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Lesen im dritten Lebensalter

2017
978-3-8233-9126-5
Gunter Narr Verlag 
Hans-Christoph Ramm

Im Zentrum der rezeptionsästhetischen Untersuchung steht die Neugier von Leserinnen und Lesern des dritten Lebensalters. Die erwachsen gewordenen Kinder der Nachkriegszeit gelangen im Rahmen gelenkter literarischer Seminare zu einer selbstreflexiven, kritischen Auseinandersetzung mit vier Romanen ausgewählter britischer Autoren: Charlotte und Emily Brontë, Charles Dickens und Virginia Woolf. Ihre Werke stellen prototypisch die gesellschaftliche Funktionalisierung des Leidens und die damit einhergehende Zerrüttung der Subjektivität mit literarischen Verfahrensweisen dar. Die Erzählwelten eröffnen Einblicke in eine zurückliegende Kultur, die bis in die Gegenwart hinein wirkt. Aufgrund ihrer speziellen Perspektive gelangen die lebenserfahrenen Rezipientinnen und Rezipienten zu bemerkenswerten Ergebnissen in der wissenschaftlich fundierten Romananalyse. Die Erforschung solcher Rezeptionsvorgänge und ihres Potentials für diese Lesergruppe ist das Ziel eines neuen Ansatzes, der beispielsweise an der Universität des 3. Lebensalters in Frankfurt am Main verfolgt wird. Damit schließt die Studie eine Forschungslücke und liefert einen Beitrag zu einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft.

Hans-Christoph Ramm Lesen im dritten Lebensalter Erfahrungen transitorischer Identität bei der Lektüre britischer Romane Lesen im dritten Lebensalter Hans-Christoph Ramm Lesen im dritten Lebensalter Erfahrungen transitorischer Identität bei der Lektüre britischer Romane Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233- 9126 - 5 Umschlagabbildung: © istock.com/ vlastas 23 1.1 25 1.2 32 1.3 41 1.4 54 1.5 68 89 2.1 91 2.2 98 2.3 111 2.4 118 127 129 3.1 132 3.2 186 3.3 217 3.4 256 Inhalt Teil 1 Moderne Romane als Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne . . . . . . . . . . . . . Kultursemiotischer Ansatz. Die Rezeption moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität . . . . . . . Transitorische Identität und die Bedeutung literarischer Texte in der ersten und zweiten Phase der Modernisierung . . . . . . . Rezipient / innen des dritten Lebensalters - Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 2 Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster von Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Intensität des Augenblicks: Interior monologues als narratives Gestaltungsmedium der Romane Virginia Woolfs Drei-Phasen-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plausibilitätsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 3 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ästhetische Erfahrungen mit erzählten transitorischen Identitätsproblematiken Einleitung: Oliver Twist und Jane Eyre: Erfüllbares Leben als narratives Grundmuster. Wuthering Heights und Mrs Dalloway: Nicht-Erfüllbarkeit moderner Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. Selbstachtung - fragwürdiges Werden zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emily Brontës Roman Wuthering Heights. Selbstverlust - in sich kreisendes Werden zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 287 306 Fazit und Forschungsdesiderate: Die Paradoxie transitorischer Identität als narratives Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 „Mündigkeit lässt sich nicht befehlen, sie muss gewählt werden.“ Susan Neiman „Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzeptiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Um‐ welt, meiner Geschichte und meinem Schicksal öffnet.“ Charles Taylor Danksagung Dieses Projekt geht von einer Initialzündung aus, die durch eine erneute Lektüre von Milan Kunderas Essay Die Kunst des Romans im Zusammenhang mit seinem faszinierendem Werk Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins entstand. Das Pro‐ jekt, das eine Forschungslücke schließen möchte, ist von vielen Menschen be‐ gleitet und intellektuell gefördert worden. Als erstes gilt mein Dank meiner Frau, Rudi Helena van der Ploeg, deren niederländischer Pragmatismus und Witz mich stets über Wasser gehalten und mich kritisch durch alle Phasen des For‐ schungs- und Schreibprozesses begleitet haben. Mein Dank gilt auch meiner Tochter Verena Bérénice, die wie eine Verbündete Fassungen meines Manu‐ skripts gelesen, Einwände formuliert und Korrekturvorschläge gemacht hat. Vor allem hat sie mir aus technischen Unbeholfenheiten mit Computer und Laptop herausgeholfen. Danken möchte ich auch Frau Elena Gastring, Lektoratsvolon‐ tärin beim Gunter Narr Verlag, die mit Humor und Geduld den Produktions‐ prozess meines Buches unterstützt und begleitet hat. Die Frauen wissen, wie sehr mir die Vermittlung von Kultur und Literatur in der heutigen hybriden Kultur am Herzen liegt. Für die Gelegenheit, eine Vorstudie zu diesem Projekt, zur Erzählkunst Franz Kafkas, zur Filmkunst Charlie Chaplins und zur bildenden Kunst Edvard Munchs beim Germanistentag in Kiel 2014 vorstellen und dann publizieren zu können, bin ich Frau Professor Dr. Ina Karg zu herzlichem Dank verpflichtet. Kreative Impulse zu meinem Buch kamen auch aus persönlichen Gesprächen mit Herrn Professor Dr. Helmut Viebrock sowie von Seminaren Herrn Professor Dr. Hermann Schweppenhäusers und Gesprächen mit ihm zu Franz Kafka und Walter Benjamin. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Thomas Rentsch, der mich ermuntert hat, meinen Ausführungen auf der Spur zu bleiben. Herrn Professor Dr. Lothar Bredella und Herrn PD Dr. Chris‐ toph Schöneich, mit denen mich auf ganz unterschiedliche Weise ein freund‐ schaftliches Band über Jahrzehnte hin verknüpft hat, danke ich in Verbunden‐ heit. Ebenso bedanken möchte ich mich bei den Teilnehmer / innen meiner Seminare an der Universität des 3. Lebensalters / Frankfurt / M. Sie haben mit ihren kreativen Deutungen einige wichtige der hier vorgelegten Aspekte, bei‐ spielsweise zu unglaubwürdigen Stellen in Charles Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist oder zu Emily Brontës kniffligen Roman Wuthering Heights möglich werden lassen. Ich widme dieses Buch dem Andenken meines früh verstorbenen Vaters, Dr. phil Dr. med. Hans Ramm (1920 bis 1956), der über Kierkegaard promovierte und als junger Augenarzt in Frankfurt / M die Greuel des Russlandfeldzuges im Zweiten Weltkrieg in den ersten Jahren der Nachkriegszeit gesundheitlich nicht überlebt hat. Danksagung 10 1 Milan Kundera: Die Kunst des Romans. Essay. München: Hanser 1987, S. 42, S. 43, S. 81. 2 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hamburg: Rowohlt 1964, S. 29. 3 René Welleck: Konfrontationen. Vergleichende Studien zur Romantik. Frankfurt / M. Suhr‐ kamp 1964, S. 9-41; Gerhart Hoffmeister: „Romantik als europäisches Phännomen“, in: Wolfgang Bunzel (Hg.): Romantik. Epoche - Autoren - Werke. Darmstadt: Wissenschaft‐ liche Buchgesellschaft 2010, S. 216-231. 4 Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur. Frank‐ furt / M: Fischer 1982, S. 26; Eckhard Lobsien: „Der 16. Juni 1904. James Joyce und die Odyssee durch die Zeit“, in: Rolf Grimminger, Jurij Murašov, Jörn Stückrath (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg: Ro‐ wohlt 1995, S. 395-424, hier: S. 396, S. 399, S. 406, S. 413; Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 26, S. 41, S. 46-49, S. 51-55, S. 169. 5 Rolf Breuer: Englische Romantik. Literatur und Kultur 176-1830. München: Fink 2012, S. 51. Vorwort Impulse zu den folgenden Ausführungen gaben Milan Kunderas Deutungen des modernen Romans. Kundera versteht den modernen Roman als narratives Ex‐ periment, das seit Beginn der Moderne mit imaginativen Möglichkeiten und Potenzialen transitorischer Identität spielt, die Gemüter seiner Leser / innen er‐ regt und zum deutenden Diskurs immer erneut herausfordert. 1 Lesen, so Sartre, ist gelenktes Schaffen. 2 Dieser Spur folgen wir an ausgewählten Romanen Groß‐ britanniens, die nicht nur zu den Meisterwerken der Weltliteratur zählen, son‐ dern trotz der Unterschiede zwischen dichterischen Texten des 19. Jahrhunderts in Europa 3 „als großartige Märchen“ 4 der Moderne anzusehen sind. Bei der Lektüre wird es um eine kultursemiotische und rezeptionsästhetische Erschließung von Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist, Charlotte Brontës Roman Jane Eyre, Emily Brontës Roman Wuthering Heights und Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway gehen. Diese Romane wurden im Fachbereich Neuere Philologien / Anglistik der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt / M in gelenkten Seminaren mit Rezipient / innen des dritten Lebensalters (den heute 65bis etwa 80jährigen) erschlossen, reflektiert und besprochen. Als große Erzählkunst sind die Romane repräsentativ für das in der Moderne seit Beginn der europäischen Romantik geprägte Geschichtsbewusstsein und die „bis dahin nie gekannte Betonung menschlicher Subjektivität.“ 5 Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters sind in sensibler Wahrnehmung hoch in‐ teressiert am Gründungsmythos der Moderne, der sich an kulturgeschichtlichen 6 Hanjo Kesting: Große Romane der Weltliteratur. Erfahren, woher wir kommen. Band 1: 1600-1850, Band 2: 1850-1900, Band 3: 20. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2015. 7 Isaiah Berlin: The Roots of Romanticism. Edited by Henry Hardy.Washington: Pimlico 2000, S. 6-17, S. 139-143, S. 146-147. 8 Isaiah Berlin: The Roots of Romanticism…, a. a. O., S. 121-125; Erich von Kahler: „Unter‐ gang und Übergang der epischen Kunstform“ (1952), in: Erich von Kahler: Untergang und Übergang. Essays. München: dtv 1970, S. 7-51, hier: S. 35, S. 40, S. 41, S. 47, S. 49. 9 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt / M: Suhrkamp 1973, S. 24. 10 Gerhart Hoffmeister: „Romantik als europäisches Phännomen…, a. a. O., S. 227. Fragen „Woher wir kommen“ 6 und wer wir im dichten Gewebe divergierender und überfordernder Rollenanforderungen, Konflikt- und Entscheidungssituati‐ onen heute sind, entfalten lässt. 7 In einer globalisierten, disparaten und ver‐ netzten Medienwelt, in der Distanzen aufgehoben werden, weckt die Lektüre der Romane den Wunsch, sich mit mythopoetischen Erzählwelten, die moderne Romane seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis hin zu James Joyce, Döblin, Thomas Mann selbstreflexiv gestalten, 8 auseinanderzusetzen. Romane des Vik‐ torianischen Zeitalters und der klassischen Moderne entwerfen Varianten einer Poetik des Weltleidens. Sie eröffnen fremde, narrativ eigengesetzliche Welten, evozieren Widerstand und Utopie, an denen sich Wirklichkeit gegenbildlich bricht. Ihr enigmatisch Politisches fasziniert. Die These, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist die, dass Werke der Literatur, der bildenden Kunst und Musik seit der frühen Neuzeit transitorische Identi‐ tätserfahrungen moderner Subjektivität ästhetisch gestalten. Im Bereich der Li‐ teratur entstehen kontingenzästhetische Erzählmuster, die als Kulturdiagnosen erschlossen werden können. Rezipient / innen des dritten Lebensalters werden in auffallender Weise von komplexen Erzählmustern affiziert, die die Subjekt‐ frage der Moderne in emotional evokativen Erfahrungsräumen verhandeln. Die Erzählwelten stellen Individuen in ihren Mittelpunkt und beleuchten in gesell‐ schaftkritischen Gegenperspektiven Kehrseiten der Vernunft. Als Antithesis sind sie immanent mit der Negativität des Weltlaufs, den sie verneinen ver‐ knüpft: „Keine Kunst, die nicht negiert als Moment in sich enthält, wovon sie sich abstößt.“ 9 Das Faszinosum liegt in diesem Doppelcharakter, der auf die komplexe Motivlage der Rezipient / innen des dritten Lebensalters trifft. Der Gründungsmythos der Moderne begann als romantische Bewegung „mit Young in England, in Frankreich mit Rousseau und in Deutschland mit dem Sturm und Drang“. 10 Trotz aller Unterschiede setzten sich bildende Künstler, Komponisten, Schriftsteller und Philosophen in Europa mit dem Anbruch einer neuen Zeit, mit der Französischen Revolution und Napoleon auseinander: Vorwort 12 11 Otfried Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie. München: Beck 2001, S. 206; Kurt Otten: Burke, Carlyle und die Französische Revolution: zur Vorgeschichte von Dickens, A tale of two cities. Heidelberg: Winter 1992. 12 Gerhart Hoffmeister: „Romantik als europäisches Phännomen…, a. a. O., S. 228. Schon bei Fichte, noch nachdrücklicher bei Hegel und Schelling, tritt ein Gedanke in den Vordergrund, der das 19. Jahrhundert bestimmen wird: daß selbst die Grundbe‐ griffe und Argumentationsmuster von Erkennen und Handeln geschichtlich bedingt sind (‚Geschichtlichkeit‘). 11 Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten forderten Freiheit von der klassizistischen Tradition; parallel dazu forderten Philosophen politische Eman‐ zipationsmöglichkeiten: in konservativer Hinsicht (Edmund Burke), emanzipa‐ torisch in der Kritik der politischen Ökonomie (Karl Marx, in kritischer Ausei‐ nandersetzung mit Hegel). Vor dem Hintergrund des Bruchs mit den christlichen Traditionen des Abendlandes beinhalteten diese Forderungen das Streben nach persönlicher Autonomie ( Johann Gottlieb Fichte, in Auseinandersetzung mit Kant), insbesondere des künstlerischen Genies und künstlerisch tätiger Frauen. Mit der Rezeption Shakespeares und Cervantes stand bei Schriftstellern die Ver‐ teidigung des Prinzips der Stilmischung in Bezug auf den Roman, die Tragikko‐ mödie und das romantische Schauspiel im Mittelpunkt. Stilmischungen schufen Bewegungsspielräume für den komplexen Ausdrucksreichtum subjektiver Er‐ fahrungen in Werken der bildenden Kunst (William Turner, Caspar David Fried‐ rich), Musik (Ludwig van Beethoven, Giuseppe Verdi) und Literatur. In das Zentrum künstlerischen Schaffens trat die Theodizeefrage, die in der Darstel‐ lung des Bösen und Satanischen Handlungsspielräume des modernen Subjekts erprobte und zur Spiegelung des Weltschmerzes machte. 12 Als Kehrseite der Verweltlichung und des erweiterten, vertieften Naturverständnisses zeitigte sich die Gefahr des Selbstverlustes, die als transitorische Erfahrung in den Aus‐ drucksformen von Empfindsamkeit und der englischen Krankheit Melancholie ( James Macpherson, d. i. Ossian und auch Lord Byron) die Schaffenskraft der Künstler anregte. Sie wurde zum Lebensgefühl der nachnapoleonischen Epoche. Die komplexe Beziehung zwischen Dichtung und Leben, die kultursemiotisch erschließbar ist, lässt sich an europäischen Romanen anhand des in ihnen zur Geltung kommenden gebrochenen modernen Subjekts studieren. In der Suche nach sinnbezogenen Lebensformen erkunden Romane die Bedeutung des Sub‐ jekts in einer komplexen modernen Welt. Sie scheuen nicht zurück vor einer Verwirrungsästhetik der Kontingenzen und des Häßlichen und und verlieren dennoch nicht die Autonomieansprüche des Subjekts und das Ideal der Huma‐ nität aus dem Auge. Wie alle Romane der Weltliteratur erzählen sie Geschichten Vorwort 13 13 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben. München: Beck 1996, S. 12. 14 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 17. 15 Werner Hofmann: Die gespaltene Moderne. München: Beck 2004, S. 150-160; Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte. München: Beck 1998, S. 135-144. 16 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen: Neske 1985. von Menschen und Umständen, lassen im Möglichkeitsraum der Fiktion Men‐ schen „aus dem Gegebenen heraus und ihm gegenüber treten“ 13 , gestalten eine eigene, sprachlich geformte Welt, die durch Selektion und Verdichtung Wirk‐ lichkeit zentriert und deshalb zwischen Schein und Realität oszilliert: Dichtung verdichtet (…). Sie tut es, indem sie am menschlichen Leben, das in der Masse so gleichgültig zu werden vermag, Wert und Wichtigkeit aufleuchten lässt. Deshalb ist sie eine so menschliche Art der Weltbegegnung und übersteigt damit auch die Geschichtsschreibung, selbst die Psychohistorie und Mentalitätsgeschichte, denen sie als Quelle dienen kann. Sie gewinnt ihre Überlegenheit daraus, daß sie den ein‐ zelnen (…) zu seiner Würde bringt. 14 Da es eine Vielzahl von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der Epoche der klassischen Moderne gibt, macht der hier vorgestellte kultursemiotische Ansatz eine Auswahl von Romanen dieser beiden Epochen, zwischen denen Umbruchszeiten liegen, erforderlich. Ausgewählt wurden Romane, die • im Zeitraum zwischen beginnendem 19. und beginnendem 20. Jahrhundert in Großbritannien entstanden, • eine narrative Kontingenzästhetik durch Kontrastkopplungen und autore‐ ferenzielle Bezüge gestalten und Verwirrungsästhetiken 15 generieren, • die Problematik der transitorischen Identität der Moderne als narrative und kulturhistorische Herausforderung in ihrer Ambivalenzstruktur verdichten, • Aspekte des Humanitätsideals in Gestalt der conditio humana anklingen lassen und als Metaphysik des Schwebens 16 zum Ausdruck bringen, • in der ambivalenten Transzendierung ihrer Inhalte in die jeweilige Form, offene und komplexe Erzählwelten der ersten und zweiten Phase der Mo‐ derne gestalten, • Imagination und Reflexion der Leser / innen anregen. Die Kriterien ergeben sich aus einer kultursemiotischen Theorie, die das Ver‐ stehen moderner Romane verknüpft mit dem Erschließen ihrer epochalen Situ‐ ierung. Vorwort 14 17 Martin Seel: Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays. Frankfurt / M: Fischer 2006. 18 Vladimir Nabokov: Vorlesungen über Don Quijote. Hamburg: Rowohlt 2016, S. 14. 19 Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel…, a. a. O., S. 136. 20 Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel…, a. a. O., S. 137-149. Die ausgewählten Romane erfüllen die genannten Kriterien. Sie entwerfen die Unbehaustheit des modernen Menschen als Paradoxon: Im Versuch, sich seiner habhaft zu werden, entgleitet sich das moderne Subjekt. 17 Die Protago‐ nisten der ausgewählten Romane befinden sich auf der anderen Seite der Ge‐ schichte. Sie sind - wie Don Quijote -, in der Grenzsituation zwischen Leben und Tod, ganz auf sich selbst gestellt, bewegen sich in einer Welt von geradezu absurden Korrespondenzen und Kontrasten, sind haltlos. Als Resultat entstehen „fruchtbare Hybride“ 18 , die ihren Fokus auf Bedingungen moderner Subjektivität richten, sich auf die Suche nach einem Bild des modernen Menschen im Sinn‐ vakuum der Moderne konzentrieren und Erzählen als je differente Sinnsuche, als je unterschiedlich komplexen Prozess, entwerfen. Diese Suche gestalten die vorgestellten Romane, wie auch der europäische Roman, parallel und kontrastiv als unabschließbar. Nach dem Verlust metaphy‐ sischer Gewissheiten suchen die Protagonisten nach Sinn und Erfüllung. Sie gehen in der Konfrontation mit der Fremdheit gesellschaftlicher Beziehungen über sich hinaus. Das Offene und Unabgeschlossene dieser Sinnsuche affiziert die narrative Form. Erzählen wird zum transgressiven Akt, in dem Identitäts‐ erfahrungen unheinholbar als Aspirationen erscheinen. Das Erzählen dieser Er‐ fahrungen bringt den narrativen Prozess selbst zum Vorschein. Die Romane sind widersprüchliche Universen, die in ihrer Unabgeschlossenheit und Mehrdeu‐ tigkeit, ihrem grotesken Humor (Charles Dickens), ihrer Hintergründigkeit und ihrem Witz (Emily und Charlotte Brontë, Virginia Woolf) Rezipient / innen des dritten Lebensalters zur Reflexion und zu Sinnfragen herausfordern, die sie - die Romane - verwirrungsästhetisch als „Desintegration (ihres) System‐ raumes“ 19 entwerfen. Durch Erzählbrüche, plötzliche Wendungen, Anachro‐ nismen, multiple Perspektiven, entstehen kontingent strukturierte Erzähl‐ welten, die sich mit zunehmender Komplexität der modernen Welt nicht mehr zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenfügen lassen. Die weltverwandelnde und -verdichtende Auflösung aller Phänomene, auch der menschlichen Subjektivität, findet im modernen Roman, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck in oben definierten eigenen „Verwirrungsäs‐ thetiken“ 20 , die auf weiter unten dargelegte gerotranszendente Vermögen der Rezipien / innen stoßen. Verwirrungsästhetiken finden als kulturelle Parallel‐ vorgänge auf dem Weg der bildenden, der erzählenden und der musik-kompo‐ Vorwort 15 21 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 14 (Hervorhebung von von Kahler). 22 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 15 (Hervorhebung von von Kahler). 23 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 10, S. 16. 24 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 16 (Hervorhebung von von Kahler). 25 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 17 (Hervorhebung von von Kahler). 26 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 21. 27 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 30, S. 35. sitorischen Kunst vom 18. bis ins 20. Jahrhundert statt, zuvor bereits bei Shakes‐ peare oder dann, beispielsweise, bei Giovanni Battista Piranesi, bei Johann Sebastian Bach und seinen für seine Epoche originellen und ungewöhnlichen Kompositionstechniken, bei William Hogarth, bei William Blake, bei Ludwig van Beethoven, dessen 5. Sinfonie (c-moll, Opus 67) bei zeitgenössischen Kriti‐ kern, aufgrund ihrer ungewöhnlichen Komposition, auf Ablehnung stieß. Erich von Kahler sieht in der Entwicklung der modernen Erzählkunst einen „unend‐ lichen Weg ins Unbewußte“ 21 , der in drei Etappen verläuft: seit Mitte des 18. Jahrhunderts individualpsychologisch, gegen Ende des 19. Jahrhunderts existenzialistisch, seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einer innerweltlichen Transzendenz, die „das Jenseits im Irdischen“  22 hervorhebt. Diese Etappen folgen nicht chronologisch aufeinander, sondern bedingen sich in fortschreitender Wechselwirkung. 23 Diese Wechselwirkung wird durch die Abwendung der Mo‐ derne von der traditionellen Metaphysik bedingt. In der Moderne unterscheidet sich menschliche Existenz von jedem bedingendem, übergreifendem Ganzen. Erich von Kahler siedelt die existenzialistische Etappe der Entwicklung der mo‐ dernen Erzählkunst zu Ende des 19. Jahrhunderts, in Unterscheidung von der existenzialistischen Philosophie, zwischen der individualpsychologischen und der innerweltlich transzendenten Etappe der modernen Erzählkunst an. Er be‐ gründet diese Entwicklung damit, dass das „existenzialistische Erlebnis“  24 als Gegenerfahrung zur instrumentellen Vernunft der Moderne zu verstehen und im Sinne Kierkegaards als „Sinnmüdigkeit“  25 zu deuten sei. Nach von Kahler entsteht eine neue Sensibilität, die die Haltlosigkeit des modernen Ich antizi‐ piert, Individualität als mögliche Existenz im Angesicht innerweltlicher Trans‐ zendenz positioniert. Das existenzialistische Erlebnis rührt an den Daseinsgrund der Dinge, nähert sich der Unaussprechlichkeit eines präexistenten Ich. 26 In dieser Perspektive entsteht in der modernen Erzählkunst eine Sicht auf die Welt, die die Befremdung der Dinge und die Auflösung des Erscheinenden in Richtung innerweltlicher Transzendenz vorbereitet. 27 Vorwort 16 28 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 35 (Hervorhebung von von Kahler). 29 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 35. 30 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 9 31 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter im Kontext individueller und gesellschaftlicher Entwicklung“, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter. Heidelberg: Winter 2011, S. 15-46, hier: S. 30. 32 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, a. a. O., S. 30. 33 Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit“, in: Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt / M: Suhrkamp 2000, S. 151-179. Dieser Prozess narrativer Desintegration der täglichen Weltoberfläche lässt sich von Laurence Sternes erzählerischem Kosmos bis zu Virginia Woolfs und James Joyces erzählerischem Werk beobachten. Wie die europäische Erzähl‐ kunst des frühen 20. Jahrhunderts, dringen Joyces und Woolfs Werke „in das Reich einer inneren, innerweltlichen Transzendenz“ 28 vor. Erich von Kahler ver‐ steht unter diesem Reich Tiefenbereiche des Ich, die die Schichten des Unbe‐ wussten, wie Sigmund Freud und Carl Gustav Jung sie erforschten, durch‐ messen. Als „jenseitige Tiefen des Ich“ verwandeln sie „den Niederstieg in den Tod“ in eine „Erleuchtung des Todes bis zu jenem mystischen Punkt, wo der Tod zur Lebensverwandlung und zum Schoße der Schöpfung wird“. 29 Die drei kulturellen Etappen der modernen Erzählkunst, die zu dieser „neuen Transzendenz“ 30 hinführen, lassen sich exemplarisch anhand der hier behan‐ delten Romane erarbeiten. Die emotionale Eindringlichkeit, in der die Erzählfi‐ guren mit Dilemmata, Konflikten und erzwungenen Konfliktlösungen um‐ gehen, wirken vor ihrem kulturellen Hintergrund und dem der Rezipient / innen des dritten Lebensalters herausfordernd und diskursanregend. Im ersten Teil der Arbeit geht es um einen kultursemiotischen Ansatz, der es ermöglicht, Erfahrungen der Gerotranszendenz 31 , mit ihren Fähigkeiten zu Selbstdistanz, Gelassenheit, einem selbst organisierten, kreativen Leben, mit ihrer Fähigkeit zu Spiritualität und transzendenzbezogenen Welt- und Lebens‐ perspektiven, 32 sowie mit ihrer Empfindung für Ganzheit im Sinne eines Wer‐ dens zu sich selbst, 33 in dialogische Beziehung zu setzen mit ästhetischen Er‐ fahrungen, die Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts in Großbritannien evozieren. In diesem theoretischen Teil wird verdeutlicht, dass die Ambivalenz der Moderne sich narrativ in der Uneindeu‐ tigkeit einer Metaphysik des Schwebens in den Romanen niederschlägt: Sie ver‐ dichten die Unüberschaubarkeit der Moderne und die Hilflosigkeit moderner Subjektivivität. Erfahrungen transitorischer Identität im dritten Lebensalter Vorwort 17 34 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern. Individuelle und gesellschaftliche Weichenstellungen. Heidelberg: Spektrum 2010; Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst…, a. a. O. 35 Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 28. 36 Andreas Kruse: Alternde Gesellschaft - eine Bedrohung? Ein Gegenentwurf. Ettenheim: Lambertus 2013, S. 8. 37 Andreas Kruse: Alternde Gesellschaft…, a. a. O., S. 9-11. werden in der Interaktion zwischen den Leser / innen und den Romanen kreativ affiziert. In diesem ersten Teil der Arbeit wird die von Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl in ihrem Werk Zukunft Altern entwickelte umfassende Kreativitätstheorie der Alternsforschung sowie die von Thomas Rentsch in seinem Werk Negativität und praktische Vernunft, im Rahmen einer Ethik der späten Lebenszeit entfaltete philosophische Anthropologie des Alterns als eines „Werden(s) zu sich selbst“, kultursemiotisch auf den Rezeptionsprozess der Romane durch Rezipient / innen des dritten Lebensalters bezogen. 34 Die Theorie der Kreativität im Alter unter‐ scheidet sich von neueren Sozialisationstheorien und eröffnet Sichtweisen auf die rezeptionsästhetische Haltung der Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Die in den Fokus genommenen gerontologischen Schlüsselkonzepte sind Ge‐ nerativität, Ich-Integrität und Gerotranszendenz als „Ausdrucksformen einer Kreativität im Alter“. 35 Die Schlüsselkonzepte sind eingebunden in eine Anthropologie des Alterns, die vor dem Hintergrund einer Diskriminierung Alternder im öffentlichen und privaten Bereich den Gestaltungswillen und die Gestaltungsfähigkeit Alternder in Bezug auf ein selbstorganisiertes Leben und in Bezug auf gesellschaftliche Mitverantwortung hervorhebt. Andreas Kruse, ein prominenter Vertreter dieser Theorie, hebt auf der Grundlage gerontologischer Forschungen anstelle einsei‐ tiger Diskriminierungs- und Belastungsdiskurse, Potenziale des Alters hervor, in denen sich zwei Perspektiven komplementär verbinden: „die Potenzialper‐ spektive einerseits, die Verletzlichkeitsperspektive andererseits.“ 36 Die Potenz‐ ialperspektive hebt die potenziellen Energien Alternder hervor, die sie auch in Fällen von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung aufrecht‐ erhalten lässt. Die Verletzlichkeitsperspektive impliziert eine abnehmende kör‐ perliche Leistungsfähigkeit, mit einer höheren Anfälligkeit für Erkrankungen im Alter. Alternden kann es gelingen, so Kruse, beide Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Integration beider Perspektiven relativiert Belastungszena‐ rien und ermöglicht Bildungs- und Therapieerfahrungen. 37 In die Wechselbe‐ ziehung beider Perspektiven ist die im Vorverständnis der Rezipient / innen si‐ tuierte Spannung zwischen dem ästhetischen Erfahrungspotenzial immanenter Vorwort 18 38 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O.; Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst…, a. a. O.; Klaus Hurrelmann / Ullrich Bauer: Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell produktiver Realitätsverarbeitung. Weinheim: Beltz 2015 (11. Auflage). 39 Engelbert Thaler: Teaching English Literature. Paderborn: Schöningh 2008, S. 104-106. Transzendenzerfahrung und dem Bewusstsein menschlicher Mortalität einge‐ bettet. Diese zum gerotranszendenten Vermögen Alternder gehörende Situie‐ rung macht das fruchtbare Moment im Erschließungsprozess der Romane aus. Die Nomenklatur der Theorie der Kreativität im Alter wird durchgängig in vorliegender Arbeit verwendet und differenziert auf den Rezeptionsprozess als Bildungspotenzial Alternder bezogen. 38 Aus dieser Öffnung der Literaturdi‐ daktik und institutionalisierten Kultursemiotik, die sich als Ergänzungsdiskurs zum bisher vertrauten Kategoriensystem der Literaturdidaktik versteht, ergibt sich der Schwerpunkt der Rezeption der ausgewählten Romane durch Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters. Ihr Blick richtet sich auf die poetische Praxis, auf das Wie der Ausdrucksgestalt des jeweiligen Romans und seine kul‐ turgeschichtliche Bedeutung. Diese Rezeptionshaltung, die Kreativität und Selbstdenken evoziert, wird durch eine Drei-Phasen-Methode unterstützt. In kultursemiotischer Perspektive und in der Sichtweise moderner transitorischer Identitätserfahrungen entstehen innovative Romandeutungen der Romane Oliver Twist, Jane Eyre, Wuthering Heights und Mrs Dalloway. Der zweite Teil dieser Arbeit stellt das Konzept der Drei-Phasen-Methode vor. Dies ist ein Konzept, das durch das gelenkte literarische Seminargespräch und die ganzheitliche Romanlektüre in der Kombination zweier Herangehens‐ weisen, des „Straight Through Approach“ und des „Segment Reading“ 39 , die theoretischen Voraussetzungen des ersten Teils in die Praxis umzusetzen ver‐ spricht. Eine der aus diesem Konzept folgenden Konsequenzen sind Plausibili‐ täts- und Dispositionsfragen der Rezipient / innen an die ausgewählten Romane, die im Verlauf von vier Semestern - einem Roman pro Semester - in der Inter‐ aktion zwischen den Texten, Zusatzmaterialen und ihren Leser / innen er‐ schlossen und reflektiert wurden. Die Ausführungen des dritten Teils erproben die theoretischen Prämissen des ersten und die Konzeption des zweiten Teils. Sie beziehen sich, in je einem Un‐ terabschnitt, auf Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die in ihrer Struktur die Ambivalenz der Moderne als sinnentwerfende Vieldeutigkeit und hermeneutisches Reflexionsangebot für Rezipient / innen des dritten Lebensal‐ ters und ihre komplexen Motivlage zum Ausdruck bringen. Da die Grund‐ struktur des Rezeptionsprozesses dialogisch ist, wechselt die Untersuchungs‐ perspektive von der in den ersten beiden Teilen dargelegten Motivlage der Vorwort 19 Rezipient / innen auf die kultursemiotischen Deutungspotenziale der Romane, wobei die kontrovers oder zustimmend besprochenen Romanpassagen durch Hinweise auf Erschließungs- und Reflexionsmöglichkeiten der Rezipient / innen gekennzeichnet sind. Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist (1837) eröffnet, im Schatten Miguel Cervantes‘ und Laurence Sternes’ sowie vor dem Hintergrund der Ereignisse der Französischen Revolution, mit einem frühen unzuverlässigen Erzähler die Ausführungen im dritten Teil dieses Buches. Dickens‘ Werk Oliver Twist und Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847), der in Gestalt einer fiktiven Autobiografie die Zeit des Hochkapitalismus und den Auflösungsprozess des Patriarchats in Großbritannien narrativ konfron‐ tiert, werden einem eigenem Abschnitt zugeteilt. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne kann einsichtig werden, dass beide Romane, trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeiten und gesell‐ schaftlichen Hintergründe, in Gestalt der Paradoxie des poetischen Realismus ihre Protagonisten scheitern lassen und in die Grundauffassung einer auf Erfül‐ lung angelegten Subjektivität einbetten. In der kulturgeschichtlichen Termino‐ logie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen eines indivi‐ dualpsychologischen und, wie oben dargelegt, existenzialistischen Erzählens. Der Abschnitt zu Charles Dickens‘ Frühwerk Oliver Twist, mit dem der dritte Teil beginnt, fällt etwas umfangreicher als die dann folgenden Abschnitte zu den Romanen der Brontës und zu dem Virginia Woolfs aus. Das liegt daran, dass - entgegen älterer Forschung zu diesem Roman - Dickens‘ Oliver Twist innovative Erzählstrategien an den Tag legt, die ihn in den Deutungen der neueren For‐ schung zum Wegbereiter des modernen Romans bzw. zum modernen Roman werden lassen (Fludernik, Bowen, Cheadle beispielsweise). Diesen Deutungen, die den Roman als Ganzen in den Blick nehmen, gehen die Ausführungen im dritten Teil nach. Begleitet von eigenen Beobachtungen werden sie zu innova‐ tiven rezeptionsästhetischen Erschließungspotenzialen. Der zweite Abschnitt des dritten Teils wird durch Deutungen von Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847) und Virginia Woolfs Roman Mrs Dal‐ loway (1925) beschlossen. Emily Brontës Roman antizipiert durch seine raffiniert gestaffelten dezentrierten Ich-Erzähler die Multiperspektivität der durch innere Monologe ineinandergreifenden, chiastischen Textstruktur von Mrs Dalloway, der exemplarisch für experimentelle Romane der klassischen Moderne anzu‐ sehen ist. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Moderne erkennt man, dass beide Romane, trotz der unterschiedlichen Epo‐ chen, in denen sie entstanden sind, durch die narrative Auflösung der Paradoxie des poetischen Realismus, die Nicht-Erfüllbarkeit privaten Glücks und subjektiver Vorwort 20 40 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. Chancen gestalten. Die Mehrdimensionalität moderner Subjektivität und die Undurchschaubarkeit ihres Weltbezuges 40 verdichten narrativ die Orientie‐ rungs- und Haltlosigkeit von Subjekterfahrungen in der modernen Welt. In der kulturgeschichtlichen Terminologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen des im oben dargelegten Sinne existenzialistischen und in‐ nerweltlich transzendenten Erzählens. Die vier Romane stellen zusammen mit der Frage nach Herkunft und Zukunft moderner Identitätserfahrungen auch die Frage nach dem Sinn romanhaften Erzählens in der Moderne. Sie gestalten ge‐ gensätzliche Figuren und Erzählsituationen mit spiegelsymmetrisch geheimen Verwandtschaften. Multiperspektivisch erforschen sie Facetten der modernen transitorischen Identitätsproblematik, die angesichts signifikant Anderer viru‐ lent wird, und sie regen über diese strukturellen Ambivalenzen zum hermeneu‐ tisch-kritischen Diskurs an. Der abschließende Teil dieser Arbeit zieht ein Fazit und gibt Hinweise auf Forschungsdesiderate, deren Bearbeitung einen Paradig‐ menwechsel in der kultursemiotisch orientierten Literaturwissenschaft herbei führen könnte. Vorwort 21 Teil 1 Moderne Romane als Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas 1 Jürgen Straub: „Identität“, in: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart: Metzler 2011, S. 277-303, hier: S. 280. 2 Donald W. Winnicott: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. Frankfurt / M: Fischer 1984, S. 245. 1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne Warum Romane lesen, die in Großbritannien im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden - ausgewählte Romane von Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë und von Virginia Woolf ? Was bieten diese Romane Rezipient / innen, die an der Goethe-Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt / M Literatursemi‐ nare im Fachbereich Anglistik freiwillig und aus Interesse besuchen? Zum einen eröffnen die Erzählwelten Einblicke in eine zurückliegende Kultur, die bis in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich setzen sie eine selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung in Gang, in der die Rezipient / innen, im Er‐ schließen dieser Erzählwelten, ihre Werte und Normen aufs Spiel setzen. Sieht man mit Jürgen Straub persönliche Identität als normativen und sozialen An‐ spruch, den Individuen zwar an sich selbst stellen, aber auch wissen, dass sie ihn nicht erfüllen können, 1 so kommen im Erschließen der Erzählwelten Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, der Autonomiebildungsmöglichkeiten und ihrer Vorenthaltungen oder Verhinderungen ins Spiel, die im Horizont eines Sich-in-der Zeit-Verstehens, anhand komplexer Erzählfiguren und ihrer Ein‐ bindung in die jeweilige Gestalt der Erzählwelten erarbeitet und ästhetisch er‐ fahren werden können. Wie alle modernen Romane gestalten auch Romane, die seit Beginn der Mo‐ derne um 1750 in Großbritannien entstanden, Erforschungen des Ich, in die das Paradoxon persönlicher Identitätserfahrung in der Moderne eingelassen ist. Der Psychoanalytiker Donald W. Winnicott fasst dieses Paradoxon als Kom‐ munikation des sozialen Selbst mit einer nicht-kommunizierbaren Energie des persönlichen Selbst. Diese Energie muss sich der Mensch bewahren, will er nicht zum außengelenkten, falschen Selbst werden. Sie macht seine Menschlichkeit aus, die die Gesellschaft als sein Heiligtum unangetastet lassen sollte: Im Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚incommunicado‘, das heilig und höchst bewahrenswert ist (…). (Ich) glaube, daß dieser Kern niemals mit der Welt wahrge‐ nommener Objekte kommuniziert, und daß der Einzelmensch weiß, daß dieser Kern niemals mit der äußeren Realität kommunizieren oder von ihr beeinflußt werden darf (…). ( Jedes Individuum ist) in ständiger Nicht-Kommunikation, ständig unbe‐ kannt, tatsächlich ungefunden. 2 3 Werner Sesink: Vermittlungen des Selbst. Eine pädagogische Einführung in die psycho‐ alalytische Entwicklungstheorie D. W. Winnicotts. Münster / London: Lit 2002, S. 112. 4 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 280. 5 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 280-281. 6 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. 7 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. 8 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. 9 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. Das von Winnicott formulierte Paradox persönlicher Identitätserfahrung be‐ steht demnach darin, dass im individuellen Allein-sein-Können „eine außerhalb des einzelnen liegende Bedingung (…), eine soziale Bedingung“ 3 , zur Geltung kommt, die im Zusammenspiel von Selbstakzeptanz, Verhandelbarkeit persön‐ licher Identität und selbstorganisertem Leben, den potenziellen Raum des Selbst zwischen sich und signifikanten Anderen öffnet. Nach Jürgen Straub besteht das Paradox persönlicher Identität in sozialpsy‐ chologischer Weiterführung darin, dass es die Erfahrung „(…) einer Einheit (ist), die unabschließbar, entzweit, unangreifbar und vor allem zugleich dauerhaft angestrebt und fortwährend unerreichbar bleibt.“ 4 Im Laufe eines Entwicklungs- und Bildungsweges entstehen individuelle Handlungspotenziale, die, weil sie sich in Interaktionen mit signifikanten An‐ deren entwickeln, komplexe und reiche Identitätsbildungsmöglichkeiten ent‐ stehen lassen, die Konstrukte einer tautologischen Identität als Sich-Selbst-Gleichheit nicht ermöglichen. Persönliche Identität, so Straub, „meint aspirierte, angestrebte, imaginierte Identität“, die die Handlungspoten‐ ziale einer Person konstituiert und ihre Verhaltensweisen motiviert. 5 Mit Erikson grenzt Straub eine für Erfahrungen offene persönliche Identität von einer Identitätsdeutung ab, die Identität als totalitär strukturiertes Zwangs- und Gewaltverhältnis sieht. 6 Aus der Unterscheidung von Totalität und Identität ge‐ winnt Straub das Konzept „transitorische(r) Identität“ 7 , dessen konstitutives Elemen ein „unhintergehbare(r) Selbstentzug“ ist, 8 der in diachroner und syn‐ chroner Differenzierung zur Grundlage einer offenen und kreativen Persön‐ lichkeit mit der Fähigkeit zur Selbsttranszendierung wird. 9 Aus dieser resultiert ein Weltinteresse, das menschliches Leben nicht als funktionales Teilelement eines übergreifenden Zusammenhanges sieht, sondern als Sinn-Ganzes entwirft: Jedes menschliche Leben ist (…) ein Sinn-Ganzes. Der einzelne hat selbst seine Hand‐ lung in einem unbedingten Sinne zu verantworten. Sogar wenn er versuchsweise handelt, experimentell, sogar wenn er die Folgen seiner Handlung nicht absehen kann, so ist doch die Tatsache, daß er hier und jetzt dies oder das getan hat oder nicht getan Moderne Romane als Möglichkeitsräume 26 10 Robert Spaemann: Moralische Grundbegriffe. München: Beck 1991, S. 98-99. 11 Robert Spaemann: Moralische Grundbegriffe …, a. a. O., S. 101, S. 107. 12 Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philoso‐ phie. Frankfurt / M: Suhrkamp 2002, S. 287-288. 13 Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. Berlin: Hanser 2014, S. 202. 14 Byung-Chul Han: „Hoch-Zeit. Fest in einer festlosen Zeit“, in: Byung-Chul Han: Mü‐ digkeitsgesellschaft Burnoutgesellschaft Hoch-Zeit. Erweiterte Neuausgabe Berlin: Mat‐ thes & Seitz 2010 / 2016, S. 89-104, hier: S. 92: 15 Byung-Chul Han: „Hoch-Zeit…, a. a. O., S. 89-91, S. 97, S. 99. hat, ein unwiderrufliches Faktum und als solches für immer Bestandteil seines Lebens. Als solches hat er es zu verantworten. 10 Aus der Ambivalenz der Moderne, dass wir gleichzeitig um die Determiniertheit wissen, die uns in übergreifenden Zusammenhängen als Teilmomente hält und der menschlichen Freiheit als radikaler Unabhängigkeit, folgt nach Robert Spae‐ mann die individuelle Erkenntnis, dass es kein voraussetzungsloses Handeln gibt und man aus gegebenen Bedingungen das Bestmögliche, auch hinsichtlich ihrer dringenden Veränderungen, machen sollte. Da Handeln immer auch sich loslassen können, seine Intentionen aus der Hand geben können, bedeutet, ist Gelassenheit gegegenüber Geschehenszusammenhängen und gegenüber einer erfahrungsoffenen Zukunft, eine Vernunftshaltung, die vor Resignation be‐ wahrt und zur Bedingung eines geglückten sinnbezogenen subjektiven Lebens werden kann. 11 Martin Seel bezeichnet diese Paradoxie als Erfahrung persönlicher Auto‐ nomie, die sich selbst in reflektierter Akzeptanz des sie Bestimmenden be‐ stimmen kann. 12 Susan Neiman versteht unter persönlicher Autonomie die Fä‐ higkeit und den Mut erwachsen zu werden, ein Gespür für den eigenen Charakter zu entwickeln, weil „Integrität (…) niemals statisch (ist); dazu ist sie zu leicht zu verlieren.“ 13 Auch archaische Mythen und Feste - verstanden als Augenblicke „gestei‐ gerter Lebensintensität“ 14 - sowie Kunstwerke, die wie Feste zum Verweilen einladen, 15 verwandeln gesellschaftliche Funktionszusammenhänge in holisti‐ sche Erfahrungen. Ganzheitlichkeit liegt als Weltinteresse und Erfahrung im‐ manenter Transzendenz, die sich der Ambivalenz in Bezug auf die Dignität 1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne 27 16 Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik. München: Beck 2010, S. 13-33; Erich Fromm: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. München: dtv 2015, S. 147-198. 17 Michael Bell: „The metaphysics of Modernism”, in: Michael Levenson (Hg.): The Cam‐ bridge Companion to Modernism. Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 9-32, hier: S. 14, S. 21-22, S. 29. 18 Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik…, a. a. O., S. 14-15. 19 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 86. 20 Peter Kümmel: „Freunde und Spione. Ian McEwan und Julian Barnes gehören zu den bedeutendsten Erzählern der Gegenwart. Ein Werkstattgespräch unter Schriftstellern, aber auch der Dialog zweier Männer über die Frage: Wie lebt man richtig? “, in: Die Zeit, Nr. 41, 29. September 2016, S. 45-47, hier: S. 47. menschlicher Würde und menschlichen Lebens stellt, 16 in mythopoetischer Ge‐ staltung modernen Romanen zugrunde. 17 Ernst Tugendhat definiert immanente Transzendenz als Fähigkeit des mo‐ dernen Menschen, sich seine Werte in nachmetaphsischer Zeit selbst erschaffen zu können: Statt vorgegebene, scheinbar übersinnliche Werte zu befolgen, soll der Mensch jetzt seine Werte selbst schaffen. Das bedeutet, daß das Transzendieren auf einen Sinn hin in das Innere des menschlichen Seins zurückgenommen wird. Man kann also (…) von einer immanenten Transzendenz sprechen, von einem Übersichhinausgehen, das nicht mehr ein Übersichhinausgehen zu etwas Übersinnlichem ist, sondern ein Über‐ sichhinausgehen innerhalb des Seins des Menschen. 18 Immanente Transzendez, mythopoetisch gestaltet, öffnet in den hier ausge‐ wählten Romanen in Bezug auf Altersgelassenheit, Kreativität und Erfahrungen der Gerotranszendenz hermeneutische Reflexionsräume für Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Gerhard Kaiser sieht die transzendierende Wirkung moderner Literatur in ihrer Eröffnung von Möglichkeitsräumen: Die Werke der Moderne „wollen dorthin, wo sie nicht ankommen, und ziehen den Leser in diese Bewegung hinein.“ 19 Gefragt, was für ihn als Romanautor beim Schreiben und Lesen von Romanen wichtig sei, antwortet der britische Romancier Ian McEwan in einem mit Julian Barnes geführtem Werkstattgespräch: „Eine Erzählung soll uns das Universum aufschließen. Ungeachtet dessen, ob sie gut oder schlecht ausgeht.“ 20 Auf die Frage, welche Rolle Musik für ihn (McEwan) spiele und ob sie ihm „persönlich das Universum“ aufschließe, antwortet er, dass er vor seinem Studium besessen von Mendelsohns Violinkonzert gewesen sei, in der städtischen Bibliothek die Partitur gefunden und gelesen habe: Moderne Romane als Möglichkeitsräume 28 21 Peter Kümmel: „Freunde und Spione…, a. a. O., S. 47. 22 Manfred Dierks: „Abschied mit Thomas Mann“, in: Andreas Blödorn / Søren R. Fauth (Hg.): Metaphysik und Moderne. Von Wilhelm Raabe bis Thomas Mann. Wuppertal: Arco 2006, S. 370-376, hier: S. 372, S. 373. 23 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 13. 24 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 13. 25 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 13. „Ich wollte verstehen“, so McEwan, „Wie hat er das gemacht? Wie kann einer dieses Wunderwerk an menschlicher Empfindsamkeit niederschreiben? Wie ist es möglich, dass jemand eine Sprache beherrscht, die solche Empfindungen festhält? “ 21 Bildende Kunst, Musik, Literatur der Moderne erhellen mit seismographischer Empfindlichkeit (Thomas Mann) 22 die Ambivalenz, d. h. die Mehrdeutigkeit der Moderne und ihre divergierenden Deutungsmöglichkeiten. Ins Spiel kommt die von Auflösung bedrohte Kohärenz des modernen Subjekts, mithin die nie zu erreichende Ganzheitlichkeit des Menschen, für die er mit seinen Empfindungen und seiner Vernunft angesichts des Wegfalls übersinnlich-metaphysischer Ge‐ wissheiten einsteht. Ins Spiel kommt zudem die Frage, ob nach dem Untergang der traditionellen Metaphysik ontologische Fragen überflüssig geworden sind? Walter Schulz löst in seinem Werk Metaphysik des Schwebens moderne Kunst aus ihrer Verklam‐ merung mit traditioneller Metaphysik, um eine feststellende Ontologie zu ver‐ meiden. Dabei stößt er auf die Frage, ob das Ende der traditionellen Metaphysik das Ende einer jeden möglichen Metaphysik überhaupt bedeute und ob sich nicht gerade in der modernen Kunst „Möglichkeiten zeigen, das Wesen der Me‐ taphysik neu zu bedenken“? 23 Schulz schlägt vor, die Zeitgemäßheit moderner Kunst in ihrer Negativität und Subjektivität zu deuten. Unter Negativität versteht er die „Aufhebung des Weltvertrauens zugunsten der Weltungesichertheit“. Subjektivität entspricht, so Schulz, der Erfahrung der Negativität. Subjektivität „(findet) in sich selbst keinen Halt und (hat) gerade darum die Tendenz (…), sich an die Welt, die auch keine Sicherheit bietet, zu verlieren.“ 24 Diesen Zustand wechselimplikativer Unsicherheit, den Zygmunt Bauman als Ambivalenzstruktur der Moderne und Jürgen Straub als Paradoxie transforma‐ torischer Identität reflektieren, reflektiert Schulz in Bezug auf Erscheinungsge‐ stalten moderner Kunst „als Zustand des Schwebens“ 25 , im Sinne eines Verlusts von Festigkeit, Fraglosigkeit und Positivität. Ästhetisches Schweben ist nach Schulz eine dynamische Subjekt-Welt-Beziehung, die, da moderne Kunst nicht mehr metaphysisch fundiert ist, die „Möglichkeit heraufführt, das Schweben als 1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne 29 26 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 14. 27 Peter Kümmel: „Freunde und Spione…, a. a. O., S. 47. 28 Manfred Dierks: „Abschied mit Thomas Mann“…, a. a. O., S. 373. 29 Karl Jaspers: Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. Herausge‐ geben von Hans Saner. München: Piper 1996; Byung-Chul Han: „Hoch-Zeit…, a. a. O., S. 104. 30 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Ju‐ nius 1992, S. 14. legitime ‚Grundlage‘ der modernen Kunst zu bedenken.“ 26 Moderne Kunst als genuiner Ort einer Metaphysik des Schwebens verwebt im Gegenzug zu einer ontologisierenden Metaphysik, Schein und Sein, Wahrheit und Lüge, An‐ schauung und Reflexion. Werke der modernen Kunst und Literatur sind mehr‐ deutig. Sie sind ambivalent. In ihrem Rätselcharakter stellen sie Grundfragen an die Gegenwart und transzendieren, im Beleuchten unterschiedlicher Perspek‐ tiven und Sinnentwürfe empirische Erfahrungen, die das auf sich selbst zurück geworfene Subjekt betreffen. Sie gestalten, indem sie sie verweigern, eine schwebende, ästhetische Erfahrung des Trostes: „(…) ein wirklich großer Roman“, so McEwan in Bezug auf Cervantes und Gegenwartsliteratur, „hat etwas Ermutigendes, egal, wie finster die Welt ist, die er beschreibt.“ 27 Seit 1750 gestalten moderne Romane Möglichkeitsräume des transitorischen Identitätsparadigmas, die vor dem Hintergrund der ersten Phase des Modern‐ ierungsschubes aus Genremischungen bestehen, mit dem sie Erwartungen ihrer Rezipient / innen transzendieren, darin transformatorische Identitätserfah‐ rungen der Moderne affizieren und sich - wie auch moderne bildende Kunst - gegen den instrumentellen Charakter der modernen Warenwelt gerichtet, der Verwandelbarkeit metaphysischer Aspekte stellen: Aspekten des Heiligen, des Göttlichen, des Erhabenen, des Geheimnisses, des Bösen in seinen vieldeutigen Varianten, Aspekten des Todes, konventionsüberschreitender Liebes- und Kom‐ munikationserfahrungen, den widersprüchlichen Aspekten des „Sorgenkind(es) der Moderne“ 28 , d. i. des Subjekts, und dem Wagnis der Freiheit. 29 Zygmunt Bauman definiert ambivalente Situationen als solche, in denen, im Versuch Ordnung herzustellen, herkömmliche bzw. erlernte Ordnungs- und Sprachmuster nicht greifen. Es entstehen Kontrollverlust, ein Gefühl der Un‐ entscheidbarkeit und Unentschiedenheit: „Die Konsequenzen der Handlung werden unvoraussagbar, während Zufälligkeit, die doch eigentlich durch Be‐ mühung um Strukturierung aufgehoben sein sollte, ungebeten zurückzukehren scheint.“ 30 Baumans Buch stellt, wie auch das Werk Walter Schulz‘, die Moderne als vergeblichen Versuch dar, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen; vergeblich deshalb, weil die ineinander greifenden funktionalsierten Systeme Kontin‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 30 31 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz…, a. a. O., S. 124 (Hervorhebung von Bauman). 32 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. 33 Terry Eagleton: The English Novel. An Introduction. Oxford: Blackwell 2008, S. 1. 34 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. 35 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 3. 36 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne. München: Fink 2007, S. 28 (Hervor‐ hebung von Vietta). genzen enthalten, die Ordnungsversuche immer wieder unterlaufen und Indi‐ viduen in der funktionalen Differenzierung der Systeme sozial ortlos werden lassen. Das Individuum wird vieldeutig ambivalent, „ein partieller Fremder“ 31 , oder, wie Walter Schulz formuliert, scheiternd und haltlos „bis zu den Erfah‐ rungen der Selbstauflösung hin“ 32 . Beide Autoren, der Soziologe und der Philo‐ soph, verwenden u. a. Franz Kafkas Werke - Walter Schulz bezieht sich auch auf James Joyce - als Belege einer ästhetisch transzendenten Immanenz der Mo‐ derne. Der moderne Roman als offenes Genre - er ist „a mighty melting pot, a mongrel among literary thoroughbreds“ 33 - spricht, indem er sie narrativ ge‐ staltet, die Ambivalenz der Moderne als Daseinsdiffusion und die aus ihr fol‐ genden transitorischen Identitätserfahrungen der Rezipient / innen an. Er ge‐ staltet als narrativer Kosmos Sinnfragen, er findet sie nicht. Rezipient / innen, insbesondere die des dritten Lebensalters, werden in ihren aspirierten imaginativen Identitätsmöglichkeiten von modernen Romanen affi‐ ziert. Fragen der Selbst- und Fremdbestimmung, des Selbstentzuges, der Auto‐ nomiebildungsmöglichkeiten, der Selbstranszendierung, der Gerotranszendenz, werden anhand der Konflikt- und Dilemmasituationen, in die die Erzählfiguren verstrickt sind, virulent. Immer geht es den Romanen um eine verdichtete Ver‐ gegenwärtigung von Vergangenheit, um eine an scheiternden Lebenserfül‐ lungen orientierten Ganzheit, 34 die transitorisch zukunftsoffen gestaltet ist: The novel presents us with a changing, concrete, open-ended history rather than a closed symbolic universe. Time and narrative are of its essence. In the modern era, fewer and fewer things are immutable, and every phenomenon, including the self, seems historical to its roots. The novel is the form in which history goes all the way down. 35 Moderne Romane sind unterhaltsame, erkenntnisfördernde Gedächtnismedien, deren Erzählwirklichkeit als „subjektiv entworfene Welt()“ in der „subjektiven Brechung“ des Erzählers und der Romanfiguren entsteht. 36 Diese subjektiven Erzählwirklichkeiten sind als moderne Gedächtnismedien zu verstehen: „The novel is the mythology of a civilization fascinated by its own everyday exis‐ 1.1 Romane lesen. Die Ambivalenz der Moderne 31 37 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 6. 38 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 7. 39 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Dis‐ ziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transzdisziplinäre Perspektiven“, in: Ansgar Nünning / Roy Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Tübingen: Narr 2004, S. 9-29, hier: S. 17-18. 40 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 18. 41 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 18. 1.2 tence.“ 37 Die kulturgeschichtlich transitorische Offenheit moderner Romane öffnet ihren Protagonisten prekäre Freiheitsspielräume, in denen konstitutive Identitätserfahrungen des Selbstentzugs gestaltet werden: Modern subjects, like the heroes of modern novels, make themselves up as they go along. They are self-grounding, and self-determining, and in this lies the meaning of their freedom. It is, however, a fragile, negative kind of freedom, which lacks any warranty beyond itself. 38 Kultursemiotischer Ansatz. Die Rezeption moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien Bei der Erschließung literarischer Texte sind diese nicht nur als Texte zu be‐ rücksichtigen, sondern auch als kulturelle Institutionen ihrer Entstehungszeit. Literarische Texte sind aufgrund ihrer spezifisch ästhetischen Differenz zwar Teile kultureller Ordnungen, aus denen sie hervorgehen, sie wirken aber auch auf diese zurück und sind zukünftig erschließbar. Geht man mit Ansgar Nünning und Roy Sommer von einem Kulturbegriff aus, der „semiotisch(), bedeutungs‐ orientiert() und konstruktivistisch()“ ist, 39 dann sind Kulturen, in Anlehnung an Roland Posners Kulturmodell, menschlich hergestellte Gebilde, die „nicht nur eine materiale Seite haben, sondern auch eine soziale und mentale“. 40 Modellhaft formuliert lassen sich der sozialen Dimension Individuen, Insti‐ tutionen und Gesellschaft, der mentalen Dimension Mentalitäten, Selbstbilder, Normen und Werte und der materialen Dimension Gemälde, Architektur, Ge‐ setzestexte und literarische Texte zuordnen. 41 In Bezug auf die Epoche der Mo‐ derne lassen sich demzufolge der sozialen Dimension Industrialisierung, Urba‐ nisierung, Autoren und Leser, der mentalen Dimension Utilitarismus, Egoismus und patriarchalisches Tugendsystem und der materialen Dimension, in Bezug Moderne Romane als Möglichkeitsräume 32 42 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 18. 43 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 19. 44 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 19. auf literarische Texte, beispielsweise Romane mit problemorientierten Hand‐ lungen und spezifischen Lösungsvorschlägen zuordnen. Nach Nünning und Sommer fasst dieser Kulturbegriff Kultur als den „von Menschen erzeugte(n) Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Emp‐ findungsweisen, Werten und Bedeutungen auf(), der sich in Symbolsystemen materialisiert.“ 42 Nünning und Sommer schließen mit Posner, dass dem bedeutungsorien‐ tierten Kulturbegriff zufolge künstlerische Ausdrucksformen der materialen Di‐ mension ebenso zuzuordnen sind, wie die mentalen Dispositionen und die so‐ zialen Dimensionen, die diese Ausdrucksformen hervorbrachten bzw. prägten. Da zwischen diesen drei Dimensionen komplexe Wechselwirkungen bestehen, ergibt sich für das Erschließen literarischer Texte aus einer bestimmten Kultur, in Bezug auf ihre Gehalte und Formen, dass sie in verdichteter Form „Aufschluss über die mentalen Dispositionen der entsprechenden Epoche geben“. 43 Litera‐ rische Texte sind also nicht nur künstlerischer Ausdruck zeitgenössischen Den‐ kens, sondern geben Aufschluss über die Selbstwahrnehmung und das kulturelle Bewusstsein einer Epoche, wie sie sich selbstreflexiv kulturdiagnostisch in den Werken als ästhetisch Besonderes thematisieren. Nünning und Sommer ziehen aus dem von ihnen konzipierten Gegenstands‐ bereich einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft drei Konsequenzen: 1. Bei kulturellen Einheiten handelt es sich nicht um vorgefundene Objekte, sondern um menschliche Konstrukte. 2. Wenn Literaturwissenschaft als Teil der Kulturwissenschaft verstanden wird, dann ist von einem weiten Literaturbegriff - Literatur als Teil der Medienkultur - auszugehen. 3. Die Gegenstandskonstitution einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft ergibt sich aus den drei Dimensionen des Kulturbe‐ griffs. Neben literarischen Texten berücksichtigt sie die mentale Dimension einer Kultur und die literarische Verarbeitung „gesellschaftlich dominanter Sinnkonstruktionen (…)“. 44 1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Romane als kulturelle Gedächtnismedien 33 45 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 19. 46 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 21. 47 Ansgar Nünning & Roy Sommer: „Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 20. 48 Wolfgang Hallet & Ansgar Nünning: „Einleitung. Grundlagen und Methoden der Ro‐ mandidaktik: Kontext, Konzeption und Ziele des Bandes“, in: Wolfgang Hallet und Ansgar Nünning (Hg.): Romandidaktik. Theoretische Grundlagen, Methoden, Lektürean‐ regungen. Handbücher zur Literatur- und Kulturdidaktik Band 3. Trier: Wissenschaftli‐ cher Verlag 2009, S. 1-10, hier: S. 1-2. 49 Lothar Bredella: Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr 2002, S. 46. 50 Peter V. Zima: Literarische Ästhetik. Tübingen: Francke 1995 (2. Auflage); Wolfgang Hallet: „Ansätze und Perspektiven einer neuen Romandidaktik“, in: Wolfgang Hallet und Ansgar Nünning (Hg.): Romandidaktik…, a. a. O., S. 29-52. Die von Nünning und Sommer konzipierte kultursemiotische Theorie bietet Anschlussmöglichkeiten an die zentralen Kategorien Literatur, Mentalität, kul‐ turelles Gedächtnis. 45 Sie bietet zudem Anschlussmöglichkeiten an die rezept‐ ionsästhetisch kontroverse Erschließung moderner Romane als kulturelle Ge‐ dächtnismedien. Diese werden als „kulturelle Ausdrucksträger“ 46 verstanden, die nicht Objekte, sondern „Formen der kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung“ 47 einer Epoche sind. Sie können in der Interaktion mit Rezipient / innen kultursemiotisch reflektiert werden. Romane sind fiktionale Welten, Erzählwelten. 48 Als das Andere der Realität ent‐ werfen sie Möglichkeitswelten, die die kognitiven, imaginativen und affektiven Fähigkeiten ihrer Leser / innen ansprechen. Literarische Texte regen im Lektü‐ reprozess ihre Leser / innen an, sich mit dem Selbst- und Weltverständnis der Figuren, ihren Gedanken, Gefühlen und Entscheidungen auseinanderzusetzen und damit „die Gefühle und Gedanken anderer zu erschließen“. 49 Im Lektüre‐ prozess baut sich die erzählerische Form der Selbst- und Weltbilder der Figuren und ihrer Interaktionen als Gegenentwurf zu ideologischen Mustern und be‐ grifflichen Vereinnahmungen auf. 50 Dieser Gegenentwurf zeichnet sich als Mög‐ lichkeitsraum aus, dessen Rätsel- und Fragecharakter die Erfahrungswirklich‐ keit seiner Leser / innen durch die Nähe zu ihrer Erfahrungswelt und durch die ästhetische Distanz seiner erzählerischen Gestalt, die diese Nähe ermöglicht, zum Ausdruck bringt. Die ästhetische Erfahrung „(…) gewährt den Leserinnen und Lesern auf dem Weg der Lektüre Anteil an anderen, entfernten oder fremden Welten und Denk‐ vorstellungen und macht ihnen zugleich das Angebot, bisher ungewohnte oder, Moderne Romane als Möglichkeitsräume 34 51 Wolfgang Hallet: „Ansätze und Perspektiven einer neuen Romandidaktik“…, a. a. O., S. 32. 52 Peter V. Zima: Literarische Ästhetik…, a. a. O., S. 260. 53 Wolfgang Hallet: „Ansätze und Perspektiven einer neuen Romandidaktik“…, a. a. O., S. 33; Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 14-15. 54 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand (1920) 1971, S. 47, S. 51. 55 Hanns-Josef Ortheil: Der poetische Widerstand im Roman. Geschichte und Auslegung des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Königstein / Ts.: Athenäum 1980, S. 5. im wörtlichen Sinne, befremdliche Erfahrungen und Wahrnehmungen in ihr eigenes Denken und Handeln zu integrieren.“ 51 Die Lektüre von literarischen Texten, insbesondere von Romanen, die „ihrer begrifflichen Monosemierung“ 52 widerstehen, kommt dem kulturellen und bio‐ grafischen Bedürfnis seiner Leser / innen nach Antwortmöglichkeiten auf ihre Sinnfragen dadurch entgegen, dass die Leser / innen um die Differenz zwischen ihrer Lebenswirklichkeit und der erzählten Welt wissen. Diese grundsätzliche ästhetische Differenz evoziert literarischen Sinn. 53 Sie besteht aus der erzählten Textur, die auf der Inhaltseben den Grundkonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft erzählsituativ, konfliktual differenziert und auf der Ausdrucks‐ ebene, der Ebene der erzählerischen Form, diesen Grundkonflikt in der Differenz zwischen der Erzählwelt und ihren Leser / innen metafiktional repräsentiert. Die Gesinnung zur Totalität, die Georg Lukács als Form des modernen Romans im Unterschied zum Epos bezeichnet, 54 wird im Aufschub erfüllter Ganzheit, in ihren Episoden, Kontingenzen, in ihrer Weigerung rationale Gründe anzugeben, in der Isolation der Individuen, im gestalteten Chaos lebendig. Romane gestalten die Illusion, unerfüllte Sehnsüchte könnten künftig erfüllt, Liebende vereint werden. Es ist diese Illusion, die die Differenz zum Alltag der Leser / innen aus‐ macht, die die im Roman ersehnte Ganzheit belebt, „notwendige Voraussetzung der ‚Unbestimmtheit‘ (seiner) Einzelmomente“ 55 ist, ihm den Charakter des Fragments gibt, und die Ganzheitssehnsucht der Rezipient / innen in der mo‐ dernen Welt affiziert. Die Lektüre der Romane Dickens‘, der Geschwister Brontë und Virginia Woolfs sprechen eine Generation an, die als Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkrieges von den Traumatisierungen ihrer Eltern und Großeltern in Mitlei‐ denschaft gezogen worden ist, aber auch kreative Entwicklungsmöglichkeiten in der neuen Bundesrepublik hatte. Dickens‘, Brontës und Woolfs Romane öffnen ihnen imaginative Räume, die im Zusammenspiel von Identifikation und Distanzierung mit diesen Erzählwelten, Identitätsvorstellungen, Vorenthaltung von Identitätsmöglichkeiten, Ambivalenzen, Erfahrungen evozieren, die Po‐ tenziale transitorischer Identitätserfahrungen und narrativer Identität in den 1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Romane als kulturelle Gedächtnismedien 35 56 Peter V. Zima: Literarische Ästhetik…, a. a. O., S. 263. 57 Herbert Grabes: „Literaturgeschichte / Kulturgeschichte: Gemeinsamkeiten, Unter‐ schiede und Perspektiven“, in: Ansgar Nünning / Roy Sommer (Hg.): Kulturwissen‐ schaftliche Literaturwissenschaft…, a. a. O., S. 129-146, hier: S. 136. 58 Herbert Grabes: „Literaturgeschichte / Kulturgeschichte…, a. a. O., S. 136. Verstehensprozess der Erzählwelt einflechten und Pathologien der modernen Gesellschaft aus der Perspektive viktimisierter Außenseiter oder hochindivi‐ duailisierter Einzelgänger erzählerisch erschließen lassen. Durch erzählerische Verfahren, die die Romane strukturieren - Erzählerper‐ spektiven, Figureninteraktionen, Handlungsverwicklungen, Zeit- und Raumer‐ fahrungen, Leerstellen -, entstehen strukturiert offene Textgewebe, die die In‐ teraktionen zwischen diesen Texten als fiktionalen Möglichkeitsräumen und ihren Leser / innen als Frage- und Antwortspiel dynamisieren. In dieser Inter‐ aktion flechten sich Einstellungen der Leser / innen durch Rückgriffe auf ihr Erfahrungswissen in die Erzählgewebe ein und erlauben Einblicke in bislang unzugängliche menschliche Möglichkeiten. Im imaginativen und diskursiven Wechselspiel zwischen literarischen Texten und ihren Leser / innen entsteht durch irritierende Stellen, durch nonkonformistische Sinnentwürfe, durch die Vorenthaltung fixierbarer Erzählintentionen, eine „energetische Kraft“ 56 , die den Deutungsprozess zwischen den literarischen Texten und ihren Leser / innen trägt, eine Vielzahl von Deutungen ermöglicht, zu Veränderungen der Selbst- und Weltbilder der Leser / innen und zu innovativen Deutungen der rezipierten Werke führen kann. Die Reflexion auf die erzählerische Textur, die sich in der ästhetischen Differenz zwischen erzählter Welt und der Erfahrungswelt der Leser / innen ausdrückt - sie wissen, dass sie Romane lesen - ist wesentlicher Bestandteil des Lektüre- und Verstehensprozesses, der Aktivierung narrativer Identitätsmöglichkeiten sowie der Reflexion auf transitorische Identitätserfah‐ rungen. Diese wird durch Spielarten des Selbstentzugs, die die Romane ver‐ dichten, angeregt. Die Erzählwelten sind nicht auf ein Deutungsschema, bei‐ spielsweise auf melodramatisches Erzählen, festzulegen. In literarischen Werken begegnen wir „besonderen Orten, Augenblicken, Fi‐ guren mit Eigennamen, spezifischen Rede- und Handlungsweisen, Arten des Denkens und Fühlens“. 57 Sinnlich wahrnehmbar, ästhetisch, ist darin die „ima‐ ginative Erfahrung des Besonderen als physischer Erscheinung und / oder in‐ neren Konkretheit anstelle abstrakter Begrifflichkeit“. 58 Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass wir literarische Texte aufgrund ihrer ästhetischen Differenz als kulturell vergangenheits- und zukunftsbezogene gestaltgewordene Ereig‐ nisse auffassen können, „bei (denen) unsere kognitiven, affektiven und evalua‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 36 59 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidak‐ tische Studien. Tübingen: Narr 2010, S. 33. 60 Christoph Bode: Der Roman. Tübingen Francke 2005, S. 258-259 (Hervorhebung von Bode). 61 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne. Tübingen: Francke 2001 (2. Auflage), S. 216. tiven Fähigkeiten aktiviert werden“. 59 Bei der Erschließung literarischer Texte aus früheren Epochen geht es also darum, ihre neue kulturelle Funktion in Bezug auf unser heutiges Selbst- und Weltverständnis zu verstehen. Fünf komplexe Problemkreise werden im Folgenden miteinander in Bezie‐ hung gesetzt: 1. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Debatten um den Alternsprozess. In den Blick kommt die kulturgeschichtliche Situation der Nachkriegsge‐ neration in Deutschland, der die Rezipient / innen des dritten Lebensalters angehören, 2. der Problemhorizont der Identität in der reflexiven Moderne, 3. das Erschließen und Verstehen der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne als Wegbereiter der Moderne, bzw. als mo‐ derne Romane, die den metaphysischen Orientierungsverlust narrativ ge‐ stalten, 4. die kritisch-hermeneutischen Auseinandersetzung mit der Kulturdiagnostik der Romane durch Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Der rezeptionsästhetische Zugang sucht demzufolge die kontrovers reflektierte Bedeutung der Werke und „(…) ihr Wirkungspotenzial heute zu bestimmen, als einer Etappe im seither erfolgten Entfaltungsprozess des Werkes, dessen Be‐ deutung als nicht in der Entstehungssituation festgeschrieben verstanden wird (…).“ 60 Im Rahmen des semiotischen Kulturbegriffs bedeutet dies, dass literarische Werke im Zusammenhang mit ihrem kulturellen Kontext rezeptionsästhetisch, im Zusammenspiel zwischen literarischen Texten und ihren Leser / innen, dis‐ kursiv werden. Dabei wird die vom Autor intendierte Bedeutung als einmalig und historisch situiert verstanden, während Leserschaften sich historisch ver‐ ändern, fortwährend erneuern, also eine heterogene Größe darstellen, die sich bei der Erschließung literarischer und nicht-literarischer Texte, nicht auf eine Bedeutung festzulegen vermag: Zu viele sprachliche, kulturelle, ideologische und ästhetische Interessen kollidieren im Bereich der Rezeption, als daß sich eine Textbedeutung auf Dauer durchsetzen könnte. 61 1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Romane als kulturelle Gedächtnismedien 37 62 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen…, a. a. O., S. 18. 63 Herbert Grabes: „Literaturgeschichte / Kulturgeschichte…, a. a. O., S. 140. 64 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2005, S. 96, S. 144-145, S. 147. 65 Gottfried Gabriel: „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur“, in: Christoph Demmerling / Ingrid Vendrell Ferran: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatu. Philosophische Beiträge. Berlin 2014, S. 163-180, hier: S. 174-175, S. 163 (Hervorhebung von Gabriel). Der Erkenntniswert von Romanen Im Zusammenspiel von literarischen Texten und Leser / innen werden die je‐ weils kulturell bestimmten und persönlich ausgebildeten „kognitiven, affek‐ tiven, imaginativen und evaluativen Kompetenzen“ 62 evoziert. In den Blick ge‐ raten dabei kontrovers besprochene Plausibilitätsfragen wie diese: Inwieweit literarische Werke kulturdiagnostisch das symbolische Wertsystem ihrer Zeit erhalten bzw. verstärken, oder ob sie sich durch ihre formale Komposition von diesen Wertsystemen distanzieren? 63 Diese kulturdiagnostische Fragestellung kann rezeptionsästhetisch nicht durch eine Übertragung individualpsychologischer Erfahrungen auf epochal und äs‐ thetisch differente kollektive Erfahrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einer Entscheidung zugeführt werden. Vielmehr geht es darum, diese Erfah‐ rungen, wie sie in der symbolischen Form des modernen Romans selektiert, kombiniert und verdichtet zum Ausdruck kommen, hermeneutisch in Bezug auf das Wechselverhältnis der drei Kulturdimensionen zu reflektieren. Sieht man im Rahmen einer semiotischen Kulturtheorie moderne Romane als kulturelle „Gedächtnisphänomene“ der materialen Seite der Kultur an, 64 dann bedeutet das Erschließen, Verstehen und die kritische Reflexion dieser Erzählwelten, diese als eigenständige symbolische Formen zu lesen, deren Rückversetzung der Handlung (bei Romanen des Viktorianischen Zeitalters um 40 - 50 Jahre) sie zu einzigartigen Gedächtnismedien der Krise ihrer Kultur werden lassen. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Plausibilitäts- und Dispositions‐ fragen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters, die sie an die Erzählwelten stellen. Im Unterschied zu Plausibilitätsfragen von Zuhörer / innen, die sich auf den Ich-Fokus narrativer Identitäten richten, zielen Plausibilitätsfragen von Leser / innen auf den Fiktionsstatus von Romanen. Romane vergegenwärtigen Ereignisse poetisch im Erzählten. Ihr „Erkenntniswert (besteht) in einer Verge‐ genwärtigungsleistung“. 65 Narrative Identitäten vergegenwärtigen ebenso. Mit zunehmendem Alter der Erzähler / innen werden sie bedeutungsvoller und intensiver. Lebenserfah‐ rungen werden teleologisch und adressatenbezogen in linearer, temporaler und Moderne Romane als Möglichkeitsräume 38 66 Dieter Teichert: „Narrative Identität“, in: Christoph Demmerling / Ingrid Vendrell Ferran: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis…, a. a. O., S. 315-333; Julia Röthinger: „‘Erosion ist ein langsamer Vorgang‘. Das Verschwinden des Ich in Frischs ‚Der Mensch erscheint im Holozän‘“, in: Franz-Josef Deiters, Axel Fliethmann, Birgit Lang, Alison Lewis, Christiane Weller (Hg.): Altern / Ageing. Freiburg / Berlin: Rombach 2015, S. 125-146, hier: S. 128-129. 67 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformato‐ rischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer 2012, S. 42 (Hervorhebung von Koller). 68 Gottfried Gabriel: „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis…, a. a. O., S. 174-175. 69 Gottfried Gabriel: „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis…, a. a. O., S. 174-175. 70 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken…, a. a. O. S. 42. 71 Gottfried Gabriel: „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis…, a. a. O., S. 175. kausaler Verknüpfung, mit markiertem Anfangspunkt, auf einen sinnstiftenden Endpunkt hin erzählt. 66 Aber mit einem wichtigen Unterschied gegenüber Romanen: Narrative Iden‐ titäten weisen teleologisch zurück und vergegenwärtigend hin. Sie weisen auf gemachte Erfahrungen und versuchen sie in den kohärenten Zusammenhang eines und dann zu bringen. Der Referenzcharakter narrativer Identitäten zielt auf Kohärenz und Plausibilität gemachter Erfahrungen, die, wie juristische Plä‐ doyers biografische Ereignisse geordnet und / oder assoziativ zusammenziehen und durch Dokumente belegen können, um außergewöhnliche Handlungen „von gängigen Normalitätserwartungen“ plausibel zu unterscheiden. 67 Demge‐ genüber verzichten Romane auf „verweisende Bezugnahme“, auf Referenz. 68 Romane stellen autoreferenziell dar und ermöglichen eine Konfrontation mit fiktionalen Erfahrungen und damit eine „Richtungsänderung des Bedeutens“, die die reflektierende Urteilskraft der Rezipient / innen auf der Suche nach Deu‐ tung und Sinn aktiviert. 69 Während Identität als narrative Konstruktion „stets von Brüchigkeit gekennzeichnet ist“ 70 , sind Romane kontingenzästhetisch strukturiert und verweisen im Erzählen des Erzählens auf ein Spiel mit Brüchen in und mit der Fiktion - siehe z. B. Miguel Cervantes‘ Roman Don Quichote, Laurence Sternes‘ Roman Tristram Shandy, Virginia Woolfs Roman The Waves, James Joyces Roman Ulysses, Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel. Dieses Spiel macht ihre Gesinnung zur Totalität aus und lässt sie zur gegenweltlichen Zeitdiagnose für Rezipient / innen des dritten Lebensalters werden. Der Struk‐ turunterschied, der Romane und narrative Identität voneinander unterscheidet, macht narrative Identität zu einer literarischen „Mischform“ 71 , die das Er‐ schließen fiktional erzählter Welten in ästhetischer Distanz ermöglicht. Plausi‐ bilitätsfragen sind also die von den Lebenserfahrungen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters bereitgestellten Bedingungen einer kreativen Auseinan‐ dersetzung mit den fiktiven Texturen erzählender Literatur. Literarische Texte 1.2 Kultursemiotischer Ansatz. Romane als kulturelle Gedächtnismedien 39 72 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen…, a. a. O., S. 147. 73 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen…, a. a. O., S. 148. 74 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen…, a. a. O., S. 95-100. 75 Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München: Fink 2007, S. 255 (Hervorhebung von Ricoeur). werden im Lichte der riskierten Ganzheit der Lebenserwartungen der Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters zu bedeutsamen Möglichkeitsräumen, in denen sie sich als ganze Menschen wiedererkennen: als Individuen mit Ängsten und Hoffnungen, mit Widersprüchen, mit Abgründen und als Individuen, die kreativ und zerstörerisch sein, lieben und hassen können und Visionen haben. Zu symbolischen Gedächtnismedien werden Romane also dadurch, dass sie im Akt des Fingierens Elemente der drei Kulturdimensionen, mithin „Elemente der außerliterarischen Realität“, in andere imaginäre, diffuse Bedeutungen ohne Objektreferenz überführen. 72 Damit irrealisieren sie empirische Wirklichkeits‐ elemente und weisen ihnen fiktional den Status der Realität zu. Als Ausdrucks‐ formen des kulturell Imaginären 73 verdichten moderne Romane, durch Rück‐ griffe Vergessenes, Erinnertes und Zukunftsweisendes ihrer Kultur. Durch Neu- oder Umstrukturierungen temporaler und kausaler Ordnungen eröffnen sie im Rezeptionsakt Analogien, die, im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses mo‐ derner Erfahrungen, kulturspezifische Schemata des 19. Jahrhunderts mit Sche‐ mata individuell kulturellen Erinnerns des 20. und 21. Jahrhunderts aktualisie‐ rend verknüpfen. Beide Formen des kollektiven Gedächtnisses, nämlich kulturelles Erinnern als individueller Akt und das Gedächtnis der Kultur in den ästhetischen Formen der Romane des Viktorianischen Zeitalters sowie der frühen Moderne, wirken durch ihre jeweilige narrative Struktur im Zusammenspiel von individueller und kollektiver Ebene im Rezeptionsakt zusammen. 74 Mit Paul Ricoeur kann man diese Aktualisierung kultureller und biografischer Muster als Refiguration be‐ zeichnen, in der die Dynamik der erzählten Welten an ihr Ziel kommt: „Erst in der Lektüre kommt die Dynamik der Konfiguration an ihr Ziel. Und erst jenseits der Lektüre, in der tatsächlichen Handlung, die bei den überkommenen Werken in die Lehre gegangen ist, verwandelt sich die Konfiguration des Textes in Re‐ figuration.“ 75 Rezeptionsästhetisch bedeutet diese Aktivität der Leser / innen, dass ihr Selbst- und Weltbild, ihre Werte und Normen aufs Spiel gesetzt und Erfahrungen ihrer transitorischen Identität affiziert werden. Zudem öffnen sich ihnen Po‐ tenziale narrativer Identität und transgenerationaler Diskurse. Moderne Romane als Möglichkeitsräume 40 76 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen…, a. a. O., S. 22-24. 77 Karl Jaspers: Philosophie II. Existenzerhellung. Berlin / New York: Springer 1973, S. 201-254. 78 Karl Jaspers: Philosophie II…, a. a. O., S. 229. 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität Der moderne Roman als offenes Genre, so wurde eingangs erläutert, spricht, indem er sie narrativ gestaltet, transitorische Identitätserfahrungen an und lässt sie in der Interaktion zwischen Text und Leser / innen thematisch werden. Die Grundstruktur dieser Interaktion besteht darin, dass der literarische Text nicht als ein Objekt begriffen wird, das sich von außen analysieren lässt, sondern als ein, wie oben gezeigt, subjektiver Weltentwurf, durch den Leser/ innen zu kre‐ ativen Mitspielern werden. Die Welt des narrativen Textes entsteht in der In‐ teraktion zwischen Text und Leser / innen. Das bedeutet, dass literarische Texte von den Erfahrungen her, die Leser / innen mit ihnen machen, verstanden werden müssen. Ästhetische Erfahrung wird zur transformativen Energie, die den Horizont der Rezipient / innen, unter Rückbezug auf das individuelle Vor‐ verständnis, für Neues öffnet. 76 Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne geben ihren Protagonistinnen und Protagonisten als Waise und Außenseiter Gestalt. Mit Helmut Plessner und Karl Jaspers formuliert, symbolisieren sie die exzent‐ rische Positionalität des Menschen in Grenzsituationen. Auf der Suche nach dem Ich, die diese Romane als transitorisches Werden zu sich selbst gestalten, werden sie mit Erfahrungen des Leidens, der Krankheit, des Kampfes um Liebe, des Zufalls und des Todes konfrontiert. Hunger, Kälte und Illusionsverlust kommen hinzu. Nach Karl Jaspers sind dies keine philosophischen, sondern existenzerhel‐ lende Grenzsituationen des Menschen, denen man nicht ausweichen, die man aber mit dem Mut zum Neubeginn bewältigen kann. 77 Das trifft auch auf den eigenen Tod zu: Der Tod ist nur als ein Faktum eine immer gleiche Tatsache, in der Grenzsituation hört er nicht auf zu sein, aber er ist in seiner Gestalt wandelbar, ist so, wie ich jeweils als Existenz bin. Er ist nicht endgültig, was er ist, sondern aufgenommen in die Ge‐ schichtlichkeit meiner sich erscheinenden Existenz. 78 Grenzsituationen als lebendige Notwendigkeit erfahren, heißt folglich, sie zum Eigentlichen unserer Existenz werden lassen: „(…) wir werden wir selbst, wenn wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Sie werden, dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar. Grenzsituati‐ 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 41 79 Karl Jaspers: Philosophie II…, a. a. O., S. 204. 80 Konrad Paul Liessmann, Gerhard Zenaty, Katharina Lacia: Vom Denken. Einführung in die Philosophie. Wien: Braunmüller 2007, S. 159. 81 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit (1931). Berlin: de Gruyter 1971, S. 73-76. 82 Karl Jaspers: Philosophie II…, a. a. O., S. 236. 83 Hans Ulrich Seeber: „Vormoderne und Moderne“, in: Hans Ulrich Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler 2012, S. 327-388, hier: S. 370. 84 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter …, a. a. O., S. 30. onen erfahren und Existieren ist dasselbe. In der Hilflosigkeit des Daseins ist es der Aufschwung des Seins in mir.“ 79 Die Nicht-Endgültigkeit der Endgültigkeit des menschlichen Todes stellt ein Paradoxon dar: Zwar macht jeder Mensch die Erfahrung, dass andere Menschen sterben können, aber die Bedeutung von Tot-Sein kann man nicht erfahren. 80 Jaspers bringt die Erfahrungen der Grenzen menschlichen Daseins, auch das Paradoxon der menschlichen Todeserfahrung, in den Zusammenhang der Fä‐ higkeit des Menschen zur immanenten Transzendenz: Der Einzelne könne, so Jaspers, als Teil einer Gesamtheit, mit der er kommuniziere, seine Existenz ver‐ stehen. Menschsein entstehe aus Krisenerfahrungen, nämlich in der individu‐ ellen Fähigkeit zu freier Selbstschöpfung. 81 Eine analoge Weltdeutung findet sich in Virginia Woolfs Werk, in Varianten aber auch in den anderen hier vorge‐ stellten Romanen. Die jeweilige Form der Romane nimmt Grenzerfahrungen menschlicher Exis‐ tenz und ihre narrativen Aufschwungs- und Lösungsmöglichkeiten in ihre kon‐ tingenzästhetische und multiperspektivische Struktur als fiktionale Existenzer‐ hellung auf. Die jeweilige erzählerische Form wird zum fiktionalen „Wagnis des Lebens“ 82 und damit zum interessanten, spannenden, unterhaltsamen, die Ge‐ fühle und kognitiven Fähigkeiten der Rezipient / innen des dritten Lebensalters anregenden Lektüre- und Diskursangebot. Sie können ein großes Spektrum menschlicher Grenzsituationen, in denen sich die Protagonisten der Romane befinden und ihre Bewältigungsmöglich‐ keiten, erschließen: Im Oliver Twist als Todeserfahrungen im Leben, in Jane Eyre als drohende Existenzvernichtung, in Wuthering Heights als archaische Gegen‐ perspektive gegen viktorianische bzw. bürgerliche Ordnungsvorstellungen, bei Virginia Woolf als „Zeitlichkeit und Veränderlichkeit“ 83 des individuellen Le‐ bens, in seiner Ambivalenz von Leben und Tod. Ins Spiel kommen dabei Fragen der Alternsidentität, die, nach Erikson, an die Aufgabe gebunden sind, das eigene Leben in seiner Gesamtheit als stimmig zu erfahren und in seinen positiven wie negativen Aspekten als einmalig, unum‐ kehrbar und endlich zu bejahen. 84 In der Weiterführung der Entwicklungsthe‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 42 85 Andreas Kruse: „Offenheit, Generativität und Integrität als Entwicklungsaufgaben des hohen Alters“, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 149-165, hier: S. 153, S. 154. 86 Andreas Kruse: „Offenheit, Generativität und Integrität als Entwicklungsaufgaben des hohen Alters…, a. a. O., S. 156-157. 87 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 17. orie Eriksons hebt Andreas Kruse mit Günter Anders und Hans Thomae hervor, dass Identitätserfahrungen im Alter durch Offenheit, als „Fähigkeit und Bereit‐ schaft (…), sich von der Welt berühren, beeindrucken, ergreifen zu lassen“, ent‐ stehen. Daraus folgen „Mitverantwortung“ für die Welt und ihre Veränderungs‐ möglichkeiten und Dispositionen für „im Lebenslauf entwickelte (…) neue Möglichkeiten und Anforderungen“. 85 Entscheidend ist hierbei, dass im Alterns‐ prozess eine „tragfähige Lebensperspektive“ entwickelt werden kann, die sich in Bezug auf die verbleibenden Jahre des Lebens als positive Lebensbewertung und als Wunsch nach sozialer Teilhabe äußert. 86 Dieses Konzept der Generati‐ vität im Alter, das sich familiär und gesellschaftlich verwirklichen kann, ist in engem Zusammenhang mit Identitätstheorien zu sehen, in deren Zentrum Er‐ fahrungen der transitorischen Identität und ihre Möglichkeiten der Selbstorga‐ nisation subjektiven Lebens in der Moderne stehen. Die mit Industrialisierung, Kapitalisierung und unterschiedlichen Ström‐ ungen von Individualisierung entstandene Moderne, die sich durch das lange 19. Jahrhundert erstreckte, wird von Soziologen und Kulturkritikern, wie Charles Taylor, Peter Gay, Ulrich Beck, Anthony Giddens, Axel Honneth, mit einer reflexiven, sich ständig revidierenden Moderne, dem Verlust stabiler Wert‐ orientierungen, extrem gesteigerter Auswahlmöglichkeiten, mit Reflexionen auf transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und trans‐ formatorischen Bildungschancen in Verbindung gebracht. Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts ge‐ nerieren das Paradigma moderner, transitorischer Identität: „The fact that so many novels centre on a search, quest or voyage suggests that meaning is no longer given in advance.” 87 In Bezug auf Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten in der Mo‐ derne spricht Jürgen Straub, wie oben erläutert, von unabschließbaren Ambiti‐ onen, die aktiv keine Kohärenz des Selbst herbeiführen. In der Auseinanderset‐ zung mit den Romanen wird das Selbst als Fremdes, als Anderes, als nicht 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 43 88 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 277-303, hier: S. 280-281; Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken…, a. a. O.; Axel Honneth: „Dezentrierte Autonomie. Moralphilo‐ sophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik“, in: Axel Honneth: Das An‐ dere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt / M: Suhrkamp 2000, S. 237-251. 89 Wolfgang Schmale: „Menschenrechte - Individuelle Freiheit - Selbstbestimmung“, in: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln: Bohlau 2001, S. 243-263, hier: S. 254. 90 Axel Honneth: „Markt und Moral. Alternativen der Kapitalismusanalyse”, in: Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 78-103, hier: S. 89. 91 Axel Honneth: „Markt und Moral…, a. a. O., S. 84. 92 Axel Honneth: „Markt und Moral…, a. a. O., S. 86-88, S. 98-101. 93 Axel Honneth: „Markt und Moral…, a. a. O., S. 83. 94 Laurenz Volkmann: Homo oeconomicus. Studien zur Modellierung eines neuen Menschen‐ bildes in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2003, S. 247-255, S. 550-607; Franco Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2014. einholbarer, konstitutiver Selbstentzug, der kreative Potenziale und Möglich‐ keiten der Selbsttranszendierung freisetzen kann, thematisch. 88 Der Individualismus hatte sich in England bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Blüte entwickelt und war hauptsächlich männlich konnotiert. 89 Fragen nach „moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft“ 90 wurden nicht systematisch gestellt. Sie wurden von Intellektuellen in Bezug auf den Homo oeconomicus als Persönlichkeitstypus, nicht aber in Bezug auf soziale Verelendung und Ausbeu‐ tung durch Freisetzung privater Profitinteressen diskutiert. 91 Sie tauchten als Skizzen eines moralischen Ökonomismus bei Adam Smith, Hegel, Durkheim und Marx auf. 92 Die seit dem 18. Jahrhundert publizierten englischen Romane jedoch gingen in Varianten der Frage nach, ob ökonomisch, d. h. in der Sprache der Romane, malevolent strukturierte Machtasymmetrien moralisch legitimiert seien und ob der Typus des Homo oeconomicus nicht mit der „Gefahr einer all‐ mählichen Aushöhlung sozialer Bindungen verknüpft sei“. 93 Im Möglichkeits‐ raum der Fiktion entwarfen Romane Vorstellungen individueller Autonomie‐ bildungsmöglichkeiten und brachten diese Fragen, im 19. Jahrhundert über die Paradoxie des poetischen Realismus, wie zu zeigen sein wird, als Herausforde‐ rungen in den öffentlichen Diskurs ein. 94 Im 19. Jahrhundert verdichteten Ro‐ mane die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus, die sich „(…) zwischen dem an universalisierbaren Werten orientierenden Verständigungs- und Geltungsanspruch demokratischer Politik einerseits und der sich demokra‐ tischer Politik und moralischer Gestaltung entziehenden Dynamik des Kapita‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 44 95 Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus. Beck: München 2013, S. 127. 96 Peter Gay: Die Macht des Herzen. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich. Mün‐ chen: Beck 1999, S. 56, S. 65, S. 67, S. 55-69; Peter Gay: The Naked Heart. The Bourgeois Experience. Victoria To Freud. London: HarperCollins 1996, S. 43. 97 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen …, a. a. O., S. 148; Silvio Vi‐ etta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 10-38. 98 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 24. 99 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 28-29 (Hervorhebung von Vietta); Silvio Vietta: „Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“, in: Mauro Ponzi (Hg.): Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 77-89, hier: S. 86; Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 11. 100 Peter Erlebach, Bernhard Reitz, Thomas Michael Stein: Geschichte der englischen Lite‐ ratur. Stuttgart: Reclam 2007, S. 573-580, S. 592-602; Hans Ulrich Seeber: „Romantik und Viktorianische Zeit“, in: Hans Ulrich Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte…, a. a. O., S. 231-325. lismus andererseits (…)“ als „Dauerproblem“ aufspannte 95 und, wie Peter Gay dies nennt, ein normatives Vakuum erzeugte. 96 In ihrer narrativ subjektiven Perspektivierung der Kulturkrise, die sie 40-50 Jahre vor ihren Publikationsdaten, meist in der Mitte des 18. Jahrhun‐ derts, ansetzen, sind Romane des Viktorianischen Zeitalters Teil des modernen Literatursystems. 97 Sie konfrontieren - wie auch die Romane, die der klassischen Moderne zugerechnet werden - die Diskrepanz des modernen Kapitalismus und die mit ihr einhergehenden Problematik des normativen Vakuums kontingen‐ tästhetisch und multiperspektivisch. Rezipient / innen des dritten Lebensalters können diese Romane als kulturelle Gedächtnismedien über die Fähigkeit zur Aktiven Imagination refigurieren, wenn sie deren paradoxe bzw. multipersektivische narrativen Strategien er‐ schließen und auf die epochale und ästhetische Differenz dieser fiktionalen Möglichkeitsräume zu heutigen individuellen Akten kulturellen Erinnerns re‐ flektieren. Bei der Erschließung dieser Romanwelten kommen komplexe mo‐ derne Entfremdungserfahrungen, die „wirklichkeitsgeneriernd“ 98 das Erzählen des Erzählens hervorheben, ins Spiel. In narrativen Konstruktionen, die das Ge‐ schehen allererst erzeugen, erkunden Romane das moderne Selbst, loten Mög‐ lichkeiten seiner Handlungsspielräume und persönlicher Autonomie aus und dringen zu „Zonen des Vor- und Unbewussten (…) vielfach im Modus der Angst“ 99 vor. Da jeder dieser Romane Wahrnehmungsformen moderner Sub‐ jektivität anders perspektiviert, entsteht eine enorme Vielfalt unterschiedlicher narrativer Ausdruckswelten - auch bei Autoren, wie beispielsweise Charles Di‐ ckens, in dessen Werk kein Roman dem anderen gleicht -, so dass man von einer einheitlichen Gattung Roman nicht sprechen kann. 100 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 45 101 Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Four Essays. With a new foreword by Harold Bloom. Princeton/ Oxford: Princeton University Press 1990 [1957]. 102 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frank‐ furt / M: Suhrkamp 1994, S. 639-679; Charles Taylor: „Humanismus und moderne Iden‐ tität“, in: Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie…, a. a. O.; Charles Taylor: „Ursprünge des neuzeitlichen Selbst“, in: Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie…, a. a. O., S. 271-283. 103 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität“, in: Charles Taylor: Wieviel Ge‐ meinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt / M: Suhrkamp 2001, S. 218-270, hier: S. 224-238. 104 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 238-248. 105 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 249-260, hier: S. 249. In der Refiguration moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien durch Rezipient / innen des dritten Lebensalters, wird die Komplexität des modernen Ich, werden Gattungsmuster erschließbar, die Entwicklungsverläufe unter‐ schiedlichster Art, bzw. archetypische Formen wie Komödie, Tragödie, Satire, Melodrama 101 und ihre - besonders bei Charles Dickens ausgeformten - Misch‐ formen zum Ausdruck bringen. Die kontingenzästhetische Multiperspektivität der Romanwelten bringt moderne Erfahrungen der transzendentalen Obdach‐ losigkeit (Georg Lukács) und die daraus folgenden Pathologien der Angst, der Verlusterfahrungen und Bedrohung zum Ausdruck; in Romanen des Viktoria‐ nischen Zeitalters in den Modi des Unheimlichen, der Groteske, des Erhabenen, des Grotesk-Erhabenen mit kathartische Lösungsmöglichkeiten im Modus des Märchenhaften oder der Märchen-Groteske, in Romanen der klassischen Mo‐ derne in den Modi des Selbstverlustes und der Selbsttranszendenz. Charles Taylor leitet das in den Romanen gestaltete moderne Identitätspara‐ digma aus unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Quellen her. 102 Taylor ent‐ wirft drei Elemente oder Facetten des abendländischen Identitätsparadigmas: Das erste ordnet er dem Platonimus zu. Identität ist kosmologisch orientierte Innerlichkeit und an der Ordnung eines guten Lebens orientiert. 103 Das zweite Element ordnet er Descartes‘ Erkenntnistheorie zu. Dieses Paradigma des dis‐ tanzierten Subjekts entsteht in der Übergangszeit zwischen Augustinus und Descartes. Sein Merkmal ist eine radikale Reflexivität, die von eigenen Ideen, statt vom äußeren Sein ausgeht. Im Unterschied zur augustinischen Innerlich‐ keit verlegt Descartes die sittlichen Quellen in den Menschen selbst. 104 Diese Verlagerung sittlicher Quellen in Erfahrungen der Endlichkeit des Lebens bildet den Übergang zum dritten Element des Identitätsparadigmas, in dem das „ganze menschliche Leben (…) nun in Begriffen von Arbeit und Produktion einerseits und Ehe und Familie andererseits definiert (wird).“ 105 Es entsteht die bürgerliche Ethik, die mit ihren Idealen der Gleichheit, ihrem universellen Rechtsgefühl, Moderne Romane als Möglichkeitsräume 46 106 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 261-262. 107 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 256. 108 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 256. 109 Charles Taylor: „Humanismus und moderne Identität…, a. a. O., S. 265. 110 Charles Taylor: „Ursprünge des neuzeitlichen Selbst“, in: Charles Taylor: Wieviel Ge‐ meinschaft braucht die Demokratie? …, a. a. O., S. 271-283, hier: S. 273-274. 111 Charles Taylor: „Ursprünge des neuzeitlichen Selbst…, a. a. O., S. 271, S. 275. 112 Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge: Polity 1993, S. 78 (Hervorhebung von Giddens), S. 79. 113 Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity…, a. a. O., S. 34. ihrem Arbeitsethos, ihrer Unterstützung von Erwerb und Handel, ihrer Nor‐ mierung sexueller Liebe und Familie, eine wesentliche Rolle bei der Konstitu‐ ierung der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Das sich in der Romantik heraus‐ bildende bürgerliche Subjekt ist mit den widersprüchlichen Herausforderungen von Fortschritt, Sinnsuche und Lebensbejahung konfrontiert, die aus dem Di‐ lemma zwischen instrumenteller Vernunft und kreativem Schöpfertum resul‐ tieren. 106 Die „Synthese dieser Bejahung des normalen Lebens mit der Vorstel‐ lung des distanzierten Subjekts“ 107 ist das wesentliche Paradigma moderner Identität, „nach dessen Maßgabe wir uns seither zu definieren haben.“ 108 Die Folge ist, dass mit dem Schwinden kosmischer Ordnungen von Ideen und the‐ ologischer Perspektiven das Gefühl in der Moderne wächst, „daß die Aufgabe das Leben zu bejahen und eine Quelle inneren Wertes zu finden, uns selbst zu‐ fällt.“ 109 Persönliche Identität ist ein fester Bestandteil der modernen Zivilisation ge‐ worden. Es gilt: „Meine Identität gehört erst dann zu mir, wenn ich sie akzep‐ tiere, was prinzipiell Raum für Verhandlungen mit meiner Umwelt, meiner Ge‐ schichte und meinem Schicksal öffnet.“ 110 Das moderne Paradigma einer Selbstdefinition, das im menschlichen Lebenslauf ausgebildet wird, kann unter der Bedingung immer wieder umdefiniert werden, dass es sich auf die Aner‐ kennung der Anderen zu stützen vermag. 111 Anthony Giddens erläutert Selbstbestimmungsmöglichkeiten als kontextbe‐ zogene „self-actualisation“, nämlich als „balance between opportunity and risk“ 112 , die es Individuen ermöglicht, ihre Lebenswege selbstverantwortlich auszuhandeln und zu gestalten. Giddens begründet diese Selbstverantwortlich‐ keit mit der Fragilität und Schutzlosigkeit des modernen Selbst: „Self-Identity becomes problematic in modernity in a way which contrasts with self - society relations in more traditional contexts; yet this is not only a situation of loss, and it does not imply either that anxiety levels necessarily increase.” 113 In Bezug auf Möglichkeiten einer Bildung transitorischer Identitäten in der Moderne folgert Giddens an anderer Stelle: „A person’s identity is not to be 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 47 114 Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity…, a. a. O., S. 54 (Hervorhebung von Gid‐ dens). 115 Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“, in: Christoph Menke und Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos 2010, S. 63-80. 116 Axel Honneth: „Dezentrierte Autonomie…, a. a. O., S. 237-251, hier: S. 239. 117 Axel Honneth: „Dezentrierte Autonomie…, a. a. O., S. 239. 118 Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung…, a. a. O., S. 74-76. 119 Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung…, a. a. O., S. 77. found in behaviour, nor - important though this is - in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going. The individual’s bio‐ graphy (…) cannot be wholly fictive. It must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ‘story’ about the self.” 114 Um einen Sinnbezug zu uns als selbstentzogenen Subjekten herzustellen, müssen wir in anwesenden oder abwesenden sozialen Kontexten vergangene und gegenwärtige Erfahrungen mit unseren Zukunftserwartungen verknüpfen. Axel Honneth führt in diesem Zusammenhang Paradoxien eines reflexiven Individualismus der Moderne ein, die er in Begriffe organisierter Selbstverwirk‐ lichung, bzw. in den Begriff dezentrierter Autonomie fasst. 115 Unter dezentrierter Autonomie versteht Honneth eine von Kontingenz und Heteronomie bestimmte Form von Subjektivität und personaler Identität, deren Struktur so angelegt ist, dass „subjektübergreifende Mächte“ von Beginn des Lebenslaufs an zu „Konsti‐ tutionsbedingungen der Individualisierung“ und der Entwicklung persönlicher Autonomie werden. 116 Persönliche Autonomie versteht Axel Honneth „(…) nicht als Gegensatz zu, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte“ des Unbewussten und der Sprache. 117 Seit den 1960er Jahren entwickelt sich in modernen Gesellschaften, durch sozialstrukturelle und sozialkulturelle Wandlungen bedingt, eine zentrale Pa‐ radoxie der Individualisierung der reflexiven Moderne, nämlich „das eigene Selbst genau dort zu suchen“, wo es kulturell, institutionell oder wirtschaftlich erwartet wird. 118 Nach Honneth weist diese Paradoxie sozialgeschichtliche Ähn‐ lichkeiten mit den sozialen Problemlagen auf, die im 20. Jahrhundert zur He‐ rausforderung wurden - eine hohe Zahl Arbeitsloser und gesellschaftlicher Au‐ ßenseiter, Konzerne, die ohne politische Kontrolle international agieren, Arbeitsimmigranten, die aus Armutszonen in die Metropolen strömen -, He‐ rausforderungen, von denen man dachte, „dass sie zum erfolgreich bewältigten Erbe des 19. Jahrhunderts gehört“ haben. 119 Hinzu kommen, so Honneth, „Formen sozialen Leidens“, die „ohne Vorläufer in der Geschichte kapitalisti‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 48 120 Axel Honneth: „Organisierte Selbstverwirklichung…, a. a. O., S. 77. 121 Gerben J. Westerhof: „Identity Construction in the Third Age: The Role of Self-Narra‐ tives“, in: Heike Hartung, Roberta Maierhofer (eds.): Narratives of Life: Mediating Age. Aging Studies in Europe, Vol. 1. Münster: Lit 2009, S. 55-69, hier: S. 56. 122 Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt / New York: Campus 2002; Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 277-303; Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung. Frank‐ furt / M: Fischer 2015. 123 Martin Seel: Sich bestimmen lassen…, a. a. O., S. 287 (Hervorhebung von Seel). 124 Martin Seel: Sich bestimmen lassen…, a. a. O., S. 288 (Hervorhebung von Seel). scher Gesellschaften sind“. 120 Diese Formen wie Depressionen und Resignation entstehen aus Gefühlen innerer Leere, die mit einem sozialstrukturellen und sozialkulturellen normativen Vakuum verbunden sind. Dieses Vakuum zwingt Individuen zur Alternative zwischen erwarteter oder erzwungener Authenti‐ zität oder zur Flucht in hektische Betriebsamkeit bzw. in Resignation. Auch der niederländische Psychogerontologe Gerben J. Westerhof spricht gerade in Bezug auf Menschen des dritten Lebensalters von individuellen Er‐ fahrungen eines „value gap“, der moderne Individuen in die paradoxe Situation bringt, sich selbst in Bezug auf ihre Vergangenheit als bedeutungs- und wert‐ tragend zu deuten, um daraus für ihre Gegenwart und Zukunft neue, bedeu‐ tungsvolle und werttragende Identitätsmuster zu konstruieren, die in sozialen Kontexten verhandelt werden können. 121 Die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus bestimmt bis heute transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten moderner Indi‐ viduen. Deren dezentrierte Autonomie ist Ausdruck der Pathologie der refle‐ xiven Moderne und vergleichbar mit Pathologien des 18. und 19. Jahrhunderts, die das sich herausbildende bürgerlichen Subjekt affizierten. Virulent bleibt die Frage nach der Souveränität und Mündigkeit heutiger Individuen, 122 und nach dem persönlichen Umgang mit Erfahrungen des Selbstentzuges und der Selbst‐ bestimmung. Wie oben dargelegt, fasst Martin Seel Selbstbestimmung als Modus des sich bestimmen lassens. Seel spricht davon, dass sich unsere Selbstbestimmung „not‐ wendigerweise inmitten einer historisch entfalteten und sozial geteilten Welt vollzieht“ 123 und wir nur unter Anerkennung der Kräfte, die uns bestimmen, selbstbestimmt handeln können. Hier kommt die oben erläuterte Paradoxie des Identitätsbegriffs als aspirierter Einheit ins Spiel. Martin Seel nennt sie „die Freiheit der eigenen Bestimmung“ und begründet sie so: „Wer nicht in vieler Hinsicht bestimmt wäre, könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber eine eigene Bestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein ist ein konstitutiver Rückhalt von Selbstbestimmung.“ 124 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 49 125 Gerben J. Westerhof: „Identity Construction in the Third Age…, a. a. O., S. 58. 126 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang mit Po‐ tentialen und Verletzlichkeit im Alter - Wege zu einer Anthropologie des Alters”, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, Andreas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit. Späte Lebensphasen zwischen Vitalität und Endlichkeit. Frankfurt / New York: Campus 2013, S. 29-64, hier: S. 36. 127 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 49. 128 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 50. 129 Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 28. 130 Andreas Kruse: Alternde Gesellschaft…, a. a. O., S 8. Die komplexe Motivlage von Menschen im dritten Lebensalter Menschen im dritten Lebensalter, zwischen 65 und etwa 80 Jahren, werden ge‐ legentlich als Menschen in ihrer zweiten Adoleszenz 125 oder als jugendliche Alte 126 bezeichnet. Diese Terminologie weist auf Motivlagen hin, die sich von denen junger Menschen in den ersten Adoleszenzphasen, auf Grund lebens‐ langer Entwicklungsschritte in allen Lebensphasen bis ins hohe Alter unter‐ scheiden. Seit frühen Lebensjahren entwickeln Jugendliche und junge Erwachsene Ge‐ fühle und ein Bewusstsein für die zukunftsbezogene „Bedeutung des Vertrauens in die eigenen Kräfte“. 127 Nach Erikson prägt und verändert sich dieses Vertrauen im Lebenslauf in acht unterschiedlichen, durch psychosoziale Krisen gekenn‐ zeichnete Entwicklungsphasen. Im dritten Lebensalter verbinden sich, in an‐ derer Akzentuierung als im Jugend- und Erwachsenenalter, Selbst- und Mitver‐ antwortung für nachfolgende Generationen mit einem bis ins hohe Alter reichenden „Vertrauen (in) eine Vergangenheit - (und) eine() über die Existenz hinausweisende() Zukunftsperspektive“. 128 Die wichtigen Konzepte dieser Al‐ ternsphase sind Generativität, Ich-Integrität und Gerotranszendenz als „Aus‐ drucksformen einer Kreativität im Alter“. 129 Diese Schlüsselkonzepte sind eingebunden in eine Anthropologie des Alterns, die den Gestaltungswillen und die Gestaltungsfähigkeit Alternder in Bezug auf ein selbstorganisiertes Leben und in Bezug auf gesellschaftliche Mitverantwor‐ tung hervorhebt. Andreas Kruse, ein prominenter Vertreter dieser Theorie, hebt auf der Grundlage gerontologischer Forschungen Potenziale des Alters hervor, in denen sich, wie oben gezeigt, „die Potenzialperspektive“ mit der „Verletzlich‐ keitsperspektive“ 130 Alternder komplementär verbindet. Die entstehende Kom‐ plementärperspektive betrifft heutige Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Während die Potenzialperspektive die potenziellen Energien Alternder, die sie in Fällen von Belastungen und Verlusten eine positive Lebenseinstellung auf‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 50 131 Andreas Kruse: Alternde Gesellschaft…, a. a. O., S. 9-11. 132 Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt / M: Suhrkamp 2007 S. 118, S. 214-215. 133 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. München: dtv 1997, S. 80-102, S. 185-199. 134 Andreas Kruse: Alternde Gesellschaft…, a. a. O., S. 9-11. rechterhalten lässt, betont, hebt die Verletzlichkeitsperspektive eine abneh‐ mende körperliche Leistungsfähigkeit, mit einer höheren Anfälligkeit für Er‐ krankungen im Alter hervor. Rezipient / innen des dritten Lebensalters gelingt es, wie anderen Alternden, beide Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Integration beider Perspektiven relativiert Belastungszenarien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglicht Bildungs- und Therapieerfahrungen. 131 In der Wechselbeziehung beider Perspektiven ist für das dritte Lebensalter, nach Erikson im Prozess der drei Stadien des Erwachsenenlebens, das Potenzial vor‐ handen, „die Sorge für Dinge und Menschen“ zu übernehmen und das Gefühl zu entwickeln „der Schöpfer von Dingen und Ideen zu sein.“ 132 Selbst- und Mitver‐ antwortung grenzen sich von fremdbestimmenden Autoritäten und Instituti‐ onen ab und stellen sich dem Wagnis einer neu erworbenen Freiheit. Erich Fromm nennt diesen Aspekt der Freiheit des modernen Menschen Freiheit von. Dieser Freiheitsaspekt kann auch Gefühle der Ohnmacht, Isolation, und Angst enthalten. Diese Ambivalenz kann eine Flucht ins Autoritäre bewirken. Sie kann sich bei integrierten Persönlichkeiten zu einer Freiheit von entfalten und im Gleichgewicht zwischen Emotionalität und Intellekt produktiv und kreativ werden. 133 Alternden kann es gelingen, die Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive kreativ miteinander zu verbinden. 134 In die Wechselbeziehung beider Perspek‐ tiven ist die im Vorverständnis der Rezipient / innen situierte Spannung zwi‐ schen dem ästhetischen Erfahrungspotenzial immanenter Transzendenzerfah‐ rung und dem Bewusstsein menschlicher Mortalität und damit das Bewusstsein eines Werdens zu sich selbst eingebettet. Diese zum gerotranszendenten Ver‐ mögen Alternder gehörende Situierung wird vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund der dezentrierten Autonomie in der Moderne im Erschließungs‐ prozess der Romane und ihrer Verwirrungsästhetik zum kreativen Moment des Rezeptionsprozesses. Die Übergänge zwischen der Potenzial- und der Verletz‐ lichkeitsperspektive befinden sich im Fokus der folgenden Ausführungen. Menschen im dritten Lebensalter befinden sich auf Grund ihrer langen bio‐ grafischen Entwicklung, ihrer Lebens- und Krisenerfahrungen, ihres differenz‐ ierten Wissens, ihres entwickelten und komplexen Gefühlslebens in einem Al‐ ternsprozess, der für sie hinsichtlich des Bewusstseins ihrer Endlichkeit und Verletzlichkeit Ressourcen freisetzen kann, die ihre Stärken und Schwächen 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 51 135 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 34-38. 136 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 35. 137 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 49. 138 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein - Philosophische Ethik der späten Lebenszeit“, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, Andreas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit…, a. a. O., S. 167. 139 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein…“, a. a. O., S. 168 (Hervorhebung von Rentsch). 140 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein…“, a. a. O., S. 163. miteinander in einen kreativen und produktiven Bezug setzen können, sodass ihr persönliches Leben flexibel autonom gestaltbar, gesellschaftlich und zu‐ kunftsbezogen nachhaltig mitverantwortlich geprägt werden kann. 135 Entscheidend sind in dieser Lebensphase nicht nur die individuellen Mög‐ lichkeiten der Lebensgestaltung, sondern „(…) die in der Biografie entwickelten Ressourcen des Individuums, gesellschaftliche Strukturen, die die Aufrechter‐ haltung, Weiterentwicklung und Nutzung dieser Ressourcen fördern, sowie Al‐ ters-, Generationen- und Menschenbilder, die sich positiv auf die individuelle Motivlage auswirken.“ 136 Diese komplexe Motivlage, die sich mit Beginn des Eintritts in die Renten- oder Pensionszeit und mit Beginn der Ablösung von familiären Pflichten der Kindererziehung zu entfalten beginnt, gibt Menschen mit Beginn des dritten Lebensalters die Chance eines Neubeginns der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, einer zweiten Adoleszenz, die, wie Erich Fromm formuliert, durch die Freiheit von etwas in eine Freiheit zu etwas führt und durch spontanes Tätigsein eine integrierte Persönlichkeit möglich werden lässt. 137 Es entstehen Chancen einer Selbst- und Lebensgestaltung, die im Bewusstsein der „Zeitlichkeit des menschlichen Lebens“ 138 , von einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit als „Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation“  139 reflektiert wird und anschlussfähig ist an das Konzept transformatorischer Identität, das von Jürgen Straub entwickelt worden ist. Im Bewusstsein der in‐ dividuellen Einzigartigkeit, Endlichkeit und Verletzlichkeit lassen sich anthro‐ pologisch gesehen, „menschliche() Lebensvollzüge (…) als Versuche des Ent‐ wurfs sinnvollen Lebens begreifen“. 140 Zu den altersspezifischen Erfüllungsgestalten menschlichen Lebens gehört, dass Individuen ein gemein‐ sames Leben mit anderen führen, und dass deshalb „das existentielle Alleinsein unhintergehbar zur menschlichen Lebenssituation“ ebenso gehört wie die Un‐ verfügbarkeit und Entzogenheit des Selbst im sozialen Zusammenhang mit An‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 52 141 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein…“, a. a. O., S. 164, S. 177. 142 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein…“, a. a. O., S. 164, S. 167, S. 170, S. 177. 143 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind. Psychogramm der Deutschen nach 1945. Freiburg: Herder 2014; Dieter Hildebrandt und Felix Kuballa (Hg.): Mein Kriegs‐ ende. Erinnerungen an die Stunde Null. Berlin: List 2015; Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Stuttgart: Klett-Cotta 2011; Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta 2014. 144 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 56. deren. 141 Im Alternsprozess wird die Ganzheit des menschlichen Lebens, die ge‐ bunden ist an konkrete Situationen, unterschiedliche Altersstufen, die Leiblichkeit des Menschen und Zeitlichkeit des menschlichen Lebens als Selbst‐ entzogenheit und riskierte Ganzheit radikalisiert erfahrbar. 142 Daraus können Chancen einer kreativen und flexiblen Lebensführung entstehen. Chancen zum Glück, so Thomas Rentsch, kennzeichnen alle Lebensphasen, ebenso wie Er‐ fahrungen der Fragilität, also Krisen, Probleme und Ängste, die aber im Alter im Bewusstsein der Endlichkeit und Sterblichkeit als herausfordernde Gemen‐ gelage empfunden werden. Dies gilt insbesondere für die jetzige Generation des dritten Lebensalters, die mit den von Axel Honneth in Verbindung gebrachten Pathologien der reflexiven Moderne - Resignation und Depression - durch traumatisierende Erfahrungen der Nachkriegszeit, des Kalten Krieges und der beginnenden Wohlstandsgesell‐ schaft, betroffen sind: Kindliche Erfahrungen des Verlusts der Väter, verängs‐ tigter, verunsicherter oder auch starker Mütter, kindliche Fremdheitserfah‐ rungen als Heimatvertriebene oder Umsiedler, Verlust von Familienangehörigen, Heimatlosigkeit ohne Eltern in Ruinenstädten, gerade in den eisigen Wintern der Jahre 1945 / 46, 1946 / 47, Schwarzmarkterfahrungen - kindliche Erfahrungen des Vertrauens- und Autoritätsverlusts, Krisenerfah‐ rungen, die die Endlichkeit und Unwiederbringlichkeit menschlichen Lebens radikal zu Bewusstsein brachten und heute, im zeitlichen Abstand, nachdem das Familien- und Berufsleben weitgehend abgeschlossen ist, wieder zu Bewusstsein bringen und in Bezug auf die Reflexion der Romane kreativ in Anschlag gebracht werden können. 143 Möglichkeiten einer „Verarbeitung eigener Verletzlichkeit“ 144 in Bezug auf diese Erfahrungen bieten Kunstwerke, die die Pathologien der re‐ flexiven Moderne ästhetisch verfremdet zur sinnlichen Erfahrung und zur kul‐ tursemiotischen Reflexion anbieten, aber auch intergenerationelle Kommuni‐ kationsformen in Familien, Schulen, Gemeinden, Kulturinstitutionen. In der Auswertung von Interviews der Greontologie der Universität Heidelberg, die diesbezüglich im Blick auf die Generativität und Mitverantwortung im hohen 1.3 Die Refiguration des Paradigmas moderner Identität 53 145 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 47-48. 1.4 und sehr hohen Lebensalter durchgeführt wurden, wurde deutlich, dass im Alter zwar die Intensität der Erinnerungen an Emigration, Lagerhaft und weitere Leiden an der Gesellschaft intensiver werden, dass es den interviewten Frauen und Männern „aber zugleich gelinge, diese belastenden Erinnerungen zu ver‐ arbeiten, da sie schon seit Jahren in einem intensiven Dialog mit Schülerinnen und Schülern stünden, in dem sie ihr kulturelles, historisches und politisches Wissen weitergeben und damit junge Menschen zusätzlich für die Bedeutung sensibilisieren könnten, die auch der persönliche Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Frieden für das friedliche Zusammenleben von Völkern und Ethnien besitze.“ 145 Diese Haltung gegenüber der inneren Bedrohtheit und die Öffnung auf Mit‐ verantwortung und Zukunftsverantwortung erweist sich als Entschiedenheit einer persönlichen Autonomie, die flexibel unangepasst mit würdeverletzenden Vergangenheitserfahrungen und demokratischen Notwendigkeiten der Gegen‐ wart und Zukunft umzugehen weiß. Vergleichbar Kathartisches geschieht in Rezeptionsprozessen, die sich mit Kunstwerken bzw. Literatur auseinandersetzen. Fiktionale Narrative regen Kre‐ ativität an, weil sie ein Gefühl für Kontinuität und Ganzheit erzeugen und zu‐ gleich - und dies gilt für die Romane des Viktorianischen Zeitalters wie auch für Werke der klassischen Moderne - ein Gefühl riskierter Ganzheit entstehen lassen. Moderne Romane spenden keinen Trost. Vor dem Hintergrund einer re‐ flexiven Moderne evozieren sie beunruhigende Fragen, die an Erinnerungen des Vertrauens- und Autoritätsverlusts, an Krisen, Hunger und Kälte, Verlorenheit, Heimatlosigkeit und menschliche Mortalität rühren. Mit diesen ästhetischen Erfahrungen setzen die Rezipient / innen des dritten Lebensalters ihr Selbst- und Weltverständnis aufs Spiel setzen und initiieren komplexe Diskurse. Transitorische Identität und die Bedeutung literarischer Texte in der ersten und zweiten Phase der Modernisierung Am Beispiel moderner Romane können Rezipient / innen des dritten Lebensal‐ ters erforschen, wie diese Leben und Kultur ihrer Zeit narrativ verdichtet kon‐ frontieren. In der Interaktion mit den Texten und ihren komplexen emotionalen Situationen, deren Grundstruktur oben dargelegt wurde, können sie über er‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 54 146 Verena Kast: Altern - immer für eine Überraschung gut. Ostfildern: Patmos 2016, S. 100-106; Peter V. Zima: Literarische Ästhetik…, a. a. O., S. 223-224. 147 Sabine Bode: Kriegsspuren. Die deutsche Krankheit der ‚German Angst‘. Stuttgart: Klett-Cotta 2016, S. 171-184. 148 Franco Moretti: Der Bourgois…, a. a. O., S. 138, S. 18-19, S. 40. 149 Franco Moretti: Der Bourgois…, a. a. O., S. 162. 150 Peter Childs: Modernism. London / New York 2002, S. 16. 151 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 37 (Hervorhebung von Zima). schließendes Lesen zunächst eigene Deutungen entwerfen und über die reflek‐ tierende Lektüre das ästhetische Fremde so refigurieren, dass die Epoche, in der die literarischen Texte als ihr ästhetisch Fremdes gestaltet wurden, nicht auf Bekanntes und Gegenwärtiges reduziert werden. In dieser rezeptionsästheti‐ schen Situation schwingen kultursemiotisch persönliches und kulturelles Ge‐ dächtnis zusammen und gegeneinander; die Subjektivität der Rezipient / innen wird transzendiert. 146 Dabei erproben und besprechen sie, wie man im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Erzählwelten eine eigene Sprache für Verluste und Leid gegen das delegierte Schweigen der Eltern finden und narrativ Mög‐ lichkeiten individueller Mündigkeit in angstfreier Nähe mit anderen riskieren kann. 147 Bürgerliche Romane wirkten seit dem 18. Jahrhundert kathartisch. Sie lösten Gefühlsstürme aus und forderten zeitgenössische Moralvorstellungen heraus, weil sie ästhetisch verfremdet das bürgerliche Selbst in seiner Widersprüch‐ lichkeit, Bedürftigkeit, Habgier und Ganzheitssehnsucht bloßstellten. Franco Moretti hebt die heterogenen Eigenschaften des europäischen Bürgertums hervor, die seit dem 18. Jahrhundert die Koexistenz gegensätzlicher Wertvor‐ stellungen ermöglichten und die Entschlusskraft des Bürgertums mit einem Unbehagen an der Gesellschaft verbanden. Diese für die Mittelschicht typische Selbstwidersprüchlichkeit, die Kompromisse zwischen unterschiedlichen ideo‐ logischen Systemen bilden konnte, 148 enthielt durch „selbstauferlegte Blindheit“, insbesondere der Viktorianer, 149 Tendenzen zur Selbstverschleierung, die von den Romanen der Viktorianischen Zeit in den unterschiedlichen Varianten, wie sie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell oder die Brontës vorlegten, gegen gesellschaftliches Nützlichkeitsdenken, thematisiert wurden. Da die Begriffe Moderne, Modernismus und Postmoderne weder als Ideolo‐ gien, noch als rivalisierende Ästhetiken angemessen zu verstehen sind - „‘mo‐ dernity‘ is an imprecise and contested term“ 150 -, eher als „sozio-linguistische Situationen“, im Rahmen „gesellschaftliche(r) und historische(r) Problema‐ tiken“ 151 , lassen sich moderne Romane als ästhetisch Fremdes ihrer Kultur und als offen-komplexe narrative Strukturen verstehen und nicht auf begriffliche Aussagen reduzieren. Ihre Vieldeutigkeit macht ihren ästhetischen Charakter 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 55 152 Joshua Kavaloski: High Modernism. Aestheticism and Performativity in Literature of the 1920s. New York: Camden House 2014, S. 17. 153 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 303. 154 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 306. 155 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 303. 156 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 307. 157 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 309. aus. Moderne Romane konfrontieren die instrumentelle Vernunft ihrer Zeit mit narrativen Unschärferelationen, in der die Negativität der Weltungesichertheit mit der Haltlosigkeit des Subjekts zu einer Metaphysik des Schwebens verknüpft ist. Mit Joshua Kavaloskis Forschungen zur klassischen Moderne kann man sagen: „In the nineteenth century, art’s primary function was presumably the portrayal of bourgeois self-understanding and thus it gradually evolved into a cultural form without a utilitarian role in society.“ 152 Einem Vorschlag Peter V. Zimas folgend, lässt sich die Metaphysik des Schwe‐ bens moderner Literatur und Romane kulturkritisch als Entwicklung „von der Ambiguität zur Ambivalenz und von der Ambivalenz zur Indifferenz“ 153 deuten. Die Ambiguität literarischer Texte verortet Zima im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Romane Jane Austens und die Balzacs vermochten, so Zima, „den wahren Charakter ihrer oft zweideutigen Gestalten (…) und mit Hegel das Wesen hinter den Erscheinungen (aufzudecken)“. 154 Dass dies nicht für Dickens‘ Romane, auch nicht für Oliver Twist (1837) gilt - in Dickens‘ Ro‐ manen liegt das zentrale Problem in der Erforschung der Haltlosigkeit des mo‐ dernen Subjekts, die den Warenwert der Menschen in Frage stellt - soll im dritten Teil gezeigt werden. Die Ambivalenz literarischer Texte - Ambivalenz, verstanden als Zusam‐ menführung unvereinbarer Gegensätze oder Werte, ohne Synthese 155 - sieht Zima im Zusammenhang von Friedrich Nietzsches Philosophie, Sigmund Freuds psychoanalytischen Forschungen und Karl Marx‘ Frühschriften. Der Ambiva‐ lenz liegt, so Zima, der Gedanke der Vertauschbarkeit z. B. von Herr und Knecht, Gott und Teufel, Mensch und Ding zugrunde. Michail Bachtins Verdienst sei es gewesen, Ambivalenz mit dem Zusammenbruch der Hierarchien und der Um‐ wertung der Werte als Karnevalsgeschehen sowohl in der älteren, wie auch in der modernen Literatur verknüpft zu haben. 156 Der moderne Roman, so folgert Zima, „(…) könnte als ein Text gelesen werden, in dem Nietzsches und Freuds Erkenntnisse über die Verknüpfung unvereinbarer Werte und das Zusammen‐ wirken einander entgegengesetzter Regungen gebündelt und ins Fiktionale pro‐ jiziert werden.“ 157 Moderne Romane als Möglichkeitsräume 56 158 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 451. 159 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 307. 160 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. 161 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 238. Subjektivität als Gestaltungsprinzip moderner Romane impliziert eine Ab‐ wendung von instrumenteller Vernunft und kalkulierendem Bewusstsein, so dass das Unterbewusstsein zum Impulsgeber der Romane wird und die Macht des Begehrens in narrativen Gestalten des Bösen Tendenzen zu Destruktion und Selbstzerstörung zeitigt. 158 Ambivalenz als Mehrdeutigkeit der Moderne (Zyg‐ munt Bauman) wird mit ihren divergierenden Deutungsmöglichkeiten zum Strukturprinzip moderner Romane. Romane des Viktorianischen Zeitalters, die die Ambivalenz als Paradoxie des poetischen Realismus gestalten und Romane des frühen 20. Jahrhunderts gehen, wie im dritten Teil zu zeigen ist, noch einen Schritt über das Paradigma der Ambivalenz, das sie gleichwohl auch zum Ausdruck bringen, hinaus: Die in kulturell sanktionierten Gegensätzen ästhetisch gestaltete Vertauschbarkeit zielt auf ihre Ähnlichkeit und damit auf „Vertauschbarkeit als Indifferenz“ 159 , wobei sich in Dickens‘ Roman Oliver Twist und in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre das Verhältnis von Subjektivität und Negation, von Mehrdeutigkeit subjektiver Weltbezüge und deren Undurchschaubarkeit, in einer Haltlosigkeit des Ichs zum Ausdruck bringt, die nicht selbstzerstörerisch angelegt ist, sondern trotz resignativer Tendenzen, Chancen zulassen, privates Glück erlangen zu können. Die Wunschvorstellung bleibt leitend, „daß der Mensch auf Erfüllung angelegt ist (…)“. 160 In Emily Brontës Roman Wuthering Heights hingegen ver‐ dichtet sich unstillbares Begehren als Energie des Negativen, bzw. Destruktiven, für das es keine Erlösung gibt. In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway schließ‐ lich wird die Metaphysik des Schwebens in einer Multiperspektivität gestaltet, die die Ambivalenz von Leben (Clarissa Dalloway) und Tod (Septimus Warren Smith) in der Haltlosigkeit moderner Subjektivität zum Ausdruck bringt, vor dem Hintergrund der Folgen des Ersten Weltkrieges, der Europa in einen Sog von Gewalt und Zerstörung hineinzog. Die im dritten Teil vorgestellten Romane enthalten in der Transzendierung des Gegebenen und Positiven metaphysische Reste der Moderne 161 als Metaphysik des Schwebens, in der sich Schein und Sein, Anschauung und Reflexion verbinden. In Dickens‘ frühem Roman Oliver Twist bestehen metaphysische Reste der Moderne in der gegenläufigen, quasi schicksalhaften Handlungsführung und einer narrativ zwar vorbereiteten, dann aber im Sprung herbeigeführten mär‐ chenanalogen, schicksalsähnlichen Problemlösung, die die erzählerische Ord‐ nung auf ihre Kontingenzen hin autoreferenziell aufleuchten lässt. 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 57 162 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 133. 163 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 136, S. 140. 164 Isaiah Berlin: The Roots of Romanticism…, a. a. O., S. 124, S. 139-143. 165 Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik…, a. a. O., S. 13-33. 166 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München: Beck 2007, S. 11. 167 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…,a. a. O., hier: S. 117. 168 Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O., S. 10. 169 Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O., S. 10. In Charlotte Brontës Roman Jane Eyre sind überirdische Klänge und Stimmen, für die Jane empfänglich ist, ihre Androgynität, und, im letzten Drittel des Ro‐ mans, die Natur als schützende Gottheit, sowie Janes persönliches Gottesver‐ hältnis, das sie in eine wirksame Kontrolle sich selbst und ihrem Alter-Ego Ro‐ chester gegenüber umsetzt, sowie das Echo einer Absolution, 162 das St John Rivers in den ihm vom Roman erteilten Worten als Abwesendem und Verstor‐ benen, in den Mund gelegt wird, als metaphysische Reste der Moderne anzu‐ sehen. In Emily Brontës Roman Wuthering Heights kommen in Folge der radikalen Absage des Romans an religiöse Erlösungsgewissheiten, eine konventionsüber‐ schreitende Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff (sofern man von einer Beziehung im konventionellen Sinne sprechen kann), eine unbezähm‐ bare innere und äußere Natur, die zur Quelle von Vitalität und Transzendenz wird, eine dezentrierte narrative Struktur, die diese Transzendenz hervorbingt und in einen überpersönlichen Bereich der Mythologie oder des Todes über‐ führt, 163 als metaphysischen Reste der Moderne ins Spiel. In Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway wird die Metaphysik des Schwebens in der Harmonie der Gegensätze - ein Erbe der europäischen Romantik 164 - gestaltet. Der Roman bringt die Verwandschaft der Gegensätze als immanente Transzendenz 165 erzähldynamisch zum Ausdruck, ohne sie zur Synthese zu führen. Sieht man mit Georg Bollenbeck Kulturkritik als normativ aufgeladenen „Re‐ flexionsmodus der Moderne“, der „(…) bestimmte Haltungen und Denkmuster (hervorruft), die nicht Wissen sind, sondern (…) die Verarbeitung und Produk‐ tion von Wissen ermöglichen (…)“ 166 , dann antizipiert die Ambivalenzstruktur moderner Romane transitorische Identitätserfahrungen, die seit der Epoche der Revolutionen zwischen 1790 und 1880 167 moderne Subjektivitätserfahrungen bestimmen. In die Romane gehen kulturkritische Vorstellungen ein, für die „etwa zwischen 1760 und 1800“ 168 in Großbritannien Grundlagen geschaffen werden, die ab 1780 „ihren Ausdruck in der Lyrik, im Versdrama, aber auch im Roman finden“. 169 An dieser historischen Epochenschwelle, die am Ende des 18. Jahr‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 58 170 Andreas Reckwitz: „Ästhetik und Gesellschaft - ein analytischer Bezugsrahmen“, in: Andreas Reckwitz, Sophia Prinz, und Hilmar Schäfer (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 13-52, hier: S. 32. 171 Reinhart Koselleck: „‘Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe“, in: Rein‐ hart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik Geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ M: Suhrkamp 1979, S. 300-348, hier: S. 325. 172 Andreas Reckwitz: „Ästhetik und Gesellschaft…, a. a. O., S. 32. 173 Andreas Reckwitz: „Ästhetik und Gesellschaft…, a. a. O., S. 32. 174 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik…,a. a. O., S. 11. 175 Reinhart Koselleck: „Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit“, in: Reinhart Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 80-95, hier: S. 81. 176 Andreas Reckwitz: „Ästhetik und Gesellschaft…, a. a. O., S. 34. 177 Andreas Reckwitz: „Ästhetik und Gesellschaft…, a. a. O., S. 18, S. 19. 178 Ina Schabert und Barbara Schaff (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin: Erich Schmidt 1994, S. 5. hunderts beginnt und sich während des 19. Jahrhunderts entfaltet, 170 in der „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Grunderfahrung aller Geschichte“ wurde, 171 entwickelt sich die moderne bürgerliche Gesellschaft. Diese erste bür‐ gerliche Moderne ist gekennzeichnet durch den „Antagonismus zwischen Ra‐ tionalismus und Ästhetik“. 172 Die bürgerliche Kunst entwickelte einen eigenen Autonomieanspruch, der sich am „Regelbruch“ orientiert und auf Gestaltung des „überraschend() Neuen“ setzt. 173 In Literatur, Musik, Bildender Kunst und im Theater entsteht ein ästhetischer Reflexionsmodus, der „Gewinne und Verluste der Moderne“ 174 ästhetisch trans‐ formiert und in der Sensibilisierung für diese Transformationsprozesse kultur‐ kritisch Verarbeitungsangebote macht. Im Verhältnis von Fiktion und geschicht‐ licher Wirklichkeit kommt dem Erzählen von Geschichten die antizipatorische Emphase zu, nicht „das, was geschehen ist und wie es sich zufällig traf “ histo‐ riografisch zu berichten, sondern das „was geschehen könnte“ begrifflos zu er‐ zählen. 175 Ästhetische Utopien bilden eine „ästhetische() Gegensphäre“ 176 zu ge‐ sellschaftlicher Rationalität und weisen voraus auf eine mögliche Vervollkomnung des Menschen. Das Feld des Ästhetischen wird zum anderen der Moderne und des rationalisierten Sozialen, es konzentriert sich auf „indivi‐ duelle(s), psychisch-leibliche(s) Erleben“. 177 Während in der Zeit um 1800 in den wissenschaftlichen, religiösen, natur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen Prägemuster der Identität und des Wei‐ blichen aufgrund der Sinnkrise entfaltet werden, die aus der ökonomischen und politischen Entwicklung des Bürgertums resultiert, erfolgt konsequenterweise „deren eigentliche Differenzierung und Problematisierung (…) erst in literari‐ schen Texten“. 178 Differenziert und problematisiert wird das Männlichkeitsideal 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 59 179 Ina Schabert: „Amazonen der Feder und verschleierte Ladies. Schreibende Frauen im England der Aufklärung und der nachaufklärerischen Zeit“, in: Ina Schabert und Bar‐ bara Schaff (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie…, a. a. O., S. 105-123, hier: S. 105, S. 106, S. 120; Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterfor‐ schung. Stuttgart: Kröner 1997. 180 Peter Gay: Modernism. The Lure of Heresy from Baudelaire to Beckett and Beyond. London: Vintage 2009, S. 19-20; Christof Dipper: „Die Epochen der Moderne. Konzep‐ tion und Kerngehalt“, in: Ulrich Beck und Martin Mulsow (Hg.): Vergangenheit und Zukunft der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 103-180, hier: S. 119. 181 Reinhart Koselleck: „Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bür‐ gerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich“, in: Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt / M: Suhrkamp 2006, S. 402-461, hier: S. 404. 182 Christof Dipper: „Die Epochen der Moderne…, a. a. O., S. 113-114. 183 Christof Dipper: „Die Epochen der Moderne…, a. a. O., S. 117. des Paternalismus, dem Autonomie, Gleichheitsdenken, gesellschaftliche und künstlerische Identität, ein proteisches Ich in Werken der Kunst entgegengesetzt werden. Autorschaft bedeutet für weibliche und männliche Schriftsteller / innen um 1800 Gleichberechtigung, Zeitgenossenschaft und Aufhebung erzwungener Passivität für Frauen. 179 Diese Signaturen emanzipierter Autorschaft schlagen sich in der Gestaltung künstlerischer Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so bei Dickens, bei Charlotte und Emily Brontë und bei Virginia Woolf nieder. Peter Gay bezeichnet den Zeitraum der Ablösung der Künste vom Patronagesystem um 1800 als ent‐ scheidende Epoche, die die „cultural revolution“ 180 vorbereitet, die mit der Indi‐ vidualisierung der Künstler und ihrer Abhängigkeit von Marktmechanismen, neue Gestaltungsmittel hervorbringt. Die ästhetischen Revolution, die mit dem „epochale(n) Wandel“ 181 um 1800 beginnt, weist den Weg in die moderne Avant‐ gardebewegung der Künste: Dickens, Charlotte und Emily Brontё werden zu erzählerischen Wegbereitern der Moderne. In dieser Zeit entwickelt sich der industrielle Kapitalismus, der sich durch technische Beschleunigung und die Beschleunigung des sozialen Wandels aus‐ zeichnet. Verlässliche Traditionen und Werte verändern sich immer schneller, Gewissheiten und Verlässlichkeiten nehmen ab, Unsicherheiten nehmen zu, wie oben gezeigt, steigt die Wählbarkeit der Identitätsoptionen ebenso, wie das Kontingenzbewusstsein der Individuen und Potenziale einer flexiblen transito‐ rischen Identität. Die Moderne zwischen 1790 und 1880 ist eine Epoche der Revolutionen, die ein neues Zeitbewusstsein mit radikaler Öffnung auf Zukunft und das Gefühl hervorbringt ungleichzeitig mit der Vergangenheit zu leben. 182 Diese „Kultur‐ schwelle“ 183 , die die persönliche Identitätsfrage nach dem Woher und Wohin des Moderne Romane als Möglichkeitsräume 60 184 Joachim Renn und Jürgen Straub: „Transitorische Identität. Der Prozesscharakter mo‐ derner personaler Selbstverhältnisse“, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transito‐ rische Identität…, a. a. O., S. 10-31, hier: S. 19. 185 Hans Ulrich Seeber: „Romantik und Viktorianische Zeit“…, a. a. O., S. 232; Michael Maurer: Kleine Geschichte Englands. Stuttgart: Reclam 2007, S. 291-351, S. 353-414; Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O. 186 Christof Dipper: „Die Epochen der Moderne…, a. a. O., S. 125. 187 Christof Dipper: „Die Epochen der Moderne…, a. a. O., S. 120. Subjekts und seiner erlebten Gegenwart evoziert, geht in die Romane Dickens‘ und die der Schwestern Brontë als erzählerisch gestaltete Subjektivitätserfah‐ rung, als transitorische Identitätserfahrung ein. Moderne Identitätserfahrung, die in Werken der Literatur antizipiert wird, (…) schließt begriffslogisch weder Ambivalenz noch Bewegung und Wandel aus, wenn er nicht den Zustand der Person, sondern die Aspiration, die der Bewegung durchaus widersprüchliche Richtungen gibt, bezeichnet. 184 In England spricht man zu Beginn der Moderne von einer Epoche der Krisen (1760-1815) und in der Weiterentwicklung zwischen 1815 und 1880 von einer Epoche der Industrialisierung, der Demokratisierung, des sich entwickelnden Empire, zu denen die industrielle Revolution, die Erschließung der Weltmärkte, Aufstände in Irland, politische Reformen und politischer Radikalismus, der Krieg mit Frankreich, Urbanisierung, Massenarmut, als gewaltige gesellschaftliche und kulturelle Transformationen mit einem neuen bürgerlichen Geschichtsbe‐ wusstsein einhergingen, das in der englischen Romantik Kontur gewann. Es war eine Epoche, in der feudale, statische Ordnungen endgültig aufgelöst wurden, das gesellschaftliche Leben sich im Zeichen eines raschen Wandels vollzog und die Literatur „jene unübersehbaren Sinnverluste und sozialen Verwerfungen, die der Moderniserungsprozess (…) mit sich brachte, zu erkunden, mitzuteilen, zu kritisieren und mithilfe schöner Gegenbilder auszugleichen“ 185 versuchte. Diese erste Modernisierungsphase wurde von einer von 1880 bis 1930 be‐ stimmten Umbruchspahse abgelöst, 186 die durch ein radikal verändertes Zeitbe‐ wusstsein, hohes Tempo, eine Zunahme der Massengesellschaft, den Verlust von Orientierung und Werten gekennzeichnet war. Ulrich Beck spricht von einer Zweiten Moderne, Peter Wagner von einer erweiterten liberalen Moderne, Wolfgang Welsch von einer postmodernen Moderne. 187 Krisensymptome dieser Epoche sind vor allem, dass Errungenschaften der Aufklärung, wie Rationalität, Autonomie des Individuums, Fortschritts- und Glücksstreben, sowie politische Ordnung und marktwirtschaftliches Handeln verstärkt in Zweifel gezogen und 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 61 188 Hans Ulrich Seeber: „Vormoderne und Moderne“…, a. a. O., S. 327-329. 189 Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. München: dtv 2011, S. 459. 190 Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent…, a. a. O., S. 461. 191 Phillip Blom: Der taumelnde Kontinent…, a. a. O., S. 462. 192 Peter Childs: Modernism…, a. a. O., S. 72-73; Kurt Kluxen: Geschichte Englands. Stuttgart: Kröner 1991 (4. Auflage), S. 684-696. zu Symptomen einer kulturellen Sinnkrise wurden, die nach Neuorientierung auf allen Gebieten suchte. 188 Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden beispielsweise durch Freud, Nietzsche und Mach Werte und Überzeugungen, die im 19. Jahrhundert bereits brüchig geworden waren, radikal in Frage gestellt. Für den amerikani‐ schen Schriftsteller Henry Adams wurden auf der Weltausstellung von 1900 Dynamos zur Offenbarung. Er sah in ihnen „ein Symbol für den fundamentalen Umbruch in der Gesellschaft und für die neue Zeit“. 189 Bis ins alltägliche Leben und in die Ängste der Menschen hinein änderte sich alles. Diese Ängste als Kehrseite des hohen Tempos bestanden aus „(…) Angst vor der Degenerierung, Angst vor dem Niedergang, Angst, vom allgemeinen Fortschritt abgehängt zu werden, und Angst davor, was dieser Fortschritt bringen würde.“ 190 Das Janusgesicht der Moderne, das gleichzeitig in die Vergangenheit und Zu‐ kunft blickt, wurde vor dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien durch soziale und nationale Unruhen erfahrbar. Das Jahrhundert begann für Großbritannien mit dem Burenkrieg und dem Tod der Königin Victoria. Beide Ereignisse er‐ schütterten das Empire. Dem Bürgertum „als neue(r) Herrscherklasse“ 191 fehlten Stabilität und Selbstbewusstsein einer langen Adelstradition. Die technische Beschleunigung vermittelte den Eindruck der Unkontrollierbarkeit; die Manu‐ faktur wurde durch industrielle Produktion abgelöst. Es kam zu wachsenden Spannungen zwischen Arbeit und Kapital. Die irische Frage drohte sich zu einer irischen Revolte auszuwachsen. Die seit 1905 bestehende Frauenbewegung sagte den patriarchalen Strukturen den Kampf an; künstlerische Avantgarden in Europa - besonders auf dem Kontinent - gaben der Anonymität der Metro‐ polen, der Diskrepanz und Grausamkeit des Kapitalismus und dem Bakrott kul‐ tureller Visionen neue ästhetische Gestalt. 192 Der Erste Weltkrieg mit seinen katastrophalen Ereignissen und Folgen leitete ein bisher unvorstellbares Zerstörungswerk der modernen industriellen und fi‐ nanziellen Welt und normativer Zusammenhänge ein. Dieser Great War führte europaweit zu Folgen, die „die materiellen Lebensbedingungen, die sozialen und politischen Strukturen, die Wirtschaft und die Lebensformen etwa seit Moderne Romane als Möglichkeitsräume 62 193 August Nitschke: „Die Jahrhundertwende als Epoche. Zur Einführung in die Thematik des Funkkollegs“, in: August Nitschke, Gerhard A. Ritter, Detlev J. K. Peukert, Rüdiger vom Bruch (Hg.): Funkkolleg Jahrhundertwende. Die Entstehung der modernen Gesell‐ schaft. Weinheim: Beltz 1988, S. 53-60, hier: S. 56. 194 Randall Stevenson: Modernist Fiction. An Introduction. Revised Edition. London 1998, S. 142 (Hervorhebung von Stevenson). 195 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 142-143. 196 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 144. 197 Dorothee Kimmich / Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011 (2. Aktualisierte Auflage), S. 67-77. 198 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 158. 1880 (…)“ 193 wandelten. In Großbritannien kam es zu einer kompletten Restruk‐ turierung der Arbeitswelt. Mensch und Maschine gingen ein symmetrisches Bündnis ein, Europa verlor seine zentrale Stellung in der Politik; die menschliche Persönlichkeit, so Ernst Mach, wurde zur Fiktion: Destruction, loss and sorrow seemed to enter the world on a scale unknown before, the war creating ‚horrors that make the old tragedies seem no more than nursurey shows‘ as Rebecca West puts it in the Return of the Soldier (p. 63). Sigmund Freud worked out his principle of thanatos, the death wish, during the war and believed that his contemporaries might never see a joyous world. 194 Stevensons Anspielung auf Freuds Kulturpessimismus, den Freud u. a. in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (i. d. F. von 1930) zum Ausdruck brachte, wird von den Künstlern der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geteilt: Subjekt‐ zerfall, Sprachkritik, Normen- und Wertezersetzung, Orientierungsverlust, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Nostalgieskeptizismus, werden in eine narrative Ästhetik des Bruchs transformiert. 195 Nostalgie wird narrativ einge‐ setzt, um im Rückblick „to recover in fiction what had vanished in fact.“ 196 Mu‐ siker komponieren gegen die Tonalität. Die Zersplitterung der Welt wird in der bildenden Kunst ebenso deutlich, wie die Auflösung des Ichs als Element der allgemeinen Denkstrukturen der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg. 197 Während Romane der Viktorianischen Ära ihre Geschichten zu einem oft positiven Ende bringen - sie enden in Heiraten, individuellem Glück oder in einem tragischen Tod -, enden Romane der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einer ungewissen Offenheit, die, angesichts unlösbarer sozialer und historischer Turbulenzen, Romanfinale gestalten, „(which) are often forced to move altoge‐ ther beyond it in one way or another towards vision rather than reality.“ 198 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 63 199 Wolfgang Kraus: „Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer nar‐ rativen Identität“, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität…, a. a. O., S. 159-186, hier, S. 159-160. 200 Hartmut Rosa: „Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung“, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität…, a. a. O., S. 267-302, hier: S. 273, S. 270, S. 269. 201 Peter Coveney: The Image of Childhood. The Individual and Society: a Study of the Theme in English Literature. Harmondsworth: Penguin 1967, S. 127; Dickens bezeichnete Oliver Twist „as his first real novel“ („A Note On The Text", in: Charles Dickens: Oliver Twist, or, The Parish Boy's Progress. Edited with an Introduction and Notes by Philip Horne. London: Penguin 2003, S. l-liii, hier: S. l). 202 Peter Coveney: The Image of Childhood…, a. a. O., S. 105. Instabile Erzählwelten als Deutungsangebote für Rezipient / innen des dritten Lebensalters Erfahrungen transitorischer Identität lassen sich auf konkrete historische Ent‐ wicklungen beziehen, weil Identitätserfahrungen als „historische Situierung“ in der Moderne sich im und am Subjekt abspielt, so dass „es historisch von einer Form von Identitätsbildung zu einer anderen kommt.“ 199 Transitorische Identität als Selbstgefühl widersprüchlicher Aspirationserfahrung wird in der gegenwär‐ tigen Sozialpsychologie als offener Prozess gedacht, der im Gegensatz zu sta‐ bilen und fixierten Identitätszuschreibungen traditionaler Gesellschaften unab‐ schließbar ist. Die Formen der Romane von Dickens und die der Brontës nimmt das transitorische Identitätsphänomen als Problem der Ambivalenz von „Kon‐ tinuität und Kohärenz gegen Wandel und Flexibilisierung“ 200 in der Paradoxie des poetischen Realismus erzählerisch auf. Dickens‘ Roman Oliver Twist „(…) is the first novel in the language with its true centre of focus on a child. Although it came after Sketches by Boz and Pickwick, in a sense it was Dickens’s first novel.” 201 Charlotte Brontës Protagonistin „(…) Jane Eyre is perhaps the first heroine in English fiction to be given, chronologically at least, as a psychic whole. Nothing, in fact, quite like Jane Eyre had ever been attempted before.” 202 Beide Romane plausibilisieren transgressives Erzählen als Entzug der Iden‐ titätsbildungsmöglichkeiten ihrer Protagonisten, als Legitimationsverlust ihrer Erzähler und als unmögliche Möglichkeit einen Roman zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien plausiblen Lösungen zuzuführen. Beide Romane sind in ihrer jeweiligen Ausdrucksgestalt fragmentierte Uni‐ versen, ästhetische Krisenphänomene des bürgerlichen Mittelstandes: The Victorian middle class never attained a period of stability equal to that in which, following the restauration, the aristocracy achieved the order of the eighteenth cen‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 64 203 Peter Coveney: The Image of Childhood…, a. a. O., S. 121. 204 Franco Moretti: Der Bourgeois…a. a. O. 205 Manfred Frank: „Fragment einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre“, in: Manfred Frank (Hg): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt / M: Suhrkamp 1991, S. 414-599. 206 Hans Ulrich Seeber: „Romantik und Viktorianische Zeit“…, a. a. O., S. 232. 207 Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Wien: facultas. wuv 1999, S. 12-13. tury. The problem of cultural transmission was bedeviled by sheer rate of social change. To take up a position at all was to pitch camp on a cultural landslide. 203 Die von Peter Coveney gewählte Metapher eines aufgeschlagenen Lagers auf abstürzendem Abhang, die politische Positionen für den bürgerlichen Mittel‐ stand impliziert, trifft die kulturelle und existenzielle Identitätsfrage des bür‐ gerlichen Mittelstandes dieser Zeit. Zu einer vergleichbaren Diagnose des Sinn- und Orientierungsverlusts des bürgerlichen Mittelstandes kommt Franco Moretti in seiner Publikation Der Bourgeois. 204 Ambivalenz prägt die Struktur der Werke Dickens‘, der Werke der Brontës und die der Werke Virginia Woolfs, deren Ausdrucksgestalten zwischen Dauer und Wandel, Stabilität und Instabilität erzählerisch zu vermitteln suchen, äs‐ thetisch die Zirkularität des in den bürgerlichen Selbsttheorien reflektierten Selbstgefühls 205 in Begrifflosigkeit fragmentarisch auflösen und ästhetisch transzendieren. Die Erzählwelten um die es im Folgenden geht sind instabil. Sie stellen sich den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und den damit in die Moderne weisenden Transforma‐ tionsprozessen, die die „rasante(n) Veränderungen der Erfahrung von Raum und Zeit“ und die Folge in sich aufnehmen, dass sich das Wirklichkeitsverhältnis zeitlich transformiert, „die Zukunft den Charakter eines offenen Möglichkeits‐ raumes“ 206 erhält und das freie Spiel der Kräfte des Liberalismus im erzählerisch geformten Ausdruck, in der polyvalent-offenen Struktur, zum Ausdruck kommt. Die ökonomischen, politischen und ästhetischen Wirklichkeitssegmente der ersten Modernisierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich die einer „Umstellung der Gesellschaft auf eine kapitalistische Produktionsweise“, das „Reflexivwerden des säkularisierten Selbstbewusstseins“, die „Befreiung der Künste aus religiösen und politischen Heteronomien“, die die „Konstitutions‐ bedingungen des modernen Subjekts und seiner Lebenswelten“ ins Leben rufen, 207 werden von den Romanen des Viktorianischen Zeitalters narrativ transformiert und zum Erkenntnispotenzial ihrer neuen Wirklichkeitssicht zu‐ sammengezogen. Wie im Zuge der zweiten Modernisierungsphase bei Virginia Woolf, geht es Ihnen nicht um eine nachahmende Reproduktion kultureller Zu‐ 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 65 208 Ralph Pordzik: Der englische Roman im 19. Jahrhundert. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 19. 209 Ralph Pordzik: Der englische Roman im 19. Jahrhundert…, a. a. O., S. 31. 210 Ralph Pordzik: Der englische Roman im 19. Jahrhundert…, a. a. O., S. 32. sammenhänge, sondern um die erzählerisch experimentelle Aufdeckung von Fragen nach den Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts. Diese Auf‐ deckung macht literarische Verfahren erforderlich, die Lösungsansätze für die Diskrepanzen des Zeitalters anbieten. Die Suche nach Lösungsansätzen kolli‐ diert in den Werken des Viktorianischen Zeitalters mit ihren affirmativen An‐ sprüchen, den Erwartungen ihrer Leser / innen entgegen zu kommen. In Werken der zweiten Moderne wird ein Entgegenkommen den Leser / innen gegenüber durch eine Ästhetik narrativer Brüche verweigert. Es geht im Rezeptionsprozess also nicht um die Aufdeckung einer geheimen Wahrheit hinter den Erzählwelten, es geht nicht um eine Erschließung einer ihr eingelagerten bewussten Intention. Es geht darum, das dynamische Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene, Inhalt und Form, als dynamische Span‐ nung gegensätzlicher Kräfte zwischen episodischer Kohärenz auf der Inhalts‐ ebene und fragmentarischer Kontingenz auf der Ausdrucksebene in Gestalt narrativer Ambivalenzen zu erschließen. Dieses Kräftefeld relationiert norma‐ tive Dimensionen der Erzählwelt, lässt sie im Prozess des Erschließens der er‐ zählten Welt fragwürdig und zum Diskursangebot werden. Daraus resultieren Einsichten der Rezipient / innen in die autoreferenzielle Reflexion der erzählten Welt, die „Fragen nach den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der Fiktion“ 208 zulässt, ferner: Einsichten in ihre „Dialogizität“, die narrative „kont‐ räre Auffassungen und Positionen unablässig aufeinander projiziert und in diesem Prozeß füreinander durchlässig werden“ lässt 209 und Einsichten in die Fragmentierung ihrer Form. Dieses besondere „Form- und Sinnbildungsmuster“ 210 des bürgerlichen Ro‐ mans in Großbritannien, das als Signatur des Sinnverfalls und der Kohären‐ zauflösung der Identitätsmöglichkeiten des Subjekts in der Moderne gelesen werden kann, wird zum Angebot für heutige Leser / innen des dritten Lebens‐ alters, ihr oben umrissenes kulturelles und biografisches Vorverstehen im Lek‐ türeprozess durch eine produktive Zusammenführung der narrativ unverbun‐ denen Zusammenhänge zu problematisieren. Im Erschließungs- und Reflexionsprozess erhält die hermeneutische Progressionsmethode ihre dialo‐ gische Dynamik aus den Erwartungs- und Reflexionshaltungen ihrer Leser / innen. Die erzählerische Form als dialektisches Kräftefeld zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene ist eine hermeneutische Formbestimmung, die die erzähleri‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 66 211 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen…, a. a. O., S. 33-34; Wolfgang Kraus: „Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität“, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität…, a. a. O., S. 159-186. 212 Hans Ulrich Seeber: „Romantik und Viktorianische Zeit“…, a. a. O., S. 230-238; Peter Gay: Die Macht des Herzens…, a. a. O., S. 49-69. 213 Andrea Gerk: Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur. Berlin: Rogner & Bernhard 2015. sche Form nicht formalistisch als „Befreiung vom Inhalt“, sondern in ihrer Di‐ alektik zur „unerlässlich(en)“ 211 , dialogermöglichenden Bedingung der Erschlie‐ ßung der ästhetischen Differenz und damit des Verstehensprozesses werden lässt. Indem diese Romane in ihren narratologisch differenten Ausdrucksgestalten den Sinn- und Orientierungsentzug der reflexiven Moderne anschaulich werden lassen, bieten sie ihren Leser / innen Entfremdungs- und Unheilerfahrungen der modernen Welt und die mit ihr einhergehende Identitätsfrage als erzählerische Problemdiagnose und als Sinnangebot an: Autonomieansprüche der Protago‐ nisten werden perspektivisch gegen patriarchale Hegemonialansprüche in Stel‐ lung gebracht und laufen narrativ auf eine tödliche Gefährdung ihrer Identi‐ tätsmöglichkeiten hinaus. Es entstehen narrative Strukturen einer reflektierten Vergeblichkeit, die die Sehnsucht nach erfüllter Ganzheit bzw. den Schrecken vor ihrer Nicht-Erfüllbarkeit erzählerisch zum Vorschein bringen. Die Rolle der Literatur in der Moderne wird vor dem Hintergrund der Be‐ schleunigung, einer rasanten Veränderung von Zeit und Raum, der offenen und fortschrittsbezogenen Zukunftsorientierung, sozialer Verwerfungen, des Wer‐ teverfalls und Sinnvakuums, die der Modernisierungsprozess seit dem 18. Jahr‐ hundert mit sich brachte, problematisch. Sie übernimmt die Rolle einer Kon‐ frontation und Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen dieses ungeheuren Transformationsprozesses, indem sie ihn erforscht, in Bilder einer wiederverzauberten Welt zu kleiden sucht 212 und narrativ kritisiert. Heute evozieren Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne Leselust, Neugier auf Handlungsentscheidungen und -verwicklungen in den Plots und kritisches Interesse an den kulturdiagnostischen Lösungen, die die Romane vorschlagen. Indem die reflektierende Urteilskraft der Rezi‐ pient / innen angeregt wird, kommen kathartische Moment ins Spiel, die verlet‐ zende Erinnerungen affizieren. 213 1.4 Transitorische Identität. Literarische Texte in der Moderne 67 214 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…“ a. a. O., S. 61-62; Andreas Kruse: Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach - Psychologische Einblicke. Berlin: Imprint 2014. 215 Axel Honneth: „Verwicklungen von Freiheit. Bob Dylan und seine Zeit“, in: Axel Hon‐ neth, Peter Kemper und Richard Klein (Hg.): Bob Dylan. Ein Kongreß. Frankfurt / M: Suhrkamp 2007, S. 15-28; siehe anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Bob Dylan im Jahre 2016: Axel Honneth: „Unser Walt Whitman. Bob Dylan ist der Dichter unserer Einsamkeit und unserer Gemeinsamkeit. Ein Dank an die schwedische Jury“, in: Die Zeit, Nr. 44, 20. 10. 2016, S. 50. 216 Burkardt Lindner: „Die Spuren von Auschwitz in der Maske des Komischen. Chaplins ‚The Great Dictator‘ und ‚Monsieur Verdoux‘ heute“, in: Margit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hg.): Lachen über Hitler - Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München: Ed. Text und Kritik 2003, S. 83-106; Hans-Christoph Ramm: „‘… Kälte atmend der Ofen…‘. Edvard Munch, Franz Kafka, Charlie Chaplin - Deuter der Moderne“, in: Ina Karg / Barbara Jessen (Hg.): Kanon und Literaturgeschichte. Facetten einer Diskussion. Frankfurt / M.: Lang 2014, S. 53-71. 217 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Klett-Cotta 2014; Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie. Folgen der NS- Zeit und des Zweiten Weltkrieges erkennen und bearbeiten - Eine Annäherung. Stuttgart: Klett-Cotta 2015. 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters - Die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg Im Rahmen von gelenkten Seminargesprächen, die durch eine Drei-Phasen-Me‐ thode strukturiert sind - wir gehen weiter unten darauf ein - kommen wissbe‐ gierige, neugierige und sprachsensible Teilnehmer / innen des dritten Lebensal‐ ters freiwillig und mit Interesse an Romanlektüren zusammen. Die Lebendigkeit der Interaktion zwischen den Rezipient / innen und den li‐ terarischen Texten, ihr Erschließen, Durchdenken und der kritische Diskurs, kommen durch Potenziale zustande, die in der Gerontologie unter dem Begriff der Alterskreativität zusammengefasst werden. Deren charakteristische Merk‐ male sind Offenheit und imaginative Möglichkeiten. Dazu gehört auch die Fä‐ higkeit zur Gerotranszendenz, deren Schlüsselkompetenzen Weltinteresse und Spiritualität sind. In der Interaktion zwischen den literarischen Texten und den Rezipient / innen werden diese Fähigkeiten aktiviert und die heilende Kraft der Phantasie der Rezipient / innen wird kathartisch wirksam. Die kreativ heilende und politisch wirkende Kraft der Phantasie wird von dem Gerontologen Andreas Kruse in Bezug auf Johann Sebastian Bach, 214 von dem Sozialphilosophen Axel Honneth in Bezug auf Bob Dylan, 215 von dem Film‐ theoretiker Burkhardt Lindner in Bezug auf Charlie Chaplin, 216 von der Psycho‐ analytikerin Luise Reddemann 217 und von Musikern, Kabarettisten und Lyrikern Moderne Romane als Möglichkeitsräume 68 218 Dieter Hildebrandt und Felix Kuballa (Hg.): Mein Kriegsende…, a. a. O. 219 Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmar Wozinak: „Bedingungen guten Alterns - Der Weg vom Diskurs zur Verantwortung“, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, And‐ reas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit…, a. a. O., S. 65-97. 220 Walter Benjamin: „Der Autor als Produzent“, in: Sven Kramer (Hg.): Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. Aufsätze zur Literatur. Stuttgart. Reclam 2012, S. 228-249, hier: S. 246-247. 221 Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt / M: Suhrkamp 2008; Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin: Suhrkamp 2013. 222 Rudolf Freiburg: „'Old age isn't a battle, old age is a massacre': Altern als Trauma bei Philip Roth", in: Rudolf Freiburg und Dirk Kretzschmar (Hg.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 185-217, hier: S. 185-211, S. 190-193; Rudolf Freiburg und Dirk Kretschmar: „Einleitung: Grau-Werte", in: Rudolf Freiburg und Dirk Kretzschmar (ed.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart…, a. a. O., S. 1-29, S. 17. 223 F. K. Stanzel, zitiert nach „Einleitung: Grau-Werte", in: Rudolf Freiburg und Dirk Kretz‐ schmar (ed.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart…, a. a. O., S. 1-29, hier: S. 17. der Nachkriegszeit 218 in Bezug auf kreative und produktive Potenziale und ihre kathartischen Wirkungen für die Nachkriegsgeneration, von Soziologen aus Experteninterviews mit Gerontologen und Medizinern, 219 von den Philosophen Walter Benjamin 220 und Christoph Menke 221 in Bezug auf die politische Wirk‐ samkeit der ästhetischen Urteilskraft herausgearbeitet. Am Beispiel der Erzählwelten von Charles Dickens, der Brontës und Virginia Woolfs kann deutlich werden, dass Literatur Imaginationsräume entstehen lässt, die die Kreativität im Alter anspricht und neue Freiräume mit einer Sensibilität für Fiktionalisierungen öffnet. 222 Der Romantheoretiker und Anglist F. K. Stanzel spricht in Bezug auf das Erschließen und Verstehen von Romanen und damit auch in Bezug auf Potenziale narrativer Identität Alternder von „Affinitäten, Analogien und Ähnlichkeiten" mit Innovationen der modernen Poetik, die mit den Mitteln der erlebten Rede, des inneren Monologs und des Bewusstseinsst‐ roms den veränderten Sichtweisen des Alters ideal entspreche. 223 Auch Schriftsteller wie beispielsweise Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und die Brontës trugen mit ihren herausfordernden gegenbildlichen Erzählwelten nicht nur zu Sozialreformen, sondern auch zur bis heute wirksamen Aktualität der Frauenfrage und zu Fragen nach der Bedeutsamkeit persönlicher Autonomie in der reflexiven Moderne bei. Altern als Werden zu sich selbst, so Thomas Rentsch, ist durch die Unwie‐ derbringlichkeit des menschlichen Lebens, die Unvordenklichkeit seiner An‐ fänge, die Unvorhersehbarkeit seines Endes bestimmt, wobei diese Negativi‐ tätserfahrung der Begrenztheit keine abwertende Bedeutung impliziert. Sie ist in der Konzeption transitorischer Identität verankert: „Die Vorsilbe ‚Un-“, so 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 69 224 Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit“, in: Thomas Rentsch: Negativität und praktische Ver‐ nunft…, a. a. O., S. 165 (Hervorhebung von Rentsch). 225 Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst…, a. a. O., S. 166 (Hervorhebung von Rentsch). 226 Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst…, a. a. O., S. 175-176 (Hervorhebung von Rentsch). 227 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 24 (Hervorhebung von Kruse und Wahl). 228 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 24, S. 58, S. 152, S. 157, S. 162, S. 180. Rentsch, „indiziert jeweils pragmatische Handlungsunmöglichkeiten, etwas, das wir aufgrund der Konstitution unseres endlichen Lebens nicht können.“ 224 Dieses Nicht-Können zeigt sich in den Grundzügen unseres Selbstverhält‐ nisses: in der „Verdecktheit der eigenen Vergangenheit“, in der „ständig mög‐ liche(n) Selbstverfehlung“, schließlich in der Fragilität und Endlichkeit des menschlichen Lebens, 225 Grundzüge, die Jürgen Straub als Momente der Selbst‐ entzogenheit transitorischer Identität reflektiert. Im Alternsprozess tritt durch die kürzer werdende Lebenszeit die Erfahrung transitorischer Identität als Selbstentzug deutlicher als in jüngeren Jahren hervor. Der Alternsprozess in der Moderne ist, in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, durch sein Gefährdungsbewusstsein und durch die Möglichkeit zur kreativen Gestaltung des eigenen Lebens geprägt. Angesichts der mensch‐ lichen Grundsituation eines Werdens zu sich selbst, spitzt sich die Paradoxie des Alternsprozesses auf die Erkenntnis zu, dass das Alter als „ein konstitutiv ris‐ kantes, gefährdetes und gebrochenes Werden zu sich selbst“ erfahren wird. 226 Gerade Musik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Ge‐ rontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl führen dazu aus: Die Musik gibt uns zunächst die Möglichkeit, seelische und geistige Prozesse auszu‐ drücken und auf dem Weg dieses Ausdrucks zu reflektieren. Durch die Reflexion werden erst Erlebnisse in Erfahrungen und Erkenntnisse transformiert. Sie bildet wei‐ terhin eine bedeutende Grundlage für das Werden zu sich selbst - eine Entwicklungs‐ aufgabe, die angesichts der Veränderungen, mit denen sich ältere Menschen in ihrer Lebens Situation konfrontiert sehen (…), von hervorgehobener Bedeutung ist. 227 Das Werden zu sich selbst ist ein seelischer und körperlicher Entwicklungspro‐ zess, der im Alter zu einer Durchlässigkeit für neue Erfahrungen, einem Per‐ sönlichkeitswachstum, einer psychischen Widerstandsfähigkeit, einer Flexibi‐ lität in Bezug auf positive soziale Beziehungen führt, die der oder dem Alternden ermöglicht, „im Einklang mit sich selbst zu stehen“. 228 Musik, Kunst und Lite‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 70 229 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 195. 230 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 340-341. 231 Otfried Höffe: „Gerontologische Ethik. Zwölf Bausteine für eine neue Disziplin“, in: Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 212-232, hier: S. 222. 232 Andreas Kruse: „Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen“, in: Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter…, a. a. O., S. 233-251, hier: S. 244. 233 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang …, a. a. O., S. 36. 234 Thomas Rentsch: „Alt werden, alt sein…“, a. a. O., S. 183. ratur lassen Altern zur Erfahrung eines „höchst dynamischen Prozess(es)“ werden. 229 Vor diesem anthropologischen Hintergrund einer philosophischen Ethik der späten Lebenszeit lässt sich verstehen, dass flexible Autonomie bzw. integrierte Persönlichkeit im Alter „Plastizität (…) im gesellschaftlich-kulturellen Kon‐ text“ 230 der Moderne mit ihren Umbruchzeiten bedeutet. Entgegen gesellschaft‐ licher Defizitdiskurse über das Alter entstehen im dritten Lebensalter Kreativi‐ tätspotenziale, die in Bezug auf die Ganzheit eines individuellen Lebens sowie auf die Generationenfolge und die Erhaltung der Natur, das eigene Leben in eine umfassende Ordnung stellen kann. Sieht man mit dem Philosophen Otfried Höffe, dass das reduktionistische Menschenbild, das westliche Gesellschaften von Alternden entwerfen, aus vier Problemfeldern besteht: „(1) Einschränkung des Handlungsspielraums; (2) Ent‐ mündigung im Alter; (3) Vernachlässigung; (4) Gewalt gegen die Älteren (…)“ 231 , und setzt man das ganzheitliche Persönlichkeitsmodell des Gerontologen And‐ reas Kruse dagegen - dieser entwirft 5 Kategorien gelingenden Lebens: „1. Selb‐ ständigkeit, 2. Selbstverantwortung, 3. Bewusst angenommene Abhängigkeit, 4. Mitverantwortung (…). 5. Selbstaktualisierung“ 232 , dann wird die Fähigkeit Alternder zur „Gerotranszendenz“ 233 einsichtig. Diese Fähigkeit ermöglicht einen Alternslernprozess auf den näher komm‐ enden Abschied von einem langen Leben hin, der Lebenserfahrungen eines selbstbestimmten Lebens verbindet mit Potenzialen, die Resilienz und Resistenz im Gefühl einer „irreduziblen Würde“ 234 mit einander verbinden. Resilienz be‐ zieht sich auf individuelle, Resistenz auf gesellschaftsbezogene Potenziale einer flexiblen Lebensgestaltung des Alterns in der reflexiven Moderne. Da im Alter, sei es aus gesundheitlichen, sozialen oder kulturellen Gründen, immer individuelle Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf dem Spiel stehen, können Selbst- und Fremdbestimmung von außen 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 71 235 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness - Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzie‐ rung“, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, Andreas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit…, a. a. O., S. 101-124, hier: S. 106. 236 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 111. 237 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 113, S. 114. 238 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 114, S. 117-122. 239 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 117. 240 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 117. und / oder von innen in ein prekäres Ungleichgewicht geraten. Es geht daher im Alternsprozess darum, „dem eigenen Leben (…) Form und Gestalt zu geben“. 235 Im Rahmen neuer Forschungen zu Bedingungen eines guten Lebens im Alter beschreibt Harm-Peer Zimmermann wie es alternden Menschen gelingen kann ein zufriedenstellendes Leben angesichts von Einschränkungen und Belas‐ tungen zu führen. Zimmermann schlägt den Begriff einer Alters-Flexibilität vor, der sich nicht nach zentralen Verhaltensanforderungen in Gesellschaft und Me‐ dien richtet - diese Anpassung zöge eine marktorientierte, außengeleitete Le‐ bensführung und Konformismus nach sich. 236 Vielmehr führten von innen he‐ raus gestaltete eigene Wege zu einer inneren Selbstfindung, die Alters-Flexibilität als Lebenshaltung und Halt im Leben der Älteren verspreche. Zu den Lebensinhalten käme die Lebensform als eine „Gefasstheit“ zum Zuge, die sich angesichts der „Miseren des Alters und (…) überhitzte(r) Leitartikel und Debattenreden“ 237 , nicht irremachen lässt. Es geht bei dieser Haltung darum nach innen und nach außen Distanz durch eine Haltung kritischer Flexibilität zu bewahren. 238 Diese Haltung nennt Zimmermann Alters-Coolness. Das kriti‐ sche Potenzial dieser Coolness sieht Zimmermann darin, dass es mit gesell‐ schaftlichen Flexibilitätsanforderungen auf gleicher Augenhöhe umgeht. Das bedeutet, dass Alters-Coolness nicht unter das Niveau von gesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen fällt: Ihre kritische Virulenz besteht gerade darin, dass sie den Flexibilitätsstandard des modernen Lebens nicht unterläuft, sondern ihn sogar überbietet. Coolness steigert die Flexibilitätsanforderungen noch. Aber gerade durch diese Steigerung lässt sie die Fle‐ xibilitätsforderung hinter sich beziehungsweise überführt sie in eine andere Form. 239 Diese andere Form besteht darin, dass sie sich der Norm der Flexibilität bedient, um gesellschaftliche Flexibilitätsforderungen an ihren eigenen Standards zu messen. Alters-Flexibilität kann in Resistenz und Kritik umschlagen, sobald sie mit gesellschaftlichen Altersbildern und Altersrollen konfrontiert wird. Zim‐ mermann folgert: „Coolness bestätigt und bekräftigt den Abstand von verbind‐ lichen Altersbildern, aber sie hält ebenso Abstand von der Unverbindlichkeit des Flexibilitätsregimes selbst.“ 240 Diese reflektierte Distanz, die vergleichbar ist Moderne Romane als Möglichkeitsräume 72 241 Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 117. 242 Axel Honneth: „Dezentrierte Autonomie…, a. a. O., S. 246. 243 Axel Honneth: „Dezentrierte Autonomie…, a. a. O., S. 246. 244 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang …, a. a. O., S. 40. 245 Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmar Wozinak: „Bedingungen guten Alterns - Der Weg vom Diskurs zur Verantwortung“, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, And‐ reas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit…, a. a. O., S. 65-97. 246 Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmar Wozinak: „Bedingungen guten Alterns…, a. a. O., S. 85. mit der von Kant analysierten persönlichen Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft, verleiht Alternden, so Zimmermann, „(…) die Konstitution der Gefasstheit und Fähigkeit zur Distanzierung, nämlich die Souveränität, auf Ver‐ haltensanforderungen der Flexibilität flexibel zu reagieren.“ 241 Diese Souverä‐ nität bezieht sich selbstreflexiv auf die Alternden, soziale Kontexte, zukünftige Generationen und auf den Erhalt der Natur. Sie entspricht in ihrer Plastizität der von Axel Honneth entworfenen Theorie dezentrierter Autonomie, die „Dimen‐ sionen des individuellen Verhältnisses zur inneren Natur, zum eigenen Leben im Ganzen und (…) zur sozialen Welt umfasst.“ 242 Der Begriff der persönlichen Autonomie, so Honneth, lässt sich als eine „zwanglose und freie Selbstbestimmung denken“, die besondere Fähigkeiten „(…) im Umgang mit der Triebnatur, mit der Organisation des eigenen Lebens und den moralischen Ansprüchen der Umwelt“ 243 verlangt. Sie verbindet in der Haltung der individuell organisierten Flexibilität Lebenserfahrungen des bishe‐ rigen gesamten Lebenslaufs in der reflexiven Moderne mit einem intuitiven, verborgenen Wissen, 244 das der Haltung der Alters-Flexibilität eine kontextsen‐ sible Richtung weist. Elemente dieses intuitiven Wissens ergeben sich aus Ex‐ perteninterviews mit Medizinern, Pflegepersonal und Gerontologen zu Bedin‐ gungen eines guten Lebens im Alter und hohem Alter angesichts der Verletzlichkeit und Endlichkeit des Menschen. 245 Zu den Elementen intuitiven Wissens gehören die Sensibilität für eigenes Leid und das Leid anderer, Selbst‐ verantwortung und Bedürfnisorientierung, ein Gefühl und Verständnis für Grenzsituationen, denen „etwas Plötzliches, Propulsives oder Höheres“ an‐ haften kann, 246 Erfahrungen mit Erlebnissen existenzieller Krisen und Einsam‐ keit, Erfahrungen von gemeinsamer oder individueller Trauer, Antizipation von Sterben und Transzendenz. In der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit spielen im Alter Phantasien und Tagträume, Daseinsthemen, wie sie in Literatur, Filmen und Kunst, in Theologie und Philosophie verhandelt werden, eine we‐ 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 73 247 Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmar Wozinak: „Bedingungen guten Alterns…, a. a. O., S. 92, S. 84, S. 85, S. 86, S. 87, S. 80, S. 93. 248 Sonja Ehret, Timo Jacobs, Dagmar Wozinak: „Bedingungen guten Alterns…, a. a. O., S. 79. 249 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 27. sentliche Rolle. 247 Dabei werden Resilienz und Anpassungsfähigkeit im Alter als wichtige Ressourcen anerkannt: Da sei eine Großräumigkeit im alten Menschen, das Alter wird verbunden mit dem Hervorbringen von Wunderbarem und der Fähigkeit, seine Lebensgeister wieder er‐ wecken zu können. Dies führt (…) zum Transzendentalen und dem Überschreiten von Grenzen und Grenzsituationen. Spiritualität wird genannt und der Humor, die Fähig‐ keiten zu kleinen Dummheiten und Narreteien des Alters. 248 Aus den Elementen des intuitiven Wissens im Alter resultieren sensible und flexible Verhaltensweisen alter Menschen in Alltag und Kultur. Diese Fähigkeit besitzen auch die zwischen 1940 und 1950 geborenen Rezipient / innen des dritten Lebensalters, die als zweite, als Nachkriegsgeneration, zwischen der ersten, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen und unter den Verbrechen der Nationalsozialisten gelitten hat und der dritten Generation, der im Frieden auf‐ gewachsenen zwischen 1960 und 1985 geborenen Jahrgänge, zu situieren ist. Dokumentationen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lesen sich wie Skripte antiker Tragödien, deren Zentren unauflösbare Dilemmata, Vertrauens- und Sinnverlust und die Fragwürdigkeit menschlicher Werte bilden. Die strukturellen Erfahrungen der Nachkriegszeit in Deutschland, die Familien auseinandergerissen, individuelle Biografien zerstört und traumatisierend bis in die dritte Generation der heutigen 30-40jährigen hinein wirken, haben eine eigene historische Struktur und eine je individuelle Gültigkeit, in der sich Re‐ signation und Kreativität miteinander verbinden. „Jede seelische Realität“, so der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer 2014 im Zusammenhang mit Nachkriegserfahrungen von drei Generationen in Deutschland, „hat ihre eigene Struktur und Gültigkeit. Voreilige Wertungen lassen sich relativieren, zerrissene Beziehungsfäden neu knüpfen, wenn sich die Generationen mehr füreinander interessieren und weniger überzeugt sind, dass ihre typische Wahrheit auch für die ältere oder die jüngere Generation gilt.“ 249 In der Erfahrung der Altersgelassenheit werden für die Nachkriegsgeneration psychologische Haltungen wirksam, die sich zwar aus der transgenerationellen Erfahrung einer traumatisierten Kriegsgeneration entwickeln, im Alter jedoch selbstreflexiv bearbeitet, bewältigt oder aufgelöst werden können. Moderne Romane als Möglichkeitsräume 74 250 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 210; Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 119. 251 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 187, S. 187-189, S. 195-197. 252 Klaus Hurrelmann / Ullrich Bauer: Einführung in die Sozialisationstheorie…, a. a. O., S. 155-156. 253 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 112, S. 187. 254 Klaus Hurrelmann / Ullrich Bauer: Einführung in die Sozialisationstheorie…, a. a. O., S. 158. 255 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 187 (Hervorhebung von W. Schmidbauer). Wolfgang Schmidbauer bezeichnet einen dieser Mechanismen, der die Gene‐ rationenfolge von einer ersten, „verletzten“, über eine zweite, „überschätzten“ zur dritten, einer „entwerteten Generation“ strukturell vermittelt, 250 in Bezug auf die überschätzte Generation, also in Bezug auf heutige Menschen des dritten Lebensalters, als „Protestidentifikation“. 251 Nach Schmidbauer entsteht dieser psychische Mechanismus zwischen Eltern der Kriegszeit und ihren Kindern, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind (den heute 65bis etwa 80jährigen) aus einer Gemengelage, die symbiotische Wünsche der Eltern mit Enttäu‐ schungen der Kinder vermischt. In der Sozialisationstheorie spricht man von einem in den 1960er bis 1970er Jahren umstrittenen permissiven Erziehungsstil, dessen Anhänger vor dem Hintergrund der Frage nach der Angemessenheit der Ausübung von Autorität dafür plädierten, elterliche Eingriffe in die Persönlich‐ keitsentwicklung von Kindern zu unterlassen. 252 Daraus entwickelte sich familiär ein „symbiotisches Klima und dessen Ab‐ wehr“, das „kindlichen Aggressionsäußerungen wenig Raum“ gab, weil die El‐ tern auf die Kinder verwundbar und abhängig wirkten und die Kinder dazu neigten, den Eltern die Unselbständigkeit anzukreiden. 253 Der Effekt in diesen Familien war, dass das Zusammenleben ohne Normsetzungen „zu Irritationen und Verwirrungen der Kinder“ führte und die Entwicklung der Selbstständigkeit der Kinder nicht gesichert war. 254 Die „Doppelgesichtigkeit“ der Protestidentifikation, so Schmidbauer, in der ein heranwachsendes Kind sich „gleichzeitig mit den Werten der Eltern identifi‐ zieren und diese bekämpfen“ lässt, 255 wird erst im Ablösungsprozess von den heranwachsenden Kindern bemerkt und kann sich zwischen den Generationen in Gestalt einer tiefsitzenden Leidabwehr festigen. Durch die „Pendelbewegung“ der paradoxen Autonomie, die die drei Gene‐ rationen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Dialektik der adoleszenten Ablö‐ sung und der Geschwisteropposition strukturvermittelnd bis heute miteinander 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 75 256 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 195, S. 210. 257 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 211, S. 112, S. 187, S. 189, S. 199. 258 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O. S. 187. 259 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 42, S. 44, S. 48, S. 50, S. 117, S. 186. 260 Arno Gruen: Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S. 53-58; Arno Gruen: Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. München: dtv 2015, S. 58-63. 261 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 81-87 (Hervorhebung von Schmidbauer), S. 138, S. 154-155, S. 160-161. 262 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O. S. 138, S. 160-161. verknüpft, 256 entsteht ein Beziehungsmuster „generationenübergreifender Übertragungen oder Antithesen“, die nicht nur Ängste aufgrund der modernen und zwischenzeitlich globalisierten Unübersichtlichkeit schürt, sondern zu‐ gleich ein brüchigen Selbstbewusstseins hervorbringt, 257 dessen „Doppelgesich‐ tigkeit der unbewussten Strukturfindung“ Nähe fordert und abwehrt 258 und unter dem Mangel an Vorbildern, dem Mangel an äußeren wie inneren Wert‐ strukturen, an Sinndefizit, geschwächter Konfliktregulierung, ängstlicher An‐ passung und innerer Leere leidet. 259 Die Identifikation mit dem Aggressor hingegen, dies ist die andere psycho‐ soziale Haltung der Nachkriegsgeneration, führt zu einer Selbstfremdheit, die bewirkt, dass die Betroffenen sich in inszeniertem Gehorsam dem Autoritäts‐ diktat anpassen, zu dessen Opfer werden, den verdrängten Schmerz der sub‐ jektiven Entwertung und Selbstentfremdung als Schwäche empfinden und die aufgestauten Aggressionen hasserfüllt und gewalttätig auf Fremde ver‐ schieben. 260 Während die Identifikation mit dem Aggressor zu einem Verrat am Selbst, mit der politischen Konsequenz führt, kulturelle Gewaltverhältnisse zu stabili‐ sieren, führt der psychische Mechanismus der Protestidentifikation in den 1960ger Jahren zu politischen Transformationsprozessen, in denen Persönlich‐ keitstypen, wie „Künstler, Helfer, Aussteiger und Opfer“ 261 gesellschaftliche Ver‐ änderungswünsche mit Sehnsüchten nach Stabilisierung im Modus einer para‐ doxen Autonomie verknüpften. Festigt sich dieser Mechanismus, dann kann es zu posttraumatischen Bezie‐ hungsstörungen und der mit ihnen einhergehenden Gefährdung der persönli‐ chen Autonomie kommen. Diese beruht auf einer verstörten Orientierung an Konventionen, gegen die die Betroffenen einst rebellierten und bringt Erfah‐ rungen einer „paradoxe(n) Autonomie“ hervor, die auf einer „Balance (von) Ab‐ hängigkeiten“ basiert. 262 Die Bedürftigkeit nach äußerem Halt geht mit der Moderne Romane als Möglichkeitsräume 76 263 Alexandra Senfft: „Lasten der Vergangenheit - Chancen für die Zukunft“, in: Michael Schneider / Joachim Süss (Hg.): Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Berlin: Europa 2015, S. 108-124, hier: S. 109; Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 151. 264 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 53; Sabine Bode: „Einführung“, in: Michael Schneider / Joachim Süss (Hg.): Nebelkinder…, a. a. O., S. 11-23, hier: S. 15. 265 Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus…, a. a. O.; Andreas Kruse: Alternde Gesell‐ schaft…, a. a. O., S. 25-27. 266 Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O., S. 133, S. 141, S. 156. 267 Arno Gruen: Dem Leben entfremdet…, a. a. O., S. 104-105. 268 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 119, S. 118. Furcht vor diesem Halt einher. Es entsteht ein prekäres Gleichgewicht in der Persönlichkeitsstruktur, das, wenn es an die nächste Generation, die zwischen 1960 und 1985 Geborenen weiter gegeben wird, deren Autonomiemöglichkeiten gefährdet. 263 Die Wurzel dieser Gefährdung liegt, so Schmidbauer, in Erfah‐ rungen der Generation des Zweiten Weltkrieges, die ihre „inneren Verwüs‐ tungen“ 264 bis in die dritte, die Enkelgeneration, unbewusst weiter gibt, die dann unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden kann. Sie weisen auf früh‐ kindliche Vertrauenskrisen zurück. Da nach Erikson Vertrauenserfahrungen von Kindheit an in allen späteren Lebensphasen und psychosozialen Krisen enthalten sind, sind die psychosozi‐ alen Haltungen der Protestidentifikation und der Identifikation mit dem Ag‐ gressor Symptome einer Vertrauenskrise, die in späteren Lebensphasen des er‐ wachsenen und hohen Alters in die Persönlichkeit integriert werden können. 265 Die Phänomene der Leidabwehr oder der Protestidentifikation können sich, so die Traumatherapeutin Luise Reddemann, durch mitfühlende Reflexion, Freundlichkeit und Empathie zwischen den Generationen und einem „aktiven Bezug zur Vergangenheit“ lockern oder sogar lösen. 266 Bestätigt wird dieser Befund von Arno Gruen, der unter Berufung auf Erich Fromm und den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire die Überwindungs‐ möglichkeit des rebellischen Abhängigkeitsmechanismus in der Chance der in‐ neren Aufhebung sieht, andere aus Protest zu beherrschen. 267 Für die heutige Generation des dritten Lebensalters werden konsequenter‐ weise, trotz altersbedingter Einschränkungen, Erfahrungen der paradoxen Au‐ tonomie positiv als Freiheit zur Selbstbestimmung gesehen, die sich mit Altern, Hinfälligkeit, Abhängigkeit selbst- und mitverantwortlich gerotranzendent aus‐ einandersetzt und sich der Furcht vor der Freiheit stellt. 268 So haben persönliche Haltungen der Leidabwehr, der Identifikation mit dem Aggressor, der Protest‐ identifikation nicht unbedingt spätere seelische Krankheitshäufigkeiten zur 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 77 269 Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O., S. 83. 270 Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O., S. 22, S. 114. 271 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 335. 272 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krank‐ heit in modernen Gesellschaften. Frankfurt / M: Fischer 2016, S. 99 (Hervorhebung von Dornes). 273 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? …, a. a. O., S. 99. 274 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? …, a. a. O., S. 95. Folge, sind aber als Erfahrungen anzusehen, die das Vorverständnis der Rezi‐ pient / innen strukturieren, mit denen sie die Romane Dickens‘, der Brontës und Virginia Woolfs erschließen. Im Alternsprozess der Nachkriegsgeneration können Ressourcen gewachsen sein, die eine durch Unsicherheit geprägte Identität in ihren positiven Aspekten dann stärken, 269 wenn „Erinnerungen an Widerstand und Großherzigkeit“ ge‐ pflegt werden und an einer „Entidealisierung der Eltern“ gearbeitet wird. 270 Das dritte Lebensalter - so die Gerontologen Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl - besitzt (…) eine ganz eigene Charakteristik, die sich vor allem in einer Sichtweise des Le‐ bensphasenkontextualismus ergibt. Menschen in dieser Lebensphase sind entlastet von den Anforderungen des Berufs und verfügen aufgrund ihrer weiterhin hohen Kompetenzen sehr aktiv über die Ressource Zeit. Gleichzeitig stehen gerade in dieser Lebensphase Anforderungen der Hochaltrigkeit (‚Viertes Alter‘) vor der Tür. 271 Die soziokulturelle Realität in den dreißig Jahren zwischen 1945 und 1975, in der Menschen des heutigen dritten Lebensalters aufwuchsen, zeichnete sich durch eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung aus, die für eine vermutete Zunahme von psychischen Symptomen oder Erkrankungen verantwortlich ge‐ macht werden könnte. Nach Martin Dornes führte dieses Klima jedoch „(…) nicht zu einer Erhöhung der kindlichen oder erwachsenen Krankheitshäufig‐ keiten im Bereich des Seelischen (…)“ 272 , weil kollektive Gefühle zwar Stim‐ mungen von Müdigkeit oder Ängstlichkeit erzeugten, nicht aber Angsterkran‐ kungen. 273 Dieser Zeitabschnitt und der ihm folgende in den 1980er bis 1990er Jahren stellte kompensatorische Möglichkeiten bereit, Krisen und Krisenerfah‐ rungen „hinsichtlich ihrer symptomerzeugenden Kraft“ 274 zu mindern und zu bewältigen. Der Rückgang eindeutiger Orientierungen, die Lockerung von Tra‐ ditionen, Entraditionalisierung mit wachsenden Freiheits- und Autonomiemög‐ lichkeiten, führten zu erhöhter Flexibilität und schufen Grundlagen für „(…) Fähigkeiten wie Kreativität, Initiative, Ambivalenztoleranz und Komplexitäts‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 78 275 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? …, a. a. O., S. 108; Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Kind - Familie - Gesellschaft. Frankfurt / M: Fischer 2012, S. 293-352. 276 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? …, a. a. O., S. 108. 277 Hannes Heer: „Der Skandal als vorlauter Bote. Deutsche Geschichtsdebatten als Gene‐ rationengespräch“, in: Jan Lohl, Angela Moré (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Natio‐ nalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien. Gießen: Psychosozial 2014, S. 25-145. 278 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 67, S. 81-87, S. 95, S. 107, S. 121, S. 137, S. 140, S. 151. 279 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 52-57, S. 60, S. 67, S. 70, S. 73-74, S. 173. 280 Giovanni Di Lorenzo: „Bundespräsident Joachim Gauck. Reife Leistung. Tritt er noch mal an? Es gibt eine Misstrauenskultur gegenüber Älteren, die ihn hoffentlich nicht abschreckt.“ In: Die Zeit, Nr. 17, 14. April 2016, S. 1. 281 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 198, S. 212-213, S. 215-216; Susan Neiman: Warum erwachsen werden? …, a. a. O., S. 211-212. 282 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 44, S. 141; Sabine Bode: „Einführung“, in: Michael Schneider/ Joachim Süss (Hg.): Nebelkinder…, a. a. O. S. 11-23, hier: S. 17-20. bewältigung, die unerlässlich sind für die erfolgreiche Bewältigung des mo‐ dernen Familien- und Arbeitslebens.“ 275 Der Zugewinn an persönlicher Autonomie, den Erich Fromm Freiheit von nennt, ließ „Verdrängungen reversibler und weniger endgültig“ 276 werden, wo‐ durch Freiheitsgewinne und Möglichkeiten entstanden, Gesellschaft und Kultur humaner und demokratischer zu gestalten. Beiträge zu diesen Prozessen leis‐ teten auch die öffentliche Debatte um die erste Version der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und die Debatten um die Umgangsweisen der Schriftsteller Martin Walser und Günter Grass mit ihrer NS -Vergangenheit. 277 Mit Erfahrungen einer gefährdeten Autonomie, 278 der die aus der Nachkriegs‐ zeit stammende Elementarspannung von Angst und Sicherheitsbedürfnisdurch durch das Auseinanderbrechen gültiger Ordnungsstrukturen und dem damit einhergehenden Wirklichkeitsverlust zugrunde liegt, 279 kann durch den zeitli‐ chen Abstand des Alternsprozesses bewirkt, eine Gelassenheit reifen, deren Grundstimmungen zwar Angst und die Suche nach Sicherheit ist, die aber der gesellschaftlichen Herabsetzung der Alten durch die Enkelgeneration und der „Misstrauenskultur gegenüber Älteren“ 280 , mit kritischer Distanz, Humor, ak‐ tiver Imagination und einem durch Älterwerden gereiften Urteilsvermögen be‐ gegnen kann. 281 Durch diese Fähigkeiten öffnen sich Altersgelassenheit und Gerotranszen‐ denz gegenüber Kunst, Musik und Literatur mit problemorientierten, Gefühle affizierenden Inhalten. Rezipient/ innen des dritten Lebensalters können durch ihre Krisenkompetenz gegen das Schweigen ihrer Eltern 282 offen sein und bereit, 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 79 283 Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O., S. 24. 284 Andreas Kruse: „Offenheit, Generativität und Integrität als Entwicklungsaufgaben des hohen Alters“, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 152-153. 285 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, a. a. O., S. 28. 286 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, a. a. O., S. 27. 287 Urs Kalbermatten: „Lebensgestaltung im Alter als kreatives Handeln“, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 47-72, S. 48. 288 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, a. a. O., S. 30. 289 Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O., S. 84-88, S. 113, S. 133. transgenerationale Dialoge zu führen, die der eigenen Stimme dieser Genera‐ tion, wie auch den Zeitzeugen, „eine Gestalt zu verleihen“ vermögen. 283 Da aufgrund der prinzipiellen Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit des Menschen die Offenheit Alternder neue Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick nehmen kann, können im dritten Lebensalter jugendliche Krisenerfah‐ rungen der Protestidentifikation bzw. der Identifikation mit dem Aggressor in Generativität und Gerotranszendenz transformiert werden. Im „originelle(n) Gebrauch von Wissen und Strategien“, die zu „neuartigen Lösung(en) eines Problems“ führen, kommt eine „bejahende Einstellung zu Welt und Mensch, als ein grundlegendes Interesse an Menschen wie auch an Proz‐ essen der Welt“ bei Alternden zur Geltung. 284 Zu dieser bejahenden Welteinstellung gehören unter anderem Neugier, Ex‐ perimentierfreude, Offenheit, der Mut zum Neubeginn, der kreative Umgang mit schwierigen Entscheidungssituationen, Generativität als „höhere() Bereit‐ schaft, Verantwortung zu übernehmen“ 285 und der kreative und kritische Um‐ gang mit Kunst, Musik und Literatur, durch die im Alter erhöhte „Sensibilität für emotionale Inhalte“. 286 Kreativität im Alter „(…) betrifft die Kunst der eigenen Lebensführung und das Eintreten für unsere spezifische Existenzform, aber auch die erfinderische Antwortsuche auf Lebensfragen, die spezifisch menschlich sind.“ 287 Diese krea‐ tive Lebensbejahung ist in die drei Dimensionen der Gerotranszendenz, die das Selbst, die Welt und den Kosmos betreffen, eingebettet. In der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, befähigt sie zu „kosmischen und transzendenz‐ bezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“. 288 Werke der Kunst, Musik und Literatur lösen Potenziale einer mitfühlenden Reflexion aus. Sie stellen nicht nur „kreative Lösungen der Weitergabe an die nächste Generation“ bereit, 289 sondern sprechen in der ästhetischen Transfor‐ mation menschlicher, weltlicher und kosmischer Beziehungen gerotranszendete Moderne Romane als Möglichkeitsräume 80 290 Andreas Kruse: „Offenheit, Generativität und Integrität als Entwicklungsaufgaben des hohen Alters“, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 156. 291 Joachim Küpper und Christoph Menke: „Einleitung“, in: Joachim Küpper und Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt / M: Suhrkamp 2003, S. 7-15, hier: S. 15. 292 Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Reclam: Stuttgart 1998, S. 39. 293 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München / Wien: Suhrkamp 2003, S. 148. 294 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens…, a. a. O., S. 148. 295 Gottfried Boehm: „Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfah‐ rung“, in: Joachim Küpper und Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Er‐ fahrung…, a. a. O., S. 94-112. 296 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens…, a. a. O., S. 192. 297 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen…, a. a. O., S. 33. Fähigkeiten Alternder emotional an. Sie evozieren Perspektiven auf tragfähige Lebenseinstellungen, die angesichts der Verletzlichkeit des eigenen Lebens, dieses als eine „im Werden begriffene() Totalität“ 290 zu verstehen und anhand der auf Ganzheit zielenden ästhetischen Gestaltungen zu reflektieren vermag. Gerotranszendenz ist ein Vermögen, das sich als „positiv besetzte Aufmerk‐ samkeitsleistung“ 291 ästhetischen Erfahrungen öffnet. Deren wesentliches Cha‐ rakteristikum besteht in dem Anspruch, Aufmerksamkeit aufgrund neuer Er‐ fahrungen zu erregen. Wolfgang Welsch sieht die Wirkung ästhetischer Ausdrucksformen in „Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit“ 292 , die im „spezifi‐ schen Vollzug“ 293 ästhetischer Wahrnehmung erfahren wird. Im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmung im allgemeinen, zeichnet sich nach Martin Seel, äs‐ thetische Wahrnehmung dadurch aus, dass sie „aus einer Fixierung auf eine theoretische oder praktische Verfügung über ihre Objekte heraus(tritt)“. Ästhe‐ tische Wahrnehmung, so Seel weiter, „(…) nimmt ihre Objekte unabhängig von solchen Funktionalisierungen in ihrer phänomenalen Gegenwärtigkeit wahr. Sie ist hier und jetzt für das Spiel der ihr zugänglichen Erscheinungen offen.“ 294 Die durch Gerotranszendenz aktivierte ästhetische Wahrnehmungssensibilität der Rezipient / innen des dritten Lebensalters erschließt in Werken der Kunst, Musik und Literatur Ausdrucksformen einer ästhetisch präsenten und verdich‐ teten Lebendigkeit, 295 die zu eigenständigen Erkenntnisleistungen führt. Da diese emotional, kognitiv und evaluativ an „das spezifische Erscheinen der künstlerischen Objekte gebunden“ ist, wird sie nicht primär zur begrifflichen Erkenntnisleistung. 296 Vielmehr evoziert ästhetische Erkenntnis das reflexive Selbst- und Weltverhältnis der Rezipient / innen. 297 In kultursemiotischer Sicht sind sich Romane des Viktorianischen Zeitalters und Romane der klassischen Moderne darin ähnlich, dass sie die Erforschung mo‐ derner Subjektivität narrativ multiperspektivisch, mit unzuverlässigen Erzäh‐ 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 81 298 Georg Lukács: Die Theorie des Romans…, a. a. O., S. 32. 299 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen…, a. a. O., S. 143-149. 300 Verena Kast: Imagination als Raum der Freiheit. Dialog zwischen Ich und Unbewußtem. München: dtv 1995, S. 159. 301 Silvio Vietta: „Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“…, a. a. O., S. 86, S. 79 (Hervorhebung von Vietta); Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 28-29 (Hervorhebung von Vietta). lern, gestalten: Romane des Viktorianischen Zeitalters in den narrativen Para‐ doxien von grotesker Vorenthaltung persönlicher Autonomie und märchenanalogen Chancen subjektiver Selbstverwirklichung; experimentelle Romane der klassischen Moderne in der Simultaneität ungleichzeitiger Ereig‐ nisse. Narrativ gestalten diese Romane die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Subjekts, 298 die die Erzählkunst des frühen 18. bis zum 21. Jahrhundert wie ein großer Phrasierungsbogen überspannt und Vergangenheit zukunftsbe‐ zogen in ästhetischer Präsenz verdichtet. Die Romane werden, wie oben darge‐ legt, zu Gedächtnismedien der Moderne. 299 Die erzählerischen Verfahren narrativer Gedächtnismedien lassen sich im kultursemiotischen Rahmen in die Nähe biografischer Erfahrungen von Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters rücken. In ihrer Komplexität lassen sie sich als produktive Illusionen, die wir zum Leben brauchen, erschließen und als nar‐ rative sowie kulturelle Antwortmöglichkeiten auf menschliche Lebensfragen reflektieren. Ins ästhetische Imaginationsspiel wird die Fähigkeit der Rezipient / innen des dritten Lebensalters zur aktiven Imagination gezogen. Verena Kast definiert diese Fähigkeit damit, „(…) daß das Ich aktiv in die Imagination eintritt, daß es ‚kontrollierend‘ und verändernd-verwandelnd ins imaginative Geschehen ein‐ treten kann. Dadurch wird das Unbewußte dem Bewußtsein verbunden“. 300 Im Alternsprozess steigt die Sensibilität für emotionale Inhalte wodurch die aktive Imagination der Rezipient / innen des dritten Lebensalters in ihrer alters‐ gemäßen Differenzierungsfähigkeit von der Dramaturgie der Erzählwelten, ihren kontrastreichen emotionalen Inhalten und ihren offenen Formen ange‐ sprochen wird. Da die aktive Imagination Unbewusstes mit Bewusstem ver‐ bindet, öffnet sie sich grotesken, märchenanalogen, multiperspektivischen Va‐ rianten der Darstellung der literarischen Angst, die, typisch für den Roman der Moderne seit Mitte des 18. Jahrhunderts, mit der zentralen Thematik der Selbst‐ findung des Ich, „Zonen des Vor- und Unbewußten“ im erzählten Bewusstsein der Protagonisten situiert. 301 Bei der Erschließung der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne reflektieren Rezipient / innen des dritten Lebensalters mit‐ Moderne Romane als Möglichkeitsräume 82 302 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft…, a. a. O., S. 57. 303 Verena Kast: Imagination als Raum der Freiheit…, a. a. O., S. 21-22. 304 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 131; Kast bezieht sich auf: R. Frank: „Körperliches Wohl‐ befinden durch Selbstregulation verbessern“, in: R. Frank: (Hg.): Therapieziel Wohlbe‐ finden. Ressourcen aktivieren in der Psychotherapie. 2., aktualisiert Auflage. Berlin / Heidelberg: Springer 2011, S. 152. 305 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 134-136, S. 58-61. 306 Susan Neiman: Warum erwachsen werden? …, a. a. O., S. 194-196. 307 Verena Kast: Imagination als Raum der Freiheit…, a. a. O., S. 22. fühlend auf diese Erfahrungen. Zwar können sie Ereignisse ihrer biografischen Situation nicht ändern, wohl aber „die Bilder davon in (ihrem) Kopf (…).“ 302 Die epochale und ästhetische Distanz zwischen ihnen und den Romanen eröffnet ihnen vom sicheren Ort der Lektüre aus eine selbstreflexive Beobachterposition, die die Bösewichter, Dämonen und Schurken dieser Romane - als Gestalten der Angst und des Hasses, oder auch der Komik und Satire - zu Gegenbildern in‐ nerer Feinde werden lässt: In unseren Bildern ist immer auch unser momentanes Verständnis von uns selbst und der Welt, das Verständnis unserer gegenwärtigen Beziehungsmöglichkeiten abge‐ bildet (…). Außerdem kann Abstand genommen werden von sehr negativen Vorstel‐ lungen von sich selbst, allenfalls können Sehnsuchtsbilder wesentliche Aspekte der Persönlichkeit freilegen, die bisher zu wenig ins alltägliche Leben integriert wurden. Das Selbstgefühl verändert sich (…). 303 In einer späteren Publikation ergänzt Verena Kast diesen Gedanken am Beispiel einer empirischen Studie zur Imagination, die im Vergleich real rudernder und imaginiert rudernder Sportler zu dem Ergebnis kommt, dass bei Klienten ima‐ ginative Ressourcen aktiviert werden können, wenn kinästhetische Wahrneh‐ mungen das Wohlbefinden fördern: „Imagination bewirkt also nicht nur emo‐ tionale Veränderungen, sondern auch körperliche“ 304 , die sich, so Kast weiter, im Alter durch aufmerksames sinnliches Wahrnehmen der Welt und ihrer Natur steigern: „Durch die Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung wird die Vor‐ stellungskraft immer wieder neu angeregt (…)“ - wobei die Einbeziehung „(…) eine(r) wissenden Kreativität(…)“ 305 die selbstreflexive Rezeption von Kunst‐ werken stärkt und steuert. 306 Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne können eine Veränderung des Selbst- und Weltgefühls der Rezipient / innen des dritten Lebensalters in dem Sinne bewirken, dass das „Leben schöpferisch gestaltet werden kann, schöpferisch im Sinne der Persönlichkeitsänderung“. 307 Wissende Kreativität und transitorische Identitätserfahrungen gehen ineinander über. 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 83 308 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft…, a. a. O., S. 176. 309 Jean Améry: „Der Blick der Anderen“, in: Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter…, a. a. O., S. 141-158, hier: S. 157. 310 Jean Améry: „Der Blick der Anderen…, a. a. O., S. 158. 311 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft …, a. a. O., S. 25, S. 13, S. 30, S. 67. Im Rezeptionsakt entstehenden kreative Formen der „Konfliktfähigkeit“ 308 , die Erfahrungsmöglichkeiten einer Alters-Coolness als lebenskluge Gefasstheit hervorrufen. Diese Gefasstheit ist als Dialektik gelingenden Lebens im Alter zu verstehen. Jean Améry bezeichnet sie als Bejahung einer zum Scheitern verurteilten Re‐ volte. Diese setzt der „Ver-nichtung“ der Alternden „durch die Gesellschaft“ eine flexible Haltung entgegen, die seitens der Alternden „die Ver-nichtung an(nimmt) (…)“. 309 Die Alternden wissen, dass sie sich nur dann selbst bestimmen und bewahren können, wenn sie sich dieser Unausweichlichkeit stellen. Nach Améry ist der Alternde „in der Anerkenntnis des Nichts-Seins noch ein Etwas. Er macht die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie.“ 310 Reife im Alter bedeutet, unangepasste Lebenswege zu gehen, die das Gefühl stärken, ein eigenes Leben in der Gesellschaft der Mitmenschen führen zu können, eine Lebenshaltung, die auch der Generation der Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters entspricht. Literarische Werke, Märchen, Mythen, antike Dramen, Musik, Philosophie, die Paradoxie des poetischen Realismus, die dem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts Gestalt verleiht und die modernistische Erzählweise der Ro‐ mane nach dem Ersten Weltkrieg, stellen für diese Identitätsproblematik krea‐ tive Lösungen bereit. Als ästhetische Analogieerfahrungen zur Dialektik des Alterns und den spezifischen Erfahrungen der Nachkriegsgeneration, der von ihnen erfahrenen elementaren Spannung zwischen Angst und Sicherheitsbe‐ dürfnis, lösen sie Empathiepotenziale aus, die Resilienz und Anpassungsfähig‐ keit im Alter als wichtige Ressourcen einer kritischen Selbst- und Weltbegeg‐ nung freisetzen können. In der Auseinandersetzung mit Romanen, die in der ersten und zweiten Mo‐ derne entstanden, erschließen Rezipient / innen des dritten Lebensalters ästhe‐ tische Gegenwelten, die komplexen Gefühlswelten ein Gesicht, dem Grauen und dem Glück einen Namen geben, die Gegenbilder zu traumatischen Erfahrungen entstehen lassen, die zu einer Aktivierung einer inneren Bühne anregen, auf der Krisenerfahrungen „reinszenier(t)“ 311 werden können. Die narrativen Strukturen dieser Romane affizieren „(t)rauma-assoziierte Ge‐ fühle“, zu denen „Ohnmacht, Todesangst, Panik, Ekel und Scham“ gehören und die im Individuum auf Gefühle treffen, die „der Verarbeitung“ traumatischer Moderne Romane als Möglichkeitsräume 84 312 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft…, a. a. O., S. 114. 313 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „ Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 30. 314 Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Po‐ tenziale im Alter…, in: Andreas Kruse (Hg.): Kreativität im Alter…, a. a. O., S. 31. 315 Verena Kast: Altern …, a. a. O., S. 31-39. 316 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 70, S. 73-74. 317 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 55, S. 15-19. Humor, Ironie und Selbstreflexion Erfahrungen durch „Empörung, Wut und Trauer“ dienen. 312 Gleichzeitig wird die Fähigkeit dieser Gruppe von Rezipient / innen zur Gerotranszendenz akti‐ viert, die ebenfalls in der Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem zu „kosmischen und transzendenzbezogenen Welt- und Lebensperspektive(n)“ be‐ fähigt. 313 Die in den Romanen zu entziffernde unauflösbare Diskrepanz des Ka‐ pitalismus zwischen Gleichheitsversprechen und ihrem empirischen Gegenpol der Vorenthaltung von Humanität durch Pauperisierung und Sinnentzug wird zum erzählerischen Diskursangebot. Die Rezipient / innen werden zu ästhetisch entfernter Nähe angeregt, noch unentdeckte Dimensionen ihrer Subjektivität in den narrativ verfremdeten Er‐ zählwelten der Moderne auf den drei Ebenen der Gerotranszendenz 314 zu er‐ kunden. Rezipient / innen des dritten Lebensalters, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit biografischen Erfahrungen aufgewachsen sind, die sie in ihren menschlichen Grundbedürfnissen nach Orientierung und Kontrolle 315 verunsi‐ cherten und die deshalb Angst und Hilflosigkeitserfahrungen mit Sicherheits‐ bedürfnissen 316 verknüpften, haben im Prozess des Erwachsenwerdens unter‐ schiedliche Möglichkeiten, Erfahrungen des Scheiterns durch herausfordernde bzw. explorativ gesuchte Phasen des Neubeginns in positive oder kreative Er‐ fahrungen zu transformieren. Diese Transformationserfahrungen führen zu einer gereiften und flexiblen „Altersidentität“. 317 Wesentliche Bestandtteile dieser Identität sind Offenheit, Neugier, Humor und Ironie, wobei Ironie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung in Deutschland wurde. Humor und Ironie, denen die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung eigen ist, kommen aus dem intuitiven Alterswissen. Ironie, so Odo Marquard in Anschluss an Kierkegaard, wurde „nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Grundstimmung“, weil Ironie Selbstschutz 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 85 318 Odo Marquard: „Vernunft und Humor. Vom Sieg des So-ist-es über das So-hat-es-zu-sein“, in: Odo Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. He‐ rausgegeben von Franz Josef Wetz. Stuttgart: Reclam 2013, S. 55-69, hier: S. 64. 319 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 65. 320 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 65. 321 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 65. 322 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 65. 323 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 65-66. 324 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 66. 325 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 46, S. 54. 326 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 71, S. 73, S. 89-90 (unter Verweis auf Erikson), S. 94-98. bedeutet. Der „Ironiker will nicht mit der Wirklichkeit behelligt werden“. 318 In Abgrenzung zum Humor will „Ironie das Absolute“. 319 Indem Ironie „(…) die ganze Wirklichkeit relativiert, unverbindlich und unernst macht, wird sie zum Schutz vor der Wirklichkeit: sie flüchtet sich, indem sie selbst das Absolute scheint (…).“ 320 Demgegenüber bekräftigt der Humor das Endliche. Seine Distanz entsteht „(…) nicht durch Aufschwung ins Höhere, durch Auflösung ins Abso‐ lute (oder) Erhabene (…), sondern indem bekräftigt wird, dass es ist, was es ist: nämlich das Nichtabsolute, das Nichthöhere, das Endliche inmitten von End‐ lichem.“ 321 Aus diesem Befund folgert Marquard, dass der Humor „(…) das End‐ liche, das er selber ist, mit viel anderem Endlichen in Verbindung bring(t).“ 322 Da das Endliche sich, nach Marquard, als Menschliches dadurch zeigt, dass es nicht aufhört Endliches zu sein, sondern als Endliches bekräftigt wird, wird es „(…) durch anderes Endliche distanziert, und zwar durch möglichst vieles (als) ge‐ teilte Endlichkeit (, die) lebbare Endlichkeit (ist).“ 323 Dieser Antireduktionismus, der hauptsächlich Nichtabsolutes wahrnimmt enthält das Geheimnis des Hu‐ mors, „(…) mehr als Endlichkeit zu wagen und zu realisieren, wie es ist: dass die Quintessenz über die Wirklichkeit ist, dass das Leben kurz ist und wir sterben müssen.“ 324 Aus Ressourcen wie Humor, Lebenserfahrung, Gesprächsbereitschaft mit Jüngeren, Neugier, Kreativität, die Fähigkeit eigene Ängste wahrzunehmen und mitteilenzu können, entsteht das Potenzial einer „Akzeptanz des Alterns“ 325 , die, im Unterschied zu jugendlichen Alternsphasen, „Simultaneität positiver und negativer Emotionen“ in ihrer Koexistenz zur „wichtige(n) Form von Ganz‐ heitserleben“ im Alter werden und Verdrängungen reversibel werden lassen. Dieses Ganzheitserleben wird zudem durch die Erinnerungsarbeit Alternder verstärkt, die in Situationen des Lebensrückblicks „eine Schau auf das ganze Leben ermöglichen“, in der verschiedene Lebenserfahrungen in der Erinnerung zur narrativen Identität integriert und bewertet werden. 326 Moderne Romane als Möglichkeitsräume 86 327 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 73. 328 Antje Pohl: „Mein Großvater, der Kriegsverbrecher“, in: Michael Schneider / Joachim Süss (Hg.): Nebelkinder…, a. a. O., S. 86-107, hier: S. 88, S. 87. 329 Andrea Gerk: Lesen als Medizin…, a. a. O., S. 254, S. 140, S. 180-181, S. 183, S. 234-235. 330 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 11-14; Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit“, in: Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft…, a. a. O., S. 151-179. Diese das mittlere und höhere Alter stabilisierende Individuation ruft nicht nur Erinnerungen an Werke der Kunst, an Begegnungen mit Musik und Lite‐ ratur hervor, sie aktiviert auch die Sensibilität für das Erschließen und Reflek‐ tieren anspruchsvoller Erzählwelten, in deren narrativer Ästhetik das Dunkle mit dem Hellen des Lebens, Angst mit Freude, das Groteske mit märchenhaft Erhabenem, Krisen und Abgründe mit kathartischen Lösungen verwoben sind. Die Werke bieten Gelegenheit, in individueller Lektüre und im Diskurs, sich in ästhetischer Verfremdung mit dem eigenen „Schatten (…), das heißt mit denje‐ nigen Aspekten der eigenen Persönlichkeit, die wir ablehnen“ 327 auseinander‐ zusetzen. Humor spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Affiziert werden in diesem Verstehensprozess zugleich Fähigkeiten, die bei Rezipient / innen des dritten Lebensalters ein therapeutisch wirkendes, „mit‐ fühlendes Verstehen (ihrer) selbst“ 328 , die Fähigkeit, sich mittels ästhetischer Distanz selbst in Frage zu stellen 329 , eröffnen. Da das dritte Lebensalter eine Lebensphase ist, in der Menschen dieser Al‐ tersgruppe sich nach innen wenden, Ausgespartes ihres Lebens aufnehmen und dadurch den Prozess des Werdens zu sich selbst reflektieren, wird die Frage nach der Bedeutsamkeit der eigenen inneren Welt im Zusammenhang der biografi‐ schen Entwicklung immer wichtiger. Es entstehen neue Entfaltungsmöglich‐ keiten, die Fragen nach dem Sinn des Lebens auch in der Hinwendung zu Träumen, Imaginationen und Werken der Kunst zu beantworten suchen. 330 In dieser Phase des Individuationsprozesses entstehen in Bezug auf Werke der Kunst, Musik und Literatur Plausibilitätsfragen, die Fragen der künstlerischen Gestaltungsprozesse betreffen - z. B. „wie hat der junge Dickens, wie haben die jungen Schwestern Brontë, wie Virginia Woolf solche komplexen Romane, die sich mit Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Tod beschäftigen, entwerfen und schreiben können - wie sind diese Erzähluniversen gemacht“? Diese Plausibi‐ litätsfragen, die Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen der Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters mitreflektieren, die zudem in den Diskurs um die narrativen Welten eingebracht werden, lassen sich in einer unten dar‐ gelegten kultursemiotisch fundierten Drei-Phasen-Methode erarbeiten. 1.5 Rezipient / innen des dritten Lebensalters 87 331 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 73. 332 Arno Gruen: Dem Leben entfremdet…, a. a. O.; Lothar Bredella: Das Verstehen des An‐ deren…, a. a. O. 333 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 71-77. In der kreativen Erschließung von Romanen des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne, die Lösungen für die Abgründe der modernen Seele erforschen und vorschlagen, können Rezipient / innen des dritten Lebens‐ alters wichtige Schritte „zur psychischen Stabilisierung“ 331 , über die kreative Aktivierung ihrer Empathiefähigkeiten, ihrer evaluativen und kritischen kog‐ nitiven Vermögen vollziehen. 332 Zugleich erarbeiten sie kulturhistorische Ein‐ sichten in die Entstehungszeit der reflexiven Moderne, ihre Macht der Verding‐ lichung, Krisen und Entwicklungswege, die uns heute noch betreffen. In kultursemiotischer Perspektive gestalten Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne in der Simultaneität kontrastierender Emotionen 333 transitorische Identitätserfahrungen, die in ihren Zwischenstufen als Varianten der Liebe, des Liebesverrats, der Verachtung und des Hasses in positiven und negativen Beziehungsmustern durchgespielt werden und zwi‐ schen Außen- und Innenwelt, Fremd- und Selbstbestimmung oszillieren. Unter der rezeptionsästhetischen Bedingung ästhetischer Distanz lassen sich diese Erzählwelten erschließen und kultursemiotisch reflektieren. Moderne Romane als Möglichkeitsräume 88 Teil 2 Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster von Romanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 2.1 „Wie hat der junge Dickens es bloß geschafft einen so existenziellen Roman zu schreiben, in dem Diebe und Bürger beinahe gleich sind? “ Frage eines Teilnehmers am Seminar zu Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist. „Eine so intelligente und sensible junge Frau liebt einen defizitären Mann - das geht gar nicht! “ Kommentar einer Teilnehmerin am Seminar zu Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. „Ich habe Emily Brontës Roman Wuthering Heights vor vierzig Jahren gelesen und nicht verstanden. Jetzt finde ich ihn atemberaubend.“ Kommentar einer Teilnehmerin am Seminar zu Emily Brontës Roman Wu‐ thering Heights. Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters Romane des Viktorianischen Zeitalters sind Wegbereiter modernen Erzählens. Sie zeichnen sich durch eine große Formenvielfalt aus, die jede Kategorisierung dogmatisch erscheinen lässt. Um drei Vertreter / innen dieser Gruppe von Ro‐ manen, Charles Dickens, Charlotte und Emily Brontë, wird es im dritten Teil gehen. Romane der klassischen Moderne Großbritanniens lassen zwei Entwick‐ lungslinien erkennen. Zum einen die Linie traditionellen Erzählens, die aller‐ dings mit der Prosa des viktorianischen Romans durch thematische Erneue‐ rungen nicht mehr zu vergleichen ist. Vertreter dieser Linie sind D. H. Lawrence, Aldous Huxley, Christopher Isherwood. Zum anderen experimentelles Erzählen, das sich durch Multiperspektivität, Hybridität, Fragmentarisierung und die Gestaltung des stream of consciousness auszeichnet. Vertreter dieser Linie sind Joseph Conrad, Virginia Woolf und 2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters 91 1 Peter Erlebach, Bernhard Reitz, Thomas Michael Stein: Geschichte der englischen Lite‐ ratur…, a. a. O., S. 592, S. 627; Willi Erzgäber: „Prosa. 20. Jahrhundert“, in: Bernhard Fa‐ bian (Hg.): Die englische Literatur. Band 1: Epochen - Formen. Von Willi Erzgräber, Bern‐ hard Fabian, Kurt Tetzeli von Rosador und Wolfgang Weiß, München: dtv 1991, S. 479-511, hier: S. 479. 2 George Levine: How to Read the Victorian Novel. Malden / Oxford: Blackwell 2008, S. vii. James Joyce. 1 Um eine der Vertreterinnen dieser experimentellen Linie, Virginia Woolf, wird es im drittenTeil, im Anschluss an die Vertreter des Romans des Viktorianischen Zeitalters, gehen. Sie entwirft eine alternative Erzählkunst zu der des 19. Jahrhunderts. Das Viktorianische Zeitalter ist eine gesellschafts- und kulturverändernde Umbruchszeit. Mit der Regierungszeit Königin Victorias erstreckt es sich von 1837 bis 1901. 1837 erscheint Charles Dickens‘ erster großer Roman Oliver Twist und 1901 Rudyard Kiplings Roman Kim. Diese Romane liegen chronologisch und topografisch zwar weit auseinander, haben jedoch, obgleich sie der ersten und der zweiten Modernisierungsphase zuzuordnen sind, frappante narrative Ähnlichkeiten: Zwei junge Protagonisten wandern orientierungslos und sinn‐ suchend in einer komplexen und unüberschaubaren Welt umher. Romane des Viktorianischen Zeitalters sind entgegen gängiger Vorurteile nicht altmodisch und kitschig. Vielmehr entwickeln sie komplexe erzählerische Energien, deren Intensität und Einzigartigkeit zugleich affirmativ und zeitkritisch sind, Leser / innen auch heute noch mit Orientierungsverlust und Wertezerfall kon‐ frontieren und als Wegweiser modernen Erzählens erschlossen werden können. Ihre enzyklopädischen Horizonte, die durch multiple Plots entfaltet werden, setzen sich nicht nur mit dem status quo sozialer und moralischer Konventionen ihrer Zeit auseinander und stützen mit diesem Programm die neu entstandene industrielle und kapitalorientierte Mittelklasse, sind also Erzählwelten ihrer Zeit, sondern spielen mit affirmativen Lebenshaltungen, drehen sie um, stellen sie in ihren Kehrseiten dar. Zugleich mit ihrer affirmativ erscheinenden Kon‐ struktion sind sie gegen die Zeitströmungen der Kapitalakkumulation, des Nützlichkeitsdenkens, des linearen Fortschritts und Zerfalls der Humanität ver‐ fasst. Weder waren sie zu ihrer Zeit bequeme Ratgeber, noch können sie heute so verstanden werden. Sie sind, in der Formulierung George Levines: „(…) ex‐ ploratory and inquisitive as well as didactic und moralistic.” 2 Die hier vorgelegte Auswahl von bekannten Romanen des Viktorianischen Zeitalters wird mit ihrer narrativen Verfremdungstechnik begründet, an der sich exemplarisch zeigen lässt, wie diese Romane die viktorianische Welt entdecken, erforschen, kritisieren und erzählerisch innovativ entwerfen. Dabei rückt ein zentrales Charakteristikum der Romane des Viktorianischen Zeitalters ins Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 92 3 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 303. 4 George Levine: How to Read the Victorian Novel…, a. a. O., S. 58; Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 9-12. 5 George Levine: How to Read the Victorian Novel…, a. a. O., S. 58; Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O. Zentrum: Das Paradox des poetischen Realismus, das sich bei jedem der Romane unterschiedlich auswirkt, in Varianten europäische Romane des 19. Jahrhun‐ derts strukturiert und diese als moderne Romane auszeichnet. Das Paradox besteht in der nicht auflösbaren Ambivalenz des erzählerischen Anspruchs auf realistische Detailgenauigkeit, die wegen ihrer Komplexität un‐ erfüllbar bleibt und dem Anspruch der narrativen Bündelung der Details in Per‐ spektiven, die die Unerfüllbarkeit des Anspruchs als erfüllbar, mithin plausibel erscheinen lassen. Dieses Paradox, das sich mit Zima als strukturelle Ambivalenz bezeichnen lässt - Ambivalenz, verstanden als Zusammenführung unvereinbarer Gegen‐ sätze oder Werte, ohne Synthese 3 - enthält die epistemologische Frage, ob ide‐ elle, imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, und wie Ideen und Imagination von äußeren Umständen abhängig sind? Romane des Viktori‐ anischen Zeitalters lösen dieses Problem nicht, sie stellen es narrativ dar, indem sie es in die Innenwelt ihres jeweiligen Erzählkosmos transformieren - „thro‐ wing the drama inside“ 4 - und damit zum Problem ihrer Form machen: Das Innenleben der Protagonisten gerät in multiplen, sich durchkreuzenden Hand‐ lungssträngen in Konflikte mit der Empirie einer zur Prosa gewordenen Welt, wobei die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Totalität der Romane ideelle Lösungsmöglichkeiten anbietet. Diese Romane kommentieren geradezu post‐ modern im Erzählen des Erzählens diese Ambivalenz bzw. Paradoxie einer ima‐ ginierten Empirie als Spiel mit dem Schein. Die Autoren heben in ihren Vor‐ worten immer wieder hervor, dass realistisches Erzählen, ihr als ob, sich von Dichtern der bürgerlichen Moderne, nämlich der englischen Romantik, herleitet, „(…) which made the ‚ordinary‘ into the romantic, and made the true epic not warriors’ adventures around the world, but the growth of the mind.“ 5 Realisti‐ sches Erzählen als durch und durch literarisches Erzählen ist die Entdeckung, Erforschung und der imaginative Neuentwurf des modernen Selbst in einer neu zu entdeckenden, komplexen und unüberschaubar gewordenen Welt mit dem Anspruch, Bekanntes und Unsichtbares sichtbar werden zu lassen. Nicht mehr fantastische Götter, Zauberer und Dämonen geben dem modernen Roman seine 2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters 93 6 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 15 (Hervorhebung von Vietta). 7 George Levine: How to Read the Victorian Novel…, a. a. O., S. 59. 8 Odo Marquard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 58-59; Joachim Ritter: „Über das La‐ chen“ (1940), in: Joachim Ritter: Subjektivität. Frankfurt / M: Suhrkamp 1989, S. 62-92. 9 Milan Kundera: Die Kunst des Romans…, a. a. O., S. 42, S. 43. 10 Milan Kundera: Die Kunst des Romans…, a. a. O., S. 81. 11 Erich Auerbach: Mimesis. München: Francke 1946 / 1977, S. 480. narrative Form, sondern die „(…) Desillusionierung der Welt, wie sie die Neuzeit und Aufklärung bewirkt haben.“ 6 Desillusionierung der Welt heißt, die Dinge, wie sie sind, sichtbar machen, utilitaristische, religiöse, fortschrittsorientierte Ideologien zu entlarven und Leser / innen Denkanstöße über Sinnes- und Selbsttäuschungen zu geben, um die aus ihnen folgenden Krisen und Katastrophen, wie sie beispielsweise in Cervantes‘ Roman Don Quichote zum Ausdruck kommen, zu vermeiden. 7 Es heißt aber auch, in Analogie zum Humor, dass narrative Erzählwelten zusätz‐ liche, nicht sichtbare Wirklichkeiten zulassen, so dass „im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden“ kann. 8 Romane des bürgerlichen Zeitalters, moderne Romane, stellen Grenzphäno‐ mene der Vernunft bzw. die Kehrseite einer als vernünftig angesehenen Welt dar. Da bürgerliche Romane von Anbeginn an mit ihren Erzählfiguren experi‐ mentieren - ein imaginäres „experimentelles Ego“ entwerfen und der „existen‐ tiellen Problematik (der Figuren) auf den Grund“ gehen, 9 kann die zur Alters‐ gelassenheit werdende Lebenshaltung der Rezipient / innen des dritten Lebensalters eine ästhetische Wahrnehmungssensibilität entwickeln, die hin‐ sichtlich der Fragilität der Erzählfiguren in einer komplexen Erzählwelt, diese als poetische Verdichtung der „Komplexität der Existenz in der modernen Welt“ 10 reflektieren und in Plausibilitätsfragen manifestieren kann. Auf dem Prüfstand der Romane und der Leser / innen steht der epistemolo‐ gische Anspruch der Erzählwelten mit ihrem ethischen Anspruch realistisch zu erzählen, um die gesellschaftliche Realität zur Humanität zur verändern. Erich Auerbachs Studie Mimesis stellt für diesen Anspruch eine klassische Definition bereit. Die „(…) ernste Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesell‐ schaftlichen Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Be‐ wegung“, bildet das Zentrum realistischen Darstellens. 11 Da aber realistisches Darstellen epistemologisch mit dem Erzählen von Wahr‐ heit verknüpft ist (wie es wirklich ist und war), entsteht durch den Wahrheits‐ anspruch das Paradox des poetischen Realismus mit anthropologischem und ethischem Anliegen. George Levine kommentiert: „Realism (…) is paradoxically Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 94 12 George Levine: How to Read the Victorian Novel…, a. a. O., S. 59. 13 Erich Auerbach: Mimesis…, a. a. O., S. 513-513; George Levine…, a. a. O., S. 64; Odo Mar‐ quard: „Vernunft und Humor…, a. a. O., S. 61-62, S. 65-66. an attenuated form of a distinctly non-realistic narrative practice.“ 12 Erich Au‐ erbach, George Levine und Odo Marquard sehen die Auflösung der Paradoxie in den Romanen des poetischen Realismus selbst: Diese Romane gestalten Le‐ bens- und Entscheidungssituationen als Welten der Ambivalenz und Relativität und sie gestalten narrative Universen, die mit dem Erzählen des Erzählens spielen, sich selbst kommentieren und in Details und Gesamtkonstruktion ihren Leser / innen anthropologische und ethische Sinnangebote machen. 13 Die Refiguration der Romanwelten durch die Rezipient / innen des dritten Lebensalters, der Diskurs über ihre Lektüreerfahrungen und Plausibilitätsfragen im Literaturseminar, können diese kulturkritischen Erfahrungen und Selbster‐ fahrungen im Zusammenwirken von individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis, wie sie in der ambivalent strukturierten Gedächtnismetaphorik der Romane des Viktorianischen Zeitalters zum Ausdruck kommen, ermöglichen. Wenn nun imaginative Entwürfe mehr Realität enthalten als Empirie, dann entwickeln moderne Romane narrative Programme, die die Realität imaginativ perspektivieren. Was heißt das? Romane des Viktorianischen Zeitalters entwi‐ ckeln das Paradox ihres poetischen Realismus ambivalent aus zwei antagonis‐ tischen Energien heraus: einer anthropologischen und einer ethischen Energie, die antithetisch gegeneinander wirken und die Inkohärenz ihrer Form als Schein ihrer Kohärenz durchschauen lassen. Die anthropologische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist der Mensch? Die komplexen und sich überkreuzenden Handlungsstränge und Plots der Romane des Viktorianischen Zeitalters beantworten diese Frage auf der inhaltlichen Ebene, also auf der Ebene erzählerischer Dynamik, kulturpes‐ simistisch: Menschen sind unberechenbar, unbesonnen, machtbesessen, gierig, abgründig, nicht festzulegen, exzentrisch, heimatlos. Aus dieser kulturpessimistischen Sicht entfalten sich in den Romanwelten Zufälle, Erwartungsbrüche, Perspektivenwechsel, Stimmungsumschwünge in asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen problematischen Individuen und einer zur Prosa gewordenen Welt, die sowohl die Machthaber, als auch die von ihnen manipulierten Subjekte als problematische, zwiegespaltene Subjekte - jedes auf seine Weise - zum Ausdruck bringen. Diese Dramaturgie der Doppel‐ krisen findet man beispielsweise auch bei Shakespeare, Goethe, Schiller und in den Opern Verdis. Die Seite der Mächtigen zeigt sich im Zwiespalt zwischen dem Bestreben, ihre Macht zu erhalten, bei innerer Bedrohung ihrer Autono‐ miefähigkeit und die Seite der ohnmächtigen Figuren befindet sich im Zwiespalt 2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters 95 zwischen ihrer Autonomiefähigkeit und der inneren Bedrohung ihrer Autono‐ miemöglichkeiten. Die Blickrichtung der Mächtigen ist rückwärtsgewandt, die der Ohnmächtigen zukunftsgerichtet. Diese doppelgesichtigen Gegenströ‐ mungen werden in den Romanen des 19. Jahrhunderts kontingenzästhetisch gestaltet. Es entsteht ein Perpetuum mobile, das in der Darstellung durchkreuzter Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Möglichkeitsraum der Fiktion visionär deren Gegenperspektive - versöhnte personale Autonomie - entwirft. Dieses kontingenzästhetische Erzählgewebe ist gesellschaftskritisch angelegt und eröffnet bei Rezipient / innen des dritten Lebensalters aufgrund ihrer Le‐ benserfahrungen komplexe imaginative Möglichkeits- und Spielräume, die sie mit kulturell differenten Erfahrungen konfrontieren, weil sich gesellschaftliche und kulturelle Diskrepanzen narrativ erschließen und durch Zusatzmaterialien kulturgeschichtlich in Augenschein nehmen lassen. Die ethische Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt: Was ist angesichts der Korrumpierbarkeit des Menschen und seiner Handlungen zu tun? Romane des Viktorianischen Zeitalters stellen diese Frage heutigen Leser / innen anheim und laden sie zu Plausibilitätsfragen ein, auf die unten eingegangen wird. Die Romane beziehen eine autoreferenzielle Gegenperspektive zur Elastizität ihrer inhaltlichen Behauptung, der Mensch sei abgründig und heimatlos. Sie flechten intentional kulturoptimistische Perspektiven ins narrative Gewebe ein. Entgegen der Intention, der Mensch sei kontingenzanfällig, breitet sich inner‐ halb des kulturpessimistischen Erzählgewebe die humoristisch bzw. in roman‐ tischer Ironie gestaltete Sichtweise aus, Menschen seien, mit Ausnahme der un‐ belehrbaren abgründig Bösen, gut und sozial harmoniefähig, symmetrischer Beziehung fähig, die personale Autonomie intersubjektiv möglich werden lässt. Diese affirmative Sicht, die der Gefahr einer Ontologisierung personaler Auto‐ nomie nicht entgeht, durchwirkt das kulturpessimistische Perpetuum mobile der Romane als aussagekräftiger Teil ihrer Ganzheit und stellt es ideologienahe still. Heutige Rezipient / innen des dritten Lebensalters empfinden diese ideologi‐ enahe Stillstellung als Erwartungsenttäuschung, als Bruch und Zerbrechen der narrativen Ganzheit, als die strukturelle Ambivalenz, die sie ist, die den Plausi‐ bilitätstest aus ihrer Sicht hinsichtlich der anthropologischen Ebene nicht be‐ steht, selbst wenn symmetrische Potenziale in den asymmetrischen Bezie‐ hungen vom Erzählbeginn an angelegt sind. Formuliert man diese rezeptionsästhetische Problematik unter der Fragestel‐ lung, welche narrativen Potenziale der Mündigkeit und Reife die Romane des Viktorianischen Zeitalters den Rezipient / innen des dritten Lebensalters bieten, so erhält die epistemologische Ambivalenz dieser Erzählwelten eine erweiterte Perspektive: Die komplexe Verflechtung von Problemen und Krisen, mit denen Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 96 sich die problematischen Individuen auf der anthropologischen Ebene der Ro‐ mane auseinandersetzen, weisen auf Möglichkeiten einer noch unerreichten Mündigkeit und Menschenwürde hin. Jedoch durchkreuzt und ergänzt die ethi‐ sche Dimension der Romane mit der in ihr enthaltenen idealisierten Tugend‐ ethik des 19. Jahrhunderts diese Möglichkeit und setzt ihr zugleich eine oft mär‐ chenhafte Vision von Mündigkeit und Menschenwürde entgegen. Die ästhetische Paradoxie des Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters besteht aus einer romantischen Weltsicht, die illusionslos die Abgründigkeit des modernen Menschen aufdeckt, weil sie sich erzählerisch von ihren empirischen und naturalistischen Erscheinungsweisen entfernt. Sie öffnet eine Tiefe der narrativen Welt, in der sich traumanalog Gegenwart und Geschichte, Erfor‐ schung des Selbst und Mythos begegnen. Diese Begegnung gibt den Erzähl‐ welten jenseits politischer Umstände eine erweiterte, ihre Epoche transzendie‐ rende Zeitebene, die bis in die Gegenwart heutiger Leser / innen reicht. Rezipient / innen des dritten Lebensalters erkennen in dieser Ästhetik ro‐ mantischer Illusionslosigkeit die fiktionale Forderung nach Mündigkeit, die im Zeitalter des technischen Fortschritts historisch unerfüllbar blieb. In dieser Er‐ kenntniskritik, die Unmündigkeit ästhetisch reflektiert, so auch in den Opern Verdis, wie Rigoletto, Otello, Macbeth, werden die Romane des Viktorianischen Zeitalters zu Wegbereitern modernen Erzählens; sie sind moderne Romane. Die Ambivalenz der antithetischen Energien, der anthropologisch-kritischen und der ethischaffirmativen evoziert kreative Dialoge zwischen den Roman‐ welten des Viktorianischen Zeitalters und Rezipient / innen des dritten Lebens‐ alters. Die Entdeckung, dass Handlungsverwicklungen und die Gestaltung der jeweiligen Romane kolportagehaft zusammengehalten werden bzw. auseinan‐ derbrechen, die potenzielle Kohärenz der narrativen Form epistemologisch aus‐ einandergetrieben wird und heute nicht mehr plausibel erscheint, regt zu Re‐ flexionen an, inwiefern die konflikterzeugende Doppelgesichtigkeit der Konstellation von problematischen Protagonisten und Antagonisten auf den Inhaltsebenen der Romanwelten und Brüchen auf der narrativ formalen Ebene, transitorische Identitätserfahrungen kultursemiotisch wiedererkennen lassen? Shakespeares Komödien und Tragödien stellen die Frage nach dem modernen Selbstverständnis ebenso, wie die Wegbereiter des modernen Romans. Zu nennen sind beispielsweise Miguel Cervantes Don Quichote (1605 / 1615), Lau‐ rence Sternes Tristram Shandy (1759), Charles Dickens‘ Oliver Twist (1837) und, doppelperspektivisch, Dickens‘ Bleak House (1852), Charlotte Brontës Jane Eyre (1847), Emily Brontës mehrfach perspektivierter Ich-Roman Wuthering Heights (1848), Flauberts L’Education Sentimentale (1869), um nur einige zu nennen. 2.1 Die narrative Paradoxie der Romane des Viktorianischen Zeitalters 97 14 Peter Gay: Die Macht des Herzens…,a. a. O., S. 56, S. 65, S. 67, S. 55-69; Peter Gay: The Naked Heart…, a. a. O., S. 43 15 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 280. 16 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 214. 2.2 Gestaltet wird die Suche nach personaler Autonomie, aus der Sicht gesell‐ schaftlicher Außenseiter oder außergewöhnlicher Individuen. Selbstbestim‐ mung wird zum ästhetischen Problem. Dort, wo im Mittelalter der Glaube zentral war und zur Zeit der Aufklärung das autonome Selbst zur abstrakten Idee wurde, entstand in der frühen Neuzeit und in der Romantik ein - wie Peter Gay deutet - „bedrohliches Vakuum“ („a frightening vacuum“), das bei Künst‐ lern und Schriftstellern eine verzweifelte Suche nach „geistiger Zuflucht“ her‐ vorrief. „Zur Debatte“, so Peter Gay, „stand das Bild vom Selbst“; die Suche ge‐ staltete sich als Suche nach plausiblen Gestalten des Schöpferischen, als Entfesselung eines inneren Sinns und einer poetisch narrativen Wiederverzau‐ berung der Welt. 14 In dieser Entwicklung der Moderne, die ein Sinnvakuum hervorrief, wird der kulturdiagnostische Ausdruck der Romane erkennbar: Ihre durch strukturelle Ambivalenzen fragmentarisierten Universen konfrontieren die Entfremdungs‐ erfahrungen und das Sinnvakuum ihrer Zeit. Die Paradoxie des poetischen Re‐ alismus ist ihr Wahrheits- und Wiederverzauberungsmoment. Sie ruft über Plausibilitätstests, die weiter unten erläutert werden, kreative Wahrnehmungs- und Selbstreflexionsmöglichkeiten der Rezipient / innen des dritten Lebensal‐ ters hervor, weil moderne Romane, wie die Moderne, keine adäquate Antwort auf das moderne Identitätsparadigma geben können: „In der Moderne ist keine ‚zeitgemäße‘ Antwort auf die Identitätsfrage ein letztes Wort oder ein Akt, der definitiv zeigen könnte, wer eine Person (geworden) ist und sein möchte.“ 15 Die Intensität des Augenblicks: Interior monologues als narratives Gestaltungsmedium der Romane Virginia Woolfs „We have seen“ - so leitet Terry Eagleton sein Kapitel zu Henry James ein - „that the major English novelists of the nineteenth century were mostly ambi‐ guous figures, with one foot in and one foot out of conventional society (…) they were hybrid amphibious men and women - internal émigrés (…).” 16 Peter Gay ordnet in seinem Buch Modernism Hernry James noch James Joyce, Virginia Woolf, Marcel Proust, Thomas Mann, Joseph Conrad, D. H. Lawrence, William Faulkner und Franz Kafka zu und begründet seine Auswahl, der er noch Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 98 17 Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 195. 18 Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 207. 19 Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 207. 20 Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 208. 21 Ansgar Nünning: Der englische Roman des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett 2011, S. 40-41; Manfred Jahn: „Der englische Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: eine narratologische Gattungsgeschichte mit Schwerpunkt Modernismus“, in: Ansgar Nünning (Hg.): Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004, S. 171-193, hier: S. 171-172; Mauro Ponzi (Hg.): Klassische Mo‐ derne…, a. a. O. weitere Autor / innen der Moderne hinzufügen könnte, damit, dass Hernry James, James Joyce, Virginia Woolf, Marcel Proust und Franz Kafka repräsen‐ tative Autor / innen für eine kreative und kritische Auseinandersetzung mit tra‐ ditionelle Erzähltechniken sind, die narrative Methoden fanden „of penetrating to the inner recesses of their fictional creations in strikingly individual ways.“ 17 Virginia Woolfs Romane, die der oben dargelegten narrativen Form des ex‐ perimentellen Erzählens zuzuordnen sind und ihre Essays, weisen Wege der inneren Emigration von sich. Sie entwickeln einen narrativen bzw. essaystisch unverwechselbaren Ton, der mit sprachlichen Möglichkeiten reflektierend ex‐ perimentiert, und sich, weil kulturelle Kontexte mit einbezogen werden, um das Zentrum individueller Selbstfindung in der Moderne drehen. Peter Gay zitiert Woolfs Tagebucheintrag vom 26. Juli 1922, in dem sie ihre Selbstentdeckung niederschreibt: „‘(…) that I have found out how to begin (at 40) to say something in my own voice‘“. Peter Gay kommentiert: „To be authentically herself, like no one else, no matter how admirable a model might be - this was the modernist incarnate speaking.” 18 Anschließend stellt er einen Bezug zu Flaubert her, der Baudelaires Lyrik als Ästhetik gepriesen hatte „for being unlike anyone’s el‐ se’s.“ 19 Virginia Woolf, so schließt Peter Gay, habe, wie die anderen modernen Autor / innen, in ihren Romanen und Essays die existenzielle Frage nach dem Ich, „‘Who am I? ‘“ - Bernards Suche nach dem Ich in Woolfs Roman The Waves - gestellt, ohne eine klärende Antwort darauf zu geben, 20 und narrativ geben zu wollen. Romane, die in der Zeit des Modernism, also in der Zeit zwi‐ schen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg ent‐ standen, 21 zeichnen sich durch eine imaginative, subjektive Prosa aus, die durch die Auflösung akzeptierter Kriterien des Erzählens, wie Kohärenz, Chronologie, Tabuisierung der Sexualität und ein auf Wahrscheinlichkeit hin konstruiertes Ende, auf damalige Leser / innen schockierend wirkte. Virginia Woolf fand in der visionären Ästhetik ihrer Rezensionen, Essays und Romane ihre eigene Stimme, ihre eigene Ausdrucksweise, mit der sie den Un‐ 2.2 Die Intensität des Augenblicks 99 22 Virginia Woolf: „Modern Fiction“, in: Virginia Woolf: The Common Reader. First Series (Edited and Introduced by Andrew McNeillie) Harcourt: Harvest 1984, S. 146-154, hier: S. 149-150. 23 Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 190; Vera Nünning: Die Ästhetik Virginia Woolfs. Eine Rekonstruktion ihrer philosophischen und ästhetischen Grundanschauungen auf der Basis ihrer nichtfiktionalen Schriften. Frankfurt / M: Lang 1990, bsd. S. 61-77, S. 84-90; Her‐ mione Lee: „Virginia Woolf ’s essays”, in: Susan Sellers (ed.): The Cambridge Companion to Virginia Woolf. Second Edition. Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 89-106, hier: S. 93-94, S. 99-100. terschied ihrer Schriftstellergeneration, zu der auch Forster, Lawrence und Joyce gehörte, zu den Edwardianern Bennett, Galsworthy und Wells, sowie zu Schrift‐ seller / innen des 18. und 19. Jahrhunderts formulierte. In ihrem 1919 erschienen Essay „Modern Fiction“ fordert sie ihr ästhetisch avantgardistisches Programm als innovative künstlerische Herausforderung ein: Is life like this? Must novels be like this? Look within and life, it seems, is very far from being ‘like this’. Examine for a moment an ordinary mind on an ordinary day. The mind receives a myriad impressions - trivial, fantastic evanescent, or engraved with the sharpness of steel. From all sides they come, an incessant shower of innu‐ merable atoms; and as they fall, as they shape themselves into life of Monday or Tuesday, the accent falls differently from old; the moment of importance came not here but there; so that, if a writer were a free man and not a slave, if he could write what he chose, not what he must, if he could base his work upon his own feeling and not upon convention, there would be no plot, no comedy, no tragedy, no love interest or catastrophe in the accepted style, and not a single button sewn on as the Bond Street tailors would have it. Life is not a series of gig lamps symmetrically arranged; life is a luminous halo, a semi-transparent envelope surrounding us from the beginning of consciousness to the end (…). Let us record the atoms as they fall upon the mind in the order in which they fall, let us trace the pattern, however disconnected and inco‐ herent in appearance, which each sight or incident scores upon the consciousness. 22 Virginia Woolf setzt gegen konventionelles Sehen eine semi-bewusste Auf‐ merksamkeit, die zwischen einer sich selbst erfahrenden Subjektivität und einer als objektiv wahrgenommenen Außenwelt, nicht im Sinne einer Realitätsleug‐ nung, sondern als initiativ schöpferische Realitätsanverwandlung, vermittelt. Diese korrelative Anverwandlung erkennt Strukturen, die sich widersprechen als Zusammenhänge, mithin als pattern, das im Schreibprozess zum Konstruk‐ tionsprinzip der narrativ visionären Ästhetik ihres jeweiligen Romans bzw. ihrer Essays wird. Indem Virginia Woolf das Ideal eines experimentellen, impressionistisch ra‐ dikalen Subjektivismus mit demokratischem Anspruch, 23 gegen die Paradoxie Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 100 24 Claudia Olk: Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision. Berlin / Boston: de Gruyter 2014, S. 26-31. 25 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 307. 26 Dieter Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1988, S. 228. realistischen Erzählens setzt, begehren ihre Schriften, insbesondere ihre Ro‐ mane, gegen die konventionelle Tradition der Plotbezogenheit auf. Woolf ge‐ neriert eine visionäre Ästhetik, die die Wirklichkeit im Inneren des Subjekts als inkohärentes Muster ausfindig zu machen sucht und dem Kunstwerk eine über sich selbst hinausweisende eigene Realität zuweist. 24 Im ästhetischen Konzept der Androgynität, das ihren Romanen inhärent ist, werden kulturell sanktio‐ nierte Gegensätze vertauscht. Es entsteht eine narrative „Vertauschbarkeit als Indifferenz“ 25 , die die Metaphysik des Schwebens in der Harmonie der Gegen‐ sätze bewahrt und zugleich gegen sie aufgebehrt, indem sie die Verwandschaft der Gegensätze als immanente Transzendenz erzähldynamisch zum Ausdruck bringt, ohne sie zur Synthese zu führen. Folglich löst das „schwebende() Gleichgewicht“ 26 der Erzählweise ihrer Ro‐ mane die Paradoxie des poetischen Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters auf. Den Konflikt zwischen Subjekt und Welt, anthropologischem und ethischem Anspruch ihrer (Woolfs) Romane, zieht sie in der veränderten Cha‐ rakterkonzeption ihrer Erzählfiguren zusammen. Woolf sieht das moderne In‐ dividuum nicht als patriarchalen Monolith und zwanghaft geschlossene We‐ senheit, sondern im Paradigma transitorischer Identität als flexibles Gemisch aus Emotionen und Impressionen. Ihre Romane und Essays geben, ganz in der Nähe zu Sigmund Freuds Forschungen, die die Hogarth Press der Woolfs in Übersetzung herausgab, und doch mit eigener Akzentsetzung, den Innenwelten der Erzählfiguren den Vorrang vor der mimetischen Erfassung der Empirie, die bei den Realisten des 19. Jahrhunderts immer deterministische Züge enthielt, die sie in der Ambivalenz des narrativen Paradoxons aufzulösen suchten. Zur visionären Ästhetik ihrer Romane gehört auch eine Zeitauffassung, wie sie Henri Bergson in seinem Werk Zeit und Freiheit (1888) vertrat. Bergson un‐ terscheidet zwischen einer äußeren historischen und einer inneren subjektiven Zeitauffassung. Letztere wird an der Intensität erlebter Augenblicke gemessen. Virginia Woolf sieht die externe Zeit als Auslöser einer frei beweglichen inneren Lebendigkeit. Wie andere Schriftsteller der Moderne experimentiert sie mit dem Fluss zufällig entstehender Assoziationen, der sogenannten Bewusstseins‐ strom-Technik. Den Begriff stream of consciousness prägte William James in seinem Werk Principles of Psychology (1890) für den monologue intérieur, der auf das Werk Les Lauriers sont coupés (1887) des französischen Symbolisten Éduard 2.2 Die Intensität des Augenblicks 101 27 Ansgar Nünning: Der englische Roman des 20. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 53. 28 Ansgar Nünning: Der englische Roman des 20. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 54. 29 Ansgar Nünning: Der englische Roman des 20. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 54; Manfred Jahn: „Der englische Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 180-183. 30 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 28-29, S. 30-31; Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 155-157, S. 170, S. 370-383. 31 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 20, S. 28. 32 Virginia Woolf: A Room of One’s Own. Annotated and with an introduction by Susan Gubar. Orlando/ London: Harvest 2005, S. 108. Dujardin zurückgeht. 27 Der innere Monolog kann als „mimetische Form der Be‐ wusstseinsdarstellung“ 28 einer Romanfigur verstanden werden, die ohne einen vermittelnden Erzähler den „Eindruck größtmöglicher Unmittelbarkeit in der Wiedergabe von Bewusstseinsprozessen“ 29 entstehen lässt. Da ein vermittelnder Erzähler fehlt, findet die Charakterisierung der Figuren durch den narrativen gedanklichen Selbstbezug der Figuren statt. Das Zusammenspiel solcher Figuren in einem Roman ergibt in Virginia Woolfs Romanen eine multiperspektivische Textur, die an Gemälde des Impressionismus, Kubismus, aber auch an filmische Techniken der Montage, der Flashbacks, Close-Ups und an schnelle Cuts erin‐ nert. 30 Aus Woolfs ästhetischen Konzept einer nicht mimetischen, kreativen Auf‐ merksamkeit für die Welt, die im literarischen Text gebildet wird, und im Vollzug ihrer literarischen Herausbildung des Erblickens der Einzelheiten der Welt, die synechdochisch als welthaltige reflektiert werden, 31 ergeben sich Erfahrungs‐ schocks für Leser / innen, die tradierte Erzählweisen erwarten. Woolfs Romane und Essays werfen visionäre Blicke auf das Leben in der Moderne. Da Woolfs Romane den visionären Blick in einzigartigen erzählten Realitäten kreiren, dabei die Erscheinungen der Welt tranzendieren und eine multiperspektivische Ganz‐ heitsvision entwerfen, ergibt sich für Leser / innen die erkenntniskritische Frage, was Woolf unter Realität verstehe und was Realität eigentlich sei? In ihrem Essay A Room of One’s Own umkreist Woolf, im Zusammenhang mit der Frage, welchen Stellenwert Frauen in der Literatur seit der Frühen Neuzeit haben, paternalismuskritisch diese Problematik. Im sechsten Kapitel gibt sie eine Antwort auf die Frage, was sie unter Realität versteht. Woolf leitet ihr Realitätsverständnis mit der Bemerkung ein, dass sie ihre Vorlesungsnotizen selbstkritisch durchgeschaut und bemerkt habe, ihre Motive für diese Vorlesungen seien nicht vollkommen egoistisch. Vielmehr ziehe sich durch ihre Erörterungen die Überzeugung, „(…) that good books are desirable and that good writers, even if they show every variety of human depravity, are still good human beings.” 32 Woolfs Wunsch nach guten Büchern, lässt sie die Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 102 33 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 108. 34 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 108. 35 Otfried Höffe (Hg.): Lexikon der Ethik. Siebente, neubearbeitete und erweiterte Auflage. München: Beck 2008, „Das Gute“ S. 127-129, hier: S. 128, S. 127. 36 Arnim Regenbogen und Uwe Meyer (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner 2013, „gut“, S. 276-278, hier: S. 277-278, „Intuition”, S. 325-326, hier: S. 325. 37 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 108. Studentinnen bitten, mehr Bücher zu schreiben, die gut für sie und für die ganze Welt sein werden. Ihre zukunftsbezogene Überzeugung hält sie für einen „in‐ stinct or belief “ 33 , weil sie als Frau, die keine Universitätsausbildung hat, philo‐ sophischen Begriffen misstraut. Diese seien „apt to play one false“. 34 Konsequenterweise ist Woolfs Vorstellung von gut abgelöst von objektivte‐ leologischen Deutungen zu verstehen. In der neuzeitlichen Ethik wird das Gute als Ausdruck allgemein menschlicher Empfindungen gedeutet, „die den Rahmen der auf Selbsterhaltung u(nd) Selbststeigerung abzielenden Bedürfnisbefriedi‐ gung sprengen ( J. Butler, D. Hume)“. 35 Es handelt sich bei Virginia Woolfs Ver‐ ständnis von gut also nicht um ein teleologisch oder zweckrational begründetes Gutes, sondern um eine maßstabanaloge Vision, die sich an gegebenen morali‐ schen Empfindungen, ohne objektive Geltungsansprüche intuitiv anlehnt, wobei intuitiv anzusehen ist als eine durch unmittelbare Anschauung entstan‐ dene ganzheitliche Sinneswahrnehmung. 36 Virginia Woolfs Skepsis gegenüber Begriffen, die sie dreifach auf ihr Selbst‐ gefühl, auf Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und auf ihre emanzipato‐ rische Intuition einer Humanitätsvision bezieht, führt sie zu der Frage: „What is meant by ‚reality‘? “ 37 , eine Frage, die in diesem Kontext den dreifachen Bezug des Persönlichen, Sozialen und ganzheitlich Kosmischen aus weiblicher Sicht mit einbezieht, der als vierten Aspekt die Frage enthält, wie Realität im Sinne eines Maßstabes für Humanität zum Ausdruck gebracht werden könne? Von dieser Vision her gibt sie folgende Antwort: What is meant by ‚reality‘? It would seem to be something very erratic, very unde‐ pendable - now to be found in a dusty road, now in a scrap of newspaper in the street, now in a daffodil in the sun. It lights up a group in a room and stamps some casual saying. It overwhelms one walking home beneath the stars and makes the silent world more real than the world of speech - and then there it is again in an omnibus in the uproar of Picadilly. Sometimes, too, it seems to dwell in shapes too far away for us to discern what their nature is. But what ever it touches, it fixes and makes permanent. That is what remains over when the skin of the day has been cast into the hedge; that is what is left of past time and of our loves and hates. Now the writer, as I think, has 2.2 Die Intensität des Augenblicks 103 38 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 108. 39 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 109. 40 Peter V. Zima: Moderne / Postmoderne…, a. a. O., S. 307. 41 Claudia Olk: Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 23 (unter Bezug auf Husserls phänomenologische Methode), S. 28. the chance to live more than other people in the presence of this reality. It is his business to find it and collect it and communicate it to the rest of us. 38 Die Erkenntnis, dass Wirklichkeit und Wahrheit subjektiv, zufällig und nicht notwendig sind, steht, im Zusammenhang mit Woolfs Skepsis gegenüber Be‐ grifflichkeit, im Zentrum dieser Ausführungen. Wirklichkeit ist für sie eine Energie, die Ferne und Nähe, Abwesendes und Anwesendes, Erhabenes und Unscheinbares zu einer Unschärfe verdichtet, die zu einer ästhetischen Erfah‐ rung erscheinender Präsenz wird. Diese Dynamik des Erscheinens macht ihre Lebendigkeit aus, die begrifflich nicht einzuholen ist. Nimmt man sie wahr, so fährt Woolf am Beispiel großer Literatur fort, dann öffne sie die Sinne, man sehe intensiver, man erkenne die faktische Außenwelt als „unreality“. 39 Diese kontingente und schwebende Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit für die Welt gilt programmatisch für Literatur, Kunst, Film und Musik des Mo‐ dernism; sie richtet sich gegen die nach Vorgaben der instrumentellen Vernunft rational und funktionell organisierte moderne Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bei Virginia Woolf erhält sie die poetische Qualität eines vielschichtigen, multiperpektivischen und ästhetischen Erfahrungspotenzials, das in der Textur literarischen Schreibens als je nach Text variiertes pattern zur Erscheinung ge‐ bracht wird. Unter pattern kann man bei Virginia Woolf eine sprachbildliche Form verstehen, die, aus der Perspektive ihrer emanzipatorischen Humanitäts‐ vision, von der Bezüglichkeit aller Phänomene ausgehend, Gegensätze auflöst und neue bzw. unerwartete Zusammenhänge stiftet, die Gegensätze syntheti‐ sieren und sie dabei als Gegensätze erkennbar bleiben lässt: „Vertauschbarkeit als Indifferenz“. 40 Die dynamische Energie eines lebendigen poetischen Schreibens entsteht bei Virginia Woolf durch eine Phänomenologie der Aufmerksamkeit, durch Auf‐ merksamkeitskonflikte, die sich der Kontrolle des Subjekts entziehen und nicht in seiner Verantwortlichkeit liegen. Sprachliche Gestalt erhält dieses Schreiben in einer gelenkten, nicht hemmenden Aufmerksamkeit. 41 Waldenfels, der die Phänomenologie der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit seiner Phänomenologie des Fremden in seinem Buch Grenzen der Normali‐ sierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden Band 2 entwickelt, sieht im Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 104 42 Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Frankfurt / M: Suhrkamp 1998, S. 49-68, S. 107-115, S. 162-166, S. 221-222, S. 234-239; Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt / M: Suhrkamp 2000, S. 76-131. 43 Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung…, a. a. O., S. 235-236. 44 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 28. 45 Susan Dick: „Literary realism in Mrs Dalloway, To the Lighthouse, Orlando and The Waves”, in: Sue Roe and Susan Sellers (ed.): The Cambridge Companion To Virginia Woolf. Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 50-71, hier: S. 61. 46 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 30. 47 Susan Dick: „Literary realism …, a. a. O., S. 63, S. 70-71. Zusammenhang einer nicht synthetisierten Aufmeksamkeit die Chance, dass das Subjekt aus sozialen funktionalen Zusammenhängen herausgehoben, von seinem beschränkenden Egoismus erlöst wird und das Fremde begehrenswert findet. 42 Nach Waldenfels liegt das Problem aber darin, dass das aufmerkende Subjekt sich immer erst im Nachhinein fragen kann, was sich in einer erfahr‐ baren Welt, die eine „Welt außerhalb unserer Welt“ als „unerfahrbare Wirklich‐ keit“ 43 denkt, ereignet hat. Woolfs Romane transformieren diese Nachträglich‐ keit in eine Präsenz des sich Ereignenden, durch die „synechdochal representation“ 44 sprachbildlicher, welthaltiger Details. Für Virginia Woolf wäre das pattern dann das in der Aufmerksamkeit entste‐ hende, den Schreibprozess ermöglichende und strukturierende Zusammenspiel von Außen- und Innenwelt, Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem, sichtbarer und unsichtbarer Welt, Bewusstem und Unbewusstem, äußerer historischer und innerer subjektiver Zeit, ein Zusammenspiel, das durch die Aufmerksamkeits‐ konflikte zu einem von außen nach innen führenden reflektierten Selbstgefühl und zur Fluidität von Ich-Erfahrungen führt, die in ihren Romanen zur leben‐ digen Präsenz verdichtet werden. In der Darstellung intensiver Augenblicke enstehen Momente, in denen „the ordinary and the extraordinary are perceived as one (…)“. 45 Es entstehen dialektische Verknüpfungen zwischen einer Phäno‐ menologie der Aufmerksamkeit, Imaginationen und ästhetischen Visionen, die Unmittelbares und Abstraktes, Empirisches und Erfahrungstranszendierendes in der Fiktion einer Ganzheit miteinander verweben und im Gestus impressio‐ nistischer Bildhaftigkeit Zugänge zu „alomost prelapsarian, innocent, disinte‐ rested, and undifferentiated vision(s)“ öffnen. 46 Virginia Woolfs Realitätskonzept besteht aus der gebrochenen Synthetisie‐ rung gegensätzlicher Erfahrungen, eine subjektive Sichtweise, die die Gleich‐ wertigkeit von sichtbarer Welt und unsichtbarer, unberührbarer Realität in ihr als Vision eines ganzheiltlichen Realitätsgewebes experimentell zu gestalten sucht. 47 Im gleichen Zuge ihrer reflektierten Einheitsvision lässt sie Forderungen 2.2 Die Intensität des Augenblicks 105 48 Vera und Ansgar Nünning: Virginia Woolf zur Einführung. Hamburg: Junius 1991, S. 11, S. 9-16; Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 20, S. 22, S. 26. 49 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 28. 50 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900a). GW, Bde 2 / 3, S. 551, S. 570, S. 600, S. 614; Sigmund Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908e). GW VII, S. 213-223; Sig‐ mund Freud: „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ (1911b). GW VIII, S. 229-238; Sigmund Freud: Das Unbewußte (1915e). GW X, S. 264-303; Martina Feurer: Psychoanalytische Theorien des Denkens. S. Freud - D. W. Winnicott - P. Aulagnier - W. R. Bion - A. Green. Würzburg: Königshausen & Neu‐ mann 2011, S. 19-30; Eveline List: Psychoanalytische Kulturwissenschaften. Wien: UTB 2013, S. 247-252. 51 Annegret Maak: Der experimentelle Roman der Gegenwart. Darmstadt: Wissenschaft‐ liche Buchgesellschaft 1984, S. 7. nach Geschlechteremanzipation und Demokratisierung laut werden. Es ent‐ stehen essayistische und narrative Formen, die Einblicke „in die Ganzheit und holistische Zusammengehörigkeit alles Lebenden“ 48 , durch unkonventionelles Sehen, ermöglichen. Woolf „(…) asserts that language creates even livlier visions than ordinary sight, and leaves an even stronger impact on the reader than factual description of reality with its claims towards objectivity ever could.” 49 Sigmund Freud weist in seinen Schriften darauf hin, dass die Synthetisierung gegensätzlicher Erfahrungen, wie sie Virginia Woolf zu ihrem ästhetischen und essayistischen Programm erhebt, durch das produktive Zusammenspiel zwi‐ schen Primärprozessen, die aus Assoziationsfolgen bestehen und keine Nega‐ tion kennen und Sekundärprozessen entstehen, die Ordnungen durch Relati‐ onen erstellen und intelligible Zusammenhänge ermöglichen. Freud zufolge ist individuelles Denken auf die Entwicklungsfähigkeit dieses Zusammenspiels an‐ gewiesen. Da intellektuelle Leistungen und künstlerische Werke ohne den Pri‐ märprozess nicht denkbar sind, kommt es für Freud in Werken der Kunst zu eigentümlichen Versöhnungen der beiden Prinzipien. Die Gleichsinnigkeit beider Prozesse bringt nach Freud Kunstwerke von Rang hervor, in denen Wun‐ schwelt und Realität durch die Besonderheit der Formgebung der Werke ver‐ mittelt werden. 50 Weil traditionelle Darstellungsweisen chaotische Erfahrungen der Wirklich‐ keit einer sich im Wandel befindenden Modernität nicht mehr adäquat erfassen können, 51 gestalten Virginia Woolfs Romane Aufmerksamkeitskonflikte in einer Form reflektierter Unmittelbarkeit, die die Interpretationsaktivitäten ihrer Leser / innen stimuliert, weil sie diese durch Normenbrüche herausfordert. Unter Berufung auf Roland Barthes führt Peter Childs zur veränderten Rezeptionhal‐ tung der Leser / innen in der Interaktion mit experimentellen Romanen aus: „(…) Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 106 52 Peter Childs: Modernism …, a. a. O., S. 76; Hans Ulrich Seeber: „Vormoderne und Mo‐ derne“…, a. a. O., S. 370. 53 Peter Gay: Peter Gay: Modernism…, a. a. O., S. 203, S. 205 (Gay spielt hier auf Polonius in Shakespeare’s Hamlet an). 54 Vera Nünning: „‘Increasing the bounds of the moment‘: Die Vielschichtigkeit der Zei‐ terfahrungen und Zeitdimensionen in den Werken Virginia Woolfs“, in: Martin Middeke (Hg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradig‐ menwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg: Königs‐ hausen & Neumann 2002, S. 297-312, hier: S. 300. 55 Virginia Woolf: „Street Haunting. A London Adventure”, in: Virginia Woolf: The Death of the Moth and Other Essays. San Diego / New York 1970, S. 20-36, hier: S. 22. comonly experimental, texts flout (…) conventions and require the reader to be more productive of the text’s meanings, which are usually ambiguous.“ 52 Virginia Woolfs Romane erfordern eine neue Rezeptionshaltung, die die ex‐ perimentelle Form ihrer Romane durch Dispositionsfragen, auf die unten ein‐ gegangen wird, erschließt. Dies ist eine Rezeptionshaltung, die sich der Gestal‐ tung von Aufmerksamkeitskonflikten als narrativer Indifferenz durch Vertauschbarkeit der Gegensätze stellt und bereit ist, sich mit „hidden ranges of primitive mental urges“, die ihre Romane - „offering her readers indirections to find directions“ 53 - evozieren, auseinanderszusetzen. In der narrativen Gestal‐ tung von Aufmerksamkeitskonflikten werden Möglichkeitsräume für Diskon‐ tinuität und A-Kausalität durch die Hervorhebung der Vielschichtigkeit sub‐ jektiver Zeiterfahrungen vor historischen und sozialen Zeiterfahrungen eröffnet. In Ausdrucksmitteln des Bewusstseinsstroms, innerer Monologe und erlebter Rede, entsteht die Simultaneität einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit, die, wie Vera Nünning betont, auf zwei Phänomene abzielt: (…) zum einen auf den kontinuierlichen Fluss der Zeit und das Nacheinander der sub‐ jektiven Eindrücke, das nur in der sukzessiven Abfolge dargestellt werden kann, zum anderen auf den Inhalt dieses Gedankenstroms, der Erinnerungen und Assoziationen in einer völlig anachronischen Weise verbinden kann. 54 Die entstehende anti-mimetische narrative Textur fordert von den Leser / innen eine kreative Wahrnehmung des Erzählten, die sich von ihrer alltäglichen, nor‐ mierten Wahrnehmungweise unterscheidet. In ihrem Essay „Street Haunting“, publiziert in The Death of the Moth, wie in weiteren Essays zum Film und zu Tolstoy, unterscheidet Virginia Woolf zwischen den „eyes of the body“ und den „eyes of the mind”, um die Differenz zwischen einem Alltagsblick und einen den Alltag transzendierenden Blick zu verdeutlichen: „The eye (…) floates us smoothly down a stream; resting, pausing, the brain sleeps perhaps as it looks.“ 55 2.2 Die Intensität des Augenblicks 107 56 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 30-31. 57 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 57; Renate Wiggershaus: Virginia Woolf. München: dtv 2006, S. 77. 58 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 57. 59 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essayism. Edinburgh: Edinburgh University Press 2014, S. 29. Claudia Olk kommentiert diese und ähnliche Passagen damit, dass Woolf zwischen unterschiedlichen Weisen des Sehens unterscheide, um in der narra‐ tiven Spannung zwischen experimentellem und imaginativen Sehen die Not‐ wendigkeit zum Ausdruck zu bringen, etwas in unterschiedlichen Perspektiven gleichzeitg wahrnehmen zu können. 56 Durch die Erzähltechnik gleitender Blickpunkte, die von der Erzählerstimme initiiert und gelenkt werden, 57 enstehen in Virginia Woolfs Romanen narrative Ausdrucksgestalten, die als Analogien zu Vorgängen von Verschiebung und Ver‐ dichtung zu verstehen sind und von Rezipient / innen des dritten Lebensalters als traumanaloge bzw. imaginative Elemente wiedererkannt werden können. Während Woolfs Essays eine ungeordnete, brüchige Welt dezentriert und begrifflich nicht hierarchsiert zum Ausdruck bringen - sie nehmen die frag‐ mentierte Moderne in das Fragmentarische ihrer Form auf - sind Woolfs Ro‐ mane „a constant reminder of autorial organization and presentation of thoughts“. 58 Woolfs Essays gestalten ineinander gleitende Aufmerksamkeitskonflikte. Am Beispiel von Woolfs Essay „Street Haunting“ erläutert Randi Saloman: The street haunter’s ability to move from place to place - entering and leaving shops at will, or remaining outside dwellings she would prefer to imagine rather than to penetrate - leaves the essay acutely open to surprises. 59 Durch ihren proteischen Charakter geben Virginia Woolfs Essays Erfahrungen transitorischer Identität eine Gestalt, die Möglichkeiten komplexer und vari‐ anter Identifikationen mit Menschen unterschiedlichster Art und unterschied‐ licher Schichten für die herumwandernde und später schreibende Essayistin eröffnet und so das moderne Selbst in der Paradoxie einer sich selbst entzieh‐ enden Selbsterfahrung ins Spiel bringen kann. Im Unterschied zu Woolfs Ro‐ manen, die sich narrativ verdichtet den Ambivalenzen ihrer Erzählfiguren widmen, entdeckt und verwirft Woolfs Essay „Street Haunting“ Menschen und Großstadteindrücke im Vorübergehen. Aufmerksamkeitsverschiebung macht die offene sprachliche Form der Essays Virginia Woolfs aus: The essay’s value comes finally from ist capacity to thrive in a liminal space, one located just outside or on the cusps of various intersecting identities. It is the moments Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 108 60 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essayism…, a. a. O., S. 32. 61 Theodor W. Adorno: „Der Essay als Form“, in: Theodor W. Adorno: Noten zur Lite‐ ratur I. Frankfurt / M: Suhrkamp 1971, S. 9-49, hier: S. 47. 62 Theodor W. Adorno: „Der Essay als Form“…, a. a. O., S. 36. 63 Martina Feurer: Psychoanalytische Theorien des Denkens…, a. a. O., S. 22 (Feurer bezieht sich auf Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900a). GW, Bd. 2 / 3, S. 310); J. La‐ planche / J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt / M: Suhrkamp 1973, S. 396-399. 64 Martina Feurer: Psychoanalytische Theorien des Denkens…, a. a. O., S. 23 (Feurer bezieht sich auf Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900a). GW, Bd. 2 / 3, S. 349). 65 Martina Feurer: Psychoanalytische Theorien des Denkens…, a. a. O., S. 23 (Feurer bezieht sich auf Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900a). GW, Bd. 2 / 3, S. 601). in which a person passes from self to self and is caught in the spaces between that the essayist seeks to capture. 60 Der Essay als liminale Form, reflektiert sich selber, indem er seine „Elemente (koordiniert), anstatt sie zu subordinieren“. 61 Daraus entstehen seine Befreiung vom Zwang zur theoretischen Eindeuigkeit und seine „tastende() Intention“, die am Besonderen das Ganze aufleuchten lässt. 62 Wie Woolfs Romane tragen ihre Essays der Nichtidentität des Besonderen Rechnung. So kann Woolfs Roman Mrs Dalloway in gewisser Weise als romanhafte Version ihres später publi‐ zierten Essays „Street Haunting“ gelesen werden. Gemeinsam ist ihnen das Gleiten zwischen Gestalten und Erfahrungen. Freud nennt den Vorgang, bei dem eine Vorstellung ihre gesamte Besetzungs‐ intensität an eine andere Vorstellung abgibt, Verschiebung: „Die Besetzung wird entlang der assoziativen Verknüpfung bis zu der neuen Vorstellung geschoben, die nun zum Besetzungszentrum wird, um das die Assoziationselemente sich anordnen (…)“. 63 Verschiebung bewirkt, dass eine unbedeutende Vorstellung die Bedeutung und Intensität einer anderen Vorstellung bekommt und abstrakte Vorstellungen in bildliche umgewandelt werden, die dann Beziehungen zu anderen Vorstel‐ lungen, zu denen es vorher keine Verbindungen gab, herstellen. 64 Verdichtung deutet Feurer im Sinne Freuds als einen Begriff, der (…) für verschiedene Vorstellungen (steht), die sich in einer gemeinsamen Vorstellung komprimieren lassen. Im Verdichtungsmechanismus kann eine Vorstellung die ganze Besetzung mehrere anderer Vorstellungen an sich nehmen, um die Intensität des Vor‐ stellungsinhalts zu erhöhen (…). 65 In Woolfs Essays ist die traumanaloge assoziative Blickpunktverschiebung und -verdichtung analog zu Primärprozessen a-logisch angelegt. In ihrem Roman Mrs Dalloway jedoch wird die assoziative Blickpunktverschiebung durch die li‐ 2.2 Die Intensität des Augenblicks 109 66 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essayism…, a. a. O., S. 33. 67 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essayism…, a. a. O., S. 33. 68 J. Laplanche / J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse…, a. a. O., S. 397. 69 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. terarische Technik des interior monologue, der von einer Erzählstimme sekun‐ diert wird, durchkomponiert. Dies gibt ihm, wie Woolfs Essays, seine Intensität, zeigt aber gegenüber Woolfs Essays, auch seine Grenzen: „(Mrs Dalloway) cannot attempt to break narrative structure, or to challenge the conventions of mimesis, character and, above all, authorial persona, without drawing attention to its formal project.” 66 Saloman begründet ihre Unterscheidung zwischen Woolfs Essays und Mrs Dalloway damit, dass Mrs Dalloway einen rudimentären Plot enthält (Cla‐ rissas Vorbereitungen ihrer Abendgesellschaft und ihre damit verknüpften Ak‐ tivitäten im Verlauf eines Tages) und dass dieser Roman Charaktere und Ereig‐ nisse narrativ zusammenbringt, wie es im Essay nicht der Fall ist: In Mrs Dalloway werden scheinbar unverbundene Ereignisse und Charaktere am Romanende zu einem Erzählganzen zusammengezogen, „that is anathema to the essay“. 67 Beim Erschließen und kritischen Verstehen von Woolfs Roman Mrs Dalloway entwickeln Rezipient / innen des dritten Lebensalters zunächst Dispositions‐ fragen, auf die dann Plausibilitätsfragen folgen. Dies sind Fragen des urteilenden Denkens an die narrative Simultaneität einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit. Die Fragen drehen sich um den Status von Zweifeln, Unsicherheiten und Ne‐ gationen, die in Träumen nicht oder nur verdeckt auftauchen, 68 in Virginia Woolfs Erzählwelten aber strukturbildend eingesetzt werden. Erneut wird die Frage virulent, ob nicht die narrative Verschränkung einer „Vieldeutigkeit der Subjektivität“ mit der „Undurchsichtigkeit ihres Weltbezuges“ 69 , die ästhetische Ganzheit des Romans Mrs Dalloway aufsprengt? Indem der Roman die Negativität des Weltlaufes (Erster Weltkrieg), die Pa‐ radoxie der Erfahrung mit dem Tod (Clarissa / Septimus), die Uneindeutigkeit der Entscheidung der jungen Clarissa zwischen Sally, Peter und Richard, die Zwiespältigkeit der Erzählfiguren - sie leben zwischen Gegenwart und Ver‐ gangenheit -, die leitmotivisch eingesetzte Grenzerfahrung von Vernunft (Cla‐ rissa) und Wahnsinn (Septimus), zu einer Ambivalenzstruktur verdichtet, die er in der Denkfigur der Androgynität und in der Wellenmetaphorik als Indifferenz (Vertauschbarkeit) zu überwinden scheint, gestaltet er im Spiel von Sein und Schein, Anschauung und Reflexion narrativ eine Metaphysik des Schwebens. In der Herausstellung einer Subjektivität, die, weil sie haltlos ist, sich an eine Welt Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 110 70 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essayism…, a. a. O., S. 34-36 deutet Mrs Dalloway im Vergleich zu Woolfs Essays als einen „deliberately framed” Roman (S. 34, S. 36). 71 Sabine Anselm: „Literarische Gespräche als ‚phasenverbindende Brückensteine‘“, in: Sabine Anselm, Gisela Beste und Christian Plien (Hg.): Standards als Herausforderung für Lehrerbildung und Deutschunterricht. Mitteilungen des Deutschen Germanisten‐ verbandes, Heft 1, 2016, 63. Jahrhgang, S. 64-67. 2.3 und Innerlichkeit verliert, die ihr ebenfalls keinen Halt geben, wird Mrs Dal‐ loway zum exemplarisch experimentellen Roman der klassischen Moderne. 70 Drei-Phasen-Methode In einer Drei-Phasen-Methode, die erschließendes und reflektierendes mit einem kulturgeschichtlichen Verstehen der Romanwelten kombiniert, werden moderne englische Romane in Seminargesprächen von ihrem kulturgeschicht‐ lichen Kontext her rekonstruiert, als Zeitdiagnosen erschlossen und auf ihre heutige Bedeutung hin befragt, mithin refiguriert. Diese Seminargespräche kann man als gelenkte literarische Gespräche bezeichnen, die, wie Sabine An‐ selm ausführt, die kommunikativen Kompetenzen des Zuhörens, Verstehens und Sprechens mit einem schrittweisen Verstehen narrativer Welten ver‐ binden. 71 Werke der Weltliteratur, wie Hamlet, Faust, Antigone oder Penthesilea, aber auch Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts laden ein, im Rahmen des gelenkten literarischen Gesprächs auf ihre Sinnmuster hin kritisch be‐ leuchtet zu werden. Während Anselms Explikationen sich auf die universitäre Ausbildung von Deutschlehrer / innen konzentrieren, geht es in den gelenkten literarischen Se‐ minargesprächen an der U3L um eine Bildungsmethode, die Rezipient / innen des dritten Lebensalters dazu anregt, anhand narrativer Welten auf ihre Lern‐ biografien zu reflektieren und Resistenzpotenziale gegen verwehrte Möglich‐ keiten persönlicher Autonomie zu aktivieren und sie einlädt, sich intersubjektiv über ihr Verständnis literarischer Texte auszutauschen. Folglich besteht das gelenkte literarische Seminargespräch an der U3L nicht aus Vorträgen des Dozenten. Vielmehr werden die freiwillig anwesenden Se‐ minarteilnehmer / innen an die Lektürezumutungen in der Drei-Phasen-Me‐ thode herangeführt und dazu angeregt, ihre Deutungen und Reflexionen im Diskurs zu begründen. Es geht in den gelenkten literarischen Seminargesprä‐ chen um ein anspruchsvolles dialogisches Sprechen und Zuhören, das transfor‐ matorische Bildungsprozesse durch das Erschließen und Verstehen literarischer Werke initiiert. 2.3 Drei-Phasen-Methode 111 72 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken…, a. a. O., S. 15-16. Hierbei lassen sich prototypisch fünf Varianten von Interaktionen der Semi‐ narteilnehmer / innen mit den Erzählwelten und in der Gruppe unterscheiden: Die einen sind an kognitiver Lernprogression interessiert, die anderen an einer selbstreflexiven Aufarbeitung lernbiografischer Erfahrungen - diese Gruppe zeigt oftmals auch historisches Interesse -, die dritten konzentrieren sich auf kultur- und gegenwartspolitische Auseinandersetzungen, die auch die Gender‐ problematik thematisiert, eine vierte Gruppe bekundet textanalytisches Inte‐ resse und befragt Werkstrukturen, eine fünfte Gruppe nimmt aufmerksam schweigend, manchmal staunend, teil. In diesen heterogenen Seminargruppen, die teils aus Akademikern, teils aus Nicht-Akademikern bestehen, geht es von der Intention des gelenkten Semi‐ nargesprächs aus gesehen, nicht um Lernen im Sinne einer Akkumulation von Informationen, sondern um Bildung als Veränderung des grundlegenden „Selbst- und Weltverhältnisses von Menschen“, Veränderungen, „die sich po‐ tentiell immer dann vollziehen, wenn Menschen mit neuen Problemlagen kon‐ frontiert werden“. Diese Konfrontation bringt neue Wahrnehmungsmuster hervor, die erlauben, bisher erlebten Problemen und Krisen „besser als bisher gerecht zu werden.“ 72 Das gelenkte literarische Seminargespräch führt die Teilnehmer / innen nicht nur an die Lektüren heran, sondern eröffnet in Bezug auf die Lektüren, vor dem Hintergrund der Lebenserfahrungen der Rezipient / innen des dritten Lebensal‐ ters und ihrer Interaktionen, entdeckende individuelle Lektüreerfahrungen, Überraschungen, gegenseitigen Erfahrungs- und Deutungsaustausch, Streitge‐ spräche zu irritierenden Passagen, menschenbildende Lebendigkeit. In Bezug auf die Lektüren entstehen außerdem Reflexionen und Selbstreflexionen zu existenziellen Erfahrungen, Grenzsituationen, zur Endlichkeit menschlichen Lebens. Es entstehen Kreativität und Produktivität hinsichtlich ausführlicher mündlicher oder freiwillig erbrachter schriftlicher Stellungnahmen. In den ge‐ lenkten literarischen Seminargesprächen öffnen anspruchsvolle literarische Texte Horizonte, regen zum intergenerationellen Diskurs an und bringen die komplexe Motivationslage der heterogenen Gruppe der Teilnehmer und Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters ins Spiel. In einer kultursemiotisch ausgerichteten Drei-Phasen-Methode können im Seminar über das Wie der Textdeutung, nämlich ein Wie, das dogmatische Vor‐ gaben oder Interventionen ausschließt und textbezogen dialogisch selbstreflexiv arbeitet, kreative und empathiefördernde, aber auch ideologische und ideolo‐ giekritische Potenziale evoziert werden. Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 112 73 Engelbert Thaler: Teaching English Literature…, a. a. O., S. 104-106. 74 Engelbert Thaler: Teaching English Literature…, a. a. O., S. 105. 75 Engelbert Thaler: Teaching English Literature…, a. a. O., S. 105. 76 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Frankfurt / M: Suhr‐ kamp 1981, S. 114-151. Dazu bietet sich die Kombination zweier von sechs textbezogenen „Approa‐ ches“ an, die Engelbert Thaler in seinem Buch Teaching English Literature 73 entwickelt hat. Diese beiden „Approaches“ führen bei Rezipient / innen des dritten Lebensalters zu einem kultursemiotischen Verstehen der hier ausge‐ wählten Romane. Es handelt sich um Varianten des für adoleszente bzw. spät‐ adoleszente Leser / innen entworfen „Straight through Approach“ und des „Seg‐ ment Approach“ 74 In Bezug auf Rezipient / innen des dritten Lebensalters erfordert der „Straight through Approach“ die Lektüre des gesamten Romans vor bzw. zu Beginn des Seminars. Diese für geübte Leser / innen geeignete Herangehensweise hat den Vorteil, dass sich die Rezipient / innen des dritten Lebensalters auf narrative Schwerpunkte, Phrasierungen, die narrative Form und den kulturellen Hinter‐ grund des jeweiligen Romans, auf den er konfrontativ antwortet, konzentrieren können. Der „Segment Approach“ zieht ebenfalls den gesamten Roman in Betracht, unterteilt ihn aber in Segmente („digestible bits“), die beispielsweise als Kapi‐ telbündelungen u. U. einen „uniform pace of reading“ 75 nach sich ziehen können. Diese für weniger geübte Leser / innen geeignete Herangehensweise entgeht der Gefahr eines mechanischen Lese- und Erschließungsrhytmus im Seminar da‐ durch, dass die Freiwilligkeit der Lektüre und privates Interesse bei Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters divergierende Lektürerhythmen hervor‐ rufen, die sich gegenseitig unterstützen, ergänzen und zu Diskursen aufrufen. Die Kombination beider Herangehensweisen führt über ausgewählte Zusatz‐ materialien und unterstützende Medien - dazu gehören Dokumente, die kul‐ turelle Hintergründe kommentieren, Werke der bildenden Kunst, Hörbeispiele, Filmausschnitte, Zeitungsauschnitte, die teils vom Dozenten, teils von den Teil‐ nehmer / innen bereit gestellt werden - zu kultursemiotischen Reflexionen auf Gehalte und Form des jeweiligen Romans. Die Kombination der beiden „Approaches“ sind Bestandteile der Drei-Phasen-Methode, die das gelenkte literarische Seminargespräch struktu‐ riert: (1.) in einer sinnerschließenden Lektüre werden Romane inhaltlich und in ihren narrativen Motivzusammenhängen erschlossen, (2.) in einer reflektier‐ enden Deutung werden sie kooperativ und damit bereits, so Habermas, gesell‐ schaftlich kulturell gedeutet 76 und (3.) in der Einordnung ihrer Ausdrucksge‐ 2.3 Drei-Phasen-Methode 113 77 Lothar Bredella Das Verstehen des Anderen…, a. a. O. 78 Nach Wolfgang Hallet: „Romanlektüre und Kompetenzentwicklung: Vom narrativen Diskurs zur Diskursfähigkeit“, in: Wolfgang Hallet und Ansgar Nünning (Hg.): Roman‐ didaktik. Theoretische Grundlagen, Methoden, Lektüreanregungen…, a. a. O., S. 74-88 und Engelbert Thaler: Teaching English Literature…, a. a. O., S. 104-106. 79 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken…, a. a. O., S. 101-135. stalten in das kulturelle Umfeld ihrer Entstehungszeit werden die Werke, so Lothar Bredella, auf ihre Aktualität hin rezeptionsästhetisch, im Sinne der äs‐ thetischen Urteilskraft Immanuel Kants, reflektiert. 77 In den ineinandergreif‐ enden Phasen kommt das Selbst- und Weltverständnis der Rezipient / innen, in Auseinandersetzung mit den Werken, und in der Verknüpfung eines textbezo‐ genen mit eines kulturellen Textverstehens (close and wide reading) ins Spiel und wird aufs Spiel gesetzt. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Prozess 78 : Abbildung 1 nach Wolfgang Hallet (2009) und Engelbert Thaler (2008) Die Drei-Phasen-Methode bewirkt transformatorische Bildungsprozesse deren Anlässe Fremdheits- und Krisenerfahrungen sind. 79 Romane des Viktoriani‐ schen Zeitalters und der klassischen Moderne stellen krisenartige Ereignisse dar, die die Protagonisten zu neuen Erfahrungen führen. Durch ästhetische distan‐ zierte Vergegenwärtigung eines vielfältigen Erfahrungsspektrums gilt dies auch für die Leser/ innen dieser Romane, die im Fiktionsraum mit Erfahrungen kon‐ frontiert werden, die ihnen fremd sind, die sie interessant finden oder die sie in ihrem Leben lieber hätten meiden wollen. In Dickens‘ Roman Oliver Twist bei‐ spielsweise sind es invers geführte Spiegelfiguren, in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre sind es Kontrast- und Komplementärfiguren, in Emily Brontës Roman Wuthering Heights sind es Kontrast- und Komplementärsituationen, in Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway sind es androgyne Polaritäten und die Inversion von Leben und Tod, die die krisenbesetzten Identitätserfahrungen der Protago‐ nisten hervorrufen, und den Rezeptionsprozess der Leser / innen durch die ge‐ heime Verwandschaft der Gegensätze irritieren. Die Verwirrungsästhetik setzt Werte und Normen der Leser / innen aufs Spiel. Sie setzen sich damit ausei‐ Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 114 80 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 30, S. 43; Otfried Höffe: „In Würde altern”, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmer‐ mann, Andreas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit…, a. a. O., S. 10-26, hier: S. 22. Grundfragen im Zusammenhang mit der Unterscheidung von ästhetischer Welt und begrifflichem Denken nander, dass Identitätsmöglichkeiten der Protagonisten durch Komplementär- und Spiegelfiguren dezentriert und damit in Frage gestellt werden können und diese deshalb in Krisen führt. Diese Krisen vergrößern die doppelgesichtigen Konflikte zwischen komplementären oder antagonistischen abgründigen Ichs und der ihnen widerstehenden prosaischen Welt, affizieren in der gestalteri‐ schen Spannung zwischen Dezentrierung und Verdichtung die erzählerische Form und rühren an Krisenerfahrungen der Rezipient / innen des dritten Le‐ bensalters. Aus dem kritischen Potenzial der Alters-Flexibilität, der Fähigkeit zur Grot‐ ranszendenz und der Lektüre und Reflexion der Romanwelten in der Drei-Phasen-Methode, ergeben sich Grundfragen an die Romane. Rezipientenbezogene Grundfragen machen die Subjektseite des Rezeption‐ sprozesses aus. Sie zeigen, dass Rezipient / innen des dritten Lebensalters den eigenen Bildungs- und Alternsprozess aktiv gestalten. 80 Komplementär dazu wird der Rezeptionsprozess von romanbezogenen Grundfragen gelenkt. Diese beziehen sich auf Inhalte, Form und die kulturdiagnostische Zeitkritik der Ro‐ manwelten. Der dialogische Rezeptionsprozess zwischen Leser / innen und Werk, zwi‐ schen rezipientenbezogenen und romanbezogenen Grundfragen wird gelenkt durch das narrative Potenzial der Romane und den sich daraus ergebenden Wi‐ dersprüchen zwischen ihren Inhalten und ihren erzählerischen Formen. Bei der Entwicklung beider sich wechselimplikativ enthaltenen Typen von Grundfragen ist zu beachten, dass die Romanwelten sich nicht den Prämissen einer philosophischen Ethik und Anthropologie der späten Lebenszeit unter‐ ordnen lassen. Vielmehr lässt sich das ästhetische Potenzial der Romane in der Unterscheidung von ästhetischer Welt und begrifflichem Denken im Medium ästhetischer Distanz erschließen. Im Rezeptionsprozess entsteht ein dialekt‐ 2.3 Drei-Phasen-Methode 115 81 Anna Danilina: „Kunst, Gesellschaft und Erfahrung. Die ästhetische Form als Kritik“, in: Marcus Quent, Eckardt Lindner (Hg.): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie. Wien / Berlin: Turia + Kant 2014, S. 41-65, hier: S. 42-45. 82 Gottfried Gabriel: „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis…, a. a. O., S. 163-180, hier: S. 174-175. 83 Andreas Kruse: „Der gesellschaftlich und individuell verantwortliche Umgang…, a. a. O., S. 29-34; Harm-Peer Zimmermann: „Alters-Coolness…, a. a. O., S. 101-124; Thomas Rentsch: „Philosophische Ethik…”, a. a. O., S. 163-187; Thomas Rentsch: „Altern als Werden zu sich selbst…”, a. a. O. S. 151-179. isches Zusammenspiel 81 von Sinnlichkeit und reflektierender Urteilskraft, 82 das zur kritischen Auseinandersetzung mit den Romanwelten anregt. Die rezipientenbezogenen Grundfragen zielen auf Fragen personaler Identität und Selbstbestimmung, die sich aus einer Anthropologie des Alters 83 ergeben: 1. Wer oder Was bin ich geworden? Gestalten die Erzählfiguren ihre Hand‐ lungsentscheidungen und ihre Lebensperspektiven selbst? Wie flexibel sind sie im Umgang mit sich und anderen Erzählfiguren? 2. Wie ging ich und gehe ich mit Selbsttäuschungen und Krisen um, wie handele ich, wenn ich Täuschungsmanöver durchschaut habe? Welche Grenzen der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung von Handlungs‐ möglichkeiten werden den Erzählfiguren gesetzt. Werden ihre Selbstbes‐ timmungsmöglichkeiten durchkreuzt? Wie werden sie durchkreuzt? 3. Welche Verletzlichkeiten und Selbstbestimmungspotenziale stellen die Romane dar? In welches Verhältnis bringen sie sie zueinander? 4. Habe ich meine Entwicklungschancen genutzt? Wie bin ich mit ihnen umgegangen. Haben die Erzählfiguren Entwicklungsmöglichkeiten? Welche Rolle spielen Zufälle bei diesen Möglichkeiten? Welche Bedeu‐ tung kommt den Plotverwicklungen zu? 5. Wie gehe ich mit der immer deutlicher werdenden Endlichkeitsthematik um? Wie gestalten die Romane das Verhältnis von menschlicher Be‐ grenztheit, Endlichkeit und Ganzheit? Entwerfen sie visionäre Ganz‐ heitsperspektiven? Wie werden diese im Verhältnis zur Endlichkeitsthe‐ matik, zum Endgültigwerden der Person gestaltet? 6. Welchen Erkenntniswert hat Literatur? Die romanbezogenen Grundfragen und die unten behandelten Plausibilitäts‐ fragen, die im Dialog mit den narrativen Formen der Romane entstehen, ergeben sich im Rahmen der Drei-Phasen- Methode des erschließenden, des reflektier‐ Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 116 enden und des kulturgeschichtlichen Verstehens der Romanwelten aus dem narrativen Zusammenspiel von Inhalten, Form und zeitdiagnostischer Kultur‐ kritik der Romanwelten. Sowohl die Grundfragen als auch die Plausibilitäts‐ fragen bleiben nicht auf die dritte Stufe - die kulturgeschichtliche - beschränkt, sondern begleiten und profilieren alle Stufen der Drei-Phasen-Methode. Im Bereich des erschließenden Lesens, also nach der ersten individuellen Ro‐ manlektüre, die in der Regel auf das Was des Erzählten, die inhaltliche Ebene der Romane zielt, können u. a. folgende Fragen entstehen: Gehen die Figuren aufeinander ein? Weichen sie einander aus? Intrigieren sie gegeneinander? Konfrontieren sie einander? Bauen sie sich gegenseitig auf ? Helfen sie einander? Retten sie einander? Beuten sie einander auf unterschied‐ lichsten Ebenen aus? Haben sie Geheimnisse voreinander? Sind die Figuren stolz oder gleichgültig gegeneinander? Welche Erwartungen haben sie? Sind die Fi‐ guren einander fremd? Im Bereich des reflektierenden Lesen und Besprechens der Romanwelten, der das Wie des Erzählens ins Auge fasst, also die narrative Form, kann es zu fol‐ genden Fragestellungen kommen: Wie sind die Figurenbegegnungen gestaltet? Wie sind Atmosphären gestaltet? Passen Stimmungen der Figuren und Atmosphären zusammen, sind sie diskre‐ pant? Wie verhalten sich die Erzähler zu den Begegnungen der Figuren und Atmosphären? Wie verhalten sich die Erzähler zu der Form, in der sie erzählen - humorvoll, ironisch, über Leseransprachen? Welche Konfliktlösungen bieten die Romanwelten an? Wie ist die kulturelle und ästhetische Distanz der Roman‐ welten zu verstehen? Im Bereich des kulturgeschichtlichen Erschließens der Romanwelten, also dem Bereich des Warum oder Worum-Willen der Erzählwelten, geht es um die auf die Rezipient / innen des dritten Lebensalters bezogenen selbstreflexiven Frage‐ stellungen, die aus der reflektierenden Urteilskraft entstehen, die in diesem Be‐ reich zwar ins Zentrum rücken, in den anderen beiden Bereichen aber - im zweiten stärker als im ersten - schon implizit präsent sind: Wie verstehe ich, wie verstehen wir die Handlungsstrukturen und Lösungsvor‐ schläge der Romanwelten heute? Passen Teile und Ganzes der Romanwelt zu‐ 2.3 Drei-Phasen-Methode 117 84 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 72. 2.4 sammen? Wie werden Möglichkeiten der Selbstbestimmung kulturgeschichtlich perspektiviert und narrativ hergeleitet? Wie gehe ich mit dem narrativen Bruch zwischen anthropologischen und ethischen Anspruch um? Wie entziffere ich Multiperspektivität? Was machen die fragmentierten Romanwelten mit mir? Welche Kulturdiagnosen schlagen die Romane vor und sind diese Diagnosen für mich / uns heute teilweise oder im Ganzen bedeutsam? Die Fragestellungen lassen deutlich werden, dass die drei methodisch ge‐ trennten Bereiche ineinander übergehen. Ihre rezeptionsästhetische Dynamik entsteht durch die reflektierende Urteilskraft, die in der Wahrnehmung der äs‐ thetisch durchlässigen Distanz der Romanwelten, die Unterscheidung von asymmetrischen Figureninteraktion und symmetrischen Potenzialen in und um diese Interaktionen, stets mit reflektiert. Mit diesem Unterscheidungsvermögen wird die Lektüre der Romane hinsichtlich personaler Autonomiebildungsmög‐ lichkeiten der Rezipient / innen des dritten Lebensalters wesentlich und sie wird im kulturübergreifenden Sinne politisch relevant. Gerhard Kaiser stellt die Frage, warum Literatur in unserem Leben so be‐ deutsam werden kann? Die Antwort sieht er im „Entwurfscharakter der Dich‐ tung“, der der Endlichkeit, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen im Echo „auf die menschliche Grunderfahrung“ entgegenkommt. Diese Grunder‐ fahrung besteht nach Kaiser darin, „nicht und nie am Ziel zu sein (…). Der Stachel des Ungenügens ist unsere sensibelste Antenne.“ 84 Plausibilitätsfragen Der Stachel des Ungenügens evoziert Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen an die Erzählwelten. Plausibilitätsfragen entstehen in der Interaktion zwischen den Romanen und den Leser / innen, an der Schnittstelle zwischen den Erzähl‐ welten und dem refigurierenden Bewusstsein und Einfühlungsvermögen der Leser / innen. Es entstehen Fragen, die das Selbst- und Weltverhältnis der Leser / innen in Bezug auf die Lebendigkeit und Kohärenz der erzählten Welten stellen. Diese Fragen orientieren sich an kulturellen Ordnungsmustern, die durch die Gesamtstruktur der erzählten Welten in Frage gestellt, erweitert, revidiert werden. Häufig beziehen sie sich auf die Romanschlüsse, die Aufschluss geben über den künstlerischer Ausdruck zeitgenössischen Denkens sowie über die Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 118 85 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 90. 86 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 90-91. 87 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 91. 88 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 92 (Hervorhebung von Kaiser). 89 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 13, S. 15. Selbstwahrnehmung und das kulturelle Bewusstsein der Kultur der Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wie sie sich selbstreflexiv kulturdiagnostisch in den Werken als ästhetisch Besonderes thematisieren. Bei der Reflexion auf Vir‐ ginia Woolfs Roman Mrs Dalloway ergänzen unten erläuterte Dispositions‐ fragen, die sich auf die Zusammensettzung des fiktionalen Materials beziehen, die Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen. Da Kunstwerke, so Kaiser, erst dann zur imaginativen Realität werden, wenn sie „auf der Bühne unserer individuellen Imagination und kritischen Einfüh‐ lungskraft, die in unserer realen Existenz hier und jetzt gründen“ 85 , lebendig werden, entsteht ein dialektisches Verhältnis zwischen den Werken, die als Wel‐ tentwürfe Ansprüche an Leser / innen stellen und Leser / innen, die das Werk einschließlich ihrer Erwartungen erschließen, „indem (sie) ihm (ihre) eigenen Erlebnis-, Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten subsituier(en).“ 86 Jedoch, so Kaiser weiter, ist aufgrund der epochalen und ästhetischen Distanz der Werke „ein strenger Schnitt zu legen (…) zwischen dem Selbstbild der Werke von ihrem Ort im Leben und der Tatsächlichkeit ihrer Verankerung in unserer Lebens‐ wirklichkeit.“ 87 Aus dieser Schnittstelle entsteht die Frage nach dem Ort der Literatur „in unserem Leben“. 88 Diese Frage führt zur Differenzierung der Plausibilitätsfragen an die Erzählwelten, in ihren Wechselbeziehungen zwischen der materialen, sozialen und mentalen Kulturdimension. Der auf der anthropologischen Ebene der Romane des Viktorianischen Zeit‐ alters angeschlagene desillusionierte Grundton, der die zur Prosa gewordene Wirklichkeit verdichtet und in seiner formalen Gestaltung in ethisch-optimis‐ tischer, märchenhafter Haltung als Wiederverzauberung der Welt ästhetisch verfremdet aufdeckt, ist als grundsätzlich subjektive Perspektive des modernen Romans anzusehen 89 und wird, weil fiktionale Literatur die conditio humana exemplarisch vergegenwärtigt, zum Impuls der reflektierenden Urteilskraft der Rezipient / innen. Das ästhetisch Besondere dieser Romane ist, dass sie, im Un‐ terschied zu experimentellen Romanen der klassischen Moderne, in der Para‐ doxie des poetischen Realismus die Weltsicht einer Wiederverzauberung dia‐ lektisch entwerfen. 2.4 Plausibilitätsfragen 119 90 Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens. Berlin: Ullstein 2008, S. 59 (Eagleton bezieht sich hier auf Shakespeares Drama Macbeth, 1606). 91 Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens…, a. a. O., S. 76. An diesem Narrativ der Wiederverzauberung machen sich grundsätzliche Fragen, die den Gehalten und dem Fiktionsstatus der Romane nachspüren, fest. Zugleich entstehen Plausibilitätsfragen an diese fiktionalen Welten. Bei der Lektüre und Erschließung der Romanwelten entsteht bei den Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters ein imaginativer, ästhetisch erfahrbarer Richtungswechsel von instrumentalisierter Welt- und Selbstwahrnehmung, wie sie der common sense erwartet, zu einer ästhetisch gelenkten selbstreflexiven Aufmerksamkeit gegenüber der Paradoxie des poetischen Realismus, wie sie die Romanwelten je einzeln zum Ausdruck bringen. Aus Selbstfremdheit entfaltet sich Selbstreflexion: Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen schießen in reflektierender Urteilskraft zusammen. Diese ästhetische Erfahrung evoziert transitorische Identitätserfahrungen und die Frage, ob „menschliches Leben überhaupt eine bedeutungsvolle Gestalt annehmen“ kann 90 - ein Fragenkom‐ plex, der brennscharf schon in Shakespeares Tragödien und Komödien, in den Romanen Virginia Woolfs, aber auch bei Samuel Beckett oder Kafka aufkommt. Er lässt die weitere Frage zu, ob nicht „Fiktionen und Mythen (…) einfach Irr‐ tümer (sind), mit denen man aufräumen muss, sondern produktive Illusionen, die wir zum Leben brauchen (? )“ 91 Beide narrativen Ansprüche, der anthropologische und der ethische, sind in der ambivalenten Struktur des Paradoxons des poetischen Realismus enthalten. Der anthropologische Anspruch, der in die Darstellung der anderen, dunklen Seite der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts narrativ transformiert wird und der ethische Anspruch, der die Frage aufwirft, wie mit diesem unbekannten Gebiet umzugehen sei, war damaligen Leser / innen, vor dem Hintergrund ihrer Erfah‐ rungen des Sinnvakuums im 19. Jahrhundert, als wiederverzauberte poetische Erzählwelt plausibel. Heutigen Leser / innen wird der ethische Anspruch, nicht aber der anthropologische, vor dem Hintergrund des „value gap“ im 21. Jahr‐ hundert zum Plausibilitätstest. Die Rezeption der narrativen Verknüpfung einer Erforschung des modernen Selbst mit romanhaftethischen Lösungsvorschlägen, die Romane des Viktori‐ anischen Zeitalters vorschlagen, gerät in Konflikt mit dem Selbst- und Welt‐ verständnis heutiger Leser / innen des dritten Lebensalters. Die Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters werden in der Interaktion zwischen den Texten und den Leser / innen generiert, weil sie sich auf die Fiktionalität der erzählten Welten einlassen. Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 120 92 Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? …, a. a. O., S. 99. 93 Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 50, S. 53, S. 57, S. 62, S. 64, S. 66, S. 67, S. 72 (diese Stellenangaben beziehen sich auf die zweite Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, also auf die jetzigen Rezipient / innen des dritten. Le‐ bensalters). 94 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 44. 95 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. O., S. 74, S. 79-81, S. 95-97. Plausibilitätsfragen werden zunächst durch Erwartungen an die Genres, hier die Romane des Viktorianischen Zeitalters, geweckt. Sie sind aus der Fähigkeit zur Gerotranszendenz stammende Geschmacksurteile, die genreorientiert zwi‐ schen Film, Drama, Oper, Musical und narrativer Fiktion unterscheiden. Auf dem Hintergrund der dreißig Jahre zwischen 1945 und 1975, in der Menschen des heutigen dritten Lebensalters aufwuchsen, führte das Klima dieses Zeitab‐ schnitts, nach Martin Dornes, wie oben dargelegt, nicht zu einer Erhöhung der kindlichen oder erwachsenen Krankheitshäufigkeiten im Bereich des Seeli‐ schen. 92 Es konnte in späteren Jahren zudem zu einer Integration von Verletz‐ lichkeits- und Potenzialperspektiven kommen. So können krisenbesetzte, bzw. eine problembewusste Nachkriegserfah‐ rungen der Rezipient / innen zu Analogieerfahrungen von Handlungsentschei‐ dungen der Erzählfiguren und ihren narrativen Verknüpfungen werden, wie sie durch Zufälle, epische Vor- und Rückgriffe, Leerstellen, Perspektivenwechsel, Erzählerkommentare in den Romanen zustande kommen. Plausibilitätsfragen, die sich von Gefühlen, Werten, Normen, Lebenserfah‐ rungen herleiten, zu denen jene Krisenerfahrungen und spielerischexperi‐ mentelle Lebensmöglichkeiten gehören, 93 die Eigenständigkeit und Mündigkeit zur Entfaltung bringen, lenken ihren Fokus auf Fragen, wie beispielsweise auf die, welche Erfahrungen die Erzählwelten vermitteln und wie die Erzählwelten mit Sinnkrisen umgehen? Über die Fragen nach dem Wie narrativer Verknüp‐ fungen erhalten Zufallskonstruktionen und Leerstellen eine besondere Bedeu‐ tung. Sie appellieren an die Imagination und Selbstreflexion der Leser / innen. Insofern sind Plausibilitätsfragen Fragen an das eigene Selbstverständnis, an die Irrtumsanfälligkeit, „Krisenkompetenz“ 94 und Legitimität eigner biografischer Erfahrungen. Fragen an die Erzählwelten, wie: „Sehe ich das richtig…“, oder Aussagen, wie: „Das kann doch gar nicht sein…“, sind Vorverständnisfragen an narrative Wahrscheinlichkeiten und an die anwesenden Seminarteil‐ nehmer / innen. Plausibilitätsfragen gründen u. a. auf lebensgeschichtlichen Er‐ fahrungen von Rezipient / innen des dritten Lebensalters, 95 bzw. auf Bewälti‐ gungserfahrungen, die in den Folgejahren erarbeitet werden konnten. Sie gehen aufs Ganze der Erzählwelten. Da diese Erzählwelten im 19. Jahrhundert durch 2.4 Plausibilitätsfragen 121 96 Sabine Bode: Kriegsspuren…, a. a. O., S. 44, S. 153-157, S. 160, S. 171-175, S. 176, S. 185-186; Luise Reddemann: Kriegskinder und Kriegsenkel…, a. a. O.; Wolfgang Schmidbauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S., S. 14-15; S. 79-99. 97 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. München: dtv 1993; Wolfgang Schmid‐ bauer: Wie wir wurden, was wir sind…, a. a. O., S. 14-15; Martin Dornes: Die Moderni‐ sierung der Seele…, a. a. O. die Paradoxie des realistischen Erzählens strukturiert sind - Abgründiges findet märchenhafte Lösungen - affiziert die narrative Paradoxie der Romane des Vik‐ torianischen Zeitalters die Krisensensibilität der Gruppe der Rezipient / innen. Die märchenhaften Schlüsse entsprechen und widersprechen dem tiefsitzenden Sicherheitsbedürfnis der Rezipient / innen und ihrer Krisenkompetenz. 96 Sie evo‐ zieren in ihrer narrativen Konstruktion eine Regression in den von Sigmund Freud entdeckten Ambivalenzkonflikt zwischen Lebens- und Todestrieb, der von Bruno Bettelheim in seinen Ausführungen zum Thema Kinder brauchen Märchen aufgegriffen und von Wolfgang Schmidbauer als grundsätzliche per‐ sönliche Ambivalenzerfahrung der Nachkriegsgeneration zwischen „selbtüber‐ schätzende(m) Mut und vermeidende(r) Angst“ charakterisiert wird. 97 Plausibilitätsfragen beziehen Perspektiven individueller Selbsterkenntnis in die kritische Rekonstruktion der Romane mit ein. Sie führen zu eigenwilligen Formen des ästhetischen Urteilens, zu Erprobungen individueller Mündigkeit, die den anwesenden Seminarteilnehmer / innen zur Disposition gestellt werden. Die hermeneutische Sicht wird durch das ästhetische Kontingenzgeflecht der Romane gelenkt. Im Vergleich zur riskierten Ganzheit eigener Lebenserfah‐ rungen im dritten Lebensalter lassen Plausibilitätsfragen sichtbar und im Dis‐ kurs nachvollziehbar werden, dass Wertvorstellungen und Normen der Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters in der Auseinandersetzung mit der erzählten Welt durch irritierende Stellen und selbstwidersprüchliche Erzähl‐ konstruktionen aufs Spiel gesetzt werden und sich im hermeneutischen Prozess ändern können. Plausibilitätsfragen sind Vermögen der ästhetischen und mo‐ ralischen, mithin der reflektierenden Urteilskraft. Es sind also die narrativen Formen, die den imaginativ-spielerischen Umgang mit den modernen Erzählwelten, ihren Figuren, Konflikten, Problemsituationen eröffnen und Erfahrungen der Altersgelassenheit und die in sie eingelassenen biografischen Erfahrungen - vor allem die der Identitätskrisen und der Fähigkeit zur Gerotranszendenz - ins Spiel bringen: bei Dickens‘ Roman Oliver Twist in der kontigenzästhetischen Erzählform, bei Charlotte Brontës Roman Jane Eyre durch die autobiographische Fiktion, bei Emily Brontës Roman Wuthering Heights durch die in gestaffelten Rahmen angeordneten dezentrierten Ich-Er‐ zähler. Die narrativen Formen fordern selbstkritische Energien der Alters-Cool‐ Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 122 98 Claudia Olk Virginia Woolf and the Aesthetics of Vision…, a. a. O., S. 21; Hermione Lee: „Virginia Woolf ’s essays…, a. a. O., S. 95-96, S. 99. 99 Mauro Ponzi: „Die ‚Marginale‘ Avantgarde. Die Dispositio der Revolution der Formen“, in: Mauro Ponzi (Hg.): Klassische Moderne…, a. a. O., S. 57-76, hier: S. 62. 100 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens…, a. a. O., S. 38. ness heraus und sind Teil des transformatorischen Bildungsprozesses der Rezi‐ pient / innen. Rezipient / innen des dritten Lebensalters, die sich mit Virginia Woolfs Ro‐ manen auseinandersetzen, sind herausgefordert, vor den Plausibilitätsfragen, die sich auf die Kohärenz, Chronologie und die Gestaltung des Finales, also auf die strukturell ambivalente Paradoxie als Gestaltungsmittel von Romanen des Viktorianischen Zeitalters konzentrieren, ihr Augenmerk nun auf die Simulta‐ neität der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu richten und die Diskonti‐ unuität und A-Kausalität des Erzählten als Einheit der Gegensätze und als Dia‐ lektik zwischen ästhetischer Vision, eigenen Erfahrungen unmittelbarer Aufmerksamkeit und Rezeption 98 zu reflektieren. Bei der kritischen Reflexion der Romane Virginia Woolfs sollte man nicht in erster Linie von Plausibilitäts‐ fragen sprechen, sondern - in Anlehnung an Mauro Ponzis Überlegungen zur Avantgardekunst der klassischen Moderne - von der Fähigkeit „die innere Or‐ ganisation des rhetorischen Materials“ wie ein Mosaik zusammen zu setzen. Ponzi schlägt hier den Begriff dispositio vor, der in der Terminologie der antiken Rhetorik diese Fähigkeit der Zusammensetzung meint. 99 Bei der Erschließung von Virginia Woolfs Romanen kommen also, wie oben angedeutet, Dispositi‐ onsfragen als Varianten von Plausibilitätsfragen ins Spiel, die in der Rezept‐ ionshaltung von Selbst- und Welterfahrung im Dialog mit den Romanen Virginia Woolfs, ein Werden zu sich selbst als ästhtetisch erfahrbare schwebende Auf‐ meksamkeit kathartisch wirksam werden lassen. Als „Schwerpunkt aller ästhe‐ tische(r) Wahrnehmung“ sieht Martin Seel die Fähigkeit, „(e)twas um seines Er‐ scheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen“. 100 Seel spricht damit die Möglichkeit an, dass Rezipient / innen des dritten Lebensalters im Prozess der Auseinandersetzung mit Virginia Woolfs Romanen diese als Erzählwelten auf‐ bauen und sich dabei kritisch im Werden zu sich selbst zu reflektieren. Diese ästhetische Erfahrung kehrt über die Dispositionsfragen zu den er‐ kenntniskritischen Fragen nach der Plausibilität der Erzählwelten Virginia Woolfs zurück. Während in der Paradoxie des poetischen Realismus der Romane des Viktorianischen Zeitalters Antworten auf die unlösbaren anthropologischen Probleme über story, catastrophe und plot, in der ethischen Perspektive in Gestalt märchenanaloger Lösungen angeboten und in den Plausibilitätsfragen kritisch reflektiert werden - Emily Brontës Roman Wuthering Heights nimmt hier eine 2.4 Plausibilitätsfragen 123 101 John Fletcher and Malcolm Bradbury: „The Introverted Novel“, in: Malcolm Bradbury And James McFarlane (ed.): Modernism. A Guide To European Literature 1890-1930. London: Penguin 1991, S. 394-415, hier: S. 408. 102 John Fletcher and Malcolm Bradbury: „The Introverted Novel…, a. a. O., S. 407. 103 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 312-313. zukunftsweisende Zwischenstellung ein, weil er durch die Erzählerstaffelungen Formen des interior monologue vorwegnimmt, also Dispositionsfragen vor Plau‐ sibilitätsfragen notwendig werden lässt -, löst die Gestaltung intensiver Au‐ genblicke und Epiphanien in Virginia Woolfs Erzählwelten die paradoxe Struktur der Romane des Viktorianischen Zeitalters in die Impressionen eines „higher realism“, der „more poetic“ und „truer to the feel of life“ 101 ist, auf und verlagert sie in das mitreflektierende Bewusstsein der Leser / innen. Diese re‐ flektieren auf das ästhetische Erscheinen der in inneren Monologen poetisch verdichteten Augenblicke in Gestalt narrativer Formen. Die Paradoxie besteht im Wissen um die Artifizialität eines intensiv erlebten widersprüchlichen Le‐ bens, das in raffinierter Fiktion ästhetisch vermittelt wird. Wie Marcel Proust, James Joyce und Thomas Mann schuf Virginia Woolf Er‐ zählwelten, die statt plots auszuformulieren, ineinandergreifende multiple Tex‐ turen gestalten, Muster, die Kunst zu einem außerhalb und über dem Chaos der Moderne stehenden „transcendent object, a luminous whole“ werden lassen. 102 In ihren Dispositions- und Plausibilitätsfragen an Virginia Woolfs Erzählwelten erkennen Rezipient / innen des dritten Lebensalters die tödliche Gefahr des Selbstverlustes in einer diskrepanten modernen Welt, die paradoxerweise in einer eleganten Fiktion zur Erscheinung kommt. Daran lassen sich Fragen an‐ knüpfen, wie diese: ob Virginia Woolf in ihren Romanen nicht doch eine upper class attitude narrativ gestaltet, oder, ob ihre Romane „the general incoherence of life“ überschätzt haben, bzw. ob die narrative Perspektivierung dieser Inko‐ härenz nicht doch gegen die starren und paranoiden Strukturen des Patriarchats im 20. Jahrhundert gerichtet sind? 103 Plausibilitätsfragen sind Reflexionen auf die Grunderfahrung des Menschen nie am Ziel sein zu können. In den modernen und modernistischen Erzählwelten finden sich Antworten auf die mit der Grunderfahrung einhergehende Sinnfrage, die auf die existenzielle Situation des Menschen gerichtet ist. Mit Gerhard Kaiser kann man schließen: Wir können lesen, um uns zu vergessen. Aber wir finden dabei etwas, und wir können es auch bewußt in der Literatur suchen: die Erweiterung unseres Lebensgefühls und unserer Lebensperspektive (…). (Die Weltliteratur) ermöglicht uns, aus unserem ge‐ lebten Leben in tausendfältige Lebenserfahrungen überzusteigen, die verschiedenen Aspekte transitorischer Identität als narrative Deutungsmuster 124 104 Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? …, a. a. O., S. 95 (Hervorhebung von Kaiser). Standpunkte einzunehmen, die Innensicht mannigfacher Charaktere und Situationen zu gewinnen. 104 2.4 Plausibilitätsfragen 125 Teil 3 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ästhetische Erfahrungen mit erzählten transitorischen Identitätsproblematiken Einleitung: Oliver Twist und Jane Eyre: Erfüllbares Leben als narratives Grundmuster. Wuthering Heights und Mrs Dalloway: Nicht-Erfüllbarkeit moderner Subjektivität Die vier zu besprechenden Romane gestalten die Grunderfahrung des modernen Menschen nie am Ziel zu sein als unterschiedliche Suchbewegungen ihrer Pro‐ tagonisten, die sich auf der falschen Seite der Geschichte abspielen. Die Prota‐ gonisten der vier Romane kommen nie an: weder bei sich selbst, noch in ir‐ gendeiner Heimat. Oliver Twist wird in die Familie der Maylies aufgenommen, aber diese Familie ist zersplittert und der Romanschluss märchenhaft. Oliver steht im Schlussta‐ bleau vor dem Grab seiner Mutter. Das Grab ist leer, Oliver, Armenhäusler und Bandenmitglied eines Hehlers, ein narrativ implausibler Prinz. Jane Eyre hei‐ ratet in kohärenzverdichteten ironischen Schlusstableaus den invalid gewor‐ denen, fast erblindeten Landadeligen Rochester, in dessen Herrenhaus sie als selbstbewusste Gouvernante arbeitete. Im weltabgewandten Ferndean wirkt Janes Entscheidung zur Ehe, vor dem Hintergrund ihres Selbstbewusstseins, für heutige Rezipient / innen wenig plausibel. Beide Romane gestalten Wider‐ sprüche und Auflösungsprozesse des Patriarchats in der ersten und zweiten Modernsierungsphase in Großbritannien. Unter dem leitenden Aspekt transi‐ torischer Identitätserfahrungen in der Moderne lässt sich erschließen, dass beide Romane ihre Protagonisten in Gestalt der Paradoxie des poetischen Realismus scheitern und in der Grundauffassung einer auf Erfüllung angelegten Subjekti‐ vität kontingenzästhetisch aufgehen lassen. In der kulturgeschichtlichen Ter‐ minologie Erich von Kahlers bestehen beide Romane aus Mischformen eines individualpsychologischen und, wie oben dargelegt, existenzialistischen Erzäh‐ lens. Wuthering Heights endet, im Unterlaufen religiöser Erlösungsvorstellungen, mit der Vereinigung der Liebenden Catherine und Heathcliff als umherirrende Gespenster, die ein kleiner Junge auf der Heide in einer mythopoetischen Vision zu erblicken meint. Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway mündet in eine In‐ version von Tod (Septimus) und Leben (Clarissa), die als Spitze hybrider Iden‐ titätserfahrungen verstanden werden kann. Unter dem leitenden Aspekt transitorischer Identitätserfahrungen in der Mo‐ derne lässt sich erschließen, dass beide Romane, trotz der unterschiedlichen Epochen in denen sie entstanden sind, durch die narrative Auflösung der Para‐ doxie des poetischen Realismus, die Nicht-Erfüllbarkeit privaten Glücks und sub‐ jektiver Chancen gestalten. Die Mehrdimensionalität moderner Subjektivität 105 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 35. 106 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie…, a. a. O., S. 16. und die Undurchschaubarkeit ihres Weltbezuges verdichten narrativ die Orien‐ tierungs- und Haltlosigkeit von Subjekterfahrungen in der modernen Welt. Während bei Oliver Twist und Jane Eyre noch Charaktere, wie schwankend und diskontinuierlich auch immer, Zentren der Gestaltung sind, zeichnet sich bei Wuthering Heights und Mrs Dalloway vor dem Hintergrund der Moderni‐ sierung und des Ersten Weltkrieges die Auflösung von charakteristischer Sub‐ jektivität ab, wobei Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway „zu jenem mystischen Punkt (vordringt), wo der Tod zur Lebensverwandlung und zum Schoße der Schöpfung wird“. 105 Die vier Romane stellen in fortschreitender Hervorhebung innerer Prozesse und in fortschreitender Experimentierfreude dar, dass das Ich in der Moderne in Fluss geraten, transitorisch, ist. Rezipient / innen des dritten Lebensalters er‐ kennen diese Auflösungsfiguration wieder. Kultursemiotisch verstehen und re‐ flektieren sie, dass diese Romane nicht lügen, sondern untergündig gewordene Erfahrungen des Leidens an der Gesellschaft, die die Rezipient / innen seit Ende des Zweiten Weltkrieges umtreiben, als Antworten auf ihre Sinnfragen zum Ausdruck bringen. Die ausgewählten Romane stellen prototypisch die gesell‐ schaftliche Funktionalisierung des Leidens und die damit einhergehende Zer‐ rüttung der Subjektivität dar. Adorno formuliert diesen Zusammenhang in der Ästhetischen Theorie so: Die Grundschichten der Erfahrung, welche die Kunst motivieren, sind der gegen‐ ständlichen Welt, vor der sie zurückzucken, verwandt. Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft. 106 Da die Grundstruktur des Rezeptionsprozesses dialogisch ist, wechselt, wie oben dargelegt, die Untersuchungsperspektive im folgenden Teil dieser Arbeit von der in den ersten beiden Teilen erörterten Motivlage der Rezipient / innen auf die kultursemiotischen Deutungspotenziale der Romane, wobei die kontrovers oder zustimmend besprochenen Romanpassagen durch Hinweise auf Erschlie‐ ßungs- und Reflexionsmöglichkeiten sowie Plausibilitätsfragen der Rezi‐ pient / innen gekennzeichnet sind. Die Hinweise beziehen sich auf Varianten einer die Romane durchziehenden existentiellen Konstellation von menschli‐ cher Mortalität und immanenter Transzendenz, die Subjektivität als nicht zur Gänze einholbar erscheinen lässt. Daher wird auf eine detaillierte Wiedergabe Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 130 107 Dazu: Hans-Christoph Ramm: „Interplay of Minds. Shakespeares Hamlet und King Lear. Eine leserorientierte Deutung“, in: Herbert Christ und Michael K. Legutke (Hg.): Fremde Texte Verstehen. Festschrift für Lothar Bredella zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr 1996, S. 87-103; zu jedem der hier besprochenen Romane hat Vf. Reader, zusätzliche Handreichungen, AudioCDs, DVDs, PowerPoint Präsentationen für die Seminarteil‐ nehmer / innen bereitgestellt; zudem gibt es ausgewertete Umfragen zur Lesemotiva‐ tion. 108 Milan Kundera: Die Kunst des Romans…, a. a. O., S. 81. der Erschließungs- und Reflexionsprozesse, die aus den Refigurationselementen kreative Einfälle, Rekonstruktion, Reflexion bestehen, 107 im Folgenden verzichtet. Hervorgehoben werden hingegen gerotranszendente Affinitäten, die begriff‐ lich-identifizierendes Denken überschreiten. Die vier Romane überführen das transitorische Identitätsparadigma in die Fik‐ tion seiner paradoxen Struktur, eine unabschließbare, fortwährend unerreich‐ bare Einheit zu sein: Wir modernen Menschen sind im unhintergehbaren Selbst‐ entzug nie am Ziel. In der Refiguration der spielerischen Experimente, die bürgerliche Romane mit ihren Erzählfiguren durchführen, entwickelt die zur Altersgelassenheit wer‐ dende Lebenshaltung der Rezipient / innen des dritten Lebensalters eine ästhe‐ tische Wahrnehmungssensibilität, die hinsichtlich der Fragilität der Erzählfi‐ guren in einer komplexen Erzählwelt, diese als poetische Verdichtung der „Komplexität der Existenz in der modernen Welt“ 108 reflektieren und sich in Plau‐ sibilitätsfragen manifestieren kann, wie dieser: Welche Autonomiebildungs‐ möglichkeiten und Handlungsspielräume diese Erzählwelten ihren Figuren er‐ öffnen oder verweigern? Die Erfahrung des Selbstentzugs und die damit verbundene Erforschung des modernen Ich als Erfahrung eines Werdens zu sich selbst ist das Leitmotiv, das die Protagonisten der Romane verbindet. Varianten dieses Leitmotivs werden als Selbsttäuschung, Selbstfremdheit und Erfahrungen des Selbstverluststs nar‐ rativ gestaltet. Rezipient / innen des dritten Lebensalters refigurieren diese Va‐ rianten als Handlungsspielräume der Protagonisten, in denen Möglichkeiten eines Werdens zu sich selbst durch Komplementärfiguren, Antagonisten, un‐ terschiedlich perspektivierte Handlungsmuster und differente Raum- und Zei‐ terfahrungen der Erzählfiguren durchkreuzt werden. Diese Refiguration er‐ möglicht ihnen, auf Erfahrungen transitorischer Identitätspotenziale zu reflektieren. Die Romane nehmen sich die Freiheit, ihren Entwurfscharakter als moderne, multiperspektivische Erzählwirklichkeiten - ambivalent strukturiert, wie oben dargelegt - zu gestalten und darin das moderne Ich als komplexe transitorische Einleitung 131 109 Silvio Vietta: „Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“…, a. a. O., S. 84 (Hervorhebung von Vietta). 110 Silvio Vietta: „Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“…, a. a. O., S. 84 (Hervorhebung von Vietta). 111 Silvio Vietta: „Moderne Erzähltheorie: Narratologie der Romanliteratur der klassischen Moderne“…, a. a. O., S. 85. 3.1 Fiktion zu thematisieren: „Das Ich der modernen Literatur definiert sich im Ge‐ gensatz zum Subjektbegriff der Philosophie der Aufklärung, eben nicht durch seine Vernunft, sondern ist selbst Entstehungsort für Gefühle und die entsprech‐ enden Gefühlswelten (…).“ 109 Das gilt auch für die in den Romanen gestalteten individuellen Wahrneh‐ mungs-, Vorstellungs-, Erinnerungs- und Assoziationswelten als Modi der mo‐ dernen Subjektivität, die in die Romane als „komplexe Einheit“ 110 , d. h. als Para‐ doxie des transitorischen Identitätsparadigmas Eingang finden und in unterschiedlichen Figuren und Protagonisten sowie in unterschiedlichen Er‐ fahrungswelten schattiert werden. Es entstehen subjektiv entworfene Roman‐ welten, 111 die unterschiedliche Weltdeutungen zum Ausdruck bringen. Im Folgenden wird diese Ästhetik subkjektiver Weltdeutungen am Beispiel der vier ausgewählten Romane gezeigt. Die Deutung einzelner Szenen wird in die jeweiligen narrativen Konstruktionen eingebettet und kultursemiotisch ge‐ deutet. Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist Oliver Twist: Heimatlosigkeit und Erfüllung - misslingendes Werden zu sich selbst „Wie kann Oliver Fagin und Monks im Garten vor seinem Fenster sehen und dann findet niemand ihre Fußspuren? Das ist doch unlogisch! “ Kommentar einer Seminarteilnehmerin in Bezug auf Chapter XXXIV . „Erzählt der Roman Schicksalsergebenheit oder rebelliert er gegen Haltungen der Selbstsucht? “ Frage eines Seminarteilnehmers Wenn man Dickens‘ Roman Oliver Twist als narratives Gedächtnismedium liest, dann entsteht die Frage, warum Dickens‘ die Perspektive eines unschuldig Vik‐ timisierten wählt? Die Erzählkunst Dickens‘ besteht darin, Gesellschaftspano‐ ramen aus der Außenseiterperspektive viktimisierter Kinder und damit distan‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 132 ziert und verfremdet von ihren Vorgeschichten her zu entfalten. In den Blick kommen die grotesken, sozialkritischen, märchenanalogen Kehrseiten gesell‐ schaftlicher Beziehungen sowie die Transformation von chronologischer in subjektiv gestimmte Zeiterfahrungen, die gleichsinnig in Erfahrungen der Raumauflösung umschlägt. Die Disparatheit moderner Möglichkeiten, die den Anspruch auf persönliche Autonomie durchkreuzen, kommt in den transgres‐ siven Erzählweisen der Erzählkunst Dickens‘ zum Ausdruck. Dickens‘ Roman Oliver Twist erforscht die Umwege von Autonomiebildungs‐ möglichkeiten des modernen, urbanisierten Subjekts und die dabei enstehenden Diskrepanzen. Im Versuch, diese Möglichkeiten narrativ in der Gegenwart zu verorten, scheitert der Roman in seiner Formgebung. Da die Paradoxie des po‐ etischen Realismus ambivalent in zwei gegeneinander gerichteten, nicht zur Synthese kommenden und dennoch verwobenen Dimensionen im Oliver Twist zum Ausdruck kommt, entsteht eine Irrealisierung empirischer Wirklichkeits‐ elemente, die in der geheimen Verwandtschaft der bürgerlichen mit kriminellen Figuren, zwischen Erfahrungen der Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen Realismus und Fantastik ossiziliert. Hier kommt ein literarisches Verfahren zum Zuge, das die Dingwelt athropomorphisiert, narrative raumzeitliche Erfah‐ rungen subjektiviert, Plot und Gegenplot ineinander verschiebt und damit eine komplex-offene Erzählwelt kreiert, die den Alltagsverstand verwirrt und ver‐ blüfft. Dieses Oszillieren wird durch den Erzähler hervorgerufen und wirkt sich auf ihn zurück. Die Erzählwirklichkeit des Oliver Twist ist die, die er in der per‐ spektivischen Brechung der Romanfiguren, die ihn als Erzähler an vielen Stellen subtituieren, gestaltet (Brownlow, Fagin, Mitglieder der Hehlerbande Fagins, Nancy, Monks fungieren als Substitutserzähler). Er entwirft eine Erzählwirk‐ lichkeit, die aufgrund der vielen subjektiven Erzählerperspektiven - gegen die Intention des im ersten Kapitel auftretenden Chronisten - nicht an Objektivität gewinnt, sondern unzuverlässig ist. Die offene narrative Konstruktion, die sich ihrer Publikation in Fortsetzungen (installments) verdankt, verdichtet experi‐ mentell modern die Paradoxie transitorischer Identität, die im Oliver Twist Selbstentzug als märchenhaft groteske Chance der Selbstfindung zur Erschei‐ nung kommen lässt. Diese komplexe Ausdrucksgestalt affiziert transitorische Identitätserfahrungen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Das Werden des Protagonisten zu sich selbst kann in Dickens‘ Roman Oliver Twist als narrative, mehrfach gewendete Inversion refiguriert werden: Die von der Herkunftsgeschichte Olivers rückwärts noch vorne verlaufenden Hand‐ lungsverwicklungen lassen erschließen, dass Oliver ohne sein Wissen er selbst war, bevor er in einem märchenhaften Sprung zu sich werden darf. Aus dieser 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 133 112 Die komplizierte Publikationsgeschichte des Oliver Twist lässt sich nachlesen bei: Paul Schlicke (ed.): The Oxford Companion To Charles Dickens. Oxford: Oxford University Press 2011, S. 437-439. Publikationsgeschichte Plot fremdbestimmten Autonomie entsteht die Problematik der narrativen Plausibi‐ lität dieses Romans. Dickens‘ Roman Oliver Twist wurde zuerst zwischen Februar 1837 und April 1839 im Bentley’s Miscellany Magazin in monatlichen Fortsetzungsfolgen ver‐ öffentlicht. Diese Publikationsfolge wurde dreimal unterbrochen: Doppelt im Juni 1837 durch den Tod seiner Schwägerin Mary Hogarth und die zweite Fehl‐ geburt, die seine Frau Catherine erlitten hatte, dann im Oktober 1837 und im September 1838 als Ergebnis angespannter Verhandlungen mit Dickens‘ Ver‐ leger. 1838 erschien der Roman dreibändig, ebenfalls bei Bentley. Aufgrund der komplizierten Publikationsgeschichte des Romans, erstellte Kathleen Tillotson 1966 eine kritische Textausgabe bei Clarendon. Tillotsons Version basiert auf Dickens‘ revidiertem und korrigiertem Text von 1846. 112 Der Roman beginnt mit der Geburt des unehelichen Kindes Oliver in einem Arbeitshaus in der Nähe Londons. Olivers Mutter Agnes stirbt im Kindbett. Da sie keinen Ehering trägt, kennt man den Vater und familiäre Hintergründe Oli‐ vers nicht. Oliver wächst unter entwürdigenden Umständen in diesem Armen‐ haus auf und wird, nachdem er den Vorstand zutiefst verärgert hat - er fragte nach mehr Essen -, an den Beerdigungsunternehmer Sowerberry für fünf Pfund verkauft. Nachdem Oliver dort erbarmungslos von Noah Claypole, dem Lehrling Sowerberrys gequält worden ist, flieht Oliver, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, in die Metropole London. Dort trifft er auf Jack Dawkins alias the Artful Dodger, der ihn in die Behausung des Hehlers Fagin führt. Oliver wird in Fagins Diebesbande aufgenommen. Er wird, für ihn überraschend und schockierend, wegen eines Taschendiebstahls festgenommen, die seine Begleiter an Mr. Brownlow, einem wohlhabenden Bürger, begehen und dem Richter Fang vorgeführt. Brownlow klärt die Angelegenheit und nimmt Oliver in sein Haus in Pentonville auf. Von dort wird er von der Prostituierten Nancy, einem Mitglied der Diebesbande und ihrem Liebhaber Sikes, einem Kriminellen, entführt und zu Fagin zurück gebracht. Sikes nimmt Oliver zu einem Einbruch im Hause der Maylies mit. Oliver wird angeschossen und von Rose Maylie, die ihm glaubt, dass er unschuldig ist, gesund gepflegt. In der Mitte des Romans führt Dickens die dunkle Gestalt des kriminellen Monks, eines Halbbruders Olivers, ein. Dieser Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 134 113 Johann N. Schmidt: Dickens. Hamburg: Rowohlt 2012, S. 46. 114 Johann N. Schmidt: Dickens…, a. a. O., S. 46; Charles Dickens: „The Author’s Preface To The Third Edition“ (April 1841), in: Charles Dickens: Oliver Twist. Edited by Kathleen Tillotson. With an Introduction and Notes by Stephen Gill, Oxford: Oxford University Press, 2008, S. liii-lvii. Oliver Twist: Heimatlosigkeit und Erfüllung - misslingendes Werden zu sich selbst will mit Fagins Hilfe Olivers Lebensmöglichkeiten zerstören, um an dessen Erbe heranzukommen, da beide, wie der komplexe Plot schrittweise aufdeckt, einer reichen zerrütteten Familie entstammen, von der Oliver aber bis gegen Ende des Romans nichts weiß. Nancy, die ein konspiratives Treffen zwischen Fagin und Monks belauscht, verrät deren Pläne, mit moralischer Unterstützung von Rose, an Brownlow. Nancys und Brownlows Gespräch, das nachts auf der Old London Bridge stattfindet, wird von Noah Claypole, der mittlerweile für Fagin arbeitet, belauscht. Fagin teilt Sikes Nancys Verrat an der Bande mit, woraufhin Sikes Nancy brutal ermordet. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern stranguliert sich Sikes unabsichtlich. Fagin wird festgenommen und gehängt. Brownlow deckt auf, dass Oliver der Neffe Rose Maylies und der Neffe der Frau ist, die Brownlow einstmals geliebt hat. Brownlow adoptiert Oliver, der zum Mitglied des Bürger‐ tums wird. Der Roman ist in episodisch pikaresker Struktur erzählt. Zufälle komplizieren die Verknüpfungen von Plot und Hintergrundgeschichte. Deutlich wird, dass Dickens großes Erstlingswerk nach den Pickwick Papers (1837-1837) nicht mehr, wie die Newgate-Romane einen romantisierenden Blick auf die Verbrecherwelt wirft, sondern „eine neue Form der literarischen Wirklichkeitserfassung“ ge‐ staltet, „die nicht vor der getreuen Darstellung niedriger Bereiche und abstoß‐ ender Gegenstände zurückschreckt.“ 113 Der Roman Oliver Twist ist eine mär‐ chenhafte Groteske, die „sich mit dem Märchenschema von Gut und Böse nur schlecht verträgt.“ 114 Dickens‘ Erzählwelten setzen sich mit den Auswirkungen des utilitaristischen Arbeitsethos auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben auseinander. Als narrative Gedächtnismedien der Krise ihrer Kultur richten sie ihre heterodie‐ getisch-homodiegetischen Blicke auf die Außenwelt des modernen industriali‐ sierten Zeitalters und die Konsequenzen, die die Epoche des Werte- und Ord‐ nungsverfalls patriarchaler Verhältnisse für gesellschaftliche Mitglieder hat. In kritischer Absetzung von der literarischen Tradition des sentimentalen Romans des 18. Jahrhunderts zeigen Dickens‘ Romane die Viktimisierung Unschuldiger durch Entfremdung und Reifizierung aus der Perspektive viktimisierter un‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 135 115 Zitiert wird aus: Charles Dickens: Oliver Twist. Edited by Kathleen Tillotson…, a. a. O. 116 Herbert Willems und Alois Hahn: „Einleitung: Modernisierung, soziale Differenz und Identitätsbildung“, in: Herbert Willems und Alois Hahn (Hg.): Identität und Moderne. Frankfurt / M: Suhrkamp 1999, S. 9-29, hier: S. 14-15, unter Bezug auf Dilthey und Simmel. 117 Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 2002, S. 75-89. 118 Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie…, a. a. O., S. 100-104, S. 128-129. schuldiger Kindprotagonisten mit der Folge vorenthaltener Autonomiebil‐ dungsmöglichkeiten. In Dickens‘ Roman Oliver Twist wird Identität als transitorische Identitätser‐ fahrung erzählt, die als fluide Teilerfahrung sozial bedingt, in antagonistischen Welten anschlussfähig ist. 115 Teilidentität gelingt dem Protagonisten Oliver Twist nur durch die literarische Konstruktion einer Aufhebung sich gegenseitig ausschließender Erwartungen anderer Figuren. Diese negative Interdpendenz macht ihn zum artikulationsunfähigen „Beziehungsschnittpunkt“ 116 zwischen den antagonistischen Welten und damit zur Aspektfigur für die Leser / innen. Durch diese Aspektfigur entsteht eine erzählerische Dynamik, die Fremdheits‐ erfahrungen melodramatisch durch Unwahrscheinlichkeiten und Inversionen verdichtet, Figureninteraktionen in vornehmlich unheimliche Stimmungsbilder einbettet, mit Erzählbrüchen arbeitet, die ein Erzähler ironisch begleitet. Dieser kommentiert die Ereignisse teils heterodiegetisch, er gehört also nicht zu den Figuren der Handlung, die Figuren sind sein Produkt. Teils begleitet er die Fi‐ guren homodiegetisch als unbeteiligter oder beteiligter Beobachter. In dieser Perspektivenmischung ist die Figur des Erzählers des Romans Oliver Twist he‐ terodiegetischintradiegetisch konstruiert. 117 Zugleich ist sie unzuverlässig, weil sie eine erzählte Welt entwirft, die in den Metropolenkapiteln unheimlich und instabil und im Abschlusstableau märchenhaft stabil erscheint. 118 Die Perspektivenmischung des Erzählers fördert die kreative Energie dieses Romans: Er erzählt von außen nach innen und bewirkt, dass die Objektwelt die Subjektwelt heteronom bestimmt, wodurch die Frage nach Möglichkeiten der Entfaltung persönlicher Autonomie entsteht. Das Raffinierte der erzählerischen Konstruktion des Oliver Twist besteht darin, dass sich um die psychologisch nicht überzeugende Hauptfigur Oliver herum, die zudem einen schlechten Start ins Leben hat, eine spannende Handlung aufbauen lässt, die (a) auf eine Erlösung des Helden zielt, (b) mit provozierenden Kontrastkopplungen arbeitet, die Bür‐ gerliche und Kriminelle in familienähnlichen Verhältnissen konstelliert, (c) durch diese narrativen Entscheidungen ein Gesellschaftspanorama entwirft, dessen Möglichkeitsraum Groteskes mit Märchenhaftem mischt, (d) diese Gen‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 136 remischung durch einen unzuverlässigen Erzähler sichert. Im Zentrum des Ro‐ mans Oliver Twist steht nicht das Angebot für die Leser / innen sich mit einer komplexen Identität auseinanderzusetzen. Im Zentrum stehen Identifikations- und Distanzierungsprozesse der Leser / innen mit positiven und negativen Fi‐ guren und ihren familienähnlichen Beziehungen, die das von diesem Roman entworfene Gesellschaftspanorama repräsentieren. Seine Antwort auf die Frage nach Möglichkeiten der Entfaltung persönlicher Autonomie entfaltet der Roman von seinem Ende her. Erst von dort versteht man den Erzählanfang und die wechselseitig ineinandergreifenden und sich doch fremd bleibenden (twist) Ereignisse. Die chronologische Disparatheit, die den Erzählbruch im letzten Romandrittel zum nachträglich erkennbaren Er‐ eignis werden lässt, evoziert die Fragmentierung des Ganzheitsanspruchs dieses Romans und das Scheitern autonomer Ansprüche. Die narrative Unausgewogenheit des Romans Oliver Twist zwischen Sozial‐ kritik, Märchengroteske und Erhabenem kehrt sich gegen den Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts, indem sie das Groteske ins Erhabene seiner märchenhaften Elemente einfügt und aus der Sicht viktimisierter Unschuldiger entfaltet. Diese Stilmischung macht die Lektüre für Rezipient / innen des dritten Lebensalters reizvoll, in Bezug auf die Plausibilität der narrativen Gestaltung persönlicher Autonomieansprüche der Figuren und in Bezug auf die kontingenzästhetische Kohärenz der dramaturgischen und chronologischen Teilaspekte dieses Ro‐ mans, der zur kritischen Reflexion auf die Plausibilität seines fragmentierten Ganzen anregt: Wie schlägt der ironische Konformismus (Darstellung der Au‐ ßenwelt) dieses Romans um in Nonkonformismus (die Form der Erzählwelt Oliver Twist)? Konfrontiert Dickens' konformistischer Nonkonformismus die industrialisierte Moderne narrativ mit ihren Abgründen? Entsteht ein episodi‐ scher, durch Kontingenzen verknüpfter narrativer Zusammenhang, der eine grotesk-erhabene Welt entwirft? Wird deren narrative Textur durch visionäre Sprünge ins Märchenhafte gestaltet? Auf der anthropologischen Erzählebene entsteht eine pikareske Suche nach dem verlorenen Ich, auf der Ebene ethischen Erzählens wird sie zur autorefren‐ ziellen Kontingenzstruktur. Im Verstehensprozess wird diese Dialektik zum An‐ stoß der Fragen nach Identitätsbildungsmöglichkeiten und nach der Legitimie‐ rung plausiblen Erzählens in der Moderne. Dickens‘ Erzählwelten kehren sich vom Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts ab und antizipieren in Inhalt und Form modernes Erzählen. An den Kindprotagonisten, an den bedrohten benevolenten Figuren, die in‐ vers mit ihren malevolenten Counterparts, an den gefährdeten Idyllen, die kom‐ plementär mit ihren abgründigen Labyrinthen verknüpft sind, stellen Dickens‘ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 137 119 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus. Studien zum engli‐ schen Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1987, S. 56. 120 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O., S. 57. 121 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O., S. 59. Erzählwelten die Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit utilitaristischen Kal‐ küls und Eigennutzes als Triebkräfte kulturellen Fortschritts karnevalesk in Frage. Sie stellen Phänomene instrumenteller Vernunft vom Kopf auf die Füße, mit dem erzählerischen Ergebnis, dass Dickens‘ erzählerische Fantastik ihren realistischen Wahrheitsanspruch enthält. Die panoramaartige Aufdeckung der Nachtseiten des modernen industriellen Zeitalters deckt den Verrat am Men‐ schen, den Verlust schützender positiver Autoritäten, die Isolation des Einzelnen in der Moderne aus Sicht der Opfer auf. Der Homo oeconomicus als reduzierte und normierte Subjektivität wird in Dickens‘ Erzählwelten zum Symbol reifi‐ zierter, anonym gesteuerter gesellschaftlicher Verhältnisse. Subjektivität, die sich selbst fremd geworden ist, der Gefühle als unvernünftig gelten, bedeutet in Dickens‘ Erzählwelten nicht die puritanische Kontrolle der Leidenschaften, mithin das sentimentale Ideal der Selbstreflexion. Es bedeutet in Dickens‘ Erzählwelten die Darstellung der Abkehr von Werten der Huma‐ nität. Dickens‘ literarisches Verfahren der Anthropomorphisierung der Ding‐ welt und der Verdinglichung subjektiver Erfahrungen erzählt gegen die Reifi‐ zierung des modernen Menschen an. Überleben und Aufstieg in einer von anonymen Mächten gesteuerten Gesellschaft bedeutet Anpassung an materielle Interessen und Anpassung an Normen, die ganzheitliches Fühlen und Denken instrumentalisieren. Menschlichkeit in Gestalt einer pragmatisch eingelösten Verantwortung wird in Dickens‘ Romanen in kritischer Absicht der Boden ent‐ zogen. Reflektierte Mitmenschlichkeit, wie sie der Roman des 18. Jahrhunderts vertrat, wird bei Dickens durch inszenierte Humanität und ihre Rhetorik ersetzt. Da diese praktisch nicht eingelöst wird, kommt es zu komischen und grotesken Verwicklungen, die ein verdecktes individuelles und soziales Leiden an der Ge‐ sellschaft zum Ausdruck bringen. Die Illusion einer „Aufhebbarkeit des Bösen durch private benevolente Taten“ 119 lässt sich in Dickens‘ Oliver Twist nur noch märchenhaft darstellen. Die erzählerische Aufdeckung der „leeren Rhetorik“ 120 einer unangemessenen Benevolenz kreiert ein Sinnvakuum, das die strukturelle Ambivalenz der Erzählwelten Dickens‘ herbeiführt. Diese besteht in der Dar‐ stellung der grotesken Unangemessenheit der ganzheitlichen Wirkung früh‐ bürgerlicher Tugendnormen im 19. Jahrhundert. Dickens‘ Erzählwelten ge‐ stalten diese Ambivalenz als „Konflikt der Umwertung von Werten“ 121 , der sich über das literarische Verfahren der Inversion auf die erzählerische Form seiner Romane auswirkt. Die Ästhetik seiner Erzählwelten kann diesen Konflikt der Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 138 122 Raymond Williams: The English Novel. From Dickens to Lawrence. St. Albans: Paladin 1974, S. 27-28. 123 Edmund Wilson: The Wound and the Bow: Seven Studies in Literature. London: W. H. Allen, 1952, S. 51-52. 124 Juliet John: Dickens’s Villains. Melodrama, Character, Popular Culture. Oxford: Oxford University Press 2006, S. 129-131. Werte weder synthetisieren, noch - wie Romane gegen Ende des 19. Jahrhun‐ derts - radikal offen lassen. Ambivalent zwischen Sozialkritik und grotesk-mär‐ chenhafter Transzendierung weisen Dickens‘ Erzählwelten den Weg in die Mo‐ derne - hierin liegt ihr wesentlicher Beitrag zur Geschichte des modernen Romans -, indem sie den Konflikt als selbstwidersprüchlich und unauflösbar verdeutlichen, konsequent den Sprung aus der Groteske ins Märchenhafte wagen und damit den Anspruch auf eine ganzheitliche Existenz des modernen Menschen in der Fiktion des Märchens bitterböse aufrecht erhalten. Nicht die Bildungsmöglichkeiten des bürgerlichen Subjekts bilden die Zentren der Dickens‘ Romane, sondern die Vielfalt menschlicher Beziehungen, eine Vielfalt, die Überraschungen und Erwartungsbrüche bedingt und Identi‐ tätsbildungsmöglichkeiten des bürgerlichen Subjekts verhindert. Organisiert werden diese Zentren durch die Komplexität der Plots: (Dickens’s) plots depend often on arbitrary coincidences, on sudden revelations and changes of heart (…). Dickens could write a new kind of novel - fiction uniquely capable of realizing a new kind of reality - just because he shared with the new urban popular culture certain decisive experiences and responses. 122 Die Komplexität der Plots, Double-Plots, der antagonistischen Figurenverdop‐ plungen, die durch Inversion plausibel erscheinen und unterhaltsam sind, er‐ möglichen Überraschungen und eine Kontingenzästhetik, in der die tradierte Zentralperspektive des Erzählers aufgegeben werden muss, will er die Trans‐ formation des disparaten modernen Lebens in die Unüberschaubarkeit seiner erzählten Welt als gestaltete Fremdheitserfahrung überzeugend gestalten. Edmund Wilson argumentiert, dass die Erzähler in Dickens‘ Welten von den kriminellen Figuren, die sie darstellen, fasziniert sind. 123 Juliet John ergänzt, dass Dickens‘ Erzähler mit ihren kriminellen Figuren deren Fähigkeit teilen, erzäh‐ lerische Elemente der Verstellung, Dramatisierung, der Manipulation und Int‐ rige einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen, 124 die sie allerdings, so wäre fort‐ zufahren, nur zum Teil oder nie in Dickens‘ Erzählwelten erreichen. Wilson sieht in dieser Vorenthaltung krimineller und erzählerischer Subjektmöglichkeiten einen Akt ästhetischer Rebellion. Auf der anthropologischen, der inhaltlichen Ebene, so Wilson, ist dies eine Rebellion gegen das Leiden der Armen in der 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 139 125 John Bowen: Other Dickens. Pickwick to Chuzzlewit. Oxford: Oxford University Press 2000, S. 3. 126 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 3-4. 127 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 4 (Bowen zitiert Samuel Johnson, The Rambler, 125, Tues 28 May 1751, in Works, 4, ed. W. J. Bate and B. Strauss. New Haven and London: Yale University Press, 1961, S. 300). viktorianischen Gesellschaft; auf der ethischen Ebene, der erzählerischen Form, der Ausdrucksgestalt der Romane, ist die erzählerische Energie der Dickens‘ Romane als erzählerische Darstellung des Leidens an der Gesellschaft, mithin als Camouflage und Einspruch gegen die Vorenthaltung eines subjektiven Ganz‐ heitsanspruches in der modernen Welt zu erschließen, die eine noch unerkannt Wirklichkeit fiktional aufdeckt. Deren ästhetischer Wahrheitsanspruch liegt in narrativen Formen fragmen‐ tierter Universen. Dickens‘ Erzählwelten sind leicht zu lesen, aber schwer zu verstehen: There is little we can take for granted in the genres, forms, or narratives of Dickens’s early novels, for they enact one of the more sustained projects of textual experimen‐ tation in the language, one which seems to undo in the process so many of the dis‐ tinctions - between popular and high culture, between fiction and non-fictional writing (…) between past and present, self and other, life and death - within which its readers move. 125 Die ästhetischen Bruchlinien der Romane Dickens‘, die erzählerisch Bruchlinien des 19. Jahrhunderts und damit der Moderne mimetisch gestalten, affizieren und bewegen in ihrer bitteren Unterhaltsamkeit Rezipient / innen des dritten Le‐ bensalters. Deren Nachkriegsbiografien zeigen sich sensibilisiert für die trans‐ gressiven Erzählwelten Dickens‘. An der gleichen Stelle fährt John Bowen fort: „And to say that Dickens’s texts are disturbing, radical, and transgressive is also to say that they are intensely pleasure-giving, the most wildly funny books in the language.” 126 Bowen begründet die zeitdiagnostische Unterhaltsamkeit der Erzählwelten Dickens’ mit Samuel Johnsons Deutung einer regelos vagabundierenden litera‐ rischen Fantasie. In diesem Sinne seien Dickens‘ Werke zu verstehen. Dickens’ Erzählwelten „(…) baffle the logics, (…) perplex the confines of distinction, and burst the inclosures of regularity.” 127 Valerie Purton sieht in Dickens‘ sentimentalen Erzählpassagen nicht die ihm vorgeworfene krankhafte Realitätsbeschönigung, sondern eine in Bezug auf die Tradition des Romans kreierte innovative Maskierung kollektiver Ängste des Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 140 128 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition. Fielding, Richardson, Sterne, Gold‐ smith, Sheridan, Lamb. London: Anthem 2012, S. 71. 129 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. XV, S. 71. 130 Charles Dickens: Bleak House. Edited with an Introduction and Notes by Nicola Brad‐ bury. Preface by Terry Eagleton. „Preface” (by Charles Dickens, August 1853), London: Penguin 2003, S. 5-7, hier: S. 7. 131 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. 72. 132 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy“, in: David Paroissien (ed.): A Com‐ panion To Charles Dickens. Oxford: Blackwell 2011, S. 65-80, hier: S. 78. 133 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 76. 134 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 79. 135 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 71, S. 74-76; Terry Eagleton: The English Novel… a. a. O., S. 161. 136 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 75 137 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 75. 19. Jahrhunderts, die als Kompensation „for an empty real life“ 128 zu lesen und autoreferenziell in seine Erzählwelten eingelassen sind. „Sentimentalist nos‐ talgia (in Dickens)“, so fährt sie fort, „depends upon a semantic confusion bet‐ ween what is real and what is uncanny” 129 . In Dickens’ Romanen ist Unheim‐ lichkeit, die Dickens’ als „the romantic side of familiar things” in seinem Vorwort zu Bleak House beschrieb, 130 Teil seiner literarischen Technik, die die „deconst‐ ruction of the boundary between dream and reality“ 131 zum wesentlichen Kon‐ struktionselement seiner Erzählwelten macht. Auch Monika Fludernik sieht Dickens‘ innovatives Erzählen in der Verzah‐ nung von karnevalesken mit nostalgischen Elementen. Proto-modern sei Di‐ ckens‘ Darstellung Londons „(…) as a carnival of vivacity, grief, hypocrisy, in‐ dustry, honor, villainy, and general exuberance.” 132 Diese Umkehrvision wird, so Fludernik an anderer Stelle, in Dickens’ Erzählwelten ergänzt durch „(a)n emphasis on pastoral nostalgia and a romantic vision of the countryside as rec‐ reative, as the idyllic opposite of grimy London(…)”. 133 Sie wird durchsetzt von Elementen, die „fantastic and grotesque“ sind. 134 Mit diesem innovativen litera‐ rischen Verfahren, das raumzeitliche Erfahrungen subjektiviert, gestimmte Raum- und Zeiterfahrungen sich überschneiden lässt, die Dingwelt anthropo‐ morphisiert, Plots und Multiplots - nicht individuelle Psychologie - zu Akteuren seiner Erzählwelten werden lässt und damit chronologisches Erzählen frag‐ mentarisiert, entwickelt Dickens Erzählformen des 18. Jahrhunderts spielerisch, durch Kontrastkopplungen und erzählerische Unzuverlässigkeiten, zur Ambi‐ valenzstruktur modernen Erzählens weiter. 135 Seine Romane sind „tightly plotted“ 136 , sein Figurenpersonal deckt ein weites gesellschaftliches Spektrum ab, zu dem „the downtrodden, the poor, the insane, the mad“ 137 gehören, die karnevalesk die Kehrseite bürgerlicher Gepflogen‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 141 138 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 145. 139 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 144, S. 160-162. 140 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter I, S. 1. Wer ist Oliver Twist (Chapter I -VII)? heiten zur Schau stellen, seine Kinderprotagonisten umgeben oder sie kreieren Atmosphären, die Schrecken, Wunder und magische Visionen des Lebens er‐ zählerisch hervorrufen. Darüber hinaus ist Dickens der erste „urban novelist“ 138 , der die Beschleunigung, Anonymität, den menschlichen Zerfall, die Verrottung der Dingwelt und Entfremdungserfahrungen des modernen Großstadtlebens zu aussagetragenden Metaphern seiner klaustrophobischen Erzählbilder macht. Im Zentrum seiner Romane steht daher die Frage, wie menschliche Humanität in einer rasant sich verändernden modernen Welt zu verstehen sei? „Dickens is preoccupied in novels such as Oliver Twist, Little Dorrit and Great Expectations with the mysterious sources of human identity - with how we came to be who we are, whether we are who we think we are, whether we are really the authors of ourselves or spring from some murky ancestry or shady wealth of which we know nothing.” 139 Im narrative Erkunden transitorischer Identität nehmen Di‐ ckens‘ Erzählwelten eine ästhetische Perspektive ein, die die Unüberschaubar‐ keit und Selbstwidersprüchlichkeit der Außenwelt subjektiviert und dabei die Entfremdungserfahrungen der Metropole als imaginatives Spiel zwischen be‐ kannten und rätselhaften Fremden, belebten Dingen und in Rollenfixierungen erstarrten Individuen veranschaulicht. Wichtiger als die Psychologie seiner Fi‐ guren sind Dickens deshalb die Plots und Multiplots, die den Figuren über die Köpfe wachsen, sie in Intrigen verwickeln und ihnen die Durchschaubarkeit der erscheinenden Welt verwehren. Das macht Dickens‘ Figuren skurril, komisch, grotesk und tragisch und seine Romane zu Gedächtnisphänomenen der kultur‐ ellen Krise des Werte- und Orientierungsverlusts in der ersten Phase der Mo‐ derne, die zweite Phase der Moderne schriftstellerisch antizipierend. Der Roman eröffnet das erste Kapitel mit einer kommentierenden und leser‐ lenkenden Überschrift. Es folgt der Erzählbeginn: Among other public buildings in a certain town, which for many reasons it will be prudent to refrain from mentioning and to which I will assign no fictitious name, there is one anciently common to most towns, great or small: to wit, a workhouse; and in this workhouse was born: on a day and date which I need not trouble myself to repeat, inasmuch as it can be of no possible consequence to the reader, in this stage of the business at all events: the item of mortality whose name is prefixed to the head of this chapter. 140 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 142 141 In früheren Ausgaben gab der Erzähler Mudfog als Namen der Stadt an, der aber eben‐ falls fiktiv ist. Er kann als eine narrative Version von Chatham, der Geburtsstadt Di‐ ckens‘, angesehen werden (Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., S. 461-462). 142 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter I, S. 1. Dieser Erzählbeginn weckt durch die indirekte Leseransprache Lektüreerwar‐ tungen und weist selbstreferenziell auf die fiktive Erzählwelt. Die erzählerischen Mittel der Selektion (ein Armenhaus unter anderen), Verallgemeinerung (das Armenhaus findet sich in kleinen und großen Städten), Hervorhebung des fik‐ tiven Erzählortes (die Stadt ist nicht unbekannt, „a certain town" 141 ), Hervorhe‐ bung der erzählten Zeit (ein Datum, das nicht erwähnt werden muss), allgemeine Bedeutsamkeit des Protagonisten (der kleine Erdenbürger, „the item of morta‐ lity"), diese erzählerischen Mittel schließen an dieser Stelle und im Folgenden Kontrastkopplung, Ironie, Steigerung und Inversion sowie die Möglichkeit von Erzählerkommentaren ein, die in die Handlung eingreifen, sie in Vor- oder Gleichzeitigkeit überführen können oder sich auch kommentierend eines Kom‐ mentars enthalten („refrain from mentioning“). Oliver wird vom Amtsarzt als „item of mortality" in diese Welt voller „sorrow and trouble" befördert („was ushered" 142 ). „Items of mortality" waren amtliche Bezeichnungen in den Statistiken der Todesfälle in Armenhäusern. „Ushered" weist darauf hin, dass Menschen verächtlich gemacht, getreten oder geworfen wurden, dass Dinge befördert wurden. Dies alles ergibt eine Konnotation von Todesstatistik und Dinghaftigkeit im Kontrast zur Geburt eines Kindes. Zudem ergibt sie die ironische Perspektive eines zum Leben erweckten verachtungs‐ würdigen Dinges, das besser nicht zum Leben hätte erweckt werden sollen. Ge‐ steigert wird die Inversion von Mensch und Ding in der Feststellung, dass es sich im besonderen Fall dieser Geburt um einen Glücksfall handele, da Oliver, so die Ironie dieser Stelle, wäre er in bürgerlicher Umgebung geboren worden, sicherlich gestorben wäre. Demgegenüber aber hätten ihm eine alkoholisierte Armenhäuslerin, Mrs Thingummy, und ein indifferenter Arzt das Leben ge‐ rettet. Ist dies Parodie, Ironie, Ernst, Wahrheit? In Bezug auf das märchenhafte Romanende, das Oliver in die Welt der Bürger katapultiert, und in Bezug auf den Kriminellen Fagin, der ebenfalls (wie in Chapter II , 5 der unzuverlässige Gemeindpfarrer beim Armenbegräbnis) als Gentleman bezeichnet wird, klingt diese Stelle wie ein Todesurteil über den spät erlösten Protagonisten - der Ge‐ meindepfarerr entflieht, über Fagin wird das Todesurteil gefällt. Der Erzählbeginn zeichnet sich durch mehr als eine Ironisierung der Amts‐ sprache aus, die im Möglichkeitsraum der Fiktion durch Inversion zur Geburts‐ urkunde des Protagonisten und des Romanbeginns durch Selbstreferenzialität wird. Mit dem Roman beginnt die prekäre Lebenssituation des Protagonisten. 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 143 143 André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen Niemeyer 2006 (8. Auflage), S. 241. 144 „Näher kann die Welt des 19. Jahrhunderts nicht an die des Märchens herangebracht werden (in Dickens‘ Roman: Great Expectations, H. - C. R.), Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts. Wirklichkeit und Kunstcharakter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, S. 112. 145 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 7 (Hervorhebung im Original). 146 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 7. Durch die Mischung von märchenhafter Einfachheit 143 und Groteske 144 öffnet sich der Möglichkeitsraum für Lesererwartungen. Im zweiten Kapitel weiten sich die Ironisierung der Amtssprache und die darin angesetzte Kritik an der Politik der Armenhäuser aus auf deren organi‐ satorische Misswirtschaft, ihren Verrat an den Insassen und die Verwahrlosung pauperisierter Kinder. An Oliver Twists achten oder neunten Geburtstag erfährt Mrs Mann, die, als Pflegemutter, Oliver zusammen mit anderen Armenhaus‐ kindern aufnimmt und verwahrlosen lässt, wie Oliver zu seinem Nachnamen kam. Der Armenhausbüttel, Mr Bumble, steigert Olivers numerische Identität als „item of mortality" zu einer alphabetisch zugewiesenen Identität. Er wählt Twist als Nachnamen, weil in seiner Auflistung der Armenhauskinder der Buch‐ stabe T an der Reihe ist: ‘The last was a S, - Swubble, I named him. This was a T, - Twist, I named him. The next one as comes will be Unwin, and the next Vilkins. I have got names ready made to the end of the alphabet, and all the way through it again, when we come to Z.” 145 Mrs Mann quittiert diese Verwaltungsentscheidung mit dem Ausruf, Mr Bumble sei „quite a literary character". 146 Liest man den Roman, nach Aufdeckung der Familienintrige, aus der Oliver stammt und in die er im Verlaufe der Handlung verstrickt wird, von seinem Ende her, so wird das Spiel des Romans mit Identi‐ tätsmöglichkeiten, ihren Durchkreuzungen und der erzählerischer Fiktion, die mit transitorischen Identitätspotenzialen spielt, bereits an dieser Stelle deutlich. Olivers Namensgebung durch den Armenhausbüttel ergibt sich aus der nu‐ merischen Begrenztheit des Alphabets und entspricht der begrenzten, begren‐ zend anarchistischen Ordnungsfantasie des Büttels. Sie entspricht und wider‐ spricht zugleich der poetischen Intention dieses Romans. Sie entspricht der ironischen Entlarvung der Verwaltungswelt der Armenhäuser und sie wider‐ spricht der angeordneten Durchkreuzung persönlicher Selbstbestimmung - die vom Romanende her autoreferenziell erneut märchenanalog visionär durch‐ kreuzt wird - durch diese Verwaltung. Olivers Namensgebung ist im Rahmen der Fiktion des Romans ihrerseits eine Fiktion. Oliver heißt mit Nachnamen Leeford. Er ist von Anbeginn des Romans nicht der, der er zu sein scheint. Sein Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 144 147 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 97. 148 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 97. 149 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 3. 150 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter I, S. 3. 151 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 12. 152 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 15. und Schein treffen in der Erzählwelt Oliver Twist für die Erzählfiguren unauf‐ lösbar aufeinander. Oliver ist durch den reifizierenden Außenblick des Büttels kein Subjekt, er ist ein Ding. In der erzählerischen Gestaltung ist der Name Oliver Twist „only a name“ 147 , eine Fiktion, ein Platzhalter in der Fiktion Oliver Twist: „twist“, im Englischen Nomen und Verb, bedeutet u. a. verbinden und trennen von Handlungen, kombinieren von zwei Elementen und bedeutet ferner: Drehung und Verwicklung, Unbeständigkeit, im Plural: Wechselfälle. 148 Diese Analogie von Ding und Mensch, deren Differenz in ihrer Ähnlichkeit zu finden ist, trifft auf die Theatralik des Büttels, auf die Verstellung der Mrs Mann, auf „treachery and deception" 149 , die die Figureninteraktionen in die Gruppen Böse und Gut unterteilt und untereinander durch Kontrastkopplungen oder Überschneidung komplementiert ebenso zu. Wie an dieser Stelle, entstehen durch die Reifizierungen menschlicher Subjekte, die den ökonomisch redu‐ zierten Menschen als Norm entlarven, groteske Verwechselungen, die für Leser / innen überraschend sind und im Nachhinein aufgelöst werden. So auch Olivers Zufallsgeburt, die sich am Romanende als Folge zerrütteter Familien‐ verhältnisse der wohlhabenden Familie Leeford, die in der Karibik Kolonien besaß, herausstellt (Chapter XLI ). Auch diese Realität entlarvt die Depersona‐ lisierung und Reifizierung des Protagonisten, die im Arbeitshaus beginnt. Als Gemeindekind ist er „badged and ticketed“. 150 Nach seinem berühmten Protest, den er im Auftrag der anderen Armenhausjungen einlegt, weil sie knapp vor dem Hungertod sind: „‘Please, sir, I want some more‘“ 151 , wird Oliver auf einem Aushang für fünf Pfund angeboten „offering a reward of five pounds to anybody who would take Oliver Twist off the hands oft he parish“. 152 Er gerät in die Hände eines mit dem Armenhausvorstand kooperrierenden Schornsteinfegers, dessen Berufsgruppe dafür berüchtigt war, dass Kinder in den Schornsteinen er‐ krankten oder erstickten. Schließlich wird Oliver zu Mrs Mann auf die Babyfarm geschickt, wo er verwahrlost und in frühem Leid, kein Identitätsgefühl entwi‐ ckeln kann. In dieser Darstellung einer Durchkreuzung von Identitätsmöglich‐ keiten verbirgt sich das poetische Anliegen des Romans: Die Frage nach Mög‐ lichkeiten persönlicher Identitätsbildung des modernen Subjekts angesichts signifikanter Anderer. Durch die erzählerische Verweigerung einer Psycholo‐ gisierung dieser und der anderen Figuren entstehen bereits zu Beginn des Ro‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 145 153 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 83. 154 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 3. 155 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter II, S. 40-41. mans Differenzen, die Sein und Schein überblenden und Konflikte implausiblen komischen oder tragischen Lösungen zuführen. Oliver rebelliert in den ersten sieben Kapiteln gegen instrumentallisierende Fremdbestimmung und Unter‐ werfung und stimmt damit, den heterodiegetischhomodiegetischen Erzähler sekundierend, als repräsentative Figur, den rebellischen Ton des Romans Oliver Twist 153 , gegen die Philosophie instrumenteller Vernunft und für deren erzäh‐ lerische Transzendierung, von Anbeginn an. Deutlich wird dieses Programm in der Überblendung der Erzählermit der Beobachterperspektive Olivers in der Situation des Armenbegräbnisses, an der Oliver als Lehrling des Begräbnisun‐ ternehmers Sowerberry teilnehmen muss. Im erzählerischen Rekurs auf das Eingangskapitel des Romans, gestaltet Chapter I, 5 eine bittere Satire auf die Armengesetzgebung in Großbritannien zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die der Erzähler auf die Kirche ausweitet. Es geht um ein Armenbegräbnis, an dem der Protagonist als Lehrling des Sargma‐ chers Sowerberry wegen seines melancholischen Gesichtsausdrucks teilnimmt. Diese Stelle spiegelt die Ironisierung der Beamtensprache des Erzähleingangs, deren „systematic course of treachery and deception" 154 erzählsituativ auf die Entwürdigung der Armenhäusler - wie die Behandlung des kleinen Oliver durch den Gemeindebüttel Bumble deutlich macht - ausgeweitet wird. Deren Inhu‐ manität findet in dem Armenbegräbnis (Chapter I, 5) metaphorisch Einlösung. Die Gemeinde spart auf Kosten der Armen an der Größe der Särge, an Personal, an Zeit, an Platz und an der Würde gegenüber den Toten: At length, after the lapse of something more than an hour, Mr Bumble, and Sower‐ berry, and the clerk, were seen running towards the grave. Immediately afterwards, the clergyman appeared: putting on his surplice as he came along. Mr Bumble then threshed a boy or two, to keep up appearances; and the reverend gentlemen, having read as much of the burial service as could be compressed into four minutes, gave his surplice to the clerk, and ran away again. 155 Das Zentrum dieser Satire ist die Inversion von Pietätlosigkeit und durch Prügel aufrecht erhaltener Pietät, von Inhumanität und unglaubwürdig gewordenen Humanität eines aufgezwungen und deshalb lästig zeitraubenden Rituals, das in der indifferenten Geste des rasch herbei eilenden und sich dann nach maximal vier Minuten schnell verdrückenden Geistlichen auf die Spitze getrieben wird. Die soziale Norm, dieses Ritual öffentlich durchzuführen, und die tatsächliche Art der Durchführung, stehen in dieser Erzählpassage durch Steigerung und Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 146 156 Helmut Bachmaier: „Nachwort", in: Helmut Bachmaier (Hg.): Texte zur Theorie der Komik. Stuttgart: Reclam 2005, S. 121-142, S. 125. 157 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter V, S. 38. 158 David Paroissin: The Companion to Oliver Twist. Edinburg: Edinburg University Press 1992: King Lear, S. 79; Hamlet, S. 123, S. 162; Macbeth, S. 123, S. 158, S. 275; Merchant of Venice, S. 130; Richard III, S. 199, S. 264. 159 Charles Dickens: Oliver Twist…, a. a. O., Chapter V, S. 32, S. 33, S. 34, S. 37; David Paro‐ issien: The Companion to Oliver Twist…, a. a. O., S. 82. Übertreibung inkongruent gegeneinander. Komik entsteht in dieser Passage durch die Inversion von Tragik und Komik, Realität und Schein, die das Versagen vernünftigen Handelns zum Ausdruck bringt. Ins Bild gesetzt werden Konven‐ tionsverstöße als eingeübte Praxis. Angesichts dieser Absurdität wirkt die bit‐ tere Komik dieser Passage verdeutlichend und kathartisch: „Das, was in der Komik sich vor allem ausdrückt, ist das Gelächter der Vernunft angesichts der Verkehrtheit der Welt." 156 Die in dieser Passage satirisch aufs Korn genommene Verkehrtheit der Welt greift die erzählerische Gestaltung der Eingangskapitel sowie späterer Kapitel als Zeichen gesellschaftlicher Pathologie (Chapter XXIII , Chapter XXXIII ), aber auch die Schlusspassagen des Romans, autoreferenziell auf. Autoreferenziell sind auch die in die Textur des Romans eingelassenen Anspielungen auf Shakes‐ peare Dramen, die eine Subtextstruktur des Oliver Twist bilden (so werden bei‐ spielsweise die heruntergekommenen Wohnviertel als „houseless wretches" be‐ zeichnet 157 ; eine Anspielung auf Shakespeares Drama King Lear 3.4., 28-30; es gibt im Oliver Twist aber auch Anspielungen auf Hamlet, auf Macbeth, auf den Merchant of Venice, auf Richard III 158 ). Dialogisch sind diejenigen Passagen in Chapter I, 5 angelegt, die auf außer‐ ästhetische Erfahrungen hinweisen. Dies sind autobiografische Hinweise Di‐ ckens' („He was alone in a strange place…"), biblische Hinweise („Noah Clay‐ pole…"), geschichtliche Hinweise (Noah's „parents" sind pauperisierte Veteranen aus den Napoleonischen Kriegen), politische Hinweise (pauperisierte „Irish la‐ bourers" in London), schließlich das sozialpolitische Ereignis des Armenbegräb‐ nisses, das der Erzähler in diesem Kapitel autoreferenziell verdichtet. Dickens hatte ein solches Begräbnis in ähnlicher Art erlebt; zudem waren „(h)urried bu‐ rial services" in Armengemeinden mit dichter Population üblich. 159 Dieser Erzählpassage, wie dem Roman insgesamt, geht es nicht um Abbild‐ realismus. Vielmehr wird die Gefühlskälte der Beteiligten - aus Sicht des Er‐ zählers, des Protagonisten und der Anwesenden „… were seen running…" - in ihrer amoralischen Indifferenz sprachbildlich und mit gesteigertem Erzähl‐ tempo ironisch verdichtet. Es geht um eine erzählerische Dramatisierung von Gefühlen, die auf Seiten der Erzählfiguren als Abwehr- und Machtpositionen 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 147 160 Juliet John: Dickens's Villains…, a. a. O., S. 135. 161 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 65-80, S. 77. 162 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 77. 163 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 77. 164 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 77-79. sichtbar werden und durch Tragikomik autoreferenziell Bezug auf weitere Ro‐ mankapitel nehmen. Und es geht um das Spiel mit Gefühlen der Rezi‐ pient / innen, die die Möglichkeit haben, über den erzählten Tabubruch zu lachen und einen Diskurs zu beginnen, der sich auf die zeitdiagnostische Dimension des Romans einlässt. Das Erschließen der Erzählwelt Oliver Twist ruft Gefühle der Empathie und einer demokratisch orientierten Kritik - Vernunft und Humor, Humor als Vernunft - hervor. Dickens' Erzählwelten sind, wie diese und die später folgenden Passagen zeigen „pleasurable, entertaining, and emotionally engaging". 160 Der Roman Oliver Twist ist, wie alle Erzählwelten Dickens', so Monika Flu‐ dernik: „(…) much less concerned with history and philosophy than with an imaginative portrait of society and with the individuality of (its) characters.” 161 Fludernik leitet ihre Deutung aus dem Vergleich mit zeitgenössischen Au‐ toren von Dickens, nämlich Georg Eliot, den Brontës, Thackery und Trollope her. Sie hebt hervor, dass Dickens die Falle einer mimetischen Abbildhaftigkeit des Realismus vermeidet. Dickens gestalte ein buntes Treiben von Sonderlingen, das überspitzte Versionen verzerrter Menschlichkeit zur Schau stelle. Dickens' Satire konzentriere sich nicht auf didaktische Anweisungen (Moralisierungen), sondern auf zwischenmenschliche Erfahrungen, Gefühle, auf die überschäum‐ enden, fröhlichen, düsteren und fantastischen Aspekte des Lebens 162 und damit - von außen perspektiviert - auf die Widersprüchlichkeit der Endlichkeit und Menschlichkeit moderner Subjekte. Diese Außensicht ermöglicht erzählerische Experimente. Dickens' Erzähl‐ welten spielen mit erzählerischen Möglichkeiten. Sie experimentieren und ent‐ werfen in diesen Experimenten zeitdiagnostische sowie zukunftsweisende Vi‐ sionen. Dickens' „(a)nticipations of Modernism" 163 werden in ihren Surrealismen zu Wegbereitern des modernen Romans, wie ihn Conrad, Wilde, Joyce, Dosto‐ jevski oder Kafka verfassten. 164 Stellt das Armenbegräbnis eine Erzählsituation her, die über sich hinauswei‐ send das Gelächter der Vernunft angesichts der Verkehrtheit der Welt darstellt, so weitet der Roman Oliver Twist ab Chapter VIII , diese Vision im Spiel mit Raum- und Zeiterfahrungen aus. Chapter VIII gestaltet die Ankunft des Prota‐ gonisten in London als Abstieg nach seiner umwegigen Flucht aus der Provinz. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 148 165 John Bowen: Other Dickens… S. 83. 166 Peter Coveney: The Image of Childhood…, a. a. O., S. 115, dazu: Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. XXIII. 167 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. XXVI. Entfaltung der Märchengroteske Der Protagonist des Oliver Twist ist eine Erzählfigur, die zwischen Inhalts- und Darstellungsebene vermittelt, deren Identität auf der Inhaltsebene transgressiv ist, 165 deren erzählerische Funktion auf der Darstellungsebene zugleich in der Symbolisierung des Unschuldskindes liegt, das in Opposition zum romantischen Topos - das ist neu bei Dickens - viktimisiert ist. Das viktimisierte Kind wird in Dickens‘ Erzählwelten zum transgressiven „(…) symbol of sensitive feelings in a society maddened with the pursuit of material progress (and his novels) are an account of the plight of human sensibility under the cast of iron shackles of the Victorian world.” 166 Der Protagonist als Aspektfigur wird in Dickens Ro‐ manen - in seinen späteren Erzählwelten mit gesteigerter Komplexität - zur Innovationsfigur eines romantischen Topos, dessen Erzählpotenzial Nostalgie und Subversion kulturkritisch miteinander verbindet. 167 Für heutige Leser / innen wird dieses innovative erzählerische Verfahren zur Herausforderung ihres Selbst- und Weltverständnisses. Dies gilt insbesondere für heutige Leser / innen des dritten Lebensalters, deren transitorische Identi‐ tätserfahrungen mit ihren historischen und biografischen Nachkriegserfah‐ rungen während der Lektüre des Dickens‘ Romans in empathische und reflek‐ tierende Schwingungen geraten. Die Exposition (Chapters I- VII ) siedelt den Protagonisten zwischen zwei mit einander verwobenen Beziehungsschnittpunkten an: Zwischen Tod und Leben auf der anthropologischen Ebene des Romans und zwischen Sein und Schein auf der ethischen Ebene, der Ausdrucksebene des Romans. Auf der Inhaltsebene überlebt der Protagonist seine Geburt im Armenhaus als Waisenkind. Er ist ein rechtloser Niemand. Auf der Ebene der formalen Gestalt, ist er - das wissen die Leser / innen am Ende des Romans - nicht der, der er zu sein scheint. In seiner unvordenklichen Vergangenheit ist der Protagonist das Kind von Agnes, der außerehelichen Geliebten seines Vaters Leeford. Ohne sein Wissen und seine Schuld stammt der Protagonist aus einer zerrütteten Familie, die ihren Reichtum in den westindischen Kolonien erwarb. Der Protagonist, im Armenhaus von einer sterbenden Agnes geboren, stammt aus dem korrumpierten Paradies von Kolonialherren. Form und Inhalt passen bereits zu Beginn dieses Romans nicht zusammen: Das uneheliche Kind, die koloniale Vergangenheit des Kindes und das ihm - wie sich später herausstellt durch Erbbetrug seines Halbbruders 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 149 168 André Jolles: Einfache Formen…, a. a. O., S. 242. 169 Isabel Vila Cabanes: „Reading the Grotesque in the Works of Charles Dickens and Jo‐ nathan Swift“, in: Norbert Lennartz / Dieter Koch (eds.): Texts, Contexts and Intertextu‐ ality. Göttingen V&R Unipress 2014, S. 99-113, hier: S. 100, S. 111. 170 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 10-38. 171 Max Lüthi: Märchen. Bearbeitet von Heinz Rölleke. Stuttgart: Metzler 1990 (8. Auflage), S. 29-31; Heinz Rölleke: „Märchen“, in: Dieter Lamping: Handbuch literarischer Gat‐ tungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 508-513. Monks - vorenthaltene Erbe, dies sind Elemente des Märchens, die den Gerech‐ tigkeitssinn der Leser / innen evozieren, „unserm Empfinden des gerechten Ge‐ schehens widersprechen“. 168 Die Geburt des Protagonisten im Armenhaus, der Tod der verstoßenen, auf der Straße zusammengebrochenen Mutter bei dessen Geburt, die Indifferenz der Geburtshelfer, des Armenhausarztes und einer be‐ trunkenen Armenhäuslerin, sind Elemente der sozialsatirischen Groteske, die ebenfalls den Gerechtigkeitssinn der Leser / innen ansprechen. 169 Märchenele‐ mente und Elemente der Groteske strukturieren nicht nur die Exposition des Oliver Twist, sie strukturieren diesen Roman insgesamt. Sie bewirken, dass sich das Erzählgerüst des bürgerlichen Romans, seine Raum-Zeitstruktur, in Stim‐ mungsräume und gestimmte Zeiten auflöst und ästhetische Subjektivität als Organisationszentrum romanhaften Erzählens kulturdiagnostisch zur Aus‐ drucksbzw. Formgestalt dieses Romans wird. 170 Zu den Märchenelementen des Oliver Twist gehören beispielsweise die Hand‐ lungsfreudigkeit, die episodenhafte Handlungsverknüpfung, rasche Handlungs‐ wechsel, die Herstellung der Gerechtigkeit am Ende, das ausschließliche Inte‐ resse am Schicksalsweg eines Protagonisten, der aber nicht als Reifungsprozess gedeutet werden kann, der Sprung aus der Groteske ins Märchenhafte als Wun‐ derbares, der Sieg der Gerechtigkeit über Unrecht als Erfüllung der Hörerbzw. Lesererwartungen. 171 Elemente der Groteske im Oliver Twist entstehen aus In‐ kongruenzen und einer Verklammerung von Bekanntem und Fremden zu Un‐ heimlichem, so dass die Verknüpfung von Abscheulichem und Komischem, Ekel und Ironie zu mehrdeutigen Atmosphären zusammenschießen, die bei den Leser / innen oder Betrachtern Gefühle der Unsicherheit hervorrufen, wobei das Grotesk-Unheimliche zur Grenzauflösung zwischen Normalität und Abnorma‐ lität, ferner zur Herausforderung einer als absolut gesetzten ästhetischen Ord‐ nungsvorstellung führt, eine offene Gestaltungsstruktur ermöglicht, die an‐ deren Gattungen Einlass gewährt. Dieses plastische, transgressive Erzählmuster, das allen Dickens‘ Romanen und - nach Bachtin dem modernen Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 150 172 Bakhtin: The Dialogic Imagination (ed. Michael Holquist, trans. Caryl Emerson and Mi‐ chel Holquist [Austin: University of Texas Press 2011], S. 39); Justin D. Edwards and Rune Graulund: Grotesque. New York: Routledge 2013; Isabel Vila Cabanes: „Reading the Grotesque in the Works of Charles Dickens…, a. a. O., S. 104; I. V. Cabanes bezieht das Groteske auf die ersten sieben Kapitel des Oliver Twist und auf Fagin als individuelle Figur. Wie zu zeigen sein wird, strukturiert das Groteske als hybride ästhetische Figur die Zeitdiagnose dieses Romans und wird in seinen Verdichtungen, Auflösungen und Mischungen mit dem Idyllischen und Sentimentalen zur Herausforderung an die Rezi‐ pient / innen. 173 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 112. 174 Juliet John: Dickens’s Villains…, a. a. O., S. 107. 175 André Jolles: Einfache Formen…, a. a. O., S. 233. 176 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 109. 177 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy“…, a. a. O., S. 65-80. 178 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts…, a. a. O.,. S. 112. 179 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 109. 180 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 83. 181 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. XXVI. Roman - eigentümlich ist, fordert die Leser / innen zu differenzierten ästheti‐ schen Urteilen heraus. 172 In „groteske(r) Verzeichnung“ 173 , die den Verfremdungseffekt Brechts antizi‐ piert 174 , rückt der Roman Oliver Twist „die Welt an das Märchen heran()“, weil die Umkehrung, nämlich „das Märchen an die Welt“ 175 heranzurücken erzählerisch nicht mehr möglich ist. Schon in der Exposition werden Märchenelemente als „Grundtypen einfachsten Erzählens“ 176 und Elemente der Groteske in sozial- und kulturkritischer Absicht erzählerisch so miteinander verschränkt, dass erzäh‐ lerische Bruchlinien entstehen. Diese stellen in ihren Zufallsverknüpfungen, Implausibilitäten, in ihren karnevalesken Inversionen ästhetische Ordnungs- und Normvorstellungen in Frage und kreieren die Formgestalt Oliver Twist als Wegbereiter des modernen Romans. 177 Auf den ersten Blick kommt die Erzählweise des Oliver Twist durch Mär‐ chenhaftes den Bedürfnissen der Leser / innen bis heute entgegen, 178 zugleich aber entwirft sie eine Diagnose der Disparatheit des industriellen Zeitalters, mit der „Absicht: zu erzählen" 179 oder, wie dies John Bowen formuliert: „Dickens will not tell us the time or place of Oliver’s birth, and tells us that he won’t tell us.” 180 Mit der Geburt des Protagonisten - so könnte man sagen, und das gilt auch für den Beginn des späten Dickens‘ Roman Great Expectations - wird die erzähler‐ ische Form dieses Romans Oliver Twist durch strukturelle Leerstellen zur Welt gebracht; eine Geburt der Fiktion, die die Aussagegestalt des Romans Oliver Twist episodisch gestaltet, in der „(i)nteriority (…) has no place“ 181 , eine struk‐ turelle Leerstelle, die heutige Leser / innen provoziert. 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 151 182 Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt / M: Suhr‐ kamp 2000, S. 67. 183 Paul Morris: „Oliver Twist, the Perils of Child Identity and the Emergence of the Victo‐ rian Child, in: Norbert Lennartz / Dieter Koch (eds.): Texts… a. a. O., S. 215-231, hier: S. 219. 184 André Jolles: Einfache Formen…, a. a. O., S. 233. 185 Paul Morris: „Oliver Twist, the Perils of Child Identity…, a. a. O., S. 222-223. 186 Paul Morris: „Oliver Twist, the Perils of Child Identity…, a. a. O., S. 223. Es geht auf der Ebene der formalen Gestalt des Romans Oliver Twist um die Frage einer Legitimation des Erzählens in der modernen Welt und um die in der Exposition anvisierte Antwort. Diese wird in den Kapiteln VIII - LIII entfalten, dass kohärentes Erzählen in der modernen Welt ebenso wenig möglich ist wie ein kohärenter biografischer Zusammenhang des modernen Subjekts. Dieser findet in märchenhafter Fiktion - so das Schlusstableau des Romans Oliver Twist - eine selbst dort fragwürdige Erfüllung. Die Kapitel I- VII thematisieren die Anspruchsebene des Romans über ihren sozialkritischen Stellenwert hinaus. Es geht um bürgerliche Identität als nicht mehr einzuholende Einheit in der Moderne. Identität in der Moderne setzt sich aus Teilidentitäten zusammen, sie „löst sich auf “. 182 Jede der Institutionen, die den Protagonisten aufnimmt und die der Romanbeginn satirisch in ihrer Inhu‐ manität darstellt, weist dem Protagonisten eine andere Identität und so auch seinen Namen aus der alphabetischen Reihenfolge zu. Der Erzähler schließt im ironisierten Ton eines Archivars den darstellbaren biografischen Zusammen‐ hang des Subjekts von vorneherein aus. In dieser ironischen Gegenperspektive schlägt er sich auf die Seite der inhuman agierenden Institutionen, die das Kind Oliver Twist unschuldig viktimisieren. Erzählerisch entspringt Identität einer Zufälligkeit, ist absurd und nur noch als märchenanaloge Groteske darstellbar: transitorische Identität als Groteske. Oliver Twist ist der erste Roman der englischen Literatur, der das Überleben eines Kindes in widrigen sozialen Umständen darstellt und zum Organisations‐ zentrum seiner gegenläufigen Plots macht. 183 Dieses Überleben gelingt im Be‐ reich märchenhafter Fiktion, die das Märchen an die Welt heranführt 184 und vorenthaltene Identitätsbildungsmöglichkeiten durch „brutality and mistreat‐ ment“ in die Vision einer „exceptional (…) goodness (and) innocence“ 185 trans‐ formiert. Da dies für den mittlerweile 12jährigen Oliver ebenso gilt, wie für die ihn komplementierenden 17jährigen Spiegelfiguren Nancy und Rose, wird ihre „ability to withstand negative influence“ 186 , verstärkt durch die Spiegelfiguren Brownlow und Fagin, zum Konstruktionsprinzip dieses Romans. Als märchen‐ haftes ist es Widerstandsmoment und Garant ersehnter Ganzheit. Es plausibi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 152 187 Norbert Lennartz: „Introduction: Dickens as a Voracious reader“, in: Norbert Len‐ nartz / Dieter Koch (eds.): Texts…, a. a. O., S. 9-17, hier: S. 12-14; Paul Morris: „ Oliver Twist, the Perils of Child Identity…, a. a. O., S. 215-216. 188 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter VIII, S. 60. 189 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter VIII, S. 60. 190 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter VIII, S. 60. In welche Interaktionen ist der Protagonist Oliver Twist verstrickt (Chapter VIII -LII)? lisiert die erzählerische Implausibilität ihrer beiden Plots, die die Vor- und Hauptgeschichte des Protagonisten gegenläufig zusammensetzen. Identität als transitorische Erfahrung, die in der Kindheit beginnt und Wi‐ derständen Wandlungen entgegensetzt, wird in Dickens‘ und den Romanen der Brontës zum Kulturparadigma einer ungeschützten, metaphysisch heimatlosen Subjektivität in der modernen Welt. Identität ist in Dickens‘ Erzählwelten er‐ zählsituativ und als Kompositionselement der Fiktion ständig bedroht: auf der erzählsituativen Ebene bedroht, in Bestialität umzuschlagen und vom Tode be‐ droht, 187 als fragmentierte Sehnsucht nach Ganzheit ist sie auf der Gestaltungs‐ ebene Illusion, mithin ästhetisches Gestaltungselement transitorisch kultureller Subjekterfahrung. Ab Chapter VIII weitet und vertieft sich die Weltsicht des Romans auf das La‐ byrinth der Metropole London. Der heimatlose Waise Oliver ist dem Begräb‐ nisunternehmer Sowerberry entkommen, macht sich Hoffnung auf ein besseres Leben in London. Er kommt hungrig und vor Kälte frierend am Rande Londons an. Unter der Vortäuschung freundschaftlichen Schutzes wird Oliver plötzlich und gegen seinen Willen gewaltsam von Jack Dawkins am Arm gepackt. Mit beginnender Dunkelheit steigen sie in den Sumpf Londons hinab, bis sie schließ‐ lich abwärts („they reached the bottom oft he hill“ 188 ) in der Höhle Fagins an‐ kommen: Oliver was just considering whether he hadn’t better run away, when they reached the bottom of the hill. His conductor, catching him by the arm, pushed open the door of a house near Field-Lane, and drawing him into the passage, closed it behind him. 189 Aus Sicht Olivers erscheint in der Dunkelheit des zerfallenen Hauses, „at the remote end of the passage“, ein Licht und „a man’s face peeped out“ 190 , der die beiden Jungen, nachdem Jack eine Losung gegeben hat, zu Fagin weist. Fagin sortiert geraubte Seidentaschentücher. Fagins quasi filmische Einführung in das Romangeschehen wirkt aus Sicht Olivers wie herangezoomt: 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 153 191 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter VIII, S. 59-63, S. 54, S. 55. 192 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter VIII, S. 63. 193 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XI, S. 82, Chapter XII, S. 83. A dirtier or more wretched place he (Oliver) had never seen. The street was very narrow and muddy; and the air was impregnated with filthy odours (…).The walls and ceiling of the room were perfectly black, with age and dirt. In a frying-pan, which was on the fire, and which was secured to the mantelshelf by a string, some sausages were cooking; and over them, with a toasting-fork in his hand, was a very old shriveled Jew, whose villainous-looking and repulsive face was obscured by a quantity of matted red hair. 191 Aus Sicht Olivers und der Leser / innen ist Fagin als schmierige, abstoßende, runzlige Gestalt gestaltet. Er erscheint in einem pechschwarzen, verrußten Raum, in diffusem, von einem Kaminfeuer erleuchtetem Licht; geisterhaft ist er über das Feuer gebeugt. In der Hand hält er eine Röstgabel, mit deren Hilfe er Würstchen brät. Die Raumkonturen wirken aufgelöst. Fagins mit dem Chaos des Raumes verschmelzende dämonische Erscheinung begrüßt Oliver grinsend: The Jew grinned; and, making a low obeisance to Oliver, took him by the hand: and hoped he should have the honour of his intimate acquaintance. 192 Zusammen mit Oliver werden die Leser / innen in ihren Erwartungen der Bru‐ talität Fagins getäuscht: Fagin verbeugt sich vor Oliver in der parodistischen Pose eines Gentleman - eine epische Vorausdeutung auf den Gentleman Oliver am Ende des Romans. Wie Fagin, nimmt später auch Brownlow Oliver an der Hand, rettet ihn vor den Sadismen des Richters Fang, legt den ohnmächtig ge‐ wordenen Jungen in eine herbeigerufenen Kutsche und fährt mit ihm in sein Haus nach Pentonville. 193 Diese aus Olivers Perspektive entworfene Höllenwelt lässt das das strukturelle Dilemma zwischen Inhalt und Form des Romans Oliver Twist deutlich werden: Angesichts des Erwartungsschocks verstummt Oliver auf der anthropologischen, der Darstellungsebene. Seine Artikulationsunfähig‐ keit wird zum Desiderat, das durch die Form des Erzählgeflechts zum Erzählende hin ersetzt wird. Nicht Oliver spricht, der Roman erzählt Olivers Weg durch die Sozialhölle Londons. Dies ist ein Weg, der von Anfang an bedroht ist, weil Oliver zwischen antagonistische Erfahrungsbereiche gerät, die kohärente Identitäts‐ bildungsmöglichkeiten nicht zulassen und, durch Verzögerungen und Beschleu‐ nigungsmomente der erzählten Zeit, zu Räumen der Orientierungslosigkeit für den Protagonisten und die Leser / innen werden. In diesem „twist", der auf der Kompositionsebene Gestaltung findet, entstehen immer wieder aufgelöste und sich auflösende Zufälle, Überraschungsmomente, Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 154 194 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 97. 195 Käte Meyer-Drawe: „Das exzentrische Selbst", in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität…, a. a. O., S. 360-373, S. 362-363. die keine Innerlichkeit zulassen. Verborgene Begierden treten als Habgier, Ei‐ gennutz und in Gestalt der labyrinthischen Metropole nach außen. Die erzäh‐ lerische Evokation des Innen durch eine beschleunigte Außenwelt lässt Erzähl‐ figuren und Erzählsituationen zu Chiffren bzw. Durchgangsstationen eines Sinngeflechtes werden, das sich im Spiel der Figureninteraktionen in der Lek‐ türe erschließen lässt. Dieses Spiel zielt auf die Sehnsucht nach Kohärenz in der aufs Ganze gerichteten episodischen Erzähltextur. Durch die erzählerische Ver‐ fremdungstechnik entsteht die Problematik einer Normalität des Selbstverlusts des Protagonisten, dessen Selbstsuche in der episodischen Erzähltextur als er‐ füllbare Sehnsucht fragmentiert erscheint. Oliver is often only a little parcel, one that frequently loses itself in swoons, faintings, mislayings, beatings, misnamings, and collapses, abused by the dense material and signifying practices by which we distinguish humans and animals, living and dead, ghosts and machines, selves and others, swerving aside into absences, robberies, kid‐ naps, coalholes, and funerals. 194 Identität als Fiktion richtet sich auf ein Sinnzentrum, das die subjektive Not und den Zwang, „ein Selbst sein zu müssen" 195 in den Blick nimmt - das große Thema des späten Dickens' Romans Great Expectations - und in seiner exzentrischen Positionalität unerfüllt bleibt. Die dynamische, heterogene Textur des Romans Oliver Twist lässt sich ab dem achten Kapitel des Romans ablesen. Diese ergibt sich nicht nur aus dem Veröf‐ fentlichungsrhythmus der Folgen, in denen der Roman publiziert wurde, auch nicht aus der Chronologie der erzählten Zeit und schon gar nicht aus der nu‐ merischen Kapitelfolge. Die heterogene Erzähltextur ergibt sich aus dem Dis‐ kursangebot des Romans, die Vereinnahmung des Protagonisten als problema‐ tische Durchkreuzung seiner Identitätsbildungsmöglichkeiten darzulegen. Erzählt wird Olivers Vereinnahmung durch den Kriminellen und seine Bande, Fagin (Chapters VIII -X), dann durch den Bürgerlichen und seine Begleiter, Brownlow (Chapters X- XV ), dann, gegen die Bande Fagins gerichtet, durch die Prostituierte Nancy (Chapters XVI - XXVIII ), dann wieder durch die Bürger‐ liche Rose und ihre Begleiter (Chapters XXVIII - XXXVI ), dann durch die er‐ neute Vereinnahmung Fagins und Monks', des Halbbruders Olivers (Chap‐ ters XXXVII - XXXVIII / XLII - LIII ), dann, erneut durch Rose und Brownlow (Chapters XXXIX - XLI / XLVIII - LIII ), der schließlich die Familien- und Ro‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 155 manintrige aufdeckt und auflöst (Chapter XLIX ), schließlich durch die erzäh‐ lerische Idylle, die bis zum Ende des Romans bedroht ist. Die Familien- und Romanintrige ist durch inhaltliche Überschneidungen und Parallelführungen sowie kontrastiv durch Komplementärfiguren verknüpft und wird von den Leser / innen, zum Teil bis in einzelne Kapitel hinein, in einer Re‐ zeptionshaltung, die durch Dispositionsfragen gelenkt wird, wie ein Puzzle zu‐ sammengefügt. Diese Rezeptionshaltung kommt bei experimentellen Romanen der klassischen Moderne erneut ins Spiel. Grafisch stellt sich diese kreative, kaleidoskopartige erzählerische Dynamik folgendermaßen dar: Abbildung 2 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 156 196 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 69-72. Das Gegeneinander dieser Komplemente, ihre narrative Komplexität, bewirkt den Erzählbruch, den der Roman zwischen Plot und hidden story gestaltet. Durch Monks' Erbschaftsintrige - die als Verlusterfahrung gestaltet, die Krise des mo‐ dernen Subjekts zum Ausdruck bringt - gerät die Handlung in Kapitel XLIX in Gang. Der Roman ist von seiner Plotauflösung her, die durch Nancy und dann durch Brownlow bewirkt wird, auch er ist in die Familienintrige verwickelt, zu erschließen. Am Romanbeginn steht die Erfahrung der Krise. Entflechtung der Krisenerfahrung bedeutet zentrifugale Aufdeckung einer neuen Verflechtung, nämlich der Intrige Monks'. Dieses dynamische Aufdecken einer Krise ist das Erzählen dieses Romans, durch einen Erzähler, der in das Geschehen durch Komplementärfiguren und die Aspektfigur Oliver verwickelt, also selbst eine Krisenfigur und somit unzuverlässig ist. Jede Figur, auch der Erzähler, steht zu ihrer Gegenfigur in einem komplementären Ähnlichkeitsverhältnis, das man als Familienähnlichkeit bezeichnen kann. Das poetische Verfahren überraschender Verflechtungen, Ähnlichkeiten und Gegenläufigkeiten (twist) verwickelt den Protagonisten in Familienintrigen und gesellschaftliche Entfremdungserfah‐ rungen, in Abgründe, in die er und die Leser / innen hinein- und herausgedreht werden (to twist). Dickens' poetisches Verfahren gegenläufigen Erzählens, das sich, traumanalog, selbst aufhebt, bringt selbstreflexiv eine Kulturdiagnose zur Krise moderner Subjektivität und modernen Erzählens im industriellen Zeitalter zum Ausdruck: Die moderne Welt ist in ihrer für die damalige Zeit noch über‐ raschenden Beschleunigung und Komplexität erzählerisch nur als Groteske dar‐ stellbar. Hier liegen Anknüpfungspunkte für heutige Leser / innen des dritten Lebensalters. Das poetische Verfahren der Gegenläufigkeit ist nicht nur anachronistisch, weil es die Vergangenheit Olivers als seine bedrohliche Gegenwart an ihn he‐ ranträgt. Anachronistisch ist es auch im Aufgreifen und Verändern traditioneller Motive des bürgerlichen Romans und der Romantik, die Dickens aus ihren Mus‐ tern herauslöst und in heterogene Atmosphären überführt. Dabei wurde ihm nicht nur William Hogarths Werk zur Inspirationsquelle. 196 Mit diesem poeti‐ schen Verfahren wirft Dickens zugleich die kulturgeschichtliche Erfahrung des Wir-Sie-Schemas auf, das Henry Mayhew in seinen 1850 bis 1856 erschienen 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 157 197 Henry Mayhew: London Labour and the London Poor: A Cyclopaedia of the Condition and Earnings of Those that Will Work, Those that Cannot Work, and Those that Will not Work, 4 Bde. London 1861-1862; repr. 1967; Henry Mayhew: Die Armen von London. Ein Kom‐ pendium der Lebensbedingungen und Einkünfte derjenigen, die arbeiten wollen, derje‐ nigen, die nicht arbeiten können, und derjenigen, die nicht arbeiten wollen. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Kurt Tetzeli von Rosador. Frankfurt / M: Eich‐ born 1996. 198 Die folgenden Ausführungen, nach: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt / M 2012, S. 84-101. Sozialanalysen London Labour and the London Poor anwendet. 197 Dickens Werk Oliver Twist jedoch durchkreuzt dieses Schema - dreht es um die eigene Achse. Das Wir-Sie-Schema ist eine kulturgeschichtliche Sozialerfahrung, 198 die das soziale Feld zwischen einer Gruppe und allen, die dieser Gruppe nicht ange‐ hören, aufteilt. In der europäischen Geschichte waren drei asymmetrische Wir-Sie-Konstellationen geschichtsprägend und verhängnisvoll: Hellenen-Bar‐ baren, Christen-Heiden, Menschen-Untermenschen. Diese Konstellationen beschreiben nicht die historische Wirklichkeit, son‐ dern setzen Ungleichheiten in die Welt, die sozial angeblich vorzufinden sind. Wechselseitigkeit wird sozial und historisch blockiert: Keiner wird sich frei‐ willig als Barbar oder als Untermensch bezeichnen. Die Bilder des Selbst und des Anderen verfestigen sich gegenseitig. Sie üben zugleich einen gruppenin‐ ternen Zwang auf die Wir- Gruppe aus und bewirken Abgrenzungen gegenüber der Sie-Gruppe. Diese Selbst-Bilder bleiben aber nur so lange stabil, wie ihre Bedingtheit verleugnet und die Anerkennung des Gegenübers verweigert wird. Genau betrachtet gibt es schon hier Überschneidungen und Umkehrfiguren, die das Schema durchbrechen, z. B. wenn man von edlen Barbaren oder frommen Heiden als Gegenfiguren zu ungebildeten Griechen oder gottlosen Christen spricht. Diese kulturgeschichtlichen Umkehrfiguren stellen eine groß angelegte Matrix für Erzählungen dar, weil Erzählungen weitaus beweglicher und viel‐ stimmiger sind als die Kombinationsmöglichkeiten von Begriffsschemata. In solchen Zusammenhängen figuriert der Erzähler als Choreograph der Differenz. Koschorke unterscheidet hier grundsätzlich zwei Optionen: Einmal eine plura‐ listische Option, die Vieldeutigkeiten in der Simultaneität einander wider‐ sprechender Handlungen in allen Sinndimensionen zulässt und, zweitens, eine polarisierende Option, mit der sich die Erzähler in den Dienst einer Polarisierung des Wir-Sie - Schemas oder Wir-Sie-Feldes stellen. Nach Koschorke gibt es Erzählwerke, in denen sich nicht einmal diese beiden Optionen ausschließen und oft widersprüchliche, instabile Mischverhältnisse eingehen. Je nach Gestaltung dieser Mischverhältnisse, vergrößert sich der Spielraum der Erzähler. Erzähltechnische Fragestellungen gehen über in kul‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 158 199 Sigmund Freud: „Das Unheimliche“ (1919h). GWXII, S. 227-268; Anneleen Massche‐ lein: The Unconcept. The Freudian Uncanny in Late-Twentieth-Century Theory. New York 2011; Nicholas Royle: The uncanny. Manchester: Manchester University Press 2015. 200 Monika Fludernik: „The Eighteenth-century Legacy"…, a. a. O., S. 74. 201 Charles Dickens: „The Author’s Preface To The Third Edition“ (April 1841), in: Charles Dickens: Oliver Twist. Edited by Kathleen Tillotson… a. a. O. turgeschichtliche Problemlagen. Dies lässt sich in Dickens‘ Roman Oliver Twist beobachten. Der Erzähler bzw. die Erzähler des Oliver Twist gestalten die plu‐ ralistische Version des Wir-Sie-Schemas im instabilen Mischverhältnis von Um‐ kehrfiguren. Es entsteht die narrative Ausdrucksgestalt des Unheimlichen, die nicht als einfache Negation von heimlich, sondern als Verstärkung des Unheim‐ lichen im Heimlichen zu verstehen ist. Mithin entsteht die ambivalente Erzähl‐ struktur des Unheimlichen. 199 Vergleicht man Mayhews sozialkritische Analyse mit Dickens‘ poetischem Verfahren, das er im Oliver Twist anwendet, so ergibt sich, dass Mayhew die Situation der Armen sozialanthropologisch analysiert, Dickens hingegen eine polyvokale Erzählwelt entwirft, Mayhew das Wir-Sie-Schema als binäre Oppo‐ sition quasi naturwissenschaftlich einsetzt, Dickens hingegen polyvalent sub‐ jektiv erzählt, Mayhew Armut als naturgemäß gegeben sieht, Dickens das Wir-Sie-Schema in den Umkehrfiguren Bürgerliche-Krimenlle durchkreuzt, Mayhew die Armen als Gegentypen zu viktorianischen Bürgern wahrnimmt, die sich im internen Gruppenzwang von den Armen abgrenzen, Dickens hin‐ gegen diesen Zwang narrativ als Unheimlichkeit beleuchtet, Mayhew, in epo‐ chaler Nähe zur Französischen Revolution, Angst vor sozialen Umstürzen zum Ausdruck bringt, Dickens hingegen dieses bürgerlichen Angstpotenzial leser‐ bezogen in Angstlust und Erzählfreude umwandelt, Mayhew mit Intellekt und Gefühl argumentiert, Dickens hingegen Imagination und Reflexion seiner Leser / innen anregt, Mayhew bürgerliche Positionen des 19. Jahrhunderts re‐ signierend hinnimmt, Dickens hingegen eine kreative Vision möglicher Verän‐ derung evoziert. Dickens' Innovation, die einen neuen Romantyp hervorbringt, liegt demzu‐ folge in der Transzendierung realistischen Schreibens durch „(…) fantasy, ima‐ ginative distortion, and fairytale-like grotesquerie.” 200 Nimmt man Dickens' In‐ tention hinzu, eine Denunzierung seiner Erzählfiguren - auch und gerade der unteren gesellschaftlichen Schichten - zu vermeiden, wie er im Vorwort von 1841 betont 201 , so stößt man auf das kompositorische Zentrum seines erzähler‐ ischen Verfahrens. Die Dichtheit widersprüchlicher Metaphern bewirkt die Komplexität seiner Erzählwelten. Diese Dichtheit entsteht im Oliver Twist durch Komplementärfiguren, die durch wechselseitige, asymmetrischen Kontraste zu 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 159 202 Brian Cheadle: „Oliver Twist”, in: David Paroissien (ed.): A Companion to Charles Di‐ ckens…, a. a. O., S. 308-317, S. 312. 203 J. Hillis Miller: Charles Dickens. The World Of His Novels. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1958, S. 68. Komplementärfiguren Brownlow und Fagin Umkehrfiguren werden: Brownlow und Fagin, der Bürgerliche und der Krimi‐ nelle; Rose und Nancy, die Bürgerliche und die Prostituierte, Fagin und Oliver, Oliver, Fagin und der Erzähler, beispielsweise, sind invers angelegte Spiegelfi‐ guren, die eine komplexe Intrige spinnen, in deren Mitte der Protagonist hin und her gewendet wird (twist). Dieses Verfahren ermöglicht die Vermeidung einer Fremd- oder Selbsterniedrigung der Erzählfiguren der Unterschicht bzw. der Außenseiter, und es ermöglicht die Mischung aus märchenhaften, grotesken und realistischen Erzählelementen. In dieser Verfremdungstechnik ist innovative Sentimentalität Teil der ästhe‐ tischen Konzepts: Als Kehrseite krimineller Machenschaften verliert dieses äs‐ thetische Kulturmuster seinen Selbstzweck und verstärkt kontrastiv den Verrat am Menschlichen. Bei keinem der literarischen Vorläufer des 18. Jahrhunderts wird die fragile Situation von Waisen und Kindern, ihr Außenseitertum, ihre Stigmatisierung als Opfer, ihre Vernachlässigung, die an ihnen begangenen Grausamkeiten so herausgehoben wie in Dickens' Erzählwelten. So kann Di‐ ckens‘ Einsatz sentimentaler Passagen weniger als naiver Idealismus, eher als „(…) the mainspring on which humane survival precariously depends (…)”, im Sinne einer ästhetischen Protesthaltung oder Camouflage gegenüber den utili‐ taristischen Tendenzen des Zeitalters gelesen werden. 202 Der Entzug der Artikulationsfähigkeit des Protagonisten, der durch den Er‐ zähler und seine Substitutserzähler invers komplementiert wird, entwickelt sich zur furiosen narrativen Quelle dieses Romans und wird zum Sinnangebot für seine erwachsenen Leser / innen: „The main axis of the nuclear structure of Oliver Twist is a fear of exclusion which alternates with a fear of enclosure. Between these two poles the novel oscillates.“ 203 Der in der Exposition erzählte Anschein des Geschichtlichen und der Plau‐ sibilität wird in den Kapiteln VIII - LII verknüpft mit einer Widervernünftigkeit der Welt, in der die Macht, den Protagonisten zu schützen und zu erziehen wechselwirksam immer in die falschen Hände gerät. Das Irresein der Welt zeigt sich in der kontrastiven Komplementärführung der Hauptfiguren Brownlow und Fagin, Rose und Nancy. Ihre geheime Verwandt‐ schaft symbolisiert das Individuum als Rätsel, das mathematisch-utilitaristische Berechnung unterläuft: Brownlow, Fagin, Rose und Nancy interagieren als ver‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 160 204 Brian Cheadle: „Oliver Twist”…, a. a. O., S. 311. wandte Fremde. Das ist ihre kulturgeschichtliche Gemeinsamkeit. Erzählerisch entsteht diese Gemeinsamkeit aus ihren Differenzen: Brownlow und Rose ge‐ hören der bürgerlichen, Fagin und Nancy der kriminellen Welt an. Jedoch kom‐ plementieren sie sich durch frappierende Ähnlichkeiten: Fagin weist seine ju‐ gendliche Diebesbande wie Lehrlinge in das Geschäft des Stehlens ein und verwaltet im Hintergrund die Beute. Der Erzähler intensiviert diesen Eindruck, indem er den Protagonisten Oliver in diesen Fällen als Beobachter einsetzt, also als Aspektfigur für die Leser / innen und als Surrogaterzähler. Fagin insistiert wiederholt darauf, dass seine Diebesbande sich „in the way of business“ (Chapter XLII ) befindet. Immer wieder wird Fagin als Erzählfigur eingesetzt, die ge‐ schäftliche Verhaltensweisen des Jahrhunderts parodiert 204 , jedoch nicht als ko‐ mische Figur, sondern als lebensbedrohliche Unternehmerfigur; lebensbedroh‐ lich für seine Bande und für Oliver, letztlich auch für sich selbst. Durch Verrat endet er in der Todeszelle, in der er strukturell der Brownlowfigur, in Bezug auf den Empathieverlust durch gesellschaftliche Anerkennung - Brownlow verlor seine Geliebte, die Schwester des Halbbruders Olivers (Chap XLIX ) durch ihren frühen Tod - am ähnlichsten ist. Fagins Todesangst und Brownlows Trauerar‐ beit, die er durch Oliver leistet, sind als narrative Analogien zu verstehen. Fagins Bande hält durch den mündlich vereinbarten Vertrag zusammen, sich gegenseitig nicht zu verraten. Sie sichern ihre Stabilisierung durch den cash-nexus ab, der ihren Eigennutz, ihre soziale Bindung und ihre spielerische Flexibilität, die sie illegal praktizieren, schützt. Fagin darf diesen Vertrag bre‐ chen. Aus Eigeninteresse kann er seine Bande an den Strang und Oliver an das Messer seines Halbbruders Monks liefern und tut dies auch. So entsteht die anachronistische Romanintrige, die die Leser / innen erst vom Ende des Romans her erschließen. Auch Brownlow ist eine unternehmerisch angelegte Autoritätsfigur. Wäh‐ rend er das Gesetz vertritt, setzt Fagin sich an die Stelle des Gesetzes. Diese romanhafte Inversion ist märchenhaft und wirkt sich auf die Handlungsführung im Sinne einer Anziehungs- und Abstoßungsenergie aus, die das Anliegen zum Ausdruck bringt: Selbstgewinn an Identität bedeutet Selbstverlust in der jeweils anderen Welt der Kriminellen oder Bürgerlichen. Brownlow spielt mit diesem Einsatz ebenso wie Fagin. Brownlow weist Oliver an zuverlässig und hand‐ werklich zu sein (Chapter XV ). Er ist, wie Fagin, aufbrausend und freundlich (Chapters VIII , XIV ), also unberechenbar. Er kommt und geht, wie Fagin, in das und aus dem Romangeschehen (Chapters X, XXXII ). Wie Fagin spinnt er Int‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 161 205 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter X, S. 70. 206 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter X, S. 73. rigen, um Oliver halten (Chapters XLI , XLIX ) und seinen Zwecken einfügen zu können (Chapters IX , XLI ). Brownlow wird, wie Fagin, quasi filmisch und durch eine für Oliver und die Leser / innen überraschende Plötzlichkeit in das Erzählgeschehen eingeführt (Chapters VIII , X): The three boys sallied out; the Dodger with his coat-sleeves tucked up, and his hat cocked, as usual; Master bates sauntering along with his hands in his pockets; and Oliver between them: wondering where they were going: and what branch of manu‐ facture he would be instructed in, first. 205 Die Gruppe, Oliver abgesichert in ihrer Mitte, schlendert durch die Straßen Londons. Die Jungen stehlen hie und da Äpfel, dann treten sie aus einem engen Gässchen heraus, (…) not far from the open square in Clerkenwell (…) when the Dodger made a sudden stop; and, laying his finger on his lip, drew his companion back again, with the greatest caution and circumspection. 206 Brownlow wird, für Oliver überraschend, von den drei jugendlichen Dieben überfallen und bestohlen, bleibt erschrocken als falsch beschuldigter Täter zu‐ rück, die beiden anderen entkommen. Wie Fagin in sein Kästchen vertieft ist, indem er heimlich Diebesgut aufbewahrt (Chapter IX ), ist Brownlow in dieser Szene in das Buch vertieft (Chapter X), das er, erschrocken durch den Überfall, ohne zu bezahlen, mit aufs Gericht nimmt, wo Oliver als Täter überführt werden soll (Chapter XI ). Die in drei aufeinander folgenden Kapiteln erzählte Engführung der Analogie zwischen dem Kriminellen Fagin und dem Bürgerlichen Brownlow entsteht durch die parallele situative Einführung Fagins und Brownlows aus Olivers zu‐ nächst ahnungsloser Sicht, durch Fagins und Brownlows Begutachtung des il‐ legal erworbenen Eigentums, ferner durch die Überraschung und Brutalität, mit der Oliver und damit die Leser / innen mit diesen Erzählfiguren in Kontakt kommen, schließlich durch die akzellerierende filmbildliche Auflösung beider Szenen (Chapters IX , X). Diese narrativ enggeführte Analogie zwischen bür‐ gerlicher und krimineller Erzählfigur wird in Bezug auf die spiegelbildlich ge‐ setzten weiblichen Figuren, die Bürgerliche Rose und die Prostituierte Nancy, bis zu Nancys Ermordung durch Sikes, weiter geführt. Während das geschäfts‐ mäßige Gebaren Brownlows und Fagins in Parallelen gesetzt ist, werden die Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 162 207 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XIV, S. 103-104. engelhafte Rose und die Prostituierten durch Empathie in einem analog inversen Verhältnis zu einander gestaltet. Nachdem Oliver sich in Brownlows Haus erholt hat, formuliert Brownlow einen mündlichen Vertrag: ‘Now (…) I want you to pay great attention, my boy, to what I am going to say. I shall talk to you without any reserve; because I am sure you are as well able to understand me, as many older persons would be (…) you need not be afraid of my deserting you, unless you give me cause (…). I have been deceived before, in the objects whom I have endeavoured to benefit; but I feel strongly disposed to trust you, nevertheless; and I am more interested in your behalf than I can well account for, even myself. The persons on whom I have bestowed my dearest love, lie deep in their graves; but, although the happiness and the light of my life lie buried there too, I have not made a coffin of my heart, and sealed it up, for ever, on my best affections. Deep afflictions has but strengthened and refined them.” 207 Brownlow spricht värterlich offen mit Oliver und vertraut ihm das Geheimnis seiner Resilienz an, die von seiner Trauer um seine früh verstorbene verlorene Geliebte herrührt. Auch Fagin, aus dessen vorgeblichem Schutz Brownlow Oliver rettete, teilt, allerdings ohne Absicht, mit Oliver ein Lebensgeheimnis, die Schätze seines Kästchens (Chapter IX , S. 66), die er vor seiner Bande ver‐ steckt hält. Fagin wird an dieser Stelle aus heterodiegetisch-homodiegetischer Erzählerperspektive als „old gentleman“ (Chapter IX , S. 66), Brownlow aus der heterodiegetischen Erzählersicht an der Parallelstelle ebenso als „old gen‐ tleman“ (Chapter XIV , S. 104) bezeichnet. Brownlow verspricht Oliver, ihn unter der Bedingung zu schützen, dass Oliver das Vertrauen nicht bricht, weil er an Oliver ein ihm selbst unerklärliches Interesse hat. Dieses Unerklärliche wird der Plot gegen Ende des Romans auflösen: Brownlow war ein enger Freund von Olivers Vater und sollte eben jene Frau, die Tante des Halbbruders Olivers (Monks) heiraten (Chapter XLIX ), von der er zu Oliver in Andeutungen in Kapitel XIV spricht. Brownlow wird narrativ in die Nähe eines verwandtschaftlichen Verhältnisses, nicht nur mit dem Kardi‐ nalverbrecher Monks gerückt, der, in die Vorgeschichte Olivers verstrickt ist, sein Erbe illegal beansprucht und ihm, in Zusammenarbeit mit Fagin, nach dem Leben trachtet. Brownlow wird, über Monks und den Erzähler, in ein inverses Verwandtschaftsverhältnis mit Fagin gerückt. Wie Fagins Bande auf wechselseitigem Vertrauen basiert, das nur Fagin si‐ chern und brechen kann, indem er die Mitglieder an den Strang liefert - später 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 163 208 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XLIII, S. 349. 209 David Paroissien: The Companion to Oliver Twist… a. a. O., S. 268; Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner 2008, S. 95-102. 210 David Paroissien: The Companion to Oliver Twist…, a. a. O., S. 124. kommt Nancy ihm zuvor, um Oliver zu retten, deshalb wird sie von Sikes brutal ermordet -, wie Fagin also eine Machtinstanz ist, die die Mitglieder seiner Bande schützen und der Gerichtsbarkeit ausliefern kann, ist Brownlow eine Autorität, die Oliver schützen oder verstoßen kann. Kurz darauf fordert Brownlow von Oliver einen utilitaristisch gedachten Vertrauensbeweis, der ein Echo in Fagins mündlichen Vertrag findet, den Fagin in London in „The Three Cripples“ mit Bolter, alias Noah Claypole, abschließt. Zunächst gibt Fagin Bolter den Rat, zum Galgen als Wegweiser in den Tod Distanz zu halten. Dann fährt er fort: „‘To be able to do that, you depend upon me. To keep my little business all snug, I depend on you (…).‘“ 208 Brownlows Vertrag mit Oliver und Fagins Vertrag mit Bolter sind als Analogien zu verstehen. Im Einverständnis mit seinem Freund, dem skurrilen Grimwig, schickt Brownlow Oliver aus dem Haus um dem Londoner Buchhändler ausgeliehene Bücher zurück zu bringen, wissend, dass Oliver in größte Gefahr geraten kann, nämlich - wie die Leser / innen erschlossen haben - durch Fagins Bande, die ihn wieder einzufangen trachtet. Genau das geschieht. Zudem lässt Brownlow Oliver im Stich: Er tritt aus dem Romangeschehen heraus (Chapter XXXII ), ist abwesend. Erst später (Chapter XLIX ) zeigt sich, dass er als Geschäftspartner der früheren Familie, der Oliver entstammt, in die ehemaligen Kolonien in die Karibik reiste, um Olivers Herkunft und seine Verbindung zu dem Kriminellen Monks‘, Olivers Halbbruder, aufzudecken. Brownlow ist also nicht als benevolenter Gegenpol zu benthamitischen Ei‐ geninteressen gestaltet, vielmehr kooperiert die Brownlow-Figur mit ehema‐ ligen Sklavenhaltern, deren kommerzielle Erfolge der Halbbruder Olivers Monks durch Geschäftspraktiken der Westindischen Kompanie erbte, die mit Tabak und Zucker handelte. In seinem Großkommentar zu Dickens‘ Roman Oliver Twist vermutet David Paroissien, „Monks’s estate” sei „(…) a property Monks evidently inherited from his father, whose unspecified commercial in‐ terests (most likely a sugar plantation) were based on trade with England.” 209 Brownlows Benevolenz ist also nicht - wie oft bemerkt - märchenhaft und sen‐ timental, obgleich sie Shaftesburys Ethik anklingen lässt, 210 vielmehr bringt sie benevolentes Eigeninteresse zum Ausdruck, das zudem - von Olivers Vorge‐ schichte her und durch den heterodiegetisch-homodiegetischen Erzähler - in eine familienaffine Beziehung zu den Kriminellen Monks und Fagin gerückt wird. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 164 211 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O., S. 57, Fn 101. 212 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O., S. 70 (Her‐ vorhebung von Herrlinger). 213 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O., S. 64. 214 Paul Goetsch: Dickens. München: Artemis 1986, S. 47. 215 David Parroissien: The Companion to Oliver Twist… a. a. O., S. 189-190; Juliet John: Dickens's Villains…, a. a. O., S. 124, S. 114-115. Brownlows Eingriffe ändern nichts am Leiden Olivers und an den gesell‐ schaftlich strukturellen Gewaltverhältnissen, die Brownlow affirmiert und die Oliver viktimisieren. Auch Brownlow „befindet sich ständig in Gefahr, zum Opfer“ 211 der Kriminellen zu werden, deren komplementärer Teil er ist. Sein benevolentes Eigeninteresse ist ebenso wie das Fagnis gefährdet. Es wird durch Fagins Geschäftsgebaren parodiert, das sich störend und doch vergeblich in die Auflösung der Romanintrige durch Brownlow einfügt. Für den Protagonisten bedeutet dies den unvorhergesehenen Verlust seiner Beschützer, sei es des Bürgerlichen Brownlow, sei es des Kriminellen Fagin. Beide sind kultur- und gesellschaftskritisch gestaltete „defizitäre() guardians“ 212 , die nicht Gewissen und Tugend, wie im Roman des 18. Jahrhunderts, dar‐ stellen, 213 sondern in ihrer spiegelbildlichen Gestaltung die Ohnmacht schütz‐ ender Autorität, angesichts einer korrumpierenden Konkurrenzgesellschaft. Rezipient / innen des dritten Lebensalters können in dieser verwirrungsäs‐ thetisch angelegten Figurenkonstellation, die es als Unschärferelation im Er‐ schließen des Romans Oliver Twist schwer macht „Realität und Phantasie, ob‐ jektives Geschehen und subjektives Erleben, voneinander zu unterscheiden“ 214 , Mechanismen der Verneinung der eigenen Verletzlichkeit (Fagin), der Resilienz (Brownlow), der Unzulänglichkeit (Brownlow, Fagin) und des Bösen (Fagin und invers Brownlow) sowie den Verrat am Menschlichen, den Verlust und die Un‐ glaubwürdigkeit schützender Autoritäten sowie die individuelle Isolierung ihrer Nachkriegskindheit erschließen und kultursemiotisch in Gesprächen reflek‐ tieren. In der Mitte des Romans, in Kapitel XXVI , taucht der zentrale Gegenspieler des Protagonisten, sein älterer Halbbruder Monks, auf; eine Figur deren Name möglicherweise ein Zitat des Protagonisten des Schauerromans Monks von Mat‐ thew G. Lewis ist. 215 Der Halbbruder Olivers in Dickens' Roman instrumentali‐ siert den Hehler Fagin. Monks will Oliver um sein rechtmäßiges Erbe betrügen. Dieser entstehende Gegenplot ist so in den Plot verwoben, dass jede der Posi‐ tionen der Figuren und Erzählsequenzen ex negativo in ihre Gegenposition transferiert und als Verschiebung ihrer Gegenseite bzw. als ihr Vergessenes oder 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 165 216 David Paroissin weist in seinem Stellenkommentar zu Dickens' Roman Oliver Twist in Bezug auf Kapitel IX und XXXIV darauf hin, dass Dickens Robert Macnishs (1802-1837) Schriften zur Traumerfahrung kannte und in seiner Bibliothek hatte. Es handelt sich um dessen Philosophy of Sleep (1830) und Anatomy of Drunkenness (1827); David Paroissin: The Companion to Oliver Twist…, a. a. O., S. 101, S. 217; Sigmund Freud hat die oben beschrieben Verschiebungsenergie unter Bedingungen psychanalytischen Forschens als Traumarbeit bezeichnet. Siehe dazu auch sein Traumbuch, seinen Aufsatz „Das Unheimliche" und seine kulturtheoretischen Schriften, sowie Eveline List: Psy‐ choanalytische Kulturwissenschaften…, a. a. O. 217 H. M Daleski: Dickens and the Art of Analogy. London: Faber and Faber 1970, S. 49-54. 218 Hitchcocks Film Psycho ist nach dem gleichen Muster gebaut; Hinweis einer Teilneh‐ merin des Seminars. 219 john bowen: „dickens and the force of writing", in: john bowen & robert l. patten (ed.): charles dickens studies. Houndsmill: Palgrave 2006, p. 264. Verdrängtes wiederkehrt. 216 Es entstehen Wiederholungen, die als analoge Si‐ tuationen und als Figurenspiegelungen gestaltet werden und in bedrohte Idyllen einmünden. 217 Sie bestimmen als Erzählenergie den Erzählstrom und finden Er‐ lösung von den Zwängen instrumenteller Vernunft - dem Utilitarismus als Teil liberalistischer Ideologie - im Gegenspiel der Intrige von Plot und Gegenplot, das mit der Intrige im Kapitel XXVI , Monks unerwartetem Auftritt, beginnt und deutungsanregend wirkt, zugleich aber autoreferenziell auf das Romanende und den Romanbeginn Bezug nimmt. Dieser Erzähl- und Erwartungsbruch bewirkt, dass der Roman von seinem Ende her chiastisch zu lesen sei 218 : (Dickens') novels show not a search for perfection but an exploration of the strange‐ ness and multiplicity of the self and the relation of that strangeness to our relations to others. What we encounter in Dickens is not a search for private perfection on the one hand and a sense of human or social solidarity on the other, but a constant mutual implication of the two. Such a link is at the heart of many of Dickens's greatest novels (…). 219 Der Roman gestaltet dieses In- und Gegeneinander in der prismatischen Bre‐ chung bürgerlicher Verhaltensweisen als Überblendung von benevolentem und malevolentem Eigeninteresse. Im Irrealis wird er zum Gedächtnismedium, das die moderne Welt und die in ihr bedrohte Subjektivität als Inversion faktischer Realität, nämlich als Groteske, darstellt. Die Zuspitzung dieser Zeitdiagnose, die in gestaffelten Verweisen auf den Erzähleingang, die Geburt des Protagonisten, zurückweist, besteht in der Parodie utilitaristischer und intriganter geschäftli‐ cher Gebaren, die der Erzählfigur Fagin zugewiesen werden (Chapter XLII ) und die bereits bei Mr Bumble, dem Armenhausbüttel und Mr Fang, dem Richter in den Eingangskapiteln, zum Ausdruck kamen. Sie wird in der Begegnung zwi‐ schen Fagin und Noah Claypole zur Parodie gesteigert. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 166 220 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XLII, S. 344-345. 221 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XLII, S. 347. 222 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XLIII, S. 348. Noah Claypole und Charlotte, die am Romanbeginn als Antagonisten Olivers und gesellschaftlich determinierte, korrupte Persönlichkeiten dargestellt wurden, haben die Geldkassette ihres Dienstherrn, Sowerberry, gestohlen. Sie‐ benunddreißig Kapitel später, in der Erzählgegenwart des Kapitels XLII , geraten sie auf ihrer Flucht und auf der Suchen nach neuen Lebenschancen, in Analogie zu Olivers Flucht, auf Umwegen nach London, wo sie in der Kaschemme „The Three Cripples" in die Hände des Kriminellen Fagin fallen: „There is not a safer place in all this town than is the Cripples" 220 , erläutert Fagin dem Neuankömm‐ ling Claypole, den er als Spion in Bezug auf Olivers Erbe und Nancys Verrat einsetzen wird. Fagin wiegt den jugendlichen Delinquenten Noah, ebenso wie Oliver in Kapitel VIII , in dieser Erzählpassage in Sicherheit. Parallelisierung, Steigerung und eine Reihe von Zufällen fügen diese Passage selbstreferenziell in die Zufallstextur des Romans ein. Fagin weist Noah, der sich als Bandenmitglied Morris Bolter nennt, 221 in das Leben und die Philosophie des Verbrechens ein. In parodistischer Umkehrung der Philosophie, die auch der bürgerliche Erlöser Olivers, Brownlow vertritt, erklärt Fagin, dass die wichtigste Idee der Welt die sei, dass jeder an sich selbst zu erst zu denken habe. Die Inversion der bürgerlichen Philosophie des Utilita‐ rismus liegt darin, dass der Kriminelle Fagin vom Glück der größten Zahl unter der Bedingung unterbundenen Verrats spricht. Fagins Bande hält unter der Be‐ dingung zusammen, dass keiner den anderen verrät und jeder den anderen als Dieb übertrifft. Möglichkeiten des Verrats und Konkurrenzchancen ergänzen sich als upside-down Ideologie bürgerlichen Akkumulations- und Konkurrenz‐ denkens in der Rede des Kriminellen Fagin: ‘Every man's his own friend, my dear' replied Fagin (…).’In a little community like ours, my dear', said the Jew, who felt it necessary to qualify his position, 'we have a general number one; that is, you can't consider yourself as number one without con‐ sidering me too as the same, and all the other young people.' 'Oh, the devil! ' exclaimed Mr Bolter. 222 Verbunden mit Fagins durch Mimik und Gestik unterstrichenen Drohungen, die Bandenmitglieder könnten jeder Zeit am Galgen den Tod finden, geraten Noah, alias Mr. Bolter und Charlotte, ähnlich wie Oliver und Nancy, in die unaus‐ weichliche Verstrickung krimineller Machenschaften: Diese können, weil Fagin sich in krimineller Absicht an die Stelle des bürgerlichen Gesetzes setzt, als spiegelverkehrte Seite bürgerlicher Gesellschaftsverhältnisse und - durch An‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 167 223 David Paroissien: The Companion to Oliver Twist…, a. a. O., S. 248. 224 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XL, S. 322. Komplementärfiguren Rose und Nancy spielungen auf und in Absetzung von John Gays einflussreichen Diebesportraits in The Beggar's Opera (1728) 223 - als burleske Utopie subjektiver Autonomiebil‐ dungsmöglichkeiten verstanden werden. Gays Opera ist als Subtext dieser Stelle eine ironische Pointe. Sie lebt von Illusionsbrüchen, die später Bertold Brecht zur Dreigroschenoper inspirierten. Noch vor Darwins Forschungen und Folgerungen unterläuft diese Roman‐ stelle ein dem Utilitarismus eingeschriebenes Machtmodell, das dem Stärkeren, unter dem Vorwand der Partizipation, unter Todesdrohung, den Vorrang ein‐ räumt. Noah Claypole, alias Mr Bolter, der ein potenzieller Nachfolger Fagins ist, antwortet Fagins dämonischem Angebot prompt: „Oh, the devil! ". Kurz vor der sich anschließenden Hinrichtung Fagins, formuliert der Roman Oliver Twist an dieser Stelle eine textlich zurück- und vorausweisende tiefengestaffelte Speerspitze gegen instrumentelle Vernunft. In mehrfacher Hinsicht, u. a. auch durch den Surrogaterzähler Fagin, nimmt der Roman an dieser Stelle, noch vor den unterschiedlichen Schlusstableaus (Fagin in der Todeszelle, Oliver am leeren Grab seiner Mutter), autoreferenziell Stellung zu den Varianten des Grundmotivs seiner erzählten Welt, dem Tod im Leben der Moderne. Dieses Grundmotiv erteilt der utilitaristisch instrumentellen Vernunft des industrialisierten Zeitalters, in der ästhetischen Stellungnahme zur Verleugnung des Todes in der Moderne und der daraus resultierenden Inhumanität, in der Parodie unternehmerischer Effizienz, unzuverlässiger oder illegitimer Autorität, in der inversen Hervorhebung von Zuverlässigkeit durch Gesetzesübertretung, schließlich in der erzählerischen Gestaltung einer abwesenden Präsenz persön‐ licher Möglichkeiten der Identitätsbildung, eine scharfe Absage. Während sich die Geschäftsgebaren Brownlows und Fagins parodistisch spie‐ geln und das Identitätsspiel des Romans in Gang halten, ergänzen die Komple‐ mentärfiguren Rose und Nancy diese groteske Parodie durch eine auf wechsel‐ seitiger Anerkennung beruhende Empathie (Chapter XXXIX , XL ), die die Romanintrige ihrer Auflösung zuführt und den Sprung in die märchenhafte Vi‐ sion der Schlusstableaus vorbereitet. Analog gesetzt sind Nancys verwüstete Kindheit 224 und Roses mit einem Makel behaftetem familiären Hintergrund. Rose ist, weil sie aus der außerehe‐ lichen Beziehung einer reichen, zerrütteten Familie stammt, „‘a friendless, por‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 168 225 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXV, S. 279. 226 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 103. 227 H. M. Daleski: Dickens and the Art of Analogy…, a. a. O., S. 75. 228 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 99-104. 229 H. M. Daleski: Dickens and the Art of Analogy…, a. a. O., S. 75. 230 Brian Cheadle: „Oliver Twist“…, a. a. O., S. 315-316. 231 Valerie Purton: Dickens and the Sentimental Tradition…, a. a. O., S. XXI, S. XXVI. tionless girl, with a blight upon (her) name‘“ 225 und somit, wie die Prostituierte Nancy, nicht legitimiert, eigene biografische Entscheidungen zu treffen. Rose, die die Schwester von Olivers Mutter Agnes ist - Agnes war eine außereheliche Geliebte von Olivers Vater - muss ledig bleiben, sie weist die Liebeserklärung Harrys ab (Chapter XXXV ); Nancy steht in der Gewalt Fagins und Sikes‘. Sikes ermordet Nancy, weil sie Oliver für Brownlow wieder entdeckt, also die krimi‐ nelle Bande verrät (Chapter XLVII ). Wie Oliver pendelt Nancy auf der Inhaltsebene zwischen der Welt der Bür‐ gerlichen und der der Kriminellen und beide Repräsentanten halten Nancy für gestört, hysterisch bzw. für verrückt. 226 Wie Nancy ist auch Rose gesundheitlich und mental bis zur Todesgefahr hin anfällig. Beide Frauenfiguren sind auf der anthropologischen und ethischen Ebene, der Darstellungs- und Ausdrucksebene des Romans, als „counterparts“ 227 angelegt, deren unterdrückte Sexualität, die durch Herrschaftsansprüche unterdrückte Natur symbolisiert. Diese wird in der melodramatischen Bildlichkeit dieser Passagen noch hervorgehoben. Die nar‐ rative Konstruktion dieser Spiegelfiguren treibt zudem die Auflösung von Plot und Gegenplot voran 228 und antizipiert als ihrerseits inverse Gegenspiegelung des Protagonisten, 229 den visionären Sprung ins Märchenhafte des Schlusstab‐ leaus. Alle drei Frauen, die Bürgerliche Rose, ihre Schwester Agnes und die Prostituierte Nancy sind, wie der Protagonist, Innovationsfiguren des romanti‐ schen Topos, viktimisiert und heimatlos. Ihre persönliche Identität baut sich auf Versagung eigener Bedürfnisse in einer durch Gewalt bestimmten Gesellschaft auf. 230 Erzähldynamisch werden in diesen Romankapiteln Nostalgie, Subversion und Humanität kulturkritisch miteinander verknüpft. 231 Die narrative Senti‐ mentalisierung dieser Passagen weist zurück auf die Rationalität zerstörerischen Eigeninteresses, die der Roman von Anfang an in den Blick nimmt. Die erzählerisch dargestellte Erfahrung gesellschaftlicher Kälte, also einer Abwesenheit von Zuneigung und Anerkennung, unter der diese Frauenge‐ stalten, wie auch der Protagonist leiden, findet ihre komplementäre Erfüllung in der Fiktion der erzählten Welt des Oliver Twist. Als Retterinnen Olivers trans‐ formieren sie die Romanintrige in einen positiven Schluss, der durch Nancys hervorgehobene Humanität vorbreitet wird. Über Nancy führt der Erzähler aus: 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 169 232 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XL, S. 322. Metropole und Idylle, Schlaf, Traum und Tod The miserable companion of thieves and ruffians, the fallen outcast of low haunts, the associate of the scourings of the jails and hulks, living within the shadow of the gallows itself, - even this degraded being felt too proud to betray a feeble gleam of the womanly feeling which she thought a weakness, but which alone connected her with that hu‐ manity, of which her wasting life had obliterated so many, many traces when a very child. 232 Der positive Schluss des Romans erreicht angesichts der Groteske der Welt, die Implausibilität einer märchenhaften Realität und weckt Plausibilitätsfragen der Leser / innen. Auf der Grundlage des Zeit- und Raumgefüges des Romans setzt der Protagonist als Repräsentations- und Aspektfigur die beiden kontrastiven Welten in komplexe, komplementäre Beziehungen. Indem er die Abwesenheit der jeweils anderen spiegelt, verzahnen ab dem achten Kapitel Kontrastkop‐ plungen und Kontingenzen, bis in einzelne Kapitel hinein, die episodische Er‐ zählweise des Romans Oliver Twist. Mit den komplementären Spiegelfiguren korrespondieren die invers angelegten Spiegelungen Metropole und Idylle, Schlaf, Traum und Tod. In ihrem In- und Ge‐ geneinander unterlaufen sie Möglichkeiten einer erzählerischen Kontinuität, die durch das Raum-Zeitgefüge des Romans gestützt werden kann. Wie auf der Ebene der Figureninteraktion entsteht ein diffuser Sinnzusammenhang aus Plot, Gegen-Plot und mehrfachen Figurenverdopplungen, der auch den heterodiege‐ tisch-homodiegetischen Erzähler an der Aufgabe scheitern lässt, Ordnung, Chronologie und Kohärenz herzustellen. Motive des Zerfalls und der Auflösung dominieren die labyrinthischen Szenen der Metropole London, ihre vom Zerfall gezeichneten Gebäude, ihre vom Sozialleben abgeschotteten dunklen Räumen mit den Falltüren und einem dif‐ fundierendem Licht, sie dominieren eine mörderisch reißende Themse, in der die Identitätsbeweise Olivers vernichtet werden (Chapter XXXVIII ). Zerfall und Auflösung werden zu Symbolen des Todes und begleiten den Protagonisten Oliver in düsterer Grundtönung durch die korrupte Metropole London. Roman‐ haftes Erzählen, die mögliche Stabilität von Zeit und Raum werden durchgehend in groteske und märchenhaft gestimmte Zeit- und Raumstimmungen transfor‐ miert, die in ihrer subjektiven Wahrnehmungskorrespondenz zeitdiagnostisch weder den Figuren, noch den Rezipient / innen Orientierungsmöglichkeiten bieten. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 170 233 Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 51. 234 Annegret Maak: Charles Dickens. Epoche-Werk-Wirkung. München Beck 1991, S. 73. 235 Angelika Corbineau-Hoffmann: Kleine Literaturgeschichte der Großstadt…, a. a. O., S. 58. Die Auflösung des zeitlichen Erzählgerüsts entsteht dadurch, dass Dickens seine Erzählfiguren „in die Szenerien des Großstadtlebens“ hinein kompo‐ niert, 233 sodass in der Wechselwirkung zwischen Hintergrund und Figur, Ding- und Menschenwelt Bilder des Zerfalls und bedrohlicher Dunkelheit entstehen, die die unheimliche und dämonische Seite der Metropole zum Ausdruck bringen. Die märchenhafte Selbstverständlichkeit, mit der die antagonistischen Erzähl‐ figuren ineinander geblendet werden, wird zur Groteske, in der sich die Ar‐ menviertel nicht von den Slums in Saffron Hill und Jacob’s Island unter‐ scheiden. 234 Kontraste werden in einer „Hypertrophierung des Hässlichen“ 235 aufgehoben und an einen versöhnlich schönen Romanschluss herangeführt, der die Verdichtung der Zeichen des Verfalls keineswegs vergessen lässt. In dieser Wahrnehmungsverschiebung, die dialektisch in der Absenz des Hässlichen der idyllischen Romanpassagen, die Präsenz des Mörderischen thematisiert und in Olivers Reaktionen verdeutlicht, entsteht mit der Atmosphäre des Unheimlichen die Frage nach Identitätsbildungsmöglichkeiten des bürgerlichen Subjekts und die zeitdiagnostische Perspektive der Romangroteske Oliver Twist. Auf der Ausdrucksebene der Erzählwelt Oliver Twist bewirkt die Konstruktion der Komplementärfiguren Brownlow und Fagin, Rose und Nancy und des zwi‐ schen ihnen pendelnden Protagonisten die Transformation der erzählten Raum-Zeitlichkeit des Romans in eine erlebte Raum-Zeitlichkeit der Hauptfi‐ guren, die durch die differierenden und sich überkreuzenden Realitätswahr‐ nehmungen der Erzählfiguren eine je eigene Atmosphäre zum Ausdruck bringt, die wechselimplikativ Begrenztheit und Enge des Abgrundes der Metropole und Unbegrenztheit und Weite der ländlichen Idylle bis zum Schlusstableau sich überschneiden lässt. Diese erzählerische Transformation wirkt sich auf die Struktur des erzählerischen Raum-Zeitgefüges des Romans aus: Die gedehnten oder verdichteten Subjektwahrnehmungen der Figuren von Raum und Zeit, deren erlebten Raum-Zeiterfahrungen, lassen sich nicht auf ein erzähltes chro‐ nologisches Kontinuum eintragen. Es entsteht das erzählerische Paradox, dass die jeweilig individuelle Hand‐ lungszeit der Erzählfiguren die Rhythmik der erzählten Zeit bestimmt, diese also in atmosphärische Räume diversifiziert. Im Akt des Erzählens aber versucht die Erzählinstanz diese Vielgestaltigkeit subjektiver Perspektiven, ähnlich wie später die Filmkunst, zu homogenisieren. Der Versuch der erzählerischen Ho‐ mogenisierung realisiert sich in den Substitutserzählern; sein Scheitern zeigt 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 171 236 Gloy, Karen: Zeit. Eine Morphologie. München: Alber 2006, S. 89-93. 237 Karen Gloy: Zeit…, a. a. O., S. 95. 238 Karen Gloy: Zeit…, a. a. O., S. 85. sich in der fragmentarisierten Episodenstruktur des Romans Oliver Twist. Es entsteht eine strukturelle Ambivalenz, die einzelne Handlungen und ihre be‐ sonderen Atmosphären hervorhebt, nicht aber deren kausale Verknüpfung. Diese für Mythen und Epen typische Erzählstruktur, die sich durch ihren Primat der Ganzheitsvorstellung vom chronologischen Nacheinander eines ein‐ heitlichen Zeitkonzepts historischer Darstellung unterscheidet, 236 affiziert zwar die Erzählwelten Dickens‘. Jedoch werden diese archaischen und antiken zeit‐ lichen Prioritäten umgekehrt. Der Roman geht von der Disparatheit moderner Erfahrungen aus, die er als Komplexität der Welt mit der Vision auf Ganzheit darstellt. Es entsteht die Paradoxie, dass der Verzicht auf kausale Verknüpfungen eine ganzheitliche Vorstellung evoziert, die - wie in den inversen Konstellati‐ onen der bürgerlichen und kriminellen Figuren - sentimentalitätskritisch den Verlust der sozialen Ordnung und den Verfall verbindlicher Werte gestaltet. Diese Paradoxie affiziert die Paradoxie des transitorischen Identitätsparadigmas der Rezipient / innen. Die durch unmittelbare Betroffenheit der Erzählfiguren kreierten Atmo‐ sphären lassen sich nicht zu einem epischen Ganzen zusammenfügen, sondern entgleiten kaleidoskopartig den Händen des Erzählers. Das episodische Ge‐ schehen unterläuft ihre hegemoniale Legitimierung. Im ineinandergreifenden Gefüge von Teilen und Ganzem der Romanwelt, wird dieser Legitimations‐ entzug der Erzählinstanzen zum Konstruktionsmoment einer inkohärenten Weltsicht mit Entwurfscharakter, der elegisch Trauer um Orientierungsverlust insinuiert. Die Erschließung dieser „handlungsorientierte(n) Zeitauffassung“ 237 des raumzeitlichen Verhältnisses der Erzählfiguren rührt als erzählerischer Entwurf an Befindlichkeiten transitorischer Identitätserfahrungen im dritten Lebens‐ alter. Die Rezipient / innen werden erschütternd dicht an die Erzählfiguren he‐ rangeführt. Diese Lebensnähe bleibt im fiktionalen Spiel des Möglichkeitsraums mit einer an Mythen und Epen orientierten A-Historizität geschichtsbezogen. Die Atmosphären und Figuren bilden eine „Präsenzzeit“ 238 , deren erzählerische Ursache-Wirkungs-Beziehung kontingent ist. Geschichtsbezogen daran ist die ästhetische Erfahrung einer modernen transitorischen Identität, die psychoso‐ zial fluid ist: Das Selbstverhältnis der Person ist von Kontingenz durchsetzt und dieser zeitlebens ausgesetzt (…). Zwangsläufig ist (ihre) Entwicklung ebenso wenig wie sie einen defi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 172 239 Joachim Renn und Jürgen Straub: „Transitorische Identität. Der Prozesscharakter mo‐ derner personaler Selbstverhältnisse“, in: Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): Transito‐ rische Identität…, a. a. O., S. 10-31, hier: S. 14. 240 Jürgen Straub, Joachim Renn (Hg.): „Transitorische Identität…, a. a. O., S. 14. 241 Karen Gloy: Zeit…, a. a. O., S. 75-76, S. 79-80, S. 114-120. 242 Arnim Nassehi: „Überraschte Identitäten. Über die kommunikative Formierung von Identitäten und Differenzen nebst einigen Bemerkungen zu theoretischen Kontex‐ turen“, in: Jürgen Straub / Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität… a. a. O., S. 211-237, S. 212. nitiven Endpunkt hat. Das aktuelle Selbstverhältnis einer Person (…) bleibt abhängig von einer kontingenten Praxis, von den Widerfahrnissen und Handlungen, die eine Person in Bewegung halten und in einem temporalisierten, dynamisierten und plu‐ ralisierten Möglichkeitsraum platzieren. 239 In diesem modernen Möglichkeitsraum wird der Person Identität zugeschrieben oder zugemutet. Für die Erfahrung personaler Identität bedeutet dies, nach Straub und Renn, dass sie von „Deutungs- oder Interpretationsleistungen ab‐ hängig“ ist. 240 Sie bleibt perspektivisch standortgebunden und bestimmt sich durch hermeneutische Akte des Akteurs in Bezug auf signifikant Andere. In der Erschließung der Präsenzzeit der erzählten Figuren und Atmosphären entstehen im Oliver Twist Zwischenräume, deren Übergangscharakter durch Handlungsunterbrechungen deutlich wird. In diesen Zwischenräumen, die aus den Sichtweisen des Selbst- und Weltverhältnisses der Erzählfiguren und ihrer Beziehungen untereinander entworfen sind, intensiviert sich erzählerisch eine existenzielle Sinnfrage, die schon die Figurenüberkreuzungen evozierten: Wie kann sich transitorische Identität, die sich romanhaft subjektbezogen an wech‐ selnden Zuständen, Atmosphären und Figurenkonstellationen erzählerisch bildet, durchhalten? Wie sind subjektive Erfahrungen gelebter Zeit 241 und per‐ sönlicher Identität möglich? 242 Die folgenden beiden Szenen sollen die erzählerische Entfaltung dieser Sub‐ jektfrage der Moderne, in der sich die Rezipient / innen des dritten Lebensalters wiedererkennen und sich ein ästhetisches Urteil bilden, exemplarisch zeigen. Im Zentrum dieser Szenen steht die Brüchigkeit lebensweltlicher Erfahrungen, die ausweglos erscheint und nach Auswegen sucht. Beide Szenen spiegeln das klaustrophobische Geschehen des Romans Oliver Twist als Teile eines fragmen‐ tarisierten Erzählganzen. Die beiden Stellen aus den Kapiteln XXI und XXXIV machen deutlich, dass die Disparatheit gesellschaftlicher Erfahrungen in Orientierungslosigkeit und Orientierungsverlust des Protagonisten umschlagen und von ihm lebenswelt‐ lich nicht mehr einzuholen ist. Wie die anderen Erzählfiguren auch, sei es die 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 173 243 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXI, S. 163. Chapter XXI - The Expedition der bürgerlichen, sei es der kriminellen Welt, durchschaut er seine und über‐ schauen sie ihre Handlungsintentionen nicht. Teleologische Zielsetzungen bleiben ihnen verborgen, weil sie erzählerisch im fragmentarisierten Ganzen nicht einlösbar sind. It was a cheerless morning when they got into the street; blowing and raining hard; and the clouds looking dull and stormy. The night had been very wet: large pools of water had collected in the road: and the kennels were overflowing. There was a faint glimmering of the coming day in the sky; but it rather aggravated than relieved the gloom of the scene: the somber light only serving to pale that, which the street lamps afforded: without shedding any warmer or brighter tints upon the wet house-tops, and dreary streets (…) the streets through which they passed were noiseless and empty. 243 Kapitel XXI gehört zu einer Gruppierung von Kapitel ( XVIII - XXII ), die Oliver in der Hand Fagins und seiner Bande sowie in der Gewalt Sikes‘ zeigt. Sikes arbeitet Fagin zu und ermordet später Nancy, die seine Geliebte ist. Nancy hat aus der Sicht der Kriminellen Oliver an Brownlow verraten. Durch diesen Verrat hat sie Olivers Leben gerettet, dabei wissentlich ihr Leben geopfert. Diese Le‐ bensentscheidung Nancys löst den Plot auf. Oliver wird in der vorliegenden Szene von Sikes in die Nähe des Hauses der Maylies gebracht, in das die Die‐ besbande einbrechen will. Er soll aufgrund seiner körperlichen Kleinheit durch eine Fensterluke klettern und den Dieben das Haus von innen öffnen. Der Ein‐ bruch schlägt fehl. In den Kapiteln XXVIII und XXIX stellt sich heraus, dass es sich um das Haus handelt, das Rose und ihre Verwandte Mrs Maylie bewohnen. In der vorliegenden Szene durchquert Sikes, Oliver an der Hand, das Ge‐ tümmel des Marktes in Smithfield, um zu besagtem Haus zu gelangen. Zuvor wurde Oliver von Sikes mit einer Pistole bedroht: It was market-morning. The ground was covered, nearly ankle-deep, with filth and mire; and a thick steam, perpetually rising from the reeking bodies of the cattle, and mingling with fog, which seemed to rest upon the chimney-tops, hung heavily above. All the pens in the centre of the large area: and as many temporary ones as could be crowded into the vacant space: were filled with sheep; tied up to posts by the gutter side were long lines of beasts and oxen, three or four deep. Countrymen, butchers, drovers, hawkers, boys, thieves, idlers, and vagabonds of every low grade, were min‐ gled together in a dense mass; the whistling of drovers, the barking of dogs, the bel‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 174 244 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXI, S. 164. 245 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXI, S. 164. lowing and plunging of oxen, the bleating of sheep, the grunting and squeaking of pigs; the cries of hawkers, the shouts, the oaths, and quarrelling on all sides; the ringing of bells and roar of voices, that issued from every public-house; the crowding, pushing, driving, beating, whooping, and yelling; the hideous and discordant din that re‐ sounded from every corner of the market; and the unwashed, unshaven, squalid, and dirty figures constantly running to and fro, and bursting in and out of the throng; rendered it a stunning and bewildering scene, which quite confounded the senses. 244 Fragt man, wer diesen Markttag beobachtet, so deutet alles auf einen teilnehm‐ enden und doch distanzierten, heterodiegetisch-homodiegetischen Erzähler hin, der die Sicht Olivers aufgreift und ausweitet. Von Oliver heißt es, dass er er‐ schrocken und eingeschüchtert über die Absonderlichkeiten und Geräusche des Marktes staunen konnte: „(…) a tumult of discordant sounds that filled Oliver Twist with surprise and amazement“. 245 Der Erzähler hebt den Markttag aus dem Geschehen heraus. Er verbürgt die Tatsächlichkeit dieses Marktgeschehens, indem er es topografisch durch Stra‐ ßennamen, die nur er kennt, nicht aber Oliver, verbürgt. Jedoch verwandelt er diese Topogfie in eine albtraumähnliche Landschaft: Die Uhrzeit bleibt unbe‐ stimmt (a cheerless morning). Der Markt-Raum ist vom Boden in der Mitte des Platzes, zu den Seiten hin, wo die Wirtshäuser stehen und aus jeder Ecke Lärm ertönt, über die Kamine, die den Blick nach oben lenken, bis zu dem Dunst der dampfenden Viehleiber, der sich mit dem Nebel mischt und über allem liegt, ein geschlossener undurchdringlicher Raum, der den kakophonischen Lärm und die eilig hin- und herlaufenden Marktteilnehmer in der flexiblen Unflexibiliät eines Nebeldunstes gefangen hält. Die verwirrende Lebendigkeit des Marktreibens wird als Kontrast in eine einengende Atmosphäre eingebettet, die die unter‐ schiedlichen Laute und Schreie, Menschen und Dinge, zu einem ohren- und sinnesbetäubenden Gemisch so verschmelzen lässt, dass die kontrastiven Wir‐ kungen von dem allseitig begrenzten Raum des Marktes absorbiert werden. Es entsteht eine ähnliche gefängnisartige Situation, die Oliver immer wieder bis in das letzte Romandrittel hinein erlebt, allerdings nicht immer distanziert durch den Filter des Erzählers, sondern persönlich involviert in kerkerähnlich amor‐ phen bis zur Nachtschwärze dunklen Außen- und Innenräumen, die den Ein‐ druck einer allumfassenden und erstickenden Totenstarre vermitteln. Diese un‐ durchdringlich chaotischen Welten, die nur der Erzähler - und an einer Stelle auch Fagin vor Gericht (Chapter LII ) - aus der Distanz erzählen bzw. beobachten kann, bringen Olivers Ohnmachtserfahrungen und Desorientierung zum Aus‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 175 246 J. Hillis Miller: Charles Dickens…, a. a. O., S. 62. 247 J. Hillis Miller: Charles Dickens…, a. a. O., S. 68. Chapter XXXIV - A new adventure which happened to Oliver druck. Diese Welten „(…) mirror back to the alienated hero his own subjective confusion, his own bewildered inability to tell where he is or who he is.” 246 Die Desorientierung trifft nicht nur Oliver. Alle Figuren dieses Romans, die der Welt der Kriminellen angehören, werden als gesellschaftliche Außenseiter aus einer Welt herausgestoßen, in der sie nur als Gefangene oder Gehängte akzeptiert werden. Die Welt ist für sie, wie ihr Innenleben, ein undurchschau‐ bares Gefängnis. Dies trifft bei den chiastisch gestalteten Komplementärfiguren auch für die Welt der Bürgerlichen zu, die ihrer Habe, ihres Wohlstand und ihrer Identität nicht sicher sind. Brownlow wird bestohlen, er pflegt verwandtschaft‐ liche Nähe zu ehemaligen Kolonialherren und muss sich der familiären Identität Olivers außerhalb des Landes versichern, Rose Maylie ist eine Waise und er‐ krankt lebensgefährlich, in ihr Haus wird eingebrochen, Oliver wird von Fagin und Monks in der folgende Wachtraumszene in ländlicher Sicherheit und Idylle heimgesucht. Die Figuren bewegen sich in einer Welt, deren Ordnung von außen und von innen bedroht ist. 247 Absorbiert die chaotisch verwirrende Vielfalt des Markt-Raumes die Möglich‐ keit erlebter Zeit, indem sie Bewegungen stillstellt, so absorbiert umgekehrt, in Kapitel XXXIV , die erlebte Zeit erfahrbare Räumlichkeit. Durch die Überlei‐ tungen des Erzählers, ferner durch Olivers Lektüre am sommerlichen Fenster, durch sein Hinübergleiten in einen Tagtraum, transformiert sich in dieser Ro‐ manpassage die idyllische Topografie zu einer albtraumähnlichen Erfahrung im Zwischenraum zwischen nachmittäglicher Sonne und innerem Zwielicht. Oli‐ vers existenzielle Situation verdichtet sich zu einer Ausweglosigkeit, die, weil sie äußerlich keine Spuren hinterlässt, einzig von Oliver erfahren und durch den Erzähler aus dem Bereich der rettenden kleinen Gesellschaft in ländlicher Um‐ gebung herausgehoben und via negationis in Richtung seiner Retter in Frage gestellt wird. Diese Radikalisierung trifft den Nerv der Identitätsproblematik Olivers und den der Erzählwelt Oliver Twist. Der Protagonist wird als sich selbst entzogen, seine Traumerzählung bei seinen Rettern als empirisch nicht nach‐ prüfbar, als fragwürdig, dargestellt. Seine Retter erkennen Olivers Selbstgefühl nicht, die ihm seine soziale Identität als verlorene, entzogen Identität erscheinen lässt. Sie setzen auf seinen materiellen Schutz. Oliver jedoch symbolisiert in dieser Phase, in der er erneut den Dieben ent‐ rissen und in die Hände der Maylies und Brownlows geraten ist, in Bezug auf Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 176 248 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 271. das Romanganze autoreferenziell gesehen und in Bezug auf seine Leser / innen dialogisch verstanden, dass gesellschaftlicher Zwang bis an seine Träume rührt, in denen die Schreckgestalten seiner nahen Vergangenheit in seine Traumge‐ genwart zurückkehren, nicht aber an Visionen, dass diese Schrecken einer mo‐ dernen Gesellschaft auf Distanz gehalten werden können. Die raumzeitliche Ausweglosigkeit des Protagonisten, die sein Inneres aushöhlt und seine Arti‐ kulationsunfähigkeit verstärkt, wird erzählerisch transformiert in die Fiktion, es gäbe einen Ausweg aus Gewalt und Zwang. Dieser Ausweg ist, wie die er‐ zählerisch gestaltete Irrealisierung raumzeitlicher Erfahrungen im Marktge‐ schehen und in der Traumpassage deutlich werden lässt, der Möglichkeitsraum der erzählten Welt Oliver Twist. The little room in which he (Oliver) was accustomed to sit, when busy at his books, was on the ground-floor, at the back of the house. It was quite a cottage-room, with a lattice-window: around which were clusters of jessamine and honeysuckle, that crept over the casement, and filled the place with their delicious perfume. It looked into a garden, whence a wicket-gat opened into a small paddock; all beyond, was fine meadow-land and wood. There was no other dwelling near, in that direction; and the prospect it commanded was very extensive. 248 Im Gegensatz zur der angsterfüllenden, düsteren Geschlossenheit des Marktge‐ schehens, entsteht hier die topografische Situation einer hellen, geöffneten Ge‐ schlossenheit: Es gibt ein hölzernes Gitter, Jasmin und Geißblatt ranken sich, ihr Duft betört, es gibt eine Pforte; dies wirkt schließend. Offen aber ist Blick nach außen, auf eine freundliche Natur, in der keine Häuser den Blick begrenzen. Es entsteht ein Bild, das die Leser / innen zu der Frage auffordert, ob Olivers Freiraum in der ländlichen Idylle wirklich frei von den Zwängen und Schrecken der Metropole ist, oder ob es sich um eine umzäunte, eingekapselte Freiheit handelt, die im Gegensatz zur Freiheit des Blicks in eine offene Natur, existenziell einengt? Diese Frage weist darauf hin, dass die ländlich domestizierte Land‐ schaft, in der Oliver sich nun befindet, nicht einen Gegensatz zur Abgründigkeit der Metropole bildet, sondern deren komplementäre Kehrseite darstellt, die den Albtraum nicht ausschließt, sondern, in analoger Konstruktion der Figuren‐ überschneidungen, erneut lebendig werden lässt. Oliver gleitet in eine traum‐ ähnliche Erfahrung: Oliver knew, perfectly well, that he was in his own little room; that his books were lying on the table before him; and that the sweet air was stirring among the creeping plants outside. And yet he was asleep. Suddenly the scene changed; the air became 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 177 249 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 271-272. 250 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 272. 251 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 272. 252 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXV, S. 276. 253 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 271. close and confined; and he thought, with a glow of terror, that he was in the Jew’s house again. There sat the hideous old man, in his accustomed corner: pointing at him: and whispering to another man, with his face averted, who sat beside him. 249 Oliver sieht vor seinem Fenster seinen Halbbruder Monks zusammen mit Fagin, er hört, dass sie ihn „with a dreadful hatred“ 250 erkennen. Er erwacht und fährt vor Angst erschrocken hoch. Dieses Erschrecken zeigt seine existenzielle Unsi‐ cherheit im Bereich einer glücksversprechend einschließenden Idylle: „It was but an instant, a glance, a flash, before his eyes; and they were gone.“ 251 Im folgenden Kapitel schlägt Olivers Evidenznachweis fehl: „Notwithstanding the evidently useless nature of their search, they did not desist until the coming on of night rendered its further prosecution hopeless (…).” 252 Das Erzählganze des Oliver Twist hebt an dieser Stelle, wie auch an anderen Stellen (z. B. Chapter IX ) die besondere Situation, in der sich der Protagonist befindet, hervor. Die Irrealisierung des Erzählten wird nicht nur in dieser Pas‐ sage, sondern durch den Erzähler einleitend kommentiert: There is a kind of sleep that steals upon us sometimes, which, while it holds the body prisoner, does not free the mind from a sense of things about it, and enable it to ramble at its pleasure. So far a. a. Overpowering heaviness, a prostration of strength, and an utter inability to control our thoughts or power of motion, can be called sleep, this is it; an yet we have a consciousness of all that is going on about us; and if we dream at such a time, words which are really spoken, or sounds which really exist at the mo‐ ment, accommodate themselves with surprising readiness to our visions, until reality and imagination become so strangely blended that it is afterwards almost a matter of impossibility to separate the two. 253 Die Erzählsituation, die Olivers Traumvorstellung hervorhebt, erhält ihre Be‐ deutsamkeit (a) durch ihren verallgemeinernden Kommentar, (b) durch den narrativen Beleg, dass sich im Traum der Träumer momenthaft von seiner Ge‐ bundenheit an seine Endlichkeit befreien kann, die Realität seiner Endlichkeit dennoch existiert, dass (c) diese fiktionalisierte Endlichkeitserfahrung in der erzählten Welt Oliver Twist nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen verstehbar wird, also durch einen Perspektivenwechsel, den der hetero‐ diegetisch-homodiegetische Erzähler vornimmt und (d), dass nur ein durch Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 178 254 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter XXXIV, S. 271 (Hervorhebung im Original). 255 David Paroissien: The Companion to Oliver Twist…, a. a. O., S. 207. 256 Dazu, in Bezug auf andere Dickens-Romane: Michael Greany: „Sleep And Sleep-Wat‐ ching In Dickens: The Case of Barnaby Rudge, in: Studies in the Novel, Vol. 46, No. 1 (Spring) 2014, S. 1-20, hier: S. 5-6, S. 8-9. diesen Perspektivenwechsel herbeigeführter Erzählbruch die Plausibilität der Überblendung von Phantasie und Wirklichkeit, „reality and imagination“, als erzählte Welt Oliver Twist ermöglicht; die Plausibilität dieser erzählten Welt also in ihrer episodisch märchenhaften Groteske liegt. Damit geht es um die Uni‐ versalisierung der Fiktion im Akt des Erzählens und im reflektierten Erschließen dieses Erzählaktes. Mit dieser romanhaft ästhetischen Selbstreflexion stößt der Erzähler vor in das autoreferenzielle Zentrum seines Anliegens: It is an undoubted fact, that although our senses of touch be for the time dead, yet our sleeping thoughts, and the visionary scenes that pass before us, will be influenced, and materially influenced, by the mere silent presence of some external object: which may not have been near us when we closed our eyes; and of whose vicinity we have had no waking consciousness. 254 Olivers Tagtraum versetzt ihn in die Position einer Hilflosigkeit, die er nicht in der mörderischen Metropole, sondern in der ländlichen Abgeschiedenheit, nicht in krimineller Urbanität, sondern in einem vor-industriellen, narrativ zeiten‐ thobenen England erfährt. 255 Die Schlaf-Traum-Szene markiert sowohl einen kulturellen Raum, den die Moderne auszulöschen beginnt, als auch einen Er‐ zählbruch, der den Sprung in den märchenanalogen Schluss enthält. 256 In diesen narrativen Zwischenraum dringen die Vertreter des Bösen, Fagin und Monks als Imaginationsfiguren ein. Die Romanstelle weist ihnen ihren Ort in der verletz‐ lichen Tagtraumfantasie Olivers zu und erlaubt den Leser / innen einen Einblick in Olivers Innenleben, das sich im Ruhezustand befindet. Der Protagonist ist von außen und innen bedroht und bedarf, da er unschuldig viktimisiert wurde, der Erlösung. Mrs Bedwin und Rose Maylie entdecken Olivers engelsgleiches Ge‐ sicht, während er schläft (Chapter XII , Chapter XXXII ), sie entdecken seine Unschuld. Die Traumsequenz in Kapitel XXXIV bereitet die Einlösung von Oli‐ vers Viktimisierung in der Abweisung der bedrohlichen Kriminellen vor: Ma‐ terielle Indizien ihrer Nähe werden nicht gefunden. Die narrative Protestenergie dieser Stelle liegt darin, dass Oliver ausschließlich den Erzähler und die Leser / innen als Beobachter seines Tagtraums hat. Der Protagonist kann auf der anthropologischen Erzählebene nicht mehr instrumentalisiert werden. Auf der ethischen Erzählebene jedoch weist er autoreferenziell auf die Fiktion hin, die 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 179 257 hilary m.schor: „dickens and plot“, in: john bowen & robert l. patten (ed.): charles dickens studies…, a. a. O., S. 90-110, hier: S. 103. 258 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 105. Was machen die Plots mit den Figuren und den Rezipient / innen? märchenanlog eine Erlösung garantiert, die gesellschaftlich nicht mehr gegeben scheint. Es geht dem Erzähler Dickens also nicht primär um die typische Konstrukti‐ onsfrage romanhafter Plots: Wie handeln Figuren und wie lassen sich aus ihren Handlungen Plots entwickeln? Vielmehr geht es Dickens umgekehrt um die Frage: Was machen Plots mit und aus Figuren, wie beeinflussen sie ihr persön‐ liches Leben und ihre sozialen Beziehungen? Die Gegenstände, die der Erzähler kursiv hervorhebt - „the mere silent presence of some external object“ - weisen, zusammen mit der Hervorhebung der Wichtigkeit dieser Präsenszeit im Be‐ wusstsein des Schläfers („influenced, and materially influenced”) darauf hin, dass eine affektiv angeregte Imagination, in der Präsenzzeit ihrer Aktivität, eine Ver‐ gangenheit lebendig werden lässt, die gegen alltägliche Erfahrungen, nicht in Vergessenheit geraten, nicht verdrängt werden kann. Dies kommt bereits in Kapitel IX , Olivers Angsttraum zum Ausdruck, in dem die Särge des Bestat‐ tungsunternehmers Sowerberry gespenstisch lebendig werden. Um diese Prä‐ senz der Vergangenheit in der Gegenwart erzählter Imagination, die den Pro‐ tagonisten innerlich bewegt, geht es Dickens in seinem frühen Roman Oliver Twist und in seinen späteren Werken. Der Dickens-Plot fragt, und dies erregt nicht-professionelle und professio‐ nelle Leser / innen bis heute: „(…) not, who did what to whom, but what can any plot, or any single device that binds characters together, do? ” 257 Die besprochenen Passagen sowie die ambivalente Konstruktion des Romans Oliver Twist geben eine Antwort: Vergangenheit ist keine ferne und abgedun‐ kelte Erinnerung, sie ist anschauliche, individualisierte, komplexe Erzählprä‐ senz, die sich über erlebte und undurchschaubare Gegenwart legt und die Iden‐ titätsfrage der Erzählfiguren aufwirft. In der Figurenüberkreuzung und in der Überblendung abgründiger mit idyllischen Bereichen, von Realität und Traum, Groteske und Märchen wird sichtbar, dass es in jeder erfahrenen Gegenwart der modernen komplex disparaten Welt die Präsenz einer Vergangenheit gibt, an die die Frage nach dem Sinn transitorischer Identität geknüpft ist. Aus Sicht viktorianischer Leser / innen kreierte Dickens also nicht „‘the right kind‘ of plot“. 258 Dem kann man zustimmen, wenn man versteht, dass es Dickens Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 180 259 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 105. 260 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 105. 261 J. Hillis Miller: Charles Dickens…, a. a. O, S. 68. 262 Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., Chapter LII, S. 434. 263 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 105. nicht um plausible Plotkonstruktionen, sondern darum ging „to create a clear vision of social confusion“. 259 Das Romanganze des Oliver Twist, das sich in den besprochenen Passagen spiegelt, führt vor Augen, dass gerade seine plausibelsten Erzählmomente auf der Folie eines konventionellen Kulturmusters implausibel werden. Bestraft werden die Figuren, die ihre Vergangenheit ignorieren, „(…) the characters who succeed (…) are those who manage, given the vast oceans of difference before them, to live fully in the present.” 260 Es ist gerade die erzählerisch anachronistische Aufdeckung der besonderen Umstände, die Oliver Twists Verlust seiner Identitätsbildungsmöglichkeiten und seiner Orientierung herbeiführen: „the father’s will, the lost inheritance, and the lost identity”. 261 Wenn Oliver also zu dem wird, was er vormals gewesen ist, so ist diese Vision als eine ganzheitliche Lebensauffassung zu verstehen, die die mythische Qualität einer a-historischen Zeitvorstellung hat. Deren gesamtheitliche Darstellung muss erzählerisch scheitern, weil die Herkunft Olivers, sein Ursprung aus frag‐ mentierten Familienverhältnissen, dieser ganzheitlichen Vision, die das Schluss‐ tableau des Romans hervorhebt, widerspricht. Sie widerspricht ihr durch dop‐ pelten Verrat: Olivers Vater hat eine außereheliche Geliebte, Agnes, die Olivers Mutter ist, und Olivers Halbbruder Monks betrügt Oliver um sein Erbe. Er ver‐ sucht Oliver mit Hilfe Fagins an den Galgen zu bringen. Da dies durch Nancys Dazwischentreten misslingt, stirbt Fagin, wie er utilitaristisch vermutet, ersatz‐ weise Olivers geplanten Tod: „He has been the - the - somehow the cause of all this (…)” 262 , sagt Fagin, vor Todesangst bebend, dem Gefängniswärter. Fagin aber irrt. Diese Stelle weist autorefrenziell auf die gegenläufige Plotkonstruktion des Oliver Twist. Die Plotkonstruktion, die Dickens in diesem, wie in allen seinen Romanen favorisiert, „to create a clear vision of social confusion“ 263 , lässt Leser / innen erschließen, dass Fagin nicht stellvertretend für Oliver am Galgen endet. Fagin durchschaut das Gewebe antagonistischer sozialer Lebensverhält‐ nisse, deren Teil und Autor er ist, ebenso wenig wie die anderen Figuren dieses Romans. Er vertauscht Ursache und Wirkung. Die Ursache von Olivers Schicksal, das der Roman Oliver Twist in einem großen Panorama entfaltet, ist die Wirkung seiner Vorgeschichte, die aus der exterritorialen Kolonialpolitik folgt, die Olivers Herkunftsfamilie auseinander‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 181 264 Stephen Gill: „Introduction”, in: Charles Dickens: Oliver Twist …, a. a. O., S. vii-xxv, hier: S. xvii. 265 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 154. 266 Terry Eagleton, The English Novel…, a. a. O., S. 156, S. 160. trieb und gegenläufig sein Werden zu sich selbst aus der Vorenthaltung seiner Identitätsbildungsmöglichkeiten zur märchenhaften Identitätsfindung be‐ stimmt. Die Ursache von Fagins Tod am Galgen wäre diese Kolonialpolitik. Wenn das so ist, dann bliebe aufzuklären, wie Fagin, der Hehler und Dieb, im Zentrum der Metropole ursächlich mit Olivers Herkunftsfamilie verknüpft ist. Diese Kausalität gibt es nicht, denn Oliver fällt Fagin zufällig in die Hände und Fagin und der Halbbruder Olivers treffen ebenso zufällig aufeinander. Ähnliches gilt für Brownlows Verbindungen zu der Herkunftsfamilie Olivers und für sein zufälliges Zusammentreffen auf die von Fagin dirigierte Diebesbande (Chapter X). Wer wen wo und wann trifft, ist von Zufällen bestimmt, die im Protagonisten zusammenprallen und seine Identitätsmöglichkeiten löschen - er ist artikulationsunfähig: Der narrative Katalysator Oliver ist also nicht auf der Inhaltsebene, sondern durch die Plotkonstruktion die Ursache von Fagins Tod am Strang, der auf der Inhaltsebene vollzogen wird. Fagins Vermutung und Tod ist also Wirkung der Plotkonstruktion. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, dass das Anliegen des Romans Oliver Twist in seiner fragmentarischen, episodenhaften Komposition zu finden ist, die in der Kritik von hohem Lob bis zu ihrer Verurteilung als fehlgeschlagene Er‐ zählkunst reicht. 264 Was also macht der Plot mit den Erzählfiguren des Romans Oliver Twist und mit den Rezipient / innen? Die Rezipient / innen decken auf: (a) Der Plot bringt konkurrierende Individuen hervor, die im Gegeneinander eine groteske Welt entstehen lassen. (b) Er verknüpft chiastisch Kriminelle und Bürger. Er macht Grenzen der Em‐ pathie kulturkritisch sichtbar. (c) Er korrumpiert positive Möglichkeiten sozialer Iden‐ tität. 265 (d) Er lässt bedrohliche Atmosphären entstehen, die in ihren widersprüchli‐ chen Zusammenhängen von den Figuren als Einwirkungen des Schicksals empfunden werden. (e) Er treibt eine Gattungsmischung aus Märchen, Schauerroman und Gro‐ teske hervor. (f) Diese ermöglicht Erzählbrüche, deren „fairy-tale solution“ 266 Melodramatik in der Kombination von Nostalgie, Subversion und Humanität im Symbol Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 182 267 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 106. 268 hilary m.schor: „dickens and plot“…, a. a. O., S. 106. Die visionären Zentren der Erzählkunst Dickens‘ viktimiserter Unschuld, als Kehrseite reifizierter sozialer Verhältnisse in‐ diziert. (g) Damit wird eine unlösbar diskrepante soziale Realität der industriellen Moderne in narrativ unlösbare Probleme verwandelt. Die Rezipient / innen erschließen die Verwirrungsästhetik des Oliver Twist. Aus den inhaltlichen und kompositorischen Inversionen, deren Zentren Verrat und Gesetzlosigkeit im Erzählraum aufdeckender Täuschung sind, besteht das Text‐ gewebe des Romans Oliver Twist, das trotz der vieldeutigen Familienähnlichkeit zwischen Bürgern und Kriminellen, also trotz der Mehrdeutigkeit moderner Subjektivität und der Undurchschaubarkeit ihres Weltbezuges, an der Wunsch‐ vorstellung festhält, dass der Mensch auf Erfüllung angelegt ist. Die Rezipient / innen erkennen ein Textgewebe wieder, das Fremdheitserfah‐ rungen der industrialisierten Moderne in die Disparatheit seiner durch Kon‐ trastkopplungen verknüpften Episoden einbindet und die faktenorientiert ma‐ thematische Linearisierung einer fortschrittsgläubigen Zeit als mentale Vulgarisierung ganzheitlicher Möglichkeiten existenzieller Zeiterfahrungen an‐ schaulich werden lässt. Die Gesinnung zur Totalität, die in der ganzheitlichen Vision dieses Romans zum Ausdruck kommt, entsteht durch Inversionen, die einen Sprung aus dem episodisch disparaten Textgefüge heraus ästhetisch notwendig machen. Dieser Sprung ist, deutlich akzentuiert, in den Traumpassagen der Kapitel IX und XXXIV angelegt und evoziert Plausibilitätsfragen. Angesichts der Unüberschaubarkeit der modernen Welt, in der Dickens seine Romane schrieb, erscheint sein ästhetisches Konzept „to bring the present itself to life” 267 in seiner märchenhaft-grotesken und erzählkontingenten Panorama‐ konstuktion, in der Figuren wie Oliver Twist schließlich „wonderful(ly)“ 268 im Hier und Jetzt erfüllter Gegenwart ankommen, nicht nur ein Entgegenkommen seinen viktorianischen Leser / innen gegenüber. Die Erschließung der Dickens‘ Romane provoziert das Verstehen ihrer fragmentarischen Universen, einen Pro‐ zess, der Fragen nach dem Selbst- und Weltverständnis heutiger Leser / innen und nach den Dilemmata ihrer Biografien angesichts eines Romans aufwirft, der das Gegenteil von Erlösung in der Textur seiner Überschneidungen stets miter‐ 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 183 269 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 106. 270 John Bowen: Other Dickens…, a. a. O., S. 106. 271 Dorothy Van Ghent: The English Novel. Form and Function. New York: Harper & Row 1967 (1953), S. 157. 272 Alois Hahn: Konstruktionen des Selbst…, a. a. O., S. 67. 273 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 16. 274 Juliet John: Dickens’s Villains…, a. a. O., S. 136. zählt. Dieser Roman lügt nicht. Das zeigen seine im Konjunktiv verfassten Schlusspassagen und das leere Grab der Mutter Olivers (Chapter LIII ). John Bowen deutet diese erzählerische Entscheidung im Sinne Prousts als „music of memory“ 269 , die am Ende des Romans nicht zu einem statischen bür‐ gerlichen Weltbild zurückkehrt, sondern in einer Welt ankommt, die sich nach Veränderung sehnt. Das leere Grab der Mutter, so Bowen, deutet auf die Un‐ möglichkeit hin, dass Oliver in seine familiäre Heimat zurückkehren kann, er stammt, wie sich in der vorgelegten Deutung zeigte, aus fragmentierten Fami‐ lienverhältnissen, und, so Bowen weiter, erinnert an das Leiden der gesell‐ schaftliche Außenseiter, die der Roman Oliver Twist in sein Erzählzentrum rückt. 270 Die aus der Erzählstruktur herausspringende Vision eines in der Heimat an‐ gekommen Oliver lässt im Sprung aus der Groteske diese als Bestandteil der erzählten Welt zerbrochener Beziehungen bestehen: Dickens saw his world patently all in pieces, and as a child’s vision would offer some reasonable explanation of why such a world was that way - and, by the act of ex‐ planation, would make that world yield up a principle of order, however obscure or fantastic - so, with a child’s literalism of imagination, he discovered organization among fragments. 271 Oliver Twist ist kein Bildungsroman im traditionellen Muster einer nachträglich „doch noch nachvollziehbaren Einheit einer Biographie“. 272 Vielmehr ist Oliver Twist ein moderner Roman, dessen Weltdeutung aus Perspektivenkonflikten besteht, die Identitätsbildungsmöglichkeiten als Auflösungserscheinung in einer ausdifferenzierten komplexen Welt zur Deutung anbietet, in der der Pro‐ tagonist heimat- und identitätslos bleibt. 273 Der Roman Oliver Twist ist eine brüchige formale Gestalt und der Protagonist eine erzählerische Schachfigur in, so Juliet John, „a paradoxical double novel whose anti-narrative principle is as strong as its narrative impulse.“ 274 An an‐ derer Stelle definiert Juliet John diesen erzählerischen Doppelcharakter der Di‐ ckens‘ Romane: Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 184 275 Juliet John: Dickens’s Villains…, a. a. O., S. 139-140. 276 Michail M. Bakhtin: The Dialogic Imagination…, a. a. O., S. 39; dazu: Juliet John: Dickens’s Villains…, a. a. O., S. 98. 277 Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Mit einem Vorwort von Günter Oesterle. Tübingen: Stauffenburg / Narr 2004, S. 198. 278 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts… , a. a. O., S. 112. 279 Walther Killy: Romane des 19. Jahrhunderts…, a. a. O., S. 114. 280 Justin D. Edwards and Rune Graulund: Grotesque…, a. a. O., S. 9. 281 Justin D. Edwards and Rune Graulund: Grotesque…, a. a. O., S. 9. (…) Dickens’s novels are extreme examples of the ‚double novel‘, a monopathic, mel‐ odramatic, childlike world of emotions and pleasures, coexisting with an inherently divided self-reflexive critique of the same. Similarly, the impulse to forge narratives, or connected chains of events, coexists in Dickens with the anti-narrative, dramatic principle which celebrates the immediate pleasures of emotion and the body. 275 Dickens’ Roman Oliver Twist, wie auch seine späteren Erzählwelten, entfalten erzählerisch eine transgressive Poetik, die Bakhtin dem modernen Roman als „plasticity itself “ 276 bescheinigt. Dickens geht es um ein Erzählen, dessen Dy‐ namik die Entfremdungserfahrungen der Moderne in eine Gestalt transformiert, in der der Impuls narrative Kohärenz herzustellen durchkreuzt wird durch Kon‐ tingenzen, die innerhalb der Narration verwirrende Überraschungseffekte bei den Leser / innen entstehen lassen. Dieser plastische Doppelcharakter der Di‐ ckens‘ Romane ermöglicht die Inklusion und Erneuerung anderer Genres durch literarischen Verfahren der Inversion, der Komplementarität, der Paradoxie, des bitteren Humors, des ironischen Erzählerkommentars, die die Prozesshaftigkeit, die Unabschließbarkeit des Erzählens in der Moderne und die Unglaubwürdig‐ keit des Erzählers in der Form transgressiven Erzählens darstellen. Rückt in Dickens‘ Romanen die Welt an das Märchen heran, so rückt groteskes Erzählen in seinen Romanen surreale Fantasie an die Welt. Nach Wolfgang Kayser re‐ präsentiert die Groteske in der Moderne die Undurchschaubarkeit der Welt. Damit ist sie erzählerisches Medium, das geschichtliche und kulturelle Erfah‐ rung als moderne, widervernünftige Fremdheitserfahrungen erzählerisch trans‐ formiert. 277 In die „groteske Verzeichnung“ 278 der Dickens‘ Romane passen die märchenhafte Elemente als deren Kehrseite: Groteske und Märchen sind „anti‐ realistische Fiktion(en)“ 279 , die Konformität von Non-Konformität, das Normale vom Abnormalen trennen, grenzauflösend 280 die wirkliche mit der märchen‐ haften Welt verknüpfen und dabei die Frage nach dem Selbst- und Weltver‐ hältnis des ästhetischen Werks und seiner Rezipient / innen evozieren. 281 Als Märchen-Grotesken stehen Dickens‘ Romane „im schärfstem Gegensatz zu dem, was wir in der Welt als tatsächliches Geschehen zu beobachten gewohnt sind“, 3.1 Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist 185 282 André Jolles: Einfache Formen…, S. 241, S. 243; Justin D. Edwards and Rune Graulund: Grotesque…, a. a. O., S. 10. 283 Günter Oesterle: „Zur Intermedialität des Grotesken“, in: Wolfgang Kayser: Das Gro‐ teske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Mit einem Vorwort von Günter Oes‐ terle,…, a. a. O., S. VII-LII, hier: S. XXV. 284 john bowen: „dickens ant the force of writing”, in: john bowen & robert l. patten (ed.): charles dickens studies…, a. a. O., S. 255-272; Raymond Williams: The English Novel…,a. a. O., S. 37-49. 285 Raymond Williams: The English Novel…, a. a. O., S. 29. 3.2 mit der Folge, dass „die als unmoralisch empfundene Welt der Wirklichkeit (vernichtet wird)“. 282 Dickens‘ erzählerisches Verfremdungsverfahren vereinigt in seiner Ambivalenzstruktur ästhetische mit kulturdiagnostischen Aspekten: „Das Groteske ist nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern auch immer zugleich ein Grenzphänomen des Ästhetischen. In dieser Doppelfunktion ver‐ eint es ästhetische und kulturdiagnostische Aspekte.“ 283 Dickens erschafft wahrnehmungssensible nach außen gekehrte Innenwelten, die als scheiternde Versuche ihrer erzählerischen Gestaltung ästhetisch plau‐ sibel werden. Ihre kreative erzählerische Energie 284 transformiert die Pathologie des Zeitalters in traumanaloge extrovertierte Erzählwelten. Dieses schriftstel‐ lerische Programm einer radikal dramatisierten Äußerlichkeit ermöglicht Ein‐ sichten in „(…) unknown and unacknowledged relationships, profound and de‐ cisive connections, definite and commiting recognitions and avowals (which) are as it were forced into consciousness.” 285 Dickens‘ erzählerische erkenntniserhellende Kreativität deckt abgedrängte, verdrängte, in Vergessenheit geratene kulturelle Dimensionen der Humanität auf. Sie und auf Erfüllung angelegte Wunschvorstellungen bilden die visionären Zentren seiner Erzählwelten, die von den Rezipient / innen mit Erstaunen ent‐ deckt werden. Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. Selbstachtung - fragwürdiges Werden zu sich selbst „Jane pendelt zwischen Revolte und Unterwerfung, lernt im Umgang mit Rochester auch Mittelwege. Jane domestiziert sich selbst.“ Kommentar einer Seminarteilnehmerin zu Verhaltensweisen der Protago‐ nistin. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 186 286 Christine Alexander and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës. Oxford: Oxford University Press 2006, S. 268-269. Publikationsgeschichte „Im Vergleich mit Bertha ist Jane nicht ganz so gefährlich für Rochester, ob‐ wohl sie dauernd auf außergewöhnliche Situationen trifft. Gefährlich ist Jane für St John Rivers, den die Ich-Erzählerin am Ende sterben lässt.“ Kommentar einer Seminarteilnehmerin zur Einstellung der Protagonistin gegenüber Vertretern des Patriarchats und religiöser Fanatiker (Brockle‐ hurst, St John Rivers). Charlotte Brontë (1816-1855), die mit ihren beiden Schwestern Emily (1818-1848) und Anne (1820-1849), zunächst unter den männlichen Pseudo‐ nymen Currer (Charlotte), Ellis (Emily) und Acton (Anne) Bell, publizierte - die drei Schwestern waren die Töchter des Vikars von Haworth in West York‐ shire -, begann ihren Roman Jane Eyre vermutlich am 23. September 1846 und vollendete ihn in wenigen Wochen. Am 24. August 1847 gab sie eine von ihr gefertigte Kopie des Manuskripts an die Verleger Smith, Elder & Company. Der Verleger George Smith war so begeistert, dass er den Roman, nachdem er das Manuskript zur Hand genommen hatte, noch in derselben Nacht las. Seine Frage, ob Charlotte Brontë den ersten Teil des Romans revidiere, damit er dem Ge‐ schmack der Zeit entspreche, verneinte sie und verteidigte ihn als wahrheits‐ getreues Bild seiner Zeit. Am 19. Oktober 1847 erschien der Roman mit der Ti‐ telseite An Autobiography. Edited by Currer Bell, wie zu dieser Zeit üblich, in drei Büchern (three decker novel). Der Roman wurde schnell populär. Eine zweite Auflage, erneut unter dem Pseudonym Currer Bell, kam vor dem 22. Januar 1848 in den Handel. Diese Auflage widmete Charlotte Brontë W. M. Thackeray. Am 11. März 1848 wurde eine dritte Auflage erforderlich. Am 13. März reichte Char‐ lotte Brontë die Korrekturen bei ihren Verlegern ein und machte in ihrem Vor‐ wort klar, dass sie die Autorin von Jane Eyre war, nicht aber von Wuthering Heights und Agnes Grey. Diese dritte Auflage erschien am 15. April 1848 erneut in drei Büchern. Ende April 1850 folgte eine vierte, preiswerte Auflage in einem Band. Die erste amerikanische Ausgabe wurde von Harper & Brothers am 4. Januar 1848 publiziert. Nachdem Charlotte Brontë in jeder der Auflagen Kor‐ rekturen und kleinere Revisionen vorgenommen hatte, wurde von den Heraus‐ gebern, mit Zustimmung Charlotte Brontës, die dritte Auflage zur Grundlage weiterer Publikationen dieses Romans. 286 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 187 287 Zitiert wird aus: Charlotte Brontë: Jane Eyre. Edited by Margaret Smith. With an Int‐ roduction and revised Notes by Sally Shuttleworth. Oxford World’s Classics Oxford: Oxford University Press 2008. Plot Der Roman Jane Eyre: Selbstachtung - fragwürdiges Werden zu sich selbst Die autobiografische Fiktion Jane Eyre erzählt aus der Rückschau der Ich-Er‐ zählerin Jane autodiegetisch wichtige Phasen ihrer Lebensgeschichte. Als Waise wächst sie in der Familie der Landadeligen Reeds, von ihrer Tante Mrs Reed erniedrigt und ausgegrenzt, auf. In der Armenschule von Lowood, in die Jane geschickt wird, erträgt sie als Jugendliche Demütigungen. Nach ihrem Schul‐ abschluss, und nachdem sie in Lowood kurze Zeit als Lehrerin gearbeitet hat, bewirbt sie sich als Gouvernante bei dem reichen Landadeligen Rochester, der ihr nach einiger Zeit einen Heiratsantrag macht. Diesem stimmt Jane zu, weil sie sich in Rochester verliebt. Die kirchliche Trauung wird noch vor ihrem Be‐ ginn unterbrochen. Es stellt sich heraus, dass Rochester mit Bertha, einer Kreolin von den Westindischen Inseln verheiratet, also Bigamist, ist. Rochester hat Bertha, weil sie wahnsinnig ist, vor der Öffentlichkeit im Dachgeschoss seines Herrenhauses als Gefangene versteckt. Schockiert flieht Jane und wird vom Geistlichen St John Rivers und seinen beiden Schwestern, die sich später als Janes Cousinen herausstellen, aufgenommen. Nachdem Jane unerwartet von ihrem verstorbenen Onkel, der auf Malaysia lebte, eine große Geldsumme geerbt hat, teilt sie die Summe mit ihren Cousinen und St John Rivers, verlässt Rivers, der ihr ebenfalls die Ehe anbietet und kehrt zu Rochester zurück. Rochester ist zwischenzeitlich fast erblindet und hat eine Hand durch ein Großfeuer verloren. Das Feuer wurde von Bertha gelegt, zer‐ störte sein Herrenhaus und tötete Bertha. Finanziell unabhängig geworden, entschließt sich Jane, den invaliden Rochester zu heiraten und bringt später zwei gemeinsame Söhne zur Welt. In Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 287 geht es um die Bewährung eines Wer‐ dens zu sich selbst, das die Protagonistin Jane, aus der rückblickenden Sicht der Ich-Erzählerin, gegen malevolente Machtstrukturen unter Einsatz ihres Lebens verteidigt. Rezipient / innen des dritten Lebensalters können zwar Erfahrungen der Pro‐ testidentifikation in der Beziehung zwischen Jane, den weiblichen und männli‐ chen Vertretern des Patriarchats und religiösem Fanatismus, vor allem aber zwischen Jane und Rochester und ihrem komplex widersprüchlichen Verhältnis zueinander, wiedererkennen. Sie können aber auch transitorische Identitätser‐ fahrungen, insbesondere weiblicher Subjektivität in der Moderne erschließen. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 188 288 Ina Schabert: „Die Erfindung des Homme fatal. Jacqueline Harpmans Roman La Plage d’Ostende (1991)“, in: Renate Möhrmann (Hg.): Frauenphantasien. Der imaginierte Mann im Werk von Film- und Buchautorinnen. Stuttgart: Kröner 2014, S. 462-482, hier: S. 464. Weil sie eine junge Frau und die Gouvernante Adéles ist, grenzt Jane sich gegen ihren Dienstherrn Rochester ab, liebt ihn aber gleichzeitig. Janes Dilemma be‐ steht darin, dass sie sich gegen Rochester abgrenzt, weil sie ihn liebt. Der Roman entwirft in Rochester eine Frauenphantasie, 288 die selbstwidersprüchlich eman‐ zipatorisch gestaltet ist: Rochester ist Janes Dienstherr. Er repräsentiert das Pat‐ riarchat und hat zugleich weibliche Anteile, die Jane komplementieren. Jane verliebt sich in ihn. Die Erzähldynamik dieses Romans transformiert eine asym‐ metrische Machtbeziehung in eine symmetrische Äquivalenz, die sich vom An‐ tagonismus zwischen Jane und Rochester zu einem Alter-Ego Verhältnis entwi‐ ckelt, das, so bringen es die Schlusstableaus im Anschluss an Janes todesbedrohende Lebenskrise zum Ausdruck, trotz des emanzipatorischen Cha‐ rakters des Romans, konventionelle Züge trägt. An dieser Ambivalenz setzen die Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen an. Wie Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847), setzt sich die autobio‐ grafische Fiktion Jane Eyre mit der Frauenfrage des 19. Jahrhundert in England auseinander. Während Wuthering Heights die emanzipatorische Dimension der Frauenfrage, die durch Mary Wollstonecraft angestoßen wurde, narrativ radi‐ kalisiert, indem dieser Roman die rollendiskrepanten Potenziale der durch die junge Cathy vertretenen dritten Generation - ihre Empathie, Klugheit und Bil‐ dung - erzählerisch ausgestaltet, hebt Wuthering Heights diese Potenziale zu‐ gleich auch in den patriarchalischen Bereich, der sich im Schatten eines mate‐ rialisierten metaphysisch Bösen befindet (Heahthcliff). Wuthering Heights kritisiert die Unterordnung der Frau unter die Dominanz patriarchalischer - und so auch erbrechtlich - juristischer Machtstrukturen und lässt am Schluss pro‐ vozierend die komplexe Problematik der Legitimierung männlicher Macht‐ strukturen offen, ohne jeglichen Lösungsvorschlag für die sich wechselseitig negierenden narrativen Positionen. Charlotte Brontës Roman Jane Eyre schlägt eine ähnliche durch kolonialpolitisch Anspielungen gestützte Richtung ein (Bertha). Der Roman sieht im Kolonialismus und im Patriarchat interdependent analoge Unterwerfungsmechanismen, mündet am Ende aber in die Konformität einer Ehe, die unter der Bedingung der extremen Invalidität Rochesters den Charakter der Gleichberechtigung zu haben scheint. Wie bei Oliver Twist ent‐ faltet sich, fiktional prismatisch, das Gestaltungsmuster erfüllter Subjektivität. Dieses Gestaltungsmuster wird durch die Fiktionalität der Autobiografie ambi‐ valent in Frage gestellt: Gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Frau und Mann, so dieser Roman, ist nur in einer autobiografischen Fiktion möglich, in 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 189 289 Zur Problematik der Woman Question im 19. Jahrhundert als Krisenherd siehe: Bea Klüsener: Konzepte des Bösen in der englischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 233-272; Mary Wollstonecraft: Zur Ver‐ teidigung der Frauenrechte. Aachen: ein-Fach-verlag 2008; Ina Schabert: Englische Lite‐ raturgeschichte…, a. a. O.; Silvia Mergenthal: Autorinnen der Viktorianischen Epoche. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt 2004. 290 Siehe dazu: Virginia Woolf: „’Jane Eyre’ and ‘Wuthering Heights’“, in: Virginia Woolf: The Common Reader. First Series…, a. a. O., S. 155-161; Terry Eagleton: Myths of Power. A Marxist Study of the Brontës. New York: Palgrave 2005 (1975). 291 Hans-Christoph Ramm: „‘She hath prevented me‘. Zur Problematik der Geschlechter‐ beziehungen in Shakeaspeares Komödie The Taming of the Screw. Ein didaktischer Ver‐ such“, in: Wolfgang Weiß (Hg.): Shakespeare Jahrbuch 135 / 1999. Kamp: Bochum 1999, S. 100-116. der die Ich-Erzählerin die Kontrolle über die Textur der Narration behält: Self-Will und Self-Control statt Submission kommt auch in diesem Roman, dem konventionellen Schluss zum Trotz, wenn auch leserfreundlicher als in Wuthe‐ ring Heights, in der autodiegetischen Struktur zum Ausdruck. 289 Beide Romane konfrontieren ihre Leser / innen mit dem nicht konformen, rebellischen Rollen‐ verhalten ihrer Protagonistinnen, kommen aber narrativ zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen. 290 Charlotte Brontës fiktional autobiographischer Roman Jane Eyre spielt mit der Paradoxie des poetischen Realismus im Bild asymmetrischer Beziehungen und löst die dramatischen Konflikt- und Krisensituationen, die aus diesen Be‐ ziehungen folgen, affirmativ in einer poetischen Wiederverzauberung der Welt auf. Aber: Ist diese poetische Gerechtigkeit wirklich so affirmativ wie sie uns heute erscheint? Im Gegensatz zu Dickens Roman Oliver Twist ist Charlotte Brontës autobio‐ grafische Fiktion Jane Eyre ein aus der rückblickenden Ich-Perspektive durch‐ konstruierter Ich-Roman, eine homodiegetische Konstruktion, die durch Zeit‐ raffungen, Verdichtungen, Situationsdehnungen, Kontraste und dramaturgisch angelegte Steigerungen einen von Krankheit, Tod, Hunger und Kälte be‐ stimmten Erzählkosmos aufbaut, der die Entwicklung der weiblichen Haupt‐ figur Jane als Provokation anlegt und durch Zufallskonstruktionen sowie Le‐ seransprachen verstärkt. Die Provokation liegt in dem durch Krisenerfahrungen gestärkten Selbstvertrauen der weiblichen Hauptfigur, deren Identität fiktional eine Validität erreicht, die kulturgeschichtlich nicht mehr gegeben war. Dieser Roman führt durch die Gestaltung von Freundschafts- oder Alter-Ego Figuren Janes zur Einebnung patriarchaler Hierarchien. 291 Dreh- und Angelpunkt dieses Romans ist der Anerkennungskampf zwischen der das Kleinbürgertum vertre‐ tenden Gouvernante Jane und dem Landadeligen Rochester, Figuren, die, in der Mischung von weiblichen und männlichen Elementen, die jede der beiden Fi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 190 292 Christoph Schöneich: Edmund Talbot und seine Brüder. Englische Bildungsromane nach 1945. Tübingen: Narr 1999. 293 Christine Alexander and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës…, a. a. O., S. 268-271. guren enthält, zum Alter-Ego des jeweils anderen werden. Ihr Kampf um Aner‐ kennung gestaltet den für Rezipient / innen des dritten Lebensalters in narrativer Analogie wiedererkennbaren Erfahrungszusammenhang transitorischer Iden‐ tität. Die Beziehung zwischen Jane und Rochester ist eine Liebesbeziehung und symbolisiert zugleich einen Gesellschaftskonflikt, eine antagonistische Kon‐ fliktkopplung, die unversöhnlich aufgrund der Standesunterschiede, aber ver‐ söhnbar, aufgrund der Mischung weiblicher und männlicher Elemente beider Figuren in Form romantischer Liebe ist. Versöhnbar sind die Konfliktkopplung zudem durch die Genremischung Bildungsroman und Märchen und durch die beiden Subtexte, Shakespeares Drama Romeo and Juliet und Schillers Drama Die Räuber, die in den konventionell erscheinenden Schlusstableaus als Komple‐ mentärnarrationen eingesetzt werden. Binäre Polaritäten wie „weiblich / männlich“, „Wir / die Anderen“ werden auf‐ gehoben, Identitätserfahrungen lassen sich nicht, so der Roman, auf Rollenvor‐ gaben festlegen, normative Grenzen werden überschritten. Janes Identitätskrise tritt in dieser subjektiven autobiografischen Fiktion als Protestidentifikation und transitorische Überschreitung auf, die die Protagonistin in eine geradezu kafkaeske gesellschaftliche Außenseiterposition stößt und patriarchalische Machtpositionen in Frage stellt. Im letzten Drittel des Romans entflieht sie den Vereinnahmungsversuchen Rochesters, von dem sie sich, weil er Bigamist ist, verraten fühlt und dessen Mätresse sie nicht werden will. Ihr starker Überle‐ benswille rettet sie vor dem Tod im Moor, in dem sie verhungernd wie ein streunender Hund - so der Roman wörtlich (Vol. III , Ch. II ) - in nächtlichen, wirr kreisenden Bewegungen, nahe der Ortschaft Morton, umherirrt. Sieht man den Roman Jane Eyre in der Forschungsperspektive des etablierten Genres männlicher Entwicklungspotenziale, so fällt er aus konventionellen Schemata heraus. 292 Seiner Protagonistin Jane werden von der rückblickenden Ich-Erzählerin, in einem der ersten europäischen weiblichen Bildungsromane, den Charles Dickens vermutlich als Anregung für seinen Bildungsroman David Copperfield angesehen hat, 293 gegen alle Hindernisse, erfolgreiche Bildungsge‐ legenheiten zugestanden. Weibliche Bildungs- und Entwicklungschancen werden einer jungen Frau, durch alle Selbstzweifel und Krisen hindurch, in Ab‐ setzung von Bildungschancen und -verpflichtungen junger Männer, hier der zweiten Hauptfigur Rochester, zugesprochen und zugestanden. In Charlotte 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 191 294 Giovanna Summerfield and Lisa Downward: New Perspectives on the European Bil‐ dungsroman. London/ New York 2012, p. 105. 295 Renate Möhrmann (Hg.): Frauenphantasien… a. a. O., S. IX-XXII. 296 Christine Alexander and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës… a. a. O., p.186-189; Elsie B. Michie (ed.): Charlotte Brontë’s Jane Eyre. A Casebook. Oxford: Ox‐ ford University Press 2006; Heather Glen (ed.): The Cambridge Companion to The Brontës. Cambridge: Cambridge University Press 2008; Sara Lodge: Charlotte Brontë: Jane Eyre. A reader’s guide to essential criticism. New York: Palgrave 2009; Giovanna Summerfield and Lisa Downward: New Perspectives on the European Bildungsroman…, a. a. O., p.109-142. 297 Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O., S. 7-8; Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. XII, S. 74. Brontës Roman erscheint „(…) the gap between male and female develop‐ ment (…) not seem so clear-cut after all.“ 294 Für die anthropologisch dimensionierte Plotkonstruktion und die ethischen Lösungsvorschläge dieses Romans gilt, dass konventionelle Genderoppositi‐ onen kulturkritisch aufgelöst werden und Rochester eine weibliche Emanzipa‐ tionsfantasie ist. 295 Sie werden im narrativen Gegenzug in einer märchenhaft fiktionalen rückblickenden Ich-Perspektive stabilisiert, die in Bezug auf eine Wiederverzauberung der Welt jedoch ambivalent bleibt. Die kulturkritische Di‐ agnose hinsichtlich weiblicher Entwicklungschancen gibt diesem Roman, der seit seiner Publikation erfolgreich in England, Amerika und auf dem europä‐ ischen Kontinent war, bis heute seine aktuelle Bedeutung. 296 Dies gilt auch heute für weibliche und männliche Rezipienten des dritten Lebensalters, spricht für seinen überindividuellen, gendertranszendierenden Status und fordert Plausi‐ bilitätsfragen heraus. Die Handlung des Romans ist um etwa vierzig Jahre, in den Zeitraum der englischen Romantik (1760 ̶1830), zurückversetzt. 297 Sie transzendiert die Ge‐ schichte eines sich selbstorganisierenden Subjekts, das sich gegen die gewalt‐ samen oder heuchlerischen und verräterischen Vereinnahmungsversuche von Vertretern der patriarchalischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert selbstverant‐ wortlich, intelligent und mit starken Gefühlen zur Wehr setzt, mit der Unter‐ stützung schicksalsähnlicher Mächte, die an vorbürgerliche Zeiten gemahnen und den märchenhaften Charakter dieses Bildungsromans verstärken: Im Kri‐ senkapitel Vol III , Chapter II beschwört Jane die Natur als schützende Mutter; in den theologischen Diskursen mit dem Calvinisten St John Rivers im letzten Drittel des Romans, bringt Jane, gegen den Calvinisten, ihr durch Gottes Ord‐ nung bestimmtes persönliches Gottesverhältnis, ihren Deismus, ins Spiel. Die überirdischen Stimmen und Klänge, die Jane durchgängig hört und den Leser / innen mitteilt, sind auf Janes Affinität zu Fantasiewelten zurückzuführen Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 192 298 Charles Taylor: Quellen des Selbst…, a. a. O., S. 652. 299 Rolf Breuer: Englische Romantik…, a. a. O., S. 51-84. und lassen sich als Echo, als nächtliche und irre Klangphänomene, als Voraus‐ deutungen des Gewitters und der Krise Janes sowie als Traumsequenzen und schließlich als Lockruf des Geliebten deuten. Auf der anthropologischen Ebene gestaltet der Roman Natur, Gottes Ord‐ nung, und die von Jane vernommenen Stimmen als Janes Naturbeziehung, die aus ihr schicksalsähnlich sprechen. Das erzählte Ich verortet sich in einer „ex‐ pressiven Anschauung des menschlichen Lebens“ 298 , das der Entdeckung des Selbst als komplexem Subjekt, der Romantik und ihrem neuen Geschichtsbewusst‐ sein 299 zuzuordnen ist. Jedoch wird auf dieser Erzählebene die Bindung des Sub‐ jekts Jane an die Schicksalsmächte nicht aufgelöst. In der Innerlichkeit Janes bleibt die Ambivalenz zwischen ihren Selbstbestimmungsmöglichkeiten und dem hierarchischen Gefälle der Schicksalsmächte als Erfüllungpotenziale. Erst die rückblickende Ich-Erzählerin gibt den Schicksalsmächten eine neue Deu‐ tung. Sie sieht sie als positive kommunikative Einflüsse auf durchkreuzten Selbstbestimmungsmöglichkeiten ihrer jungen Jahre. Die Form dieses Romans als autobiographische Fiktion spielt auf der anth‐ ropologischen wie auf der ethischen Ebene mit Möglichkeiten subjektiver Ent‐ wicklungspotenziale, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Hochzeit des Individualismus, kulturell gegeben waren. Beide Ebenen transzendieren vor‐ bürgerliche Phänomene einer historisch noch nicht voll entwickelten Individu‐ alität und Möglichkeiten persönlichen Selbstbestimmung im Medium fiktio‐ nalen Erzählens, durch die narrative Genremischung und die beiden Subtexte, und zwar in entgegengesetzte Richtungen. Diese narrative Binnenspannung bestimmt die Dialektik der Protestidentifikationt, in der sich das erzählte Ich, Jane, in ihrem Reifungsprozess zwischen Selbstachtung und Leidenschaft, Selbstverlust und Selbstdisziplin, entwickelt. Vom ersten Romankapitel an verteidigt die Protagonistin ihre Selbstachtung. Leidenschaftlich kämpft und argumentiert sie schon als zehnjährige gegen das Unrecht, das Vertreter der malevolenten Machtstruktur, die in Varianten den Roman durchzieht, ihr antun. Den Verlust ihres Selbstvertrauens erleidet Jane in ihren durch diese Strukturen ausgelösten existenziellen Krisen. Ihre Selbst‐ disziplin, die am Selbsthelferphänomen des 19. Jahrhunderts orientiert ist (Vol III , Ch. II ), hebt schließlich ihre Erfahrungen der Selbstachtung, der Lei‐ denschaftlichkeit bzw. Wut und des verlorenen Selbstvertrauens in die rück‐ schauende Perspektive der gereiften Ich-Erzählerin auf. Diese Selbstdisziplin wird in der autobiografischen Fiktion als dynamische Erzählenergie in Gestalt 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 193 Die Krisenstuktur des Romans Jane Eyre des Resilienzpotenzials der Protagonistin gelöst und verdichtet. In allen Kapiteln wird diese Denkfigur entweder in Richtung Assimilation an Machtstrukturen oder in Richtung Gehorsam diesen Machtstrukturen gegenüber, unter der Be‐ dingung entfaltet zwar anpassungswillig zu sein, nicht aber diesen Strukturen dienen zu müssen. Das Werden weiblicher Subjektivität zu sich selbst wird von der Kindheit Janes bis in ihr Alter als rückblickende erwachsene Ich-Erzählerin, die dem geliebten Gegner Rochester zwei Söhne gebiert, als transitorische Iden‐ tität durch weiblichen Witz gestaltet und kann als solche in der ironischen Welthaltung der Altersgelassenheit der Rezipient / innen erschlossen und re‐ flektiert werden. Janes Werden zu sich selbst wird in fünf Reifungsphasen vorgestellt, die sich auf je einen zentralen Handlungsort konzentrieren, durch Lebenskrisen des er‐ zählten Ich strukturiert und durch die Selbstachtung und Selbstdisziplin der Protagonistin schließlich bewältigt werden. Ihr Widerstandspotenzial befähigt Jane zu einer telepathischen Sensibilität, die von der rückblickenden Ich-Erzählerin in Gestalt epischer Vor- und Rück‐ griffe gestaltet wird. In dieser Verstrickung wird das erzählte Ich zu einer schil‐ lernden Figur, die zwischen destruktiver Empirie und rettender Metaphysik (Pantheismus, Deismus, Kapitel Vol III , Ch. II , Vol III , Ch. X- XII ) oszilliert und sich nicht auf eindeutige Charaktermerkmale festlegen lässt. Diese Polyvalenz bestimmt maßgeblich die Fiktionalität der Schlusstableaus dieses Romans. In Rückgriff der Dramaturgie der Kapitel Volume I, Ch. XI - XV , Volume II , Ch. I- XI auf die ersten Romankapitel und im Vorgriff dieser Kapitel auf die Ab‐ schlusstableaus, Kapitel Vol III , Ch. X- XII , wird deutlich, dass der patriarchale Herrschafts- und der imperiale Kolonialdiskurs in seiner analogen Struktur der Unterwerfung von Subjekten, durch die Leiden des erzählten Ich und die Refle‐ xionen und Leseransprachen des erzählenden Ich in Frage gestellt und durch Grenzsituationen, die das erzählte Ich schließlich bewältigt, narrativ plausibili‐ siert werden. Aus dieser Krisenstruktur ergeben sich folgende Erfahrungsspannungen, die die Krisen Janes unterscheiden und verbinden: • Phase 1: Gateshead Hall; Macht und Protest (Vol. I, Ch. I- IV ), • Phase 2: Lowood; Ohnmacht und Freundschaft (Vol. I, Ch. V-X), • Phase 3: Thornfield Hall; Liebe, Macht und Wahnsinn (Vol. I, Ch. XI - XV , Vol. II , Ch. I- XI ), • Phase 4: Moor House; Zentrale Lebenskrise, religiöse Hegemonie und Stolz (Vol. III , Ch. I- IX ), Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 194 300 Elisabeth Bronfen: „Femininity - Missing in Action“, in: Heather Glen (ed.): Jane Eyre. New Casebooks. London: Macmillan 1997, S. 196-204, hier: S. 197-198. Phasen eines Werdens zu sich selbst in autobiografischer Fiktion • Phase 5: Abgelegenes Ferndean; Prekäre Gleichberechtigung (Vol III , Ch. X- XII ). Die Phasen unterscheiden sich durch die Kopplungen unterschiedlicher Kom‐ plementär- und Kontrastfiguren, die in den differenten Settings zum Zuge kommen. Sie werden verbunden durch Janes Fahrten und Wanderungen und eine Plotstruktur, die die Themen Protest, Freundschaft, Wahnsinn und Stolz als Pole der ersten vier Erfahrungsspannungen Janes verknüpfen. In der vierten Phase erfährt Jane gesellschaftliche Anerkennung durch eine Geldsumme, die sie von ihrem Onkel auf Madeira erhält. Es handelt sich um die Unterstützung eines verstorbenen Kolonialherrn, die Jane in ihrer Selbstgewissheit gegen ihre Einstellung malevolenten Machtstrukturen gegenüber stärkt und ihr ermög‐ licht, ihre Emanzipation von diesen komplexen, undurchschaubaren Strukturen als Werden zu sich selbst realisieren. An dieser verwirrungsästhetischen Zufallskonstruktion haken die Plausibi‐ litätsfragen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters unter anderem mit den Überlegungen ein, ob in dieser Einführung des verstorbenen Onkels als Deus ex machina nicht die erzählerische Ironie liege, dass Kolonialherrn und ihre Un‐ terwerfungsmacht sterben müssten, damit Frauen des 19. Jahrhunderts, in den Anfängen der Suffragettenbewegung, trotz ihres persönlichen Freiheitswillens, gesellschaftlich legitimierte Chancen zur Emanzipation bekämen? Deutlich wird durch diese und ähnliche kritischen Fragen, dass in der Reflexion der Re‐ zipient / innen der Inhalt des Geschehens, der Plot, und die Form der autobio‐ grafischen Fiktion Jane Eyre kontingenzästhetisch auseinanderdriften. Jane ist eine Waise, die ohne den Schutz elterlicher Fürsorge aufwächst. Ebenso prekär ist ihre spätere Anstellung als Gouvernante. Im 19. Jahrhundert waren unverheiratete Frauen aus der bürgerlichen Mittelschicht, wenn sie als Gou‐ vernanten arbeiteten, gezwungen ihren Lebensunterhalt ohne Statusverlust selbst zu verdienen. In den Familien, in denen sie angestellt waren, gehörten sie weder zum Dienstpersonal noch zur Familie und hatten sich im Spannungsfeld zwischen Selbständigkeit und finanzieller Abhängigkeit zu bewähren. Diese prekäre Lage birgt für Jane Gefahren und Chancen. Auf beide Heraus‐ forderungen trifft sie in den fünf Phasen ihres Reifungsprozesses, die als Ent‐ scheidungs- und Grenzsituationen zwischen Leben und Tod gestaltet sind. 300 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 195 301 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 26. 302 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë. Horndon: Northcote House 2013, S. 44. 303 Charlotte Brontë: Jane Eyre…, a. a. O., Volume I, Chapter I, S. 10, S. 15. 304 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter II, S. 15. Janes Konfliktsensibilität wird in der narrativen Denkfigur sozialer Ungebun‐ denheit gestaltet: At the centre of all Charlotte’s novels (…)”, so Terry Eagleton, „is a figure who either lacks or deliberately cuts the bonds of kinships. This leaves the self a free, blank, ‘pre-social’ atom: free to be injured and exploited, but free also to progress, move through the class structure, choose and forge relationships strenuously utilize its tal‐ ents in scorn of autocracy or paternalism. 301 Janes Chancen liegen in der Anerkennung ihrer nicht in Rollen fixierbaren transitorischen Identität, in der Konfrontation mit den Gefahren, die ihre Selbst‐ achtung durch ihre Selbstdisziplin stärken. Die Ambivalenz zwischen Janes re‐ bellischem Geist und ihrer intelligenten Fähigkeit sich den patriarchalischen Konventionen anzupassen gegen die sie rebelliert, 302 strukturiert die autobio‐ grafische Fiktion Jane Eyre. Die ersten beiden Phasen des Lebens der jungen Jane Eyre (Vol. I, Ch. I- IV , V-X) sind von Vernachlässigung und Ungerechtigkeit geprägt. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wächst Jane als adoptierte Waise bei ihrer Tante Mrs Reed auf (Vol. I, Ch. I- IV ). Diese Lebensphase wird von Willkür, Unberechenbarkeit und emotionaler Vernachlässigung seitens Mrs Reed, ihrer beiden Töchter und ihres Sohnes John Reed bestimmt. An Janes Reaktionen gegenüber der Brutalität Johns und gegenüber den boshaften Unterstellungen ihrer Tante, sie, Jane, sei boshaft und eine Lügnerin, lernt Jane, ihre Individualität auch gegen eigene Geschlechtsgenossinnen zu verteidigen. Bereits im ersten Kapitel wird deutlich, dass die zehnjährige Jane, obgleich gewöhnlich gehorsam „like a mad cat“ gegen die verbalen und körperlichen Verletzungen, die ihr John Reed zufügt, zurück schlägt. Jane empfindet Johns brutale Übergriffe als „Unjust - unjust“ 303 und sieht sich, in epischer Voraus‐ deutung des Krisenkapitels Volume III , Chapter II , als Opfer willkürlicher fa‐ miliärer Verhältnisse: „I was a discord in Gateshead Hall: I was like nobody there (…).” 304 Nachdem sie zur Strafe in den „red-room“, in dem ihr Onkel Mr Reed verstarb, eingesperrt wird (Vol. I, Ch. II ), erleidet sie, wegen der Unheimlichkeit dieses Raumes, eine Schock und wird ohnmächtig. An dieser, wie an anderen Stellen zuvor, gleitet die narrative Perspektive des erzählten Ich über in die der rückblickenden Ich- Erzählerin, die die von Gewalt geprägten Beziehungen bei den Reeds, deren Opfer Jane ist, besser versteht, als die zehnjährige Jane. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 196 305 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter II, S. 14-15. 306 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter II, S. 15. 307 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 33. 308 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 33, S. 44. In Bezug auf John Reeds Attacken kommentiert die Ich-Erzählerin: „I really saw in him a tyrant: a murderer“ (Vol. I, Ch. I, S. 11) und in Bezug auf ihre ge‐ fängnisartige familiäre Situation fügt die Ich-Erzählerin in die Perspektive der zehnjährigen, im roten Zimmer eingesperrten Jane, ein: „All John Reed’s violent tyrannies, all his sisters‘ proud indifference, all his mother’s aversion, all the servant’s partiality, turned up in my disturbed mind like a dark deposit in a turbid well.“ 305 Direkt im Anschluss an diese Reflexion folgt die Frage der zehnjährigen Jane, die zum grundlegenden Impuls ihrer Lebenshaltung wird: „Why was I always suffering, always brow-beaten, always accused, for ever condemned? Why could I never please? Why was it useless to try to win any one’s favour? ” 306 In dem Erzählerkommentar und in der anschließenden Frage wird die nar‐ rative Konstruktion der autobiografischen Fiktion Jane Eyre deutlich: Die Aus‐ wirkungen unmittelbar leidenschaftlicher Gefühle, wie Wut und rebellische Re‐ aktionen, die in der Perspektive des erzählten Ich zum Ausdruck kommen, werden mit der gereiften, gelassener gewordenen Perspektive der Ich-Erzäh‐ lerin so verwoben, dass keine der beiden Sichtweisen die andere beeinträchtigt. Die grundlegende dramaturgische Spannung des Romans Jane Eyre, nämlich die zwischen Anpassung und Widerstand, Geduld und Rebellion, wird in dieser Doppelperspektive erzählerisch konkretisiert. Patsy Stomeman bezeichnet diese Erzählstimme als „the voice of humane reason“. 307 Stoneman fährt fort: „In one incident after another, the doubled voices of immediate Passion and reflective Reason address the question of endurance and revolt: when should one submit to authority, and when is rebellion justified? “ 308 Diese grundlegende Frage wird in der Auseinandersetzung der zehnjährigen Jane mit ihrer tyrannischen Tante als Problematik transitorischer Identität weiblicher Subjektivität in der Moderne anschaulich. Bevor Mrs Reed Jane, zwecks besserer Erziehung, dem Leiter der Lowood Charity School, Mr Brock‐ lehurst, einem evangelikalen Fanantiker und einer Spiegelfigur Mrs Reeds, in die Hände gibt, kommt es zwischen ihr und Jane zu einer heftigen Auseinan‐ dersetzung (Vol. I, Ch. IV ). Mrs Reed stellt gegenüber Mr Brocklehurst Jane als schwer erziehbare, aufsässige Lügnerin dar. Die zehnjährige Jane verteidigt sich, entlarvt Mrs Reed als Lügnerin und geht als moralische Gewinnerin aus dieser Auseinandersetzung hervor: 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 197 309 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter IV, S. 35-36. 310 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter VI, S. 55-56. 311 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter X, S. 85. Mrs Reed and I were left alone (…) Sitting on a low stool, a few yards from her arm-chair, I examined her figure, I perused her features (…).‘I am not deceitful: if I were, I should say I loved you; but I declare, I do not love you: I dislike you the worst of anybody in the world except John Reed; and this book about the liar, you may give to your girl, Georgina, for it is she who tells lies, and not I (…). I am glad you are no relation of mine: I will never call you aunt again as long as I live (…).” 309 In Lowood Charity School, in der Jane die zweite Phase ihres Lebens verbringt (Vol. I, Ch. V-X), stößt Jane auf ähnlich prägende Erfahrungen. Zunächst hat Jane Schwierigkeiten sich an die Regeln dieser vom religiösen Dogma der Erb‐ sünde bestimmten Erziehungsanstalt, die jede Individualität negiert, zu ge‐ wöhnen. Hinzu kommen physische Leiden wie Kälte, Hunger - die Schülerinnen bekommen zu wenig Nahrung - Krankheit und Tod. Jane schließt Freundschaft mit einer Mitschülerin, Helen Burns. Nachdem Helen von Mrs Scatcherd ge‐ schlagen wurde, fragt Jane, warum Hellen nicht rebelliere? Hellen antwortet: ’It is far better to endure patiently a smart which nobody feels but yourself, than to commit a hasty action whose evil consequences will extend to all connected with you - and, besides, the Bible bids us return good for evil‘(…). I heard her with wonder: I could not comprehend this doctrine of endurance (…). 310 Erneut wird hier die Grundfrage des Romans als Entscheidungssituation der älter gewordenen Jane anschaulich. Jane wird Helens Geduldsdoktrin ablehnen. Narrativ verstärkt wird diese Entscheidung durch die Erinnerung der Ich-Er‐ zählerin an Helen Burns‘ Tod. Helen stirbt an der Typhusepidemie, die die Schule erfasst hat (Chap. IX ). Diese führt zu Brocklehursts Entlassung. Mit Helens Tod verliert Jane einen Halt, gewinnt aber auch die Gewissheit, dass ihr Wider‐ standsgefühl ihr Leben und Kraft gibt unbarmherzige Strafen zu überstehen. Miss Temple, die Janes Mentorin und Freundin wird und Janes Leidensge‐ schichte, die sie in der Familie der Reeds erfuhr, Glauben schenkt, spricht sie schulöffentlich vom Vorwurf, sie sei eine Lügnerin, frei. Nachdem Miss Temple Lowood verlassen hat, bricht in der 18jährigen Jane ein unbändiges Freiheits‐ gefühl aus: „(…) I tired of the routine of eight years in one afternoon. I desired liberty; for liberty I gasped; for liberty I uttered a prayer; it seemed scattered on the wind than faintly blowing.” 311 Janes Freiheitssehnsucht wird jedoch von der ihr eigenen Selbstdisziplin, die durch die Lage der Frauen im 19. Jahrhundert Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 198 312 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter X, S. 86. 313 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter XII, S. 109. 314 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter XII, S. 109. provoziert wird, konterkariert: „A new servitude! There is something in that (…).“ 312 Im Unterschied zu ihrer bisher erzwungenen Unterwerfung unter malevol‐ ente Machtstrukturen entscheidet sich Jane für eine freiwillig Knechtschaft, die in die Ironie des autoreferenziellen Romantableaus mündet: Sie bewirbt sich, nachdem sie in Lowood als Lehrerin gearbeitet hat, um die Stelle einer Gouver‐ nante, weil sie als gebildete Frau im 19. Jahrhundert keine andere Chance hat ihren Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. In der dritten Phase ihrer Autobiografie (Vol. I, Ch. XI - XV , Vol. II , Ch. I- XI ) geht die Rebellion der jugendlichen Jane über in Wutbausbrüche gegen Unge‐ rechtigkeiten des Patriarchats. Der aufwieglerische Ton des Romans verschärft sich, wird aber ausgeglichen durch längere reflektierende Passagen der Ich-Er‐ zählerin. Jane arbeitet als Gouvernante in Thornfield Hall. Dort trifft sie erneut auf die mentale Gefängniserfahrung, die sie von ihren ersten beiden Lebensphasen kennt: „(…) I longed for a power of vision, which might overpass that limit; which might reach the busy world, towns, regions full of life I had heard of but never seen (…).” 313 Noch bevor sie Rochester trifft, findet sie Trost darin „(…) to open my inward ear to a tale that was never ended - a tale my imagination created, narrated continuously; quickened with all incident, life, fire, feeling, that I de‐ sired and had not in my actual existence.” 314 Entsprechend fantastisch kommt Jane ihr erstes Treffen mit Rochester vor. Er erinnert sie an eine übernatürliche Sagengestalt, eine Imagination, die Rochester in Bezug auf Jane ebenfalls hatte, wie er ihr in ihrem ersten Gespräch gesteht. Die imaginativen Fähigkeiten, die beide Figuren auszeichnen, lassen sie in ihren Gesprächen zu Alter-Ego Figuren, mit unterschiedlichen Empathiepotenzialen werden. Die Beziehung zwischen Jane und Rochester besteht im Wesentlichen aus drei Elementen. Diese sind ihre Gespräche, Rochesters Geheimnis um Bertha, schließlich Rochesters Verrat an Jane als Bigamist. Die Gespräche zwischen Rochester und Jane geben Jane Gelegenheit ihren Widerstandsgeist gegen ihn mit ihrer Liebe zu ihm zu verbinden. Rochester regt Janes imaginative Fähigkeiten an. Beide suchen einen gemeinsamen Weg, die Standeskonventionen zwischen Rochester als landadeligem Arbeitgeber Janes und Jane als angestellter Gouvernante bei Rochester aufzubrechen. Bertha bleibt in diesem Zusammenhang noch ein Geheimnis Rochesters, das ihn wie eine byronische Gestalt umgibt und ihn für Jane erotisch attraktiv macht. 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 199 315 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume II, Chapter X, S. 282-286. In der Beziehung zwischen Jane und Rochester - wie auch in den Figurenin‐ teraktionen zuvor - bestätigt und problematisiert der Roman die Idee patriar‐ chalischer Herrschaft. In Anspielung an ihre Erfahrungen in Gateshead betont Jane Rochester gegenüber die industrielle Ausbeutungs- und Entfremdungs‐ problematik ihrer Zeit und Möglichkeiten der Gleichberechtigung. Sie hebt ihre Gleichberechtigung und Überlegenheit ihm gegenüber hervor: ‘Then I must go (…). I tell you I must go (…). Do you think I can stay to become nothing to you? Do you think I am an automaton? - a machine without feelings? (…) Do you think, because I am poor, obscure, plain and little, I am soulless and heartless? You think wrong! - I have as much soul as you - and full as much heart! ’ (Vol. II, Ch. VIII, S. 253) Rochester, wie immer patriarchalisch er denken und sich Jane gegenüber ver‐ halten mag, erkennt Jane nicht nur als sein „‘second self and best earthly com‐ panion‘“ an (Vol. II , Ch. VIII , S. 254), er hebt auch seine Unterlegenheit, die er in der Beziehung zu Jane erkennt, Jane gegenüber hervor: „‘I was your equal at eighteen - quite your equal’” (Vol. I, Ch. XIV , S. 135). In der entscheidenden Szene, in der Rochester um Jane als Ehefrau - gegen ihren Stolz als Rivalin Blanche Ingrams - wirbt, löst Rochester in der Doppel‐ perspektive der Ich-Erzählerin und des erzählten Ich den Begriff des Patriarchen auf und transformiert, durch Janes Empathie und Widerstand provoziert, das asymmetrische Machtgefälle zwischen ihm und ihr in ein symmetrisches: „‘My bride is here (…), because my equal is here, and my likeness. Jane will you marry me? ’” (Vol. II , Ch. VIII , S. 254). Weil Jane Rochester liebt, sagt sie nach einer Krise zu, seine Frau zu werden. Nicht wissend, dass Rochester mit Bertha bereits ver‐ heiratet ist, 315 kehrt sie im Möglichkeitsraum der Fiktion die Machtverhältnisse um, zeigt sie diese, die Schlusstableaus antizipierend, als veränderbar. Jane hat nie Kompromisse akzeptiert, wird aber von Rochester, der Bigamist ist, verraten. In der komplementären Szene, in der Jane die Werbung des Calvi‐ nisten St John Rivers um sie als Ehefrau ablehnt, kommt in einer Leseransprache ihre Selbstachtung und ihr Gefühl für persönliche Autonomie, die bereits ihre Beziehung zu Rochester und zu Vertretern des Patriarchats prägte, deutlich zum Ausdruck: „I know no medium: I never in my life have known any medium in my dealings with positive, hard characters, antagonistic to my own, between absolute submission and determined revolt.“ (Vol. III , Ch. VIII , S. 400). Hier spricht die Erzählerin das narrative Muster ihrer autobiografischen Fiktion an. Sie begründet zudem den Niedergang des Hauses Thornfield Hall und die In‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 200 316 Elisabeth Bronfen: „Femininity - Missing in Action…, a. a. O., S. 200. 317 Siehe dazu die Aufsätze in Heather Glen (ed.): Jane Eyre. New Casebooks. London: Mac‐ millan 1997; Elsie B. Michie (ed.): Charlotte Brontë’s Jane Eyre…, a. a. O.; Harold Bloom (ed.): Charlotte Brontë’s Jane Eyre. Bloom’s Modern Critical Interpretationes. New York: Chelsea 2007; sowie die Ausführungen von Silvia Mergenthal: Autorinnen der Viktori‐ anischen Epoche…, a. a. O., S. 37-39. 318 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 41. 319 Charlotte Brontë: Jane Eyre…, a. a. O., Volume I, Chapter XII, S. 109. validität Rochesters, auf die der Plot ab der Umwerbung Rochesters um Jane zutreibt. Diese narrative Auflösung patriarchalischer Verhältnisse, die in den Doppelschluss einer gleichberechtigten Ehe Janes mit Rochester und in den Tod St John Rivers mündet, wird dramaturgisch und kulturpolitisch durch Bertha, der versteckten Ehefrau Rochesters, vorbereitet. Bertha kann als Janes Komplementärfigur verstanden werden. Sie versinn‐ bildlichte Janes verdrängtes sexuelles Begehren als destruktive Energie und hebt zugleich Janes Selbstachtung und Selbstdisziplin hervor: „Bertha can be seen as Jane’s darkest double, as her ferocious secret self, who appears whenever an experience of anger or fear arises on Jane’s part that must again be repressed.” 316 Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Sigmund Freuds hat die feministische Forschung 317 die Widerständigkeit Berthas mit der Janes verglichen. Beide sind Außenseiterinnen, neigen zu irrationalen Ausbrüchen, sind unstet und befinden sich in prekären Lebenssituationen. Jane weiß nicht, dass Bertha Rochesters Ehefrau ist, die er, weil sie eine wahnsinnig gewordene Creolin von den West‐ indischen Inseln ist, auf seinem Dachboden versteckt und gefangen hält. Bertha kann als Symbol weiblicher Unterdrückung und weiblicher Gefangennahme im 19. Jahrhundert verstanden werden. Patsy Stoneman gibt Berthas Stellenwert im Roman den Sinn, im Rückgriff auf die Eingangskapitel, die Jane als Sklavin bei den Reeds bezeichnen, eine „re-emergance of slavery in the text“ 318 zum Ausdruck zu bringen, die die Wiederkehr verdrängten Begehrens anschaulich macht und die Parallele zwischen patriarchalischen und kolonialistischen Machtstrukturen verdeutlicht. Rochesters Reichtum und Existenzkrise lassen sich, so gesehen, aus den kolonialen Besitzständen auf den Westindischen Inseln ableiten. Dieses Motiv greift das erzählte Ich in einem der Gespräche mit Rochester, wie zuvor auch die Ich-Erzählerin auf der Reflexionsebene, auf. 319 Jane vergleicht Rochester mit einem orientalischen Pascha, der autokratisch über einen Harem herrscht und dem sie sich als potenzielle Sklavin verweigert: „’I’ll not stand you an inch in the stead of a seralgio (…) so don’t consider me an equivalent for one: if you have a fancy for anything in that line, away with you, 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 201 320 Charlotte Brontë: Jane Eyre…, a. a. O., Volume II, Chapter IX, S. 269. 321 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 43 (Hervorhebung von Stoneman). 322 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter XII. 323 Charlotte Brontë: Jane Eyre… a. a. O., Volume I, Chapter XII, S. 109. Sir, to the bazaars of Stamboul without delay (…).‘“ 320 Patsy Stoneman deutet in diesem Zusammenhang die Intention des Romans Jane Eyre als fiktionalen Möglichkeitsraum, der Jane den Weg zur persönlichen Autonomie eröffnet: „(…) there is no doubt that the project of Jane Eyre itself is indeed to guide Jane to full self-possession, and Bertha is important in the pattern of contrasts and pa‐ rallels which define the novel’s heroine.” 321 Jane hält Rochester auf Distanz, um der realen Gefahr sexueller Hingabe zu entgehen und um ihre Selbstachtung zu wahren. Dieses Motiv spricht die Ich-Erzählerin, in Anlehnung an Mary Wollstonecrafts 1792 veröffentlichten Essay A Vindication of the Rights of Women als Leitmotiv in ihrer an die Leser / innen gerichtete Selbstreflexion, an 322 : (…) restlessness was in my nature (…). It is in vain to say human beings ought to be satisfied with tranquility: they must have action; and they will make it if they cannot find it. Millions are condemned to a stiller doom than mine, and millions are in silent revolt against their lot. Nobody knows how many rebellions besides political rebel‐ lions ferment in the masses of life which people earth. Women are supposed to be very calm generally: but women feel just as men feel; they need exercise for their faculties, and a field for their efforts as much as their brothers do; they suffer from too rigid a restraint, too absolute a stagnation, precisely as men would suffer; and it is narrow-minded in their more privileged fellow-creatures to say that they ought to confine themselves to making puddings and knitting stockings, to playing on the piano and embroidering bags. It is thoughtless to condemn them, or laugh at them, if they seek to do more or learn more than custom has pronounced necessary for their sex. 323 Die Ich-Erzählerin bestreitet die Herabsetzung der Frau als Begierdeobjekt des Mannes und als ihn umsorgende Hausfrau und Mutter ihrer Kinder. Sie hebt im Hinweis auf millions die politische Gleichberechtigungsforderung für Frauen und Männer gegenüber einer kleinen herrschenden Elite hervor. Damit weist sie nicht nur auf die Chartistenaufstände ihrer Zeit hin, sie entwirft auch eine emanzipative Freiheitsvision. Einsichtig wird, dass der Roman Jane Eyre die 1869 erschienene Schrift John Stuart Mills The Subjection of Women, die für die ge‐ sellschaftliche Existenz einer New Woman im 19. Jahrhundert argumentiert, an‐ tizipiert. Der Roman fasst seine Vision der Gleichberechtigung in die sugges‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 202 324 Joyce Carol Oates: „Romance and Anti-Romance: From Brontë’s Jane Eyre to Rhys’s Wide Saragossa Sea“, in: Elsie B. Michie…, a. a. O., S. 195-208, hier, S. 198-199. 325 Charlotte Brontë: Jane Eyre…, a. a. O., Volume II, Chapter VI, S. 239-240. 326 Charlotte Brontë: Jane Eyre…, a. a. O., Volume III, Chapter II, S. 323, S. 327, S. 330. tiven Bilder des Wahnsinns, der Brandstiftung, der Revolte, der Wut und in die vulkanischen Ausbrüche Berthas. Zwischen Leidenschaft und Vernunft narrativ vermittelnd, führt der Roman Jane Eyre die Hindernisse und Möglichkeiten einer Besserung des Zustandes der Durchkreuzung von Autonomiebildungsmöglichkeiten der Frauen im 19. Jahrhundert vor Augen. Er spielt mit den Erwartungen moderner Leser / innen. Joyce Carol Oates sieht die narrative Struktur dieser Intention lerserbezogen darin, dass der Roman Jane Eyre „provoke(s) conventional associations on the part of the reader (to whom Jane is relating her history), and then, within a paragraph or two, deftly qualifies or refutes it.” 324 Oates spielt auf die kontin‐ genzästhetischen Wendungen an, die sich durch Berthas nächtliche Wahnsinn‐ sanfälle und Attacken, durch Rochesters Entlarvung als Bigamist, durch die un‐ erwartete Selbstrettung Janes aus ihrer tiefsten Lebenskrise, nachdem sie Thornfiled Hall verlassen hat, ferner, auf ihr nicht zu erwartendes finanzielles Erbe und auf ihre überraschende Entscheidung, Rochester zu heiraten, ergeben. Nachdem Rochester als Bigamist entlarvt wurde und Jane eröffnet wird, dass sie das Vermögen ihres verstorbenen Onkels Mr Eyre aus Madeira geerbt hat (Vol. II , Ch. XI ) fällt Jane in die tiefste Krise ihres Lebens. Zugleich schnürt der Roman in diesem Krisenkapitel den Plot. Das finanzielle Vermögen des Onkels ermöglicht Jane in den Schlusstableaus ein selbstorganisiertes Leben und ent‐ larvt Mrs Reed, die Jane als Kind die brieflich geäußerte Aussicht auf dieses Vermögen vorenthielt, als Verräterin. 325 Erneut befindet sich Jane, weil sie Ro‐ chester liebt und schockiert über seinen Verrat ist, in der grundlegenden Ent‐ scheidungssituation zwischen Anpassung an gesellschaftliche Konventionen, hier Rochesters „mistress“ zu werden, und ihrer Rebellion dagegen, um ihre Selbstachtung zu wahren. Ihre entscheidende Lebenskrise stürzt sie in den Zwiespalt zwischen Selbstachtung und Selbstvernichtung. Das Krisenkapitel Volume III , Chapter II ist ein Mikrokosmus im Makro‐ kosmus des Romans Jane Eyre. Die dreiteilige Erzählstruktur dieses Mikro‐ kosmos: Janes Weg ins Moor, Jane irrt im Niemandsland des Moores in Kreisen umher, ihr Weg aus dem Moor, ist erzählerisch zirkulär im Wechsel von Steige‐ rung und Auflösung gestaltet: „I struck straight into the heath“/ „…drew near houses… left… came back…“/ schließlich: „…a light sprang up.“ 326 Diese Wech‐ selbewegung greift die Motive der Rastlosigkeit, des Orientierungsverlusts und 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 203 des Verlusts des Selbstvertrauens Janes, die den Roman durchziehen, auf und spiegelt die zirkuläre Erzählstruktur der autobiografischen Fiktion Jane Eyre als Reflexion auf Spielarten selbstentzogener Identitätserfahrungen. Auf dem Höhe- und Wendepunktpunkt ihrer Krise (Vol. II , Ch. XI , Vol. III , Ch. I) erleidet Jane den Verlust ihrer Selbstkontrolle. Sie läuft in Kälte und Nacht im Moor und trifft auf das zentrale Problem ihrer Identitätserfahrung, auf die Ambivalenz von durchkreuzter und selbstbewusster Identität. Der vor dem Au‐ genblick ihrer Rettung angesprochene Subtext Die Räuber von Friedrich Schiller (Vol. III , Ch. II , S. 332-333) verweist - wie weiter unten erläutert - auf das kul‐ turkritische Anliegen des Romans und eine mögliche analoge Lösung der Krise Janes zu der der Räuber: Der Roman Jane Eyre stellt den Gegensatz zwischen Jane, die sich zivilisatorisch ausgeschlossen fühlt - „my own wretched position“ (Vol. III , Ch. II , S. 334) - und denen, die in häuslicher Sicherheit wohnen, in Pa‐ rallele zu Berthas Situation, als unheimliches Zwischenreich, in einer autobio‐ grafischen Bruchlinie in Janes Werden zu sich selbst dar: (…) outcast as I was; and I, who from man could anticipate only mistrust, rejection, insult, clung to (Nature) with filial fondness (…) My rest might have been blissful enough (in the cold night), only a sad heart broke it. It plained of its gasping wounds, its inward bleeding, its riven chords. (Vol. III, Ch. II, S. 323-324). Zu Janes Selbstachtung gehört, dass sie sich am viktorianischen Selbsthelferideal orientiert und deshalb überleben kann. An einem der Häuser in Whitcross, am Rande des Moors, bittet sie um Arbeit, die ihr verweigert wird - „‘I am a stranger, without acquaintance, in this place. I want some work: no matter what‘“ (Vol. III , Ch. II , S. 327). Das gleiche geschieht an der Tür des Pfarrhauses. Jane ist empört: „It is the clergyman’s function to help - at least with advice - those who wished to help themselves. (…). Renewing (…) my courage, and gathering my feeble remains of strength, I pushed on.” (Vol. III , Ch. II , S. 327, S. 325). Ihre Selbstachtung veranlasst Jane jede Arbeit anzunehmen und St John Ri‐ vers Arbeitsangebot nachzukommen (Vol. III , Ch. V). Nur so kann sie gesell‐ schaftlich akzeptiert werden und öffentlich Anerkennung genießen. Kapitel Vo‐ lume III , Ch. II deutet von Janes Lebenskrise her ihren sozialen Status und ihre Identität: Wenn sie als Frau nicht für jemanden eine Aufgabe oder Rolle über‐ nimmt - als Ehefrau, Lehrerin oder als Bedienstete - ist und gilt sie nichts, hat sie kein Anrecht auf gesellschaftliche Anerkennung. Sie riskiert den Verlust ihres Selbstgefühls und ihrer Persönlichkeit, die einzigen Gebrauchswerte, die sie ins Spiel bringen kann. Dieses Risiko kommt einer Selbstvernichtung gleich. Weibliche Selbstbestimmung geht aus Krisenerfahrungen hervor und ist ver‐ knüpft mit der Abhängigkeit von anderen. Unter dem Verdacht eine Bettlerin, Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 204 Kriminelle oder Prostituierte zu sein, die Opfer der englischen Armengesetzge‐ bung von 1834 wurde, aus dieser Existenzkrise (Vol. III , Ch. II ) rettet sie der calvinistisch radikale Priester Rivers, der sie erneut vereinnahmen will. Gegen ihn kann Jane, aus Vorsicht unter falschem Namen, wieder sie selbst sein (Vol. III , Ch. II , S. 337). Von hier aus sind die Schlusskapitel zu verstehen. Volume III , Chapters VII - IX erzählen in einem Wirbel von Kontingenzen, dass Jane eine Summe von 20 000 Pfund erbt. Sie entscheidet sich ihr Erbe zwi‐ schen sich, ihren Cousinen und deren Bruder, St John, aufzuteilen. Dies ist eine märchenhafte Schlusspassage, die zudem in die Weihnachtszeit platziert ist. Durch die gesetzlich abgesicherte Erbschaft, ihre gesellschaftliche Anerken‐ nung und ihre wieder erstarkte Selbstsicherheit, ist Jane zu einer Persönlichkeit herangewachsen, die als unverheiratete Frau eigenständig und selbstbewusst über ihren Besitz verfügen kann. Sie lehnt St John Rivers zweifaches Heirats‐ angebot ab (Vol. III , Ch. VIII , IX ). Zwar findet Jane in ihren Cousinen Mary und Diana freundschaftliche und gebildete Begleiterinnen, hält Rivers aber für gefühllos und innerlich korrum‐ piert. Seine Annäherung, in der er ihre Ruhelosigkeit mit seiner vergleicht (Vol. III , Ch. IV , S. 354), stößt sie ab. Jane befürchtet, dass Rivers über sie genau die gleiche rücksichtslose Kontrolle ausüben wird, wie er über sich selbst. Rivers ist als eine komplementäre Kontrastfigur zu Jane und Parallelfigur zu Mrs Reed, Brocklehurst und zur patriarchal vereinnahmenden Seite Rochesters angelegt, die über Jane jene Kontrolle ausübt, die Rivers über seine zukünftigen Unter‐ gebenen in den Kolonien ausüben wird. Der Unterschied zwischen diesen Fi‐ guren und Rivers ist jedoch, dass er seine religöse Radikalität der Selbstvernei‐ nung als gottgewollt darstellt. Dagegen rebelliert Jane. Sie lehnt sowohl Rivers religiöse, wie seine sexuellen Forderungen ab. Rivers verlangt von Jane religiöse und sexuelle Unterwerfung. Wo Rochester Jane als Geliebte halten wollte, klagt Rivers Ehe als legalisierte, gottgegebene Prostitution ein. Janes Werden zu sich selbst würde in der Beziehung zu Rivers in Selbstverleugnung und Selbstver‐ nichtung einmünden. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung existenzieller Not (Vol. III , Ch. II ) und ihrer Liebe zu Rochester entscheidet sich Jane für Rochester, dessen Stimme sie plötzlich hört (Vol. III , Ch. IX ). Rezipient / innen des dritten Lebensalters erkennen in diesen Passagen Erfahrungen der Selbst-und Fremd‐ bestimmung und gewagter Widerstandsmomente wieder. Die Kapitel Vol III , Ch. X- XII gestalten die fünfte Phase in Janes Entwicklung. Janes materielle und gesellschaftliche Absicherung, ihre durch Krisen gereifte Lebenserfahrungen und ihre Reife werden zur komplementären Erfahrung zwi‐ schen ihr und Rochester. Jane kehrt nach Thornfield Hall zurück, das sie zerstört vorfindet. Bertha hat das Herrenhaus in Schutt und Asche gelegt und ist ge‐ 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 205 Die auf Erfüllung angelegten Schlusstableaus storben. Rochester hat sich als Invalide nach Ferndean zurückgezogen. Janes starker Einfluss und Liebe können Rochesters Gesundheits- und Besitzverlust ausgleichen. Im epischen Rückgriff auf das erste Zusammentreffen Janes und Rochesters (Vol. I, Ch. XII ) wird die Zirkularität des narrativen Zusammenhangs dieses Ro‐ mans deutlich. Asymmetrische Machverhältnisse auf der Inhaltsebene und sym‐ metrische Wunschvorstellungen, die sich aus der rückblickenden Ich-Perspek‐ tive ergeben, durchdringen einander, weisen inhaltlich voraus auf die Schlusstableaus, Janes Lebenskrise im Moor und die doppelte Lösung der Schlusstableaus, zugleich, aus der rückblickenden Sicht der Ich-Erzählerin auch autoreferenziell zurück auf dieses Ereignis in Volume I, Ch. XII . Werfen wir einen Blick zurück. Was geschieht in Volume I, Ch. XII auf das der Roman autoreferenziell zurückverweist? Die junge Gouvernante Jane erhält von Mrs Fairfax, der Haushälterin des Landadeligen Rochester, der in Thornfield Hall byronesk Herr und abwesend ist, er geht und kommt, wann er will, den Auftrag, einen Brief auf die Post nach Hay zu bringen, einem nahe gelegenen Dorfflecken. Auf ihrem Weg nach Hay geht sie durch ein dunkles Waldstück. Es ist Abend. Der Mond scheint. In diesem Waldstück begegnet ihr, hoch zu Ross, ein Reiter, begleitet von seinem Hund. Beim Zusammentreffen von Pferd und Jane, scheut das Pferd und wirft seinen Reiter ab. Der Reiter verstaucht sich den Fuß. Voller Schmerzen herrscht er die erschrockene Jane an, ihm das Pferd zu bringen. Das Pferd scheut auf. Fluchend stützt sich der Reiter auf Jane, steigt auf das Pferd und prescht durch den Wald davon. Jane setzt ihren Weg in entge‐ gengesetzte Richtung nach Hay fort. Zurückgekehrt nach Thornfield Hall, er‐ fährt sie, dass der Reiter ihr Arbeitgeber, der Landadelige Rochester war. Wie oben dargelegt, begegnen sich beide Figuren plötzlich und assoziieren mytho‐ poetisch Märchenbzw. Sagengestalten mit dem jeweils anderen. Strukturell ähnlich sind die Schlusstableaus. Rochester, durch den zerstörten Verlust seines Herrenhauses mittellos geworden, fast erblindet und an einer Hand gelähmt, stützt er sich auf Jane, die ihn durch die Krisen ihres Lebenslaufs hindurch auf Distanz treu geblieben ist, ihn liebt, aus eigenem Entschluss ehe‐ licht und versorgt. Eine mythopoetisch märchenhafte Anspielung liegt aus der autodiegetischen Sicht des Romans darin, dass Aschenputtel ihren Prinzen er‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 206 327 Melanie Walz: „Nachwort: ‚Was für ein schweres, trauriges Leben‘, in: Charlotte Brontë: Jane Eyre. Eine Autobiographie. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Berlin: Insel 2015, S. 599-630, hier: S. 612-617, M. Walz bezeichnet das Märchenmotiv des Aschenputtels als „nur ein Element dieses vielschichtigen Romans“ (S. 617); im Grimm’schen Märchen lautet die Peripetie: „Und als es (Aschenputtel) sich in die Höhe richtete und der König ihm ins Gesicht sah, so erkannte er das schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte, und rief ‚das ist die rechte Braut! ‘ Die Stiefmutter und die beiden Schwestern erschraken und wurden bleich vor Ärger: er aber nahm Aschenputtel aufs Pferd und ritt mit ihm fort.“ Brüder Grimm: „Aschenputtel“, in: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auf‐ lagen veröffentlicher Märchen. Herausgegeben von Heinz Röllecke. Stuttgart: Reclam 2009, S. 131-139, hier: S. 138. 328 Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte…, a. a. O., S. 527-532; Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt / M: Suhrkamp 1995. 329 Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte…, a. a. O., S. 544. Die Bedeutung der rückbklickenden Erzählperspektive löst. 327 Diese Erfüllungsvision wird durch den zweiten Schluss des Romans er‐ gänzt: Mit St John Rivers Tod sterben in diesem Roman religiöser Fanatismus und sein patriarchalischer Vertreter. Jane lässt zu, dass Rochester seine Liebe zu ihr erwidert. Diese emotionale und juristische Balance ermöglicht die Vereini‐ gung beider Erzählfiguren und die Transzendierung viktorianischer Wertvor‐ stellungen durch romantische Liebe. Deren hervorstechende Merkmale sind die gesellschaftliche Exklusivität der Liebenden in Ferndean und der Schutz der Spontaneität ihrer Gefühle vor einer feindlichen Welt. 328 Abgesichert durch die rückblickende Ich-Perspektive, die alle anderen Perspek‐ tiven, mit denen das erzählte Ich interagiert, auf sich bezieht, kann die Ich-Er‐ zählerin Kontrastperspektiven zu ihren Gegnern, die sie zur Außenseiterin werden lassen und Komplementärperspektiven zu denen, die ihre Sicht er‐ gänzen, aufbauen. Der gesetzliche Rückhalt Janes (ihre Erbschaft, die sich aus Kolonialbesitz herleitet), Janes Entschiedenheit und Liebe ermöglichen die Ehe zwischen ihr und dem invaliden Rochester, die die aktive weibliche Hauptfigur auf legaler Grundlage erkämpft. Im Gegensatz zum viktorianischen Ideal der fügsamen Frau und ihrer legalisierten Abhängigkeit zeigt der Roman, dass Jane ihre Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse, aufgrund ihrer existenziellen Krisen‐ erfahrungen immer wieder selbst kontrollieren und aktiv vertreten kann, und wie schwer der Kampf ist, „das Recht des Stärkeren“ zu transformieren. 329 Indem die Ich-Erzählerin ihre rebellische Jugend und ihre Selbstdisziplin als Kampf um Anerkennung positiv bewertet, kritisiert sie die Frauenrolle und den Paterna‐ lismus des 19. Jahrhunderts. Die rückblickende Ich-Perspektive begehrt durch die Mischung weiblicher und männlicher Elemente in Jane und Rochester und 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 207 330 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 47. 331 Hans Ulrich Seeber: „Romantik und Viktorianische Zeit“…, a. a. O., S. 283. durch Janes Selbstbewusstsein, gegen bürgerliche Rollenvorstellungen und gegen die Tendenz, Stimmen und Identität der Frauen zu ignorieren oder zum Schweigen zu bringen, auf. Das märchenhaft wirkende Finale verstärkt diese Vision. 330 Während Frauengestalten im Sturm und Drang (auch in Schillers Drama Die Räuber) oft im Hintergrund bleiben, ist Jane, selbst in ihren Krisen‐ erfahrungen, aktives Zentrum dieser autobiografischen Fiktion. Der Roman trägt zur „Aktualität der Frauenfrage“ 331 bei. Die Schlusstableaus, sowie die an Keats‘ Gedichte erinnernden Naturschil‐ derungen und das differenzierte Innenleben und Krisenbewusstsein seiner Hauptfiguren, machen das Anliegen der autobiografischen Fiktion Jane Eyre deutlich. Es geht um weibliche Bildung als reflektiertes Reifungs- und Durch‐ haltevermögen. Es geht um eine junge Frau, deren Selbstkontrolle ihr ermög‐ licht, gegen verwehrte Selbstbestimmungsmöglichkeiten und durchkreuzte Selbstbestimmungschancen ihre Selbstachtung und Würde zu wahren und des‐ halb diesen differenzierten Roman im Bewusstsein gefährdeter transitorischer Identität zu schreiben. Die narrative Struktur dieses Romans entsteht aus dem Spiel mit dem Paradox des poetischen Realismus. Sie äußert sich autoreferenziell im Muster romanti‐ scher Liebe zwischen der jungen Gouvernante Jane und dem Adeligen Rochester als Textur von asymmetrischen Machtstrukturen und symmetrischen Wieder‐ verzauberungselementen. Die raffinierte Erzähltechnik teilt die beiden Prota‐ gonisten Rochester und Jane zwei Genres zu: Auf der inhaltlichen Ebene ist der Landadelige Rochester Janes Arbeitgeber und die zwanzig Jahre jüngere Jane die von ihm materiell und von seinen launischen Entscheidungen abhängige angestellte Gouvernante in Thornfield Hall. Aus der rückblickenden Sicht der Ich-Erzählerin aber erscheint Rochester seit dem ersten Aufeinandertreffen mit Jane, im Kapitel XII als Märchenprinz und Jane als selbstbewusste Variante des Grimmschen Aschenputtels, in der Mischperpektive zwischen Ich-Erzählerin und erzähltem Ich, die Rezipient / innen des dritten Lebensalters kultursemioti‐ sche Reflexionsräume öffnet. Auf der anthropologischen, der Inhaltsebene, entfaltet sich ein Bildungs‐ roman. Jane stellt sich den Herausforderungen der patriarchalischen Erwar‐ tungen und ihren daraus folgenden eigenen Lebenskrisen mit starkem Durch‐ haltevermögen. Auf der ethischen, der strukturellen Ebene, handelt es sich um ein leidenschaftlich erzähltes Märchen mit umgedrehten Schluss: Aschenputtel als komplexe und visionäre Märchenfigur, die ihren Weg geht und Grenzen des Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 208 332 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 47. 333 Christine Alexander and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës…, a. a. O, S. 459 heben hervor, dass die Brontës die Werke Shakespeares genauso gut kannten wie die Bibel: „The Brontës knew the works of Shakespeare almost as well as they did the Bible, and their works and letters are rich in Shakespearian echoes and allusions, sometimes enhancing irony or sorrow, sometimes showing a lively appreciation of comedy.” Die beiden Subtexte Gehorsams, der Dienstbarkeit und des Standes aus eigener Kraft überwindet, erlöst den Märchenprinzen. Das raffinierte Moment dieser autobiografischen Fiktion besteht darin, dass die rückblickende Ich-Erzählerin den Lesern Dinge mitteilt, die ihr Geliebter bis zum Schluss nicht weiß, und dass sie es ist, die entscheidet, welche Ereignisse den Schluss vorausdeuten, welche Zufälle den Schluss bestimmen und welchen Schluss das komplexe Liebesverhältnis der beiden Hauptfiguren nimmt. Die Autorin der fiktionalen Autobiografie Jane Eyre bietet dem Patriarchat mit diesem Roman selbstbewusst die Stirn. Da beide Genres, Bildungsroman und Märchen oszillieren, werden die Leser / innen dieses Romans in den Roman durch thematisch erweiterte Anspie‐ lungen auf Sklaverei, Ungerechtigkeit, Revolten, Gefängnissituationen und Wahnsinn in das sozialkritische Geschehen hineingezogen und neugierig auf die narrative Konstruktion. Sie werden durch Identifikationsmöglichkeiten mit dem narrativen Ich, durch epische Vorausdeutungen, Rückgriffe, Traumvisi‐ onen, atmosphärische Abstimmungen zwischen Gefühlen der Figuren und Na‐ turbildern, durch Reflexionen der Ich-Erzählerin auf vorenthaltene Möglich‐ keiten individueller Selbstbestimmung und durch autoreferenzielle Hinweise auf das Erfundene dieser Fiktion, das Erzählen des Erzählens, zu imaginativen Mitspielern des Geschehens und der narrativen Konstruktion der sich in Span‐ nungsbögen der fünf Krisenphasen Janes steigernden und abfallenden Ereig‐ nisse. Die dynamische Konstruktion eines „social realism within a fairy-tale struc‐ ture“ 332 dieses Romans baut eine gendertranszendierend Beziehung zwischen Jane und Rochester auf, die Standesgrenzen übersteigt und über zwei Subtexte zur kritischen Wiederverzauberung der Welt bzw. in die Ambivalenz einer fik‐ tional erzeugten Zurücknahme der wiederverzauberten Welt, in seinen inversen Schlussteilen führt. Der eine Subtext ist Shakespeares Drama Romeo und Julia. 333 Die romantische Liebesbeziehung zwischen Jane und Rochester hat in ihren Widersprüchen und Hindernissen Ähnlichkeiten mit Shakespeares Drama. Dieses endet tödlich für das Liebespaar, das aus zwei verfeindeten Familien stammt. Umgekehrt endet 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 209 334 Hans-Christoph Ramm: „Juliet’s Courage. Genderproblematik in Shakespeares, Zefi‐ rellis und Luhrmanns Romeo and Juliet, in: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissen‐ schaft und Praxis, Heft 4 / 99, S. 247-252. Jane Eyre in einer auf der Barmherzigkeit Janes fußenden Liebes- und Ehebe‐ ziehung zwischen der ehemaligen Gouvernante Jane und dem invaliden Ade‐ ligen Rochester. Diese Umkehrung ist auf der anthropologischen Ebene dem Zeitalter des 19. Jahrhunderts geschuldet. Der zweite Subtext ist, wie oben dar‐ gelegt, Schillers Drama Die Räuber. Er wird ausdrücklich im Krisenkapitel des Romans (Vol. III , Ch. II ), genauer, zum Zeitpunkt der sich abzeichnenden Lösung der existenziellen Krise, in der das erzählte Ich sich befindet, genannt. Karl Moor, der Protagonist des Schillerdramas, ergibt sich am Ende den Institutionen der Gerechtigkeit gegen die er angekämpft hat. Dieser Selbstaufgabe widerspricht, in der Selbstbewusstheit der rückgreifend gestaltenden Reflexionen der Ich-Er‐ zählerin, die ethische Ebene des Romans. Diese Gegensatzspannung zwischen Inhalt und Form, die das poetische Pa‐ radox viktorianischer Romane in der ästhetischen Besonderheit des Romans Jane Eyre zum Ausdruck bringt, gibt diesem Roman eine Ambivalenz, die ihn sprachbildlich zwar als Roman seiner Zeit ausweist: Auf der anthropologischen Erzählebene geht es um die schrittweise Auflö‐ sung hierarchischer Gesellschaftsordnungen im Muster romantischer Liebe, mithin um den Aufbau und dann die Zurücknahme eines narrativen Wider‐ standspotenzials gegen Standeskonventionen. Auf der ethischen Ebene, der narrativen Form, aber wird diese Zurücknahme zur Wunschvorstellung einer Liebesutopie. Wie lässt sich diese Transformation des poetischen Paradoxons verstehen? Wenn wir einen genaueren Blick auf die Integration der beiden Sub‐ texte in die Handlungsführung des Romans werfen, wird eine Inversionsfigur des Bösen sichtbar, die die anthropologische mit der ethischen Erzählebene ver‐ bindet und das Anliegen der Ich-Erzählerin stärkt, Janes gereifte Selbstbeherr‐ schung und Fähigkeit zur Selbstdistanzierung plausibel zu machen. Im Subtext Romeo und Julia kann Bertha als Spiegelfigur der rachsüchtigen Lady Capulet und Tybalts aus Shakespeares Drama Romeo and Juliet gedacht werden. 334 In Shakespeares Stück tötet Romeo Tybalt, den Vetter Julias unab‐ sichtlich, nach seiner (Romeos) heimlichen Trauung mit Julia, nachdem Tybalt Mercutio, den Freund Romeos, tötete. Romeo soll nach Lady Capulets Wille getötet werden, wird aber verbannt. Bertha ist Rochesters vor der Öffentlichkeit verborgene und gefangen ge‐ haltene Ehefrau, eine Kreolin. Die Parallele zu Shakespeares Stück liegt in der Andeutung einer fremdbestimmten Liebesbeziehung zwischen Jane und Ro‐ chester und darin, dass Bertha, wie Lady Capulet und Tybalt, das unberechen‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 210 335 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 8. 336 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 30. bare, archaische und zerstörerische Element des Romans symbolisiert. Mehrfach versucht Bertha, Rochester zu töten und Jane unschädlich zu machen. Diese hybride Lady Capulet-Tybalt-Bertha-Figur wird im Plot Jane Eyres zum rebelli‐ schen und destruktiven Spiegelbild des erzählten Ich. Jane hört ihre irren Schreie und entdeckt Bertha / sich zum ersten Mal im Spiegel während der Nacht, zwei‐ fellos ein schauerromantisches Element. Bertha zerstört Thornfield Hall, ver‐ letzt Rochester und tötet sich selbst. In letzter Konsequenz bewirkt sie als Plot‐ element, wie Tybalt, das tragische Zusammenkommen Janes und Rochester als Paar. Im Subtext Die Räuber wird Franz Moor von der Ich-Erzählerin als destruk‐ tives Spiegelbild Karl Moors impliziert und Karl Moor als konstruktives Spie‐ gelbild des erzählten Ich angelegt. Diese kontradiktorische Doppel- und Gegenspiegelbildlichkeit, die Jane als rebellisches und affirmatives Ich in beiden Subtexten spiegelt - Terry Eagleton charakterisiert den Roman als „complex unity (condensing) an accumulated host of subsidiary conflicts“ 335 - gibt der Ich-Erzählerin, gestützt auf die Subtexte, den Spielraum, das erzählte, bindungslose Ich in den Widersprüchen einer au‐ ßergewöhnlichen Gouvernante, frei und ausgebeutet, gehorsam aber nicht dienstbar zu sein, sich transitorisch durch unterschiedliche Gesellschafts‐ schichten zu bewegen und die Schlusspassagen in eine ambivalente Konformität zu wenden: „( Jane’s) ultimate relation to (Rochester) is a complex blend of in‐ dependence (…), submissiveness, and control “, so Terry Eagleton. 336 Sieht man den Rückblick der Ich-Erzählerin, der dem Roman Jane Eyre im Zusammenhang mit seinen Subtexten Gestalt gibt, als komplexe narrative Me‐ tapher, als metaphorischen Prozess, dann kann deutlich werden, dass das Schlusstableau zugleich eine Bestätigung konventioneller Lesererwartungen seiner Zeit und ein Widerspruch zu ihnen ist. Konventionell ist die defizitäre Mesalliance zwischen Jane und Rochester. Konventionenüberschreitend aber ist die Integration dieser Metapher in die Gesamtmetapher des reflektierenden Rückblicks der selbstbewussten und kreativen Ich-Erzählerin Jane Eyre. Ro‐ chester gibt seine persönliche Autonomie auf. Jane erobert sich ihre Autonomie in doppelter Weise zurück: in der freiwilligen Entschiedenheit den invaliden Rochester zu heiraten und autodiegetisch als den Roman Jane Eyre konstruie‐ rende Ich-Erzählerin. Konsequent sieht Terry Eagleton im Schluss des Romans Jane Eyre, in Bezug auf den gesamten Roman, das Denouement einer pikaresken Komödie, 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 211 337 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 133. 338 Michael Buchholz & Horst Kächele: „Rhythm & Blues - Amalies 152. Sitzung. Von der Psychoanalyse zur Konversations- und Metaphernanalyse - und zurück“, in: Psyche - Z Psychoanal 70, 2016, S. 97-133, hier: S. 114. 339 Michael Buchholz & Horst Kächele: „Rhythm & Blues…, a. a. O., S. 114. 340 Michael Buchholz & Horst Kächele: „Rhythm & Blues…, a. a. O., S. 114. (…) in which a solitary yet resourceful protagonist finally attains to social integration. Yet it also knows much about the torment and instability of identity in this kind of society - the perils and humiliations which must confront the exposed self on its trek to fulfilment, all of which threaten to strike its achievements hollow. 337 Versteht man den metaphorischen Prozess in einer interdisziplinären Verbin‐ dung von Psychoanalyse und Linguistik, dann kann er - wie Michael Buchholz und Horst Kächele ausführen - als Bildgebung verstanden werden, „(…) die aus drei Komponenten besteht: a) einem sinnlichen Quellkonzept (…), b) einer ab‐ strakten Zieldomäne (…) und c) der ‚metaphorischen Projektion‘“, wobei das „Quellkonzept (…) in die Zieldomäne projiziert“ wird. 338 Als narrativer metaphorischer Prozess ist die Inhaltsebene des Romans Jane Eyre ein „kreativer Akt“ 339 mit einem selbstwidersprüchlichen Schlusstableau, das in der rückblickenden Reflexion der Ich-Erzählerin die romantische Liebes‐ beziehung zwischen ihr und Rochester zu einer komplexen Metapher als „Quell‐ konzept“ verdichtet. Im reflektierenden Rückblick der Ich-Erzählerin wird aus dem kreativen ein reflektierend schriftstellerischer Akt, aus dem Bildungs‐ roman eine ironisch gebrochene Märchenerzählung. Das „Quellkonzept“ wird während des kreativen Aktes seiner narrativen Entfaltung als Bildungsroman in die rückblickende Reflexion der Ich-Erzählerin als Märchenerzählung gra‐ duell integriert. Diese Integration projiziert in die „Zieldomäne“ eine Wunsch‐ vorstellung: Aus dem adeligen Arbeitgeber wird der Märchenprinz, aus der jungen Gouvernante eine Erfüllungsfigur. Da Metaphern nie Realität repräsentieren, sondern in der Alltagssprache, wie auch in Träumen, seelische, soziale und kulturelle Realitäten, 340 deutet Charlotte Brontës Roman Jane Eyre die Realitäten seiner Epoche, und entwirft, über sie hinausweisend, Visionen einer sich selbst bestimmenden und organisierenden, in Erüllung aufgehenden, modernen Subjektivität in Gestalt der Ich-Erzählerin Jane. Die in diesem Kapitel eingangs gestellte Frage, ob die poetische Gerechtigkeit, die das Schlusstableau dieses Romans gestaltet, so affirmativ sei, wie es uns heute erscheint, kann vor dem Hintergrund der mit Rezipient / innen des dritten Lebensalters erarbeiteten und hier vorgelegten Deutung negativ beantwortet werden. Dieser Roman gehört in die Reihe verwirrungsästhetischer Fiktionen. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 212 341 Michael Buchholz & Horst Kächele: „Rhythm & Blues…, a. a. O., S. 114. 342 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 72. 343 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 72. 344 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 94. 345 Patsy Stoneman: Charlotte Brontë…, a. a. O., S. 47. 346 Charles Taylor: Quellen des Selbst…, a. a. O., S. 684. 347 „Charlotte Brontë to W. S. Williams, September 1848“, in: Charlotte Brontë: Jane Eyre. Edited by Richard J. Dunn (Second Edition) New York: Norton 1987, S. 433. Als komplexe Metapher gelesen, „öffnet (er) neue Perspektiven auf die Welt“ 341 , die in kritischer Absicht den autobiografisch fiktionalen Blick auf gesellschaft‐ liche Transformationsmöglichkeiten und das Transitorische weiblicher Iden‐ tität hervorheben - eine Konstruktion, die in Bezug auf das Romanfinale, in der Literaturkritik heftige Kontroversen hervorgerufen hat. In Ihrem Essay A Room of One’s Own sieht Virginia Woolf, unter dem Aspekt Frauen und Literatur, bereits ab Kapitel XII des Romans einen Bruch, der die erzählerische Integrität, frei und ohne Tabu zu erzählen, durch die ins Narrativ implementierte Bitterkeit der Autorin in Frage stellt. Charlotte Brontë habe sich von „some personal grievance“ 342 leiten lassen, die der Rolle der Frau im Patri‐ archt geschuldet sei. Der Roman Jane Eyre sei verunglückt: Romane, wie dieser „do come to grieve somewhere“. 343 Terry Eagleton deutet das Finale des Romans Jane Eyre als „‘Romantic-radical‘ figure“. 344 Patsy Stoneman versteht das märchenhafte Romanfinale als Verstär‐ kung der kulturkritischen Tendenz dieses Romans. 345 Greift man Stonemans Deutung auf, dann sieht man, dass die Form dieses Romans als autobiografische Fiktion ihn zum ästhetischen Impulsgeber „mo‐ ralischer und politischer Grundmaßstäbe“ 346 werden lässt, der Gerechtigkeit, menschliche Würde und Demokratie, mithin Freiheits- und Gleichheitsideale zum Ausdruck bringt, die erst im 20. Jahrhundert ihre Wirkung entfalteten und zum integralen Bestandteil der modernen Zivilisation wurden. Charlotte Brontë versicherte W. S. Williams in einem Brief vom September 1848, also ein Jahr nach Erscheinen ihres Romans Jane Eyre, dass sie als Schrift‐ stellerin ihre eigene Sprachbildlichkeit entwickelt habe, die sich von anderen Schriftstellern und vom konventionellen Jargon unterscheidet: Unless I have something of my own to say, and a way of my own to say it in, I have no business to publish (…). Unless I have the courage to use the language of Truth in preference to the jargon of Conventionality, I ought to be silent. 347 Mit diesem Plädoyer für Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit verteidigt Char‐ lotte Brontë indirekt auch den Schluss des Romans Jane Eyre. Menschliche Be‐ ziehungen, so Charlotte Brontë, erfordern eine wechselseitige Öffnung der 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 213 348 Adrienne Rich: „Jane Eyre: The Temptations of a Motherless Woman“, in: Charlotte Brontë: Jane Eyre. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 462-475, hier: S. 475. 349 Katharina Pink: Charlotte Brontë: Zwischen Anpassung und Rebellion. Darmstadt: Wis‐ senschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 193; Hans-Christoph Ramm: „‘Man is a giddy thing‘. Teaching Courtship Scenes From Shakespeare’s Plays“, in: Michael Le‐ gutke / Maria Schocker-von Ditfurth (Hg.): Kommunikativer Fremdsprachenunterricht. Rückblick nach vorn. Festschrift für Christoph Edelhoff. Tübingen: Narr 2003, S. 225-240. 350 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 74-96; Axel Honneth: „Markt und Moral…, a. a. O., S. 78-103. Plausibilitätsfragen Partner, die den jeweilig anderen nicht zum Objekt degradieren. 348 Man kann mit Katharina Pink schließen, dass der Roman Jane Eyre über die Konventionen seiner Zeit triumphiert. 349 Rezeptionsästhetisch fordert der Roman Jane Eyre, wie alle großen Romane des Viktorianischen Zeitalters, heutige Leser / innen zu der Frage heraus, ob ökonomisch, d. h. in der Sprache der Romane, malevolent strukturierte Macht‐ asymmetrien, gegen den utilitaristischen Geist einer Mrs Reed und ihrer Töchter, gegen einen Mr Brocklehurst oder den calvinistischen Rivers, mora‐ lisch legitimiert seien? 350 In seiner kulturdiagnostischen Ambivalenz legt der Roman Jane Eyre eine Verneinung nahe. Darin ist er, trotz seiner auf privates Glück und subjektive Erfüllbarkeit angelegten Schlusspassagen, zeitkritisch und aktuell. Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters richten sich an die moderne Ambivalenzstruktur des Romans Jane Eyre, die ihn, in der Phase der zweiten Modernisierung zwischen Bildungsroman und Märchen, zwischen Konformismus und Nonkonformismus, nonkonformistisch pendeln lässt. Die in diesem Rahmen gestellten Fragen setzen zunächst an der anthropolo‐ gischen Dimension, dem sich graduell auflösenden asymmetrischen Machtver‐ hältnis zwischen Rochester und Jane an, beziehen im oben dargelegten drei‐ phasigen Erschließungs- und Reflexionsprozess, aber auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit der in diese Beziehung eingeflochtenen symmetrischen, mär‐ chenhaften, Beziehungspotenziale, bewirkt durch Janes Intelligenz, Witz und Resistenz und durch Rochesters Bildungsinteressen, mit ein. Da beide Ebenen in der Genreüberschneidung von Bildungsroman und Märchen sich durchmi‐ schen, ergeben sich aus den Entwicklungsphasen Janes als zehnjährige bei Mrs Reed, als Lowood-Schülern, als junge, intelligente Gouvernante, die zwar gehorsam ist, aber nicht dient, als bitter enttäuschte, in Rochester verliebte junge Frau, als von existenziellen Krisen geschüttelte, aus Thornfield Hall geflohene gesellschaftliche Außenseiterin, als ebenbürtige Gesprächspartnerin und Kriti‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 214 351 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen…, a. a. O. 352 Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele…, a. a. O., S. 325. 353 Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin: Suhrkamp 2013; Gottfried Gabriel: „Fik‐ tion, Wahrheit und Erkenntnis…, a. a. O., S. 163-180. kerin des fanatisch calvinistischen Priesters St John Rivers, schließlich als ent‐ schiedene Ehefrau des invaliden Rochester, Plausibilitätsfragen an die Kohärenz von Janes Selbstkontrolle und Selbstbewusstsein. Auf der ethischen Ebene des Romans beziehen sich die Plausibilitätsfragen auf die Kohärenz der rückblickenden Ich-Perspektive, die durch die rückbezüg‐ liche Korrelation aller Perspektiven auf die Ich-Erzählerin zwar enggeführt, durch eine Reihe von Zufällen und die sich gegenseitig aufbauenden Genremi‐ schungen aber wieder geweitet und als narrative Kohärenzästhetik, die Einzel‐ ereignisse mit überindividuellen Erkenntnissen verknüpft, durchschaubar wird und an kulturgeschichtlicher Bedeutung gewinnt. Die Plausibilitätsfragen beziehen sich auf die inhaltliche Seite dieses Romans als Bildungsroman und auf seine narrative Konstruktion als märchenhafter Bil‐ dungsroman mit einem kulturdiagnostischen Anliegen, mithin auf die kultur‐ kritische und affirmative Ausdrucksgestalt dieses Romans und ihre Aktualität in Bezug auf Selbstbestimmungsmöglichkeiten moderner Subjektivität. Affiziert werden in der Märchenhaftigkeit dieses Bildungsromans regressive 351 und pro‐ gressive, kreative Potenziale von Ich-Anteilen der Leser / innen, 352 die in ihrem Zusammenspiel an biografische Verlusterfahrungen heranreichen können, im Verstehensprozess die reflektierende Urteilskraft anregen, 353 und in produktive, kulturpolitisch orientierte Deutungs- und Diskurspotenziale einmünden. Oliver Twist und Jane Eyre können als kulturkritisch zeitdiagnostische Ro‐ mane auf dem Weg zur Moderne verstanden werden. Ihre Ambivalenzstruktur wird in der kontrastiven Darstellung von Ort- und Heimatlosigkeit ihrer Pro‐ tagonisten in romantypischer Gesinnung zur Totalität zur Wunscherfüllung ge‐ sellschaftlich erfahrener Krisen des modernen Subjekts. Als solche werden sie zu narrativen Ausdrucksgestalten und zum Faszinosum für Rezipient / innen des dritten Lebensalters. Die Kontingenzstruktur des Oliver Twist und die Kontrast‐ kopplungen von Jane Eyre, die weitauseinanderliegende Ereignisse perspekti‐ visch rückschauend in neuem Licht erscheinen lassen, evozieren bei Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters die Suche nach einer Kohärenz des disparat Erzählten. Plausibilitätsfragen ziehen die Rezipient / innen in die Werke hinein und evozieren ihre krisenbesetzten Lebenserfahrungen. Diese machen sich an der jeweiligen Erzählstruktur der beiden Werke fest. Bei Oliver Twist und Jane Eyre werden Leben und Tod durchgängig ambivalent in Denkfiguren subjektiver Erfahrungen des Selbstverlusts verwoben. Die je‐ 3.2 Charlotte Brontës Roman Jane Eyre 215 354 Wolfgang Herrlinger: Sentimentalismus und Postsentimentalismus…, a. a. O.; Valerie Purton: Dickens And The Sentimental Tradition…, a. a. O. weiligen Schlusstableaus aber gestalten das Grundmuster erfüllten Lebens in der Denkfigur der Empathie: Familiäre Zuwendung und Liebe überwinden Ge‐ walt und Tod. Da die Denkfiguren Selbstverlust und Empathie sich weder ganz beinhalten noch ganz ausschließen, bleibt die in den Schlusstableaus übersprun‐ gene Ambivalenz in der Schwebe. Sie gibt der jeweiligen Form des Erzählens kontingenzästhetisch eine Zweideutigkeit, die in disparates Erzählen mündet. Diskursanregend ist also die Glaubwürdigkeit der Kompromissbildungen beider Romane, die Fragen narrativer und transformatorischer Identität hervorruft: Was heißt Erzählen? Was heißt kohärentes Erzählen einer Lebensgeschichte (Oliver Twist). Was heißt Erzählen der eigenen Lebensgeschichte (Jane Eyre)? Was heißt Erzählen unterschiedlicher Lebensgeschichten aus differenten Er‐ zählperspektiven in Form eines Romans? Glaubwürdigkeitsfragen stellen sich auch an die sentimentalen Passagen der Romane. Diese, so konnte in der Deutungsarbeit in den Seminaren deutlich werden, berühren die kontingenzästhetischen Konstruktionen der Erzählwelten nicht und bleiben als atmosphärische Verstärker diesen eingeordnet. Bereits der frühe Dickens äußerte sich kritisch gegenüber Sentimentalität in Erzählwerken, ironisiert Sentimentales, gleicht es mit Humor aus oder überlässt Sentimenta‐ lität einem der unzuverlässigen Erzähler. Ähnliches gilt für Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. 354 Die Ich-Erzählerin in Jane Eyre erzählt Momente größter Gefühlsintensität in einer beinahe analytischen Sprache und ordnet sentimental wirkende Passagen der Handlungsführung unter. Gefühle unter dem Druck ge‐ sellschaftlicher oder normativer Zwänge werden in beiden Romanen zwar be‐ tont, dem poetischen Konzept aber so eingeschrieben, dass der kontingenzäs‐ thetische Charakter dieser Werke hervorgehoben bleibt. Glaubwürdigkeitsfragen greifen in diesem Zusammenhang kulturpolitische Di‐ mensionen auf. In Bezug auf Oliver Twist und Jane Eyre sind dies Fragen, die, affiziert von der europäischen Aufklärung und der epochal nahen Französischen Revolution, den demokratischen Anspruch an bürgerliche Würde, persönliche Autonomie und Freiheit nicht ignorieren, sondern als Fragen und Anspruch an eine identitäts- und würdevergessene Folgeepoche formulieren: Können Feinde der Demokratie, bürgerliche Ausbeutergestalten oder Landadelige zu Beschüt‐ zern oder Geliebten werden? Die problemorientierten Ausdrucksformen der Romane beantworten diese Frage mit einem vieldeutigen, ironischen Nein. Sie stellen Korruption narrativ als kritische Zeitdiagnose dar. Darin liegt die Aktu‐ alität ihres Faszinosums. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 216 355 Theodor W. Adorno: „Rede über den ‘Raritätenladen’ von Charles Dickens“, in: The‐ odor W. Adorno: Noten zur Literatur IV. Frankfurt / M: Suhrkamp 1974, S. 34-44, hier: S. 42. 3.3 Publikationsgeschichte Adorno deutet Dickens’ Roman Der Raritätenladen - und dies gilt auch für Charlotte Brontës Roman Jane Eyre - als ästhetischen Ausdruck eines „Höllen‐ raum(s) der bürgerlichen Welt“ 355 , der, wie Jane Eyre, so darf man ergänzen, verwirrungsästhetisch an der Erfüllbarkeit der Chancen bürgerlicher Subjekti‐ vität festhält und damit im ästhetischen Ausdruck die Plausibilität des Höllen‐ raumes der bürgerlichen Welt bestätigt. Emily Brontës Roman Wuthering Heights. Selbstverlust - in sich kreisendes Werden zu sich selbst „Es ist erstaunlich, mit welcher Konsequenz das Böse in diesem Roman durchgehalten wird.“ Kommentar einer Seminarteilnehmerin zu Beginn des Seminars zu Wuthe‐ ring Heights. „Die Figuren haben ganz kleine Spielräume. Sie können nicht miteinander kommunizieren. Sie wissen auch nicht, was mit ihnen geschieht. Es geht um Lebenskrisen.“ Kommentar einer Seminarteilnehmerin zur narrativen Gestaltung des Ro‐ mans. Emily Brontë (1818-1848) war die Tochter des Vikars von Haworth in West Yorkshire. Ihr einziger Roman Wuthering Heights wurde in einer ersten Fassung 1847 zusammen mit Anne Brontës Roman Agnes Grey als three decker novel in einer Buchausgabe veröffentlich. Wuthering Heights zählt zu den wuchtigsten und rätselhaftesten Werken der englischen Literatur. Es handelt sich um eine intensive Erzählwelt, die in den windgepeitschten Yorkshire Mooren angesiedelt ist, Elemente des Schauerromans enthält und drei Generationen umfasst. Der Roman wurde mit Mary Shelleys Frankenstein, den Romanen Walter Scotts, Tolstoys Krieg und Frieden, Shakespeares Tragödie König Lear, Beethovens Kompositionen und Werken der Schwarzen Romantik verglichen. Komposition und Publikation von Emily Brontës Roman Wuthering Heights waren eng verbunden mit den Werken ihrer Schwestern Charlotte (1816-1855) 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 217 und Anne Brontë (1820-1849). Zunächst publizierten die drei Schwestern unter den männlichen Pseudonymen Currer (Charlotte), Ellis (Emily) und Acton (Anne) Bell. Charlotte, die 1847 ihren Roman Jane Eyre, 1849 Shirley und 1853 Villette veröffentlichte, wurde schnell bekannt. Ihre Schwester Anne publizierte 1847 Agnes Grey zusammen mit Emilys Roman Wuthering Heights und 1848 The Te‐ nant of Wildfell Hall, ein Roman, der eine fiktionale Darlegung der Alkohol- und Drogensucht des gemeinsamen Bruders der drei Schwestern, Branwell (1817-1848) enthält. Emily schrieb, wie ihre Geschwister, an den Gondal und Angria Sagen, die sie als Kinder begonnen hatten und verfasste Gedichte von beachtlicher literarischer Qualität. Das genaue Kompositionsdatum ihres Ro‐ mans Wuthering Heights ist unbekannt und hat Herausgeber zu detektivischer Arbeit angeregt. Es gibt kein Originalmanuskript dieses Romans. Stattdessen existiert die erwähnte erste Publikationsfassung vom Dezember 1847, die Emily Brontë und ihre Schwester Charlotte erbosten, weil sie Druckfehler, fehlerhafte Interpunktionen und eine falsche Anordnung von Erzählabschnitten enthielt. Diese Fehler hatte der Herausgeber Thomas Newby zu verantworten, obwohl er die Korrekturfahnen bereits Anfang August 1847 erhalten hatte. Der Beginn der Komposition von Wuthering Heights wird zwischen 1837 und 1843, beinahe sicher aber auf Dezember 1844 datiert, und immer wieder in enge Verbindung gebracht mit Emilys Gedichten. Diese und Charlottes Tagebuchaufzeichnungen, sowie Charlottes Briefe an ihre Freundin Ellen Nussey und Charlottes Briefe an ihre Verleger, ermöglichen die Rekonstruktion eines hypothetischen Komposi‐ tionsverlaufs des Romans bis Dezember 1847. 1848 starb Emily Brontë an Tu‐ berkulose. Zwei Jahre später fühlte Charlotte sich aus familiären und öffentli‐ chen Gründen Emily gegenüber verpflichtet die zweite Ausgabe von Wuthering Heights mit einem biografischen Vorwort zu versehen, um Gerüchten entge‐ genzuwirken, Wuthering Heights und Agnes Grey stammten aus ihrer Feder. Zugleich kritisierte sie, dass die Bedeutung des Romans Wuthering Heights weit unterschätzt worden sei. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die endgül‐ tige Fassung des Romans von 1850 nicht die Originalfassung ist. Es handelt sich um einen ungewöhnlichen Roman des 19. Jahrhunderts, dessen ästhetische Qualität, aufgrund seiner literarischen Substanz, kompositorischen Qualität und Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 218 356 Christine Alexander and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës…, a. a. O., S. 553-558; Edward Chitham: „Sculpting the Statue: A Chronology of the Process of Writing Wuthering Heights”, in: Emily Brontë Wuthering Heighs. The 1847 Text, Back‐ grounds and Contexts Criticism. Fourth Edition. Edited by Richard J. Dunn. New York: Norton 2003, S. 266-279; Emily Brontë: Wuthering Heights. Introduction and Notes by John S. Whitley. Hertfordshire: Wordsworth Classics 2000, „Introduction“, p. V-XXIV. Plot seiner international anerkannten imaginativen Intensität, kaum in Frage gestellt werden kann. 356 Der Roman Wuthering Heights / Sturmhöhe beginnt, so könnte man vermuten, in der Fiktion einer Tagebuchaufzeichnung Mr Lockwoods, der der neue Pächter von Thrushcross Grange in Yorkshire ist. Im November 1801 besucht Lockwood Wuthering Heights, ein einsames Gehöft in der Nähe von Thrushcross Grange, ebenfalls in den Yorkshire Mooren gelegen. Hier lebt der menschenverachtende Besitzer Mr Heathcliff. Anschließend an diesen Besuch lernt Lockwood von seiner Haushälterin Nelly Dean die seltsame Geschichte der Earnshaw Familie kennen. Vor mehr als vierzig Jahren kam der alte Earnshaw von Liverpool nach Wuthering Heights zurück. Er bringt ein Findelkind mit. Der kleine Junge wird später Heathcliff genannt. Heathcliff und Earnshaws Tochter Catherine wachsen verwildert als Stiefgeschwister in unerfüllbarer Liebe zueinander auf. Nach dem Tod des alten Earnshaw macht Hindley, Earnshaws Sohn, Heathcliff zum Sündenbock, degradiert ihn zum Stallburschen und beutet ihn aus. In der Zwischenzeit wird Catherine von der vornehmen Lintonfamilie in Thrushcross Grange aufgenommen. Angezogen von dem Reichtum und dem sozialen Status Edgar Lintons, heiratet Catherine diesen, nimmt aber an, dass die Verbindung ihre Liebe zu ihrem Stiefbruder Heathcliff nicht beeinflussen könne. Heathcliff ist entsetzt und flieht. Drei Jahre später kehrt er als Gentleman, auf geheimnis‐ volle Weise reich geworden, zurück. Er schmiedet Rachepläne. Heathcliff leistet den Schwächen Hindleys für Kartenspiel und Alkohol Vorschub und wird Be‐ sitzer von Wuthering Heights. Zwischenzeitlich provozierte er Spannungen zwischen Catherine und Edgar Linton und ruft eine Krise zwischen ihnen hervor. Diese Krise führt zu Catherines Tod im Kindbett. Heathcliff macht sich mit seiner neuen Geliebten Isabella Linton, die er später misshandelt, davon, setzt aber seine Rachepläne zur Vernichtung der Lintonfamilie fort. Er vollendet seine Pläne, indem er seinen heruntergekommenen Sohn Linton mit Edgar Lin‐ tons Tochter, die auch Catherine heißt, verheiratet. Am Höhepunkt der Ereig‐ nisse stirbt Heathcliff, verfolgt vom Geist seiner früheren Geliebten Catherine, 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 219 357 Harro H. Kühnelt: „Wutheringh Heights”, in: Franz K. Stanzel (Hg.): Der Englische Roman. Vom Mittelalter zur Moderne. Düsseldorf: Bagel 1969, Band II, S. 39-70, hier: S. 44, S. 48, S. 53-55. 358 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1979, S. 262, S. 263-264. 359 Marion Gymnich: Charlotte Brontë: Jane Eyre, Emily Brontë: Wuthering Heights. Stutt‐ gart 2010, S. 107. eines unerklärlichen Todes. Die jetzt verwitwete junge Catherine zivilisiert und heiratet Hindleys Sohn Hareton. Die komplexe Erzählstruktur dieses Romans setzt sich aus der Rahmener‐ zählung eines Ich-Erzählers, in die weitere Ich-Erzähler und deren Sicht auf die Geschehnisse eingefügt sind, zusammen. Der Rahmenerzähler ist Lockwood, die in diesen Rahmen eingefügte Haupt- oder Binnenerzählerin ist Nelly Dean; hin‐ zukommen noch weitere Ich-Erzähler: beispielsweise die ältere Catherine, Isa‐ bella, Heathcliff und Zillah, die kürzere Erzählpassagen haben. Harro H. Kühnelt spricht von einer „verschachtelte(n)“ Erzähltechnik mit mehreren Ich-Erzählern, die Täuschungen unterliegen. 357 Franz K. Stanzel ordnet die Ich-Erzähler dieses Romans dem Typus des peripheren Ich-Erzählers zu. Nach Stanzel sind die pe‐ ripheren Ich-Erzähler in Wuthering Heights als Kontrastfolien zu den Protago‐ nisten zu verstehen, weil sie „nicht durch ein persönlich-freundschaftliches Verhältnis mit den Hauptfiguren verbunden (sind), sondern ihnen (…) unterge‐ ordnet als Dienstboten“ auftreten. Diese „soziologisch typisierten peripheren Ich- Erzähler()“ zeichnen sich durch eine beschränkte Einsicht in die komplexen Zusammenhänge, die sie berichten, aus und sind deshalb als unzuverlässig zu bezeichnen. 358 Mit Marion Gymnich kann man die gestaffelten Ich-Erzähler dieses Romans als „homodiegetic / first-person narrators“ bezeichnen. 359 Immer wieder wird die subjektive Sichtweise der Erzähler auf das Geschehen hervor‐ gehoben. Wichtig ist, dass nicht eine Autorin die Ereignisse erzählt. Vielmehr erzählt Nelly Dean Lockwood die von Elementen des Schauerromans be‐ stimmten Hauptereignisse und Lockwood erzählt sie uns etwa vierzig Jahre später. Lockwood trifft nur drei der Hauptcharaktere: Hareton, die junge Ca‐ therina und Heathcliff. Er trifft sie im letzten Jahr seiner Anwesenheit auf Thrushcross Grange, 1802, als unaufmerksamer Fremder, der von seinen eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen wird. Wir lesen also eine Geschichte, die von einem Mann dargeboten wird, die er von einer Frau gehört hat, die zum Teil am Rande, zum Teil in wichtigen Aufgaben involviert war. Hier entstehen eine ganze Reihe von Fragen: Wie zuverlässig sind die Erzähler? Was heißt er‐ zählen? Was heißt, eine Geschichte hören und sie erzählen? Was bedeutet es für Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 220 360 Kurt Tetzeli von Rosador: „Roman und andere Erzählprosa. 19. Jahrhundert“, in: Bern‐ hard Fabian (Hg.): Die englische Literatur. Band 1: Epochen - Formen…, a. a. O., S. 456-479, hier: S. 464. 361 Vera Nünning: Der englische Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett 2004, S. 57. 362 Kurt Tetzeli von Rosador: „Romane und andere Erzählprosa…, a. a. O., S. 465. 363 Kurt Tetzeli von Rosador: „Romane und andere Erzählprosa…, a. a. O., S. 464. Wuthering Heights: Selbstverlust - in sich kreisendes Werden zu sich selbst uns, diese Erzählstaffelung als Roman des mittleren 19. Jahrhunderts zu ver‐ stehen? Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847) wirft in einer normativ „nicht zu erfassenden Welt“ 360 Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen subjektiver Selbstwerdung auf, die das an ökonomischem Kalkül und wissenschaftlichem Fortschrittsdenken orientierte bürgerliche Selbstverständnis des 19. Jahrhun‐ derts überschreiten. Emily Brontës einziger Roman bezieht in einer amoralisch gestalteten 361 Gegenspiegelung narrativ Stellung zu bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen. Die Figuren dieses Romans bewegen sich in einem meist von Dunkelheit, Kälte und Stürmen bestimmten abweisenden, archaischen Lebensraum, in dem negative emotionale Kräfte ihr Handeln bestimmen. Auf ihrer Suche nach Iden‐ tität und Ganzheit durchkreuzen sie gegenseitig Möglichkeiten ihrer persönli‐ chen Autonomiebildung. Emily Brontë entwirft Figuren „von elementarer Kraft und Leidenschaft, deren Handeln, Denken und Fühlen“ 362 bürgerliche Katego‐ rien verwirrungsästhetisch transzendieren. Eingerahmt durch zwei Ich-Erzähler, deren Berichte nicht zuverlässig sind, entsteht eine zwischenmenschliche Laborsituation, in der es keinen Gott gibt, die Vergangenheit zerstörerisch in die Gegenwart hineinwirkt und Rettung nicht in Sicht ist; weder in der verzeihenden Haltung der jungen Catherine, die der dritten Generation angehört, noch in den Schlusstableaus des über ein Buch gebeugten jungen Paares Catherine und Hareton, noch im Pragmatismus der Binnenerzählerin Nelly Dean, auch nicht in der desinteressierten Haltung des Ich-Erzählers Lockwood, der als einer der Rahmenerzähler fungiert. Der Roman ragt „fremdartig und unzeitgemäß in die Viktorianische Ära hi‐ nein(…)“. 363 Er weist mit seinen Merkmalen des narrativen Experimentierens mit Gewalt und Fremdheit, eines durchkonstruierten, aber episch aufgelösten Zeit‐ gerüstes, der Unzuverlässigkeit seiner in Staffelungen angeordneten dezent‐ rierten Ich-Erzähler, die die Handlungsmotive der Hauptfiguren in subjektiver Brechung darlegen, der komplexen Handlung mit ihrer inhaltlichen Orientie‐ rungsauflösung und dem offenen Romanende „Perzeptionsformen der Subjek‐ 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 221 364 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne… a. a. O., S. 29 (Hervorhebung von Vietta); Vera Nünning: Der englische Roman des 19. Jahrhunderts… a. a. O., S. 58. 365 Zitiert wird aus: Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn. New York: Norton 2003 (4 th ed.); siehe außerdem: Emily Brontë: Wuthering Heights. Introduction and Notes by John S. Whitley…, a. a. O. tivität“ 364 auf, die für modernes Erzählen als typisch gelten. Die Binnenhandlung des Romans ist in die Krisenepoche der Mitte des 18. Jahrhunderts verlegt: Hindley Earnshaw wird 1757 geboren, im November 1801 besucht der Ich-Er‐ zähler Lockwood Wuthering Heights. Der Roman wurde in einer Krisenzeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, publiziert. Wuthering Heights 365 löst die Paradoxie des poetischen Realismus, die sich im Oliver Twist und in Jane Eyre in den Schlusstableaus zuspitzt, narrativ auf, indem er sie in die Komposition eines scheinbar kontrollierten Erzählens, das dem li‐ terarischen stream of consciousness den Weg bereitet, hineinzieht. Das dezent‐ rierte Erzählen der beiden Ich-Erzähler Lockwood und Nelly Dean erweist sich als unzuverlässig, geradezu hilflos (Nelly Dean irrt oft, ist abergläubisch, intri‐ giert, Lockwood irrt ebenfalls, erkrankt und flieht) und ebenso hilflos gegenüber der archaischen Unbestechlichkeit unzivilisierter Gefühlsenergien der Protago‐ nisten Catherine Earnshaw und Heathcliff, deshalb auch hilflos gegenüber einer chronologischen Ordnung des Erzählens, die dem energetisch ziellosen Be‐ gehren der Protagonisten nicht standzuhalten vermag. Die widersprüchliche Anforderung, Nicht-Erzählbares zu erzählen, treibt den Roman aus der Paradoxie des poetischen Realismus in eine Ambivalenz, die die Erzählfiguren als kulturelle und biologisch bestimmte Individualitäten, mithin als Doppelwesen verdichtet, Kultur als fremdheitserzeugender Naturbearbei‐ tung und -aneignung gestaltet und äußere und innere Natur als Kontingenz‐ energie, die kulturell nicht beeinflussbar oder zähmbar ist, narrativ umsetzt. Die engen Verknüpfungen familiärer Beziehungen, die in der Kontrastkopp‐ lung der Höfe Thrushgross Grange (landed gentry) und Wuthering Heights (yeomanry) aufgrund der jeweiligen ökonomischen Situationen und durch die Protagonisten Catherine und Heathcliff unterschiedlich Gestalt annehmen, und die A-Chronologie der erzählten Ereignisse, führen einen Plot herbei, der spi‐ ralförmig bzw. kreisförmig die strukturelle Ambivalenz des Romans ins Über‐ persönliche transzendiert. In dieser Transzendierung kommt Indifferenz als Vertauschbarkeit von archaischer Natur und kultureller Ordnung ins Spiel. Der Roman teilt das Figurenensemble in drei Gruppierungen über drei Ge‐ nerationen auf. Die eine Figurengruppe, die Lintons, besteht aus der landed gentry, Großgrundbesitzern auf Thrushgross Grange, die zweite, die Earnshaws, aus der yeomanry, kleinen Landadeligen, die dritte Figurenguppe, die Protago‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 222 nisten Catherine Earnshaw und Heathcliff (sie gehören der zweiten Generation an) pendelt zwischen den Figurengruppen, denen sie familiär angehört und zu denen sie zugleich ein antagonistisches Außenseiterverhältnis bezieht. In der narrativen Inversion ausgeschlossener Familienangehöriger, die die beiden Höfe mit- und gegeneinander in Beziehung setzt, werden durch Catherine und Heathcliff intra- und intersubjektive Entfremdungs- und Krisenerfahrungen sichtbar, werden christliche Erlösungshoffnungen fragwürdig, werden bürger‐ liche Familienverhältnisse, romantische Natur- und Liebesbeziehungen radikal in Frage gestellt. Das Zentrum des Romans bilden transitorische Identitätserfahrungen, die im Sterben und Tod Catherines (Chapter XVI - XVII ) und Heathcliffs (Chapter XXXIV ) innere Natur als archaische Fremderfahrung (Heathcliff, Wu‐ thering Heights) und Kultur als metaphysischen Sturz (Catherine, Thrushgross Grange) in ihren Delirien zusammenschießen lassen und sie in die Schatten ihrer selbst verwandeln. Zwischen Anpassung und Widerstand, Rebellion und Re‐ gression geistern sie als Unerlösbare durch die Visionen der ländlichen Bevöl‐ kerung (Gimmerton) und durch diesen Roman, den sie als literarische Figuren zur Kreisstruktur (Chapter III , Chapter XXXIV ) schließen. Die durch die Inversionsfigur der beiden Protagonisten entstehende Kon‐ trastkopplung zwischen den Höfen Wuthering Heights und Trushgross Grange erhellt die kulturhistorische Differenz zwischen der landed gentry und der yeo‐ manry. Die Lintons repräsentieren als Vertreter der landed gentry Kultur und Kapital. Sie verwalten hierarchisch strukturiert Personal und wandeln Natur in Kultiviertheit. Wuthering Heights wird durch die Earnshaws, Vertreter der ye‐ omanry, Angehörige des niederen Landadels, verwaltet. In ihrem sozial-ökono‐ mischen Familienverband sind sie näher an der Arbeit mit der Natur und, eher egalitär, enger mit ihrem Personal verbunden. Während Trushgross Grange sich durch eine kulturelle Haltung auszeichnet, die durch Naturbeherrschung Natur in ihrem Erfahrungshorizont marginalisiert und sublimiert und damit zugleich die Imagination fragiler, auf Gewalt beruhender viktorianischer Familienver‐ hältnisse (Chapter VI ) evoziert, zeichnet sich Wuthering Heights durch eine eher grobschlächtige Naturbezogenheit aus. Da die Protagonisten Catherine und Heathcliff beiden Bereichen angehören und von ihnen ausgeschlossen sind, bringen sie, vermittelt durch die enggeknüpften familiären Verhältnisse und durch die Unzuverlässigkeit der Binnenerzählerin Nelly Dean, eine sich über- und durchkreuzende Ambivalenz von Natur und Kultur ins Spiel, die in ihren verdichteten Figurenensembles, anhand aufkommender Aggressions- und Des‐ tuktionspotenziale, Übergangs- und Transformationsprozesse sichtbar werden lässt: Heathcliffs Rache und Gewalttätigkeiten enstehen ebenso aus unstillbaren 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 223 Begierden wie Catherines Liebe zu Heathcliff und Aversion gegen Edgar Linton. Um die Frage einer Kultivierung dieser Begierden in der Moderne, um die Fragen nach dem Verhältnis von Möglichkeiten der Erlösung und Sinn, Metaphysik und Erfahrung geht es dem Roman Wuthering Heights. Während die ambivalente Struktur zwischen Natur und Kultur, Rebellion und Regression für Rezipient / innen des dritten Lebensalters einen hermeneutischen Imaginationsraum öffnet, der Dispositions- und Plausibilitätsfragen entstehen lässt, öffnet die ins Überpersönliche weisende Kreisstruktur des Romans Sinn‐ fragen. In Emily Brontës Roman erscheint Kultur als geschichtliche Energie, die na‐ türliche Bedingungen zu Wort kommen lässt und übersteigt. Aus dieser Dy‐ namik entwirft der Roman den Lebenssinn der individuellen Figuren. Das Schlusstableau, das das Liebespaar Catherine und Heathcliff in der Fantasie eines unschuldigen Kindes als mythopoetische Vision zeigt, hebt die Kritik dieses Romans an konventionellen Erlösungshoffnungen hervor: Der Lebens‐ sinn der Protagonisten wird narrativ zwischen Erlösung, so Nelly Deans Ima‐ ginationen, und Verdammnis, so Josephs Imaginationen, in einem Zwischen‐ reich situiert, das das Erzählte und Literarische dieser narrativen Welt autoreferenziell verdichtet und kulturkritisch die Frage offen lässt, worin in der Moderne ein Bezogensein auf einen Sinn bestehe, in dem Individuen über sich hinauszugehen vermögen? Die Dramaturgie der Romanhandlung entwickelt sich aus dem explosiven Zusammenstoß zwischen Heathcliffs und Catherines Werden zu sich selbst in einer archaisch unerfüllbaren Liebesbeziehung, die Liebeskonventionen und se‐ xuelles Begehren byronisch transzendiert einerseits, und Verhaltensweisen an‐ dererseits, die an sozialen und religiösen Konventionen des Viktorianismus ori‐ entiert sind und der Illusion aufsitzen, diese Konventionen garantierten ein ganzheitliches Werden zu sich selbst. Die an Topoi der Romantik erinnernden Protagonisten Catherine und Heathcliff müssen in einer und an einer von Kon‐ ventionen gestützten kulturellen Ordnung scheitern. In ihrem Scheitern finden sie selbstentzogene Erfüllung, erlangen sie eine die kulturelle Ordnung über‐ steigende gespenstisch metaphysische, mithin fragwürdige Ganzheit, deren feindliche Distanz zur Kultur des 19. Jahrhunderts das Unbehagen in der Kultur dieser Epoche aufleuchten lässt (Chapter XV und XXXIV ). Aus dieser Perspektive wird das Romanuniversum gestaltet. Es entsteht ein Inversions-Universum, in dem außerkonventionelles Scheitern im Begehren nach Ganzheit Erfüllung und konventionelle Erfüllung Scheitern eines Werdens zu sich selbst bedeutet. Diese romantische Dramaturgie, die den „Menschen (den) organisch-harmonischen Zusammenhang aller Dinge“ zwar erahnen lässt, Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 224 366 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München: Hanser 2008, S. 314; Bronfen bezieht sich hier auf Franz Schubert, E. T. A. Hoffmann und Sigmund Freud. 367 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht…, a. a. O., S. 257, S. 260; Bronfen bezieht sich hier auf Emily Brontës Roman Wuthering Heights. 368 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht…, a. a. O., S. 168. die aber im Exzess der Beziehung Catherines und Heathcliffs in eine „Desori‐ entierung des Vertrauten“ und in die Katastrophe für alle Beteiligten führt, 366 deckt eine „Nacht des Daseins“, einen „Abgrund“ auf, 367 die das kulturelle Ima‐ ginäre als Kehrseite des Viktorianischen Zeitalters, auch kritisch gegen roman‐ tisierende Realitätsvorstellungen gewendet, ausleuchtet. Die Dramaturgie dieses Romans schärft in der Kontrastkopplung von metaphysischen und em‐ pirischen Erfahrungen den Blick für alternative Wahrnehmungsweisen, die sich nächtlich und „im Versagen rationaler Erkenntnisfähigkeiten“ 368 , anderen un‐ sichtbaren Gesetzen öffnet. Diese Gesetze werden in der zerrissenen inneren Natur Catherines und Heathcliffs, die leidenschaftlich und wild ist, sichtbar. Catherine befindet sich in der Erbfolge des Gehöftes Wuthering Heights auf der untersten Stufe und der Findling Heahthcliff wird von Hindley, dem künftigen Erben des Gehöftes, sozial ausgegrenzt. Catherine und Heahthcliff werden zu Außenseitern. Sie finden in der Außenwelt, in der Wildnis des Moores eine Heimat, die ihnen die engen Familienbeziehungen in Wuthering Heights und Thrushcross Grange nicht bieten können (Chapter VI ). Die wilde, äußere Natur entspricht ihrer inneren Natur und festigt ihren Zusammenhalt gegen die christlichen und ländlich ge‐ prägten Konventionen beider Häuser. Sie wird zur Protestenergie, die die beiden Kinder in ihrer Ausgrenzung hält und sie verwahrlosen lässt. Sie wird zu ihrem inneren Schutz und zu ihrem metaphysischen Halt, der sie stärkt. Catherines Stärke zeigt sich darin, dass sie oft den Zorn ihres Vaters erregt, weil sie wider‐ spricht und unberechenbar ist, also nicht dem Weiblichkeitsideal des Patriar‐ chats entspricht (Chapter V), sie wird Nelly und Edgar gegenüber handgreiflich (Chapter VIII ), sie klärt Isabella über Heathcliffs Charakter auf (Chapter X), sie versucht zwischen beiden sich ausschließenden Welten, die durch Edgar Linton und Heathcliff repräsentiert werden, zu leben. Die Zerrissenheit ihrer Identität und ihre Affinität zum Metaphysisch-Gespenstischen wird in ihrer Deliriums- und Sterbeszene sichtbar (Chapter XII , Chapter XV ). Heathcliffs Stärke zeigt sich in der Konsequenz, mit der er seine Rache Schritt für Schritt durchführt. Als gesellschaftlicher Außenseiter ist er nirgendwo zu Hause. Heathcliff ist eine Figur, die extreme Gegensätze zum Ausdruck bringt: Liebe und Tod, Kultur und Natur, Heroisches und Dämonisches. Die narrativ komplementär angelegte Zer‐ 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 225 369 Dorothy Van Ghent: The English Novel…, a. a. O., S. 193-194. rissenheit beider Protagonisten führt zur Kreisstruktur des Plot: Heathcliff passt sich den Machtstrukturen an, die er zerstört. In dieser Protestidentifikation ver‐ liert er sein Selbstgefühl, wird zum Dämon. Catherine passt sich in der Ehe mit Edgar Linton ebenfalls den Machtstrukturen an, die sie ablehnt. Ihre Protest‐ identifikation führt sie in den Wahnsinn. Durch die Binnenerzählerin Nelly Dean binden Selbstverachtung und Wahnsinn als Fremdheits- und Destrukti‐ onsmotive das Ende des Romans an seine Anfangsmotive: Ein Kind, das Schafe hütet, erblickt visionär Catherine und Heathcliff unter einem Felsen als sich umarmende Geister (Chapter XXXIV ). Der Rahmenerzähler Lockwood be‐ gegnet Catherine als Geist in einem Albtraum bereits in Chapter III . Rezipient / innen des dritten Lebensalters können diese widersprüchliche und unauflösbare Romanstruktur der nächtlichen Erhellung eines Inversions-Uni‐ versums, das ein Werden zu sich selbst im negativen Wechselbezug der beiden Welten Thrushcross Grange und Wuthering Heights scheitern und im Mög‐ lichkeitsraum der Fiktion Gestalt gewinnen lässt, in narrativer Gegenspiegelung als Erfahrungspotenzial transitorischer Identität erschließen, die dieser Roman in einer ästhetischen Wahrnehmungs- und Denkfigur anbietet und in der über‐ individuellen Absolutheit der Liebesbeziehung Catherines und Heathcliffs ge‐ staltet. Dorothy Van Ghent führt dazu aus: This is not ‚romantic love, ‘as the term has popular meaning; and it is not even sexual love, naturalistically considered - the impulse to destruction is to pure in it, too simple and direct (…). Whatever could happen to these two (…), would be something alto‐ gether asocial, amoral, savagely irresponsible, wildly impulsive: it would be enthusi‐ astic, experimental, quite random activity of childhood, occult to the socialized adult. 369 Diese Regression, die rebellisch jede kulturelle Domestizierung verweigert und den Kern des Romans Wuthering Heights ausmacht, fordert in der Komplexität ihrer Gestaltung, die Sympathien und Widerstände der Rezipient / innen des dritten Lebensalters, heraus. Das Paradigma transitorischer Identität wird, auf‐ grund der Erzählerstaffelungen, zur Motivation, die Ausdrucksgestalt dieses Romans zu refigurieren. Chapter IX wird in diesem Zusammenhang durch Catherines Traumerzäh‐ lung zum Schlüsselkapitel. Catherine erzählt Nelly Dean, sie sei im Himmel gewesen und die Engel hätten sie zornig auf die Erde geschleudert, weil sie gesagt habe, sie sei im Himmel unglücklich. Sie sei mitten in der Heide auf der höchsten Stelle von Wuthering Heights gelandet und vor Freude weinend er‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 226 370 Emily Brontë: Wuthering Heights Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., Chapter IX, S. 62-63. wacht. Nelly Dean wehrt ab. Sie möchte von Catherines Träumen nichts wissen, 370 weil Catherine für sie, wie später Heathcliff - und Nelly müsste dies in der Rückschau wissen - aus normativen Ordnungen herausfällt. Dies betrifft auch Lockwood in seinen beiden Träumen. Catherine teilt Nelly Dean ihre Entscheidung mit Edgar Linton zu heiraten. Heathcliff, der zwischenzeitlich systematisch von Hindley degradiert wurde und nur einen Teil von Catherines Geständnis heimlich mithört, entflieht. Cathe‐ rines Entscheidung, die für eine Frau im 19. Jahrhundert als Chance eines sozi‐ alen Aufstiegs als ökonomisch unausweichlich und als Verhalten der Selbstver‐ leugnung verstanden werden kann, wird in den sich ausschließenden Erfahrungen von passionierter Liebesbeziehung und bürgerlicher Ehe, zum zentralen Thema und Konfliktpotenzial dieses Romans. Catharines Entschei‐ dung, Edgar Linton zu heiraten und ihr ausschließlich Heathcliff geltendes Lie‐ besgeständnis, das sie gegenüber Nelly Dean äußert, diese kontradiktorische Gleichzeitigkeit, die Heathcliff nicht mehr mithört, weil er zu früh den Raum verlässt, führen die Konflikte und Katastrophen herbei, schieben die Erfüllung der Liebespassion Catherines und Heathcliffs in die Unendlichkeit nächtlichen Begehrens, ins Überpersönliche hinaus, bewirken den Tod Catherines und die Unvereinbarkeit von zivilisierter und archaischer Lebenserfüllung, die in der Komplementarität der beiden Häusern Thrushcross Grange und Wuthering Heights symbolisiert wird. Zugleich leiten sie die Zirkularität des Plots ein. Mo‐ tivisch vorbereitet wird dieses Schlüsselkapitel in den Traumsequenzen Lock‐ woods (Chapter III ), in der Reaktion der Kinder Catherine und Heathcliff auf den Tod des alten Earnshaw (Chapter V) und im Fensterblick Catherines und Heathcliffs auf Thrushcross Grange mit seinen Folgen (Chapter VI ). Atmosphä‐ risch wird dieses Schlüsselkapitel (Chapter IX ) bereits im Erzähleingang in der Orientierungslosigkeit Lockwoods und der abweisenden Haltung Heathcliffs angelegt. Konsequenzen werden ab Chapter XV gezogen: Catherines Tod im Kindbett veranlasst Heathcliff seine Rachepläne umzusetzen. Mit den folgenden Motivsträngen werden die zentralen Themen dieses Ro‐ mans und die mit ihnen verbundenen Handlungsspielräume der Figuren als durchkreuzte Möglichkeiten ihres Werdens zu sich selbst entfaltet. In Chapter III wird in den beiden Träumen Lockwoods das auf Catherine und Heathcliff bezogene Motiv Terror als Erlösung thematisch. Daran schließen sich die folgenden Motive an: Trauer als Erlösung (Chapter V, das mit dem Tod des alten Earnshaw endet und sich auf die Jugendlichen Catherine und Heathcliff 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 227 371 Barbara Z. Thaden: Student Companion to Charlotte & Emily Brontë. Westport, Connec‐ ticut 2001, S. 26. 372 Barbara Z. Thaden: Student Companion…, a. a. O., S. 48. bezieht), Verrat als Erlösung (Chapter IX , in dem Catherine Nelly Dean den Traum ihrer Vertreibung aus dem Himmel erzählt), das Motiv des durchkreuzten Liebestodes (Chapter XV , in dem Catherine und Heathcliff um ihre Liebe kämpfen). Ihr Sterben und ihre gemeinsame Unerlöstheit knüpfen an die Ab‐ weisungserfahrungen Lockwoods und das Motiv Terror als Erlösung des An‐ fangs, gesteigert durch Heathcliffs Rachestrategien, an. Die zentralen Themen des Romans sind Figurationen der Macht des Negativen der Moderne. Ab Kapitel XV dreht sich der Plot - „Catherine’s death occurs halfway through the novel, or at the center of the circular plot.“ 371 - spiralförmig um die Thematik der archaischen Liebesbeziehung Heathcliffs zu Catherine, die für Heathcliff mehr Bedeutung hat, als seine im Einzelnen durchgeführten dämo‐ nischen Pläne, die er mit den Mitteln seiner Gegner, Heirat, Geld und Landbesitz durchsetzt, und die ihn im Schatten geopferter Menschenleben (Isabella, Linton Heathcliff, Hareton, Hindley) in den Besitz der beiden Häuser Thrushcross Grange und Wuthering Heights bringt. Zudem kann Catherines Traum, in dem sie von den Engeln aus dem Himmel verjagt wird (Chapter IX ), als epische Vo‐ rausdeutung ihres Todes, ihrer Geistererscheinung in Lockwoods zweitem Traum (Chapter III ) und in Hearthcliffs Wunschvorstellungen (ab Chapter XV ) erschlossen werden. Catherines Tod kann als Wiedergeburt gedeutet werden, die sie von ihren Ehe- und Mutterpflichten entbindet und sie - im Sinne des Jungschen Archetyps von Tod und Wiedergeburt - freisetzt „(to) meet Heathcliff again, when they are both spirits, to wander the heaths.“ 372 Diese Motive, denen die Verweigerung einer irdischen Erlösung - durch ir‐ dische Gewalt - und die Verweigerung einer himmlischen Erlösung - meta‐ physische Verlassenheit, es gibt keinen Gott - gemeinsam ist, verknüpfen in einer zyklisch angelegten mythologischen Struktur die Zentren der Haupt‐ themen dieses Romans: Patriarchale Machtstrukturen in den antagonistischen Welten Thrushcross Grange und Wuthering Heights, Gewalt und Tod, Identi‐ tätsdiffusionen, Ehe und archaische Liebe, Rache, die In-Frage-Stellung von Re‐ ligion, Kultur und bürgerlichen Werten, mit Katastrophen, die autoreferenziell wiederum durch patriarchalische Machtstrukturen verursacht werden. Sandra Gilbert bezeichnet diese zyklische Struktur als prosaischen Mythos, der christliche mit animalischen, märchenhafte mit prosaischen Elementen, „Dogs mit gods“, die gleichen Wörter unterschiedlich buchstabiert, invers ver‐ bindet und den Himmel, so Catherines Traum in Chapter IX , in der Hölle einer im 19. Jahrhundert nicht mehr erlösbaren Welt findet. Der Roman Wuthering Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 228 373 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely: Emily Brontës Bible of Hell”, in: Patsy Stoneman (ed.): Wuthering Heights. New Casebooks. New York: Palgrave 1993, S. 131-160, hier: S. 132, S. 134-135. Lockwoods Träume (Chapter III) Heights ist eine „subversively visionary novel“, deren Inversion zivilisatorischer Werte sich in der Verknüpfung antagonistischer Oppositionen ambivalenzst‐ rukturell wiederholt. 373 Rezipient / innen des dritten Lebensalters entwickeln Affinitäten zu der Ver‐ flechtung und Steigerung von Heimatlosigkeit, metaphysischer Orientierungs‐ losigkeit und Verlusterfahrungen des Selbstgefühls, die dieser Roman entfaltet. Sie erkennen die damit narrativ verknüpfte Einengung der Handlungsspiel‐ räume der Figuren sowie das Selbstzerstöungspotenzial des Patriarchats, das durch Heathcliffs Rachestrategien in Gang gesetzt wird und sein Werden zu sich selbst durchkreuzt. Konsequent lesen sie den Roman als narrativen Einspruch gegen Entfremdungserfahrungen der Moderne, ein Einspruch, der die Komple‐ xität der Subjektivität in der Undurchsichtigkeit der Welt, in der sie leben, aber nicht durchschauen, situiert. Deutlich wird dies bereits in der Refiguration der beiden Träume Lockwoods in Chapter III , die durch drei Dispositions- und Plausibilitätsfragen der Rezi‐ pient / innen strukturiert werden: 1. Warum stehen Lockwoods beide Träume am Anfang des Romans? 2. Was haben sie gemeinsam? 3. Warum überantwortet der Roman Lockwood diese Träume und nicht Heathcliff ? Könnte doch der zweite Traum Lockwoods Heathcliffs Traum sein? Auf die erste Frage gibt der Roman einige Antworten. Beide Träume führen atmosphärisch Lockwoods Erfahrungen kalter Abweisung weiter, die er bei seiner Ankunft auf Wuthering Heights erfährt. Auf der inhaltlichen Ebene weisen sie auf Heathcliffs Mortalität hin. Sie leiten Heathcliffs Sterben ein. Auf der Ebene der erzählerischen Form sind sie als Parallele zwischen Heathcliffs Zusammenbruch und Catherines Tod in Chapter XVI in der Mitte des Romans und als epische Vorausdeutung der eingeengten Handlungsspielräume des ge‐ samten Figurenpersonals zu verstehen. Zieht man zum Verständnis der Gemeinsamkeit der beiden Träume die Bi‐ belstellen heran, auf die Lockwoods erster Traum anspielt, Matthäus 18, 21-35, dann lässt sich im Zusammenhang mit Matthäus 18, 21-22 die Antwort, die Jesus Petrus auf dessen Frage einer Begrenzung der Vergebung gibt - „Jesus sagte zu 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 229 374 Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Freiburg: Herder 2011, Matthäus 18, 21-22, S. 1105 (Hervorhebung im Neuen Testament). 375 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., Chapter III, S. 18-19. 376 Nicholas Marsh: Emily Brontë. Wuthering Heights. London: Palgrave 1999, S. 136-137. 377 Nicholas Marsh: Emily Brontë. Wuthering Heights…, a. a. O., S. 139, S. 140, S. 141, S. 141-142; Marsh bezieht sich auf Hiob 7, 8-11; Psalmen 149, 4-9; Genesis 16, 11-12; Genesis 21, 20-21. 378 Nicholas Marsh: Emily Brontë. Wuthering Heights…, a. a. O., S. 143 (Hervorhebung von Marsh). ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ 374 - dahingehend auflösen, dass Vergebung als unendlicher Prozess verstanden werden kann. Die eine Sünde, die in Lockwoods erstem Traum nicht vergeben werden kann - „the ‚First oft he Seventy-First,‘ and (either Joseph, the preacher, or I…) were to be publicly exposed and excommunicated“ 375 -, ist dann die Vorenthaltung von Vergebung, also Intoleranz. 376 Zieht man mit Nicholas Marsh noch weitere Bibelstellen zur Deutung des ersten Traums, der voller Anspielungen auf die Bibel ist, heran, 377 so stößt man auf den unauflösbaren Widerspruch zwischen absoluten Forderungen und menschlicher Begrenztheit, ein Widerspruch, der die Dynamik des Geschehen des Romans vorantreibt. In Bezug auf Lockwoods ersten Traum führt Nicholas Marsh aus: (…) we can conclude that the dream is about absolute demands on the individual, or absolute forbearance and forgiveness (…). There must be a limit to the sermon, oth‐ erwise it will be out of proportion (…). If we see life in these terms, we expect to reach a reasonable limitation, a reasonable boundary around conflicting needs. 378 Ein vernünftiger moralischer Standpunkt, so Marsh weiter, lässt sich nur dann beziehen, wenn Richtig und Falsch in ein abgewogenes Verhältnis zueinander gesetzt und eine starre binäre Opposition zwischen ihnen aufgehoben wird. Lockwoods zweiter Traum stellt ihn vor diese Herausforderung. Das albt‐ raumhafte Gefühl von Terror und Gewalt, dem Lockwood sich ohnmächtig aus‐ geliefert fühlt, lässt ihn grausam gegen das ihm als Kind erscheinende Gespenst werden. Die für Lockwood unerträgliche Stimme löst eine Krise aus, die ihn im Terror aufschreien lässt. Lockwood, so diese Romanstelle, reagiert auf Heraus‐ forderungen nächtlicher, grenzenloser Unendlichkeit. The meaning of the second dream” - so Nicholas Marsh - „is similar to that of the first (…), it takes us further into human experience, and emphasises the trappings of nightmare (…). Specifically, this fear is the result of being unable to face infinity. We Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 230 379 Nicholas Marsh: Emily Brontë. Wuthering Heights…, a. a. O., S. 145. 380 Nicholas Marsh: Emily Brontë. Wuthering Heights…, a. a. O., S. 133. 381 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht…, a. a. O., S. 257, S. 260. see a limited human capacity facing something larger, more demanding, than it can cope with. 379 Der Widerspruch zwischen absoluten Forderungen und ihren begrenzten Er‐ füllungsmöglichkeiten macht die Ambivalenzstruktur dieses Romans aus und treibt die Figuren wechselseitig in die Enge. Mit dieser Deutung kann die dritte Frage, warum der Roman Lockwood und nicht Heathcliff diese beiden Träume, besonders den zweiten, überantwortet, angegangen werden. Zunächst wird die Erschließung des Romaneingangs bestätigt, dass Lockwood die Orientierung verliert, in Bezug auf die raue Umgebung, in Bezug auf Heathcliffs kalte Ab‐ weisung und die Aggressivität der Hunde, in Bezug auf sich selbst (er erkrankt, gerät in eine Krise), also aufgrund der Begrenztheit seines Blicks und seines Verständnisses für die Fremdheit der Lebensverhältnisse, in die er gerät, Le‐ bensverhältnisse, die er zunächst in seiner misanthropischen Einstellung sym‐ pathisch findet. Dieser orientierungslose Großstädter ist der Rahmenerzähler des Romans, der sich bei Nelly Dean nach den Hintergründen der rätselhaften Geschehnisse in dieser unwirtlichen und abgeschiedenen Gegend erkundigt. Weitere Elemente der narrativen Logik, dass Lockwood und nicht Heathcliff diese beiden Träume zugesprochen werden, liegen darin, dass Realitätsfrag‐ mente, die Lockwood zuvor in Wuthering Heights gesehen oder erfahren hat, Tagesreste (die Aggression und Unberechenbarkeit der Hunde, Heathcliffs Ab‐ weisung, der Streit zwischen Cathy und Joseph, die Titelseite des Buches, die er vor dem Einschlafen vorgefunden hat, die Kombination der Nachnamen Cathe‐ rines und die Tagesbuchauszüge Catherines), in beiden Träumen a-logisch mit Traumelementen gemischt und albtraumartig intensiviert werden. Beleuchtet wird die Begrenzung und Einengung des Handlungsspielraumes, den Lockwood hat, die dadurch entstehende innere Dramaturgie der Angst, die Wahrheit oder Objektivität der Geistererscheinungen, also der irrationalen Dimension dieses Romans und der „careful realism“ 380 der narrativen Logik, die den Roman, nicht als Mimesis, sondern als narrative Poesis durchzieht, diese Elemente der narra‐ tiven Logik werden autoreferenziell als „Nacht des Daseins“ und als „Abgrund“ 381 in der Eigenständigkeit dieser Erzählwelt erhellt. Schließlich erzählt Lockwood Heathcliff den zweiten Traum, wodurch dieser Traum Realitätscharakter erhält: Heathcliff glaubt an die Realität einer Wunschvorstellung, Catherine sei wirk‐ lich gegenwärtig. Im Gefühl des Selbstverlusts empfindet Heathcliff Lockwoods Terror als Erlösung. In beiden Träumen fällt Lockwood, wie später Catherine in 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 231 382 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 34-35. Der Tod des alten Earnshaw (Chapter V) Der Fensterblick (Chapter VI) ihrem Delirium, aus normativen Sinngefügen heraus. Die Paradoxie des poeti‐ schen Realismus erscheint in der Ambivalenz von innerer Bedrohung und äu‐ ßerer Indifferenz bereits zu Beginn des Romans traumanalog aufgelöst. Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters erschließen an diesen Stellen, dass Orientierungsverlust und Irrealisierung als dominante Atmosphären und Sinn‐ angebote des Romans Wuthering Heights verstanden werden können. Im narrativen Gegenzug zu dieser Erfahrung wird in Chapter V durch Catherine und Heathcliff das Motiv der Trauer als Erlösung thematisch. Aus Nelly Deans Sicht glauben die beiden Jugendlichen an ein Leben nach dem Tod. Die Szene um den Tod des alten Earnshaw ist als Pastorale gestaltet, deren Stillstand und Frieden, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmilzt. Nelly Deans Bericht dieser Szene lässt eine Seelenverwandtschaft zwischen Ca‐ therine und Heathcliff vermuten, die visionär andeutet, welche Chancen ihre Beziehung haben könnte, wenn dies unter konventionellen Lebensbedingungen möglich wäre. Nelly Deans Vision enthält von ihr nicht verstandenes Prekäres. Der herbei gerufene Arzt und der herbei gerufene Priester erscheinen nicht. Nelly Deans Vermutung, die Jugendlichen seien in Sicherheit, sie bräuchten keinen Trost, verweist auf die prekäre Situation, in der sie sich befinden, noch in der Todesstunde des alten Earnshaw tadelt er Catherine und sie widerspricht trotzig; Hindley, Heathcliffs demütigender Antagonist, ist abwesend. Schließlich entspricht die Begrenztheit der Vision Nellys einer volkstümlichen Himmels‐ vorstellung, die die Trauer der Jugendlichen in ihrer unschuldigen, körperlich umschlungenen Seelenverwandtschaft („their innocent talk“), im Rahmen des patriarchalischen Machtgefälles, in dem sie auch von der Anordnung der Fi‐ guren her sichtbar wird, nicht zu fassen vermag. 382 Rezipient / innen des dritten Lebensalters haben in der Refiguration der Motive Terror als Erlösung (Chapter III ), Trauer als Erlösung (Chapter V) und Verrat als Erlösung (Chapter IX ) die Thematik des Romans und seine Kontrastdrama‐ turgie, in der Dialektik von Absolutem und Begrenztheit, dass die Liebe zwi‐ schen Catherine und Heathcliff in ihrer Absolutheit regressiv und rebellisch ist und Todeserfahrungen durchschreiten muss, im Paradigma transitorischer Iden‐ titätserfahrung, das im Inversions-Universum des Romans symbolisch gestaltet wird, erschlossen. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 232 383 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 38. 384 Dorothy Van Ghent: The English Novel…, a. a. O., S. 197. 385 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 38. 386 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 40. Dispositions- und Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen richten sich in Chapter VI auf Nelly Deans Wiedergabe der Ich-Erzählung Heathcliffs, auf die Verhaltensweisen Catherines und Heathcliffs sowie auf die diskriminierenden Vermutungen und Gewalttätigkeiten der Lintons und ihres Personals. Der Blick der Jugendlichen Catherine und Heathcliff durch das Fenster in Thrushcross Grange 383 wird aus der Sicht Heathcliffs, die von Nelly berichtet wird, als vikti‐ misierende Kehrseite christlicher Barmherzigkeit und als stolze aus Selbstver‐ achtung erwachsene Selbstachtung Heathcliffs gestaltet. Nelly Dean gibt Heathcliffs Ich-Erzählung ohne Unterbrechung wieder und tadelt ihn erst, wenn er sie beendet hat. Die Frage ist, ob Nelly sich nach so vielen Jahren an den Wortlaut Heathcliffs erinnern kann, oder ob sie das, was Heathcliff ihr erzählt verzerrt wiedergibt? Wieviel Wahrheit, wieviel Fiktion enthält ihre Wieder‐ gabe? In Bezug auf das Romanganze bezogen wird die Kontrastkopplung von Zivi‐ lisation, Gewalt und Anarchie, die im Hause der Lintons herrscht, verdichtet. Edgar und Isabell, so Heathcliff, haben das Wohnzimmer der Lintons, das Ca‐ therine und Heathcliff als Paradiesvorstellung entwerfen, „entirely to them‐ selves“ (S. 38). Sie streiten sich um den Besitz ihres kleinen Hundes. Wie Ca‐ therine und Heathcliff im wilden Moor ganz für sich sind, sind es auch die Lintonskinder im Herrenhaus der Eltern. Jedoch setzen sie sich dem Gelächter und der Verachtung Catherines und Heathcliffs aus. Das Motiv der verwöhnten Kinder („petted things“) zeigt ihre Verzogenheit, die Trivialität ihres Verhaltens, gegenüber der existenziellen Ausgesetztheit Catherines und Heathcliffs, zweier wesensverwandter „unregenerate waifs“ 384 in der Absicherung durch christliche Werte, Besitz und Gewalt an: „(…) we did despise them. When would you catch me wishing to have what Catherine wanted? “ 385 Deutlich wird an dieser, wie in der folgenden Stelle, in der Heathcliff über seine demütigende Gefangennahme durch das Personal und die entwürdigende Beurteilung seiner Person und seines Verhaltens durch die Eltern der Linton‐ kinder berichtet, sie bezeichnen ihn als Räuber, gemeinen Dieb, Schurken, Zi‐ geuner, als jemanden, der fehl am Platze ist, „‘quite unfit for a decent house‘“ 386 , dass Heathcliff als gesellschaftlicher Außenseiter stigmatisiert wird, und zwar nicht nur aus persönlichen Gründen, wie durch Hindley, sondern aus gesell‐ schaftlichen Gründen, im Rahmen der Wechselbeziehung der beiden Höfe, zwi‐ schen landed gentry und yeomanry. 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 233 387 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 40. 388 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 41. Chapters X bis XV Darüber hinaus zeigt diese Stelle, dass Heathcliff sich in stolzer Ablehnung der Gewalttätigkeit des Hauses Thrushcross Grange und in der Gewissheit der archaischen Liebe zwischen Catherine und ihm - er lässt Catherine „as merry as she could be“ 387 - zurück, sich bereits als Jugendlicher einen Handlungsspiel‐ raum geschaffen hat, der ihm, in der Negation zivilisatorischer Besitzstände, christlicher Werte und familiärer Gewaltpotenziale, die Freiheit und Legitima‐ tion gibt, sich im Widerstand gegen dieses Gewaltpotenzial mit diesem zu iden‐ tifizieren, um es vermittels dieses Widerstandspotenzials mit gleichen Mitteln zu zerschlagen. Erneut missversteht Nelly Dean Heathcliffs entschiedene Pro‐ testidentifikation, wenn sie ihm Strafe durch Hindley für dieses „luckless ad‐ venture“ 388 androht. Refigurieren lässt sich in diesem Chapter Heathcliffs Resistenzpotenzial, dass Heathcliff seine Sensibilität für Recht und Unrecht, sein Gespür für die Instabi‐ lität dieses Verhältnisses durch Besitz und christliche Werte, die Gewissheit seiner Liebe zu Catherine und seine Überlegenheit, Eigensinnigkeit und Selbst‐ bestimmtheit gegenüber den Lintons in Auseinandersetzung mit deren kultur‐ eller Begrenztheit, via negationis als Selbstentgrenzung schärft und verstärkt. Diese Überlegenheit, die sich im Erstaunen der Rezipient / innen über die Stärke und konsequente Handlungsweise dieser Figur äußert, bestimmt in einer dra‐ matischen Kontrastkopplung die Fallhöhe des Missverständnisses und die Flucht Heathcliffs in Chapter IX . Nach etwas über dreijähriger Abwesenheit kehrt Heathcliff nach Wuthering Heights zurück. Der erwachsene Heathcliff ist reich geworden und wie ein Gentleman gekleidet (Chapter X). Catherine hat nach Heathcliffs Verschwinden Edgar Linton geheiratet. Weil Catherine ihre Freude über Heathcliffs Rückkehr nicht verbergen kann, kommt es zwischen Edgar Linton und Heathcliff zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Edgar fordert Catherine auf, sich zwischen ihm und Heathcliff zu entscheiden. Catherine flieht zutiefst erschrocken und scho‐ ckiert in ihr Zimmer und verweigert jegliche Nahrung (Chapter XI ). Chapter XII nimmt eine Schlüsselstellung in der Beziehung Catherines zu Heathcliffs und in Bezug auf die dritte Generation ein, die der zweite Teil des Romans in ihren familiären Verflechtungen vorstellt. Dieses Kapitel bereitet Catherins Delirium vor, das zur Auflösung ihres Identitätsgefühls und damit zur Verselbständigung ihrer Imaginationen als Folge ihres metaphysischen Sturzes Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 234 (Chapter IX ) führt. Dieser hält Heathcliffs Destruktionsbedürfnis im zweiten Teil wach. Weil wir Catherines Zerfall und ihre Verwandlung ins Überpersön‐ liche durch Nellys und, davon ästhetisch distanziert, durch unsere Augen sehen, sehen wir auch Nelly Deans eingeschränkten Blick. Die Dramatik dieses Kapitels entsteht erstens dadurch, dass Nelly bestimmte Ereignisse verschweigt; und zweitens durch Rückgriffe auf frühere und Vor‐ griffe auf spätere Ereignisse (Chapter III , Chapter XXIV ). Liest man Chapter XII aus der Perspektive des Chapter III , in dem Catherine in Lockwoods zweitem Albtraum als kindliches Gespenst eingeführt wird, dann kann man den ersten Teil des Romans, der mit Catherines Tod im Kindbett (Chapter XVI ) endet, als narrative Absage an Identitätsbildungsmöglichkeiten für Frauen im 19. Jahrhundert sowie als Kritik an patriarchalen Herrschaftsformen lesen: Ca‐ therines Werden zu sich selbst gipfelt über ihren Tod hinaus in ihrer ins Über‐ persönliche führenden Identitätsauflösung. In einer mehrfach gestaffelten narrativen Steigerung erzählt Chapter XII Ca‐ therines Weg aus der patriarchalen Ehebeziehung heraus in ihre Identitätsauf‐ lösung. Zunächst ist sie wütend, dass Edgar Linton ihr als Erkrankten gleich‐ gültig gegenüber steht, dann schockiert sie erneut der Hass und die Verachtung aller Familienmitglieder, einschließlich Nellys, der ihr entgegenschlägt und sie aus der Illusion reißt, alle hätten sie geliebt, d. h. als Persönlichkeit mit ihrer wilden Natur anerkannt; diese Desillusionierung bezeichnet sie als Heimsu‐ chung und Todeskälte, die Nelly, die Chatherine schonen wollte, durch Ver‐ schweigen ihres Zustandes unwillkürlich mitverursacht hat. Dann stürzt Ca‐ therine ins Delirium. Catherines Zustand deutet Nelly Dean zunächst als Taktik, mit der Catherine sich selbst und andere unter Kontrolle halten möchte. Catherine aber täuscht ihr Delirium nicht vor: Das von ihr zerrissene Kissen, dessen herausfliegende Federn sie unterschiedlichen Vogelarten zuordnet, ihre Imagination Nellys als gealterte Frau mit gebeugten Schultern, der epische Vor‐ griff auf Catherine als Gespenst, das mit dem Geist Heathcliffs unter dem Felsen von Peniston - „under Peniston Crag“ - vereint ist (Chapter XXXIV ), ein aus dem Nichts auftauchender schwarzer Schrank, den Nelly nicht sieht, in dem ein fremdes Gesicht erscheint, das sich als Spiegelbild entpuppt, in dem Catherine sich, erschauernd, nicht mehr erkennt, ihre Vision, sie sei wieder in Wuthering Heights, in ihrem alten Bett und die einschießende Erkenntnis, die letzten sieben Jahre ihres Lebens seien nach der Trennung von Heathcliff von einer Leere bestimmt gewesen, aus der ihre tiefste Verzweiflung resultierte, weil sie die Frau eines Fremden war (S. 161), münden in ihre aus dem Delirium auftauchende Einsicht: 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 235 389 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 98. 390 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 96, S. 98. 391 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 98. 392 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 98, ferner: S. 94-98; der Verweis auf „Peniston Crag”: S. 96 und Chapter XXXIV, S. 257. 393 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 140. (…) and, most strangely, the whole last seven years of my life grew blank! (…) I was a child; my father was just buried, and my misery arose from the separation that Hindley had ordered between me and Heathcliff (…). I had been wrenched from the Heights, and every early association, and my all in all, as Heathcliff was at that time, and been converted at a stroke into Mrs Linton, the lady of Thrushcross Grange; and the wife of a stranger; an exile, and outcast, thenceforth, from what had been my old world. 389 Mit dem Fenster, das sie aufreißt, versetzt sie sich durch die eindringende Ei‐ seskälte den Todesstoß. Alle diese verdichteter Steigerung dramatisierten, sich verselbständigenden Fantasien, Visionen und Einsichten, die auf Chapter V und IX und im dreifachem Verweis auf Catherines Regression zu einem Kind, 390 auf Lockwoods Albtraum in Chapter III zurückgreifen und zu epischen Vorausdeu‐ tungen Catherines als Gespenst werden, schwingen ineinander und führen zur Auflösung der literarischen Figur Catherine - „Why am I so changed? (…) I’m sure I should be myself were I once among the heather on those hills (…)“. 391 Sie lassen deutlich werden, 392 dass sie, wie Heathcliff („my all in all“), ihren Tod herbeibeschwört und ihre frühere Heimat und Innerlichkeit, die wilde Natur, nur in einem Zwischenreich zwischen Tod, Natur und Mythologie 393 finden kann. Die Spiegelung der realen Welt in Thrushcross Grange, in der Catherine er‐ krankte, in der visionären Welt von Wuthering Heights, die Catherine im Fie‐ bertaumel visionär erblickt, diese Spiegelung, die Reales in Visionäres, Leben in Todesvisionen verkehrt, ruft eine durch Catherines empfundenen Liebesverrat und durch ihren Selbstverlust herbeigeführte transitorische Identitätserfahrung hervor. Catherines Übergang ins Mythologische, geradezu surreal gestaltet, os‐ zilliert zwischen Verheißung und Verdammnis. Visionär transformiert ist sie wieder mit der wilden Natur des Moores verbunden, eine gespenstisch Heimat‐ lose, die Heathcliffs Herkunftslosigkeit und seine destruktiven Rachepläne hybrid als das Andere der Vernunft und Zivilisation komplementiert. Sandra Gilbert deutet Catherines Delirium als Catherines - weibliches - Mittel, die Situation, der sie im Rahmen ihrer Ehe mit Edgar Linton ausgeliefert ist, kontrollieren zu wollen, ohne dies jedoch zu können. Ihr Zustand sei Aus‐ druck der Macht- und Hilflosigkeit, der selbst die gebildetsten Frauen im Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 236 394 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 150. 395 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 98 (Chapter XII). 396 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 96-97, S. 97, S. 95-96 (Chapter XII). 397 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 138. 398 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 151. 399 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 151-152. 19. Jahrhundert ausgeliefert waren. 394 Catherines Wahnsinn kann als Symbol ihres Dilemmas und als Übergangsstadium zwischen Leben und Tod gedeutet werden. Sie ist mit ihrer und Edgar Lintons Tochter, die spätere Cathy, schwanger, muss sich aber zwischen Edgar und Heathcliff entscheiden. Ihre Persönlichkeitsspaltung und Identitätsauflösung 395 werden dadurch ausgelöst, dass sie sich zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Wunschzielen entscheiden muss: zwischen Kultur und Natur, freundlicher Zuwendung und unbedingter Leidenschaft. Dieses Dilemma führt ihren körperlichen Tod herbei, befreit ihre seelischen Energien aus dem Gefängnis ihres Körpers und den vik‐ torianischen Konventionen ihrer Ehebeziehung. Die Trennung von Körper und Seele wird in Chapter XII verdichtet in Catherines Blick in den Spiegel, ihre Imagination, sie sei in ihrem alten Zimmer in Wuthering Heights und im Symbol der Vogelfedern, die sie aus ihrem Kissen reißt, 396 ein Hinweis darauf, dass der Tod imaginativ in der Vision einstmals lebender Vögeln reversibel und damit im Sinne moderner Literatur, indifferent (mit Lebendigkeit vertauschbar) ist. Von dieser transitorischen Szene her lässt sich die ozeanische Verbundenheit Catherines und Heathcliffs deuten. 397 Beider Bekenntnis, dass sie ineinander aufgehen, sich in ihrer Genderdifferenz identisch fühlen (Chapter IX , Chapter XVI ), wird von Sandra Gilbert als eine Alter-Ego Erfahrung ver‐ standen, 398 die die unzivilisierten, wilden Personenanteile zusammen mit den weiblichen und männlichen Anteilen des jeweils anderen enthält. 399 Dass Heathcliff in seiner Monstrosität weibliche Anteile hat, ist an seiner Verzweif‐ lung über seine Trennung von Catherine, aber auch an seiner Kindheit im Haushalt der Earnshaws ablesbar. Steve Vine deutet Catherines Delirium, unter Bezugnahme auf Julia Kristeva, als subjektives Vermögen, das in Träumen oder Phantasiegebilden dem Indivi‐ duum, wenn auch prekär, zwischen Begehren und Stabilisierung, einen Zusam‐ menhalt verbürgt. Im Falle Catherines und Heathcliffs aber (Chapter XII , Chapter XXXIV ) führt die Erstarkung ihres Begehrens zu einer Deregulierung dieses Vermögens. Die Auflösung der Persönlichkeitsstabilisierung zeigt sich in der Verselbständigung fragmentierter Erinnerungsbilder, die die Kohärenz einer wie immer empfundenen stabilen Identität nicht mehr garantieren können. Die 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 237 400 Steve Vine: Emily Brontë. New York: Twayne 1998, S. 106, S. 107-108 (Hervorhebung von Vine). Vine bezieht sich auf: Julia Kristeva: „Psychoanalysis and Polis”, in: The Kristeva Reader, ed. Toril Moi. Oxford: Blackwell 1986, S. 307-308. 401 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 130 (Chapter XVI). 402 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 252-256 (Chapter XXXIV). 403 Steve Vine: Emily Brontë. New York: Twayne 1998, S. 107. 404 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 107. 405 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 108. persönliche Vergangenheit wird zu einer dem Individuum nicht mehr bekannten Macht, die es sich selbst entfremdet: The abyss into which Cathy falls (…) is the disjunction between the incommensurable moments of her own story, which interrupt each other and dissolve the coherence of her identity. Shuttling between discrete and unrelated temporal instances, Cathy haunts herself with the nightmare of her own alien incarnations. 400 Catherine stirbt und, so kann man folgern, lässt im Text die fragmentierten Er‐ innerungsbilder als das Anderer ihrer selbst zurück. Dieses Andere findet seine Inkorporation in Catherine als Gespenst, das weder im Himmel, noch auf Erden zu verorten ist. Nach Catherines Tod schreit Heathcliff verzweifelt: ‘Where is she? Not there - not in heaven - not perished - where? (…) Catherine Earnshaw, may you not rest, as long as I am living! You said I killed you - haunt me, then! The murdered do haunt their murderers, I believe - I know that ghosts have wandered on earth.“ 401 An dieser Stelle, wie im letzten Kapitel des Romans (Chapter XXXIV ), entgrenzt Heathcliffs Delirium sein Begehren: Er verschmilzt mit dem Verlust, den er durch Catherines Tod erfahren hat, weil er ihn nicht bewältigen kann. Er ver‐ weigert soziale Kontakte, Nahrung, Rechtsbeistand und die letzte Ölung. Sein leerer Blick folgt Gegenständen, die für Nelly Dean unsichtbar sind. 402 Heathcliff, so Steven Vine, verschmilzt mit der Alterität, in die Catherine uneinholbar ein‐ geschrieben ist. 403 Terry Eagleton sieht Catherines und Heathcliffs Beziehung als „personal re‐ lationship (which can) also transcend the personal into some region beyond“. 404 Da diese persönliche Beziehung destruktiv ist, sei, so Eagleton, der Begriff des Persönlichen inadäquat. 405 Eher könnte man die Beziehung zwischen Catherine und Heathcliff als ontologisch oder metaphysisch bezeichnen, weil sie sich einem Bereich öffnet, der Liebe im Sinne einer wechselseitigen Besitzbeziehung übersteigt, mehr ist als ein romantischer Protest gegen bürgerliche Konventi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 238 406 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 108. 407 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 108. 408 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 108. 409 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 109. onen ist und sich dem Bewusstsein beider Protagonisten entzieht. 406 Die deper‐ sonalisierende Energie ihrer unerfüllbaren Beziehung kann als „impersonality“ bzw. als „a nonor pre-social relationship“ bezeichnet werden, 407 die einen kos‐ mischen Status erreicht, der als revolutionäre Verweigerung zivilisatorischer Errungenschaften verstanden werden kann, die der Roman in der hierarchisch verfestigten Verwebung von Familienmitgliedern und Hausangestellten ver‐ dichtet. In der Denkfigur transitorischer Identität identifiziert Catherine sich mit Heathcliff gegen den eigenen Vater (old Earnshaw) und später gegen den von ihr gewählten Ehemann Edgar Linton. Und Heathcliff identifiziert sich mit Ca‐ therine gegen deren Identifikationspotenzial und gegen seinen Halbbruder Hindley sowie gegen Edgar Linton. In diesem Chiasmus entsteht aus Sicht der verwahrlosten Waisen Heathcliff und Catherine, wiederum perspektivisch ge‐ brochen in der Sicht Nelly Deans, im zweiten Romanteil, eine komplexe in ihren Widersprüchen nicht auflösbare Umkehrung bürgerlicher Familien- und Be‐ sitzverhältnisse, die das, was sie zu kontrollieren vermeinen, verlieren - auch die Selbstachtung und das Selbstgefühl, die sich als Illusionen erweisen. Refi‐ guriert sind diese Illusionen ästhetische Erfahrungen, die Rezipient / innen des dritten Lebensalters wiedererkennen und auf die sie reflektieren. Der in seinen Variationen kreisende, sich selbst aufhebende Chiasmus, der aus den komplexen Figurenverflechtungen heraus sich hinter dem Rücken der Figuren abspielt, wird zu einem indifferenten Entfremdungshorizont, dem sie ausgeliefert sind, und er wird zum verwirrungsästhetischen Deutungsangebot für die Leser / innen. Dieser Entfremdungshorizont verweigert sich den sozialen Beziehungen der Figuren, ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen, die der Roman entwirft, integrierbar und lässt einfach Deutungsvorschläge nicht zu. Der Roman Wuthering Heights kann die Bedeutung dieser Entfremdungser‐ fahrung der Impersonalität mit konventionellen, romantischen Topoi nicht fassen, bestenfalls kann er sie symbolisch mit Elementen der Schauerromantik als metaphysische Beziehung universalisieren. 408 Die überpersönliche Liebes‐ beziehung zwischen Catherine und Heathcliff ist zum Scheitern verurteilt, führt den leiblichen Tod der beiden Protagonisten herbei und wird zum überindivi‐ duellen Mythos, 409 der sich außerhalb sozial gelebter Konventionen in Indiffe‐ renz verkehrt. Eagleton sieht in dieser Tendenz den radikalen Konservatismus des Romans Wuthering Heights: 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 239 410 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. xiii. 411 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht…, a. a. O., S. 259. Chapters XV bis XVI: Catherines Tod im Kindbett und Heathcliffs Rachepläne As both free-spirited rebels and Romantic conservatives, the Brontës sympathized with such dissent (Chartism, H.-C. Ramm) and feared it, resented authority and ad‐ mired it (…). The Brontës (…) inherit both the turbulent and traditionalist aspects of the age which precedes them (…) they are both rebels and reactionaries, pious con‐ formists and passionate dissenters (…). (This) reflects the contradictory history they lived through, as well as the conflictive vantage-point from which they lived it. It also shapes the inner structure of their novels. 410 In Kapitel XII kommt es deutlich zur Abwertung des Heimischen durch die Dramatisierung des Unheimlichen. In dieser Abwertung des Patriarchats durch die Dramatisierung seiner verdrängten Kehrseiten, der Ängste, der Selbstfremd‐ heit, Entfremdung und des Orientierungsverlustes, schlagen beide, Catherine als überpersönliche Erscheinung ohne Heimat und Heathcliff als Heimatloser mit juristischen und finanziellen Mitteln, metaphorisch das Patriarchat mit seinen eigenen Waffen. Sie bringen in narrativer Komplementarität die Verkeh‐ rung stabiler Identitätserfahrungen des Patriarchats als Illusion, die Auflöung‐ serscheinungen bürgerlicher Identität in der Moderne als narrativ-metaphori‐ sche Realität zum Ausdruck. Radikaler als Charlotte Brontës Roman Jane Eyre wird mit dieser Erzählkonstruktion die Paradoxie des poetischen Realismus aufgelöst. Die innere Struktur des Romans Wuthering Heights ist, so gesehen, als narrative Form zu erschließen, an der sich transitorische Identiätserfah‐ rungen der Rezipient / innen erproben können. Chapter XII konfrontiert Rezipientinnen des dritten Lebensalters mit Angst- und Todeserfahrungen, die das Werden zu sich selbst als vereitelte Ganzheits‐ vision begleiten. Die Rezipient / innen können in der Auseinandersetzung mit diesem Roman biografisch und kulturdiagnostisch darauf reflektieren, dass diese Erzählform die nicht auflösbare Diskrepanz des Kapitalismus als unauf‐ lösbare Entfremdungserfahrung zum Ausdruck bringt und sie, als Kinder der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, noch immer davon betroffen sind. Ab Chapter I und Chapter III , durch die Rahmenerzähler Lockwood und Nelly Dean, und ab Chapter XV , beschleunigt durch Catherines Delirium (Chapter XII ), drehen sich der Plot und die Thematik der archaischen Liebes‐ beziehung Heathcliffs zu Catherine, durch Heathcliffs „Erkenntnis einer unlös‐ baren Verbundenheit mit der Verlorenen“ 411 , spiralförmig auf das offene Ende des Romans zu: „‘I shall not be at peace‘, moaned Catherine (…)‘ I’m not wishing Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 240 412 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 124-125 (Chapter XV). 413 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 125. 414 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 125. 415 Melissa Fegan: Wuthering Heights. Character Studies. London: Continuum 2008, S. 95; Fegan sieht mit Janet Gezari in Chapter VI den „turning point in the development of Catherine Earnshaw”, S. 95; Janet Gezari: Last Things: Emily Brontë’s Poems. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 111. you greater torment than I have, Heathcliff I only wish us never to be parted (…)’”. 412 Diese sterbend ausgesprochene Forderung Catherines wird in ihrem Vergebungsgestus („‘for my own sake forgive me‘“) 413 zum Fluch der ewigen Wiederkehr für Heathcliff, der hinter der Stuhllehne Catherines stehend vermeidet, ihr ins Gesicht zu blicken, dann zum offenen Kaminfeuer geht, um dort mit dem Rücken zu Catherine und Nelly Dean zu bleiben. Was dann in einer archaischen Umschlingung der beiden Liebenden geschieht, veranlasst Nelly Dean in Bezug auf Heathcliff zu dem Kommentar: „I did not feel as if I were in the company of a creature of my own species (…) I stood off, and held my tongue, in great perplexity“. 414 Weil Catherine sich bereits für ihre Beziehung zu Heathcliff entschieden hat, bevor sie sich zur Ehe mit Edgar Linton entschloss, und weil Edgar Lintons Forderung, sie solle sich zwischen ihm und Heathcliff entscheiden (Chapter XI ), Catherine zutiefst in der Erkenntnis schockiert, dass Edgar sie nicht verstehen kann, da zwischen ihm und ihr außer ehelichen Pflichten auch das christliche Ideal der Barmherzigkeit und patriarchalische Konventionen stehen, die sie im väterlichen Haus bereits ablehnte (Chapter V), öffnet sich in Catherines Schock ein Riss, der in ihrer Ehe in Thrushcross Grange und der hieraus folgenden Schwangerschaft, überdeckt worden ist. Dieser Riss öffnet ihr erneut die Ein‐ sicht in den Verlust Hearthcliffs, den sie als zwölfjährige in Thrushcross Grange erfuhr (Chapter VI ), 415 und ruft in ihr die archaische und starke Seite ihrer in‐ neren Natur, die für sie auch Heathcliffs Wesen als ihr Alter-Ego auszeichnet hervor, stürzt sie in den Wahnsinn ihrer Identitätsauflösung und in den Tod (Chapter XII , Chapter XV ). Kapitel XII und XV , in die Mitte des Romans gesetzt, können als transitorische Identitätskrise Catherines verstanden werden, die aus der Verlusterfahrung und ihren Folgen resultieren, die Catherine als zwölfjäh‐ rige im Verlust Heathcliffs (Chapter VI ) erfuhr und den beide irrtümlich als Lie‐ besverrat, der ihnen das Leben kostet, empfinden. Catherines Öffnung ihrer wilden inneren Natur, die ihr als literarische Figur den Übergang in den metaphysischen Bereich als vom Himmel gestürzter Engel, satanischer Geist (Chapter IX ), ermöglicht - ihr Paradies ist die irdische Hölle - verlässt sterbend und ihre Tochter Cathy in Gestalt einer Seelenwanderung ge‐ 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 241 416 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 129, S. 130. 417 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 128. 418 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 130. bärend, Heathcliff, indem sie seinen Verlust spiegelt, bis sie in Lockwoods zweitem Albtraum (Chapter III ) als unerlöster Geist zurückkehrt, ihren und Heathcliffs Verrat (Chapter IX ) in der Alter-Ego Figur Heathcliff rückgängig macht und ihn in gespenstischer Verschlingung in das Andere der Kultur, den metaphysischen Bereich, hereinholt (Chapter XXXIV ). In diesem Bereich ist die Macht des Patriarchats aufgelöst. Die Gestaltung des Gespenstischen als metaphysische Verlusterfahrung, die von Catherine und Heathcliff irrtümlich als Liebesverrat empfunden wird (Chapter IX ), diese Transformation wird in Chapter XVI , in der Spiegelung Lockwoods durch Nelly Dean, als das Andere der Kultur gestaltet. Catherines wahre Identität ist die des Gespenstes, mit dem Charakter des Wiedergängeri‐ schen in Gestalt ihrer Tochter Cathy (Chapter III ). Heathcliffs Identitätsmög‐ lichkeit bildet sich in der des leidenschaftlich liebenden Außenseiters, der Ca‐ therine nur in der Abstraktion eines Gespenstes lieben kann. In der Vervielfältigung der narrativen Ebenen der Kapitel XII bis XVII ent‐ steht eine gesteigerte Staffelung von ineinanderübergehenden Fantasiewelten, die die Identität Catherines und Heathcliffs im Außerhalb der Zivilisation visi‐ onär beheimatet und die Virtualität kultureller Werte, Konventionen und der Mitmenschlichkeit in für heutige Leser / innen verwirrenden und herausfor‐ dernden Bildern der Entfremdung gestaltet, die durch narrative Konfrontation mit Mechanismen der Macht- und Besitzgier entstanden sind und diese trans‐ zendieren. Identität in der Moderne, so Wuthering Heights, ist nur negativ, gegen patri‐ archalische Konventionen, gegen religiöse Erlösungsvisionen und Kinderglaube (Chapter V), als entgrenzter Selbstentzug, erfahrbar. In Kapitel XVI werden Nellys christliche Erlösungsvorstellungen in einer den Romananfang und den Albtraum Lockwoods (Chapter III ) aufgreifenden Ana‐ logie von Lockwoods Äußerung, Nellys Erlösungsvision sei „heterodox“ und Heathcliffs Verhöhnung des Himmels: “Did she take due warning, then (…) Did she die like a saint (…)? “ 416 , sowie Nellys Empfindung des „perfect peace (…) no angel in heaven could be more beautiful (…)“ 417 im Sterbezimmer Catherines, als verfehlte Annahmen und falscher Trost zurückgewiesen. Heathcliffs Frage und Gewissheit: „‘Why, she’s a liar to the end! Where is she? ” 418 verbinden die me‐ taphysische Ortlosigkeit Catherines mit dem Schauerelement des Gespensti‐ schen und gestalten darin die kulturkritische Sinndimension des Romans Wu‐ thering Heights. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 242 419 Emily Brontë. Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 129, S. 131. 420 Georges Bataille: Die Literatur und das Böse. Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 14, S. 18. 421 Bea Klüsener: Konzepte des Bösen…, a. a. O., S. 120-232. 422 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 140. Indem der Roman Heathcliffs Verfluchungen Catherines mit Schauerele‐ menten mischt und sie in der Verknüpfung mit Naturelementen materialisiert (Heathcliffs Verwurzelung mit dem Baum, an dem er lehnt und Catherines Ver‐ schmelzung mit dem Moor 419 ), gibt er dem Satanischen der gefallenen Engel Catherine und Heathcliff konkrete Gestalt als Hybride. Wie Lockwoods Alb‐ traum die Tatsächlichkeit des Gespenstischen in seiner Erzählung erwies (Chapter III ), so erweisen sich Heathcliffs Verfluchungen Catherines als Inver‐ sion christlicher Segnungen, als Liebesbeweis und narrative Möglichkeit, kon‐ ventionelle Liebesbeziehungen zu transzendieren. Der Roman flicht Schauerelemente in das Geschehen ein und transformiert sie zur Kritik an traditionellen Erlösungsvorstellungen, am romantischen Lie‐ bestopos, und am eigenen Finale friedlicher Häuslichkeit (die junge Cathy und Hareton). In den Identitätstransformationen der Figuren werden die Geisterer‐ scheinungen zu Gegenspiegelungen der Seele des Bürgertums im 19. Jahrhun‐ dert und damit zu Spiegelungen der Identitätsproblematik in der Moderne. In Georges Batailles Deutung ist die Gestaltung des Gespenstischen als das Böse in Emily Brontës Roman als „Revolte (…) des Bösen gegen das Gute“ zu ver‐ stehen: „Sie ist ausdrücklich unvernünftig (…)“ und bringt, so Bataille an anderer Stelle, „(…) eine völlige Befreiung von Gesellschaft und Moral zum Aus‐ druck (…).“ 420 Das Spiel des Romans mit unten dargelegten Elementen der schwarzen Ro‐ mantik und die bittere Erkenntnis, dass das Diabolische in personifizierter und sozialer Gestalt 421 Metaphysisches impliziert, macht Catherine und Heathcliff zu explosiven Protestfiguren gegen patriarchalische Machtverhältnisse, gegen die kulturelle Imagination der Frau als Angel in the House; zur Kritik an Wert‐ vorstellungen des Viktorianischen Zeitalters. Sie weisen den Weg in die von Erich von Kahler in Bezug auf moderne Erzählkunst beschriebenen Bereiche innerweltlicher Transzendenz. Mit Sandra Gilbert kann man das Empowerment der weiblichen Hauptfigur Catherine als Energie einer „Satanic female“ 422 ver‐ stehen. Kulturkritisch scheinen im Gespenstischen dieses Romans die Materialisie‐ rung des Werte- und Orientierungsverlusts in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorausweisend auf Kulturerfahrungen des 20. Jahrhunderts, auf. Janet Gezari hebt hervor: 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 243 423 Janet Gezari: Last Things…, a. a. O., S. 112. 424 Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München: Hanser 2010, S. 201. 425 Peter von Matt: Die Intrige…, a. a. O., S. 201. 426 Peter von Matt: Die Intrige…, a. a. O., S. 201. 427 Peter von Matt: Die Intrige…, a. a. O., S. 204. In Wuthering Heights, Brontë explores the unsatisfactoriness of both a spiritual sur‐ vival after death, in keeping with Christian doctrine, and a biological survival that depends on generation. Spiritual survival is the specific concern of Joseph (…) and of Nelly Dean and Lockwood, narrators who share a view of these matters close to the doctrine of universal salvation. 423 Die Verweigerung christlicher Erlösung und der damit einhergehende Verfall der Werte lässt eine Atmosphäre der Gewalt und Destruktion, der Halt- und Orientierungslosigkeit zwischen den familiär enggeführten und durch Kon‐ trastkopplungen verknüpften Figuren dieses Romans entstehen. Die Figuren sind entwurzelt und finden, trotz der Empatheienergie Cathys in der dritten Generation, ihre Heimat nicht. In den Schauerelementen, die Realität und surreale Visionen vertauschen, können Rezipient / innen des dritten Lebensalters den Überlebenskampf der Fi‐ guren als unlösbares Konfliktzentrum, das den Verlust existenziellen Vertrauens in die Generation der Eltern (im zweiten Teil des Romans; Heathcliff ist Vertreter der zweiten, der Elterngeneration), sowie den Verlust des Vertrauens in welt‐ liche und christliche Werte (in beiden Teilen des Romans), gebündelt im Lie‐ besverrat durch Irrtum, refigurieren. Heathcliffs Lügen im zweiten Teil des Ro‐ mans können als Intrige zur Verfolgung seiner Rachepläne verstanden werden. Nach Peter von Matt ist die Intrige in zivilisationsgeschichtlicher Sicht Apos‐ tasie; sie bezeichnet „einen metaphysischen und theologischen Abfall“. 424 Der Protagonist entzieht sich einem übergeordneten Schicksal und stellt es in der Intrige selber her. Furchtlos vertauscht er „das Fatum, die Vorsehung (…), die regierende Gewalt der Gestirne (…), die Frömmigkeit mit der Intelligenz“. 425 Der Intrigant als literarische Figur setzt auf die eigene Logik und Schlauheit. Er handelt selbstbestimmt. In diesem Sinne bleiben in der Intrige Spuren ihres me‐ taphysischen oder theologischen Ursprungs als „Usurpation des Schicksals, Usurpation der Weltlenkung als eines göttlichen Privilegs“ erhalten. 426 In Kon‐ kurrenz zur göttlichen Macht und als dämonische Alter-Ego-Figur Catherines ist auch Heathcliff wie diese ein gefallener Engel, dessen destruktive Macht - „der Teufel ist der Abtrünnige schlechthin“ 427 - Menschenleben zerstört und ihm literarisch die Affinität zum Metaphysischen gibt. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 244 428 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 183 (Chapter XXIII). 429 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., Chapter XXIII, S. 183, im Vergleich: Chapter X, S. 74, Chapter XII, S. 100, S. 102, Chapter XIV, S. 116-117, Chapter XV, S. 123-125, Chapter XVI, S. 128-129, S. 130-131, Chapter XXI, S. 167, S. 171-172, Chapter XXII, S. 179, S. 180, S. 181. In Chapter XXIII werden Heathcliffs Intrigen aus den Gegenperspektiven der sich streitenden Kinder der dritten Generation, Cathy und Linton, zugleich mit autoreferenziellen Verweisen des Romans Wuthering Heights deutlich. Cathy ist sich sicher, ihre Mutter Catherine habe Edgar, ihren Ehemann, geliebt. Linton, Heathcliffs und Isabellsas Sohn, hält dagegen, dass Catherine Edgar gehasst habe. Cathy erwidert ihm wütend, dass er lüge: „‘You little liar! I hate you now,‘ she panted, and her face grew red with passion.“ 428 Nelly Dean versteht ihrerseits die Beziehung zwischen Catherine und Heathcliff nicht und bestätigt Cathy, dass Catherine Edgar geliebt habe. Linton widerspricht. Aus der Sicht der Leser / innen sitzen Cathy und Nelly Dean einem Irrtum auf. Und wiederum nicht: Vergleicht man diese Stelle in Kapitel XXIII mit entsprechenden Stellen in den Kapiteln X, XII , XIV , XV , XVI , XXI , XXII , 429 dann wird deutlich, dass der Roman sein Spiel mit den Wertvorstellungen und Normen seiner Leser / innen treibt. Inhaltlich kommen zwei Wahrheiten ans Licht: Cathy will die Liebe zu und ihre Liebesvorstellung von ihren Eltern retten; Linton verteidigt die Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff. Aus körperlicher Schwäche und Feigheit rächt er sich nicht an seinem Vater Heathc‐ liff, der ihn ständig demütigt, sondern an Cathy und ihren Liebesvorstellungen. Autoreferenziell kommt an dieser Romanstelle das Hauptthema des Romans, die archaische Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff aus unter‐ schiedlichen Perspektiven, wie sie in den verschieden Situationen des Romans zum Ausdruck kommen und von Nelly Dean gedeutet werden, ins Spiel. Eine konventionelle Love-Hate-Beziehung lässt dieser Roman nicht zu, weist einfache Wahrheiten, die jede Figur aus ihrer Sicht für richtig hält, und wie sie im Streit der Kinder der dritten Generation zu Ausdruck kommt, zurück. In den Blick der Leser / innen tritt am Beispiel der Verwebungen von Landadel (Trushgross Grange) und niedrigem Landadel (Wuthering Heights) die Komplexität, Un‐ überschaubarkeit und auf ihre Ursachen nicht durchschaubare Welt bürgerli‐ chen Lebens im 19. Jahrhundert, weil Ursachen sich gegenseitig negieren und aufheben. In den Blick tritt, nicht nur an dieser Stelle, hier aber eindrücklich, die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Menschen. Ab Kapitel XVII rückt die jüngere, dritte Generation, ins Zentrum des von Nelly Dean berichteten, an Lockwood als Zuhörer gerichteten Geschehens. Das 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 245 430 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 174 (Chapter XXI), Chapter XXIII, S. 187, nennt Nelly Dean Cathy: „My little mistress”. 431 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 154; Melissa Fegan: Wuthering Heights…, a. a. O., S. 108. Verhalten dieser Generation bleibt durchwirkt von Heathcliffs selbstzerstöreri‐ schen Rachestrategien, setzt ihnen aber auch ihre transformatorische Energie entgegen. Cathy, die Tochter Catherines, verteidigt ihre Haltung des Vergebens im Konflikt mit Heathcliff gegen dessen aggressive Taktiken und ihre Auswir‐ kungen. Jedoch bleiben Hass und Vergebung unversöhnt: durch die von Heathc‐ liff erzwungen Heiraten, durch Isabellas Rache und Tod, durch Hindleys Al‐ kohol- und Spielsucht und seinen plötzlichen Tod, durch Linton Heathcliffs mürrische Schwächlichkeit. Liebe und Vergebung, die sich von Heathcliffs und Catherines selbstzerstö‐ rerisch entgrenzender Liebesbeziehung unterscheiden, sind lediglich im Rahmen patriarchaler Machtverhältnisse in Ehebeziehungen durch Wohlwollen in der älteren Generation (old Earnshaw-Heathcliff), durch geschwisterliche Sympathie (Cathy-Linton-Heathcliff) oder Mitleid (Cathy-Hareton) in der dritten Generation möglich. So strukturiert der explosive Zusammenstoß zwi‐ schen Entgrenzungssehnsucht und begrenzender Realität das von Nelly Dean und Lockwood bis zum Ende berichtete Geschehen. Geht man von dieser Deutung aus erneut der Frage nach, welche Handlungs‐ spielräume die Figuren in dieser einengenden narrativen Laborsituation familiär dichter Verflechtungen haben, so stößt man ab Kapitel XVII auf Konstellati‐ onen, die die Durchkreuzung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Figuren in den Vordergrund und die Chancen einer Entwicklung ihrer Selbstbestim‐ mungsmöglichkeiten, hier symbolisiert in Cathy, der Tochter Catherines, in den Hintergrund rücken. Persönliche Autonomie, so der Roman, ist im Rahmen pat‐ riarchalischer Machtverhältnisse nur in der Verkehrung von Hölle und Himmel erfahrbar, wobei das Bild der Hölle kreative Energien zum Ausdruck bringt, die von normativen Zwängen befreien und das Bild des Himmels destruktive Ener‐ gien zum Ausdruck bringt, die von einem tyrannischen Vater ausgelöst werden. Zwar gewinnt das christliche Motiv der Vergebung und das ethische Motiv der Empathie in Cathy an Bedeutung, wird aber insofern wieder zurückge‐ nommen, als Cathy mit diesen positiven Eigenschaften das Patriarchat reprä‐ sentiert, das ihre Mutter so heftig ablehnte. Cathy wird mehrfach von Nelly und auch von Heathcliff als „Miss Cathy“ (Chapter XX , XXI , XXII ) und damit nicht als verwahrloste Waise, wie es die Alter-Ego Figur Catherine-Heathcliff war, bezeichnet. Vielmehr ist sie als Tochter des belesenen und gebildeten Juristen Edgar Linton, „‘my young lady‘“, so Nelly Dean, 430 eine „born lady“ 431 , mithin ein Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 246 432 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., Chapter XXI, S. 173-176, Chapter XXI, S. 164, Chapter XXIII, S. 187. 433 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 154. 434 Melissa Fegan: Wuthering Heights…, a. a. O., S. 111. 435 Sandra Gilbert: „Looking Oppositely…, a. a. O., S. 156. junges, siebzehnjähriges Mitglied des Patriarchats, das ihre Mutter und Heathc‐ liff als unzivilisiert abwies und von ihnen abgelehnt wurde. Strukturell aber spiegelt Cathy die Widerstandsproblematik, die der Roman gestaltet. Wenn ihre Mutter, Catherine und Heathcliff Alter-Ego Figuren sind, die selbstzerstörerische Identitätspotenziale haben, die sie narrativ zu Dämonen in einer irdischen Hölle werden lassen, so ist die junge Catherine eine inverse Gegenspiegelung ihrer Mutter und damit auch Heathcliffs. Sie ist gebildet (Chapter XXI ), sie ist empathie- und liebesfähig (Chapter XXI - XXIII ), sie ist eigenwillig und selbständig (Chapter XXI - XXIII ) und sie wird von Nelly Dean zweimal als „angel“ bezeichnet (Chapter XXI , Chapter XXIII ). 432 Die Gegen‐ spiegelung besteht in der Inversion der Dämonen zu einem Engel, der zugleich aber den höllischen Energien auf Erden - das Patriarchat mit seiner christlichen Liebesethik ohne Leidenschaft - verbunden bleibt. Mit Sandra Gilbert kann man diese ins Positiv gedrehte Negativ-Figur Cathy als „non-identical double“ 433 ihrer Mutter und damit auch Heathcliffs mit der Konsequenz bezeichnen, dass Cathy durch den Entzug ihres Erbrechts durch Heathcliff, zwar juristisch ihre Selb‐ ständigkeit verliert, sobald sie den Sohn Hindleys und Frances, Hareton, hei‐ ratet. Ihre autonome Energie aber findet Cathy in Büchern. Sie nutzt ihre Bil‐ dung um ihren Ehemann Hareton zu zivilisieren. Fegan weist darauf hin, dass diese Stelle eine Inversion des literarischen Topos ist, der im 19. Jahrhundert gebildete Männer als Erzieher wissbegieriger junger Frauen auszeichnete. 434 Catherine Linton bleibt als Inversionsfigur der dämonischen Catherine-Heathc‐ liff Verknüpfung an Hareton Earnshaw, als Catherine Earnshaw gebunden. Dies bedeutet, dass die Welt von Wuthering Heights der Welt durch Thrushcross Grange einverleibt wird. Damit aber ist der Himmelssturz der Mutter Cathe‐ rines, den sie im Traum erfährt und in Chapter IX Nelly erzählt, nicht aufge‐ hoben, sondern als expatriierter ins Patriarchat selbst integriert. Die Hölle auf Erden wird in der ehelichen Verbindung von Cathy und Hareton patriarchalisch „redefined, renovated, restored“. 435 Darauf weisen bereits - gegen Nelly Deans konventionelle Himmelsvorstel‐ lungen gerichtet - Catherines Traumerzählung ihres Himmelssturzes in Ka‐ pitel IX hin und am Schluss Heathcliffs in Kapitel XXXIV hervorgehobene Wei‐ gerung, kurz vor seinem Tod die letzte Ölung empfangen zu müssen: „I tell you, I have nearly attained my heaven; and that of others is altogether unvalued and 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 247 436 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 255 (Hervor‐ hebung im Original). 437 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 255. 438 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 40. 439 Siehe dazu: Wolfgang Schlüter: „Nachwort“ in: Emily Brontë: Sturmhöhe. Wuthering Heights. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Schlüter. München: Hanser 2016, S. 513-560, hier: S. 527. 440 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 249, S. 250, S. 251-252, S. 253, S. 254, S. 255 (Hervorhebung im Original), S. 256. uncoveted by me.“ 436 Vor seinem Tod betont Heathcliff, der im gleichen Bett stirbt, in dem Catherine und er als Kinder schliefen und in dem Lockwood seine beiden Albträume (Chapter III ) hatte, gegenüber Nelly Dean: „‘I believe, you think me a fiend! ‘ he said with his dismal laugh, ‘something too horrible to live under a decent roof ’”. 437 Bevor er stirbt, greift Heathcliff das Außenseitermotiv auf, von dem er, wie oben dargelegt, in Kapitel VI Nelly Dean erzählte: Er sei, in den Augen der Lintons, so sagte er zu diesem Zeitpunkt, „‘quite unfit for a decent house‘“ 438 . In weiteren epischen Rück- und Vorgriffen greift Nelly Dean in diesem auf drei Tage und vier Nächte episch verdichtetem Abschlusskapitel XXXIV den Grundkonflikt zwischen normativen Konventionen und individueller Freiheits‐ sehnsucht, zwischen kultureller Begrenzung und Entgrenzungssehnsucht der Figuren Catherine und Heathcliff sowie die Diskrepanz zwischen viktoriani‐ schem Anspruchsdenken und radikalisiert romantischer Zivilisationskritik, die den Roman ambivalent strukturieren und auch den Rahmenerzähler Lockwood beeinflussen, auf und bestätigt damit autorefrenzielle Struktur des Romans. 439 In Parallelführung zu Catherine (Chapter XXII - XV ) isoliert sich Heathcliff am Ende seines Lebens. Er schickt die junge Cathy, Joseph, Nelly und Hareton (zwei Mal), später alle, die in seiner Nähe sind, fort, verweigert jede Mahlzeit, er kommt Nelly wie ein Nachtwandler, Gespenst, Ghul oder Vampir vor, er ist, wie Catherine, rastlos im Delirium, wirkt symbiotisch und gespenstisch ver‐ bunden mit nächtlicher Räumlichkeit; er wirkt entkörperlicht: Nelly, Joseph, Cathy und Hareton sehen ihn nicht, hören aber seine Stimme und seine Schritte, er kreiert eine beängstigende Atmosphäre, die Nelly abergläubisch werden lässt; Heathcliff bereut keine seiner Taten („injustices“), weist den Juristen Green als Testamentsverwalter, den Arzt Dr. Kenneth und jeden beliebigen Geistlichen zurück, bringt sich als Teufel („fiend“) in Gegensatz zur viktorianischen Schick‐ lichkeit, hebt die von Nelly ihm unterstellte „godless indifference“ als „my heaven“ hervor und grenzt diesen gegen konventionelle Himmelsvorstellungen ab. Heathcliffs Seele wird nach seinem Tod von Joseph als Beute des Teufels bezeichnet. 440 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 248 441 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 251. 442 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 122 (Chapter XV). Nicht nur diese Motive weisen strukturell auf Mitte und Anfang des Romans zurück, sondern auch Nelly Deans im Halbschlaf erinnerte Frage nach Herkunft und Namen Heathcliffs, sowie ihre Überlegungen zu Heathcliffs selbstsüch‐ tigem und unchristlichen Leben, das er weit entfernt von biblischen Geboten gelebt habe. Episch vorausgreifend bringt Nelly Heathcliffs unzivilisiertes Au‐ ßenseitertum mit seinem Begräbnis und damit, narrativ, mit dem Topos des zeitkritischen romantischen Rebellen, den er im Namen trägt in Verbindung: heath hat die Doppelbedeutung von Heideland und Ungläubigem; cliff bedeutet Klippe, Felswand und assoziiert Kälte. Ein strukturell weitgehender epischer autoreferenzieller Rückgriff findet in der Doppelung von erzählter Zeit und natürlichem Setting statt. Heathcliff stirbt im April 1802. Die erzählte Zeit des Romans beginnt im November 1801, beträgt rückgreifend etwa ein Jahr und vorgreifend auf die Heirat von Cathy und Ha‐ reton im Januar 1803 etwas über ein Jahr, dramatisiert also durch zeitliche Ver‐ dichtung die von Nelly Dean und Lockwood berichteten Geschehnisse. Die Parallelisierung des natürlichen Settings führt eine Analogie zwischen Catherines und Heathcliffs Tod und ihrem Übergang ins Metaphysische herbei (Chapter XV , Chapter XXXIV ). Vor Heathcliffs Tod hört Nelly Dean das Rau‐ schen und Murmelns des Baches im Tal, in dem das Städtchen Gimmerton liegt. Die Heathcliff-Stelle lautet: He was leaning against the ledge of an open lattice, but not looking out; his face was turned to the interior gloom. The fire had smouldered the ashes; the room was filled with the damp, mild air of the cloudy evening, and so still, that not only the murmur of the beck down Gimmerton was distinguishable, but its ripples and its gurgling over the pebbles, or through the large stones which it could not cover. 441 Die entsprechende Stelle vor Catherines Tod lautet: Gimmerton chapel bells were still ringing; and the full, mellow flow of the beck in the valley came soothingly on the ear. It was a sweet substitute for the yet absent murmur of the summer foliage, which drowned that music about the Grange when the trees were in leaf. 442 In einem der abschließenden Tableaus in Chapter XXXIV ist Nelly Dean abends zu Fuß auf dem Weg nach Wuthering Heights. Sie trifft auf einen verängstigten kleinen Jungen, der auf ein Schaf und zwei Lämmer aufpasst. Der Junge erzählt ihr, er habe Heathcliff und Catherine als Gespenster unter einem Felsvorsprung 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 249 443 Emily Brontë: Wuthering Heights. Edited by Richard J. Dunn…, a. a. O., S. 257. 444 Melissa Fegan: Wuthering Heights…, a. a. O., S. 111-112. 445 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 118. 446 Zur Problematik zivilisatorischer Fremdheit: Arno Gruen: Dem Leben entfremdet…, a. a. O. Die provozierende Problemoffenheit des Romans Wuthering Heights gesehen. 443 Die Konnotation Kind und Lämmer weist auf einen unschuldigen Beobachter hin, der die Glaubwürdigkeit christlicher Benevolenz und absoluter Entgrenzungsmöglichkeiten in einer von patriarchalischen Konventionen be‐ stimmten Welt, um die es dem Roman geht, in Frage stellt: „(This) is not an unmitigated or unambiguous happy ending; the union of the young lovers is overshadowed by the speculative, spectral reunion of Heathcliff and Catherine, and the abandonment of the ancestral home of the Earnshaws.” 444 Mit dem an den Anfang des Romans anknüpfenden Schlusstableau wird die in Cathys Charakter und Verhalten aufscheinende Paradoxie des poetischen Rea‐ lismus, den Romane des Viktorianischen Zeitalters in Varianten zum Ausdruck bringen, zugleich ins Spiel gebracht und verwirrungsästhetisch aufgelöst. Die ethische Dimension eines märchenhaften Schlusses wird dadurch eingezogen, dass der Roman Wuthering Heights Zivilisation, Rache und Gewalt narrativ mit Begehren und Obsession überblendet. In dieser Engführung wird in kulturkri‐ tischer Absicht die Atmosphäre der Unheimlichkeit erzeugt. Elementare Ge‐ fühle wie Leid, Schmerz und Trauer in und zwischen den Figuren erhalten keine Spielräume, oder bei Catherine und Heathcliff Spielräume, die in der kulturellen Ordnung keine Räume finden und in einen Zwischenbereich zwischen Meta‐ physik und Empirie führen. Empathie wird zwischen den individualisierten und durch asymmetrisch strukturierte Fremdheit verbundenen Figuren, mit Ausnahme der Erzählerin Nelly Deans, die aber nicht zu den Hauptakteuren gehört, kein Spielraum ein‐ geräumt. Mit dieser ästhetischen Konzeption, die den Werteverfall des 19. Jahr‐ hunderts durch fehlendes Gemeinschaftsgefühl und fehlende Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt, konfrontiert Wuthering Heights seine Leser / innen mit „irre‐ concilable contradictions“ 445 , die kommunikativ zwischen den Figuren und nar‐ rativ im Ganzen des Erzählten unvermittelt, also ohne eine für Romane des Viktorianischen Zeitalters übliche ethische Dimension bleiben. 446 Gleichzeitig verweist das Schlusstableau autoreferenziell auf den Roman Wuthering Heights insgesamt: Die Imaginationskraft, die der kleine Junge akti‐ viert, verselbständigt sich in der metaphysischen Erscheinung im Medium der erzählten Welt ebenso, wie sich Catherine als Gespenst in der passiven Imagi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 250 447 Felix Krämer (Hg.): Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst. Katalog des Städel Museums Frankfurt / M, 26. September 2012 bis 20. Januar 2013. Ostfildern: Hatje Cantz 2012. nation des Albtraumes des Großstädters Lockwood bereits in Kapitel III ver‐ selbständigte. Im Schlusstableau verweist der Roman auf sich als aktive, pro‐ duktive Imagination, die Realität nicht nachahmt, sondern experimentell, gestützt durch die Rahmenerzähler, eine Fantasiewelt gegen die Objektivität reifizierter Gesellschaftsverhältnisse und gegen die Dogmen der christlichen Religion entwirft. In der als Vision geschauten Umarmung Catherines und Heathcliffs im abschließenden Tableau, weist der Roman christliche Erlösungs‐ fantasien radikal zurück und öffnet autoreferenziell einen Bereich des Todes oder der Metaphysik, der die Kehrseiten des Gründungsmythos der Moderne, die Vieldeutigkeit der europäischen Kunstbewegung der Schwarzen Romantik evoziert. Diese Kunstbewegung reicht von Goya bis Max Ernst, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Zu den wichtigsten Malern des An‐ fangs dieser Kunstrichtung gehören Giovanni Battista Piranesi, Johann Heinrich Füssli, Francisco de Goya, Caspar David Friedrich, zu den Schriftsellern Horace Walpole, E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, zu den Komponisten Carl Maria von Weber und dessen Oper Der Freischütz, Richard Wagner und dessen Oper Der fliegende Holländer. 447 Zentrum der Schwarzen Romantik ist die Darstellung der Abgründigkeit des modernen Menschen, seiner Ängste, Leiden und Lust. Elemente des Schauerlichen, der Nacht, Friedhöfe, verlassene Ruinen, wie von Geisterhand gelenkte Schiffe, verlassene Schluchten und Wälder, apokalypti‐ sche Szenarien, Unheimliches und die Realität der Träume, wie wir sie von Dalis Bildern kennen, sind verwirrungsästhetische Ausdrucksgestalten der Schwarzen Romantik. Diese Kunstrichtung reagiert auf die Umwälzungen der Moderne und transformiert die konventionellen Schönheitsgesetze ins irritierend Erhabene. Die verstörende Faszination des Abgründigen wird zum Ausdruck einer entfes‐ selten Einbildungskraft, die Rezipient / innen faszinierte und bis heute beein‐ druckt. Edmund Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung un‐ serer Ideen vom Erhabenen und Schönen geht bereits 1757 der Frage nach, was uns an unheimlichen und gewaltsamen Darstellungen in der Kunst fasziniere? Burke stellt das Erhabene in den Gegensatz zum Schönen und sieht in der Be‐ trachtung des Erhabenen einen delightful horror. Nur wenn der Betrachter weiß, dass ihn das Ereignis nicht direkt betrifft, kann er diesen Zustand genießen. Das Erhabene, so Burke, durchbricht die Vorstellung des Schrecklichen und trifft den Menschen existenziell: „(…) die Ideen des Schmerzes sind weit mächtiger (…) als 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 251 448 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge. Neu eingeleitet und herausgegeben von Werner Strube. Hamburg: Meiner, S. 72, S. 72-73. 449 Edmund Burke: Philosophische Untersuchung…, a. a. O., S. 72. 450 Friedrich Schiller: „Über das Erhabene“, in: Friedrich Schiller: Werke in drei Bänden. Band II. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 607-618, hier: S. 610 (Hervorhebung von Schiller), S. 610-612. 451 „Review of Wuthering Heights from Douglas Jerrod’s Weekly Newspaper, 15 January 1848”, in: Juliet Barker: The Brontës: A Life in Letters. London: Viking 1997, S. 178. diejenigen, die auf der Seite des Vergnügens stehen.“ 448 Diejenigen, die die Dis‐ krepanz zwischen der Darstellung „schreckliche(r) Objekte“ 449 und ihrer Wir‐ kung aushalten, können sich von schmerzlichen Empfindungen distanzieren und das Erhabene genießen. 1793 sieht Friedrich Schiller in seinen Ästhetischen Schriften im Erhabenen einen Zug zur Freiheit. Das Schöne bindet uns, so Schiller, an die sinnliche Welt. Das Erhabene als „gemischtes Gefühl“ zwischen „Wehsein“ und „Frohsein“ 450 überwältigt unsere Sinne und befreit uns aus dem Gefängnis der Schönheit. Es reißt uns durch plötzliche Erschütterung aus den Netzen verfeinerter Sinnlich‐ keit heraus. Das Erhabene schleudert den Betrachter aus den konventionellen Lektüre-, Seh- und Hörgewohnheiten und macht die Kluft zwischen Vernunft und Sinnlichkeit sichtbar. In diesem Widerspruch liegt der Zauber, der unsere Gemüter ergreift. So ist auch Goyas berühmtes Gemälde von 1797 Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer zu verstehen. Verwirrungsästhetisch und in autoreferenzieller Hervorhebung aktiver Ima‐ gination hält der Roman Wuthering Heights in der Tradition der Schwarzen Ro‐ mantik bis zum Schluss offen, was richtig, was falsch, was glaubwürdig, was unglaubwürdig, was Realismus, was Imagination, was Vernunft, was Wahnsinn ist. Narrativ heterogen antizipiert Wuthering Heights Erzähltechniken Virginia Woolfs, James Joyces, des frühen 20. Jahrhunderts und wirft bis heute aktuelle Sinnfragen nach Wahrheit, Objektivität, dem Stellenwert von Identität und Liebe, Vernunft und Sinn in der Moderne auf. In einer Rezension des Romans vom 15. Januar 1848 heißt es: Wuthering Heights is a strange sort of book (…) the reader is shocked, disgusted, almost sickened by detail of cruelty, inhumanity, and the most diabolical hate and vengeance, and anon come passages of powerful testimony to the supreme power of love - even over demons in the human form. The women in the book are of a strange fiendish - angelic nature, tantalizing, and terrible, and the men are indescribable out of the book itself (…). 451 Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 252 452 „Review of Wuthering Heights…, a. a. O., S. 178. 453 Terry Eagleton: Myths of Power…, a. a. O., S. 120. Der Rezensent weist auf die außergewöhnliche Befremdlichkeit, Widersprüch‐ lichkeit und provozierende Problemoffenheit des Romans hin und empfiehlt die Lektüre, weil man zuvor noch nie einen solchen Roman gelesen habe. Er sei „very puzzling and very interesting“ 452 und die Leser mögen selbst entscheiden, um welche Art Roman es sich handele. Der Bruch zwischen Niedertracht und Mitleid, zwischen Destruktion und Empathie bleibt in diesem Roman unaufge‐ löst, christliche Erlösungsethik fragwürdig und Humanität nur via negationis in der Liebes-Dystopie vorstellbar: The novel’s dialectical vision proves Heathcliff both right and wrong (…) if ethical and ontological idioms fail to mesh, if social existence negates rather than realizes spiritual essence (…) it follows that in such a condition those values can be sustained only in the realm of metaphysics. It is a function of the metaphysical to preserve those pos‐ sibilities which society cancels, to act as its reservoir of unrealized value. 453 Rezipient / innen des dritten Lebensalters können im Erschließen dieses Romans als kulturelles Gedächtnismedium und im Diskurs über ihn die Krise eines Wer‐ dens zu sich selbst als gebrochene Ganzheit refigurieren. Ganzheitlichkeit eines bewussten Lebens mit seinen Widersprüchen und mit der Vision eines gelin‐ genden Lebens wird von Emily Brontës Roman negativ entworfen und mündet in die metaphysische Liebes-Dystopie zwischen Catherine und Heathcliff. Im ersten Teil des Romans werden am leiblichen Zerfall Catherines Prozesse des Alterns, der Vergänglichkeit und des Sterbens narrativ gestaltet. Im zweiten Teil setzt Heathcliff in der Radikalität der Rachsucht Elemente seiner Vorgeschichte zu einem Lügengewebe zusammen, um seine Rachepläne destruktiv verwirkli‐ chen zu können. Für Rezipient / innen des dritten Lebensalters entfalten und verbinden beide Teile des Romans in frappanter Analogie, Erfahrungen transitorischer Identi‐ tätsmöglichkeiten - im Spiegel ihrer konstitutionellen Selbstentzogenheit - mit Erfahrungen eigener Alternsprozesse. Im Diskurs über den Roman taucht die Rachefigur Heathcliff immer wieder als Identifikationsfigur, taucht die Binnen‐ erzählerin Nelly Dean als Konfliktlösungsfigur, die aufgrund ihrer peripheren Position als Ich-Erzählerin keine sein kann, auf. Die Rezipient / innen erschließen die narrative Welt von Wuthering Heights als rachsüchtige Welt, in der Strafe und Furcht herrschen, die elementaren Ge‐ fühlen, wie Leid, Schmerz und Trauer keinen Raum geben, wodurch die Selbst‐ bestimmungs- und Handlungsspielräume der Figuren erzählerisch verkleinert, 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 253 454 Martha Nussbaum: „Wuthering Heights: The Romantic Ascent”, in: Philosophy and Li‐ terature 20.2 (1996), S. 362-382, hier: S. 365. 455 Mark Galliker: „Attributionstheorie“, in: Mark Galliker und Uwe Wolfradt (Hg.): Kom‐ pendium psychologischer Theorien. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 44-47; Elliot Aronson: Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluss. Heidelberg: Spektrum 1994, S. 302-303. 456 Verena Kast: Altern…, a. a. O., S. 78-81. 457 Terry Eagleton: Das Böse. Berlin: Ullstein, S. 28. durchkreuzt und unterbunden werden; eine Erzähltechnik, die dialektisch die Vision gelingender Kommunikation, eines geglückten Lebens mit sozialer Ge‐ rechtigkeit erahnen lassen könnte. Martha Nussbaum verortet die Komplexität der Liebesbeziehung zwischen Catherine und Heathcliff zunächst in der Tradition der Augustinischen Liebes‐ ethik, legt anschließend aber dar, dass der Roman Wuthering Heights „(…) chal‐ lenge(s) the roots of Augustian Christianity itself (…) the Romantic lover (Heathcliff) claims to bring to the Christian world an energy and a depth of commitment it has lost.” 454 Schließlich richten sich die Dispositions- und Plausibilitätsfragen, anhand des Verhältnisses Catherines zu Heathcliffs und Heathcliffs zu den Figuren des Ro‐ mans, auf die Gestaltung der Glaubwürdigkeit bösen Verhaltens und des Bösen in Wuthering Heights. Böses Verhalten gestaltet der Roman als ableitbar aus der negativen self-ful‐ filling prophecy eines sich wiederholenden Sündenbockmechanismus, der den Figuren Verhaltensweisen mit Ursachen zuschreibt. 455 So ließe sich Heathcliffs Rachsucht dem Liebesverrat zuschreiben, den er irrtümlich durch Catherine er‐ fährt. So ließe sich die Zirkularität des Plots dieses Romans deuten. Die doppelte Negation der Irrtümlichkeit und des Verrates bewirkt jedoch auch eine Irreali‐ sierung dieser Ursachenzuschreibung, weil sich die destruktive Energie, die sie bei Heathcliff und Catherine hervorruft und ihre ins Metaphysische treibende unbzw. überpersönliche Beziehung zueinander, nicht ursächlich deuten lassen. Narrativ gestaltet der Roman diese Vorenthaltung von Ursächlichkeit durch Catherines Verrat, den Heathcliff irrtümlich annimmt, durch ihren Tod und durch die kreisförmige, autoreferenzielle Plotstruktur. Für Heathcliff geht die Beziehung zu Catherine als wechselseitige Belebung ihrer inneren unzivili‐ sierten Natur verloren, wird jedoch als phantasmatisches „Beziehungsselbst“ 456 in der Erinnerung Heathcliffs als Teil seiner Trauerarbeit erhalten. Catherine wird zu einem dynamisierten Phantasma, das als Zwischenfigur autoreferenziell auf das kreisförmige Erzählganze des Romans verweist und darin kausale Ur‐ sächlichkeit narrativ aufhebt. Diese Verdichtung des Erzählens des Erzählens setzt einen kulturdiagnostischen „Prozess der Selbsttranszendierung“ 457 der Fi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 254 458 Terry Eagleton: Das Böse…, a. a. O., S. 192; Bea Klüsener: Konzepte des Bösen…, a. a. O., S. 34-119, S. 233-334. 459 Virginia Woolf: „‘Jane Eyre ‘and ‚Wuthering Heights‘“, in: Virginia Woolf: The Common Reader. First Series…, a. a. O., S. 155-161, hier: S. 159. guren und damit des Geschehens in Gang, der die Destruktionsenergie des Sün‐ denbockmechanismus übersteigt und sich hinter dem Rücken der Figuren zur narrativen Atmosphäre ihrer Ausweglosigkeit verdichtet. Die Handlungen der Figuren haben „keine rationale Grundlagen“ 458 mehr. Zwar bleiben die Hand‐ lungsmotive individualisiert nachvollziehbar, deren Ursachen jedoch nicht. Da‐ rauf deuten beispielsweise die Leerstellen von Heathcliffs Herkunft, sein Reichtum und sein vornehmes Gebaren nach seiner Wiederkehr sowie die ab‐ gründige Verzweiflung Catherines und Heathcliffs, nicht zuletzt die Autorefe‐ renzialität des Erzählten hin. Der Roman Wuthering Heights verweigert in der Ambivalenz des Bösen, das Heathcliff temporär zum Bösewicht, insgesamt aber zum Symbol des gefallenen Engels und des romantischen Rebellen werden lässt, jede gültige Antwort. In ihrem berühmten Essay zu Jane Eyre und Wuthering Heights bemerkt Vir‐ ginia Woolf, dass es in Emily Brontës Roman Wuthering Heights im Vergleich zu Charlotte Brontës Roman Jane Eyre kein Ich gebe: „(…) there is no ‚I‘ in Wuthering Heights.“ An gleicher Stelle fährt sie fort: There are no governesses. There are no employers. There is love, but it is not the love of men and women. Emily was inspired by some more general conception. The impulse which urged her to create was not her own suffering or her injuries. She looked out upon a world cleft into a gigantic disorder and felt within her the power to unite it in a book. 459 Virginia Woolf deutet in ihrem Essay Emily Brontës Roman als Metapher einer unüberschaubar gewordenen Moderne, deren Figuren sich in Orientierungslo‐ sigkeit und Wertezerfall verlieren. Hinter den Ich-Erzählern dieses Romans und ihren Antagonisten sieht sie ein empfindsam reflektierendes Bewusstsein über die prekäre Situation des Subjekts in der Moderne, für das es keine Versöhnung oder Erlösung, kein privates Glück und schon gar nicht subjektive Erfüllung geben kann. Wuthering Heights verdichtet negative Radikalität und evoziert eine verzwei‐ felte Sehnsucht nach Orientierung. Kulturdiagnostisch und zivilisationskritisch konfrontiert er verdinglichte Verhaltensweisen, die den schöpferischen Cha‐ rakter des modernen Menschen unterdrücken mit destruktiven Energien, die eben diese Entmenschlichung hervorrufen. Im Mittelpunkt dieses Romans steht die Problematik einer Auflösung der Subjektivität, der durch fürchterliche 3.3 Emily Brontës Roman Wuthering Heights 255 460 Erich von Kahler: Untergang und Übergang…, a. a. O., S. 27. 3.4 Publikationsgeschichte Zweifel an der Welt 460 jegliche Sinndeutung versagt bleibt. Damit rührt dieser Roman ans Trauma der Moderne, dass keine Erlösung mehr möglich sei. Eine für Rezipient / innen des dritten Lebensalters als Unbehaustheit erschließbare prägende Erfahrung der Moderne. Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod „Clarissa und Septimus - komplentär? Das muss ich erst noch verstehen.“ Kommentar eines Seminarteilnehmers. „Ich finde in Mrs Dalloway nirgends das Konzept der genialen Schriftstellerin, das Virginia Woolf am Beispiel Shakespeares und Emily Brontës in ihrem Essay A Room of One‘s Own so eindringlich entwirft.“ Denkanstoß einer Seminarteilnehmerin, nach der Besprechung von Woolfs Essay und zu Beginn der Diskussion des Romans. Virginia Woolf schreibt am 6. Oktober 1922 in ihrem unveröffentlichten Notiz‐ heft, dass sie an einem kurzen Buch mit den Arbeitstiteln At Home or The Party arbeite. Das Buch bestehe aus in sich geschlossenen sechs oder sieben Kapiteln. Das erste Kapitel trägt den Titel „Mrs Dalloway in Bond Street“ und wird in Dial 1923 separat veröffentlicht. Wenige Tage nach dem Eintrag nimmt die Idee zu einem Roman unter dem Arbeitstitel The Hours Gestalt an. Am 14. Oktober 1922 hält Virginia Woolf in ihrem Tagebuch fest, sie skizziere gerade eine Studie über Wahnsinn und Selbstmord und möchte die Weltsicht des Gesunden und Geis‐ teskranken parallel führen. Sie überlegt, ob Septimus Smith ein guter Name sei? Zwei Tage später schreibt sie in ihr Notizheft, dass Mrs Dalloway die Wahrheit sehe, Septimus aber die Wahrheit eines Wahnsinnigen. Beide Charaktere sollten dicht aufeinander bezogen bleiben. Am 19. Juni 1923 schreibt Woolf in ihr Ta‐ gebuch: „I want to give life & death, sanity & insanity; I want to criticise the social system, and to show it at work, at its most intense“ (D 2, S. 248). Während des Schreibprozesses erkennt Woolf, dass ihre erzählerische Methode ein „tun‐ neling process“ (D 2, S. 272) ist, wodurch sie „dig(s) out beautiful caves behind my charcters“, mit der Vorstellung, dass, „the caves shall connect, & each comes Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 256 461 Nach: Klaus Reichert: „Nachbemerkung“, in: Virginia Woolf: Mrs Dalloway. Herausge‐ geben und kommentiert von Klaus Reichert. Deutsch von Walter Boehlich. Frank‐ furt / M: Fischer 2013, S. 201-205, sowie: Jane Goldman: The Cambridge Introduction to Virginia Woolf. Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 54; die originalen Ta‐ gebucheintragungen aus D 2 beziehen sich auf: The Diary of Virginia Woolf (1915-1941) 5 vols, ed. Anne Olivier Bell and Andrew McNeillie (London: Hoghart, 1977-84), zitiert bei Jane Goldman…, a, a., O. 462 Zitiert wird aus: Virginia Woolf: Mrs Dalloway. With an Introduction and Notes by Elaine Showalter. Text edited by Stella McNichol. London: Penguin 2000. Inhaltsübersicht to daylight at the present moment“ (D 2, S. 263). Die Arbeit an Woolfs Roman geht mühsam voran. Weitere Charaktere müssen hinzu erfunden werden. Am 17. Oktober 1924 hält Virginia Woolf in ihrem Tagebuch erleichtert fest, sie habe ihren Roman Mrs Dalloway abgeschlossen. Am 14. Mai 1925 erscheint Mrs Dal‐ loway in der Hogarth Press, dem eigenen Verlag des Ehepaars Woolf. Am selben Tage erscheint die amerikanische Ausgabe bei Harcourt, Brace & Co. in New York. Sie muss bereits im Mai und dann im August nachgedruckt werden. Die zweite englische Auflage folgt im September 1925. 461 Woolfs Roman Mrs Dalloway 462 entfaltet das erzählerische Spektrum eines mo‐ dernen experimentellen Romans. Das auf einen Tag, den 23. Juni 1923 begrenzte Geschehen tritt in diesem Roman hinter die Gedanken und Gefühle der Figuren zurück. Die äußere Handlung wird durch die Reflexionen und Erinnerungen der Figuren und durch die Erzählstimme, die sich punktuell immer wieder auf die zurückliegende Katastrophe des Ersten Weltkrieges und seine gegenwärtigen Folgen beziehen, perspektivisch gebrochen. Im Zentrum des Romans stehen die Vorbereitungen der im Titel genannten Hauptfigur für die am Abend stattfin‐ dende Abendgesellschaft sowie Clarissa Dalloways Beziehungen zu ihrem Ehe‐ mann Richard, ihrem aus Indien zurückgekehrten Jugendfreund Peter Walsh und die Beziehung zu ihrer Jugendfreundin Sally Seton. Gleichsam in einer Pa‐ rallelführung bewegt sich der nervenkranke Kriegsveteran Septimus Warren Smith, der sich am Romanende einer Einweisung in eine Nervenheilanstalt durch seinen Selbstmord entzieht. Clarissa Dalloway und Septimus treffen in diesem Roman nicht zusammen. Auf ihrer Abendgesellschaft erfährt Clarissa von Septimus‘ Suizid. Die Erzählstruktur entsteht durch die Glockenschläge des Big Ben, die Begrenztheit des Ortes London, durch perspektivische Brechungen, die einen Kosmos multipler, überpersönlich wirkender Bereiche entstehen lassen. Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway erforscht das Verhältnis zwischen der Vieldeutigkeit moderner Subjektivität und der „Undurchsichtigkeit ihres Welt‐ 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 257 463 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428. 464 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne…, a. a. O., S. 34; Matias Martinez / Mi‐ chael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie…, a. a. O., S. 81. 465 Harold Bloom: „Introduction“, in Harold Bloom (ed.) Modern Critical Interpretations: Virginia Woolf ’s ‘Mrs Dalloway’. New York: Chelsea House 1988, S. 1-4, hier: S. 2. 466 John Fletcher and Malcolm Bradbury: „The Introverted Novel…, a. a. O., S. 407. Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod bezuges“ 463 und spricht in dieser Ambivalenz transitorische Identitätserfah‐ rungen der Rezipient / innen des dritten Lebensalters an. Narrativ entsteht ein durch Kontrastkopplungen strukturierter perspektivisch multipler Kosmos, der im Spiel von Sein und Schein, Anschauung und Reflexion eine Metaphysik des Schwebens in extradiegetischheterodiegetischer Erzählweise 464 entwirft. Diese experimentiert mit einer Balance, die Virginia Woolf in ihrem Tagebucheintrag als Erforschung von „life & death, sanity & insanity“ (D 2, S. 248) bezeichnete. Harold Bloom hat diese Balance die „peculiar virtue“ des Romans genannt: Cla‐ rissa und Septimus „share what might seem a single consciousness, intense and vulnerable, each fearing to be consumed by a fire perpetually about to break forth”. 465 Clarissa Dalloway nimmt die Position einer Protagonistin in diesem Roman ein. Indem der Roman aber zwischen den Innensichten seiner Figuren an einem Mittwoch im Juni 1923 in London (S. 122) hin und hergleitet, entstehen Parall- und Komplementärerfahrungen, die die beiden Erzählfiguren Clarissa Dalloway und Septimus Warren Smith, die nie aufeinander treffen, in narrativer Kon‐ trastkopplung verknüpfen. Clarissa liebt das Leben, Septimus leidet an einer Kriegsneurose („shell-shock“), die seinen Geist verdüstert und ihn durch die Behandlung der Ärzte Dr. Holmes und Sir William Bradshaw in den Suizid treibt, von dem Clarissa am Romanende durch Gäste ihrer Abendgesellschaft erfährt. Weiblichkeit und Männlichkeit, Vernunft und Wahnsinn, Leben und Tod werden zu Leitmotiven dieses Romans, die durch Verknüpfungen sich wechselseitig aufhebender Negationen, eine „luminous whole“ 466 erzeugen. In der Gestaltung des großen Spannungsbogens dieses Romans, der Andro‐ gynität als Möglichkeit transitorischer Identität und als ganzheitliche Vision aufleuchten lässt, werden Zweifel, Unsicherheiten und Negationen gegenei‐ nander positioniert. Es entfaltet sich die traumanaloge Blickpunktverschiebung und -verdichtung zum als ob von Primärprozessen, in denen Negationen in Träumen nicht oder nur verdeckt auftauchen, hier aber durch die „authorial Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 258 467 Randall Stevenson: Modernist Fiction…, a. a. O., S. 57. 468 Vera und Ansgar Nünning: Virginia Woolf zur Einführung…, a. a. O., S. 95. 469 Virginia Woolf: Moments of Being, ed. Jeanne Shulkind. San Diego: Harcourt Brace 1985, S. 72, zitiert in: Jane Goldman: „From Mrs Dalloway to The Waves: New elegy and lyric experimentalism”, in: Susan Sellers (ed.): The Cambridge Companion To Virginia Woolf. Second Edition. Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 49-69, hier: S. 57. organization and presentation of thoughts“ 467 ästhetisch als Aussöhnung von Gegensätzen, 468 die als Gegensätze zugleich sichtbar bleiben, gestaltet werden. Will man verstehen, wie diese Aussöhnung die Ambivalenz der Moderne als Metaphysik des Schwebens in Woolfs Roman Mrs Dalloway erzeugt wird, dann kann man sich auf Woolfs Tagebucheintrag stützen, in dem sie die Methode beschreibt, mit der sie Mrs Dalloway verfassen möchte. Wie oben erwähnt, spricht Woolf von einem „tunneling process“ (D 2, S. 272), wodurch sie „dig(s) out beautiful caves behind my charcters“, mit der Vorstellung, dass, „the caves shall connect, & each comes to daylight at the present moment“ (D 2, S. 263). Damit spricht sie die Struktur ihrer Vision an, das das Leben ganzheitliche Er‐ fahrungen enthält, weil „(…) behind the cotton wool is a hidden pattern; that we - I mean all human beings - are connected with this; that the whole world is a work of art; that we are parts of the work of art (…) we are the words; we are the music; we are the thing itself.“ 469 Diese ganzheitliche Vision, die Kunst und Leben, Männlichkeit und Weib‐ lichkeit, Vernunft und Wahnsinn in gleitenden Innenperspektiven verdichtet, wird durch Kontrastkopplungen zwischen subjektiven Erfahrungen, persönli‐ chen Begegnungen und materieller Außenwelt, Vergangenheit und Gegenwart der Figuren zur Ausdrucksgestalt des Romans Mrs Dalloway. Auf der Suche nach Identität und Ganzheitlichkeit, wirkt das Leben der Fi‐ guren des Romans zerissen zwischen diesen Polen und nur die Vergangenheit, ihre Wendung nach Innen, deckt auf, wer sie hätten werden können und zu wem sie in der Gegenwart in einer irritierenden Außenwelt geworden sind. Der Riss zwischen Innen- und Außenwelt bestimmt die gegenseitige Fremdheit der Fi‐ guren. Er wird zur Bedingung ihrer transitorischen Identitätserfahrungen: Er‐ fahrungen des Selbstentzuges werden im Lichte eigener Vergangenheitserfah‐ rungen zu Fremdheitserfahrungen, die sich als Selbstfremdheit in signifikant Anderen und in der den Figuren gegenwärtigen Außenwelt spiegeln. Sie be‐ gegnen sich als Fremde und werden im narrativen Gewebe gleitender Perspek‐ tiven für die Leser / innen zu nahen oder distanzierten Komplementärfiguren oder Antagonisten. 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 259 470 Peter Childs: Modernism…, a. a. O., S. 167, S. 172. Die chiastische Konstellation der Charaktere Es enstehen Zwischenräume, in denen sich die hermeneutischen Reflexion‐ spotenziale der Rezipient / innen des dritten Lebensalters entfalten. Sie er‐ schließen die Verknüpfungen der Differenzen zwischen den Figuren als auto‐ referenzielle Bezüge. Die Rückzündung eines Autoauspuffs, die Himmelsschrift eines Flugzeuges, der Gesang einer Blumenhändlerin, die Studenschläge des Big Ben, die als laute, oder geheimnisvolle, oder mythopoetische Unterbrechungen und Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Innenperspektiven der Fi‐ guren metafiktional eingesetzt sind, die Wellenmetaphorik entfalten eine tran‐ sitorische Wirkung, die Rezipient / innen des dritten Lebensalters emotional und kognitiv affizieren und sie zu Dispositionsfragen anregen. Durch Parallelführungen und Kontrastkopplungen der Erzählfiguren Clarissa Dalloway, Peter Walsh, Septimus Warren und der Ärzte Dr. Holmes und Sir William Bradshaw entsteht eine komplexe chiastische Konstellation, die, vier‐ polig komplementär, weitere Figurenkonstellationen in sich aufnimmt und von einer Erzählstimme gelenkt wird. Diese vierpolige Konstellation führt die Am‐ bivalenzstruktur des Romans herbei. Im Zentrum der chiastischen Denkfigur befindet sich Woolfs Konzept des transitorischen Subjekts, das sie satirisch und kritisch gegen ein fixiertes Selbst abhebt, das von den Ärzten Holmes und Bradshaw als Repräsentanten des War Office Commitee von 1922 erwartet und gefordert wird. Es findet in den aufdringlichen, lauten Glockenschlägen des Big Ben sein Echo: „What is most at stake (…) is the notion of ‘self ’, which Woolf sees as many-sided and fragmentary but which the Harley Street doctors in the novel, Holmes and Bradshaw, and the War Office Committee see as essentially whole and unified.” 470 Clarissa Dalloway, Peter Walsh, Septimus Warren und die mit ihnen kom‐ plementär oder antithetisch verknüpften Erzählfiguren sind drei Pole der chi‐ astischen Konstellation. Sie sind problematische, androgyne Figuren mit der Fähigkeit zur Selbstranszendierung, die zu individuell unterschiedlichen Visi‐ onen führt. Clarissa, zwischen Stolz und Selbstzweifeln pendelnd, transzendiert ihre Zerrissenheit durch ihre Fähigkeit zu ganzheitlichen Visionen und Erfah‐ rungen, die immer, in ihrer sensiblen Empfänglichkeit für Erscheinungen der Außenwelt, auf signifikante Andere bezogen sind. Es handelt sich um eine au‐ genblicksgebundene ganzheitliche Naturverbundenheit („she being part, she was positive, of the trees“, S. 9), einen abgründigen Hass (sie ist ganz Hass auf Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 260 471 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”, in: Horst Oppel: Der Moderne Engli‐ sche Roman. Interpretaionen. Berlin: Erich Schmidt 1971, S. 160-200, hier: S. 190-192. Mrs Kilman), eine mythopoetische Verwurzelung und ekstatische Liebeserfah‐ rungen mit Frauen: Sally’s power was amazing, her gift, her personality. There was a way with flowers, for instance (…). The effect was extraordinary (…).The strange thing, on looking back, was the purity, the integrity, of her feeling for Sally. (S. 36-37) Septimus Warren, der zweite Pol der chiastischen Konstellation, auf den Clarissa nie persönlich trifft, der aber narrativ mit ihr durch das Motiv der alten Frau, die eine Treppe hinaufsteigt und eines alten Mannes, der eine Treppe hinabgeht, durch den Bezug auf Shakespeares Verse und die weiteren oben genannten me‐ tafiktionalen Motive verbunden ist, ist zerissen zwischen seiner leidenschaftli‐ chen Liebe zur Literatur, seiner aufgezwungenen Tapferkeit als Soldat und seiner Fühllosigkeit durch den Tod seines Freundes Evans im Ersten Weltkrieg. Septimus transzendiert seine Zerrissenheit in Visionen des Wahsinns, die ihn teils unfähig werden lassen, ganzheitliche Visionen herzustellen, teils zu ganz‐ heitlichen Visionen befähigen: Einerseits nimmt er Details scharfsichtig wahr, transzendiert ihre empirischen Gegebenheiten, kann sie aber nicht zu einem visionärem Ganzen verbinden. Andererseits entwirft er eine ganzheitliche Lie‐ besvision. Peter Walsh, der dritte Pol der chiastischen Konstellation, ist zerrissen zwischen seiner romantischen und rebellischen Lebenseinstellung und seinen Aufgaben als Kolonialbeamter in Indien. Peter transzendiert seine Zerissenheit in der Vision verjüngten Lebens; er will nicht altern. Peter und Clarissa ergänzen sich in ihrer Fähigkeit gedanklich ineinander aufzugehen („lived in each other“, S. 9). Peter und Septimus ergänzen sich in ihrer Zerissenheit zwischen Welt‐ empfänglicheit und scharfsichtiger Beobachtung gesellschaftlicher Machtver‐ hältnisse. Septimus ergänzt Peter in der Tapferkeit verzweifelten Wahnsinns. Clarissa und Septimus ergänzen sich antithetisch. Clarissa Dalloway, Peter Walsh und Septimus Warren haben weibliche und männliche Anteile und können als androgyne Erzählfiguren verstanden werden, die zwischen ihren künstlerischen und konventionellen Lebenshaltungen hin und her pendeln. In ihrer dreipoligen chiastischen Konstellation, die durch eine den Roman durchziehende Wellenmetaphorik verdichtet wird (in Bezug auf Clarissa, S. 3, S. 7, S. 9, S. 190-191; Peter, S. 179; Lucrezia, S. 71; Septimus, S. 162; Big Ben, S. 128), 471 bilden sie das von Virginia Woolf erdachte „hidden pattern“ hinter und in Spannung zu den empirischen Erscheinungen. Demgegenüber re‐ präsentieren die beiden Ärzte Dr. Holmes und Bradshaw, als vierter Pol der chi‐ 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 261 472 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 13; Erich Auerbach: Mimesis…, a. a. O. S. 498. astischen Konstellation, männlichen Egoismus, der aufgrund der Vorstellung einer fixierten Identität zum Repräsentanten eines reifizierenden oppressiven Patriarchats wird. Abbildung 3 Die vier Pole der chiastischen Konstellation bedingen die Multiperspektivität des Romans. Sie bringen multiple Wirklichkeiten zum Ausdruck, in denen im „Hin und Her zwischen Welt und Ich“ 472 die Erzählfiguren ungesichert sind und keine verlässliche Orientierung finden. Im Mittelpunkt dieser taumelnden Welt Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 262 entfaltet sich das Paradox transitorischer Identität, das durch Erinnerungen und Visionen Clarissas, Peters, Septimus‘ und der Blumenhändlerin mythopoetisch grundiert wird. In der ambivalenten Struktur zwischen transitorischen Identi‐ tätserfahrungen und Mythopoesis zeigen sich die Figuren unfähig ihre Um‐ stände zu ändern („so she (Clarissa) rocked: so she shivered“, S. 32 / „But Aunt Helena never liked discussions of anything“, S. 36). Sie finden im Selbstentzug differenzierte Möglichkeiten der Selbsttranszendierung und lassen die Leser / innen die Haltlosigkeit des modernen Ich erschließen, das im „hidden pattern“ mythopoetischer Visionen Erlösung erhofft. Diese Ambivalenzspan‐ nung dynamisiert die vier Pole der chiastischen Konstellation. Abbildung 4 E = Erzählerin, F = Figur, S = Stimme. Extradiegetisch - heterodiegetische Erzählweise. Die Erzählerin stellt durch Orts- und Zeitangaben eine Rah‐ mensituation her, in der sie selbst nicht vorkommt. Sie distanziert sich durch 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 263 S von der Wahrnehmungswelt der Figuren und macht das Verhältnis von Erzählerin und Erzähltem sichtbar (Anregung von: Silvio Vietta: Der europä‐ ische Roman der Moderne. München: Fink 2007, S. 35) Mrs Dalloway beginnt medias in res mit Clarissas Vorbereitungen für ihre Abendgesellschaft, an einem Mittwoch, einem sonnigen Junitag (S. 122), nach Ende des Ersten Weltkrieges (S. 4). Clarissa ist lebensfroh und freut sich auf das von ihr organisierte Ereignis: Mrs Dalloway said she would buy the flowers herself (…).What a lark! What a plunge! For so it had always seemed to her when, with a little squeak of the hinges, which she could hear now, she had burst open the French windows and plunged at Bourton into the open air. (S. 3) Gleich zu Beginn wird Clarissa als gut gekleidete, „charming woman“ (S. 4) vor‐ gestellt - „plunge“ gibt einen epischen Vorverweis auf die Wellenmetaphorik des Romans -, die das Leben und Menschen ihrer näheren Umgebung, aber auch Unbekannte im großstädtischen Bereich liebt (S. 6, S. 7). Diese Menschenliebe zieht sie von einer Straße im Zentrum Londons und von einem Geschäft zum anderen, bis zu dem Blumenladen, in dem sie Blumen für den Abend kauft. Ihr zielgerichtetes Umherwandern wird von mäandernden Assoziationen und Er‐ innerungen begleitet, die von Außenweltereignissen und Begegnungen mit an‐ deren angestoßen werden. In St James Park trifft sie einen alten Freund, Hugh Whitbread, der bei ihr Erinnerungen an Peter Walsh anstößt. Peter Walsh war als junger Mann in die achtzehnjährige Clarissa verliebt. Sie wies ihn als mög‐ lichen Ehepartner ab. Die Erinnerung an Peter Walsh lässt Clarissa in der Er‐ zählgegenwart immer noch mit sich selbst in Streit geraten (S. 8) und bereitet die Stelle vor, in der Clarissas Entscheidung zwischen Sally, Peter und Richard Dalloway - es ist eine Entscheidung zwischen Liebe und der Sicherheit kon‐ ventionellen Partnerschaft, die ihr kleine Freiräume verschafft (S. 8) - vorge‐ stellt wird. Metafiktional eingeflochten werden auf Clarissas Weg Unterbre‐ chungen durch das laute und aufdringliche Schlagwerk des Big Ben, die Rückzündung eines Auspuffs, die Himmelsschrift eines immer wieder auftauch‐ enden und verschwindenen Flugzeuges, durch markante Hinweise auf die Folgen des Ersten Weltkrieges. Diese in der Außenwelt stattfindenden Ereig‐ nisse unterbrechen den Gedankenfluss Clarissas, der durch die Wellenmeta‐ phorik hervorgehoben wird. Sie geben ihren Gesprächen in den Geschäften neue Wendungen. Die vier Pole der chiastischen Konstellation werden bereits zu Beginn des Romans in Bewegung gesetzt durch die Auffächerung der komplexen Innen‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 264 473 Renate Wiggershaus: Virginia Woolf…, a. a. O., S. 73. 474 Randi Saloman: Virginia Woolf ’s Essays…, a. a. O., S. 26. 475 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”a. a. O., S. 186; Vera Nünning: „Mrs Dalloway“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg): Kindlers Literaturlexikon. 3. Auflage, Band 17. Stuttgart / Weimar: Metzler 2009, S. 556-567, hier: S. 560. 476 Klaus Reichert: „Anmerkungen“, in: Virginia Woolf: Mrs Dalloway. Herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert…, a. a. O., S. 193-199, hier: S. 193. 477 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 70. perspektive Clarissas, in der sich ihre aus ihrer Vergangenheit und Gegenwart überblendenden Sichtweisen in differenten Deutungen des Verhaltens ihrer Mitmenschen und ihres früheren Liebhabers überschneiden. Das Auffächern und Ineinanderblenden von Innensichten, die durch eine Erzählstimme, teils unauffällig, teils hervorgehoben begleitet wird, gleicht Kameraschwenks, die in Nah- und Großaufnahmen und durch Schnittechniken, 473 die Weltsichten der Figuren vorstellen und differenzieren. Für Leser / innen des Romans entsteht ein hermeneutischer Reflexionsraum zwischen den Innensichten der Figuren und der sie begleitenden Erzählstimme, der den Unterschied zu Woolfs Essays markiert. 474 Wie oben dargelegt, geben die Essays den frei assoziierend, zufallsgesteuerten Aufmerksamkeitskonflikten des wahrnehmenden und schreibenden ‚Ich‘ Raum. Woolfs Roman Mrs Dal‐ loway verknüpft in den Zwölfuhr Glockenschlägen des Big Ben, die in die Mitte des Romans gesetzt sind und eine „Mittelachse“ 475 (S. 103) bilden, die Pole seiner chiastischen Konstellation. Diese poetische Organisation lässt bis zu der Mit‐ telachse hin und von ihr weg Clarissa Dalloways und Septimus Warren Smiths Erinnerungen an Shakespeares Trauerwechselgesang „Fear no more the heat o‘ th‘ sun / Nor the furious winter’s rages“ aus Cymbeline, 476 zu leitmotivischen Spiegelbildern werden. Im akkustischen Raum des Dingsymbols Big Ben, das Macht und eine zum menschlichen Tode hin vergehende Zeit symbolisiert, wird in kontrastierenden Perspektiven auf das Leben (Clarissa: S. 31, S. 43, Septimus: S. 69, S. 95) die Frage nach dem Tod mitten im Leben, so Clarissa (S. 201), durch den Chiasmus Clarissa / Septimus evoziert. Diese poetische Organisation er‐ möglicht es, intensiver als Woolfs Essays, die unausweichliche Haltlosigkeit der Figuren und ihre Mortalität in einer unüberschaubaren modernen Welt hervor‐ zuheben, in gelenkten Kontingenzen als Ambivalenzstruktur einer modernen Umbruchszeit zu verdichten und zum Deutungsangebot für Leser / innen werden zu lassen. Virginia Woolf spricht in ihrem vier Jahre nach Mrs Dalloway publizierten Essay A Room of One’s Own von Romanen als „a structure leaving a shape on the mind’s eye (…) a whole (…) a creation owing a certain looking-glass likeness to life”. 477 Diese Struktur, so Woolf weiter, wecke angemessene, sich widerstrei‐ 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 265 478 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 70. 479 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 70-71. tende und gegensätzliche Empfindungen („appropriate“ emotions 478 ) bei ihren Rezipient / innen, weil die komplexe narrative Gestalt durch Distanz ästhetische Erfahrungen ermögliche, die das Leben in Konflikt geraten lässt, mit dem, was nicht Leben ist: „Life conflicts with something that is not life (…). The whole structure (of a novel) is one of infinite complexity, because it is thus made up of so many different judgments, of so many different kinds of emotion.“ 479 Die verdichtete Gestalt einer looking-glass likeness to life kann als Struktur des Romans Mrs Dalloway angesehen werden. Sie spricht in ihren prismatischen Brechungen moderner Entfremdungserfahrungen ein Sinnvakkum der Mo‐ derne an, das Leser / innen wiedererkennen. Beispielhaft seien einige dieser prismatischen Brechungen, die der Roman gestaltet, genannt: Clarissa emp‐ findet nach ihrer Rückkehr aus London die Diehle ihres Hauses als „cool as a vault“ (S. 31), Septimus empfindet „Human nature is remorseless“, und wie Luc‐ rezia, „remorseless“ in einer „indifferent world“ (S. 107, S. 72). Hier liegt eine Parallele zwischen Lucrezia und Clarissa. Er erinnert den Trauerwechselgesang in Todesangst vor seinem Suizid (S. 153). Beide Figuren sind durch ihre unter‐ schiedliche Wahrnehmung der Rückzündung des Autoauspuffs sowie durch weitere Figuren leitmotivisch verknüpft. Wenn Clarissa den Knall vernimmt, denkt sie - in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg - unmittelbar an den Schuss eines Gewehres, Septimus, dessen Freund Evans durch einen Gewehrschuss starb, an das Zerbrechen einer Peitsche, die irgendwo auf die Welt niedergehen wird (S. 15). Während die übrigen Erzählfiguren, die das Geräusch hören, auf‐ schrecken, ist Septimus zutiefst verängstigt. Clarissa, beobachtet nachmittags eine alte Dame im gegenüberliegenden Haus, wie sie eine Treppe hinauf steigt und abends, gegen Ende der Abendgesellschaft, nachdem sie von Septimus‘ Su‐ izid zufällig erfahren hat, beobachtet sie sie, über die Endlichkeit des Lebens reflektierend, am Fenster (S. 138, S. 203). Septimus sieht kurz vor seinem Sprung in den Tod im gegenüberliegenden Haus einen alten Mann die Treppe hinab gehen (S. 164). Peter Walsh schätzt die verzweilte Lucrezia und den von wahn‐ sinniger Angst gepackten Septimus in Regent’s Park irrtümlich als junges Lie‐ bespaar ein („both (…) look so desperate (…) on a fine summer morning“, S. 77). Beide Figuren, Clarissa und Septimus sind als Doppelgänger angelegt. Sie zei‐ chen sich aus durch ihr Außenseitertum, ihre auffällig klaren (Clarissa) und vom Wahnsinn (Septimus) geprägten, zugleich irritierend hellsichtigen Erinne‐ rungen und Visionen, sowie durch ihre Rückzugstendenzen in ihr Inneres, die Fragen nach dem Tod mitten im Leben, nach der Bedeutung ihrer Identität in Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 266 Transitorische Identitätserfahrungen in einer taumelnden Gesellschaft der Moderne und nach dem Lebenssinn in einer modernen Welt umtreiben. Sally Setons Gefühle, in einem gesellschaftlichen Gefängnis zu leben und „(d)espai‐ ring of human relationships“ (S. 211) in den Garten gehen zu müssen, teilen auch Clarissa, Septimus und Peter Walsh (S. 64 u. ö.). Peter Walsh sieht die Mensch‐ heitsgeschichte als schlechten Scherz (S. 85) und vermutet, dass „we are a doomed race, chained to a sinking ship“ und „(t)hose ruffians, the Gods (…) never lost a chance of hurting, thwarting and spoiling human lives.“ (S. 85) Die Pole der chiastischen Figurenkonstellation drehen sich um die oben be‐ nannte bedeutungsevozierende Mittelachse, die vor dem Hintergrund der eu‐ ropaweiten Zerstörungen des Ersten Weltkrieges die Fragen nach dem Tod mitten im Leben und dem Sinn moderner Identitätserfahrungen in den Refle‐ xionen, Erinnerungen und Visionen der Figuren leitmotisch gestaltet. Es ent‐ stehen oszillierende Bilder, die den öffentlichen Großstadtbereich London durch Erinnerungen und Visionen mit dem Freundschafts- und Liebesbereich des ländlichen, vermutlich zwischen England und Wales liegend Bourton ver‐ knüpfen. Diese beiden Bereiche werden ihrerseits verknüpft mit dem halb pri‐ vaten, halb öffentlichen Bereich der Abendgesellschaft Clarissas in West‐ minster / London. Diesen drei Erfahrungsbereichen sind die Zeitdimensionen gegenwärtigen Erlebens (London), vergangenheitsbezogener Erinnerungen und Visionen an Freundschaft und enttäuschte Liebe (Bourton), die Verknüpfung von Vernunft und Wahnsinn (in den Bereichen London und Westminster) und die Verknüfung von Gefühlsfähigkeit in zunehmenden Alter und menschlichen Erfahrungen bzw. Gefühlsunfähigkeit und zwischenmenschliche Kälte (Bourton, die Abendgesellschaft in Westminster, London) zugeordnet. Durch‐ drungen sind diese drei Erfahrungsbereiche durch die Verzweiflung über die Kälte menschlicher Beziehungen, die sich an Egoismus, Repression, Gier im privaten Bereich (Hugh Whitbread, Dr. Holmes, Sir William Bradshaw, Lady Bruton), an zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit und asymmetrischer Macht sowie an der Anonymität der Metropole London festmacht. Der Roman entwirft ein kulturpessimistisches Bild der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg. Diesem stehen die Bilder des ländlichen Bourton, etwa dreißig Jahre zuvor, gegenüber. In dieser untergegangenen Welt pflegten Clarissa, Peter Walsh, Sally Seton und Richard Dalloway jugendliche Freundschaften und machten um 1890, also vor dem Ersten Weltkrieg, enttäuschende Liebeserfah‐ rungen. Die Erinnerungen Clarissas, Peter Walshs, Sally Setons an diese Zeit und die mit ihnen einhergehenden Visionen lassen den Horizont des „hidden pattern“ des Romans visionär hervortreten. Der Roman Mrs Dalloway bringt sich 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 267 als Gedächtnismedium zur Geltung. Phänomene der Außenwelt spiegeln sich in Deutungsmustern der Innenwelten seiner Figuren. Die Verknüpfung der chias‐ tischen Figurenkonstellationen entsteht durch die Kontrastkopplung von Außen- und Innenwelt, Realitätserfahrungen, die zu visionären Erscheinungen werden, Vernunft, die in Wahnsinn umschlägt, nicht nur in der Figurenver‐ knüpfung von Clarissa Dalloway und Septimus Warren Smith, sondern auch bei Peter Walsh und, wie in den Schlusstableaus mehrfach hervorgehoben, bei Cla‐ rissas Abendgesellschaft, in der der Tod mitten in Clarissas Gesellschaft von Clarissa als anwesend empfunden wird (S. 211). Mithin verschränkt die chiastische Figurenkonstellation die Aufmerksam‐ keitskonflikte, die Clarissa, Sally, Peter Walsh und Septimus zwischen gegen‐ wärtigen Ereignissen und vergangenenen Erfahrungen hin und her pendeln lassen, so, dass persönliche Begegnungen und die Außenwelt zu Anlässen ihrer Erinnerungen und Reflexionen werden, die in erlebter Rede, innerem Monolog und Visionen Gestalt annehmen. In diese Verschränkung eingelassen sind die drei Topografien Bourton, London und London / Westminster. Der Beginn der leitmotivisch den Roman durchziehenden chiastischen Kons‐ tellation zwischen Clarissa, Peter und Sally wird in die Topgrafie Bourton und damit in die Jugendzeit der drei Figuren um 1890 verlegt, spiegelt sich später in den beiden Bereichen Londons in den polaren Spannungen der alternden, um ihre Herzerkrankung und Mortalität wissenden Clarissa sowie in den Span‐ nungen zwischen Realitätswahrnehmungen und Wahnvostellungen und der Entscheidung ihres Doppelgängers Septimus, sich das Leben zu nehmen. Zu Beginn des Romans gehen Clarissa Dalloway auf ihrem Weg zum Blu‐ menladen widersprüchliche Gedanken und Gefühlen durch den Kopf. Diese be‐ ziehen sich analog zu Peter Walshs später geäußertem Geschichtspessimismus, dass die Menschheitsgeschichte ein schlechter Scherz sei (S. 85), auf ihre exis‐ tenzielle Situation als modernes Subjekt: „Such fools we are (…). For Heaven only knows why one loves (life) so, how one sees it so, making it up, building it round one, tumbling it, creating it every moment afresh.“ (S. 4) Clarissa zeigt die Fähigkeit zu ganzheitlichen Erfahrungen, die sie schon - wie ihre Erinnerungen auf dem Weg durch London zeigen - als junge Frau in Bourton, nach ihrer offenbarenden Erfahrung mit Sally Seton hatte (S. 38) und für die sie von Peter Walsh, wohl aus Gründen seiner Eiferucht auf Sally, lä‐ cherlich gemacht wurde: „‘Star-gazing? ‘ said Peter. It was like running one’s face against a granite wall in the darkness! It was shocking; it was horrible! “ (S. 39). Dieser Enttäuschung und Verzweiflung setzt Clarissa eine Sinndimension ent‐ gegen, die sich ihr in ihrer Beziehung zu Frauen in hellsichtigen Augenblicken öffnet: Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 268 It was a sudden revelation, a tinge like a blush which one tried to check and then, as it spread, one yielded to its expansion, and rushed to the farthest verge and there quivered and felt the world come closer, swollen with some astonishing significance, some pressure of rapture, which split its thin skin and gushed and poured with an extraordinary alleviation over the cracks and sores! Then, for that moment, she had seen an illumination; a match burning in a crocus (…). (S. 34-35) Clarissas immanente Transzendenzerfahrung bereitet die Offenbarungserfah‐ rung in Bourton vor, die Clarissa durch Sallys Kuss als köstlichsten Augenblick ihres Lebens erfährt (S. 38). Sie fällt die Entscheidung gegen eine Ehe mit Peter Walsh. Sallys und Peters Vitaliät, Lebensenergie, Abenteuerlust und spiele‐ risch-revolutionäre Lebenseinstellung irritieren sie. Aus Vernunftgründen ent‐ scheidet sie sich für eine Ehe mit Richard Dalloway, bleibt insgeheim aber Sally Seton und Peter Walsh, später distanziert, verbunden. Clarissas Dilemma besteht darin, dass sie die Kongenialität zwischen ihr und Peter Walsh als bedrohlich empfindet und deshalb um ihre Freiheitsspielräume fürchtet, die ihr der liebe‐ volle, aber spröde Angehörige der englischen Mittelklasse Richard Dalloway einräumt. Und dennoch, so erinnert sich Clarissa, verdankt sie Peter Walsh eine Sensibilität, die sie ohne ihn (Clarissa stammt aus einer upper middle class fa‐ mily) nie hätte erfahren können (S. 39). Peter Walsh, der sich in Bourton mit Clarissa ohne Worte versteht - „(t)ey went in and out of each other’s minds without any effort“ (S. 69) - deutet dreißig Jahre später Clarissas Kälte als den Tod ihrer Seele (S. 65, S. 83), vor dem er sie und Sally Seton, die als Erwachsene, wie Clarissa, einen Mann aus dem Mittel‐ stand, einen Großindustriellen, heiratet und fünf Söhne großzieht, bewahren wollte. In Bourton beschwört Sally Peter Walsh „(…) half laughing of course, to carry off Clarissa, to save her from the Hughs and the Dalloways and all the other ‚perfect gentlemen‘(…).” (S. 83) Peters und Sallys Deutung der Gefahr, in der Clarissa sich befindet, wird durch Clarissas Blick in den Spiegel relativiert: In der Gegenwartshandlung kehrt sie nach Westminster in ihr Haus von ihrem Spaziergang durch London zurück. In ihrem Dachzimmer schaut sie in den Spiegel und sieht sich als alternde, von Krankheit gezeichnete Frau im 52. Lebensjahr, die versuchte immer die Gleiche zu sein und die unvereinbaren Seiten ihrer Persönlichkeit nach außen hin zu verbergen. Deutlich wird Clarissas innere Polarität zwischen aufrechter nach außen kalt erscheineder Distanz und ihrem innerem Reichtum, zu dem die As‐ pekte Imaginationsfähigkeit, Kreativität, Menschenliebe und Empathie für Ein‐ same (S. 40) gehören. Peter Walsh stößt sich an Clarissas Kälte und kritisiert sie deswegen. Dabei versteht er nicht, dass Clarissa durch eine Lebensgemeinschaft 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 269 480 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”…, a. a. O., S. 174, S. 172. 481 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 35. 482 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”…, a. a. O., S. 184. mit ihm die Balance ihrer transitorischen Identitätserfahrungen verlieren würde. Die Pole dieser Balance bestehen aus ihrem Widerstand gegen beängstigende und demütigende Vereinnahmungen, die sie durch Peter Walsh und durch die intime und fanatische Freundin ihrer siebzehn jährigen Tochter Elizabeth, Doris Kilman, erfährt und erfahren würde. Gegen diese für sie gefährlichen und ihren abgrundtiefen Haß auf Doris Kilman hervorrufende Erfahrungen, richtet sie ihre Selbstbehauptung, die gesellschaftlich und materiell abgesichert ist. Clarissas Selbstbehauptung ist von einem Skeptizismus durchsetzt, der, wie bei Peter Walsh, von der Einsicht, dass das Leben ein übler Scherz der Götter sei, reicht, bis zu einer epikureischen Heiterkeit, die die die Möglichkeit in Erwägung zieht, „(…), daß der Einzelne über die Grenze des Todes hinaus fortdauert (…), daß ihr eigenes unsichtbares Sein in den Dingen und Menschen, den fremden wie den bekannten, nach ihrem Lebensende weiterleben werde.“ 480 Erzgräber bezieht sich in dieser Deutung auf Clarissa Dalloways im Roman dargelegte „transcendental theory“ (S. 167), die ihr Entsetzen vor dem Tode in die agnostizistische Hoffnung verwandelt, nach dem Tode unsichtbar, ver‐ bunden mit anderen Menschen weiterleben zu können (S. 167). Der Roman Mrs Dalloway dringt in die von Erich von Kahler diagnostizierte dritte Etappe moderner Erzählkunst, in Tiefenbereiche des Ich vor, die die Schichten des Un‐ bewussten durchmessen. Wie oben dargelegt, verwandeln sie als „jenseitige Tiefen des Ich (…) den Niederstieg in den Tod“ in eine „Erleuchtung des Todes bis zu jenem mystischen Punkt, wo der Tod zur Lebensverwandlung und zum Schoße der Schöpfung wird“. 481 Hervorgehoben wird diese epiphanische Selbstreferenz der Romans auf der Kontrastfolie Peter Walsh. Peter Walsh, den Erzgräber in der Tradition aufge‐ klärten romantischen Denkens verortet, 482 bleibt trotz seiner androgynen Emp‐ findungsfähigkeiten, der Welt, den Menschen und Dingen zugewandt, ein scharfsinniger Beobachter, also eine geschichtlich herausgehobene Individua‐ lität angesichts des Horizontes innerweltlicher Transzendenz. Er empfindet sich jünger als er ist - er läuft in London hinter einer schönen, jungen Frau her -, spiegelt sich im Fenster eines Autohauses, spielt zum Erschrecken Clarissas aus Unsicherheit und Arroganz mit seinem Taschenmesser, will eine verheiratete Frau, Daisy, mit zwei Kindern heiraten, war in Indien für fünf Jahre als Koloni‐ albeamter und sucht nun Clarissa auf, um ihr seine noch immer andauernde Liebe zu erklären und durch ihre Beziehungen in London eine neue Verdienst‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 270 483 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. 484 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 281. möglichkeit in der Metrropole oder in Großbritannien zu finden. In den Augen Clarissas erscheint er in der Gegenwartsdimension des Romans als eifersüch‐ tiger Jugendfreund, der in seinem Leben, wegen seiner Sensibilität und anders als Richard Dalloway, Fehlentscheidungen getroffen hat. In den Perspektiven anderer Erzählfiguren erscheint Peter als freundlicher älterer Herr, in seiner Selbstreflexion für die Leser / innen als eine Erzählfigur, die sich selbst täuscht und Irrtümern aufliegt (S. 85 ̶ 87), in der Perspektive der Erzählstimme in ironi‐ schem Licht, sinnsuchend und egoistisch (S. 86-87, S. 175-180): „He was the best judge of cooking in India. He was a man. But not the sort of man one had to respect - which was a mercy; not like Major Simmins (…).“ (S. 171) Rezipient / innen des dritten Lebensalters erschließen, dass Peter Walsh, Sally Seton und Clarissa Dalloway, im Gegensatz zu Hughs Whitbread, Dr. Holmes, Sir William Bradshaw, Lady Bruton und Doris Kilman, Facetten transitorischer Identität verkörpern. Ihre Lebensentscheidungen werden in Woolfs Roman als Paradoxon des Selbstentzuges gestaltet. Dieses Paradoxon lässt sie in ihren Er‐ innerungen und ihren Gegenwartserfahrungen als weltoffene Persönlichkeiten erscheinen, die in chiastischer Konstellation den totalitär auftretenden, fixierten Identitäten eines Dr. Holmes, eines Sir William Bradshaw, eines Hugh, einer Doris Kilman und einer Lady Bruton entgegentreten. Der Roman, der im Titel den Namen Clarissas, Mrs Dalloway, trägt, fragt mit Peter Walsh, ob Clarissas Seele, ihre Weltempfindsamkeit, durch ihre Entschei‐ dung, Richard Dalloway zu heiraten, innerlich gestorben sei? Der Roman ge‐ staltet Clarissa als komplexe Erzählfigur, die sich der Gefahr totalitär struktu‐ rierter Zwangs- und Gewaltverhältnisse, 483 die sie krank machen und die Peter Walsh zwingen, Kolonialbeamter in Indien zu werden, reflektiert zu entziehen sucht und einen Kompromiss findet in einer resigniert heiteren, lebenszuge‐ wandten Lebenshaltung, die sie zur Flaneurin und Gastgeberin werden läßt. So ist Clarissas Seele nicht, wie Peter Walsh meint, tot, steht aber in der Gefahr ihre Balance zu verlieren. Daraus entsteht ihre Hellsichtigkeit, deren konstitutives Element, wie bei ihrem kongenialen Jugendfreund Peter Walsh und bei Clarissas Doppelgänger Septimus Warren, ein „unhintergehbare(r) Selbstentzug“, mit der Fähigkeit zur Selbstranzendierung ist. 484 Die Reflexionen Clarissas über den Tod Septimus Warrens zeigen die Unter‐ schiede, aber auch Parallelen dieser beiden chiastisch angelegten Figuren auf. Nachdem sie von Septimus‘ Suizid erfahren hat, empfindet Clarissa: „She felt 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 271 485 Makiko Minow-Pinkney: „’Mrs Dalloway’”, in: Su Reid (ed.): Mrs Dalloway and To the Lighthouse. London: Macmillan 2003, S. 98-111, hier: S. 107-109. 486 Jeremy Tambling: „Repression in Mrs Dalloway’s London”, in: Su Reid (ed.): Mrs Dal‐ loway and To the Lighthouse. London: Macmillan 2003, S. 57-70. somehow very like him - the young man who had killed himself. She felt glad that he had done it; thrown it away while they went on living.“ (S. 204) Clarissa erfährt den Tod Septimus Warrens im Bewusstsein eigener Lebens- und Transzendenzdierungsmöglichkeiten, die zur erkenntnissanregenden Wahrheit der narrativen Fiktion Mrs Dalloway werden. Diese geht im Antago‐ nismus von Kriegserfahrungen und einem prekären sozialen Frieden der Nach‐ kriegszeit, von der Dialektik zwischen Leben und Tod aus, einer Dialektik, die für den Einzelnen unauslotbar bleibt und - in Woolfs Konzeption modernisti‐ scher Romane - in ein visionäres Ganzes eingelassen ist. In diesem Ganzen, in dem der Einzelne sein Glück und Scheitern als ganze Person verantwortet und in der Fähigkeit zur Selbstranszendierung erfahren kann, wird das Paradoxon einer Nichterfahrbarkeit des Todes, des Suizids Septimus Warrens, von dem Clarissa hört, in der erzählten Welt zu einer Realität, die, in Clarissas Deutung, Septimus‘ Integrität kompromisslos bewahrt: A thing there was that mattered; a thing, wreathed about with chatter, defaced, ob‐ scured in her own life, let drop every day in corruption, lies, chatter. This he had preserved. Death was defiance. Death was an attempt to communicate, people feeling the impossibility of reaching the centre which, mystically evaded them; closeness drew apart; rapture faded; one was alone. There was embrace in death. (S. 202) Clarissa deutet Septimus’ Suizid als menschliche Möglichkeit, eine Ganzheit‐ lichkeit zu erreichen, die im Horizont menschlicher Mortalität liegt, empirisch aber nie erreicht werden kann. Septimus hat in Clarissas Augen Tiefen mensch‐ licher Kommunikation und Verbundenheit erreicht, denen man sich in den Ent‐ fremdungserfahrungen der Lebenswelt nur durch Kompromisse annähern kann. Diese Annäherung bringt Clarissas mit Selbstzweifeln durchdrungene Lebens‐ freude (S. 4) zum Ausdruck. Hier findet sich das Zentrum des Romans Mrs Dal‐ loway: Es ist der Zwiespalt Clarissas zwischen existenzieller Angst und sozialer Verbindlichkeit, der nicht nur als transitorische Identitätserfahrung moderner Frauen in einer männlich strukturierten Gesellschaft erzählerisch gestaltet wird. Moderne Frauen überleben in der symbolischen Ordnung nur dann, wenn sie zwischen Differenz und Anpassung oszillieren, 485 diese Zwischenposition re‐ flektieren und in Bezug auf signifikante Andere kreativ vermitteln. Clarissas Zwiespalt bestimmt in seiner narrativen Ordnung, zwischen Fragmentierung und Verdichtung, 486 auch die ambivalente Form dieses Romans. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 272 487 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”…, a. a. O., S. 178. Clarissas und Septimus‘ unterschiedliches Verständnis der Rückzündung des Auspuffs, zu Beginn des Romans, konturiert zwei komplementär ausdifferen‐ zierte Innenwelten gegeneinander, die im Verlauf des Romans entfaltet werden. Beide, Clarissa und Septimus, sind in ihrer Existenz verunsicherte, irritierte In‐ dividuen, die weder in sich, noch an anderen, noch in der Welt, einen existen‐ ziellen Halt finden können. Clarissa ist von ihrer Herzerkrankung geschwächt, weiß um ihre Mortalität, kann aber durch ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung ihre Ängste kontrollieren. Im Gegensatz dazu sind Septimus Warrens Ängste und empfundenen Abgründe sowie seine Empfindug die Welt sei von Raubtieren beherrscht, ausweglos und unkontrollierbar: „Human nature (…) was on him - the repulsive brute, with the blood-red nostrils. Holmes was on him“ (S. 101 u. ö.). Clarissa und Septimus empfinden sich als Fremde in einer ihnen nach dem Ersten Weltkrieg fremd gewordenen Welt. Während sich Clarissa aber in ihrem Blick in den Spiegel als einen Mittelpunkt versteht, der alle Aspekte ihrer Per‐ sönlichkeit zusammenziehen kann (S. 40), nimmt Septimus die Realität in seinen Visionen einerseits beängstigend fragmentiert (S. 155-156, S. 160-161), ande‐ rerseits als universale Verbundenheit alles Lebendigen und die Schönheit der Natur im Medium Shakespeares, Dantes, Aischylos‘ (S. 73-74, S. 106) und Keats, 487 wahr. Diese Ambivalenz wächst aus seiner Fühllosigkeit, unter der er seit dem Tod seines im Ersten Weltkrieg gefallenen Freundes Evans leidet, führt ihn in den Wahn, er habe wegen dieser Fühllosigkeit ein Menschheitsverbrechen begannen (S. 99, S. 105, S. 107) und mündet in seinem von ihm mehrfach ange‐ kündigten, aber aus perhorriszierter Reaktion auf Dr. Holmes Erscheinen voll‐ zogenen Suizid - Holmes betritt Mrs Filmers Wohnung zwischen 17.00 und 18.00 Uhr (S. 108). Clarissas Selbstbehauptung in der Welt führt sie zur Selbsterkenntnis, dass sie nur durch ihr Aushalten der widersprüchlichen inneren und äußeren Erfah‐ rungen, in die sie verstrickt ist, zu einer epikuräisch heiteren Welteinstellung kommen kann. Septimus‘ Wahn führt ihn in eine hellsichtige Kompromisslo‐ sigkeit, die ihn in extremer Intensivierung seiner widersprüchlichen Erfah‐ rungen in den Suizid treibt, vor dem ihn auch seine hilflose und verzweifelte Frau Lucrezia nicht retten kann. So wird er vor seinem unerbittlichen Gewissen schuldig, ist aber Opfer der Machtstrukturen und historischen Ereignisse der Moderne. In der chiastisch komplementären Narration der Figurenkonstellationen er‐ scheint Clarissas Abendgesellschaft als mikrokosmische Spiegelung des Mak‐ rokosmos London und der Kultur der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg, 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 273 488 Jeremy Tambling: „Repression in Mrs Dalloway’s London”…, a. a. O., S. 57-70; Tambling bezieht seine Deutung moderner fluider Identität auf die Auflösungen sexueller Diffe‐ renzen in Mrs Dalloway. Er beruft sich auf Kristeva und Lacan. wobei vor allem Clarissa, aber auch der Premierminister und andere Erzählfi‐ guren, wie beispielsweise Elizabeth und Richard Dalloway, Peter Walsh und Sally Seton in ihrer veränderten Lebenseinstellung beide Bereiche verknüpfen. Beide Bereiche werden von surrealen Impressionen Septimus’ durchzogen; wobei die Abendgesellschaft zusätzlich satirische Züge erhält. Sie zeichnen in ihrer Spiegelung eine Tendenz zur Satire auf die Kälte und Anonymität der upper middle class Großbritanniens nach dem Ersten Weltkrieg. Die Leitmotive, die beide Bereiche verbinden, sind als Fragen nach dem Stellenwert der Paradoxien transitorischer Identität gestaltet, die in Erfahrungen des Selbstentzuges zu Le‐ benentscheidungen führen, die Reflexionen über und Erfahrungen mit dem Pa‐ radoxon des Todes inmitten der Gesellschaft an Erfahrungen der Fremdheit, Anononymität und Indifferenz in der Moderne festmachen. Peter Walsh, der nach fünf Jahren aus Indien nach London zurückgekommen ist, reflektiert, bevor er die Abendgesellschaft Clarissas besucht, auf „(the (a)bsorbing, myste‐ rious (…) infinite richness, this life“ (S. 179), in dem „the truth about our soul“ (S. 176), unser Selbst (…) fish-like inhabits deep seas and plies among obscurities threading her way be‐ tween the boles of giant weeds, over sun-flickered spaces and on and on into gloom, cold, deep, inscrutable; suddenly she shoots to the surface and sports on the wind-wrinkled waves; that is, has a positive need to brush, kindle herself, gossiping. (S. 176) Die Selbsterkenntnis Peter Walshs, dass Identität nicht fixiert ist, greift die Kritik das Romans an Sir William Bradshaws Ideologie von „proportion“ und „con‐ version“, die durch einen längeren Erzählereinschub erläutert wird (S. 108-112), auf. Sie ist ein Echo auf Clarissas Blick in den Spiegel, in dem sie verschieden Aspekte ihrer Identität, wie unvereinbar sie auch sein mögen, in ein Aufmerk‐ samkeitszentrum zusammenziehen kann („one centre, one diamond“, S. 40). Sie findet Bestätigung in Clarissas Reflexionen über ihre Identitätsmöglichkeiten „she would not say of anyone in the world now that they were this or were that (…) and she would not say of Peter, she would not say of herself, I am this, I am that“. (S. 8-9) Diese Stellen deuten transitorische Identitätserfahrungen in der Moderne. 488 Selbstranszendierung wird durch Erfahrungen des Selbstentzugs hervorge‐ rufen. Die Reflexionen zu dieser zentralen Thematik oszillieren zwischen den Assoziationen und dem Bewußtsein der Erzählfiguren und öffnen im Gegenzug Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 274 489 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 103, S. 112. zu Septimus‘ Suizid Lebensmöglichkeiten, die Septimus‘ Integrität, die Clarissa in seiner Entscheidung zum Suizid entdeckt, antithetisch bestätigen. Diese und ähnliche Stellen, die die transzendentale Theorie Clarissas ergänzen, können auch als holistische Visionen verstanden werden, die eine Synthese von Gegen‐ sätzen, unter Beibehaltung ihrer gegensätzlichen Pole, in Gegenbildern einer taumelnden, sich selbst fremden Moderne gestalten. In ihrem Essay A Room of One’s Own spricht Virginia Woolf von einer „mar‐ riage of opposites“ in einer haltlosen, individualisierten Welt. 489 Rezipient / innen des dritten Lebensalters erschließen, dass folgende Pole dieser Gegensätze oszillieren und nicht ineinander aufgehen, weil die vom Roman Mrs Dalloway herausgehobenen individuellen Fähigkeiten der Figuren ihre persönliche und kulturelle Geschichten exitenzialistisch im oben darge‐ legten Sinne Erich von Kahlers erleben und im Staunen des Versagens jeder Sinndeutung ihre Existenz als mögliche erfahren, angesichts des Horizontes immanenter Transzendenz, das der Roman in der Wellenmetaphorik deutet: • Liebe und Ehe (Clarissa / Richard, Lucrezia / Septimus), • eine pastorale Vergangenheit und eine von Entfremdung geprägte Gegen‐ wart (Bourton / London), • der Krieg als destruktive Macht und die Sensibilität von Frauen und Män‐ nern, • Kriegsfolgen und Friedensmöglichkeiten (London / die Abendgesellschaft), • Liebe und Vernunft: Die Liebesvision wird von dem „shell-shocked“ Septimus entworfen, • die Fähigkeit zu einer scharfen Beobachtung gesellschaftlicher Verhältnisse und die Fähigkeit zu mythopoetischen Visionen (Peter Walsh, Septimus, die Blumenhändlerin), • Vertrautheit und Fremdheit (Elizabeth / Richard, Elizabeth / Doris Kilman), • Liebe zwischen Frauen und Mutter-Tochter Beziehungen (Clarissa / Sally, Elizabeth / Clarissa), • Aufgelöste Genderdifferenzen und fixierte Genderidentitäten, • Erfahrungen der Paradoxie transformatorischer Identität und gewaltfixierte Identitätserfahrungen, 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 275 490 Elizabeth Abel: „Narrative Structure(s) and Female Development: The Case of Mrs Dal‐ loway”, in: Harold Bloom (ed.): Modern Critical Interpretations: Virginia Woolf ’s ‘Mrs Dalloway’…, a. a. O., S. 103-125, hier: S. 125. 491 Jürgen Straub: „Identität“…, a. a. O., S. 280-281. 492 J. Hillis Miller: „Repetition as the Raising of the Dead”, in: Harold Bloom (ed.): Modern Critical Interpretations: Virginia Woolf ’s ‘Mrs Dalloway’…, a. a. O., S. 79-101, hier: S. 81, S. 83, S. 99. 493 J. Hillis Miller: „Repetition as the Raising of the Dead”…, a. a. O., S. 85, S. 98. 494 J. Hillis Miller: „Repetition as the Raising of the Dead”…, a. a. O., S. 99. 495 J. Hillis Miller: „Repetition as the Raising of the Dead”…, a. a. O., S. 101. • die mythopoetischen Visionen des Romans und seine fragmentarische Struktur, die durch angedeutete oder nicht erzählte Geschichten (Leer‐ stellen) entsteht. 490 Das „hidden pattern“ des Romans enthält in mythopoetischer Gestalt das Po‐ tenzial transitorischer Identität als „aspirierte, angestrebte, imaginierte Iden‐ tität“, das die Handlungsmöglichkeiten der Figuren konstituiert und ihre Ent‐ scheidungen motiviert. 491 Das Verhältnis von Individuum und transzendentem Sinnzusammenhang ist in Mrs Dalloway dialektisch zu verstehen: Weder sind beide Bereiche mit einander zu identifizieren, noch sind sie durch einen abso‐ luten Bruch bestimmt. Rezipien / innen des dritten Lebensalters erkennen in dieser Dialektik das Kompositionsprinzip des Romans Mrs Dalloway; ein Kon‐ zept genialer Schriftsteller / innen, das Virginia Woolf vier Jahre später in ihrem Essay A Room of One’s Own an mehreren Stellen am Beispiel Shakespeares, Jane Austens Coleridges und Emily Brontës erläutert. J. Hillis Miller deutet die Komplexität der Synthese, die Woolfs Roman zwi‐ schen unvereinbaren Polen erreicht, als antithetische Reziprozität, die durch „an invisible mind“ der Erzählstimme herbeigeführt wird. 492 Reziprozität in der Moderne, so Miller, bleibt aufgrund der Entfremdungserfahrungen in Woolfs Roman Mrs Dalloway durch Unversöhnlichkeit Illusion und Begehren. 493 Er‐ zählkunst, wie sie Woolf konzipiert, lässt Reziprozität ästhetisch visionär in der Umkehrspiegelung von Clarissa und Septimus als menschliche Ganzheit er‐ scheinen, die im Tod ihre Realität erhält. Orte dieses Erscheinens sind, so Miller Erich von Kahlers Ausführungen bestätigend, Woolfs literarische Arbeiten: „Li‐ terature for Woolf is (…) preservation of things and persons in their antithetical poise.“ 494 Die Synthese unvereinbarer Gegensätze, die als Gegensätze sichtbar bleiben, liegt für Woolf im Raum der Fiktion: „A novel, for Woolf, is the solace of death made visible. Writing is the only action which exists simultaneously on both sides of the mirror, within death and within life at once.” 495 In dieser ästhetischen Zwiespältigkeit ist der Roman Mrs Dalloway Ausdruck der Ambi‐ Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 276 496 Zygmunt Baumann in einem Interview mit Michael Hesse über die Unmöglichkeit, die heutige Zeit im Sinne Hegels in Gedanken zu fassen: Michael Hesse: „‘Die Vorboten von Hiobsbotschaften‘. Ein Gespräch mit dem Sozialphilosophen Zygmunt Bauman über Einwanderung und warum die Gegenwart der Flüchtlinge unsere Sicherheit zerbrech‐ lich erscheinen lässt.“, in: Frankfurter Rundschau, 72. Jahrgang, Nr. 256, 02. 11. 2016, S. 30-31, hier: S. 31. 497 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”…, a. a. O., S. 189. 498 Walter Schulz: Metaphysik des Schwebens…, a. a. O., S. 428; Hans-Christoph Ramm: „‘… Kälte atmend der Ofen…‘. Edvard Munch, Franz Kafka, Charlie Chaplin…, a. a. O. valenz der Moderne, narrativer Entwurf einer Metaphysik des Schwebens, die angesichts der Negativität des Weltlaufes und der Haltlosigkeit moderner Sub‐ jektivität retrotopisch Hoffnung in eine unbekannte Zukunft legt „als Ort der Wiederherstellung einer mythischen Vergangenheit“. 496 Die Furcht vor Mortalität und Affinitäten zu intensiv erlebten Augenblicken haben in der chiastischen Textur von Kontrasten, Parallelen und Korrespon‐ denzen in Woolfs Roman Mrs Dalloway leitmotivischen Charakter. Diese Leit‐ motive lassen die Metropole London in ihrer Orientierungslosigkeit für die Fi‐ guren und die an Macht, Besitz und Gier orientierten Werte der Gäste der Abendgesellschaft Clarissas in den Perspektiven des Außenseiters Peter Walshs und in der Perspektive Clarissas relativ erscheinen. Einer Kritik unterzogen werden sie jedoch durch die Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit der Ärzte Dr. Holmes und Sir William Bradshaw. Bradshaw vertritt eine Machtideologie, in der „proportion“ und „conversion“ nicht, wie er behauptet, der Heilung dient, sondern der Gefügigmachung seiner Patienten in Bezug auf normierte Verhal‐ tensweisen, die Bradshaw beeinflussen kann und die gesellschaftsfähig sind. Einer Kritik unterzogen werden sie auch durch die Intrigen, die politischen Ein‐ mischungen und die Inkompetenz Lady Brutons, schließlich in der selbstgefäl‐ ligen Kammerdienermentalität Hugh Whitbreads, die die Regierung stützt. Die Gesamtstruktur des Romans erhält durch die chiastische Figurenkons‐ tellation und das komplexe Gewebe von Erinnerungen, Imaginationen und Vi‐ sionen „eine eigentümliche Lockerheit“ 497 , die in der Verbindung von narrativer Souveränität und Perspektivenvielfalt zum Ausdruck modernistischen Erzäh‐ lens wird. Facetten transitorischer Identität werden als Sinnpotenzial zu einem narrativen Bild verdichtet, in dem das moderne Ich seine Festigkeit und Bedeu‐ tung verliert, diese aber im Raum der Fiktion Mrs Dalloway in der Dialektik von vieldeutiger Subjektivität und einer Undurchschaubarkeit ihres Weltbezugs als Reflexionsangebot über die „Macht des Negativen und die Haltlosigkeit der Subjektivität“ 498 zurückerhält. In ihren Essays tritt Woolf für eine modernistische Ästhetik ein. Ihre Essays verdeutlichen, dass die literarischen Verfahrensweisen realistischer Romane des 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 277 499 Willy Erzgräber: „Virginia Woolf: Mrs Dalloway”…, a. a. O., S. 193. 500 Donald W. Winnicott: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt…, a. a. O., S. 245. 501 Terry Eagleton: The English Novel…, a. a. O., S. 318. 502 Virginia Woolf: A Room of One’s Own…, a. a. O., S. 109. 19. Jahrhunderts lebensweltliche Bedingungen des 20. Jahrhunderts fiktional nicht mehr angemessen darstellen können. Woolfs Überzeugung war, dass neue schriftstellerische Ausdrucksmöglichkeiten eine modernistische Kunst des Er‐ zählens hervorbringen würden. Mit Erzgräber lässt sich schließen, dass Mrs Dalloway ein mit hochdifferenzierten erzählerischen Mitteln komponierter moderner Roman ist, der (…) die komplexe Bewußtseinslage einer Generation erfasst (…), welche die Erschüt‐ terungen des Ersten Weltkrieges innerlich noch nicht überwunden hatte, und (der) die Regungen des künstlerischen Gewissens einer Autorin einfängt, die sich zum schöpferischen Protest gegen die zerstörerischen Tendenzen des Zeitalters herausge‐ fordert fühlte. 499 Mit seinen schöpferischen Tendenzen verdichtet Virgina Woolfs Roman Erfah‐ rungen einer haltlos gewordenen Moderne, deren Leid, Entfremdung und Frag‐ mentierung in der Kunst überwunden und zur visionären Ganzheit aufgehoben werden kann. Indem der Roman Mrs Dalloway an das Heiligtum des Selbst im Sinne Winnicotts rührt - „(i)m Zentrum jeder Person ist ein Element des ‚in‐ communicado‘, das heilig und höchst bewahrenswert ist (…)“ 500 - bleibt die äs‐ thetische Transzendierung dieses Romans in ihrer Form ambivalent. Sie rückt die Dezentriertheit des modernen Menschen im Horizont innerweltlicher Trans‐ zendenz mythopoetisch in den Blick der Rezipient / innen. 501 Im letzten, sechsten, Kapitel ihres Essays A Room of One’s Own weist Virginia Woolf ihre Zuhörerinnen und Leser / innen darauf hin, dass die Lektüre von Werken der Weltliteratur eine „curious couching operation on the senses“ be‐ wirke, die einen nach der Lektüre die Welt intensiver erleben lasse: „(…) the world seems bared of ist covering and given an intenser life.“ 502 Auf diese Erkenntnis stoßen Rezipient / innen des dritten Lebensalters durch ihre Dispositionsfragen an den Roman Mrs Dalloway, der die unüberbrückbar erscheinende Differenz zwischen gesellschaftlicher Rationalität, repäsentiert in den Erzählfiguren Dr. Holmes, Sir William Bradshaw, Lady Burton, Hugh Whi‐ tebread, Doris Kilman und differenzierter Empathie, repräsentiert in Clarissa Dalloway, Peter Walsh, Sally Seton und Septimus Warren, zugespitzt in der Ver‐ zweiflung Lucrezia Warrens, augenöffnend zum Ausdruck bringt. Die sich an‐ schließenden Plausibilitätsfragen richten sich auf den ästhetischen Geltungs‐ anspruch des Romans, der narrativ zwischen einer organisierenden Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 278 503 Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt / M: Suhrkamp 2015, S. 219. 504 Gottfried Boehm: „Der Topos des Lebendigen…, a. a. O., S. 94-112, hier: S. 98, S. 102-105 S. 107-112. 505 Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik. München: Beck 2010, Kapitel 1, 3, 7, 11. 506 Andreas Kruse, Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern…, a. a. O., S. 239; Andreas Kruse und Eric Schmitt: „Die Ausbildung und Verwirklichung kreativer Potenziale im Alter…, a. a. O., S. 31. 507 Otfried Höffe: Lebenskunst und Moral oder Macht Tugend glücklich? München: Beck 2009, Kapitel 1, 10, 12, 24. Erzählstimme und den multiperpektivischen Differenzen, zwischen Empathie und Rationalität, einen Reflexionsraum öffnet, der den Roman Mrs Dalloway als Roman der klassischen Moderne nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit seinen blutigen tausendfachen Verlusten an Menschenleben zum ästhetischen Ausdruck individuellen Leidens an der Gesellschaft werden lässt. Vor dem Hintergrund lebensweltlicher Erfahrungen von Rezipient / innen des dritten Lebenslalters nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich der Bezug auf ge‐ rotranszendente Erfahrungen in der Frage herstellen, inwieweit Virginia Woolfs Schriften, ihre Romane und Essays verdeutlichen, dass sich „Destruktivität tat‐ sächlich in Anerkennung verwandel(n)“ 503 kann, und dies mit holistischem Telos? Wenn Virginia Woolfs Romane die Negativität des Weltlaufs in holistisch ge‐ formten Erzählwelten zum Ausdruck bringen, dann eröffnen diese Romane den ästhetischen Ausdruck einer Metaphysik des Schwebens, einer Ambivalenz der Moderne, die ihren Leser / innen Potenziale zu ästhetischen Erfahrungen bieten. Im Wiedererkennen und Refigurieren chiastischer Figurenkonstellationen, die Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway gestaltet, werden Rezipient / innen des dritten Lebensalters eingeladen über lebensgeschichtlich raumzeitliche Erfah‐ rungen kultursemiotisch hinauszugehen. In ihrer Lebendigkeit, die in Zusammenhängen innerer Bewegungen und Widersprüchen narrativ geformt sind, 504 sprechen Virginia Woolfs Romane und Essays, trotz ihrer Hervorhebung der Haltlosigkeit moderner Subjektivität, die privates Glück kaum und subjektive Erfüllung gar nicht zulässt, die menschliche Fähigkeit zur immanenten Transzendenz an, 505 die in Bezug auf Rezipient / innen des dritten Lebensalters von der Alternsforschung als Gerotranszendenz be‐ zeichnet wird. Mit ihren drei Dimensionen „einer kosmischen Ebene, einer Ebene des Selbst sowie einer Ebene sozialer Beziehungen“ 506 , in deren Zusam‐ menhang auch die Lebenseinstellung der Gelassenheit im Alter gehört, 507 er‐ 3.4 Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway. Ambivalenz von Leben und Tod 279 schließen sie die eigentümliche Lockerheit des Romans, von der Erzgräber spricht. Refiguration ausgewählter Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 280 Fazit und Forschungsdesiderate: Die Paradoxie transitorischer Identität als narratives Deutungsmuster Auf der Grundlage der oben dargelegten kulturwissenschaftlich orientierten Li‐ teraturwissenschaft wurden in gelenkten literarischen Seminargesprächen an der Universität des 3. Lebensalters zu Frankfurt / M, die von Rezipient / innen des dritten Lebensalters freiwillig besucht werden, die kultursemiotischen Dimen‐ sionen der für diese Arbeit ausgewählten Romane von Charles Dickens, Char‐ lotte und Emily Brontë und Virginia Woolf erarbeitet. Es wurde gezeigt, dass die Romane in fortschreitender Hervorhebung innerer Prozesse und in fortschreitender Experimentierfreude ein für die Moderne ty‐ pisches transitorisches Ich gestalten und Rezipient / innen des dritten Lebens‐ alters diese narrative Figuration auf der Grundlage eines alterstypischen um‐ fassenden Kreativitätsbegriffs wiedererkennen und hermeneutisch reflektieren. Sie verstehen, dass diese Romane nicht lügen, sondern untergündig gewordene Erfahrungen des Leidens an der Gesellschaft, die die Rezipient / innen seit Ende des Zweiten Weltkrieges umtreiben, als Antwortangebote auf ihre Sinnfragen zum Ausdruck bringen. Die ausgewählten Romane stellen prototypisch die ge‐ sellschaftliche Funktionalisierung des Leidens und die damit einhergehende Zerrüttung der Subjektivität mit literarischen Verfahrensweisen der Groteske, des Märchenhaften, des fiktional Autobiografischen, der multiplen Perspektiven dar und in Frage. In den Blick treten Erfahrungen transitorischer Identität in der Moderne, die in der Gestaltung inverser Verwandtschaften der Figuren, zum Ausdruck kommen. Da die Grundstruktur des Rezeptionsprozesses dialogisch ist, wechselte die Untersuchungsperspektive im dritten Teil dieser Arbeit von der in den ersten beiden Teilen erörterten komplexen Motivlage der Rezipient / innen auf die kul‐ tursemiotischen Deutungspotenziale der Romane, wobei die kontrovers oder zustimmend besprochenen Romanpassagen durch Hinweise auf Erschließungs- und Reflexionsmöglichkeiten sowie Plausibilitätsfragen der Rezipient / innen gekennzeichnet wurden. Die Hinweise bezogen sich auf Varianten einer die Ro‐ mane durchziehenden existenziellen Konstellation von menschlicher Mortalität und immanenter Transzendenz, die Subjektivität als nicht zur Gänze einholbar erscheinen lässt. 1 Verena Kast: Imagination als Raum der Freiheit…, a. a. O., S. 22. 2 Susan Neiman: Warum erwachsen werden? … a. a. O., S. 211-212. Auf dem Hintergrund alterstypischer Möglichkeiten einer Integration der Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive, zu denen die Besonderheiten der Fähigkeit zur Gerotranszendenz gehören, konnten die komplexen Erzählmuster der Romane erarbeitet werden. Diese verhandeln die Subjektfrage der Moderne in emotional evokativen Erfahrungsräumen. Die Rezipient / innen erkannten, dass die Erzählwelten durch komplementäre Spiegelfiguren den Menschen mit seinem Ganzheitsanspruch in ihren Mittelpunkt stellen. Die Romane entwerfen gesellschaftkritische Gegenperspektiven und stellen Kehrseiten der Vernunft dar. Als Antithesis, so wurde deutlich, sind die Erzählwelten immanent mit der Negativität des Weltlaufs, den sie verneinen, verknüpft: Diese Gegenperspektive affiziert die Fähigkeit der Rezipient / innen des dritten Lebensalters zur Gero‐ transzendenz. Zu dieser Fähigkeit gehören zusammengefasst: • die Bedeutsamkeit des inneren Zeitgefühls, zusammen mit einem Erleben des Vergehens der Zeit, • die subjektiv empfundene Paradoxie des Alterns, • Kreativität im Alter, • Reflexion auf Mortalität als Werden zu sich selbst, • das Bedürfnis nach Ganzheits- und Sinnerfahrungen, • Erfahrungen des Menschen als Sinnganzes in unbedingter Selbstverant‐ wortung, in einem selbst organisierten Leben, • Gelassenheit, • Spiritualität, Selbstranszendierung, ästhetische Sensibilität, • die drei Dimensionen einer kosmischen Ebene, einer Ebene des Selbst sowie einer Ebene sozialer Beziehungen. Die Erschließung und Reflexion der transgressiven erzählerischen Verfahren der Romane des Viktorianischen Zeitalters und der klassischen Moderne rufen bei Rezipient / innen des dritten Lebensalters Veränderungen ihrer Selbst- und Weltbilder sowie kreative Potenziale „im Sinne (einer) Persönlichkeitsände‐ rung“ 1 hervor. In diesem hermeneutischen Prozess schärft und entwickelt sich ihr Urteilsvermögen, 2 werden Fragen nach dem Selbst in der Moderne virulent. Charles Dickens früher Roman Oliver Twist spiegelt in Gestalt einer Mär‐ chengroteske bürgerliche in kriminellen Figuren. Die erzählerische Kunst Di‐ ckens‘ besteht darin, dass die Spiegelfiguren und ein unzuverlässiger Erzähler, mithin die Erzählwelt selbst, die Artikulationsunfähigkeit ihres Protagonisten teils humorvoll, teils sozialkritisch, teils ironisch transzendieren. Fragmentiertes Fazit und Forschungsdesiderate 282 Erzählen als Bild einer disparaten Moderne der ersten Modernisierungsphase macht die ästhetische Wahrheit dieses Romans aus, der das Bedürfnis nach Ganzheits- und Sinnerfahrungen bis in einzelne Kapitel hinein aus unterschied‐ lichen Figurenperspektiven (Oliver, Nancy, Rose, Brownlow Fagin, Sikes) for‐ muliert und ins Märchenhafte überschreitet. Charlotte Brontës Roman Jane Eyre gestaltet in Form einer fiktionalen Au‐ tobiografie die Alter-Ego Beziehung zwischen der Gouvernante Jane und dem Landadeligen Rochester. Die im Rückblick der Ich-Erzählerin zusammengezo‐ genen Perspektiven transzendieren Erfahrungen des Selbstentzugs der Prota‐ gonisten, ihre Heimat- und Ortlosigkeit, und sie transzendieren in den Schluss‐ tableaus die Entscheidung der emanzipierten Jane, die Ehefrau des mittlerweile invaliden Rochester zu werden. Die Form der fiktionalen Autobiografie gestaltet erfülltes Leben als durch Kontingenzen zusammengehaltene Fiktion. Ein Werden zu sich selbst, hervorgerufen durch Reflexionen auf die eigene Morta‐ lität und die signifikant Anderer (Helen Burns, Mrs Reed, Bertha, Rochester, St. John Rivers) ist nur in narrativer Fiktion möglich. Beide Romane erforschen im Medium der Paradoxie des poetischen Realismus das moderne Ich. Sie spielen mit Chancen, privates Glück und ein erfülltes Leben erlangen zu können, unterlaufen diese bürgerliche Grundauffassung aber mit ihren erzählerischen Verfahren. Emily Brontës Roman Wuthering Heights verknüpft durch seine dezentriert Erzählweise, die durch unzuverlässige Ich-Erzähler zusammengesetzt ist, die beiden Zentralfiguren Catherine und Heathcliff, die Tochter eines niedrigen Landadeligen und ein zum Ausbeuter herangewachsenes Findelkind, zu Alter-Ego-Figuren. Im Gegensatz zu Oliver Twist und Jane Eyre gestaltet dieser Roman, wie auch Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway, die Nicht-Erfüllbarkeit bürgerlicher Vorstellungen. Wuthering Heights konfrontiert kulturelle Erlö‐ sungsvorstellungen mit den radikalen Bildern seiner nicht erlösbaren Protago‐ nisten. Die sich in ihren Delirien verselbständigenden Imaginationen ziehen Erfahrungen der Bedeutsamkeit des inneren Zeitgefühls, der Reflexion auf die eigene Mortalität und die signifikant Anderer (Catherine, Heathcliff, old Earnshaw) und das Bedürfnis nach Ganzheits- und Sinnerfahrungen zusammen. Das dem Roman zugrunde liegende pessimistische Menschenbild weist die Hauptfiguren, wie die unzuverlässigen Ich-Erzähler, als fragmentierte, transi‐ torische Identitätsfiguren aus, die autoreferenziell auf den Erzählkosmos, dem sie angehören, verweisen. Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway gestaltet die Vieldeutigkeit moderner Subjektivität im Zusammenhang mit der Undurchsichtigkeit ihres Weltbezuges in multiperspektivischer Erzählweise. Die beiden zentralen Figuren dieses Ro‐ Fazit und Forschungsdesiderate 283 mans, Clarissa Dalloway und Septimus Warren Smith, sind als Doppelgänger angelegt, die in der leitmotivischen Verknüpfung von Vernunft und Wahnsinn, Tod und Leben, die Lebensoffenheit Clarissas problematisieren und der Erzähl‐ kunst Woolfs den Ort zuweisen, der eine Synthese unvereinbarer Gegensätze, unter Beibehaltung ihrer Gegensätzlichkeit, ästhetisch möglich werden lässt. Auch in Mrs Dalloway steht die Nicht-Erfüllbarkeit menschlicher Werte, Auto‐ nomie und Menschenwürde ästhetisch gebrochen im Zentrum dieser in mo‐ dernistischer Erzählweise gestalteten fiktiven Welt. Rezipient / innen des dritten Lebensalters erschließen in der Lektüre dieses Romans kultursemiotisch: Er‐ fahrungen der Bedeutsamkeit des inneren Zeitgefühls, das Erleben des Verge‐ hens der Zeit, subjektiv empfundenes Altern, Reflexionen auf die eigene Mor‐ talität und auf die signifikant Anderer, das Bedürfnis nach Ganzheits- und Sinnerfahrungen. Die chiastisch verknüpften Facetten betreffen vor allem Cla‐ rissa, Septimus, Peter Walsh, Sally und Elizabeth. Der Mensch als Sinnganzes in unbedingter Selbstverantwortung wird in Clarissas Reflexionen auf Septimus‘ Suizid thematisiert. Der Roman insgesamt wird, angesichts der Negativität des Weltlaufes nach dem Ersten Weltkrieg, von einer Vision getragen, die man als ethische Humanität oder als Möglichkeit der Wiederherstellung einer mythi‐ schen Vergangenheit verstehen kann. Im Zentrum dieser unterschiedlichen Romane, die vor ihrem jeweiligen kul‐ turellen Hintergrund kultursemiotisch erschlossen und reflektiert wurden, be‐ findet sich das durch die inversen Verwandschaften der Spiegel-, Alter-Ego- und Doppelgängerfiguren gekennzeichnete dezentrierte Ich, das in der Dialektik von Erfüllungsehnsucht und Fragmentierungserfahrungen als Haltlosigkeit mo‐ derner Subjektivität angesichts der Macht des Negativen im Bereich der Fik‐ tion - und nur hier - brennscharf in seinen Widersprüchlichkeiten und Visionen zum Ausdruck kommt. Die Intention des modernen Ich auf Selbstvergewisse‐ rung gerät immer wieder in die Gefahr des auch narrativ gestalteten Misslin‐ gens. Diese Problematik kann in der Denkfigur transitorischer Identität als Gro‐ teske in Dickens‘ Roman Oliver Twist, als autobiografische Fiktion in Charlotte Brontës Roman Jane Eyre, als mythopoetische Gestaltwerdung, die normative Ordnungen transzendiert, in Emily Brontës Roman Wuthering Heights, als nar‐ rative Transformation des Lebens in Literatur in Woolfs Roman Mrs Dalloway erschlossen werden. Die zyklische Struktur dieser Romane lässt sie zu prosai‐ schen Mythen werden, in denen die Ambivalenz der Moderne und die des mo‐ dernen Selbst zu Tage tritt. Rezipient / innen des dritten Lebensalters zielen mit ihren Dispositions- und Plausibilitätsfragen, die sie in drei graduell miteinander verzahnten Erschlie‐ Fazit und Forschungsdesiderate 284 3 Lothar Bredella: Das Verstehen des Anderen…, a. a. O., S. 18. 4 Herbert Grabes: „Literaturgeschichte / Kulturgeschichte…, a. a. O., S. 140. 5 Erich von Kahler: „Untergang und Übergang…, a. a. O, S. 21. ßungs- und Reflexionsschritten an die Werke stellen, auf diese Erkenntnis. Sie erschließen die Romane kultursemiotisch in Bezug auf die kulturellen Hinter‐ gründe, aus denen die Erzählwelten entstanden, auf die sie sich beziehen und die sie narrativ je unterschiedlich einer Kritik unterziehen. Dabei wird die vom Autor intendierte Bedeutung als einmalig und historisch situiert erschlossen und verstanden. So werden im Zusammenspiel von literarischen Texten und Leser / innen die jeweils kulturell bestimmten und persönlich ausgebildeten „kognitiven, affektiven, imaginativen und evaluativen Kompetenzen“ 3 evoziert. In den Blick geraten kultursemiotische Fragestellungen wie diese: Inwieweit literarische Werke kulturdiagnostisch das symbolische Wertsystem ihrer Zeit erhalten bzw. verstärken, oder ob sie sich durch ihre formale Komposition von diesen Wertsystemen distanzieren? 4 Es zeigte sich, dass die vier besprochenen Romane diese Alternative durch ihre narrative Offenheit, Kontingenzstruktur und ihr autoreferenzielles Bezugs‐ system unterlaufen. Die antithetischen narrativen Grundauffassungen: Erfül‐ lung und nicht erfüllbares Leben werden in der Selbtreflexion der jeweiligen narrativen Form der vier Romane als Gedächtnismedien ihrer Zeit aufgehoben. In ihrem Zentrum steht die Erforschung der modernen Seele, die Suche nach dem Selbst, seiner Herkunft, Gegenwärtigkeit und Zukunft. Ganzheitlichkeit ist nur im Bereich der Fiktion möglich und zugleich visionäres Wunschbild, das befragt und auf das reflektiert werden kann. Daher spitzt sich in den jeweiligen Schlusstableaus der vier Romane die Pa‐ radoxie transitorischer Identität, die die Romane durchzieht, zu. Die Denkfigur des Selbstentzugs wird innerweltlich transzendent aus der Konfrontation von kreativer Selbsttranszendierung und reifizierten Gewaltverhältnissen entfaltet und autoreferenziel reflektiert. Vor dem Hintergrund ihrer komplexen Motivlage erkennen Rezipient / innen des dritten Lebensalters in dieser Konfrontation eigene Lebenserfahrungen der Zeitspanne nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute durch Erfahrungen gesell‐ schaftlicher und politischer Transformationen wieder. In der Deutung der vier Romane und dem Diskurs über diese Deutungen, die die jeweilige narrative Form in ihrer Mehrdeutigkeit als Ausdruck der Ambivalenz der Moderne und als Metaphysik des Schwebens in den Blick nimmt, kommen Reflexionen über einen umfassenden Sinn menschlichen Lebens ins Spiel, die sich der Unaus‐ sprechlichkeit eines präexistenten Ich, im Sinne Erich von Kahlers, 5 bzw. dem höchst bewahrenswerten heiligen Zentrum jeder Person, im Sinne Winni‐ Fazit und Forschungsdesiderate 285 6 Donald W. Winnicott: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt…, a. a. O., S. 245. 7 Hans-Werner Wahl, Verena Heyl: Gerontologie - Einführung und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer 2015, S. 84, S. 90. cotts, 6 nähern und Erfahrungen, lediglich ein funktionales Teilelement eines übergreifenden Zusammenhanges zu sein, Paroli bieten. Schließlich bleiben noch Forschungsdesiderate zu nennen: Wünschenswert sind empirische Untersuchungen ● zur Lesemotivation und zum Leseverhalten von Rezipient / innen des dritten Lebensalters, unterschieden nach weiblichem und mänlichem Leseverhalten; ● zu Struktur, Inhalten und responsivem Verhalten narrativer Identität; ● zu kultursemiotischen Potenzialen der Schlüsselkonzepte der Kreativität im Alter, die die zwölf ‚Essentials‘ der Gerontologie 7 rezeptions‐ ästhtisch reflektieren; ● zur Methodik der Literaturvermittlung in Bezug auf Rezipient / innen des dritten Lebensalters; ● zur Evaluation von Lernprozessen im dritten Lebensalter, die sich von denen adoleszenter Leser / innen unter‐ scheiden; ● zur Evaluation der Antwortregister von Dozent / innen, die Litera‐ turseminare an der Universität des dritten Lebensalters und in der Erwachse‐ nenbildung halten; ● zur Struktur gelenkter literarischer Seminare und anderer institutioneller Möglichkeiten der Literatur- und Kulturvermittlung für Rezi‐ pient / innen des dritten Lebensalters; ● zu Möglichkeiten und Chancen einer Kooperation von Instititutionen mit kulturellen und gerontologischen Schwer‐ punkten, mit dem Ziel, einer kritischen Gerontologie Wege zu bahnen. Fazit und Forschungsdesiderate 286 Literaturverzeichnis Abel, Elizabeth: „Narrative Structure(s) and Female Development: The Case of Mrs Dal‐ loway”, in: Harold Bloom (ed.): Modern Critical Interpretations: Virginia Woolf ’s ‘Mrs Dalloway’, New York: Chelsea House 1988, S. 103-125. Adorno, Theodor W.: „Der Essay als Form“, in: Theodor W. Adorno: Noten zur Lite‐ ratur I. Frankfurt / M: Suhrkamp 1971, S. 9-49. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt / M: Suhrkamp 1973. Adorno, Theodor W.: „Rede über den ‘Raritätenladen’ von Charles Dickens“, in: The‐ odor W. Adorno: Noten zur Literatur IV. Frankfurt / M: Suhrkamp 1974, S. 34-44. Alexander, Christine and Margaret Smith: The Oxford Companion to the Brontës. Oxford: Oxford University Press 2006. Améry, Jean: „Der Blick der Anderen“, in: Thomas Rentsch und Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Reclam 2012, S. 141-158. 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