht ist die Erzählerin, als der „Dritte“ auf ihre Frage, ob man nicht bestimmte Dinge - [d]es choses - oder präziser: „[d]es partitions, des œuvres“ 417 gefunden habe, mit zwei Gegenfragen und der Antwort reagiert: „Vous ne savez pas? Il ne vous a pas dit? […] Cela faisait des années qu’il ne composait plus.“ 418 Auf die Nachfrage, was unter „des années“ zu verstehen sei, ergänzt er, dass es sich um etwa fünfzehn Jahre handle. Als die Erzählerin ihren Begleiter schließlich auf das Requiem anspricht, erklärt dieser lapidar, dass der Maître davon nie etwas gesagt habe. Erst als sie wissen möchte, ob denn überhaupt nichts gefunden worden sei, fällt ihm schließlich 4.4 „Conversations avec le maître“ 351 419 Ebd., S. 138. 420 Ebd. 421 Vgl. ebd., S. 101-103. 422 Ebd., S. 137. ein, dass es auf dem Schreibtisch einige Blätter gebe, die er ihr zeigen könne. Er reicht sie ihr mit den Worten: „[…] vous voyez, il n’y a qu’une phrase, toujours la même“ 419 . Vor den Augen der Erzählerin tut sich ein erschreckender Befund auf: […] je vis qu’en effet les notes se succédaient toujours dans le même ordre, une dizaine de notes se répétant éternellement. Je me sentis glacée, terrifiée par cette découverte même si j’avais pressenti, les derniers temps, une part de la vérité. Cette fois, aucun doute n’était permis, la preuve matérielle de l’impuissance du maître s’étalait sur ces feuilles. Il y avait d’un côté le monde où la pensée du maître se déployait, une sphère lointaine avec ses paysages et ses lois, et de l’autre le monde réel et ses traces, ses règles cruelles. Le maître avait voulu s’échapper, ses ennemis avaient peut-être vraiment existé mais les feuilles […] détruisaient l’image que je n’avais pas voulu remettre en cause - préférant ne plus voir le maître. 420 Der Protagonistin wird schlagartig klar, was sie zuvor allenfalls geahnt, aber, um ihr positives Bild des Maître aufrechtzuerhalten, stets verdrängt hat: Ihr großes Vorbild lebte offensichtlich in einer Welt wahnhafter Vorstellungen. Ei‐ nerseits bewegte er sich souverän in einer Welt der Gedanken, einer entlegenen, unzugänglichen Sphäre mit eigenen „Landschaften“ und „Gesetzen“, d. h. einer nicht fassbaren und lokalisierbaren, da imaginierten, von persönlich geprägten Kunst- und Wertvorstellungen bestimmten „Wirklichkeit“. Auf der anderen Seite war er mit der Welt der Fakten konfrontiert, deren Verhaltensregeln er für „grausam“ hielt, von der er sich abgestoßen und verstoßen fühlte. So hielt er es auch nicht für notwendig, seiner Behauptung, ein Konzertangebot prüfen zu müssen, durch die Nennung zumindest des Ortes der Veranstaltung Glaubhaf‐ tigkeit zu verleihen. 421 Die Erzählerin fühlt sich bestätigt in jenen Zweifeln, die sie bewogen haben, die „conversations avec le maître“ abzubrechen, gibt aber zu, „[…] l’ampleur du désastre, de l’abîme“ 422 nicht richtig eingeschätzt zu haben. Ihre hier angedeuteten Zweifel, ob die von ihm beschworenen Feinde tatsächlich existiert haben, hatten sich jedoch auch bereits zu Lebzeiten des Maître der Er‐ zählerin bemächtigt. Bzgl. seiner Klage, von der Gruppe der „[…] anti-académi‐ ques […]“ gemieden worden zu sein, notiert die Erzählerin: „Le maître ne don‐ nait-il pas à ses luttes intérieures l’apparence de combats contre l’ennemi, 4 Themenfeld III 352 423 Zitate ebd., S. 155. 424 Ebd., S. 141. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Ebd., S. 142. 428 Ebd. 429 Ebd., S. 39. l’ennemi n’était-il pas en lui? Cette fois, pourtant, je le crus, d’autant que jamais il ne s’était montré aussi précis.“ 423 Völlig desillusioniert ist die Erzählerin jedoch nach der Begehung der Woh‐ nung des Maître und der Entdeckung seiner Wahnideen. Sie fühlt sich in einen „[…] monde illisible, indéchiffrable […]“ 424 versetzt, der in ihrer Vorstellung die Erinnerung an einen Tsunami wachruft, der eine Welt von Trümmerresten hin‐ terließ: „[…] et me revint l’image du tsunami, tous ces objets flottants, ces débris qui avaient été des maisons, aussi fixes et solides que l’appartement du maître, et qui s’étaient soudain défaites, décomposées…“ 425 . Im Rückblick fasst sie die Gedanken zusammen, die sie beim Verlassen des Zimmers beschäftigten, dessen Vermarktung sie nun anderen überlassen will: „Il ne restait plus qu’à repartir, à quitter cette pièce où m’était apparu le néant des espoirs du maître, l’écart absolu entre la vie qu’il avait désirée et celle qu’il avait menée, entre l’image et la réalité, à quitter cet appartement que je ne reverrais plus […].“ 426 Reaktionen der Erzählerin auf die Wohnungsbesichtigung Noch unter dem Eindruck ihrer Erlebnisse in der leeren Wohnung des verstor‐ benen Maître schaltet die Erzählerin in ihrer Wohnung ihren Rechner an, um auf dem Bildschirm - […] un écran - c’est notre façon de recevoir le monde […] - 427 „herumzunavigieren“. Angesichts der in dem kleinen Rechteck auftauchenden Bilderfolge fragt sie sich: […] avec tout cela, comment avoir le sentiment de la réalité, comment ne pas confondre le vrai et le faux, l’apparent, le réel, comment savoir s’il faut croire ou non les paroles du maître, si elles sont plus mensongères que les mots qui s’affichent à présent devant moi […] 428 . Die Erzählerin greift damit ein Thema wieder auf, das sie bereits am Ende des ersten Kapitels kurz angesprochen hat. Sie verfolgt am Bildschirm einen Bericht über die Folgen des Tsunami und formuliert dazu die folgende Überlegung: „[…] la terre est devenue un lieu de naufrage. Moi, je fixe le vide et j’entends le silence. Bizarrement, les réceptacles du monde s’appellent des écrans - le mot qui dé‐ signe ce qui nous en sépare.“ 429 4.4 „Conversations avec le maître“ 353 430 Ebd., S. 140. 431 Ebd., S. 70. 432 Ebd., S. 43 f. Die Erzählerin hat erfahren müssen, dass persönliche Begegnungen Bilder von einem Menschen entstehen lassen können, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, sich aber erst im Nachinein als falsch erweisen. Sie zweifelt jedoch auch daran, dass die medial vermittelten Bilder ein zuverlässiges, glaub‐ haftes Bild der Welt vermitteln. Wenn sie der Bitte nachkommt, ihre Gespräche mit dem Maître niederzuschreiben, dann geschieht dies nach Meinung des „Ge‐ fährten“, damit etwas zurückbleibt, das dem Maître ähnlich ist, etwas „[…] qui ressemble à ce qu’il voulait, à ce qu’il croyait être“ 430 . Dass es für die Erzählerin nicht leicht war, dies bei ihren Begegnungen mit ihm herauzufinden, belegt der folgende Wortwechsel zwischen „ihr“ und „ihm“. Auf ihre Frage „J’ai tort de croire ce que vous dites? “ reagiert er mit den Worten: „Il faut du discerne‐ ment […] cela s’apprend et j’ai appris. Il y a des gens qu’on peut croire et d’autres qu’il est impossible de croire […].“ 431 4.4.2 Die Ukrainerin in der Parallelwelt einer illegalen Einwanderin Die inneren Konflikte der Erzählerin als Immobilienmaklerin Die Erzählerin lebt in dem Bewusstsein, in einem nicht nur von Naturkatastro‐ phen wie dem aktuellen Tsunami, sondern auch von wirtschaftlicher Not weit‐ gehend verschonten Teil der Welt zu leben. Als Mitarbeiterin in einer Immobi‐ lienagentur, die „Wohnraum“ vermittelt bzw. verkauft, sieht sie sich tagtäglich mit drei Gruppen von Menschen konfrontiert, deren Herkunft aus der Art des von ihnen benutzten Transportmittels zu erschließen ist: Oui, nous sommes épargnés, nous sommes étrangement oubliés sur le passage des catastrophes, les prix ne cessent de monter, les gens ne cessent d’acheter et de vendre, de chercher à louer, tout le monde s’arrête devant nos vitrines, nos panneaux, nous sommes le port, le débarcadère où ils descendent l’un après l’autre de leur barque fragile, du paquebot de croisière ou de leur yacht, ils regardent et repartent, ou ils entrent. Nous faisons des affaires […] nous sommes les miraculeux du naufrage économique. 432 Während vereinzelte Kreuzfahrtpassagiere, vor allem jedoch die Yachtbesitzer zu jenen gehören dürften, die nicht nur interessiert die im Schaufenster aus‐ gehängten Anzeigen studieren, sondern auch das Immobilienbüro betreten, um Kauf- oder Mietmöglichkeiten zu sondieren, riskieren die auf einer „barque fragile“ ins Land gekommenen illegalen Einwanderer allenfalls einen flüchtigen 4 Themenfeld III 354 433 Vgl. dazu ebd., S. 44. 434 Ebd., S. 62. 435 Ebd., S. 115. 436 Vgl. ebd., S. 49. 437 Ebd., S. 50. 438 Ebd., S. 44. Zum Kontext s. ebd. 439 Ebd., S. 46. Blick auf die Angebote. Die Einen von den Anderen zu unterscheiden, fällt den Immobilienmaklern indes nicht schwer. 433 Aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit hat die Erzählerin aus eigener Anschauung gelernt, dass „[l]e monde se divise entre ceux qui ont et ceux qui n’ont pas, et les collectes d’argent, l’organisation des secours ne suffisent pas à rétablir l’équilibre“ 434 . Daraus abzuleiten ist die allgemein anerkannte Regel, dass „[…] pour être logé, il faut être logé et pour avoir, déjà avoir“ 435 . Obwohl die Erzählerin in ihrem beruflichen Handeln an die hier skizzierten Marktmechanismen gebunden ist, lehnt sie sich innerlich energisch dagegen auf. Sie nimmt teilnahmsvoll die an den Häuserwänden angebrachten Suchan‐ zeigen mit Fotos von Vermissten wahr 436 und gelangt gleichzeitig zu einem ver‐ nichtenden Urteil über den ausbeuterisch-zynischen Charakter des Gesell‐ schaftssystems, für das sie selbst arbeitet: „Et nous qui regardons, de l’autre côté du monde, comme des vautours, nous sommes des prédateurs rôdant autour des catastrophes, soulagés de vivre car le nombre des morts nous assure chaque jour encore de notre vie.“ 437 Der Blickkontakt der Erzählerin mit einer unbekannten Frau - ein moralischer „appel“ Obwohl der Erzählerin die prekäre Lage der illegalen Einwanderer in Paris, ihre Suche nach Arbeit und Wohnraum, seit langem vertraut ist, hat sie bislang keinen persönlichen Kontakt zu einer der zahlreichen betroffenen Personen ge‐ habt. Dies ändert sich, als sie eines Tages eine mittelgroße Frau mit halblangem, kastanienfarbigem Haar und hellblauen Augen sieht, die an einem Umhänge‐ riemen eine große, vollbepackte Tasche mit sich führt „[…] comme si elle avait toutes ses affaires avec elle, comme si elle ne savait pas où aller.“ 438 Die räumliche Ausgangssituation dieses ersten und sich an den Folgetagen wiederholenden gegenseitigen Erkennens ist charakteristisch für das Verhältnis, das sich zwi‐ schen den beiden Frauen entwickeln wird: „Nous sommes de part et d’autre d’une vitre et cette vitre nous sépare physiquement, moralement - d’un monde à l’autre, y a-t-il un passage? “ 439 Die Erzählerin spürt sehr wohl, dass die „phy‐ sische“ Trennung mit einer „moralischen“ Verpflichtung einhergeht, deren Er‐ füllung sie im Verlauf ihrer Bekanntschaft mit der Immigrantin immer stärker 4.4 „Conversations avec le maître“ 355 440 Vgl. ebd., S. 48. 441 Zitate ebd. 442 Ebd., S. 68. 443 Ebd., S. 68 f. 444 Ebd., S. 147. 445 Vgl. B 4.4.1, S. 335ff. und B 4.4.2, S. 354ff. als eine an sich selbst gerichtete Herausforderung begreift. Ihr zögerlich-un‐ entschiedenes Verhalten deutet sich bereits an, als sich die Blicke der beiden Frauen zunächst nicht kreuzen, da die Erzählerin ihre Augen im letzten Moment abwendet. 440 Dennoch spürt sie „[…] un appel, quelque chose qui m’évoque l’appel du maître à l’époque du café […]“, und in ihrem inneren Monolog fragt sie sich schließlich: „[…] espère-t-elle m’attirer comme le maître m’a attirée à lui? “ 441 . Dieser „appel“ gewinnt noch dadurch an Intensität, dass die Unbekannte exakt dieselbe Augenfarbe wie der Maestro hat. Für die Erzählerin entsteht ein enger Zusammenhang zwischen den von ihr abends verfolgten Fernsehnachrichten über die Opfer eines Tsunamis und der immer wieder vor dem Fenster der Immobilienagentur auftauchenden Frau. Sie fragt sich, ob diese vielleicht „[…] un désastre, un tsunami intérieur - un ca‐ taclysme l’ayant laissée sans ressources“ 442 überlebt hat, und sie versucht nun, sie mit mit ihren Blicken zu erreichen: J’essaie de croiser son regard mais elle ne me voit pas, habitant ce monde inconnu de tous sauf d’elle-même, le monde qu’habitait le maître, l’univers de ceux qui ne voient pas les autres, de ceux qui sont regardés plus qu’ils ne regardent et qui attirent, pourtant, par l’absolu d’une présence confinant à l’absence, un paradoxe impossible à résoudre. 443 Die Parallelwelten des Maître und der Immigrantin Die Erzählerin wird die von ihr wahrgenommene Affinität zwischen der ihr noch unbekannten Frau und dem Maître zu einem Zeitpunkt, da sie die Immi‐ grantin und ihre katastrophale Unterbringung näher kennen gelernt hat, noch unterstreichen, indem sie konstatiert „[…] que cette jeune femme avait un lien caché avec le maître ou qu’ils étaient les deux faces d’une même question“ 444 . Was den Maître und die junge Frau - bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Her‐ kunft, ihres materiellen Besitzes, ihrer Anschauungen, Ziele und Bedürfnisse - aus der Sicht der Erzählerin miteinander verbindet, ist, dass sie in einer „Paral‐ lelwelt“ 445 leben. Wie jedoch ist die Aussage „[qu’ils] sont regardés plus qu’ils ne regardent“ zu verstehen, zumal sich sowohl der Maître als auch die Immig‐ rantin durchaus kritisch mit der sie umgebenden Welt auseinandersetzen? Ein 4 Themenfeld III 356 446 Vgl. Wajsbrot 2007, S. 141 (Maître) und 68 (Ukrainerin). 447 Ebd. S. 69. 448 Vgl. ebd., S. 75 f. 449 Vgl. ebd., S. 152. 450 Vgl. ebd., S. 148. 451 Ebd., S. 86. 452 Ebd., zum Kontext vgl. ebd. 453 Vgl. ebd., S. 151. Weg zum Verständnis öffnet sich, wenn man den Akt des „regarder“ im Sar‐ tre’schen Sinn als einen Prozess der „Reifikation“, der Verdinglichung der be‐ trachteten Person versteht. In dem vorliegenden Kontext liegt ein solches Ver‐ ständnis des Begriffs nahe, da die Bewohner der Parallelwelt(en) von der großen Mehrheit der Bewohner jener Welt, an deren Rand sie sich angesiedelt haben, wie „Objekte“ - und nicht wie autonome Subjekte - betrachtet und somit in eine Passivrolle abgedrängt werden. Auch das Paradoxon, dass die „Außenseiter“ „[…] par l’absolu d’une présence confinant à l’absence“ auf sich aufmerksam machen, löst sich dann auf: Ihre „Präsenz“ ist zwar gegeben, wird aber - von der großen Mehrheit der Gesellschaft - ignoriert bzw. verdrängt. Auf metaphorischer Ebene wird die Parallelität zwischen dem Maître und der Ukrainerin zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Erzählerin die seelische und - im Fall der Ukrainerin zugleich materielle - Not mit dem Bild eines Tsu‐ nami beschreibt. 446 Das Leben der Ukrainerin in Paris Für die Erzählerin stellt sich beim Anblick der vor dem Fenster ihres Büros ste‐ henden Frau ganz konkret die Frage: „[…] - a-t-elle où loger, où dormir? “ 447 Nachdem sie nach längerem Abwarten einen Gesprächskontakt mit der „Unbe‐ kannten“ hergestellt hat, 448 erfährt sie nach und nach wichtige Details aus dem bisherigen und jetzigen Leben der Frau. Es handelt sich um eine seit sechs Jahren 449 illegal 450 in Paris lebende Immigrantin, die „aus dem Grenzgebiet“ - [d]es confins de l’Ukraine - 451 stammt, Russisch unterrichtet hat und, da es wegen einer starken Präferenz für das Englische dort - là-bas - 452 keine Arbeit mehr gab, sie aber das Studium ihres 21-jährigen Sohnes finanzieren muss, das Land verlassen hat. 453 Angesichts des biographischen Hintergrunds einer ver‐ mutlich etwa gleichaltrigen Frau „[qui] a traversé l’Histoire, vécu des change‐ ments de régime, des bouleversements radicaux […]“ vermag die Erzählerin, die sich seit ihrer Geburt „[…] dans le confort figé […]“ von Paris, „[…] cette ville musée […]“ eingerichtet hat, nachzuvollziehen, wie die Ukrainerin über die Franzosen und deren „[…] obsession des papiers, l’importance de la léga‐ 4.4 „Conversations avec le maître“ 357 454 Zitate ebd., S. 148. 455 Vgl. dazu S. 149 ff. 456 Ebd., S. 150 f. 457 Vgl. ebd., S. 149 f. 458 Ebd., S. 149. lité […]“denkt: „[…] elle […] doit nous trouver bien frileux, timorés, avec nos différences établies, nos frontières rigides.“ 454 In Paris reinigt die Ukrainerin die eleganten, aber stets leeren Wohnungen wohlhabender Bürger, ist also auch während ihrer Arbeitszeit isoliert von an‐ deren Menschen. 455 So erlebt sie eine sich abschottende, auf ihren eigenen Schutz bedachte Gesellschaft und hat obendrein gelernt, bei der Ausübung ihrer Arbeit diesen Bedürfnissen zu entsprechen: Dans votre ville, je n’entends qu’un seul bruit, des portes qui se ferment, qui se ferment toujours. […] Tout le monde se protège et vit derrière des stores, des volets, des verrous, des portes blindées alors qu’il y a déjà des codes, des interphones. J’ai des clés de plus en plus lourdes […] elles n’ouvrent pas facilement […] Dans les appartements aussi, je passe mon temps à ouvrir et fermer […] 456 Allerdings spricht die verzweifelte Frau auch über die Angst und Einsamkeit, die sie bisweilen bei ihrer Arbeit in den großen Räumen der leeren Wohnungen empfindet. Dass sie, die für sich selbst neben einer bescheidenen, aber men‐ schenwürdigen Wohnung vor allem ein wenig menschliche Wärme sucht, vor‐ handenen Raum hier als beängstigende Leere empfindet, spiegelt sehr deutlich wider, als wie sinnentleert sie ihr persönliches und das Leben insgesamt emp‐ finden muss. Gelegentlich findet sie ein Radio, das sie anstellt, um vertraut ge‐ wordene Stimmen zu hören, die ihre Angst vertreiben. 457 Ansonsten jedoch werden die von ihr eingesetzten Reinigungsmittel umfunktioniert zu Mitteln, die durch ihre olfaktorische Wirkung das bedrückende Gefühl des Alleinseins vertreiben: […] j’essaie d’apprivoiser, un peu de cire pour faire briller, du détartrant dans les toilettes, je verse dans les bouchons, je vaporise des liquides bleus ou verts, je répands des poudres blanches, je frotte, et peu à peu, les odeurs familières du nettoyage emplissent l’appartement et je me sens un peu plus rassurée. Enfin quelque chose m’accompagne, enfin je ne suis pas seule. 458 Die Ukrainerin sieht nicht nur ihre eigenen, sondern auch die Dienstleistungen ihrer Schicksalsgefährtinnen, die z. B. als Köchinnen oder Kinderbetreuerinnen arbeiten, und stellt ein krasses Missverhältnis zwischen den von allen er‐ brachten Leistungen und den ihnen zugemuteten Wohnverhältnissen her: 4 Themenfeld III 358 459 Ebd., S. 151 f. 460 Zitate ebd., S. 84. 461 Vgl. ebd., S. 115. 462 Ebd., S. 85. C’est nous qui faisons vivre vos maisons. […] Vous nous confiez tout, l’entretien, vos enfants, vos repas, mais vous ne nous laissez pas habiter dans des endroits corrects. Nous n’avons pas le droit d’avoir une salle de bain alors que nous nettoyons les vôtres, nous entretenons vos toilettes mais chez nous, il faut aller sur le palier […] il faut allumer la lumière tout l’après-midi et s’allonger sur le lit quand on veut rester car il n’y a pas de place pour un fauteuil ou pour une chaise […] même les chambres d’hôpital sont plus grandes. 459 Die Frau aus der Ukraine bewohnt selbst „[…] une petite chambre sans fe‐ nêtre[…]“, einen kümmerlichen Raum, der sich „[…]tout en haut[…]“ befindet und nicht zum Verweilen einlädt: „Je dors là. Rester, on ne peut pas. La journée, je travaille ou je marche dans la rue.“ 460 Dies bedeutet, dass die „Migrantin“ bis‐ lang noch keine Bleibe gefunden, keinen von ihr innerlich akzeptierten Zielort erreicht hat, vielmehr eine „migration continue“ praktiziert. Übernommen hat sie die notdürftige Unterkunft von einer abgereisten Freundin. Sie verdankt sie somit der funktionierenden „[…] chaîne de solidarité […]“ der aufeinander fol‐ genden „[…] clandestins […]“ und „[…] réfugiés […]“ 461 und wünscht sich sehn‐ lichst „[u]n studio. Avec de la lumière… Et une vraie fenêtre“ 462 , nicht zuletzt jedoch auch die Nähe anderer Menschen. Die ambivalente Reaktion der Ich-Erzählerin auf die Not der Ukrainerin Die hier zitierten Zustandsbeschreibungen und Klagen können für die als Im‐ mobilienmaklerin arbeitende Erzählerin eigentlich keine Überraschung dar‐ stellen. Gleichwohl wird ihr plötzlich bewusst, dass angesichts der ungerechten Verteilung des vorhandenen Wohnraums geradezu revolutionäre Umwälzungen und Umverteilungen bevorstehen dürften: J’avais l’impression soudain qu’ils étaient les plus nombreux, que nous, dans nos appartements, protégés par des murs, des plafonds et des toits, nous n’étions plus qu’une minorité privilégiée - même si nous habitions un espace restreint, nous avions une adresse, un endroit où nous réfugier, un dernier retranchement. […] Oui, c’étaient eux les vrais habitants de notre époque, nous n’étions que les survivants d’une espèce en voie de disparition, cherchant à nous maintenir à la surface de la terre mais condamnés à quitter nos abris, nos objets, notre confort pour errer comme eux 4.4 „Conversations avec le maître“ 359 463 Ebd., S. 126f 464 Vgl. ebd., S. 100 f. 465 Ebd., S. 114. Zum Kontext s. ebd. 466 Ebd., S. 149. 467 Ebd., S. 97. 468 Ebd., S. 98. 469 Vgl. ebd., S. 99. dans les rues ou se réfugier sous des tentes provisoires tandis que nos intérieurs seraient envahis, occupés - dévastés. 463 Der Erzählerin ist bewusst, dass auch sie selbst als Mieterin einer Drei-Zimmer-Wohnung zur Schicht der Privilegierten zählt, für die der eigene oder gemietete Wohnraum einen Rückzugsort darstellt, der Schutz und Gebor‐ genheit bietet. Für kurze Zeit überlegt sie, ob sie die Ukrainerin vorübergehend bei sich aufnehmen will, zumal sie die Räume schon einmal für einige Monate mit einem Freund geteilt hat. 464 Mit einem schlechten Gewissen, aber auf ihren eigenen Komfort bedacht, verwirft sie diese (Zwischen-)lösung und ist nicht in der Lage, bei einem erneuten Treffen die Blicke der Bittstellerin auszuhalten. Am liebsten würde sie ihre Kontakte mit der Ukrainerin ganz beenden, da sie in deren Anwesenheit „[…] une accusation dirigée contre moi, contre la vie que je mène“ 465 erblickt. Die sich hier andeutende „Dramatisierung“ der Gespräche mit der Ukrainerin findet in einem anderen Zusammenhang eine Fortsetzung. Als die Erzählerin der Immigrantin erneut mitteilt, dass sie trotz aller Bemühungen keine Lösung ihres Wohnungsproblems anbieten könne und überdies heim‐ kehren müsse, gibt die Ukrainerin ihr zu bedenken: „Vous ne comprenez pas […] Je cherche un peu de chaleur, je ne veux rien vous prendre. Vous défendez votre vie comme un oiseau dont les griffes se serrent.“ 466 Eine berufliche Erfahrung ganz anderer Art ist für die Erzählerin mit einer Begegnung verbunden, bei der sie in ihrer beruflichen Eigenschaft als Immobi‐ lienmaklerin mit einer typischen Vertreterin der „Welt der Priviliegierten“ zu‐ sammentrifft. Der Zufall will es, dass die vornehme Dame das Büro exakt zu einem Zeitpunkt betritt, als die Ukrainerin erneut vor dem Schaufenster ste‐ henbleibt: „La cliente qui arrive un peu en avance est à l’opposé de la jeune femme dans la rue, une veste épaisse et une jupe de lainage, des bottes et des gants chauds - accessoires de l’aisance. Une vitre les sépare - un monde - et pourtant, elles marchent dans la même rue.“ 467 Die mit großer Herablassung auftretende Dame nimmt die Dienste der Agentur in Anspruch, da sie ein altes Haus - […]une propriété parmi d’autres […] - 468 unbedingt zu einem Preis veräußern will, den die Erzählerin-Maklerin für überhöht hält. 469 Das Gespräch mit der Kundin wird für die Maklerin zu einer besonderen Herausforderung, 4 Themenfeld III 360 470 Ebd., S. 97. 471 Ebd., S. 99. 472 Ebd. 473 Ebd. 474 Ebd. denn „[…] de l’autre côté de la vitre et de ma vie, la jeune femme attend. […] J’essaie d’écouter, de me concentrer […] de quel monde suis-je, plus proche de quelle vie? “ 470 Nachdem die Erzählerin „die junge Frau“ zunächst „auf der an‐ deren Seite ihres Lebens“ verortet hat, stellt sie ihre eigene Aussage noch in demselben Satz zumindest in Frage. Mit wem sie jedoch sympathisiert, vermit‐ telt sie durch die Beschreibung des überstürzten Weggangs der Dame, deren - vermutlich sehr teures - Parfüm eine von der Maklerin als so unangenehm wahrgenommene Wirkung hinterlässt, dass sie das Freie sucht: Elle s’est déjà levée, s’en va, dans sa précipitation, elle bouscule la jeune femme qui attend devant la vitrine […] J’ai besoin de prendre l’air après son passage - pas seulement parce qu’elle laisse la trace d’un parfum trop épais dans cette pièce où les odeurs, en principe, se dissipent rapidement. En me voyant, la jeune femme des fins de l’Ukraine me sourit. 471 Als sie vor ihrem Büro von der Ukrainerin gefragt wird, ob sie inzwischen eine für sie in Frage kommende Wohnung gefunden habe, flüchtet sie sich einmal mehr in ein „Pas encore, c’est difficile.“ 472 In diesem Moment wird ihr klar, dass sie die Erwartungen der Frau eigentlich als unerfüllbar bezeichnen müsste, sich dazu jedoch nicht durchzuringen vermag und sich damit gleichzeitig selbst ge‐ fährdet: „Si je suis son seul espoir, c’est qu’il existe quelqu’un de plus désespéré que moi. Je l’ai invitée au café et je n’aurais pas dû, je lui parle, je lui réponds et je ne devrais pas - elle m’attire comme le bord de l’abîme.“ 473 Mit dem der Ukrainerin vorenthaltenen Eingeständnis der Vergeblichkeit - Je devrais dire impossible mais je n’y arrive pas - 474 bzw. mit dem Bemühen, miteinander unvereinbare Positionen zu versöhnen, nähert sich die Erzählerin in gewisser Weise dem von ihr lange Zeit verehrten Maître an. Wie dieser für sich in Anspruch nahm, mit der Komposition eines Requiems die Krönung seines künstlerischen Schaffens anzustreben und Tradition und Moderne zusammen‐ zuführen, ohne dass er seine Schaffenskrise einzugestehen bereit war, bemüht sich die Maklerin darum, die Hoffnungen der Frau aus der Ukraine lebendig zu halten, ohne dabei die Gebote der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit zu respek‐ tieren. Die Affinität zwischen dem Maître und seiner geduldigen Zuhörerin wird durch ein ortsbezogenes und ein topologisches Detail signalisiert. Für ihre Ge‐ 4.4 „Conversations avec le maître“ 361 475 Vgl. ebd., S. 82 f. und S. 147. 476 Ebd., S. 87. 477 Ebd., S 153. 478 Ebd., S. 174. 479 Vgl. B 4.4, S. 331 f. 480 Ebd., S. 21. spräche mit der Immigrantin wählt die Maklerin gelegentlich jenes Café aus, in dem sie den Maître kennen gelernt hat, und sie nimmt dort seinen Platz ein. 475 Dass die Grenzen zwischen den „Welten“ der Erzählerin und der Ukrainerin trotz aller Annäherungen unüberwindbar bleiben, wird bereits in der Mitte des Erzähltextes durch ein topologisches Signal angekündigt. Als die Maklerin und die Frau aus der Ukraine das Café verlassen, wählt die Maklerin bewusst die genau entgegengesetzte Richtung und ist besorgt, von der aus der Fremde stammenden Bittstellerin verfolgt bzw. behelligt zu werden: „Dans la rue je lui demandai de quel côté elle allait pour prendre la direction inverse et marchai d’un pas rapide, me retournant parfois avec le sentiment d’être suivie mais il n’y avait que des gens pressés de rentrer après leur journée de travail.“ 476 Gegen Ende der Erzählung schließlich teilt die Erzählerin mit, dass die Ukrainerin in dem „monde parallèle“, in den sie ihre Leserschaft eingeführt hat, den Platz des Maître eingenommen hat: „La voix du maître est recouverte d’autres voix, se dissipe dans l’oubli […] La jeune femme des confins de l’Ukraine, moins jeune qu’il n’y paraît, est venue prendre sa place.“ 477 4.4.3 Perspektivierende Zusammenfassung Abschließend ist zu klären, ob und ggf. in welchem Maße die handelnden Fi‐ guren dem von der Autorin in der Postface fomulierten Postulat gerecht werden, sich einen für sie neuen Raum - un espace - 478 mit einer Sicherheit anzueignen, die eine Rückkehr zu ihrem Ausgangspunkt ausschließt 479 . Die von den drei Protagonisten am Ende ihrer Suchbewegungen im wörtlichen oder übertra‐ genen Sinn erreichten „Räume“ können dann definiert werden. - Bei der Be‐ antwortung der Frage ist ein Rückgriff auf die bekannten von Lotman entwi‐ ckelten Unterscheidungskriterien hilfreich. Eine Auswertung der detaillierten Analyse führt zu einem folgendermaßen zu differenzierenden Bild: Der Maître behauptet, sich „in“ und „außerhalb“ der Zeit zu bewegen. Aus der Perspektive der Erzählerin gibt es „ihn“ und „die Welt“, „ihn“ und „die An‐ deren“, für die er „[…] sur les monts de la solitude […]“ 480 unerreichbar ist. Äu‐ ßerlich wird seine „condescendance“ durch seine im fünften Stock befindliche Wohnung, von der er auf Paris und die Menschen „herabschaut“, sinnfällig zum 4 Themenfeld III 362 481 Ebd., S. 25. Ausdruck gebracht. Entscheidend ist jedoch, dass die Erzählerin in seiner Nähe den Unterschied zwischen dem „[…] monde d’en-bas […]“ und „[…] un autre monde, là-haut, où règne l’horizon […]“ 481 als eine Differenz zwischen verschie‐ denen Daseinsformen bzw. Semiosphären erlebt. Der Maître vertritt eine Kunst- und Lebensauffassung, die ihn nach einem idealen Ziel, nach einem Überstieg raum-zeitlicher Begrenztheiten streben lässt. Diese Bemühung konkretisiert sich für ihn im Bereich der Musik durch die - vorgebliche - Arbeit an einem Requiem als einer sich durch besondere Vollkommenheit auszeichnenden Mu‐ sikform. So lebt der Maître mit der Anmaßung, sich von dem „monde d’en bas“ durch eine topologisch und semantisch definierte Grenze zu distanzieren. Den auf eine fünfzehnjährige Schaffenskrise folgenden Suizid des Maître kann man als die Offenbarung des tragisch-verzweifelten Scheiterns eines Le‐ bensentwurfs interpretieren oder aber als die bewusst ertragene, radikal-irre‐ versible Konsequenz aus der Einsicht, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um ein zum Ideal überhöhtes künstlerisches Ziel zu erreichen. Sofern man eher der letztgenannten Deutung zuneigt und unterstellt, dass alternativ-kompen‐ satorische Lebensplanungen für den Maître nicht in Frage kommen, da er sich einem von ihm zwar nicht erfüllten, aber idealen Anspruch verpflichtet fühlte, mag man - jenseits aller ethischen Einsprüche - seine Entscheidung zum Suizid sehr wohl als die Überschreitung einer klassifikatorischen Grenze, der Grenze zwischen Leben und Tod, definieren. Die autodiegetische Erzählerin ist als Immobilienmaklerin eine typische Ver‐ treterin der Interessen des „monde d’en bas“, die sich jedoch angesichts der glo‐ balen Katastrophen, deren Opfer im wahrsten Sinne des Wortes bis vor die Tür ihrer Agentur gelangen, ein feines Gespür für die Zweiteilung der Welt in Be‐ sitzende und Besitzlose bewahrt hat. Durch die „conversations avec le maître“ wird sie sich der Begrenztheit ihrer eigenen Wahrnehmung zunehmend bewusst und entwickelt dabei eine wachsende Sensibilität für die Not anderer Menschen, insbesondere die einer nach angemessenem Wohnraum suchenden Ukrainerin. Die Fensterscheibe des Immobilienbüros markiert symbolisch die Grenze zwi‐ schen den unterschiedlichen Lebenswelten der beiden Frauen. Als die Erzählerin überlegt, die illegal in Paris lebende Immigrantin aus der Ukraine temporär in ihre Wohnung aufzunehmen, erkennt sie selber eine Chance, die nicht zuletzt durch bürokratische Hemmnisse errichteten „frontières rigides“ zwischen ihrer eigenen und der Parallelwelt der Ukrainerin zu überwinden. Da sie sich zu einer solchen Entscheidung jedoch nicht durchzuringen vermag, da sie den Verzicht auf Privatsphäre und Komfort für unzumutbar hält, hat sie sich nicht von einer 4.4 „Conversations avec le maître“ 363 482 Ebd., S. 164. 483 Ebd. 484 Bzgl. des Bildes der „veilleurs de nuit, gardiens de phare“ in den Romanen Cécile Wajs‐ brots vgl. B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131; B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589 und B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.1, S. 414, Anm. 720, 722 und B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846. 485 Böhm / Zimmermann 2010, S. 17. 486 Wajsbrot / Cendors, L’appel du large 2008, S. 3. „mitfühlenden Beobachterin“ zu einer „aktiven Helferin“ einer ausgegrenzten, notleidenden Immigrantin weiterentwickelt. Ihr in Ansätzen erkennbarer Ver‐ such einer Grenzüberschreitung, der Suche nach einer die gesellschaftlichen Gegensätze versöhnenden Lebensform, ist in dieser Hinsicht ebenso gescheitert wie die Absicht des Maître, ein Requiem zu komponieren. Gleichwohl kommt der Erzählerin ein großes Verdienst zu. Als sie eines Nachts bei einem Blick auf die ihrer Wohnung gegenüber liegenden Häuser nur in einem einzigen Zimmer ein Licht erkennt, wird ihr bewusst, dass sie zu jenen gehört, die als „[v]eilleurs de nuit, gardiens de phare, équipe médicale […]“ 482 nicht nur „Hüter des Lichts“ sondern „[…] le signe d’une vie, le témoin d’un chagrin, d’un être, d’une pensée“ 483 sind. In diesem Moment wird ihr klar, dass sie - in Erfüllung des Wunsches der „dritten Person“ - in der aus anderen Ro‐ manen Cécile Wajsbrots bekannten Wächterfunktion 484 „[…] das unvollendete kompositorische Projekt des ‚Maestros‘ auf einer anderen Ebene und mit an‐ deren Mitteln der Kunst fortsetzt und vollendet“ 485 . Diente sie dem Maître zu‐ nächst als ein ihn zum Sprechen bringendes und ihm zuhörendes Medium, so sorgt sie mit der Niederschrift der mit ihm geführten Gespräche für die Ver‐ mittlung und dauerhafte Bewahrung seiner Gedanken. So wird sie von dem Maître und der dritten Person in gewisser Weise zu einer „Maklerin geistigen Eigentums“ gemacht, die dessen Vorzüge und Mängel klar benennt. Im fiktionalen Rahmen des Romans ist der Schritt von einer Immobilienmak‐ lerin zu einer Erzählerin sehr wohl als Ausweis der „Beweglichkeit“ und damit als eine besondere Form einer - semantisch markierten - Grenzüberschreitung, eine Suche nach einem mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit herbeiführenden Leben und damit als Aufbruch zu neuen Ufern zu betrachten. - Cécile Wajsbrot beschreibt die Rolle der Erzählerin - im Hinblick auf ihre Beziehung zu dem Maître - mit folgenden Worten: „La narratrice est peut-être „sauvée“ en raison de sa sincérité, d’une sorte d’innocence que, certes, elle perd dans cette ren‐ contre, mais qui fait place […] à un éveil. Est-ce le maître et cette relation sin‐ gulière, est-ce l’art - ils sont sans doute intimement mêlés.“ 486 Als eine bewegliche Figur im klassischen Sinne der (frühen) Lotman’schen Raumsemantik ist die „aus dem Grenzland der Ukraine“ stammende, illegal in 4 Themenfeld III 364 487 Vgl. Wajsbrot 2007, S. 160 f. 488 Cécile Wajsbrot, L’Île aux musées, Paris, Éditions Denoël, 2008a, (Wajsbrot 2008a). 489 Ebd., S. 21. 490 Le Tour du lac (2004) und Fugue (2006) bleiben aufgrund ihrer der Romanform nur ein‐ geschränkt entsprechenden inhaltlichen und formalen Struktur bei dieser Zählung un‐ berücksichtigt. 491 Bzgl. der Reihe Haute Mer vgl. B 4.4, S. 331f. 492 Klettke 2014, S. 197. Paris lebende Immigrantin zu betrachten. Die Grenze zwischen ihrem Her‐ kunftsland und Paris zeichnet sich durch topographische, topologische und se‐ mantische Merkmale aus. Da die Ukrainerin trotz der sie herabwürdigenden, diskriminierenden Behandlung, die in dem unberechtigten Vorwurf eines ihrer Arbeitgeber, Geld gestohlen zu haben, 487 gipfelt, Paris nicht verlässt, beweist sie ein Höchstmaß an „Beweglichkeit“. Ihre Beherrschung des Französischen, ihr Wunsch, die Nähe von Menschen zu spüren sowie die sich daraus erklärenden schüchternen Versuche, Kontakt mit der Erzählerin-Maklerin aufzunehmen, sind ein Beleg für ihre Bemühung um Integration in die französische Gesell‐ schaft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle drei Figuren aufgrund der von ihnen im Verlauf der Diegese vollzogenen „Such-Bewegungen“ der von der Au‐ torin für die Romanreihe Haute Mer aufgestellten Forderung entsprechen, nicht „au port“, d. h. zum Ausgangspunkt ihrer Entwicklung zurückzukehren. Die Analyse hat gezeigt, dass die Erzählerin sich bei der Schilderung der Entwick‐ lungsprozesse der Figuren einer stark räumlich geprägten Bildersprache be‐ dient, um die Beweggründe ihres Handelns, ihre Hoffnungen und ihre emotio‐ nale Befindlichkeit einprägsam darzustellen. 4.5 L’Île aux musées 488 - Die vier Protagonisten als Zeugen einer „[…] fusion […] entre deux mondes, l’art et la vie’“ 489 L’Île aux musées, der zwölfte 490 Roman von Cécile Wajsbrot, ist der zweite der in der Reihe Haute Mer 491 bisher erschienenen Texte. Er ist auf die Bildende Kunst bezogen und gestattet, wie Cornelia Klettke hervorhebt, bzgl. seines Genres un‐ terschiedliche Klassifizierungen, insofern er sich als „[…]roman urbain […], roman de voyage, contribution à la littérature de la Shoah ou encore roman d’amour“ lesen lasse. Ihrer Meinung nach ist er in erster Linie als „[…] un roman d’artiste où l’art joue le rôle de dot ou d’antidote“ 492 zu betrachten. 4.5 „L’Île aux musées“ 365 493 Der Vergleich mit einem chassé-croisé ist entnommen aus Ette 2009, S. 269. 494 Ette weist auf die stadtzentrale Lage der Museumsinsel in Berlin und der Île de la Cité in Paris hin (vgl. Ette 2009, S. 268 f.). Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob die Île de la Cité in Cécile Wajsbrots Roman L’Île aux musées eine der Museumsinsel ver‐ gleichbare Funktion hätte. 495 Ette 2009, S. 262. - Knappe Andeutungen auf die Geschichte der Museumsinsel finden sich bei Wajsbrot 2008a, S. 11 f. L’Île aux musées erzählt, vordergründig betrachtet, die Geschichte von vier Personen, die Abstand von ihren jeweiligen Partnerinnen und Partnern suchen und eine Neuorientierung ihres Lebens anstreben. Cécile Wajsbrot hat dafür einen komplizierten fiktionalen Kosmos entworfen, insofern in dem Roman zwei parallele Welten präsentiert und konsequent miteinander verschränkt werden: Auf der einen Seite erkennen wir die reale Welt mit der als „chassé-croisé“ 493 konstruierten Oster-Wochenendbeziehung zwischen einem Maler und einer Buchhalterin, die beide in Paris leben und sich dort zufällig kennen lernen, nachdem ihre Partner, eine Sozialarbeiterin und ein Kunstlehrer, nach Berlin geflogen sind und dort aufeinandertreffen. Auf der anderen Seite tritt uns die Welt der Bildenden Kunst gegenüber, die durch Statuen, Installati‐ onen und Gemälde repräsentiert und durch die Personifizierung der Statuen zum Sprechen befähigt wird. Die „Stimmen“ der Statuen geben zu erkennen, dass sie sich kontinuierlich auf der Suche nach einer zeitgemäßen Definition ihres Selbstverständnisses und ihrer Funktionen befinden. Die monologische und dialogische Rede der vier Protagonisten einerseits sowie die erzählenden und erklärenden Stimmen der Statuen andererseits bringen die Diegese zur Entfaltung, während die Funktion der Erzählstimme darauf reduziert ist, zu Beginn eines jeden der zwölf Kapitel ein Kunstwerk vor‐ zustellen, dessen Titel bzw. Name als Kapitelüberschrift dient. In diesen hin‐ führenden Betrachtungen mischen sich entstehungsgeschichtliche und auf die Künstler und die Standorte der Werke bezogene Informationen mit philosophi‐ schen, kunst- und zeitgeschichtlichen Reflexionen, die in ihrer konzentrierten Verdichtung ein vertieftes Verständnis beider Erzählebenen ermöglichen. Die Konzentration der in Berlin angesiedelten Handlung auf die „île aux mu‐ sées“, die Museumsinsel, korrespondiert mit einer Fokussierung der sich in Paris abspielenden Handlung auf die Jardins des Tuileries. 494 Für Ottmar Ette stellt die Museumsinsel eine „Insel der Inseln“ dar, insofern sie sich, historisch gesehen, seit Beginn des 15. Jahrhunderts „[…] aus der Inselwelt des in Entstehung be‐ griffenen Berliner Stadtgebietes herausgebildet [hat]“ 495 , um sich dann vom Be‐ ginn des 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Bau fünf be‐ 4 Themenfeld III 366 496 In der Reihenfolge der Erbauung sind zu nennen das Alte Museum (1824-1828), das Neue Museum (1843-1855), die (Alte) Nationalgalerie (1867-1876), das Kaiser-Friedrich bzw. Bodemuseum (1897-1904) und das Pergamonmuseum (1910-1930). 497 Wajsbrot 2008a, S. 20 f. 498 Ette 2009, S. 264. 499 Klettke 2014, S. 198 f. 500 Ebd., S. 202. 501 Ebd., S. 200. Bzgl. des Verweises auf Derrida vgl. ebd. Anm. 7. deutender Museen 496 zu einer europäischen Kulturstätte ersten Ranges zu entwickeln. So ist die Museumsinsel als Ganzes aus einer sumpfigen Flussland‐ schaft im historischen Zentrum von Berlin zu einer Parallelwelt geworden, die in L’Île aux musées durch die Stimmen der Statuen in einen z. T. surreal wir‐ kenden Raum verwandelt wird. Recht bald nach seiner Ankunft in Berlin spürt der aus Paris angereiste Kunstlehrer das Mit- und Nebeneinander zweier Sphären, nachdem er das Alte Museum verlassen hat und in den Alltag zurück‐ kehrt: Il y a un silence, un temps de latence nécessaire pour absorber ce qu’on vient d’entendre ou de lire et commencer à en sortir, revenir peu à peu vers la vie quotidienne, un moment de suspens où on n’est plus tout à fait dans l’œuvre et pas encore dans la réalité, un instant de fusion rare entre deux mondes, l’art et la vie. 497 In seinem Aufbau folgt der Text zwar grosso modo dem chronologischen Ablauf des Osterwochenendes, das die zwei durch Zufall entstandenen Paare in Berlin bzw. Paris verbringen. Innerhalb des durch Beginn und Ende markierten Rah‐ mens dieser linear voranschreitenden Vordergrundhandlung zeichnet sich in der konsequenten Verschränkung zweier paralleler Welten eine „[…] offene, viellogische Strukturierung“ ab, die […] in der Form einer fraktalen Insel der Inseln Geschichte(n) schlechthin [bündelt]. Es sind Geschichten vom Aufstieg und Verfall großer Reiche, Geschichte von Kunst und Künstlern, die sich der Verherrlichung der Macht wie deren Hinterfragung ver‐ schrieben; es sind Geschichten der Liebe und ihrer Spiegelungen, die im Anderen das Eigene auszugraben suchen, weil das Andere im Eigenen noch nicht gefunden ist. 498 Auch Cornelia Klettke hebt die fraktale Strukturierung des Textes hervor, 499 um in einem weiteren Schritt unter Bezugnahme auf die bereits im Titel ausge‐ drückte ‚Insel‘-Vorstellung den Roman insgesamt als „un rhizome d’hétéroto‐ pies“ 500 zu charakterisieren, indem sie den zahlreiche Parallelwelten schaffenden „mouvement génératif (Derrida)“ 501 , der dem Text innewohnt, systematisch und streng textbezogen analysiert: 4.5 „L’Île aux musées“ 367 502 Ebd., S. 202 f. 503 Ebd., S. 203. 504 Wajsbrot 2008a, S. 85. Le texte engendre une structure d’archipel consistant en des redoublements et multiplications, superpositions et enchevêtrements. Lui-même renvoie à cet enchevêtrement d’hétérotopies. Comme le disent les sculptures de l’Île aux musées: „Sur notre île vous [les hommes] avez construit d’autres îles car les musées sont des sortes de cloîtres dans lesquels vous enfermez l’histoire du temps.“ 502 Nachdem sie die Archipel-Metapher auch auf den mit der Museumsinsel kor‐ respondierenden parallelen Schauplatz der Jardins des Tuileries ausgeweitet hat, gelangt Cornelia Klettke zu folgender Schlussfolgerung: La stratégie textuelle engendre à travers la notion d’île des mondes parallèles d’une qualité singulière - ce qui peut être poussé jusqu’à la plus petite unité d’un objet exposé, qu’il s’agissse d’une peinture ou d’une sculpture. 503 Die hier definierte generative Kraft der Leitidee ’Insel’ lässt sich konkret-an‐ schaulich auch mit dem „Inklusionsprinzip“ der aus Holz gefertigten russischen Matryoschkapuppen vergleichen. Der auf das lateinische „matrona“ zurückge‐ hende, also mit ‚Fruchtbarkeit‘ zu konnotierende Begriff „Matryoschka“ ist für das beliebte Spielzeug treffend gewählt, da man mit einer hochgezogenen Puppe jeweils eine kleinere Puppe aus dem Verborgenen ans Tageslicht befördert, bis man bei dem winzigsten und letzten Püppchen angelangt ist. Für die Museums‐ insel bedeutet dies, wie C. Klettke darlegt, dass die Vorstellung insularer Abge‐ schlossenheit und Autonomie auch auf jedes einzelne der fünf Museen und da‐ rüber hinaus auf jedes der in ihnen ausgestellten Objekte, und seien sie noch so unscheinbar, zu beziehen ist. Selbstverständlich gilt diese Charakterisierung auch für die in und außerhalb der Museen befindlichen Statuen und Installati‐ onen, die selbstbewusst von sich sagen: „Nous sommes des îles aussi […].“ 504 Da den Kunstwerken daher eine den Raum beeinflussende, oft auch bestimmende Bedeutung zukommt, ist es folgerichtig, dass jene Objekte, die einen besonders starken Einfluss auf die handelnden Figuren ausüben, im Rahmen dieser Ana‐ lyse näher betrachet werden. Angesichts der skizzierten inhaltlichen und strukturellen Besonderheiten des Romans stellt sich die Frage, ob und ggf. in welcher Weise die bisher geführte, durch Lotmans Raumsemantik gelenkte Auseinandersetzung mit den Wechsel‐ wirkungen zwischen Raum und Bewegung und den handelnden Figuren für die Analyse der Suchbewegungen der Protagonisten und der die Welt der Kunst repräsentierenden Statuen in L’Île aux musées erkenntnisfördernd wirkt. In 4 Themenfeld III 368 505 Vgl. B 4.4, S. 332, Anm. 317. 506 Ette 2009, S. 262. 507 Vgl. Wajsbrot 2008a, S. 17-25. diesem Zusammenhang ist auch zu klären, wie Cécile Wajsbrot ihrem in der Postface zu Conversations avec le maître formulierten Anspruch gerecht wird, dass der metaphorische Reihentitel Haute Mer zwar keine inhaltliche Festlegung impliziere, wohl aber die „Versuchung ausschließe, zu einem Ausgangpunkt zu‐ rückzukehren“. 505 Da am Ende des Erzähltextes die ursprünglichen Paarkons‐ tellationen wiederhergestellt werden, scheint es zumindest fraglich, ob in der „realen Welt“ der Diegese durch die zufällige Bekanntschaft der von Paris nach Berlin gereisten Personen und das ebenso zufällige Zusammentreffen ihrer in Paris verbliebenen Partner „Bewegung“ im Sinne der Überschreitung „klassifi‐ katorischer Grenzen“ stattgefunden hat. Die folgende Untersuchung wird die o. g. Fragen in einem ersten Schritt aus der Perspektive der „realen“, in einem zweiten aus dem Blickwinkel der Paral‐ lelwelt der Kunst aufgreifen und zu beantworten suchen, ohne dabei die Be‐ rührungen zwischen den beiden Sphären zu vernachlässigen. Dies bedeutet konkret, dass die Funktion der Nymphéas von Monet und der Toteninsel von Böcklin als „générateurs de mouvement“ im ersten, die Rolle der Statuen (vor‐ nehmlich) im zweiten Abschnitt der Analyse untersucht wird. Die an Foucault und Lestringant orientierten Ausführungen Cornelia Klettkes zu den Heteroto‐ pien in L’Île aux musées sowie die Erklärungen Ottmar Ettes zur „[…] multi- und interarchipelischen Struktur […]“ 506 der Museumsinsel bieten wertvolle Hin‐ weise für eine Bewegungs- und Raumanalyse, deren Validität durch die Integ‐ ration unterschiedlicher Betrachtungsweisen gesichert werden soll. Im Verlauf der Untersuchung gilt besonderes Augenmerk stets auch der Frage, in welcher Weise Raum- und Bewegungsbilder funktionalisiert werden. 4.5.1 „Suchbewegungen“ in der „realen Welt“ der vier Protagonisten Der Kunstlehrer in der die Grenzen von Raum und Zeit überschreitenden Welt der Kunst Der erste Schauplatz der in der „realen Welt“ angesiedelten Handlung ist das Alte Museum, in dem der Kunstlehrer und die Sozialarbeiterin in innneren Mo‐ nologen eingehend über die Gründe für ihre Exkursion nach Berlin und damit über ihre seelische Verfassung reflektieren. 507 Der Kunstlehrer, der in Paris vergeblich auf einen Anruf und eine positive Reaktion der von ihm umworbenen Frau, einer Buchhalterin, gewartet hat, fühlt 4.5 „L’Île aux musées“ 369 508 Zitate ebd., S. 17. 509 Ebd., S. 18. 510 Ebd. 511 Ebd. 512 Ebd. 513 Ebd. 514 Ebd., S. 19. sich seit langem in seinem Innern und in seinem Kontakt mit der Außenwelt vereinsamt und isoliert - J’étais seul, je suis seul depuis longtemps dedans, de‐ hors […] - und begreift sein Leben als „[…] une tentative d’approche perpé‐ tuelle […]“ 508 . Da seine Bemühungen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, jedoch stets zum Scheitern verurteilt sind, analysiert er seine Lage fatalistisch mit den Worten „[…] je n’embrasse que la fuite, l’ombre […]“. 509 Dass er dieses Oster‐ wochenende in Berlin verbringt, ist dem Zufall der „[…] réservations de dernière minute […]“ 510 geschuldet. Es kommt seiner seelischen Verfassung entgegen, dass er sich in der Alten Abteilung des Alten Museums allein in einem Saal be‐ findet, während sich die Masse der Touristen zunächst in jene Räume begibt, die den „[…] périodes spectaculaires […]“ 511 wie z. B. der ägyptischen Kunst mit der Büste der Nofretete vorbehalten sind. Wenn er in seiner depressiven Stimmung im vollen Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit seinen durch die Nofre‐ tetebüste evozierten Gedanken die knappe Aussage „C’est vrai […]“ voranstellt, so bringt er damit - freiwillig oder unfreiwillig - eine Mischung aus Bewunde‐ rung und einer Spur neidvollen Staunens angesichts einer Plastik zum Ausdruck, deren differenzierte Ausstrahlung durch noch so große räumliche und zeitliche Distanzen keinen Schaden genommen hat: „[…] elle a le visage fin et des traits à la fois émouvants et hautains, et elle vient de si loin, dans l’espace et le temps, mais elle paraît intacte, préservée par les rafales des âges“ 512 . Die Ambivalenz seiner Gefühle angesichts der ihn umgebenden Kunstwerke der Antike tritt noch deutlicher hervor, als er sich die Frage stellt, ob er selbst inzwischen dazu ver‐ urteilt ist, zu einer leblos-unbeweglichen, versteinerten Statue zu werden: „Suis-je voué à l’immobilité et à l’attente - aux pétrifications? “ 513 Bei seinem energischen Versuch, seine Erstarrung - l’immobilisme - zu überwinden „[…] pour tenter le mouvement […]“ 514 , sieht er sich jedoch gezwungen, anzuhalten und zu warten. Als sein Blick von einem „[…] marbre clair et fin, presque blanc, qui ressemble à l’ivoire“ gefangengenommen wird, glaubt er, mit einem Wunder konfrontiert zu sein: Je m’arrête devant le mystère de ces traits dessinés, à peine esquissés, qui ne permettent de voir aucun visage en particulier mais l’essence du visage, l’énigme de l’être, de la vie et des gens, ce qu’ils pensent, ce qu’ils peuvent ressentir - même si ces 4 Themenfeld III 370 515 Ebd. 516 Ebd. 517 Ebd. 518 Cornelia Klettke 2014, S. 214 f., sieht in der „femme pétrifiée“ eine „ […] réminiscence de la femme au cœur pétrifié de la poésie de troubadours […]“ (Zitat S. 215). 519 Wajsbrot 2008a, S. 19. 520 Ebd. 521 Vgl. ebd., S. 165 f. sculptures semblent ne rien exprimer, comme ceux et celles dont on dirait que rien ne pourra les toucher. L’emprise, me disais-je. 515 Erst nachdem der Kunstlehrer die Figur betrachtet hat, nimmt er wahr, dass es sich um „[…] une idole comme d’autres dans cette salle, une idole qui accom‐ pagne les morts dans leur tombeau et se couche avec eux“ 516 , also um eine als Grabbeilage dienende Darstellung eines verehrten, götzenähnlichen Wesens handelt. Er fühlt sich von der Plastik geradezu in den Bann gezogen, obwohl sie ausdruckslos zu sein scheint. Diese Widersprüchlichkeit liegt darin begründet, dass die Gesichtszüge nicht einer bestimmten Person nachempfunden sind, son‐ dern wiedergeben, was das Eigentliche, das Essentielle eines menschlichen Ge‐ sichts und das Geheimnisvolle des Seins und des menschlichen Lebens, die Idee vom Menschen schlechthin, ausmacht. Bei einem erneuten Blick auf die kleine weiße Marmorstatue drängt sich ihm plötzlich die Frage auf: „Et celle qui n’ap‐ pelle pas, malgré ce qu’elle a dit, n’est-t-elle qu’une pierre ayant l’apparence de la vie? “ 517 Die als geheimnisvolles Zeugnis des Lebens verstandene Marmor‐ skulptur wird in Opposition zu der in Paris zurückgebliebenen Partnerin ge‐ rückt, deren anhaltendes Schweigen ihn fragen lässt, ob sie nur scheinbar lebt, in Wirklichkeit jedoch bereits versteinert ist. 518 Die „immobilité“ des weißen Marmors ist für den Kunstlehrer nicht nur „[…] celle d’une statue, elle est celle du temps, des formes primordiales qui traversent les âges“. 519 Der Marmor ist von einer solchen Feinheit, dass er „transparent“ zu sein und „le secret du si‐ lence“ 520 zu bergen scheint, jenes Schweigens, von dem sich der Protagonist verfolgt fühlt. Die Merkmale der „Immobilität“ und des durch den Stein ausge‐ drückten „transparenten Schweigens“ sind Kennzeichen jener archaischen Kunst der Kykladen, deren Aussagekraft und Wirkung auf den Betrachter, wie das Beispiel des Kunstlehrers zeigt, auch nach Jahrtausenden ungeschmälert ist, also nicht einer zeitlichen Begrenzung unterliegt. Für den nach Berlin gereisten Kunstlehrer ist das Leben in Paris angesichts seiner ihn mit gelegentlichen Telefonaten hinhaltenden, unentschiedenen Part‐ nerin „[…] une corde suspendue entre deux appels sur laquelle j’essayais de marcher sans tomber“ 521 geworden. In der Berliner Museumslandschaft hin‐ 4.5 „L’Île aux musées“ 371 522 Ebd., S. 41. 523 Ebd. 524 Vgl. ebd., S. 115-119. 525 Andere Interpreten stellen Verbindungen zwischen der Toteninsel und dem Castello Aragonese auf Ischia an. Vgl. Klettke 2014, S. 208. 526 Vgl. ebd. 527 Zu den folgenden Ausführungen vgl. ebd., S. 208-211. gegen fühlt er sich der Zeit enthoben, und er bewegt sich in dem ex-territorialen, staatliche Grenzen überschreitenden Raum der Kunst: „Ici, on n’a aucune idée du temps, on est sans territoire. On pourrait aussi bien être au Louvre.“ 522 Die Betrachtung von Kunst eröffne die Möglichkeit, aus sich selbst, aus dem engen Rahmen des eigenen Lebens herauszutreten. Große Wertschätzung bringt er der Bildhauerei entgegen, bieten die Statuen doch die Möglichkeit, sie nicht nur zu betrachten, sondern auch um sie herumzugehen. Er sieht darin „[…] l’accom‐ plissement de la forme et de la matière, le seul art qui rivalise avec la vie […]“ 523 . Von allen auf der Museumsinsel ausgestellten Kunstwerken übt jedoch Ar‐ nold Böcklins im Jahre 1883 entstandenes, in der Alten Nationalgalerie aufge‐ hängtes Gemälde Die Toteninsel die größte Faszination auf den Kunstlehrer aus. 524 Er ist zutiefst berührt von dem durch das Bild vermittelten Eindruck der Einsamkeit und Verlassenheit des Ortes, der, wie er beiläufig mitteilt, von den Museumsführern am Ende ihres Vortrags mit der ehemaligen britischen Straf‐ kolonie Port Arthur im Südosten Tasmaniens verglichen werde. 525 Dieser Hin‐ weis und die von dem Bild ausgehende Stimmung einer heraufziehenden Nacht, auf die kein Tag mehr zu folgen scheint, evozieren in ihm Assoziationen mit Hinrichtungen und der Einsamkeit der zum Tode Verurteilten. Das in der Alten Nationalgalerie befindliche Bild Die Toteninsel ist die dritte von insgesamt fünf von Böcklin stammenden Versionen. Cornelia Klettke weist darauf hin, dass Hitler ebendiese in seiner Neuen Reichskanzlei aufgehängt habe und die Erinnerung an die Provenienz des Gemäldes eine „[…] atmosphère cau‐ chemardesque […]“ entstehen lasse, die durch die Magie des hermetischen Bildes noch verstärkt werde und die Toteninsel in eine „Oppression“ verwandle. 526 Angesichts des heterotopischen Charakters der Museumsinsel insgesamt kommt der Toteninsel eine besondere Bedeutung zu, insofern sich in dem Bild die Bedeutung der Heterotopie wie in einem Brennglas konzentriert. C. Klettke hat verschiedene in sich stimmige Interpretationen erarbeitet, die in eine kühne Schlussfolgerung einmünden. 527 Aufgrund der Verbindung der Toteninsel mit Port Arthur als tatsächlichem oder vermeintlichem Vorbild in der realen Welt hält Klettke die Heterotopie des Gefängnisses für gegeben, zumal sie durch die Idee eines „[…] espace d’exclusion 4 Themenfeld III 372 528 Ebd., S. 209. 529 Zum Kontext vgl. ebd., S. 209 f. 530 Vgl. ebd., S. 210 f. 531 Wajsbrot 2008a, S. 106. 532 Ebd., S. 199. et d’expulsion […]“ 528 , eines nicht nur von der Stadt, sondern auch von der Heimat der Verurteilten getrennten Ortes, noch unterstrichen werde. Da sie nicht ausschließt, dass es sich bei der hinter einem Sarg stehenden fantomähn‐ lichen weißen Figur um einen Toten handelt, und da auf dem Sarg eine Urne zu erkennen sei, könne man annehmen, dass Böcklin sich von der seit den 1870er Jahren in Mode gekommenen Einäscherungspraxis habe inspirieren lassen. Die in den Felsen auf der linken und rechten Seite eingelassenen Höhlen schließlich erlaubten eine Interpretation als Grabkammer. So werde aufgrund des Bildin‐ halts die Heterotopie der Insel und des Gefängnisses durch die Heterotopie des Friedhofs ergänzt. Durch die auf diese Weise zustande gekommene „chaîne sig‐ nifiante“ (Lacan) provoziere die Autorin eine Anspielung auf Auschwitz, ohne die Verbindung zwischen der Toteninsel und den Konzentrationslagern offen auszusprechen. 529 Mag man die hier skizzierte abschließende Deutung auch für gewagt und keineswegs zwingend halten, so dürften andere Erklärungen unmittelbar ein‐ leuchten. So evozieren die Heterotopien der „Insel“ und des „Bootes“ eindeutig die Vorstellung eines ‚lieu de passage’, die für das Verständnis des Romans von zentraler Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang plausibel ist auch die meta‐ physische Vorstellung des Übergangs vom Tod zum ewigen Leben, zumal wenn man, wie Klettke, den Text vor der Folie des auf einem felsigen, aus dem Meer herausragenden Purgatorio der Divina Commedia Dantes betrachtet. 530 Der Kunstlehrer begeistert sich nicht nur für einzelne herausragende Kunst‐ werke, sondern für die Stadt als Ganzes, die dazu einlade, sich mit der Vergan‐ genheit auseinanderzusetzen: „Tout porte à la mémoire, ici, à regarder en arrière, le passé…“ 531 Die noch erkennbaren Kugeleinschläge in den frisch renovierten Häuserwänden seien „[…] le dernier signe de la guerre […] les cicatrices du temps“ 532 . So fühlt er sich bei der Begegnung mit Berlin, mit dem äußeren Er‐ scheinungsbild der Stadt und mit der in ihr „aufgehobenen“ Kunst, nicht nur von dem Ort, sondern von „Europa“ angesprochen und bedauert zugleich, wie schwer dies fünfzehnjährigen Schülern zu vermitteln ist: Ainsi cette ville a souffert et fait souffrir, et ne le cache pas. C’est l’Europe qui nous parle, celle des temps passés, d’avant la fosse énorme qui a creusé le siècle et dont nous nous remettons à peine, dans mes cours, j’essaie de leur faire comprendre à quel 4.5 „L’Île aux musées“ 373 533 Ebd. 534 Ebd., S. 227. 535 Ebd., S. 20. 536 Ebd. point l’art reflète le monde, j’essaie de montrer que les peintres, les sculpteurs ne sont pas imperméables à ce qui les entoure, mais ils ont du mal à le croire, à quinze ans, car pour eux, les artistes sont des monstres préhistoriques, des espèces disparues. 533 Dass der Kunstlehrer Berlin beglückt verlässt, erfahren wir von der „neutralen“ Stimme einer Statue, die ihn beobachtet, als er, kurz nachdem er wider Erwarten doch noch einen versöhnlichen Anruf seiner Partnerin erhalten hat, Abschied von der Museumsinsel nimmt, als ob es sich um seine Geliebte handelte: Il s’est levé de son banc et il marche, le téléphone dans la poche intérieure de sa veste, le téléphone contre son cœur, il se retourne et jette un dernier regard à l’île aux musées, comme pour embrasser d’un coup ce qui s’est passé sur cette île, le flux et le reflux de sa vie, comme pour embrasser l’île […] 534 Zwischen Auflehnung und Bewunderung - die Reaktionen der Sozialarbeiterin auf die Museumsinsel und die Stadt Berlin Völlig konträr zu den hochgestimmten Äußerungen des Kunstlehrers über die Berliner Museumsinsel sind die Reaktionen der Sozialarbeiterin auf ihren Besuch im Alten Museum, mit dem sie ihr Besichtigungsprogramm beginnt: Je suis fatiguée de cette course perpétuelle, je suis venue éprouver ma liberté - et tout me ramène à lui. Comme si partir ne pouvait aider à s’éloigner. J’ai traversé les salles des Cyclades puis l’art grec et l’âge hellénistique, la période romaine […] j’avais l’impression de ne voir que des tombes profanées, des vies exhibées sans pudeur […] et des corps mutilés soudain immobilisés […] Un immense cimetière profané. 535 Bereits in dem einleitenden Satz ihres ersten inneren Monologs bringt die Pro‐ tagonistin den Grund für ihre Enttäuschung auf den Punkt. Sie ist nach Berlin gereist, um Abstand von ihrem Partner in Paris zu gewinnen, dessen Malerei mit einer Vorliebe für versehrte Körper sie hasst. Bei ihrem Gang durch die Säle mit antiker Kunst sieht sie sich jedoch mit nichts anderem als eben dieser The‐ matik konfrontiert und gelangt für sich zu der Schlussfolgerung: „[…] j’ai compris que c’était la présence des corps qui me gênait - me menaçait - parce qu’ils ressemblent à ceux qu’il peignait.“ 536 Für die Sozialarbeiterin bedeutet der Anblick der Exponate jedoch keineswegs (nur) ein ästhetisches, sondern ein zutiefst ethisches Problem. Nachdem sie zunächst eine „[…] sensation d’oppres‐ 4 Themenfeld III 374 537 Ebd. 538 Ebd., S. 22. 539 Ebd. 540 Ebd. 541 Ebd., S. 36. 542 Ebd., S. 35. 543 Ebd., S. 36. sion de plus en plus forte […]“ 537 beklagt hat, bewertet sie die Beobachtung der „corps mutilés“ als Indiz menschlicher Grausamkeit und damit als ein anthro‐ pologisches Grundproblem. Dies bringt sie durch eine exemplarische Nennung von Kriegsschauplätzen zum Ausdruck, wobei sie von den Krisenherden der Gegenwart - […] l’Irak, le Darfour, le Rwanda, la Côte-d’Ivoire, l’Afgha‐ nistan […] - ausgeht, um über Beispiele der „[…] empires anciens, l’Assyrie, Rome, les Perses, et ces villes-États, Sparte ou Troie […]“ bis zu „[…] ces lieux mythiques à l’origine de notre monde […] Babylone, Thèbes […]“ 538 zu gelangen. Die aus alten Zeiten stammenden Ausstellungsstücke wirken, so die Beobach‐ terin, „[…] faussement paisibles parce que dépolis par le temps et fixés dans la pierre […]“ 539 . Der Schein einer durch die zeitliche Distanz und die künstlerische Abstraktion bewirkten Minderung der Grausamkeit vermag sie jedoch nicht zu täuschen. Sie gelangt für sich zu einem entschiedenen Urteil: „Je ne regarde plus, ne veux plus regarder. C’est la guerre perpétuelle, en eux, en nous - entre nous.“ 540 An dieser Einschätzung hält sie auch fest, nachdem sie den Kunstlehrer kennengelernt hat und mit ihm das Pergamonmuseum besichtigt. Während er die skulptural dargestellten dramatischen Kampfszenen aus der antiken Göt‐ terwelt „[…] avec indifférence […]“ betrachtet und sie metaphorisch als „[…] une danse de la vie et de la mort, un mouvement gigantesque dans lequel nous sommes entraînés“ 541 versteht, stellt sie, fest davon überzeugt, dass „[…] le cau‐ chemar recommence […]“ 542 , kategorisch fest: „[…] mais j’ai beau essayer, je ne vois rien de l’histoire ordonnée que racontent les mots, je ne distingue ni Zeus ni Dionysos ni Poséidon, je ne vois pas la mer ni le soleil ni la lune - seulement le chaos.“ 543 Die bereits in diesen Worten klar zum Ausdruck kommende Verwirrung der Sozialarbeiterin steigert sich noch, als sie in Begleitung des Kunstlehrers die babylonische Abteilung betritt und die Sinnhaftigkeit ihres Tuns radikal in Frage stellt: […] j’ai eu peur de retrouver ce que je voulais fuir, mais quelle idée de fuir l’art en visitant les musées, pour découvrir une ville il y a d’autres moyens, se promener dans les rues, regarder les maisons, aller dans les parcs, les cafés, s’asseoir, regarder les passants - et je me suis précipitée dans cette île aux musées parce que j’avais envie 4.5 „L’Île aux musées“ 375 544 Ebd., S. 38. 545 Ette 2009, S. 261. 546 Vgl. dazu ebd. 547 Wajsbrot 2008a, S. 21. 548 Zitate ebd., S. 107. 549 Vgl. dazu ebd., S. 39 und 44-45. Zum Aspekt des Nacherlebens der babylonischen Ge‐ fangenschaft des Volkes Israel durch die Sozialarbeiterin vgl. Klettke 2014, S. 212. d’être sur une île mais c’est une île urbaine qui n’a rien d’insulaire, reliée par des ponts où circulent des voitures […] 544 Es ist zutreffend, dass „[d]ie Berliner Museumsinsel […] als Insel der Kunst, ohne eine künstliche Insel zu sein, bereits seit mehr als zweihundert Jahren eine Insel nur noch im übertragenen Sinne [ist]“ 545 . Ihre „Insularität“ kann jedoch aufgrund der diesen Ort beherrschenden und sich ebendort vielfältig präsentierenden Kunst nicht bestritten werden. 546 Dass die Sozialarbeiterin darüber in Konfusion gerät und die Zweckbestimmung in dem Begriff „île aux musées“ bewusst oder unbewusst ausgeblendet hat, ist psychologisch leicht erklärbar, wenn man ihre Einstellung zu dieser Insel als Spiegelung ihres Verhältnisses zu dem in Paris zurückgebliebenen Maler betrachtet. Sie hat sich von der Insel herbeilocken lassen, so wie sie in Paris den Einladungen des Malers gefolgt ist und am Ende der Diegese erneut folgen wird. Da sie sich durch die auf der Insel zunächst betrachteten Kunstwerke jedoch zu stark an die bislang von ihrem Malerfreund bei seinem künstlerischen Schaffen bevorzugte Thematik erinnert fühlte - Tous ces corps mutilés. Retrouver sa présence dès le premier jour - 547 , befindet sie sich auch in ihrem Zufluchtsort Berlin auf der Flucht. Mit welcher Konsequenz die Protagonistin die sie belastenden Erinnerungen an ihre Beziehung zu dem Pariser Künstler auf die Berliner Museenlandschaft projiziert, wird auch in einem anderen Kontext deutlich. Für sie werden Museen zu „[…] ces espaces artificiels, ces collections, ces amas […]“, und die Exponate als Zeugnisse und Spuren der Vergangenheit wirken auf sie wie eine bedrü‐ ckende Last: „Les traces laissées par le passé, et qui s’amassent au-dessus de nous et nous enterrent, nous oppressent.“ 548 Besonders stark empfindet sie dies erstmals im Pergamonmuseum bei dem sie erschreckenden Anblick der auf dem Ischtartor und auf dem Fries der Prozessionsstraße dargestellten Szenen, die sie in panikartige Angst versetzen und verzweifelt nach einem Ausgang aus dem labyrinthartigen Museum suchen lassen. 549 In ähnlicher Weise stellt sich ihr Leben mit dem Maler in Paris im Rückblick als eine Zeit der Abhängigkeit und Unfreiheit dar: „[…] à Paris je suis trop sta‐ tique, comme prisonnière de ses désirs, toujours là pour le rassurer […] le ras‐ surer en permanence sur son art, sa valeur. Je verse ma confiance dans un gouffre 4 Themenfeld III 376 550 Alle Zitate des Abschnitts Wajsbrot 2008a, S. 108. 551 Ebd., S. 119. 552 Zitate ebd. 553 Zitate ebd. 554 Zitate ebd. 555 Ebd., S. 120. sans fond et il en redemande, et je verse de nouveau et il ne me reste rien.“ Und sogar seine Abwendung von den „corps mutilés“ und die damit einhergehende Hinwendung zu einer neuen Malweise, die vom Thema „Antarktis“ und der Farbe „Weiß“ beherrscht sein soll, nimmt sie wahr als „[…] une obsession qui ne laisse de place à rien d’autre ni à personne“ 550 . Vor dem Hintergrund dieser Erinnerungen und Vergleiche ist es nachvoll‐ ziehbar, dass die Protagonistin einen Gang durch die Stadt der Besichtigung von Böcklins Toteninsel in Begleitung des Kunstlehrers vorzieht. Seine anschlie‐ ßende Frage, was sie gesehen habe, beantwortet sie mit einer Aneinanderrei‐ hung von Eindrücken: „Des gens, des terrasses de café, des tramways, des bou‐ tiques, des églises, des jardins…“. 551 Auf seinen Einwand „Comme à Paris“ reagiert sie mit einer überraschenden Erklärung: „Mais je ne connais aucun nom de rue, aucun visage, la langue m’est inconnue, tout est à découvrir et en même temps, je ne suis pas exclue, en marchant, je participe, je suis ici et maintenant et non dans un monde à part.“ 552 Obwohl sie eine Landes- und Sprachgrenze überschritten hat, im Sinne Lotmans in eine andere Semiosphäre eingetreten ist, bewahrt sie das „[…] être ici et maintenant […]“, die Inklusion in eine sich be‐ wegende Menschenmenge in einer der Pariser Stadtlandschaft und Konsumwelt vergleichbaren Umgebung vor dem Abdriften in einen „[…] monde à part“, den sie nicht, wie ihr Gesprächspartner vermutet, auf „das Museum“ beschränkt, sondern umfassender definiert als „[l’]art. Un monde parallèle au nôtre, sans point de rencontre“ 553 . Als der Kunstlehrer einwendet, dass auch Künstler „[…] des êtres vivants qui vivent la même vie que nous“ seien, widerspricht sie, indem sie ihnen eher eine Ähnlichkeit mit der fantomähnlichen Form auf dem Boot der Toteninsel attestiert: „Des spectres blancs, des zombies - depuis la rive où vous êtes, vous leur tendez la main mais ils s’éloignent toujours.“ 554 Dass dies eine Übertreibung sei, lässt sie kaum gelten: Peut-être. Mais vous m’avez vous-même décrit l’effet de ce tableau. Les œuvres se nourrissent de la substance de leur auteur, de celle de leur entourage. Les gens que je cherche à aider, dans mon travail, ne sont pas plus déshérités, simplement, ils ne peuvent pas transformer leur déshérence en autre chose. 555 4.5 „L’Île aux musées“ 377 556 Vgl. ebd., S. 116: Mais c’est le mort, sans doute, qui se dirige vers le tombeau […] 557 Ebd., S. 120. 558 Ebd., S. 197. 559 Ebd. 560 Ebd. 561 Ebd., S. 198. Während der Kunstlehrer Künstler als „des êtres vivants“ betrachtet, werden sie von der Protagonistin mit der schemenhaften weißen Gestalt auf der Toteninsel in Verbindung gebracht, in der wohl nicht nur der Kunstlehrer eine Darstellung des Todes erkennt. 556 Die Abstrusität der Auffassung der Sozialarbeiterin lässt sich nur durch ihre biographisch bedingte tiefe Abneigung gegen einen Künstler erklären, der ihr mit seiner ausschließlichen Darstellung von „corps mutilés“ die wahnhafte Vorstellung vermittelt hat, dass „Kunst“ sich in der Darstellung des „Todes“ erschöpfe. Nicht anders ist der Redewechsel, der ihr Gespräch mit dem Kunstlehrer vorerst beendet, zu verstehen: - Qu’avez-vous contre les artistes? Vous en connaissez? - Un peu. - Ils vous ont fait souffrir? - Celui auquel je cherche à échapper est un peintre - c’est mon île des morts. 557 Bei einer Fortsetzung des Gesprächs zu einem späteren Zeitpunkt bedient sich die Protagonistin einer bekannten Raummetapher, um ihre tief verwurzelte Skepsis gegenüber der Kunst zu artikulieren. Ihrem Gesprächspartner, der bei eigenen Malversuchen zwei bis drei Jahre lang spürte „[…] que l’histoire de l’art me surveillait, qu’à chaque pas, chaque tentative, quelqu’un venait me mur‐ murer […]“ 558 und auf diese Weise begriff, dass er nur „kopierte“ und „imitierte“, hält sie entgegen: „Vous croyez que l’art est une porte de salut […] mais c’est l’inverse. Une fuite devant la vie.“ 559 Nach ihrer aktuellen Beziehung zu dem Pariser Maler befragt, stellt sie klar, dass er sie gelegentlich besuche oder aber herbeirufe, wenn er „[…] le face-à-face solitaire avec son art“ 560 aus lauter Angst nicht mehr ertrage. Seit einem Jahr male er nicht mehr und suche, auch aufgrund ihres Einflusses auf ihn, nach einem neuen Thema. Ihr Vertrauen in ihn und ihre Bereitschaft, ihn zu unterstützen, halten sich jedoch in Grenzen: „Je n’y crois plus […] je suis fatiguée de le soutenir.“ 561 Die Neigung, vor der Kunst zu fliehen, ereilt die Sozialarbeiterin erneut bei einem abschließenden Besuch im Bodemuseum. Die sie verwirrende Anordnung der Räume weckt wiederum ihre Ängste und ihre Bereitschaft zur Flucht. Die Unübersichtlichkeit des Ortes wirkt auf sie wie ein Abbild ihres Lebens: „Nos pas résonnent, j’ai presque peur, j’ai envie de courir, de fuir comme dans l’autre 4 Themenfeld III 378 562 Ebd., S. 201 563 Ebd., S. 205. 564 Ebd. 565 Ebd., S. 205 f. musée. Où suis-je venue me fourvoyer? Est-ce l’image de ma vie - des impasses, des détours perpétuels? Suis-je condamnée à aller là où je ne dois pas être? “ 562 Gleichwohl entdeckt die Protagonistin noch ein Kunstwerk, dessen Anblick sie, wie sie dem Kunstlehrer mitteilt, stark bewegt: J’ai été frappée d’une expression […] l’une des femmes d’un groupe sculptural, une déposition du Christ, on dirait, qu’elle va crier, elle a les yeux équarquillés, la bouche ouverte - on a l’impression de l’entendre […] Je n’aurais pas cru qu’il pouvait exister une telle expressivité dans des œuvres médiévales. 563 Die Protagonistin nutzt einen kurzen Aufenthalt in einem bezeichnenderweise als „[…]lieu de passage[…]“ 564 ausgewiesenen und somit einen Übergang mar‐ kierenden Café des Bodemuseums, um ihre unerwartete Begeisterung über eine die Kreuzabnahme Christi darstellende Skulpturengruppe noch wesentlich de‐ taillierter zum Ausdruck zu bringen: Sur le moment, nous allions en silence, enfermés dans notre vie mais la force des sculptures nous a saisis, est venue s’imprimer en nous. Leur présence muette nous condamnait au silence, nous imposait leur loi parce que nous étions dans leur royaume tandis que loin d’elles, nous pouvons nous défaire de cet étrange sentiment. J’aurais voulu m’attarder, je me sentais captée par cette femme qui pleure ou qui crie, je la sentais proche de moi, une femme du Moyen Âge dans une scène religieuse alors que je ne pratique pas de religion, proche de moi … 565 Ganz offensichtlich haben die Skulpturen mit der Kraft und Würde ihres Aus‐ drucks die in ihrem eigenen Selbst eingeschlossenen Betrachter in ihrem Inner‐ sten ergriffen. Die um den abgenommenen Leichnam Christi gruppierten Fi‐ guren gebieten mit ihrer „présence muette“ allen Umstehenden zu schweigen und jene Gesetze zu beachten, die in der von königlichem Glanz erfüllten Ge‐ genwart der Statuen gelten. Was dies konkret bedeutet, erfährt die religionsferne Protagonistin, als sie die unmittelbare Nähe einer im Mittelalter lebenden Frau spürt, die in einem „religiösen Kontext“, hier als Zeugin der Kreuzabnahme Christi, Tränen vergießt. Der Kunstmaler auf dem Weg zu einem Neuanfang Kurz bevor sich der Maler am zweiten Schauplatz der „realen Handlung“, den Jardins des Tuileries, zum ersten Mal in einem inneren Monolog über seine Le‐ 4.5 „L’Île aux musées“ 379 566 Ebd., S. 58. 567 Ebd. 568 Ebd., S. 59. 569 Ebd. 570 Ebd. 571 Ebd. benslage äußert, erklärt eine Stimme der Statuen den besonderen Charakter dieses Ortes und seinen Einfluss auf die Besucher: „Les jardins sont des enclaves de durée au cœur des villes, des lieux de halte, de passage mais le passage se fait aussi en vous, et lorsque vous sortez, que ce soit du côté du Louvre ou de la Concorde, vous êtes différents.“ 566 Bereits die erste Einlassung des Malers lässt erkennen, dass ihm sein Vorsatz, sich aus alten Lebensumständen und Gewohn‐ heiten zu befreien, viel abverlangt : „J’ai bien fait d’entrer dans ce jardin, je ne voulais pas passer la journée enfermé dans mon atelier mais pour s’arracher à la pesanteur des lieux et des habitudes, il faut de l’énergie et du courage.“ 567 Seine Absicht, sich auf den Weg zu Veränderungen in seinem Leben zu ma‐ chen, wird symbolträchtig dadurch unterstrichen, dass er die Strecke von seinem Atelier im Norden bis zur Orangerie im Zentrum zu Fuß zurückgelegt hat und das Eintauchen in den Strom der Touristen schätzt, da es ihm „[…] l’impression de voyager“ 568 verschafft. Er lässt sich dann auf einer Bank „[…] devant ce petit jardin dans le jardin, une sorte de potager orné de sculptures aux couleurs et aux formes inhabituelles, ce grand champignon blanc qui fait penser à Alice aux pays des merveilles […]“ 569 nieder, mithin an einem Ort, der zur inneren Samm‐ lung einlädt. In diesem märchenhaften Ambiente steigt in ihm die Erinnerung an jene Episode aus dem Wunderland auf, in der die ständig ihre Körpergröße verändernde Alice einem weißen Kaninchen in seinen unterirdischen Bau folgt und so ins Wunderland gelangt. Die Farbe „weiß“ weckt in der Umgebung des Parks eine Serie weiterer Assoziationen: „[…] - je cherche ce qui est blanc et les allées des Tuileries sont blanches de poussière, et les bassins sont blancs, les statues, et au fond, les deux galeries, d’un côté l’Orangerie et l’autre le Jeu de Paume.“ 570 Die Vorstellung, dass die große Achse vom Arc de Triomphe zur Grande Arche in hundert Jahren noch einmal verlängert und um einen weiteren Bogen ergänzt werden könnte, inspiriert ihn zu folgender Überlegung: „[…] - construire est la seule façon de marquer le temps. C’est pourquoi je préfère les jardins aux édifices, c’est pourquoi je cherche le blanc - pour effacer le temps.“ 571 Der Maler hat damit seinen Wunsch, sich von seiner bisherigen Mal‐ richtung abzuwenden und einen Neuanfang, der in diesem Kontext durch die Farbe „weiß“ versinnbildlicht wird, zu wagen, angesprochen. Dass er jedoch gleichzeitig unter einer „inneren Blockade“ leidet, die ihm die Umkehr er‐ 4 Themenfeld III 380 572 Ebd. 573 Ebd., S. 60. 574 Ebd., S. 63. 575 Ebd. 576 Ebd. 577 Vgl. ebd., S. 96. 578 Ebd. 579 Ebd., S. 127. schwert, führt er auf den „ennui“ des langen Osterwochenendes zurück, an dem „[…] tout est fermé, où tout le monde part“ 572 . Von seiner nach Berlin abgereisten Partnerin allein gelassen und unfähig, dem über die Medien „urbi et orbi“ ver‐ mittelten Segen des Papstes Glauben zu schenken, rechnet er sich zu jenen, die sich „[…] en dehors du monde“ 573 wähnen. Der Künstler erinnnert sich auch daran, dass die Besucher bei einer Ausstel‐ lung seiner Bilder offensichtlich staunend nach einem „[…] sens au-delà du sens“ 574 in seinen Werken forschten und sich in Kommentaren über Chaos, De-konstruktion, Post-Abstraktion und Post-Expressionismus ergingen, ohne dass er selber wusste, ob er sich einer der genannten Richtungen zugehörig fühlte. Allein die Verkaufserfolge seiner Werke vermittelten ihm die (vermeint‐ liche) Sicherheit, einen Platz „[…] dans ce monde et dans l’histoire de la pein‐ ture“ 575 gefunden zu haben. Stark verunsichert wurde er gleichzeitig durch die klare Stellungnahme seiner späteren, nach Berlin gereisten Partnerin, die zwar nicht den Anspruch erhob, etwas von Malerei zu verstehen, über seine Bilder und ihn persönlich jedoch sagte: „[…] je trouve ça affreux. […] Affreux pour le peintre de ne pouvoir faire que ça […].“ 576 Der Maler im Bann der Nymphéas von Monet Nachdem der Maler und die Buchhalterin sich zufällig begegnet sind, schlägt er ihr vor, sich gemeinsam die Nymphéas von Monet in der Orangerie anzu‐ sehen. 577 Da sie die bislang betrachteten Portrait-Bilder - […] ces séries de re‐ gards […] - als ein „[…] univers mortifère“ 578 empfunden hat, stimmt sie gerne zu. Die Betrachtung des unter einer Rotunde der Orangerie befindlichen mo‐ mumentalen Werkes von Monet, das sich auf acht sich ergänzenden Tafeln über fast einhundert Meter ausdehnt und das ganze Oval des Raumes einnimmt, bleibt für beide nicht folgenlos. Der Maler begeistert sich für die „[…] quatre moments, quatre saisons dont la lumière même, la fusion des couleurs est l’objet, qui ne vise rien d’autre que l’insaisissable, l’irrisation de l’eau.“ 579 Vor dem Hintergrund seiner eigenen Pläne, die Malerei des 21. Jahrhunderts durch die Suche nach dem richtigen „Weiß“ zu erneuern, gelangt er für sich selbst zu der Schlussfolgerung: 4.5 „L’Île aux musées“ 381 580 Ebd., S. 127 f. 581 Ebd., S. 130. 582 Vgl. ebd. 583 Ebd., S. 131. 584 Ebd. Voilà ce qu’il faut faire, la démesure et non le morcellement, chercher l’unité pour délaisser les problèmes quotidiens et les dépasser par des défis dont la résolution, même incertaine, apportera la satisfaction d’avoir fait quelque chose qui n’existe pas encore. Mais peut-on faire quelque chose qui n’existe pas encore? 580 Ganz offensichtlich ist dem Künstler bewusst geworden, dass er sich von der Auseinandersetzung mit alltäglichen Problemen, die, wie man hinzufügen möchte, bereits vielfältig aufgegriffen und verarbeitet werden, lösen und sich Herausforderungen stellen muss, deren Bewältigung etwas Neues hervorbringt und Originalität beanspruchen kann, so schwierig dies auch sein mag. Was ihn dabei mit Monet verbindet und ihn zugleich von ihm unterscheidet, formuliert er folgendermaßen: „Tout fondre, comme Monet l’a voulu mais au lieu de le faire pour inspirer la paix, le faire pour évoquer l’effroi - la peur de ce qui nous attend, le pas encore.“ 581 Die inhaltlichen Ziele haben sich geändert, insofern die War‐ nung vor drohendem (ökologischem) Unheil an die Stelle der Ermutigung zum Frieden rückt. (Monet schenkte der französichen Nation Les Nymphéas am Tag nach dem Waffenstillstand, dem 18. Dezember 1918. 582 ) Übereinstimmung be‐ steht jedoch im Formalen, in dem Wunsch, „alles zu verschmelzen“. Was das „tout fondre“ für Monet konkret bedeutet hat, präzisiert der Maler kurze Zeit später: „Mais il a mis vingt ans pour créer huit panneaux, pour atteindre cette perfection […] vingt ans où à force d’éliminer les bords, le ciel, les rives de l’étang, le cadre, il finit par arriver au cœur de ce qu’il veut faire ressentir - au cœur, tout simplement.“ 583 Die Perfektion besteht folglich in einer Entgrenzung des Bildes in seinen Details und seiner Gesamtwirkung, einer Entgrenzung, die ausschließlich durch die Arbeit mit der Farbe bewirkt wird: […] - car c’est elle [la couleur] qui dessine des paysages, des îles, des grottes, des sortes de récifs. En ne laissant du ciel que son reflet, en oubliant tout de la terre, en ne cherchant que l’eau et ce qui l’habite, le mouvement et les heures du jour, les pointes des fleurs et les larges feuilles, le peintre nous ouvre le monde. 584 Die Technik des „tout fondre“ bewirkt also nicht, wie man vermuten möchte, Konfusion, sondern Konzentration auf den wesentlichen Bildinhalt, mithin die mannigfache Spiegelung des Himmels und der Bäume im Wasser, die Spitzen der Blüten und die breiten Blätter der Seerosen an der Wasseroberfläche, aber 4 Themenfeld III 382 585 Ebd., S. 142. 586 Ebd., S. 143 587 Ebd., S. 220. auch die diesen ganzen Lebensraum erfassende Bewegung und das dem Gang der Sonne folgende Voranschreiten der Zeit. Die zyklische Struktur des Bild‐ werks verlangt eine sich an ihr orientierende, vom Sonnenaufgang zum Son‐ nenuntergang gelenkte Betrachtung, die nicht nur die natürliche Schönheit einer zur Meditation einladenden Seenlandschaft, sondern ihr Eingebundensein in das Ganze des Kosmos erschließt. Der künstlerische Wandlungsprozess des Malers und seine Mission als Mahner und Aufklärer Sein eigenes künstlerisches Konzept, in dem die Farbe „Weiß“ eine zentrale Rolle spielt, konkretisiert der Maler im weiteren Verlauf seines Gesprächs mit der Buchhalterin: Je devrais peindre des foules, la noirceur des foules et je veux peindre le blanc - une façon de s’opposer, de dire je ne suis pas d’accord? Le blanc des liquidateurs de Tchernobyl, leur protection insuffisante contre un danger invisible omniprésent. Le silence. La menace qui plane et qu’on ne voit pas. 585 Mit dem Beispiel der „contamination radioactive“ einer potentiell omniprä‐ senten, für den Menschen nicht sichtbaren und trotzdem und gerade deswegen in höchstem Maße bedrohlichen Gefährdung lässt der Maler die Bedeutung ver‐ ständlich werden, die er mit dem „Weiß“ verbindet. Beim Anblick der verhee‐ renden Folgen einer nuklearen Katastrophe entwickelt er die Vision einer Rück‐ kehr zu den Ursprüngen der Schöpfung, die er mit dem Bild eines paradiesischen Gartens assoziiert, wohl wissend, wie illusionär eine solche Vorstellung ist: […] c’est un retour aux origines de la terre, aux origines de l’homme, le jardin, un paradis de la végétation, mais le danger de la tentation et la mort assurée, la mort pour des siècles, des millénaires - le blanc contient la menace - et le danger. Peindre l’invisible du danger … 586 Die Maxime seines ethisch-moralischen Verhaltens ist der Anspruch und die Forderung an sich selbst, mit seiner Malerei auf die Gefahren, denen die in einer „[…] transformation perpétuelle“ 587 befindliche Erde ausgesetzt ist, mahnend hinzuweisen: […] nous croyons qu’en connaissant les événements du monde, nous savons quelque chose mais que savons-nous du mouvement profond de la vie et des transformations 4.5 „L’Île aux musées“ 383 588 Ebd. 589 Zum Bild des „veilleur“ bzw. des „gardien de phare“ vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131 und B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.1, S. 414, Anm. 720, 722 und B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846. 590 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden,Wiesbaden, 1972, Band 15, S. 356: „Radioaktivität“. (Brockhaus) 591 Vgl. Wajsbrot 2008a, S. 89 und 93. de la terre, de la fin qui nous guette? Je veux peindre ce pressentiment, le représenter en blanc par des images symboliques. 588 Durch seine Bilder, kleine Inseln der Kunst, will er, ohne dies explizit zu for‐ mulieren, zu einem Mahner, zu einem „veilleur“ der Zivilisation werden und damit eine Funktion übernehmen, die in mehreren Romanen des Themen‐ feldes III angelegt ist 589 und in jedem Fall mit einer künstlerischen Tätigkeit oder zumindest der Begegnung mit Kunst in Verbindung gebracht wird. Kunst im‐ pliziert dabei stets die Hoffnung auf Grenzüberschreitungen, auf die Verände‐ rung und Überwindung bestehender Zustände, auf eine das Leben der Menschen positiv beeinflussende Wirkung. Mit seiner Entscheidung, die Farbe „Weiß“ als symbolisches Signal für eine (tödliche) Bedrohung einzusetzen, nimmt der Maler eine radikale Neubewer‐ tung der mit „Weiß“ im abendländischen Kulturkreis assoziierten Bedeutungen vor. „Weiß“ wird in der Tradition des Okzidents mit positiven Werten wie „Rein‐ heit“, „Unschuld“, gelegentlich auch „Unendlichkeit“ in Verbindung gebracht, nicht jedoch mit einer latenten Gefahr. Die Gefährdung ist jedoch nachvoll‐ ziehbar, insofern die Eigenschaft des ‚Unsichtbaren, Nicht-Greifbaren‘ durch die physikalische Beschaffenheit widergespiegelt wird, durch die sich „Weiß“ aus‐ zeichnet: Es ist keine Spektralfarbe, sondern wird durch ein mixtum compositum verschiedener Farben, also einen Umwandlungsprozess, gebildet. In analoger Weise entsteht auch Radioaktivität durch einen Umwandlungsprozess, insofern sich Atomkerne aufgrund ihrer Instabilität „[…] durch Ausschleudern eines Teils ihrer Masse und Energie in stabile Kerne [umwandeln]“ 590 . Die Buchhalterin unter dem Einfluss der Nymphéas Für die Buchhalterin bedeutet der Besuch in den Jardins des Tuileries eine neue Erfahrung, da sie - trotz ihrer Bekanntschaft mit dem Kunstlehrer - den Besuch von Ausstellungen bislang gemieden hat. 591 Die unerwartete Perspektive, die Ausstellung in der Orangerie mit einem Unbekannten zu besuchen, scheint ihr, zumal angesichts der von ihrem Partner erwarteten Antwort auf sein Werben, beträchtliches Unbehagen zu bereiten: „Pour visiter une exposition avec quel‐ 4 Themenfeld III 384 592 Ebd., S. 94. 593 Vgl. ebd., S. 96. 594 Ebd., S. 129. 595 Ebd., S. 131. qu’un, il faut un minimum d’attente et de complicité. Avec un inconnu, on ne peut que cheminer côte à côte - l’art est une expérience intime, j’aurai au moins appris cela. Et je n’aime pas l’intimité.“ 592 Die - von dem Maler angeregte 593 - gemeinsame Betrachtung der Nymphéas von Monet wird (auch) für die Buchhalterin zu einem Schlüsselerlebnis. Als sie, vor dem Bild stehend, ihren konzentriert das Werk betrachtenden Begleiter be‐ obachtet, überlegt sie, woran er gerade denken mag, aber auch, was sie selbst sähe und empfände, käme sie am nächsten Tag noch einmal an diesen Ort zu‐ rück. Die Flüchtigkeit der Gedanken mache es schwer, von einem anderen ge‐ kannt zu werden: „Il y a tant de pensées qui passent et qu’il faudrait pouvoir exprimer pour que quelqu’un, un jour, nous connaisse mais à peine ont-elles émergé qu’elles sombrent de nouveau - nous sommes un lieu de passage.“ 594 Mit dem Begriff „lieu de passage“ spielt die Protagonistin nicht nur auf eine allge‐ mein-menschliche, sondern insbesondere auf ihre eigene Wechselhaftigkeit und die Unstetigkeit ihrer Sichtweisen und Empfindungen an. Diese räumliche Ver‐ dinglichung einer menschlichen Eigenschaft ist ein eindeutiges proleptisches Signal für eine bevorstehende Zäsur in ihrem bisherigen Verhalten, nämlich der bewusst vollzogenen Hinwendung zu dem Maler. Verstärkt wird es kurze Zeit später durch einen inneren Monolog, in dem sie erwägt, den Maler um Erklä‐ rungen des Bildes zu bitten, von dessen Sogwirkung sie sich auf fatale Weise angezogen fühlt: Si je le rejoignais, il pourrait m’expliquer, donner un sens à ce que j’éprouve même s’il dit qu’il n’y a rien à comprendre. Si je regarde trop longtemps, j’ai le sentiment que je vais me noyer dans le tableau, ces murs arrondis m’encerclent, se referment sur moi, je ne vois plus les portes qui me permettraient de partir… 595 Nachdem sie die hier angedeutete Angst, von dem Kunstwerk gleichsam gefan‐ gengenommen zu werden, überwunden hat, gibt sie sich ihm, seiner flie‐ ßend-transparenten Bewegung und Helligkeit, mit einer mühe- und schwerelos anmutenden Begeisterung und Selbstvergessenheit und einem wachsenden Ver‐ trauen in ihren Begleiter hin: Il a raison, il n’y a pas de danger, je glisse dans cet univers bleu […] la matière n’existe plus, une immense mare liquide sans fin dans laquelle on flotte délicieusement, sans effort - il a raison c’est sans danger, sans malveillance. Il regarde le feuillage qui tombe 4.5 „L’Île aux musées“ 385 596 Ebd., S. 133. 597 Ebd. 598 Ebd., S. 134. 599 Ebd., S. 152. 600 Ebd., S. 178. et je reste dans des îles de lumière, je navigue, je me perds sans risque - déposant le poids des années de résistance, de durcissement. 596 Sie dankt dem Maler für seinen Vorschlag, ihn zur Orangerie zu begleiten, und gesteht: „Je me sens … un peu différente. J’ai l’impression de mieux comprendre.“ Auf seine Frage „La peinture? “ erwidert sie: „La vie.“ 597 - In welchem Maße sie sich verändert hat, erfahren wir aus einem sich kurze Zeit später entwickelnden inneren Monolog. Sie beginnt zu zweifeln, ob sie dem Drängen des sie umwer‐ benden Kunstlehrers nachgeben soll oder ob nicht eher der Maler ein geeigneter Partner sein könnte. Ihr bisheriges, „asymmetrisches“ Verhältnis und die Vor‐ ahnung einer neuen Beziehung verbinden sich in ihren Gedanken zu einer Bil‐ derfolge, die durch Kampf- und Bewegungsmetaphorik dramatisiert wird: […] un jour, un homme s’est obstiné, a voulu s’emparer de moi avant que je puisse fuir et je l’ai laissé approcher, de guerre lasse, mais je me suis arrêtée au milieu du gué - c’était trop tôt, top vite. Il m’attend. Peut-il me conduire de l’autre côté, n’y a-t-il pas quelqu’un pour chaque étape? Ce peintre par exemple … 598 Als die Annäherung zwischen dem Maler und der Buchhalterin in ein intensi‐ veres Stadium eintritt, verrät die Sprache der Frau, in welchem Maße die Be‐ trachtung der Nymphéas sie erotisiert und ihre Zuneigung zu dem Künstler ver‐ stärkt hat. In der unmittelbaren Erwartung einer intimen Begegnung vermag die Protagonistin in ihren Gedanken die Nähe der Nymphéas und seine Gegen‐ wart nicht mehr voneinander zu unterscheiden: Il y a la conversation des mots et la conversation des corps - s’il avance plus loin, aurai-je le courage de résister? Le silence est un lac où nous glissons, où nous nous enfonçons délicieusement, la rive s’éloigne comme le bord du tableau - les Nymphéas, ce bleu profond qui paraît plein de secrets qui se prolongent … ce n’est pas lui, ce sont les Nymphéas … 599 Die intime Nähe zu dem Maler verschafft der Buchhalterin „[…] l’impression d’exister - de prendre forme“ 600 . Umso enttäuschter ist sie nach der unvermit‐ telten Beendigung der Liebesnacht durch den Künstler, der die Rückkehr seiner 4 Themenfeld III 386 601 Vgl. ebd., S. 183 f. 602 Ebd., S. 184. 603 Ebd., S. 178. 604 Ebd., S. 182. 605 Ebd., S. 183. Partnerin erwartet. 601 Sie fühlt sich von ihm „[…] comme une passade, un ca‐ price […]“ 602 behandelt. Die Instrumentalisierung der Buchhalterin durch den Künstler bei der Überwindung seiner Schaffenskrise - Ende einer Beziehung Auf den Wandlungsprozess des Malers übt die Zufallsbekanntschaft mit der Buchhalterin eine katalysierende Wirkung aus. Durch die Begegnung mit ihr glaubt er jene Sicherheit und Orientierung bzgl. seines künftigen künstlerischen Schaffens gewonnen zu haben, um die er bislang vergeblich gerungen hat. Noch unter dem Eindruck der körperlichen Nähe seiner Wochenendbekanntschaft stellt er erleichtert fest: „Malgré les mêmes lieux, entre hier et aujourd’hui quelle différence. Pas seulement parce que je n’ai pas dormi mais parce que quelque chose a changé, s’est levé - j’ai l’impression de voir un horizon, de savoir où je vais.“ 603 Und etwas später ist seinem inneren Monolog zu entnehmen, dass er selbst den positiven Einfluss „dieser Unbekannten“ auf seine Suche nach einem neuen Weg mit einer gewissen Verwunderung registriert, die durch sie erfah‐ rene Belobigung seiner neuen Malrichtung jedoch begierig annimmt und als „zeichenhaft“ begreift: Il a fallu cette femme, cette inconnue pour que tout vienne se mettre en place. Elle a regardé mes icebergs informes à la dérive sur une mer blanche, j’ai vu dans son regard que cette toile en chantier, à peine esquissée, que je n’avais montrée à personne et que j’avais abandonnée […] que cette toile venait toucher quelque chose en elle non parce que c’était elle mais parce que c’était en rapport avec ce qui gît au plus profond de nous et que nous sommes incapables de nommer. […] J’avais besoin d’un signe qui me dise continuez, vous êtes sur la bonne voie. 604 Der Maler scheint die Gegenwart der Buchhalterin in ähnlicher Weise wie die Präsenz einer ihm ggf. als Modell dienenden Frau als eine sein künstlerisches Schaffen fördernde Hilfe in Anspruch zu nehmen, stellt dann aber „gerührt und zugleich irritiert“ fest, dass die Zufallsbekannte sich - noch unter dem Einfluss der ihr von ihm erschlossenen Nymphéas - von ihm stark angezogen fühlt: „Sa confiance me touchait même si elle m’embarrassait. Je n’en demandais pas tant.“ 605 Während er sie lediglich zur Überwindung seiner Schaffenskrise, die er metaphorisch als „Wüstendurchquerung“ stilisiert, „benutzt“, will sie sich ihm 4.5 „L’Île aux musées“ 387 606 Ebd. 607 Ebd., S. 184. 608 Ebd., S. 185. 609 Vgl. ebd., S. 216f: Je suis parti, elle n’a pas compris que j’étais sincère. Ou vivons-nous dans deux mondes différents? Ce qui est le plus précieux pour moi n’a aucune impor‐ tance pour elle […] 610 Zitate ebd., S. 219. 611 Ebd., S. 217. 612 Ebd., S. 218. „vollständig hingeben“: „Juste une sensation de fraîcheur, prendre un peu d’eau avant de continuer le voyage, la traversée du désert. Alors qu’elle semblait se donner totalement, s’abandonner.“ 606 Auf die Unterschiedlichkeit der Erwar‐ tungen reagiert der Maler mit der Erklärung, dass er die mit „ihr“ verbrachte Zeit als „[…] une journée hors du temps, de la réalité […]“ 607 betrachte. Wichtig für ihn ist lediglich, dass er durch sie, durch ihre positive Reaktion auf ein in Entstehung befindliches Bild, „[…] l’envie de peindre, l’élan qui me manquait“ 608 zurückgewonnen hat. Seine Überzeugung, in der Welt der Kunst zu leben und kreativ tätig sein zu müssen, enthebt ihn - aus seiner Sicht - der Verpflichtung, die Gefühle und Wünsche seiner „Zufallsbekanntschaft“ zu respektieren. Noch deutlicher akzentuiert er diese Haltung, als die Buchhalterin seiner Bitte, seinem neu entstehenden Bild ihren Namen geben zu dürfen, nicht entspricht. Da sie weder die Aufrichtigkeit seiner künstlerischen Wende noch „das für ihn Wert‐ vollste“ ermesse, frage er sich, ob sie in zwei unterschiedlichen Welten lebten. 609 Nach einem Wochenende, das für ihn das glückliche Ende einer langen Suche nach einem neuen künstlerischen Weg markiert, richten sich seine Gedanken ausschließlich auf das begonnene, unvollendete Bild, gilt es doch, „[e]ntre l’a‐ chevé et l’inachevé […]“ zu unterscheiden. Dabei handle es sich um schwierige Grenzziehungen und Überschneidungen, die an das Zusammentreffen der drei Ozeane „[…] autour des glaces de l’Antarctique“ erinnerten und damit zugleich auf die neue Thematik seiner Malerei verwiesen: „Antarctique, c’est ainsi que j’appellerai l’ensemble même si ce ne sont pas toujours des paysages de là-bas, et pas toujours des paysages.“ 610 Die Buchhalterin hat die Denkweise des Malers durchschaut und analysiert sein Verhalten sehr genau: „[…] toute la vie extérieure vient verser dans sa créa‐ tion, les autres sont un prétexte, une distraction - au mieux, une source d’in‐ spiration.“ 611 Ihre Bilanz fällt daher vergleichsweise nüchtern und bescheiden aus. „J’ai cru comprendre où était la vraie vie mais je me suis trompée - ou la vraie vie est trop douloureuse, trop risquée.“ 612 So sehnt sie sich nach einem zuverlässig berechenbaren „[…] demain, lorsque la vie reprendra, le travail, les 4 Themenfeld III 388 613 Ebd. 614 Ebd. 615 Ebd., S. 225. 4.5.2 Zur Funktion der am Anfang der Kapitel vorgestellten Statuen bzw. Installationen horaires, la comptabilité“. 613 Auch überlegt sie, die dem Kunstlehrer im Verlauf des Wochenendes telefonisch mitgeteilte Beendigung ihres Verhältnisses zu re‐ vozieren und „[…] le refuge qu’il me propose“ 614 anzunehmen. Die Parallelwelt der Kunst als „[…] le miroir des temps“ 615 Die Parallelwelt der Kunst wird in L’Île aux musées durch Exponate in Museen wie Böcklins Die Toteninsel und Monets Les Nymphéas, die sprechenden Statuen auf der Museumsinsel und in den Jardins des Tuileries sowie durch die zu Beginn der zwölf Kapitel von einer Erzählstimme vorgestellten und erklärten Statuen und Installationen repräsentiert. Die Bezüge zwischen den o. g. Bildern und der in der realen Welt angesiedelten Handlung, ihren raum-zeitlichen Strukturen und deren Auswirkungen auf das Verhalten der Protagonisten sind bereits in Abschnitt 4.5.1 analysiert worden. Dass und in welcher Weise den Roman prä‐ gende Suchbewegungen und raum-zeitliche Bewegungsmuster auch durch die in den Überschriften der einzelnen Kapitel genannten Werke widergespiegelt und durch die Stimmen der Statuen erläutert, kommentiert und beeinflusst werden, soll an einigen besonders markanten Beispielen dargestellt werden. Als „Zeitzeugen“ bzw. als „Spiegel der Zeit“ fungieren grundsätzlich alle zu Be‐ ginn eines jeden der zwölf Kapitel von einer Erzählstimme vorgestellten Statuen bzw. Installationen, seien sie real-gegenständlich oder abstrakt gestaltet. Ihre raum-zeitlichen Bezüge sind unterschiedlich stark ausgeprägt, in den meisten Fällen mit anderen Ideen verknüpft. Exemplarisch seien vier Werke vorgestellt, die sich durch eine mehr oder weniger enge Beziehung zur Thematik der Studie auszeichnen und überdies die „Verankerung“ des Romans in der Kunst veran‐ schaulichen. • Die Plastik Celui qui appelle (Der Rufer) von Gerhard Marcks (Kapitel 1) hat eine eindeutig mahnende Funktion, die durch ihre Anfangsstellung in der Abfolge der Kapitel unterstrichen wird. Gerhard Marcks’ Der Rufer, ursprünglich 1967 von Radio Bremen in Auftrag gegeben, wurde im Mai 1989, sechs Monate vor dem Fall der Mauer, als Nachguss zwischen der Siegessäule und dem Brandenburger Tor in Berlin aufgestellt, in‐ 4.5 „L’Île aux musées“ 389 616 Ebd., S. 9. 617 Zitate ebd. 618 Vgl. Ette 2009, S. 265 und B 4.5.2, S. 397, Anm. 650, S. 398, Anm. 651. - Patricia Oster spricht in diesem Zusammenhang von „[…] einem komplexen kulturellen Transfer‐ prozess“, den die Autorin explizit mache, indem sie den Roman mit dem Bild des Rufers eröffne. S. Oster 2013, S. 389. 619 Wajsbrot 2008a, S. 169-171.- In diesem Zusammenhang ist auch Rodins Plastik L’Ombre (ebd., S. 51-53) zu nennen. mitten einer Straße „[…] qui, à l’époque, s’achevait en impasse […]“ 616 . Auf dem Sockel ist der Schlussvers aus Petrarcas patriotischem Gedicht Italia mia abgedruckt, das der Dichter „[…] à la gloire de la patrie pour déplorer les guerres incessantes que se livrent les princes“ verfasst hat: „I’vo gridando: pace, pace, pace.“ 617 Die Statue zeigt exemplarisch, in wel‐ cher Weise die semantische Polyvalenz eines Kunstwerks offenbar wird, wenn sich „der Blick“ des Betrachters aufgrund des Voranschreitens der Zeit und der Dislozierung des Werks in einen anderen politisch-histori‐ schen Raum verändert bzw. ausweitet. Konnte man die Plastik zunächst als Sinnbild der Aufgabe einer Rundfunkanstalt, durch fairen Journa‐ lismus einen Beitrag zu einer Kultur des friedlichen Miteinanders zu leisten, verstehen, so mag man die Stimme des Rufers - zum Zeitpunkt der Aufstellung der Skulptur an ihrem zweiten Standort in Berlin - als eine Mahnung zur Überwindung der Teilung Berlins und Deutschlands in einem Geist der Freiheit interpretieren. Die von Ottmar Ette beobach‐ teten „kartographischen“ Beziehungen 618 , die sich in diesem Fall zwischen zwei Kopien desselben Kunstwerks entfalten, sind ein eindrucksvolles Beispiel für den gesellschaftlich relevanten Gegenwartsbezug, der ein Kunstwerk auszeichnen kann. - Ein Bezug zur Suchbewegung der Fi‐ guren als einem wesentlichen Element der „histoire“ des Romans mag zwar auf den ersten Blick nicht naheliegen, Berlin bietet sich als einer von zwei Handlungsorten einer solchen Geschichte jedoch geradezu an. Dafür spricht die Geschichte der Teilung der Stadt, die paradigmatisch die Stö‐ rung zwischenmenschlicher Kommunikation und der Suche nach Wegen des Zueinander und Miteinander abbildet, ebenso wie das heutige Berlin, das sich zu einem internationalen Forum der Begegnung und Verständi‐ gung entwickelt hat. • Henri Vidals in den Jardins des Tuileries aufgestellte Skulptur Caïn venant de tuer Abel (Kapitel 10) stellt die Erzählstimme als Beispiel für suchende bzw. verzweifelt herumirrende Menschen dar. 619 Die Gründe für die Ver‐ zweiflung und Hoffnungslosigkeit Kains, der des Brudermords schuldig geworden ist, sind offenkundig. Die Aufstellung der Statue in einem „[…] 4 Themenfeld III 390 620 Ebd., S. 170. 621 Ebd. 622 Ebd., S. 18. entre-deux“ 620 , das weder eindeutig der Stadt noch den Gärten zuzu‐ ordnen ist, erklärt die Erzählstimme mit der Vertreibung der Eltern Kains und Abels aus dem Paradies, um gleichzeitig dem Suchen Kains eine ein‐ deutige Richtung zu geben: Un errant parcourant la terre […] Avant toute condamnation il s’est lui-même condamné. Errant sur la terre, et n’ayant plus le droit de cultiver le sol, il invente la ville, cet espace où la terre est recouverte, où l’horizon est de bois et de pierre, c’est là qu’il veut vivre ou plutôt qu’il peut vivre - la ville cache le crime. 621 Die „Stadt“ wird damit als ein dem Paradies als Ort der Reinheit und Un‐ schuld entgegengesetzter Raum als angestrebtes Refugium der vor ihrer eigenen Schuldverstrickung Fliehenden gedacht. Berlin und Paris werden als Handlungsorte des Romans zwar nicht zum Refugium für Menschen mit der Schuld eines „Kain“, wohl aber für zwei Männer und zwei Frauen, die einen Ausweg aus einer sie belastenden Lebenskrise suchen. - Nicht als schuldig gewordener Kain, wohl aber als Getriebener tritt, wie bereits weiter oben beobachtet, der Kunstlehrer auf, wenn er bei der Ankunft im Alten Museum seine Berlinexkursion als Flucht, als Flucht vor sich selbst empfindet: „[…] je n’embrasse que la fuite, l’ombre […]“ 622 . Als Suchende agieren jedoch ebenso die drei anderen Figuren. • Die Mehrzahl der den Kapiteln vorangestellten „Leitfiguren“ thematisiert auf die eine oder andere Weise die dahinfließende Zeit und die Reflexion über Geschichte. Beispielhaft sei das 1963, also im Jahr des Abschlusses des Élyséevertrags vom 22. Januar 1963, von Bernhard Heiliger für die Deutsche Botschaft in Paris geschaffene Bronzerelief Panta Rhei (Ka‐ pitel 4) genannt, dessen Gipsoriginal 1984 in der Berliner Staatsbibliothek aufgehängt wurde. Die von den Staatsmännern 1963 ausgetauschten Ver‐ söhnungsgesten dürften, so die Erzählstimme, nicht darüber hinwegtäu‐ schen, wie lange noch Misstrauen zwischen den Menschen geherrscht habe, bis der Geist der Versöhnung die Menschen mit der Verspätung einer Generation bewegt habe, ihre politische Indifferenz zu überwinden und im vollen Bewusstsein ihrer Herkunft und Geschichte aufeinander zuzugehen: 4.5 „L’Île aux musées“ 391 623 Ebd., S. 72 f. 624 Ette 2009, S. 267. 625 Wajsbrot 2008a, S. 122. Lorsque le bronze fut mis en place, les pères et les fils marchaient dans les rues de Paris sans se rendre compte qu’ils n’étaient ni à Paris ni en 1963 mais dans un no man’s land de l’espace et du temps (Hervorhebung H. H.), et dans les rues de Berlin, en 1984, lorsque l’original en plâtre fut installé dans le hall de la Staatsbibliothek […] ils marchaient sans savoir que tout le monde aspire à l’unité sans y parvenir, l’unité de la ville et l’unité intérieure, la réconciliation avec soi-même, la réconciliation avec le présent, l’avenir - et maintenant, à Paris, à Berlin, devant l’original en plâtre ou la version de bronze, maintenant qu’entre les deux villes le mouvement de la circulation a repris, ils reportent l’histoire sur leurs enfants - ayant abandonné tout espoir eux-mêmes. […] Leurs enfants reprendront le fil là où ils l’auront laissé - c’est pourquoi il y a toujours une génération de retard sur le temps, chacun accomplit le vœu de ses parents. 623 Die durch Heraklits Aphorismus Panta Rhei zum Ausdruck gebrachte „Bewegung“ in Raum und Zeit, die durch das historische Exempel der Geschichte der deutsch-französischen Versöhnung und der mit ihr ver‐ wobenen Bronze von Bernhard Heiliger veranschaulicht wird, schafft „[…] den Roman prägende transnationale Bewegungs- und mehr noch Beziehungsmuster […]“ 624 . - Wenn die am Ende des Romans wiederher‐ gestellte ursprüngliche Paarkonstellation zumindest den Beginn eines Prozesses wachsenden gegenseitigen Verständnisses markiert, wird da‐ durch jener Geist der Versöhnung widergespiegelt, der Bernhard Heiliger 1963 zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Heraklits Ge‐ danken des „Werdens und Vergehens“ allen Seins inspiriert hat. • Ein Werk, in dem geschichtlich-politisches Denken in besonders inten‐ siver Weise in räumliche Vorstellungen übersetzt wird, ist Karl Bieder‐ manns La pièce abandonnée (Der verlassene Raum, Kapitel 7), eine 1988 in Ost-Berlin im Rahmen eines Wettbewerbs anlässlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht entstandene, aber erst acht Jahre später am Kop‐ penplatz in Berlin-Mitte aufgestellte Installation. Sie zeigt „[u]ne chaise rangée derrière un bureau ou une table au tiroir fermé, une autre ren‐ versée. Renversée dans la bousculade par ceux qui durent fuir précipi‐ tamment? Renversée par des agresseurs? “ 625 Rund um den aus Bronze gegossenen Boden sind Verse aus Nelly Sachs’ Gedicht O die Schornsteine gruppiert, die in französischer Übersetzung folgendermaßen zitiert werden: 4 Themenfeld III 392 626 Ebd. 627 Hermann Willers, Berlin - Texte Werner Friedrich, Münster: Coppenrath Verlag, 2011; S. 148. 628 Ebd. Ô les appartements de la mort / préparés de façon accueillante / pour un maître de maison qui n’était qu’invité / Ô ses doigts / Le seuil d’entrée s’étend / comme un couteau entre la vie et la mort. Ô ses cheminées / Ô ses doigts / Et le corps d’Israël disparu en fumée. 626 Die gewiss zahlreiche Interpretationen erlaubende Darstellung einer all‐ täglichen Szene wird durch die begleitenden Verse eindeutig auf die Ge‐ schichte von Deportation und Vernichtung bezogen, denn der Künstler hat […] die Störung eines Urbilds menschlicher Kommunikation - dass zwei an einem Tisch zusammensitzen - dazu genutzt, die Schrecken drohender Deportation so eingängig wie nachdrücklich ins Bild zu setzen: das Gespräch - unterbrochen, die Gemeinsamkeit - gestört, die Ordnung - dahin. Hier ist, auch bei bestem Willen, nichts mehr geradezurücken. Selbst wenn man sich an den Tisch setzt, bleibt doch der Platz des Gegenübers leer. 627 Nelly Sachs hatte am 16. Mai 1940 gemeinsam mit ihrer Mutter „[b]uch‐ stäblich im letzten Augenblick […] im letzten Flugzeug von Tempelhof nach Stockholm dem Holocaust zwar entrinnen, aber nicht entkommen können (Hortensia Völckers)“. 628 So klar die Relation zwischen Biedermanns Installation und dem Schicksal der Holocaustopfer ist, so schließt sein im Herzen Berlins aufgestelltes Werk Der verlassene Raum Assoziationen mit Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte, aber auch mit aktuellen Problemen keineswegs aus. In einer Metropole wie Berlin ist die Erinnerung an die erfolgreichen und gescheiterten Fluchtversuche vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem Osten der Stadt noch lebendig. Aber auch auf die Not der - aus vielerlei Gründen - aus ihrer Heimat in verschiedenen Kontinenten nach Berlin geflohenen Menschen, der zahlreichen Obdachlosen und Ver‐ wahrlosten weist Der verlassene Raum mahnend hin. Vor dem Hintergrund der geschichtlich bedeutsamen Ereignisse, mit denen Biedermanns Installation Der verlassene Raum zu Recht assoziiert wird, mag sich ein Bezug zur „histoire“ des Romans banal ausnehmen. Angesichts des - zumindest im Fall des Kunstlehrers als Flucht beschrie‐ benen - Ausbruchs der Protagonisten aus bestehenden Beziehungen er‐ 4.5 „L’Île aux musées“ 393 629 Vgl. Ette 2009, S. 265. - Welches Schicksal den vermenschlichten Statuen, aber auch Kunstwerken jeglicher Art während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft beschieden war, erfahren wir an anderer Stelle. Die Statuen erinnern sich, dass sie in Berlin „ […] dans des lieux hermétiquement clos, des sortes de bunkers, des tours de défense anti-aériennes […]“ verbracht und „[…] avec précaution […]“ behandelt wurden, während man gleichzeitig die Opfer des Holocaust in Vernichtungslager deportierte (zu Zitaten und zum Kontext vgl. Wajsbrot 2008a, S. 16). Auch aus Paris wurden nach der Schließung aller Museen am 25. August 1939 zahlreiche Kunstwerke in das Schloss von Chambord und weniger bekannte Schlösser verbracht (vgl. ebd. S. 124), während gleich‐ zeitig die Werke des „art dit dégénéré“ in einem Autodafé vor der Galerie des Jeu de Paume, das an die am 10. Mai 1933 in Berlin und anderen Universitätsstädten insze‐ nierten Bücherverbrennungen erinnerte, zerstört wurden (vgl. ebd., S. 125-127). Vgl. dazu auch Oster 2013, S. 394 f. 630 Wajsbrot 2008a, S. 145. 631 Klettke 2014, S. 217. scheint jedoch auch diese Annäherung durchaus legitim. Denn die In‐ stallation veranschaulicht beispielhaft die von Ette vorgenommene Differenzierung zwischen der „Archäologie“ (zeit)geschichtlicher Ebenen und der „Kartographie“ horizontaler Fluchten und Migrationen. 629 Die Stimmen der Statuen Die „Stimmen“ der Statuen kündigen sich durch den Gebrauch des Personal‐ pronomens „nous“ an und sind dadurch von den Stimmen der vier anonym bleibenden Protagonisten zu unterscheiden. Die kollektive Funktion des „nous“ bewirkt, dass die „Stimmen“ nicht einzelnen, sondern den personifizierten Sta‐ tuen insgesamt zuzuordnen sind, wobei sich eine Zuordnung zur Museumsinsel bzw. zu den Jardins des Tuileries aus dem Kontext ergibt. Mit ihrem Hinweis „Notre voix reste dans la pierre“ 630 stellen sie klar, dass ihre Worte nicht direkt an die handelnden Figuren adressiert sind. Sie sind als stumme Skulpturen zu betrachten, deren Mitteilungen, wie Cornelia Klettke ausführt, im Sinne Fou‐ caults als ein „bruissement collectif “ und als mahnender Appell an die Menschen zu verstehen sind, sich bevorstehender Katastrophen bewusst zu werden: Leur langage est un silence volubile. Mais il y d’autres moyens de comprendre le langage muet qui se révèle être un silence expressif et significatif dont il faut découvrir le sens. C’est un appel muet adressé aux hommes pour les prévenir des catastrophes et pour les exhorter. Les ’voix’ des œuvres d’art sont ubiquitaires en tant que vibrations des ondes de l’air, mais elles „se perdent dans la rumeur du vent“. 631 Die von den Statuen an ein kollektives „vous“ gerichteten Worte, die auch als Versprachlichung der durch sie „verkörperten“ und im Verlauf der Zeit immer wieder neu verstandenen Bedeutung erklärt werden könnten, bedürfen der De‐ 4 Themenfeld III 394 632 Vgl. Wajsbrot 2008a, S. 11: Nous sommes là pour des siècles. / Vous passez et pourtant vous ne croyez qu’à votre existence. Oder ebd. S. 17: Vous qui passez aujourd’hui pour admirer les collections antiques, vous qui venez des pays d’Europe, d’Amérique, du Japon, vous ignorez l’histoire des lieux - les salles que vous traversez sont invisibles. 633 Vgl. ebd., S. 16: […] on vous entassait dans des wagons sans air pour vous transporter dans les camps qui essaimaient l’Europe. 634 Vgl. ebd., S. 78: […] mais cette nuit-là vous n’êtes pas venus […] 635 Vgl. ebd., S. 125: Dans ce pays, vous avez l’habitude de ne connaître les catastrophes qu’en langues étrangères. - Vgl. zu den adressierten Gruppen auch Böhm / Zimmer‐ mann 2010, S. 18 f. 636 Wajsbrot 2008a, S. 147. 637 Ebd., S. 10. kodierung durch die Rezipienten, also die Leserschaft. Ihre sinnstiftende Funk‐ tion ist für das Verständnis des Romans eminent wichtig. In unterschiedlichsten Situationen sind sie als „stille Botschaften“ für ein gleichermaßen anonym blei‐ bendes „vous“ bestimmt, das für unterschiedliche Adressaten steht: z. B. für Pas‐ santen, 632 für bestimmte, klar definierte Gruppen wie z. B. die in die Vernich‐ tungslager abtransportierten Juden 633 oder diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - die Bücherverbrennung im Mai 1933 nicht miterleben wollten, 634 oder aber ein ganzes Volk 635 . Die Statuen über ihre Entstehung, ihr Schicksal und Wirken in Raum und Zeit Bei allen Transformationen, denen die Statuen im Verlauf der in der Diegese abgebildeten Zeit hinsichtlich ihrer Gestaltung, ihrer Aufstellungsorte und ihrer Wahrnehmung durch die Menschen unterliegen, bleiben sie - wie alle Kunst‐ werke - in und an sich unverändert, sind jedoch zeitbedingt unterschiedlichen Deutungen ausgeliefert: „Bien sûr, nous ne changeons pas - aucune œuvre d’art. Mais vous, en dix ans, en quinze ans, vous aviez changé et à travers ce que vous aviez vécu - votre regard.“ 636 Unabhängig von den hier angedeuteten Verände‐ rungen sind die das erste und zweite Kapitel eröffnenden Mitteilungen der Sta‐ tuen über ihre Entstehung, ihre Herkunft, ihre Standorte und -zeiten sowie ihre materielle Beschaffenheit und nicht zuletzt über ihre Funktionen für ein vor‐ läufiges Verständnis von grundsätzlicher Bedeutung : • Die Statuen betrachten ihr Schicksal als befremdlich - Notre destin est é‐ trange - 637 , insofern ihrer Entstehung - zurückhaltend neutral formu‐ liert - zwischenmenschliche Konflikte vorausgehen, bevor sie ihre den Raum beherrschende Präsenz entfalten: […] nous sommes l’objet de tractations, de décisions, de revirements, de compromissions, vous vous battez pour avoir le droit de nous donner existence mais 4.5 „L’Île aux musées“ 395 638 Ebd. 639 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd. 640 Ebd., S. 11. 641 Vgl. ebd., S. 10. 642 Ebd., S. 11. 643 Ebd., S. 30 f. 644 Ebd., S. 109. une fois que nous sommes là, notre présence s’impose et la vôtre s’efface, les rôles s’inversent - vous êtes les prétextes et l’espace nous appartient. 638 • Die Skulpturen sind aus Stein, Bronze, Granit oder Marmor gefertigt. Sie befinden sich „[…] sur les ponts, en haut des édifices ou devant les mu‐ sées […] dans les jardins, en signes avant-coureurs, nous sommes dans les niches - mais immobiles, le regard fixe.“ 639 Zu ihren Standorten teilen die Stimmen ergänzend mit: „Nous sommes sur les ponts des fleuves qui tra‐ versent vos villes. Nous connaissons le nom des fleuves - la Seine, la Spree - comme nous connaissons le nom […] de vos villes, Paris, Berlin […]“. 640 Ihr gleichermaßen auf die Vergangenheit und die Zukunft gerichteter starrer Blick umfasst den ganzen Horizont, 641 ihre „Lebens‐ dauer“ bemisst sich nach Jahrhunderten: „Nous sommes là pour des siècles.“ 642 Echohaft klingt diese Aussage zu Beginn des zweiten Kapitels nach in einer Erklärung, in der die Statuen erstmals auf die Distanz zwi‐ schen ihren Herkunftsstädten und ihrem aktuellen Standort, aber auch auf die bis in die Gegenwart und darüber hinaus wirksame Nachhaltigkeit dieser Beziehung eingehen: Nous sommes là depuis longtemps, plus longtemps que vous ne croyez mais loin, si loin de nos villes d’origine. […] Milet, Troie, Pergame, Assur, Babylone, vous prononcez ces noms - et Tanagra, Constantinople - comme s’ils recelaient un secret alors que la vie en ces temps-là n’était pas plus mystérieuse ni plus belle que la vie à Bagdad aujourd’hui - le Tigre n’a jamais cessé de charrier des cadavres, de traverser des villes en guerre - Rome et Athènes n’étaient pas plus belles, plus puissantes peut-être, et votre empire américain n’a rien à envier, par l’omniprésence de ses objets d’art, aux copies de copies de nous qui inondaient les territoires de l’Empire romain. 643 So überrascht es nicht, dass sie sich selbst als das Gedächtnis der Men‐ schen betrachten: „Nous sommes votre mémoire […]“ 644 . 4 Themenfeld III 396 645 Ebd., S 10. - Zum Bild der „veilleurs“ bzw. der „gardiens de phare“ vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131 und B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589; B 4.6.1, S. 414, Anm. 720, 722 und B 4.6.4, S. 441, Anm. 845, 846. 646 Ebd., S. 11. 647 Ebd. 648 Ebd., S. 77. 649 Vgl. ebd., S. 77 f. 650 Ette 2009, S. 265. - Zum historischen Kontext des Begriffs „Deportation“ vgl. die Aus‐ führungen zu Karl Biedermanns Installation La pièce abandonnée in diesem Abschnitt B 4.5.2, S. 392f. • Die Statuen, die bereits mit ihren ersten Worten: „Nous montons la garde […]“ 645 ihre Funktion definieren, präzisieren diesen Gedanken im Verlauf ihrer Rede. Obwohl sie von den Passanten ignoriert werden, schenken sie ihnen als „Wächter über die Stadt“ ihre ganze Aufmerksam‐ keit: „[…] vous ne pensez jamais à nous qui veillons sur la ville, du haut des socles et sur les toits, nous qui vous voyons, vous entendons, nous qui avons vu et entendu tant de choses.“ 646 Ihre Beobachtungen fassen die Statuen in einer formal mit einem Distichon vergleichbaren, adressaten‐ bezogenen Gegenüberstellung zusammen: „Vous êtes dans le pré‐ sent. / Nous sommes dans la présence.“ 647 Die Passanten leben in der Ge‐ genwart, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Die Statuen hingegen sind physisch und „mental“ präsent und wahrnehmungsbereit. Sie bean‐ spruchen zudem, „[…] l’image de l’idéal -- de ce qui pourrait être mais qui n’est pas - l’image de l’irréel - quelqu’un tend une main qui ne sera jamais saisie - de l’impossible“ 648 zu verkörpern, konzedieren aber, dass von ihnen erhoffte Veränderungen bislang stets mit Gewalt einherge‐ gangen seien. 649 Immerhin zeichnet sich ihr Wunsch ab, ihr Wächteramt zu nutzen, um ihre „menschliche Umgebung“ zu zivilisieren und zu be‐ frieden. Bereits mit diesen ersten Erklärungen offenbaren die Statuen Wesentliches über sich selbst: Sie überschauen große Zeiträume und räumliche Distanzen, sind aber auch in der Gegenwart räumlich (la Seine - la Spree, Paris - Berlin) mit‐ einander vernetzt. Ottmar Ette spricht in diesem Zusammenhang, wie bereits erwähnt, einerseits von einer „[…] Archäologie, die in gleichsam vertikaler Richtung Schicht um Schicht der Geschichte freilegt“, und andererseits von einer „[…] Kartographie der Bewegungen, die in horizontaler Richtung die Deporta‐ tionen und Migrationen, die an einem Ort immer den anderen Ort präsentieren, ja jegliche Repräsentation eines Ortes stets mit dessen Ander-Orten ver‐ netzen“ 650 . So sind die in Berlin befindlichen Statuen in der archäologischen 4.5 „L’Île aux musées“ 397 651 Ette 2009, S. 265. 652 Wajsbrot 2008a, S. 32. 653 Ebd. 654 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 84. Dimension verbunden mit Orten wie z. B. den antiken Städten Milet oder Per‐ gamon, in der „Kartographie der Bewegungen“ jedoch ergeben sich transareale, auch transkontinentale Vernetzungen zwischen den in Berlin und Paris und an anderen Orten aufgestellten Statuen. Ette betont daher mit dem Blick auf Berlin, dass „[e]ine Stadt […] nicht nur ihre Geschichte vor Ort, ihre Tiefe, sondern auch […] ihre mobile, dynamische Vielverbundenheit in der Fläche [ist]“. So ergebe sich aufgrund der „[…] viellogischen Strukturen dieser Stadt unter der Stadt […] auf der Ebene ihrer unterschiedlichen Museen und Kunstwerke die offene Strukturierung eines weltumspannenden Archipels […]“ 651 . Das Verhalten der Menschen gegenüber den Statuen Wie jedoch verhalten sich die denselben Archipel bewohnenden Menschen? Die Statuen verweisen einerseits auf die Grabungstätigkeit der Archäologen in Per‐ gamon in der Türkei und in Olympia in Griechenland und die begleitenden For‐ schungsarbeiten, auf den Transfer der Zeugnisse der Vergangenheit von ihren Herkunftsorten z. B. nach Berlin und, um bei diesem Ort zu bleiben, die Bemü‐ hungen „[…] de reconstituer ce gigantesque puzzle que vous appelez le grand autel de Pergame“ 652 . Sie erkennen darin einen menschlichen „[…] besoin de certitudes […]“, den Wunsch „[…] une origine, des preuves de l’existence de l’humanité“ 653 zu entdecken. Auch heben die Statuen hervor, dass die Menschen in der Vergangenheit in Berlin auf der Insel inmitten der Stadt in Form von Museen andere Inseln geschaffen haben, in denen sie vor den ausgestellten Bil‐ dern bewundernd stehenblieben. Sie selbst, die Statuen, seien früher nur im Au‐ ßenbereich aufgestellt und von den Vorfahren der Menschen von heute dort auch betrachtet worden, denn „Nous servions de passage entre le monde profane et le monde religieux“ 654 . Die „Orte der Kunst“ zeichnen sich seit jeher durch ihren heterotopischen Charakter aus. Gewandeltes Selbstverständnis der Statuen in einer sich verändernden Gesellschaft Vor dem Hintergrund der zu Beginn des sechsten Kapitels vorgestellten Skulptur „Der Jahrhundertschritt“ aus dem Jahre 1984 von Wolfgang Mattheuer, die den Zusammenprall von Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert thema‐ tisiert, scheinen sich das Selbstverständnis der Skulpturen und ihr Verhältnis zu den Menschen zu wandeln: „Aujourd’hui nous bougeons, nous changeons de place comme vous, nous nous multiplions, on nous coule dans le bronze, on nous 4 Themenfeld III 398 655 Ebd., S. 104. 656 Ebd., S. 105. 657 Zitate ebd., S. 110. miniaturise et on nous reproduit.“ 655 Schon seit langem haben die Statuen Kir‐ chen und Paläste verlassen, haben sich auf Brücken und in Parks niedergelassen, um sodann auch in das Zentrum der Städte vorzudringen. Ihre eigene Funktion und Entwicklung und den Wandel der Gesellschaft erläutern sie folgender‐ maßen: Groupes sculpturaux, installations, nous devenons le fond et la forme, le personnage et l’arrière-plan, une copie du monde - d’un monde organisé selon d’autres lois. Vos héros ont changé, votre vision du monde - nous représentons le chaos où vous êtes, votre impossibilité, votre perplexité devant l’état des choses. Devant le mouvement que vous cherchez à arrêter, ralentir, en le fixant par notre intermédiaire. Mais nous vous échappons. 656 Die Statuen - als Repräsentanten der Kunst - nehmen für sich in Anspruch, nicht nur ein äußerliches Abbild der Welt zu sein, eine „forme“ abzubilden, son‐ dern auch „le fond“, das eigentliche Wesen der Gesellschaft, darzustellen. Dies impliziert unter den obwaltenden Umständen, dass sie nicht eine zwar ge‐ wünschte, allerdings nicht vorhandene gültige Ordnung, sondern das herr‐ schende „Chaos“ darstellen. Sie entsprechen somit keineswegs willfährig dem Wunsch der Herrschenden, die „Entwicklung zu bremsen oder zumindest zu verlangsamen“. Exemplarisch steht dafür Mattheuers Jahrhundertschritt, der bei seiner Enthüllung in Leipzig im Jahre 1985 sicherlich nicht der Erwartung der politischen Klasse entsprach, dass auch die bildende Kunst eine staatstragende, die gesellschaftlichen Verhältnisse affirmierende Funktion habe. Der Autonomie der Kunst ist es zu verdanken, dass Kunstwerke jeglicher Art sich von einer solchen Ideologie nicht vereinnahmen lassen, sondern ihr - wie Der Jahrhun‐ dertschritt - selbstbewusst ausweichen. Bei allem Wandel, den die Statuen im Laufe der Zeiten im Hinblick auf die Wünsche und Hoffnungen der Menschen registriert haben, lassen sich, wie sie anmerken, alle menschlichen Sehnsüchte, handle es sich um „[…] consola‐ tion […] distraction, divertissement, émotion […] lumière ou harmonie, sens des proportions ou révolte, chaos […] [s]éparation, sentiment“ stets auf eine „[…] aspiration“ zurückführen, die sie auch inhaltlich bestimmen: „Échapper ou élargir, mais sortir des limites, des frontières étroites de votre corps, de votre vie…“ 657 Die Statuen erkennen in dem Wunsch der Menschen, die ihnen durch ihre Physis und ihr Leben insgesamt gesetzten engen Grenzen zu transzen‐ dieren, den entscheidenden Beweggrund, jenes Movens, das sie zu künstleri‐ 4.5 „L’Île aux musées“ 399 658 Ebd. 659 Ebd., S. 112 660 Ebd. 661 Ebd. 662 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. 663 Ebd., S. 112 f. schem Schaffen antreibt. Wenn der Vollzug des Lebens in seiner Gesamtheit das Ausdrucksmittel schlechthin der Menschen ist, dann ist - in Analogie zu dieser Metapher - jedes von den Menschen hervorgebrachte Werk ein „discours“: „Votre vie est un langage et votre œuvre est un discours.“ 658 Erst jetzt sind die Statuen bereit, den entscheidenden Grund für den Wandel, den sie erfahren haben, zu benennen: „Nous avons changé, votre guerre n’a laissé que des ruines et nous aussi, nous étions en ruine, brisées.“ 659 Monumentale Statuen seien nun nicht mehr gewünscht, man habe ihnen „[…] d’autres formes […] d’autres places, d’autres buts“ 660 zugewiesen. Mit verletztem Selbst‐ bewusstsein fragen sie daher, ob sie sich nur noch als „Lückenbüßer“ verstehen dürfen „[…] pour réparer, remplacer“ 661 . Im Übrigen seien die Menschen in einer Zeit der „Wettbewerbe“ dazu übergegangen, auf Prachtstraßen „[des] sculptures temporaires pour célébrer un événement“ aufzustellen. Diese „[…] créatures plus éphémères que vous […]“ bezeichne man als „[d]es installations [Hervor‐ hebung H. H.]“ und insinuiere damit „[…] la durée“. 662 „Dauerhaftigkeit“ oder „Nachhaltigkeit“ seien jedoch nicht die Merkmale, die die Menschen und die Welt von heute auszeichneten: Mais vous n’aimez plus la durée, vous vous installez (Hervorhebung H. H.) dans le provisoire. Votre monde se couvre de lieux de transit, de refuges, d’habitats de fortune - des tentes, des matelas, des duvets - quand ce n’est pas la rue, simplement, qui vous sert de maison, de dortoir - des arcades, des niches dans les murs, des cours intérieures, des escaliers, des cimetières. 663 Die Zeitdiagnose der Statuen skizziert die Welt als eine Ansammlung von Durchgangs- und Zufluchtsorten, Notunterkünften und nur provisorischen Schutz bietenden Nischenplätzen, die sich, ohne dass dies explizit erwähnt wird, inmitten wohlhabender urbaner Zonen befinden. Die Statuen entwerfen das Bild von Städtelandschaften, in denen auf vergoldeten Pflastersteinen angebrachte Tafeln mit ihren Inschriften an das Geburts- und Todesdatum und den Beruf jener Menschen erinnern, die diese Bezirke zuvor bewohnt haben. Ihr grausames Schicksal wird indes nur beiläufig erwähnt: „[…] les porteurs de ces noms furent 4 Themenfeld III 400 664 Ebd., S. 113. - Es handelt sich hier um eine Anspielung auf das von dem Künstler Gunter Demnig initiierte, seit den 1990er Jahren in vielen deutschen Städten realisierte Projekt „Stolpersteine“. 665 Zu den vorangegangenen Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. S. 113. Zum metaphori‐ schen Gebrauch der Begriffe „bribes“ und „miettes“ vgl. Klettke 2014, S. 198. raflés, arrêtés, déportés […]“ 664 . Die Sprache ist gleichwohl eindeutig. Durch die Passivform und die Aneinanderreihung von drei Verben, deren Abfolge eine Steigerung des Leids der Betroffenen impliziert und „[…] leur mort dans les camps“ ankündigt, werden die „Namensträger“ zweifelsfrei als Opfer des Ho‐ locaust erkennbar, ohne dass sie explizit als solche bezeichnet werden. Wenn die Statuen angesichts dieser historischen Hypothek den Menschen vorwerfen, sich ihrer nur noch zu bedienen „[…] pour rassembler des bribes, reconstituer“, d. h. um mittels fragmentarischer Informationen bruchstückhaft Erinnerungen an Vergangenes zu rekonstruieren, dann nähern sie sich damit bereits jener von ihnen unmittelbar danach gelieferten Definition ihres durch die raum-zeitlichen Verhältnisse neu bestimmten Status an: Nous ne sommes plus des figures mais des traces. Nous qui étions la présence absolue, sommes devenues des figures de l’absence. Comme si représenter vous faisait peur ou vous semblait insurmontable. 665 Hatten die Statuen einst eine die Zeit ihrer Entstehung repräsentierende Funk‐ tion, die sich aus ihrer „présence absolue“, ihrer nicht nur physischen, sondern den Geist einer Epoche widerspiegelnden und in die Folgezeit hineinreichenden Ausstrahlung herleitete, so dienen sie nach der Katastrophe des zweiten Welt‐ kriegs nur noch als „Spuren“, als bruchstückhafte Zeugnisse vergangener Zeiten. Warum sie jedoch zu „des figures de l’absence“ geworden sind und in ihrer re‐ präsentativen Wirkung Angst einflößen, erklärt sich aus dem durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust herbeigeführten Zivilisationsbruch. Für die Nachfahren der Opfer bedeutet jeder Blick in die Vergangenheit eine Belas‐ tung, der sie sich nicht über lange Zeit auszusetzen vermögen. Ähnliches gilt auch für die Menschen ohne festen Wohnsitz, die angesichts ihrer Suche nach einem sicheren Aufenthaltsort für die unmittelbare Zukunft ihren Blick nicht in die Vergangenheit richten. Der langsame Wandel im Selbstverständnis der Statuen setzt sich im Verlauf der Diegese fort, obwohl sie sich an einigen Stellen auch noch in ihrer klassi‐ schen Rolle präsentieren. Unter Bezugnahme auf das Neue Museum, das nach einer lange hinausgezögerten Restaurierung erst 2009 (ein Jahr nach Veröffent‐ lichung des Romans) erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg für das Publikum im vollen Umfang zugänglich wurde, und das Pergamonmuseum, äußern sich 4.5 „L’Île aux musées“ 401 666 Wajsbrot 2008a, S. 167. 667 Ebd., S. 192. 668 Ebd., S. 194. 669 Vgl. zum Kontext ebd., S. 192-194. 670 Ebd., S. 177. 671 Ebd. 672 Ebd. - Was Morellet betrifft, sind vermutlich die Arcs de cercles complémentaires ge‐ meint. Vgl. dazu publicartmuseum.net / wiki / Arcs_de_cercles_complémentaires_ %28François_Morellet%29 (Abruf: 17. 02. 2015). die Statuen über die - zum Scheitern verurteilte - Absicht der Menschen, die Zeit in ihrem Lauf aufzuhalten: Vous devez le savoir, vous qui voulez tout conserver et reconstruire à l’identique, achever ce qui ne l’a pas été, croire à la permanence des choses. Vous qui édifiez des barrages contre le temps. […] vous bâtissez des îles artificielles pour l’assigner à résidence mais il s’échappe. 666 Mit Stolz erfüllt die Statuen auch das 2006 wiedereröffnete Bodemuseum, das sie mit einem „[…] navire éclairé qui avance dans la mer“ 667 vergleichen und damit implizit auf Haute Mer, den Titel der Romanreihe, beziehen. Das Bode‐ museum wird somit implizit mit der Weite und Grenzenlosigkeit des Meeres assoziiert. Die Wertschätzung der Statuen für dieses Museum erklärt sich jedoch daraus, dass sie durch den Einzug ins Innere des Gebäudes - Nous sommes entrées - 668 eine ihre Autonomie stärkende Aufwertung erfuhren. Im Innern der Kirchen hingegen scheinen sie sich in ihrer schmückenden oder (Szenen des Evangeliums) erklärenden Funktion instrumentalisiert gefühlt zu haben. 669 Aufschlussreich ist eine Reflexion der Statuen über ihr zukünftiges Schicksal angesichts der in der Moderne zu beobachtenden Entwicklung der Bildenden Kunst. Beim Anblick der auf den Jardin des Tuileries verteilten Installationen und Skulpturen fragen sie sich, ob sie „[…] survivantes de temps anciens et condamnées à disparaître“ oder gar „[…] mortelles“ 670 seien. Über diese Frage‐ stellungen gelangen sie zu der Einsicht: „Certes, au cours des siècles, nous avions évolué, nous donnions de moins en moins l’impression de l’immobilité mais cette fois, vous vouliez capter le mouvement et abandonner toute représentation, même symbolique, pour vous concentrer sur l’essence.“ 671 Mit den zuvor erwähnten Installationen Grand commandement blanc von Alain Kirili und Avis de cercles complémentaires 672 von François Morellet vor Augen, analysieren die Statuen ihre eigene Geschichte als eine Entwicklung von der abbildend-repräsentativen Darstellungsform zu einer Präsentationsweise, die mit der Bewegung etwas essentiell Bedeutsames wiedergibt. 4 Themenfeld III 402 673 Wajsbrot 2008a, S. 220. 674 Ebd., S. 221. 675 Ebd. 676 Ebd. Noch deutlicher zugespitzt werden diese Gedanken am Ende des Romans. Hier beschreiben die Statuen oder genauer: die skulpturalen Kunstwerke die neue Vielfältigkeit ihrer formalen Gestaltung als „[f]ormes déshumanisées, géo‐ métriques, immenses courbes renversées, grandes règles qui se croisent, obé‐ lisques qui se dressent ou dalles qui tracent un chemin, nœuds de métal entre‐ lacés, échelles qui tentent d’atteindre le ciel[…]“, um im Anschluss daran ihre Funktion, ihre Mittlerrolle zwischen Himmel und Erde, also ihre die Wirklich‐ keit transzendierende Wirkung sowie ihre als Befreiung aus statischer Erstar‐ rung und abbildhafter Nachahmung erlebte Entwicklung zu analysieren: „[…] nous devenons le lieu, le point de passage entre la terre et le ciel, nous prenons notre envol, notre essor, enfin libérées de vous, de ces visages et de ces corps qui nous rendaient statiques, nous réduisant à une piètre ressemblance.“ 673 Auf den ersten Blick mögen diese Erklärungen der Statuen als eine Umkeh‐ rung ihres ursprünglichen, von den Vorstellungen der Konstanz und Unbeweg‐ lichkeit geprägten Selbstverständnisses erscheinen, zumal wenn man Äuße‐ rungen wie „Nous qui représentons l’immuable, nous sommes en devenir. […] Nous sommes le devenir“ 674 berücksichtigt. Die Widersprüchlichkeit löst sich jedoch auf, wenn man die Interdependenz zwischen der Gesellschaft und der Kunst bedenkt. Betrachteten sich die Statuen ursprünglich als „arrêts sur image“, als Standbilder, die einen bestimmten historischen Moment, etwas Gewordenes, festhielten, für nachfolgende Generationen bewahrten und auch dazu dienten, der Angst vor der Apokalypse und dem Verschwinden nicht nur des einzelnen Individuums, sondern der ganzen Menschheit entgegenzuwirken, so haben sie nun diesen „[…] retard sur le temps“ 675 , das Zurückbleiben hinter der Entwick‐ lung einer in ständiger „Bewegung“ bzw. Veränderung voranschreitenden, viel‐ gestaltigen Gesellschaft überwunden. Mit der Vielfältigkeit ihrer formalen und inhaltlichen Gestaltung werden sie zu „Inseln“, auf denen sich in der künstle‐ rischen Auseinandersetzung mit dem Werdenden alles Gegensätzliche und Fragliche auflöst und Antworten auf die Fragen der Menschen gesucht und ge‐ funden werden: Nous avons les réponses à vos questions. En nous, tout se résout, vos antagonismes, vos différences, l’abstrait et le concret, l’impression et l’expression, l’apparence et le réel, nous sommes à la fois la matière et la forme, et notre étrangeté vient répondre à l’inquiétude que votre condition engendre. 676 4.5 „L’Île aux musées“ 403 677 Ebd., S. 222. 678 Ebd. 679 Ebd. 680 Ebd., S. 225. 681 Ebd., S. 227. 682 Ebd. Zugleich verbreiten die Statuen die Zuversicht, dass sie nicht nur in der Ver‐ gangenheit als „[…] verticalité suprême […]“ 677 allen Anfechtungen standge‐ halten haben, sondern auch in der Gegenwart in anderer, „kühner“ Erschei‐ nungsform - […] avec des formes osées - 678 furchtlos mit dem Voranschreiten der Zeit werden Schritt halten können: „Nous avons gagné le mouvement - nous gagnerons bien d’autres choses.“ 679 Unverändert gilt jedoch, was die Statuen - als Stimmen der Kunst - heute wie gestern über ihr Selbstverständnis ver‐ künden: Nous sommes les témoins, l’effigie de votre destin. Nous sommes le miroir des temps. 680 4.5.3 Perspektivierende Zusammenfassung Die in der Einleitung formulierten, auf die Suchbewegungen in der „realen“ und in der Welt der Kunst bezogenen Fragen sind im Rückblick auf die Ergebnisse der vorangegangenen Analyse differenziert zu beantworten. Im Hinblick auf die Welt der Kunst ist zu berücksichtigen, dass die „sprechenden“ Statuen stellver‐ tretend für alle Kunstwerke stehen, die als verstreute, aber in ihrer vielfältigen „historischen“ und „kartographischen“ Vernetzung zu einem Archipel vereinte „Inseln“ eine Parallelwelt der Kunst bilden. Die Statuen sind gewissermaßen Raum gewordene Kunst. Für den Kunstlehrer wird der Besuch auf der Museumsinsel mit dem Höhe‐ punkt der Betrachtung von Böcklins Die Toteninsel zu einer beglückenden Er‐ fahrung, die ihn in seiner Liebe zur Kunst, aber auch in seinem sehnsüchtigen Warten auf eine positive Reaktion der von ihm umworbenen, in Paris zurück‐ gebliebenen Frau bestärkt. Nicht anders ist die Szene zu verstehen, in der er - […] le téléphone contre son cœur […] - 681 auf die Museumsinsel zurückblickt, um sie auf diese Weise wie eine Geliebte zu umarmen - […] comme pour em‐ brasser l’île […] - 682 . Bei seiner Rückkehr nach Paris wird er auf eine Frau stoßen, die sich, durch die Sogwirkung der Nymphéas von Monet angezogen, zugleich vom Charme des sie zufällig begleitenden Malers gefangennehmen ließ, dabei ein bisher nicht erlebtes sinnliches Glück und die Enttäuschung des abrupten Abbruchs einer 4 Themenfeld III 404 683 Ebd., S. 218. 684 Ebd., S. 224. 685 Vgl. ebd., S. 206. entstehenden Beziehung erfuhr. Obwohl sie ihr Verhältnis zu dem Kunstlehrer einstweilen forsetzen zu wollen scheint, um den ihr von ihm angebotenen „re‐ fuge“ 683 nicht zu verlieren, darf man annehmen, dass sie sich - nach eigenem Geständnis - durch die Begegnung mit den Nymphéas von Monet verändert und einen neuen Blick auf die Wirkmächtigkeit der Kunst - und möglicherweise auch auf ein künstlerisch inspiriertes Leben mit dem Kunstlehrer - gewonnen hat. Darüber hinausgehende Prognosen bzgl. der Entwicklung der Beziehung bzw. eine Antwort auf die Frage, ob sich das Leben der beiden Figuren in eine grundsätzlich neue Richtung bewegen wird, wären reine Spekulation. Auch für den in Paris gebliebenen Maler wird die Betrachtung der Nymphéas zu einem Schlüsselerlebnis. Das Prinzip des „tout fondre“ als eine durch die Farbe bewirkte Auflösung der festgezogenen Grenzen sowohl der einzelnen Gegen‐ stände als auch der Gesamtwirkung des Bildes weist ihm einen gestalterischen Weg für sein eigenes Schaffen. Mit seiner Absicht, mit seiner Malerei vor den Gefahren einer ökologischen Katastrophe warnen zu wollen, stellt er seine künstlerische Tätigkeit grundsätzlich in den Dienst eines „Wächteramtes“ zu‐ gunsten der Bewahrung der Schöpfung. Für ihn bedeutet dieser Schritt eine Neudefinition seiner Kunst, mithin eine auf ein neues Ziel ausgerichtete Bewe‐ gung. Er schafft damit zugleich Voraussetzungen, die einen gemeinsamen Le‐ bens- und Handlungsraum für ihn selbst und seine aus Berlin zurückkehrende, sozial engagierte Partnerin eröffnen könnten. Nach einem Telefonat mit „ihr“ vor ihrem Rückflug nach Paris kommt er für sich zu dem Schluss: „[…] je pourrai la voir, l’embrasser, lui raconter et nous repartirons sur d’autres bases, dans notre vie aussi, le blanc s’étendra - tout effacer, recommencer. Attendre, parfois, est la plus belle des choses.“ 684 Die nach Berlin geflohene Sozialarbeiterin findet in den labyrinthischen Ber‐ liner Museen zunächst nur abbildhaft jenes Chaos vor, das sie hoffte in Paris zurückgelassen zu haben. Erst die mittelalterliche Darstellung einer Kreuzab‐ nahme Christi mit der Skulptur einer weinenden Frau berührt sie in ihrem In‐ nersten und weckt in ihr den Wunsch, dass ihr Partner in Paris vergleichbare Figuren malen und sich auf diese Weise ein Teil seiner Menschlichkeit in seiner Kunst manifestieren möge. 685 Ob die Sozialarbeiterin das Verhältnis zu dem Pa‐ riser Maler mit ihrer spontanen Begeisterung für die emotionale Wirkmächtig‐ keit einer gegenständlich-realistischen Darstellung religiös motivierter mensch‐ licher Verzweiflung auf ein neues Fundament gestellt hat, scheint sie selbst eher skeptisch zu beurteilen, zumal sie sich bereits in Paris sehr kritisch über die 4.5 „L’Île aux musées“ 405 686 Ebd., S. 108. 687 Vgl. ebd., S. 224. 688 Vgl. Oster 2009, S. 253. 689 Ette 2009, S. 269. 690 Vgl. Klettke 2014, S. 222: […] l’auteur esquisse l’image d’une „ligne d’horizon“ qui mo‐ délise les fonctions des œuvres d’art en tant que bastions et forteresses contre la de‐ struction et l’oubli. En se servant des stratégies textuelles hétérologiques, c’est à ces remparts fictifs que l’auteur attribue la tâche de conserver, de garder et d’exhorter l’hu‐ manité pour les temps futurs au-delà des limites spatio-temporelles de la vie quotidi‐ enne. 691 Ebd., S. 113. 692 Ebd., S. 225. Pläne ihres Partners geäußert hat - […] l’obsession du blanc vient remplacer les corps […] - 686 und sie nicht einmal sicher ist, ob sie ohne den Anruf des Malers zu ihm zurückgekehrt wäre. 687 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die vier Protagonisten - trotz der Wiederherstellung der ursprünglichen Paarkonstellation - durch die Begeg‐ nung mit Kunstwerken entweder, wie der Kunstlehrer, in ihrer bisherigen Hal‐ tung bestärkt oder aber zu einer neuen Einschätzung der Parallelwelt der Kunst und ihres Einflusses auf das Leben der Menschen bewegt worden sind. Von der Überwindung „klassifikatorischer Grenzen“ kann keine Rede sein, wohl aber von einer gegenseitigen Durchdringung unterschiedlicher Semiosphären. Zu‐ zustimmen ist dem Urteil Patricia Osters, dass die Vordergrundhandlung des Romans „konstruiert“ wirke. 688 Sie dient im Wesentlichen als Folie für die In‐ szenierung eines „philosophischen Romans“ 689 , in dem, wie es Cornelia Klettke bei ihrer Charakterisierung des Romans sinngemäß formuliert hat, die gesell‐ schaftliche Funktion der Kunst als einer Macht, welche die raum-zeitlichen Be‐ grenzungen der täglichen Lebens überwindet und als mahnender „Schutzwall gegen Zerstörung und Vergessen“ dient, thematisiert wird. 690 Die Analyse hat gezeigt, dass sich das Selbstverständnis der Statuen, d. h. der Kunst, im Verlauf der Diegese wandelt. Als zeitliche Markierungen werden le‐ diglich der (zweite) Weltkrieg und das - im Roman nicht datierte, sondern ver‐ allgemeinernd als Gegenwartsphänomen beschriebene - Anwachsen nicht sess‐ hafter, sondern migratorischer Teile der Gesellschaft genannt, mithin von Menschen, die in „[des] lieux de transit, de refuges, d’habitats de fortune […]“ 691 zwar angesiedelt, aber nicht beheimatet sind und das Gesamtbild der Gesell‐ schaft stetig verändern. Die Statuen, die sich weiterhin als „[…] l’effigie de votre destin […] le miroir des temps“ 692 betrachten und als „Stimme der Kunst“ fun‐ gieren, haben sich in Abhängigkeit von den hier skizzierten Transformationen ebenfalls geändert, indem sie das Prozesshafte, den Entwicklungs- und Verän‐ 4 Themenfeld III 406 693 Brockhaus, Band 10, 1970, S. 757: „Kunst“. 694 Ebd. 695 Vgl. ebd., S. 224 f. 696 Oster 2009, S. 253. derungsprozess der Gesellschaft und nicht ergebnishaft einen bereits vollen‐ deten Zustand thematisieren. Unabhängig davon ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie in ihrer Erscheinungsform und in ihrer Thematik nicht länger „[…] der Lenkung außerkünstlerischer Ordnungsmächte ausgesetzt [sind]“, sondern als „[…] autonome, aber publikumsbezogene Wirkungsrealität“ 693 wahrgenommen werden. In diesem Sinne sind „Museen und Ausstellungsorte […] Korrelate dieser spätzeitlichen Emanzipation, die zwischen Kunstwerk und Betrachter die Distanz ’interesselosen Wohlgefallens’ (I. KANT ) legt“ 694 . Nur das in seiner Autonomie anerkannte, nicht das in seiner Bedeutung fest‐ gelegte Kunstwerk vermag Menschen zu beeinflussen. Diesen Anspruch, Ant‐ worten auf die Fragen der Menschen zu liefern, erheben die Kunstwerke jedoch, wie wir gesehen haben, gegen Ende des Romans in aller Klarheit. Sie sind nicht nur Gedächtnisspeicher von Vergangenem, sie beeinflussen Menschen auch in ihrem Denken, Empfinden und in ihren Entscheidungen. Die Museumsinsel in Berlin und die Jardins des Tuileries mit der Orangerie und dem Jeu de Paume in Paris, die am Ende der Diegese durch den Telefonkontakt zwischen dem Maler und der Sozialarbeiterin sogar in eine räumliche Beziehung zueinander gerückt werden, 695 sind Orte, an denen die hier angedeuteten Prozesse einer von Kunst‐ werken ausgehenden und Veränderungen im Verhalten der Menschen bewirk‐ enden Ausstrahlung in besonders konzentrierter Form stattfinden. Der Schritt von einem in seiner Bedeutung von vornherein gesellschaftlich festgelegten zu einem autonomen Kunstwerk kann - im Sinne Lotmans - als Überwindung einer klassifikatorischen Grenze bewertet werden. Diese Ein‐ schätzung steht im Einklang mit dem Urteil Patricia Osters, dass „[…] die ei‐ gentlichen Protagonisten des Romans […] nicht die Menschen, sondern die Sta‐ tuen in Paris und Berlin [sind]“ 696 . In ihnen, im Raum der Kunst, findet der Roman seine eigentliche Verankerung. 4.5 „L’Île aux musées“ 407 697 Cécile Wajsbrot, Sentinelles, Paris, Christian Bourgois Éditeur, 2013, (Wajsbrot 2013). - Folgende Rezensionen wurden eingesehen: Aliette Armel, „Pixellisés“, in: http: / / www.magazine-litteraire.com/ mensuel/ 528/ pixellises-01-02-2013-60927 und Raphaëlle Leyris, „Du black-out comme un des beaux-arts. ‚Sentinelles‘ de Cécile Wajsbrot“, in: www.lemonde.fr/ acces-restreint/ livres/ article/ 2013/ 05/ 02/ 6c66689f696c6dc5956968696a9f_3169675_3260.html (Abrufe: 11. 09. 2013). 4.6 Sentinelles 697 - Die Vernissage eines Videokünstlers - Einladung zu einer künstlerisch-intellektuellen Suchbewegung unter erschwerten Bedingungen Der Titel „Sentinelles“ des dritten innerhalb des Zyklus Haute Mer erschienenen Romans von Cécile Wajsbrot liefert, anders als Conversations avec le maître und L’Île aux musées, keinen Hinweis auf den in dem Werk thematisierten Zweig der Kunst. Allerdings besteht eine enge semantische Affinität zwischen dem Lexem „sentinelle“ einerseits und den zum selben semantischen Feld gehörenden Le‐ xemen „veilleur“, „(sur)veiller“, („surveillance“) andererseits, denen in allen bisher erschienenen Haute Mer-Romanen eine leitmotivähnliche Funktion zu‐ kommt. Im Hinblick auf den Ort der Handlung ist Sentinelles mit L’Île aux musées vergleichbar, insofern auf die Heterotopie der Museumsinsel und der Museen des Jardin des Tuileries die Heterotopie des Centre national d’art et de culture Georges Pompidou (Centre Beaubourg / Centre Pompidou), einer u. a. bibliothe‐ karischen und musealen Zwecken dienenden Einrichtung, folgt. Das bereits 1977 eröffnete, aber noch immer futuristisch wirkende Gebäude ist ein idealer Ort für eine Vernissage aus dem Bereich der erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Videokunst. Für den namenlos bleibenden Videokünstler, seine (ehemalige) Freundin, seine Anhänger und Kritiker bedeutet der Besuch der Vernissage die bewusste Hinwendung zu einem durch seine Funktion herausgehobenen und daher he‐ terotopisch zu nennenden Veranstaltungsort und zur Auseinandersetzung mit einer modernen Kunstrichtung, die sich inhaltlich und formal durch die inno‐ vative Suche nach aktuellen Themen bzw. die Erprobung neuer Darstellungs‐ formen auszeichnet. Mit ihrem Interesse an der Videokunst bekunden alle Be‐ sucherinnen und Besucher der Vernissage zugleich ihre Bereitschaft, sich auf diese Suche nach neuen Wegen einzulassen. Der ohnehin besondere Charakter dieses Ortes wird im Verlauf der Diegese noch dadurch hervorgehoben, dass er über einen Zeitraum von unbestimmter Länge infolge Stromausfalls in Dunkel‐ heit getaucht wird. Ob und ggf. in welcher Weise die Protagonisten vor, während und nach der Phase der Dunkelheit in ihrem Denken und Empfinden Wand‐ lungen durchleben, die ggf. (auch) durch den vorgegebenen Raum bedingt sind, 4 Themenfeld III 408 698 Ebd., S. 9. 699 Zu diesem Begriff vgl. ebd., S. 88. soll in der nachfolgenden Analyse erarbeitet werden. Die durch die Lotman’sche Raumsemantik vorgegebene Fragestellung wird wiederum durch hermeneuti‐ sche und semiotische Analyseverfahren ergänzt. 4.6.1 Die Phase vor Einbruch der Dunkelheit - Nous montons. - Comme aspirés par une force. - Paris s’élève devant nous, se découvre peu à peu. - Tant de maisons, tant d’horizon. - Dans la rue, rien ne laisse présager. - Nous marchons les yeux baissés. - Attirés par le sol. - Tout corps qui tombe est attiré vers le bas. - C’est la loi de la gravitation universelle énoncée par Newton. - L’histoire de la pomme. - Doit-on dire attraction ou gravitation? - C’est la même chose. - Je ne crois pas. - Mais nous marchons les yeux baissés dans les rues bordées d’immeubles qui barrent la pensée. - Sans savoir qu’autre chose existe. - Et Paris se découvre. - Nous montons. - D’abord les maisons, leur verticalité, puis les toits et au-delà, l’horizon lentement s’élargit. 698 Die einer unbestimmt bleibenden Zahl von Sprechern zuzuordnenden Stimmen, die - im Anschluss an den Willkommensgruß des vor dem Centre Beaubourg postierten Performancekünstlers - das erste Kapitel von Sentinelles eröffnen, deuten auf einige für das Gesamtverständnis des Romans wichtige Aspekte hin: Das kollektive „nous“, das in der Subjektfunktion viermal erscheint, steht für die Gesamtheit des an der Vernissage teilnehmenden Publikums, das sich von einer nicht näher bezeichneten Kraft magisch angezogen fühlt. Vor dem Hin‐ tergrund der Rede des „acteur-performeur“ 699 , der die zur Vernissage des Video‐ künstlers eingeladenen Gäste ermuntert, „[…] cette grande usine de l’art […]“ zu betreten, um danach den Rest der Menge zu ermutigen, so wie er selbst 4.6 „Sentinelles“ 409 700 Ebd., S. 7. 701 Das Verb „monter“ wird im Kontext des Romans in einem übertragenen Sinn eindeutig im Sinne von ‚se transporter vers un lieu plus haut que celui où l’on était‘ verwandt. Selbstverständlich kann es darüber hinaus auch mit der Bedeutung ‚se déplacer du sud vers le nord (en raison de l’orientation des cartes géographiques, où le nord est en haut)‘, d. h. mit ‚monter à Paris‘ konnotiert werden. (Zu den Definitionen vgl. Le Petit Robert, S. 1667.) 702 Wajsbrot 2013, S. 10. 703 Ebd. 704 Vgl. ebd. S. 10 f.: - Nous arrivons. […] - Nous atteignons. […] - Et nous montons tou‐ jours. […] - Nous arrivons. draußen zu bleiben und „[…] en dehors du pouvoir, en dehors du système […]“ 700 auf ihre eigene Existenz aufmerksam zu machen, ist es eindeutig, dass die auf die Menschen einwirkende Anziehungskraft von der Ausstellungseröffnung ausgeht. Für die durch das Privileg einer Einladung Ausgezeichneten wird der Gang zum Centre Beaubourg durch die echohafte Wiederholung des „Nous montons“ und die Evokation einer unsichtbar bleibenden Wirkungsmacht als ein feierlicher Aufstieg inszeniert. Zugleich geben die „Stimmen“ jedoch zu er‐ kennen, dass für sie die erhebende Erwartung eines außergewöhnlichen Ereig‐ nisses mit der Erinnerung an die von Newton erklärten Gesetze der Schwerkraft einhergeht. Diese kognitive Form der „Erdung“ wird sinnenhaft ergänzt durch den gesenkten Blick der auf dem Weg zum Museum befindlichen Gruppe von Menschen, auf die die geschlossenen Häuserzeilen wie Sperrriegel wirken, die freies Denken und die Vorstellung, dass auch „etwas anderes“ existiert, unmög‐ lich machen. Gleichzeitig „erhebt“ und „offenbart“ sich Paris jedoch schritt‐ weise, und die „Stimmen“ sprechen von in die Höhe aufragenden Gebäuden und einem sich über den Dächern zögerlich weitenden Horizont. 701 Die Vertikalität der Gebäude und die Ahnung eines sich über ihnen öffnenden Horizonts mögen als die Erdgebundenheit überwindende, Transzendenz symbolisierende Zeichen der Hoffnung verstanden werden. Bei ihrer Annäherung an den Schauplatz der Vernissage registrieren die Be‐ sucherströme die „[…] immobilité“ der leeren Säle der Bibliothek und des Musée d’Art moderne und gewinnen dabei, wie eine Stimme es formuliert, den Ein‐ druck „[c]omme si le monde s’était retiré“. 702 Die Atmosphäre der Verlassenheit wird im unmittelbaren Anschluss daran in Bilder übersetzt, die isotopisch mit dem Titel Haute Mer des Romanzyklus verbunden sind: „Une plage à marée basse. / - La mer au loin, inaccessible.“ 703 . Auf ihrem Weg vergewissern sich die Besucher mehrfach ihres Vorankommens und ihrer bevorstehenden Ankunft, 704 sie nehmen ihre Umgebung jedoch als „[u]n monde abandonné“ wahr und emp‐ 4 Themenfeld III 410 705 Ebd., S. 11. 706 Ebd. 707 Ebd., S. 86. Vgl. auch ebd., S. 7. 708 Zitat und Kontext ebd., S. 19. 709 Ebd. 710 Zitat und Kontext vgl. ebd. 711 Ebd., S. 20. finden sich selbst als „[…] les survivants d’une espèce disparue“ 705 , die sich be‐ wusst in die Vergangenheit zurückversetzen, flussaufwärts bewegen, also gegen den Strom schwimmen und gleichwohl mit ihm identifizieren: - Remontant le couloir, nous remontons le temps. - Le cours du fleuve. - Nous sommes le fleuve. 706 Das Museum als „théâtre d’ombres“ - Symbol eines Lebens in einem Raum zwischen zwei Welten Obwohl die Leere der nicht von der Vernissage belegten Abteilungen des Centre Beaubourg darauf zurückzuführen ist, dass die Veranstaltung an einem Dienstag, dem „jour de fermeture“ 707 , stattfindet, erzeugen bereits die ersten Di‐ alogfragmente eine Stimmung der Verunsicherung, die sich am Ende des ersten Kapitels in einem Gespräch über ein Frühwerk des Videokünstlers mit dem Titel L’Ascenseur noch verstärkt. Dem Austausch der „Stimmen“ ist zu entnehmen, dass der Aufzug steigt, ohne je an einem Ziel anzukommen, es sich somit um eine „[…] éternelle élévation“ 708 handelt, die jedoch von der Furcht vor einem Absturz begleitet wird: - Vous extrapolez. - Je vous assure. La chute plane comme une menace. On l’attend et elle ne vient pas. - Ou l’arrivée. - Justement. Comme il n’y a pas d’arrivée, la chute menace. 709 Nachdem das Museum in der Folge als ein abweisendes „[t]héâtre d’ombres“ beschrieben worden ist, in dem die „[…] blancheur […]“ der Wände die Besu‐ cherströme wie eine Flutwelle unter sich zu bedecken scheint, 710 schließt das Kapitel mit sehr nachdenklich stimmenden Beobachtungen: - Nous avons pénétré dans un monde où regnent d’autres lois. - Une part obscure. 711 4.6 „Sentinelles“ 411 712 Vgl. ebd., S. 63-65. 713 Ebd., S. 85 f. 714 Zu den vorangegangenen Zitaten und zum Kontext vgl. ebd., S. 86. Welche Vorstellungen sich hinter diesen kryptisch anmutenden Anspielungen auf den Zustand der Welt verbergen, offenbart der das fünfte Kapitel einleitende Vortrag des „performeur-acteur“, dessen Funktion gelegentlich der eines Erzäh‐ lers nahekommt, der die raum-zeitlichen Hintergründe der Handlung erläutert. Nachdem er bereits zu Beginn des Kapitels IV auf die verheerenden Folgen eines auf das Jahr 1815 zurückgehenden Vulkanausbruchs auf Sumbawa, einer Insel des indonesischen Archipels, hingewiesen hat, 712 erinnert er nun an den islän‐ dischen Vulkan Eyafjöll, dessen Eruptionen im März und April 2010 Staub‐ wolken hinterließen, die Teile des Luftverkehrs in Mittel- und Nordeuropa lahmlegten. Waren die durch den Vulkan ausgelösten Gefahren konkret be‐ obachtbar und beherrschbar, so gilt dies nicht mehr für jenen unsichtbaren, mit jedem technischen Fortschritt bedeutsamer werdenden „nuage informatique“, der, obwohl er nicht materiell fassbar und lokalisierbar ist, irgendwo im Raum vorhanden sein muss: Et quel que soit l’espace, aussi dématérialisé, aussi délocalisé soit-il, il faut tout de même qu’il se trouve quelque part, qu’une place lui soit attribuée. Ce qu’on appelle nuage. Parce que le nuage est immatériel - et hors de portée. Extérieur à nous. Nous le voyons mais nous ne savons pas ce qu’il transporte quand il charrie des cendres volcaniques ou des particules nucléaires. Le nuage informatique, quant à lui, est totalement invisible. 713 Da die in dem unsichtbaren „nuage informatique“ transportierten Daten jedoch „irgendwann“ - […] à un moment ou à un autre […] - „materialisiert“, d. h. zur Nutzung bereitgestellt werden müssen, werden sie in „[des] centres de stockage de données […]“ gelagert, die, wie der Beschreibung des „performeur-acteur“ zu entnehmen ist, in ihrem Äußeren wie „[d]es sous-marins échoués sur la terre“ wirken und in ihrem Inneren aus einem Labyrinth kalt abweisender Säle be‐ stehen „[…] où sont entreposés des placards de rangements pleins de dossiers durs constitués de plaques contenant des milliards de données“. Diese Zentren der Datenaufbewahrung sind in Gegenden angesiedelt, die sich wie „[…] des lieux irréels et glacés […]“ ausnehmen und denselben Schutz genießen wie Hochsicherheitsgefängnisse, militärische Einrichtungen oder Atomkraftwerke. So entsteht das Paradoxon, dass das mit allen Mitteln der Technik behütete „Unsichtbare“ durch die zu seinem Schutz aufgebotenen Mittel und Maßnahmen „sichtbar“ gemacht wird: „Ce qui garde attire l’attention sur ce qui est gardé.“ 714 4 Themenfeld III 412 715 Ebd., S. 87. 716 Ebd. 717 Ebd. 718 Vgl. dazu ebd., S. 87 f. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was der „performeur-acteur“ meint, wenn er die ihm vor dem Centre Beaubourg begegnenden Menschen mit folgenden Worten anspricht: „Vous êtes entre deux lieux, entre deux activités, deux états. Entre deux, c’est notre définition aujourd’hui, entre deux modes de vie, ayant quitté l’ancien - depuis longtemps - sans avoir trouvé le nouveau.“ 715 Die Menschen der Gegenwart bewegen sich nicht nur in einem schwer defi‐ nierbaren Zwischen-Zwei-Welten-Raum, sie führen auch ein - im Vergleich zu früheren Zeiten - Leben unter veränderten Voraussetzungen. Um jedes Miss‐ verständnis auszuschließen, konkretisiert und präzisiert der Sprecher seine Raum- und Zeitanalyse, indem er eine Rückkehr zu den alt-vertrauten Lebens‐ umständen ausschließt und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern erklärt, dass sie, ob sie wollen oder nicht, „angestoßen“, d. h. gezwungen werden „voranzu‐ schreiten“, ohne das im Unsichtbaren verborgene Ziel erkennen zu können: Entre deux modes de vie, tentés par le retour en arrière et poussés malgré nous vers l’avancée. Mais l’avancée vers quoi? On ne voit pas le but, le poteau d’arrivée - immatériel. L’invisible nous entoure. Rien ne nous est donné, il faut gagner, regagner le terrain mètre après mètre. Ne partez pas encore, tout est à venir. 716 Zuvor hat der „performeur-acteur“ seine Zuhörerschaft indirekt zum Besuch der Ausstellung aufgefordert, da der Künstler vielleicht eine Antwort auf ihre Fragen gebe: „Quelquefois l’art vous aide quand il n’est pas une posture ou une entreprise commerciale. Quelquefois l’art peut toucher au cœur. Peut-être est-il un de ces artistes à la voix primordiale. Avec un simple nom, comment sa‐ voir? “ 717 Der „performeur-acteur“ und der „gardien“ als Apologeten der „alten Ordnung“ Wenn der „performeur-acteur“ in der Vergangenheit in pantomimischen Stand‐ bildern stundenlang als Pharaon Tutanchamon, als Erzengel oder Freiheitsstatue posiert und auf diese Weise „Unbeweglichkeit“ - immobilité - und totalen Re‐ deverzicht eingeübt hat, 718 so mag man darin seinen zwischenzeitlichen Versuch erkennen, sich dem Voranschreiten der Zeit durch die statuarische Erinnerung an Figuren mit Symbolcharakter zu widersetzen. Da ihm die Rückkehr in die Normalität jedoch schwerfiel und er das Sprechen neu lernen musste, ermahnt er seine Zuhörerschaft, sich der neuen Herausforderung, stundenlang zu spre‐ chen, zu stellen. Dass er dabei nicht an das Sprechen um des Sprechens willen, 4.6 „Sentinelles“ 413 719 Ebd., S. 88. 720 Ebd., S. 43. - Zum Bild des „veilleur“ bzw. des „gardien de phare“ vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131; B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589; B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.4, S. 441, Anm. 845 / 846. 721 Vgl. dazu ebd., S. 91: Tout s’est remis en marche, tant mieux. Cela arrive. Merci de m’a‐ voir prévenu. 722 Ebd., S. 90 f. Zum Bild des „veilleur“ vgl. B 4.6.1, Anm. 720. 723 Ebd., S. 91. sondern an auf Inhalte bezogenes, die Leere füllendes Sprechen denken dürfte, betont er durch die Aussage: „Parler en trouvant toujours quelque chose à dire.“ 719 Als entschiedenster Vertreter der „alten Ordnung“ tritt der „gardien“, der Aufseher bzw. Hausmeister des Centre Pompidou, auf. Die Identifikation mit seiner Aufgabe als „Hüter des Hauses“ hat er so stark verinnerlicht, dass sich sein Verantwortungsgefühl von der überschaubaren Einheit des Museums auf das große Ganze der in ihrem Ordnungs- und Zeitgefüge zu bewahrenden Welt überträgt: „Préserver ce qui est, maintenir l’ordre des choses, l’ordre du monde. Agir contre la destruction et l’érosion du temps. Nous qui gardons les lieux, ne proposons rien, aucune construction, mais nous arrêtons le trouble, la propa‐ gation - nous veillons.“ 720 Etwas später, nachdem eine auf eine technische Panne zurückzuführende kurzzeitige Unterbrechung der Filmvorführungen - dank der Intervention des „gardien“ - 721 behoben ist und niemand ahnt, dass wenige Minuten später ein Stromausfall alle Säle der Vernissage für unbestimmte Zeit in Finsternis tauchen und die bewegten Bilder auf allen Leinwänden anhalten und auslöschen wird, reflektiert der Aufseher über die Vorzüge der Vergangen‐ heit, in der die „sentinelles“ - die Wächter - Gefahren frühzeitig identifizieren konnten: Je pense parfois à ceux qui faisaient le guet au sommet des châteaux forts. Les sentinelles, scrutant l’horizon pour voir apparaître un point minuscule qui grossirait, deviendrait une tache, des formes vagues, et enfin une armée ennemie, redoutant et espérant à la fois cet instant car c’est celui qui justifiait leur existence - leur mission. Être là pour signaler l’apparition du danger. J’aime l’ordre - que tout soit comme cela doit être. 722 Da er die Bilder auf den Leinwänden wieder in Bewegung zu setzen vermochte, ist der „gardien“ überzeugt, wie eine „sentinelle“ größere Gefahren abgewendet und sich auf besondere Weise bewährt zu haben. Gleichwohl nimmt er sich vor: „Je redouble d’attention.“ 723 4 Themenfeld III 414 724 Ebd., S. 54. Zum Kontext vgl. S. 53 f. 725 Ebd., S. 43. Der Lebens- und Arbeitsraum des Videokünstlers aus der Sicht von Beobachtern seines Wirkens Um den Lebens- und Schaffensraum des Videokünstlers und seine auch aus dieser Perspektive zu betrachtende Kunstvorstellung einschätzen zu können, müssen die Erklärungen von Weggefährten, deren Beziehung zu ihm aus dem Kontext zu erschließen ist, und die Äußerungen einzelner Stimmen herange‐ zogen werden. Einem längeren inneren Monolog eines ehemaligen Studien‐ freundes, der die Entwicklung des Künstlers sehr kritisch beurteilt, ist zu ent‐ nehmen, dass der „vidéaste“ einem „[…] milieu aisé […]“ 724 entstammt und sich daher aufgrund seiner finanziellen Unabhängigkeit stets ausschließlich seinen künstlerischen Interessen widmen konnte. Mit der Lage der Wohnung des Künstlers verbindet eine „Stimme“, die möglicherweise dem Kommilitonen zu‐ zuordnen ist, die Erinnerung an Merkmale, die nicht neutral benannt, sondern mit einem kritischen Unterton erwähnt werden und aus diesem Grunde Fragen provozieren: „ - Je me souviens de la dernière rencontre, chez lui, il habitait dans une tour - je ne sais pas s’il y est toujours - tout en haut, avec une vue plein ciel. Pas de lignes verticales auxquelles se raccrocher, une étendue infinie, in‐ quiétante.“ 725 Die eigentlich naheliegende Vorstellung, dass die Wohnung für den Künstler ein Refugium war bzw. noch ist, das ihm einen weiten Horizont eröffnet und in das er sich gerne aus der Enge und dem Lärm der Großstadt zurückzieht, dürfte der „Stimme“ allzu naiv erscheinen. Der Sprecher mag davon ausgehen, dass ein Videokünstler mit seinem Blick stets auf der Suche nach einer wie auch immer strukturierten bzw. gestalteten Szenerie sein sollte, in der die horizontale durch die vertikale Dimension ergänzt wird. Die Wohnung im obersten Stockwerk eines Hochhauses dürfte dem Künstler jedoch tatsächlich als Rückzugsraum dienen, da er sich, wie ein Redewechsel über die von ihm bevorzugten Themen beweist, mit gesellschaftlichen Brennpunktthemen beschäftigt, sein Arbeits‐ platz also oft ein durch Lärm und äußerste Betriebsamkeit geprägter Raum sein dürfte: - Il filme les villes, jamais un paysage, ni la mer ni la campagne. - Pas de montagne. - Pas de jardin. - Des immeubles, des rues, des gens. - La foule. - Peu à peu des individus se détachent. 4.6 „Sentinelles“ 415 726 Ebd., S. 92. 727 Edgar Allan Poe, The Man of the Crowd, BoodSurge Classics, Title No. 738, 2004; S. 13, (Poe 2004). - À mesure qu’on avance dans le temps. - Même si la foule est toujours présente. 726 Annäherung an die vom Künstler behandelten Themen, seine Zeitvorstellung und sein platonisch beeinflusstes Raumempfinden Im Mittelpunkt des filmischen Schaffens des Videokünstlers steht, wie den hier zitierten „Stimmen“ zu entnehmen ist, offensichtlich das Verhältnis zwischen Individuum und Masse, wie es sich z. B. in Gebäuden und auf Straßen beobachten lässt. Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man die im weiteren Verlauf des obigen Gedankenaustausches zitierten Textzeilen zur Kenntnis nimmt, die als Zitate der kurzen Erzählung The Man of the Crowd (L’Homme des foules) von Edgar Allan Poe entnommen sind. Dieser Text mag, wie die „Stimmen“ sugge‐ rieren, dem Künstler als Inspirationsquelle für einen Film gedient haben. Im Mittelpunkt des Erzähltextes steht ein Mann, der vom Ich-Erzähler als „[…] the type and genius of deep crime“ identifiziert wird und, von Gewissensbissen ge‐ plagt, durch das in Nebel gehüllte Straßengewirr von London irrt, da er das Alleinsein nicht erträgt und den Schutzraum der von einer anonymen Men‐ schenmasse frequentierten Stadt sucht: „He refuses to be alone. […] He is the man of the crowd.“ 727 Im Kontext von Sentinelles haben die Sätze aus Poes Er‐ zählung die Funktion, die Thematik und Atmosphäre des Films und zugleich die kreativen Ideen des Videokünstlers anzudeuten: - „Il faisait maintenant tout à fait nuit et un brouillard humide et épais s’abattait sur la ville, qui bientôt se résolut en une pluie lourde et continue.“ - […] - „L’homme errant passa dans une rue obscure.“ - […] - „Tout le long de celle-ci, il courut avec une agilité que je n’aurais jamais soupçonnée.“ - „Je vis le vieil homme ouvrir la bouche comme pour respirer, et se jeter parmi la foule.“ 4 Themenfeld III 416 728 Wajsbrot 2013, S. 93. - Der englische Originaltext lautet: It was now fully night-fall, and a thick humid fog hung over the city, soon ending in a settled and heavy rain. […] the wanderer passed into a bye-street comparatively deserted. Down this […] he rushed with an activity I could not have dreamed of seeing in one so aged […] I saw the old man gasp as if for breath while he threw himself amid the crowd; but I thought that the intense agony of his countenance had, in some measure, abated. (Zitiert nach: Poe 2004, S. 8, 10 und 11.) 729 Wajsbrot 2013, S. 44. 730 Ebd. S. 23 f. - „Mais il me sembla que l’angoisse profonde de sa physionomie était en quelque sorte calmée.“ 728 Die Beziehung zwischen Masse und Individuum kommt auch in einer Diskus‐ sion über den Film La banque zur Sprache, wobei das Heraustreten des Indivi‐ duums aus der Menge hier bildhaft als langsamer Prozess des Herausfilterns beschrieben wird: „On voit la rue, les passants, et l’intérieur de la banque. Il y a trois espaces, l’intérieur, l’extérieur et le sas qui filtre, goutte à goutte. L’individu existe désormais, dans son œuvre, et ouvre la voie au récit qui caractérise ses travaux des dernières années.“ 729 Vor dem Hintergrund dieses Beispiels wird zu‐ gleich verständlich, welches Zeitverständnis der Künstler als konstitutiv für die Videokunst betrachtet: […] la vidéo permet l’expression d’un temps pur, d’un temps non événementiel. Le cinéma nous a habitués à un rythme rapide qui induit ce qu’on appelle l’action, tandis que la vidéo avec son expérience du temps pur, son usage de la répétition et de la durée… […] L’instant se prolonge dans l’instant d’après, formant une chaîne qui tisse la continuité du temps, dirai-je si on m’interroge ou si on me demande de faire un discours, comme il en était question, pour justifier le ralentissement induit par l’image vidéo […] 730 Was der Künstler unter „un temps pur“ versteht, wird durch die Abgrenzung zwischen dem „traditionellen Kinofilm“ und der Videokunst verständlich. Im Videofilm dient die Zeit nicht als eine werkzeugmäßig einsetzbare Meßeinheit für die Dauer eines Ereignisses, sondern wird als eigene, nicht zu instrumenta‐ lisierende Kategorie betrachtet. Dies wird im Videofilm durch Wiederholungen und Längen betont, wie wir sie aus der Beschreibung von La banque kennen. Im Kontinuum der Zeit geht ein Moment in den nächsten über, als ob er gleichsam in ihn eintauchen bzw. von ihm verlängert würde. Bewirkt wird dadurch die für den Videofilm charakteristische Verlangsamung der Bilder- und Szenenfolge. Der Videokünstler hat dieses Zeitverständnis so stark verinnerlicht, dass er die Zeit in ihrem regelmäßigen Ablauf geradezu physisch zu spüren scheint und die 4.6 „Sentinelles“ 417 731 Vgl. ebd., S. 33. 732 Ebd. 733 Ebd. 734 Platon, Sämtliche Werke - Zweiter Band, Köln und Olten: Im Verlag Jakob Hegner, 6 1969; S. 249 f. Uhrzeit stets auf die Minute genau bestimmen kann, ohne auf die Zeiger und Ziffern zu schauen. 731 Das Raumempfinden des Künstlers unterliegt nicht nur der üblichen Kondi‐ tionierung durch den jeweiligen Aufenthaltsort. Von fundamentaler Bedeutung ist vielmehr die Differenzierung, die er zwischen dem Bereich seines künstle‐ risch-kreativen Schaffens und der Außenwelt vornimmt. Er erlebt den Ort, an dem er seine Filme produziert, als „[…] un monde sans couleur, sans relief “ 732 . Bei der Rückkehr in die reale Welt benötigt er daher einige Minuten, um seine Augen an das Licht und die Farbe zu gewöhnen. Diese Erfahrung des Übergangs beschreibt er so: C’est comme si des silhouettes se détachaient d’un mur ou sortaient de l’écran pour acquérir une consistance, un volume. Comme si d’un coup je passais du cinéma muet en noir et blanc au cinéma parlant et en couleur. Certains jours je ne sais plus si la réalité est du côté des écrans ou du côté du monde. 733 Die von der Videokunst dargestellte Wirklichkeit ähnelt hier in auffälliger Weise jener unterirdischen Welt von Platons Höhlengleichnis, in der die gefesselten, unbeweglichen Menschen gebannt auf die auf der Rückwand der Höhle abge‐ bildeten schattenhaften Umrisse der außerhalb der Höhle längs einer Mauer vorbeigetragenen „[…] Menschenstatuen und Bilder von anderen lebenden Wesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem Stoffe […]“ schauen und „[…] nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde“ 734 . In Platons Gleichnis repräsentieren die in der Höhle gefangen gehaltenen Menschen gleichnishaft die Situation der in der Welt lebenden, in ihrer Erkenntniskraft eingeschränkten Menschen. Für Platon bedeutet daher der Aufstieg der Menschen aus der Höhle an das Tageslicht nur einen ersten Schritt zur Erkenntnis. Den zweiten Schritt vollziehen sie, wenn sie verstehen, dass auch die raum-zeitlich strukturierte Welt nur ein höhlenähnliches Abbild der in der Welt der Ideen aufgehobenen „reinen Wirklichkeit“ ist. So erklärt Sokrates seinem Schüler Glaukon: Die mittels des Gesichts sich uns offenbarende Welt vergleiche einerseits mit der Wohnung im unterirdischen Gefängnisse, und das Licht des Feuers in ihr mit dem Vermögen der Sonne; das Hinaufsteigen und das Beschauen der Gegenstände über der 4 Themenfeld III 418 735 Ebd., S. 252. 736 Wajsbrot 2013, S. 72. 737 Zum Kontext vgl. ebd. 738 Ebd., S. 11. 739 Ebd., S. 95. 740 Ebd., S. 17. Erde andererseits stelle dir als den Aufschwung der Seele in die nur durch die Vernunft erkennbare Welt vor […] 735 Die Vermutung liegt nahe, dass die in L’Ascenseur dargestellte „[…] éternelle élévation“ eine symbolhafte Widerspiegelung jenes Aufstiegsversuchs in die für Menschen unerreichbare Welt der Ideen ist. Auch das ambitionierte Ziel des Künstlers, mit seiner Videokunst „un temps pur“, also Zeit schlechthin oder Zeit in der reinen Form der Idee von Zeit darzustellen, suggeriert, dass er in seinem Denken sehr stark von einem platonisch beeinflussten idealistischen Erkennt‐ nisstreben beeinflusst ist, ohne sich jedoch dessen bewusst zu sein. Sehr wohl bewusst ist er sich jedoch des Unterschieds zwischen der „Außen-Welt“, in der die von ihm beneideten Menschen nach festen Rhythmen - […] travailler, rentrer chez soi, ne plus penser, être en famille - 736 leben. Er selbst hingegen betrachtet sich als einen „in seiner Welt“ kontinuierlich um denselben „Schwer‐ punkt“ kreisenden Menschen, der Fragen nach dem „Warum? “ seines Lebensstils nicht zu beantworten vermag, da er, wie er sagt, „die Theorie nicht liebe“. 737 Wir müssen also davon ausgehen, dass er ein (im positiven Sinne) „naiver“ Künstler ist, dessen Leben in der idealistisch inspirierten Ausübung seiner Kunst aufgeht und und für den die Kunst auf seiner Suche nach der Wahrheit Wege der intu‐ itiven Erkenntnis erschließt. Unterschiedliche Stimmen über die Kunst des „vidéaste“ - Anzeichen einer Veränderung des Ausstellungsortes Die Kunst des „vidéaste“ ist indes, wenn man bewundernde Stellungnahmen aus dem Chor der Stimmen herausfiltert, kein selbstzweckhafter „l’art pour l’art“. Äußerungen wie „Il éclaire mon chemin“ 738 oder „Personne ne sait - pas même lui - qu’il m’a sauvé, que tout ce que je vis depuis cette journée d’il y a cinq ans, je le lui dois. […] j’ai découvert qu’en effet la vie existait“ 739 belegen, dass ihr vielmehr eine therapeutische, ja lebensrettende Funktion zugeschrieben wird. Gleichzeitig wird der Ruf des Künstlers jedoch auch durch einen ehemaligen Kommilitonen und einen Kritiker in Frage gestellt. Der Kommilitone wirft ihm vor, die gemeinsam entwickelte „[…] charte morale […] Ne pas déroger à nos principes. Ne pas céder à la facilité. Se dire la vérité“ 740 verraten zu haben und 4.6 „Sentinelles“ 419 741 Ebd., S. 54. 742 Ebd., S. 75. 743 Vgl. ebd., S. 57 und 59. 744 Vgl. ebd., S. 73 ff. 745 Ebd., S. 80. 746 Vgl. ebd., S. 81. 747 Ebd., S. 82. 748 Le Petit Robert 2006, S. 2784, „VIRTUEL“. 749 Vgl.Wajsbrot 2013, S. 91. 750 Ebd S., 99 f. für „Schmeicheleien“ und „[…] des sirènes promettant le succès“ 741 empfänglich zu sein. Vom Kritiker ist zu hören „[que] les images pétrifiées pèsent de leur présence paradoxale rappelant […] que leur message nous demeure à jamais inaccessible“ 742 . Die hier angedeuteten Zweifel an der Authentizität des Künstlers gehen einher mit einer langsam voranschreitenden Veränderung des Ortes. Der totale Stromausfall, der die Ausstellungsräume für unbestimmte Zeit in Finsternis tauchen wird, kündigt sich in einem aus drei Phasen bestehenden Prozess an: Zunächst stellt sich, wie von den „Stimmen“ zu erfahren ist, der Eindruck ein, dass sich das Abspielen der Filme verlangsamt. Der Zwischenfall ist rasch be‐ hoben. 743 Einige Zeit später kehrt Stille ein, als die Lautstärke abnimmt und die Bilder stehenbleiben, 744 sodass sogar ihre „[…] disparition totale“ 745 nicht mehr ausgeschlossen scheint. Die „Stimmen“ mutmaßen, dass (vermeintlich) zufällige Pannen Teil der Vorführung sein könnten, 746 dass „[t]out devient possible“ und „[l]e virtuel entre en scène“ 747 . Die Störung der üblichen Ordnung der Dinge eröffnet dem freien Spiel der Gedanken und Vorstellungen einen weiten Raum, insofern die Videokunst erstmals andeutungsweise mit der „réalité virtuelle“ als einem „système de simulation interactif par images de synthèse tridimension‐ nelles“ 748 in Verbindung gebracht wird. Die Videokunst könnte also in den Dienst einer nur mental konzipierten Wirklichkeit gestellt werden, die in ihrer Wir‐ kung auf den Betrachter „Echtheit simuliert“, insofern sie in der Form der Dar‐ stellung die „reale Welt“ nachbildet. Kurze Zeit später ist den Worten des „gar‐ dien“ jedoch zu entnehmen, dass der Schaden behoben ist. 749 Die dritte Phase ist schließlich erreicht, als jeder zweite Saal in Dunkelheit versinkt, der Künstler allerdings behauptet, dies intendiert zu haben: „[…] je l’ai voulu ainsi - le pas‐ sage incessant de la lumière à l’obscurité, et de l’obscurité à la lumière. […] Je voudrais une surprise, l’inconnu, quelqu’un qui découvre une chose inat‐ tendue.“ 750 Zugleich stellt er sein eigenes Werk radikal in Frage und glaubt, durch seinen Erfolg und unehrliche Kritik geblendet worden zu sein. In diesem Mo‐ 4 Themenfeld III 420 751 Ebd., S. 100. 752 Ebd., S. 102. 753 Zum Kontext vgl. S. 102 f. 754 Ebd., S. 103. 755 Ebd., S. 104. Fast gleichlautend eine männliche Stimme auf S. 157: D’instinct je me suis immobilisé, comme si le noir et l’immobilité allaient ensemble. 756 Ebd., S. 133. ment, in dem der Protagonist von radikalen Selbstzweifeln umgetrieben wird, setzt „[l]e noir total“ 751 ein. 4.6.2 Die Phase der Dunkelheit Betroffenheit aller von demselben Schicksal - unterschiedliche Reaktionen auf die Dunkelheit Einer ersten Reaktion des „gardien“ ist zu entnehmen, dass eine vergleichbare Panne im Centre Pompidou vorher noch nie vorgekommen ist. Die telefonische Verbindung zur Außenwelt ist nicht abgeschnitten. Eine Evakuierung der Be‐ sucher - [q]uelques centaines au moins - 752 verbietet sich, da angesichts der blockierten Rolltreppen eine Panik ausbrechen könnte. 753 Der „gardien“ spricht sicherlich für alle von der totalen Dunkelheit über‐ raschten Besucherinnen und Besucher der Ausstellung, wenn er seine Empfin‐ dungen in einem inneren Monolog folgendermaßen formuliert: „Tout est relié et pourtant nous sommes coupés les uns des autres, isolés, chacun sur une île.“ 754 Eine weitere „Stimme“, die vermutlich der „confidente“, einer mit dem Künstler seit langem in Freundschaft verbundenen Frau, zuzuordnen ist, bringt den Schrecken über den durch die Finsternis verursachten Abbruch jeglicher Fortbewegung zum Ausdruck, der sie im Moment eines in ihr gerade neu ent‐ stehenden Gemeinschaftsgefühls traf: „Je pensais, nous appartenons tous au monde, quand tout s’est éteint. D’instinct je me suis immobilisée, comme si le noir et l’immobilité allaient de pair, comme s’il fallait s’arrêter.“ 755 Um seine geistige Beweglichkeit fürchtet der Kritiker, den die Angst umtreibt, dass „die Nacht“ seinen Verstand „einhüllt“, „[…] qu’elle le comprime et le rende inutilisable“. Er sieht jedoch nicht nur sich selbst, sondern „[…] la santé de l’hu‐ manité […]“ von apokalyptischen Gefahren bedroht. In einer sich isotopisch aus der Haute Mer-Metaphorik herleitenden Bildersprache gelangt er zu der Schluss‐ folgerung: „Nous perdons nos instruments de mesure, de navigation. En pleine mer comme en pleine nuit.“ 756 4.6 „Sentinelles“ 421 757 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 138. 758 Ebd., S. 142. 759 Ebd., S. 105. 760 Ebd., S. 146. Vgl. zum Kontext ebd. S. 145-149. 761 Vgl. ebd., S. 145 f. 762 Ebd., S. 146. 763 Ebd., S. 146 f. 764 Ebd., S. 147. Zuversichtlich zeigt sich hingegen ein junger Mann, der von sich sagt, dass er dem Künstler und der Kunst sein Leben verdanke. Für ihn steht fest, dass das Licht zurückkehren wird und es lediglich darum geht, „[…] un défi au temps, à l’événement“ zu bestehen. 757 Der Gedanke der Vereinzelung - Chacun est livré à soi-même - 758 wird durch die „Stimmen“ artikuliert, die nicht aufgrund eines besonderen Verhältnisses zum Künstler identifizierbar sind. Durch sie wird zugleich die durch die totale Dunkelheit des Ortes bewirkte Gleichstellung aller Anwesenden und damit die Aufhebung der Sonderstellung des Künstlers hervorgehoben: „- Lui aussi est plongé dans le noir, comme nous. Désormais nous sommes semblables, unis par une communauté de destin, un danger, certes relatif, mais auquel il faut faire face.“ 759 Gespräch der Stimmen mit Verstorbenen, die vor der Macht des Unsichtbaren warnen Der Chor der „Stimmen“ bleibt indes nicht auf beobachtbare Phänomene be‐ zogen, er steigert sich vielmehr in surrealistischer Manier zu einem Gespräch zwischen den im Centre Pompidou Eingeschlossenen und einigen Verstorbenen, die in einem „[…] retour […] éphémère [qui] s’accompagne de lourdeur, de dé‐ chirements“ 760 auf die Erde zurückgefunden haben. Die „Stimmen“ der von Fins‐ ternis umhüllten Gäste der Vernissage geben zu verstehen, dass sie sich in einem Zustand der „transgression“ und der „attente“ befinden und sich als „[p]rison‐ niers de l’obscurité“ auf einem „[…] bateau immobile […]“ fühlen. 761 In dem Maße, in dem „die Welt“ für sie in die Dunkelheit zu entrücken scheint, tritt „die andere Welt“, die Welt des Jenseits, in ihr Blickfeld: „- Le monde recule dans les ténèbres. / - Le néant. / - L’autre monde apparaît.“ 762 In den „Stimmen“ der Toten steigt indes die Erinnerung an „[…] les lieux et leurs tourments, les relations humaines“ und an ihre körperlichen „[…] imperfections […] douleurs […] ma‐ ladies“ 763 auf, bevor sie sich enigmatisch über ihre postmortale Existenz äußern: „- Nous vivons délivrés. / - Vivons-nous? “ 764 Die „Stimmen“ der zurückgekehrten Verstorbenen evozieren in Stichworten Veränderungen und Umwälzungen, die sich nach ihrem Tod in den Bereichen 4 Themenfeld III 422 765 Vgl. S. 147 f. 766 Ebd. S. 148. 767 Ebd. 768 Vgl. ebd. 769 Ebd., S. 149. der Technologie und der Politik zugetragen haben. 765 Mit besonderem Nach‐ druck thematisieren sie die zunehmende Bedeutung des „Unsichtbaren“ in den Naturwissenschaften und die daraus resultierenden Folgen für das menschliche Verhalten: - La science devient de plus en plus immatérielle, repose sur l’invisible - l’infiniment petit, l’infiniment grand. - La vie se numérise. - Et plus l’invisible s’ouvre. - Et plus vous le créez - particules, rayonnement. - Plus vous devenez matériels, attachés aux objets, aux signes. - Vous montrez votre appartenance au monde des apparences. 766 Die Verlagerung technologisch-mathematischer Prozesse in den Bereich des Unsichtbaren, materiell nicht Faßbaren und die Algorithmisierung zahlreicher das menschliche Leben bestimmender Handlungsweisen und Arbeitsprozesse gehen einher mit einer zunehmenden Abhängigkeit der Menschen von Besitz und materiellen Gütern, mit denen sie sich umgeben „[…] pour construire une forteresse contre l’inattendu“ 767 . So jedenfalls urteilen die „Stimmen“ der Ver‐ storbenen in ihrer Analyse der nach ihrem Tode eingetretenen Änderungen im Leben der Menschen. Sie beobachten, dass die Macht unsichtbarer Kräfte of‐ fenbar Ängste auslöst, die dazu führen, dass die Menschen sich umso stärker an konkret Wahrnehmbares, allerdings nur scheinbar Wertvolles, einen „monde des apparences“ klammern. In diesem Zusammenhang weisen die „Stimmen“ der Verstorbenen beiläufig, aber doch auch mit einer mahnenden, einem Me‐ mento mori! ähnelnden Erinnerung (- Souvenez-vous. - De l’invisible. - De nous.) 768 darauf hin, dass auch sie dem Reich des „Unsichtbaren“ entstammen. Erinnerungen an Paul Klees „Engel der Geschichte“ und die auf das Bild bezogenen Betrachtungen Walter Benjamins Nachdem in dem surrealen Chor der „Stimmen“ der auf die Erde, d. h. in die höllenartig anmutende Finsternis des Centre Pompidou zurückgekehrten Ver‐ storbenen schließlich eine weibliche Stimme den Mythos von Orpheus und Eu‐ rydike heraufbeschworen hat, erinnern „Stimmen“ an den „Engel der Ge‐ schichte“ - l’ange de l’histoire - 769 , der in einem Bild von Paul Klee aus dem 4.6 „Sentinelles“ 423 770 Zitiert nach Wikipedia: http: / / de.wikipedia.org./ wiki/ Angelus_Novus (Abruf: 03. 11. 2014). 771 Zitate Wajsbrot 2013, S. 149. Jahre 1920 als Angelus Novus Gestalt angenommen hat. Walter Benjamin hat das Werk im Sommer 1921 gekauft und in der IX . These seines Textes Über den Begriff der Geschichte darüber folgendes geschrieben: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausge‐ spannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergan‐ genheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschla‐ gene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wäh‐ rend der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. 770 Mit der Bezugnahme auf Paul Klees Angelus Novus und der auf das Werk bezo‐ genen Betrachtung von Walter Benjamin übermittelt der Text eine auf die Lage der Menschen der Gegenwart bezogene Botschaft. Sie sind - wie der Engel - konfrontiert mit Lasten der Vergangenheit von unvorstellbarem Ausmaß. Alle Bemühungen, im Sinne einer rückwärts gewandten, kritischen Auseinander‐ setzung mit der Vergangenheit die von vorangegangenen Generationen hinter‐ lassenen Hypotheken abzutragen, werden dadurch erschwert, dass „paradie‐ sisch“ anmutende Verlockungen einer verheißungsvollen Zukunft, der „Sturm des Fortschritts“, den Engel bzw. die Menschen nach vorne treiben. - Der Chor der „Stimmen“, der in seinen Kommentaren über den Angelus Novus mehrere Gedanken der dialektischen Reflexion Benjamins entlehnt, nennt den „Wind“ als treibende, den Fortschritt symbolisierende Kraft an erster Stelle: „ - Le vent la [> la figure] pousse, implacablement“, um im Anschluss daran die jegliche Bewegung erschwerenden Widerstände, die sich aus den die Gegenwart belas‐ tenden Spannungen zwischen der Vergangenheit und Zukunft herleiten, her‐ vorzuheben: „- Elle avance, tournée vers l’arrière? / […] / - Elle recule, tournée vers l’avant.“ 771 4 Themenfeld III 424 772 Ebd., S. 135. 773 Ebd., S. 135 f. 774 Vgl. ebd., S. 137: - C’est comme si l’obscurité nous avait, non éloignés mais séparés définitivement. / - Avait creusé un abîme. / - C’est bien ça. Je me sentais arraché à la terre. / - Moi, précipité dans les entrailles. / - Extrait des profondeurs. / - Sans re‐ cours. / - Sans espoir. 775 Vgl. ebd.: - Nous nous sommes retrouvés. / - Donne-moi ta main, que je sente que tu es là. […] / - Je te sens. Quel soulagement. / - De retour d’un pays hostile./ - D’une zone de danger. / - Tout redevient comme avant. […] / Je n’ai plus peur. Von existentieller Bedeutung für die „Stimmen“ sind auch die Assoziationen mit einem „[…] royaume des Ombres“ 772 , die der Ausbruch einer totalen Fins‐ ternis in den Räumen des Centre Pompidou in ihnen geweckt hat: - Nous ne savons rien les uns des autres. - Je vous connais peut-être. - Nous sommes devenus des formes, des voix. - J’ai compris le royaume des Ombres. - Quel royaume? - Quelles ombres? - Les Champs-Élysées. Le Léthé. L’Achéron. - Ils n’ont plus de corps. - Et nous n’en avons plus. - Détachés de leur vie. - Des souvenirs. - Comme en apesanteur. 773 Die Besucherinnen und Besucher fühlen sich voneinander entfremdet und auf eine unsichtbare, körperlose Existenz reduziert, wobei als „Schattenreiche“ zu‐ nächst die nahe Glitzerwelt der Champs-Élysées mit Lethe, dem Fluss, der jeg‐ liches Erinnerungsvermögen der in der Unterwelt angekommenen Seelen aus‐ löscht, und dem Acheron, auf dem Charon die toten Seelen in den Hades überführt, zu konkurrieren scheint. Entscheidend in diesem Kontext sind jedoch die rivalisierenden Stimmen der Hoffnungslosigkeit 774 und Zuversicht 775 , die nicht zur Übereinstimmung finden. Die Selbstkritik des Videokünstlers: Bekräftigung seines Bekenntnisses zu einer platonisch inspirierten Arbeitsweise Der Videokünstler gelangt unter dem Eindruck der Dunkelheit und der sein Denken dominierenden Schattenwelt zu der Einsicht, dass er seine künstlerische Arbeit, die er mit einer sich täglich wiederholenden „[…] pénible ascension d’une 4.6 „Sentinelles“ 425 776 Ebd., S. 114. 777 Ebd. 778 Ebd., S. 115. 779 Ebd., S. 150 f. haute montagne […]“ 776 vergleicht, reformieren muss. „Filmer des ombres dans la nuit dont les contours se distinguent à peine mais se devinent. Percevoir le mouvement, le désigner comme seule trace de présence. L’œuvre à venir porte tous les espoirs.“ 777 Hier zeichnet sich bereits die Absicht ab, den Einsatz film‐ ischer Mittel zu minimalisieren, mit Andeutungen zu arbeiten und dabei das essentiell entscheidende Moment zu avisieren. Mit einer Mischung aus Selbst‐ kritik und einem an „andere“ adressierten Tadel spricht er über seine bisherige Arbeit und entwirft zugleich eine Zukunftsperspektive: Nous pensions, cette fois je dirai tout, à la fois le monde et l’art, et la vie, je parlerai de moi, des autres, et ceux qui me considéraient d’un air sceptique, ceux qui manipulaient mes images de leurs mains gantées seront forcés de reconnaître ma valeur, de regarder l’œuvre totale que j’aurai produite. L’œuvre finale qui rend les autres inutiles. 778 Der Künstler räumt ein, zugelassen zu haben, dass - auch durch die Mitwirkung von „anderen“ - in seiner Arbeit die Prinzipien der Kunst mit profanen Inte‐ ressen vermischt wurden. Er nimmt damit die in B 4.6.1 bereits erwähnte Kritik eines ehemaligen Kommilitonen auf, äußert sich hier jedoch nur vage über seine Absichten. Noch vor der Rückkehr des Lichts sieht er ein, dass die Dunkelheit, die er zunächst nur als Bedrohung empfunden hat, ihm neue künstlerische Wege eröffnet hat: […] - cette obscurité tombée, en dérobant mes œuvres aux regards, les fait pour ainsi dire disparaître de ma conscience, ouvre d’autres chemins. J’étais trop matériel, je montrais le monde tel qu’il est en espérant le décrypter. Ces lieux prosaïques - un parking, un supermarché, le boulevard périphérique. […] On peut dire que je propose un autre regard sur eux mais cela ne suffit pas. L’autre regard ne se commande pas, il faut le construire, le gagner. Il faut trouver d’autres lieux, être porteur d’une vision. Je vais chercher. 779 Im Zentrum seiner Selbstkritik steht die Einsicht, dass er „die Welt“ in seiner filmischen Arbeit zwar mit einem unkonventionellen Blick, aber letztlich in viel zu starkem Maße nur abbildhaft dargestellt und geglaubt hat, sie damit bereits zu enträtseln. Der notwendige „andere Blick“ stellt sich jedoch nicht von selbst ein, sondern ist vielmehr Ergebnis kreativer Arbeit und der beharrlichen Suche 4 Themenfeld III 426 780 Ebd., S. 151. 781 Ebd. 782 Ebd. 783 Ebd., S. 152. nach geeigneten Orten und einer angemessenen Betrachtungsweise. Seine Ziel‐ vorstellung liest sich wie ein platonisch inspiriertes Ideal: Donner une idée de l’ombre qui accompagne chacun de nous, qui s’attache à nos pas, filmer les ombres au lieu des êtres pour donner une idée de ce qui nous habite. […] Faut-il ne pas vouloir? Filmer les ombres qui nous accompagnent sur les parvis, les terrasses. Effacer l’immédiat, le direct, les présences trop connues. 780 Der Künstler beabsichtigt, fortan die „hinter“ den Personen und Dingen ste‐ henden Ideen ins Bild zu setzen, die, wie wir aus dem Höhlengleichnis wissen, nur in Schattenbildern erkennbar werden. Eine „Idee“, die den Künstler zeitle‐ bens erfüllt und geleitet hat, wird von einer Person, die seine Großmutter ge‐ wesen sein dürfte, verkörpert, der er sich über ihren Tod vor ca. 10 Jahren hinaus noch immer sehr eng verbunden weiß und die er bezeichnenderweise inmitten seiner Reflexion über „une idée de l’ombre“ anspricht: „Je ne te vois pas, je ne te vois plus. Tu ne viens pas me rejoindre. J’aurais cru, dans le silence, réentendre ta voix.“ 781 Sie hat ihm jenes Verständnis entgegengebracht, das ihm seine Eltern vorenthalten haben. Er bezeichnet sie als „[…] mon refuge, le rempart qui me défendait contre les assauts, l’inimitié du monde“ 782 . Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Erinnerung an sie und das Erleben ihrer „présence invisible“ in eben diesem Kontext aktualisiert werden. In der Person der verstorbenen Großmutter lebt für den Künstler die Idee liebevoller Zuwendung in einer von ihm als voll‐ kommen empfundenen Weise weiter. Ihre von ihm in seinem inneren Monolog imaginierte Aussage „On tient trop compte de ce qu’on voit“ 783 bestärkt ihn in seiner Absicht, nach den Ideen, die im unzugänglich Verborgenen aufgehoben und in der realen Welt nur umrisshaft abgebildet sind, zu suchen. Die Verunsicherung des Künstlers am Ende der Dunkelheitsphase Der Ort seiner Vernissage wird für den Künstler weniger aufgrund der Dunkel‐ heit als vielmehr aufgrund des Stillstands der Zeit - die Vorstellung der Zeit hat sich in ihm räumlich „verankert“ - unerträglich. Die Zeit und den Raum - le monde dans lequel j’habitais - betrachtet der Künstler als einen für das mensch‐ liche Leben notwendigen Ordnungsrahmen, der seine Funktion nur erfüllt, so‐ lange beide Faktoren zusammenwirken. Mit dem Stillstand der Zeit ver‐ schwindet die Möglichkeit eines „nach vorn“, in die Zukunft gerichteten 4.6 „Sentinelles“ 427 784 Vgl. ebd., S. 159 f.: La notion du temps s’est ancrée en moi - j’ai besoin d’un cadre, d’une structure, et le temps m’a formé. Je calculais, tant de minutes, tant de secondes, pour construire le monde dans lequel j’habitais. Je sentais sa présence, je savais le mesurer sans le recours d’un instrument, je le comprenais. […] Il me donnait une direction. J’allais d’un avant à un après, de jour en jour, et je croyais en l’après. L’après ne laissait pas de trace. Zum Aspekt der Zeitmessung vgl. auch ebd., S. 33. 785 Ebd., S. 160. Zum Kontext vgl. S. 159-162. 786 Zitate ebd., S. 161. 787 Ebd. 788 Ebd., S. 171. Lebens. 784 Der Videokünstler sieht sich folglich in einem existentiellen Notstand, in dem er sich allein gelassen und um den Verstand gebracht sieht: „[…] je suis seul. Je deviens fou […]“ 785 . In dieser Situation erinnert er sich voller Bewunde‐ rung an den vor dem Centre Pompidou auftretenden Performancekünstler, der mit seiner „[…] immobilité qui durait au-delà du pensable […]“ den Ehrgeiz hat, einer Statue zu gleichen und so seinen „[…] défi au temps“ 786 ins Bild setzt. Für den „vidéaste“ jedoch sind die als sicher angenommenen Grundvoraussetzungen des Lebens nicht mehr gegeben - [l]es certitudes ont disparu […] - 787 der Aus‐ stellungsort ist für ihn zu einer Realität gewordenen Dystopie mutiert. - Die Abhängigkeit des Künstlers von einem raum-zeitlich bestimmten Ordnungsge‐ füge scheint in einem merkwürdigen Gegensatz zu seiner platonisch-idealisti‐ schen Kunstauffassung zu stehen. Die Trennung zwischen „l’art et la vie“ gilt jedoch auch für einen künstlerisch wirkenden Menschen. Erst über die Aus‐ übung seiner Kunst betritt er eine die Begrenztheiten von Raum und Zeit über‐ windende Brücke zu einem „au-delà“. 4.6.3 Die Phase nach der Rückkehr des Lichts Zur Überraschung des „gardien“ bricht nach der Rückkehr des Lichts in den Sälen der Vernissage keineswegs die von ihm erwartete Hektik aus. Vielmehr beobachtet er, dass „[…] ils [les gens] restent, l’espace s’est resserré, ils sont dans les dernières salles, il y en a encore un peu dans les premières, dispersés, mais ils sont rares, immobiles, apparaissant comme des sortes de vigies, des figures de proue d’un navire échoué“ 788 . Die - wiederum durch die Haute Mer-Thematik inspirierte - Szenerie im In‐ nern des Centre Beaubourg, dessen Umrisse Assoziationen mit einem Ozean‐ dampfer auslösen, ähnelt der auf einem Schiff, das zu kentern droht. Die Masse der Menschen hat sich in dieselbe Richtung bewegt, dorthin, wo ein sicherer Raum vermutet wird. Die wenigen, unbeweglich und verstreut in den „ersten Sälen“ zurückgebliebenen Besucher werden mit „Ausguckposten“ bzw. den (in 4 Themenfeld III 428 789 Zum Kontext und zu den Zitaten vgl. S. 169 f. 790 Vgl. ebd., S. 174. 791 Ebd., S. 177. früheren Zeiten) am Schiffsbug angebrachten „Galionsfiguren“ verglichen. In ihrer Vereinzelung und Verlassenheit wirken sie wie mutige Passagiere, die vor dem drohenden Schiffbruch nicht zurückgewichen sind. Die in der Mehrzahl nicht identifizierbaren „Stimmen“, die einen Querschnitt der Besucherinnen und Besucher der Vernissage repräsentieren, artikulieren ihre durch die Phase der Dunkelheit provozierte Unsicherheit und Orientie‐ rungssuche in einer vielfältig differenzierten Weise. Ihre Bemühungen, sich nach der Rückkehr des Lichts in Raum und Zeit wieder zurechtzufinden, sollen in einem ersten Schritt analysiert werden. Im Anschluss daran ist zu untersu‐ chen, ob und ggf. welche Veränderungen die Finsternis im Denken des Video‐ künstlers verursacht hat. Dabei werden, wo es notwendig ist, auch „Stimmen“ aus seiner Umgebung in die Überlegungen einbezogen. Neuorientierung des Publikums in Raum und Zeit Die Gedanken und Emotionen der aus der Dunkelheit ins Licht zurückgekehrten Menschen kreisen um ihre Identität („- Qui êtes-vous? / - Qui es-tu? / - Sommes-nous restés les mêmes? “), um ihren Aufenthaltsort, ihre Befindlichkeit (- Et nous flottons encore. / - Entre deux mondes. / - Deux états. / - Le sommeil et l’éveil. / - Hier et demain. / - Nous émergeons d’un long tunnel.) und nicht zuletzt um die Rückgewinnung der Kontrolle über die Zeit (- Connaître l’heure, au moins.). Für den „gardien“ steht zudem fest, dass es sich um „[u]ne panne aléatoire“ gehandelt haben muss, zumal der Schaden - nach einer Wartezeit „[d’]une durée infinie“ - in wenigen Minuten behoben war. 789 In den „bribes de conversation“ der „Stimmen“ führt sodann der Hinweis, dass die Videokunst von den technischen Fortschritten der Videoüberwachung nicht nur profitiert habe, sondern aus ihr hervorgegangen sei, 790 im weiteren Verlauf des Rede‐ wechsels von beispielhaften Einsatzorten der Überwachungstechnik zu den un‐ begrenzten Möglichkeiten der künstlerischen Nutzung: - Tout est surveillé. - Mais tout se transforme. - Peut se transformer. - En lieux d’art. 791 4.6 „Sentinelles“ 429 792 Vgl. ebd., S. 178-187. Marc Wallingers Threshold to the Kingdom (2000) thematisiert die Ankunft von Fluggästen im London City Airport, wobei das United Kingdom mit dem Himmel assoziiert werden kann. Vgl. dazu: realitybitesartblog.blog‐ spot.de / 2011 / 07 / bite-133-mark-wallinger-threshold-to.html (Abruf: 12. 11. 2014). In Incidence of Catastrophe (1987-88) erzählt Gary Hill „eine traurige Geschichte miss‐ lingender Orientierungsversuche, zunehmender Auflösung des Selbst und des Verlustes menschlicher Würde. […] Die 43 Minuten dauernde Videoarbeit geht auf Maurice Blan‐ chots Roman ‚Thomas der Dunkle‘ (1941) zurück, in dem die Erfahrung des Lesens thematisiert wird.“ Entnommen aus www.nrw-museum.de/ #/ incidence-of-catastrophe-588.html, bzgl. einer ausführlichen Würdigung vgl. ebd. (Abruf 12. 11. 2014). 793 Wajsbrot 2013, S. 190. 794 Vgl. ebd. S. 33: Mais la vidéo est une chorégraphie, un art de notre temps qui - à l’ère des migrations, des déplacements - construit de vastes ensembles mobiles dont l’indi‐ vidu n’est qu’un élément. Mais depuis, c’est comme s’il s’était fondu dans la masse - d’une façon inexplicable. (Diese Äußerung stammt von dem ehemaligen Kommilitonen des Künstlers.) 795 Ebd., S. 191. 796 Ebd. Die Thematik des „Unsichtbaren“, ihre Bedeutung für das Leben der Menschen und ihr Einfluss auf die Videokunst und den Protagonisten - Die Entdeckung „einer anderen Welt“ Nach Exkursen über Marc Wallingers Threshold to Kingdom und Gary Hills’ The Incidence of Catastrophe 792 konzentrieren sich die „Stimmen“ auf ein im Rahmen der Vernissage vorgeführtes, älteres Werk des Künstlers, das die folgende Stel‐ lungnahme hervorruft: Celle-ci, Sur le quai d’une gare. Il ne l’avait jamais montrée même si la date n’est pas très récente. Vous avez remarqué sa façon de filmer les déplacements, la mobilité? Les questions qu’il suscite? Pourquoi ce désir de partir, d’aller ailleurs? Il y a des raisons économiques, bien sûr, mais au-delà, il se joue autre chose et c’est ce sentiment d’un sens au-delà de l’image que j’aime chez lui. 793 Neben der erneuten Betonung der Mobilität und des Aufbruchs im Werk des Künstlers - diese thematischen Schwerpunkte sind bereits an früherer Stelle als typische Merkmale der Videokunst im Allgemeinen bezeichnet worden - 794 fällt hier besonders auf, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer hinter dem vordergründig-manifesten Eindruck, den die Bilder des Films vermitteln, einen hintergründig-latenten Sinn zu entdecken meinen. Dabei erwecken die Passa‐ giere, die als eine von den Zügen abgelieferte bzw. aufgenommene „[…] car‐ gaison humaine, qui semble se hâter vers un but mystérieux“ 795 beschrieben werden, den Eindruck, als würden sie „[…] par un principe inconnu, une force invisible“ 796 , bewegt. Berücksichtigt man, dass sie sich „[e]n état de fragilité to‐ 4 Themenfeld III 430 797 Ebd. 798 Vgl. ebd.: - Cette panne, dis-je. - J’y pensais, dit-il. Nous étions comme eux, impuissants face à l’inconnu. - Dépendants. - En état de fragilité totale. 799 Ebd., S. 204. 800 Ebd., S. 204 f. tale“ 797 befinden, liegt eine Assoziation mit Menschen, die in eines der Vernich‐ tungslager der Nationalsozialisten deportiert worden sind, durchaus nahe. Nicht leicht nachvollziehbar ist zunächst, dass die „Stimmen“ nach dem Erlebnis der Verdunkelung diesen Zustand absoluter Schwäche auch auf sich selbst be‐ ziehen. 798 Der Sinn erschließt sich jedoch, wenn man die Vordergrundhandlung in ihrem Ablauf paradigmatisch als Beispiel für die Bedrohung durch „das Un‐ sichtbare“ versteht, der die Menschen in ihren alltäglichen Lebensvollzügen, ja sogar in der Begegnung mit Kunst ausgesetzt sind. Die Suche nach verborgenem Sinn und das Staunen über unsichtbare An‐ triebskräfte und Ziele werden von den „Stimmen“ in den Zusammenhang der „[…] panne aléatoire du système informatique“ gerückt, die sich, wie man be‐ fürchtet, jederzeit wiederholen kann und daher im Bewusstsein der Menschen präsent ist: „- Nous avons découvert. / - Un autre monde. / - L’invisible.“ 799 Erst infolge einer ursächlich banalen, bzgl. ihrer Wirkung deutlich spürbaren funk‐ tionalen Störung des technischen Steuerungssystems des Centre Pompidou wird die Aufmerksamkeit der Vernissagebesucher auf die Ausbreitung der neuen Technologien gelenkt, die sich, wie das Beispiel der modernen Medien beweist, immer stärker „entmaterialisieren“, sodass auch die mediale Vermittlung von Kunst unsichtbar wird: - La taille des supports diminue. - Et puis ils disparaissent. - Il reste l’art pur. - C’est-à-dire? - La musique et ses sons. - La littérature et ses textes. - Pas d’intermédiaire. - Pas d’objet. - L’accès direct. - Par un transfert invisible. 800 Es ist nicht verwunderlich, dass die „Stimmen“ in diesem Kontext an die von dem Philosophen Jean-François Lyotard kuratierte Ausstellung Les Immatériaux erinnern, die tatsächlich 1985 in der fünften Etage des Centre Pompidou, also in denselben Räumen wie die in Sentinelles inszenierte Vernissage, stattfand: 4.6 „Sentinelles“ 431 801 Ebd., S. 206. 802 Antonia Wunderlich, Der Philosoph im Museum - Die Ausstellung „Les Immatériaux“ von Jean François Lyotard, Bielefeld transcript Verlag 2008, S. 11 (Wunderlich 2008). 803 Ebd. 804 Ebd., S. 11 f. - À cet étage. - Dans ce centre. - Eut lieu une exposition. - En 1985. - Les Immatériaux. 801 Antonia Wunderlich erläutert in ihrer Dissertation Der Philosoph im Museum, dass Lyotard eine zentrale Frage stellen wollte: Verändern die ‚Immaterialien‘ die Beziehung des Menschen zum Material, wie es in der Tradition der Moderne festgelegt ist, zum Beispiel durch das cartesische Pro‐ gramm: ‚sich zum Herrn und Besitzer der Natur zu machen‘? Lyotard war der Mei‐ nung, dass ein großer Umbruch stattfände, der durch die neuen Technologien, vor allem Telekommunikation und Informatik, sowohl überhaupt erst sichtbar als auch vorangetrieben würde. Die Entwicklung von der Materie bearbeitenden Industriege‐ sellschaft zur Daten verarbeitenden, informatisierten Gesellschaft habe vor allem Auswirkungen auf den menschlichen Geist, für dessen Funktionen es bisher keinen maschinellen Ersatz gegeben habe. 802 Lyotard hatte 1985 längst erkannt, dass in der Zukunft auch menschliches Denken „durch die Möglichkeit zur Speicherung und Verarbeitung entmateri‐ alisierter Daten“ 803 von Maschinen übernommen werden könne. Er gestaltete die Ausstellung mit einer großen Zahl von „Computern, Projektoren und an‐ deren High-Tech-Elementen“ als einen […] überdimensionale[n] Datenraum, in dem sich Besucher, Objekte, szenographische Elemente und Klänge in einem beständigen Austausch miteinander befanden. Die Ausstellung verwirklichte so Lyotards Bild der zukünftigen Welt, in das er die Besu‐ cher hineinholen wollte, um ihnen einen Vorgeschmack auf die verunsichernden Er‐ fahrungen zu bieten, die ihnen in ihrer unmittelbaren, alltäglichen Zukunft seiner Meinung nach immer wieder begegnen würden. 804 Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, worauf die „Stimmen“ anspielen, wenn sie die Erinnerung an die Ausstellung Lyotards aus dem Jahre 1985 mit den eigenen Erfahrungen ihres Ausstellungsbesuchs korrelieren: - Nous découvrons l’invisible. 4 Themenfeld III 432 805 Wajsbrot 2013, S. 207. 806 Vgl. insbesondere ebd., S. 221, 223, 245, 248. 807 Zitate ebd., S. 244. 808 Ebd., S. 245. 809 Ebd. - L’immatériel. - L’indicible. 805 In welchem Maße der Besuch der Ausstellung für das Publikum die Erfahrung einer Grenzüberschreitung bedeutet, wird nach der Aufhebung der Dunkelheit durch den Austausch der „Stimmen“ mehrfach zum Ausdruck gebracht. 806 Die Menschen müssen die Vernissage wie eine erhellende Bergbesteigung erlebt haben, da sie ihre bevorstehende Rückkehr in ihren Alltag als „Abstieg“ (- Nous allons redescendre.) bzw. als „Wiedererlangung“ eines sicheren Hafens (- Et regagner le port.) empfinden und ihre Alteritätserfahrung in einer sehr allge‐ meinen (- Nous étions à l’écart. / - Nous avons connu l’expérience de la sépa‐ ration des mondes.), 807 zugleich jedoch in einer mehrfach konkretisierten Form beschreiben. So betonen sie in dem hier zitierten Kontext den Gegensatz zwi‐ schen „- Intérieur, extérieur / - L’art et la vie / - Le musée et la ville“, heben damit also den heterotopischen Charakter des Museums als Ort der Kunst hervor. Sie sind sich bewusst, dass sie für kurze Zeit in ein für sie fremdes Milieu mit spezifischen Kodierungen, Verhaltensformen und Eklusivitätsvorstellungen eingetaucht sind: „- Nous vivions à l’écart. / - Un milieu avec ses querelles. / - Ses codes. / - Ses adoubements, ses parrainages. / - Ses exclusions.“ 808 , und sie kontrastieren damit ihr eigenes Leben, das sich in den engen Grenzen traditi‐ onsgebundener und schichtenspezifischer Konventionen vollzieht: - Nous vivons en vase clos. - Nous nous fréquentons entre nous. - Ne supportons que nous. - Le jour, la nuit, ensemble. - Ensemble pour travailler - ensemble pour coucher. - Pour aimer. - Détruire. - Des cultures de serre. - À l’abri du monde réel. 809 Wie stark die Idee von „zwei Welten“ zwischen unterschiedlichen Vorstellungen oszilliert, die von platonisch inspirierten über transzendental-personale Kon‐ zepte bis zur Annahme allgegenwärtiger Überwachungssysteme einer einstmals 4.6 „Sentinelles“ 433 810 Ebd., S. 221. 811 Vgl. ebd., S. 223. 812 Vgl. Wajsbrot 2013, S. 223 f. für utopisch gehaltenen Brave New World reichen, illustriert der folgende Re‐ dewechsel: - Existe-t-il deux mondes? - Celui-là et un autre? - Dont nous serions le reflet? - Quelqu’un nous observe? - Nous manipule? - Nous surveille? - Les caméras. - Omniprésentes. - Qui les a placées? - Existe-t-il deux mondes? 810 „Zwei Welten“ können jedoch auch, folgen wir dem Chor der „Stimmen“, die Konkurrenz zwischen „Le passé, le présent“ bedeuten, die sich in einer für die Menschen verhängnisvollen Weise in einem „mélange“, einer „fusion mortelle“ auflöst. 811 Grenzüberschreitungen in Bill Violas „The Reflecting Pool“ Sehr erhellend sind in diesem Zusammenhang die in den Gesprächsfragmenten ausgetauschten Erinnerungen an Beispiele der Videokunst, in denen die Grenzen zwischen „äußerem“ und „innerem“ Erleben, zwischen „Realität“ und „Virtualität“ ineinander übergehen. Exemplarisch sei auf Bill Violas The Reflec‐ ting Pool (1977-79) verwiesen, einen Klassiker unter den Videofilmen, in dem Spiegelungen und Schattenwirkungen eine große Rolle spielen, wie bereits die auf den Film bezogenen Gesprächsfetzen in Sentinelles insinuieren. 812 Eine be‐ sondere Beziehung des Werks zu Cécile Wajsbrots jüngstem Roman deutet sich dadurch bereits an. Erwähnenswert ist auch, dass das Whitney Museum of American Art in New York im Frühjahr 1998 für eine Retrospektive des Lebens‐ werks des damals 47-jährigen Bill Viola die für siebzehn Videoinstallationen freigeräumten zwei oberen Stockwerke total verdunkelte und die Installations‐ räume obendrein in labyrinthischer Form anordnete. Die einzige Lichtquelle waren die Installationen. Die auf diese Weise vom Museum bzw. den Ausstel‐ lungskuratoren verfolgten Intentionen erklärt Hartmut Böhme folgender‐ maßen: 4 Themenfeld III 434 813 Hartmut Böhme, „Video, ergo intineror [sic]. - Reisen ins Imaginäre in der Videokunst von Bill Viola“, in: Honold, Alexander / Köppen, Manuel (Hrsg.), „Die andere Stimme“. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Festschrift für Klaus Scherpe; Köln 1999, S. 353-369; hier: S. 353 (Böhme 1999b). - Dass Cécile Wajsbrot über die 1999 im Whitney Museum of American Art in New York für den Videokünstler Bill Viola durchgeführte Restrospektive informiert war, ist anzunehmen. Damit wäre eine wichtige Inspirati‐ onsquelle für Sentinelles gefunden. 814 Der Film ist abrufbar über www.youtube.com/ watch? v=GHdX7sApIMc (Abruf: 14. 11. 2014). 815 Andreas Mertin, „Videoclips XVIII - Bill Viola oder: Der Sinn fürs Unendliche“, in: www.theomag.de/ 25/ am96.htm (Abruf: 14. 11. 2014) (Mertin - Bill Viola). 816 Bzgl. ausführlicher Darstellungen vgl. Böhme 1999b, S. 366 f. und Mertin - Bill Viola. Man sollte in eine andere Welt eintreten. Der Gang durch die siebzehn Zellen sollte zu einer Initiation in die Welt Violas, einer Reise in die kunstvollen Phantasmen eines Gehirns werden. Durchaus drängte sich der Eindruck auf, daß der Gang durch die labyrinthischen Installationsräume als eine Reise durch die inneren Kammern der Imagination Violas selbst inszeniert war. […] Man tauchte in eine Bilderwelt, welche nicht die Außenwelt wiedergab, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Ein‐ bildungskraft des Gehirns zu erwachsen schien. 813 Letzteres gilt in hohem Maße für The Reflecting Pool. Dies lässt sich sogar durch eine stark gekürzte Wiedergabe der Bildfolge vermitteln. 814 Ein aus einem Wald kommender Mann, der von Viola selbst dargestellt wird, tritt an den Rand eines Pools, bleibt dort einige Zeit regungslos stehen, um dann zu einem Sprung ins Wasser anzusetzen. Sein Körper verharrt jedoch in einer fötusähnlichen Stellung in der Luft, ohne dass auf der Wasseroberfläche ein Schattenbild des Körpers zu erkennen wäre. Vom Körper des Mannes fallen einige Tropfen ins Becken. Gleichzeitig diffundiert die Figur, löst sich auf „wie bei einem Fadingeffekt“ 815 , scheint mit den Bäumen des Waldes eins zu werden. Die Verwirrung des Be‐ trachters wird noch dadurch gesteigert, dass für kurze Zeit unter der Wasser‐ oberfläche die Schatten zweier am Beckenrand entlang schreitender Menschen zu erkennen sind, ohne dass die durch sie abgebildeten realen Figuren im Bild erscheinen. Schließlich entsteigt dem Wasser ein nackter Mann und ver‐ schwindet im angrenzenden Wald. 816 In welchem Maße religiöse Aspekte wie z. B. der Taufritus in den christlichen Religionen oder andere religiös motivierte Reinigungszeremonien für das Ver‐ ständnis des Films relevant sein könnten, kann und muss hier nicht erörtert werden. Wichtig für den Zweck dieser Untersuchung ist jedoch die Erkenntnis, dass man als Betrachter in „[ein] Spiel von Spiegelungen und Reflexionen, An‐ wesenheit und Abwesenheit, Körperbildern und Phantomen [hineingezogen wird] und […] in eine poetische Verzauberung und eine magische Vertauschung 4.6 „Sentinelles“ 435 817 Böhme 1999b, S. 367. 818 Ebd., S. 353. 819 Vgl. Wajsbrot 2013, S. 247f: - Et nous redescendons. / - Vers l’avenir. / - La reprise du temps. / - L’extérieur nous appelle. / - Nous broie dans sa course. 820 Ebd., S. 248. des Imaginären und Realen hineingeraten [soll]“ 817 . Das Beispiel von The Re‐ flecting Pool erleichtert es uns nachzuvollziehen, dass den Besuchern der New Yorker Retrospektive „[…] eine[r] visuelle[r] Beiwohnung der Innenwelt eines anderen Menschen“ ermöglicht wurde und sie erfahren sollten, „dass sie Grenzen überschritten, die gewöhnlich von Tabus und Verboten, von Scham oder Angst besetzt sind. Das einer Initiation ähnliche Arrangement diente einer solchen Grenzüberschreitung und Passage.“ 818 Rückkehr des Publikums in die Welt des Alltags Bei ihrer „redescente“ sind sich die „Stimmen“ bewusst, dass der Stillstand der Zeit aufgehoben ist, die Außenwelt sie ruft und letztlich vernichten wird. 819 Dass sie jedoch auch eine gewisse Ahnung eines „au-delà“ der ihnen vertrauten raum-zeitlichen Wirklichkeit gewonnen haben, scheint bereits zu einer schwa‐ chen Erinnerung verblasst, da sich ihnen nur noch die unmittelbar vor ihnen befindliche „Fassade“, d. h. die äußere, das Innere des Gebäudes als dessen We‐ senskern verbergende Hülle, präsentiert: - Nous avons entrevu. - Souvenir déjà lointain. - D’autres possibilités. - À mesure qu’on descend l’horizon se referme. - Il y avait le ciel, une vision d’ensemble. - Un au-delà de la ville. - Des frontières. - Et du temps. - Maintenant. - Tout reprend sa place. - Les toits au-delà des toits demeurent invisibles. - Les maisons derrière les maisons. - Il reste. - Les bâtiments de la place. - Ce qui est devant. - La façade. 820 4 Themenfeld III 436 821 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 249. 822 Ebd., S. 251. 823 Die Verwendung von „déracinement“ im übertragenen Sinn ist eindeutig belegt. Vgl. das Beispiel „le déracinement d’un préjugé“ in Le Petit Robert, S. 700: „Déracinement“. 824 Ebd. Der Moment des Aufbruchs evoziert am Ende des Romans schließlich noch einmal Assoziationen mit dem Thema der Migration, das sich, wie man seitens der „Stimmen“ meint, mit dem vom Protagonisten behandelten Thema der „foules“ eng berührt. Angesichts des Schicksals jener „[…] qui naviguent toute leur vie entre un pays d’origine et un pays d’adoption“ 821 fällt der Ausdruck der „transhumance“, also des Almauf- und -abtriebs im Frühling und Herbst, ein Vergleich, der die Migranten in die Nähe des Viehs rückt und ihr Getriebensein veranschaulicht. Mit der direkten Überleitung vom Stichwort der „flux migra‐ toires“ zu einer abschließenden Charakterisierung der Videokunst durch eine personenmäßig nicht zuzuordnende „Stimme“ werden beide Aspekte eng auf‐ einander bezogen: - Les flux migratoires. - La vidéo est l’art du déracinement. Les lieux n’ont pas de nom. - Pas de signes distinctifs. - Un monde sans patries, sans langage. - Exterritorialité. 822 Das Lexem „déracinement“ ist im obigen Kontext einerseits auf das Ziel der Videokunst, Probleme von ihrer Entstehung her darzustellen, ihre Wurzeln frei‐ zulegen und auf den wesentlichen Kern zu reduzieren, bezogen. 823 Andererseits hat der Begriff die Bedeutung ’[l]e déracinement des hommes arrachés à leur pays d’origine. > déportation, exil, expatriation’ 824 und benennt somit das Problem der „Entwurzelung“ der heimatlos gewordenen Menschen. Wenn an die Stelle von Ortsnamen oder anderen identifikationsstiftenden Merkmalen wie der Zugehörigkeit zu einem „Vaterland“ und einer Sprachgemeinschaft die „Ex‐ territorialität“ tritt, so bedeutet dies (auf der Inhaltsebene) den Verlust elementar wichtiger Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben. Zugleich jedoch wird, ohne dass der Einfluss von Raum und Zeit auf das menschliche Handeln grundsätzlich in Frage gestellt wird, das Interesse des Publikums vom „Einzel‐ fall“ auf die alle geographischen und epochalen Grenzen überschreitende, die Menschheit insgesamt betreffende Bedeutung des Problems der „Entwurzelung“ von Menschen und aller daraus resultierenden Probleme gelenkt. Konsequen‐ terweise geht die Essentialisierung von Problemen in der Videokunst daher, wie 4.6 „Sentinelles“ 437 825 Vgl. dazu auch B 4.6.2, S. 426, Anm. 777. 826 Wajsbrot 2013, S. 210. 827 Ebd., S. 182. 828 Ebd., S. 213. 829 Ebd., S. 211. 830 Zitate ebd., S. 216. 831 Ebd., S. 217. bereits in 4.6.2 angedeutet, (auf der formalen Ebene) mit einer Minimalisierung der eingesetzten Mittel einher. 825 Neuer Blick des Künstlers auf sein Werk Der Videokünstler betrachtet nach der Rückkehr des Lichts seine Werkretro‐ spektive resignierend als „un naufrage“ 826 und gibt damit indirekt jenen kriti‐ schen Stimmen Recht, die in seinen Arbeiten einen „Mangel an Inspiration und Kohärenz“ 827 sowie „Wiederholungen“ 828 ausmachen. Sein eigenes Unvermögen drückt er mittels einer Wegemetapher aus, mit der er seine Lage als ausweglos kennzeichnet: „Mais mon chemin s’est embourbé je ne sais plus où et je reste, sans retour en arrière possible, sans mouvement vers l’avant.“ 829 Besonders aufschlussreich ist ein Wortwechsel zwischen dem Künstler und einem Bewunderer, der sein Lob (- À quel point votre œuvre m’habite.) mit Hinweisen auf die den Filmen innewohnende „[…] force, l’humanité qui s’en dégage“ und die „[…] empathie envers les foules“ 830 untermauert, allesamt Komplimente, die der Protagonist in einer spontanen Reaktion entschieden und beleidigt zurückweist. In einem inneren Monolog begründet er seine Verärge‐ rung darüber, dass sein „Verehrer“ offensichtlich noch nicht bemerkt hat, dass er zu neuen Ufern aufgebrochen ist: Il me parle, j’entends sa voix lointaine et ses mots sonnent creux. Il essaie de me dire quelque chose que je ne comprends pas ou plutôt, qui ne m’intéresse pas, qui voudrait me retenir sur le rivage que j’ai déjà quitté. Je navigue loin des côtes et des bords. Je croise dans des eaux non territoriales, loin des villes et des îles habitées. 831 In seiner bildhaften Sprache, deren Verweis auf „des eaux non territoriales“ die „Stimmen“ isotopisch in dem (oben bereits zitierten) Begriff der „exterritorialité“ (als Kennzeichen der Videokunst) wieder aufgreifen, bringt der Videokünstler auf entschiedene Weise seinen Willen zur „Kurskorrektur“ zum Ausdruck, bleibt jedoch auch gewollt vage. Er „navigiert en haute mer“, hat also, bildlich ausge‐ drückt, „keinen festen Boden unter den Füßen“, geschweige denn ein präzises Ziel vor Augen. 4 Themenfeld III 438 832 Ebd., S. 231. 833 Ebd. 834 Vgl. B 4.6.1, S. 418f. und B 4.6.2, S. 427f. 835 Wajsbrot 2013, S. 245. 836 Ebd., S. 232. 837 Ebd., S. 234. Im Rückblick bedauert der Künstler, nicht imstande gewesen zu sein, „[…] l’idée de l’épaisseur du présent“ 832 darzustellen. Mit dem Begriff der „idée“ be‐ kennt er sich erneut zu einer eindeutig platonisch-idealistischen Denkweise, die im Alltag nur Abbildhaftes, also Unvollkommenes, erkennt. Sein Bekenntnis zugunsten der Videokunst wird seinem ambitionierten Anspruch mit einer Auf‐ zählung einiger Techniken allerdings kaum gerecht: „La vidéo est, était, l’in‐ strument idéal pour figurer la complexité de l’instant. Le ralentissement, l’ac‐ célération, je pourrais en jouer, j’aurais pu en jouer. Le présent s’élargit, rétrécit, comme le champ de la caméra.“ 833 Die hier genannten, jedem Videofilmer be‐ kannten Kunstgriffe mögen geeignet sein, die Vorstellung des Protagonisten vom „temps pur“ in Bilder zu übersetzen, sie allein dürften allerdings nicht aus‐ reichen, um jene oben zitierte „idée“ in einer angemessenen Weise andeutungs‐ weise zu „inszenieren“. 834 Dies bleibt jedoch offensichtlich sein Ziel: Der Künstler will sich von der Bindung an Geschehensabläufe lösen und die durch die Vir‐ tualisierung in ihrer Potentialität noch gesteigerte „Kunst des Möglichen“ voll ausschöpfen, um unmöglich Scheinendes möglich zu machen: „Nous étions en‐ fermés dans le déroulement des choses - la vidéo est l’art du possible, le virtuel, fait apparaître ce qui est invisible, efface ce qui existe.“ 835 Von seinen professionellen Beobachtern wird die Neuorientierung des Künst‐ lers unterschiedlich beurteilt. Während sein alter Studienfreund sich versöhn‐ lich zeigt und von dem „neuen Denken“ des Protagonisten überzeugt zu sein scheint - […] tu es arrivé au bout de ce chemin et […] tu vas passer à autre chose […] Les dernières œuvres […] [s]ont des étapes, des œuvres de transi‐ tion […] … n’ont plus rien à te dire - 836 , zeigt sich der Kritiker entrüstet über die Unzugänglichkeit und Verschlossenheit des „vidéaste“: „[…] il était inacces‐ sible, retiré dans un lieu vide, derrière une vitre invisible.“ 837 Seine Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Umkehrwillens des Videokünstlers formuliert er in einer Bildersprache, die isotopisch auf die (oben zitierte) Reaktion des Protagonisten auf das von ihm als Anbiederung empfundene Lob eines Bewunderers bezogen ist: Je me suis retourné une fois - une seule - et j’ai vu quelqu’un, sur le rivage, ayant même oublié qu’il attendait un bateau pour quitter l’île où il s’était réfugié. Et ma question - que vais-je pouvoir écrire sur cette exposition - avait perdu tout sens, 4.6 „Sentinelles“ 439 838 Ebd., S. 234 f. 839 Vgl. ebd., S. 18 f. 840 Ebd., S. 77. 841 Ebd., S. 252. appartenait à un monde révolu, celui des certitudes, des décisions, auquel rien ne permettait plus de croire. 838 Angesichts der zwischen Resignation und Aufbruchstimmung wechselnden Aussagen des Videokünstlers über sich selbst und seine Intentionen sowie der von grenzenloser Bewunderung bis zu vernichtender Kritik reichenden Stel‐ lungnahmen von Dritten verbietet sich - ungeachtet der methodologischen Fragwürdigkeit eines solchen Unterfangens - jeglicher Versuch, darüber zu spekulieren, wie die künstlerische Entwicklung des Protagonisten jenseits der fiktionalen Grenzen von Sentinelles verlaufen könnte. Allerdings liefert der Text einen Beleg für die Ernsthaftigkeit seines künstlerischen Engagements, das sich am Ende der Diegese mit der Bemühung um die Beziehung zu seinem Lebens‐ partner verbindet. Dieser hatte ihm erklärt, dass er an seiner Kunst nicht inte‐ ressiert sei, sondern eher hoffe, dass der „vidéaste“ sie zu seinen Gunsten auf‐ gebe. 839 Für sich selbst beansprucht der Partner ein Recht auf wechselnde Verhältnisse, da der Künstler der eigentlich „Untreue“ sei, da er „[…] en perma‐ nence dans un autre monde, un monde parallèle […]“ 840 lebe. Wenn der Künstler trotzdem beschließt, seinen Partner aufzusuchen, dann geschieht dies, weil er ihn zu einer Meinungsänderung, zu einer Abkehr von alten Standpunkten be‐ wegen und dafür gewinnen will, seine vor der „Parallelwelt der Kunst“ aufge‐ bauten Schranken zu überwinden: - […] - j’irai chez lui. Je ferai céder la barrière, le barrage. - […] - Je le ferai changer d’avis. - […] - […] Revenir en arrière. - […] Faire céder le barrage. 841 4.6.4 Perspektivierende Zusammenfassung Sentinelles ist ein Roman, in dem allein die Museumsheterotopie des Centre Pompidou als Ort der Handlung eine starke Anziehungskraft auf die Besuche‐ rinnen und Besucher ausübt. Durch die durch eine technische Panne verursachte Finsternis wird die Wirkung, die der Ort auf den Videokünstler und die Gäste der Vernissage ausübt, intensiviert und sublimiert. Sie verbindet sich auf kon‐ 4 Themenfeld III 440 842 Vgl. ebd., S. 247: - Et nous redescendons. 843 Vgl. ebd., S. 244. 844 Ebd., S. 248. 845 Ebd., S. 249 f. - Zum Bild des „veilleur“ bzw. der „sentinelles“ vgl. auch Anm. 846. 846 Ebd. S. 180. - Zum Bild des „veilleur“ bzw. des „gardien de phare“ vgl. auch B 4.2.1, S. 291, Anm. 120, S. 293, Anm. 131; B 4.2.3, S. 304, Anm. 192; B 4.3.1, S. 322, Anm. 275; B 4.4.3, S. 364, Anm. 484; B 4.5.1, S. 384, Anm. 589; B 4.5.2, S. 397, Anm. 645; B 4.6.1, S. 414, Anm. 720, 722. geniale Weise mit der von der Videokunst in ihrer idealen Form angestrebten Zielsetzung. Für die durch die „Stimmen“ repräsentierten Teilnehmerinnen und Teil‐ nehmer an der Vernissage, die den Weg zum Centre Beaubourg als eine „montée“, ihre Rückkehr in den Alltag als eine „redescente“ 842 erleben, ist das Museum zu einem Ort geworden, an dem sie die „Trennung der Welten“ 843 mental und sinnenhaft erfahren haben. Damit ist nicht nur die Abgrenzung z. B. zwischen der ihnen bekannten und der Welt der Kunst oder die Trennlinie zwi‐ schen Vergangenheit und Gegenwart gemeint, sondern auch die Einsicht, dass es eine Raum und Zeit transzendierende Wirklichkeit, ein „au-delà de la ville, [d]es frontières, [e]t du temps“ 844 geben könnte. Der endlos wirkende Anstieg des Aufzugs in L’Ascenseur, einem Werk des Protagonisten, hat dafür zu Beginn des Romans einen ersten symbolischen Hinweis gegeben. Als der Videokünstler nach der Beendigung der Vernissage die sich abwärts und aufwärts bewegenden Rolltreppen beobachtet, werden seine Eindrücke zu einer behutsam abwä‐ genden Bewertung der Veranstaltung insgesamt: […] nous amorçons la descente. Escaliers mécaniques, tapis roulants. Les gens sont immobilisés, silhouettes, sentinelles, témoins de choses invisibles - leurs pensées? Le mécanisme vide des escaliers qui montent - une échelle de Jacob qui s’arrête dans le vide. 845 Die auf der Rolltreppe stehenden Menschen gleiten zwar abwärts, in ihrer ei‐ genen Fortbewegung sind sie jedoch, wie zuvor in den verdunkelten Sälen der Vernissage, zum Stillstehen gebracht worden. Sie mögen hinter der Seitenwand der Rolltreppe auf den Protagonisten zwar auf den ersten Blick wie Wächter wirken, die sich hinter der Mauer einer mittelalterlichen Festung aufgestellt haben, um in der Ferne Gefahrenpunkte zu erkennen. Ihre silhouettenhaften Umrisse verbindet er jedoch eher mit der Phase der Dunkelheit, in der die Be‐ sucherinnen und Besucher der für sie „sichtbaren“ Wirklichkeit entrückt sind und sich der „anderen Welt“, der Sphäre des Unsichtbaren, angenähert haben. Damit sind sie für den Videokünstler zugleich von „[s]entinelles d’un monde perdu où tout avait une explication“ 846 zu „témoins de choses invisibles“ ge‐ 4.6 „Sentinelles“ 441 847 Cécile Wajsbrot, Totale Éclipse, Christian Bourgois Éditeur, Paris, 1914, (Wajsbrot 1914). - Die folgende Rezension wurde eingesehen: Claudine Galea, „Cécile Wajsbrot, une navigation envoûtante“, in: remue.net / spip.php? article 6976. 848 Bzgl. des Textes vgl. auch www.songtexte.com/ songtext/ bonnie-tyler/ total-eclipse-of-the-heart-23c204d7.html (Abruf: 12. 03. 2015). worden, die der Aufgabe des „veilleur“ in der heutigen Zeit der Digitalisierung und „Virtualisierung“ des Lebens gerecht werden. Dieser Wandel ist aus ihrer Erfahrung der Überwindung der Dunkelheit und ihrer Auseinandersetzung mit der Videokunst als „l’art du possible“, also aus ihrem Besuch der Ausstellung im fünften Stockwerk des Centre Beaubourg, zu der die aufsteigende Rolltreppe hinführt, erwachsen. Die Bedeutung und Würde des Ausstellungsortes wird be‐ sonders dadurch hervorgehoben, dass die aufsteigende Rolltreppe metaphorisch als „Jakobsleiter“ und damit als Verbindung zwischen Erde und Himmel be‐ zeichnet wird. Folglich sind die Räume der Vernissage - aus der Sicht des Künst‐ lers - für die Besucherinnen und Besucher zu einem „Heterotop“ geworden, der ein Erahnen von Transzendenz einer durch Raum und Zeit eingegrenzten Exis‐ tenzweise ermöglicht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Vernissage haben - in einem übertragenen Sinn - eine Grenzüberschreitung vollzogen. Der Videokünstler selbst schließlich ist durch das Erlebnis der Ausstellung und die Auseinandersetzung mit der Kritik an seiner Arbeit zu der Einsicht ge‐ langt, dass er zu den eigentlichen Idealen der Videokunst, vom Oberflächlichen Abstand zu nehmen und stattdessen „das Unsichtbare“, das Wesentliche, das hinter der äußeren Fassade der Menschen und Dinge Verborgene in den Blick zu rücken, vordringen will. Er hat damit den Anspruch einer Grenzüberschrei‐ tung selbst definiert. Mit der am Ende der Diegese implizit bekundeten Absicht, seinen Partner für sich und die Kunst zurückzugewinnen, hat er die Ernsthaf‐ tigkeit seines Vorsatzes unterstrichen. 4.7 Totale Éclipse 847 - Über die existentielle und künstlerische Krise der Erzählerin-Fotografin Totale Éclipse, der Titel des vierten Romans der Reihe Haute Mer, weckt Asso‐ ziationen mit der durch einen Stromausfall verursachten Dunkelheit, die in dem unmittelbar vorangegangenen Werk, Sentinelles, einen starken Einfluss auf die Diegese, insbesondere auf das Denken des Videokünstlers, ausübt. Inspiriert wird der Titel allerdings durch den von Jim Steinman verfassten und kompo‐ nierten Song Total eclipse of the heart 848 , der zum ersten Mal 1983 von der wali‐ sischen Sängerin Bonnie Tyler präsentiert wurde. In dem Song drückt das lyri‐ 4 Themenfeld III 442 849 Vgl. Wajsbrot 2014, S. 41. sche Ich ein Gefühl der Verlassenheit und die Sehnsucht nach einem gelegentlichen Besuch des „einzigen Jungen, der sie begehrte“ - the only boy who wanted me - aus. Auch die anonyme autodiegetische Erzählerin in Totale Éclipse, die auf ein weit in die Vergangenheit reichendes Verhältnis zu einem ungarischen Dichter zurückblickt und im Verlauf der Handlung vorübergehend in eine Beziehung zu einem als „Regenmacher“ - faiseur de pluie - apostro‐ phierten Fremden eintritt, durchlebt eine existentielle Krise. Ihr persönliches Problem ist jedoch von ungleich komplexerer Art als die in dem o. g. Song be‐ klagte Notlage. Sie befindet sich nämlich auf einer „errance intérieure“, die sich keinesfalls auf eine Beziehungsfrage beschränkt. Vielmehr fügt sich ihr rätsel‐ haftes Verhältnis zu dem weitgehend wortlos agierenden Regenmacher ein in eine umfassende Suchbewegung, bei der sie über die Bedeutung von Gefühlen für ihr Leben reflektiert und ihre künstlerischen Ziele als Fotografin neu defi‐ niert. In diesem Prozess spielt, wie das oben zitierte Beispiel illustriert, die Aus‐ einandersetzung mit Songs aus dem angelsächsichen Raum und Chansons von Françoise Hardy eine bedeutende Rolle. Ihre Vorstellung einer idealen Fotokunst ähnelt zunächst sehr stark dem in Sentinelles entwickelten inhaltlich und formal stark abstrahierenden künstlerischen Ideal des Videokünstlers, bevor sie sich für einen anderen Weg entscheidet. Die nachfolgende Analyse setzt sich zum Ziel, in Umrissen aufzuzeigen, in welcher Weise die Erzählerin die Phasen ihrer Suchbewegung in einer oft räum‐ lich und vom Inhalt und den Melodien der Songs und Chansons geprägten Bil‐ dersprache beschreibt. Abschließend ist zu klären, ob die Untersuchung mithilfe des Instrumentariums der Lotman’schen Raumsemantik zusätzlich vertieft werden kann. 4.7.1 Die „errance intérieure“ der Erzählerin Räumliche „Verankerung“ der Handlung Die Suchbewegung der Erzählerin ist, wie oben bereits angedeutet, als zielori‐ entierte Auseinandersetzung mit den existentiellen Grundlagen ihres Lebens und ihrer Kunstauffassung zu verstehen. Den Fixpunkt der äußeren Handlung bildet ein namenloses Café, das sich in einer Ecklage einer der vom Baron Ge‐ orges Haussmann im 19. Jahrhundert angelegten großen Avenuen im Zentrum von Paris befindet. 849 Im Unterschied zu zahlreichen Cafés in anderen Erzähl‐ texten Cécile Wajsbrots wird sein Intérieur mit „[…] un décor inhabituel […] une organisation des lieux qui ne ressemble pas aux cafés ordinaires […] les „Totale Éclipse“ 443 850 Ebd., S. 17. 851 Zitate ebd., S. 120. 852 Vgl. ebd., S. 7, 21, 35, 51, 61, 75, 85, 103, 115, 129 (Titel: Troy), 159, 199. 853 Vgl. zum folgenden Abschnitt ebd., S. 42 f. petites zones d’intimité créées par certains angles […] la grande baie ouvrant sur la place d’où on peut voir le ciel“ 850 relativ ausführlich beschrieben. Seine Funktion als geschlossener, sich aber gleichwohl zur Außenwelt öffnender Dreh- und Angelpunkt der Handlung - hier wartet und trifft die Erzählerin wiederholte Male auf den „Regenmacher“ und gewinnt ihn als Liebhaber und unerlässlichen Partner für ihr wichtigstes Fotoprojekt - wird dadurch unter‐ strichen. Ihre eigene Wohnung vergleicht die Erzählerin mit „[…] la cabine d’un bateau […]“ und das Fenster folgerichtig mit einem Bullauge, durch das man „[…] un peu de ciel […] la mer“ sehen könne. Die Gleichsetzung von „Himmel“ und „Meer“ ruft in der Gegenwart des Regenmachers zwar primär erotische Konnotationen hervor - Nous naviguons ensemble. Ces gestes que je croyais oubliés […] le désir - tout revient - 851 , das Navigieren im wörtlichen Sinn ist jedoch spätestens seit Homers Odyssee, auf die sich die Erzählerin am Anfang der Kapitel 852 - zum Teil mit wörtlichen Zitaten - bezieht, die notwendige Tä‐ tigkeit all jener, die sich auf einer „errance“ befinden und entweder ihren Hei‐ mathafen oder ein anderes Ziel ansteuern. Das suchende Unterwegssein der Erzählerin wird somit durch die Beschreibung ihrer Wohnung symbolisch zum Ausdruck gebracht. Die Beziehung zur Thematik der Haute Mer-Romane wird überdies an einigen Stellen durch die isotopisch gelenkte Seefahrtsmetaphorik unterstrichen. Der künstlerische Anfang der Erzählerin-Fotografin - über Leitvorstellungen und Porträtaufnahmen Der Anfang der künstlerischen Entwicklung der Fotografin fällt in die Zeit ihrer Bekanntschaft mit dem ungarischen Dichter. Ihre Leitvorstellungen erklären sich einerseits aus ihrer gesellschaftlichen Außenseiterposition, andererseits aus der Zielsetzung ihres Fotografierens. 853 Die Erzählerin ist Fotografin geworden, da „die Gesellschaft“ bereits alle Rollen definiert und alle „Plätze“ zugewiesen hatte und sich ihrer Suche nach einer Aufgabe und einem entsprechenden ge‐ sellschaftlichen Status „verschloss“. Aus diesem Grunde hat sie einen Beruf ge‐ wählt, der sie in eine Randstellung verweist, aus der sie das Geschehen aus der Distanz fotografisch begleitet und „festhält“, um auf diese Weise Gegenwärtiges als Spur von Vergangenem für die Zukunft zu bewahren. Gerne hätte sie ange‐ sichts ihrer Freude an der Bewegung und am Reisen den Aufbruch gewagt, aber „la fixité“ - die Bedeutungen ‚Unbeweglichkeit‘ und ‚Fixierung (z. B. durch ein 4 Themenfeld III 444 854 Zu den Definitionen 1. État de ce qui est fixe, immobile, invariable’ und 2. Caractère de ce qui est invariable, définitivement fixe’ vgl. Le Petit Robert 2006, „Fixité“, S. 1078. - Vgl. Wajsbrot 2014, S. 43: […] j’ai choisi la fixité ou plutôt la fixité s’est imposée, s’est emparée de moi et m’a fait rester […] 855 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. Wajsbrot 2014, S. 43. 856 Ebd., S. 64. 857 Ebd., S. 11 f. 858 Vgl. ebd., S. 67. 859 de.wikiquote.org / wiki / Friedrich_von_Bodenstedt (Abruf: 13. 03. 2015). 860 Wajsbrot 2014, S. 13. Foto)‘ 854 werden beide durch den Kontext evoziert - habe sich ihrer bemächtigt und sie zum Bleiben veranlasst, sodass sie sich nun dem Lauf der Dinge entge‐ genstelle: „Je vais en sens inverse de la marche des choses, j’essaie, non de maintenir le cap mais de saisir le temps. Ressaisir, capter, arrêter.“ 855 Was sie darunter genau versteht, bedarf jedoch der Erklärung. Rückblickend stellt sie fest, welchem Ziel sie sich als Fotografin von Anfang an verpflichet fühlte: „J’a‐ vais choisi de photographier pour révéler l’essence des êtres […]“ 856 . Ein erster Schritt auf diesem Wege waren Porträtaufnahmen. J’essayais les visages, j’essayais de capter une essence, l’expression, croyais-je, finisssait par se révéler ou plutôt, finissait par révéler quelque chose. Le portrait ne ressemblait pas forcément à la personne parce qu’il en constituait la quintessence. Or, pensais-je à l’époque où j’avais quelques certitudes, car on commence souvent plus sûr qu’on ne poursuit, la ressemblance n’est qu’accident, la fixation artificielle d’un caractère fugitif qui vient se déposer sur quelqu’un avant de repartir vers quelqu’un d’autre. Les traits du visage vont et viennent. 857 Wenn die Erzählerin sich an Porträtaufnahmen versucht hat, als sie noch von einigen „sicheren Annahmen“ ausging, dann gehörte dazu sicherlich auch die spätestens seit Johann Kaspar Lavaters Studien zur Physiognomie am Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Überzeugung, dass der Gesichtsausdruck eines Menschen einen Einblick in sein Seelenleben und seinen Charakter ermög‐ licht. 858 Der deutsche Philologe und Schriftsteller Friedrich von Bodenstedt (1819-1892) hat diese kollektive Meinung in die folgenden oft zitierten Verse gekleidet: „In jedes Menschen Gesichte / Steht seine Geschichte, / Sein Hassen und sein Lieben / Deutlich geschrieben. / Sein innerstes Wesen, / Es tritt hier ans Licht - / Doch nicht jeder kann’s lesen, / Verstehn jeder nicht.“ 859 Nicht zu teilen vermochte diese Auffassung indes der ungarische Dichter, den sie vor zehn Jahren für einige Monate kannte. 860 In ihrer Schilderung dieser Lebensphase „Totale Éclipse“ 445 861 Zum Text des Song vgl. www.songtexte.com/ songtext/ leonard-cohen/ famous-blue-raincoat-6bdb72ce.html (Abruf: 13. 03. 2015) - Der Song Famous Blue Rain‐ coat von Leonard Cohen fingiert inhaltlich eine klassische Dreiecksgeschichte und formal einen Brief, in dem der als Absender fungierende Sänger den Adressaten, den er „my brother, my killer“ nennt, auf Jane anspricht. Jane ist zwar vom Adressaten zu ihm zurückgekehrt, der Sänger spürt jedoch, dass sie dem Dritten näher steht. Darum schlägt er seinem Rivalen vor: „If you ever come by here, for Jane or for me / Your enemy is sleeping, and his woman is free.“ 862 Vgl. Wajsbrot 2014, S. 13: Ils demeurent dans la même attitude - photographie sur l’é‐ tagère du temps - […] 863 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 13. 864 Ebd., S. 14. verschränkt die Erzählerin Leonard Cohens Songs Famous Blue Raincoat 861 und The Stranger mit Erinnerungen an einen wichtigen Abschnitt ihrer eigenen Bi‐ ographie. In einer kurzen Reflexion über die Wirkmacht von Chansons führt die Erzählerin aus, dass Chansons an Abwesende adressierte Briefe seien, die un‐ beantwortet blieben. Als Hörer könne man sich mit dem Adressaten, aber auch mit dem Absender identifizieren. Da sie im Falle von Famous Blue Raincoat den Blickwinkel des Sängers einnimmt, löst die in dem Song erzählte „Geschichte“ in ihr eine Erinnerung an den ungarischen Dichter aus, der sie allein zurück‐ gelassen hat. Obwohl er in ihrem Gedächtnis unverändert bleibt wie eine im „Archiv der Zeit“ abgelegte Aufnahme 862 und das - geschlechtermäßig spiegel‐ verkehrte - Dreiecksverhältnis in Famous Blue Raincoat in ihr Hoffnungen auf seine Liebe wecken mag, ist ihr bewusst, dass er sich zwischenzeitlich verändert haben muss. 863 Dies trifft umso mehr zu, da er sich stets jeder Festlegung auf ein bestimmtes Bild, d. h. konkret dem Wunsch der Erzählerin, ihn fotografisch zu porträtieren, verweigerte: J’aurais voulu faire apparaître ce qu’il portait en lui pour m’en souvenir un jour. Mais au début, il disait plus tard, et à la fin il disait non. Il ne voulait rien fixer, surtout pas au moyen d’un appareil, chaque rendez-vous était une victoire sur le chaos, sur le temps. 864 Der Rückblick auf den ungarischen Dichter lässt die Erzählerin jedoch auch an die Figur jenes von Leonard Cohen besungenen Fremden - The Stranger - denken, der unvermittelt bei einer Frau einkehrt, die hofft, seine Weiterreise verhindern zu können, dann aber ebenso unvermittelt feststellen muss, dass sie ihn nicht zurückzuhalten vermag, da seine Sehnsucht nach der Ferne stärker ist. In dem Song wird das Verlangen des Fremden zu der - für die Frau erkennbaren - Vorstellung eines Highway konkretisiert, der sich über der Schulter des Mannes wie in einer ringförmig aufsteigenden Rauchsäule auflöst. „You notice there’s a 4 Themenfeld III 446 865 Vgl. ebd. und zum Text des Song www.metrolyrics.com/ the-stranger-song-lyrics-leonard-cohen.html (Abruf: 13. 03. 2015). 866 Wajsbrot 2014, S. 15. 867 Zitate ebd. 868 Ebd., S. 16. - Zum Phänomen des „regard d’autrui“ im Erzählwerk C. Wajsbrots vgl. B 3.5.1, S. 250, Anm. 505; B 4.1.2, S. 274, Anm. 39; B 4.4.1., S. 335, Anm. 329. 869 Ebd. highway / That is curling up like smoke above his shoulder.“ 865 Der Erzählerin wird nunmehr bewusst, dass der ungarische Dichter sich genauso rätselhaft verhält wie der Adressat in Famous Blue Raincoat, über den der Sänger gleich zu Beginn sagt: „I hear that you’re building your little house deep in the de‐ sert.“ 866 Für die Erzählerin liegt diese Assoziation auch nahe, da die ungarische Sprache für sie ein unzugänglich-undurchdringlicher Wald geblieben ist. Bei ihren hartnäckigen, aber vergeblichen Bemühungen, sich einen Zugang zu ver‐ schaffen, sieht sie sich „mitten in der Wüste“ ihrer Einsamkeit, verzweifelt und allein gelassen. Gleichzeitig erarbeitet sie - […] par une multiplicité, une mul‐ tiplication d’effets - tout est déplacement […] - einen so großen Vorrat an „re‐ gards“, dass sie damit eine Ausstellung bestreiten kann: Et c’était comme la langue hongroise, une forêt épaisse, inextricable, où l’illusion d’un chemin parvenait à se créer à force d’obstination. Je choisissais, j’éliminais, finissant par construire - en plein désert - une cohérence, retenant une provision suffisante de regards pour en faire une exposition. 867 Über das Ende der Beziehung der Erzählerin zum ungarischen Dichter und ihren Verzicht auf Porträtaufnahmen Das Ende der Beziehung und damit die Vorbereitung des Übergangs in die zweite Phase der Suchbewegung kündigen sich an mit seiner Weigerung, eine Aus‐ stellung ihrer Fotos zu besuchen. Im Nachhinein begründet er dies damit, dass die Fotografin, die - anders als er - in ihrem Leben niemals verfolgt und über‐ wacht worden sei, sich nicht vorstellen könne, wie unerträglich für ihn „[…] la convergence des regards“ 868 sei. In diesem Moment begreift die Erzählerin, dass zwischen ihr und ihm eine - durch eine Fluss- und Ufermetapher markierte - Grenze verläuft, die auch durch die Gegensätze zwischen den offenen Gesell‐ schaften des Westens und dem geschlossenen Gesellschaftssystem des Ostblocks vorgezeichnet war: „Nous étions restés de part et d’autre d’une frontière, d’un fleuve, et le temps où nos vies s’étaient accidentellement croisées, nous nous étions observés, parfois souri, chacun sur notre rive, mais rien d’autre.“ 869 „Totale Éclipse“ 447 870 Ebd., S. 20. Zum Kontext vgl. S. 19 f. 871 Ebd., S. 18. 872 Vgl. ebd., S. 17 f. 873 Ebd., S. 67 f. In den auf die Beziehung zu dem ungarischen Dichter folgenden Jahren, die eine Übergangsphase markieren, fotografiert die Erzählerin zunächst die Fas‐ saden von Häusern, wobei sie sich auf leicht übersehene Details wie steinerne Wasserspeier mit der Form von Gesichtern konzentriert. Sie erinnert sich an ihre Vergangenheit - J’avais voulu photographier les images intérieures, capter les souvenirs […] - und ist sich bewusst, dass in ihrer Erinnerung nur noch „[…] une silhouette“ 870 zurückbleibt. Mit dem Verzicht „[…] à toute représentation humaine sur mes photos […]“ geht für die Fotografin ein weitaus bedeutenderer Verzicht einher: […] au même moment je renonçais à l’amour, en tout cas à chercher quelqu’un qui pourrait m’accompagner longtemps, m’accompagner vraiment, et n’était-ce pas ce qui, dans la chanson de Leonard Cohen, me touchait et me blessait à la fois, le rappel que ce sentiment existait? 871 Dass der Gedanke an Liebe und eine dauerhafte Partnerschaft sie zwar noch berührt, aber zugleich verletzt, verrät eine Neigung zu einer fast autistisch an‐ mutenden Isolation von ihren Mitmenschen. Zugleich macht diese Haltung ihre gesellschaftspolitisch begründete Ablehnung von Porträtfotos als einer „[…] in‐ vention ancienne, narcissique“ der Bourgeoisie 872 auch psychologisch nachvoll‐ ziehbar: […] d’où vient ce besoin, en l’absence de quelqu’un, d’éprouver sa présence, de ne pas se fier à son souvenir, sa représentation mentale, mais de vouloir posséder un objet qui fige la personne et la mémoire? Cette fixité m’avait toujours gênée, j’avais cherché à la contourner et sans doute était-ce l’une des raisons qui m’avaient fait abandonner les portraits, à l’immobilité trop concentrée, pour préférer les maisons ou les paysages, dont l’essence est d’être immobiles. 873 Wirkt das fotografietypische Moment der „fixité“ bzw. „immobilité“ bei Porträt‐ aufnahmen auf die Erzählerin-Fotografin übertrieben konzentriert, da der Zu‐ stand der Erstarrung dem sich im Laufe der Zeit verändernden und sich immer wieder - auch innerlich - bewegenden Menschen nicht gerecht wird, entspricht es den objekthaft-gegenständlichen Häusern und Landschaften durchaus, da sie sich zwar äußerlich verändern, aber von ihrem Wesen her unbeweglich sind. 4 Themenfeld III 448 874 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd. S. 40. 875 Zitate und Kontext ebd., S. 63. Vgl. auch ebd., S. 48. 876 Ebd., S. 49. 877 Vgl. ebd., S. 65 f. 878 Ebd., S. 69 f. Die zweite Schaffensperiode der Erzählerin-Fotografin - über ihre Bekanntschaft mit dem „Regenmacher“ und ihre künstlerischen Absichten Der Beginn der zweiten Schaffensperiode der Fotografin führt uns erneut in das o. g. Café, das bei sintflutartigem Regen für sie und einige „voyageurs en transit“ zu einem Refugium geworden ist und ihnen Schutz vor einem „[…] monde bru‐ meux, inconsistant - invisible“ 874 bietet. Hier wartet sie auf einen Mann, den sie zuvor an derselben Stelle gesehen und „im Geiste“ (intérieurement) „Regenma‐ cher“ (faiseur de pluie) genannt und intensiv von hinten betrachtet hat, ohne Kontakt mit ihm aufzunehmen. 875 Als er das Café verlässt, beobachtet sie jedoch ein für ihr zukünftiges Fotografieren richtungweisendes Phänomen: „Dehors les arbres sont comme des ombres qui s’effacent. […] il s’éloigne, se fond dans un brouillard liquide […]“. 876 Die Bezeichnung „Regenmacher“ assoziiert die Erzählerin sogleich mit dem Rainmaker Blues der Gruppe The Walkabouts, in dem der „Regenmacher“ als Hoffnungsträger erwartet wird, sich dann aber als Scharlatan erweist. Der wei‐ tere Weg der Fotografin, die sich von dem „Regenmacher“ stark angezogen fühlt, wird damit durch ein proleptisches Signal vorweggenommen. Bei einem erneuten Zusammentreffen eröffnet die Fotografin dem Regenma‐ cher ihren Wunsch, ihn von hinten - „de dos“ - zu fotografieren. 877 Für sie be‐ deutet dies eine programmatische Abkehr von dem Konzept der Porträt- und Fassadenfotos und die Hinwendung zu einer zukunftsorientierten Fotokunst, deren Ursprünge und Intentionen sie folgendermaßen erklärt: Depuis que j’avais abandonné les visages, la représentation des hommes […] je cherchais le moyen de photographier le futur, ou plutôt de donner une image de l’avenir. C’est pourquoi j’avais abandonné les personnes. Il fallait seulement prendre la trace de choses détruites pour montrer à la fois un passé qui n’existait plus, un présent en suspens, à l’abandon, et un futur qui donnerait la clé. […] Ce vide des rues de Paris que j’éprouvais en plein été et qui désignait, non des commencements où la ville se peuplait peu à peu mais un temps intermédiaire entre la fin et ce qui suit la fin. Je m’étais concentrée un moment sur les façades mais les façades existaient trop, chaque détail était étudié, achevé, ne laissait aucune place à la fin, encore moins à l’après-fin. 878 „Totale Éclipse“ 449 879 Ebd., S. 70. 880 Ebd., S. 71. 881 Ebd., S. 64. 882 Ebd., S. 12. 883 Ebd., S. 93 f. 884 Ein formal-ästhetisches Vorbild für ihre „Schattenbilder“ findet die Fotografin in dem im 18. Jahrhundert in Frankreich in Mode gekommenen schattenbzw. silhouetten‐ haften Karikaturenstil. Vgl. ebd. S. 66 f. Die Bedeutung ihrer „Konzentration“ relativiert die Fotografin alsbald, indem sie, den weiteren Verlauf ihrer künstlerischen Entwicklung andeutend, feststellt: „J’avais choisi ce métier, cet art, pour qu’on fasse comme si je n’étais pas là. Cachée par l’appareil. Présente par ma seule fonction, un prolongement de l’ap‐ pareil et non une personne.“ 879 Mit ihrer Absicht, den sich in menschenleeren Straßen vorwärts bewegenden Regenmacher von hinten in einer „[…] rafale de photos[…]“ 880 aufzunehmen, handelt die Fotografin gemäß ihrer bereits angesprochenen endzeitlichen Er‐ wartung, die sie als „[…] l’arrivée du monde dans l’infini - ou l’arrivée de l’infini dans le monde“ 881 bezeichnet hat. Einzuordnen ist sie in den Kontext jener phi‐ losophischen Überlegungen, die sie auf dem Weg zu einem Gespräch mit einem Galeristen anstellt. Anders als in einer früheren Lebensphase, als sie sich noch von „[…] quelques certitudes […]“ 882 getragen wusste, erscheint ihr die Welt nun undurchsichtig und rätselhaft. Wie der Videokünstler in Sentinelles möchte sie den Schatten der Dinge und Personen aufnehmen. Sie beruft sich dabei explizit auf die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis, die bekanntlich die Schatten auf der vor ihnen befindlichen Wand für die Wirklichkeit hielten: […] le monde m’apparaissait comme un réseau d’incertitudes, une nappe de brouillard au-dessus de nous, dérobant le spectacle de la réalité. Oui, comme ces gens dans la caverne dont parlait Platon, tout à coup j’avais envie de photographier les ombres qu’ils voyaient projetées sur les murs en croyant qu’elles étaient la réalité. Les silhouettes de dos étaient-elles une première étape? Aurai-je enfin trouvé l’accès vers un art conceptuel? Était-ce cela que je voulais? […] J’étais moi aussi dans la caverne et mes désirs projetaient une ombre que je prenais pour le réel. 883 Mit ihrer Absicht, nur noch Schattenrisse zu fotografieren, 884 setzt die Fotografin ihren Weg zu größtmöglicher Abstraktion einer von ihr nun als „art conceptuel“ definierten Kunst fort. Nachdem sich die Chance einer Ausstellung der „Rü‐ ckenbilder“ ergeben hat, will sie den Abstraktionsprozess bereits auf dem Plakat zur Vernissage darstellen. Gleichzeitig will sie den flüchtigen „Regenmacher“ in die Ausstellung locken, indem sie ihm vor Augen führt, dass sie ihn bei seinem Versuch, ihr zu entkommen, „eingefangen“ hat: 4 Themenfeld III 450 885 Ebd., S. 105. 886 Ebd., S. 105 f. Bzgl. des Hinweises auf Barthes vgl. ebd. S. 87. 887 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Erzählerin ihre Einsamkeitserfahrungen in Kapitel 8 mit zahlreichen vergleichbaren Erfahrungen überblendet, die in den Chan‐ sons des 1996 erschienenen Albums Le Danger (F. Hardy) verarbeitet worden sind. 888 Wajsbrot 2014, S. 106. Où qu’il soit il se verrait et verrait la façon dont je le vois, une silhouette furtive, quelqu’un qui s’échappe pris, saisi. Il y a une part de hasard, il y a une part de chance mais j’ai capté quelque chose. Le moyen d’exprimer concrètement une pensée abstraite, une ressemblance. La condition humaine. 885 Nach dem Scheitern ihrer Beziehung zu dem ungarischen Dichter wird die Pla‐ nung der Ausstellung angesichts ihres rätselhaft-wortlosen Verhältnisses zum „Regenmacher“ für die Fotografin, für die das Leben eine „quête perpétuelle“ ist, zu einer Handlung, mit der sie einerseits „ihm“ und der Welt einen Beweis ihrer Existenz liefert und mit der sie sich andererseits in ihrer Vereinsamung und Isolation ihrer selbst und ihrer Mitmenschen vergewissert. Im Sinne Barthes’ wird die Photographie dokumentieren, dass „dies so gewesen ist“. „Lui prouver et prouver au monde que j’existe, ce que j’ai du mal à croire, seule dans mon deux pièces depuis des années. Chercher, les autres, soi. Écouter. Retrouver ce qu’on a connu, reconnaître. La photographie prouve que cela a été.“ 886 An dieser Stelle der Diegese wird deutlich, dass und in welchem Maße die Hinwendung der Fotografin zur reinen Abstraktion aus den Schwierigkeiten und dem Schei‐ tern ihrer zwischenmenschlichen Erfahrungen resultiert. 887 Die Annäherung an den Nächsten gleicht in ihrer Vorstellung nämlich nicht den damit üblicherweise verbundenen, mehr oder weniger ritualisierten Bemühungen um eine mal eher distanzierte, mal durchaus zielorientierte und interessengesteuerte Kontaktauf‐ nahme, sondern - ganz im Einklang mit der Haute Mer-Metaphorik - einem gefährlichen Manöver auf hoher See, das von Anfang bis Ende der Gefahr des Schiffbruchs und Untergangs ausgesetzt ist: Pourquoi l’autre est-il parfois comme un îlot rocheux en haute mer? Dès l’approche, les bas-fonds risqués sur lesquels on risque de s’échouer, dès l’approche, la pointe hérissée où les bateaux viennent se fracasser, les creux de vague, le vent fort des tempêtes. Et si on peut tout de même - par miracle - amarrer, débarquer il faut perpétuellement lutter pour retrouver l’équilibre, pas d’endroit où rester, la moindre chute signifie la noyade. Et repartir - comment? Le bateau a sombré depuis longtemps. 888 Vor diesem gedanklichen Hintergrund wird psychologisch nachvollziehbar, dass die in ihrem Denken und Empfinden von Untergangsszenarien heimgesuchte „Totale Éclipse“ 451 889 Ebd. 890 Vgl. ebd., S. 203: Je ne sais pas quel mur j’ai édifié pour ne permettre qu’à des gens comme le poète hongrois ou le faiseur de pluie d’approcher, des gens qui restent à distance ou qui, à peine présents, s’enfuient. 891 Ebd., S. 124. 892 Ebd., S. 129 f. 893 Ebd., S. 130. Fotografin nach den oben zitierten Überlegungen den Wunsch formuliert: „Je cherche l’ombre du poète hongrois, l’ombre du faiseur de pluie tandis que la descente continue.“ 889 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Erzählerin-Fotografin sich ausschließ‐ lich ihrer stark abstrahierenden und idealisierenden Fotografie widmen möchte, solange der Regenmacher sich in ihrer Nähe aufhält. Sie vermag sich selbst auch am Ende der Diegese nicht zu erklären, welche Art von Mauer sie um sich herum errichtet hat. Mit Ausnahme des ungarischen Dichters und des „Regenmachers“ hält sie ihre Mitmenschen auf Distanz, veranlasst sie sogar, „die Flucht zu er‐ greifen“ 890 . Ihr Verhältnis zum „faiseur de pluie“ wird von spannungsvoller Er‐ wartung und der Hoffnung auf kurze Momente des Miteinanders gekenn‐ zeichnet. Da er nicht bereit ist, ihr seine Adresse oder Telefonnummer zu nennen, ist sie „[p]rivée de lien. Privée du droit d’appel. Privée de tout sauf de l’attente“ 891 . Die Begegnungen mit ihm in ihrer einer Schiffskabine ähnelnden Wohnung bedeuten für sie absolutes Glück. In den Zeiten seiner Abwesenheit lebt sie zwischen der Erinnerung und dem Warten auf ihn. Ein Leben „en dehors de lui“ bedeutet für sie „Nichtung“ und Leere: Chaque rencontre était l’unique, ma vie, un pont de l’une à l’autre. Les phases sans lui illuminées par les phases avec lui. Les moments sans lui justifiés par le souvenir de sa venue ou par l’attente. Mon corps n’existant que par le sien. Ma vie en dehors de lui éclatée, incendiée - anéantie. Maintenant je n’existe plus. Je revis chaque instant, chaque rare parole, je vois ses gestes, je sens son approche, ses mouvements, je sens le vide en moi. 892 In der Gegenwart des Regenmachers verlieren die Sprache als Mittel der Kom‐ munikation und der Gedanke an die Existenz anderer Menschen für die Erzäh‐ lerin jegliche Bedeutung. Sie lebt mit ihm in einer anderen Welt: Il était tous les hommes, toutes les relations d’amour. Nos rencontres n’étaient qu’une longue étreinte. Nous n’avions pas besoin de mots. Je ne croyais plus au langage - ersatz de la langue des corps. […] Les autres? Je n’arrive plus à me souvenir de leur existence. Je change de monde. 893 4 Themenfeld III 452 894 Vgl. ebd.: Nous allions d’instant en instant - entre eux régnait le vide. Une mince corde tendue au-dessus du néant, d’un bâtiment fantôme à l’autre, sur chaque rive du fleuve. 895 Vgl. ebd., S. 135. 896 Ebd., S. 131. 897 Zum Text des Song vgl. auch www.songtexte.com/ songtext/ sinead-oconnor/ troy-1bd9259c.html (Abruf: 18. 03. 2015). 898 Zum Text des Gedichts vgl. www.poetryfoundation.org/ poem/ 179967 (Abruf: 18. 03. 2015). In Yeats’ Gedicht stellt der - in diesem Fall mit dem Dichter identische - Sprecher die ihm unnötig erscheinende Frage, warum er die irische Freiheitskämpferin Maud Gonne tadeln sollte, nur weil sie ihn, wie allgemein bekannt ist, nach einer kurzen, gemeinsam verbrachten Zeit verlassen und unbedarfte Menschen zu Gewalttätigkeiten angestiftet hat. Angesichts ihres Mutes und ihrer Schönheit stellt er in den zwei Ab‐ schlussversen des Gedichts die rhetorische Frage, ob eine so außergewöhnliche Per‐ sönlichkeit überhaupt anders handeln konnte: „Why, what could she have done being what she is? / Was there another Troy for her to burn? “ 899 Wajsbrot 2014, S. 135. 900 Vgl. ebd. Trotz ihrer totalen Hingabe an ihn deutet sie gelegentlich Zweifel an der Be‐ lastbarkeit des Verhältnisses an, das keineswegs fest verankert scheint, sondern, wie sie es bildlich ausdrückt, an einem dünnen Faden hängt, der zwischen zwei „bâtiments fantômes“ gespannt ist. 894 Auch fragt sie sich, ob der Regenmacher für sie nicht eine Reinkarnation des ungarischen Dichters sei. 895 Die Befürch‐ tung, den „faiseur de pluie“ zu verlieren, plagt sie ebenso wie die metaphorisch angedeutete Möglichkeit des Verrats: „La perte m’effraie. Et c’est dans ce désert que retentit le cri, Troie.“ 896 Der Bezug zu Troja erklärt sich im Kontext des 10. Kapitels aus den Bezügen, die zu Troy, einem Song der irischen Sängerin Sinead O’ Connor aus dem Jahre 1987, 897 entfaltet werden, der seinerseits auf William Yeats’ Gedicht No Second Troy 898 zurückverweist. Die Erzählerin findet in Yeats’ Gedicht eine Antwort auf ihre Frage nach der Identität des Regenmachers: „La différence entre un non et un oui. Les frontières ne passent pas là où on le croit.“ 899 Indem sie Yeats’ implizit vorgetragene Forderung, Maud Gonne nicht nach üblichen moralischen Maßstäben zu beurteilen, auf den „Regenmacher“ überträgt, erklärt sie indirekt auch das Verhalten ihres Partners für unangreifbar. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass die Erzählerin in exakt demselben Kontext erstmals darauf hinweist, dass die Reproduktion von Fotos die Mög‐ lichkeit des Retuschierens und Falsifizierens eröffne und die Praxis der Sowjet‐ union zeige, dass man auf diese Weise unliebsame Personen ganz aus der Ge‐ schichte verbannen könne. 900 Mit dem Hinweis auf diese manipulative Intervention zeichnet sich der Übergang in die dritte Phase der Suchbewegung ab, die Bedeutung dieses proleptischen Signals wird sich aber erst am Ende der „Totale Éclipse“ 453 901 Ebd., S. 164. 902 Ebd., S. 165. 903 Ebd. 904 Ebd., S. 166. 905 Ebd., S. 168. 906 Ebd., S. 169. Diegese erschließen. Zunächst kennzeichnen Unsicherheiten die Suche der Er‐ zählerin nach dem Ziel ihres Weges. Über das Ende der Beziehung der Erzählerin-Fotografin zum „Regenmacher“ und ihre Unsicherheiten bzgl. ihrer künstlerischen Ziele Sie bereitet nicht systematisch die ihr für Februar zugesagte Ausstellung vor, da der Regenmacher bisher nicht abgereist ist und sie ihn nicht durch „[…] des reproductions de dos répétées“ 901 ersetzen möchte. Ihre Frage „Je vis dans un monde imaginaire? “ 902 belegt ihre anhaltende Verwirrung, die durch den Song In Limbo der Gruppe Radiohead gespiegelt wird: „Dans les limbes? C’est le monde dans lequel il m’a laissée, une couche intermédiaire qui ne conduit pas plus à lui qu’elle ne conduit à moi.“ 903 Eine Fotodokumentation von Eugène Atget (1857-1927) über Orte in Paris, die mit traditionellen, vom Aussterben bedrohten Berufen assoziiert wurden, evoziert in der Erzählerin eine gedankliche Verbin‐ dung zu ihrem eigenen Projekt: Chantiers, démolitions. Je le montre de dos, une silhouette, une ombre, quelqu’un qui pourrait ne pas exister ou plutôt - voilà ce que je dirai - qui passe de l’existence à l’inexistence. Qui traverse la ville comme il traverse le temps. Passager clandestin de l’inhabité. 904 Es fügt sich in das atmosphärische Gesamtbild einer morbiden Untergangsstim‐ mung ein, dass sich die Fotografin entschließt, die Einsamkeit der winterlichen Bäume zu fotografieren, in denen sie eine Metapher der von Daguerre und Atget fotografierten leeren Straßen erkennt. Bald jedoch werde es nicht mehr um „le temps de pose“ gehen, sondern der letzte Mensch werde als Fotograf „[…] la perte de la vie […] ce que nous avons fait […] l’endroit où nous nous sommes trompés“ 905 dokumentieren. Ihre apokalyptisch anmutenden Fantasien führt die Erzählerin, wie sie erklärt, auf ihre Begegungen mit dem „faiseur de pluie“ zu‐ rück: „[…] et pourtant quelque chose m’inquiète ou plutôt, le vide immense que l’apparition et la disparition du faiseur de pluie a révélé dans ma vie me semble être l’annonce d’un vide universel.“ 906 Noch einige Tage vor der Vernissage übersetzt die Fotografin ihre inneren Blockaden in einen durch die Jahreszeit - und die Haute Mer-Thematik - inspi‐ 4 Themenfeld III 454 907 Ebd., S. 175. 908 Ebd., S. 186. 909 Vgl. ebd., S. 106 und B 4.7.1, S. 451 f. 910 Ebd., S. 186. 911 Vgl. ebd., S. 191 912 Ebd., S. 199. 913 Ebd. rierten Vergleich, der ihre Erstarrung, ihr Gefühl des Stillstands bildhaft zum Ausdruck bringt : „Février - déjà les premiers jours sont passés et j’avance dif‐ ficilement dans le temps comme un navire pris dans les glaces. J’entends parfois le bruit de la banquise qui craque, me libère et puis tout de nouveau se bloque.“ 907 Bei einer weiteren Begegnung mit dem „Regenmacher“ mehren sich die Anzeichen zunehmender Entfremdung und damit einer Trennung ihrer Wege. Die wenigen Worte, die er von sich gibt, stiften ebenso wenig Verstän‐ digung wie sein Schweigen: Cette opacité totale, cette impossibilité, je la retrouvais dans le silence du faiseur de pluie, dans les rares mots qu’il prononçait. Chaque mot se détachait, comme une île, chaque mot revêtait un relief, un sens particulier. D’une île à l’autre la distance était infinie, l’océan, rien ne les reliait mais chaque île était en elle-même nécessaire. 908 Indem die Erzählerin die von dem „faiseur de pluie“ geäußerten „rares mots“ metaphorisch mit vereinzelten, weit voneinander entfernten Inseln inmitten eines unendlich weiten Ozeans gleichsetzt und damit eine isotopische Verbin‐ dung zu der bildhaften Beschreibung ihrer zwischenmenschlichen Bezie‐ hungen 909 herstellt, unterstreicht sie in überaus deutlicher Weise die Unzuläng‐ lichkeit und Unerreichbarkeit seines Wesens. Aber neben der konventionellen Sprache verliert auch die „langue des corps“ erstmals an Ausdruckskraft. „Sur le chemin de mon appartement - nous avions marché trois quarts d’heure en‐ viron - nous n’avions échangé que quelques mots, et si nos corps se retrouvaient, nous approchions à peine l’un de l’autre.“ 910 Nachdem der Fotografin eine erweiterte Ausstellung ihrer Fotos in der Ser‐ pentine Gallery in London und in New York angeboten worden ist, 911 begibt sie sich mit dem „Regenmacher“ in den von Nebel verhangenen Parc Monceau, um ihn dort - […] dans les interstices de la ville et du temps […] - 912 , also an einem durch seinen heterotopischen Charakter und die verhüllte Atmosphäre gekenn‐ zeichneten Ort, zu fotografieren - [pour] accentuer son aspect fantomatique, jouer sur les apparitions, disparitions […] - 913 . Als sie ihn bittet, sich in der Nähe eines Gingkobaumes aufzustellen, bemerkt sie, dass er den „Gingko“ nicht zu identifizieren vermag. Desillusioniert stellt sie fest: „J’ai trouvé la limite du fai‐ „Totale Éclipse“ 455 914 Ebd., S. 199 f. 915 Im Parc Monceau nähert sie sich einem Gingko „[…] pour le toucher - pour qu’il me donne un peu de sa force.“ - Ebd., S. 170. 916 Vgl. ebd., S. 7 f. 917 Ebd., S. 175. - In Kapitel 1, S. 7, werden die Gingkos „Les premiers arbres à revivre“ genannt. 918 Vgl. ebd., S. 205 f.: Après avoir choisi la succession des photos du faiseur de pluie, de dos, je retournerai vers le gingko, j’irai au parc Monceau, et au jardin des Plantes, et au jardin du Luxembourg, je les étudierai et je trouverai, dans le dessin des branches, dans le dessin des feuilles, l’explication du monde. 919 Ebd., S. 175. 920 Ebd., S. 200 f. seur de pluie. Cela me rassure, et cela me déçoit. C’est un homme comme les autres. Il y a des choses qu’il sait mais il y a des choses qu’il ignore.“ 914 Der „Regenmacher“ hat nicht irgendeine unbedeutende Wissenslücke offenbart, sondern zu erkennen gegeben, dass er einen Baum nicht kennt, den die Erzäh‐ lerin-Fotografin aufgrund der ihm innewohnenden, mythisch anmutenden Kraft verehrt. 915 Ein Gingko ragte, wie die Erzählerin bereits zu Beginn des ersten Kapitels berichtet, als einzig überlebender Baum aus dem Inferno des durch tödliche Strahlen verseuchten Hiroshima heraus. 916 Er scheint dem natürlichen Gesetz der Vergänglichkeit nicht zu unterliegen. So hat die Erzählerin-Foto‐ grafin im Parc Monceau entdeckt „[qu’il] semble se dédoubler, osciller, être à la fois lui-même et son ombre […] un arbre naissant de l’arbre“ 917 . Im Unterschied zu den als „êtres fugitifs“ bezeichneten Menschen symbolisiert er sich erneu‐ erndes Leben, die Subsistenz des Seienden im Sein inmitten einer sich selbst zerstörenden Welt. Wohl aus diesem Grund beabsichtigt die Erzählerin am Ende der Diegese, sich nach der Auswahl der Rückenbilder dem Studium des Gingkos zu widmen, da sie glaubt, auf diesem Wege die Welt erklären zu können. 918 Allerdings ist ihr Versuch, ihn zu fotografieren, gescheitert, da der Auslöser erstmals aufgrund der Kälte nicht funktioniert hat. An einen Zufall glaubt sie indes nicht: „J’ai pensé, l’arbre refuse de se laisser prendre.“ 919 In welchem Maße sich das Verhältnis der Fotografin zum „Regenmacher“ verändert hat, in welchem Maße sich aber auch die Fotografin selbst verändert hat, wird im Verlauf des Fotografierens deutlich: Les rôles se sont inversés, c’est moi qui utilise le faiseur de pluie et c’est lui qui s’incline, il a accepté - prouvant ainsi sa vanité. En cela aussi, il me déçoit. […] Il n’est plus qu’un modèle dont je dois tirer parti, l’appareil se tient entre nous, je me suis trompée, je n’utilise pas le faiseur de pluie, c’est l’appareil qui a pris le pouvoir, l’appareil-photo qui décide de notre sort et nous fait marcher dans ces rues d’ennui. 920 4 Themenfeld III 456 921 Vgl. ebd. S. 70. 922 Ebd., S. 201. 923 Ebd. 924 Ebd. Für die Fotografin wird der „Regenmacher“ vom Subjekt zum Objekt, zu einem Fotomodell, das sie gezielt zu ihrem eigenen Nutzen einsetzt. Dann wird ihr jedoch bewusst, dass nicht sie den „faiseur de pluie“ ausnutzt, sondern dass sie selbst (und er) in die - sich schon früher ankündigende - Abhängigkeit von ihrem Fotoapparat geraten sind. 921 Damit tritt sie in die dritte Phase ihrer per‐ sönlich-künstlerischen Entwicklung ein und vollzieht eine Grenzüberschrei‐ tung, die der genaueren Erklärung bedarf. Die dritte Schaffensperiode der Erzählerin-Fotografin - über ihre Bereitschaft zum manipulativen Einsatz der Fotografie und die Einwilligung in eine „total eclipse of the heart“ Noch während des Aktes des Fotografierens begreift sie, dass der Regenmacher für sie bald nur noch „[…] une trace, un souvenir […]“ 922 sein wird. Auch leuchtet ihr bei ihrem Versuch, die nun innerlich empfundene Distanz in ihren Bildern auch räumlich zu konkretisieren, etwas zuvor nur intuitiv Erfasstes, nun aber rational Verstandenes ein: „Il faut des rues vides, je le savais mais j’en sais dés‐ ormais la raison. Des rues vides pour qu’il soit seul et qu’on le voie s’éloigner, s’éloigner jusqu’à disparaître - la fin inévitable de notre histoire“. 923 Mit der Qualität ihrer Bilder ist sie genauso zufrieden wie mit der Tatsache des endgül‐ tigen Verschwindens des einstigen Partners: „C’est mieux. Une silhouette fine, reconnaissable. Qui ne le sera bientôt plus. Il s’éloigne et je ne fais rien pour le rattraper. Je le laisse partir.“ 924 Der eigentliche Grund für die Wende im Leben der Fotografin ist damit al‐ lerdings noch nicht genannt. Er erschließt sich jedoch eindeutig aus ihrem Ver‐ ständnis der in ihrem Gedächtnis zurückbleibenden „trace“ bzw. aus ihrer Ab‐ sicht, alle Spuren der Erinnerung gezielt zu instrumentalisieren: Il est parti […] Certes j’en garde une trace, dans l’appareil que je tiens à la main, mais cette trace n’est plus l’objet précieux que je croyais posséder, elle est l’instrument d’un travail, la base fragile que je vais devoir transformer pour acquérir le droit d’apparaître dans le champ des œuvres véritables. Ainsi j’utilise moi aussi les sentiments à d’autres fins. D’une certaine façon, cela me rassure. Je suis de mon époque. J’avancerai comme les autres, revêtue d’une armure qui ne laissera rien paraître. Le faiseur de pluie est venu pour cela, me faire passer de l’indifférence blessée à l’indifférence active. „Totale Éclipse“ 457 925 Ebd., S. 204. 926 Vgl. ebd., S. 130: Nos rencontres n’étaient qu’une longue étreinte. Nous n’avions pas besoin de mots. […] Je change de monde. 927 In diesem Song schützt sich ein Junge namens Pink vor Schicksalsschlägen und den Anfeindungen seiner Umwelt, indem er sich mit einer Mauer umgibt, in die er bei jedem neuen Unglück einen weiteren Stein einfügt. Da es jedoch als Schwäche, ja als Obszö‐ nität gilt, Gefühle zu zeigen, wird Pink am Ende dazu verurteilt, die ihn schützende Mauer abzureißen. 928 Wajsbrot 2014, S. 205. 929 Vgl. ebd., S. 204. 930 Vgl. ebd., S. 205: […] je veux que rien n’ait de sens, la suppression des sentiments, des continents, je veux que rien n’existe en dehors du sentiment de vivre, la concentration sur le travail, une avancée vers le succès. 931 Ebd., S. 204. Désormais je me cacherai avec l’ambition pour seule compagnie. Fidèle, dévoreuse, ultime. 925 Die Fotografin hat erkannt, dass die in ihrem Fotoapparat gespeicherten Spuren nicht auf die „Kostbarkeit“ einer Beziehung verweisen, durch die sie in eine andere Welt einzutreten glaubte. 926 Wohl aber hält sie im wahrsten Sinne des Wortes die Voraussetzung für eine bislang nicht für möglich gehaltene beruf‐ liche Karriere in Händen. Wie die Gesellschaft in Another Brick in the Wall, einem Song der nach Pink Floyd benannten Rockgruppe, 927 will sie fortan Gefühle nicht entstehen lassen - die „armure“, die eigentlich vor Angriffen von außen schützt, wird metaphorisch umgewidmet zu einer Schutzvorrichtung vor aus dem Innern aufsteigenden, als gefährlich empfundenen Emotionen. „Ce mur qui ferme est un mur qui ouvre. Je ne suis plus disponible aux êtres mais au monde.“ 928 Diese grundsätzliche Neuorientierung ihres Lebens verdankt sie, wie sie meint, dem „faiseur de pluie“, da er bewirkt habe, dass sich ihre mentale und emotionale Grundbefindlichkeit mit dem Übergang von der „[…] indifférence blessée […]“ zur „[…] indifférence active […]“ 929 , von einem Gefühl der Verletztheit, die sie als „solitude“ und „isolement“ erfahren hat, in einen Modus des aktiven Han‐ delns umgewandelt hat. Sie will sich fortan von beruflichem Ehrgeiz „als ihrem einzigen Begleiter“ leiten, ja sogar „verzehren“ lassen, ihr Leben ausschließlich an der Arbeit und dem Streben nach Erfolg orientieren. 930 Oder, mit ihren ei‐ genen, oben zitierten Worten, „der Fotoapparat soll über ihr Schicksal ent‐ scheiden“. Mit dem Bild der Mauer stellt die Erzählerin indes einen klaren Bezug zu dem oben erwähnten Song Another Brick in the Wall her. Im Hinblick auf ihre eigene Situation ließe sich der Titel mit „[…] ce mur qui me sépare des sentiments mais me permet de rejoindre le monde d’aujourd’hui, notre monde“ 931 assozi‐ ieren. Ermutigt durch die Meinung der Galeristen, dass ihre Ausstellung „[…] 4 Themenfeld III 458 932 Ebd., S. 206. 933 Ebd. 934 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 205. 935 Ebd. 936 Ebd., S. 206 f. un tournant, un tournant décisif “ 932 markieren werde, neigt die Fotografin zu der Annahme, dass diese der „série des dos“ zu verdankende „avancée vers le succès“ die sie gegenüber ihrer persönlichen Umgebung abschirmende „Mauer der Toleranzverweigerung“ verstärken, mithin ihre zunehmende Distanzierung gegenüber Menschen bewirken werde. Diesen Prozess stellt sie sich verräum‐ licht folgendermaßen vor: Another Brick in the Wall - chaque avancée est une brique qui vient s’ajouter au mur de l’incompréhension. C’est peut-être en cela que la série des dos, leur éloignement progressif signifie quelque chose. Nous entrons dans le temps des éloignements, des écarts, de la distance. 933 Um diese Entwicklung abzusichern, nimmt sie sich vor, nicht mehr die Texte der Chansons anzuhören, sondern nur noch „[…] la voix comme un instrument, les mots comme des sons […]“ in sich aufzunehmen. Diesen Vorsatz steigert sie zu der Absicht, bei der Rückkehr nach Hause all ihre Alben, Schallplatten und CD s zu entsorgen. Sie begründet dies mit der Erwartung, dass sie sich so von den Täuschungen der Melancholie und den hypnotisierenden, falsche Hoff‐ nungen weckenden Wirkungen der Liebe befreien kann. 934 Die Erzählerin-Fotografin ist sich, wie der Schlussteil des 15. Kapitels zeigt, allerdings auch des pathologischen Charakters einer solchen Distanzierung be‐ wusst. Sie erwähnt beispielhaft an erster Stelle den englischen Sänger und Bas‐ sisten Roger Waters, der nicht in großen Stadien auftreten mag und aufgrund dieser Agoraphobie gerne eine Mauer errichten würde, um die Menschen nicht zu sehen. Sodann nennt sie ein Gründungsmitglied der Gruppe von Pink Floyd, Syd Barrett „[…] qui répond à la vie en s’isolant du monde“ 935 . Für sich selbst hat sie sich für einen anderen Weg entschieden: Moi je fais le chemin inverse. En regardant les rues du trajet désormais familier, de la galerie à chez moi, j’arrive à faire abstraction des voitures et des gens, comme le daguerréotype du boulevard du Temple, je ne vois que les rares arbres et les façades des maisons, les trottoirs. Mais contrairement à la star qui s’enferme derrière le mur, en effaçant les gens, je rejoins le monde. 936 Wie jedoch ist dieser Prozess der Negation, der partiellen Auslöschung von Re‐ alität bzw. der Herbeiführung einer „éclipse (plus ou moins) totale“ zu bewerk‐ „Totale Éclipse“ 459 937 Vgl. ebd., S. 135. 938 Ebd., S. 207. 939 Ebd. 940 Ebd., S. 207. stelligen? Die Erzählerin-Fotografin knüpft an die bereits in einem früheren Kontext 937 erwähnte technische Möglichkeit an, Teile von Fotografien zu löschen bzw. zu verfälschen. Somit verfügt sie als Beobacherin und Berichterstatterin über […] le moyen d’intervenir sur l’existence de tel ou tel élément. Aujourd’hui - alors que nous possédons tant de moyens d’enregistrement et d’archives, de conservation, des images et des sons - nous savons enlever ce qui ne devrait pas être, faire comme si cela n’avait jamais été. 938 Diese noch auf die Fototechnik - und damit auch auf die Berichterstattung - bezogene Möglichkeit der Manipulation werde sich jedoch bald radikal erwei‐ tern und nicht nur ihre eigene Wirklichkeitswahrnehmung, sondern die Wirk‐ lichkeit als solche verändern: Les machines à explorer le temps paraîtront vaines car il y aura des machines à effacer les événements. Une sorte d’appareil photographique qu’on braquera sur tel événement pour l’effacer. Ainsi je pourrai effacer le poète hongrois, non le souvenir de notre rencontre mais la rencontre elle-même, comme celle du faiseur de pluie, je n’aurai jamais connu ni l’un ni l’autre, les photos - un passant, choisi au hasard, dans la rue, pour la présence de son dos, le désir - quel désir? J’ai toujours vécu ainsi, seule, silhouette à peine détachée des autres, observatrice des vies. 939 Hier weicht der Raum der Wirklichkeit eindeutig einem wahnhaft anmutenden Reich der Fantasie, das nicht aus kreativ-konstruktivem, sondern nihilierend-de‐ struktivem Denken hervorgeht. Es ist daher nur folgerichtig, wenn sie sich zu einem durch und durch banalen Ziel bekennt: „Je ne connais les gens que de l’extérieur, je ne connais que leur impression sur le papier, sur l’écran, je ne cherche aucune révélation.“ 940 Dass die Erzählerin-Fotografin offensichtlich noch nicht über eine „machine à effacer les événements“ verfügt und ihre Emotionalität noch nicht erloschen ist, die von ihr imaginierte Utopie folglich vorerst eine Utopie bleibt, wird ihr im Verlauf eines Radiointerviews bewusst, mit dem die letzte Phase ihrer Such‐ bewegung ihren Höhepunkt erreicht. Im Verlauf der Sendung wird auf ihren Wunsch hin der Song Killing me softly with his song in fünf verschiedenen In‐ terpretationen präsentiert. In ihm beklagt sich die Sängerin darüber, dass ein junger Unbekannter in einem Song ihr Leben erzählt, ohne es zu kennen, sie 4 Themenfeld III 460 941 Zu dem von Charles Fox und Norman Gimbel verfassten Text vgl. www.songtexte.com/ songtext/ lori-lieberman/ killing-me-softly-with-his-song-23cbcc73.html (Abruf: 23. 03. 2015). 942 Wajsbrot 2014, S. 208. 943 Ebd., S. 208 f. 944 Zum Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 206. 945 Ebd., S. 209. sich in der Geschichte jedoch wiederfindet. 941 In dieser Situation spürt die Er‐ zählerin übermächtig, in welchem Maße Text und Melodie als Ausdruck tiefer seelischer Empfindungen sie innerlich bewegen: „[…] les paroles me pénètrent, la musique se dépose, et ma vie ne m’appartient plus. L’émotion que je veux maîtriser, à laquelle je veux désormais me soustraire pour ne plus me vouer qu’à ma carrière, déferle dès les premières notes.“ 942 Und einen Moment später folgt ein verblüffendes Eingeständnis. Der Erzählerin wird bewusst, dass das Chanson das, was sie seelisch bewegt und mit ihren Fotografien vermitteln und erklären will, ungleich besser „übersetzt“. Man mag vermuten, dass sie vor diesem Hin‐ tergrund nicht mehr an die „revelatorische Macht“ ihrer Fotokunst glaubt. Die Konsequenz, die sie daraus zieht, ist radikal: C’est une sorte d’adieu, dis-je, m’apercevant que ce que j’allais expliquer, ou tenter d’expliquer, me tenait beaucoup plus à cœur que tout ce que je pourrais dire sur ma vie ou mes photos, ou sur les photographes que j’admirais. Les chansons sont la traduction de nos états d’âme. Pour ceux qui les composent mais aussi ceux qui les entendent. La chanson raconte et répète une expérience de vie, le plus souvent l’expérience de la perte. Un assassinat en douceur. 943 Offensichtlich möchte sie, nachdem ihre „Rückenserie“ als Erfolg versprech‐ ender Wendepunkt ihrer Karriere eingeschätzt worden ist und in der Serpentine Gallery in London ausgestellt werden soll, 944 auf die Anerkennung ihrer Leis‐ tung und eine Zukunft als erfolgreiche Fotografin nicht verzichten. Dafür zahlt sie jedoch einen hohen Preis, sie nimmt eine „total eclipse of the heart“ in Kauf. Am Ende des Interviews erklärt sie, welche Art von (Schall-)Mauer sie errichten wird, um sich vor seelischen Regungen zu schützen, die schon durch das An‐ hören von in Supermärkten eingespielten Melodien ausgelöst werden. „J’ai choisi ce titre [Killing me softly …, H. H.] parce qu’il décrit ce moment. Après votre émission, j’écouterai peut-être encore de la musique, mais plus jamais de chansons.“ 945 „Totale Éclipse“ 461 946 Vgl. ebd., S. 42: Notre monde […] se détruit sous nos yeux et nous ne faisons qu’assister, impuissants, à sa disparition. 947 Vgl. ebd., S. 207. 4.7.2 Perspektivierende Zusammenfassung Im Rückblick auf die Analyse zeichnen sich zwei eng miteinander verbundene und aufeinander bezogene Suchbewegungen in der „Geschichte“ der Fotografin ab: das Streben nach künstlerischem Erfolg und das hoffnungsvolle Warten auf eine Erfüllung ihrer Liebe zu dem ungarischen Dichter bzw. dem „Regenma‐ cher“. Hat sie in der ersten Phase ihrer Suchbewegung, in der Zeit ihrer Beziehung zu dem ungarischen Dichter, versucht, „la quintessence“, den Wesenskern einer Person, in einem Porträtfoto einzufangen, wird ihr im Verlauf der Diegese be‐ wusst, dass eine solche „Fixierung“ angesichts des sich fortentwickelnden Le‐ bens nicht gelingen kann. Die Begegnung mit dem „Regenmacher“ führt sie auf einen neuen künstlerischen Weg. Sie verfolgt in diesem zweiten Abschnitt ihrer „quête“ das Ziel, durch eine schattenhafte, nur Silhouetten abbildende Darstel‐ lung die zeitliche Begrenztheit der „condition humaine“ in einer abstrahierten Form abzubilden. Mit den Rückenbildern des als „être fugitif “, d. h. im Übergang von der „apparition“ zur „disparition“ und damit in seiner Vergänglichkeit prä‐ sentierten „Regenmachers“ glaubt sie, einen ihr gemäßen, in die Zukunft wei‐ senden Weg zur Abstraktion gefunden zu haben. Die Präsentation des „être fu‐ gitif “ fügt sich ein in ihre Vorstellung einer sich selbst zerstörenden Welt. 946 Handelt es sich beim Übergang von den „fixierenden“ Porträtfotos zu den Rü‐ ckenbildern zunächst noch um eine „organische“ Weiterentwicklung auf dem Wege zur Abstraktion, setzt ein Bruch in ihrer Entwicklung ein, als sie die Herr‐ schaft über den Fotoapparat verliert und sie sich nicht nur von der bereits vor‐ handenen Technik beherrschen lässt, sondern sich dem zerstörerischen Ge‐ danken hingibt, dass „Maschinen“ eines Tages nicht nur die Wahrnehmung der Wirklichkeit manipulieren, sondern Teile der Wirklichkeit auszulöschen ver‐ mögen. 947 Für sie bedeutet dies konkret, dass zwar nicht ihre Erinnerung an die Begegnung mit dem ungarischen Dichter oder dem „Regenmacher“ gelöscht wird, wohl aber die Begegnungen als solche. Diese schizophren anmutende Einschätzung, die den Eintritt in die dritte Phase ihrer Entwicklung markiert, lässt sich nur vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Suchbewegung der Fotografin-Erzählerin verstehen. Das Scheitern der Beziehung zu dem ungari‐ schen Dichter und dem „Regenmacher“ wird umgedeutet in eine Auslöschung der Existenz dieser Personen. Sie isoliert sich im Moment des beruflichen Erfolgs nicht nur konsequent von ihren Mitmenschen, sie beschließt auch, auf das 4 Themenfeld III 462 948 Ebd., S. 8. 949 Vgl. ebd. Hören von Chansons zu verzichten, als ihr bewusst wird, dass Chansons als „traductions de nos états d’âme“ emblematisch die Dimension des menschlichen Gefühlslebens abbilden und bessere Verstehenshilfen liefern als ihre Fotogra‐ fien. Dies bedeutet, dass sie sich in einem letzten Schritt für eine „totale éclipse“, d. h. eine Auslöschung ihrer Emotionalität und damit eines konstitutiven Teils des Menschseins, entscheidet, um die Erfüllung ihrer künstlerisch-beruflichen Ambitionen nicht zu gefährden. Es liegt dann allerdings auch in der Konsequenz einer solchen Entscheidung, dass ihre Fotografien nur noch eine oberfläch‐ lich-abbildhafte Bedeutung haben und nicht mehr zur „essence des hommes, des choses“ vorzudringen vermögen. Kompensiert wird diese negative Bilanz al‐ lenfalls durch ihre esoterisch-mystisch geprägte Absicht, eine Erklärung der Welt in der fotografischen Betrachtung des Gingkos, der sich ihrem Fotoapparat bislang verweigert hat, zu finden. So bleibt ihr Wunschbild als Schwarz-Weiß-Aufnahme die Utopie eines „[…] gingko disparu, qu’on aurait voulu détruire ou déplacer avant de décréter qu’il fallait le garder et tout refaire autour de lui“ 948 . Für utopisch hält sie mithin die Vorstellung, dass ein Gingko verschwinden könnte, da Menschen ihn zerstören oder versetzen wollten, bevor sie seine besondere Schutzwürdigkeit festlegten. Vielmehr ist der Gingko ein Baum, in den die Menschen „ihre Friedenshoffnungen“ einschreiben. 949 Im Lichte der Lotman’schen Raumsemantik ist das Verhalten der Erzäh‐ lerin-Fotografin als in hohem Maße ambivalent zu beurteilen. Einerseits bricht sie - im wörtlichen und übertragenen Sinn - zu neuen Ufern auf, insofern die Perspektive einer Ausstellung in der Serpentine Gallery in London, einem Aus‐ stellungsort für moderne und zeitgenössische Kunst, und einer weiteren Aus‐ stellung in New York einen zunächst nicht für möglich gehaltenen Durchbruch zu internationalem, d. h. grenzüberschreitendem Ruhm und somit die Überwin‐ dung einer lange Zeit für unüberwindbar gehaltenen Hürde bedeutet. Obwohl sie behauptet, sich - anders als Pink - nicht hinter einer Mauer zu verstecken, sich mit ihrer „avancée vers le succès“ der Welt zu präsentieren, zieht sie sich in Wahrheit hinter eine sie vor jeder emotionalen Beeinflussung schützenden Mauer zurück, indem sie nicht mehr das Wesen der Menschen zu ergründen trachtet, sondern nur noch deren äußeres Erscheinungsbild in schattenhafter Reduktion wahrzunehmen und sich gleichzeitig vor jeder emotionalen Beein‐ flussung abzuschirmen sucht. Dies bedeutet, dass sie sich zwar - in einer Hal‐ tung der „indifférence active“ - nach wie vor in der Welt bewegt, mit der ent‐ schiedenen Verweigerung zwischenmenschlicher Beziehungen - Je ne suis plus „Totale Éclipse“ 463 950 Ebd., S. 205. disponible aux êtres […] - 950 jedoch ihre personale Identität, die nicht zuletzt durch ihre Integration in die menschliche Gemeinschaft definiert wird, auf dem Altar beruflichen Erfolgs zu opfern bereit ist. Die damit vollzogene Abgrenzung ist - entwicklungspsychologisch ausgedrückt - als eine retrograde Persönlich‐ keitsentwicklung zu betrachten, zumal die Erzählerin künstlerisch hinter die Ziele ihrer Anfangsphase zurücktritt und der Mensch sich für sie auf ein „être fugitif “ reduziert. Die durch den beruflichen Erfolg markierten Grenzüber‐ schreitungen werden auf diese Weise stark relativiert. 4.8 Zusammenfassung zum Themenfeld III Die in den Romanen des Themenfeldes III dargestellten Orte und Räume lassen sich allesamt mehr oder weniger genau lokalisieren bzw. bestimmen. Sie werden auf sehr unterschiedliche Weise durch künstlerische Suchbewegungen geprägt. In Une vie à soi werden die exakt referentialisierbaren Orte in der Sichtweise Anne Figuières’, der Protagonistin der Vordergrundhandlung, aus ihrer Alltäg‐ lichkeit heraus in ein verklärtes Licht gehoben. Sie bilden ihrerseits jenes inspi‐ rierende Ambiente, das Anne in ihrem Streben, ihr bisheriges Leben aufzugeben und sich ihrem Vorbild Virginia Woolf immer stärker anzunähern, beeinflusst und lenkt. In Caspar-Friedrich-Strasse, einem durch den historisch-geographischen Hin‐ tergrund stark chronotopisch geprägten Roman, sucht der von einer persönli‐ chen und künstlerischen Krise betroffene Dichter-Erzähler einen Neuanfang in einer von ihm als historisch unbelastet imaginierten Caspar-Friedrich-Strasse. In Le Tour du lac gelingt es der autodiegetischen Erzählerin, nach einer drei‐ jährigen Pause zum Schreiben, das sie als Verpflichtung zum „témoignage“ be‐ trachtet, zurückzukehren. Der Inhalt und die zirkelförmig strukturierte Form des Erzähltextes ergänzen sich kongenial. Eine Schaffenskrise thematisiert auch Conversations avec le maître, der erste der bisher vier erschienenen, thematisch und formal stark voneinander ab‐ weichenden Romane des Haute Mer-Zyklus. Die autodiegetische Erzäh‐ lerin-Maklerin bezeugt mit der Dokumentation ihrer Begegnungen mit dem Maître einerseits und einer illegal eingewanderten Ukrainerin andererseits die Existenz unterschiedlicher Parallelwelten, wobei sich der Maître selbst in einer Parallelwelt der Musik verortet, die sich als Scheinwelt erweist. 4 Themenfeld III 464 Nachdem in allen vorangegangenen Romanen des Themenfeldes III künst‐ lerisches Schaffen bzw. das Sprechen über Kunst mit bis zum Suizid reichenden Krisen in Verbindung gebracht worden ist, bietet L’Île aux musées ein gänzlich anderes Bild. Ein von der Kunst beherrschtes „Insel-Archipel der Kunst“ tritt in einen Dialog mit der Welt der Menschen ein. Dieser Austausch kann, wie die Begegnungen der sich in Berlin und Paris zufällig bildenden Paare mit bedeu‐ tenden Kunstwerken exemplarisch zeigen, Veränderungen im Denken und Ver‐ halten der Menschen bewirken. Die Handlungsorte Berlin und Paris weisen aufgrund der grenzüberschreitenden, weltweiten Vernetzung der Kunstwerke über sich selbst hinaus. In L’Île aux musées und in Sentinelles wird die Begegnung zwischen „le monde réel“ und „le monde de l’art“ durch den heterotopischen Charakter der Hand‐ lungsorte hervorgehoben. Auf die in L’Île aux musées weltumspannende Ver‐ breitung und Wirkung der Kunst folgt in Sentinelles mit der Hinwendung zu virtuellen Räumen ein weiterer Schritt der „Entgrenzung“ der Kunst in ihrer Wirkung auf den Menschen. In Totale Éclipse unterwirft sich die zunächst von einem platonischen Kunst‐ verständnis geprägte Erzählerin-Fotografin im Interesse ihres beruflichen Er‐ folgs einer Technik, die immer neue Möglichkeiten der Darstellung, aber auch der Verfälschung der Wirklichkeit eröffnet. Mit der zunehmenden emotionalen Isolation von ihren Mitmenschen gerät sie in die völlige Unbewohnbarkeit einer „totale éclipse“. 4.8 Zusammenfassung zum Themenfeld III 465 1 In Le Visiteur sind neben der Titelgeschichte Le passage und Les étoiles de la mer er‐ schienen. In Nocturnes sind La nuit du ferry, Dans le rayon du phare, La bouteille à la mer und Seul vereint. 2 Dahlem 2012, S. 288. - Der Palimpsestcharakter des Textes lässt sich primär aus der Gewohnheit der Verfasserin, zwischen Paris und Berlin als Wohnorten zu wechseln, ableiten. Einen textinternen Hinweis auf Berlin bietet die vor einem Park mit einem Teich aufgestellte Heine-Bronze. Eine der zwei existierenden Kopien befindet sich seit 1958 im Volkspark am Weinberg an der Brunnenstraße in Berlin Mitte. Ebd. ist auch ein nierenförmiger, von einer Liegewiese umgebener Teich angelegt. Vgl. dazu „Volks‐ park am Weinberg“ in: de.wikipedia.org / wiki / Volkspark_am_Weinberg und „Hein‐ rich-Heine-Denkmal (Berlin)“ in de.wikipedia.org/ wiki/ Heinrich-Heine-Denkmal_(Berlin); Abruf: 04. 12. 2014. 3 Zum Themenfeld I sind mit Ausnahme von La nuit du ferry die drei anderen Texte aus Nocturnes zu zählen. Die vier übrigen Texte sind thematisch zwischen den Themenfel‐ dern I und II einzuordnen. 5 Die kurzen Erzähltexte Neben ihren größtenteils als Romanen zu bezeichnenden längeren hat Cécile Wajsbrot eine kleinere Zahl weniger beachteter kürzerer Erzähltexte ge‐ schrieben, die unter dem Titel Le Visiteur (1999) und Nocturnes (2002) veröf‐ fentlicht worden sind. 1 Zusätzlich hat die Autorin für den von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann herausgegebenen Sammelband Du silence à la voix - Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot einen „(…) kurzen autofiktionalen Versuch“ mit dem Titel La Ville de l’oiseau verfasst, in dem sie ihre „[…] Berli‐ nerfahrungen […] im Bild des urbanen Palimpsests [verdichtet]“ 2 . 5.1 Einordnung der kurzen Erzähltexte in das Gesamtwerk Cécile Wajsbrots Die in Le Visiteur und Nocturnes vereinten Texte lassen sich thematisch un‐ schwer dem Themenfeld I bzw. dem Grenzbereich zwischen den Themenfel‐ dern I und II zuordnen. 3 Allen Texten ist gemeinsam, dass sie in der einen oder anderen Weise als literarische Suchbewegungen zu bezeichnen sind, die Dar‐ stellung von Raum und Bewegung mithin von konstitutiver Bedeutung insbe‐ sondere für die Zeichnung der handelnden Figuren ist. Eine eingehende Unter‐ suchung dieser Texte bedeutete für diese Studie jedoch keinen nennenswerten Erkenntnisgewinn. 4 Der Text wird zitiert als Wajsbrot 2010a. 5 Wajsbrot 2010a, S. 34. 6 Ebd. Der 2010 erschienene Text La Ville de l’oiseau 4 hingegen sollte zumindest in knapper Form analytisch betrachtet werden. Dies geschieht nicht, weil sich in ihm, wie Johannes Dahlem mit dem Bild des Palimpsests zu Recht andeutet, ganz offensichtlich die Entscheidung der Autorin widerspiegelt, ihr Leben zwischen Paris und Berlin zu teilen. Eine solche individualisierende, personenbezogene Begründung wäre weder textkritisch zu rechtfertigen noch läge sie im Interesse der Autorin, die, wie auch diese Studie bereits gezeigt hat, in ihrem Erzählwerk im Laufe der Zeit konsequent zu einer vom Einzelfall abstrahierenden, verall‐ gemeinernden Auseinandersetzung mit den von ihr aufgegriffenen Themen übergegangen ist. Ein konzentrierter Blick auf La Ville de l’oiseau ist jedoch lohnenswert, weil die autodiegetische Erzählerin als Protagonistin nicht eine einmalige Grenzüberschreitung von einer Semiosphäre in eine andere vollzieht, sondern, wie oben angedeutet, ihre Lebenszeit auf zwei Wohnorte verteilt und daraus resultierende Chancen und Schwierigkeiten herausarbeitet. Auf diese Weise variiert sie das aus früheren Werken (der Autorin) bekannte Leitthema eines „Zwischen-den-Welten-Lebens“. Überdies skizziert sie beiläufig aus ihrer eigenen und der Sicht der Fotografin ihre Idealvorstellung eines Kunstwerks, die in nachfolgenden Werken Cécile Wajsbrots weiter konkretisiert wird. 5.2 La Ville de l’oiseau - Bindeglied zwischen vertrauter und neuer Thematik Die autodiegetische Erzählerin beschreibt die Auswirkungen, die das Hin- und Herpendeln zwischen zwei Metropolen auf ihr Denken und ihr Gefühlsleben ausübt, in einer sorgfältig abwägenden, stark reflexiven Sprache. Dass der Ort der Handlung und die Stadt der Herkunft der Erzählerin unterschiedlichen Se‐ miosphären angehören, ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass in ihnen nicht dieselbe Sprache gesprochen wird. Exakt in der Mitte des Textes erfahren wir, dass sie und ihr Partner sich be‐ wusst für „[…] une vie de va-et-vient […]“ 5 , also eine besondere Form des „Zwi‐ schen-den-Welten-Lebens“, des in den Romanen der Themenfelder I und II the‐ matisierten Unterwegsseins entschieden haben: „Certes, nous avions voulu tenter l’expérience de partir partiellement puisque nous ne pouvions partir complètement […].“ 6 Die Erfüllung dieses Wunsches fällt umso leichter, da trotz all der in der Herkunftsstadt verbrachten Jahre die „Einwurzelung“ ebendort - 5.2 „La Ville de l’oiseau“ 467 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Lotman 2010, S. 182. 11 Vgl. Wajsbrot 2010a, S. 32. Vgl. auch ebd., S. 33: Et le café d’ici a succédé à ceux de là-bas […] 12 Ebd., S. 35. Da die Erzählerin die Geschichte an ihrem Erstwohnsitz niederschreibt, weist das Adverb „là-bas“ eindeutig auf den Handlungsort hin. l’installation - 7 nicht so tief ist, dass sie nicht auch in Frage gestellt werden könnte. Wie eine Herausforderung, Neues zu wagen, unbekannte Pfade zu be‐ treten, wirkt auf die Erzählerin […] une vie […] d’intermittences, avec deux pôles, deux centres de gravité, une vie déjà tracée et une autre qui se traçait, une vie installée […] et une vie où il fallait tout refaire, meubler un appartement, demander le téléphone, connaître le fonctionnement des relevés de gaz et d’électricité, bref, faire connaissance avec un autre mode d’existence, avec les magasins, les voisins, avoir d’autres amis, parler une autre langue. 8 Sowohl die notwendige Gewöhnung an banale Besonderheiten des alltäglichen Lebens als auch die sozialen und sprachlich-kulturellen Herausforderungen werden, wie es scheint, mit einer solchen Selbstverständlichkeit angenommen, dass die Erzählerin zwar „[…] une première et une seconde vie […]“ unter‐ scheidet, die Vorstellung einer klaren Abgrenzung zwischen den beiden Berei‐ chen jedoch zurückweist: „[…] la ligne de partage n’était pas aussi nette ou plus exactement, ce n’était pas une ligne de partage mais plutôt une fine pellicule qui peu à peu venait se déposer sur la première vie, la rendant par moments inac‐ cessible ou illisible […].“ 9 Mit der Metapher der „fine pellicule“ vermittelt die Erzählerin eine Vorstellung von Grenze, die Lotman in seinem Spätwerk Die Innenwelt des Denkens mit dem Begriff der „Ambivalenz“ umschrieben hat. Da‐ nach hat die Grenze zwischen zwei aneinandergrenzenden Semiosphären nicht nur etwas Trennendes, sondern auch Verbindendes und wirkt wie „eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die in‐ terne Semiotik der Semiosphäre einfügen […]“ 10 . In den Gedanken und Empfindungen der Erzählerin spiegelt sich diese „Am‐ bivalenz“ in unmissverständlicher Metaphorik und klaren topologischen Sig‐ nalen wider. Einerseits spricht sie über ihre Entwurzelung - Parfois je me sentais déracinée, parfois je me sentais entre ici et là-bas sans être d’ici ni de là-bas […] - 11 , andererseits hebt sie hervor, dass ihr und ihrem Partner das die Menschen in ihrer zweiten Heimat Verbindende - Les habitants d’une ville sont reliés par une chaîne invisible […] - 12 , also die „Atmosphäre“ der Stadt, behagte: 5 Die kurzen Erzähltexte 468 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., S. 32: C’était le dernier jour […] le dernier où nous pourrions marcher du même pas, voir les mêmes choses avant de reprendre chacun notre chemin. 15 Vgl.ebd., S. 31: […] j’avais écrit ma ration quotidienne - le labeur fastidieux minuté par la montre au cadran caché pour ne pas gêner mais indiquant tout de même la présence des heures, d’une mesure indépendante de l’horloge interne qui n’est pas toujours juste. 16 Ebd., S. 36. - Die Geschichte des Wohnungsbrands dürfte durch eine Erfahrung inspi‐ riert sein, die C. Wajsbrot in Berlin hat machen müssen. Vgl. Wajsbrot 2015, S. 12. 17 Wajsbrot 2010a, S. 36. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd., S. 37. 20 Ebd., S. 36. „Peut-être était-ce pour cela que nous nous sentions bien là-bas, parce que quelque chose, dans l’atmosphère, nous convenait.“ 13 Darüber hinaus ist es für beide von Vorteil, dass sie sich hier „im Gleichschritt bewegen“, während sich ihre Wege nach ihrer Rückkehr wieder trennen werden. 14 Sogar am Tag ihrer Abreise erledigt sie, bevor sie zu einem Treffen mit ihrem Partner aufbricht, ihre mühsam-langwierige „tägliche Schreibration“. Bei dieser Arbeit hat sie aller‐ dings mitunter festgestellt, dass die „reale Zeit“ und ihre - nicht immer zuver‐ lässige - „innere Uhr“ nicht übereinstimmen, 15 d. h. dass sie beim Schreiben zu‐ weilen die zeitliche Orientierung verliert. Die Ambivalenz im Seelenleben der Erzählerin gelangt besonders klar im Moment des durch unglückliche Umstände erzwungenen Abschieds zum Aus‐ druck. Als sie und ihr Partner die niedergebrannte und durch Löscharbeiten ruinierte Wohnung in ihrer Wahlheimat für unbestimmte Zeit - […] sans per‐ spective d’un retour immédiat - 16 verlassen müssen, bedeutet diese Trennung für beide eine Weggabelung - Nous étions au carrefour - 17 , und sie hat das Gefühl, von der geliebten Stadt verstoßen zu werden - La ville […] semblait nous rejeter […] - 18 und sie „[…] comme des réfugiés […]“ 19 verlassen zu müssen. Diese schmerzhafte, Fragen aufwerfende Trennungserfahrung fasst sie in der folgenden Überlegung zusammen und rekurriert dabei zugleich auf zwei Erleb‐ nisse von zentraler Bedeutung: […] c’était un peu comme quitter quelqu’un, perdre une partie de son passé, des références communes, un pan de vie que désignait - peut-être - l’oiseau. La réponse était-elle à chercher dans son immobilité, dans son mouvement, ou dans le déséquilibre entre les deux? Et la femme au bord du toit, regardait-elle la ville ou contemplait-elle le vide? 20 Liefern die Erfahrungen mit dem im Titel erscheinenden und bereits im zweiten Textabsatz erstmals genannten Vogel, der immerhin metonymisch einen Ab‐ 5.2 „La Ville de l’oiseau“ 469 21 Ebd., S. 35. 22 Le Petit Robert, „Destin“, S. 723. 23 Wajsbrot 2010a, S. 34. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 37. 26 Ebd. schnitt im Leben der Erzählerin und ihres Partners benennt und dessen Wechsel von der Bewegungslosigkeit zur plötzlich einsetzenden, zielgerichteten Bewe‐ gung nicht einem regelmäßigen Rhythmus, sondern einer geheimnisvollen Dra‐ maturgie zu folgen scheint, der Erzählerin vielleicht eine Erklärung für ihr in der „ville de l’oiseau“ verbrachtes Leben? Und welche Gemeinsamkeiten be‐ stehen […] entre la femme et l’oiseau, entre leurs pas et nos décisions, entre les vies dont l’addition constitue une ville et un destin commun, et pourquoi était-ce à ce destin commun qui ne s’écrivait pas dans notre langue que nous voulions nous rattacher? 21 Die Erzählerin spricht hier von einem „destin commun“, für dessen Bedeutung „unsere Sprache“ noch keine Bezeichnung gefunden habe, d. h., dass sie eine bestimmte Vorstellung von einem „signifié“ hat, ohne ein adäquates „signifiant“ zu kennen. Wenn sie und ihr Partner sich gleichwohl bewusst als Teil einer als „addition de vies“ zu verstehenden Stadt in deren „destin commun“ einbeziehen, wird dieser Entschluss nur im Lichte der Bedeutung dieses Begriffs verständlich, der kontextuell am ehesten als „puissance qui […] fixerait de façon irrévocable le cours des événements“ 22 zu definieren ist. Damit tut sich die Erzählerin an‐ gesichts der Szenen, mit denen sie kurz vor ihrer Abreise konfrontiert ist, jedoch schwer, geben ihr doch das Verhalten sowohl der vor zwei Tagen auf dem Dach des „[…] immeuble d’en face […]“ 23 beobachteten, schwarz gewandeten Frau als auch des lange Zeit in der Bewegungslosigkeit verharrenden und dann ganz plötzlich Beute schlagenden Vogels Rätsel auf. Sie betont nämlich, dass sie das erste und das zweite Bild des Vogels - […] la silhouette gris argent immobile et l’oiseau aux prises avec le poisson qu’il avalait […] - 24 nicht in Übereinstimmung zu bringen vermochte, bis sie erfuhr, dass es sich gar nicht um einen Ibis, sondern um einen Graureiher - […] un simple héron cendré […] - 25 handelte. Da Grau‐ reiher über „[…] une vision latérale et une ouïe qui les rend sensibles au moindre bruit“ 26 verfügen, können sie aus der Körperdrehung heraus blitzschnell zu Beu‐ tezügen ansetzen. Mit dieser simplen Erklärung gibt sich die Erzählerin jedoch nur eingeschränkt zufrieden: „Les termes décrivaient la réalité que j’avais vue sans décrire celle que j’avais ressentie et devant cette constatation, j’éprouvai à 5 Die kurzen Erzähltexte 470 27 Ebd. 28 Ebd., S. 32 29 Ebd., S. 35. 30 Ebd., S. 32. 31 Vgl. ebd., S. 36: […] si la scène m’avait d’abord paru indiquer que nous avions raison d’insister, de vouloir vivre dans cette ville, fallait-il désormais en conclure que le mes‐ sage était inverse, signifiait qu’ici comme ailleurs, les besoins étaient les mêmes, que les gens vivaient la même vie et les oiseaux aussi, qu’ici, ailleurs ou là-bas, le mystère n’existait pas? 32 Ebd., S. 34. 33 Vgl. ebd. S. 35: […] elle avança le long du toit d’un pas décidé et disparut de l’autre côté sans que rien n’ait pu éclaircir la scène. 34 Vgl. ebd.: […] j’avais le cœur glacé d’angoisse, une angoisse totalement inutile. la fois le soulagement d’avoir enfin trouvé l’explication et la déception de con‐ stater que cette explication ne recelait aucun mystère.“ 27 . Zu der Erleichterung über die sachliche Klärung eines für unerklärlich ge‐ haltenen Vorgangs gesellt sich also die Enttäuschung darüber, dass der Vogel in seinem triebgesteuerten Handeln nicht von einer geheimnisvollen Regie gelenkt wird. Die ambivalente Reaktion der Erzählerin wird nur verständlich, wenn man ihre Beobachtung des Vogels im Kontext der „histoire“ mit ihrer eigenen Tätig‐ keit des Schreibens in Verbindung bringt. Schienen die „immobilité contempla‐ tive“ 28 und das bedächtige, langsame Voranschreiten des fälschlicherweise für einen Ibis gehaltenen Vogels nicht auch gleichnishaft die Suche der Erzählerin nach „[…] une vérité, un monde au-delà des apparences […]“ 29 abzubilden, zumal der Vogel ihr zu sagen schien, dass sie „ici“, in seiner Stadt, „[…] plus près de l’essentiel“ 30 war? Wird mit der „Entmythologisierung“ des Vogels nicht zu‐ gleich auch ihre Deutungskompetenz, also ihre eigentliche „vocation“, in Frage gestellt? Und bedeutet die Szene vielleicht sogar, dass Menschen und Vögel überall jeweils „dieselben Bedürfnisse“ haben und es folglich keinen Grund gibt, in der Stadt bleiben zu wollen? 31 Findet das „Rätsel“ der in dem heterotopischen Ambiente eines Parks be‐ obachteten Vogelszene eine „natürliche“ Erklärung, so bleibt das Schicksal der Frau auf dem Dach eines Wohnhauses inmitten der Stadt letztlich ungeklärt. Immerhin besteht eine durch zwei Merkmale hervorgerufene Parallelität zwi‐ schen dem Verhalten des Reihers und dem der Frau, insofern sie nach einer offensichtlich längeren Phase der „[…] immobilité […] impénétrable“ 32 (M 1) „mit einem entschiedenen Schritt“ (M 2) längs des Daches voranschreitet und auf der anderen Seite verschwindet. 33 Auch relativiert die Erzählerin die Bekundung ihrer Angst, kaum dass sie sie geäußert hat. 34 Eine zweifelsfreie Aufklärung der „Dachszene“ ist jedoch nicht zu erbringen, zumal die Erzählerin zu dem Schluss gelangt, dass dies unmöglich sei. Man mag allenfalls vermuten, dass sie damit 5.2 „La Ville de l’oiseau“ 471 35 Ebd., S. 36f andeuten will, dass menschliches Verhalten - trotz der unübersehbaren Paral‐ lelen zu dem der Tiere - schwerer berechenbar ist, das alltägliche Leben mithin nicht auf alle Fragen sofort eine Antwort liefert, auch wenn die Vogelszene exemplarisch zeigt, dass ein zunächst rätselhaft und geheimnisvoll anmutender Vorgang eine banale Erklärung finden kann. Angesichts der - trotz der aufge‐ zeigten Parallelen - völlig disparaten Ereignisse im Park und auf dem Dach, die sich kurz vor der Abreise der Erzählerin zugetragen haben, gewinnt ihre Frage, wie sich ihr Schicksal in das „destin commun“ der Stadt einfügt, an Dringlichkeit. Die einzige Antwort, die dem Text zu entnehmen ist, entbehrt eben jener „geheimnisvollen“, von der Erzählerin selbst erhofften Überhöhung, durch die das „destin commun“ der Stadt einer (vielleicht sogar) metaphysischen Lenkung unterstellt würde. In ihrem in der Stadt ihrer Herkunft niedergeschriebenen Text über die „ville de l’oiseau“ erinnert sich die Erzählerin, wie sie am Tag vor ihrer Abreise, also bevor sie das geheimnisvolle Verhalten des Vogels hatte erklären können, über das Erlebnis im Park dachte. Das kollektive „nous“ bezieht sich in dem nachfolgenden Abschnitt, in dem die Orte der Handlung und der Nieder‐ schrift der Erzählung „kontextualisiert“ werden, nicht nur auf die Erzählerin und ihren Partner, sondern hat darüber hinaus eine verallgemeinernde Funk‐ tion: Je marchais en pensant demain, tout sera loin et je serai dans une autre ville, celle où j’écris maintenant, avec d’autres pensées, d’autres préoccupations, et l’oubli de ce que je suis ici - car nous sommes faits de préoccupations et de pensées, nous sommes faits des lieux que nous voyons. (Hervorhebung H. H.) Le pas sera le même, le rythme de la marche mais d’autres rues en seront le décor et ces rues induiront le cours de mes pensées. Mais j’étais encore dans les rues de l’oiseau et cet oiseau sans nom me poursuivait, je ne voulais pas abandonner ce qu’il cherchait à me dire si bien qu’aux boutiques les plus étranges qui se succédaient maintenant […] venait se superposer l’image de l’étang et son mystérieux riverain. Mais rien de l’énigme ne cédait. 35 An keiner anderen Stelle des Erzählwerks Cécile Wajsbrots wird der Einfluss des Lebensraums, die einladende oder abweisende Wirkung, die die Orte, in denen wir leben, mit ihren Menschen, ihrer Geschichte, ihrer Architektur, ihrer vielfältigen soziokulturellen Prägung und ihren kodierten Botschaften auf „uns“ ausüben, so klar zum Ausdruck gebracht wie hier. Dies bedeutet nicht, dass die hier genannten Aspekte alle benannt oder gar detailliert beschrieben werden. Die komprimierte Ausdrucksweise der Erzählerin legt die hier vorgetragene Deutung gleichwohl nahe. Ohne die Verfasserin mit der Erzählerin identifizieren 5 Die kurzen Erzähltexte 472 36 Ebd., S. 32. zu wollen, darf man doch feststellen, dass Cécile Wajsbrot die Bedeutung von Raum und Bewegung angesichts ihrer realen Erfahrungen besonders wirkungs‐ voll durch ein ZwischenWeltenSchreiben (Ottmar Ette) vermitteln kann, indem sie die Erzählerin in eine solche Lage versetzt. Gleichzeitig nutzt sie den fiktio‐ nalen Rahmen, um wohl auch ihre eigene, von Selbstzweifeln keineswegs freie Auffassung vom Schreiben als eine Suche nach Wahrheit, als ein den „Schein“ der Dinge durchdringendes Forschen nach dem „Wesentlichen“ zu definieren. Mit dieser poetologischen Absichtserklärung korrespondiert das Streben der Fotografin, die das Bild des auf eine scheinbar geheimnisvolle Weise bewe‐ gungslosen Vogels aus einem optimalen Winkel einzufangen versucht „[…] pour en capter l’essence […]“ 36 . So kündigt sich im Werk Cécile Wajsbrots in La Ville de l’oiseau die Auseinandersetzung mit einem platonisch idealisierten Kunst‐ verständnis an, das sowohl in Sentinelles (2013) als auch in Totale Éclipse (2014) ausführlicher thematisiert wird. 5.2 „La Ville de l’oiseau“ 473 DRITTER TEIL (C) ZUSAMMENFASSUNG UND VERTIEFUNG 1 Vorbemerkung Die im Hauptteil entwickelten Textanalysen arbeiten die in den Romanen Cécile Wajsbrots zu beobachtenden Bewegungsmuster in ihrer Diversität und der werkspezifischen Funktionalität der Orte und Räume heraus. In einer Rückschau ist in Anknüpfung an die auf die Themenfelder bezogenen Zwischenzusam‐ menfassungen vertiefend darzustellen, welche Entwicklungslinien bzgl. der Motivation und der räumlichen und ideellen Zielsetzung der Suchbewegungen innerhalb der drei Themenfelder und themenfeldübergreifend zu beobachten sind. Im Anschluss daran sollen in den Schlussfolgerungen das Erzählwerk Cé‐ cile Wajsbrots im Lichte der literaturtheoretischen Ansichten der Autorin be‐ trachtet und das den Haute-Mer-Romanen zugrunde liegende Kunstverständnis ansatzweise eruiert werden. Schließlich soll der Begriff der literarischen Such‐ bewegung in einer Gesamtschau aus inhaltlicher und formaler Sicht zusam‐ menfassend definiert werden. 1 Der Begriff „errance“ ist auch in den vier Texten zu finden. Stellvertretend seien fol‐ gende Stellen zitiert: Atlantique: Personne ne proposait d’arrêter le cirque […] Eux de‐ meuraient figés, condamnés - le mari, le frère et, comment fallait-il dire, l’amant, l’ami, et Gilles, un instrument de plus - à l’éternelle errance (S. 155). Le Désir d’Équateur: Moi, je préférais le large et la navigation - qu’il appelait errance […] (S. 17). Mariane Klinger: L’ombre du paquebot se dessinait aussi […] une longue coque noire fondue dans la nuit et trois cheminées dressées, imaginait Mariane, la cheminée d’espoir - celui des émigrants de tous pays, de toutes époques - la cheminée d’errance - celle des vo‐ yageurs, qu’ils sachent ou ne sachent pas - la cheminée de hasard - rencontres au cours des traversées (S. 156). Voyage à Saint-Thomas: […) elle avait l’impression d’avoir quitté les rives du monde aux contours nets pour tomber dans une errance, une navigation perpétuelle […] (S. 126). 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen Themenfeld I Die zwischen 1993 und 1998 erschienenen Texte können im Hinblick auf ihre Handlungsstruktur allesamt - ungeachtet der inhaltlich-thematischen Unter‐ schiede - als „errances“ 1 bezeichnet werden, insofern sie das Thema der durch mannigfaltige Hindernisse behinderten individuellen Suche nach Glück vari‐ ieren. Die in einem Abstand von zwei Jahren veröffentlichten Romane Atlantique und Le Désir d’Équateur weisen Parallelen auf, insofern das Handeln der Prota‐ gonisten durch sexuelle Orientierungen gelenkt wird, die von den Erzähl‐ stimmen als „transgressions“, als von einer geltenden Norm abweichende Ver‐ haltensweisen bzw. Grenzüberschreitungen empfunden werden. Erotische Wünsche der weiblichen Hauptfigur treiben auch die Handlung in Voyage à Saint-Thomas voran. In Mariane Klinger kehrt die Titelfigur nach einem ge‐ scheiterten „mariage arrangé“ auf der Suche nach einem selbstbestimmten, sinnvollen Leben und einem dies ermöglichenden Ort in das unter den Folgen des II . Weltkrieges leidende Europa zurück. In allen Romanen des Themenfeldes I sind die Orte und Räume mehr oder weniger genau referentialisierbar, sodass sich die Handlung jeweils relativ prä‐ zise verorten lässt und auf das reale Leben bezogen wird. In Le Désir d’Équateur sind Quito und das Äquatormonument La Mitad del Mundo als reale Orte to‐ pographisch exakt zu bestimmen, sie dienen im fiktionalen Rahmen jedoch als rein virtuelle Ziele, auf die die Protagonistin ihre Sehnsüchte projiziert. Die 2 Foucault 2006, S. 327. 3 Wajsbrot 1995, S. 47. 4 Ebd., S. 17. Protagonistinnen und Protagonisten in allen Romanen des Themenfeldes I sind Bewegungsfiguren. Im Hinblick auf die Funktion, die Orte und Räume in den Romanen des The‐ menfeldes I ausüben, liegen folgende Differenzierungen nahe: • Räume haben eine die Menschen in ihrer Emotionalität und ihrem Ver‐ halten affizierende Funktion. Dies gilt insbesondere für den in Atlantique beschriebenen Strand in Brasilien sowie für den Ort Saint-Thomas in Voyage à Saint-Thomas. Beide Orte üben eine enttabuisierende, die Hand‐ lung stark beeinflussende Wirkung aus. • Orte bzw. Räume, die durch Schwellenmerkmale wie Grenzen oder durch Ereignisse von historischer Bedeutung besonders geprägt sind, spiegeln persönliche Sehnsüchte und Befindlichkeiten sowie zwischenmensch‐ liche Beziehungen wider. Dies gilt in Le Désir d’Équateur für das bereits erwähnte virtuelle Ziel ebenso wie für die Berliner Mauer als Symbol der Teilung einer Stadt und eines Landes sowie die Stadt Istanbul mit dem Bosporus als Trennlinie zwischen Europa und Asien. Beide Orte treten jeweils in eine Äquivalenzbeziehung zur bisexuellen Veranlagung der Protagonistin. - In Mariane Klinger spielt sich die Vordergrundhandlung auf einem Schiff ab, einem „Ort“, den Michel Foucault als „[…] Heterotopie par excellence“ 2 bezeichnet hat. Durch die Heterotopie bzw. den Wege‐ raum wird die Entwurzelung der Protagonistin, ihre Suche nach Behei‐ matung im physisch-dinghaften und geistigen Sinn, in genialer Weise re‐ flektiert. • Der Kontrast zwischen „innen“ und „außen“ kennzeichnet alle Romane des Themenfeldes I. Das „entre les murs“ 3 bietet in Le Désir d’Équateur und in Voyage à Saint-Thomas einen Anreiz für intime Begegnungen, die jedoch nicht uneingeschränkten Genuss bedeuten. In Atlantique fördern die geschlossenen Räume des gemeinsamen Musizierens den Ausbruch von Konflikten. In Mariane Klinger empfindet die Protagonistin ihren Arbeitsplatz, die Arztpraxis ihres Ehemannes in New York, als Gefängnis. Eine entgrenzende und damit befreiende Wirkung üben hingegen „Au‐ ßenräume“ aus. Dies gilt für den Strand in Atlantique ebenso wie für „[…] le large et la navigation“ 4 , die Vorliebe der Erzählerin in Le Désir d’Équa‐ teur. Die Weite des Ozeans in Mariane Klinger verbindet die Titelfigur auf der Hin- und Rückreise mit hoffnungsvollen Erwartungen. Für die Pro‐ 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 479 5 Vgl. Schubert 2001, S. 203 f. tagonistin in Voyage à Saint-Thomas schließlich kontrastiert das Gefühl des Eingeschlossenseins in der Großstadt Paris mit der Hoffnung auf in‐ nere Befreiung angesichts des sich beim Anblick des Ozeans weit öff‐ nenden Horizonts. • Im Themenfeld I werden durch Mariane Klinger und Le Désir d’Équateur implizit Themenkreise angekündigt, die Cécile Wajsbrot in den Folge‐ jahren verarbeiten wird: Die an Bord der Queen Mary geführten Ge‐ spräche über den II . Weltkrieg und seine unabsehbaren Folgen lassen sich als Prolepse der das Themenfeld II beherrschenden, aber auch noch für Caspar-Friedrich-Strasse im Themenfeld III relevanten historisch-zeitge‐ schichtlichen Thematik deuten. Die oben erwähnte Vorliebe der autodie‐ getischen Erzählerin in Le Désir d’Équateur für „freies Navigieren“ ver‐ bindet das Themenfeld I (zumindest auf der Ebene der Metaphorik) mit der das Themenfeld III beherrschenden Haute Mer-Thematik. Der Bezug zu Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen in Atlantique sowie die literarischen Neigungen sowohl Mariane Klingers als auch Agathes in Voyage à Saint-Thomas stellen eine weitere Verbindung zwischen den Themenfeldern I und III her. Themenfeld II Während die Markierung durch chronotopische Bezüge im Themenfeld I vor‐ nehmlich Mariane Klinger und Le Désir d’Équateur betrifft, ist sie für die im Themenfeld II vereinten Texte geradezu konstitutiv. Das Themenfeld II erwei‐ tert und vertieft die funktionale Bedeutung, die bei der Suchbewegung der han‐ delnden Figuren Orten und Räumen zukommt, insofern sie Denk- und Verhal‐ tensweisen widerspiegeln (La Trahison) oder aber maßgeblich beeinflussen und lenken (Nation par Barbès, Beaune-la-Rolande, Mémorial, Fugue). Bei der Foka‐ lisierung der Handlungen auf Orte und Räume resultiert die semantische Ko‐ dierung bzw. die zeichenhafte Bedeutung aus der Verschränkung individueller Biographien und (zeit)geschichtlicher Vorgänge. Die sich in Mariane Klinger im Themenfeld I ankündigende literarische Aus‐ einandersetzung Cécile Wajsbrots mit den Verbrechen und Folgen des II . Welt‐ kriegs wird in La Trahison anhand einer fiktiven Biographie, für die es ver‐ gleichbare Beispiele in der Wirklichkeit geben mag, fortgesetzt. In La Trahison wird Paris zu einem Ort, der bis in die Zeit der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts durch „die enge Verschränkung jüdischer und nicht-jüdischer Geschichte“ 5 und die Nachwirkungen der nicht hinreichend aufgearbeiteten Zeit der Kollabora‐ 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 480 6 Der Vorname „Ariane“, die französische Form von „Ariadne“, stellt einen Bezug zu der gleichnamigen Figur der griechischen Mythologie her: Ariadne, die Tochter des Minos und der Pasiphae, wies Theseus nach seinem Sieg über den Minotaurus mit einem von ihr ausgelegten Faden den Weg aus dem Labyrinth. Ein direkter Bezug auf diese Ge‐ schichte findet sich in Le Tour du lac (S. 155): „J’étais posée, dans ma famille comme au lycée […] je n’avais […] aucun fil d’Ariane pour en sortir.“ 7 Wajsbrot 2008c, S. 26. 8 Ebd. tion auf die französische Gegenwart geprägt ist. Die ruhelose „Aufklärerin“ Ariane 6 Desprats versteht ihr Leben als ein kontinuierliches „Unterwegssein“ und als permanente Grenzüberschreitung, während Louis Mérian, der paradig‐ matisch das durch die Verstrickung in die Kollaboration schuldig gewordene Frankreich repräsentiert, ein Rundfunkstudio, also einen Ort der Kommunika‐ tion par excellence, entpolitisiert und dadurch zu einem Rückzugs- und Schutz‐ raum für sich selbst macht. Ruheloses „Unterwegssein“ wird folglich positiv, die von verdrängten Schuldgefühlen gesteuerte Camouflage der eigenen Vergan‐ genheit durch eine drastische Reduzierung des eigenen Bewegungsradius ne‐ gativ konnotiert. Mit dem Thema „Migration“ knüpft in gewisser Weise auch Nation par Barbès an Mariane Klinger an. Nation par Barbès entfaltet das Bild einer Stadt, in der die handelnden weiblichen Figuren entweder in einem Modus der „inneren Emig‐ ration“ leben oder aber von der „äußeren“ in die „innere Emigration“ abgedrängt werden. Die Métro offenbart ihren Charakter als klassischer „non-lieu“, indem sie zwar Beziehungen herbeiführt, sich aber auch als jener „Nicht-Ort“ präsen‐ tiert, an dem der transitorische Charakter dieser Beziehungen manifest wird. In den beiden folgenden Texten, Beaune-la-Rolande und Mémorial, werden die autodiegetischen Erzählerinnen zu „Bewegungsfiguren“, deren Leben und Han‐ deln, obwohl sie nach dem II . Weltkrieg geboren wurden, durch die Schrecken dieser Zeit nachhaltig geprägt wird. In Beaune-la-Rolande und Mémorial sind die sich jährlich wiederholenden Besuche eines Erinnerungs- und Gedenkorts bzw. die aus einem besonderen Anlass erfolgende Reise in die Heimat der Vorfahren eindeutig als typische Reaktionen von Nachfahren der Opfer des Holocaust zu werten. Sie erfüllen damit eine Verpflichtung, die Cécile Wajsbrot in einem 2008 erschienenen Essay als „[le] onzième commandement, Tu en parleras“ um‐ schreibt. 7 Sie und andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihrer Generation seien weder 1942 oder 1943 in Auschwitz oder in den 30er Jahren in einem pol‐ nischen Schtetl noch seien sie in den 60er, 70er oder 80er Jahren wirklich in Paris gewesen, da sie sich wie Schlafwandler in der Stadt bewegt hätten: „[…] non, nous n’étions nulle part, perdus dans l’espace et le temps […].“ 8 Dieser „[…] état 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 481 9 Ebd., S. 27. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 28 f. somnambulique permettant d’habiter dans deux espaces et deux temps - c’est-à-dire finalement aucun - […]“ korrespondiere jedoch durchaus mit […] l’état d’écrivain qui consiste à être réceptif au monde apparent comme à ses courants souterrains, ses réalités cachées, à l’écoute de cet autre monde - cet autre monde qui n’apparaît pas immédiatement à ceux qui ne vivent que dans l’air du temps. Et c’est sans doute cela, cette inadéquation, cette inadaptation - cet écart - qui nous pousse à écrire, nous qui sommes nés après, comme pour tenter de combler l’irrémédiable faille. 9 Für Cécile Wajsbrot gereicht das Zwischen-Zwei-Welten-Leben somit dem Schriftsteller bzw. der Schriftstellerin zum Vorteil, insofern es ihn bzw. sie in besonderer Weise sensibilisiert und befähigt, das unter der Oberfläche, das unter der Spitze des Eisbergs Verborgene, das sich dem flüchtigen Blick entzieht, frei‐ zulegen und für alle sichtbar werden zu lassen. Im Hinblick auf die Romane des Themenfeldes II bedeutet dies jedoch keineswegs, dass sich die Autorin als eine Interpretin der „mémoire“ oder gar als eine offizielle, die „mémoire“ verschrift‐ lichende Instanz versteht: „[…] je ne crois pas écrire sur la mémoire, encore moins écrire la mémoire. La mémoire est un corps constitué, une sorte d’insti‐ tution officielle.“ 10 „La mémoire“ verbindet sie offensichtlich nicht mit einem individuell vollzogenen Akt der Erinnerung, sondern mit einem quasi offiziell beglaubigten Gedächtnisspeicher. Darum bevorzugt sie eine andere Definition: „Je crois plutôt écrire sur le souvenir, qui est moins compact, plus diffus, et surtout sur son absence, sur sa perte, et donc sur l’oubli […].“ 11 Der unmittelbar auf diese Erklärung folgende Bezug auf „[…] le refoulement dans La Tra‐ hison […]“ und „[…] la maladie d’Alzheimer liée aux catastrophes du siècle dans Mémorial […]“ 12 deutet darauf hin, dass Cécile Wajsbrot mittels erdachter oder auch in ihrer Familie erlebter Geschichten literarisch darstellen will, in welcher Weise ihre Schriftstellergeneration - la génération du récit, nous qui sommes de l’après, le point de passage douloureux entre l’événement historique et l’é‐ vénement symbolique - 13 mit einem nach vorn gerichteten Blick Erinnerungs‐ arbeit zu leisten hat. Eine klare Absage erteilt sie jenem rückwärts gerichteten […] devoir de mémoire [qui] consiste à répéter les mêmes noms, Auschwitz, Treblinkla, figeant les autres et nous dans une horreur sacrée. Il nous faut refuser la 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 482 14 Ebd., S. 28. 15 Ebd., S. 29. 16 Vgl. Vgl. Wajsbrot 2005a, S. 76-79 und B 3.4.2, S. 219f. 17 Vgl. dazu Schubert 2001, S. 118-125. prison dorée des serments et du respect pétrifié de l’héritage même si c’est d’autant plus difficile que cette prison, il y a peu, n’était pas vraiment dorée. 14 Stattdessen plädiert sie für eine zeugnishafte Auseinandersetzung mit [les] difficultés de l’après - l’aftermath, comme on dit en anglais, la lente digestion des choses, l’appropriation, la symbolisation, il s’agit de donner sa portée universelle, non à Auschwitz, car c’est maintenant fait et c’était le travail de ceux d’avant, mais à l’après d’Auschwitz, il s’agit de dépasser nos biographies empesées […] pour étendre cet après, le symboliser à notre tour et cesser de tourner autour de l’éternelle or‐ bite. 15 Exemplarisch und symbolisch gelangt die hier beschriebene Haltung zum Aus‐ druck in dem Verhalten der in Mémorial vorgestellten Literaturdozentin aus Oświęcim, die den Studierenden jedes neuen Jahrgangs die Aufgabe stellt, vor Beginn des Unterrichts miteinander frei nicht über Auschwitz, sondern über Oświęcim zu sprechen. Das Beispiel der Dozentin und ihrer Studierenden ver‐ deutlicht, dass auch diese Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die gegenwarts- und zukunftsbezogen ist, einen schmerzhaften Prozess dar‐ stellt. 16 In Beaune-la-Rolande und Mémorial werden Orte kollektiven und individu‐ ellen Gedenkens und Erinnerns zu Handlungszentren, in denen Vergangenes und Gegenwärtiges aufeinandertreffen. In Traumberichten über imaginierte und in tagebuchähnlichen Eintragungen über reale Reisen wird der Gedenkort Beaune-la-Rolande als ehemaliger Transitort mit anderen Orten vernetzt, die mit irrealen Bedrohungsszenarien und tatsächlich ausgeübter Gewalt assoziiert werden. So entsteht ein Gedächtnisraum, der uns die transnationale Verbreitung von Gewalt, Angst und Schrecken vor Augen führt, indem auch noch die Nach‐ geborenen im semiotischen Raum der Literatur das eigentlich „Unsagbare“ im Sinne eines „témoignage négatif “ (Lyotard) zur Sprache bringen. 17 Die Erfahrung, räumliche und zeitliche Schwellen wie in einem Akt „ambu‐ lanter Therapie“ zu übertreten, wird in Mémorial als die grenzüberschreitende Spurensuche der heimatlos gebliebenen, sich zwischen zwei Welten bewe‐ genden Erzählerin inszeniert, die, wie die Erzählstimme in Beaune-la-Rolande, im Akt des Schreibens nicht nur für sich, sondern für ihre Leserschaft einen unvergänglichen Raum der literarischen Erinnerung schafft. In besonderer 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 483 18 Ette, 2011, S. 238. Zum Begriff „Ander-Welt“ vgl. auch Victor A. Ferretti, „Tlön: Imagi‐ nationsräume und Ander-Welten“, in: Dünne / Mahler (Hrsg.) 2015, S. 478-484; hier: S. 480-482 (Ferretti 2015). 19 Wajsbrot 2005b, S. 78. - Bzgl. dieser Beobachtung vgl. Gramigna 2008, S. 7, S. 13-15. Weise profiliert wird dieser Raum in Mémorial durch das mit der Erfahrungswelt der Erzählerin kontrastierte Reich der Schneeeule, in dem „[…] eine Ander-Logik ([…] der Natur) greifbar und begreifbar [wird], die das Menschliche und die Koordinaten menschlichen Lebens weit übersteigt“ 18 . Die Einblicke in die Welt der Schneeeule verstärken die Bedrückung, die der erinnernde Reisebericht der Erzählerin über Kielce und die vielfältig belastete Geschichte dieser polnischen Stadt hervorruft. Kielce, der von der Geschichte des zweiten Weltkrieges, der Judenverfolgung durch Deutsche und Russen belastete polnische Herkunftsort der Familie der autodiegetischen Erzählerin, und Auschwitz / Oświęcim werden als zutiefst traumatisierte Orte des Schreckens mit der unendlichen Weite, Rein‐ heit und Unberührtheit der - mythologisch überhöhten - Welt der Schneeeule kontrastiert. Die Geschichte der Shoah wird zum Paradigma des menschlichen Sündenfalls schlechthin. Beaune-la-Rolande, Mémorial und - in einem eingeschränkten Maß - auch Fugue sind durch ein - weit gefasstes - Verständnis von Migration thematisch miteinander verbunden. Die Bezüge zwischen den Texten werden dadurch un‐ terstrichen, dass die Ich-Erzählerinnen durch die schriftlich-literarische Verar‐ beitung der eigenen Erfahrungen nicht nur ihr eigenes Problembewusstsein schärfen, sondern im Prozess des Schreibens Erinnerungsräume entwerfen, durch die das kollektive Bild der Geschichte der Migrationen ergänzt wird. Als die aus Paris nach Berlin geflohene Erzählerin in Fugue auf einem S-Bahn-Bahn‐ steig durch „[…] la disposition bizarre des lieux“ verunsichert wird, begreift sie „[…] qu’il fallait tout écrire“ 19 . In der sich in einer Phase des Aufschwungs und Erneuerung befindlichen Stadt Berlin versucht sie, sich im Prozess des Schreibens ihrer selbst zu vergewissern und aus jener Erstarrung zu befreien, in die sie durch - im Vagen verbleibende - verstörende Ereignisse in Paris ge‐ raten ist. Allen Texten gemeinsam ist eine Bewegungsmetaphorik und Bildersprache, durch die Zeitvorstellungen, seelisch-emotionale Befindlichkeiten und Ent‐ wicklungen verräumlicht und dadurch konkretisiert und veranschaulicht werden. 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 484 20 Vgl. B 4. Themenfeld III Als das ihr ganzes Werk von Anfang an überwölbende Thema spielt die Ausei‐ nandersetzung mit Literatur und Kunst eine dominierende Rolle im Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Von Une vie à soi bis zu den Romanen des Haute Mer-Zyklus führt ein langer Weg der inhaltlichen und formalen Entwicklung. In einem Rückblick auf die Romane des Themenfeldes III , die alle als Suchbewegungen charakterisiert worden sind, 20 sollen auf thematischer Ebene Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie Bezüge zu Texten der anderen Themenfelder resümiert werden. Die auf den jeweiligen thematischen Schwerpunkt bezogenen Formen der örtlichen und räumlichen Fokalisierung werden in ihrer Funktionalität zu‐ sammenfassend beschrieben. Eine singuläre Stellung innerhalb des Themenfeldes III nimmt Une vie à soi, das (erzählerische) Erstlingswerk Cécile Wajsbrots, ein. Die Bemühungen der Protagonistin Anne Figuières, sich ihrem Vorbild Virginia Woolf in einem ihre ganze Person erfassenden Ausmaß, d. h. in ihrem Denken, Empfinden und in ihrer Lebensform anzuverwandeln, erfolgen in einem langsamen, auch räumlich gekennzeichneten Prozess. Er führt von einer gezielten Annäherung an die Le‐ bensorte der englischen Schriftstellerin (und ihrer Romanfiguren), deren Aura die Seelenlandschaft Virginia Woolfs spiegelt, bis in einen Raum der Schrift, in dem Anne sich mit dem Leben und Werk ihrer Leitfigur vollständig zu identi‐ fizieren sucht. Durch die - für die erste Werkphase der Autorin typische - Namensnennung der handelnden Figuren - die Figuren der Hintergrundhandlung stellen histo‐ rische Personen dar - hebt sich Une vie à soi von allen nachfolgenden Romanen des Themenfelds III ab. Dies ist ein klares Indiz für die Singularität des Cha‐ rakters der Protagonistin Anne Figuières, die in ihrer vorbehalt- und grenzen‐ losen Bewunderung für ihr Vorbild Virginia Woolf eine Sonderstellung ein‐ nimmt. Dem Prozess des Schreibens kommt bereits in dem ersten Roman Cécile Wajsbrots eine identitätsstiftende Bedeutung zu. Damit hat die Autorin einen Grundakkord gesetzt, der ihr Erzählwerk insgesamt prägt. In der Totalität ihrer Hingabe ähnelt Anne Figuières überdies der autodiegetischen Erzählerin in Totale Éclipse, deren Handeln jedoch von gänzlich anderen Motiven bestimmt wird und auf andere Ziele ausgerichtet ist. Die Romane Caspar-Friedrich-Strasse (2002), Le Tour du lac (2004) und Con‐ versations avec le maître (2007), den ersten Roman des Haute Mer-Zyklus, ver‐ bindet die Thematik einer künstlerischen Schaffenskrise. Die 2002 und 2004 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 485 21 Wajsbrot 2002a, S. 111. 22 Ebd., S. 113. 23 Vgl. Nünning (Hrsg.) 4 2008, „Simulacrum“, S. 659. 24 Vgl. Oster 2009, S. 248, und Wajsbrot 2002a, S. 39 f. 25 Zitate Ette 2010, S. 237. Vgl. auch B 4.2.3, S. 306. erschienenen Werke sind aufgrund der in ihnen dargestellten Entwicklung der Protagonisten als Vorboten der Haute Mer-Romane zu betrachten. In Caspar-Friedrich-Strasse wird die Lebenskrise des Dichters-Erzählers durch chronotopische Umstände sowohl mit herbeigeführt als auch widergespiegelt. Abgedrängt in ein „Zwischen-den-Welten-Dasein“, sucht er einen Ausweg nicht in einem realen Raum, vielmehr lenkt sein künstlerischer Geist sein Denken in eine parallele, fiktive Welt, die Konstruktion einer „Ander-Welt“, in welcher sich der Gegensatz zwischen dem „Auslöschen“ und „Aufheben“ („Bewahren“) der Vergangenheit im Sinne Hegels in einer „innocence retrouvée“ 21 „aufhebt“ („auf‐ löst“). Die Entdeckung dieser „innocence retrouvée“ verdankt der Dichter-Er‐ zähler seinen Begegnungen mit den Gemälden Caspar David Friedrichs und dem „Weltbild“, das er aus ihnen „herausliest“. Inspiriert durch Friedrichs Das Rie‐ sengebirge übersetzt er seine Wunschvorstellung einer „[…] aube du temps […]“, einer „[…] naissance où tout est à venir […]“ 22 in das Bild einer geschichtlich gänzlich unbelasteten Caspar-Friedrich-Strasse. Dies gelingt dem Dichter-Er‐ zähler jedoch nur im Prozess des Schreibens, indem er im Simulacrum der Schrift einen Raum der Literatur schafft, der „[…] eine ‚Kopie ohne Original‘, […] eine Darstellung, die sich auf ein reales Vorbild zu beziehen scheint, diese Referenz aber nur noch simuliert“ 23 , darstellt. Indem der Dichter-Erzähler, der Autor des Cycle du Veilleur diesen „lieu idéal“ an die Seite der zahlreichen in Berlin real existierenden „lieux de mémoire“ 24 stellt, verleiht er ihm einen zusätzlichen An‐ schein von Authentizität. Die nur imaginierte Caspar-Friedrich-Strasse wird zu einem Zufluchtsraum für einen hochsensiblen, in der Welt der Literatur und Kunst beheimateten Menschen, der die reale Welt durch das Sprechen über eine „Ander-Welt“, so vage und unbestimmt sie sich in seiner Sehnsucht nach einem unbelasteten Neuanfang auch ausnehmen mag, herausfordert. Eine Antwort auf die Frage, ob sein Versuch, „[…] eine Kunst des Raumes […] in eine Kunst des Lebens zu übersetzen“, zum Erfolg führt, liefert der Text nicht. 25 In Le Tour du lac gelangt die seit drei Jahren an einer Schreibblockade leidende Erzählerin durch das wiederholte Umkreisen eines Sees im Bois de Boulogne und im Austausch der Gedanken mit einem jungen Mann, einem Zufallsbe‐ kannten, mithin durch eine an die Methode der Peripatetiker erinnernde Übung, zu einer Rückbesinnung auf ihre schriftstellerische Aufgabe, die sie, die Tochter von noch in Frankreich verfolgten Einwanderern, als Zeugnis einer „émigrée de 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 486 26 Wajsbrot / Cendors, L’appel du large 2008, S. 3. l’intérieur“ und als emanzipatorischen, identitätsstiftenden Akt betrachtet. Reale Bewegungen im offenen Raum werden umgedeutet zu einem topologi‐ schen Signal, das mit dem Wechsel von einer zirkularen zu einer linear-gerich‐ teten Bewegung den Umdenkungsprozess der Erzählerin höchst anschaulich widerspiegelt. Das Schicksal des jungen Mannes jedoch, der sich aufgrund seiner Homose‐ xualität als Außenseiter der Gesellschaft betrachtet, bleibt ungeklärt. Das Se‐ kundärthema einer von der üblichen Norm abweichenden sexuellen Orientie‐ rung stellt eine Verbindung zu Atlantique und Le Désir d’Équateur im Themenfeld I her. Die Erzählerin, vermutlich auch die Autorin Cécile Wajsbrot mögen die Bewusstmachung dieser Problematik als Teil ihrer Verpflichtung zum „témoignage“ betrachten. Eine künstlerische Schaffenskrise wird ebenfalls in Conversations avec le maître thematisiert, allerdings findet sie hier - anders als in Le Tour du lac - einen tragischen Ausgang. Drei unterschiedliche Innenräume haben eine so‐ wohl affizierende als auch reflektierende Funktion: • Die Wohnung des Maître beeindruckt die ihn regelmäßig besuchende Maklerin und verstärkt - für einen begrenzten Zeitraum - ihre auch durch seine Reden erzeugte Auffassung, dass er in einer „anderen“, einer „Parallelwelt“ lebt. Für ihn selbst ist es ein Raum, der es ihm ermöglicht, sich bewusst von der „Welt“ abzugrenzen und vergangenen, vielleicht auch nur von ihm imaginierten Ruhm, letztlich eine „unechte“ Identität vorzutäuschen. Der Raum wird somit zum äußeren Abbild eines „inneren Exils“. Dies wird durch ein topologisches Signal, die exponierte Lage der Wohnung und ihre üppige Ausstattung zum Ausdruck gebracht. Es ent‐ behrt nicht der tragischen Ironie, dass die Gebrochenheit seiner Existenz in einem „saut dans le monde d’en bas“ zum Ausdruck gelangt. Cécile Wajsbrot sieht in dem Maître den Repräsentanten einer Gesellschaft, in der „[…] le discours sur l’art remplace l’art […]“ 26 . Für die Autorin spiegelt der Roman die nach ihrer Meinung in der Gesellschaft zu beobachtende Tendenz wider, sich lieber in der „Außenwelt“ des Kunstbetriebs zu be‐ wegen als in die „Innenwelt“ der Kunst einzudringen, d. h. selber kre‐ ativ-künstlerisch zu arbeiten oder aber sich kritisch mit Kunst auseinan‐ derzusetzen. • Die „Parallelwelt“ der Ukrainerin ist klar strukturiert: Die fensterlose Tristesse ihres Dachstübchens stellt die negative Umkehrung der Woh‐ nung des Maître dar. Sie spiegelt die Ausgrenzung einer illegalen Ein‐ 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 487 27 Vgl. Wajsbrot 2007, S. 165: La lumière est comme une certitude enfin trouvée après la traversée du doute - d’ailleurs, c’est la lumière qui fait fuir les fantômes, c’est au lever du jour que les errants sur la terre disparaissent ou se confondent avec les promeneurs. 28 Vgl. ebd., S. 81 und 132. 29 Zur Heterologie in L’Île aux musées vgl. Klettke 2014, S. 216 ff. 30 Ette 2011, S. 238. wanderin wider und steigert zugleich ihre Verzweiflung und Hoffnungs‐ losigkeit. Ihre gelegentlichen Annäherungen an das Immobilienbüro, in dem die Erzählerin arbeitet, wirken wie der verzweifelte Versuch, Einlass in eine Welt zu finden, deren Tore für sie verschlossen bleiben. Dies gilt sogar für ihre Arbeitszeit, da die luxuriösen Wohnungen, die sie reinigt, stets menschenleer sind und ihr Gefühl, allein zu sein und ausgebeutet zu werden, noch intensivieren. • Die gläserne Transparenz des Büros der Maklerin-Erzählerin insinuiert die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft, Wohnraum anzubieten. Die Maklerin-Erzählerin, die vordergründig nur die Interessen der arrivierten Pariser Gesellschaft vertritt, leidet dabei of‐ fensichtlich unter einem permanent schlechten Gewissen. Indem sie je‐ doch des Nachts ihre Begegnungen und Erfahrungen mit dem Maître (und der Ukrainerin) im Prozess des Schreibens vor dem Vergessen bewahrt und ihrer Leserschaft mitteilt, wird sie zu einer Aufklärerin, die mit der Überwindung ihrer eigenen Zweifel wie eine „veilleuse de nuit“ den „He‐ rumirrenden“ den Weg weist. 27 - Hier deutet sich eine klare Beziehung zwischen Le Tour du lac und Conversations avec le maître an. Sie besteht in der Bedeutung, die auch in diesen beiden Texten der - aus unter‐ schiedlichen Gründen - als Verpflichtung verstandenen „écriture“ zu‐ kommt. Außerdem wird in beiden Texten eine künstlerische Schaffens‐ krise mit individuell erlebten, aber gesellschaftlich relevanten Problemen (Homosexualität, Migration) korreliert, die in Romanen der Themen‐ felder I und II thematisiert werden. Zu einem Bindeglied zu Cécile Wajsbrots 2008 erschienenen Roman L’Île aux musées wird Conversations avec le maître auf metaphorischer Ebene, insofern der Maître das musikalische Kunstwerk mit einer Insel vergleicht 28 und die Welt der Kunst als Parallelwelt betrachtet. Der 2008 erschienene Roman L’Île aux musées markiert einen bedeutenden Entwicklungsschritt im Schaffen Cécile Wajsbrots, insofern hier die auf der Museumsinsel in Berlin und in den Tuilerien in Paris heterotopisch angesie‐ delten und sich „heterologisch“ 29 artikulierenden Statuen „[…] Beziehungen [bilden], die Räume und Zeiten queren“ 30 . Wie uns das Beispiel der Museums‐ 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 488 31 Ebd., S. 242. 32 Bzgl. der „[…] inter- und transkulturellen Relationalität der Statuen […]“ vgl. ebd., S. 240, und Oster 2013, S. 388-395. 33 Klettke 2014, S. 216. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd.: La métaphore de l’île englobe chacun des deux groupes humains et sculptu‐ raux: „[Les sculptures de l’Île aux musées: ] Nous sommes des îles aussi - pour accéder à nous, il faut nous aborder“ (ibid.: 85). Les silhouettes des hommes et des sculptures ne se différencient plus en tant qu’ombres et fantômes dont l’interchangeabilite se mani‐ feste par un discours où alternent les voix des hommes - les quatre protagonistes - et des statues. insel in Berlin vor Augen führt, sind die Museen nicht allein in ihrer „architek‐ tonischen Spatialität“ zu sehen, sondern vor allem auch als Teile eines „welt‐ umspannenden Archipels […]“, als Orte „[…] kreuzender[r] Bewegungen […]“, insofern „[…] das Sammeln an vielen Orten in die Sammlung an einem Ort übergeht“ 31 . Durch ihre weltweite Vernetzung, die Werke der Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen berücksichtigt, 32 konstituieren die Berliner Museen eine „Ander-Welt“, in der sie sich gleichwohl nicht von der „Alltagswelt“ ab‐ sondern, sondern - neben anderen - die vier Protagonisten als deren Reprä‐ sentanten in einer „[…] oralité fantastique, imaginaire […]“ in einen „[…] chant polyphonique“ 33 einbeziehen und so eine die Grenze zwischen den „Welten“ aufhebende Allianz stiften. - Narratologisch drückt sich das symbiotische Ver‐ hältnis zwischen den beiden Welten in dem weitgehenden Verzicht auf eine Erzählinstanz aus. Die „oralité des sculptures“ 34 und die Stimmen der Figuren machen eine vermittelnde Instanz zwischen den beiden Welten entbehrlich. Ettes Überlegungen zum Raum der Stadt im Allgemeinen und zum musealen Raum im Besonderen, die mit den Raumvorstellungen Ernst Cassirers und Cécile Wajsbrots voll übereinstimmen, rücken L’Île aux musées innerhalb des The‐ menfeldes III in ein besonderes Licht. Im Unterschied zu den bisher betrachteten Romanen erstreckt sich der Einfluss der Kunst nun nicht mehr auf ein einzelnes Individuum, sondern auf alle eine „Insel der Kunst“ aufsuchenden Menschen, die durch die Begegnung mit einem Kunstwerk innerlich so stark berührt werden, dass sie in einen Dialog mit ihm eintreten. 35 Die Rede von einer „Ander-Welt“ oder der „Parallelwelt der Kunst“ deutet L’Île aux musées daher keineswegs im Sinne einer radikalen Trennung von der „Alltagswelt“, sondern als eine kontinuierliche Begegnung und einen fruchtbaren Austausch zwischen beiden Sphären. Obwohl auch L’Île aux musées innerhalb des Themenfeldes III eine singuläre Stellung einnimmt, deutet sich auf der inhaltlichen Ebene eine Verbindung zum nachfolgenden Roman Sentinelles an. Die stark essentialisierende Kunstauffas‐ 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 489 36 Vgl. B 4.5.1, S. 371f. 37 Bzgl. der Assoziationen mit einem Schiff bzw. Ozeandampfer im Romantext vgl. Wajs‐ brot 2013, S. 171, 180. 38 Ebd. S. 221. 39 Zitiert nach Nünning 2008, „Heterotopie“, S. 286 f. sung, die sich in der Bewunderung für eine kleine Marmorstatue, ein Beispiel der Kunst der Kykladen, ausdrückt, 36 kennzeichnet auch die Haltung des „vi‐ déaste“, des Protagonisten dieses Romans. Die Idee der „deux mondes“ ist auch in Sentinelles (2013) von zentraler Be‐ deutung, wird in dem dritten Roman des Zyklus jedoch völlig anders akzentuiert und weiterentwickelt. Das Centre Pompidou hebt sich durch die futuristische Bauweise und seine einem riesigen Ozeandampfer ähnelnde Form 37 von seiner Umgebung deutlich ab. Die heterotopische Wirkung des Gebäudes wird dadurch besonders hervorgehoben. Es überrascht daher nicht, dass im Konzert der Stimmen die Frage „- Existe-t-il deux mondes? “ u. a. die folgenden Reaktionen auslöst: „- Le monde réel. - Et le monde de l’art. - Sans communication. - Sans pont qui les relie. - Et pourtant nous cherchons.“ 38 Das architektonisch auffällige, keiner Tradition verpflichtete Erscheinungsbild des Centre Pompidou korres‐ pondiert also mit der Idee einer deutlichen Unterscheidung und Abgrenzung zwischen den „zwei Welten“. Wenn wir mit Foucault davon ausgehen, dass He‐ terotopien „tatsächlich realisierte Utopien“ sind, 39 also eine wirklich bislang nicht für möglich gehaltene Optimierung oder gar Perfektionierung von etwas bedeuten, dann signalisiert bereits die Auswahl des Centre Pompidou als Ort der Handlung, dass die Vernissage zur Manifestation einer unerwarteten Wei‐ terentwicklung bzw. zu einer Perspektivierung einer an einem Idealziel orien‐ tierten Videokunst führen wird. Dieses Idealziel besteht für den Protagonisten nicht einfach in einer ästhetischen Vervollkommnung seiner Kunst, sondern in der Anwendung der platonischen Ideenlehre auf die Videokunst. Konkret be‐ deutet dies, dass er die filmische Auseinandersetzung mit einem Problem vom genau lokalisier- und terminierbaren Einzelfall lösen und stattdessen ein Problem in seinem essentiellen Kern behandeln will. Er erhebt damit den An‐ spruch, dass er sich mit einem die ganze Welt und alle Menschen tangierenden Problem auseinandersetzt und sich daher in einem nicht mehr durch territoriale Grenzen eingehegten Raum bewegt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Raum und der weltumspannenden Wirkmacht der Kunst hat der Künstler eine philosophisch fundierte, in ihrer Radikalität kaum noch zu überbietende Posi‐ tion bezogen. Auf der narratologischen Ebene besteht eine formale Verwandtschaft zwi‐ schen L’Île aux musées und Sentinelles, insofern auch Sentinelles im Hauptteil der 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 490 40 Das Ausmaß der „éclipse“ wird im Sinne einer „affektischen Hervorhebung“ durch die ungewöhnliche Voranstellung des Adjektivs „total(e)“ besonders betont. Zur „affekti‐ schen Hervorhebung“ vgl. Hans-Wilhelm Klein, / Hartmut Kleineidam, Grammatik des heutigen Französisch, Stuttgart, Klett Verlag, 1983, S. 61. - Den Hinweis auf die unge‐ wöhnliche Voranstellung des Adjektivs im Titel des Romans verdanke ich Frau Pro‐ fessor Dr. Trudel Meisenburg, Osnabrück. Kapitel nur aus Dialogen, (inneren) Monologen oder Fragen besteht. Die in Sentinelles dominierende Dialogform, die eine zuweilen schwierige Zuordnung der Stimmen zu den Figuren bewirkt, korrespondiert mit der durch die Phase der Dunkelheit noch verstärkten Verwirrung der Ausstellungsbesucher, die sich mit dem Videofilm einer Kunstform nähern, die sich ihnen in ihrer essentiali‐ sierenden und virtualisierenden Darstellungsweise zum Teil nur schwer er‐ schließt, aber eine ihren Erfahrungshorizont transzendierende Ahnung eines unsichtbar bleibenden „au-delà“ vermittelt. Auf die in L’Île aux musées weltum‐ spannende Verbreitung und Wirkung der Kunst folgt also mit der Hinwendung zu virtuellen Räumen in Sentinelles ein weiterer Schritt der „Entgrenzung“ der Kunst in ihrer Wirkung auf den Menschen. Symbolisch veranschaulicht wird ihre Erfahrung als „témoins de l’invisible“ durch die „montée“, die sie bis in den obersten Bereich eines ohnehin als „andersartig“ empfundenen Ortes und durch eine Phase der Dunkelheit hindurch in eine als offen erlebte Zukunft führt. Der bisher letzte Roman der Haute Mer-Reihe, Totale Éclipse, scheint zunächst das in Sentinelles entfaltete Kunstverständnis auf den Bereich der Fotografie zu über‐ tragen, deutet dann jedoch das Verhältnis zwischen Künstler, Kunst und Ge‐ sellschaft in einer radikalen Weise um. In Totale Éclipse gerät die Erzählerin-Fotografin bei ihrer mit der privaten Glückssuche einhergehenden Bemühung um eine Optimierung ihrer Fotokunst von einem platonisch inspirierten Ansatz, nur noch Wesenhaft-Essentielles, die „Idee“ hinter einer Person oder Sache, im Bild festzuhalten, in die Abhängigkeit einer rein erfolgsorientierten, nicht mehr von ihr selbst, sondern von der Technik beherrschten Fotokunst. Dafür nimmt sie eine totale Isolation von ihren Mitmenschen in Kauf und überdies den Verzicht auf das Anhören von Chansons, da sie sich der emotionalen Kraft und Wirkmächtigkeit dieser Kunstform nicht auszusetzen wagt. In einer sich für sie „entmenschlichenden Welt“ flüchtet sie sich in die Betrachtung eines wegen seiner Überlebenskraft gerühmten Gingkos, scheitert jedoch bezeichnenderweise an dem Versuch, ihn im Bild festzuhalten. Als Opfer eines technikhörigen, entseelten, Menschen instrumentalisierenden Kunstverständnisses landet sie im Niemandsland einer „totale éclipse“. 40 2 Entwicklungslinien der räumlichen und ideellen Zielsetzungen der Suchbewegungen 491 1 Vgl. B 5. 2 Wajsbrot 2008b, S. 253. 3 Schlussfolgerungen Inhaltliche Schwerpunkte des Erzählwerks vor dem Hintergrund der literaturtheoretischen Positionen Cécile Wajsbrots In dem Rückblick auf das erzählerische Gesamtwerk, in das sich die kurzen Er‐ zähltexte inhaltlich-thematisch integrieren, 1 sind Übergänge und Verbindungen zwischen den in Kapitel B 1.1 unterschiedenen Themenfeldern vielfach hervor‐ getreten. Insgesamt zeichnen sich themenfeldübergreifend als inhaltliche Schwerpunkte die - sich zum Teil überlappenden - Bereiche „Migration“, „ II . Weltkrieg / Holocaust“ und „Kunst und Literatur“ ab. Ein ebenfalls themenfeld‐ übergreifendes, aber insgesamt weniger dominantes Thema sind die „Sonder‐ formen der sexuellen Orientierung“. Die hier genannten komplexen Problem‐ felder üben eine - im wörtlichen und übertragenen Sinn zu verstehende - bewegungsgenerierende Funktion aus. Korreliert man die o. g. Schwerpunktsetzungen mit der in Kapitel A 1.2 zi‐ tierten Auffassung Cécile Wajsbrots, dass für sie das Schreiben die Verpflichtung bedeute, „das Wort zu ergreifen, das Schweigen zu brechen, Zeugnis zu geben“, stellt sich unmittelbar ein Zugang zu den von ihr behandelten Themen her. Vor dem Hintergrund ihrer Biographie empfindet sie die Verpflichtung, nicht als Chronistin oder Historikerin sondern als Schriftstellerin im semiotischen Raum der Literatur die Erinnerung an die Schrecken des Holocaust und seiner Folgen wachzuhalten. (Aufgrund der Migrationsgeschichte und des daraus resultie‐ renden gesellschaftlichen Sonderstatus ihrer Familie ist sie allerdings gleicher‐ maßen dazu prädestiniert, die Probleme von Minderheiten, seien es Migranten oder Menschen mit einer besonderen sexuellen Orientierung, aufzugreifen und literarisch zu reflektieren.) Sie stellt sich damit bewusst in die genealogische Reihe ihrer Familie, deren „Sprachlosigkeit“ sie überwinden will. Gleichzeitig appelliert Cécile Wajsbrot jedoch an die Autorinnen und Autoren, ihr Schweigen, ihre Weigerung, sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus‐ einanderzusetzen, nicht mit dem Mangel an eigenen Erfahrungen bzw. der Ab‐ hängigkeit von den „[…] récits oraux de nos parents, récits écrits des écrivains d’avant, récits visuels de la télévision, récits des reportages de la presse écrite“ 2 zu entschuldigen. In Form einer rhetorischen Frage ermutigt sie ihre Kolle‐ 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Wajsbrot 2004b, S. 125. 5 Vgl. Wajsbrot 2007, S. 164. 6 Vgl. Wajsbrot 2013, S. 180. 7 Wajsbrot / Dussidour / article 1108, 2005, S. 3. ginnen und Kollegen vielmehr, in ihrer Auseinandersetzung mit der Vergan‐ genheit der „parole“ in der Gestalt des „récit littéraire“, des Romans, eine neue Sinnhaftigkeit zu verleihen: Du passage du témoignage, de la vie à l’Histoire, du passage d’une parole qui advint tardivement et qui pesa par son absence à l’élaboration du récit? Ne pouvons-nous pas nous-mêmes l’élaborer en récit - en récit littéraire - et redonner son sens au roman? 3 Mit La Trahison, Beaune-la-Rolande, Mémorial und in ersten Ansätzen auch be‐ reits mit Mariane Klinger hat sich Cécile Wajsbrot selber dieser Aufgabe gestellt. Die Bereitschaft zur „Zeitzeugenschaft“ vertreten in ihren Romanen - im Hin‐ blick auf aktuelle gesellschaftliche Probleme und Fragen der künstlerischen Kreativität - z. B. die zum Schreiben zurückkehrende Schriftstellerin in Le Tour du lac 4 , die Maklerin-Erzählerin in Conversations avec le maître 5 sowie ein Spre‐ cher in Sentinelles 6 , die metaphorisch als „gardiens de phare“, „veilleurs de nuit“ oder auch als „[s]entinelles d’un monde perdu où tout avait une explication“ bezeichnet werden und somit eine pädagogisch-aufklärerische Funktion über‐ nehmen. Dass die sich im Raum der Schrift bewegenden Figuren überdies im Prozess des erinnernden und Orientierung stiftenden Schreibens sich auch ihrer selbst vergewissern und gar, wie in Mémorial und Fugue, eine Art „Eigenthe‐ rapie“ betreiben, hat die Analyse ebenfalls gezeigt. Das den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Verständnis von Kunst Cécile Wajsbrot hat ihre vier zuletzt erschienenen Romane unter dem Begriff Haute Mer zu einem Zyklus vereint, ohne dass die Titel - mit Ausnahme von L’Île aux musées - einen Bezug zum Wasser aufweisen. Bereits in ihrem 2005 geführten Gespräch mit Dominique Dussidour, also während der Arbeit an Conversations avec le maître, dem ersten der Haute Mer-Romane, hat sie ihren Wunsch nach einem „[…] ensemble cohérent“ 7 in ihrem Schaffen geäußert. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass sie sich nicht ständig die Frage stellt „[…] comment trouver le ton, le point de vue, comment créer l’ampleur, la profon‐ deur […]“. So wird jedes neue Werk zu einer neuen Herausforderung: 3 Schlussfolgerungen 493 8 Zitate Wajsbrot 2010b, S. 55. 9 Ebd., S. 56 f. 10 Vgl. B 4.5, S. 365, Anm. 492. À chaque fois j’espère le livre total, celui dont on pourra dire que ceux d’avant le préparaient, à chaque fois j’espère la forme qui pourrait s’imposer, s’importer d’un livre à l’autre et régler la question mais mon rêve se brise contre l’évidence. 8 Dass Cécile Wajsbrot diese Äußerung in einem Essay trifft, dessen Titel Tra‐ verser les grandes eaux isotopisch auf den Namen des Zyklus Haute Mer zu be‐ ziehen ist, unterstreicht ihren entschiedenen Willen, unvoreingenommen und frei nach stets neuen Wegen zu suchen: […] l’essentiel n’est pas de trouver ou croire trouver, l’essentiel n’est pas de figer une forme qui resservirait d’une fois à l’autre comme un moule, l’essentiel est de se mettre à sa table de travail sans idée preconçue, à l’écoute du texte et de sa nécessité, qui se construit page après page - l’essentiel est d’être libre. 9 Eine abschließende Würdigung der Haute Mer-Romane ist nicht möglich, so‐ lange der bislang auf fünf Bände angelegte Zyklus noch nicht abgeschlossen ist. Mit ihren inhaltlichen und formalen Besonderheiten belegen sie jedoch in über‐ zeugender Weise die Entschlossenheit der Autorin, ihre künstlerische Freiheit von Roman zu Roman zu nutzen. Gleichwohl verbindet die bisher vorliegenden Haute Mer-Romane die Thematik der Suchbewegung, die nicht als abenteuer‐ liche Seefahrt oder Entdeckungsreise im landläufigen Sinn, sondern als eine in unterschiedlichen Bereichen der Kunst angesiedelte, in das „Innere“ der Prota‐ gonisten verlagerte Suche konzipiert ist. Die vier Romane werden überdies - trotz aller inhaltlichen und formalen Besonderheiten - durch ein ähnliches künstlerisches Grundverständnis geprägt. L’Île aux musées entwirft ein idealisierendes Bild des Verhältnisses zwischen Kunst und realer Welt. Die Auswahl der Protagonisten in L’Île aux musées zeigt, dass die von Kunstwerken ausgehenden Botschaften für Menschen wegweisend werden können, die einen Ausweg aus einer Krise oder Hilfe in einer Entschei‐ dungssituation suchen, unabhängig davon, ob sie sich in ihrem bisherigen Leben mit Kunst beschäftigt haben oder nicht. Die - von Menschen geschaffenen - Kunstwerke vermögen ihren „rôle de dot ou d’antidot“ (Klettke) 10 wahrzu‐ nehmen, da sie vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an volle Autonomie genießen und somit weder der Deutungshoheit ihres Urhebers noch irgendeines anderen Individuums oder einer anderen Instanz und nicht einmal den Gesetzen des sich wandelnden Zeitgeschmacks unterworfen sind. In welchem Sinne die von ihnen ausgehende Botschaft bzw. ihre „signification“ zu entschlüsseln und in andere 3 Schlussfolgerungen 494 11 Vgl. B 4.5.3, S. 407, Anm. 693 und 694. 12 Vgl. A 1.2, insb. S. 28 und C 2, S. 482-484. 13 Ette 2011, S. 243. Kodierungen zu übersetzen ist, hängt vom Verständnis und Urteilsvermögen der Betrachterinnen und Betrachter ab. Die Rede von der „Parallelwelt der Kunst“ ist daher als besondere Hervorhebung einer individuell-adressatenbezogenen, jederzeit und allerorten erfahrbaren „Wirkungsrealität“ 11 der Kunst zu ver‐ stehen. Einem idealisierenden Kunstverständnis huldigt auch der Maître. Er zeigt sich erfüllt von einer besonderen Mission des Künstlers, der seiner Meinung nach in seinen Kunstwerken eine die raum-zeitliche Wahrnehmung transzendierende Idee zu vermitteln hat. Wo er diese Ideen verortet - in der platonischen Welt der Ideen oder in einem religiös verstandenen Jenseits - verrät er allerdings nicht. Die in L’Île aux musées anklingende Begeisterung für ein essentialisierendes Kunstverständnis findet in Sentinelles und zunächst auch in Totale Éclipse einen deutlichen Widerhall, insofern die Protagonisten, der Videokünstler und zu Be‐ ginn ihrer Karriere auch die Fotografin, ihre künstlerischen Ziele an platoni‐ schen Vorstellungen orientieren. Es ist naheliegend, abstrakte Ideen über Bei‐ spiele künstlerischer Tätigkeit zu veranschaulichen, die mittels moderner Technik rein virtuelle Bilder hervorbringen. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass sich bereits der Protagonist in Caspar-Friedrich-Strasse, einem Vorläufer der Haute Mer-Romane, nicht in der realen Welt, sondern in dem schriftlich simu‐ lierten Konstrukt seiner idealisierten Vorstellungen und Gedanken beheimatet fühlt. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Tatsache, dass Cécile Wajsbrot eine nicht vordergründig-historisierende, sondern über neue Fragestellungen zu neuen Einsichten führende Schreibweise einfordert, 12 an zusätzlicher Bedeu‐ tung. Sie dürfte sich damit einem Wahrheitsanspruch verpflichtet fühlen, der angesichts der von ihr für den Roman beanspruchten „totalité de la forme et du contenu“ in einer wie auch immer definierten Idealvorstellung verankert ist. Das erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots als Suchbewegung - eine inhaltlichformale Gesamtschau Auf die Frage, worin die „eigentliche Aufgabe der Literatur“ bestehe, gibt Ottmar Ette unter Bezugnahme auf L’Île aux musées eine über den Text hinausgehende Antwort. Dieser Roman, so Ette, lade dazu ein, „[…] in unterschiedlichen Lo‐ giken zugleich zu denken und ein viellogisches Weltbewusstsein zu entwi‐ ckeln“ 13 . Dies gilt erst recht, so darf man hinzufügen, für die Gesamtheit der bisher erschienenen Romane des Haute Mer-Zyklus und mit noch größerer Be‐ 3 Schlussfolgerungen 495 14 Oster 2009, S. 253. 15 Ette 2009, S. 269. 16 Ebd., S. 267. - Zum Begriff „(Über)Lebenswissen“ vgl. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen - Die Aufgabe der Philologie, Berlin, Kulturverlag Kadmos, 2004 (Ette 2004) und Ette 2005. 17 Wajsbrot / Dussidour 2005, article 1107, S. 3. rechtigung für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots insgesamt. Ein Blick auf die o. g. ihr Werk beherrschenden inhaltlichen Schwerpunkte führt uns vor Augen, dass sie aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart nachwirkende Probleme litera‐ risch verarbeitet, aber auch verschiedene Aspekte künstlerischen Schaffens in einer ästhetisch-narratologisch originellen Weise literarisch reflektiert. So ist es nicht verwunderlich, wenn Patricia Oster im Hinblick auf L’Île aux musées be‐ tont, dass „[…] die Geschichten […] nur als Folie für die komplexe Fokalisierung eines neuen Stadtdiskurses [dienen]“ und der Roman daher „konstruiert“ wirke. 14 Die Charakterisierung als „konstruierte“ Handlung trifft sicherlich auf alle Romane des Zyklus Haute mer - unter Einschluss von Caspar-Fried‐ rich-Strasse - zu. „Konstruiert“ wirken die „histoires“ dieser Texte, insofern die Autorin sich ihrer bedient, um bestimmte, im weitesten Sinne philosophische bzw. kunsttheoretische Positionen erzählerisch zu inszenieren. So bezeichnet Ette L’Île aux musées als „philosophischen Roman“, als eine „[…] literarische Darstellung von erlebten Wirklichkeiten […]“, die „[…] auf die Frage des Zu‐ sammenlebens in einer Welt, in der feste Wohnsitze zunehmend zu einem Min‐ derheitenphänomen geworden sind, [abziele]“ 15 . Die diskret didaktisierende Be‐ wusstmachung von - Bewegung generierenden - Problemen der Gesellschaft bzw. einzelner Individuen kennzeichnet nicht nur L’Île aux musées, sondern auch alle anderen Romane Cécile Wajsbrots, die „[e]in Gewebe des Lebens“ 16 dar‐ stellen und „(Über)Lebenswissen“ vermitteln. Je konstruierter die Erzähltexte Cécile Wajsbrots erscheinen, desto stärker trifft auf sie die folgende von der Autorin in einem Gespräch über Mémorial getroffene Beobachtung zu: […] mes personnages ne sont pas des personnages, mais des consciences, C’est pourquoi ils n’ont pas de nom […] - une conscience n’a pas de nom - et quand il faut les désigner, ce sont des termes génériques, le frère et la sœur, la femme du train ou le harfang des neiges. Et c’est d’autant plus vrai qu’ils se trouvent à la croisée de l’histoire collective et de l’histoire individuelle ou plutôt […] qu’ils sont porteurs d’une histoire collective, de l’Histoire. 17 Die Äußerung offenbart, dass die Autorin auch in z. T. autobiographisch beein‐ flussten Werken individuelle Schicksale paradigmatisch versteht, d. h. sich ihrer 3 Schlussfolgerungen 496 18 Ebd. 19 Zu Kielce und zum Zitat vgl. Richter / Ueckmann 2010, S. 74. 20 Wajsbrot / Dussidour 2005, article 1107, S. 4. bedient, da sich in ihnen „la part commune“ 18 des geschichtlichen Erbes spiegelt. Im Hinblick auf Mémorial weist sie (sinngemäß) darauf hin, dass sie dort „[l]e thème [de] l’immigration et [de] la transmission entre les générations“ in einer stark abstrahierenden Form erzählerisch entfalte und dabei das Wort „juif “ und den Familiennamen generell, im ersten Teil des Romans auch geographische Eigennamen vermeide und über den Pogrom von Kielce 19 nicht „ereignisge‐ schichtlich“, sondern auf einer symbolischen Ebene spreche. Sie liefert dafür eine Erklärung, die einmal mehr ihre existentialistisch geprägte Denkweise verrät und den Sinn der Abstraktion verständlich werden lässt: „C’est que les noms, pour moi, ne sont pas donnés, pas évidents à dire ni à écrire, peut-être se gagnent-ils comme l’individualité se gagne. Mais c’est aussi que le nom singu‐ larise et qu’il isole chacun dans son destin.“ 20 Die - von Cécile Wajsbrot erstmals in Le Désir d’équateur (1995) angewandte - und dann mit Caspar-Friedrich-Strasse (2002) zur Regel gewordene und somit für alle nachfolgenden Romane des Themenfeldes III geltende Anonymisierung der Figuren signalisiert die Absicht der Autorin, nicht mehr Einzelfälle, sondern generalisierbare Beobachtungen und Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Besondere Beachtung verdient Conversations avec le maître, der erste der Haute Mer-Romane, insofern das Scheitern eines Komponisten hier aus der distan‐ zierten Sicht einer ihn gesprächsweise kennenlernenden und seine Scheinwelt entlarvenden Person, der autodiegetischen Erzählerin, beschrieben wird. Im fiktionalen Rahmen ist die Bereitschaft der Maklerin, ihren Begegnungen mit dem Maître im Raum der Schrift einen Platz zu sichern, ein Indiz für die Bedeu‐ tung, die Cécile Wajsbrot als Autorin dem Scheitern eines Menschen im Raum der Kunst beimisst. Sicherlich ist auch Totale Éclipse implizit als eine Mahnung zu verstehen, nicht den durch ein falsches Kunstverständnis (und die Lockungen des Kunstmarktes) provozierten Versuchungen zu erliegen. Im Jahr 2010 erklärt Cécile Wajsbrot, warum sie - [d]epuis quelques livres […] - nur noch „à la première personne“ schreibe. Auch in diesem Zu‐ sammenhang wird deutlich, dass es ihr nicht um den isolierten Einzelfall, die Erzählerin oder den Erzähler als Person, sondern um einen Standpunkt - seul compte son point de vue - geht. Im Übrigen sei der Erzähler eigentlich gar kein Erzähler, sondern eher „[…] un témoin, le point de passage entre l’extérieur et l’intérieur, entre ses pensées et les autres, entre le monde du dedans et le monde du dehors […]“. Diesem „témoin-narrateur“, also einer sowohl welterfahrenen als auch homodiegetischen, der erzählten Welt angehörenden Figur, weist Cécile 3 Schlussfolgerungen 497 21 Zitate Wajsbrot 2010b, S. 55. - L’Île aux musées und Sentinelles weichen vom Schema der Ich-Erzählung ab. 22 Vgl. Wajsbrot 1999b, S. 47 f. und A 1.2, S. 28f. 23 Wajsbrot 2008c, S. 28. - Vgl. dazu auch B 3.4.1, S. 205, und „’chat’ avec Cécile Wajsbrot“ 2006, S. 8, sowie Bung 2010, S. 191-205. Zum Aspekt der „Entkörperung“ der Figuren vgl. Zimmermann 2010, S. 130f. 24 Bzgl. dieses Gedankens vgl. Ette 2009, S. 267, und Ette 2011, S. 243. Ette bezieht die „Bewegungs- und Beziehungsmuster“ (Ette 2009) und das „Signum des Panta Rhei“ (Ette 2011) auf L’Île aux musées. Wajsbrot die Aufgabe zu, zwischen seinen eigenen „Gedanken“ und jenen der in der erzählten Welt agierenden Figuren zu vermitteln. Er wird damit zu einem Mediator, dessen „[…] flou apparent […] n’est autre que la disparition du statut de „personnage officiel“. Die durch den Mangel an „rigidité narrative“, also das Fehlen einer heterodiegetischen Erzählinstanz hervorgerufene Unklarheit über‐ trage sich auf die anderen Figuren und verleihe ihnen „[…]cette souplesse, cette ambiguïté fondamentale qui justifie la littérature, une part de mystère, d’espace non éclairé, une part de silence sur laquelle se découpe le récit. Ce sont des consciences, des sortes d’ombres qui traversent les plaines du récit […]“ 21 . - Mit der „Schattenmetapher“ und der Metapher des „unbeleuchteten Raums“ unter‐ streicht Cécile Wajsbrot, dass Literatur sich für sie durch einen Unbestimmt‐ heitsfaktor, etwas nicht eindeutig zu Definierendes, letztlich Geheimnisvolles auszeichnet, das sie in Pour la littérature als „le troisième ingrédient“ bzw „la troisième dimension“ 22 charakterisiert hat. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, dass und warum die Autorin ab Mémorial Dialoge immer häufiger durch den Einsatz von „Stimmen“ ersetzt. Neben narratologisch-stilistischen Gründen spricht dafür, dass sie auf diese Weise die der Wahrnehmung und Kommunikation in der Wirklichkeit gesetzten Grenzen in der erzählten Welt mühelos zu überwinden vermag, indem sie durch „[…] la concomitance, la co-présence des morts et des vivants“ eine Lösung anbietet „[…] pour pouvoir habiter le présent, la seule possibilité qui nous est offerte - accepter qu’il soit peuplé de fantômes, et accepter de les côtoyer“ 23 . Was alle Romane Cécile Wajsbrots miteinander verbindet, sind zwischen‐ menschliche, zum Teil transnationale und transgenerationale „Bewegungs- und Beziehungsmuster“, die Menschen in ihren vielfältigen Suchbewegungen dar‐ stellen. So ist „[d]as all diesen menschlichen und allzu menschlichen Bezie‐ hungen aufgeprägte Signum […] das ‚Panta Rhei‘“ 24 , das schicksalhaft dahin‐ fließende menschliche Leben mit seinem in die Vergangenheit zurückreichenden und bis in die Gegenwart hineinwirkenden Erbe an Gutem und Schlechtem und der Hinwendung in eine ungewisse Zukunft. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere die Hinweise auf die „flux migratoires“ als 3 Schlussfolgerungen 498 25 Vgl. Wajsbrot 1998, S. 84 f. 26 Vgl. Wajsbrot 1993, S. 90. ein Kardinalproblem der Gegenwart im Erzählwerk Cécile Wajsbrots hochfre‐ quent vertreten sind. Sogar in Voyage à Saint-Thomas, dem wohl am wenigsten politisch-gesellschaftskritischen Roman der Autorin, wird dieses Thema ge‐ streift. 25 Neben dieser thematischen Klammer sind auf der Ebene des „discours“, wie die vorangegangenen Analysen gezeigt haben, häufig wiederkehrende Raummetaphern - l’abîme, le désert, la forêt, le gouffre, le mur - anzutreffen, die menschliches Scheitern, Vereinsamung und Verzweiflung zum Ausdruck bringen. Ihre systematische Erfassung würde eine gesonderte Studie erfordern. Unerlässlich für diese Untersuchung ist jedoch, die - in den Einzelanalysen be‐ reits angedeutete - Bedeutung des Elements „Wasser“ für die „histoires“ und den „discours“ der Romane Cécile Wajsbrots zumindest umrissartig zu verdeut‐ lichen. Durch den Rückgriff auf einige aus dem Kontext der Werkanalysen be‐ reits bekannte Textstellen ergibt sich ein Gesamtblick auf die polyvalenten, durch „Wasser“ evozierten Ausdrucksmöglichkeiten, die alle drei Themenfelder (und die damit weitgehend identischen Schaffensperioden der Autorin) ver‐ binden. Das Element „Wasser“, insbesondere der Atlantik, aber auch andere Meere üben in den Romanen des Themenfeldes I eine die „histoires“ mehr oder weniger stark beeinflussende Funktion aus. Dies verbindet die Texte mit der wohl äl‐ testen und bekanntesten literarischen Suchbewegung, Homers Odyssee, ein Epos über die „Irrfahrten“ des antiken Helden. Auch die zwischen 1993 und 1998 erschienenen Texte des Themenfeldes I konnten im Hinblick auf ihre Hand‐ lungsstruktur als „errances“ bezeichnet werden, so unterschiedlich sie inhaltlich auf den ersten Blick auch sein mögen. Die Suchbewegungen klingen, mit Aus‐ nahme von Mariane Klinger, bereits in den Titeln der Romane an. Die „liquide“ Qualität des Elements Wasser, das Quell allen Lebens ist, aber auch in unseren Händen zerrinnt, symbolisiert die Gefährdung des persönlichen Glücks, auf dessen Suche sich in der einen oder anderen Weise alle Protagonisten der Texte dieses Themenfeldes befinden. So entfaltet sich seine für die unterschiedlichen Suchbewegungen symbolhafte Funktion und damit seine Wichtigkeit für den „discours“ in allen Romanen des Themenfeldes I im Verlauf der Diegese. Exemp‐ larisch sei erinnert an das Gespräch in Atlantique zwischen Hugo und Vincent, in dem die beiden über den Kampf zwischen Land und Meer streiten und Letz‐ terer, den berufliche Interessen und die Abenteuerlust bis nach Brasilien geführt haben, sich eindeutig für „l’eau“ entscheidet, der erdverbundene Hugo hingegen „la terre“ favorisiert. 26 In ähnlicher Weise verrät in Le Désir d’Équateur die Er‐ 3 Schlussfolgerungen 499 27 Wajsbrot 1995, S. 17. 28 Wajsbrot 1996, S. 11. 29 Vgl. ebd., S. 10. 30 Wajsbrot 2005a, S. 157. 31 Vgl. ebd., S. 158 und B 3.4.3, S. 234-236. 32 Vgl. Wajsbrot 1982, S. 122 f., und B 4.1.3, S. 278. 33 Wajsbrot 2002, S. 72. 34 Vgl. ebd., S. 73. zählerin mit ihrer Vorliebe für „[…] le large et la navigation“ ihre Neigung, Grenzen zu überwinden und unbekannte Gegenden zu entdecken, während ihr zeitweiliger Liebhaber „[…] les îles désertes, les endroits isolés“ vorzieht und damit seine Vorliebe für überschaubare, eng begrenzte Räume zu erkennen gibt. 27 Und schließlich erinnert sich Mariane Klinger an ihre Schiffsreise nach New York im Jahre 1929 mit den Worten „[…] pendant la traversée de l’Atlan‐ tique, entre l’Ancien et le Nouveau Monde, j’ai cru à la liberté […]“ 28 , hat bei der Rückreise nach Europa im Jahre 1949 jedoch das möglicherweise religiösen Rei‐ nigungsriten geschuldete Gefühl, dass die dunklen Seiten ihres bisherigen Le‐ bens durch das Wasser des Ozeans weggewaschen werden. 29 Innerhalb des Themenfeldes II ragt Mémorial als der Roman heraus, in dem „Wasser“, konkret: das Kielce durchquerende Flüsschen Silnica, in dem der ältere Bruder des Geschwisterpaars bei seinem Fluchtversuch ertrunken ist, von großer symbolischer Bedeutung ist. Für die Erzählerin, die sich auf der Suche nach „[…] une source, une origine…“ 30 befindet, wird der früh verstorbene Onkel zu einem Vorbild, da er nach Freiheit strebte und „seinen eigenen Weg“ gesucht hat. 31 Allerdings symbolisiert der Fluss für die Erzählerin - und ihre Familie - auch die tödliche Gefahr, die mit der Befreiung aus einem als Gefangenschaft empfundenen Leben verbunden ist. Innerhalb des Themenfeldes III ist im Hinblick auf Une vie à soi „Wasser“ als Grenze für die „histoire“ des Romans von Bedeutung, insofern die Protagonistin Anne Figuières sich mit der Reise über den Ärmelkanal nach England - und der geplanten transatlantischen Reise in die USA - bewusst von ihrer Heimat und ihrer alten Lebensform distanziert. In der Retrospektive wird zudem die Ouse als jener Fluss genannt, in dem Virginia Woolf den Tod suchte. Darüber hinaus jedoch ist „Wasser“ auf der Ebene des „discours“ überaus wirkmächtig, insofern die an der Welt und an sich selbst leidende Virginia in ihren Träumen und Ge‐ danken von der zerstörerischen Kraft des Ozeans verfolgt wird. 32 In Caspar-Friedrich-Strasse hat der Erzähler bei seinen Spaziergängen durch Berlin „[…] la sensation d’être en pleine mer, d’affronter le danger […]“ 33 , und so betrachtet er sich folgerichtig nicht nur als „veilleur“, sondern zugleich als „navigateur“. 34 Der Romantitel Le Tour du lac weist auf einen See als Hand‐ 3 Schlussfolgerungen 500 35 Le Petit Robert, „MER“, S 1610. 36 Wajsbrot 2008, S. 192. 37 Wajsbrot 2013, S. 10. 38 Ebd., S. 146. 39 Ebd., S. 133. 40 Wajsbrot 2007, S. 39. 41 Ebd., S. 132. 42 Wajsbrot 2008, S. 182. 43 Ebd., S. 219. lungsort hin, dessen symbolische Bedeutung sich auf der Ebene des „discours“ klar manifestiert. Bezüge zu der durch den Begriff Haute Mer im Petit Robert angegebenen De‐ finition ’partie de la mer la plus éloignée du rivage’ 35 findet man in den Haute Mer - Romanen auf der Ebene des „discours“ nur in einer übertragenen und erweiterten Bedeutung, vornehmlich im Hinblick auf Handlungsorte und kon‐ krete Kunstwerke bzw. künstlerische Tätigkeiten, die in isotopisch mit dem Ele‐ ment „Wasser“ verbundenen Vergleichen oder Metaphern präsentiert und mit der Vorstellung von Einsamkeit, Aufbruch und Neuanfang, aber auch Gefähr‐ dung und Tod assoziiert werden. So wird das Bodemuseum in L’Île aux musées als einer der heterotopischen Schauplätze der Handlung mit einem „[…] navire éclairé qui avance dans la mer“ 36 verglichen. In Sentinelles beschreiben die „Stimmen“ die atmosphärische Wirkung des Ortes bei der Annäherung an das Centre Beaubourg mit den Worten: „- Une plage à marée basse. / - La mer au loin, inaccessible.“ 37 In der Phase der Finsternis bezeichnen sie sich als „[p]ri‐ sonniers de l’obscurité“, die sich auf einem „[…] bateau immobile […]“ 38 wähnen. Der Kritiker beklagt angesichts der auch die Welt der Kunst beherrschenden Untergangsstimmung: „Nous perdons nos instruments de mesure, de naviga‐ tion. En pleine mer comme en pleine nuit.“ 39 Die Erzählerin in Conversations avec le maître stellt schließlich angesichts der durch einen Tsunami in Asien verur‐ sachten Zerstörungen apokalyptischen Ausmaßes verzweifelt fest, dass „[l]a terre est devenue un lieu de naufrage“ 40 . - Ein Musikstück bezeichnet der Maître, wie bereits in B 4.4.1 erwähnt, als „[…] une île qui, certes, a besoin de l’océan […] mais s’en détache, s’en distingue, de tous les océans […]“ 41 . Der Maler in L’Île aux musées schwärmt bei der Beschreibung eines noch unvollendeten Bildes von den „[…] sur une mer blanche […]“ 42 treibenden Eisbergen, und er plant, einen neuen Zyklus von Bildern Antarctique zu nennen, da die Grenzen in ihnen flie‐ ßend seien „[…] - comme les eaux des trois océans qui se mêlent autour des glaces de l’Antarctique“ 43 . Für die Erzählerin-Fotografin in Totale Éclipse wird die für ihre Arbeit elementar wichtige Beziehung zu ihren Mitmenschen zu einer 3 Schlussfolgerungen 501 44 Wajsbrot 2014, S. 106. 45 Ebd., S. 186. 46 Einen Sonderfall stellt L’Île aux musées dar. Der heterotopische Charakter der Museen wird durch die Insellage unterstrichen, obwohl die Museumsinsel durch mehrere Brü‐ cken mit der Stadt verbunden ist. Vgl. dazu auch Wajsbrot 2008a, S. 12 f. 47 Vgl. Wajsbrot / Dussidour 2005, article 1107, S. 4. gefährlichen Annäherung an einen „[…] îlot rocheux en haute mer“ 44 , und die wenigen Worte des „Regenmachers“ werden für sie zu isolierten „Inseln“: „[…] rien ne les reliait mais chaque île était en elle-même nécessaire.“ 45 Bereits in Caspar-Friedrich-Strasse (2002) und danach in den ab 2007 erschie‐ nenen Haute Mer-Romanen 46 kommt die Bedeutung des „Wassers“ also vor‐ nehmlich auf der Ebene des „discours“ zur Geltung. Während in L’Île aux mu‐ sées - ganz im Einklang mit dem die sinnstiftende Funktion der Kunst hervorhebenden Grundtenor des Romans - Wasser durchweg positiv mit der inspirierenden Wirkung von Bildern oder anderen Kunstwerken sowie einer künstlerischen Aufbruchstimmung konnotiert wird, werden in Conversations avec le maître sowie in Sentinelles und Totale Éclipse in isotopischen Bezügen insbesondere Szenarien der Zerstörung (naufrage), der Angst vor Gefahren und Orientierungsverlust bildhaft zum Ausdruck gebracht. Im Hinblick auf die inhaltlich-formale Entwicklung des Erzählwerks Cécile Wajsbrots ist zu beobachten, dass die nach dem Erscheinen von Une vie à soi (1982) unterbrochene und mit Caspar-Friedrich-Strasse wiederaufgenommene Beschäftigung mit „Kunst“ als zentralem Thema (auch) in der Behandlung des Elements „Wasser“ eindeutig mit einer Tendenz zur Abstraktion einhergeht. Leben und Kunst als Bewegung Cécile Wajsbrot hat, wie in der Einleitung dargestellt, die Funktion des Hand‐ lungsortes in ihren Romanen metaphorisch als „[l]’ancrage dans le lieu [qui] permet un ancrage dans le temps […]“ umschrieben. Die Orte der Handlung sind für sie indes nicht als etwas Vorgegebenes, sondern als ein das Ganze des Ro‐ mans mitkonstituierndes Element zu betrachten „[qui] est gagné (ou perdu), [qui] est parcouru, constitué ou reconstitué“ 47 . Mit dieser Feststellung gibt Cécile Wajsbrot indirekt zu verstehen, dass es in der von ihr geschaffenen erzählten Welt kontinuierlich Bewegungen zwischen Orten und Räumen bzw. zwischen Standpunkten und Lebenseinstellungen gibt, die das Handeln und Empfinden der Figuren beeinflussen bzw. reflektieren. Suchbewegungen unterschied‐ lichster Art beherrschen das gesamte Erzählwerk der Autorin, das aus einer großen Vielfalt semantisch definierter Räume besteht. Beispielhaft illustriert wird dies durch eine Äußerung der Fotografin-Erzählerin in ihrem bisher 3 Schlussfolgerungen 502 48 Vgl. Wajsbrot 2014, S. 43: […] j’ai choisi la fixité ou plutôt la fixité s’est imposée […] 49 Vgl. ebd., S. 51. 50 Ebd., S. 56. 51 Vgl. B 4.5.2, insb. S. 398-404. 52 Wajsbrot 2008a, S. 222. 53 Ebd., S. 225. jüngsten Roman Totale Éclipse. Die Protagonistin, die ihr Leben dem Prinzip der „fixité“ untergeordnet hat bzw. sich von ihm beherrscht fühlt 48 und daher auf den ersten Blick als Musterbeispiel einer „unbeweglichen“ Figur erscheinen mag, gelangt, als sie in ihrer Wohnung „zum hundertsten Mal“ den Song Total Eclipse of the Heart hört, 49 zu der eigentlich banalen, gleichwohl grundlegenden Erkenntnis: „J’avais cru possible de figer la vie, de la fixer comme une image, mais la chanson qui ravivait mes souvenirs me signifiait que la vie se tenait dans le mouvement.“ 50 Diese Aussage stellt eine enge gedanklich-intertextuelle Ver‐ bindung zu L’Île aux musées her, reklamieren doch die Statuen in L’Île aux musées die Gesetzmäßigkeit der Bewegung in aller Deutlichkeit auch für sich selbst und damit für die Kunst im Ganzen, indem sie ihre Entwicklung von statischer Ab‐ bildhaftigkeit von Gewordenem über die Wiedergabe des chaotisch Werdenden bis zu ihrer die Wirklichkeit transzendierenden Wirkmächtigkeit geltend ma‐ chen 51 und der Zukunft zugewandt selbstbewusst erklären: „Nous avons gagné le mouvement - nous gagnerons bien d’autres choses.“ 52 So verbleibt der semi‐ otische Raum der Kunst als Abbild menschlicher Schicksale - l’effigie de votre destin - und als Spiegel der Zeit - […] le miroir des temps - 53 ein weites Feld sich ständig kreuzender und verändernder Bewegungen und Relationen zwi‐ schen Menschen und Mächten. 3 Schlussfolgerungen 503 ANHANG Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen ANHANG 507 54 Wajsbrot 1993, S. 62. Vgl. auch ebd.: Eileen lui prit la main, il tenait l’étui de l’autre côté et, en lui souriant, se demanda pourquoi l’instrument lui paraissait plus intime que la main, puisqu’il pouvait livrer l’une sans hésitation, avec même un début d’émotion, et pas l’autre. Themenfeld I Atlantique (1993) Der Regisseur Gilles lädt Vincent (Cello), François und Hugo (beide Violine) ein, mit ihm in seinem im Mündungsgebiet der Somme am Meer gelegenen Haus Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen zu spielen. Damit soll der bei einem Flugzeugunglück beim Rückflug von Brasilien über dem Atlantik zu Tode ge‐ kommenen Schwester Vincents, die mit François verheiratet ist (und namenlos bleibt), gedacht werden, die sich bis zu ihrem Tod stets am Sonntagnachmittag mit den drei Männern zum Quartettspiel traf und dabei den Bratschenpart über‐ nahm. Ihr Instrument bei der geplanten Gedenkveranstaltung hat Gilles für sich selbst vorgesehen. Die Initiative Gilles’ führt schrittweise zu einer Enthüllung der Beziehungen, die zwischen der verstorbenen Frau und jedem einzelnen der vier Männer bestanden. Dieses „Beziehungsdrama“ wird von einer heterodie‐ getischen Erzählinstanz in recht freier Anlehnung an eine klassische Sonate in vier „Sätzen“ bzw. Abschnitten entfaltet, in denen die Vordergrundhandlung, d. h. die Einladung Gilles’ und das Treffen der vier Männer in seinem Hause, mit variabel fokalisierten Erinnerungen und Reflexionen über die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Verhältnisse verschränkt wird. Der erste Abschnitt mit der Satzbezeichnung „Allegro“ präsentiert - der ex‐ positorischen Funktion des Kopfsatzes gemäß - die Einladung Gilles’ und ver‐ bindet damit die Vorstellung aller in das Beziehungsgeflecht einbezogenen Fi‐ guren. Nach anfänglichem Zögern entschließt sich Vincent, die Einladung Gilles’ anzunehmen. Der Antiquitätenhändler François erfährt vom Tod seiner Frau über Hugo, der seinerseits zuvor von ihr telefonisch darüber unterrichtet worden war, dass sie sich scheiden lassen wollte. Der zweite Abschnitt - Andante con moto - führt zur Ankunft der Gruppe in Gilles’ Haus, thematisiert aber zuvor Hugos Verliebtheit in die Verstorbene ebenso wie die gescheiterte eheliche Verbindung zwischen François und seiner Frau. Vor der Abfahrt verbringt Hugo noch einmal eine Liebesnacht mit Eileen, seiner Geliebten, die er jedoch, wie er kurz danach spürt, als „étrangère“ 54 emp‐ findet.- Auf der Fahrt zu dem Gedenkkonzert glaubt Vincent in einem vor ihm fahrenden Fahrzeug eine seiner verstorbenen Schwester stark ähnelnde Frau entdeckt zu haben. Bei einem gefährlichen Überholmanöver gefährdet er sie und sich selbst. 55 Ebd., S. 155. 56 Vgl. Wajsbrot 1995, S. 79: […] elle m’appelait au matin pour dire qu’elle partait, le jour même, avec quelqu’un. 57 Ebd., S. 37 f. 58 Vgl. ebd. S. 65-67. 59 Vgl. ebd. S. 81, 84. Der dritte Abschnitt, dessen Überschrift „Scherzo“ in Analogie zum dritten Sonatensatz schnelle Bewegung und eine heitere, lebendige „Tonlage“ sugge‐ riert, erfüllt entsprechende Erwartungen nur sehr bedingt. Präsentiert werden duellartige, verletzende Redewechsel zwischen den drei Männern über den Sinn des Treffens und ihre Beziehungen zu der Verstorbenen. Sodann schockiert Vincent, der zwei Wochen gemeinsam mit seiner Schwester in Brasilien ver‐ bracht hat, Hugo mit der Nachricht, dass er dort einen Tag lang in einer intimen Beziehung zu ihr gelebt habe. In dem als Finale fungierenden vierten Abschnitt, dessen Tempobezeichnung „Presto“ Dramatik verspricht, wird zu Beginn deutlich, dass das Treffen nicht dem gemeinsamen Musizieren, sondern der Offenlegung eines komplizierten Beziehungsgeflechts dient. Zu Beginn gesteht Hugo, die Verstorbene geliebt zu haben. Sowohl François, Gilles als auch Hugo haben „sie“ über die flüchtige Reflexion eines Spiegelbilds kennen gelernt, das jedoch in ihnen eine nachhal‐ tige innere Verbundenheit mit „ihr“ bewirkt hat. Gemeinsam mit Vincent werden sie als Opfer einer Irrfahrt präsentiert: „Eux demeuraient figés, con‐ dammnés - le mari, le frère et, comment fallait-il dire, l’amant, l’ami, et Gilles, un instrument de plus - à l’éternelle errance.“ 55 Hugo treibt die Verzweiflung schließlich ins Meer. Le Désir d’Équateur (1995) In Le Désir d’Équateur breitet die namenlos bleibende autodiegetische Erzählerin in einem Rückblick ihre Erinnerungen und Gedanken über zwei intime Bezie‐ hungen aus, die sie über einen längeren Zeitraum sowohl mit einer Frau als auch einem (als Chirurg arbeitenden) Mann - beide Personen bleiben ebenfalls na‐ menlos - unterhält. Die Höhepunkte der beiden Verhältnisse werden ebenso beschrieben wie der langsame Prozess der gegenseitigen Entfremdung, der sich beschleunigt, nachdem die Geliebte der Erzählerin von einer geplanten zwei‐ tägigen Reise zurücktritt, um „mit jemandem“ 56 aufzubrechen. Darüber hinaus erwähnt die Erzählerin die häufigen abendlich-nächtlichen Besuche eines „doux visiteur“ 57 , ihre auf eine Nacht beschränkte intime Begegnung mit einem „homme du port“ 58 sowie ihre Sympathien für einen jungen Arbeiter, den sie in einem Café trifft 59 . Von zentraler Bedeutung sind jedoch die von der Erzählerin Themenfeld I 509 60 Vgl. ebd., S. 83: „… j’oscillais entre deux pôles…“ 61 Vgl. ebd., S. 25 und 32. 62 Vgl. ebd., S. 89: Dans l’univers mouvant, il restait la piscine, immuable au cœur de Paris […] und S. 8: Dans l’eau de la piscine, je voudrais noyer un chagrin d’amour. 63 Die Wohnungen der Erzählerin und ihrer Geliebten befinden sich am nördlichen und südlichen Ende von Paris. Vgl. ebd., S. 44. 64 Vgl. ebd., S. 11 f. und 15-17. 65 Vgl. ebd., S. 8: Dans mon présent il n’y a pas d’histoire, le vide seulement, et une guerre qui occupe les écrans de télévision, une guerre propre, chirurgicale. - Der Zweite Golf‐ krieg begann am 16. 01. 1991 und endete am 28. 02. 1991. 66 Vgl. ebd. S. 32, 68. 67 Vgl. ebd. S. 24, 33 und 96. als ein spannungsreiches „Oszillieren zwischen zwei Polen“ 60 erlebten, an erster Stelle genannten Verhältnisse, die in ihr den - unerfüllt bleibenden - Wunsch wecken, für zwei Jahre an den Äquator nach Ekuador zu reisen, um dort in Äquidistanz zum Nord- und Südpol zu leben. 61 Ein „im Herzen von Paris“ wie ein unbeweglicher Fixpunkt in einem „univers mouvant“ gelegenes Schwimmbad, in dem die Erzählerin ihren Liebeskummer zu „ertränken“ versucht, 62 dient als lokaler Bezugspunkt der Erzählinstanz. Die von der Erzählerin rückblickend reflektierte Beziehungsgeschichte wird eher vage in Paris 63 und „am Meer“ lokalisiert, wobei Istanbul, am Schnittpunkt zwi‐ schen Europa und Asien gelegen, eindeutig als jener Ort zu identifizieren ist, 64 an dem die Erzählerin einige Tage mit dem von ihr geliebten Mann verbringt. Vor allem aber bewegt sie sich in ihrer Rückschau in einer hoch erotisierten Bilderwelt, in der Wasser als beherrschendes, lustvolles Leben evozierendes Element in einer Fülle von Anspielungen, Vergleichen und Metaphern mit der „Wüste“ oder aber dem ewigen Eis der Antarktis als Symbolen für Einsamkeit und Verlassenheit kontrastiert wird. Der Text folgt keiner chronologischen Ordnung, sondern präsentiert nach dem Vorbild der „stream-of-consciousness“-Literatur eine assoziativ zusam‐ mengefügte Abfolge von Ereignissen und Reflexionen. Eine zeitliche Situierung ist nur annäherungsweise möglich. Gleich zu Beginn ihrer Darlegungen bringt die Erzählerin „ihre Gegenwart“ 65 eindeutig mit dem Zweiten Golfkrieg in Ver‐ bindung, auf dessen Ende bzw. auf dessen die Menschen ermüdende Wirkung sie einige Zeit später hinweist. 66 Ein früher und im Schlussteil des Textes wiederholter Hinweis markiert das Ende der von der Erzählerin gepflegten homo- und heterosexuellen Beziehung, das mit dem ersten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, also den 9. November 1990, zusammenfällt. 67 Ein Anfangspunkt ist nicht genau zu bestimmen. Dass die Erzählerin ihre - nicht realisierte - Reise nach Ekuador erst plant, nachdem Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 510 68 Ebd., S. 83. 69 Vgl. Wajsbrot 1996, S. 12 und 180. sie die Beziehung zu „ihr“ als eine „chute sans fond“ 68 empfindet, ist zwar in sich schlüssig, ermöglicht aber keine zusätzliche zeitliche Orientierung. Mariane Klinger (1996) Im Zentrum der Diegese des vierten großen Erzähltextes von Cécile Wajsbrot steht, wie der Titel Mariane Klinger andeutet, eine weibliche Figur. Die hetero‐ diegetische Erzählinstanz schildert in einem durch starke interne Fokalisierung gekennzeichneten Erzählmodus die im Mai 1949 stattfindende sechstägige Schiffsreise Mariane Klingers von New York nach Southampton in einer an der Abfolge der Tage orientierten Kapitelaufteilung. Anders als geplant, tritt Ma‐ riane die Reise ohne ihren 18-jährigen Sohn John an, da dieser seine Eltern kurz vor dem Abreisetermin ohne ein Wort der Erklärung verlassen hat. Für Mariane wird die Reise über die Begegnung mit anderen Passagieren und die Reflexion über politische und literarische Ereignisse zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Im Februar 1929 ist sie im Alter von 18 Jahren gemeinsam mit ihrer gleichaltrigen, wie sie selbst aus Heidelberg stammenden Freundin Judith Hartmann, deren Mutter Jüdin war, nach New York gereist. Ein aus Heidelberg stammender, in den USA zu Geld gekommener Geschäftsmann hatte für die beiden Frauen Eheschließungen vermittelt, an denen ihre Eltern aus wirtschaftlichen Gründen interessiert waren. 69 Diese Mo‐ tivation wird nicht explizit in einen Zusammenhang mit der Weltwirtschafts‐ krise des Jahres 1929 gebracht, die jedoch im Verlauf der Diegese noch eine Rolle spielen wird. Während der Überfahrt schlägt Judith Mariane vor, die ihnen zugedachten Partner, die zufälligerweise beide Harry heißen, auszutauschen. Infolge dieser unbedachten, von beiden Frauen aus purer Abenteuerlust getroffenen Entschei‐ dung heiratet Mariane Klinger den in Brooklyn als praktischer Arzt tätigen Harry Loom und Judith Hartmann den in Chelsea arbeitenden Finanzmakler Harry Lawrence, der - als Opfer der Weltwirtschaftskrise - nach einem Börsen‐ krach zunächst arbeitslos wird und dann in eine Speditionsfirma wechselt. An‐ ders als für Judith bleibt die Erinnerung an den „Partnertausch“ für Mariane während ihrer zwanzig Ehejahre eine permanente Belastung. An Bord der Queen Mary hat die Anwesenheit Thomas Manns einen großen Einfluss auf die Befindlichkeit Marianes. Sie hat seinen in den USA verfassten Roman Joseph und seine Brüder in New York - in englischer Übersetzung - ge‐ kauft und als einziges Buch mit auf die Reise genommen. Sie vergleicht ihr ei‐ Themenfeld I 511 genes Schicksal mit dem des Exilanten Joseph und betrachtet Thomas Mann als ihren geistigen Rückhalt und Führer. Eine angekündigte Rede Thomas Manns wird abgesagt, als die Nachricht vom Freitod seines Sohnes Klaus eintrifft. Mariane trifft auf vier aus unterschiedlichen Gründen alleinstehende Per‐ sonen: die geschiedene, ihre Freiheit genießende amerikanische Touristin Joan Hawks; den nach dem Tod seiner vierten Frau wiederum kontaktfreudigen Eng‐ länder John Dee; den nachdenklichen Schweizer Hans Vögli, der noch immer um seine vor zwanzig Jahren verstorbene Frau Mariane (! ) trauert und die unnötige Länge der sich daran anschließenden, inzwischen geschiedenen Ehe bedauert, sowie den Literaturdozenten Peter Lemm, der aus Dresden stammt, seit 1938 das Leben eines von Kontinent zu Kontinent reisenden Exilanten führt und Mariane lange im Unklaren über eine auf seine Dresdener Zeit zurückgehende Beziehung zu einer 10 Jahre älteren Frau lässt. Zwischen Mariane und Peter Lemm entwi‐ ckelt sich eine intime, gleichwohl in der Schwebe verbleibende Beziehung. Auch nachdem Peter am Ende der Reise erklärt hat, die Bekannte aus Dresden nicht wiedersehen zu wollen, bleibt ungewiss, ob er und Mariane sich in London wie‐ dersehen werden. Der Zufall will es, dass Mariane an Bord auch noch jenen Harry Lawrence kennen lernt, der eigentlich als ihr Ehemann auserkoren war. Sie erfährt von ihm, dass seine Ehe mit Judith nach fünf Jahren geschieden worden ist und seine Frau nach dem Tod ihres Vaters den Kontakt mit ihrer Familie in Heidelberg wieder aufgenommen hat. Da Judith die recht bald immer spärlicher gewor‐ denen Verbindungen zu Mariane gänzlich aufgegeben hat, nachdem diese zwei Jahre nach ihrer Eheschließung ihren Sohn John geboren hat, ist diese Nachricht für Mariane besonders schmerzlich. Harry Lawrence vermutet, dass Judith ihrer nach dem Tod des Vaters in die Umgebung von London gezogenen Mutter ge‐ folgt ist und dort mit einem britischen Geschäftsmann namens Paul Simpson zusammenleben könnte. In der gespannten Erwartung ihrer Ankunft in Southampton erlebt Mariane halluzinierend verschiedene Begegnungen: mit John Dee, der „ihre Geschichte“ hören will; mit Judith, die behauptet, das unzerstörte Heidelberg, das, wie der ganze Kontinent, keinen Krieg erlebt habe, nie verlassen zu haben, und die dann in einer plötzlich von einer Eisschicht überzogenen Stadt zu einer gealterten und gebeugten, grauhaarigen Frau mutiert, in der Mariane nicht mehr Judith zu erkennen vermag; mit ihrem Mann Harry, der den - von Mariane nicht einge‐ standenen - Partnertausch aufdeckt und eine Eheschließung mit Judith vorge‐ zogen hätte. Bei Anbruch des neuen Tages erkennt Mariane zweifelsfrei die Küste, das Festland. Ein neues Leben kann beginnen. Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 512 70 Bzgl. der Begründung des Verzichts auf eine umfangreiche Analyse vgl. B 1.1, S. 64, Anm. 6. Voyage à Saint-Thomas (1998) L’Hydre de Lerne (2011) 70 Ausgangspunkt der von einer heterodiegetischen Erzählinstanz präsentierten Diegese ist der Wunsch der in Paris arbeitenden und lebenden Agathe, mit Loïc, der mit der an einer geheimnisvollen Krankheit leidenden Lucie unglück‐ lich verheiratet ist, nach einer seit drei Jahren bestehenden Liaison erstmals gemeinsam einige Tage in Saint Thomas an der Baie du Mont St. Michel zu ver‐ bringen. Nachdem Loïc seine Teilnahme an der geplanten Reise aus unter‐ schiedlichen Gründen zweimal abgesagt hat, lädt Agathe Marc, der Saint Thomas bereits kennt, ein, anstelle Loïcs mit ihr die gebuchte Reise anzutreten. Marc, der eine Beziehung mit der auf ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit großen Wert legenden Véronique unterhält, nimmt die Einladung an. Während der Tage in Saint Thomas kommt es zwischen Marc und Agathe zu leiden‐ schaftlichen Begegnungen, die für Marc lediglich „den Umständen“ geschuldet sind. In Agathe lösen sie zwar einerseits Schuldgefühle aus, insofern sie darin Untreue gegenüber Loïc erblickt, andererseits jedoch rufen sie in ihr eine tiefe Zuneigung zu Marc wach. Nach der Rückkehr nach Paris betrachtet Marc das mit Agathe in Saint Thomas verbrachte Wochenende als eine abgeschlossene, folgenlose Angelegenheit, während Agathe sich nun in einem Zwiespalt zwi‐ schen anhaltender Leidenschaft und der Ungewissheit über die Qualität ihrer Beziehung zu Loïc befindet. Ihre Freundin Jeanne, die in einer ungeklärten Be‐ ziehung zu Eric lebt, rät der unschlüssigen, von Gewissensbissen geplagten Agathe, Loïc nicht darüber zu informieren, dass sie die Tage in Saint Thomas mit Marc verbracht hat. Nachdem Loïc Lucie über sein Doppelleben informiert hat, fordert diese ihn auf, sich innerhalb von zwei Wochen entweder für sie oder Agathe zu entscheiden. Für die in sich verschlossene Agathe erhöht sich dadurch der Leidens- und Entscheidungsdruck, von dem Loïc sie in der Schlussszene zu befreien vermag. Mit L’Hydre de Lerne legt Cécile Wajsbrot einen Text vor, in dem sie ihre Kon‐ frontation mit der Alzheimer-Erkrankung ihres Vaters und ihrer Tante in lite‐ rarischer Form verarbeitet hat. Der in 18 Kapitel gegliederte „récit“ ist, wie die Autorin gegenüber Sandrine Mariette Factory erklärt, „[…] un journal sans date Themenfeld I 513 71 Sandrine Mariette Factory, „L’hydre de Lerne - Cécile Wajsbrot“, in: http: / / www.sandrinemariette.com/ SandrineMarietteFactory/ ? p=1287, S. 3. (Abruf: 06. 09. 2013). 72 Wajsbrot 2011, S. 18. 73 Ebd., S. 85. 74 Ebd., S. 47. avec des repères temporels imprécis“ 71 , er ist jedoch ungleich mehr als nur ein Ereignisse registrierendes Tagebuch. Die Autorin beobachtet und analysiert die Krankheit insbesondere ihres Va‐ ters als einen Prozess, in dessen Verlauf die zunehmende „absence au monde“ des Vaters paradoxerweise in so starkem Maße ihre „présence“ einfordert, dass sie den Eindruck gewinnt, gleichzeitig sein und ihr eigenes Leben zu führen. Sie gerät darüber in ein Nachdenken über ihre Familiengeschichte: die Übersiedlung der Großeltern aus dem polnischen Kielce nach Paris; die Bedrohung der Familie durch die Nationalsozialisten, die den Großvater mütterlicherseits nach Ausch‐ witz deportieren und umbringen; das beherrschende Lebensgefühl von Exi‐ lanten, das - in den Worten ihrer verstorbenen Großmutter - von Einsamkeit und einer permanenten „quête de la vie“ 72 geprägt ist, da auf den Verlust der alten Heimat die Erfahrung der Isolation und Heimatlosigkeit im „gelobten Land“ der Menschenrechte folgte; und nicht zuletzt die zur Trennung führende Zerstrittenheit der Eltern. Die die Kräfte der Tochter stets neu bis auf das Äußerste anspannende, irre‐ versible und unerbittlich voranschreitende Alzheimerkrankheit ihres Vaters und ihrer Tante wird für Cécile Wajsbrot zu einer unbesiegbar scheinenden Hydra und die Familie zu einer „entreprise d’esclavage“ 73 , insofern insbesondere sie als Tochter bzw. Nichte mit ihrer Präsenz und der Verantwortung für die Organisation der Pflege die von der Gesellschaft nicht zur Verfügung gestellte Unterstützung leisten muss. Sie ertappt sich in diesem Zusammenhang bei dem ihr „unwürdig“ erscheinenden Gedanken, dass ihre Generation zwar nicht den Krieg erlebt habe, in dem die Eltern an der Front, in den Lagern oder als Opfer von Bombardements gestorben seien, dafür aber nun „[…] la douleur de les voir vivre trop longtemps et se transformer en morts vivants“ 74 erleide. Die Literarizität des „récit“ wird zusätzlich gesteigert durch die Reflexion Cécile Wajsbrots über Auszüge aus Texten anderer Autoren. Von zentraler Be‐ deutung ist ihr Rekurs auf das Kapitel „la blancheur de la baleine“ aus Herman Melvilles Moby Dick. Nach ihrem Textverständnis geht es in Herman Melvilles Roman nur vordergründig um die Revanchegelüste und Abenteuerlust des Ka‐ pitäns Ahab und seiner Mannschaft. Im Zentrum seiner literarischen Suchbe‐ wegung stehe vielmehr „[…] notre quête du mystère de la vie, parallèle à sa quête Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 514 75 Ebd., S. 117. 76 Vgl. ebd. S. 117: Pour la fuir, nous sommes prêts à aller au bout du monde […] 77 Wajsbrot 1997 / 2005, S. 115. 78 Ebd., S. 36. 79 Ebd., S. 36. 80 Ebd., S. 15. du mystère de la littérature“ 75 . Diese Maxime projiziert Cécile Wajsbrot auf ihre eigene Lebenssituation, zumal sie stets von zwei im Widerstreit miteinander liegenden Zielvorstellungen geleitet wird, der Suche nach Frieden und fester Verankerung einerseits und der Suche nach Abenteuer und Aufbruch anderer‐ seits. Angesichts der Hydra der unbesiegbaren Krankheit und einer vollstän‐ digen Vereinnahmung durch die Familie scheint sie bereit, bis an das Ende der Welt zu fliehen. 76 Ihre Aufzeichnungen belegen jedoch, dass sie vor der Abreise zu einem ihr angebotenen Studienaufenthalt in Berlin sämtliche Vorkehrungen trifft, um die Pflege des Vaters und der Tante zu gewährleisten. Gleichwohl geht sie ein Abenteuer ein, indem sie ihre schmerzlichen Erfahrungen aus der Be‐ gleitung ihr nahestehender todkranker Menschen zu einem sorgfältig struktu‐ rierten, ästhetisch anspruchsvollen literarischen Zeugnis verarbeitet. Themenfeld II La Trahison (1997 / 2005) Im Erzählrahmen der im Jahr 1992 in Paris zu situierenden Vordergrundhand‐ lung führt die vierzigjährige jüdische Radiojournalistin Ariane Desprats anläss‐ lich einer Sendung über die Geschichte des französischen Rundfunks ein Inter‐ view und zusätzliche vorher und nachher stattfindende Gespräche mit ihrem siebzigjährigen, im Ruhestand lebenden Kollegen Louis Mérian, der seit Beginn der 50er Jahre in einer sich über drei Jahrzehnte erstreckenden Karriere als mo‐ derierender Rundfunkreporter durch seine spätabendlichen Interviews mit Künstlern, „[qui] formaient les piliers de la France nouvelle et ancienne, de la France éternelle […]“, 77 zu Berühmtheit gelangt ist. Die 1952 geborene Ariane, die ihre deportierten und nicht nach Frankreich zurückgekehrten Großeltern mütterlicherseits nie kennen gelernt hat, lebt nach Beziehungen mit Stéphane und Luc, die für sie nur noch „[…] le souvenir d’une terre lointaine […]“ 78 be‐ deuten, und einem erst vor nicht langer Zeit beendeten Verhältnis mit dem Drehbuchautor Léo, das sich in ihrer Erinnerung noch immer „[…] comme une île assez grande qui annoncerait un continent“ 79 ausnimmt, alleine. Mit ihrer Frage „Et pendant la guerre, vous faisiez de la radio? “ 80 löst sie bei Louis Mérian Themenfeld II 515 81 Ebd., S. 176 f. einen tiefgreifenden Prozess des Nachdenkens über seine Vergangenheit aus, die der heterodiegetische Erzähler in zahlreichen Rückblicken in einem durch eine variable interne Fokalisierung bestimmten Erzählmodus präsentiert. Im Verlauf der Gespräche fühlt sich Louis Mérian nach einiger Zeit durch Ariane Desprats an die Jüdin Sarah Lipsick erinnert, die er im Januar oder Februar 1940 in einer von dem aus dem faschistischen Italien geflohenen Italiener Giorgio Assano geleiteten Theaterwerkstatt kennen gelernt und in die er sich verliebt hat. Dem Drängen Sarahs, sich ihr anzuschließen und die Résistance in London zu unterstützen, schien Louis zunächst folgen zu wollen, schließlich jedoch waren die Mahnungen seiner Eltern und seiner älteren Schwester Anne, die durch das von ihnen sehr wohl registrierte und verbal beklagte Schicksal der Juden auf keinen Fall selber behelligt werden wollten und sich stattdessen lieber in einer Zuschauerrolle einrichteten, wie auch seine eigene Verzagtheit und Feigheit stärker. Er wollte das Verhältnis mit Sarah fortsetzen und sie nach dem Krieg heiraten, aber nicht das Risiko des Widerstands mit ihr teilen. Daraufhin wird er von Sarah verlassen. - Sowohl der unverheiratet gebliebene, aber auf Verhältnisse mit vier Frauen zurückblickende Louis als auch die inzwischen verwitwete Anne hatten die immerhin über zwei Jahre dauernde Präsenz Sarah Lipsicks im Leben Louis’ offensichtlich völlig verdrängt, bis Ariane die Erinne‐ rung der Geschwister an Sarah aufleben ließ. Anne macht Louis auf die in Paris lebende Livia Lipsick aufmerksam, deren Vater ein Cousin Sarahs war. Livia Lipsick verhilft Louis zu der sicheren Erkenntnis, dass Sarah im Winter 1944 in Auschwitz gestorben ist. Darüber hinaus jedoch wird ihm - 50 Jahre nach der „rafle du Vél d’Hiv“ - bewusst, dass er nach Jahrzehnten des Vergessens endlich bereit ist, Sarah zu folgen: Er folgt ihr in den Tod, indem er seinem Leben ein Ende setzt. Seine Schwester Anne hingegen bleibt - auch unter dem Eindruck des Todes ihres Bruders und eines Gesprächs mit der zum „instrument du sou‐ venir“ gewordenen Ariane - eine „[…] prisonnière de ce passé, de ce qu’elle n’avait pas voulu libérer […]“ 81 . Nation par Barbès (2001) Nation par Barbès erzählt die zunächst parallel verlaufenden und sich dann kreuzenden Geschichten zweier weiblicher Hauptfiguren, der als Sekretärin ar‐ beitenden 27-jährigen Französin Léna und der gleichaltrigen, illegal nach Frank‐ reich eingewanderten Bulgarin Aniela. Die beiden Frauen fühlen sich in unter‐ schiedlicher Weise dem fünf Jahre jüngeren, aus begütertem Hause stammenden Studenten Jason verbunden. Die Erzählinstanz betont die Parallelität der Hand‐ Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 516 82 Wajsbrot 2001, S. 151. lungsstränge durch die Abfolge der Kapitel, indem sie in regelmäßigem Wechsel eine der beiden Figuren in den Mittelpunkt der Diegese rückt. Die sowohl her‐ kunftsals auch durch den illegalen Status Anielas bedingten Unterschiede in der Denkweise, im Empfinden und Verhalten Lénas und Anielas bergen ein rei‐ ches Potential an Konflikten, das durch die Beziehungen der beiden Frauen zu Jason noch verstärkt wird. Die Handlung der heterodiegetisch erzählten und durch variable interne Fokalisierung geprägten Geschichte ist zeitlich im Jahr 1999 situiert. Jason studiert Englisch in Paris und bereitet sich auf ein Dolmetscherexamen vor. An einem Wintertag sitzt er in der Métro einer jungen Frau gegenüber, die ihn aufgrund ihres Erscheinungsbildes, das durch feine Gesichtszüge, große blaue Augen und eine fast zerbrechlich wirkende Gestalt geprägt wird, in seinem Innern stark berührt. Einige Tage später spricht er sie in der U-Bahn mit dem auf ihrem Armband eingravierten Namen Léna an. In den folgenden drei Mo‐ naten legen sie regelmäßig abends die über sieben Stationen führende Strecke von Barbès nach Monceau zurück. Dabei entwickelt sich eine wechselseitige Zuneigung, allerdings verhindert Léna, die unter der Eintönigkeit ihres von all‐ täglicher Routine beherrschten Lebens leidet, die von Jason gewünschte und auch von ihr selbst ersehnte weitere Entfaltung und Entwicklung der Beziehung. Sie glaubt, dies mit der - gegenüber Jason lange Zeit verschwiegenen - Verant‐ wortung für die Pflege ihrer schwer erkrankten, gelähmten Mutter nicht ver‐ einbaren zu können. Aufgrund eines U-Bahn-Streiks nehmen Jason und Léna telefonisch Kontakt miteinander auf. Fortan treffen sie sich auch im Parc Mon‐ ceau. Obwohl Bulgarien sich zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer längst im demokratischen Aufbruch befindet, fühlt sich die als Französischlehrerin in Ruse arbeitende Aniela durch die von ihr als unentschieden und zögerlich emp‐ fundene Übergangsphase an ihrer freien Entfaltung gehindert. Sie möchte nach Frankreich, in das von ihr als „[…] terre mythique […]“ 82 betrachtete Land ihrer Träume, übersiedeln. Dies gelingt ihr, indem sie sich am Tag der geplanten Rückfahrt aus Paris von einer von ihr betreuten Reisegruppe absetzt. Der Zufall fügt es, dass sie in der Métro auf Jason trifft und ihn spontan nach Möglichkeiten für eine Unterkunft befragt. Zu ihrer großen Überraschung bietet er ihr ein un‐ genutztes Zimmer in seiner Wohnung an. Als Léna Jason im Parc Monceau in Begleitung einer ihr unbekannten jungen Frau entdeckt, vermutet sie, dass sie von Jason betrogen wird. Léna stellt Jason zur Rede und gewinnt dabei zunächst den Eindruck, von ihm belogen zu Themenfeld II 517 83 Vgl.ebd., S. 113: Il mentait, il savait mentir sans que sa voix défaille, sans que le monde s’effondre, avec un calme qui laissait entrevoir l’habitude.[…] Elle ne racontait pas tout non plus mais c’était différent, car elle n’avait rien à cacher. werden. 83 Er vermag sie dann jedoch von dem seiner Meinung nach unverfän‐ glichen Charakter seines Zusammenseins mit Aniela zu überzeugen und eine Vertrauensatmosphäre herzustellen, in der Léna ihn über ihre Verpflichtungen gegenüber ihrer Mutter informiert. Eine kurze Zeit später stattfindende intime Begegnung in Jasons Wohnung empfindet Léna als sehr beglückend, ist dann jedoch angesichts ihrer tief verwurzelten Abneigung gegen die ihr Angst ein‐ flößende Métro sehr überrascht festzustellen, dass der historisch interessierte Jason mit Begeisterung über eine auf das Jahr 1903 zu datierende U-Bahn-Ka‐ tastrophe zu sprechen vermag. Um mit Léna verreisen zu können, ohne dass deren Mutter allein gelassen wird, fragt Jason Aniela, ob sie während dieser Zeit die Pflege übernehmen könne. Aniela ist dazu bereit, allerdings erfährt sie von dem enttäuschten Jason, dass Léna mit einer solchen Maßnahme nicht einverstanden ist. Nachdem Aniela Einblick in die zwischen Jason und Léna bestehenden Konflikte gewonnen hat, lädt sie Jason ein, ihr Bett mit ihr zu teilen. Zwei Tage später stellt sich Aniela Léna im Bereich der Métro vor und erklärt ihr ihre Bereitschaft, die Pflege zu übernehmen. Léna, die dies als Einmischung in ihre Privatsphäre empfindet, reagiert schroff und beklagt, dass Jason und sie selbst offensichtlich nicht für‐ einander geschaffen seien. Während der Abwesenheit Jasons bittet Aniela Léna um finanzielle Unter‐ stützung, um ihre Eltern in Bulgarien anrufen zu können. Léna, die ihr bereit‐ willig 200 F schenkt, gewinnt Einblick in die inneren Nöte, die Vereinsamung und Entwurzelung Anielas. Als Aniela in der Métro wegen eines fehlenden Fahrscheins und fehlender Papiere festgenommen wird, versucht sie zu ent‐ kommen und wirft sich in ihrer Verzweiflung vor einen Zug. Léna ist schockiert über den Tod Anielas und die gefühllose Reaktion Jasons, der sich und Léna rät, das Geschehene zu vergessen, und sie sagt sich von ihm los. Beaune-la-Rolande (2004b) Beaune-la-Rolande, eine kleine, ca. 100 km südlich von Paris im Kanton Loiret gelegene Gemeinde mit rund 2000 Einwohnern, ist zum Synonym geworden für das ebendort von 1941 bis 1943 eingerichtete Durchgangslager für Juden, die in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert werden sollten. Cécile Wajsbrot hat den Namen der Ortschaft bzw. des Lagers als Titel für einen stark biographisch geprägten literarischen Erinnerungstext gewählt, in dem die Ich-Erzählerin das Schicksal ihres mit seiner Familie von Polen nach Frankreich ausgewanderten Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 518 84 Wajsbrot 2004b: Eine Eintragung für das Jahr 1998 fehlt. 85 Vgl. dazu B 3.3.4, S. 197, Anm. 247. jüdischen Großvaters erzählt, der, nachdem er 1939 noch als Soldat für seine Wahlheimat Frankreich gekämpft hatte, an seinem Geburtstag am 14. Mai 1941 nach Beaune-la-Rolande verschleppt und ein Jahr später nach Auschwitz ver‐ bracht wurde, wo er zwei Monate später starb. Der aus 5 Kapiteln bestehende Text vereint die Betrachtungen der Erzählerin über ihre Fahrten zu den jährlichen Gedenkveranstaltungen in Beaune-la-Ro‐ lande (und Pithiviers) mit Schilderungen der einzelnen Etappen, die den Weg des Großvaters in den Tod markieren. In den narrativ-reflektierenden Text in‐ tegriert sind Tagebuchauszüge der Erzählerin, Traumdarstellungen und Reise‐ notizen. In den ersten acht Tagebuchnotizen des Kapitels I, die aus dem Mai der Jahre 1991 bis 1999 stammen, verarbeitet die Erzählerin, wie der signalartig in jeweils dem ersten Satz erscheinende Name Beaune-la-Rolande ankündigt, ihre Erin‐ nerungen an ihre Teilnahme an den jährlichen Gedenkveranstaltungen. 84 Als neunte Eintragung folgt, abweichend von der chronologischen Reihenfolge, ein Text vom September 1990. Hier berichtet die Erzählerin über eine Fahrt nach Auschwitz und erklärt, warum sie seit 1964 - mit zunehmend zwiespältigen Gefühlen - fast regelmäßig an der jährlichen Gedenkfeier in Beaune-la-Rolande teilgenommen hat. Die Überzeugung und das Gefühl einer inneren Verpflich‐ tung waren letztlich stärker als der durch rituelle Wiederholungen erzeugte Widerwille. Die sieben in das zweite Kapitel integrierten Traumberichte, die den Zeitraum vom Februar 1991 bis zum Frühjahr 2000 umfassen, geben Aufbruch- und Rei‐ seszenen - mit den Zielorten Prag, New York, Moskau, Auschwitz, Berlin - wieder, die sämtlich mit bedrohlichen Situationen, Angst und Scheitern in Ver‐ bindung stehen. Die zum dritten Kapitel gehörenden Anmerkungen zu Reisen nach Krakau, Auschwitz, Klaipeda, Vilnius und Warschau geben Zeugnis von einer Suche nach - oft verwischten - historischen Spuren und jenem Leid, das die Begeg‐ nung mit der Vergangenheit bedeutet. Schlussfolgernd gelangt die Erzählerin im vierten und fünften Kapitel für sich zu der Einsicht, dass ihre Aufgabe darin besteht, das Schweigen über die Ver‐ gangenheit durch das Schreiben, durch die literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte zu brechen. In Anlehnung an das 55. Kapitel 85 des Quart Livre von Rabelais legt sie dar, dass, so wie die menschlichen Schreie und der Kriegs‐ lärm zunächst in der winterlichen Eiseskälte gefrieren, niemanden erreichen Themenfeld II 519 86 Ottmar Ette (2005, S. 243) vertritt die Meinung, dass es sich um einen „[…] Bahnsteig in einem Land, das irgendwo zwischen Frankreich und Polen liegt […]“, handle. Stephanie Bung (2010, S. 195) spricht von dem „Bahnhof einer nicht näher identifizierbaren Stadt“. C. W. selbst betont in einem Gespräch mit Dominique Dussidour (http: / / remue.net/ spip.php? .article1107, S. 3, Abruf: 06. 03. 2012), dass im ersten Teil des Romans generell keine Namen genannt werden. - Angesichts der Hinweise auf die „frontière“ im Roman (S. 10, 20, 70) ist zu vermuten, dass es sich um einen Bahnhof in der Nähe der polnischen Grenze handelt. 87 Wajsbrot 2005a: Paris - als Gegenpol zu Kielce - wird von der Erzählstimme explizit auf S. 145 genannt. 88 Vgl. die „innere Stimme“ auf S. 113: „Nous étions attachés à la machine à coudre comme le paysan à ses bêtes, esclaves du travail - un travail qui nous déplaisait.“ und erst in der Phase des Tauwetters zu den Hörern vordringen, auch die Opfer der Katastrophen des 20. Jahrhunderts sich nur zeitversetzt über die Stimmen der nachkommenden Generationen Gehör verschaffen können. Mémorial (2005a) Mémorial von Cécile Wajsbrot ist ein aus drei Kapiteln bestehender Roman, in dem die autodiegetische Erzählerin ihre Erinnerung an eine Fahrt nach Kielce, jene Stadt in Polen, aus der ihre Großeltern mit ihren Kindern nach Paris ge‐ flohen sind, präsentiert. Im ersten Teil schildert die Erzählerin das Warten auf die Abfahrt des - mehr‐ fach als verspätet gemeldeten - Zuges, wobei sie Erinnerungen und Reflexionen über ihr Leben mit Beobachtungen der gemeinsam mit ihr auf dem Bahnsteig 86 wartenden Passagiere verbindet. Die Erzählerin ist in Paris 87 aufgewachsen und sah sich in einem als Schnei‐ derwerkstatt betriebenen Haushalt konfrontiert mit einer unauflöslichen Triade, die aus ihrer Großmutter, deren Sohn (dem Vater der Erzählerin) und deren Tochter (der Tante der Erzählerin) bestand und, isoliert von jeglicher grö‐ ßeren Gemeinschaft, einer ungeliebten, offensichtlich als „Sklavenarbeit“ 88 empfundenen Tätigkeit nachging. Über ihre Herkunft und Vergangenheit hüllen sie sich in tiefes Schweigen. In dieser bedrückenden Atmosphäre scheidet die Mutter der Erzählerin frühzeitig aus dem Leben. Dank ihrer Sprachfertigkeit absolviert die Erzählerin erfolgreich ein Studium und legt verschiedene Examina ab, womit sie einer zwar nie explizit geäußerten, gleichwohl zu vermutenden Erwartung ihres Vaters und seiner Schwester entsprechen dürfte. Eine journa‐ listische Tätigkeit führt sie sodann auf einen anderen Kontinent, in eine Haupt‐ stadt mit einer kolonialen Vergangenheit. Als sie eines Nachts telefonisch vom Tod ihrer ihr immer fremd gebliebenen Großmutter erfährt, verspricht sie spontan, schnellstmöglich nach Hause zurückzukehren. In diesem Moment hat Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 520 89 Vgl. ebd. S. 19: „[…] je n’étais pas installée mais posée, comme ils étaient posés depuis des dizaines d’années […]“ 90 Ebd., S. 174. 91 Zur Thematik der „inneren Stimmen“ vgl. Bung 2010. sie den Eindruck, nicht wirklich beheimatet, eingewurzelt, sondern nur „abge‐ stellt“ zu sein, so wie es ihre Verwandten seit Jahrzehnten in Frankreich erlebt haben. 89 Bei ihrer Rückkehr nach Paris muss sie resigniert feststellen, dass sie nicht in ihrer eigenen, sondern in der Vergangenheit ihres Vaters und seiner Schwester, die sich durch den Tod der Mutter um Jahrzehnte in die Zeit ihres Aufbruchs nach Frankreich zurückversetzt fühlen, angekommen ist, in einer Welt des Schweigens und der Verweigerung jeglicher Anpassung an die Umwelt. Die Unsicherheit, was denn ihr Leben ausmache, veranlasst die Erzählerin zu dem Entschluss, nach Kielce in Polen zu reisen, um dort eine Antwort auf die Fragen nach ihrer Herkunft („origine“) zu finden. Von ihrem Vater und dessen Schwester, ihrer Tante, ist eine Antwort nun auch deswegen nicht mehr zu er‐ warten, da sie inzwischen an Alzheimer erkrankt sind. Im mittleren Abschnitt schildert die Erzählerin die Zugfahrt nach Kielce und erzählt insbesondere von einem Gespräch mit einer aus Oswiecim (Auschwitz) stammenden Frau, die ebendort nach dem Krieg als Literaturdozentin gearbeitet hat. Der dritte Teil ist auf den Besuch in Kielce bezogen, wo die Ich-Erzählerin den Fluss, den Friedhof und das Haus ihrer Familie aufsucht. Über eine „innere Stimme“ tritt sie dort, wie schon zuvor auf dem Bahnsteig, in Kontakt mit dem älteren Bruder ihres Vaters und ihrer Tante, der bei dem Versuch, seinem bereits in den Westen vorgereisten Vater zu folgen, in einem kleinen Fluss ertrunken ist. Am Ende ihres Besuches in Kielce stellt sie resigniert fest, dass ihr das er‐ hoffte „au revoir“ als Abschied jener, die zu neuen Ufern aufbrechen, wohl ebenso wenig gelingen werde wie zuvor ihren Verwandten. Nach Paris zurück‐ gekehrt, fühlt sie sich in der Nähe ihres Vaters und ihrer Tante zwar nicht am richtigen Platz, hört jedoch, wie ihre innere Stimme sagt: „Je vais m’étendre à côté d’eux, rester dans leur univers sans lutte […] et puis fermer les yeux, m’en‐ dormir.“ 90 Die Erzählerin bedient sich einer weitgehend monologischen Darstellungs‐ form, die sie allerdings immer wieder durch den Einschub „innerer Stimmen“, die in der Form der direkten Rede insbesondere dem Vater und seinen Geschwi‐ stern, aber auch ihr selbst zugeordnet sind, auflockert. 91 Ein weiteres narratives Element bilden die sieben den Erzählfluss unter‐ brechenden, durch Kursivdruck hervorgehobenen Exkurse über die Schneeeule. Ein flüchtiger exemplarischer Blick auf den vierten, also in einer Mittelstellung Themenfeld II 521 92 Wajsbrot 2005a, S. 95 f. 93 Zu den Exkursen über den „harfang des neiges“ vgl. Ette 2005, S. 242 f. und Bung 2010, S. 202-204. 94 Wajsbrot 2005b, S. 9. 95 Ebd., S. 20. 96 Ebd., S. 26. befindlichen Exkurs 92 genügt, um zu erkennen, dass die Erzählerin mit der Schneeeule nicht nur traditionsgemäß Klugheit assoziiert, sondern mit ihr und ihrem unberührten Habitat die Vorstellung der Unendlichkeit und Grenzenlo‐ sigkeit verbindet, so dass die gewöhnlichen Maßstäbe für Raum und Zeit jegliche Geltung verlieren. Damit schafft die Erzählerin eine Gegenwelt nicht nur zu ihrem eigenen als eng und erstickend empfundenen Lebensraum, sondern auch zu jenen Orten, die als „lieux de mémoire“ an unsägliche Verbrechen, an Unter‐ drückung und Flucht erinnern. 93 Fugue (2005b) Fugue ist ein wie Mémorial im Jahre 2005 erschienener, aus fünf Kapiteln be‐ stehender Erzähltext, in dem die autodiegetische Erzählerin ihre fluchtartige Übersiedlung von Paris nach Berlin schildert. Im ersten Kapitel mit der Überschrift Hasard umreißt die in ein Museum für moderne Kunst in Berlin geflüchtete Erzählerin mit dem einleitenden Satz das sie „bewegende“, ursächlich jedoch nicht erklärte Problem: „Je recommence tout, je repars à zéro, je ne sais plus qui je suis, bien sûr, j’ai un nom mais c’est bien tout ce qu’il me reste […].“ 94 Sie befindet sich auf dem Weg zu einem radikalen Neuanfang, da sie sich ihrer eigenen Identität nicht mehr sicher ist, seitdem sie sich in Paris beobachtet und überwacht fühlt. Als entlastend und befreiend empfindet sie offensichtlich, „ […] ce qui me vient […]“ zu notieren, ohne es zu reflektieren. Auf diese Weise gelingt es ihr, etwas zu vergessen, denn „[…] c’est cela que je cherche, à vider ma mémoire“ 95 . In dem Départ überschriebenen zweiten Kapitel schildert die Erzählerin ihre überhastete Abfahrt aus Paris, die Zugfahrt nach Berlin, die sie mit alptraumar‐ tigen, bis zu Todesvorstellungen gesteigerten Ängsten erlebt, und die als be‐ freiend empfundene Ankunft ebendort. Die zu Beginn des Kapitels wie ein Hoffnungsschrei wirkenden Worte „Je disparais“ 96 bringen den die Erzählerin umtreibenden Wunsch zum Ausdruck, die Vergangenheit mit allen Belastungen hinter sich zu lassen und Raum für ein neues Leben zu gewinnen. Rencontre, das dritte und längste Kapitel des Romans, handelt von der Be‐ gegnung zwischen der Erzählerin und einem rätselhaften Mann, der mit seinen Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 522 97 Ebd., S. 44. 98 Ebd., S. 72. 99 Zitate ebd. S. 72 f. 100 Wajsbrot 1982, S. 87. Avancen bei ihr auf ein „[…] vide immense […]“ 97 trifft. Mit seiner gelegentlich einnehmenden Art weckt er in ihr ein starkes erotisches Verlangen, zugleich jedoch brüskiert er sie durch seine Unzuverlässigkeit und Undurchdringlichkeit. Die entscheidende Frage nach seiner wahren Identität stellt sie nicht. Nachdem sie erleben musste, dass er die Bekanntschaft mit ihr leugnet, fühlt sie sich ori‐ entierungslos und verlassen. Zu Beginn des vierten Kapitels, Errance, nimmt die Erzählerin den Leitge‐ danken der Flucht und des Verschwindens wieder auf. Das Kapitel besteht aus assoziativ aneinander gereihten Erinnerungen, Eindrücken und Beobach‐ tungen. Die Erzählerin ist fasziniert vom Chaos einer im Wiederaufbau befind‐ lichen Stadt, reiht sich ein in den Strom der Menschen und entwickelt eine Vor‐ liebe für den Alexanderplatz, dessen „[…] banalité […]“ und „[…] absence de beauté […]“ 98 mit ihrer Einsamkeit in Einklang stehen. Der in den Himmel ra‐ gende Fernsehturm wird für sie „[…] un veilleur“ 99 . Ihre Suche nach einem Buch über das Verschwinden von Helden, die keine Nachricht hinterlassen, bleibt er‐ folglos. Mit dem Silence betitelten Schlusskapitel schließt sich ein Kreis, insofern die Erzählerin nun erstmals den Grund für ihr Verschwinden benennt und - an das Lesepublikum gewandt - nicht ausschließt, dass man ihre Erklärungen als Beichte empfinden könnte. Vom Balkon ihrer Wohnung in der 5. Etage eines Mietshauses in Paris wirft sie einen - für sie mit der Geschichte einer geschei‐ terten Beziehung verbundenen - Stein auf die Straße, hört Schreie und erfährt, dass ein Radfahrer verunglückt ist. Die Frage ihrer Schuld bleibt ungeklärt. Eine Selbstanzeige schließt sie aus, da es sich um eine von ihr allein zu klärende „histoire intérieure“ 100 handle. Stattdessen entschließt sie sich zur „Flucht“ nach Berlin. Themenfeld III Une vie à soi (1982) In Cécile Wajsbrots 1982 erschienenen Erstlingsroman Une vie à soi werden, wie bereits in Kapitel 1 deutlich wird, die rein fiktionale, im Jahr 1981 situierte Vor‐ dergrundhandlung und eine sich um Virginia Woolf, ihre persönliche Umgebung und die Figuren ihrer Romane rankende Hintergrundhandlung miteinander Themenfeld III 523 101 Ebd., S. 16. verschränkt. Letztere wird durch biographische und zeitgeschichtliche Daten und Auszüge aus authentischen Briefen historiographisch dokumentiert, zu‐ gleich aber fiktional aufbereitet. Die heterodiegetische Erzählinstanz bedient sich in starkem Umfang der Technik der internen Fokalisierung, sodass die Sichtweise Virginias und der 31-jährigen Magazin-Journalistin Anne Figuières im Erzählfluss deutlich hervortreten. Die in Paris lebende Anne Figuières entdeckt in einem Buchladen den erst‐ mals 1928 erschienenen Essay A Room of One’s Own von Virginia Woolf. In dem Titel erkennt Anne eine Anspielung auf ihre häusliche Situation, die durch die Anwesenheit des von ihrem Mann Olivier eingeladenen Jérôme, der sich von seiner Frau Nathalie scheiden lassen will, seit nunmehr zwei Monaten beein‐ trächtigt wird und in ihr das Gefühl, erstickt zu werden, auslöst. Zutiefst be‐ eindruckt ist Anne zudem von einem Porträt der Dichterin, deren eigentümlich melancholischer Blick in ihr ein nachhaltiges Interesse für die 1941 durch Suizid aus dem Leben geschiedene Virginia Woolf weckt. Bei ihrer Woolf-Lektüre stößt Anne im Tagebuch der Dichterin (Journal d’un écrivain) auf den vom 25. Mai 1932 datierenden Eintrag: „Terrifiant, la déraison! Écrirai-je un jour un livre là-dessus? “ 101 Die fast wie ein Vorsatz wirkende Frage der Schriftstellerin lässt in Anne den Entschluss reifen, in England zu recherchieren, ob und ggf. in wel‐ cher Form sich Virginia Woolf zum Thema „déraison“ geäußert hat. Von ihrer Kollegin Véronique bekommt Anne den Hinweis, dass sie in London u. U. bei der Sängerin Jane Handy, die sie vor 2 Jahren in London anlässlich einer Reportage kennen gelernt hat, wohnen könne. Nach ihrer Ankunft in London stellt Anne rasch fest, dass es zwischen Jane und Véronique eine enge homoerotische Beziehung gegeben hat, die sowohl bei Jane als auch bei Véronique emotional nachwirkt. Zwischen Anne und Jane entsteht bereits in London ein intensives intimes Verhältnis, das allerdings durch Annes Verbindung mit Olivier, die alte Bezie‐ hung zwischen Jane und Véronique und Janes im Unklaren bleibende Sympa‐ thien für den Musiker Bob kompliziert wird, aber gleichwohl einen mehrmo‐ natigen Besuch Janes in Paris zur Folge hat. Auf der Suche nach einem Buch Virginia Woolfs über die „déraison“ vertieft sich Anne mit obsessiver Hartnä‐ ckigkeit in das Leben und Werk der ihr wesensverwandten Dichterin, deren Leben sie in einem Tagebuch nachzuvollziehen versucht. Gleichzeitig arbeitet sie an einem Roman über Virginia, ihre Romanhelden und Zeitgenossen. Das die beiden Frauen Verbindende liegt in ihrer Lebensform, die durch die Gleich‐ zeitigkeit einer hetero- und homoerotischen Beziehung (Virginia war verhei‐ Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 524 102 Wajsbrot 2002a, S. 115. 103 Vgl. ebd., S. 10: „[…] les maisons inachevées ne sont pas habitées, les gens ne sont pas encore arrivés […]“ und S. 110: „[…] quelques magasins se sont installés, magasins d’a‐ limentation, de journaux, boulangeries, artisans […]“. 104 Ebd., S. 110. 105 Vgl. ebd., S. 112: „[…] ce sont nos angoisses et nos aspirations qui prennent forme d’ab‐ bayes ou de forêts, de vastes grèves, de rochers découverts à marée basse.“ ratet mit Leonard Woolf und unterhielt eine intime Beziehung zu Vita Sack‐ ville-West) gekennzeichnet ist, betrifft darüber hinaus jedoch die Gleichsetzung zwischen Leben und Schreiben und eine - auch daraus resultierende - Anfäl‐ ligkeit für Depressionen, die Virginia Woolf in drei vergebliche Suizidversuche und 1941 schließlich in den Freitod treiben. Nachdem Anne die Erfahrung einer Fehlgeburt hat machen müssen, einen Suizidversuch überlebt und ihren „Roman“ abgeschlossen hat, trifft sie am Todestag Virginia Woolfs eine bewusste Entscheidung gegen Olivier und für die in die „neue Welt“ nach New York auf‐ brechende Jane, die ihr dadurch erleichtert wird, dass in New York weitere Ma‐ nuskripte Virginia Woolfs auf sie warten. Caspar Friedrich Straße (2002a) Der 2002 erschienene Text Caspar Friedrich Strasse, den die Autorin Cécile Wajs‐ brot als „récit“ bezeichnet hat, 102 besteht aus 9 Kapiteln, die als Überschrift je‐ weils den Titel eines der vornehmlich in der Alten Nationalgalerie in Berlin ausgestellten Bilder Caspar David Friedrichs tragen. Als Erzählrahmen dient die 10 Jahre nach der Wende zu situierende fiktive Einweihung einer neu angeleg‐ ten, also nicht geschichtsträchtigen und obendrein nicht bewohnten Straße, 103 einer „[…] rue normale comme il y en a dans d’autres villes […] comme il y en a peu ici“ 104 . Der autodiegetische Ich-Erzähler, ein 1945 geborener, in Ostberlin aufgewachsener Dichter, übernimmt in dem ganzen Text die Rolle eines frei sprechenden, sich nur gelegentlich an anonymisierte Zuhörer („vous“) wen‐ denden Redners, der in seinem Monolog Betrachtungen über die jeweiligen Bilder, die im Text nicht wiedergegeben sind, mit historisch-philosophisch ge‐ prägten Erzählungen und Reflexionen verschränkt. Eine solche Verbindung ge‐ lingt ihm, da er meint, dass Caspar David Friedrich in seinen Gemälden in un‐ terschiedlicher Gestaltung sowohl die Ängste der Menschen als auch ihre Sehnsüchte darstelle. 105 Überzeugt von der epochenübergreifenden Bedeutung des Malers der Romantik, erklärt der Erzähler, dass Friedrich zur Zeit der Berlin teilenden Mauer dieselben Bilder gemalt hätte wie vor annähernd 200 Jahren Themenfeld III 525 106 Vgl. ebd., S. 22f: „[…] et si Caspar David Friedrich avait vécu à l’époque du mur, il aurait peint les mêmes tableaux, les mêmes aspirations, qu’on aurait expliqués de la même façon mais avec d’autres noms. Le désir de liberté et de démocratie - au lieu de l’au‐ tocratisme impérial, celui du Comité central - le même appel à une transcendance qu’au lieu de nommer Dieu on pourrait nommer l’idéal.“ 107 Vgl. ebd., S. 65: „Le temps s’est arrêté sur cette route.“ 108 Ebd., S. 64. 109 Ebd., S. 79. und diese - wenn auch in veränderter Terminologie - in derselben Weise erklärt worden wären. 106 Exakt in der Mitte des „récit“, im fünften Kapitel, setzt die Schilderung einer weit in die Biographie des Ich-Erzählers zurückreichenden Liebesgeschichte ein, die sowohl aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt durch die Teilung Berlins bestehenden äußeren Bedingungen als auch durch persönliche Empfindlich‐ keiten vom ersten Moment an zum Scheitern verurteilt ist: Anlässlich der Be‐ erdigung der Großmutter des Erzählers erhält die Familie eine Reiseerlaubnis für Westberlin. Nach der Bestattung lernt der verheiratete Erzähler auf einem Nachbarfriedhof eine etwa zehn Jahre jüngere Studentin kennen, in die er sich spontan verliebt. Die junge Frau trauert am Grab ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester, die bei einem Verkehrsunfall zu Tode gekommen ist. Ihre Trauer ist umso größer, da sie selbst den Unfall, mit dem für sie die Zeit stehen geblieben ist, 107 überlebt hat. Dem sich mit den Worten „Je suis de l’Est […] je ne fais que passer“ 108 vorstellenden Erzähler gelingt es nicht, eine emotionale Brücke zwi‐ schen sich und der trauernden Frau zu schlagen. Gleichwohl vereinbaren die beiden eine Korrespondenz, die 15 Jahre andauern wird. Seine Gedichte lässt der Verfasser des Cycle du Veilleur der von ihm geliebten Frau jedoch nicht zu‐ kommen. Unterdessen zieht die Frau von Westberlin nach Hamburg, wo sie, wie schon zuvor in Westberlin, an der Universität Vorlesungen über Literatur hält. Sie hei‐ ratet und bekommt Kinder. Auch der Erzähler wird Vater eines Sohnes und einer Tochter, obwohl er seine Frau nicht wirklich liebt. Nach dem Fall der Mauer kehrt die Frau von Hamburg nach Berlin zurück. Dort kommt es nach einem Jahr zu einem Treffen am Grab der Schwester - die Frau hatte sich nicht getraut, es allein aufzusuchen. Sie erklärt dem Erzähler, dass sie seine Briefe „[…] comme des balises sur [son] chemin, des viatiques […]“ 109 empfunden habe. Auf weitere Hilfsangebote des Erzählers reagiert sie jedoch ablehnend. Als der Erzähler ihre Frage, ob er Dichter sei, bejaht, wirft sie ihm vor, mit ihren Gefühlen gespielt und sie als Quelle der Inspiration ausgenutzt zu haben. Sie habe zwar keinen seiner Texte gelesen, sei aber darüber informiert worden und fühle sich daher belogen und getäuscht. Zu seiner Rechtfertigung führt der Erzähler aus, dass er Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 526 110 Ebd., S. 113. 111 Zimmermann 2010, S. 133. sie - aus Angst, sie zu verlieren - vor der Absolutheit seiner Ansprüche habe schützen wollen. Als er die Frau zufällig fünf oder sechs Jahre später in Beglei‐ tung eines offensichtlich wohlhabenden Geschäftsmanns auf der Insel Rügen trifft, sprechen die beiden noch einmal miteinander, ohne sich dabei besser zu verstehen. Auch nachdem die Frau die Gedichte des Ich-Erzählers gelesen hat, fühlt sie sich von ihm verraten. Der Erzähler tritt auf wie ein Orpheus, dessen Eurydike darüber klagt, dass er versäumt habe, sich nach ihr umzuschauen. Gegen Ende des Textes definiert der Dichter-Erzähler seine eigene Befind‐ lichkeit: „Nous sommes surtout prisonniers de nous-mêmes. […] Mais il suffit d’un changement de perspective, d’un mouvement - lever les yeux au lieu de les baisser - et nous découvrons d’autres possibilités, des ouvertures que nous n’aurions jamais imaginées.“ 110 Le Tour du lac (2004a) In Le Tour du Lac, einem von Margarete Zimmermann als „Konversations‐ roman“ 111 bezeichneten Text, präsentiert Cécile Wajsbrot eine autodiegetische Erzählerin, die Schriftstellerin ist, aber seit drei Jahren nicht mehr schreibt. Die Erzählerin trifft bei einem ihrer sonntäglichen Spaziergänge, bei denen sie einen im Bois de Boulogne gelegenen See umkreist, zufällig auf einen 25 Jahre alten Mann, der, wie sie bald feststellt, gelegentlich aushilfsweise als Kellner in einem Café arbeitete, das sie - vor einem Umzug in einen anderen Stadtteil von Paris - regelmäßig aufsuchte. Die Erzählerin ist als Tochter einer Familie von noch in Frankreich verfolgten Einwanderern in dem vornehmen Pariser Vorort Neuilly am Rande des Bois de Boulogne aufgewachsen. Was diese Außenseiterrolle für sie in ihrer Kindheit und Jugend bedeutete, vermitteln ihre inneren Monologe sowie ihre Gespräche mit dem jungen Mann. Anerkennung und Integration in ihre Altersgruppe er‐ fuhr sie als offensichtlich hoch motivierte und begabte Schülerin lediglich wäh‐ rend des Unterrichts, die gesellschaftliche Ausgrenzung setzte bereits während der Pausen ein. So bedeutete für sie der Umzug nach Paris und der damit ein‐ hergehende Beschluss, zu schreiben, einen bewussten Akt der Befreiung. Als sie als Schriftstellerin nicht die gewünschte öffentliche Anerkennung findet und obendrein ihren eigenen literarischen Ansprüchen nicht länger gerecht wird, beschließt sie, mit dem Schreiben aufzuhören. Bei allen Unterschieden im Hinblick auf das Lebensalter und die Lebenser‐ fahrung entwickelt sich zwischen der Erzählerin und dem jungen Mann ein Themenfeld III 527 112 Vgl.Wajsbrot 2004a, S. 94: „Cette buvette à laquelle je n’avais jamais prêté attention devenait le lieu le plus important […]“ 113 Vgl. ebd., S. 155: „[…] comme au lycée, le passé était à la fois présent et invisible, proche mais inaccessible.“ 114 Ebd., S. 157. Verhältnis, das einen intensiven Gedankenaustausch ermöglicht. Was die Er‐ zählerin und den jungen Mann verbindet, ist, dass sie sich in Entscheidungssi‐ tuationen befinden, die für beide - auf je unterschiedliche Weise - eine Loslö‐ sung aus bestehenden Verhältnissen und einen Aufbruch zu neuen Ufern bedeuten. So wird es für sie und ihn zu einem Bedürfnis, sich möglichst regel‐ mäßig an jedem Sonntag zur selben Zeit am selben Ort, an einer von der Er‐ zählerin zuvor nicht einmal beachteten, nun aber zum „wichtigsten Ort“ 112 ge‐ wordenen Bar, zu treffen, um einen „tour du lac“ zu unternehmen. Die Erzählerin denkt beim Rundgang um den See über ihre anhaltende, sie zermürbende Schreibblockade nach und stellt sich selbst die Frage, ob es für sie sinnvoll sei, das Schreiben - trotz der damit verbundenen Einsamkeit und ge‐ sellschaftlichen Isolierung - wieder aufzunehmen. Der homosexuell veranlagte junge Mann hingegen klagt über die finanzielle Abhängigkeit von seinem au‐ toritär-reaktionären Vater, der ihm aus ideologischen Gründen verboten hat, Geschichte zu studieren und die finanzielle Unterstützung davon abhängig macht, dass der Sohn seinen homoerotischen Neigungen abschwört. Als der junge Mann eines Sonntags der Erzählerin eröffnet, dass sich ein alter Freund bei ihm gemeldet habe und er vor der Frage stehe, ob er die Beziehung wieder aufzunehmen solle, ermutigt die Erzählerin ihn, dies zu erproben. Sie verbindet damit den Rat, sich gegenüber seinen Eltern, insbesondere dem be‐ stimmenden Vater, zu seiner homoerotischen Neigung zu bekennen und alle möglichen Konsequenzen hinzunehmen. Die Erzählerin kommt, beeinflusst durch die Begegnung mit dem jungen Mann und ihre Reflexion über das Gemeinsame in ihren sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen, für sich selbst zu dem Schluss, dass sie ein sinnvolles Leben nur als Schriftstellerin führen kann. Als sie bei der Rückkehr aus dem Bois de Boulogne noch einmal ihr altes Gymnasium und die elterliche Wohnung auf‐ sucht, ist der Zugang jeweils durch Gitter versperrt, sodass die Vergangenheit sowohl „präsent als auch unsichtbar, nahe und unzugänglich“ 113 erscheint. Bei diesem Anblick wird der Erzählerin klar, was sie zu tun hat: „J’allais écrire, rien d’autre ne comptait […]“ 114 Der „junge Mann“ nimmt den Bruch mit seinen Eltern in Kauf, obwohl die wieder aufgenommene Beziehung zu einem ehemaligen Freund offensichtlich keine längerfristige Perspektive eröffnet. Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 528 115 Vgl. dazu Wajsbrot 2007, Postface, S. 173 f. 116 Da das Nomen „maître“ in Conversations avec le maître keineswegs nur auf die Bedeu‐ tungen ‚maître de chapelle‘ bzw. ‚maître de musique‘ eingeengt werden kann, sondern insbesondere auch im Sinne von ‚personne dont on est le disciple, que l’on prend pour modèle‘ (Le Petit Robert, S. 1544f.) gebraucht wird, ist eine angemessene deutsche Über‐ setzung unmöglich. Der Begriff „Maestro“ bedeutet im Deutschen lediglich ‚großer Musiker, Komponist, Dirigent‘ und spiegelt damit nicht die wichtigen Funktionen wider, die der „Maître“ für die Erzählerin hat. 117 Vgl. ebd., S. 162. 118 Vgl. ebd., S. 11, 12, 15. Conversations avec le maître (2007) Mit Conversations avec le maître eröffnet Cécile Wajsbrot im Jahre 2007 eine Haute Mer betitelte Romanreihe über „das Kunstwerk und seine Rezeption“. 115 Der erste Roman dieser Serie ist auf die Musik bezogen. Als autodiegetische Erzählerin fungiert in Conversations avec le maître eine ca. 30-jährige Immobilienmaklerin, die in den Bannkreis eines ungefähr 20 Jahre älteren, zurückgezogen lebenden Komponisten gerät, den sie zwei Jahre lang an jedem Abend in seiner Wohnung im fünften Stock eines Wohnhauses in der Innenstadt von Paris aufsucht. Während sie von dort aus den Blick auf die be‐ deutenden Bauwerke der Stadt genießt, lauscht sie den Monologen des von ihr im Text „Maître“ 116 genannten Künstlers, der über die Musik im Allgemeinen, sein Werk im Besonderen und seine Stellung in der Gesellschaft spricht. Neben den Begegnungen mit dem Maître nehmen die Nachrichten über einen Tsunami und die Opfer dieser Naturkatastrophe die Erzählerin gefangen. In große Ge‐ wissensnot gerät sie überdies durch die Bekanntschaft mit einer jungen, seit Jahren illegal in Paris lebenden und als Reinigungskraft arbeitenden Frau aus der Ukraine, einer Russischlehrerin, die ohne Erfolg nach einer bezahlbaren Wohnung sucht und in der Erzählerin eine Ansprechpartnerin findet, die durch die erbarmungslosen Gesetze des Wohnungsmarktes, aber wohl auch durch ihre mangelnde Bereitschaft, die Frau für einen begrenzten Zeitraum bei sich auf‐ zunehmen, in Konflikte gerät. Der Maître verkörpert einen Typ von Künstler, der danach strebt, in seinem Werk die Grenzen von Raum und Zeit zu transzendieren. Dabei sieht er sich jedoch umstellt von Gegnern und Kritikern, denen er nicht nur vorwirft, seine Leistungen als Brückenbauer zwischen Tradition und Avantgarde zu verkennen, sondern ihn obendrein „aus der Welt verjagen zu wollen“. 117 Er selbst arbeitet, wie er behauptet, an einem Requiem. Nur durch die kreative Tätigkeit des Kom‐ ponierens, die er mit einem „saut dans le vide“ 118 vergleicht, glaubt er, sich aus seiner Einsamkeit und der Umzingelung durch seine Gegner befreien zu können. Themenfeld III 529 119 Vgl. ebd., S. 9 und S. 32. 120 Vgl. ebd., S. 61: „Je partis avec l’impression que je ne reviendrais pas, que quelque chose s’était rompu, non tant entre le maître et moi qu’en moi-même, que rien n’avait plus de sens.“ 121 Vgl. ebd., S. 146f: „Cette coïncidence venait renforcer l’impression que j’avais eue, […] que cette jeune femme avait un lien caché avec le maître ou qu’ils étaient les deux faces d’une même question.“ Die Erzählerin, die zunächst den Eindruck hat, durch die Begegnungen mit dem Maître aus der profanen Alltäglichkeit ihres Maklerdaseins „in eine andere Dimension“, „in eine andere Welt“ 119 vorzudringen, entwickelt im Laufe der Zeit eine zunehmende Skepsis gegenüber den Worten und - mehr noch - den Taten des Maître. Ihr Wunsch, eine seiner Partituren zu sehen bzw. eines seiner Werke zu hören, bleibt ebenso unerfüllt wie ihr erotisches Verlangen. Nach einem Pro‐ zess zunehmender Entfremdung erscheint ihr eine Fortsetzung der Besuche sinnlos. 120 Zwei Jahre nach Beendigung ihrer Kontakte mit dem Maître erfährt sie von einer dritten, mit dem Personalpronomen „vous“ apostrophierten Person, deren Beziehung zum Maître rätselhaft bleibt und die nun als Sachwalter des Verstor‐ benen auftritt, dass der Maître sich durch einen Sprung aus seinem Wohnzim‐ merfenster das Leben genommen habe. Zugleich wird sie mit der Vermietung seiner Wohnung beauftragt. Bei einer Inspektion der Wohnung erfährt sie, dass der Maître seit langer Zeit nicht mehr komponiert und sich seine Tätigkeit darin erschöpft hat, etwa zehn Noten in stets unveränderter Abfolge in endlosen Wie‐ derholungen zu notieren. Nach dem Tod des Maître hat im Leben der Erzählerin die junge Frau aus der Ukraine seinen Platz eingenommen. Der Erzählerin wird immer stärker bewusst, dass es eine „verborgene Verbindung“ 121 zwischen dem Maître und der Ukrai‐ nerin gibt, insofern beide aus einer anderen Wirklichkeit, einer anderen Welt kommen, so unterschiedlich sowohl ihre Ausgangslage als auch ihr Leben in Paris sind bzw. waren. Ihre Erinnerungen an die „conversations avec le maître“ hat sie auf Bitten der dritten Person aufgezeichnet. L’Île aux musées (2008a) In dem von Cécile Wajsbrot als Roman bezeichneten Erzähltext L’Île aux mu‐ sées, der sich durch eine offene, fraktale Strukturierung auszeichnet, werden zwei in Paris lebende, nicht miteinander bekannte Paare mitsamt ihrer Bezie‐ hungsproblematik vorgestellt. Ein erfolgreicher, hoch angesehener Maler ent‐ täuscht seine in der Sozialhilfe arbeitende Geliebte, da er ausschließlich Bilder Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 530 122 Vgl. Wajsbrot 2008a: Er bezeichnet sich als „professeur d’arts plastiques“ (ebd. S. 38) und spricht von seinen „Schülern“ (élèves, S. 41), nicht von „Studenten“ (étudiants). mit stark verstümmelten Körpern in verschiedensten Variationen malt, durch die sie sich abgestoßen fühlt. Um Abstand zu gewinnen, beschließt die Frau, ein als Flucht empfundenes Osterwochenende in Berlin zu verbringen. Das andere Paar bilden ein Kunstlehrer 122 und eine Buchhalterin, die sich nicht entschließen kann, ihrem fachlich kompetenten, aber menschlich recht spröden Partner das von ihm erhoffte Jawort zu geben. Auch der Kunstlehrer verbringt das Oster‐ wochenende - in gespannter Erwartung eines erlösenden Anrufs seiner Freundin - in Berlin, lernt dort die Geliebte des Malers kennen und besichtigt zum Teil gemeinsam mit ihr die Museumsinsel, wobei sie sich auch über ihre persönliche Situation austauschen und gegenseitig näher kommen. Gleichzeitig treffen sich in Paris die zurückgebliebenen Partner, der Maler und die Buchhal‐ terin, in den Tuilerien, lernen sich kennen und verbringen eine Liebesnacht miteinander. Der Maler fühlt sich durch die Gespräche und die Begegnung mit der Frau neu inspiriert und ermutigt, sich in seiner Malerei fortan inhaltlich der unsichtbaren Gefahren der Gegenwart anzunehmen und dabei formal mit der Farbe „Weiß“ zu experimentieren. Am Ende der Diegese werden die ursprüng‐ lichen Personenkonstellationen wiederhergestellt. Wie ein das Geschehen begleitender Chor wirken die Stimmen der in der Erzählung zum Sprechen gebrachten Statuen, die sowohl die Museumsinsel als auch die Jardins des Tuileries „bevölkern“. Formal werden sie durch ein ano‐ nymes „nous“ repräsentiert, das sich in unterschiedlichsten Situationen an ein gleichermaßen anonym bleibendes „vous“ wendet, mit dem keineswegs immer nur die Figuren der zwei Wochenendpaare gemeint sind. Mit ihrer raum- und zeitübergreifenden Kommentierung rücken die Stimmen der Statuen die relativ unbedeutenden Einzelschicksale der zwei Paare in einen grenzüberschreitenden historisch-zeitgeschichtlichen, ideen- und kunstgeschichtlichen Kontext. Eine zusätzliche kunst- und ideengeschichtliche Grundierung erfährt der in 12 Kapitel gegliederte Roman durch die in den Kapitelüberschriften angekün‐ digten Skulpturen und Installationen, die markante Punkte im Stadtbild von Berlin und Paris (und in zusätzlichen Kopien z. T. auch an anderen Orten) prägen. Informationen über die Künstler und über Hintergründe der Entste‐ hungsgeschichte der Werke sowie skizzenhafte Deutungen sind dem Hauptteil der Kapitel vorangestellt. Es ist, wie Roswitha Böhm und Margarete Zimmer‐ mann zu Recht anmerken, sicherlich bezeichnend, dass „[…] mit den beiden Kunstwerken von Marcks und Marino am Beginn und Ende dieses Reigens je‐ Themenfeld III 531 123 Böhm / Zimmermann 2010, S. 19. 124 Vgl. Wajbrot 2013, S. 12. 125 Als besonders markantes Beispiel sei der von einer dankbar bewundernden Stimme mehrfach geäußerte Satz „La vie existe“ erwähnt. Vgl. ebd., S. 47, 95, 192. 126 Der Mann hat monatelang im Hof des Louvre als Pantomime, als „homme statue“, Be‐ wegungslosigkeit und Schweigen vorgeführt und ist nun zum Sprechen zurückgekehrt. Vgl. ebd., S. 88 und 225. 127 Als appellative Signale sind insbesondere das - mit Ausnahme von Kapitel VII - überall verwendete Personalpronomen „vous“ und die in I, II und VII gebrauchten Imperative zu betrachten. Die vom Sprecher häufig gestellten Fragen erfüllen - im Sinne Roman Jakobsons - eine eher der Kontaktaufnahme dienende Funktion (fonction phatique). weils eine Skulptur, die die Stimme und den Akt des Rufens bzw. des Schreiens zum Ausdruck bringt, [steht]“. 123 Sentinelles (2013) Sentinelles, das 2013 erschienene dritte Werk des Romanzyklus La Haute Mer, ist der Videofilmkunst gewidmet. Einziger Ort des Geschehens ist das Centre na‐ tional d’art et de culture Georges Pompidou (Centre Beaubourg / Centre Pom‐ pidou), das u. a. das Musée National d’Art Moderne beherbergt und somit einen authentischen Rahmen für die Retrospektive der Werke eines kaum vierzigjäh‐ rigen 124 , anonym bleibenden Videofilmemachers abgibt. Auf ihre Stimmen re‐ duziert sind er und auch alle anderen, ebenfalls anonymen Figuren in dem im Hauptteil der Kapitel nur aus Dialogen, (inneren) Monologen oder Fragen be‐ stehenden Text. Eine Identifikation der Stimmen erfolgt im Leseakt vornehmlich über die Unterscheidung des inhaltlich Gesagten, zum Teil auch über sprach‐ lich-formale Merkmale wie z. B. Wiederholungen. 125 So lassen sich dem „vi‐ déaste“ unschwer sein Lebenspartner, seine ehemalige Freundin, die ihm als Vertraute noch immer nahe steht, ein ihm kritisch begegnender ehemaliger Stu‐ dienfreund, ein Rezensent und ein Bewunderer zuordnen. Zudem wird jedes der acht Kapitel eingeleitet durch unterschiedlich lange Reden einer vor dem Centre Pompidou stehenden und damit im wahrsten Sinne des Wortes zum Geschehen hinführenden Person, die sich, als ehemaliger Performancekünstler zum Rol‐ lenwechsel prädestiniert, stets an die vor dem Centre Pompidou anzutreffenden (I - VII ) oder nach dem Besuch der Vernissage von dort aufbrechenden ( VIII ) Menschen wendet. 126 Beinahe unmerklich übernimmt der „performeur“ damit Funktionen des Erzählers, insofern er den Beginn und das Ende der Ausstellung situativ erläutert (I, II , VIII ) oder aber in den nachfolgenden Kapiteln aufgegrif‐ fene Themen leitmotivisch ankündigt. Die im fiktionalen Kontext an das Pub‐ likum gerichteten appellativen Signale 127 gelten gleichermaßen der sich in den Besucherstrom integrierenden Leserschaft, die durch die Vermittlung zahlrei‐ Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 532 128 Vgl. Wajsbrot 2013, S. 102. - Aliette Armel weist sicherlich zu Recht darauf hin, dass die Uhrzeit eine Anspielung auf den für den 21.12. 2012 (im Maya-Kalender) vorhergesagten Weltuntergang ist. Vgl. www.magazine-littéraire.com/ mensuel/ 528/ pixellises-01-02-2013-60927, S. 2. 129 Vgl. Wajsbrot 2013, S. 170: Ils n’ont pas mis beaucoup de temps pour réparer. Le plus long était d’attendre - une durée infinie, impossible à mesurer, à embrasser. - Die an dieser Stelle zu Beginn des 6. Kapitels angezeigte Zeit (21 h 27) erfährt der „gardien“ im Gespräch mit den herbeigeeilten Technikern. Am Ende des Kapitels 5 sind von der Ankunft der Techniker im Gebäude (21 h13) bis zum Beginn ihrer Arbeit (21 h16) bereits drei Minuten verstrichen (S. 163 f.). Dies bedeutet, dass die Erzählung an den Moment der Unterbrechung der „realen“ Zeit wieder anknüpft. Die Phase der Dunkelheit wird folglich aus dem Ablauf der tatsächlichen Zeit herausgehoben. 130 Teil I: Kapitel I-IV, S. 7-100; Teil II, Kapitel V: S. 100-163; Teil III, Kapitel VI und VII: S. 163-252. 131 Ebd., S. 109. 132 Vgl. zu den Zitaten und zum Kontext ebd., S. 114 f. cher, über den Text hinausweisender Informationen, also die „fonction référen‐ tielle“ der Sprecherrede, in den Prozess des Informationsaustausches einbezogen wird. Nach der Eröffnung der Ausstellung hüllt ein Stromausfall um 21.12 Uhr 128 alle Säle im Centre Pompidou für eine als „unendlich empfundene Dauer“, die nicht der „realen Zeitrechnung“ unterliegt, 129 in Finsternis. Der chronologische Ablauf des Textes ist in drei Teile gegliedert: die Zeit vor dem totalen Strom‐ ausfall, die Phase der Dunkelheit und den auf die Rückkehr des Lichts folgenden Zeitraum. 130 Im ersten Teil ist aus unterschiedlichen Äußerungen zu entnehmen, dass sich der Künstler in Werken wie L’Ascenseur, La Poste oder La Banque mit dem Thema „Masse“ (la foule) auseinandersetzt. Die Resonanz auf seine Werke ist unter‐ schiedlich, insofern sie sowohl grenzenlose Bewunderung als auch Kritik und Enttäuschung auslösen. Aus dem fließenden Besucherstrom wird mit dem Einbruch der Dunkelheit eine unbewegliche, z. T. verängstigte Masse. Infolge des Stromausfalls sind alle Anwesenden gleichgestellt, der Künstler ist nicht länger der „Zielpunkt“ (point de mire 131 ) des allgemeinen Interesses. Er nutzt diesen Umstand, um über sein zukünftiges Werk nachzudenken. Es gelte fortan, Schatten in der Nacht zu filmen, deren Umrisse kaum zu unterscheiden, aber zu erraten seien. Auch gehe es darum, Bewegung wahrzunehmen und sie als einzige Spur von Anwesenheit zu benennen. Er strebe ein abschließendes Werk ([une] œuvre finale) an, das alle anderen „überflüssig“ (inutiles) erscheinen lasse. 132 Mit Rückkehr des Lichtes werde er sich auf die Suche machen, um folgendes Ziel zu erreichen: Themenfeld III 533 133 Bzgl. Zitat und Kontext vgl. ebd., S. 150 f. 134 Zitate Wajsbrot 2013, S. 180. 135 Wajsbrot 2014, S. 104. Donner une idée de l’ombre qui accompagne chacun de nous, qui s’attache à nos pas, filmer les ombres au lieu des êtres pour donner une idée de ce qui nous habite. […] Filmer les ombres qui nous accompagnent sur les parvis, les terrasses. Effacer l’immédiat, le direct, les présences trop connues. [Hervorhebung H. H.] 133 Als Teil der großen Menge (nous) hat der Künstler, wie er nach der Rückkehr des Lichts feststellt, die Dunkelheit als „[…] une interruption du monde connu […]“ 134 erlebt. Er fühlt sich bestärkt in seiner Absicht, seine während der Verdunkelung der Räume gefassten Absichten bzgl. einer Neuorientierung seiner künstlerischen Arbeit zu verwirklichen. Den durch anonyme „Stimmen“ repräsentierten Besucherinnen und Besuchern der Vernissage wird klar, dass sie „un autre monde“, ein „au-delà des villes“, eine „Ent-grenzung“ ihres bisherigen Erfahrungs- und Erlebnisraums entdeckt haben. Sie werden damit zu „senti‐ nelles“ in einer durch das „Unsichtbare“ beherrschten Wirklichkeit. Um 22.30 Uhr beschließt der Künstler, seinen an Kunst nicht interessierten Lebenspartner, der sich von ihm losgesagt hat, aufzusuchen, um ihn zu einer Meinungsänderung zu bewegen. Totale Éclipse (2014) Totale Éclipse, erschienen im September 2014, ist der vierte Roman, den Cécile Wajsbrot in der Reihe Haute Mer veröffentlicht hat. In 15 Kapiteln, die jeweils den Namen eines Albums französischer Chansons (Françoise Hardy: Le Danger, Kapitel 8) oder von Alben oder einzelnen Songs angloamerikanischer Herkunft im Titel tragen, beschreibt die als Fotografin arbeitende autodiegeti‐ sche Erzählerin ihre künstlerische Entwicklung, die, was die Darstellung von Menschen anbelangt, von Porträtaufnahmen zu Rückenansichten führt. In diese Darstellung verwoben sind Erinnerungen an ihr Verhältnis mit einem ungari‐ schen Dichter, das „[…] au début des années 2000 […]“ 135 datiert wird, sowie an die kurze, intensiv erlebte und gleichwohl fast wortlos geführte Beziehung zu einem Fremden, der in Anlehnung an den Rainmaker Blues der Gruppe Walka‐ bouts als „le faiseur de pluie“ apostrophiert wird und sich für eine Serie von Rückenaufnahmen zur Verfügung stellt, mit denen die Erzählerin-Fotografin schließlich erfolgreiche Ausstellungen, die sie nach London und New York führen werden, bestreitet. Die Erzählerin lässt sich in der reflektierenden Beschreibung ihres persönli‐ chen und beruflichen Werdegangs sowohl vom Inhalt als auch von der musi‐ Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 534 136 Ebd., S. 209. 137 Vgl. ebd., S. 207. 138 Ebd., S. 204. 139 Ebd., S. 26. 140 Wajsbrot 2010a, S. 31. 141 Ebd., S. 32. kalischen Gestaltung der jeweils im Titel angekündigten Werke inspirieren und stellt zahlreiche Bezüge zwischen ihren eigenen künstlerischen Zielen und den ausgewählten Chansons bzw. Songs her. Unter dem Eindruck der von starken Angst- und Verlusterfahrungen beherrschten Texte und Melodien erklärt sie jedoch am Ende des Romans, nie mehr Chansons bzw. Songs hören zu wollen, um sich vor dem Einfluss von Gefühlen auf ihr Leben - Un assassinat en douceur - 136 zu schützen. Damit einher geht ihre Entscheidung, nicht nur die Erinnerung an die Begegnungen mit dem ungarischen Dichter und dem Regen‐ macher, sondern diese Begegnungen als solche „auszulöschen“. 137 Sie wählt ihren beruflichen Ehrgeiz als „[…] seule compagnie. Fidèle, dévoreuse, ul‐ time“ 138 . In den Kapiteln 2, 6 und 11 lockert die Erzählerin ihre ansonsten auktorial fokussierte Erzählweise durch eine dialogisierte Darstellungsform auf. Die „Stimmen“ sind entweder eindeutig erkennbaren dritten Personen zuzuordnen wie z. B. Joan Baez - Que je chante encore cette chanson? / Twenty years ago, dit-elle. - 139 , oder sie fingieren einen Dialog (oder ein Selbstgespräch), der (oder das) an die Stelle der auktorialen Erzählform tritt. Die kurzen Erzähltexte La ville de l’oiseau (2010a) Die autodiegetische, namenlos bleibende Erzählerin ist eine Schriftstellerin, die, wie das mehrfach gebrauchte neutrale „nous“ signalisiert, ihr Leben gemeinsam mit einem Partner zwischen zwei namentlich nicht genannten Städten, in denen nicht dieselbe Sprache gesprochen wird, teilt. Die Stadt, auf die sich die in der Geschichte erzählten Ereignisse beziehen, ist zu unterscheiden von jener, in der sie ihre diesbezüglichen Erinnerungen im Prozess des Schreibens verarbeitet. Die Erzählerin stellt den Handlungsort im Eröffnungssatz als „[…] cette ville immense et multiforme […]“ 140 vor und charakterisiert ihn später mit folgenden Worten: „[…] ce n’était pas une ville légère car elle était marquée par l’histoire et son histoire commençait à nous marquer […]“ 141 . So spüren sie und ihr Partner Die kurzen Erzähltexte 535 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Dies ist ein Indiz, dass es bei dem Handlungsort um Berlin handeln könnte. Die Heine-Statue befindet sich im Weinbergspark im Ortsteil Mitte. 145 Ebd., S. 31. 146 Vgl. ebd. 147 Ebd., S. 32. 148 Zu den Zitaten und zum Kontext vgl. ebd., S. 32. 149 Ebd., S. 33. 150 Ebd. 151 Ebd. einerseits „[…] le poids de l’histoire […]“ 142 , andererseits genießen sie das An‐ gebot „[d’]une échappée, l’impression de pouvoir tout recommencer, d’être plus libres et plus légers“ 143 . Bevor die Erzählerin am Tag der Rückfahrt in die Stadt ihres ersten Wohn‐ sitzes ihren Partner in einem Café trifft, erlebt sie eine Szene, die sie sehr nach‐ denklich stimmt. Sie befindet sich an jenem Tag in der Nähe eines Teichs in einem ihr bisher unbekannten Park, in dem eine Heinrich Heine-Statue aufge‐ stellt ist, 144 und beobachtet am Ufer einen Vogel, der - […] immobile, totalement figé […] 145 - von den Passanten nicht wahrgenommen zu werden scheint. Die Erzählerin jedoch bewundert seine „Eleganz“ und „Würde“. 146 Aufgrund der Ähnlichkeit mit auf ägyptischen Fresken abgebildeten Vögeln hält sie ihn zu‐ nächst für einen Ibis. - Von der anderen Seite des Ufers aus hat unterdessen eine Photographin den noch immer „regungslos“ und „würdig“ dastehenden Vogel entdeckt. Für ihre Aufnahme sucht sie den optimalen Winkel „[…] pour en capter l’essence […]“ 147 . Angesichts der „immobilité contemplative“ des Vogels und ihrer bevorstehenden Abreise stellt die Erzählerin den regelmäßigen Wechsel ihres Wohnsitzes - […] cette sorte de double vie - d’une ville à l’autre […] - grundsätzlich in Frage und überlegt, ob „[…] l’envie de choisir ou l’envie de fuir […]“ der stärkere Beweggrund in ihrem Leben ist. Die kontemplative Ruhe des Vogels deutet sie als ein Signal dafür, dass sie „[…] ici […]“, also am Ort der Handlung, „[…] plus près de l’essentiel“ 148 ist. Der Vogel versetzt die Gedanken der Erzählerin in noch stärkere Bewegung, als er plötzlich aus seiner Erstarrung erwacht und langsam und vorsichtig auf ein Ziel zuzuschreiten scheint. Dabei entsteht der Eindruck, „[…] que tout cela avait un sens, que cette scène en préparait une autre […]“ 149 . Bei der Beobachtung der behutsam gesetzten Schritte des Vogels, die einem „[…] mélange de décision et d’improbable, de hasard […]“ 150 zu gehorchen scheinen, fragt sich die Erzäh‐ lerin, wie Menschen zu Entscheidungen gelangen, und sie folgert „[…] que seule la logique du mouvement nous guide, et un peu de hasard“. 151 Sie schließt nicht Inhaltlich-strukturierte Zusammenfassungen 536 152 Ebd., S. 33 f. 153 Zum Zitat und zum Kontext vgl. ebd., S. 34 f. 154 C. Wasjsbrot ist in Berlin selbst Opfer eines Wohnungsbrandes geworden, der sie zu einem Umzug zwang. Vgl. Wajsbrot 2015, S. 12. aus, auf diese Weise den ganzen bisherigen Verlauf ihres Lebens - [jusqu’] à l’instant où j’étais assise sur ce banc à regarder l’oiseau redevenu immo‐ bile […] - 152 erfassen zu können. Beim Nachdenken über „[…] l’indécision ou l’équilibre subtil entre le mou‐ vement et l’arrêt […]“ erinnert sie sich auch an eine schwarz gewandete Frau, die vor einiger Zeit auf dem Dach des gegenüber liegenden Hauses stand und von der man nicht wissen konnte, ob sie sich in die Tiefe stürzen wollte oder lediglich für Modephotographien posierte, bis sie schließlich von der Dachkante zurücktrat und verschwand. 153 Die scheinbare Unschlüssigkeit des Vogels findet ein banales Ende, insofern er in einer blitzschnellen, von der Erzählerin nicht einmal beobachteten Bewe‐ gung ins Wasser taucht und einen Fisch fängt. Ihr Unvermögen, diesen simplen Ablauf vorauszusehen, stürzt die Erzählerin in tiefe Zweifel bzgl. ihrer Deu‐ tungsfähigkeit, sucht sie doch beim Schreiben ungleich komplexere Zusam‐ menhänge aufzudecken. Auf dem Weg zum Café bedauert die Erzählerin zutiefst, die geliebte Stadt, den Ort eines angestrebten Neuanfangs, einstweilen verlassen zu müssen, da ein Brand und die nachfolgenden Löscharbeiten ihre Wohnung ruiniert haben. 154 Ihr Gefühl, einen Teil ihrer Vergangenheit, den vielleicht der Vogel symboli‐ sierte, zurückzulassen, weckt Erinnerungen an sein für sie rätselhaftes Ver‐ halten. Sie vermag nicht zu erklären, ob eine Antwort auf ihre Fragen in seiner „Bewegungslosigkeit“ oder seiner „Bewegung“ oder aber in der fehlenden Ba‐ lance zwischen beiden zu finden ist, sodass sie die zwei Bilder, die des regungs‐ losen und des Beute greifenden Vogels nicht miteinander zu vereinbaren und das „Alltägliche“ und das „Symbolische“ des beobachteten Geschehens nicht zusammenzuführen vermag. (Im Unklaren ist sie sich auch über die wahren Absichten der auf dem Dach stehenden schwarz gekleideten Frau.) In der Er‐ wartung des bevorstehenden Ortswechsels tritt gleichzeitig die Abhängigkeit ihres Denkens und Empfindens von der jeweiligen Umgebung in ihr Bewusst‐ sein. Nach ihrer wie eine Flucht empfundenen Rückkehr in „die andere Stadt“ sehnen sich die Erzählerin und ihr Partner nach „cette autre vie“. Unterdessen hat die Erzählerin den tatsächlichen Namen des fälschlicherweise für einen Ibis gehaltenen Vogels entdeckt. Es handelte sich um einen „héron“, einen Grau‐ reiher, der seinen Blick ohne Kopfbewegungen seitwärts richten kann und daher Die kurzen Erzähltexte 537 zu einem blitzschnellen, unvorhersehbaren Beutezug fähig ist. Die um Aufklä‐ rung bemühte Erählerin fühlt sich im Lichte dieser Erkenntnis einerseits er‐ leichtert, zugleich aber enttäuscht, da die Erklärung nichts Geheimnisvolles birgt. 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