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Deutsch: lokal – regional – global

2017
978-3-8233-9132-6
Gunter Narr Verlag 
Jarochna Dabrowska-Burkhardt
Ludwig M. Eichinger
Uta Itakura

Der Themenkreis dieses Bandes umfasst Fragen der system- und normbezogenen Deskription des Gegenwartsdeutschen unter Berücksichtigung seiner Variierung und Dynamik, darunter insbesondere in den Bereichen des Wortschatzes, der Grammatik, der Textlinguistik und der kontrastiven Sprachforschung, der Sprachpolitik, der Sprachkultur sowie der Sprachdidaktik und des Faches "Deutsch als Fremdsprache". Die einzelnen Beiträge können vier zentralen und miteinander verschränkten Arbeitsfeldern zugeordnet werden: "Das Deutsche in der Welt", "Der Wortschatz in Bewegung", "In den Tiefen der Grammatik" und "Blicke auf den Sprachgebrauch".

Jarochna Dąbrowska-Burkhardt / Ludwig M. Eichinger / Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global Dąbrowska-Burkhardt / Eichinger / Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 77 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Der Themenkreis dieses Bandes umfasst Fragen der system- und normbezogenen Deskription des Gegenwartsdeutschen unter Berücksichtigung seiner Variierung und Dynamik, darunter insbesondere in den Bereichen des Wortschatzes, der Grammatik, der Textlinguistik und der kontrastiven Sprachforschung, der Sprachpolitik, der Sprachkultur sowie der Sprachdidaktik und des Faches „Deutsch als Fremdsprache“. Die einzelnen Beiträge können vier zentralen und miteinander verschränkten Arbeitsfeldern zugeordnet werden: „Das Deutsche in der Welt“, „Der Wortschatz in Bewegung“, „In den Tiefen der Grammatik“ und „Blicke auf den Sprachgebrauch“. 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 U_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 12: 00 Seite 1 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 77 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 T_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 11: 58 Seite 1 Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Band 77 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 T_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 11: 58 Seite 2 Jarochna Dąbrowska-Burkhardt / Ludwig M. Eichinger / Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 T_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 11: 58 Seite 3 Redaktion: Melanie Steinle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz und Layout: Annett Patzschewitz / Joachim Hohwieler Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Gomaringen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-8132-7 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 T_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 11: 58 Seite 4 Gerhard Stickel Vorwort Es freut uns, Gerhard Stickel diesen Band zu seinem achtzigsten Geburtstag widmen und überreichen zu können. In den hier versammelten Beiträgen spiegeln sich - mit unterschiedlicher Akzentuierung - die gemeinsamen Geschichten und Erfahrungen wider, die sich in der Zusammenarbeit mit Gerhard Stickel in seinen unterschiedlichen Funktionen und über die Jahrzehnte seiner Tätigkeit hin ergeben haben und die sich, fachlich und persönlich, in einer engeren Beziehung mit dem Geehrten niederschlagen. So würdigen die Beiträge des vorliegenden Bandes seine Wirkung im Fach als Wissenschaftler, fachlich und sprachpolitisch tätiger Institutsdirektor, und auch als wissenschaftlicher Lehrer - ein Punkt, der bei der Würdigung eines ehemaligen Institutsdirektors gerne in den Hintergrund rückt, zu dem aber passt, dass die beiden Herausgeberinnen dieses Bandes bei ihm promoviert wurden. Die Texte werfen nicht nur Licht auf eine nun eine ganze Reihe von Jahrzehnten umfassende Tätigkeit für die Sprachwissenschaft und für die deutsche Sprache - und ein Blick auf die Verfasserliste zeigt die internationale Erstreckung dieser Aktivitäten. Vielmehr ist es, gerade was die internationale Vernetzung und die Bemühungen um eine europäische Sprachenpolitik angeht, ein Blick auf Gerhard Stickels aktuelle und mit Energie betriebene tägliche Arbeit - was im Hinblick auf den Anlass dieser Festschrift besonders bemerkenswert ist. Die Beiträge, die im Kontext der Präsidentschaft Gerhard Stickels in der Europäischen Föderation der Nationalsprachen stehen, zeugen von diesem nimmermüden Einsatz. Die vorliegende Festschrift soll die Leistungen Gerhard Stickels ehren und ihm für sein fachliches wie persönliches Wirken danken. Mannheim, im Februar 2017 Jarochna Dąbrowska-Burkhardt Ludwig M. Eichinger Uta Itakura Inhalt Vorwort ..................................................................................................................... 7 Jarochna Dąbrowska-Burkhardt Einführung .............................................................................................................. 13 Ludwig M. Eichinger Was macht Stickel? ................................................................................................. 25 Kathrin Steyer Mannheim, Herbst 1990 - Erinnerungen an bewegte Zeiten .......................... 39 Das Deutsche In Der welt Ulrich Ammon Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft - unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Union ........................ 47 Lesław Cirko Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung. Veränderungen von Beispielen in deutschen Grammatiken nach der Wende...................................................................................................... 61 Jarochna Dąbrowska-Burkhardt Let’s talk European! Politolinguistische Überlegungen zur europäischen Integration anhand der deutschen Berichterstattung im Sommer 2015 ............................. 75 Marina Foschi Albert Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt ..................................................................................... 89 Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt Digitale Forschungsinfrastrukturen: Ihre Nutzung durch die Mitglieder der Europäischen Föderation nationaler Sprachinstitutionen.............................................................................................. 103 Heidrun Kämper Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts - Überlegungen zu einem vorläufigen Abschluss ............................................. 115 Inhalt 10 Sabine Kirchmeier Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark ..... 129 Michail L. Kotin Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung .......... 145 Pirkko Nuolijärvi Deutsch in Finnland ............................................................................................ 159 Der wortschatz In Bewegung Doris al-Wadi Begegnungen mit neuen Wörtern: Zu lexikografischen Praktiken im Neologismenwörterbuch des IDS ................................................................ 173 Zofia Berdychowska / Sabine Häusler Entlehnung und Erbe: fair und fegen ................................................................. 187 Ruxandra Cosma In jeder Sprache sitzen andere Augen. Der Weg vom Bild des Deutschen zum deutschen Lehnwortgut im Lexikon des Rumänischen und zurück ...................................................... 203 Xuefu Dou Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel .......................... 217 Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre .............................................................. 233 Kuthan Kahramantürk Hermeneutische Betrachtungen zum Stellenwert von „Wort“ in der christlichen Mystik ............................................................. 247 Hartmut Schmidt Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs in der Berücksichtigung des neueren deutschen Wortschatzes .............................. 257 John Simpson From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600-2000 ........................................................ 269 Doris Steffens Vom Printzum Onlinewörterbuch - Zur Erfassung, Beschreibung und Präsentation von Neologismen am IDS ................................................... 281 Inhalt 11 In Den tIefen Der grammatIk Hardarik Blühdorn Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? Syntaktische, semantische und pragmatische Gründe .................................. 297 Martin Durrell / Alan Scott Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch ................................................................................................. 313 Sandro M. Moraldo Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker ............................................................... 327 Bruno Strecker Nicht alle Deutschen sind Rassisten ................................................................. 341 Gisela Zifonun Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? ...................... 345 BlIcke auf Den sprachgeBrauch Manfred W. Hellmann Wissenstransfer im IDS zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West“........................................................................... 361 Dieter Herberg Wenderückblick - lexikologisch. Zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 ..................................................... 377 Uta Itakura 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung. Verkaufsgespräch bei Japanern in Düsseldorf ................................................ 387 Jacqueline Kubczak Welchen Einfluss haben Werbeslogans auf die deutsche Sprache? ................................................................................................................ 401 Ichiro Marui Argumentation nicht erwünscht - Einstellungen zum Argumentativen im Japanischen und Deutschen ........................................... 411 Inhalt 12 Marisa Siguan Schon wieder eine Werther-Übersetzung? Zum Lesen und Übersetzen von Klassikern .................................................... 423 Shigeru Yoshijima Model for Intercultural Communication: A revised draft ............................. 433 aBschlIessenDe worte Rainer Wimmer Loblied auf Gerhard Stickel ............................................................................... 451 Vita ......................................................................................................................... 455 Schriften ................................................................................................................ 457 Jarochna Dąbrowska-burkharDt eInführung It is not our human nature that is universal, but our capacity to create cultural realities, and than to act in terms of them. (Sidney W. Mintz) Kulturelle Wirklichkeit zu schaffen und sie erfolgreich mitzugestalten ist ein Privileg, das nur wenigen vorbehalten ist. Diese Leistung resultiert nicht nur aus der Funktion, die jemand innehat, sondern in erster Linie daraus, dass er das eigene Tun als wahre Berufung, ja Mission lebt. Ein solches Handeln gelingt Gerhard Stickel, unserem Jubilar und dem Adressaten der vorliegenden Festschrift, immer wieder aufs Neue. Die erste Festschrift für Stickel erschien 2002 zu seinem 65. Geburtstag auf die Initiative von Ulrike Haß-Zumkehr, Werner Kallmeyer und Gisela Zifonun ebenfalls beim Gunter Narr Verlag in Tübingen. Sie trägt den Titel „Ansichten der deutschen Sprache“ und ihr inhaltlicher Reichtum entspricht dem weit gefächerten Interessenspektrum des Jubilars. Bereits in dieser Festschrift zeigt sich die Vielfalt an Forschungsinteressen der im Band vertretenen Kolleginnen und Kollegen, die meist auf wissenschaftliche Anregungen unseres Jubilars über die Jahre hinweg zurückzuführen sind. Eine ähnliche Entwicklung begleitet die Entstehung der vorliegenden Festschrift. Eine überwältigende Resonanz der kontaktierten potentiellen Autoren, die unterschiedliche wissenschaftliche Schwerpunkte vertreten, beweist, was für eine treibende Kraft von Stickels Tätigkeit ausgeht. Ausdrücklich betont werden sollen an dieser Stelle noch die von spontaner Bereitschaft geprägten Zusagen, die Herzlichkeit, die Bereitwilligkeit sowie die persönliche und wissenschaftliche Wertschätzung des Jubilars, die in einem großen Teil der hier veröffentlichten Texte gesondert zum Ausdruck kommen. Wenn dieser Band zu Stickels 80. Geburtstag den Titel „Deutsch: lokal - regional - global“ trägt, so hat dies einen guten, im Lebenswerk des Jubilars liegenden Grund. Damit wird nämlich die weite Dimension seines Wirkens signalisiert und anschließend erörtert. Bezogen auf verschiedene räumliche, zeitliche und kulturell miteinander verschränkte Arbeitsfelder, in denen Stickel maßgeblich wirkt, melden sich in dieser Festschrift 39 seiner Weggefährten zu Wort. Kollegen, Freunde und Schüler liefern ihre Beiträge zu Themen und Problemen, die zu den Arbeitsschwerpunkten des Jubilars ge- Jarochna Dąbrowska-Burkhardt 14 hören, ja sie greifen oft gemeinsam geführte Gespräche auf und verfolgen sie weiter in Erinnerung an einen vorausgehenden Meinungsaustausch mit dem Geehrten. Wüsste man nicht, dass Gerhard Stickel mit seiner außerordentlichen wissenschaftlichen Aktivität und Agilität in das neunte Lebensjahrzehnt eintritt, würde man es nicht glauben! Unserem Jubilar ist es nämlich gelungen, zwei enorm schwierig zu vereinigende Bereiche mit Erfolg zusammenzuführen: die ernsthafte und mühsame Arbeit eines Wissenschaftlers und die zeitraubende Tätigkeit eines Organisators des wissenschaftlichen Lebens. Von 1976 bis 2002 hat Stickel das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim geleitet und in dieser Funktion das Lehr- und Forschungsprofil der germanistischen Sprachwissenschaft und der deutschen Sprache schlechthin im In- und Ausland geprägt. Seit 2003 wirbt er, diesmal als Präsident der „Europäischen Föderation der nationalen Sprachinstitutionen“ (EFNIL), für die Aufrechterhaltung der europäischen Sprachenvielfalt. Der vorliegende Jubiläumsband hat zum Ziel, den bedeutenden Beitrag des Jubilars zur Erforschung und Vermittlung der deutschen Sprache sowie seine hervorragende organisatorische Tätigkeit als ehemaliger IDS-Direktor und aktueller EFNIL-Präsident zu würdigen. Die langjährige und vielfältige Tätigkeit des Geehrten im Dienste der deutschen Sprache wird in diesem Band mit der äußerst breiten Palette seiner Lehr- und Forschungstätigkeit zum Ausdruck gebracht. Der Themenkreis dieser Festschrift entspricht seinen vielfältigen Interessen und umfasst Fragen der system- und normbezogenen Deskription des Gegenwartsdeutschen unter Berücksichtigung seiner Variierung und Dynamik, darunter insbesondere in den Bereichen des Wortschatzes, der Grammatik, der Textlinguistik und der kontrastiven Sprachforschung, der Sprachpolitik, der Sprachkultur sowie der Sprachdidaktik und des Faches „Deutsch als Fremdsprache“. Die einzelnen Beiträge können vier zentralen und miteinander verschränkten Arbeitsfeldern zugeordnet werden: „Das Deutsche in der Welt“, „Der Wortschatz in Bewegung“, „In den Tiefen der Grammatik“ und „Blicke auf den Sprachgebrauch“. Den Beiträgen vorangestellt findet der Leser zwei Texte, die explizit unseren Jubilar und seine wissenschaftliche Tätigkeit zum Thema machen. Ludwig M. Eichinger geht in seinem korpusbasierten Beitrag „Was macht Stickel? “ der Frage nach, wie über unseren Jubilar in den Korpora des IDS berichtet wird. Anhand zahlreicher Belege aus den deutschen Printmedien, die sich alle auf Stickel explizit beziehen, werden mehrere Kommunikationsverben angeführt, die im Kontext der direkten und indirekten Redewiedergaben unerlässlich erscheinen. Mit diesen Verben werden aktuelle und brisante Einführung 15 Themen angesprochen, mit denen sich unser Jubilar seit Jahren beschäftigt. Auf diese Weise erfährt der Leser, wie der Einfluss des Englischen auf das Deutsche, die deutsche Rechtschreibung, die Verwendung der deutschen Dialekte oder auch die aktuellen Debatten um die Wörter und Unwörter des Jahres von Stickel eingeschätzt werden. Der zweite personenbezogene Beitrag stammt von Kathrin Steyer. Die Autorin lässt ihre gemeinsame Geschichte mit Stickel, die in der Zeit der Wende in Deutschland beginnt, Revue passieren. Die wissenschaftlichen und persönlichen Kontakte, die Zusammenarbeit mit ihrem „Adoptiv“-Doktorvater, gemeinsame korpuslinguistische Projekte werden von Steyer zwar signalisiert, aber der Fokus ihres Beitrags liegt auf der Darstellung der in Riesenschritten voranschreitenden deutsch-deutschen Vereinigung vor dem historischen Hintergrund der Umbruchzeit 1990. Der historische Kontext zeigt deutlich auf, vor welchen Problemen nicht nur kommunikativer Art die damalige deutsche Bevölkerung stand. Das Deutsche in der welt Das erste Kapitel beleuchtet die deutsche Sprache aus der Perspektive des Sprach- und Kulturkontakts und unterstreicht den Beitrag des Deutschen zur Entwicklung und Gestaltung vor allem der europäischen Sprachpolitik. In den präsentierten Beiträgen werden sowohl inals auch ausländische Blickpunkte berücksichtigt. Behandelt werden dabei das Verhältnis von Deutsch zu Englisch, die europäische Integration unter dem Gesichtspunkt der europäischen Sprachenvielfalt, digitale Sprachressourcen mehrerer europäischen Länder, Einstellungen zur deutschen Sprache in Italien und in Finnland über Jahrhunderte hinweg sowie die Beziehung Deutsch-Dänisch mit dem Schwerpunkt `die Rechtschreibung im Dänischen´. Darüber hinaus wird ein Versuch unternommen, die deutsche Sprache historisch basiert nach sprachinternen und sprachexternen Kriterien zuzuordnen. Zu guter Letzt werden sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Demokratisierungsprozessen beleuchtet sowie inhaltliche Veränderungen von Beispielen aus deutschen Grammatiken, die jeweils einen ideologischen Gegenwartsbezug aufweisen, besprochen. Der Fokus dieser Gruppe von Beiträgen liegt auf Sprachpolitik, Europa, Beziehungen, die zwischen Deutsch und anderen Sprachen existieren, aber auch auf der deutschen Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, die sowohl für das heutige Europa als auch für das heutige Deutsch von zentraler Bedeutung ist. Ulrich Ammons Beitrag beschäftigt sich mit dem brisanten Verhältnis von Deutsch und Englisch. Der Autor analysiert die hochaktuelle politische Entwicklung in der Europäischen Union im Kontext des EU-Austritts Großbri- Jarochna Dąbrowska-Burkhardt 16 tanniens. Der sogenannte Brexit liefert, als Folge des Referendums vom 23. Juni 2016, einen Impuls, Prognosen zur weiteren Entwicklung der Sprachpolitik in der EU zu machen und über die Zukunft der englischen und deutschen Sprache nachzudenken. Vor dem Hintergrund der globalen Sprachenkonstellation nennt Ammon nicht nur mehrere Gründe, sondern auch konkrete Ansätze zur Wahrung der internationalen Stellung der deutschen Sprache. Lesław Cirko stellt in seinem Beitrag die Frage nach dem manipulativen Gebrauch von Beispielen für Propaganda-Zwecke. Der Autor analysiert diese Belege aus vier ausgewählten Nachschlagewerken und Übungssammlungen zur Grammatik der deutschen Sprache, die ursprünglich in der DDR veröffentlicht, und nach der Wende 1989 im vereinigten Deutschland mit neuen Beispielen herausgegeben wurden. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf inhaltlichen Veränderungen von ideologisch geprägten Beispielen, die deutlich machen, dass gewisse Inhalte aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt werden und an deren Stelle neue Sprachbilder erscheinen, um dem Bürger einen Neustart in die veränderte Wirklichkeit zu ermöglichen. Der Beitrag von Jarochna Dąbrowska-Burkhardt ist ein Plädoyer für die Sprache der Integration in Europa, die jedoch nicht als eine neue Welthilfssprache begriffen werden sollte. Die Autorin versteht darunter das europäische Bewusstsein, die europäische Öffentlichkeit und das Einfühlungsvermögen in die Lage der „Anderen“ bzw. der „Fremden“. Anhand einer politolinguistischen Studie der deutschen Berichterstattung zur Griechenland-Krise im Sommer 2015 zeigt Dąbrowska-Burkhardt auf, dass gerade in einer solchen spannungsgeladenen Zeit das europäische Vokabular füreinander fehlt und wenig Verständnis für Probleme der Nachbarn beobachtet werden kann. Marina Foschi Albert behandelt die Einstellung der Italiener zur deutschen Sprache im Laufe der Geschichte. Zu diesem Zweck geht sie der Frage nach, ob in Italien historisch begründete, gängige Stereotype existieren, die das Deutschlandbild und somit auch die Wahrnehmung der deutschen Sprache prägen. Die geschichtliche Bedingtheit von Verhaltensweisen und Wertesystemen verschiedener Ethnien verlangen die Auseinandersetzung mit mehreren nationalen Stereotypen. Der Beitrag wird mit Ergebnissen einer Umfrage abgerundet, die zeigen, wie heutzutage eine jüngere Generation von Germanistikstudenten der Universität Pisa über die deutsche Sprache denkt. Im Beitrag von Monica Fürbacher, Tamás Váradi und Andreas Witt werden wir sowohl mit der geschichtlichen Entwicklung der European Federation of National Institutions for Language (EFNIL), als auch mit den digitalen Forschungsinfrastrukturen, die von den Mitgliedern der Europäischen Föderation nationaler Sprachinstitutionen genutzt werden, vertraut gemacht. Die Autoren des Beitrags gewähren uns einen Einblick in die historische Sprachdatenerfas- Einführung 17 sung, beschreiben elektronische Korpora deutschsprachiger Texte und stellen die digitalen Sprachressourcen von heute dar. Das breite Spektrum der vorhandenen Korpora gilt dabei nicht nur für die schriftlichen, sondern auch für die gesprochenen Sprachdaten sowie für multimodale Korpora. Heidrun Kämper beschäftigt sich in ihrem Text aus dem Bereich der linguistischen Geschichtsforschung mit den sprachlichen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, die in Bezug auf die Demokratisierungsprozesse betrachtet werden. Kämper unterscheidet im 20. Jahrhundert drei Diskurse, die als „Voice“-Kategorie der deklarativen Konstituierung oder Nicht-Konstituierung von Demokratie betrachtet werden können. Zu diesen zeitlichen Zäsuren der sprachlichen Umbrüche im 20. Jahrhundert gehören der Diskurs in der Zeit der frühen Weimarer Republik (1918-1925), der Schulddiskurs der Jahre 1945-1955 sowie der studentische Diskurs der späten 1960er Jahre. Alle drei besitzen sprachgeschichtlichen Wert, indem sie als Beginn eines sprachlichen Kontinuums angesehen werden. Sabine Kirchmeier beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der dänischen Sprache, genauer gesagt mit der dänischen Orthographie. Die Autorin behandelt die Einwirkung der deutschen Rechtschreibung auf die dänische und signalisiert deren Distanzierung vom Deutschen, die nach 1948 politisch motiviert ist. Im Beitrag wird die Arbeit des offiziellen nationalen dänischen Sprachinstituts aufgezeigt, dessen Mitarbeiter nicht nur forschen und informieren, sondern auch die dänische Sprache normieren. Das Ergebnis dieser mit der dänischen Gesetzgebung konformen Arbeit ist das offizielle dänische Rechtschreibwörterbuch, das aus einer elektronischen XML-Datenbank automatisch generiert und vielfältig angewendet wird. Mit einer historisch basierten Zuordnung der deutschen Sprache und ihrer Stellung unter anderen Sprachen beschäftigt sich Michail L. Kotin. Der Autor sucht eine wissenschaftlich angemessene Basis mit linguistisch relevanten Parametern für die entsprechende Zuordnung des Deutschen. Zu diesem Zweck bedient sich Kotin sprachinterner Kriterien, d.h. der genealogischen und der typologischen Klassifikation sowie der sprachexternen, zu der u.a. die heutige Verbreitung, die Sprecherzahl, der internationale Status oder der Einfluss des Deutschen auf andere Sprachen und umgekehrt der anderen Sprachen auf das Deutsche gehören. In seinem Beitrag beweist der Autor, dass trotz der unbeeinträchtigten Stellung des Englischen die deutsche Sprache sehr wohl eine prominente Stellung als Weltsprache innehat. Pirkko Nuolijärvi konzentriert sich in ihrem Beitrag zum Deutschen in Finnland auf die Einstellung der Finnen zu dieser Sprache und deren daraus resultierende Position im Lande. Die Autorin lässt in ihrem Beitrag eine historische Revue der deutsch-finnischen Beziehungen passieren, die ursprünglich als Jarochna Dąbrowska-Burkhardt 18 germanische Kontakte auf die Bronzezeit datiert werden können. Deutsch im mittelalterlichen Finnland, Studienaufenthalte der Finnen an den deutschen Universitäten, deutschsprachige Bevölkerungsteile, aber auch hochaktuelle Themen wie wissenschaftliche Beziehungen der beiden Länder, Deutsch im Wirtschaftsleben oder Lehre im Fach Deutsch als Fremdsprache zeigen die ganze Palette dieser Kontakte. Der wortschatz in Bewegung Im Zentrum des Forschungsinteresses der hier präsentierten Beiträge steht das Wort. Dabei handelt es sich um seine Vielfalt, die in exemplarischen Untersuchungen, die den Sprachgebrauch betreffen, zum Ausdruck kommt. Drei Beiträge befassen sich mit der Neologismenforschung bzw. auch mit der Wechselbeziehung von Neologismen und Archaismen. In zwei Texten erfährt man Näheres zu den Fremdwörtern und Entlehnungen für das Sprachenpaar Deutsch und Englisch. Der Einfluss des Deutschen auf das Rumänische und die Herausbildung der ethnischen Stereotype über die Deutschen wird in einem der Texte ebenfalls erörtert. Auseinandersetzungen mit wortgeschichtlichen Aspekten in lexikografischen Werken, mit Fachwörtern bzw. der Fachsprache im Bereich ‘Wirtschaft’ im Rahmen eines internationalen Projektes sowie der hermeneutische Zugang zum Phänomen „Wort“ finden in den folgenden Beiträgen ihren Niederschlag. Doris al-Wadi beleuchtet in ihrem Beitrag konkrete Fragen, mit denen Lexikografen in der Welt von Neologismen konfrontiert werden. Die Autorin zeigt am Beispiel des am IDS begründeten Neologismenwörterbuchs auf, worin die praktische lexikografische Pionierarbeit besteht und auf welche Art und Weise nach Lösungen gesucht wird, um den Interessierten eine flexible Informationsauswahl anzubieten. Dargestellt werden verschiedene Zugänge zu den Wortartikeln des Wörterbuchs, das als Online-Medium existiert und mit mehreren Verlinkungen in den Wortartikeln die Möglichkeit schafft, zu Google-Bildern oder auch zu den thematisch zusammengehörigen Stichwörtern zu gelangen. In dem Beitrag von Zofia Berdychowska und Sabine Häusler geht es um Entlehnung und Erbe. Den Untersuchungsschwerpunkt bilden Entlehnungen aus dem Englischen, die in Folge der Globalisierung auch in Fällen, wo die Sprachen, deren Träger nicht face-to-face interagieren, omnipräsent sind. Die Autorinnen widmen ihre Aufmerksamkeit dem Anglizismus fair, der sowohl im Deutschen als auch im Polnischen als eine formal-semantische Entlehnung gelten kann. Neben der Bedeutung und den Synonymgruppen von fair werden auch die Etymologie sowie die semantische Entwicklung dieses Adjektivs dargestellt. Die Ausführungen werden durch zahlreiche Belege aus den bis heute erhaltenen Schriftdenkmälern untermauert. Einführung 19 Ruxandra Cosma greift in ihrem Beitrag die Frage nach der Stellung der deutschen Sprache in der Welt im Kontext anderer Sprachen auf. Am Beispiel von deutsch-rumänischen Sprachkontakten verweist die Autorin auf deutsche Lehnelemente, die im rumänischen Lexikon anzutreffen sind. Cosma beschäftigt sich ebenfalls mit den ethnischen Stereotypen, die das Bild des deutschen Siedlers in Rumänien über Jahrhunderte hinweg geprägt haben. Eine historische Skizze beschreibt, welche Eigenschaften den Deutschen in Rumänien zugeschrieben werden und heutzutage ihren Niederschlag in zahlreichen rumänischen Phraseologismen mit deutschem Ethnonym finden. Xuefu Dou beschäftigt sich in seinem Text mit dem Sprachwandel, der am deutlichsten im Wortschatzwandel zum Ausdruck kommt. Der Autor definiert die Begriffe Archaismus und Neologismus, wobei er mehrere Untergruppen der beiden sprachlichen Phänomene unterscheidet. Ein besonderes Augenmerk lenkt Dou auf eine oft diskutierte Frage im Kontext der Neologismen: Sind sie der Beweis für Spracherneuerung oder doch für Sprachverfall? Die Wechselbeziehung von Archaismen und Neologismen stellt in gewissem Sinne zwei Seiten derselben Medaille dar. Die neuen Wörter gelten als Hoffnungsträger und sind zeitgemäß publikumswirksam. Das Veralten bzw. Aussterben der Archaismen erfolgt hingegen meistens unauffällig. Der Beitrag von Ulrike Haß, Eglė Kontutytė und Vaiva Žeimantienė gewährt uns einen Einblick in die Arbeit eines internationalen deutsch-litauisch-lettisch-estnischen Projekts, das von der EU in den Jahren 2011-2012 gefördert wurde und immer noch fortgesetzt wird. Das Projekt KoGloss untersucht einen Teil der Fachsprache der Wirtschaft, indem es in den jeweiligen Projektsprachen über die Wortebene hinausgeht. In diesem Zusammenhang werden frequente fachsprachliche Muster, die nicht nur Fachwörter und Phraseologismen betreffen, sondern auch Morphologisches und Syntaktisches berücksichtigen, mit korpuslinguistischen Methoden erfasst und in praktischen Glossaren präsentiert. Die Methode wurde an mehreren Universitäten der am Projekt beteiligten Länder erprobt und eignet sich auch zur Erstellung eines Glossars juristischer Terminologie. Die Überlegungen von Kuthan Kahramantürk kreisen um das zentrale Thema dieser Gruppe von Beiträgen, und zwar um das Phänomen Wort. Der Autor betrachtet den Stellenwert von Wort hermeneutisch in Bezug auf die christliche Mystik. Von der physikalischen Realisierung ausgehend beschäftigt sich Kahramantürk mit der energietragenden Funktion des Wortes im Zusammenhang mit der Wissenschaft bei der gleichzeitigen Berücksichtigung von religiösen und mystischen Aspekten des Christentums. Bezugnehmend auf die biblische Schöpfungsgeschichte zeigt der Autor in Anlehnung an Humboldt auf, welche gedanken- und spracherzeugende Kraft mit dem Wort zusammenhängt. Jarochna Dąbrowska-Burkhardt 20 Hartmut Schmidt formuliert in seinem Beitrag ein nachdrückliches Plädoyer für mehr Interesse an wortgeschichtlichen Informationen auch über die herrschende Gegenwartssprache. An zahlreichen Belegen aus verschiedenen Duden-Ausgaben, die auch aus der NS-Zeit stammen, veranschaulicht der Autor das spurlose Verschwinden mancher Lexeme und/ oder auch ihr späteres Auftauchen in Nachfolgeausgaben. Da jedoch diese Stichwörter oft unkommentiert und ohne sachliche Markierung veröffentlicht werden, wirbt Schmidt für worthistorische Hinweise, die Klarheit schaffen würden. Eine erstrebenswerte Entwicklung wäre an dieser Stelle die Verknüpfung von gedruckten Werken und digitalen Auskunftssystemen. John Simpson beschäftigt sich in seinem Text mit dem Einfluss des Deutschen auf das Englische. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die Lehn- und Fremdwörter aus dem Deutschen, die in einer historischen Skizze im Zeitraum von gut 400 Jahren, d.h. von 1600 bis 2000, dargestellt werden. Angeführt werden konkrete Beispiele aus der deutschen Gebersprache, die bestimmten zeitlichen Zäsuren der Kontakte von deutscher und englischer Sprachgemeinschaft zugeordnet werden können (z.B. die Hanse, das 19. Jh. etc.). Darüber hinaus werden Sachbereiche spezifiziert, in denen das Deutsche die englische Sprache in spürbarem Maße beeinflusst hat. Wie bereits der Beitrag von Doris al-Wadi nimmt der Text von Doris Steffens Bezug auf die Arbeit am Neologismenwörterbuch am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Die Autorin macht uns mit dem „Neologismen“-Projekt, das „Lexikalische Innovationen“ heißt, vertraut. Außer der Geschichte des Projekts wird der Neologismus-Begriff bestimmt, werden die Wege zur Ermittlung von Neologismen erläutert und die Erscheinungsformen des Wörterbuchs als Printversion und als Onlineauftritt im Wörterbuchportal OWID besprochen. Als einen besonders zukunftsträchtigen Forschungsschwerpunkt im Bereich der Neologismenforschung sieht Steffens zweisprachige Neologismenwörterbücher, die immer noch Seltenheitswert besitzen. In den tiefen der grammatik Die im Folgenden veröffentlichten Beiträge beschäftigen sich mit der Struktur der deutschen Sprache. Die Betrachtungen werden sowohl aus der inals auch aus der ausländischen Perspektive betrieben. Im Einzelnen handelt es sich um Phänomene aus dem Bereich der Grammatik, zu denen die Negation, untrennbare Verbpräfixe oder die Verbstellung nach obwohl gehören. Hardarik Blühdorn beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Phänomen der Negation im Deutschen. Der Autor analysiert die Negation im Kontext der Modalpartikeln und sucht nach Antworten auf die Frage, warum die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden können. Nach der Einführung in Einführung 21 das Phänomen der deutschen Negation vertieft sich Blühdorn in die Bereiche der Syntax, Semantik und Pragmatik. Motive für eine solche Entwicklung findet der Autor u.a. in den morphosyntaktischen Eigenschaften der Modalpartikeln oder in der Tatsache, dass sie in keinem Alternativverhältnis zueinander bzw. zu anderen Ausdrücken stehen. Der Beitrag von Martin Durrell und Alan Scott beschäftigt sich mit der Frage der Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe be-, ent-, er- und verin der deutschen Gegenwartssprache. Die Autoren betonen, dass der reelle Sprachgebrauch die beste Materialbasis für eine solche Untersuchung liefert, weil es sich um sprachliche Einheiten handelt, die noch nicht in den Wörterbüchern verzeichnet sind. Auf der Grundlage von Korpora, die aus journalistischen Texten bestehen und einen Umfang von 1,4 Millionen Wörtern haben, zeigen Durrell und Scott u.a. auf, welche der Wortbildungsmuster noch produktiv sind oder wie im heutigen Deutsch Entlehnung in der Wortbildung genutzt werden kann. Im Beitrag von Sandro M. Moraldo wird ein Einblick auf verschiedene Satzmuster mit der Verbend- und Verbzweitstellung nach obwohl gewährt. Analysiert werden Korrektivsätze, die primär ein gesprochensprachliches Phänomen darstellen. Der Autor erörtert anhand transkribierter Texte aus Alltagsgesprächen und Tweets sowie aus den Texten der IDS-Volltextdatenbank COSMAS II, dass beide obwohl-Satztypen eine eigenständige funktional-pragmatische Verwendungsweise besitzen. Der Vergleich von konzessiven und korrektiven obwohl-Konstruktionen legt eine Vielfalt an Funktionen und Rollen offen, die obwohl besitzt. Gleichermaßen kann die Untersuchung Aufschluss über derzeitige Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache geben. Der Beitrag von Bruno Strecker ist ähnlich wie der von Hardarik Blühdorn dem Phänomen der Negation gewidmet. Der Autor nimmt den Gebrauch bestimmter negierter Allquantoren unter die Lupe, die diskursanalytisch untersucht werden. Strecker zeigt auf, dass diese Art der Aussagen für Sprachnutzer sehr attraktiv ist, weil sie leicht zu verifizieren und schwer zu falsifizieren sind. In diesem Sinne sind sie besonders oft in politisch motivierten Diskursen über brisante Themen anzutreffen. Strecker bedient sich zahlreicher Belege aus dem hochaktuellen deutschen Diskurs über die Flüchtlingsproblematik, die seine Forschungsergebnisse stützen. Gisela Zifonun erwägt in ihrem Beitrag, ob das Sprachsystem über „Überflüssiges“ verfügt und wie angemessen in diesem Zusammenhang die immer wieder anzutreffende Metapher „Ballast“ ist. Die Autorin spricht explizit Fragen an, die im direkten Bezug zu diesem Thema stehen, wie z.B. die Beziehung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit oder das gegenwärtige deutsche Kasussystem mit dem oft beschworenen „Tod des Genitivs“. Zifonun fragt Jarochna Dąbrowska-Burkhardt 22 letztlich auch danach, ob in der deutschen Sprache eine solche ‘Ballast’-Entwicklung nur in eine Richtung voranschreitet, im Sinne vom ‘Ballastabwerfen’. Am Beispiel der „sprachlichen Gleichstellung“ der Frauen forscht sie nach, ob wir hier nicht mit dem `Ballast-Aufnehmen´ konfrontiert werden. Blicke auf den sprachgebrauch Die vierte Gruppe der Beiträge thematisiert den Sprachgebrauch, wobei die Sprache ihre Vielfältigkeit und Lebendigkeit je nach ihrer Entstehung in Zeit und Kultur offenbart. Dieter Herberg blickt auf die Forschung hinsichtlich des Ost-West-Deutschen zurück, die als Zeuge der Geschichte sowohl Deutschlands als auch des IDS relevant ist. Im Wende-Korpus wurden Schlüsselwörter in der historisch bedeutenden Wendezeit gesammelt und der Sprachgebrauch erforscht. Heute ist die Onlineversion zugänglich und bildet eine substanzielle Grundlage für weitere Untersuchungen. Auch in der Geschichte des IDS war die Wiedervereinigung Deutschlands ein einmaliges Ereignis: Damals, als unser Jubilar das IDS leitete, wurden über zwanzig Mitarbeiter der Berliner Akademie der Wissenschaften integriert. Manfred W. Hellmann schildert in seinem Beitrag die Bedeutung des IDS für die Erforschung der deutschen Sprache in der alten Bundesrepublik Deutschland und der DDR und skizziert Überlegungen zu einer sinnvollen Weiterführung von Studien in diesem Bereich. Der Autor erörtert relevante Aspekte des „sprachlichen Ost-West-Themas“, die bei einem so komplexen Unterfangen berücksichtigt werden müssen. Zu ihnen gehören nicht nur die Inhalte und Ziele eines solchen Wissenstransfers, sondern auch die Art und Weise, wie sie vermittelt werden, zu welchen Anlässen das Wissen besonders nachgefragt wird sowie die Person bzw. Personen, die sich einem solchen Projekt widmen. Mit Zeit und Sprache beschäftigen sich zwei weitere Aufsätze. Anders als im oben genannten Beitrag wird hier die Sprache jedoch nicht in einer historischen Ära betrachtet. Die beiden Aufsätze behandeln die Rezeption bzw. die Verbreitung von sprachlichen Formulierungen vielmehr im Verlauf der Zeit. Jacqueline Kubczak untersucht die Gebrauchsweise einiger Werbeslogans seit ihrer Entstehung und weist nach, dass es Werbeslogans gibt, die nicht nur als Zitat verwendet werden, sondern als Muster in die Allgemeinsprache eingegangen sind, wie zum Beispiel: Lebst du schon oder wohnst du noch? oder Hier werden Sie geholfen! Uta Itakura stellt nach ihrer Festpunktbeobachtung fest, dass soziale Veränderungen im Verlauf der Zeit die Weise der sprachlichen Verbreitung vom Heimatland in die ausländische Gemeinde beeinflussen. Einführung 23 Sprache und Kultur thematisieren die folgenden drei Beiträge im Bereich Diskurs und Übersetzung. Ichiro Marui behandelt vor allem die Argumentative im Diskurs. Deren unterschiedliche Einstellung im Deutschen und im Japanischen wird auf historischen und sozialen Hintergründen beruhend kontrastiv geklärt. Shigeru Yoshijima schlägt ein Modell für die interkulturelle Kommunikation vor. Bei der interkulturellen Kommunikation wird Toleranz gegenüber dem Gesprächsteilnehmer mit einem anderen kulturellen Hintergrund und Verständnis für die je nach Person unterschiedliche - beispielsweise sprachliche - Fähigkeit verlangt. Im Unterschied zu diesen zwei Beiträgen bezüglich des Diskurses behandelt Marisa Siguan das Lesen und Übersetzen. Sie diskutiert das Verhältnis zwischen der Wirkungskraft der Sprache und dem Leser sowie zwischen der Sprache und der Kultur im Hintergrund des Lesers. Rücksicht darauf ist beim Übersetzen wichtig, damit der Leser sich Inspiration aus Werken in seine Selbstkonstruktion einbauen kann. Die abschließenden Worte dieses Bandes formuliert Rainer Wimmer. Der Autor berichtet aus der praktischen, historischen Perspektive von Verdiensten Stickels als Institutsdirektor (1976-2002), in der er zeitweise zusammen mit Wimmer (1982-1994) das Institut leitete. In diese Zeit fällt u.a. der Umzug des Instituts für Deutsche Sprache in die Mannheimer Innenstadt. Wimmer würdigt Stickels Engagement nicht nur bezüglich des Umzugs in neue Arbeitsräume, sondern vor allem in Bezug auf die Übernahme von zweiundzwanzig Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern der früheren Akademie der Wissenschaften der DDR. Und noch zum Schluss: Diese Festschrift war ein spannendes Unterfangen! Die direkte Bereitschaft und das große Interesse, sich an diesem Band zu beteiligen, ließen uns entschlossen ans Werk gehen und wir können behaupten, dass es uns ein Vergnügen war, diesen Band zusammenzustellen! Wir freuen uns sehr, dass die Festschrift rechtzeitig zum 80. Geburtstag von Gerhard Stickel am 9. Mai 2017 erscheint. Möge er weiterhin in den nächsten Jahren die Muße finden, in der Sprachpolitik und in der Forschung kreativ zu arbeiten. Unser Dank gebührt natürlich auch den Mitarbeitern des Instituts für Deutsche Sprache, die von Anfang an unser Vorhaben unterstützt haben. LuDwig M. EichingEr was macht stIckel? „Nein“, sagt Gerhard Stickel. (Rhein-Zeitung, 11.8.2001) 1. zu wort kommen Wer sich mit Sprache beschäftigt, sie untersucht, ihren Gebrauch, ihre Veränderungen, für ihre Beziehung zu anderen Sprachen zuständig ist, sie beschreibt und einordnet, kommt ohnehin nicht daran vorbei, auch darüber zu sprechen. Zu manchem Amt, und das des Direktors des Instituts für Deutsche Sprache und des Präsidenten von EFNIL sind sicher von der Art, gehört das öffentliche Sprechen über Sprache einfach dazu, und es hilft in diesen Fällen sehr, wenn man als ein Inhaber solcher Ämter das auch mag. Man muss, was die Forscher gefunden haben, einordnen, seine Bedeutung aufweisen und zeigen, dass dieses Wissen zu etwas gut ist, erweitert und erhalten werden soll. Zu beiden Punkten, dass solche Ämter das Sprechen über Sprache erfordern, und dass es hilft, wenn man das auch gern tut, finden sich hinreichend Belege, wenn man in den Korpora des IDS danach schaut, wie sich hier die Tätigkeit Gerhard Stickels gespiegelt findet. Vielleicht etwas verkürzt, aber auf jeden Fall pointiert wird er so aus Anlass seines 75. Geburtstags im Mannheimer Morgen zitiert: Gerhard Stickel hat über sich gesagt, es sei ihm als Wissenschaftler nie vor allem darum gegangen, Neues zu entdecken. Er habe vielmehr immer etwas mitgestalten wollen, das Langzeitwirkung hat. Das gilt für die Sprache selbst so gut wie für ihre Erforschung. Der Linguist plädiert dafür, sie zu pflegen und sorgfältig mit ihr umzugehen, eine Verantwortung, die letztlich jeder Sprecher übernehmen kann - und sollte. (Mannheimer Morgen, 9.5.2012, S. 27) Plädieren geht auch nicht ohne Worte. So ist es vielleicht nicht überraschend, dass es vor allem Verben des Sagens, oder allgemeiner „Kommunikationsverben“ sind, die sich in den Sätzen finden, in denen der Name Gerhard Stickels in den Korpora des IDS auftaucht. Und es wäre nicht das IDS, hätte es nicht - noch unter Gerhard Stickels Direktorenzeit - gerade auch Studien zu den Kommunikationsverben angestellt, die ihren Niederschlag in zwei umfangreichen Bänden fanden. 1 1 Und auch jetzt gibt es am IDS Studien zur Redewiedergabe. Ludwig M. Eichinger 26 Das Wörterbuch der Kommunikationsverben nennt als neutralstes, voraussetzungslosestes und in fast beliebige Äußerungskontexte einbaubares Muster das Paradigma der „Allgemeinen verba dicendi“. 2 Und vor allem wenn es um indirekte und direkte Redewiedergabe geht, scheint wiederum das paradigmatischste das Verb sagen zu sein, was erklärlich ist, wenn man die geringe Beschränkung der Bedingungen betrachtet, die diesem Verb eigen sind. Die Situationen, auf die mit sagen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Sprecher S einem Hörer H gegenüber etwas Bestimmtes, P, zum Ausdruck bringt. Mit sagen kann auf alle möglichen Sprechakte Bezug genommen werden; welcher jeweils gemeint ist, ergibt sich aus dem Gehalt des Komplementsatzes. (www.owid.de/ artikel/ 298882) Immerhin vierundzwanzig Mal unter den etwa einhundertachtzig Belegen für Gerhard Stickels Tun, finden sich Sätze mit dem Verb sagen. Dabei bestätigt sich zunächst einmal, was der bereits zitierte Eintrag im Handbuch der Kommunikationsverben unter dem Eintrag sagen weiter dazu zu sagen hat: sagen wird häufig mit direkter Rede verwendet. (www.owid.de/ artikel/ 298882) So ist es; was sagt Gerhard Stickel - wenn er nicht gerade wie in dem Beispiel unseres Mottos „nein“ sagt - übrigens zu der Anfrage, ob es zum Schutz des Deutschen eines Sprachgesetzes bedürfe. Manchmal geht es natürlich um das IDS: „Am Anfang hatte es das IDS nicht leicht“, sagt Gerhard Stickel, der es seit zwanzig Jahren leitet. (Die Zeit, 8.11.1996) Und was er über die „kurze“ Kommunikation in den neuen Medien sagt, die Neigung zu einer griffigen Fassung dessen, was gesagt werden soll, ist natürlich auch eine Strategie bei medienorientierten Äußerungen: „Dinge werden auf den aphoristischen Punkt gebracht“, sagt der Linguist Gerhard Stickel, Direktor des Instituts der Deutschen Sprache in Mannheim. (Der Tagesspiegel, 13.8.2000) Gerne wird daher auch Stickel wörtlich mit Äußerungen zitiert, die das Gemeinte auch stilistisch auf den Punkt bringen. Zumindest als wörtliches Zitat verstehen kann man die Gesamteinschätzung der öffentlichkeitswirksamen Themen zur deutschen Sprache: Mit drei Themen, sagt Gerhard Stickel, könnte das IDS jederzeit jede Menge Wind machen: Rechtschreibung, Fremdwörter, Dialekte (sterben sie aus? ). Mit allen dreien befaßt es sich nur am Rande. (Die Zeit, 8.11.1996) 2 www.owid.de/ service/ komvb/ index#allg_verba_dicendi+1. Was macht Stickel? 27 Die von ihm gewählte Variante der festen Wendung „viel Wind um etwas machen“ 3 in ihrer umgangssprachlichen Anmutung signalisiert eine unterneutrale Stilebene, in der sich die Differenz zum neutralen Tun des IDS spiegelt. 4 […] unterneutral [ist] hingegen etwa auffälliger Gebrauch der Umgangssprache. (Ortner 2014, S. 279) Aber natürlich ist die mediale Öffentlichkeit kein linguistisches Seminar, so dass eine sprachliche Annäherung nicht von Schaden ist, um der wissenschaftlichen Sicht zu ihrem Raum zu verhelfen. Sprachpolitische und verschiedenartige sprachkritische Fragen wie die genannten, sind ein Thema, zu dem Gerhard Stickel etwas sagt. Auch wenn ihm das manchmal etwas weit geht: Das Institut erhält, wie sein Direktor Gerhard Stickel erzählt, eine Menge Post „von Leuten, die uns überschätzen”, die sich also vom IDS eine Art Sprachlenkung versprechen. (Süddeutsche Zeitung, 17.3.2000, S. 10) 2. zur sprache kommen 2.1 Fremdwörter Natürlich geht es oft einmal um Anglizismen und den Einfluss des Englischen. Es sind nicht so sehr die mehr oder minder häufigen neuen Wörter und Wendungen aus dem Englischen, die ihn irritieren: „Einige fremde Ausdrücke kommen und andere verschwinden wieder“, sagte Gerhard Stickel, der Direktor des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IdS). (Berliner Morgenpost, 21.6.1999) Diese Art von Veränderung hat die deutsche Sprache über die Jahrhunderte hin ohne Schaden mitgemacht und auch die Haltung dazu war immer einmal wieder unterschiedlich: „Das Verhältnis der Deutschen zu neuen und fremden Wörtern war über die Jahrhunderte oft ambivalent, von anhaltender Ablehnung bis zu unbekümmerter Übernahme“, sagte Institutsleiter Gerhard Stickel zur Eröffnung. (Salzburger Nachrichten, 15.3.2000) Und auf jeden Fall müsse man sich gründlich überlegen, was man hier tun kann, in einem Zitat, das, wie häufig, wenn das redeeinleitende Element eingeschoben ist, mittels eines referierenden so gerahmt wird: „Die Sprache“, so Gerhard Stickel vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache, „lässt sich nicht mit der Wurzelbürste reinigen. (Süddeutsche Zeitung, 8.2.2001) 3 „umgangssprachlich: viel Aufhebens von etwas machen; etwas sehr aufbauschen“ (www. duden.de/ rechtschreibung/ Wind). 4 Nach Sandig (2006, S. 294-306). Ludwig M. Eichinger 28 Die Bedeutung der Medien bei der Durchsetzung neuer Wörter werde in diesem Kontext eher überschätzt - und man sieht bei dem folgenden Beleg, dass sagen natürlich auch für indirekt Zitiertes verwendet wird. Dagegen stellten die Bereiche Werbung und Internet entgegen häufiger Warnungen keine Gefahr für die Alltagssprache dar, sagte Gerhard Stickel, Leiter des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache. (Allgemeine Zeitung, 18.3.2000) Anders als diese eher kleinteiligen sprachkritischen Fragen werden allerdings die Verhältnisse in den Bereichen betrachtet, in denen sich das Englische auf Kosten der anderen Volkssprachen breitmacht. Wenn hier zentrale Bereiche moderner Kommunikation betroffen sind, ist eine ausgewogene Mehrsprachigkeit gefährdet. Auch das sagt Stickel bildhaft: „Gerade in den Bereichen, wo es um die Wurst geht, wird fast nur noch Englisch gesprochen“, sagte gestern Gerhard Stickel, Leiter des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IdS). (Mannheimer Morgen, 17.3.2000) Dazu gehöre nicht zuletzt die Wirtschaft: Immer mehr junge Manager umgeben sich mit ‘dem sprachlichen Duft der großen, weiten Welt’, sagt Professor Gerhard Stickel vom Institut für deutsche Sprache, Mannheim. (Süddeutsche Zeitung, 5.11.1996) 5 Und das sagt er nicht nur, dieses modische Gehabe kritisiert er auch: Immer mehr Manager umgeben sich mit „dem sprachlichen Duft der großen, weiten Welt“, kritisiert Professor Gerhard Stickel vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim. (Rhein-Zeitung, 11.11.1996) Und tut damit genau das, was er gemäß dem entsprechenden Eintrag in elexiko tun muss: Häufig drücken Sprecher mit kritisieren aus, dass sie eine Person(engruppe) oder einen Sachverhalt als falsch oder unzulänglich bewerten. Und, vielleicht noch bedeutsamer für das Mitsprechen bei modernen Entwicklungen, in der Wissenschaftssprache deute sich ein Wechsel zum Englischen an. Das ist eine Erscheinung, zu der man nicht nur sagt oder meint, sondern betont und verdeutlicht: Institutsdirektor Gerhard Stickel betonte am Wochenende in Mannheim, es bestehe die Gefahr, dass Deutsch in Bereichen wie Wissenschaft und Wirtschaft nur noch selten verwendet werde. (Lausitzer Rundschau, 30.7.2001) 5 „Ende der 50er Jahre hatte der 1964 verstorbene Fritz Bühler entdeckt, daß im Zuge der wirtschaftlichen Integration Europas und des beginnenden Welt-Tourismus bei den Deutschen ein Hang zu internationalem Fluidum bestand. Folgerichtig fand er für die Reemtsma-Kreation den Slogan: »Der Duft der großen weiten Welt«“ (Der Spiegel, 31.5.1971; www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-43243141.html). Was macht Stickel? 29 Auch Professor Gerhard Stickel, Leiter des Instituts für deutsche Sprache, verdeutlichte, dass Gefahr nicht so sehr durch einzelne Anglizismen drohe, sondern vielmehr durch einen ausschließlichen Gebrauch des Englischen in Wissenschaft, Wirtschaft und internationaler Politik. (General-Anzeiger, 20.11.2000) Hier geht es bei betonen um ein Hervorheben der Bedeutung und bei verdeutlichen schon um die fachliche Kompetenz; wir sind, wie das Handbuch der Kommunikationsverben sagt, im „erklären-Paradigma“: Die Situationen, auf die mit dem Verb verdeutlichen Bezug genommen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Sprecher S einem Hörer H die wesentlichen Aspekte eines Sachverhalts/ Problems darlegt, um zu bewirken, dass H P in den wesentlichen Aspekten gut kennt. (www.owid.de/ artikel/ 298922? module =komvb&pos=7) Und nicht zum ersten und einzigen Mal: Auch der Direktor des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel, hat wiederholt die Zurückdrängung des Deutschen in den Wissenschaften kritisiert. (Mannheimer Morgen, 27.7.2001) Aber das breite sich auch weit über diese fach- und wissenschaftsbezogenen Bereiche hinaus aus: Europaweit sei „BSE“ - Bad Simple English (schlechtes einfaches Englisch) auf dem Vormarsch, sagt der Leiter des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel. (Lausitzer Rundschau, 5.1.2001) Nicht nur daran sieht man, dass das nicht nur ein Problem des Deutschen ist, vielmehr betrifft es die europäischen Sprachen insgesamt. Die daher gemeinsam vorgehen sollten: Die 15 Länder der Europäischen Union sollten größere Anstrengungen zur Pflege ihrer Sprachen unternehmen, sagte der Leiter des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel. (Darmstädter Echo, 5.1.2001) Nicht weit vom Sagen entfernt ist das Verb meinen - vielleicht etwas subjektiver auf den Äußernden bezogen. 6 Und so wird denn genau dieselbe dpa- Meldung in einem anderen Medienorgan so wiedergegeben: Die 15 Länder der Europäischen Union sollten daher größere Anstrengungen zur Pflege ihrer Sprachen unternehmen, meint der Leiter des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel. (Wiener Zeitung, 9.1.2001) 6 Das Valenzwörterbuch des IDS - e-VALBU - betrachtet diese Version von meinen (meinen 2) als synonym mit sagen; bei den Kommunikationsverben kommt es nicht vor (http: / / hypermedia. ids-mannheim.de/ evalbu/ index.html). Ludwig M. Eichinger 30 Vielleicht ist in gewisser Weise sagen die völlig unmarkierte Weise der Redewiedergabe, ein Indikator direkter Rede, während mit meinen in sanfter Weise signalisiert wird, dass man Gesprochenes referiere, eine Art Konjunktiv I der Rahmung. In den obigen Parallelzitaten lässt sich hier von der Form des Referierten her keine Aussage treffen, im folgenden Zitat wird die referierende Funktion in der zweiten Hälfte des Satzes auch formal durch den Konjunktiv klar gemacht: Auch die Deutschen sollten mehr Fremdsprachen lernen, meinte Gerhard Stickel, denn nur so sei die für eine echte europäische Integration notwendige Vielfalt der Sprachen und Kulturen zu erreichen - und dem Überhandnehmen des „BSE“ genannten schlechten, einfachen Englisch (bad simple english) entgegenzuwirken. (Mannheimer Morgen, 15.3.2002) Und das leicht Aktivere, das in dem Verb meinen steckt, fügt sich im Kontext des dominierenden Englischen hier schon zu einer Art indirekter Aufforderung. 2.2 Rechtschreibung Das gilt auch für andere Sachbereiche, so ein anderes Thema, das Gerhard Stickel lange Zeit Äußerungen abverlangt hat, nämlich Gestaltung, Einführung, Durchführung und Auswirkung der Rechtschreibreform. Da sie noch dazu 1996 Anfang August beschlossen worden war, konnte sich Stickel aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre schon im Sommer 2000 folgendermaßen äußern: Gerhard Stickel, Direktor des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, meint deshalb, es werde nun Zeit, sich um andere Stoffe zu kümmern, die das Sommerloch stopfen könnten. (Mannheimer Morgen, 29.7.2000) Wenn es darum geht, „eine […] Meinung von S [= dem Sprecher/ L.E.] zu einem bestehenden Sachverhalt oder einer von H [= dem Hörer/ L.E.] oder Dritten geäußerten Meinung zum Ausdruck“ (Harras et al. 2004, S. 31) zu bringen, ist sich äußern das richtige Verb - man beteiligt sich an einer Debatte. Diese Bedingung ist bei der Rechtschreibung zweifellos gegeben: Ähnlich äußerte sich der Leiter des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, Gerhard Stickel: Die Reform habe sich in den Schulen und im öffentlichen Dienst bewährt. (Nürnberger Nachrichten, 29.7.2000, S. 4) Dass es Diskussionen gab, bei denen diese Einschätzung nicht immer die dominante war, lässt sich anderen Belegen entnehmen, in denen die Art der Äußerung in diesem Kontext genauer qualifiziert wird. „Die Reform hat sich in den Schulen bewährt“, meldete sich Gerhard Stickel, Leiter des Instituts für deutsche Sprache, zaghaft zu Wort. (Berliner Kurier, 29.7.2000, S. 26) Was macht Stickel? 31 Wobei Zaghaftigkeit nicht der erste Eindruck ist, den man hat, wenn man die durchaus beherzten Stellungnahmen Gerhard Stickels zu diesem Thema sonst betrachtet, was immer er sagt: „Die 1996 beschlossenen und zum 1. August 1998 eingeführten Regeln beseitigten behutsam eine „Reihe von Ungereimtheiten“ der Rechtschreibnorm von 1902, die bei ihrer Einführung ebenfalls kritisiert worden sei“, sagte IDS-Direktor Gerhard Stickel. (Allgemeine Zeitung, 5.8.2000) Und als die FAZ der Reform nicht mehr folgen will, stellt er fest - ganz ohne Verb des Sagens: „Sie wird sich damit aber nur isolieren.“ Gerhard Stickel, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. (Der Tagesspiegel, 28.7.2000) Oder er wird an dieser Stelle von dem Autor des Textes in seinem Sprechen interpretiert, nämlich: Kritik habe er geübt: Kritik an dem Schritt der FAZ übte auch der Leiter des Instituts für deutsche Sprache, Gerhard Stickel: die Entscheidung mache die Verwirrung komplett und sei deshalb bedauerlich, mit einem Kippen der Reform rechne er nicht. (Die Presse, 29.7.2000) Manchmal äußert er sich zur Rechtschreibung auch lauter, und nicht ohne ein entsprechendes Echo auszulösen: 7 „Aber die Schreibung“, rief vor einigen Jahren Gerhard Stickel, damals Direktor des Instituts für deutsche Sprache, den Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu, „ist doch bloß das äußerlichste Gewand der Sprache! “ Heftige Entrüstung antwortete ihm. (Der Tagesspiegel, 18.8.2004) 2.3 Einschätzungen Die Dialekte hatte Gerhard Stickel als das dritte sprachwissenschaftliche Thema genannt, mit dem man das Interesse der Leute gewinnen könne. Auch wenn das IDS sich um den Erhalt einer großen übergreifenden Dialekterhebung aus den 1950er Jahren - das sogenannte Zwirner-Archiv 8 - gekümmert hat und kümmert, ist das für die Forschung des IDS tatsächlich kein zentra- 7 Zu Kontext und Verlauf des im folgenden Beleg angesprochenen Ereignisses siehe Gauger (2014). 8 Eine nach ihrem Initiator, Eberhard Zwirner, benannte Erhebung, die in regelmäßigem Abstand über den damals zugänglichen deutschen Sprachraum hin an einzelnen Orten zumeist drei Aufnahmen der örtlichen Mundart erheben ließ. Die Daten sind zugänglich über die DGD; siehe Archiv ZW Deutsche Mundarten: Zwirner-Korpus (http: / / agd.ids-mannheim. de/ korpus_index.shtml). Ludwig M. Eichinger 32 les Thema. 9 So gibt es dazu auch nicht so viel zu sagen. Und wenn, geht es eher darum, welche Meinung die Leute zu gewissen sprachlichen Erscheinungen haben, was sie darüber denken. 10 Das ist eine Erscheinung, die Gerhard Stickel ohnehin immer interessiert hat. So gibt es dazu immer wieder etwas zu sagen: […] zum Abschluß analysiert Dr. Gerhard Stickel das Ergebnis einer Zeitungsumfrage, die kürzlich vom IdS in Zusammenarbeit mit dem „Mannheimer Morgen“ und der „Rhein-Neckar-Zeitung“ veranstaltet wurde. (Mannheimer Morgen, 11.3.1986) 11 In dieser Umfrage stellt sich die Einstellung zum Dialekt, zur Mundart gemäßigt positiv dar, eher werden auch die Beschränkungen betont. 1997 stellen sich die Einstellungen zu den Dialekten schon freundlicher dar, die Akzeptanz regionalen Sprechens ist jedenfalls gestiegen, wie Gerhard Stickel schon im Umfeld der thematisch einschlägigen Jahrestagung von 1996 erklärt. 12 Er resümiert: „Dialekte sind wieder schick geworden“, sagt Gerhard Stickel, der Direktor des Institutes für deutsche Sprache in Mannheim. (Rhein-Zeitung, 2.5.1996) Auch wenn das noch nicht alle glauben können: Daß Dialekt wieder schick geworden ist, wie unlängst der Direktor des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim Gerhard Stickel, festgestellt hat, sprach sich noch nicht ganz herum. 13 (Rhein-Zeitung, 13.5.1996) Wie es damals aussieht, ist die erhöhte Wertschätzung regionaler Sprachformen auch eine Reaktion auf die Unübersichtlichkeit der Globalisierung. „Mit zunehmender Globalisierung der Kultur entsteht bei Menschen der Wunsch nach Heimat“, erklärt Gerhard Stickel, Direktor des Instituts für deutsche Sprache, den Erfolg der Mundart-Hefte. (Oberösterreichische Nachrichten, 21.8.1996) Das „Schick-Werden“ des Dialekts in Gesellschaften, die unter dem Einfluss der Globalisierung stehen, ist allerdings nicht einfach ein Wiederaufleben einer früheren Sprachwelt, sondern ein bei zentralen kulturellen Milieus gewähltes Element einer Identität im Rahmen einer im Prinzip am sprachli-  9 Traditionsgemäß kümmert sich der im letzten Jahrzehnt nun wieder sehr aktive Deutsche Sprachatlas in Marburg um dieses Thema. Im Jahr 1996 näherte sich die Jahrestagung diesem Thema an, vgl. Stickel (1997). 10 Zu den entsprechenden Umfrage-Aktivitäten vgl. Stickel (2013). 11 Siehe Stickel (1987, S. 304ff.). 12 Siehe Stickel/ Volz (1999, S. 27ff.). 13 Wohl ein Fall dessen, was Jost Trier (1968, S. 22) ein „Ästhetenpräteritum“ genannt hat. Was macht Stickel? 33 chen Standard orientierten Welt, die allerdings auf eigene Traditionen Bezug nimmt. 14 Man kann in solchen Veränderungen auch den Grund dafür sehen, dass letztlich bei der 2008 durchgeführten letzten Befragung sichtbar wird, dass insgesamt das Einverständnis mit sprachlicher Variation, auch regionaler, eine weithin geteilte Normalstimmung der Bevölkerung repräsentiert. 15 Gert Stickel war, wie wir an den verschiedenen Umfragen sehen, die bisher schon zitiert und öffentlich diskutiert wurden, immer daran interessiert, zu wissen, was die „normalen“ Leute über die deutsche Sprache denken, und häufiger haben die Antworten positiv überrascht, so bei der 2008er Umfrage, bei der über die Hälfte der Befragten auf die Frage, ob sie die deutsche Sprache liebten, mit ja antworteten (s.a. Gärtig/ Plewnia/ Rothe 2010). 16 Vielleicht für frustrierend mag man es da halten, wenn man sich die Antworten bei einer Untersuchung ansieht, bei der es um den Eindruck ging, die das Deutsche auf Nicht-Muttersprachler macht. Hier repräsentiert sich das Deutsche ganz traditionsgemäß als die raue Seite der europäischen Sprachlandschaft: Einer Anfrage von Institutsdirektor Gerhard Stickel zufolge gilt Deutsch in Frankreich als „eine Sprache, die gespuckt, gebellt wird“, in Italien als „unschön, hart, unmelodisch“, in Spanien als „trocken, kalt“, in Polen als „herrisch, laut, ja kläffend“, in Finnland als „hässlich, aggressiv“, in der Türkei als „schneidig, forsch und zackig, für echte Männer“ oder in Japan als „militärisch, stabil, eckig, langweilig“. (Frankfurter Rundschau, 26.3.2002, S. 20) Das sind nun wahrlich keine freundlichen Epitheta, so will man eigentlich nicht so gern gesehen werden, noch dazu, wo man sich so schon von vorneherein keine Freunde macht: Hart, grob, überheblich - der Klang der deutschen Sprache ist für die meisten Ausländer eine einzige Qual. Das ergab eine Umfrage von Gerhard Stickel, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, bei Sprachwissenschaftlern im Ausland. (Berliner Kurier, 17.3.2002, S. 24) Allerdings klingt das alles wie die Vorurteile, die wir schon seit dem 18. Jahrhundert kennen, 17 und man kann hoffen, dass die wieder zunehmende Zahl derer, die unsere Sprache lernen, zu einem freundlicheren und sicher auch 14 Siehe dazu Eichinger (2002, S. 177f.). 15 Siehe Plewnia/ Rothe (2012). 16 Eine für einen Linguisten zweifellos kühne Frage, die wir der Zusammenarbeit mit den Sozialpsycholog/ innen der Universität Mannheim verdanken. 17 Vgl. etwa die bekannte Stellungnahme Friedrichs des Großen „Il sera plus difficile d’adoucir les sons durs dont la plûpart des mots de notre langue abondent“ (Gutknecht/ Kerner (Hg.) 1969, S. 56). Bei Gutknecht/ Kerner ist auch die Diskussion im Umfeld dieser Äußerung dokumentiert. Ludwig M. Eichinger 34 realistischeren Bild führen wird. Denn bei unserer Umfrage in Deutschland waren es immerhin fast 90%, denen das Deutsche (sehr gut) gefällt. 18 2.4 Wörter und Unwörter Auch wenn sie nicht zu den drei Themen gehören, mit denen sich nach Gerhard Stickels oben zitierter Aussage das IDS populär machen könnte, sind doch Stellungnahmen zu den Wörtern und Unwörtern des Jahres Teil der Aufgabe des IDS-Direktors. Nicht ganz selten hat nicht nur er den Eindruck, dass entweder das Wort gar nicht recht geläufig sei, oder dass die Sache gemeint sei, und das gewählte Wort eigentlich gar nichts „dafürkönne“. So der folgende Kommentar- wohl zum Unwort des Jahres 2001, Gotteskrieger -, der auch zeigt, dass nicht nur er das so sieht: Meier und manch anderen Fachmann für Sprache überzeugte das nicht. Die jüngsten „Unwörter“ seien keine Sprachkritik, sondern eine Kritik am Sprachgebrauch. Der Direktor des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Gerhard Stickel, war der Auffassung, ein nützliches und unproblematisches Wort sei getadelt worden. (Lausitzer Rundschau, 23.1.2002) Hier wird die Sache allerdings relativ indirekt berichtend wiedergegeben: der Auffassung sein. Tatsächlich lässt sich der kritische Duktus offenbar auch direkter ausdrücken: Als „Gotteskrieger“ 2001 gerügt wurde, bemängelte der damalige Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Gerhard Stickel, die Entscheidung suggeriere, dass es böse und gute Wörter gebe. (Aachener Nachrichten, 24.1.2006) 3. Der Direktor 3.1 äußert sich vielfältig Damit mag es genug sein mit den Themen, zu denen Gert Stickel etwas sagt - und zu sagen hat. Es ist nicht verwunderlich, dass der öffentlich tätige IDS-Direktor und Alt-IDS-Direktor in der Presse hauptsächlich als eine irgendwie sprechende Person vorkommt. Was er da im Einzelnen tut, ist das Folgende: argwöhnen, artikulieren, (sich) auseinandersetzen, ausführen, ausgeben (eine Devise), (sich) äußern, befürchten, bekanntgeben, bemängeln, beschreiben, betonen, bezeichnen, charakterisieren, darlegen, deuten, diskutieren, einräumen, entgegentreten, ergänzen, erklären, erzählen, feststellen, fordern, 18 Siehe Eichinger (2009, S. 105f.). Was macht Stickel? 35 fragen, glauben, hinweisen, kritisieren, mahnen, meinen, plädieren, präzisieren, sagen, umreißen, unken, unterstreichen, verdeutlichen, warnen, wettern, zitieren Dominant ist, wenn wir uns an der wirkmächtigen Bühler’schen Trias orientieren, die auch dort schon titelgebende Darstellungsfunktion. Was sonst, wenn es um die Äußerungen des Fachmanns geht, und das wird dann auch von den berichtenden Journalisten so gefasst. Und so ist denn auch sagen das häufigste der Verben, die wir hier finden, gefolgt von noch indirekter andeutenden Konstruktionen, etwa mit so: „Vorhersagen über die Sprachentwicklung“, so Gerhard Stickel, „sind noch unzuverlässiger als solche übers Wetter“. (Mannheimer Morgen, 17.3.2000) Ansonsten wird beschrieben, 19 betont, festgestellt oder verdeutlicht, um nur einige der den seine Sache darstellenden Linguisten charakterisierenden Verben zu nennen. Der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel, betonte […], Ausdrücke wie „Broiler“ oder „Kaufhalle“ würden sich als ostdeutsche Besonderheiten vermutlich noch lange halten. (Leipziger Volkszeitung, 15.3.2000, S. 8) Bei einem Verb wie betonen - und anderen oben genannten - klingt daneben doch immer schon etwas an, was man Karl Bühlers Ausdrucksfunktion zuordnen könnte; Aspekte der Sprechhandlung, die von der Involviertheit des Sprechers zeugen, so wenn man argwöhnt, befürchtet, unkt 20 oder wettert: Falls sich der Trend zur „trivialkulturellen Vereinheitlichung“ fortsetze, unkt etwa Gerhard Stickel, Ex-Präsident des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, könne es sein, dass in zwei oder drei Generationen „Deutsch nur noch beim Skat“ gesprochen werde. (FOCUS, 14.3.2005) Das kann dem Sprecher Stickel auch noch expliziter zugeschrieben werden, so wenn es bei einer Stellungnahme zu der Frage, ob das Internet eine neue Sprachform hervorgebracht habe oder nicht, heißt: Gefragt, welche der widerstrebenden Thesen richtig sei, kehrt IDS-Direktor Gerhard Stickel den Kobold heraus und antwortet: „Beide.“ (Süddeutsche Zeitung, 27.3.1999) 19 Also mit elexiko: „eine Sprechhandlung [ausgeführt], bei der eine Person ausführlich (und oft in unterhaltsamer Form [! / L.E]). etwas schildert“. (elexiko s.v. beschreiben; www.owid.de/ artikel/ 272523/ schildern? module=elex_b). 20 Von dem es bei den Kommunikationsverben unter anderem heißt: „Der Sprecher, der unken verwendet, gibt damit auch zu verstehen, dass er die pessimistische Haltung des Bezugssituationssprechers für unangemessen hält.“ (elexiko; www.owid.de/ artikel/ 298911; vgl. auch Harras/ Proost/ Winkler 2007). Ludwig M. Eichinger 36 Auch wenn dem Sprachwissenschaftler generell das Beschreiben näher liegt, so gibt er doch auch Empfehlungen und Ratschläge, er fordert, 21 mahnt und warnt - die Appell-Funktion des Bühler’schen Modells. Der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Gerhard Stickel, forderte mehrfach, man müsse zunächst etwa bei Anglizismen unterscheiden, welche unverständlich seien, und welche man nur nicht möge […]. (Mannheimer Morgen, 17.3.2000) 3.2 und wird zum Thema Wer so viel zu sagen hat, von dem ist natürlich auch selbst die Rede. Und das nicht zuletzt natürlich, wenn sich ein Anlass bietet, des von dieser Person Geleisteten ehrend zu gedenken. Ein solcher Anlass sind - jedenfalls ab einem gewissen Lebensalter - die runden Geburtstage. 22 Und so finden sich denn in den Daten, in denen wir danach gesucht haben, „was Stickel macht“, auch regelmäßig ehrende Worte zu diesen Anlässen. 23 Aus Anlass des 75. Geburtstags wird festgestellt: Wem die deutsche Sprache eine Herzensangelegenheit ist und wer lange in exponierter Position mit ihr befasst war, der geht nicht schlicht in Ruhestand. Er arbeitet einfach weiter und engagiert sich für sie eben im Ehrenamt. Das gilt für Gerhard Stickel auch noch fast zehn Jahre, nachdem er die Leitung des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IDS) an seinen Nachfolger Ludwig Eichinger übergeben hat. Stickel ist noch immer Mitglied im Deutschen Sprachrat, der sich für eine Stärkung des Sprachbewusstseins im Inland und der Stellung des Deutschen im Ausland einsetzt und den Stickel mitinitiiert hat, und er vertritt noch immer „sein“ Institut in der europäischen Vereinigung nationaler Sprachinstitute (EFNIL) (Mannheimer Morgen, 9.5.2012). Und das stimmt zum 80. Geburtstag immer noch. 21 Was gemäß Harras et al. (2012) heißt: „jemand verlangt etwas mit Nachdruck von jemandem“, wozu bemerkt wird, dass dieses „etwas“ „häufig eine Handlung [ist], deren Ausführung für H [den Hörer/ L.E.] beschwerlich ist.“ (beide Zitate s.v. fordern in Harrras et al. 2012, www. owid.de/ artikel/ 298810). 22 Wenn man sich das in den Daten der Korpora des IDS ansieht, gehören ab dem 60. Geburtstag dazu auch die „halbrunden“, also die „5-er“. 23 Und weiteren: unter anderem der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes, des Eintritts in den Ruhestand nach 26 Jahren Dienst als Direktor des IDS. Was macht Stickel? 37 4. literatur Eichinger, Ludwig M. (2002): Alltagssprache zwischen regionaler Bindung und sozialer Wahl. In: Wiesinger, Peter (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bd. 3: Aufgaben einer zukünftigen Sprachgeschichtsforschung. (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte 55). Bern u.a., S. 173-179. Eichinger, Ludwig M. (2009): Auf die deutsche Sprache kann man sich verlassen, wenn man sich um sie kümmert. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 56, 1, S. 96-108. Gärtig, Anne-Kathrin/ Plewnia, Albrecht/ Rothe, Astrid (2010): Wie Menschen in Deutschland über Sprache denken. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativerhebung zu aktuellen Spracheinstellungen. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 40). Mannheim. Gauger, Hans-Martin (2014): Noch einmal: Rechtschreibreform. Vorläufiges Postscriptum. In: Forum Sprachkritik: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. www.deutscheakademie.de/ de/ aktivitaeten/ projekte/ sprachkritik/ 2014-10-20/ noch-einmal-rechtschreibreform-vorlaufiges-postscriptum (Stand: 20.10.2014). Gutknecht, Christoph/ Kerner, Peter (Hg.) (1969): Friedrich der Große. De la Litterature Allemande. Hamburg. Harras, Gisela/ Proost, Kristel/ Winkler, Edeltraud (2007): Handbuch deutscher Kommunikationsverben. Teil 2: Lexikalische Strukturen. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 10.2). Berlin u.a. Harras, Gisela/ Winkler, Edeltraud/ Erb, Sabine/ Proost, Kristel (2004): Handbuch deutscher Kommunikationsverben Teil 1: Wörterbuch. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 10.1). Berlin u.a. Harras, Gisela et al. (2012): Kommunikationsverben. Elektronische Version des Handbuchs deutscher Kommunikationsverben. Bearbeitung für die Online-Version von Kristel Proost. Mannheim. www.owid.de/ docs/ komvb/ start.jsp (Stand: 26.1.2017). Ortner, Heike (2014): Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse. (= Europäische Studien zur Textlinguistik 15). Tübingen. Plewnia, Albrecht/ Rothe, Astrid (2012): Sprache - Einstellungen - Regionalität. In: Eichinger, Ludwig M. et al. (Hg.): Sprache und Einstellungen. Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel. 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Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 2/ 99). Mannheim. Trier, Jost (1968): Unsicherheiten im heutigen Deutsch. In: Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik. (= Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1966/ 67). Düsseldorf, S. 11-27. kathrin stEyEr mannheIm, herBst 1990 - erInnerungen an Bewegte zeIten Vorbemerkung Gerhard Stickel hat auf vielfache Weise ein Stück meines wissenschaftlichen und persönlichen Weges begleitet: als IDS-Direktor in den Wendezeiten auf dem Weg von Berlin nach Mannheim, als „Adoptiv“-Doktorvater für meine Dissertation zu Reformulierungen, als er mir an der Universität Mannheim eine neue Heimat gab, als Förderer unserer ersten korpuslinguistischen Visionen bis zum Ende seines Wirkens am Institut. Die 39. IDS-Jahrestagung 2003, für deren federführende Organisation er mir das Vertrauen schenkte, trug den Titel „Den Nagel auf den Kopf treffen - Wortverbindungen mehr oder weniger fest“ (vgl. Steyer 2004). Diese Konferenz sollte zu einem kleinen Meilenstein werden - sowohl für den endgültigen Durchbruch des korpuslinguistischen Paradigmas in der Phraseologie und der deutschsprachigen Kollokationsforschung als auch für die stärkere Wahrnehmung von Wortverbindungsphänomenen und korpuslinguistischen Zugängen in der germanistischen Linguistik. Die gemeinsame Geschichte mit Gerhard Stickel begann im Jahr 1990 mit der Frage meines damaligen Doktorvaters Dieter Viehweger, zu dieser Zeit Direktor des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft (ZISW) an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ob ich mir vorstellen könnte, für ein Vierteljahr ans IDS nach Mannheim zu gehen. Natürlich konnte ich mir das. Das war eine einmalige Chance am Anfang meiner wissenschaftlichen Laufbahn, mitten in den Wirren des Umbruchs. Im Rahmen der „Gesamtdeutschen Korpusinitiative“ (vgl. Herberg/ Stickel 1992) sollte eine Gruppe von vier Wissenschaftlern, zu der neben mir auch noch Doris al-Wadi (wie ich bis heute am IDS tätig), Claudia Fraas und Ulrich Lindner gehörten, computertechnisch und korpuslinguistisch geschult werden. Später haben wir oft über diese ereignisreichen Monate berichtet. Aber manchmal ist ein alter Text - eingebettet in seinen historischen Kontext - noch authentischer als alles Erzählen über diese Zeiten. So kramte ich im Sprachreport-Archiv, erinnerte ich mich doch an meinen Artikel über unseren Aufenthalt im Herbst 1990 am IDS. Nach der Lektüre dieses Beitrags habe ich den Herausgebern der Festschrift vorgeschlagen, diesen Text unbearbeitet im Original abzudrucken und bin dankbar, dass sie diese Idee gern aufgegriffen haben. Ebenso gilt mein Dank dem Narr-Verlag, der dem Wiederabdruck des Textes in der Festschrift zugestimmt hat. Kathrin Steyer 40 Erschienen in: Sprachreport 2/ 1991, S. 15-16 FORTGEHEN, ANKOMMEN UND ZURÜCKKEHREN Elf Wochen im Institut für deutsche Sprache von Kathrin Steyer Die Vorgeschichte Sommer 1990. Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim und das Berliner Institut für Sprachwissenschaft hatten fast über Nacht ein gemeinsames Projekt beschlossen. Die Geschichte galoppierte in Richtung Vereinigung. Der offizielle DDR-Diskurs, der jahrzehntelang das Medienbild bestimmte, verschwand im Herbst 1989 mit seinen Protagonisten im Nichts. Die Menschen machten damals ihren eigenen Diskurs, der in der „alten DDR“ immer neben der offiziellen Sprache existierte, zum herrschenden. Neue Texte und Kommunikationsformen entstanden. Viele sind selbst schon wieder Geschichte. Es mußte schnellstens etwas getan werden, um die „Texte der Wende“ systematisch zu sammeln und zu dokumentieren. Nur so würde es später möglich sein, Sprachentwicklung und Sprachwandel vor, während und nach der Wende detaillierten linguistischen Analysen zu unterziehen. Ein gemeinsames deutsch-deutsches Korpusprojekt bot sich an. Im Mannheimer Institut existierten dazu bereits langjährige Erfahrungen beim Aufbau maschinenlesbarer Korpora zur geschriebenen und gesprochenen Sprache. Das Bundesministerium für Forschung und Technologie hatte finanzielle Mittel für dieses gesamtdeutsche Vorhaben bereitgestellt, unter anderem für eine moderne SIEMENS-Mehrplatzcomputeranlage, die am Berliner Institut aufgestellt werden sollte. Ich gehörte zu den vier wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des DDR-Instituts, die in diesem Kontext für ein knappes Vierteljahr zu einem Datenverarbeitungskurs nach Mannheim fahren konnten. Danach - so die Vorstellung der Projektvordenker - sollten wir in der Lage sein, komplementär zum Mannheimer Korpusteil (mit bundesdeutschen Texten zur Wende) unsere Dokumentation mit DDR-Wendetexten auf Computerbasis aufzubauen, zu strukturieren und recherchierbar zu machen. „Hilfe zur Selbsthilfe“ nannten es die Verantwortlichen. Alles klang einleuchtend, vielversprechend, logisch. Trotzdem begann für mich im Herbst in doppelter Hinsicht eine Reise ins Ungewisse. Schließlich hatte ich bisher nur sehr oberflächlich Mannheim, Herbst 1990 - Erinnerungen an bewegte Zeiten 41 mit Computern zu tun gehabt. Den Süden Deutschlands kannte ich überhaupt noch nicht, ebensowenig das Alltagsleben im „ehemaligen Bundesgebiet“. Der Aufenthalt Mannheim. Letzter Septembertag 1990. Nun geht es also los. Ich stehe vor dem äußerlich eher bescheiden wirkenden IDS-Gebäude und bewundere den Friedrichsplatz mit seinen eindrucksvollen Jugendstilfassaden gleich neben dem Institut. Abenteuer Fremde? Ich vermag es nicht zu sagen. Die Stadt an Neckar und Rhein empfängt mich mit Sonnenschein und Freundlichkeit. Dieser Blick auf die Fontäne und den mächtigen Wasserturm … alles scheint machbar. Elf Wochen Computerintensivausbildung im Rahmen der „Gesamtdeutschen Korpusinitiative“ liegen vor mir. Das Kursprogramm ist mir schon fast vertraut: „UNIX“, „HIT“ und „Datenbanktechnik“, „C-Programmierung“, „Datensicherheit“ und „Datenkommunikation“. Aber noch erscheinen mir diese Begriffe wie eine neue, schwer faßbare Welt. Sie haben für mich eher etwas Mystisches, und weil ich mir wenig darunter vorstellen kann, schrecken sie mich nicht. Der Sprung ins kalte Wasser. Die Zeiten sind eben so. Augen auf und durch, denke ich. Wenn ich nach Berlin zurückkehre, wird es den Staat, aus dem ich losfuhr, nicht mehr geben. Ich werde Menschen, Mentalitäten und Landschaften erlebt haben, anders und doch vertraut. Ich werde vor allem von der Faszination der Computerwelt angesteckt sein und etwas vom Widerstreit verschiedener Computersysteme begriffen haben. Ich werde mich daran gewöhnt haben, ganz selbstverständlich von UNIX-Philosophie zu reden. Ich werde nun auch immer mehr der Magie jenes Augenblicks erlegen sein, in dem die „Maschine“ wirklich das ausführt, was man sich erdacht hat. Bevor es mit der Arbeit ernst wird, gleich die erste positive Erfahrung. Zum Tag der Vereinigung, dem 3. Oktober, werden wir vom IDS zu einem Ausflug in die Pfalz und - fast symbolhaft - ins Elsaß eingeladen. Kein Empfang, keine Rede, dafür der Kaiserdom zu Speyer, Weißenburg und die zauberhaften Winzerdörfer im Herbst. Wir sind begeistert. Distanz entsteht erst gar nicht. Ich bin zum ersten Mal angekommen. Der Kurs, gemeinsam organisiert von der Abteilung Linguistische Datenverarbeitung des IDS und dem Bildungswerk der Deutschen Angestelltengewerkschaft, beginnt mit der Vermittlung von Grundlagen Kathrin Steyer 42 zum UNIX-Betriebssystem, elementares Wissen für die spätere Arbeit. Mit uns vier „Hauptpersonen“ sitzen auch IDS-Datenverarbeiter auf der Schulbank. Dies wird die ganze Zeit so bleiben und macht vieles leichter beim Aufeinanderzugehen von Deutschen und Deutschen, von Linguisten und Computerfachleuten. Die Schulung hat eine gewisse eigene Atmosphäre, zu ungewöhnlich sind wohl die Umstände. Unsere zahlreichen Dozenten bemerken dies zumeist, irgendwie und irgendwann, manchmal erleichtert die Krawatte ablegend, zumindest aber interessiert. Wir haben in all den Wochen kaum eine Atempause. Manchmal fühle ich mich in meiner Aufnahmefähigkeit arg strapaziert, aber die Kondition reicht. An geschichtliche Entwicklung in Riesenschritten haben wir uns mittlerweile gewöhnt, warum also nicht in konzentrierter Form das lernen, wofür sich Lehrende und Lernende normalerweise länger Zeit nehmen können. In Berlin dann werden wir erfreut erleben, daß wir in den langen langen Computerstunden die Hürde des „Ausgeliefertseins“ an die Technik wirklich übersprungen haben. Während der Mannheimer Zeit begeben wir uns auch auf einen gewaltigen Kommunikationsmarathon, in den Unterrichtspausen, bei gemeinsamen Unternehmungen und abendlichen Runden und den überaus gastfreundlichen IDS-Kollegen: Neugier, Fragen, Diskussion. Wir haben so unterschiedliche Biographien und Erfahrungen. Es mutet fast paradox an: Immer wieder geht es um dieses Land, das gerade aufgehört hat zu existieren. Und immer häufiger wünschten wir uns, diese ganze Vereinigung möge so aufrecht und partnerschaftlich, mit solch gegenseitigem Interesse und solch gegenseitiger Achtung vor sich gehen. Mögen die einen verstehen, daß die anderen ebensoviel, nur anders gearbeitet, ebenso intensiv gedacht und gelebt haben, mögen die anderen ihre Zivilcourage und ihr Selbstwertgefühl wiederfinden, um sich auch einfach einmal freuen zu können über das nun größere Stück Leben. Der Ausblick Das Jahr 1991 beginnt. In die Hauptstadt zurückgekehrt, hat es einige Zeit gebraucht, bis ich wirklich angekommen bin. Zu weit weg ist die Kurpfalz, zu unterschiedlich sind noch die Lebensumstände. Das Wortgespenst Abwicklung, das mir nun auf Schritt und Tritt begegnet, muß ich mir zum Beispiel erst erklären lassen … Meine Kollegen und Kolleginnen in Berlin haben in der Zwischenzeit eifrig gesammelt und unter oft komplizierten Bedingungen Texte verschiedenster Herkunft gerettet, rechtzeitig, sonst wären viele von ihnen Mannheim, Herbst 1990 - Erinnerungen an bewegte Zeiten 43 der Vergessenheit anheimgefallen. Die Computeranlage steht. Bis zum Sommer wollen wir ein sinnvoll strukturiertes maschinenlesbares „Wendekorpus“ aufgebaut haben. Hinsichtlich der linguistischen Auswertung ist noch vieles im Fluß. Wir empfinden dies als Chance, die Diskussion beginnt … Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft in Berlin. nachbemerkung Nur einige Monate nach Erscheinen dieses Artikels war das Ende der Akademie der Wissenschaften besiegelt. Das Ziel, auf der Basis einer vergleichbaren Korpus-Infrastruktur in Berlin gemeinsame linguistische Forschungsvorhaben durchzuführen (zuerst natürlich in Bezug auf das Wendekorpus), war obsolet geworden. Das Leben schrieb diese Geschichte in anderer Weise fort: 1992 siedelten wir als neue IDS-Mitarbeiter endgültig nach Mannheim über und fanden eine neue Heimat. Über die schwierige Entscheidungsfindung zur Zukunft des Berliner Instituts, die komplizierten Verhandlungen, das Engagement der beiden IDS-Direktoren Gerhard Stickel und Rainer Wimmer in dieser Sache und den Prozess der Übernahme von 22 wissenschaftlichen ZISW-Mitarbeitern an das IDS berichten Siegfried Grosse in einem höchst aufschlussreichen und empfehlenswerten Artikel (vgl. Grosse 2007) sowie Gerhard Stickel selbst (vgl. Stickel 2014) und Rainer Wimmer in einem Interview mit Ludwig M. Eichinger (Eichinger 2014). Aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen: Die IDS- Kollegen nahmen uns im neuen Gebäude in R 5 mit offenen Armen auf. Das Institut wurde durch die neuen Mitarbeiter aus Berlin aber auch größer, linguistisch vielfältiger, bunter. Eine vorbildhafte, weil gleichberechtige Integration also. Dies ist unbestritten eine der Lebensleistungen von Gerhard Stickel. literatur Eichinger, Ludwig M. (2014): Interview mit Rainer Wimmer. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.), S. 144-148. Grosse, Siegfried (2007): Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprach-Perspektiven. Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache. (= Studien zur Deutschen Sprache 40). Tübingen, S.43-59. Herberg, Dieter/ Stickel, Gerhard (1992): Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache 20, S. 185-192. Kathrin Steyer 44 Institut für Deutsche Sprache (Hg.) (2014): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Red.: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim. Steyer, Kathrin (Hg.) (2004): Wortverbindungen - mehr oder weniger fest. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2003). Berlin/ New York. Stickel, Gerhard (2014): Schlechte und bessere Zeiten für das IDS. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.), S. 122-143. Das Deutsche In Der welt uLrich aMMon zum VerhältnIs Von Deutsch zu englIsch, mIt BlIck In DIe zukunft - unter BesonDerer BerücksIchtIgung Der europäIschen unIon 1. Vorbemerkung Der im vorliegenden Band Gewürdigte hat verschiedentlich ähnliche Überlegungen angestellt, wie ich sie hier versuche, und sie als „unvorgreifliche Erwägungen“ oder sogar nur „Spekulationen“ charakterisiert (Stickel 2009, 2012). Er hat seine Vorsicht unter anderem damit begründet, dass „es keine belastbaren linguistischen Theorien und Methoden gibt, die Prognosen zur weiteren Entwicklung einer Sprache absichern können“ (Stickel 2009, S. 382). Vielleicht würde er mir aber für das Folgende zugestehen, dass es sich bei den in die Zukunft gerichteten Aussagen doch immerhin eher um Prognosen handelt als um bloße „Prophezeiungen“ (prophecies), im Sinne der Gegenüberstellung von Karl Popper (1963) - wobei ich dessen „predictions“ hier mit „Prognosen“ übersetze. Als einen der Gründe für diesen höheren wissenschaftlichen Anspruch möchte ich - zur Entkräftung von Gerhard Stickels Bedenken - geltend machen, dass meine folgenden Überlegungen weit über rein „linguistische Theorien und Methoden“ hinausgehen. Sie beziehen sich auch weniger als seine auf innersprachliche Fragen und mehr auf sprachensoziologische und -politische. Allerdings entziehen sie sich auch damit nicht Poppers pauschalem Urteil, die mit „human society and human history“ befassten Wissenschaften seien generell unfähig zu Prognosen - im Gegensatz zu manchen (wenn auch nicht allen) Naturwissenschaften. Poppers entscheidende Begründung dafür lautet, dass eine menschliche Gesellschaft, jede letztlich, „is not an isolated system (in fact it’s not a system at all), it is constantly changing, and it continually undergoes rapid, non-repetitive development“ (Popper 1963, S. 340). „The fact that we predict eclipses [Mond- oder Sonnenfinsternisse! U.A.] does not, therefore, provide a valid reason for expecting that we can predict revolutions“ (ebd.). Allerdings dachte Popper seinerzeit wohl noch nicht an die Urknall-Theorie des Universums, wonach auch seine Paradebeispiele für absolut zuverlässige Prognosen zweifelhaft werden. Abgesehen davon räume ich für das Folgende jedoch gerne Abstriche ein vom Grad der von Popper für Prognosen offenbar vorausgesetzten Zuverlässigkeit und Exaktheit. Sie entsprechen auch verbreiteten Auffassungen, dass sich die Weiterentwicklung der Technik zuverlässi- Ulrich Ammon 48 ger voraussagen lässt als die der menschlichen Sozialbeziehungen, angesichts unkalkulierbarer „Anarchie und Ignoranz, die das Gefüge unserer Gesellschaft zerstören könnten“ (Kaku 2016, S. 33). Bei einer solchen Abschwächung der Ansprüche im Sinne derartiger Vorbehalte erscheint es mir aber dennoch treffender, die folgenden Überlegungen, soweit sie zukunftsgerichtet sind, eher den Prognosen zuzuordnen als den bloßen Prophezeiungen, denen man ja dann - bei ihrer typischen Stütze durch „göttliche Offenbarung“ - jegliche theoretische oder faktische, also wissenschaftliche Grundlage absprechen darf. Freilich verliert mit der genannten Abschwächung die Opposition zwischen den Begriffen ‘Prognose’ und ‘Prophezeiung’ ihre strenge Disjunktheit und wird in Richtung eines abgestuften oder kontinuierlichen Übergangs aufgelockert. Jedoch widerspricht dies keineswegs gängigem wissenschaftlichen Procedere. Damit nun aber genug an allgemeinen methodischen Vorüberlegungen! Im Übrigen geht es mir im Folgenden weniger um die Auseinandersetzung mit bisherigen Publikationen zum Thema, auch nicht denen des mit diesem Band Geehrten, die - bei einem nicht zu engen Verständnis - in großer Zahl vorliegen, als um die Skizzierung meiner eigenen Einschätzungen. 2. Deutsch in der Diplomatie und in der europäischen union (eu): aufwind durch den Brexit? Es ist inzwischen weit über die Fachwelt hinaus bekannt, dass Deutsch einst, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Weltsprache der Wissenschaft war, ungefähr gleichrangig mit Englisch und Französisch (Ammon 2015, S. 519-623). In anderen Handlungsfeldern hat Deutsch nie eine so starke Stellung gehabt. Heute ist nun aber Englisch in allen Handlungsfeldern (Wirtschaft, Wissenschaft usw.) die absolut dominante Welt-Lingua-franca (ebd., passim). Speziell in der internationalen Diplomatie und Politik hatte Deutsch sogar nie eine prominente Stellung (ebd., S. 699-832). So wurde es auch schon nach dem Ersten Weltkrieg keine Amtssprache des Völkerbundes - nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls nicht der Vereinten Nationen, trotz deren beträchtlicher Zahl, nämlich außer Englisch noch Französisch, Russisch, Spanisch, Chinesisch und sogar Arabisch, wobei diese Reihenfolge ungefähr der Rangordnung nach der Funktion in den Institutionen der heutigen Weltorganisation entspricht. Englisch ist eben auch hier einsame Spitze (ebd., S. 717-729). Die starke Stellung von Englisch und - wenngleich in schwächerem Maße - Französisch in den Vereinten Nationen stützt auch deren Stellung in den Institutionen der Europäischen Union. Für Deutsch ist es nicht einmal gelungen, die eigentlich juristisch verbürgte Stellung als Arbeitssprache der EU-Kommission nachhaltig mit Leben zu erfüllen (ebd., S. 737-743, 748-750). Auf Drängen des damaligen Kanzlers Helmut Kohl auf eine stärkere Stellung der deutschen Sprache in den EU-Institu- Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft 49 tionen erklärte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors Deutsch 1993 zur Arbeitssprache der EU-Kommission. Seine Verordnung lautete: „Soweit Dokumente für den internen Gebrauch der Kommission vorgelegt werden, werden sie in den Arbeitssprachen Deutsch, Englisch und Französisch verfasst“ (EG-Nachrichten 34, 6.9.1993, S. 4). Die Stellung von Deutsch als Arbeitssprache ist auch noch eingeschrieben in die heutige Geschäftsordnung der Kommission. Allerdings enthält sie keinerlei Vorschriften zum mündlichen Gebrauch von Deutsch. Daher ist Delors’ Verordnung im Grunde schon Genüge getan, wenn die auf Englisch oder Französisch erarbeiteten Dokumente anschließend vom Übersetzungsdienst ins Deutsche übertragen werden. Allem Anschein nach wurde diese Möglichkeit der Vernachlässigung von Deutsch, einschließlich ihrer Folgen, auf deutscher Seite lange Zeit nicht in voller Schärfe gesehen. Sie zeigt sich aber u.a. bei der Personalanstellung, wo auf Deutschkenntnisse kaum Wert gelegt wird. Die Folge ist, dass nur rund ein Drittel der Kommissionsbediensteten Deutsch können, aber so gut wie alle Englisch und die meisten auch Französisch. Bei den Kommissaren selber waren die Sprachkenntnisse z.B. im Jahr 2011 so verteilt: von den damals 27 Kommissaren konnten (einschließlich ihrer Muttersprache) 25 Englisch, 23 Französisch, aber nur 14 Deutsch. Inzwischen erhält der Deutsche Bundestag rund ein Viertel der beratungsrelevanten Schriftstücke von der EU auf Englisch (Kruse 2013; Kruse/ Ammon 2013) - im Widerspruch zur „Verordnung Nr. 1 des Rates zur Sprachenfrage von 1958“, die nach wie vor gilt und deren Artikel 3 für die Institutionen der EU vorschreibt: „Schriftstücke, die ein Organ der Gemeinschaft an einen Mitgliedstaat oder an eine der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaates unterstehende Person richtet, sind in der Sprache dieses Staates abzufassen.“ Bis heute findet Deutsch - eine deklarierte Arbeitssprache der Kommission! - auch so gut wie keine Verwendung bei den Kommissions-Pressekonferenzen, nicht einmal auf Schriftbändern. Der Verein deutsche Sprache (VDS) hat mit Hilfe seines EU-Beauftragten, Dietrich Voslamber, wiederholt die Beschriftung auch auf Deutsch angemahnt und neuerdings verlangt, dass die Kommission wenigstens die genauen Gründe für die Verweigerung nennt (Schweizerhof 2016). 3. Die globale sprachenkonstellation und ihr zusammenhang mit der stellung in der eu von sprachen wie Deutsch und von englisch, trotz Brexit Die in allen Handlungsfeldern überragende Stellung des Englischen als Welt-Lingua-franca ist in zahlreichen Publikationen belegt und begründet. Dass in dieser Funktion Englisch in absehbarer Zeit von einer anderen Sprache abgelöst werden könnte, ist mit guten Gründen widerlegt worden. Dass vor allem Deutsch keine globale Gleichrangigkeit mehr mit Englisch erreicht, Ulrich Ammon 50 darf getrost als Prognose und nicht nur Prophetie gewertet werden. Als mögliche zukünftige Konkurrenten von Englisch wurden vor allem Chinesisch und Spanisch erwogen. Jedoch wurde dabei ignoriert, dass inzwischen in deren Mutterländern, wie rund um den Erdball, Englisch fast allenthalben obligatorische Schul-Fremdsprache ist, nicht aber umgekehrt Chinesisch oder Spanisch. Außerdem blieb in den Folgen unterschätzt, dass in fundamentalen Domänen wie der Wissenschaft sich die ganze Welt auf Englisch als erstrangige Sprache, zumindest für die internationale Kommunikation, festgelegt hat. Die heutige Stellung der Sprachen in der Welt wurde begrifflich konzipiert und terminologisch spezifiziert in der „globalen Sprachenkonstellation“ (Ammon 2015, S. 63-74). Der Pionier dieser Sicht ist Abram de Swaan (z.B. 2001, S. 2 bzw. 4), der sie auch im Zusammenhang mit anderen globalen Konstellationen sieht, welche die Globalisierung der heutigen Welt konstituieren - wie in der: - Politik (der Zusammenschluss von fast 200 Staaten in den Vereinten Nationen), - Wirtschaft (die weltweiten Märkte, mit u.a. dem Internationalen Währungsfonds), - Kultur (der globale Markt, verbunden durch elektronische Medien), - Ökologie (das weltweite Zusammenspiel der Menschheit mit der Natur, mit Organisationen wie Greenpeace). Verglichen mit diesen Konstellationen sei die globale Sprachenkonstellation bisher wenig beachtet und wissenschaftlich vernachlässigt worden (ebd., S. 1). Oft werde der weltweite Zusammenhang zwischen den Sprachen sogar überhaupt nicht gesehen, der insbesondere darin besteht, dass alle „[m]utually unintelligible languages are connected by multilingual speakers“. Allerdings besteht der Zusammenhang eigentlich, entsprechend meiner vorausgehenden Andeutungen, direkter zwischen den Sprachgemeinschaften als zwischen den Sprachen. Er zeigt sich u.a. in der Asymmetrie zwischen den Sprachgemeinschaften im Fremdsprachenlernen und in der Sprachwahl zur Kommunikation. Zur Veranschaulichung greift de Swaan zu der für Modellbildungen beliebten Astronomie. Gemäß dem vorherrschenden Bau von Galaxien unterscheidet er vier Sprachtypen, die ich hier - seine Reihenfolge umkehrend - in aufsteigender Rangordnung wiedergebe (astronomische Entsprechungen und zugehörige Sprachtypen jeweils in Klammern): 4) „periphere Sprachen“ (Monde - Minderheitensprachen ohne staatlichen amtlichen Status), 3) „zentrale Sprachen“ (Planeten - staatliche Amtssprachen, soweit nicht unter 2 oder 1 fallend), Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft 51 2) „superzentrale Sprachen“ (Sonnen - die weltweit als Fremdsprachen gelernten Sprachen), 1) die - einzige - „hyperzentrale Sprache“ („so to speak at the centre […], the hub of the linguistic galaxy“; ebd., S. 6). Diese nach der Stellung herausragende Sprache, Englisch natürlich, entspricht dem galaktischen Zentrum - womit das Modell freilich ominöse Züge annimmt. Ist das typische Zentrum einer Galaxie doch ein Schwarzes Loch, mit seiner bekannten Absorptionskraft. Jedoch vermeidet de Swaan sowohl diese Spezifizierung wie erst recht die Suggestion des analogen Verhältnisses von Englisch zu anderen Sprachen. Von besonderem Interesse ist bei unserem Thema die Platzierung der deutschen Sprache. Sie liegt in der Gruppe 2, die ich lieber - anders als de Swaan - „internationale Sprachen“ (statt „superzentrale Sprachen“) nenne (genauere Definition in Ammon 2015, S. 18-33). Von großer Bedeutung ist nun, dass - anders als Englisch in Gruppe 1 - Deutsch in seiner Gruppe, 2, keineswegs alleine ist, sondern zusammen mit einer Reihe weiterer Sprachen. Zwar ist deren genaue Abgrenzung von der nachfolgenden Gruppe 3 problematisch, jedoch dürfen aus guten Gründen vor allem noch die folgenden Sprachen hinzugezählt werden (in alphabetischer Reihenfolge): Chinesisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch (n = 8, einschließlich Deutsch). Das wohl valideste Zugehörigkeitskriterium ist ihr ziemlich weltweites Erlerntwerden als Fremdsprache. Dieses Kriterium markiert den vielleicht deutlichsten Unterschied gegenüber den Sprachen der Gruppe 3, zu denen durchaus auch beachtliche nationale Amtssprachen gehören, wie Finnisch, Litauisch, Mongolisch usw. Bei allen Zweifeln, die sich auch zu Interessenkonflikten auswachsen können, lassen sich damit Grenzfälle wie Niederländisch, Polnisch oder Schwedisch eher der Gruppe 3 als der Gruppe 2 zuordnen - wobei an die allgemeine Schwierigkeiten der Zerlegung von Kontinua erinnert sei (z.B. bei Menschen: erwachsen - nicht erwachsen, neuerdings auch männlich - weiblich usw.), die jedoch für bestimmte Zwecke unvermeidlich sein kann. Während die Trennung zwischen Gruppe 2 und 3 nicht ganz einfach ist, besteht an der Kluft zwischen Gruppe 1 (Englisch) und Gruppe 2 kein Zweifel. Sie zeigt sich sogar innerhalb der EU, obwohl dort die Proportionen für Englisch ziemlich ungünstig und für manche Sprachen der Gruppe 2 ausgesprochen günstig sind. Tabelle 1 zeigt die Relationen in Grundzügen, auf der Grundlage neuerer repräsentativer Befragungen (Näheres dazu ebd., S. 771). Danach sind - oder waren zu den Befragungszeiten - nur 13% der EU-Bürger/ innen Muttersprachler des Englischen, und dennoch können 51% es sprechen, die meisten als Fremdsprache - über dreimal so viele wie jede andere der vier anderen, gleichfalls internationalen Sprachen. Deren Ulrich Ammon 52 Internationalität wird allerdings immerhin daran deutlich, dass alle weiteren Amtssprachen der EU über so gut wie keine Fremdsprachsprecher verfügen (Gesamtzahl der EU-Amtssprachen: 20 um 2005, 23 um 2012, 24 seit 2013). Englisch hat auch Vorrang in den EU-Institutionen, auch vor den beiden anderen deklarierten Arbeitssprachen der EU-Kommission, Französisch und Deutsch. Englisch 2005 / 2012 Deutsch 2005 / 2012 Französisch 2005 / 2012 Italienisch 2005 / 2012 Spanisch 2005 / 2012 Muttersprache 13% / 13% 18% / 16% 12% / 12% 13% / 13% 9% / 8% Fremdsprache 38% / 38% 14% / 11% 14% / 12% 3% / 3% 6% / 7% Zusammen 51% / 51% 32% / 27% 26% / 24% 16% / 16% 15% / 15% tab. 1: Prozent Eu-bürger/ innen mit betreffender Muttersprache und deren kenntnis als Fremdsprache (Quellen: Eurobarometer spezial 243 (2005), s. 8, 13; Eurobarometer spezial 386 (2012), s. 12, 22) Der Brexit, die Entscheidung der britischen Wähler für den Austritt ihres Landes aus der EU, weckte bei Gegnern des Vorrangs der englischen Sprache Hoffnungen, dass Englisch „vom Thron gestoßen“ werden könnte. Sie meldeten sich vor allem in Frankreich zu Wort, aber hie und da ansatzweise auch in Deutschland. Jedoch gab es, soweit ich sehe, nur von französischer Seite Aufrufe, die Gelegenheit zu nutzen, um die Dominanz der englischen Sprache in der EU zu brechen. Sie ergingen auch an sprachenpolitisch Engagierte, nicht nur ausgesprochene Englischgegner, in Deutschland (siehe zum Zusammenhang deutscher und europäischer Sprachinteressen Stickel 2007). Einer der Adressaten war der Verein Deutsche Sprache, der sich aber - soviel ich weiß - zurückhielt, und auch ich persönlich (ich bin kein Vereinsmitglied) bekam mehrere Aufforderungen, ohne sie zu beantworten. Die Brexit-Volksabstimmung fand statt am 23. Juni, und das Ergebnis wurde früh nächsten tags bekanntgegeben. Sogleich erhielt ich, schon am 24., darauf bezogene E-Mails, denen weitere folgten. Die erste kam von Albert Salon, einem langjährigen Streiter für das Französische, der aber auch das Bündnis mit Deutschsprachigen und die deutsche Sprache zu stützen suchte, und nun aufrief zur Unterschrift des: „Objet [Betreffs! ]: proposition du COURRIEL pour une déclaration commune contre le tout-anglais en cas de Brexit.“ Die Mail enthielt diverse Appelle gegen den Vorrang der englischen Sprache - auch der angelsächsischen, vor allem amerikanischen Kultur - in der EU. Darunter den folgenschweren Hinweis von Anna Campogrande, einer in den EU-Institutionen berühmten Gegnerin der Englisch-Dominanz: „Si le Royaume-Uni sort de Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft 53 l’UE […] l’anglais n’aurait plus aucun statut pour rester langue de l’UE.“ Der Hinweis unterstrich - zu Recht - die in der EU etablierte Gepflogenheit, dass nur solche Sprachen als EU-Amtssprache infrage kommen, für die ein Mitgliedstaat diesen Status mit guten Gründen beantragt. Für Englisch war dies soweit nur ein einziges Land: Großbritannien - da andere mögliche Länder wie Irland und Malta den EU-Amtssprache-Status nur für die eigene Nationalsprache, Irisch bzw. Maltesisch, beantragt hatten. Eine zweite Rundmail von Salon am 26. Juni enthielt unter anderem einen ausführlichen kämpferischen Aufruf von Georges Gastaud, einem marxistisch-leninistischen Philosophen und führenden Mitglied der Parti communiste français (PCF), der die englische Sprache als Medium des US-Kapitalismus sah und diesen durch deren Zurückstufung schwächen wollte. Jedoch scheinen diese und andere Initiativen weitgehend im Sande verlaufen zu sein. Von den EU-Institutionen verlautete jedenfalls meines Wissens nichts in Richtung Zurückstufung von Englisch als Arbeitssprache und nicht einmal als EU-Amtssprache infolge des Brexits. Vor allem die funktionale Zurückstufung als Arbeitssprache erscheint im Lichte vielfacher Lagebeschreibungen wenig aussichtsreich (siehe z.B. Ammon 2006; 2015, S. 730-805; Van Els 2007; Wright 2009, 2013). Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass bislang Konsequenzen dieser Art ernsthaft erwogen wurden, seitens der EU-Regierung oder einzelner Mitgliedstaaten - trotz vereinzelter Hinweise in die Richtung, wie z.B. im folgenden Artikel vom 29.6.2016: (1) Tatsächlich ist es so, dass Englisch nach dem Brexit seinen Status als Amtssprache in der EU verliert. Denn nur Großbritannien hatte Englisch als Amtssprache geltend gemacht. Die beiden anderen englischsprachigen Länder, Irland und Malta, hatten sich bei der EU mit ihrem Regionalsprachen angemeldet: Irland mit Gälisch und Malta mit Maltesisch. Jedes Land hat das Recht, eine Amtssprache einzureichen. Die Schlussfolgerung heißt dementsprechend: Wenn Großbritannien raus ist, ist auch Englisch nach derzeitigem Recht nicht mehr Amtssprache. (www.n-tv.de/ politik/ Kippt-die-EU-Englisch-als-Amtssprachearticle18071881.html; dankenswerte Zusendung von Jan Kruse) Für Deutschland hat der renommierte Streiter für Mehrsprachigkeit und gegen die Vorrangstellung von Englisch, Jürgen Trabant 2016, die - vermutlich auch sonst verbreitete - Einschätzung publiziert, dass Englisch auch in Zukunft die vorherrschende Lingua franca der Bevölkerung und Arbeitssprache der EU-Institutionen bleibt. Er hat dem aber hinzugefügt, dass dies - aufgrund fehlender Muttersprachler - schlechteres Englisch als bisher sein werde (Trabant 2016). An diese Einschätzung möchte ich nun noch eine abschließende Bemerkung zum Verhältnis der Deutschen zu Englisch als Welt-Linguafranca und zu dessen Zweischneidigkeit, eben auch Vorteilhaftigkeit, für die deutsche Sprachgemeinschaft anschließen. Ulrich Ammon 54 4. abschließende Bemerkung zu den einstellungen zum englischen als welt lingua franca in Deutschland sowie zu den Vor - und nachteilen seiner weltstellung für die deutsche sprachgemeinschaft Unter Sprachwissenschaftlern und Sprachinteressierten ist die versteckte oder auch offene Ablehnung der Weltstellung des Englischen weit verbreitet. Besonders ist dies der Fall in Frankreich und Deutschland, vor allem unter Sprachlehrern. Etwas simplifiziert erklärt sich diese Haltung aus der Frustration über den Stellungsverlust der eigenen Sprache. Typisch ist die Abwertung der Qualität des als Lingua franca gebrauchten Englischs, allein schon durch pejorative Bezeichnungen, wie „BSE (Bad Simple English)“ oder „Globalesisch“, eine Lieblingsbezeichnung des schon erwähnten deutschen Romanisten Jürgen Trabant (z.B. 2016). Die implizite Abwertung haben alle 10 von mir befragten Kolleg/ innen bestätigt, wie es auch öffentliche Äußerungen tun, wie z.B. die folgende: „Der Berliner Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant nennt es [das Lingua-franca-Englisch! U.A.] verächtlich ‘Globalesisch’“ (Die Zeit, 17.12.2012, Nr. 51, S. 14). Im auffälligen Gegensatz dazu wird fremdsprachliches Deutsch oder Französisch, das ebenfalls oft von der muttersprachlichen Norm abweicht, nicht herabsetzend benannt - allenfalls, oft fremdenfeindlich motiviert, das als Zweitsprache fungierende „Migrantendeutsch“. Vermutlich würde auch Deutsch als Welt-Lingua-franca von Deutschsprachigen selber nicht herabgewürdigt, ebenso wenig entsprechendes Französisch von Französischsprachigen. Ich habe in verschiedenen Aufsätzen die Benennung der Welt-Lingua-franca als „Globalish“ vorgeschlagen - im Hinblick auf die Möglichkeit, dass es sich in ferner Zukunft - unter dem Einfluss zahlreicher Sprachgemeinschaften - vielleicht zu einer eigenständigen Sprache entwickelt, womöglich zu einer plurizentrischen Sprache, in der die englischen Muttersprachler keinen normgebenden Vorrang mehr hätten. „Globalish“ wäre die Benennung in der Sprache selber, auf Deutsch hieße sie „Globalisch“. Diese Sprache könnte durch Entlehnungen aus vielen anderen Sprachen und eventuell die Einrichtung einer globalen Norm-Institution, vielleicht bei den Vereinten Nationen, strukturelle Selbstständigkeit (Autonomie) gewinnen und schließlich die einst für das Esperanto ersehnte Funktion erhalten (dazu z.B. Ammon 2003, S. 33f.). Durch den Namen „Globalish“ käme die Autonomie deutlicher zum Ausdruck als bei der Benennung „International English“ (dazu z.B. Jenkins 2007; Seidlhofer 2011 und in weiteren Publikationen). Außerdem wäre die abwertende Konnotation von „Globalesisch“ vermieden, wie auch die Assoziation mit Primitivität der ebenfalls vorgeschlagenen Benennung „Globish“, das im Rückblick auf das vereinfach- Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft 55 te „Basic English“ konzipiert wurde (McCrum 2010). Allerdings bedarf es kaum des Hinweises, dass die angedeutete Entwicklung derzeit Utopie bzw. - im Sinne einer Voraussage - eher Prophezeiung als Prognose ist. Jedoch finde ich die weitere Befassung mit dem Gedanken nach wie vor lohnend (Anregungen dazu in verschiedener Richtung auch in Stickel 2009, 2012). Dass die - nicht mehr mögliche - entsprechende Weltstellung des Deutschen anstelle des Englischen für die deutsche Sprachgemeinschaft riesige Vorteile hätte, braucht hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Diese lassen sich im Umkehrschluss aus den vielfach beschriebenen Vorteilen der Weltstellung des Englischen für die angelsächsische Sprachgemeinschaft erschließen (zahlreiche Hinweise, auch auf einschlägige Publikationen, z.B. in Van Parijs 2011; Seidlhofer 2011). Einer der Vorteile der Stellung des Englischen als Welt-Lingua-franca, der auch der deutschen Sprachgemeinschaft zugutekommt, wurde gelegentlich eingestanden, nämlich dass deutschsprachige Wissenschaftler/ innen darüber auch ihre eigene „Forschung international bekannt machen“ können (Hoberg 2012, S. 24). Nicht weniger wichtig ist aber die damit mögliche weltweite Kommunikation mit Fachkolleg/ innen - und erst recht der Zugang zu überreichen Informationsquellen. Dabei bedenke man nur, dass in manchen Fächern, vor allem in den theoretischen Naturwissenschaften, inzwischen nicht nur über 100mal mehr wissenschaftliche Publikationen auf Englisch als auf Deutsch vorliegen, sondern dass auch viele der von Deutschsprachigen verfassten Publikationen nur noch auf Englisch zugänglich sind. Dagegen helfen auch nicht die ständigen Ermahnungen, vor allem seitens deutscher Sprachwissenschaftler, die deutschsprachigen Wissenschaftler/ innen sollten doch alle ihre Erkenntnisse „auch in Deutsch veröffentlichen“ (ebd.). Freilich wäre der Zugang für Deutschsprachige dann leichter, aber nicht mehr für den Rest der Welt, und übersteigen durchgehende Übersetzungen offenbar die vorhandenen Kapazitäten. Auch die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten vieler anderer Deutschsprachiger, außer Wissenschaftler/ innen, sind durch die Welt-Lingua-franca verbessert. Außerdem hat Englisch für Deutschsprachige den zusätzlichen Vorteil, dass es für sie wegen der sprachlichen Ähnlichkeit mit dem Deutschen ziemlich leicht erlernbar ist, jedenfalls bis zu einem kommunikativ funktionalen, wenn auch nicht grammatisch und idiomatisch einwandfreien Niveau. Das sähe ganz anders aus, wenn z.B. Chinesisch die Welt-Linguafranca wäre. Von manchen Sprachschulen im Ausland und sogar von Goethe- Instituten wird für das Deutschlernen geworben, weil es wegen seiner Ähnlichkeit mit Englisch leichter zu lernen sei als andere Sprachen. „Deutsch nach Englisch! “ ist z.B. dafür ein Werbespruch. Ulrich Ammon 56 Sogar der viel beklagte mangelnde Ausbau der deutschen Sprache infolge der Dominanz des Englischen ist nicht nur nachteilig für die deutsche Sprachgemeinschaft. Die Entlehnungen aus der Englischen sind ja durchaus auch Bereicherungen, wenngleich sie von Sprachpflegern oft abgelehnt werden. Wichtig ist nur, dass sie akzeptiert und gelernt werden - von den Personen, die sie einführen, und von denen, die sie dann gebrauchen. Heutzutage werden nun einmal Neuerungen, vor allem wissenschaftliche, oft zunächst auf Englisch benannt, weil sie entstanden sind in englischsprachigen Ländern oder in Ländern, für die Englisch die akzeptierte Welt-Lingua-franca ist. Diese Ausdrücke (Termini) werden dann häufig ziemlich unverändert auch von Deutschsprachigen gebraucht - und mit der Zeit in der deutschen Sprachgemeinschaft gängig, ohne ins Deutsche übersetzt zu werden. Immerhin können damit die Neuerungen benannt werden. Auf diese Weise wird somit die deutsche Sprache „ausgebaut“ und bleibt ausdrucksstark auf modernem Niveau (dazu mehr in Ammon 2015, S. 670-682). Dieser Vorteil ist vielleicht wichtiger als die unzweifelhaften Nachteile der Anglizismen, wie Schreib- und Ausspracheunregelmäßigkeiten oder Schwierigkeiten beim Durchschauen der Motiviertheit des Ausdrucks - die übrigens bei einst aus dem Französischen entlehnten Ausdrücken ebenfalls bis heute fortbestehen. Die volle Übersetzung der aus dem Englischen kommenden „Internationalismen“, wie sie auch genannt werden, ins Deutsche trüge dagegen zur sprachlichen Isolierung der deutschen Sprachgemeinschaft bei, indem sie den Zugang zu deutschsprachigen Texten für Ausländer und das Englischlernen für Deutsche erschweren würde. Allerdings ist mir der abschließende Hinweis wichtig, dass die Akzeptanz von Englisch, auch für die internationale Kommunikation, zu weit gehen kann. Sie wird dann nachteilig für die deutsche Sprachgemeinschaft, wenn sie die Stellung der deutschen Sprache in der Welt untergräbt (siehe dazu auch Wagener 2012). Sie sollte keinesfalls so weit gehen, dass Deutsch seine Stellung in der Gruppe 2 der globalen Sprachenkonstellation einbüßt, also die Zugehörigkeit zu den internationalen Sprachen verliert (dazu Abschnitt 3 oben; auch Lüdi 2013). Wie groß der Schaden wäre, lässt sich erahnen, wenn man an die dadurch mögliche Einbuße von Lernern des Deutschen als Fremdsprache denkt - heute immerhin weltweit noch über 15 Mio. -, die für die deutschsprachigen Länder zur Pflege ihrer internationalen Beziehungen sehr wertvoll sind. Daher seien abschließend noch einige in meinen Augen wichtige Desiderata genannt, um der weiteren Stellungseinbuße von Deutsch in der Welt entgegen zu wirken (hilfreiche Hinweise auch in Lüdi 2013). - Die vielleicht heikelste Aufgabe besteht darin, bei internationalen Kontakten die Stellung der beteiligten Sprachen in der globalen Sprachenkonstellation zu berücksichtigen und dies auch allen Beteiligten zuzumuten. Zum Verhältnis von Deutsch zu Englisch, mit Blick in die Zukunft 57 Dieses Prinzip wurde gröblich missachtet vom früheren EU-Kommissar Leonard Orban, der die Gleichrangigkeit aller EU-Amtssprachen propagierte und zum vermehrten Fremdsprachenlernen gerade der „kleinen Sprachen“ aufforderte (womit er sich auch den Vorwurf gezielter Förderung der eigenen Sprache, Rumänisch, zuzog) (dazu Ammon 2015, S. 752- 757). Ich vermute, dass dieses Denken in Ansätzen fortbesteht z.B. in der EFNIL (European Federation of National Instituts of Language) und dazu beigetragen hat, dass sie auf ihrer Konferenz 2015 in Helsinki außer Englisch nur Finnisch und Schwedisch zu Arbeitssprachen machte. Der Konferenzband enthielt dementsprechend nur englischsprachige Beiträge, außer kurzen Vorwörtern auch auf Finnisch und Schwedisch (Nuolijärvi/ Stickel 2016 - siehe dagegen den vorausgehenden mehrsprachigen Band Stickel/ Robustelli 2015). Bei der Orientierung an der globalen Sprachenkonstellation wären dagegen außer Englisch noch Französisch und Deutsch, vielleicht auch Spanisch und Italienisch als Arbeitssprachen in Betracht gekommen, erstere beide auch wegen ihrer stärkeren Stellung in der EU - jedoch keine skandinavische Sprache. Die Anerkennung der internationalen Stellung von Sprachen der Gruppe 2 durch Muttersprachler der Gruppen 3 oder auch 4 ist bisweilen heikel und konfliktträchtig. Jedoch läuft die Nicht-Anerkennung letztlich hinaus auf das Ende der oft so emphatisch beschworenen Mehrsprachigkeit zugunsten einer Diglossie Englisch + X (X = jegliche Sprache außer Englisch), jedenfalls hinsichtlich tatsächlicher Kommunikation und nicht bloßer Symbolik. - Die weiteren Ansätze zur Wahrung der internationalen Stellung der deutschen Sprache, die mir wichtig erscheinen, seien nur noch stichwortartig erwähnt, da sie zuvor schon zur Sprache kamen - wobei die Liste keineswegs erschöpfend ist (siehe auch Hoberg 2012, S. 24f.; Ammon 2015, S. 512- 518, 693-698, 824-832, 1063-1068): - Die Wahl von Deutsch in persönlichen internationalen Kontakten, wenn die Partner Deutsch beherrschen und diese Sprachwahl akzeptieren, die freilich auch im Einklang stehen muss mit Höflichkeitsregeln. Besonders wichtig ist die Wahl von Deutsch gegenüber Lehrenden und Lernern von Deutsch als Fremdsprache. - Die Wahl von Deutsch in öffentlichen Reden von deutschsprachigen Politikern, Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern, wenn die Zuhörer Deutsch können oder Dolmetschung möglich ist und die Wahl von Deutsch akzeptiert wird - wofür sich eine vorherige Anfrage empfiehlt. - Nachhaltiger Versuch, Deutsch als Arbeitssprache der EU-Institutionen, vor allem in der Kommission, mit Leben zu erfüllen, einschließlich des Gebrauchs bei Pressekonferenzen. Ulrich Ammon 58 - Kein Verzicht auf gute Deutschkenntnisse (mindestens B2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens) bei einem Vollstudium in einem deutschsprachigen Land, und auch in englischsprachigen Studiengängen zumindest einige obligatorische deutschsprachige Veranstaltungen - sowie Ermutigung zum Deutschlernen bei Kurzzeitstudien. - Weiterhin Publizieren und Lehren auf Deutsch in den Angewandten, den Sozial- und den Geisteswissenschaften, vor allem in den Nischenfächern des Deutschen (Ammon 2015, S. 563-623). - Einführung einer Quote deutschsprachiger Vokalmusik in allen Sendern des öffentlichen Rundfunks (ebd., S. 937f.). - Weiterhin gute Ausstattung der Förderinstitutionen von Deutsch in der Welt, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz (ebd., S. 1100-1146). 5. literatur Ammon, Ulrich (2003): Global English and the nonnative speaker. Overcoming disadvantage. In: Tonkin, Humphrey/ Reagan, Timothy (Hg.): Language in the 21 st Century. Amsterdam/ Philadelphia, S. 23-34. Ammon, Ulrich (2006): Language conflicts in the European Union. On finding a politically acceptable and practicable solution for EU Institutions that satisfies diverging interests. In: International Journal of Applied Linguistics 16, 39, S. 319-338. Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin/ München/ Boston. de Swaan, Abram (2001): Words of the world. The global language system. Cambridge. Hoberg, Rudolf (2012): Was wird aus Deutsch angesichts der Dominanz von Englisch? In: Der Sprachdienst 56, 1, S. 19-25. Jenkins, Jennifer (2007): English as a lingua franca: attitude and identity. New York. Kaku, Michio (2016): Die Physik der Zukunft. Unser Leben in 100 Jahren. 7. Aufl. Reinbek bei Hamburg. [Englische Originalausgabe 2011.] Kruse, Jan (2013): „I do not understand the EU-Vorlage“. 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VeränDerungen Von BeIspIelen In Deutschen grammatIken nach Der wenDe 1. einführung Der Beitrag präsentiert einige Tendenzen inhaltlicher Veränderungen von Beispielen in ausgewählten Nachschlagewerken und Übungssammlungen zur Grammatik der deutschen Sprache, die, erstmals in der DDR erschienen, nach dem Verfall der sozialistischen Staatsformen und Ideologie in den Jahren 1989-1990 im vereinigten Deutschland wiederaufgelegt worden sind. Zur deutschen Sprache vor und nach der Wende ist in den letzten zwei Jahrzehnten eine reiche Fachdokumentation publiziert worden, die von kontrastiven Glossen und Aufsätzen ausgehend über wissenschaftliche Monografien bis hin zu Lexika und enzyklopädischen Kompendien reicht. 1 Nun, ist eine Diskussion über die im Titel genannte Problematik angesichts des Reichtums von bisherigen Diskussionsbeiträgen aus der Perspektive des Jahres 2016 - über 25 Jahre nach der Wende! - immer noch sinnvoll? Eine positive Antwort auf diese Frage kann durch die Fokussierung des Beitrags darauf gerechtfertigt werden, wie Handbücher durch manipulativen Gebrauch von Beispielen für Propaganda-Zwecke missbraucht werden. 2 Zur Analyse wurden Beispiele in „Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht“ von Gerhard Helbig und Joachim Buscha (Ausgaben 1984; 1993), und von denselben Autoren „Deutsche Übungsgrammatik“ (1976) und „Übungsgrammatik Deutsch“ (1992) gewählt. Die Wahl der Leipziger Grammatik und deren Übungsbuchs ist nicht zufällig. Das Handbuch und sein Pendant galten über Jahrzehnte hinweg als Standardwerke bei der grammatischen Germanistenausbildung in den - wie es damals noch hieß - „sozialistischen Bruderländern“. Sie erwarben dort unter 1 Allein bei Hellmann (1999) (nach zehn Jahren seit der „Wende“! ) werden 696 Veröffentlichungen zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland, 48 Wörterbücher, Nachschlagewerke, Dokumentationen und Chroniken und 74 Beiträge zur Literatur aus Nachbargebieten aufgelistet; insgesamt 818 (ohne - wie der Autor schreibt - Ansprüche auf Vollständigkeit (ebd., S. 7). 2 Zu dieser Problematik vgl. die (in Deutschland zu Unrecht schwach rezipierte, bei der Lektüre erschütternde) Monografie von Jarmuła (2009). Lesław Cirko 62 Germanisten die Popularität, von der z.B. die Verfasser der Dudengrammatik oder anderer westdeutscher Grammatiken allenfalls hätten träumen können. 3 Aber auch heute genießen sie den verdienten Ruf, didaktisch nützliche Nachschlagewerke für Auslandsgermanisten im vereinten Europa zu sein: Sie vermitteln nicht nur ein solides theoretisch-grammatisches Gerüst zur Strukturerkenntnis des Deutschen, sondern bieten einige hundert Übungen zur Festigung der erkannten Strukturen. Aurea praxis, sterilis theoria! Das Beispiel selbst ist eine interessante Inhaltsvermittlungsform. In erster Linie geht es um Wortarten, um Flexion, Wortbildung, syntaktische Strukturen, um Relationen und Funktionen von grammatikrelevanten Elementen. Es kommt auf das vorgegebene Muster an, das es qua Beispiel zu vermitteln und zu festigen gilt (vgl. Heringer 2013, S. 93). Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist es prinzipiell ohne Bedeutung, welche Inhalte im Muster ausgedrückt werden (vgl. Cirko 2001). Zurück zu den noch zu charakterisierenden Nachschlagewerken! Während das grammatische Regelwerk gegen ideologische Einflüsse immun war, boten die Beispiele den Autoren einen großen Spielraum, das Prinzip der Parteilichkeit ostentativ zu manifestieren. Sie vermittelten ein damals propagandistisch gewünschtes Weltbild, das im Zuge einer internationalistischen Bekehrung von Andersdenkenden in die weite Welt exportiert werden sollte. 4 In diesem Beitrag wird gezeigt, wie die in den Beispielen fixierten Elemente dieses Bildes abbröckelten und wie die entstandenen Lücken in den neueren Ausgaben zugeflickt wurden. Dass der Leser dabei schmunzelt, etwa dann, wenn er beispielsweise erfährt, dass anstelle des Beispielsatzes Kritik und Selbstkritik ist ein bewährtes Prinzip der kommunistischen Parteien. nun der Satz Der Volksmund sagt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. steht, ist ein intendierter Nebeneffekt. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden ideologiegeladene Beispielssätze in den DDR-Ausgaben der genannten Nachschlagewerke und Übungssammlungen. Mit ideologiegeladenen Beispielen sind in erster Linie Sätze, daneben auch wesentlich seltener autonom vorkommende Nominalphrasen gemeint, deren Inhalt auf die sozialistischen Nomenklaturen, Wirtschaftsformen und Werteskalen unmissverständlich affirmativ verweist oder an- 3 Um das Bild jedoch nicht zu verfälschen: Die Dudengrammatik und andere westliche Grammatiken waren im ehemaligen Ostblock auf dem Büchermarkt schwer zugänglich und, gemessen an den finanziellen Möglichkeiten eines damaligen Durchschnittsgermanistikstudenten in allen Ländern ohne frei konvertierbare Währungen, vor allem teuer, für die meisten fast unerschwinglich. 4 Zur Nachhaltigkeit des DDR-Bildes in der didaktischen Fachliteratur siehe Földes (2001). Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 63 spielt oder ihre kapitalistischen Entsprechungen mehr oder weniger direkt kritisiert. Das Korpus wurde durch eine systematische, synchrone Lektüre der sich entsprechenden Bücher gewonnen (Gerhard Helbig und Joachim Buscha 1984 ↔-1993 und Gerhard Helbig und Joachim Buscha 1976 ↔ 1992). Bei der Sichtung der in den jeweils älteren Ausgaben stehenden Beispiele konnte man mit beinahe hundertprozentiger Treffsicherheit sagen, welche von ihnen in den jeweils neueren Ausgaben zu ersetzen waren. Ein verlässliches Kriterium ist dabei die Retrospektion des Autors, der das Neusprech in den damaligen Zeiten miterlebt hat und so seine Mäander aus eigener Erfahrung kennt. 5 Die infrage kommenden Beispiele wurden in einer Datenbank gesammelt, nach inhaltlichen Kriterien (siehe Kap. 2) getaggt und sortiert, danach auf Zweifelsfälle hin geprüft und in Form einer endgültigen Liste gespeichert. Im Zentrum stehen ausschließlich Beispiele, die sich in der Struktur der verglichenen Bücher genau entsprechen. So entstehen Beispielpaare, in denen das chronologisch erste Glied durch das zweite, chronologisch spätere, ersetzt wird. Ausgewählte Beispielspaare werden für Präsentationszwecke, stellvertretend für die ganze Klasse ähnlicher Kontexte, in Kapitel 3 angeführt. Die Zäsur zwischen alten und neuen Ausgaben wird jeweils durch einen Schrägstrich markiert. Die Quellen werden in verkürzter Form angegeben (Üb 105/ 107 steht für die Übungsgrammatik, 105 ist die Seitennummer in der DDR-Ausgabe, 107 - Seitennummer in der späteren Ausgabe. Nach demselben Muster sind Quelleangaben für die Grammatik zu lesen, z.B. Gr 318/ 319), vgl. (1) Die Hochschullehrer erziehen die Studenten zu sozialistischen Fachleuten./ Die Hochschullehrer bilden die Studenten zu qualifizierten Fachleuten aus. Üb 23/ 23 Die alte Schreibung wurde beibehalten. 2. analyseergebnisse Die Korpusanalyse hat u.a. zu folgenden Schlüssen geführt: 1. Die ideologiegeladenen Beispiele bildeten eine relativ kleine, aber wegen der vermittelten Inhalte besonders auffällige Untermenge aller Beispielsätze. Grob geschätzt machen sie drei bis fünf Prozent aller Beispiele aus. 5 Die Grammatik Helbigs und Buschas wurde an der Heimatuniversität des Autors 1976 als Standard-Lehrwerk im Fach „Beschreibende Grammatik des Deutschen“ eingeführt und erst in den Jahren 2001-2004 schrittweise durch Engel u.a. 1999/ 2000 abgelöst; 2015 wurde die Grammatik Helbigs und Buschas erneut als Lehrwerk im Bereich der deutschen Morphoflexion eingesetzt. Die Erfahrung des Autors ist die des Studenten (Ende der 1970er Jahre) und die des akademischen Lehrers. Lesław Cirko 64 Sie wurden in den neueren Ausgaben sorgfältig durch ideologisch neutrale Beispiele ersetzt oder - jedoch wesentlich seltener - einfach ganz eliminiert, vgl.: (2) Die landlosen Bauern rebellierten gegen die Großgrundbesitzer./ - Üb 104/ - (3) Am 2.2.1943 kapitulierten die faschistischen deutschen Truppen in Stalingrad./ - Üb 105/ - 2. Der Ersatz wird großenteils dadurch erzwungen, dass der im jeweiligen Beispiel genannte Realitätsausschnitt nach der politisch-wirtschaftlichen Transformation nicht mehr existiert (objektive Änderungsursache), vgl.: (1) Die Wirtschaft in der DDR entwickelte sich in den letzten Jahren kontinuierlich./ Der neue Betrieb entwickelte sich in den letzten Jahren kontinuierlich. Üb 28/ 27 oder dass der Inhalt besonders auffällig und dadurch komisch bzw. unnatürlich wirkt (subjektive Änderungsursache), vgl.: (2) Die Seminargruppe hat die Aufgabe, zum 1. Mai eine Wandzeitung zu gestalten./ Der Praktikant hat die Aufgabe, eine Statistik anzufertigen. Üb 48/ 48 3. Die subjektiv motivierten Änderungen sind besonders interessant, wenn sich dabei eine Abkehr von einer ostentativen Parteilichkeitsbekundung zu - nicht selten - einem beinahe erschütternden Alltagspragmatismus vollzieht, vgl.: (1) Die DDR wird bis 1990 das Wohnungsproblem im wesentlichen gelöst haben./ Die letzten zwei Jahre wird er an seinem Bungalow gebaut haben. Üb 61/ 59 4. Es lassen sich einige thematische Bereiche absondern, in denen besonders oft ersetzt wird. Dazu gehören: 6 I. Prinzipien des politisch-gesellschaftlichen Lebens: (1) Kritik und Selbstkritik ist ein bewährtes Prinzip der kommunistischen Parteien./ Der Volksmund sagt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Gr 31/ 31 (2) Die sozialistische Gesellschaft betrachtet es als notwendig, daß die Jugend viel lernt./ Der Arzt betrachtet es als notwendig, daß der Patient die Medizin über längere Zeit einnimmt. Gr 629/ 629 (3) Der sozialistische Staat betrachtet es als wichtige Aufgabe, den Sport zu fördern./ Dieses Gymnasium betrachtet es als wichtige Aufgabe, den Sport zu fördern. Gr 629/ 629 6 Die Reihenfolge der angeführten Kontexttypen fällt nicht ins Gewicht. Für jede Gruppe wurden je fünf Beispiele ausgewählt. Eine umfangreiche Zusammenstellung der besagten Beispielspaare findet sich in Cirko (i.Dr.). Die Überschriften für die Kontextgruppen werden jeweils durch die ersten Beispiele im Paar motiviert. Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 65 (4) Kritik und Selbstkritik ist/ sind ein Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts./ Mensch und Tier leidet (leiden) unter der ungewöhnlichen Hitze. Üb 14/ 14 (5) Der grundsätzliche philosophische Unterschied zwischen Materialismus und Idealismus läßt sich nicht aufheben und vermitteln./ Der grundsätzliche philosophische Unterschied zwischen den beiden Auffassungen läßt sich nicht aufheben und vermitteln. Üb 82/ 78 II. Feiern, Feierlichkeiten: (1) Es lebe der 1. Mai! / Das Geburtstagkind lebe hoch, dreimal hoch! Gr 205/ 205 (2) Wir erinnern uns des 8. Mai, des Tages der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus./ Wir erinnern uns Herrn Gröbners, des früheren Präsidenten der Akademie. Gr 292/ 292 (3) Zum Tag der Republik sind die Häuser geflaggt./ Zur Hochzeit erhielten sie viele Geschenke. Gr 442/ 442 (4) Die Bevölkerung gedenkt des Arbeitsveteranen./ Die Bevölkerung gedenkt der Opfer des Grubenunglücks. Gr 546 / 546 (5) Die Versammlung zum 1. Mai findet mit allen Betriebsangehörigen statt./ Die Versammlung findet mit allen Betriebsangehörigen statt. Üb 59/ 56 III. Alltag(sroutinen), Freizeit: (1) Er qualifiziert sich am Wochenende./ Er baut am Wochenende an seinem Wochenendhaus. Gr 298/ 298 (2) Neben seiner beruflichen Arbeit hat er noch viele gesellschaftliche Verpflichtungen./ Neben seiner beruflichen Arbeit hat er noch eine Menge Hobbys. Gr 435 / 435 (3) Die Erzieher überzeugen die Studenten von der Notwendigkeit zusätzlicher Verpflichtungen./ Die Studenten überzeugen ihre Freundinnen von der Teilnahme an dem Ausflug. Üb 23/ 23 (4) Der Passierschein berechtigt den Besucher, das Institut zu betreten./ Der Ausweis berechtigt den Besucher, das Institut zu betreten. Üb 43/ 42 (5) Der Arbeitsgruppenleiter hat seinem Mitarbeiter nahegelegt, die Arbeitsschutzbestimmungen genauestens einzuhalten./ Der Arzt hat seinem Patienten nahegelegt, die Dosierung des Medikaments genauestens einzuhalten. Üb 43/ 42 IV. Akademisches Leben, Forschung(sergebnisse): (1) Am Institut für Slawistik gibt es verschiedene Kurse für Fortgeschrittene./ Am Institut für Anglistik gibt es verschiedene Kurse für Fortgeschrittene. Gr 426/ 426 (2) Die Studenten müssen fleißig lernen; nur durch gute Kenntnisse können sie aktiv beim Aufbau unseres Staates helfen./ Die Studenten müssen fleißig lernen; nur durch gute Kenntnisse können sie später ihre Anforderungen im Beruf erfüllen. Gr 640/ 640 (3) Die Hochschullehrer erziehen die Studenten zu sozialistischen Fachleuten./ Die Hochschullehrer bilden die Studenten zu qualifizierten Fachleuten aus. Üb 23/ 23 (4) Das Studium der sowjetischen Literatur hat die Studenten angeregt./ Das Studium der Literatur hat die Studenten angeregt. Üb 29/ 28 Lesław Cirko 66 (5) In dem Vortrag des Gastdozenten geht es um den Einfluß der Oktoberrevolution auf Deutschland./ In dem Vortrag des Gastdozenten geht es um Entwicklungstendenzen in der Gegenwartssprache. Üb 104/ 100 V. Entkollektivierung: (1) Der Betrieb gab eine Stellungnahme ab./ Der Experte gab ein positives Gutachten ab. Gr 174/ 174 (2) Der Leiter bespricht sich mit dem Kollektiv über das Projekt./ Er beriet sich mit seinen Mitarbeitern über die notwendigen Maßnahmen. Gr 218/ 218 (3) Das Kollektiv, auf Grund seiner vorbildlichen Leistung ausgezeichnet, feierte den Erfolg./ Das Team, auf Grund seiner vorbildlichen Leistung ausgezeichnet, feierte den Erfolg. Gr 667/ 667 (4) Die Brigade will sich um die vorfristige Erfüllung des Auftrages bemühen./ Die Werkstatt will sich um die schnelle Reparatur des Unfallwagens bemühen. Üb 30/ 29 (5) Die Seminargruppe hat die Aufgabe, zum 1. Mai eine Wandzeitung zu gestalten./ Der Praktikant hat die Aufgabe, eine Statistik anzufertigen. Üb 48/ 48 VI. Imperialistische Bedrohung, der Sozialismus siegt: (1) Der imperialistische Staat erhebt Gebietsansprüche./ Der Geschädigte erhebt Ersatzansprüche. Gr 104/ 104 (2) Der Imperialismus ist das höchste Stadium des Kapitalismus./ Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff. Gr 148/ 148 (3) Die Freiheit der Arbeiterklasse nach dem Sturz des Kapitalismus/ die Bitte des Freundes um Unterstützung bei der Arbeit Gr 603/ 603 (4) Die sozialistischen Länder streben nach einer endgültigen Durchsetzung der friedlichen Koexistenz./ Die kinderreiche Familie strebt nach einer Verbesserung ihrer Wohnverhältnisse. Üb 25/ 24 (5) Die sozialistischen Staaten unterstützen die Befreiungsbewegung in den kolonial unterdrückten Ländern./ Der Mentor unterstützt die Praktikanten bei ihren ersten Unterrichtsversuchen. Üb 27/ 26 VII. Personen, Persönlichkeiten, Idole, Vorbilder: (1) Karl Marx wurde 1818 geboren./ Albert Einstein wurde 1879 geboren. Gr 327/ 327 (2) Der Außenminister der Sowjetunion, Gromyko, war in Paris./ Der langjährige Premierminister Großbritanniens, Churchill, war zugleich Schriftsteller. Gr 369/ 369 (3) Nach Marx ist die Sprache die unmittelbare Wirklichkeit des Denkens./ Nach Herder ist die Humanität das Ziel des geschichtlichen Fortschritts. Gr 434/ 434 (4) Woran erinnern sich die Widerstandskämpfer? (Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus)/ Woran erinnern sich die Studenten? (Praktikum im Ausland) Üb 20/ 19 (5) Der Arbeitsveteran spricht zu den Jugendlichen über seine früheren Erlebnisse./ Der erfolgreiche Olympiateilnehmer spricht zu den Jugendlichen über seine Erlebnisse. Üb 24/ 23 Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 67 VIII. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“: (1) Die Landwirtschaft der DDR entwickelt sich gut./ Das behinderte Kind entwickelt sich gut. Gr 104/ 104 (2) Die DDR hat sich schneller entwickelt, als sich ihre Gegner vorgestellt haben./ Der gebrochene Arm ist schneller geheilt, als sie es sich selbst vorgestellt hat. Gr 454/ 454 (3) Trotzdem die DDR eine geringe Rohstoffbasis hat, entwickelt sie sich wirtschaftlich sehr schnell./ Trotzdem mehrere Spieler verletzt waren, hat die Mannschaft das entscheidende Spiel gewonnen. Gr 468/ 468 (4) Aus der Verfassung der DDR folgt, daß sich die DDR für den Frieden verantwortlich fühlt./ Aus der Verfassung des Staates folgt, daß er sich für den Frieden verantwortlich fühlt. Gr 627/ 627 (5) Wozu trägt die DDR bei? (Erhaltung des Friedens)/ Wozu trägt ein gutes Essen bei? (Gelingen des Abends) Üb 20/ 19 IX. Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnisse: (1) Der Brigadier hat zur Direktion gehen sollen./ Der Meister hat zur Direktion gehen sollen. Gr 138/ 138 (2) Der Arbeiter wurde ausgezeichnet, weil er die Norm überfüllt hatte./ Der Techniker wurde ausgezeichnet, weil er das neue Verfahren entwickelt hatte. Gr 474/ 474 (3) Der Arbeiter wurde mit einer hohen Auszeichnung geehrt, zumal er schon das zweite Mal viele Gelder für den Betrieb eingespart hatte./ Wegen des schlechten Wetters fahren wir nicht weg, zumal wir auch noch keine Unterkunft besorgt haben. Gr 474/ 474 (4) Der Brigadier warnt den Kraftfahrer vor dem leichtsinnigen Überholen./ Der Fahrlehrer warnt den Fahrschüler vor dem leichtsinnigen Überholen. Üb 23/ 22 (5) Die Patenbrigade sorgt für die Kinder./ Der Klassenlehrer sorgt für seine Klasse. Üb 70/ 67 X. Mobilität der Bürger: (1) Der Tourist ist in die Sowjetunion geflogen./ Der Tourist ist nach Tunesien geflogen. Gr 140/ 140 (2) Die Familie ist in die DDR übergesiedelt/ übersiedelt./ Die Familie ist nach Österreich übergesiedelt/ übersiedelt. Gr 225/ 225 (3) Die Delegation reist in die Sowjetunion./ Die Delegation reist in die Schweiz. Gr 433/ 433 (4) Der Physiker freut sich auf seine bevorstehende Studienreise in die Sowjetunion./ Der Physiker freut sich auf seine bevorstehende Studienreise. Üb 24/ 23 (5) Er blieb (so lange) in der DDR, bis er mit dem Studium fertig war./ Er blieb (so lange) in Heidelberg, bis er mit dem Studium fertig war. Gr 683/ 683 XI. Verkehr, Verkehrsmittel: (1) Er hat einen Moskwitsch gefahren./ Er hat einen Mercedes gefahren. Gr 141/ 141 (2) Er hat eine TU 134 geflogen./ Er hat eine DC 10 geflogen. Gr 141/ 141 (3) Die AN 24 werden vor allem auf Kurzstrecken eingesetzt./ Die DH 8 werden vor allem auf Kurzstrecken eingesetzt. Gr 279/ 279 Lesław Cirko 68 (4) Der Wartburg ist ein moderner Mittelklassewagen./ Der Ford Sierra ist ein moderner Mittelklassewagen. Gr 371/ 371 (5) Er kauft sich einen Skoda./ Er kauft sich einen Volvo. Gr 371/ 371 XII. Kultur, kulturelles Leben: (1) Der Schriftsteller übersetzt das Buch aus dem Russischen ins Deutsche./ Der Schriftsteller übersetzt das Buch aus dem Französischen ins Deutsche. Gr 282/ 282 (2) Du solltest dir unbedingt den neuen sowjetischen Film ansehen./ Du solltest dir unbedingt den neuen französischen Film ansehen. Gr 567/ 567 (3) Die Brigade, in Dresden angekommen, besuchte die Ausstellung./ Die Reisegruppe, in Dresden angekommen, besuchte die Ausstellung. Gr 667/ 667 (4) In diesem Kunstwerk werden der Humanismus und die Parteilichkeit des Künstlers ausgedrückt./ In diesem Kunstwerk werden der Humanismus und der Optimismus des Künstlers ausgedrückt. Üb 31/ 30 (5) Der Produktionsbetrieb gab dem Schriftsteller viele Anregungen für seinen neuen Roman./ Die Auslandsreise gab dem Schriftsteller viele Anregungen für seinen neuen Roman. Üb 30/ 29 XIII. Presse: (1) Er hat das „Neue Deutschland“ von heute gelesen./ Er hat die „Frankfurter Rundschau“ von heute gelesen. Gr 370/ 370 (2) „Rudé Pravo“ kündigte eine neue Artikelserie an./ „Libération“ kündigte eine neue Artikelserie an. Gr 370/ 370 (3) „Neues Deutschland“ berichtete von dieser Konferenz./ „Welt am Sonntag“ berichtete von dieser Konferenz. Gr 370/ 370 (4) Sowjetunion an Westmächte/ Paris an London (Überschriften) Gr 386/ 386 (5) Die Zeitung „Neues Deutschland“ gehört zu den bekanntesten Publikationsorganen der DDR./ Die Annahme von „angeborenen Ideen“ ist unter den Philosophen seit langem umstritten. Gr 703/ 703 XIV. Sozialistische Bruderländer: (1) Sowjetischerseits ist eine Erklärung abgegeben worden./ Englischerseits ist eine Erklärung abgegeben worden. Gr 174/ 174 (2) Die UdSSR ist reich an Rohstoffen./ Kanada ist reich an Rohstoffen. Gr 298/ 298 (3) Die Sowjetunion ist für viele Jahrzehnte mit Rohstoffen versorgt./ Die Strecke ist für längere Zeit gesperrt. Gr 418/ 418 (4) Die sozialistischen Länder erreichten ihre wirtschaftlichen Erfolge dadurch, daß sie ihre Volkswirtschaft planmäßig entwickelt haben./ Die Mannschaft erreicht ihren Erfolg dadurch, daß der Trainer ein regelmäßiges hartes Training forderte. Gr 460/ 460 (5) Welche Bodenschätze fördert man in der Sowjetunion? / Welche Bodenschätze fördert man in Schweden? Üb 67/ 64 XV. Wirtschaft(sleben): (1) Die DDR unterzeichnete einen Handelsvertrag mit der Sowjetunion./ Der Minister unterzeichnete mehrere Wirtschaftsabkommen mit Österreich. Gr 87/ 287 Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 69 (2) Eine erfolgreiche Durchführung des Wettbewerbs erfordert die Mitarbeit aller./ Eine erfolgreiche Realisierung des Projekts erfordert die Mitarbeit aller. Gr 374/ 374 (3) In fünfzig Jahren wird die Atomenergie die wichtigste Energieform sein./ In einem Jahr wird der Vertrag abgeschlossen sein. Gr 429/ 429 (4) Die Arbeiter hofften, ihre Produktion wesentlich zu erhöhen, nachdem sie rationellere Verfahren eingeführt hatten./ Die Ärzte hofften, seine Leistungsfähigkeit wesentlich erhöhen zu können, nachdem die Operation erfolgreich war. Gr 651/ 652 (5) Von wem wird die Erfüllung des Plans kontrolliert? / Von wem werden die Fahrkarten in der Eisenbahn kontrolliert? Üb 71/ 68 XVI. Geld, Finanzen, Preise, Löhne: (1) Der Gewinn beläuft sich auf 1000 Mark./ Der Gewinn beläuft sich auf 1000 Dollar. Gr 213/ 213 (2) Um was geht es in der Sitzung? - Es geht um die Prämiierung./ Um was geht es in der Sitzung? - Es geht um die Löhne. Gr 254/ 254 (3) Die Zwiebeln kosten 80 Pfennig das Kilo./ Die Zwiebeln kosten 1,80 DM das Kilo. Gr 373/ 373 (4) Sie kaufte zwei Kilo Äpfel für eine (zu einer) Mark./ Sie kaufte zwei Kilo Äpfel für drei (zu drei) Mark. Gr 426/ 426 (5) Der Eisenbahnfahrpreis zweiter Klasse beträgt acht Pfennig je angefahrenen (angefahrener) Kilometer./ Der Eisenbahnfahrpreis zweiter Klasse beträgt zwanzig Pfennig je angefahrenen (angefahrener) Kilometer. Gr 431/ 431 XVII. Urheberschaft: (1) Engels' Briefe, Fritz' Vorschlag/ Brahms' Sinfonien, Fritz' Vorschlag Gr 247/ 247 (2) das „Kapital“ von Marx, der Brief von Hans/ die Sinfonien von Brahms, der Brief von Hans Gr 247/ 247 (3) das „Kapital“ von Marx/ die Sinfonien von Brahms Gr 594/ 594 (4) die Briefe des jungen Engels/ die Briefe des jungen Schiller Gr 594/ 594 (5) Engels' Briefe/ Rubens' Gemälde Gr 594/ 594 XVIII. Kader, Nomenklatur, Titulatur: (1) Was ist sein Vater? - Er ist Agronom in der LPG./ Was ist sein Vater? - Er ist Zahnarzt. Gr 254/ 254 (2) Frau Professor Seidel wurde Verdienter Lehrer des Volkes./ Frau Studienrätin Seidel wurde Direktorin der Schule. Gr 270/ 270 (3) Er wird als ein Held der ersten Stunde bezeichnet./ Er wird als ein Held bezeichnet. Gr 298/ 298 (4) Zwei Agronomen - beide sind erst vor kurzem eingestellt worden - arbeiten in der LPG./ Zwei Programmierer - beide sind erst vor kurzem eingestellt worden - arbeiten in der Abteilung. Gr 321/ 321 (5) Der Brigadier findet den Weg zu seinem Vorgesetzten./ Der Ortsfremde findet den Weg zum Hotel. Üb 53/ 51 Lesław Cirko 70 XIX. Geografie: (1) Berlin ist die Hauptstadt der DDR./ Paris ist die Hauptstadt Frankreichs. Gr 293/ 293 (2) Die Sowjetunion hat eine Ost-West-Ausdehnung von 10.000 km./ Frankreich hat eine Ost-West-Ausdehnung von 900 km. Gr 376/ 376 (3) Die Leipziger Messe wird ein Welthandelsplatz genannt./ Hamburg wird das Tor zur Welt genannt. Gr 541/ 541 (4) Berlin ist die Hauptstadt (der DDR)./ Paris ist die Hauptstadt (Frankreichs). Gr 636/ 636 (5) Der Direktor wird die Fragen jetzt in Karl-Marx-Stadt besprechen./ Der Direktor wird die Fragen jetzt in Leipzig besprechen. Üb 62/ 60 3. Diskussion der ergebnisse Der Verfall der sozialistischen Ideologie und der sich daraus ergebenden Lebensformen in ehemaligen Ostblockstaaten hatte zur Folge, dass viele für sie typische Phänomene einfach verschwanden: Ländernamen, Nomenklaturen, Rangordnungen, Werteskalen und Zeitungstitel. Die meisten Ersatzfälle sind unter diesem Blickwinkel als objektiv anzusehen: Es werden neue Bezeichnungen für Nicht-Mehr-Existierendes gesucht. Zur Sparte der subjektiv motivierten Änderungen gehören vor allem die Fälle, in denen sich die Autoren gern von Sachen, Prozessen, Werten und Lebensvorstellungen distanzieren, die sie für nicht mehr zeitgemäß, womöglich sogar für irgendwie beschämend halten. Mit „nicht mehr zeitgemäß“ ist gemeint, dass die „neu benannten“ Objekte/ Prozesse immer noch existieren/ denkbar sind, sie werden aber unmissverständlich mit der Ex-DDR assoziiert, sind dazu noch nicht mehr modern und fortschrittlich genug, und so können sie beim Lesen Erkenntnisdissonanzen hervorrufen. Schwer nachvollziehbar sind die Gründe für die Verbannung vieler Namen ins politisch-historische Nichts. Es geht meist um die Personen, an denen sich die heranwachsende Generation „neuer Menschen“ ursprünglich ein Beispiel nehmen sollte: Denker, Philosophen und „Aktivisten der ersten Stunde“, die im kollektiven Bewusstsein allzu sozialistisch wirkten. Während manch ein „Held der sozialistischen Arbeit“ tatsächlich nur in „ideologisch aufgeklärten“ FDJ-Reihen ein Vorbild war und sein Name jetzt Schall und Rauch wurde, ist der Bann für den Philosophen Karl Marx - hier plakativ für einige weitere Persönlichkeiten aus dem Pantheon kommunistischer Wegbereiter, Schrittmacher und Ikonen - für viele nüchtern Denkende eher eine Überraschung. Im Einzelnen zeichnen sich einige Tendenzen ab, die hier dargestellt werden. Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 71 Wenn man sich die Gruppe „Prinzipien des politisch-gesellschaftlichen Lebens“ anschaut, fallen Tendenzen auf, die sich mit Verkleinerung der Betrachtungsskala, Verzicht auf das Pompöse und Rückkehr ins Alltägliche etikettieren lassen. Ähnliches gilt generell auch für die meisten Gruppen. Nicht mehr die obersten (Staats-)Instanzen haben das entscheidende Wort, nicht mehr zukunftsträchtige Entscheidungen werden zum Wohle des Volkes getroffen, nicht mehr klassenbewusste Kollektive setzen sich für einen ein oder gewinnen ihn für Aktivitäten für höhere Ziele. Das reale Leben (hier etwa Hochzeit, Grubenunglück, Teilnahme am Ausflug etc.) tritt in den Vordergrund. Der „kleine Mann“ mit seinen Alltagssorgen wird aufgewertet, materielle Güter und kleine Lebensfreuden verdrängen den Klassenkampf und Pflichtbewusstsein. Interessante Dinge geschehen im akademischen Bereich. Es geht weniger darum, dass Forschungsstudenten Assistenten und Aspiranten Doktoranden werden, ebenso wenig darum, dass die Studienabsolventen keine sozialistischen Fachleute mehr, sondern einfach qualifizierte Fachleute (IV (3)) werden. IV (1) signalisiert eine der stärksten Tendenzen, die man in vielen Korpusteilen feststellen kann: den Hang zur Desowjetisierung. Beispiel IV (1) liest sich zunächst ziemlich harmlos, wenn man nur keine emotionale Beziehung zum Fach Slawistik (man merke sich die korrekte Schreibung in der DDR-Ausgabe! ) hat: „Fortgeschrittene“ profitieren mehr davon, dass sie intensiver Englisch statt Russisch lernen. Slawistik war damals in der Westlinguistik und in den meisten Ostblockstaaten ein Synonym für Russistik; die Nachhaltigkeit dieser Irrvorstellung hat schon immer Bohemisten, Sorabisten, Polonisten sowie Vertreter der Südslawistik (Bulgarisch und Makedonisch, Kroatisch, Serbisch) verärgert. Auch die Ukrainisten (Ostslawisten! ) wehren sich heutzutage dagegen, in den gleichen Topf mit Russisten geworfen zu werden. Beispiele IV (4), (5), VII (2), X (1), (3), (4), XI (1), (2), (3), XII (1), (2), XIV (1), (2), (3), (5), XV (1), XIX (2) (im Korpus in Cirko 2017 gibt es viele weitere) zeigen viele Facetten der Desowjetisierung. Es ist dabei erstaunlich, dass viele Ersätze subjektiven Charakter haben: Die sowjetische Literatur ist nach wie vor - literaturgeschichtlich gesehen - eine nützliche Kategorie; es steht auch dem nichts im Wege, dass sie intellektuell befruchtend wirken kann. Auch die Oktoberrevolution hatte einen - wenn auch grundverschiedenen - Einfluss auf die ehemaligen beiden Teile des geteilten Deutschlands. Warum (siehe XII (1)) die Übersetzung eines Buches aus dem Russischen ins Deutsche obsolet wirken soll, bleibt vielen ein Geheimnis. Onomastisch interessant ist der Wechsel verschiedener Titulaturen und Namen von Menschengruppen. Brigadier wird zum Meister, Forschungsstudent zum Assistenten, Aspirant zum Doktoranden, Agronom oder Verdienter Lehrer der Republik verschwinden ebenfalls, eine Brigade im Betrieb wird oft bloß zu ei- Lesław Cirko 72 ner lockeren Gruppe von Arbeitern. Erstaunlicherweise kommt im Korpus die Partei kaum vor. Die (in den DDR-Ausgaben überwerteten) Aktivitäts- und Zuständigkeitsbereiche von Betrieben, Betriebsleitungen, Brigaden, Pioniergruppen und sonstigen „Kollektiven“ wurden in der Tendenz reduziert und dem realen Leben angepasst: (1) Die Patenbrigade sorgt für die Kinder./ Der Klassenlehrer sorgt für seine Klasse. Üb 70/ 67 (2) Die Brigade besuchte die Kunstausstellung./ Die Studentengruppe besuchte die Kunstausstellung. Üb 71/ 68 Auch das (von Studenten ausgelachte) „Spitzel“-Beispiel wurde neutral ersetzt: (3) Der Brigadier findet den Weg zu seinem Vorgesetzten./ Der Ortsfremde findet den Weg zum Hotel. Üb 53/ 51 4. rekapitulation und ausblick Beim Vergleich von Grammatiken rückt selbstverständlich das Regelwerk in den Vordergrund: Man schenkt dem fachlich-sachlichen Aspekt mehr Aufmerksamkeit als dem Inhalt von Beispielen. Diese werden allenfalls danach bewertet, wie sie bei der Sprachsystemanalyse das Musterhafte und Regelkonforme illustrieren. Der Beitrag zeigt, dass sich durch eine systematische Untersuchung zum wörtlichen Inhalt der Beispiele interessante Sprachbilder und Topoi erschließen lassen. Und diese festzuhalten ist sprachgeschichtlich eine lohnende Aufgabe. Die Verdrängung gewisser Inhalte aus dem kollektiven Bewusstsein geht als notwendige Bedingung für den mentalen Neustart mit der Neupositionierung in der sich veränderten Welt einher. Es ist zu begrüßen, dass die analysierten Nachschlagewerke - sie gehören zu den besten in ihrer Klasse - in der jeweils neueren Ausgabe der nächsten Germanistengeneration gut dienen können, ohne Gespenster der vergangenen Zeit wachzurufen. 5. literatur Cirko, Lesław (2001): Überlegungen zur Textsortenspezifik des Beispiels. In: Sprachtheorie und germanistische Linguistik 11.1, S. 3-18. Cirko, Lesław (i.Dr.): Grammatikunterricht als Mittel der Indoktrinierung? Sprachliche Belege aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. In: Błachut, Edyta/ Gołębiowski, Adam (Hg.): Beiträge zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft 2017. Dresden/ Wrocław. Entpolitisierung - Entideologisierung - Entkollektivierung 73 Engel, Ulrich et al. (1999/ 2000): Deutsch-polnische kontrastive Grammatik. Tübingen. Földes, Csaba (2001): Darstellung und Nachwirkung der DDR in den Nachschlagewerken nach der „Wende“: sprachliche und landeskundliche Aspekte. In: Antos, Gerd/ Fix, Ulla/ Kühn, Ingrid (Hg.): Deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen zehn Jahre nach der „Wende“. (= Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur 2). Frankfurt a.M. u.a., S. 171-184. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1976): Deutsche Übungsgrammatik. Leipzig. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1984): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 8., neubearb. Aufl. Leipzig. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1992): Übungsgrammatik Deutsch. 7., durchges. Aufl. Leipzig u.a. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1993): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 15. Aufl. Leipzig u.a. Hellmann, Manfred W. (1999): Literatur und Nachschlagewerke und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 1999). Mannheim. Heringer, Hans Jürgen (2013): Deutsche Grammatik. Ein Arbeitsbuch für Studierende und Lehrende. (= UTB 3523). Paderborn. Jarmuła, Cecylia (2009): Die Indoktrination durch Sprache am Beispiel der Lehrwerke der Nazi- und der DDR-Zeit. Dresden/ Wrocław. Jarochna Dąbrowska burkharDt let’s talk european! polItolInguIstIsche üBerlegungen zur europäischen integration anhanD Der Deutschen BerIchterstattung Im sommer 2015 prolog Anlass der folgenden Ausführungen zu den Konzepten: europäische Integration und europäische Identität ist die Ehrung Gerhard Stickels, dessen Lebensweg zweifellos europäisch ist. Über Jahre hinweg prägt sein Schaffen maßgeblich die Sprachpolitik in Europa. In der letzten Zeit wirbt er als Mitbegründer und langjähriger Präsident der „Europäischen Föderation der nationalen Sprachinstitutionen“ (EFNIL) „für die Bewahrung und Weiterentwicklung der europäischen Sprachenvielfalt als Grundlage der kulturellen und sozialen Vielfalt des Kontinents“ (Stickel 2014, S. 8). Da Europa seit dem Altertum mehrsprachig ist, hat es schon immer Menschen bedurft, die philosophische Konzepte, wissenschaftliche Entdeckungen und politische Ideen in den Übersetzungen bedeutsamer Texte verbreitet bzw. ausgetauscht haben (vgl. ebd., S. 7). Europa, der „plurale Kontinent“, auf dem Menschen verschiedener Muttersprachen miteinander kommunizieren, besitzt zwar eine lange Tradition des Übersetzens, steht aber zugleich vor der Herausforderung der Festlegung gesellschaftlicher und politischer Ordnung der sogenannten „Einheit in Vielfalt“ (vgl. Trenz 2005, S. 13). Der Fokus folgender Überlegungen liegt auf dem Phänomen des mehrsprachigen Europas, das händeringend Dolmetscher und Übersetzer braucht, die jedoch nicht nur Texte von einer Einzelsprache in eine weitere übersetzen, sondern auch die Beweggründe der anderen Sprachgemeinschaften erklären und Klischees hinterfragen (vgl. Krzemiński 2007b). 1. einleitung Im folgenden Beitrag, der im Bereich der Politolinguistik und der Diskursanalyse angesiedelt ist, wird auf der Grundlage der deutschen Berichterstattung des Sommers 2015 die brisante Problematik der griechischen Euro-Währungskrise, die das ganze Europa wochenlang in Atem hält, unter die Lupe genommen. Die Debatte über die bis dahin „schwerste Krise der europäischen Integration“ (SZ, 10.7.2015, S. 4) verläuft als äußerst emotional geführter ge- Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 76 samteuropäischer Meinungsaustausch. Obwohl man annehmen könnte, dass die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen über die Euro-Währungskrise eigentlich nur auf Staaten der Euro-Zone begrenzt sein sollten, beweist die europäische Berichterstattung, dass man in der heutigen EU nicht mehr aus der Beobachter-, sondern eigentlich aus der Teilnehmerperspektive berichtet, weil die Probleme eines Landes genauso Schwierigkeiten für andere, die sogar selbst nicht unbedingt in der Euro-Zone sein müssen, bedeuten können (vgl. Rede von Radosław Sikorski in Berlin im November 2011, GW, 30.11.2011, S. 18f.). Im Jahr 2015 wird die griechische Euro-Krise zum Auslöser für Fragen nach der Zukunft Europas. Sie betreffen in erster Linie die Problematik der weiteren Integration und der europäischen Identität. 2. zum untersuchungsgegenstand Den Gegenstand dieser Studie bildet die Analyse des europaweit geführten Diskurses über die Euro-Währungskrise in Griechenland im öffentlichen politischen Sprachgebrauch Deutschlands. Der Beitrag ist im Bereich der Pragmalinguistik angesiedelt. Der Werkzeugkasten der Polito- und Diskurslinguistik (u.a. Spitzmüller/ Warnke 2011, S. 121ff.; Klein 1998, 2006) ermöglicht es, Schlüsselwörter, Metaphern, Stereotype sowie Argumentationsmuster herauszuarbeiten, die sich für den untersuchten Diskurs als bedeutsam erweisen. Der Begriff Text wird in Anlehnung an die Sprechakttheorie nicht primär als grammatische Satzfolge betrachtet, sondern als komplexe sprachliche Handlung. Schmidt definiert Texte im sprachlichen Sinne als (1) soziokommunikativ funktionierende, geäußerte Sprachzeichenmengen, also Texte-in-Funktion im Einbettungsrahmen kommunikativer Handlungsspiele. Als solche sind sie stets sprachlich und sozial bestimmt und definierbar, also keine rein sprachlichen Strukturen, die ausschließlich linguistisch definierbar wären. (Schmidt 1973, S. 145) Eine auf dieser Auslegung des Textes basierende Herangehensweise ermöglicht es, politische, soziale und historische Kommunikationszusammenhänge eines Zeitungstextes zu erschließen und festzulegen, was sich an dem jeweiligen Text als untersuchungsrelevant erweist. Der Diskurs wird in Anlehnung an Busse/ Teubert (1994, S. 14) definiert. Ihre Begriffsbestimmung ermöglicht es, den untersuchten Diskurs „als eine Anzahl von inhaltlich zusammenhängenden Texten, Aussagen, Äußerungen bzw. Informationen zu verstehen, die jedoch nicht in einer konkreten Gesprächssituation entstanden sind, sondern sich intertextuell etabliert haben“ (Dąbrowska-Burkhardt 2013, S. 41). Die Analyse konzentriert sich auf den signifikanten, zentralen Ausdruck des untersuchten medialen Diskurses: die Euro-Währungskrise. Seine Ver- Let’s talk European! 77 wendung in den analysierten Texten ist überwiegend thematisch und seine auffällige Häufung stellt ein zusätzliches Indiz für dessen Relevanz dar. Darüber hinaus ist es von Bedeutung, dass der analysierte Ausdruck über eine breite Synonymie bzw. Ausdruckskonkurrenz verfügt, indem er in den Texten immer wieder paraphrasiert wird. Bei der Dokumentation des Schlüsselworts Euro-Währungskrise spielt sowohl sein historisch-politischer Hintergrund als auch sein semantisch-pragmatischer Gehalt im Diskurs eine signifikante Rolle. Nicht zu unterschätzen ist ebenfalls seine Vernetzung mit anderen sprachlichen Mitteln. Die Verknüpfung des Paradigmas der Politolinguistik mit dem Paradigma der Diskursanalyse wird als Vorteil gesehen, weil sie konkrete sprachliche Analysen mit der hohen Kontextreflexivität des Diskursansatzes verbindet. Die für die Analyse gewählte Darstellungsform soll philologisch und linguistisch solide sein, d.h. sie wird direkt durch den Text belegt. Die gewählte narrative Form, eng an den Text der Untersuchungskorpora gebunden, arbeitet mit den Techniken der Unterstreichung, der Kursivsetzung und des Fettdrucks. Diese Hervorhebungstechniken innerhalb der präsentierten Belege ermöglichen es, eine intern-kontextuelle Analyse durchzuführen. Eine solche Präsentation soll auch ohne externen Kommentar ersichtlich machen, welche Relationen zwischen dem jeweiligen Schlüsselwort und seinen Varianten sowie Kollokationspartnern jeweils bestehen. In Anlehnung an die These von Bosch/ Umbach (2007), dass der salienteste Diskursreferent die bereits etablierte Diskurstopik sei, kann die Referenzsalienz auf umfangreiche Diskurskontinua erweitert werden. So handelt es sich um die Diskurstopik, die als Schlüsselwort im Folgekontext eine spezifische, diskursrelevante Anapherwahl bedingt. Anaphorische Mittel der Diskursreferenz sind hier nicht selten Synonyme oder aber verschiedenartige Kollokationspartner des als Diskurstopik fungierenden Schlüsselworts. Unter korpusspezifischen Kollokationspartnern werden Wörter und Wortgruppen verstanden, die regelhaft im analysierten Diskurs auftreten und aus semantisch-pragmatischen Gründen zusammen sprachlich realisiert werden. Die oben genannten Hervorhebungstechniken erlauben es dem Leser, sich unmittelbar beim Lesen der Belege in mannigfaltigen, diskursrelevanten Zusammenhängen zu orientieren. Mit fett wird das Schlüsselwort, mit kursiv das Originalzitat aus dem Untersuchungskorpus sowie Termini und Objektbegriffe im laufenden Text, mit Unterstreichung der Kollokationspartner gekennzeichnet. 3. zum untersuchungskorpus Das Korpus dieses Beitrags besteht aus Zeitungstexten der deutschen Berichterstattung. Da die Tagespresse „Chronist und Dokumentarist des Tagesgeschehens“ ist (vgl. Vogel 1998, S. 35), umfasst das Untersuchungskorpus die in Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 78 der Bundesrepublik veröffentlichten überregionalen Zeitungen, zu denen die „Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland“ (FAZ) mit der „Frankfurter Sonntagszeitung“ (FAS), „Die Süddeutsche Zeitung“ (SZ), „Die Welt“ (W) samt der Sonntagsausgabe „Welt am Sonntag“ (WamS) und die „Frankfurter Rundschau“ (FR) gehören. Darüber hinaus wird „die tageszeitung“ (taz) in die Untersuchung einbezogen. Obwohl dieses Printmedium eine geringe Auflage aufweist (vgl. Meyn 1987, S. 45), schreiben ihm Plake, Ebers und Laufer- Helfen dank der allgemeinen Bekanntheit dieser Zeitung und dem deutschlandweiten Vertrieb den Status eines überregionalen Presseorgans zu (vgl. Plake/ Ebers/ Laufer-Helfen 1992, S. 10). Als Wochenzeitung wird im Untersuchungskorpus „Die Zeit“ (Z) herangezogen. Analysiert werden ebenfalls die drei Populärzeitschriften „Spiegel“ (SP), „Stern“ (ST) und „Focus“ (F). Letzten Endes werden die Zeitungen „Bild“ (B) und „Bild am Sonntag“ (BamS), die als Repräsentanten der Boulevardpresse fungieren, ebenfalls berücksichtigt. Die analysierten Texte wurden innerhalb eines Monats in den überregionalen deutschen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Der Analysezeitraum beginnt am 20. Juni 2015 und endet am 18. Juli 2015. Untersucht werden alle Zeitungstexte, die sich mit dem Thema der Euro-Währungskrise auseinandersetzen bzw. auf diese Problematik Bezug nehmen. 4. euro - Währungskrise im sommer 2015 Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ widmet am 5. Juli 2015 einen Sonderteil ihrer Zeitung, und zwar die Rubrik „Spezial“: „Entscheidungskampf in Griechenland“, der aktuellen Situation in Europa und berichtet: (2) Auf allen Kanälen geht es immer nur um das eine: Griechenland. Die ARD sendet fast täglich nach der Tagesschau einen ‘Brennpunkt´ […] Die Zeitungen […] widmen einen Sonderteil nach dem anderen dem Thema und richten im Netz Live-Ticker ein. […]. Nicht nur die Medien, auch die Leute diskutieren. […] Das hat Gründe. Die europäische Gemeinschaft war nie frei von Krisen. Aber immer gab es das Gefühl, Krisen halten den Gang des Fortschritts nicht auf. (FAS, 5.7.2015, S. 25) Die deutsche Presse hebt besonders die Eigenart der aktuellen Krise hervor, die einen Keil in sie [EU] treib[t] (FAZ, 13.7.2015, S. 1), destruktive Kräfte freisetzt, Animositäten und Ressentiments schürt (SP, 4.7.2015, S. 126) sowie die Beziehungen weiter […] verschlechter[t] (SP, 18.7.2015, S. 128). Das Magazin „Der Spiegel“ berichtet vom Epochenbruch, der das Verhältnis zweier oder mehrerer Nationen [beschädigt] (SP, 18.7.2015, S. 128). Meldungen wie: Die Zivilität und Mäßigung gehen in Europa zuschanden in atemberaubenden Tempo oder Der Fall Griechenland bringt das romantische Europäertum an sein Ende (SP, 11.7.2015, S. 17) erscheinen in allen deutschen Printmedien Tag für Tag. Berichtet wird Let’s talk European! 79 fast überall darüber, dass die Krise in der EU nicht nur wirtschaftlicher Natur ist. Die taz schreibt von der Erosion der europäischen Idee (taz, 9.7.2015, S. 12), die FR formuliert Das war’s dann mit dem gemeinsamen Europa, mit der Solidarität (FR, 6.7.2015, S. 13). Die FAZ zitiert in der Spalte „Stimmer der Anderen“ die italienische Zeitung „Corriere della Sera“ und berichtet: (3) Das wirkliche Drama der Griechenland-Krise übersteigt die wirtschaftlichen Kosten und besteht darin, dass das gegenseitige Vertrauen in Europa einen weiteren schweren Schlag bekommen hat. Die Ansteckungsgefahr aus Griechenland ist nicht die direkte wirtschaftliche, sondern der Verfall des Vertrauens zwischen Nord (‘der faule und unzuverlässige Mittelmeerraum´) und Süd (‘die strengen und schlechten Deutschen´). (FAZ, 4.7.2015, S. 2) Diese Entwicklung registrieren ebenfalls weitere Printmedien. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtet, dass unschöne, ja böse Worte im Norden wie im Süden übereinander und gegeneinander [fallen] (FAS, 5.7.2015, S. 25). Es werden Fragen gestellt nach der Eurozone aus reichen und armen Ländern […] aus Herren und Sklaven (FAS, 5.7.2015, S. 2). In einem Leserbrief an die „Frankfurter Rundschau“ plädiert ein Leser dafür nicht nur in Griechenland […] das weitere Absinken in egoistischen Nationalismus und soziale Kälte zu stoppen (FR, 4./ 5.7.2015, S. 22). „Der Spiegel“ spricht von der höhnische[n] Hetze deutscher Boulevardzeitungen und dem kalte[n] Hass in griechischen Medien, von Entfremdung, ja Feindschaft (SP, 11.7.2015, S. 17). Diese Entwicklung subsumiert die FAS: Das Nationale, das die Freunde des Utopischen für überwunden angesehen haben, ist immer noch da (FAS, 5.7.2015, S. 25). 5. krise der europäischen Integration - ende der euromantik? In der „Spiegel“-Ausgabe vom 4. Juli 2015 wird der Mainzer Historiker Andreas Rödder zum Thema des europäischen Integrationsprojekts interviewt. Er spricht darüber, dass Europa an einer Gabelung stehe, weil seit Jahrzehnten zum ersten Mal eine lange Entwicklungsphase beendet sei (SP, 4.7.2015, S. 124). Darüber hinaus schließt Rödder nicht aus, dass Europa in eine andere Richtung abbiegt und auf dem Pfad zu einer immer engeren Union ein Haltepunkt erreicht ist (SP, 4.7.2015, S. 124). Der lexikalische Ausdruck immer engere Union stellt im analysierten Diskursausschnitt ein weiteres Schlüsselwort dar. Dieser Terminus technicus entstammt dem juristischen Bereich und bildet gleichzeitig eine Kollokation zum Schlüsselwort Euro-Währungskrise. Die Formulierung immer engere Union findet man im „Vertrag über die europäische Union“ (VEU) bereits in seiner Präambel: „Entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“ (VEU). Wiederholt wird die Formulierung in demselben Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 80 Dokument: VEU 2012, Teil I, Art. 1 „Gemeinsame Bestimmungen“, in dem es heißt, dass dieser Vertrag „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ darstelle (VEU 2012, Teil I, Art. 1). Mit den beiden Vertrags-Einträgen wird den EU-Staaten ans Herz gelegt, innerhalb des geschlossenen Bündnisses immer stärker, d.h. intensiver, zusammenzuarbeiten bzw. zusammenzurücken. Die Richtung der Integration ist damit klar vorgegeben, nach dem Motto mehr Integration (FAZ, 5.7.2015, S. 25). Im Sommer 2015 wird diese Art der Verbundenheit jedoch angezweifelt. Die FAZ vom 1. Juli berichtet: (4) Nicht nur der britische Premierminister stellt sie mittlerweile in Frage, die „immer engere Union“, zu der sich die EU-Staaten vertraglich zusammengeschlossen haben“. Ursprünglich war sie als ewiges Bündnis gedacht: Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon kannte die EU kein Austrittsrecht, jedenfalls kein ausdrücklich geregeltes. Seitdem heißt es: „Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.“ Das muss der austrittswillige Staat dem Europäischen Rat mitteilen; daraufhin handelt die Union ein Abkommen über die Einzelheiten aus […] Ein Ausschluss etwa eines unbotmäßigen Mitgliedstaates ist dagegen nicht vorgesehen. Auch aus der Währungsunion kann kein Land auf einem vertraglich vorgesehenen Wege ausgeschlossen werden: ein Austritt ist ebenfalls nicht vorgesehen. Das heißt aber nicht, dass er nicht möglich wäre - denn jede (vertragliche) Bindung von der Ehe bis zum Friedensvertrag kann auch scheitern. (FAZ, 1.7.2015, S. 8) Dieser Sachverhalt wird von den Redakteuren der Wochenzeitung „Die Zeit“ ähnlich präsentiert. Unter der Überschrift Die letzten Tage des alten Europa (Z, 25.6.15, S. 2) kann man lesen: (5) Es gibt diesen Satz in der Präambel der Europäischen Verträge, der seit mehr als einem halben Jahrhundert die Richtung in Europa vorgibt: hin zu einem ‘immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker´. Im Geiste dieses Satzes haben die Mitgliedsstaaten der EU auch in schwierigen Zeiten für alle Konflikte eine Lösung gefunden, weil am Ende alle bereit waren, die nationalen Interessen der gemeinsamen Sache unterzuordnen. Nun aber ist man einmal bis zum Äußersten gegangen: Die Griechen hätten den Austritt ihres Landes in Kauf genommen - und die Europäer hätten das Auseinanderbrechen der Währungsunion zugelassen […] In diesen Tagen hat sich gezeigt, dass die Entwicklung nicht nur eine Richtung nehmen kann. Denn wenn der Zwang zur Einigung entfällt dann gibt es irgendwann auch keinen Kompromiss mehr. (Z, 25.6.2015, S. 2) Im gleichen Ton berichtet ebenfalls die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, in der den Europäern von früher und von heute diametral entgegengesetzte Anliegen und Ziele attestiert werden: (6) Wohin der europäische Fortschritt zu gehen hatte, das war zumindest in den Eliten klar - nach vorne, in Richtung von mehr Integration. „Erweiterung und Let’s talk European! 81 Vertiefung“, so lautet eine der vielen Pathosformeln, welche die Europäer in den vergangenen 70 Jahren erfunden haben. Der Euro hatte als „Vertiefung“ zu zählen - als anziehender Magnet, zu dem immer mehr Staaten sich hingezogen fühlen sollten. Dieser Konsens ist zerbrochen. Unwiederbringlich. Die Erosion hat sich lange angedeutet. Seit der ersten Juliwoche des Jahres 2015 wird Europa nicht mehr das sein, was es vorher gewesen ist. (FAS, 5.7.2015, S. 25) Die immer engere Union wird auch von dem Historiker Andreas Rödder im bereits zitierten „Spiegel“-Interview in Frage gestellt. Er nimmt Bezug auf die tief liegenden politisch-kulturellen Differenzen in Europa, die viele nicht wahrhaben wollen (SP, 4.7.2015, S. 126). Nach Rödder bestehen diese Differenzen (7) vor allem in der unterschiedlichen Interpretationen von Regeln. Was für die Deutschen rechtsverbindliche Verträge sind, ist für die Franzosen und andere Südeuropäer die republikanische Politik; was für die Deutschen Stabilität ist, ist für sie der Sozialstaat; und was für Deutschland das Trauma der Inflation ist, ist für Frankreich das Trauma der deutschen Vorherrschaft in Europa. In der Währungsunion wollte man zusammenzwingen, was so leicht nicht zusammenpasst. […] Den verschiedenen […] Interessen hat man eine gemeinsame europäische Erzählung übergestülpt. Das große Friedens- und Versöhnungsnarrativ ist ja im Kern nicht falsch, aber es verdeckte zugleich weiter wirkende Differenzen. […] Darin besteht das Problem der europäischen Integration in den letzten 20, 30 Jahren. Sie hat die gute Idee der europäischen Einheit überdehnt, nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell und politisch. […] Es könnte Europa stärker machen, neu zu sortieren, was funktioniert und was nicht, statt auf Teufel komm raus in eine immer engere Union zu marschieren, die am Ende destruktive Kräfte freisetzt, Animositäten und Ressentiments schürt. (SP, 4.7.2015, S. 126) 6. zum deutsch französischen Motor der integration Bereits 1946 plädiert Winston Churchill in Zürich dafür, eine „Struktur“ zu schaffen, „die vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird“ und deren „erster Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie“ „eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland“ sein müsse (Churchill 1946, S. 85). In seiner Zürcher Rede heißt es: „Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland“ (ebd., S. 85). Diesem deutsch-französische[n] enge[n] Schulterschluss (FR, 6.6.2000, S. 6) wird in der Nachkriegszeit in der deutschen Berichterstattung immer wieder eine besondere Rolle zugeschrieben (vgl. Dąbrowska-Burkhardt 2013, S. 404ff.). Im Sommer 2015 erleidet jedoch auch diese Beziehung einen schweren Rückschlag. Die FAZ berichtet: (8) Die griechische Krise ist zum Spaltpilz geworden, der sich lange unter der Oberfläche ausbreite und jetzt überall durch den Asphalt bricht. Den größten Schaden kann er in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 82 anrichten. Paris und Berlin haben oft unterschiedliche Ansichten und Ansätze in der europäischen Politik verfolgt sich in Richtungsfragen aber so gut wie immer verständigen können. Der Raum für Kompromisse in dieser Krise […] wird jedoch kleiner […] Die deutsche Europapolitik ist im Zuge der Zuspitzung der Griechenland-Krise deutscher geworden die französische französischer. Der Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden in der EU zieht sich nicht nur durch Frankreich selbst, sondern auch durch das deutsch-französische Verhältnis. Das ist ein noch erheblich größerer Grund zur Sorge als der Zustand Griechenlands. Wenn die beiden europäischen Führungsmächte bei der nötigen Reformierung der EU nicht mehr an einem Strang zögen, sähe es düster aus für deren Zukunft. (FAZ, 13.7.2015, S. 1) In einem ähnlich bedrückend negativen Ton berichtet über die deutsch-französischen Beziehungen die „Frankfurter Rundschau“. Dort heißt es: (9) Griechenland-Krise. Die neuen Gipfelgespräche […] machen deutlich, dass nicht nur die Griechen ein Problem haben. Denn wenn der Euro scheitert, scheitert auch die deutsche Regierung. […] In diesem Streit laufen verwirrend viele Verwerfungslinien durch Europa. Vielleicht zu viele. Nur Frankreich und Italien bemühten sich um Griechenland. […] Ein Riss durchzieht Europa. Er verläuft mitten zwischen Paris und Berlin. Merkel sei wenig erfreut, dass französische Beamte beim griechischen Hilfsantrag assistierten. […] Aus diesem Konflikt werden Wunden bleiben. (FR, 13.7.2015, S. 2) Die Zeitung „Die Welt“ hält mit dieser Berichterstattung Schritt. Unter der Überschrift: Tsipras treibt einen Riss durch Europa findet man folgende Ausführungen: (10) Die frühere Einigkeit der Euro-Länder ist dahin […] Die zunehmende Kluft zwischen Deutschland und Frankreich könnte zwar einerseits Gespräche überhaupt erst ermöglichen - wenn […] Hollande sich gegen Merkel durchsetzt. Andererseits dürfte die zunehmende Kluft zwischen den beiden führenden Nationen der Währungsunion Verhandlungen erschweren, weil beide Länder sich gegenseitig blockieren. […] Ein Riss entsteht. (W, 8.7.2015, S. 6) Die widersprüchlichen Interessen der europäischen Länder werden in der deutschen Berichterstattung über die Krise in Griechenland besonders deutlich. In den analysierten Zeitungstexten findet man Karten, auf denen Europa nach der Einstellung der Länder „zu neuen Griechenland-Hilfen“ aufgeteilt wird (W, 6.7.2015, S. 6). In diesem Kontext ist die Rede von den sogenannten Nein-Staaten, Ja-Staaten und den Unentschiedenen (W, 8.7.2015, S. 6). Es wird von der vorauseilenden Integration über eine Währung berichtet (FAS, 5.7.2015, S. 25). Die Debatte gestaltet sich nervenaufreibend, weil viele schwierige Inhalte thematisiert werden, die gegenseitige Empfindlichkeiten berühren. Let’s talk European! 83 7. Kerneuropa und europa der zwei geschwindigkeiten - problemlösung der euro währungskrise? Die lexikalischen Ausdrücke Kerneuropa sowie Europa der zwei Geschwindigkeiten gehören im analysierten Diskurs zu den wichtigen Kollokationspartnern des Schlüsselwortes Euro-Währungskrise. Beide Formulierungen beziehen sich auf das Leitbild der „schrittweisen Integration“ (Fischer 2000, S. 32) und treten in den untersuchten Texten vermehrt auf. Sie sorgen seit Jahren für heftige Debatten in Europa (vgl. Dąbrowska-Burkhardt 2013, S. 3ff.) und werden immer wieder dann zur Sprache gebracht, wenn sich Europa nach neuen Integrationsmodellen umschaut bzw. sich in einer kritischen Situation befindet (z.B. 2000, 2004, 2005 etc.). Das Lexem Kerneuropa findet Einzug in das Neologismenwörterbuch des Instituts für deutsche Sprache, in dem es als Neulexem seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in Gebrauch seiend beschrieben wird. Es bezieht sich auf eine „Gruppe von EU-Mitgliedsländern, die in Bezug auf die Integration in der EU besonders fortgeschritten sind“, wobei es „meist mit Bezug auf einige der Gründungsmitglieder der EU wie Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder“ verwendet wird. Im zitierten Wörterbuch findet ebenfalls der Wertungsaspekt seine Berücksichtigung: „steht für ein politisches Konzept, nach dem einer kleineren Zahl von EU-Mitgliedsländern eine Vorreiterrolle für die Weiterentwicklung und Integration der gesamten EU zugedacht wird“ (Herberg et al. 2004, S. 185). Das Konzept vom Europa der zwei Geschwindigkeiten fokussiert ebenfalls eine Integrationsmethode, die oft als abgestufte Integration verstanden wird (vgl. Emmanouilidis 2011, S. 224). Die jeweils „zweite“ Geschwindigkeit kann dabei zum einen euphemistisch als Quasi-Synonym zu ‘Langsamkeit’ verwendet werden, zum anderen aber auch als eine relativ neutrale Bezeichnung für ‘etwas langsameres Entwicklungstempo’ (vgl. Dąbrowska-Burkhardt 2013, S. 386). In der Wochenzeitschrift „Focus“ werden die beiden Integrationskonzepte gemeinsam angeführt: (11) Schäuble und Lamers wollten nicht, dass die langsamsten Europäer das Tempo bestimmen. Sie forderten „Kernländer“, die vorangehen und Tempo machen. Auch bei der Währung sollten einige Staaten ihre Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik enger bestimmen. Den Fall Griechenland hätte das wohl verhindert. „Ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten böte den Ausweg aus einigen Problemen, die wir gerade haben“; meint Lamers noch heute. […] Egoistische Länder sollen die anderen nicht bremsen. Der Traum von Kerneuropa ist nicht tot. […] Lambsdorff (FDP) sowie Frankreichs Wirtschaftsminister […] Macron und […] Gabriel […] treiben ähnliche Ideen voran. (F, 29/ 2015, S. 35) Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 84 Diese erwähnten Integrationsansätze von Macron und Gabriel verfolgt ihr gemeinsames Papier, auf welches die Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ Bezug nimmt. Dort heißt es: (12) „Ein Europäer zu sein heißt, einen europäischen Traum zu haben“, sagte […] [Macron]. Deutsche und Franzosen müssten „die Turbine Europas“ sein und bei der Integration der Länder der Eurozone voranschreiten, sagt Macron und lobte sich und […] Gabriel für einen Diskussionsbeitrag, der Anfang Juni […] erschienen ist. Dort plädierten die beiden Politiker für eine tief greifende Wirtschafts- und Sozialunion Kerneuropas. Als Antwort auf die Krise in Griechenland und anderswo wollen die beiden einen Konvergenzprozess zwischen den Volkswirtschaften in der Eurozone anstoßen […] Merkel steht, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Hollande, entschieden auf der Bremse […] Ein Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion könnte viele Skeptiker überzeugen, dass eine stärkere Integration der EU sinnvoll ist. (SP, 26/ 2015, S. 13) Die Problematik der voranschreitenden Integration in der Zeit der Euro-Währungskrise ist auch das Thema des „Stern“-Interviews mit dem deutschen Historiker Heinrich August Winkler. Zur Integration Europas äußert er sich folgendermaßen: (13) […] Merkel hat jedenfalls erkannt, dass nur Deutschland und Frankreich gemeinsam Europa weiter auf dem Weg der Integration voranbringen. Fürs Erste aber bedarf Europa verstärkter Zusammenarbeit zwischen den Regierungen […] Wir brauchen ein Europa, das kraftvoll mit einer Stimme spricht. Leider haben wir es unter den 28 Mitgliedern der EU aber auch mit einigen Staaten zu tun, die sich versündigen gegen die Grundprinzipien Europas […] STERN: Heißt: Wir leben in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten? Winkler: Wir befinden uns in einem Europa mehrerer Geschwindigkeiten. (ST, 2.7.2015, S. 42) Einen äußerst spannenden Beitrag zum Thema der Integration präsentiert Carolin Emcke in der Wochenendausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4./ 5.7.2015. Sie berichtet über den „zersplitterten europäischen Diskurs“ und greift dabei auf Aristoteles zurück: (14) In seinen Betrachtungen über den Aufbau des Kosmos, „De Caelo“, schreibt Aristoteles um 350 vor Christus, „dass die Masse (der Erde) überall gleichmäßig werden wird, wenn sich die Teile überall von den Enden her gleichmäßig zur Mitte hin bewegen. Denn wenn überall gleichmäßig zugeführt wird, so muss der Abstand der Grenze zur Mitte immer derselbe sein.“ Was bei Aristoteles als Argument für die kugelförmige Gestalt der Erde gedacht ist, dass der Abstand der Grenze zur Mitte immer derselbe sei, könnte auch eine schöne Beschreibung dessen sein, was dem europäischen Kosmos derzeit abgeht: das Wissen darum, dass Europa nur da existiert, wo es sich nicht mehr in Kategorien von Zentrum und Peripherie versteht, dass Europa sich nur da verwirk- Let’s talk European! 85 licht, wo alle Gesellschaften im selben Abstand zur Mitte gedacht werden und wo die Vielfalt der Sprachen und Blickrichtungen nicht in einmütige Provinzialität übersetzt wird. (SZ, 4./ 5.7.2015, S. 5) 8. sprache der Integration? let’s talk european Der von Carolin Emcke erwähnte „zersplitterte europäische Diskurs“ bedarf nach ihrer Meinung nicht allein einer politischen Architektur, sondern auch einer unabhängigen Öffentlichkeit, die mehr ist als nur mediale Spiegelung jeweils national bevorzugter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (SZ, 4./ 5.7.2015, S. 5). In ähnlichem Ton beklagt Heribert Seifert bereits 2007 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ den Zustand, dass hauptsächlich in den nationalen Medien über gesamteuropäische Themen debattiert werden muss, weil ein gemeinsames Mediensystem in Europa fehle. Eine einzige Ausnahme bilden auf diesem Feld die sogenannten supranationalen Wirtschaftsblätter, wie die „Financial Times“ oder der „Economist“, die sich jedoch an eine klar definierte Leserschaft wenden (vgl. Seifert 2007, S. B5). Nicht viel anders argumentiert auch der polnische Redakteur der Warschauer Wochenzeitung „Polityka“, Adam Krzemiński, in einem Zeitungstext der „Frankfurter Rundschau“ mit der Überschrift „Der unbekannte Nachbar“ (Krzemiński 2007b, S. 12). Krzemiński betont, dass in Europa 2007 weder vom übernationalen Mediensystem noch von der kollektiven Identität, die über eine gemeinsame Sprache verfügt, die Rede sein kann. Mit dem Englischen als lingua franca in Europa kommt man zwar weit, aber nicht weit genug, heißt es in dem Beitrag (vgl. Krzemiński 2007b, S. 12). Diese Thematik ist natürlich nicht neu. Bereits am 25. Oktober 1978 veröffentlicht die „Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland“ auf ihrer ersten Seite einen Kommentar mit der provokativen Frage: Ein Europa - eine Sprache? Die Ausführungen des Journalisten enden in der Folgerung: Die Nationalsprachen sind Europa nicht im Wege, sie sind ihm nicht hinderlich, sie sind das Gemein-Europäische (FAZ, 25.10.1978, S. 1). Dreißig Jahre später plädiert Krzemiński auf der Internetplattform signasight.com Let’s talk European! für das europäische Bewusstsein, ohne welches es eine „europäische Föderation“ nicht geben kann (vgl. Krzemiński 2007a, S. 12). Bei dem European handelt es sich natürlich nicht um eine Welthilfssprache wie Esperanto oder Ido, die Europäer lernen sollten, um miteinander ins Gespräch zu kommen, sondern um die europäische Öffentlichkeit, die aus dem Allgemeinwissen voneinander, dem gegenseitigen Verständnis füreinander und dem Einfühlungsvermögen für die Lage der „Anderen“ besteht. Leider beweist die Analyse der deutschen Berichterstattung während der Euro-Währungskrise in Griechenland, dass die Europäer von dem postulierten European noch weit entfernt sind. Darüber berichtet Carolin Emcke in der „Süddeutschen Zeitung“: Jarochna Dąbrowska - Burkhardt 86 (15) In der Krise zeigt sich, dass die Europäer kein Vokabular füreinander haben. Es reicht nicht, einzelne griechische Stimmen in die hübsch homogenen Gesprächskreise hiesiger öffentlich-rechtlicher Sender einzuladen. Das ist ehrenwert, versucht aber doch nur in der Not der Aktualität zu kompensieren, was sich langfristig nicht kompensieren lässt: das fehlende Wissen voneinander, das beschränkte Vokabular füreinander, die unvollständige kognitive Karte Europas. Es braucht vielmehr eine so alltägliche wie kontinuierliche Selbstverständigung darüber, wer wir sein wollen, was und wer schutzbedürftig ist in Europa, welche Differenzen anerkannt und welche abgebaut werden sollten, welche Verbindlichkeiten als zumutbar und welche Diskriminierungen als nicht tolerabel gelten sollten. (SZ, 4./ 5.7.2015, S. 5) In der SZ können wir aber auch lesen, dass in den sozialen Netzwerken bereits eine Vorahnung davon existiere, wie ein solch offenes, vielsprachiges Miteinander, das nicht nur die politischen, sondern auch die ästhetischen Vorstellungsräume Europas erweitert, funktionieren könnte (SZ, 4./ 5.7.2015, S. 5). Diese Meinung kann jedoch dadurch angefochten werden, dass der postulierte Diskurs nicht alle Regionen und Schichten, die beteiligt werden sollten, umfasst, sondern vor allem auf die Teil- oder Gegenöffentlichkeiten eines eher exklusiven oder jüngeren Milieus begrenzt sei. 9. fazit Das Untersuchungsziel dieses Beitrags bestand darin, mit diskurs- und politolinguistischen Methoden herauszuarbeiten, wie der im Sommer 2015 europaweit geführte Diskurs über die Euro-Währungskrise in Griechenland sich im öffentlichen politischen Sprachgebrauch Deutschlands manifestiert. Es wurde ein Versuch unternommen aufzuzeigen, dass die gemeinsame Sprache keine Conditio sine qua non für die Bildung der europäischen Öffentlichkeit ist. Die europäische Öffentlichkeit ergibt sich nämlich nicht allein aus der Vernetzung nationaler Öffentlichkeiten, im Sinne der Beschäftigung mit den gleichen Themen zur gleichen Zeit, sondern aus der Hinterfragung von Stereotypen, Vorurteilen und Klischees. Das Sich-Hineinversetzen in die Lage des Anderen, das Nachempfinden seiner Situation, das auf profunden Kenntnissen basiert, ermöglicht uns „Europa nicht mehr lokal oder imperial, sondern so vielsprachig und multiperspektivisch“ (SZ, 4./ 5.7.2015, S. 5), wie es ist, wahrzunehmen. 10. literatur Bosch, Peter/ Umbach, Carla (2007): Reference Determination for Demonstrative Pronouns. In: ZAS Papers in Linguistics 48, S. 39-51. Busse, Dietrich/ Teubert, Wolfgang (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Busse, Dietrich/ Her- Let’s talk European! 87 manns, Fritz/ Teubert, Wolfgang (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen, S. 10-28. Churchill, Winston (1946): Rede Churchills am 19. September 1946 in Zürich. In: Auswärtiges Amt (Hg.): Europa Dokumente zur Frage der europäischen Einigung. Bonn, S. 84-85. Dąbrowska-Burkhardt, Jarochna (2013): Die gesamteuropäischen Verfassungsprojekte im transnationalen Diskurs. Eine kontrastive linguistische Analyse der deutschen und polnischen Berichterstattung. Zielona Góra. Emmanouilidis, Janis A. (2011): Flexibilisierung. In: Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang (Hg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration. 12. Aufl. Baden-Baden, S. 223-228. Fischer, Joschka (2000): Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Frankfurt a.M. Herberg, Dieter et al. (2004): Neuer Wortschatz. 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Marina Foschi aLbErt wIe man In ItalIen üBer DIe Deutsche sprache Dachte - unD wIe man heute Denkt 1. einleitung Die Erforschung von Einstellungen und Meinungen, die Menschen zu ihrer Sprache oder zu den Sprachen anderer Menschen und Gruppen haben (Stickel/ Volz 1999, S. 5), verwendet manchmal Kategorien und Werturteile, die als „linguistisch verboten“ angesehen werden (vgl. Stickel 2003, S. 3). 1 Das ist beispielsweise der Fall, wenn man auf die Schönheit/ Hässlichkeit bzw. Schwierigkeit/ Einfachheit einer Sprache Bezug nimmt. Auch das, was Menschen über Sprachen denken, gehört nichtsdestoweniger zum Gegenstand der Sprachwissenschaften (vgl. Stickel/ Volz 1999, S. 5). Ausgehend von einer alten These des Essayisten und Literaturhistorikers Giulio Natali (1917), die eine grundsätzliche „antideutsche Haltung“ der Italiener postulierte, wird in diesem Beitrag zuerst der Frage nachgegangen, ob es in Italien historisch begründete, herkömmliche Stereotype gibt, die das heutige Deutschlandbild zu beeinflussen vermögen (Kap. 1). Den Hauptteil dieser Arbeit bildet ein Exkurs über historisch belegte Meinungen der Italiener im Laufe der Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen (Kap. 2). Der Exkurs zielt darauf, ein besseres Verständnis für die heutige Situation zu gewinnen. Diese wird schließlich an den Ergebnissen einer kleinen Umfrage dargestellt, die zeigt, wie die jüngere „Erasmus“-Generation von heute, die sich in Italien für ein Deutschstudium entschieden hat, über die deutsche Sprache denkt (Kap. 3). Die Untersuchung ist u.a. durch die Vorstellung motiviert, dass Einstellungen über die deutsche Sprache Einfluss darauf haben, ob etwa ein Germanistik- oder DaF-Studium aufgenommen wird (Stickel 2003, S. 4). Demgemäß könnte man sich die Frage stellen, woher bei jungen Italiener/ inne/ n der Bedarf entstehen soll, eine - wie Boccaccio sagte - „abscheuliche Sprache“ zu lernen, welche vielleicht für Tiere und Teufel besser geeignet ist als für Menschen. 2 1 Dieser Aufsatz wurde im Juli 2016 während eines dreimonatigen Aufenthalts am IDS Mannheim verfasst, der von der Alexander von Humboldt-Stiftung finanziert wurde. Ich danke dem Institutsleiter Prof. Dr. Ludwig M. Eichinger für die Einladung und meinem Projektpartner Hardarik Blühdorn für die sprachliche Beratung. 2 Über die bekannte Anekdote von Karl V, der Deutsch nur mit seinem Pferd sprach, vgl. Stickel (2003, S. 12). Mit der Formulierung orribili favelle ‘abscheuliche Sprachen’) bezieht sich Dante (Inferno III, 25) auf das grässlich dröhnende Geschrei der verdammten Seelen. Giovanni Boccaccio erklärt in seinen Anmerkungen zu Dantes ‘Inferno’: „[…] orribili favelle, cioè spaventevoli, Marina Foschi Albert 90 2. Die frage nach dem historischen gedächtnis Intellektuelle, wie Giulio Natali vermerkt (1917, S. 5), können durch nachhaltige Beeinflussung der öffentlichen Meinung ihr politisches Engagement zeigen. Natalis Versuch, den deutschen Kriegsfeind zu bekämpfen, bestand darin, die „wenigen Deutschlandfreunde“, die es in Italien noch gab, zu überzeugen, dass eine „antideutsche Haltung“ im Volksbewusstsein der Italiener tief eingewurzelt sei, wie die vielen Dialekte zeigen, die das Wort tedesco als Synonym für cocciuto, zotico, violento, brutale [‘stur’, ‘bäurisch’, ‘gewalttätig’, ‘brutal’] verwenden. Natalis Arbeit ist ideologisch geprägt, nationalistisch orientiert und zu propagandistischen Zwecken bestimmt. Seine Annahme über eine tendenziell antideutsche Haltung der Italiener, die im historischen Gedächtnis gründete, konnte damals allerdings ein gewisses Fundament aufweisen. Die Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen ist nämlich alles andere als eine friedliche. Seit den Völkerwanderungen der Franken im 8./ 9. Jahrhundert bis zum Ende des zweiten Weltkriegs ist es immer wieder der Fall gewesen, dass in der Rolle der militärischen Angreifer bzw. der ausländischen Herrscher die Deutschen auftraten und niemals umgekehrt - wenn man vom Gallischen Krieg Julius Caesars im Jahr 57 v.Chr. absieht. Das unter der Dynastie der Ottonen im 10. Jahrhundert entstandene Sacrum Romanum Imperium wurde erst 1806 durch Napoleon abgeschafft. Kaum zehn Jahre später fielen nach dem Wiener Kongress die Lombardei und Venetien, die Toskana sowie Parma und Modena unter die Vorherrschaft der deutschsprachigen Österreicher. Die Habsburger Hegemonie in Italien dauerte bis nach dem Ende des ersten Weltkriegs, als das Trentino und Triest dem neuen Königsreich Italien zugesprochen wurden. Ab 1943 waren von Norditalien bis Rom wieder deutschsprachige Besatzungsmächte politisch maßgebend. Insgesamt gesehen können nur zwei relativ kurze Zeitspannen als in staatspolitischer Hinsicht symmetrisch zwischen Italien und Deutschland gekennzeichnet werden: die Jahre des Dreibunds zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien (1882-1915) und die Jahre des fatalen Mussolini-Hitler-Bundes (1936-1943). Im Gegenzug können mindestens drei Wellen öffentlicher Deutschfeindlichkeit erkannt werden: die Zeit come son qui tra noi quelle de’ tedeschi, li quali sempre pare che garrino e gridino, quando piú amichevolmente favellano.“ [‘orribili favelle, d.h. furchtbar, wie uns die Sprechweise der Deutschen klingt, die den ständigen Eindruck vermitteln, dass sie schimpfen und schreien, auch wenn sie freundschaftlich miteinander reden.’] (Boccaccio, Giovanni (2005): Esposizioni sopra la Commedia di Dante, Biblioteca Italiana. In: www.bibliotecaitaliana.it). Ab jetzt, wenn nicht anders angemerkt, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin. Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 91 der organisierten Bürgerschaften (Comuni) gegen den deutschen Kaiser (ca. 12.-14. Jh.), Risorgimento (Epoche der nationalen Einigung) und Irredentismo gegen die österreichische Fremdherrschaft (beide 19. Jh.) 3 sowie die Resistenza-Bewegung gegen die nationalsozialistischen Besatzer. Eine im kollektiven Gedächtnis gespeicherte antideutsche Haltung der Italiener kann aus diesen Gründen nicht ausgeschlossen werden. Sie zeigt sich sogar an vielen Orten. 3. germanis bibere est vivere - Furor teutonicos - sermon barbaro e vile Das Bild der Deutschen in der italienischen Literatur scheint durch zwei Hauptcharakteristiken bestimmt zu werden, die als Züge der Germanen Topoi der antiken Romania darstellen: unmäßige Trinksucht und blinde Gewalttätigkeit (vgl. Rüdiger 1979/ 1980, S. 11). Das Klischee des übermäßigen Alkoholkonsums, im italienischen Mittelalter auch in Form lateinischer Sprüche verbreitet (z.B. Germanis bibere est vivere, zit. in Heitmann 1996, S. 191), stammt aus dem berühmten Werk Germania des Tacitus. Die ebrietas (‘die Trunkenheit’) der Germanen ist so übermäßig, dass man letztere, unterstreicht Tacitus, „durch diese Untugend leichter besiegen könne als mit Waffen“. 4 Auf die Raserei der Teutonen in der Schlacht - furor teutonicus genannt - verweist Lukan in seinem Epos De bello civili und bewundert sie dort mindestens teilweise als Tapferkeit. 5 Diese Topoi wurden von den Dichtern des Trecento wieder aufgenommen. Auf die tedeschi lurchi weist Dante in seinem Inferno (XVII, 21) hin, wobei das lateinische Wort lurco/ -onis - wie im Mittelalter noch üblich - im Sinne von ‘gefräßig’ verwendet wird. Das Bild dient Dante als Vergleich, um Geryon, das Monster des Betrugs, zu beschreiben: 3 Irredentismo bezeichnet die Bewegung für die Angliederung der italienischsprachigen terre irredente, der „unerlösten“ Gebiete, die nach der Gründung des italienischen Nationalstaates noch Teil des Kaisertums Österreich waren. 4 Vgl. Publius Cornelius Tacitus: De origine et situ Germanorum, Kapitel XXIII: „Si indulseris ebrietati suggerendo, quantum concupiscunt, haud minus facile vitiis quam armis vincentur.“ [‘Wenn man ihrer Trinklust entgegenkommen und herbeischaffen wollte, soviel sie begehren, so könnte man sie durch ihre Untugenden leichter besiegen als mit Waffen.’], zit. nach Griesheimer (2008, S. 31). 5 Lukans De bello civili (Liber I, Z. 254-256): „Nos primi Senonum motus Cimbrumque furentem/ vidimus et Martem Libyes cursumque furoris/ Teutonici“ [‘Wir haben die ersten Wanderungen der Senoner und den Einfall der Cimbern gesehen,/ sowie den afrikanischen Krieg und den Marsch der/ teutonischen Raserei’]. Quellen: www.poesialatina.it/ _ns/ Testi/ Lucan/ BellCiv01. htm; www.nimaatre.com/ Pharsalia.pdf (Stand: Januar 2017). Marina Foschi Albert 92 Come tal volta stanno a riva i burchi, che parte sono in acqua e parte in terra, e come là tra li Tedeschi lurchi lo bivero s’assetta a far sua guerra, così la fiera pessima si stava su l’orlo ch’è di pietra e ’l sabbion serra. 6 Gleich Barken, die am Ufer angefahren, Halb noch im Wasser, halb schon auf dem Sande Und wie beim Fischfang listig sich gebären Die Biber in der Deutschen Schlemmer Lande So saß das Scheusal, drohenden Leibes ragend Plump auf des Sandmeer steingefassten Rande. 7 6 7 Der furor teutonicus begegnet wieder bei Petrarca in der Canzone Italia mia, die vermutlich 1344/ 45 in Padua während der Kämpfe um die Herrschaft der Stadt entstand: Ben provide Natura al nostro stato, quando de l’Alpi schermo pose fra noi et la tedesca rabbia […]. (Canzoniere CXXVIII, 33-35). Die Natur hat für unsere Lage gut gesorgt, als die den Schutz der Alpen zwischen uns und die deutsche Wut gestellt hat […]. 8 8 Der Ausdruck tedesca rabbia bezieht sich hier nicht auf ein Besatzungsheer; es handelt sich vielmehr um Söldner in italienischen Diensten (vgl. Schönherr 2012). Deutsche Söldner zogen im 15./ 16. Jahrhundert scharenweise nach Italien. Die Landsknechte waren bekannt als besonders disziplinierte Kämpfer, die für ihre Herren zu allem bereit waren: Plündern, Rauben, Brandschatzen, Vergewaltigen, wie es sich vor allem bei dem berüchtigten Sacco di Roma im Jahr 1527 bewahrheitete. Das Wort lanzichenecco, aus dem dt. Landsknecht ins Italienische übernommen, bezeichnet noch heute in übertragener Bedeutung einen wilden und gewalttätigen Mensch, der im Dienste eines Mächtigen zu jeder Tat fähig ist (vgl. De Mauro 1999, S. 875). Die Begegnung der italienischen Bevölkerung mit den Landsknechten führte dazu, dass das Bild der Deutschen als rasende Krieger und barbarische Vielfraße um weitere Attribute bereichert wurden: blinder Gehorsam, Stumpfsinn, Pedanterie u.a. Figuren von aggressiven, tumben Deutschen tauchen nicht selten als Protagonisten volkstümlicher Literatur auf. Ein Beispiel dafür ist die Novelle CL aus Franco Sacchettis Il Trecentonovelle (1399), in der sich der kleinwüchsige Ritter der Florentiner Familie de’ Bardi weigert, die Herausforderung eines arroganten deutschen Ritters, der um seinen Helm kämpfen will, anzunehmen: 6 Quelle: www.divina-commedia.de/ projekt/ projekt.htm (Stand: Januar 2017). 7 Quelle: www.divina-commedia.de/ la_divina_commedia/ hoelle_017_la_divina_commedia.htm (Stand: Januar 2017). Übersetzung von Richard Zoozmann aus dem Jahre 1922. 8 Petrarca, Francesco (2006): Canzoniere. 50 Gedichte mit Kommentar. Italienisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Brockmeier. Stuttgart, S. 96. Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 93 Egli è il meglio che qui si vegga modo, però ch’egli è tanta la furia del cavaliere tedesco, ch’egli è tutto armato, e crediamo ora che sia a cavallo. Dicea il cavaliere de’ Bardi: - E’ può armarsi e fare ciò che vuole, ché io non sono uomo da combattere, e combattere non intendo. 9 Es ist das Beste, einen Ausweg zu finden, denn die Wut des deutschen Ritters ist so groß, dass er völlig gerüstet ist, und wir glauben, dass er hierher reitet. Ritter de’ Bardi sagte: - Er kann sich bewaffnen und tun was er will, ich bin aber kein Kämpfer und werde nicht kämpfen. 9 Der deutsche und der italienische Ritter der Trecentonovelle werden durch typisierende Attribute dargestellt: der Deutsche als unbeherrschter Choleriker, der Italiener als einer, der auf Provokationen klug und besonnen reagiert. Eine ähnliche Darstellung der gegensätzlichen Charakter findet sich in Petrarcas All’Italia, wo es heißt, dass die deutsche Raserei durch den Intellekt der Italiener gezähmt werden soll: Che il furor di lassù, gente ritrosa vincerne d’intelletto, peccato è nostro, e non natural cosa. (Canzoniere CXXVIII, 77-80). Wenn die Kriegswut von dort oben, einem harten Volk, uns an Verstand besiegt, so ist das unsere Schuld und nichts Natürliches. 10 10 Die Entgegensetzung der noch barbarischen Deutschen und der zivilisierten Italiener überträgt sich auf die Humanisten, die sich als die legitimen Erben der römischen Antike fühlen. An den Deutschen schätzen sie Kriegstüchtigkeit und simplicitas im Sinne von Tacitus, z.B. in Machiavellis Rapporto delle Cose d’Alemagna (1508; vgl. Griesheimer 2008, S. 34). Zur Vorstellung der unzivilisierten Deutschen passt das traditionelle Bild der tedeschi lurchi. In dem heroisch-komischen Gedicht La secchia rapita (Der geraubte Eimer, 1622) des Crusca-Akademikers Alessandro Tassoni wird die Trinksucht der Deutschen an der Figur eines „wackeren Reichsgrafen“ (Gesang III, Stanze 8) gezeigt, der ein „Todfeind von abgekochtem Wasser“ ist (Zeile III, 8, 8): Questi da Federico era mandato, non potendo venir egli in persona: gran baron de l’Imperio e lancia rotta, e nemico mortal de l’acqua cotta. 11 Der war an Kaiser Friedrich’s Statt gekommen; Denn selbst zu gehn stand diesem nicht wohl frei. Der Graf, ein Reichsgraf, war ein wackrer Degen, Und dem Getränk des Wassers ganz entgegen. 12 11 12  9 Quelle: https: / / it.wikisource.org/ wiki/ Il_Trecentonovelle/ CL (Stand: Januar 2017). 10 Petrarca, Francesco (2006): Canzoniere. 50 Gedichte mit Kommentar. Italienisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Brockmeier. Stuttgart, S. 96. 11 Tassoni, Alessandro (2008): La secchia rapita. IntraText CT. Abrufbar in: http: / / eulogos.net (Stand: Januar 2017). 12 Tassoni, Alessandro (1842): Der geraubte Eimer. Aus dem Italienischen übersetzt von Paul L. Kritz. Leipzig. Marina Foschi Albert 94 Der Barockdichter Giambattista Marino schildert in seinem Epos L’Adone (1623; Gesang XX, Gli spettacoli) ein Duell zwischen dem baumstarken Deutschen (aleman membruto) Altamondo und dem kleinen, agilen Griechen (d’ossa minor, di spirto pronto) Cariclio. Es ist ein Kampf zwischen körperlicher und geistiger Kraft, bei dem Cariclio, ein Inbegriff der griechisch-lateinischen Kultur, seine Überlegenheit beweist: Sorge Altamondo, un aleman membruto, di superbia e di vin fumante e caldo e non attende che col suono arguto l’inviti in campo a duellar l’araldo. Cariclio, il greco, è contro lui venuto, d’ossa minor, ma ben robusto e saldo, uom di corpo, di piè, di mano attivo, di spirto pronto e di coraggio vivo. (Stanze 224). Altamondo, der baumstarke Deutsche, taucht, brennend und glühend von Stolz und Wein, auf dem Kampffeld auf, ohne zu warten, dass ihn der Herold mit klingendem Laut zum Duell auffordert. Cariclio, der Grieche, kommt ihm entgegen, ein schlagfertiger Geist voller Mut, zarter gebaut, aber fest und robust, […]. Die Vorstellung, dass die Deutschen stärker und robuster, auf intellektueller Ebene aber weniger begabt als die Italiener sind, erklärt Lodovico Antonio Muratori (1672-1750), der führende Gelehrte der italienischen Aufklärung, in seiner Abhandlung von dem guten Geschmack mit Verweis auf das Klima und die geographische Umgebung: E parte degli Alemanni si può bensì dire Superiore a noi altri in robustezza di corpi, contribuendo il freddo lor Clima a farli così vigorosi, e di vita anche più durevole ad onta de i disordini, ch’eglino fanno talvolta; ma non si può già dire che in bontà d’Ingegno, e in acutezza di Giudizio universalmente sieno Eguali, non che Superiori, alla Nazione italiana. 13 Offensichtlich sind uns viele Deutsche überlegen, was die körperliche Stärke angeht. Ihr kaltes Klima bewirkt es, dass sie so kräftig sind und ein längeres Leben haben als wir, trotz ihrer gelegentlichen Ausschweifungen. Man kann aber sicher nicht behaupten, dass sie dem italienischen Volk geistig und intellektuell ebenbürtig, geschweige denn überlegen sind […]. 13 Die Rauheit des Klimas als Ursache der Rohheit der Menschen ist auch für Girolamo Tagliazucchi, Professor der Redekunst zu Turin, ein Motiv, das er in seinem Testamento della lingua latina (1757) auf die „barbarische und verachtenswerte“ deutsche Sprache (sermon barbaro e vile) anwendet: 13 Aus: Riflessioni di Lamindo Pritanio sopra alcuni punti del Buon-Gusto nello studio delle Scienze e dell’Arti, per servigio della Repubblica Letteraria d’Italia. In: Ponzelli, Giuseppe (Hg.) (1757): Raccolta delle opere minori di Lodovico Antonio Muratori. Napoli, S. 49-298. Hier S. 142. Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 95 O gente alpestre e dura, nata ove il mare agghiaccia, / e dove par che il sole sdegni mostrar sua faccia; / gente d’agresti voglie, di rozzo, incolto ingegno, / la cui medesma lingua di feritate è segno, / non era assai d’Italia funestar le contrade / con un diluvio immenso d’aste guerriere e spade, / senza voler col tuo sermon barbaro e vile / corrompere e guastar il mio grande e gentile? (Tagliazucchi 1791, S. 214). Ihr harten Leute aus den Alpen, geboren wo das Meer gefriert, / und die Sonne sich weigert, ihr Gesicht zu zeigen; / Leute von bäurischem Geschmack, von rauem, ungebildeten Geist, / deren Sprache selbst Wildheit zeigt, / genügt es euch nicht, unser Land mit einer Riesenflut kriegerischer Stangen und Schwerter zu überschwemmen? Müsst ihr obendrein mit eurer barbarischen, verachtenswerten Rede unsere große, edle Sprache verderben und zerstören? Erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein positiveres Bild Deutschlands als Kulturnation, das vor allem der literarischen Auseinandersetzung mit M.me de Staëls Aufsatz De l’Allemagne (1813) zu verdanken ist (vgl. Ubbidiente 2004, S. 99). In dieser Zeit entstehen die ersten Übersetzungen deutscher Literatur ins Italienische und die Pionierstudien der italienischen Germanistik (vgl. Foschi 2005, S. 169). Anerkennende Bemerkungen über das Erblühen der deutschen Sprache in der Literatur seiner Zeit findet man in Giacomo Leopardis Zibaldone, dem philosophischen Tagebuch, das er in den Jahren 1817-1832 verfasste (vgl. Ubbidiente 2004, S. 95): La lingua tedesca, rimasa [sic] per tanti secoli impotente ed umile, ancorché parlata da tanta e sì estesa moltitudine di popoli, non per altro che per aver avuto nell’ultimo secolo e ne’ pochi anni di questo, immensa copia e varietà di scrittori, è sorta a sì alto grado di facoltà e di ricchezza e potenza. 14 Viele Jahrhunderte lang war das Ausdrucksvermögen der deutschen Sprache beschränkt und bescheiden, obwohl sie von vielen verschiedenen Völkern gesprochen wurde. Dank der ungeheuren Zahl und Vielfalt an Dichtern, die im vorigen und in unserem noch jungen Jahrhundert tätig waren, ist die deutsche Sprache weitaus reichhaltiger und ausdruckskräftiger geworden. 14 Gleichzeitig führt im 19. Jahrhundert der Unabhängigkeitskampf gegen die deutschsprachigen Österreicher zur Wiederbelebung antideutscher Ressentiments. Im Zeitalter des Risorgimento lebt der humanistische Begriff der „edlen Latinität“ wieder auf und wird auf die ideologisch-politischen Fragen der nationalen Identität Italiens übertragen, die keinen Einfluss der germanischen Kultur dulde (vgl. Griesheimer 2008, S. 22). Alte Klischees kehren wieder, z.B. das Bild der tedeschi lurchi, so in Giosuè Carduccis Della Canzone di Legnano I, Il Parlamento (Gesang von Legnano, Erster Teil 1879, unvollendet, Die Ratsversammlung): 14 Zit. nach Ubbidiente (2004, S. 101). Marina Foschi Albert 96 “Signori milanesi,„ il consol dice, “La primavera in fior mena tedeschi Pur come d’uso. Fanno pasqua i lurchi Ne le lor tane, e poi calano a valle. (III, 21-24). 15 - Ihr Herrn von Mailand, - spricht der Konsul, - wieder Bringt uns die Zeit der Blüten deutsche Gäste, Nach altem Brauch. In ihren Höhlen feiern Die Fresser Ostern, und dann gehts zu Tal. 16 15 16 Die Besatzer als Unbedarfte, denen die schlauen Italiener Überlegen sind, bietet sich als lustiges Motiv für die volksnahe Literatur an. Die folgenden beiden Anekdoten erzielen ihre Effekte auch durch die „deutsche“ Redeweise der Figuren, wobei typische lautliche fehler besonders herausgestellt werden (Ersetzung stimmhafte durch stimmlose Frikative: Dofe afer ti fisto statt „dove aver ti visto“ [= dove hai visto]; Mi afer fiste statt „mi aver viste“ [= ho visto]. Die erste Anekdote ist anonym (1848); die zweite stammt aus der Sammlung des Volkskundlers Arrigo Balladoro (1897): L’altro giorno, al cessar d’un temporale / che fra i monti di Como fece orrori, / comparve, in onta al veto imperiale, / un’iride con gl’itali colori. / Guardando in su, la vide un caporale / e ne fece rapporto ai superiori: / - Mi afer fiste in montagna tale quale / pandiera d’italiani traditori. (Zit. in Natali 1917, S. 21). Vor einigen Tagen, nach einem Regensturm / der in den Bergen von Como Schrecken auslöste, / erschien, trotz kaiserlichen Verbots, / ein Regenbogen mit den italienischen Farben. Ein Korporal sah ihn hinaufblickend / und berichtete den Vorfall seinen Vorgesetzten: / Auf den Bergen habe ich genau die Fahne der italienischen Verräter gesehen. Un todesco, credendose furbo, l’à domandà a ’n venezian, par torlo in giro: - Dofe afer ti fisto leone con ali? - E quel altro el gh’ à risposto: - In quel istesso bosco dove vu altri avì visto l’acquila con do teste. 17 Ein Deutscher, der sich für klug hält, fragt einen Venetianer, um ihn zu necken: - Wo hast du gesehen geflügelten Löwen? 18 Der Venetianer antwortet: - In dem gleichen Wald, in dem ihr den zweiköpfigen Adler gesehen habt! 17 18 Facettenreicher ist das Bild der deutschsprachigen Besatzer in Giuseppe Giustis Sant’Ambrogio (1846), wo die „nördlichen Soldaten“ (soldati settentrionali) zuerst als gehorsame Knechte und mit bestialischen Zügen (musi) beschrieben werden, danach Opfer der Interessen der Mächtigen werden: 15 Carducci, Giosuè (1906): Poesie MDCCCL-MCM. Bologna. Abrufbar unter: https: / / it.wikisource. org. 16 Quelle: Carducci, Giosuè (1969): Gedichte. Übersetzt von Bettina Jacobson. Abrufbar unter: http: / / gutenberg.spiegel.de. 17 Balladoto, Arrivo (1897): Folklore veronese: aneddoti satirici su i Tedeschi. Verona, S. 12. 18 Gemeint ist das Wappentier Venedigs. Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 97 Entro, e ti trovo un pieno di soldati, Di que’ soldati settentrïonali, Come sarebbe Boemi e Croati, Messi qui nella vigna a far da pali: Difatto, se ne stavano impalati, Come sogliono in faccia a’ Generali, Co’ baffi di capecchio e con que’ musi, Davanti a Dio diritti come fusi. […] A dura vita, a dura disciplina, Muti, derisi, solitari stanno, Strumenti ciechi d’occhiuta rapina Che lor non tocca e che forse non sanno […]. (Sant’Ambrogio III, 17-24; XI, 81-88). 19 Drinnen in der Kirche sehe ich lauter Soldaten, nördliche Soldaten, / wie Böhmen und Kroaten, / aufgestellt wie die Stöcke im Weinberg: / ja, tatsächlich, sie standen wie gepflanzt, / wie sie zu tun pflegen vor ihren Generälen, / mit Schnurrbärten aus Hanf und mit diesen Mäulern, / und kerzengerade vor Gott. […] In hartem Leben und harter Disziplin / stehen sie da: stumm, verspottet, einsam, / blinde Werkzeuge eines geplanten Raubes / der sie nicht betrifft und von dem sie vielleicht nichts wissen […]. 19 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird von der italienischen Regierung das Bild des aggressiven, brutalen deutschen Kriegers als antipreußische Propaganda verwendet, um den Kriegseintritt von 1912 gegen die Bündnispartner der Triplice Alleanza vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen: 20 Giulio Natalis These (s.o. Kap. 1) ist ein Produkt dieser Zeit. Auf ähnliche Art und Weise wurde die antideutsche Haltung der Italiener in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch die öffentliche Darstellung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gefördert, mit der aber ganz andere ideologisch-politische Zwecke verfolgt wurden. Angesichts zunehmender Spannungen zwischen den unterschiedlichen politischen Kräften, die sich an der Resistenza beteiligt hatten, konnte die Rückbesinnung auf den gemeinsamen Feind als versöhnendes Argument wirken. 21 In der Literatur- und Filmproduktion der Nachkriegszeit wird der deutsche Feind in besonders dunklen Farben gezeichnet, die das persönliche Erleben der italienischen Bevölkerung wiedergeben. Berühmte Werke wie der neorealistische Film Roma città aperta (Rom, offene Stadt, 1945) von Roberto Rossellini oder der Internierungsbericht des Holocaust-Überlebenden Primo Levi Se questo è un uomo (Ist das ein Mensch? , 1947) verwandeln das im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Bild des wilden, trinklustigen, barbarisch-einfältigen Deutschen in die Figur des blind gehorchenden, brutalen unmenschlichen Nazis. Zu dessen typischen Attributen gehört wiederum 19 https: / / it.wikisource.org/ wiki/ Sant%27Ambrogio (Stand: Januar 2017). 20 So nach dem Historiker Enzo Collotti (1997, S. 72) (vgl. Griesheimer 2008, S. 39). 21 Nach der These des Historikes Gian Enrico Rusconi (1990, S. 216) (vgl. Griesheimer 2008, S. 41). Marina Foschi Albert 98 die deutsche Sprache, die in den Texten oft in der Form von Ein-Wort-Befehlen auftritt. Ein Beispiel dafür ist die folgende Stelle aus dem Roman L’Agnese va a morire (Agnese geht in den Tod, 1949) von Renata Viganò: Il tenente balzò a terra, spianò la rivoltella, gridò istericamente: - Alt! - […]. Tu venire. Komme an, disse il soldato. Tu vecchia venire e dire dove essere partesani -, Chiese qualche cosa in tedesco al tenente e lui rispose; nello scattare dei suoni strozzati e incomprensibili, anche se deformato dall’accento straniero, l’Agnese riconobbe il nome del suo villaggio. Introdusse nelle ciabatte i piedi coperti di fango, raccolse le sporte; il soldato gliele strappò di mano, le infilò nel manubrio della bicicletta. - Vedere poi cosa tu portare qui dentro. - Raus, - disse il tenente. 22 Der Leutnant sprang ab und zog die Pistole. / „Halt! “, brüllte er hysterisch, […]. „Tu venire - mitkommen“, brüllte der Soldat, „du, Alte, mitkommen und sagen, wo Partesani sind.“ / Er fragte den Leutnant etwas auf Deutsch, und obwohl die Antwort durch den fremden Tonfall entstellt war, hörte Agnese aus den atemlosen und unverständlichen Lauten den Namen ihres Dorfes heraus. Sie steckte die schlammbedeckten Füße in die Pantinen und hob die Körbe auf. / Der Soldat riss sie aus der Hand und hängte sie an den Lenker des Fahrrads. „Sehen später, was du da tragen.“ / „Vorwärts! “, befahl der Leutnant. 23 22 23 Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien zunehmend durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union geprägt. Die politische Partnerschaft wird durch die vielfältigen Kontakte zwischen Bürgern aller Altersgruppen und sozialen Schichten verfestigt, die aus touristischen oder beruflichen Gründen wie auch auf Studien- und Forschungsaufenthalten entstehen. Es scheint, dass das Bild Deutschlands als Wirtschaftsmotor Europas in der öffentlichen Meinung insgesamt eher positiv als negativ bewertet wird. Italienische DaF- und Germanistik-Studierende werden heute nicht länger mit der Frage konfrontiert, die der Generation ihrer Eltern bis in die frühen achtziger Jahre hinein noch gestellt wurde: „Wie kannst du die Sprache der nationalsozialistischen Besatzer studieren? “ - wie ich aus persönlicher Erfahrung als Germanistik-Studentin jener Jahre und als heutige Mutter berichten kann. 24 Unter diesen günstigen Umständen fragt man sich, ob negative Stereotype über die deutsche Sprache und die Deutschen im Bewusstsein der jungen Italiener/ innen weiterhin präsent sind. 22 Viganò, Renata (1952): L’Agnese va a morire. Turin, S. 223. Online unter: https: / / archive.org. 23 Viganò, Renata (2014): Agnese geht in den Tod. Hamburg, S. 199. 24 Die Verbreitung des DaF-Unterrichts an den italienischen Schulen und Universitäten kann heute als insgesamt stabil angesehen werden, wobei insbesondere ein anwachsendes Interesse für DaF als studienbegleitendes Fach zu registrieren ist (vgl. Hepp i.Dr.). Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 99 4. eine umfrage unter italienischen studierenden Um dieser Frage nachzugehen, habe ich im Juni 2016 eine kleine Umfrage mit 102 italophonen Studierenden der Germanistik an der Universität Pisa durchgeführt. 25 Die erhobenen Daten wurden zu zwei Themenblöcken geordnet: Zunächst (Abschnitt 4.1) geht es um Alter und Geschlecht der Befragten sowie um persönliche Beziehungen zur deutschen Sprache und zu den deutschsprachigen Ländern. Ferner werden Meinungen über die wirtschaftliche Lage der deutschsprachigen Länder im Vergleich zu Italien und zur eigenen Situation erfragt. Anschließend (Abschnitt 4.2) werden Einstellungen und Eigenschaftszuschreibungen mit Bezug auf die deutsche Sprache und auf die Bewohner der deutschsprachigen Länder erkundet. 4.1 Befragte und Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse Die Befragten sind Bachelor-Studierende im Alter von 18 bis 29 Jahren: 88 Studentinnen und 14 Studenten, davon 96 Italiener/ innen und sechs Studierende nicht-italienischer Herkunft, die aber seit mindestens drei Jahren in Italien leben. Die Mehrzahl der Befragten (56%) stuft ihre DaF-Kompetenz als fortgeschritten ein; ein Drittel (33%) gibt an, Anfänger der deutschen Sprache zu sein. 84% geben an, zur Zeit der Umfrage noch keinen längeren Aufenthalt in einem deutschsprachigen Land absolviert zu haben. 86% der Befragten beurteilen die heutige wirtschaftliche Lage in Deutschland als gut bzw. sehr gut, 14% als teils gut/ teils schlecht. In Bezug auf Österreich und die Schweiz bewerten 74% die Lage als gut oder sehr gut. Im Gegensatz dazu erscheint die wirtschaftliche Lage Italiens der Mehrzahl der Befragten (71%) als schlecht oder sehr schlecht; 29% bewerten sie als teilweise gut/ teilweise schlecht. Die eigene Situation wird eher positiv bewertet: 55% beurteilen sie als gut oder sehr gut, 36% geben „teils gut/ teils schlecht“ an. 93% der Befragten geben an, sehr große bzw. große Hoffnungen auf eine künftige Verbesserung ihrer Lage zu haben. 4.2 Einstellungen und Meinungen über die deutsche Sprache und über die Sprecher des Deutschen Zum Einstieg wurden die Studierenden gefragt, wie die Italiener/ innen insgesamt nach ihrer Einschätzung die deutsche Sprache bewerten. 39% gaben an, die deutsche Sprache gefalle den Italiener/ innen gut oder sehr gut. 28% 25 Konzeption und Material der Untersuchung fanden Inspiration beim Forschungsprojekt Erkundung und Analyse aktueller Spracheinstellungen in Deutschland (vgl. Gärtig/ Plewnia/ Rothe 2010, S. 7) - bei großen Unterschieden in Umfang und Systematik. Marina Foschi Albert 100 beobachten eine gewisse Sympathie für die deutsche Sprache („teils/ teils“). 33% geben an, die deutsche Sprache errege in Italien Abneigung. Auf die anschließende Frage nach der eigenen Bewertung der deutschen Sprache geben 80% an, das Deutsche gefalle ihnen gut oder sehr gut, 19% entscheiden sich für „teils/ teils“. Die Aufforderung, die deutsche Sprache in Bezug auf fünf Eigenschaften zu bewerten - „logisch“, „schön“, „melodisch“, „einfach“ und „weich“ - wird folgendermaßen geantwortet (Abb. 1): abb. 1: Eigenschaftszuschreibungen für die deutsche sprache 97% der Studierenden erscheint Deutsch als eine logische Sprache, eine Meinung, die vielleicht auf Schulwissen über Philosophen wie Kant oder Hegel zurückzuführen ist. Auffällig häufig (78%) wird das Deutsche auch als „schön“ bewertet. Eine gewisse Unsicherheit herrscht bei der Bewertung des Klangs: Immerhin 33% bewerten das Deutsche als „melodisch“, aber 53% bestreiten diese Eigenschaft, und sogar 61% lehnen die Eigenschaft „weich“ ab. 58% der Befragten halten das Deutsche für „schwierig“ - ein Ergebnis, das bei Lernenden auf Grund- und Mittelstufenniveau nicht überrascht. Zuletzt wurden die Studierenden gebeten, dem/ der typischen Sprecher/ in des Deutschen Werte für die Eigenschaften „gebildet“, „freundlich“ und „temperamentvoll“ zuzuordnen. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse. abb. 2: Eigenschaftszuschreibungen: sprecher des Deutschen Mit 78% findet „gebildet“ die höchste Zustimmung vor „freundlich“ (66%). Nur 9% halten die Sprecher/ innen des Deutschen für „temperamentvoll“. Ergänzend wurde gefragt, ob die Eigenschaften für alle Sprecher des Deutschen Wie man in Italien über die deutsche Sprache dachte - und wie man heute denkt 101 gelten oder nach geografischen Regionen differenziert sind. Etwa die Hälfte der Befragten sprach allen Deutschsprechern die gleichen Eigenschaften zu; die andere Hälfte war der Meinung, dass Unterschiede zwischen den Regionen bestehen. Auffällig ist in Abbildung 2 die hohe Anzahl der Enthaltungen, was ein Hinweis darauf sein kann, dass die jüngere Generation dazu neigt, bei Urteilen über Personen Verallgemeinerungen zu vermeiden. 5. fazit Die kleine Umfrage hat gezeigt, dass im Bewusstsein der jungen Italiener/ innen das historisch tradierte Bild der Deutschen als stumpfsinnige Säufer und Menschenschinder, die entweder gehorchen oder Befehle brüllen, erodiert ist. Die Germanistik-Studierenden aus Pisa sehen im Deutschen eine logische, schöne Sprache und in den Sprechern des Deutschen gebildete, freundliche Menschen. Wahrscheinlich setzen sie große Hoffnung in ihre beruflichen Perspektiven in den deutschsprachigen Ländern mit ihren soliden Wirtschaftssystemen, die in unverkennbarem Gegensatz zur angeschlagenen Wirtschaft Italiens stehen. Ob auch Hoffnungen bestehen, dass die deutsche Sprache einfacher oder die Deutschen temperamentvoller werden, konnte nicht ermittelt werden. 6. literatur Collotti, Enzo (1997): I tedeschi. In: Mario Isnenghi (Hg.): I luoghi della memoria. Personaggi e date dell’Italia unita. Bari, S. 65-86. De Mauro, Tullio (1999): Grande Dizionario Italiano dell’Uso. Bd. 3. Turin. Foschi Albert, Marina (2005): „Andere Länder, andere Sitten“. Germanistik in Italien und ihr Verhältnis zur Inlandsgermanistik. In: Deutsche Sprache 33, S, 169-181. Gärtig, Anne-Kathrin/ Plewnia, Albrecht/ Rothe, Astrid (2010): Wie Menschen in Deutschland über Sprache denken. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativerhebung zu aktuellen Spracheinstellungen. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 40). Mannheim. Griesheimer, Anna (2008): Deutschland in der italienischen Literatur seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Diss., Univ. Passau. Passau. Heitmann, Klaus (1996): Das Deutschenbild im italienischen Mittelalter. In: Heitmann, Klaus (Hg.): Spiegelungen. Romanistische Beiträge zur Imagologie. (= Studia Romanica 86). Heidelberg, S. 163-201. Hepp, Marianne (i.Dr.): Quantitativer und qualitativer Wandel der DaF-Vermittlung. In: Akten des XIII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG), August 2015. Schanghai. Marino, Giambattista, L'Adone (1623). In: Tutte le opere di Giovan Battista Marino, Bd. 2, 1. hg. von Giovanni Pozzi. Milano. 1976. Abrufbar unter: https: / / it.wikisource. org/ wiki/ Adone. Marina Foschi Albert 102 Natali, Giulio (1917): Scrittori italiani antitedeschi. Campobasso. Rüdiger, Horst (1979/ 1980): Die italienischen Stereotypen von den Deutschen und ihre Ursprünge oder von der Zähigkeit literarischer Klischees. In: Jahresring 26, S. 8-19. Rusconi, Gian Enrico (1990): Capire la Germania. Un diario ragionato sulla questione tedesca. Bologna. 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Monica FürbachEr / taMás VáraDi / anDrEas witt DIgItale forschungsInfrastrukturen: Ihre nutzung Durch DIe mItglIeDer Der europäIschen föDeratIon natIonaler sprachInstItutIonen 1. einleitung Professor Stickel war von 1976 bis 2002 Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, einer zentralen außeruniversitären Institution, deren Aufgabe die Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte ist. Nach seinem Ausscheiden widmete er sich dem Aufbau einer Föderation, die sich mit der Bewahrung der europäischen Sprachen und der damit einhergehenden sprachlichen Vielfalt beschäftigt. Ein herausragendes Ergebnis dieser Aktivitäten war die Konstituierung der unabhängigen Organisation European Federation of National Institutions for Language (EFNIL), 1 die am 14. Oktober 2003 von 12 Vertretern aus Institutionen der EU-Mitgliedsstaaten in Stockholm gegründet wurde. EFNIL vereint zentrale nationale wie internationale Institutionen innerhalb der Europäischen Union (EU), die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Landessprache(n) nicht nur zu beobachten und zu analysieren, sondern sprachliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder gar sprachpolitische Richtlinien zu konzipieren, um den Erhalt der jeweiligen Sprache zu gewährleisten. Zurzeit besteht die Föderation aus 27 Mitgliedern sowie aus zwei assoziierten Mitgliedern. EFNIL bietet diesen Instituten eine Plattform, zum einen um Informationen über die jeweiligen, offiziell anerkannten (Standard-)Sprachen auszutauschen, zum anderen aber auch zur gegenseitigen Unterstützung von sprachpolitischen Richtlinien in der EU. Daneben hat sich EFNIL zum Ziel gesetzt, die linguistische sowie kulturelle Diversität innerhalb der EU zu bewahren und zu fördern. Der Informationsaustausch zwischen den EFNIL-Mitgliedern und die internationale Sichtbarkeit dieser Föderation werden u.a. durch die jährlich stattfindende Tagung gefördert, die Verabschiedung von Resolutionen und die Publikation von Jahrbüchern, die über die EFNIL-Webseite frei zugänglich sind. 1 www.efnil.org (Stand: 18.11.2016). Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt 104 Eines der EFNIL-Mitglieder ist das Institut für Deutsche Sprache, nicht zuletzt dank Gerhard Stickel, der als einer der Gründungsmitglieder von der ersten Stunde an mit der Föderation vertraut ist. Bis heute ist Professor Stickel Präsident der EFNIL und vertritt als Repräsentant das IDS. Innerhalb EFNILs wird die linguistische Situation in der EU beschrieben und wissenschaftlich analysiert und es werden darüber hinaus cross-linguale Probleme sowie Schwierigkeiten hinsichtlich der sprachpolitischen Standardisierung eingehend geprüft. Des Weiteren unterstützt EFNIL die Untersuchung der offiziellen europäischen Sprachen, um die schriftliche und mündliche Qualifikation zu fördern, indem sie Nicht-Muttersprachlern ermöglicht, die jeweilige(n) (National-)Sprache(n) zu lernen und sich mit Studierenden und Lehrenden innerhalb der EU auszutauschen. Die zunehmende Bedeutung der Forschungsinfrastruktur offenbarte sich bereits bei der Jahrestagung 2010 „Language, Languages and New Technologies“, bei der sich die EFNIL-Mitglieder mit dem Einsatz und der Nutzung von Informationstechnologien für eine verbesserte Sprachforschung und -dokumentation innerhalb der europäischen Länder auseinandersetzen und ihre Entwicklung, ihre aktuelle Situation und ihre Zukunftsperspektive analysierten. 2. (weiter-)entwicklung von (elektronischen) sprachdaten Schon früh wurden Daten erhoben und gesammelt, um die Sprache zu analysieren, den Sprachwandel nachvollziehen zu können sowie Muster und Regeln in ihr zu erkennen, aber auch zur Belegsammlung. Bereits 1854 veröffentlichten die Gebrüder Grimm das erste Deutsche Wörterbuch (DWB), das von einer akribischen Belegsammlung der deutschen Sprache zeugt. 2 Auch in anderen Ländern wurden textuelle Daten als Belege gesammelt, so wurde der erste Teil des Oxford English Dictionary (OED) bereits 1884 veröffentlicht - der vierte Teil 1928. 3 Während Texte vormals gedruckt vorlagen und manuell gesichtet wurden, begann man schließlich diese elektronisch zu sammeln. So wurde bereits Anfang der 1960er Jahre an der Brown University das erste, heutzutage als Brown Corpus bekannte Korpus von W. Nelson Francis und Henry Kučera veröffentlicht. Ihr Korpus des amerikanischen Englisch der Gegenwartssprache umfasste 500 Belegtexte mit ca. 2.000 Wörtern und mit bereits damals insgesamt ca. 1 Million Wörtern (Francis/ Kučera 1979). 2 Mittlerweile ist das DWB auch online zugänglich: http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB (Stand: 18.11.2016). 3 Im OED lässt sich auch online recherchieren: www.oed.com (Stand: 18.11.2016). Digitale Forschungsinfrastrukturen 105 abb. 1: auszug eines wortformenregisters aus dem Jahr 1975 Mit der elektronischen Erfassung von Sprachdaten begann man kurz darauf auch in Deutschland. So fing das Institut für Deutsche Sprache (IDS) kurz nach seiner Gründung in den 1960er Jahren an, deutschsprachige Texte elektronisch auf Lochkarten zu sammeln. Mit einem Umfang von 293 Texten, die zusammen 2,2 Millionen Wörter beinhalteten, veröffentlichte das IDS 1969 mit dem Mannheimer Korpus I (MK I) das erste elektronische Korpus deutschsprachiger Texte. Es bestand zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich aus literarischen, aber auch aus populärwissenschaftlichen Werken sowie Zeitungstexten (Teubert/ Belica 2014). Im Jahr 1975 wurden einige der IDS- Korpora auf Endlospapier gedruckt und im IDS archiviert. Auch das LIMAS- Korpus (Linguistik und Maschinelle Sprachbearbeitung), in dem von 1970 bis 1971 zu 33 Themenbereichen 500 Textstücke mit je 2.000 Textwörtern festgehalten wurden, befindet sich bis heute im Archiv des IDS. abb. 2: Ein teil des LiMas-korpus Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt 106 abb. 3: belegtext aus dem LiMas-korpus Neben der Sammlung schriftlicher Sprachdaten wurden auch Aufnahmen von gesprochener Sprache sowie deren Transkriptionen gesammelt. Bereits 1932 wurde das Deutsche Spracharchiv (DSAv) gegründet, welches 1971 in das IDS integriert wurde. Das DSAv wurde 2004 in Archiv für Gesprochenes Deutsch (AGD) umbenannt und wird bis heute weiter ausgebaut. In den darauffolgenden Jahrzehnten kamen weitere schrift- und gesprochensprachliche sowie multimodale Korpora hinzu, die für unterschiedliche Zwecke entwickelt wurden. Dabei existieren neben den klassischen Referenzkorpora auch Lernerkorpora, Parallel- und Vergleichskorpora sowie genrespezifische und historische Korpora, um nur ein paar zu nennen. Die Korpora unterscheiden sich dabei nicht nur von ihrer Art und Umfang, sondern sie sind verschiedenartig getaggt. Dadurch werden Korpora auf immer mehr Gebieten zur Thesenstützung oder -überprüfung verwendet, wie beispielsweise in der theoretischen/ quantitativen Linguistik, in der Grammatikographie wie auch in der Lexikographie, der Translationswissenschaft sowie in der Computerlinguistik. Sinn und Zweck solch großer Korpora ist es, eine zuverlässigere Beschreibung der deutschen Standardsprache, Dialekte und regionale Unterschiede sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu erhalten, um so germanistisch-linguistische Fragestellungen zu lösen. 3. Digitale sprachressourcen heute Mittlerweile existieren verschiedene Arten von digitalen Sprachressourcen. Abgesehen von großen Korpora, bestehend aus verschiedenen Archiven und Unterarchiven, wurden auch spezialisierte Korpora, z.B. genre- oder regio- Digitale Forschungsinfrastrukturen 107 nalspezifische, entwickelt. Neben maschinell getaggten existieren auch manuell annotierte Korpora, die jeweils unterschiedliche (Such-)Funktionen ermöglichen. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an lexikalisch-semantischen Netzen, wie beispielsweise GermaNet, 4 WordNet 5 oder TemaNet. 6 Der Zugang zu diesen digitalen Sprachressourcen erfolgt unterschiedlich. Ein Teil der Ressourcen ist online frei zugänglich oder erfordert eine Registrierung, nach der man unter Umständen dennoch einen eingeschränkten Zugriff auf die unterschiedlichen Archive besitzt, während ein anderer Teil kostenpflichtig ist. Grund dafür sind hauptsächlich rechtliche Belange. Darüber hinaus sind viele der Ressourcen weit verteilt und nur schwer auffindbar. Mit mittlerweile über 29 Milliarden Wörtern zählt das am IDS verankerte Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) als die weltweit größte Datensammlung deutschsprachiger Texte. Das DeReKo gliedert sich in mehrere Korpora, auf die sich nach einmaliger, kostenloser Registrierung über die Schnittstelle COSMAS II 7 (Corpus Search, Management and Analysis System) zugreifen lässt. Die komplette Datensammlung ist dabei nicht nur mit Metadaten, wie beispielsweise Autor, Verlag und Entstehungsort, versehen, sondern auch mit dem TreeTagger, 8 dem Machinese Phrase Tagger 9 und anderen Werkzeugen morphosyntaktisch annotiert, wodurch Suchanfragen unterschiedlicher Granularität zur Findung grammatischer Muster ermöglicht wird. Das an der Ungarischen Akademie entwickelte Hungarian National Corpus (HNC) 10 verfügt derzeit über ca. 187 Millionen Wörter (Stand: November 2016). Das Korpus besteht aus fünf genrespezifischen Subkorpora (press, literature, science, official, personal) sowie aus weiteren fünf regionalsprachlichen Subkorpora (Hungary, Slovakia, Subcarpathia, Transylvania, Vojvodina), die nach der einmaligen Registrierung zur Verfügung stehen. Es ist komplett morphosyntaktisch annotiert hinsichtlich Wortstamm, POS-Tag und Flexionsform.  4 www.sfs.uni-tuebingen.de/ GermaNet (Stand: 18.11.2016).  5 https: / / wordnet.princeton.edu (Stand: 18.11.2016).  6 http: / / cvc.instituto-camoes.pt/ tecnologias-da-lingua/ temanet.html (Stand: 18.11.2016).  7 www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ web-app (Stand: 18.11.2016).  8 www.cis.uni-muenchen.de/ ~schmid/ tools/ TreeTagger (Stand: 18.11.2016).  9 www.connexor.com/ nlplib/ ? q=mpt (Stand: 18.11.2016). 10 http: / / corpus.nytud.hu/ mnsz/ index_eng.html (Stand: 18.11.2016). Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt 108 abb. 4: startseite von cosMas ii abb. 5: Ergebnis für „technológiákkal“ im hnc Digitale Forschungsinfrastrukturen 109 Im Bereich der Wörterbuchdokumentation gilt das von der Oxford University Press herausgegebene Oxford English Dictionary (OED) als einer der größten Lieferanten lexikalischen Inhalts der englischen Sprache. Das Wörterbuch, auf das man kostenlos online zugreifen kann, liefert sowohl die aktuelle(n) wie auch die historische(n) Bedeutung(en) von ca. 600.000 Wörtern. Diese stützen sich auf nahezu 3 Millionen Belege aus spezifischen Epochen der Genres klassischer Literatur, Filmskripten und Kochbüchern. abb. 6: Ergebnis für „technology“ im oED 4. notwendigkeit einer forschungsinfrastruktur Die Austauschbarkeit von Sprachdaten und -technologien durch eine ausgeprägte Infrastruktur innerhalb der Forschungslandschaft ist nicht nur ein Hauptziel der EFNIL. Der europäische Forschungsverbund Common Language Resources and Technology Infrastructure (CLARIN) hat ebenjenes Ziel, eine stabile Forschungsinfrastruktur aufzubauen und zur Verfügung zu stellen, das dem interessierten Benutzer erlaubt, geschriebene, gesprochene sowie multimodale Sprachdaten aufzufinden, zu verwenden und mit geeigneten Tools weiter zu verarbeiten. So ermöglicht der von CLARIN bereitgestellte Webservice Virtual Language Observatory 11 das Suchen nach Ressourcen, während es die Federated Content Search 12 erlaubt, in Ressourcen zu suchen. Darüber hin- 11 https: / / vlo.clarin.eu (Stand: 18.11.2016). 12 http: / / weblicht.sfs.uni-tuebingen.de/ Aggregator (Stand: 18.11.2016). Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt 110 aus können die Ressourcen durch WebLicht 13 mit den zur Verfügung stehenden Sprachanalysetools verarbeitet werden. Um dies zu ermöglichen, sind alle Ressourcen standardisiert und mit Metadaten versehen. Die Forschungsinfrastruktur wird derzeit von 38 CLARIN-Zentren gepflegt und weiter ausgebaut, wobei auch externe Wissenschaftler und Institute einen Webservice bereitstellen können. Das Institut für Deutsche Sprache bildet eines dieser Zentren. Das Clarin-D Projekt (vormals D-Spin), das bis März 2011 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde, hat die Aufgabe, diese Maxime der CLARIN-Initiative innerhalb Deutschlands zu gewährleisten. Den institutionellen Rahmen für den europaweiten Zusammenschluss bildet das CLARIN-ERIC, dessen neun Gründungsmitglieder Bulgarien, Estland, Dänemark, Deutschland, Niederlande, Österreich, Polen, die Tschechische Republik sowie die Niederländische Sprachunion sind. Seit August 2016 ist auch Ungarn in CLARIN-ERIC als 19. Mitglied vertreten. abb. 7: schematische Darstellung der cLarin-infrastruktur Eine weitere Plattform zum Austausch von digitalen Sprachressourcen bietet die Multilingual Europe Technical Alliance (META-NET), 14 die neben Wissenschaftler auch Technologieanbieter und -nutzer vereint. Ziel dieser Vereinigung, an der sich derzeit 34 Nationen - darunter auch Ungarn mit der Ungarischen Akademie - beteiligen, ist die Entwicklung einer Infrastruktur zum Austausch von digitalen sprachtechnologischen Ressourcen durch die Vernetzung verschiedener Technologiefelder. Für den Zugriff auf die Sprachressourcen samt Metadaten wurde die sich stetig weiterentwickelte Plattform 13 http: / / weblicht.sfs.uni-tuebingen.de (Stand: 18.11.2016). 14 www.meta-net.eu (Stand: 18.11.2016). Digitale Forschungsinfrastrukturen 111 META-SHARE, 15 die gleichsam kostenlose wie auch kostenpflichtige Ressourcen aufnimmt, entworfen. Um einen stabilen Austausch zu gewährleisten, werden alle Ressourcen standardisiert. 5. efnIl-mitglieder (umfrage) Die Anzahl der EFNIL-Mitglieder ist seit seiner Gründung von 12 auf 27 Nationen mit zusammen 40 beteiligten Instituten gestiegen. Jedes Institut beobachtet und analysiert die in ihrer Nation anerkannten Sprachen und stellt die Sprachressourcen unterschiedlicher Menge und Art nach Möglichkeit zur Verfügung. Die Menge an verfügbaren digitalen Sprachressourcen nimmt nicht zuletzt aufgrund der Nachfrage stetig zu. Eine stärkere Transparenz nicht nur hinsichtlich der verfügbaren Sprachressourcen sondern bezüglich der IT-Infrastruktur, aber auch dem Wissen um die Zielgruppe verstärkt den Austausch zwischen den EFNIL-Mitglieder und fördert somit die Gewährleistung guter Forschungsarbeit. Um die Ziele der EFNIL weiter auszubauen und zu fördern, wurde unter anderem in Erfahrung gebracht, welche Ressourcen die einzelnen Institute der EFNIL-Mitglieder bereitstellen (können), wie sie technisch aufgestellt sind und wie groß die Nachfrage nach den individuellen Sprachdaten ist. 16 Jedes der EFNIL-Mitglieder stellt eine unterschiedliche Bandbreite an digitalen Sprachressourcen zur Verfügung. Viele Nationen haben eigene Korpora, z.B. das Bulgarian National Corpus (BulNC), das Czech National Corpus (CNC), das Hungarian National Corpus (HNC), das TLIO Textual Corpus, das Corpus de la Parole oder das Slovak National Corpus, um nur ein paar zu nennen. Größtenteils handelt es sich um schriftsprachliche (Parallel-)Korpora, es existieren aber auch gesprochensprachliche sowie multimodale. Die Größe der Korpora variiert dabei von mehreren Millionen bis hin zu mehreren Billionen Wörtern. Darüber hinaus stehen in einigen Korpora sprachverarbeitende Tools zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung, wie POS-Tagger, Lemmatizierer, Chunker, usw. Daneben existieren einige Wörterbücher - von (historischen) Rechtschreibbis hin zu Neologismus-Wörterbücher -, wie z.B. das Oxford English Dictionary, sowie Datenbanken, welche die lexikalisch-semantische Relation zwischen den Wörtern darstellt, wie z.B. das FranceTerme oder das Bulgarian Wordnet. Der Zugriff auf diese digitalen Ressourcen ist teilweise beschränkt oder kostenpflichtig. Einige dieser digitalen Ressourcen sind auch als bzw. über Apps erhältlich. 15 www.meta-share.org (Stand: 18.11.2016). 16 Aus Datenschutzgründen können einige Institute keine Auskunft über die technische Ausstattung oder Nutzerinformationen geben. Monica Fürbacher / Tamás Váradi / Andreas Witt 112 Verwaltung, Pflege und Ausbau dieser Datenmengen benötigen ein geeignetes Rechenzentrum. Jedoch besitzen lediglich zwei von acht Nationen ein eigenes, während sechs Mitglieder ihre Daten ganz oder teilweise über ein externes Rechenzentrum managen. Teilweise ist die Auslagerung auf Kooperationsprojekte zurückzuführen, bei denen die Daten beim Kooperationspartner und somit auswertig verwaltet werden, teilweise ist die Art der Verwaltung aber auch abhängig von der Art der digitalen Ressource. So gab ein Mitglied an, dass multimodale Sprachressourcen, wie (Lern- und Lehr-) Videos, über einen externen Anbieter gehostet werden. Die digitalen Ressourcen werden dabei teilweise über Windowsteils über Linuxserver gemanaged; als Datenbank wird Oracle präferiert. Über die verfügbare Speicherkapazität ist wenig bekannt; lediglich ein Mitglied gab an, bis zu 90 TB bzw. 280 TB auf den Servern zur Verfügung zu haben. Die Websites, über die auf die jeweilige Ressource zugegriffen werden kann, werden über unterschiedliche, teils nationenspezifische Content-Management-Systeme gepflegt. Bei der Frage nach dem Wissen über die Benutzer ihrer Ressourcen konnten 10 von 14 EFNIL-Mitgliedern ihre Zielgruppe definieren und somit ihr Angebot an Sprachressourcen und Tools dementsprechend anpassen und erweitern. Wie oft welche digitale Ressource und von wie vielen Benutzern sie jährlich verwendet wird, unterscheidet sich je nach Institution und Ressource; von einigen tausend bis hin zu mehreren hunderttausend Besuchern pro Jahr, sodass mehrere Millionen Aufrufe verzeichnet werden können. Über die Benutzergruppe ist bekannt, dass es sich hauptsächlich um Wissenschaftler oder um Lerner sowie Lehrer der jeweiligen Sprache handelt. Darüber hinaus werden die frei zugänglichen Ressourcen von Dritten weiterverwendet; während manche Ressource in Apps verarbeitet wird, findet sich eine im Rahmen eines TV-Quiz wieder. 6. ausblick Es wird angestrebt, sämtliche Informationen über alle vorhandenen Sprachressourcen inklusive deren Zugriffsrechte systematisch in EFNIL aufzuarbeiten und kontinuierlich bei Bedarf zu aktualisieren. Ebenso wird eine Transparenz hinsichtlich der informationstechnologischen Infrastruktur befürwortet, um den Austausch und die Vernetzung der Mitglieder zu fördern. 7. literatur COSMAS II - Corpus Search, Management and Analysis System. Das Portal für die Korpusrecherche in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache. www.idsmannheim.de/ cosmas2 (Stand: September 2016). Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (1854): Deutsches Wörterbuch. Leipzig. Digitale Forschungsinfrastrukturen 113 Francis, W. Nelson/ Kučera, Henry (1979): Brown Corpus Manual - Manual of information to accompany a Standard Corpus of Present-Day Edited American English, for use with Digital Computers. Brown university. http: / / clu.uni.no/ icame/ brown/ bcm.html#bc1 (Stand: Januar 2017). Murray, James et al. (1884): A new English dictionary on historical principles. Oxford. Teubert, Wolfgang/ Belica, Cyril (2014): Von der linguistischen Datenverarbeitung am IDS zur „Mannheimer Schule der Korpuslinguistik”. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Red.: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim, S. 298-319. hEiDrun käMPEr sprachlIche umBrüche Des 20. JahrhunDerts - üBerlegungen zu eInem VorläufIgen aBschluss 1. Vorbemerkung Um es gleich zu sagen: Ohne das Wohlwollen und die Zuversicht des hier zu Ehrenden gäbe es heute den Arbeitsbereich ‘Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts’ nicht als Themenschwerpunkt der Abteilung Lexik am IDS. Nachdem Gerhard Stickel der Autorin die Möglichkeit einräumte, einen Drittmittelantrag bei der DFG zu stellen, waren die Bedingungen zu Beginn und Fortgang, soll heißen: zur empirischen Untersuchung dreier Umbruchphasen des 20. Jahrhunderts (1918-1925, 1945-1955, 1967/ 68), geschaffen. Alle drei Drittmittelanträge wurden bewilligt, und aus den drei Projekten ging eine große Zahl von Publikationen hervor (u.a.: Kämper 2005, 2007, 2008, 2011a, 2011b, 2013, 2014). Es liegen zwei Monografien, zahlreiche Aufsätze, zwei Wörterbücher vor, die als Diskurswörterbücher einen neuen Typ darstellen - jeweils in einer Print- und in einer Online-Version. Ein drittes Wörterbuch, zum Demokratiediskurs in der frühen Weimarer Republik, wird 2018 in der Online-Version abgeschlossen. Das Konzept wurde in der Lehre erprobt und die jeweiligen Ergebnisdarstellungen wurden medial begleitet. Ein Tagungsnetzwerk ist aus dem Projekt heraus entwickelt und gegründet worden, das jährlich (2016 zum 6. Mal) interdisziplinäre Zugänge aus der Perspektive des Diskurses diskutiert und dokumentiert, aus diesem wiederum ist ein speziell an den wissenschaftlichen Nachwuchs adressiertes Netzwerk entstanden. Mit anderen Worten: Der Arbeitsbereich ist empirisch, konzeptionell und methodologisch einschließlich einer Habilitation (Kämper 2005) und zweier abgeschlossener Dissertationen (Seidenglanz 2014; Mell 2015) ordentlich wissenschaftlich verwertet. Dass auf diesem rund fünfzehn Jahre dauernden Weg weitere Unterstützer im IDS hinzukamen (zuallererst der Nachfolger Gerhard Stickels, Ludwig M. Eichinger, dem ebenfalls in höchstem Maß zu danken ist), versteht sich von selbst. Die Möglichkeit eröffnet aber hat Gerhard Stickel. Auch auf die Fortführung ist zu verweisen: „Sprache 1933 bis 1945“ ist ein neues Teilprojekt. Seit Oktober 2015 wird ein digitalisiertes Textkorpus aufgebaut und Anfang 2017 wird voraussichtlich mit der Auswertung begonnen. Heidrun Kämper 116 Nachdem die Auswertungen und Ergebnisse der ersten drei Teilprojekte jeweils empirisch dargestellt und beschrieben sind, steht nunmehr eine Art Zusammenfassung aus, die den Bogen über das 20. Jahrhundert spannt und die Umbrüche in dessen zeitlichem Kontinuum bewertet. Überlegungen zu diesem Vorhaben werden im Folgenden formuliert. 2. Demokratie als system wechselnder wissensbestände - eine sprachliche Institutionengeschichte Die Bindung von sprachlichen Umbrüchen an politische Wechsel gibt einer sprachlichen Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts die Perspektive der ‘Demokratisierung’ (was ‘Entdemokratisierung’, siehe 1933, einschließt). Es ist dies die politisch-gesellschaftliche Grundidee des 20. Jahrhunderts, die sich nicht nur als ereignisgeschichtliches, sondern auch als sprach-, mentalitäts- und diskursgeschichtliches Leitphänomen manifestiert. Der Zusammenhang von gesellschaftlich-politischen Wechseln und sprachlichen Umbrüchen ist der Zusammenhang zwischen Demokratisierungsbzw. Entdemokratisierungsvorgängen der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts und der sprachlichen Manifestationen dieser Prozesse. Demokratisierung bzw. Entdemokratisierung bedeutet: wechselnde Status der Institution Demokratie im Sinn eines Wissenssystems, m.a.W. wechselnde Bestände derjenigen Instanzen, deren Summe das Wissenssystem der Institution ‘Demokratie’ bildet, die in lexikalisch-semantischer Hinsicht die Elemente des Konzepts ‘Demokratie’ darstellen und die im Diskurs konstituiert werden. Wir sprechen von ‘Demokratie’ als Wissenssystem, und stellen die Konstituenten dieses Systems als Repräsentationen zum einen historischer Wissensbestände, zum andern als im Zuge der Demokratisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts neu konstituierten Wissens dar. 2.1 Perspektive Diskurs Das Interesse einer zeitgeschichtlichen Diskurslinguistik gilt der sprachlichdiskursiven Repräsentation von gesellschaftlich-politischen Gegenständen. Ihr Ziel ist die Erklärung der sprachlichen Ordnung dieser Diskurse in ihrer historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Prägung. Diese je spezifischen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten des Kontextes bezieht zeitgeschichtliche Diskurslinguistik als Gebrauchsbedingungen ein. Diskurse, also öffentliche Thematisierungen von eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einem bestimmten Zeitraum interessierenden Ereignissen, Sachverhalten, Gegenständen, sind in dieser Perspektive Archive von durch die jeweils spezifischen (historischen, gesellschaftlichen, politischen) Bedingungen jeglichen Sprechens geprägten Ausdruckseinheiten. Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 117 Eine sprachliche Umbruchgeschichte ist nicht anders als aus der Diskursperspektive zu konzipieren. Denn der Diskurs ist diejenige Perspektive, die nicht nur plötzliche sprachliche Veränderungen sichtbar macht. Als sprachliche Manifestation eines neuen Themas ist der Diskurs darüber hinaus selbst ein Umbruchphänomen, das Wissensbestände verändert. 2.2 Institution ‘Demokratie’ - Die Kategorien Searles Institutionentheorien beschreiben ihren Gegenstand als norm- und wertbezogene gesellschaftliche Instanz und Form sozialen Handelns. Mit dieser sozialen Dimensionierung von ‘Institution’ ist gleichzeitig ein Zusammenhang zwischen Institution und Diskurs hergestellt: Institutionen sind ein kollektiv geschaffenes Phänomen, was bedeutet, dass Institutionen Produkte von Diskursen sind. Sie werden im Zuge sozialer kollektiver Interaktion geschaffen. Ergebnis dieser Interaktion ist ein Regelsystem, das „automatisch die Möglichkeit institutioneller Tatsachen schafft“. Institutionelle Tatsachen existieren „im Rahmen von Systemen konstitutiver Regeln“ (Searle 2012, S. 24). Im Sinn Searles werden Institutionen sprachlich, und nur sprachlich, geschaffen. Denn: Entscheidend für die Schaffung eines Regelsystems, also für die Etablierung einer Institution, ist die Erklärung dieses Regelsystems zu einem solchen. Diese deklarative Sprachhandlung ist die zentrale Konstituente in Searles Institutionentheorie, die Institution als Ergebnis mithin eines Akts sozialen sprachlichen Handelns darstellt. ‘Sprachlich geschaffen’ heißt in dem Modell Searles, durch deklarative Sprechakte geschaffen. Diese Deklaration geschieht unter der Bedingung kollektiven gesellschaftlichen Konsenses. Die Deklarierung eines Sachverhalts, einer Person oder einer Gegebenheit zu einer Institution ist von der kollektiven Zustimmung, von der Akzeptanz derjenigen Gemeinschaft abhängig, an die die (zu schaffende, zu verhindernde etc.) Institution gerichtet ist. Diesen Konsens stellt Searle als gesellschaftliches Kontinuum dar, welches Verlässlichkeit, Erwartungssicherheit, geringe Abweichungstoleranz als ein wesentliches Konstituens von Institutionen bedeutet. Die aus dieser Modellierung von Institutionalisierungsprozessen als deklarative Sprechakte resultierende Formel der konstitutiven Regeln, also derjenigen Regeln, die die Institution bestimmen, lautet bei Searle: „X gilt im Kontext K als Y“ (ebd., S. 22), womit kollektiv und konsensuell zugleich etwas als der Fall seiend erklärt wird (vgl. ebd., S. 145f.). 1 Diesem werden mit der Y-Position kollektiv anerkannte sprachlich repräsentierte sog. „Status-Funktionen“ 1 Dieser Vorgang entspricht dem von Felder als Sachverhaltskonstitution beschriebenen Akt (vgl. Felder 2015, S. 26f.). Heidrun Kämper 118 zugeschrieben (vgl. ebd., S. 160f.). Diese Zuschreibungen geschehen kollektiv intentional. Voraussetzung für die Schaffung von Institutionen ist also die Absichtlichkeit ihrer Schaffung und ihres Fortbestands. 2.3 Die Erweiterung - Akteure als Institutionalisierungsmanager Kollektive D e k l a r a ti o n von Institution als Regelsystem, kollektive I n t e n ti o n a lit ä t dieses deklarativen Sprechakts und kollektive A n e r k e n n u n g der Status-Funktionen einer Institution sind die konstitutiven Instanzen von Institutionalisierungsprozessen. Sie bringen die handelnden Personen, die Akteure, ins Spiel. Obwohl aber Akteure natürlich diejenigen Instanzen eines kollektiven diskursiven Institutionalisierungsprozesses sind, die die Handlung der kollektiven intentionalen Deklaration ausführen, stellen sie in der Searle’schen Formel „X gilt im Kontext K als Y“ keine eigenständige Position dar. Die Einbeziehung der Akteure in eine sprachgeschichtlich angelegte und auf einer Diskursanalyse basierten Institutionengeschichte ist unabdingbar: Aus der Sicht einer pragmatischen Sprachgebrauchsgeschichte ist sie unverzichtbar, denn diese ist erst dann valide, wenn Aussagen in Beziehung zu den Sprechenden gesetzt werden. Die Relation zu den Trägern des Wissens, das in Diskursen sprachlich erzeugt und verbreitet wird, mit ihrem je spezifischen Horizont, ihrer je spezifischen Weltsicht, ihrer je spezifischen Milieuprägung, lässt diskursive Veränderungen erkennen. Denn Akteure, genauer: das Agieren bestimmter Personen bzw. Personengruppen im Diskurs als Akteure sowie spezifische Akteurskonstellationen sind Umbruchphänomene - als am Diskurs neu oder nicht mehr Teilhabende, als dem Diskurs neu Gestalt Gebende oder nicht mehr Gestalt Gebende, als ihr Wissen neu oder nicht mehr Einbringende. Zum andern erfordert die Diskursperspektive die Berücksichtigung der Akteure, denn diese erzeugen Bedeutung und damit Wissen im Diskurs, indem sie intentional sprachlich handeln. Akteure sind „verstehensrelevante Wissenselemente“ - erst zu wissen, „wer spricht“ (Foucault) ermöglicht Diskursverstehen und die Deutung von Aussagen in Diskursen. Insofern ein Diskurs durch gesellschaftliche Reproduktion entsteht, sind Akteure diese sozialen reproduzierenden Instanzen. Sie bilden aufgrund unterschiedlicher Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte und eines je spezifischen Selbstverständnisses zwar heterogen zusammengesetzte Gemeinschaften, die als solche komplexe Formationen bilden. Kohärenz erhalten diese Gemeinschaften aber über den thematischen Bezug. Die Referenz auf ein identisches Thema stellt eine Relation zwischen den Diskursbeteiligten und der seriellen sprachlichen Konstitution des Diskursthemas her. Die diskurslinguistische Kategorie des Akteurs entspricht der Konzeption einer im sozialen Raum handeln- Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 119 den Instanz unter dem Zeichen einer thematisch zentrierten, in der Regel nicht face-to-face-, sondern indirekten kollektiven Kommunikation, die im Kontext der Schaffung von Sinn steht: Diskursbeteiligte konstituieren produzierend und verstehend Sinn und stellen damit einen Zusammenhang her zwischen allen sinntragenden Faktoren, die in einer Kommunikationskonstellation relevant sind. 2 Unter der Voraussetzung, dass Diskurs ein „Formationssystem von Aussagen [ist], das auf kollektives, handlungsleitendes und sozial stratifizierendes Wissen verweist“ (Spitzmüller/ Warnke 2011, S. 9), ist also die Relevanz der Akteure und das sprachstrukturierende bzw. (Sozial-) Geschichte reflektierende Potenzial ihrer Diskursbeiträge im Sinn von Aussagen diskurskonstitutiv. Beide Perspektiven also - die der pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung und die der Diskursanalyse - sind zentrale Instanzen des Vorhabens einer sprachlichen Institutionengeschichte. Die handlungsorientierte Institutionentheorie Searles ist daher zu ergänzen um Akteur als derjenige Instanz, die die Funktion des Managements der institutionellen Wissensbestände ausübt. Im Rahmen einer Konkretisierung und Erweiterung des Searle’schen Modells, die dann erforderlich ist, wenn es auf bestimmte Diskurskonstellationen angewendet wird, muss, wenn Diskurs das Handlungsformat und wenn politische Prozesse der Gegenstand sind, die Akteursposition mit ihrer Funktion benannt werden. Akteure sind Spezifizierungen und Konkretisierungen der K- Position. „K“ meint bei Searle „Kontext“, so dass Akteure als Kontextfaktoren gelten können: Das Agieren von Akteuren in ihrer Zeit bildet den Zusammenhang, in dem Institutionalisierungsprozesse stehen. Denn Akteure sind nicht nur aufgrund unterschiedlicher Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte je spezifisch im Diskurs Handelnde, sondern sie sind Handelnde in ihrer jeweiligen Zeit. Akteure schaffen z e it b e d i n g t e „institutionelle Tatsachen“. Wandel ist ein Kennzeichen von Institutionen, sie sind trotz scheinbarer Unveränderbarkeit „einem fortlaufenden Prozeß der Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung unterworfen“ (Fuchs-Heinritz et al. 1995, S. 302). Dieser Wandel wird von Akteuren geschaffen: Eine gesellschaftliche Formation von Akteuren einer bestimmten Epoche bzw. zu einer bestimmten Zeit nimmt auf einen Sachverhalt kontrovers oder konsensuell sprachlich Bezug und konstituiert ihn auf diese Weise unter den jeweiligen historischen Bedingungen. Die Searle’sche Formel lautet also abgewandelt: „X gilt für A in t als Y“ und „A in t“ bedeutet: „Akteure in ihrer Zeit“. - So ist dann auch die Kategorie der Geschichtlichkeit in das, das 20. Jahrhundert umspannende, Institutionalisierungskonzept einzubeziehen. Geschichtlichkeit bezeichnet insofern die historische und gesellschaftliche Bedingtheit von Sachverhaltskonstitutionen in Diskursen generell und also auch von sprachlichen Repräsentationen von 2 Vgl. dazu Felder (2015, S. 24) und Spitzmüller (2013, S. 65). Heidrun Kämper 120 Institutionen und ihren Instanzen (also der Filler der Y-Position in der Formel „X gilt im Kontext K als Y“). Unter den Bedingungen des diskursiven Raums lassen sich Rollen bzw. soziale Positionen von diskursiv handelnden Akteuren unterscheiden, die in Institutionalisierungsprozessen wirken, und zwar die der Gemeinschaften, die Diskurse reproduzieren und ihre Serialität, und damit die Stabilität der Wissensbestände bzgl. Institutionen, bewirken, und die der Eliten, die Diskursen Impulse geben und ihre Spezifik, damit auch die Spezifik von Institutionen und sie konstituierenden Wissensbeständen, ausmachen. 3 Im Zuge von Institutionalisierungsprozessen sind Diskursgemeinschaften diejenigen Instanzen, die entweder, im Fall der Akzeptanzartikulation, die Deklaration einer Institution insofern sozusagen kollektiv auf Dauer stellen, als sie repetitiv auf die Institution referieren, oder, im Fall der Akzeptanzverweigerung, diese im für den Erfolg nötigen Kollektiv ausdrücken. Damit sind insbesondere Diskursgemeinschaften diejenige Instanz, die die (von der Elite gewünschte) Existenz von Institutionen oder die (von der Elite gewünschte) Abschaffung bzw. Nichtetablierung von Institutionen gewährleisten. Denn „der fortwährende Gebrauch der Institution und der institutionellen Tatsachen“ (Searle 2012, S. 176) mit der fortwährenden sprachlichen Repräsentation der Institution als existierend (vgl. ebd., S. 285) - also die Akzeptanz und ihr Ausdruck - ist ebenso existentiell wie die kollektive Infragestellung bzw. Akzeptanzverweigerung der Institution. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Diskursgemeinschaft diejenige Instanz ist, die die Existenz der Institution - unabhängig davon, in welchem Status (akzeptiert oder nicht akzeptiert) die Institution sich befindet - überhaupt gewährleistet. Während die Akteure der Diskursgemeinschaft reproduzierende Funktion haben, haben Diskurseliten steuernde Funktion. Sie versehen den Diskurs mit Innovationen, beenden ihn ggf. auch. Sie sind die „Wortführer“ und Impulsgeber im Kontext einer sprachlichen, die Institutionalisierungsprozesse von Demokratie im 20. Jahrhundert rekonstruierenden Umbruchgeschichte. Im Zuge von Institutionalisierungsprozessen sind Eliten eines Diskurses diejenigen, die die Y-Positionen der Formel „X [Demokratie] gilt für A [Akteur] in t [einer bestimmten Zeit] als Y“, also die den Wissensbestand ausmachenden Status- Funktionen von Institutionen, bestimmen. Sie geben die Gestalt von Institutionen im Sinn von Wissensbeständen vor und bieten sie im Diskurs der Gemeinschaft zur Zustimmung oder Ablehnung an. Im Zuge von Entinstitutionalisierungsprozessen sind die Diskurseliten diejenigen, die den Verweigerungsimpuls geben. Es sind in diesem Zusammenhang diejenigen, die der In- 3 Konsumenten eines Diskurses (die Diskurse passiv rezipieren ohne sprachlichen Ausdruck) wirken indirekt, insofern die Akteure sie antizipieren, sollen aber hier und jetzt unberücksichtigt bleiben. Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 121 stitution die Zustimmung verweigern und deren Stimme (i.S.v. „voice“) derart mächtig ist, dass die Akteursgemeinschaft den Impuls aufnimmt und eine kollektive Akzeptanzverweigerung inszeniert. Die D i s k u r s g e m e i n s c h a f t ist im Zuge dieses Prozesses - wenn er erfolgreich verläuft - diejenige Instanz, die die Impulse der Eliten aufnimmt, reproduziert und perpetuiert und damit das Ereignis des Umbruchs auf die Ebene des Kontinuums hebt (siehe dazu das Fazit). 3. Das modell - angewendet Wenn nie kollektiv über Demokratie als existierend gesprochen wird, gibt es sie nicht, wenn Demokratie kollektiv nie dauernd und machtvoll in Frage gestellt bzw. ihre Abschaffung propagiert wird, bleibt sie unverändert bestehen. So erklären sich Demokratiediskurse des 20. Jahrhunderts: Wenn z.B. nicht die, die Demokratie als Institution etablierende Diskurselite der frühen Weimarer Republik ‘Demokratie’ unentwegt zustimmend zum Gegenstand der politischen und gesellschaftlichen Kommunikation gemacht hätte, wäre sie nicht existent gewesen. Dann nämlich hätten die Demokratiegegner, also die Akzeptanzverweigerer von rechts und links (NSDAP, DNVP, KPD) von Beginn an die Diskurshoheit inne gehabt, dann wäre Demokratie verhindert worden, dann wären bereits 1918/ 19 die Verweigerungsbeteiligten so mächtig gewesen, wie sie 1933 dann waren. Indem auf der Ebene der Diskurselite i n iti a ti v zustimmend oder ablehnend, auf der Ebene der Diskursgemeinschaft r e p e titi v zustimmend oder ablehnend über Demokratie gesprochen wird, wird die Institution insofern diskursiv etabliert bzw. stabilisiert oder demontiert, werden auf jeden Fall die Demokratie bezogenen Wissensbestände verändert. Mit anderen Worten: Die Umbruchanalyse aus der Diskursperspektive macht sichtbar, welche Akteure des politischen Diskurses mit welchen Wissenselementen das Wissenssystem ‘Demokratie’ als Institution konstituieren, macht mit anderen Worten Versprachlichungen, linguistische Konstruktionen von ‘Demokratie’ sichtbar. Eine Abbildung des Prozesses der Demokratisierung im 20. Jahrhundert auf dem Raster der Umbrüche von 1918ff., 1945ff., 1967ff., die wir als Institutionalisierungsschübe verstehen (und denen die Umbrüche von 1933 und von 1989 hinzuzufügen sind), entspricht einer zeitgeschichtlichen Modellierung der Institutionengeschichte. Zeitgeschichte, als eine Perspektive, die sozusagen ein Kontinuum historischer Gültigkeiten nachvollzieht und die Demokratie zum Gegenstand hat, beschreibt damit Prozesse der Schaffung und der Tradierung von Instanzen, die der Institution ‘Demokratie’ im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Status-Funktionen zugeschrieben bzw. abgesprochen werden, sie damit stabilisieren bzw. destabilisieren. Heidrun Kämper 122 3.1 Akteure der Demokratiediskurse Akteure in ihrer Zeit werden mit Bezug auf die Searle’sche Formel wie gesagt als Spezifizierungen der K-Position verstanden und sind diejenigen Bedingungsinstanzen, die sozusagen die Qualität der Y-Position bestimmen. Insofern Demokratisierungsverläufe Institutionalisierungsprozesse sind, stellen sich also Demokratisierungsverläufe als Summe kollektiver deklarativer Akte dar, die akteurs- und epochenbedingt mit je spezifischen sprachlichen Mitteln realisiert werden. Die entsprechende Formel lautet „Demokratie zählt als Y für A in der Zeit/ zum Zeitpunkt t.“ Sie gibt die explizite Version des Akteure in ihrer Zeit einbeziehenden Institutionalisierungsakts von Demokratie an. Sie wird in den Demokratiediskursen des 20. Jahrhunderts als Konstruktion grammatisch-semantischer Muster sowohl mehr oder weniger in dieser Explizitheit als auch implizit realisiert. Und: Demokratie wird hinsichtlich der Y-Position variationsreich und ideologisch geprägt institutionalisiert. Das ist der Gegenstand einer sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Bezug auf die Demokratisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts sind Diskurseliten diejenigen, die die Institution ‘Demokratie’ hinsichtlich ihrer Beschaffenheit im positiv-zustimmenden oder im negativ-ablehnenden Sinn konturieren und profilieren, sie sind diejenigen, die nicht nur Zustimmungs- oder Nichtanerkennungsimpulse geben, sondern sie sind auch diejenigen, die die Diskursgemeinschaft hinsichtlich ihrer Haltung steuern und deren Handeln im Institutionalisierungsprozess beeinflussen. Sie sind, mit anderen Worten, die „voice“ (Blommaert) der deklarativen Konstituierung oder Nicht- Konstituierung von Demokratie: - Der Diskurs der frühen Weimarer Republik (1918-1925) ist hinsichtlich seiner Akteure dadurch gekennzeichnet, dass neu die Vertreterinnen und Vertreter der politischen Linken, also der Arbeiterführer, als demokratisch gewählte und mit politischen Gestaltungsaufgaben verantwortlich betraute Politikerinnen und Politiker agieren. Dieser Umbruch hat einen Gender- und einen Milieu-Aspekt: Die Beteiligung von Frauen ist aufgrund des neuen Wahlrechts insofern Umbruchindikator, als erstmals Frauen wählen dürfen und wählbar sind. Die Beteiligung der politischen Linken ist aufgrund eines neuen Wahlrechts insofern Umbruchindikator, als das Wahlrecht ohne Einschränkungen gilt, was bedeutet, dass das gesamte Milieu der Arbeiterschaft wahlberechtigt ist. Dieses Milieu war bis 1918 zwar am Diskurs nicht unbeteiligt, hat aber erst seither mit politischer Macht zu handeln ausgestattete Kompetenz. Die bis 1918 den Diskurs bestimmenden Vertreter der konstitutionellen Monarchie dagegen haben keine diskursbeherrschende Funktion mehr. Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 123 - Der Schulddiskurs der Jahre 1945 bis 1955 ist ein in sich heterogener Komplex, bestehend aus drei Sprecherperspektiven, wie sie, aufgrund disparater gesellschaftlicher Rollen, politischer Überzeugungen und Machtressourcen, unterschiedlicher nicht sein können. Die gesellschaftlich-politische Konstellation der ersten Nachkriegsdekade, die natürlich einen Effekt der Nazizeit bildet, ist - als Konstellation derjenigen, die je spezifisch den Diskurs sprachgeschichtlich prägen - anders nicht zu denken. Die Differenzierung der Nachkriegsgesellschaft in ‘Opfer’, ‘Täter’ und ‘Nichttäter’ und ihre Rolle im Diskurs ist ein Umbruchphänomen: Opfer, die in der NS-Zeit vom Diskurs ausgeschlossen waren, haben nunmehr die Möglichkeit anzuklagen. Täter, die in der NS-Zeit den Diskurs bestimmt haben, können sich lediglich verteidigen, haben also keine Diskurshoheit mehr. Nichttäter, die in der NS-Zeit mehr oder weniger freiwillig geschwiegen haben, gestalten ab 1945 den Diskurs. Sie sind es, die die Institution der Nachkriegsdemokratie etablieren und hinsichtlich ihrer Status-Funktionen bestimmen (siehe dazu Kap. 3.2). - Der Diskurs der späten 1960er Jahre wird für kurze Zeit bestimmt von der studentischen und intellektuellen Linken, mit ihrem spezifischen Habitus, ihren spezifischen Kommunikationsformen und nicht zuletzt ihrem spezifischen Vokabular, das den Diskurs dieser Jahre kennzeichnet. Die Konstellation der späten 1960er Jahre ist eine prinzipiell andere als die von 1918 und von 1945: Es wird nicht ein politisches Herrschaftssystem durch ein anderes abgelöst, es werden nicht die Akteure ausgetauscht - die parlamentarische Demokratie der Nachkriegszeit wird fortgesetzt, ihre politisch Verantwortlichen bleiben dieselben. Aber: Der intellektuellen und der studentischen Linken gelingt es, den Diskurs - auch sprachlich - für eine begrenzte Zeit als „voice“ (Blommaert) derart zu bestimmen, dass ihr sprachlicher Ausdruck als Umbruchphänomen gelten muss. 3.2 Status - Funktionen von Demokratie - exemplarisch Explizite Versionen des Institutionalisierungsakts „X gilt als Y in K“ werden in der demokratiegeschichtlich höchst bedeutsamen normativen Demokratie ist-Konstruktion realisiert. Nachfolgend wird am Beispiel der Nachkriegszeit 1945ff. gezeigt, mit welchen Fillern die Akteure der Diskurselite die Formel „X“, also „Demokratie“ „gilt für A in t als Y“ konkretisieren. Exemplarisch schauen wir uns den Demokratiediskurs der westlichen Beteiligten in der Konstituierungsphase nach 1945 an. Diese Beteiligten hatten vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse keine Alternative, als das Thema „Demokratie“ diskursiv konstruktiv zu bearbeiten, das sie mit der Ligatur von Demokratie und Schuld mit einem moralisierenden Akzent, mit der Liga- Heidrun Kämper 124 tur von Demokratie und (christliches) Abendland mit einem geistesgeschichtlichen Akzent versehen. Unter dieser Voraussetzung ist erwartbar, dass Demokratie als Institution in der Nachkriegszeit von 1945ff. typischerweise in grammatisch-semantischen Konstruktionen repräsentiert wird, die formal apodiktisch-explizit (im Sinn der Searle’schen Formel), inhaltlich einerseits ethisch, andererseits parteipolitisch besetzt sind. Diese Konstruktionen reflektieren als seriell signifikant nachweisbare, formal wie semantisch typische zeitspezifische Formeln Zeitgeschichte. Sie sind insofern als Zeitrepräsentationen in ihrer Musterhaftigkeit als grammatische Konstruktionen zu interpretieren und zu modellieren, deren Typik und Musterhaftigkeit sich außerdem in ihrer Produktivität, d.h. in der Erschließung einer Vielzahl von Slotbesetzungen zeigt. 4 Als Sprachhandlung betrachtet sind die normativen syntaktischen Demokratie-Konstruktionen der frühen Nachkriegszeit die idealtypischen Entsprechungen der von Searle als Grundform von Institutionalisierungsakten bezeichnenden Deklarativa. Denn wenn es eine Konstruktion gibt, die den Demokratiediskurs der Nachkriegszeit von 1945ff. in sprachgeschichtlichem Sinn kennzeichnet, dann ist es das grammatische Muster „x ist y“, das einen Gleichsetzungsnominativ oder eine Prädizierung realisiert. Es ist gleichzeitig die verdichtete und reduzierte Version der Searle’schen Formel. Die Frage zu dieser Formel lautet: „Was ist Demokratie für die, Gesellschaft und Staat wiederaufbauende Diskurselite von 1945ff.? “ Die Akteure schaffen, konstruktionsgrammatisch gesprochen mit dem Muster Demokratie ist x ein Wissenssystem ‘Demokratie’, indem sie die Bezugsstelle Demokratie mit zeitspezifischen Prädikationen versehen. Die Antworten auf diese Frage entfalten die Elemente des Wissenssystems. Als Konstruktionen sind sie definitorische Festschreibungen, sie formulieren Gewissheiten, haben normativen Charakter und präskriptive Funktion. Das entspricht dem gesellschaftlich-politischen Kontext von 1945: Die Diskursbeteiligten, die in dieser Weise Demokratie aktualisieren, haben einen gesellschaftspolitischen Auftrag: den deutschen als einen demokratischen Staat zu errichten. Insofern sind sie, gleich welcher politischen Richtung, auf Demokratie gestimmt und haben die kommunikative Aufgabe, diese Einstellung ihren Zeitgenossen zu vermitteln. Das geschieht formal mit der suggestiv-apodiktischen Konstruktion Demokratie ist x, semantisch mit spezifischen Fillern des Slots x, denen gemeinsam ist, dass sie Demokratie einerseits in einem überpolitisch-lebenswirklichen, andererseits in ideologischem Sinn konzipieren. 4 Vgl. zur Produktivität von Konstruktionen Ziem/ Lasch (2013, S. 105). Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 125 Wenn die Filler aus entpolitisierten bzw. nicht-politischen Wortschatzbereichen stammen, wird ein überpolitisches Demokratieverständnis ausgedrückt, welches die Bedeutung spiegelt, die Demokratie für die Diskursteilnehmer als geistige Haltung hat. Ihr Anliegen im Zuge des nachkriegsdeutschen Demokratisierungsprozesses ist es, ihre Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass sich Demokratie nicht auf Formalien oder auf vereinzelte Akte demokratischen Handelns beschränkt. Damit wäre - nach den sehr präsenten Erfahrungen mit der Weimarer Republik - kaum eine Nachkriegsdemokratie auf den Weg zu bringen, die Stabilität und Nachhaltigkeit verspricht. Das aber ist Voraussetzung für eine deutsche Zukunft: die Institution einzuführen, ihr allgemeine und stetige Akzeptanz zu verschaffen, sie zu verstetigen. So erklärt sich die Formel Demokratie ist eine Lebensform. 5 Vielleicht wichtigste Strategie bei der Vermittlung eines nachkriegsdeutschen Demokratieverständnisses ist in diesem Zusammenhang die Ethisierung der Institution, die mit der entsprechenden Besetzung der Y-Positionen realisiert wird. Demokratie ist ethisch-moralische Kategorie in Wendungen wie: Demokratie ist die Bejahung jedes Menschen und jeden Volkes in seinem Wert und seiner Würde; ein ethisch-geistiges Verhalten; eine Weltanschauung, die wurzelt in der Auffassung von der Würde eines jeden Menschen; die politische Form, in der die Achtung der Person Grundsatz geworden ist. Bei allem Grundkonsens, der hinsichtlich dieser universal-ethischen konzeptuellen Ausstattung des Bekenntnisses zur Demokratie herrschte, gehört zum Wesen des politischen Nachkriegsdiskurses außerdem, dass parteilich bzw. weltanschaulich festgelegte Zeitgenossen mit entsprechenden Fillern der Y-Position absolute Ansprüche erheben. Im Zuge des nachkriegsdeutschen Demokratiediskurses vereinnahmt man Demokratie insofern natürlich auch für die jeweils eigene Position und spricht damit gleichzeitig implizit anderen Richtungen jeglichen Anteil an demokratischen Prinzipien ab. So wird der Y-Slot mit Weltanschauung bezeichnenden Fillern versehen, die sozialdemokratisch-sozialistischen oder christdemokratisch-konservativen Programmen entsprechen: Die Demokratie ist untrennbar von Begriff und Ethik des Sozialismus; nichts anderes als der Sozialismus; eine Weltanschauung, die das Christentum entwickelt hat. 5 Die nachfolgenden Belege sind authentisch und stammen aus dem digitalisierten Korpus zu dem Projekt „Schulddiskurs 1945 bis 1955“ (siehe Kämper 2005, 2007). Das Quellenverzeichnis findet sich unter www.owid.de/ wb/ disk45/ projekt/ quellenverz.html. Heidrun Kämper 126 Die Produktivität der Konstruktion drückt sich darüber hinaus nicht nur in der Y-Vielfalt aus, sondern auch in einer Vielzahl von formalen Konstruktionsvarianten wie Demokratie ist kein Y oder Demokratie ist mehr als Y. In formaler Hinsicht haben wir es stets mit dem Aussagemuster Nomen + Prädikat bzw. Nomen + Negation + Prädikat zu tun. D.h.: Über Demokratie wird in der Konstruktion einer definitorischen Gleichsetzung bzw. Prädizierung eine sie positiv oder negativ bestimmende Aussage gemacht. In semantischer Hinsicht, also bzgl. der Filler dieser Varianten, erkennen wir: Abgesehen davon, dass das Wissenssystem ‘Demokratie’ mit ideologischen Elementen (Sozialismus, Christentum) ausgestattet wird, wird es zum einen versehen mit Elementen, die über die Konstruktion derart eine Gleichheitsbeziehung herstellen, dass Demokratie ethische Eigenschaften zugeschrieben werden (Bejahung jedes Menschen, ethisch-geistiges Verhalten). Zum andern werden in den Konstruktionen dann Elemente von Voraussetzungswissen benannt, wenn deren Existenz als das Wissenssystem ‘Demokratie’ unvollständig ausstattende markiert werden (keine bloße Angelegenheit von Staat zu Staat, nicht nur eine Staatsform/ Wählerstatistik/ Rechenverfahren etc.). 4. fazit - was sind sprachliche umbrüche des 20. Jahrhunderts? Eine sprachliche Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts kann diverse Erkenntnisinteressen haben. Das der Sprachgeschichte (im Sinn einer pragmatischen Sprachgebrauchsgeschichte) fokussiert Zäsuren der Gesellschaftsgeschichte, um synchronisch erlangte punktuelle Befunde synchronisch zu beschreiben und diachronisch-sprachgeschichtlich zu bewerten. Eine sprachliche Umbruchgeschichte ist mithin methodisch gesehen eine Symbiose aus synchronischer, sozusagen ereignisbezogener Darstellung und diachronischer, das sprachliche Kontinuum fokussierender Bewertung. Insofern das Motiv der Untersuchung das politischer gesellschaftlicher Umbrüche darstellt, bewegt sich die Analyse im Grenzbereich zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft einerseits, Sprachwissenschaft andererseits. Damit lässt sich das Konzept auch als linguistische Geschichtsforschung verstehen, denn sein Erkenntnisziel besteht in der diskurs- und sprachgeschichtlichen Sicherung solcher sprachlicher Sachverhalte, deren Beschaffenheit in unmittelbarem Zusammenhang mit historischen (gesellschaftlichen, politischen) Veränderungen steht. Im Sinn einer linguistischen Geschichtsforschung wird sprachbezogene Geschichte erzählt. Wann sind sprachliche Phänomene in diesem Sinn sprachgeschichtlich als Umbruch zu bewerten? Sprachliche Umbrüche von sprachgeschichtlichem Wert werden durch solche Phänomene geschaffen, die auf (gewisse) Dauer gestellt sind. Es sind Phänomene, die nicht kurzfristig, temporär oder transi- Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts 127 torisch einen Diskurs sprachlich prägen, sondern solche, die als Beginn eines sprachlichen Kontinuums gelten können. Nur unter dieser Voraussetzung haben sie sprachgeschichtlichen Wert. Insofern sind die im Diskurs der repräsentierten, die Zuschreibung von Status-Funktionen jeweils dokumentierenden Elemente von Demokratie-Konzepten sprachgeschichtlich als einen Konzept-Wandel anzeigender Beginn einer Traditionsbildung zu bewerten. Es sind dies solche Repräsentationen von Wissensbeständen, die vom Status des akzidentellen in den des institutionellen Wissens gelangt sind. Diese Veränderungen des Handlungsziels ‘Demokratie’ geschehen in demokratiegeschichtlichen Umbruchzeiten. Einen Umbruch anzeigende Elemente sind solche, die von der Ebene des Ereignisses auf die Ebene der Tradition, der Kontinuität gelangen, um Elemente m.a.W., die seit ihrer Erscheinung sozusagen zum ‘Kanon’ gehören. Aus dem Beispiel der Nachkriegskonzeption von ‘Demokratie’ lässt sich ableiten: Der Demokratiediskurs der nachkriegsdeutschen Diskurselite ist der kollektive binnendeutsche Beitrag zu einer gesellschaftlichen Demokratisierung und Verrechtlichung, die Demokratie institutionalisierenden Konstituenten sind die seit 1945 gültigen sprachlichen Realisationen des Humanismus und der Grundwerte der Demokratie. 5. literatur Felder, Ekkehard (2015): Sprache - Erkenntnis - Handeln. Hrsg. Ekkehard Felder und Andreas Gardt. (= Handbücher Sprachwissen 1). Berlin/ Boston, S. 3-33. Fuchs-Heinritz, Werner et al. (1995): Lexikon zur Soziologie. 3. völlig neu bearb. u. erw. Aufl., durchges. Nachdruck. Opladen. Kämper, Heidrun (2005): Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945. (= Studia Linguistica Germanica 78). Berlin/ New York. Kämper, Heidrun (2007): Opfer - Täter - Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945-1955. Berlin/ New York. Kämper, Heidrun (2008): Sprachgeschichte - Zeitgeschichte - Umbruchgeschichte. Sprache im 20. Jahrhundert und ihre Erforschung. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2007). Berlin/ New York, S. 198-224. Kämper, Heidrun (2011a): Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre. Konstellationen - Kontexte - Konzepte. (= Studia Linguistica Germanica 107). Berlin/ Boston. Kämper, Heidrun (2011b): Politische Wechsel - sprachliche Umbrüche. Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Sprachgeschichte. In: Bock, Bettina/ Fix, Ulla/ Pappert, Steffen (Hg.): Politische Wechsel - sprachliche Umbrüche. (= Sprachwissenschaft 8). Berlin, S. 31-50. Heidrun Kämper 128 Kämper, Heidrun (2013): Wörterbuch zum Demokratiediskurs 1967/ 68. Unter Mitwirkung von Elisabeth Link. Berlin. Kämper, Heidrun (2014): Demokratisches Wissen in der frühen Weimarer Republik. Historizität - Agonalität - Institutionalisierung. In: Kämper, Heidrun/ Haslinger, Peter/ Raithel, Thomas (Hg.): Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik. (= Diskurs-Muster - Discourse Patterns 5). Berlin/ Boston, S. 19-96. Mell, Ruth (2015): Vernunft, Mündigkeit, Agitation. Eine diskurslinguistische Untersuchung zur Generierung und Strukturierung von Wissen über das Konzept ‘Aufklärung 1968’. (= Sprache - Politik - Gesellschaft 16). Bremen. Searle, John R. (2012): Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation. Frankfurt a.M. Seidenglanz, Melanie (2014): Wer hat uns verraten? Zur sprachlichen Konstruktion des Verratsdiskurses im linken Parteienspektrum der frühen Weimarer Republik. (= Sprache - Politik - Gesellschaft 15). Bremen. Spitzmüller, Jürgen (2013): Diskurslinguistik und Stilistik: Gemeinsame Wege zur sozialen Praxis. 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In den meisten nordischen Ländern kann man sich auf Norwegisch, Schwedisch oder Dänisch verständlich machen, wenn man deutlich und langsam spricht. Untersuchungen in den letzten 20 Jahren (Delsing/ Åkesson 2005) weisen jedoch darauf hin, dass das internordische Sprachverständnis besonders bei der jüngeren Generation auf immer größere Schwierigkeiten stößt, und dass die dänische Sprache im Norden nicht mehr so leicht verstanden wird wie früher. Das ist hauptsächlich den Unterschieden in der Phonetik und der Prosodie zuzuschreiben. Generell ist das Verhältnis zwischen Lauteindruck und Schriftbild im Dänischen komplexer als in den beiden anderen Sprachen. Englisch ist daher immer häufiger die Sprache, in der sich junge Menschen in den nordischen Ländern zunächst bei ihren ersten Begegnungen verständigen. Dänisch war viele Jahrhunderte eine dominierende Sprache in den nordischen Ländern. Bis Mitte des 19. Jahrhundert dominerte Dänisch in Norwegen und bis 1944 in Island. Bis 2009 war Dänisch offizielle Sprache in Grönland und ist noch heute eine der offiziellen Sprachen auf den Färöer-Inseln, die zusammen mit Grönland Teil der dänischen Reichsgemeinschaft sind. Seit 1945 hat der Einfluss der dänischen Sprache im Norden stark abgenommen und ihre Rolle als Lingua Franca ist nach und nach von der englischen Sprache übernommen worden. Charakteristische Merkmale der Dänischen Sprache sind vor allem die unterschiedlichen Vokalqualitäten, der Einheitsakzent der dazu dient, Prozesse zu beschreiben: læse a'vis (Zeitung lesen), und der Stoßlaut, der semantisch distinktiv ist: stien (Pfad (+Stoß)) - stigen (Leiter (-Stoß). Mit den anderen Zentralskandinavischen Sprachen hat Dänisch unter anderem den suffigierten bestimmten Artikel gemeinsam: en mand - manden (ein Mann - der Mann). Wie im Deutschen hat man im Dänischen die dynamische Bildung von Kom- Sabine Kirchmeier 130 posita und vielen Partikelverben, aber im Gegensatz zum Deutschen oft mit teilweise lexikalisierter Bedeutung. - skrive af (von jemandem abschreiben) - afskrive (Einen Betrag abschreiben/ jemanden abschreiben) Im Gegensatz zum Deutschen ist das Kasussystem nur noch rudimentär bei den persönlichen Pronomina zu erkennen. Die Wortstellung im Dänischen ist daher aus topologischer Sicht relativ fixiert. Nur das Vorfeld ist auswechselbar: Vorfeld Mittelfeld Nachfeld v n a V N A Jeg har ikke hentet bogen i dag I dag har jeg ikke hentet bogen Bogen har jeg ikke hentet i dag Das Buch habe ich nicht geholt heute Besonders für Deutsche sollte die dänische Schriftsprache eigentlich leicht verständlich sein. Durch die vielen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen den beiden Nachbarländern, vermittelt z.B. durch die Hanse im Ostseeraum, haben sich viele deutsche, insbesondere niederdeutsche Wörter und Redewendungen in der dänischen Sprache eingebürgert, und man kann noch heute dänische Sätze bilden, in denen alle inhaltstragende Wörter aus dem Deutschen entliehen sind (Torp 2004). Eine Untersuchung des aktuellen Wortschatzes anhand eines mittelgroßen dänischen Wörterbuches, Nudansk Ordbog (2001), mit 70.000 Einträgen (Jarvad/ Sandøy 2008 (Hg.)), hat gezeigt, dass der Anteil der Lehnwörter aus der deutschen Sprache mit ca. 3,6% an erster Stelle steht, dicht gefolgt von Latein (besonders im Mittelalter und bis 1850 als Sprache der Wissenschaft) mit 3,4% und Französisch (im 18. Jahrhundert) mit 2,4%. Der Einfluss des Englischen auf den etablierten dänischen Wortschatz steht mit 1,8% erst an vierter Stelle und ist bisher gemessen an der Anzahl der Wörter, die aus beiden Sprachen in die dänische Sprache übernommen worden sind, nur ungefähr halb so groß wie der des Deutschen. Dieses Verhältnis wird sich in Zukunft jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit ändern. Seit 1945 ist Englisch/ Amerikanisch mit ca. 90% der neu etablierten Lehnwörter die wichtigste Quelle des dänischen Wortimportes. Deutsch ist die zweitgrößte Quelle, liefert jedoch nur 1,25% des Zuwachses. Auch in der dänischen Rechtschreibung hat man sich mit dem Einfluss aus Deutschland auseinandergesetzt. Vor 1948 schrieb man noch wie im Deutschen alle Substantive groß, doch unter den Eindrücken des Zweiten Welt- Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 131 krieges hatte sich das politische Klima so weit gewandelt, dass es möglich wurde, nicht nur die Kleinschreibung einzuführen, sondern auch den im Schwedischen und Norwegischen gebräuchlichen Buchstaben å, der den Laut [ɔ] repräsentiert, der bis dahin aa geschrieben wurde. Auf diese Art konnte man von einem Tag auf den anderen sogar im Schriftbild signalisieren, dass man mit dem Deutschen möglichst wenig gemeinsam habe wollte und sich eher den nordischen Nachbarn verbunden fühlte. In der Praxis dauerte es jedoch mehrere Jahre, bis diese Änderungen überall durchgeführt waren. 2. Dansk sprognævn - das offizielle nationale dänische sprachinstitut Dansk Sprognævn - das offizielle nationale dänische Sprachinstitut - ist eng mit der Rechtschreibreform von 1948 verknüpft, da es, als es 1955 gegründet wurde, die Aufgabe bekam, das erste offizielle Rechtschreibwörterbuch nach der Reform herauszugeben. Seit 1997 ist die Arbeit des Instituts gesetzlich verankert. Es gibt ein Rechtschreibgesetz, das bestimmt, dass alle öffentlichen Einrichtungen, wie das Parlament, die Gerichtshöfe, öffentliche und öffentlich unterstützte Schulen usw., der Rechtschreibung folgen müssen, die das Sprachinstitut durch die Herausgabe des offiziellen Rechtschreibwörterbuches festlegt. Neben dem Rechtschreibgesetz legt ein weiteres Gesetz die Aufgaben des nationalen Sprachinstitutes fest. Das Institut muss demnach: - die Entwicklung der dänischen Sprache beobachten, - über Sprache und Sprachgebrauch informieren und - die Rechtschreibung festlegen. Die Aufgaben des Institutes fallen somit in drei Hauptbereiche: Forschen, Informieren und Normieren. Das Institut sieht den Forschungsauftrag als Grundlage für die beiden anderen Tätigkeiten, und deswegen haben 90% der 18 Mitarbeiter einen sprachwissenschaftlichen Hintergrund. Neben diesen drei Tätigkeiten hat das Institut die Verpflichtung, mit entsprechenden Institutionen in den anderen nordischen Ländern zusammenzuarbeiten, unter anderem um die Verständigung mit Hilfe der nordischen Nachbarsprachen zu fördern. Seit 2015 betreibt das Sprachinstitut auch ein Sekretariat für die dänische Gebärdensprache. Sabine Kirchmeier 132 3. kodifizierung der dänischen rechtschreibung Durch das Rechtschreibgesetz und durch sprachliche Bestimmungen in anderen Gesetzen ist der Status der dänischen Sprache nur indirekt festgelegt. Es gibt keinen Abschnitt im dänischen Grundgesetz (Grundloven) von 1848, der die dänische Sprache als Landessprache festlegt. Es gibt auch kein Sprachgesetz, das den Status der dänischen Sprache, z.B. als Unterrichtssprache und Amtssprache, vorschreibt. Dass Dänisch de facto Hauptsprache des Landes ist, geht z.B. daraus hervor, dass man nur mit einer Sondergenehmigung in der Grundschule und im Sekundarbereich eine andere Unterrichtssprache als Dänisch benutzen darf. Die Sprache der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ist hingegen ausdrücklich Dänisch, während Dänisch als Amtssprache im Verwaltungsgesetz lediglich in dem Sinne festgelegt ist, dass man dänischen Behörden auferlegt, mit den Bürgern in einem klaren und verständlichen Dänisch zu kommunizieren. Unmittelbar scheint dem nationalen Sprachinstitut im Bereich der Rechtschreibung eine bedeutende Machtposition zugewiesen zu sein. Es ist jedoch auch gesetzlich festgelegt, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Institutes die Verantwortung für die dänische Rechtschreibung nicht allein verwalten können. Dem Institut ist ein Gremium beigeordnet, das aus 43 Personen besteht, die entweder persönlich eine große Kompetenz im Bereich der dänischen Sprache besitzen oder Institutionen repräsentieren, die große Bedeutung für die Entwicklung der Sprache haben, z.B. die Staats-, 1 Bildungs-, Justiz- und Kulturministerien, das Fernsehen, die Zeitungen, Journalisten-, Schriftsteller -, Schauspieler- und Übersetzerverbände, Universitäten und Kulturinstitutionen. Betrachten die Repräsentanten eine vorgeschlagene Änderung als prinzipiell, muss sie dem Kulturminister vorgelegt werden, der im Einvernehmen mit dem Bildungsminister darüber entscheidet, ob die vorgeschlagene Änderung vorgenommen werden soll. Es ist schon vorgekommen, dass vorgeschlagene Änderungen zurückgewiesen werden. So wurde z.B. 1986 der Vorschlag, neben der traditionellen Form gymnasium die angepasste Form gymnasie zuzulassen, von dem damaligen Kulturminister verworfen. Erst 2012 wurde diese Änderung eingeführt. Auch in Hinblick auf die Zeichensetzung gab es im Laufe der Jahre politischen Einfluss, sodass heute im Rahmens des Kommasystems zwei Wahlmöglichkeiten existieren. In der dänischen Gesetzgebung gibt es zwei Prinzipien, die die Festlegung der Rechtschreibung bestimmen. Das eine nennt sich das Traditionsprinzip, nach dem die Rechtschreibung der dänischen Sprache prinzipiell festliegt. 1 Staatsministeriet entspricht dem Bundeskanzleramt in Deutschland. Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 133 Das andere Prinzip ist das Sprachgebrauchsprinzip, nach dem man die Rechtschreibung der Praxis angleicht, die bei guten und sicheren Benutzern der Schriftsprache zu finden ist. (Sprognævnsbekendtgørelsen (Erlass zur Organisierung und Arbeitsform des dänischen Sprachrates) 1997, § 1, stk. 3 und 4). Dem Traditionsprinzip nach werden Wörter und Wortformen im Dänischen in Übereinstimmung mit der Praxis geschrieben, die seit der Verordnung No. 24 vom 27. Februar 1892 geltend ist, und die seit 1955 in den Rechtschreibwörterbüchern zum Ausdruck kommt, die das nationale Sprachinstitut herausgegeben hat. Dem Traditionsprinzip zufolge liegen die Schreibweisen des existierenden Wortschatzes prinzipiell fest mit Ausnahme der Justierungen, die durch das Sprachgebrauchsprinzip veranlasst werden. Ein Element des Traditionsprinzips ist das Prinzip, dass Fremdwörter, die im Dänischen allgemein verbreitet sind, nach den gleichen Regeln geschrieben werden, die für ursprünglich Dänische Wörter und für ältere Lehn- und Fremdwörter gelten. Dieses Prinzip gilt hauptsächlich Wörtern aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen und Wörtern, die griechische, lateinische und französische Bestandteile enthalten. Wörter aus anderen Sprachen, insbesondere neuere Wörter, werden in der Regel in Übereinstimmung mit der Schreibweise dieser Sprachen oder der internationalen Praxis geschrieben. Dem Sprachgebrauchsprinzip zufolge werden Wörter und Wortformen im Dänischen in Übereinstimmung mit der Praxis geschrieben, die bei guten und sicheren Benutzern der Schriftsprache zu finden ist. Damit sind nicht Einzelpersonen gemeint, sondern eher die Praxis, die in Texten zu erkennen ist, die von Menschen geschaffen werden, die professionell mit der Sprache arbeiten. Das offizielle dänische Rechtschreibwörterbuch (Retskrivningsordbogen 2012) enthält ca. 65.000 Wörter. Die elektronische XML-Datenbank, von der das Wörterbuch automatisch generiert und publiziert wird, ist darüber hinaus mit sämtlichen flektierten Formen und dementsprechender morphosyntaktischer Information versehen. Die Datenbank enthält insgesamt ungefähr 450.000 flektierte Formen und wird in vielen Zusammenhängen für sprachtechnologische Zwecke genutzt, z.B. für Rechtschreibkontrolle, Suchmaschinen, elektronische Wörterbücher, Computerspiele, Kontrolle von Sprachinput, Wörtertrennung, Unterrichtsprogramme, Generierung von Login-Namen, usw. Das Sprachinstitut legt großen Wert darauf, dass die Information über die offizielle Rechtschreibung in so vielen Kontexten wie möglich zugreifbar ist. Das Rechtschreibwörterbuch wird seit 2014 ein Mal jährlich aktualisiert. Es werden neue Wörter eingesetzt, neue Informationen in existierende Artikel eingefügt (z.B. Zusammensetzungs- und Gebrauchsbeispiele, Bedeutungen Sabine Kirchmeier 134 und fehlende Flexionsinformation), und neue Beispiele, die z.B. eine Rechtschreibregel besser erläutern. So wächst die Wortmenge ständig an. Ungefähr alle 10 Jahre wird eine gründlichere Revision vorgenommen, wobei veraltete Worte und Wortformen entfernt und existierende Formen der aktuellen Schreibweise angepasst werden, natürlich erst nach vorheriger Befragung der Repräsentanten und zuständigen Ministerien. Die veralteten Worte verschwinden jedoch nicht völlig, sondern sind weiterhin in einem historischen Wörterbuchportal im Internet zugreifbar, in dem man die Entwicklung der Rechtschreibung von 1872 bis zur Gegenwart verfolgen kann. Es wird daran gearbeitet, auch die Änderungen, die seit 1777 vorgenommen worden sind, in diesem Portal zu erfassen. Zurzeit bemerkt man folgende Entwicklungstendenzen in der dänischen Rechtschreibung: - Zunehmende Getrenntschreibung von Komposita, insbesondere Substantivkomposita, teilweise so wie man sie auch im Deutschen antrifft, z.B. Substantiv + Adjektiv: video overvåget statt videoovervåget (‘video überwacht’ statt ‘videoüberwacht’), am häufigsten jedoch Substantiv-Substantivkomposita: kalve lever statt kalvelever (‘Kälber leben’ statt ‘Kalbsleber’) (Heidemann Andersen 2015). Wie im Deutschen verursacht die Getrenntschreibung oftmals auch ganz andere Lesarten der Wortfolge. - Zunehmende Reduktion der Verbalbeugung (Präsens ⇒ Infinitiv: jeg lærer/ jeg lære (ich lerne/ ich lernen). Hier ist das Problem, dass die Form mit dem fehlenden -r mit dem Infinitiv identisch ist und oft nicht vor der Rechtschreibkontrolle erfasst wird. Hinzu kommen Änderungen in der Aussprache, insbesondere Abschwächungen im Auslaut. Junge Menschen können das finale -r kaum hören, insbesondere wenn es nach einer größeren Anzahl von Konsonanten auftritt, z.B. ændrer (ich ändere) (Jervelund/ Schack 2016). - Zunehmender Einfluss des Englischen auf den Wortschatz. Die steigende Anzahl englischer Lehnwörter ist insbesondere in der Wirtschaft, in der Informationstechnologie und an den Universitäten deutlich. 56% der dänischen Industrieunternehmen gaben 2015 an, Englisch als Konzernsprache zu benutzen. Dänemark liegt in Bezug auf die Anwendung des Englischen als Unterrichtssprache an den Hochschulen in Europa mit an erster Stelle (Kirchmeier-Andersen et al. 2012). Neben den neuen Lehnwörtern sieht man in zunehmendem Maße neue Lesarten existierender griechischer oder lateinischer Wörter, wie z.B. adoptere 1 (adoptieren), adoptere 2 (neu: sich aneignen - to adopt a point of view), adressere 1 (mit einer Adresse versehen), adressere 2 (neu: zur Sprache bringen - to address a problem). - Beginnender Einfluss des Englischen auf das Flexionssystem. Im Flexionssystem zeigt sich der englische Einfluss durch die Beibehaltung des engli- Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 135 schen Pluralismorphems -s. Englische Lehnwörter werden im Plural teilweise nach dänischem Muster flektiert (baby-er), oder sie behalten die englische Form (airbags) oder beides (apps/ app-er). - Beginnender Einfluss des Englischen auf die Syntax. Hier bemerkt man zunächst nur kleine Veränderungen, insbesondere bei Konstruktionen mit Imperativ und Adverbium: Statt vent venligst (warte bitte) hört man immer häufiger venligst vent (bitte warte - please wait). 4. empirische grundlagen Seit 2008 arbeitet der das Sprachinstitut intensiv mit korpuslinguistischen Methoden, d.h. schriftliche Quellen, z.B. Tageszeitungen, Blogs und soziale Medien, werden systematisch überwacht und eingesammelt. Die Sektoren, in denen die Vorgabe des Sprachinstitutes Pflicht ist, werden besonders überwacht. Es werden Texte aus dem Ausbildungsbereich von der Grundschule bis zu den ersten Semestern des Universitätsunterrichtes, und Texte aus dem öffentlichen Bereich, insbesondere öffentliche Informationen im Internet und Texte, die direkt an Bürger gerichtet sind, eingesammelt und analysiert. Die Texte aus den übrigen Bereichen dienen unter anderem dazu, Ergebnisse zu kontrastieren. In verschiedenen Forschungsprojekten werden den gewählten Forschungsfragen entsprechend relevante Korpora zusammengestellt. Die Texte dienen auch dazu, die Norm in den unterschiedlichen Kontexten zu erschließen und die relative Verbreitung bestimmter Varianten festzustellen. abb. 1: Zusammensetzung der Quellen für korpuslinguistische analysen Sabine Kirchmeier 136 Mit verschiedenen Korpusprogrammen können relative und absolute Frequenzen erstellt werden, die die Entwicklung und Präferenzen in der geschriebenen Sprache verdeutlichen. Z.B. wird deutlich, dass bei neuen Lehnwörtern, wie dem Wort App, im Plural das englische Pluralmorphem -s dem dänischen -er vorgezogen wird. Das Verhältnis ist 1: 10. abb. 2: Vorkommen der Form apps (insgesamt 930) in einem Zeitungskorpus von ca. 400 Mio. wörtern abb. 3: Vorkommen der Form apper (insgesamt 92) in einem Zeitungskorpus von ca. 400 Mio. wörtern In diesem Fall sind im Wörterbuch beide Morpheme beibehalten, in anderen Fällen entscheidet man sich für die eine oder andere Form. Auf welcher Grundlage eine solche Entscheidung getroffen wird, ist keine leichte Frage. Sollte die Frequenz allein auschlaggebend sein, müssen an die Qualität und Repräsentativität der verwendeten Korpora große Anforderungen gestellt werden. Das heißt, die Texte müssten im Idealfall individuell anhand ihrer sprachlichen Qualität ausgewählt und ausgewogen zusammengesetzt werden. Das ist bei den großen Datenmengen, die mittlerweile in der Korpuslinguistik verwendet werden, oft nicht möglich. Deshalb sind die großen Textsammlungen in den meisten Wörterbuchredaktionen weiterhin nur ein Ergänzung zu den traditionellen Methoden: die manuelle Sammlung von neuen Wörtern und die jahrelange Erfahrung der Lexikografen. Das Sprach- Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 137 institut experimentiert seit einigen Jahren mit neuen Arbeitsmethoden, um dieses Problem zu lösen. Dazu mehr im folgenden Abschnitt. Alternative Formen lassen sich nie ganz umgehen und existieren auch in offiziellen Normen anderer Sprachen, die allgemein als relativ restriktiv angesehen werden. Z.B. im französischen Le Grand Robert (2009) hat man einen Großteil der Änderungen, die um 1990 beschlossen wurden, eingearbeitet. Heute enthält das Buch 6.000 Wörter, bei denen sowohl eine traditionelle als auch eine alternative Schreibweise autorisiert ist, was ungefähr 6% der 100.000 Wörter ausmacht. Zum Vergleich existieren in dem aktuellen dänischen Rechtschreibwörterbuch ungefähr 1.500 Wörter von 65.000 (ca. 2%), bei denen mehrere Alternativen erlaubt sind. Das ist nicht immer ein Vorteil für die Benutzer, da man öfter nachschlagen muss. Sowohl von privater als auch von öffentlicher Seite wird oft verlangt, so wenig Alternativen wie möglich zuzulassen. Die Entscheidung für die eine oder andere Variante betrachtet das Sprachinstitut jedoch eher als eine Frage der Sprachpolitik der einzelnen Organisation. Die Behandlung von alternativen Schreibweisen ist im Norden sehr unterschiedlich. In Norwegen gibt es neben beiden offiziellen Standardvarianten Bokmål und Nynorsk eine große Anzahl von ebenfalls autorisierten Nebenformen, die frei kombiniert werden können, was die Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Varianten innerhalb eines Satzes schier explodieren lässt. In Schweden dagegen schreibt Svenska Akademiens Ordlista überwiegend nur eine Schreibweise vor und gibt bei alternativen Formen sogar an, welche zu bevorzugen ist. 5. Der gute sichere Benutzer der schriftsprache Ein Problem in der Anwendung von korpuslinguistischen Methoden bei der Festlegung der Rechtschreibnorm ist es, den Status der Korpustexte zu bestimmen: Sind die gefundenen alternativen Schreibweisen Ausdruck für eine reelle Variation, d.h. liegt dahinter eine bewusste Überlegung des Verfassers oder eine neue Konvention, oder ist die Variation zufällig, d.h. dreht es sich lediglich um einen relativ weit verbreiteten Schreibfehler? Laut dem oben zitierten Sprachgebrauchsprinzip werden Wörter und Wortformen im Dänischen in Übereinstimmung mit der Praxis geschrieben, die bei guten und sicheren Benutzern der Schriftsprache zu finden ist. Die Frage ist, wie man diese identifiziert. Das Sprachinstitut hat viele Jahre lang manuell die Norm von einer breiten Auswahl von Zeitschriften, Büchern und anderen Texten abgeleitet, die von professionellen Textverfassern produziert wurden. Infolge der immer weitergreifenden Digitalisierung und dem beschleunigten Arbeitstempo z.B. in den Sabine Kirchmeier 138 Medien, werden viele Texte mit deutlich verminderter Sorgfalt produziert und nur noch mit notdürftiger Qualitätskontrolle publiziert. Manche der großen dänischen Tageszeitungen überlassen das Korrekturlesen nahezu ganz dem einzelnen Journalisten, oder setzen die Korrektur nur noch ein, wenn ein Artikel frühzeitig eingeliefert wird. Das bedeutet, dass derselbe Journalist Texte von ganz unterschiedlicher Qualität veröffentlichen kann. Auch die Einbeziehung von Texten aus dem Internet und den sozialen Medien werfen Probleme auf. Untersuchungen in den sozialen Medien haben erwiesen, dass in manchen Zusammenhängen sehr auf korrekte Sprache geachtet wird und quasi dieselben Normen herrschen wie in anderen Bereichen. In anderen Zusammenhängen etablieren bestimmte Gruppen z.B. auf Facebook eigene Regeln und betrachten bestimmte orthographische Varianten als einen Teil ihrer Identität (Hyttel-Sørensen/ Stæhr 2014). Diese Entwicklungen sind in einem großen, diversen Korpus oft schwer zu identifizieren und verwirren das Bild. Stellen wir uns vor, dass die Redakteure des Rechtschreibwörterbuches erwägen, das Wort autenticitet (Authentizität) in die nächste Ausgabe des Wörterbuches aufzunehmen. In der großen dänischen Medien-Datenbank Infomedia sieht man die lange Form autenticitet in etwa 75% der Suchergebnisse, während die kürzere Form autencitet in 25% der Ergebnisse auftritt. Wie aber kann man erkennen, welche dieser Formen von den guten, sicheren Benutzern der Schriftsprache geschrieben sind, von denen im Sprachgebrauchsprinzip die Rede ist? Das erörtern Mitarbeiter des Sprachinstitutes in einem Forschungsprojekt mit dem Ziel, bessere Methoden zu entwickeln, um die Texte zu identifizieren, die maximal mit der Norm übereinstimmen, und zwar in der Annahme, dass gute und sichere Verfasser, die qualitativ gute Texte schreiben, auch die Norm eher berücksichtigen als andere, und dass Abweichungen von der offiziellen Norm in diesen Texten daher ernster genommen werden müssen als Abweichungen, die in weniger normkonformen Texten vorkommen (Diderichsen/ Christensen/ Schack 2015). Konkret will man eine Methode entwickeln, die es ermöglicht, die einzelnen Texte in einem Korpus nach dem Grad ihrer Normkonformität einzustufen - ein sogenanntes orthographisches Qualitätsbarometer: An der Spitze des Barometers findet man die Texte, die völlig mit der Norm übereinstimmen, und am Ende die Texte, die am weitesten davon entfernt sind. Jeder Text im Korpus soll also im Verhältnis zur Norm klassifiziert und im Barometer eingeordnet werden. Zur Erstellung einer ersten Version des Qualitätsbarometers wurden zwei Elemente kombiniert: Erstens ein Korpus von ca. 370.000 Zeitungstexten aus sieben dänischen Tageszeitungen von 2004-2014, insgesamt 200 Millionen Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 139 Wörter. Zweitens eine Liste mit besonders typischen Fehlern. Schreibfehler lassen sich in zwei Kategorien aufteilen: Die eine enthält die Schreibfehler, die sogenannte Nicht-Wörter ergeben, also Wörter, die nicht der autoritativen Schreibweise entsprechen, und die prinzipiell in jedem Kontext als Fehler eingestuft werden. Z.B. hierachisch statt hierarchisch. Daneben gibt es auch Fehler, die nur im Kontext als Fehler zu erkennen sind, z.B. Muße oder Muse. abb. 4: Qualitätsbarometer zur beobachtung der normkonformität von texten Zunächst hat man sich auf die Nicht-Wörter konzentriert, da diese sich in jedem Kontext eindeutig identifizieren lassen und somit einen sicheren Ausgangpunkt geben. Die Liste der Fehler, die aus Nicht-Wörtern besteht, enthält 20.000 verschiedene nichtkontextuelle Fehlerformen oder Nicht-Wörter, die sich auf 90 verschiedene Fehlertypen verteilen, z.B. fehlende Kompositionsfugen, -tion statt -sion usw. Die verschiedenen Formen stammen unter anderem aus einem Projekt, in dem wir die Funktionsweise verschiedener Rechtschreibkontrollen untersucht haben. Es stellt sich natürlich die Frage, ob Texte, die keine oder nur wenige dieser nichtkontekstuellen Fehler aufweisen, auch generell von guten, sicheren Verfassern geschrieben sind und somit dem Sprachgebrauchsprinzip entsprechen. Texte können unterschiedliche strukturelle, rechtschreibmäßige, formulierungsmäßige und argumentative Qualitäten aufweisen. Bei guten Texten scheinen diese Merkmale einander zu unterstützen. Ist eins der Merkmale vertreten, sind die anderen es meist auch. Die Annahme liegt nahe, dass Texte, die viele nichtkontextuelle Fehler enthalten, auch im Hinblick auf die anderen Merkmale qualitativ zu wünschen übrig lassen. Das wurde in einem internen Experiment untersucht (Schack/ Diderichsen 2015): Anhand des Korpus wurden automatisch drei Textpaare erstellt, die thematisch, genremäßig und im Umfang einander gleich waren, z.B. zwei Sabine Kirchmeier 140 Fußballreportagen, zwei Präsentationen eines neuen Autos usw. Sie waren im gleichen Jahr erschienen, die Verfasser waren ungefähr gleich alt, gleichen Geschlechtes und waren mit ungefähr der gleichen Textmenge im Korpus repräsentiert. Der einzige Unterschied zwischen den Texten in jedem Paar war die Menge der nichtkontextuellen Fehler. Der eine Text enthielt keinen dieser Fehler, der andere wies eine größere Menge nichtkontextueller Fehler auf. Diese Fehler wurden korrigiert, die Texte wurden anonymisiert, und danach wurden acht Mitarbeiter des Sprachinstitutes gebeten, die Textpaare zu beurteilen. In den ersten beiden Paaren wurde jeweils der Text mit den wenigsten nichtkontextuellen Fehlern von den Mitarbeitern eindeutig als der beste Text klassifiziert. Obwohl die nichtkontextuellen Fehler nicht sichtbar waren, bekamen die ursprünglich fehlerhaften Texte Prädikate wie „unsicher“, „geschwollen“, „unpräzise“, „häufige Stilbrüche“ und „mangelhafte Kohärenz“. Die Bevorzugung der fehlerfreien Texte wurde generell mit Bemerkungen wie „flüssiger Stil“, „leicht zu lesen“, „gut disponiert“, „durchgehend objektiver“ und „informativ“ begründet. Im letzten Fall dagegen wurde der Text mit den wenigsten kontextuellen Fehlern als der schlechteste Text beurteilt. Es stellte sich heraus, dass in diesem Text sehr viele kontextuelle Fehler vorkamen, die von dem automatischen Auswahlprozess nicht berücksichtigt worden waren. Das bestärkt die Annahme, dass die Anzahl der Fehler mit der erlebten Qualität der Texte zwar korreliert, dass aber die nichtkontextuellen Fehler allein nicht ausreichen, um die besten Texte zu identifizieren. Betrachtet man die kontextuellen und anderen Fehler, z.B. Kommafehler, in den drei Texten, wird deutlich, dass nichtkontextuelle Fehler durchaus als Indikation für die Textqualität dienen können. abb. 5: Verschiedene stadien der texte und ihre beurteilung In Abbildung 5 sind die verschiedenen Stadien der Texte und ihre Beurteilung illustriert: i. Zwei ähnliche Texte werden ausgewählt. Der eine enthält mehrere nichtkontextuelle Fehler, der andere keine. Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 141 ii. Beide Texte werden auf weitere Fehler untersucht. Der erste Text weist mehrere nichtkontextuelle Fehler, einen Kongruenzfehler und zahlreiche Kommafehler auf. Der zweite Text enthält nur einen Kommafehler. iii. Die nichtkontextuellen Fehler werden korrigiert. Die restlichen Fehler werden in beiden Texten stehengelassen. iv. Der Text mit den wenigsten nichtkontextuellen Fehlern wird von allen Beurteilern bevorzugt. Unsere Untersuchungen haben, wenn sie sich weiterhin als haltbar erweisen, interessante Perspektiven. Z.B. ist es anhand der nichtkontextuellen Fehler möglich, festzustellen, welche Tageszeitungen in unserem Korpus die wenigsten Fehler zu enthalten scheinen, was tatsächlich damit korreliert, welche Zeitungen nach eigener Aussage am meisten darauf Wert legen, eine gründliche Textkorrektur vorzunehmen. abb. 6: Fehlerprozente in dänischen tageszeitungen Es lässt sich auch feststellen, dass die Anzahl der Fehler im Laufe der letzten zehn Jahre geringer geworden ist, was wahrscheinlich Verbesserungen in der automatischen Rechtschreibkontrolle zuzuschreiben ist. Generell sind die Fehlerprozente in dem untersuchten Korpus relativ gering. Insgesamt enthalten die Texte 10 Mio. Wörter, die anhand unserer Fehlerliste potenziell falsch geschrieben werden können. Es treten aber in der Praxis nur 10.000 Fehler auf, d.h. nur 1 Promille der möglichen nichtkontextuellen Fehler werden tatsächlich gemacht und nicht im Redaktionsverfahren erfasst. Sabine Kirchmeier 142 abb. 7: Fehlerprozente von Jahr zu Jahr Die Frage stellt sich nun, ob der Zusammenhang zwischen orthographischen Fehlern und der generellen Textqualität noch zuverlässiger nachgewiesen werden kann. In einem der Texte haben nichtkontextuelle Fehler im wesentlichen Grad die Beurteilung beeinflusst. Deshalb wird im weiteren Verlauf des Projektes daran gearbeitet, auch die kontextuellen Fehler automatisch zu erfassen. Das ist eine weitaus schwerere Aufgabe, da man zu diesem Zweck den Kontext genau analysieren muss, um z.B. morphologische oder syntaktische Fehler zu erkennen. Will man herausfinden ob laufe im Kontext wir laufe ein Fehler ist, muss man also den Numerus des Pronomens wir erfassen, und dazu auf das Beugungsmuster des Verbs laufen im Computer Zugriff haben. Obwohl wir bisher nur vorläufige Ergebnisse zu verzeichnen haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit unser Qualitätsbarometer in Gebrauch nehmen können. Wenn nicht als einziges Mittel, um Veränderungen in der Rechtschreibung beurteilen zu können, dann doch als eine Methode, mit der Varianten schon erheblich präziser beurteilt werden können als mit einer rein quantitativen Betrachtungsweise. Man kann sich auch vorstellen, dass die Methode zu anderen Zwecken verwendet werden kann. In mehreren Studien der Sprachformen in den sozialen Medien (Androutsopoulos 2011; Hyttel-Sørensen/ Stæhr 2014) wurde festgestellt, dass die korrekte Rechtschreibung auch in diesen Kontexten weiterhin eine wichtige Rolle spielt, und dass sich weitgehend die Konventionen der klassischen Medien etabliert haben. Die Bedenken vieler Sprachforscher, dass Empirische Grundlagen der offiziellen Rechtschreibung in Dänemark 143 sich in den sozialen Medien selbständige Konventionen entwickeln, die die Schreibenden verunsichern, und die korrekte Rechtschreibung somit an Bedeutung verliert, haben sich bis jetzt als unbegründet erwiesen. Mit der entwickelten Methode wäre es durchaus möglich, diese Ergebnisse auch quantitativ zu dokumentieren, und die Entwicklung weiterhin zu verfolgen. 6. literatur Androutsopoulos, Jannis (2011): Language Change and Digital Media. In: Kristiansen, Tore et al. (Hg.): Standard Languages and Language Standards in a Changing Europe. Oslo, S. 145-159. 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Die bekanntesten davon, die in der heutigen Sprachforschung üblich sind, sind die genealogische und die typologische Perspektive. Die erstere bestimmt die Stellung einer Sprache unter anderen Sprachen unter Anwendung von Parametern, die in erster Linie den Faktor der Sprachverwandtschaft berücksichtigt und somit von vornherein historisch ausgerichtet ist. Die letztere geht davon aus, dass alle Sprachen der Welt in Typen eingeteilt werden können, welchen Parameter zu Grunde liegen, die vom Faktor der Sprachverwandtschaft weitestgehend unabhängig sind, sodass z.B. eng verwandte Sprachen nach gewissen Kriterien typologisch voneinander weiter entfernt sind als weniger oder gar nicht verwandte. Freilich können beide Herangehen koexistieren, wenn nämlich einige Gemeinsamkeiten historisch-genealogisch bedingt sind, während sich andere aus synchronen und diachronen Universalien, d.h. allgemein menschlichen Sprachprinzipien, ergeben. Eine andere Betrachtungsperspektive, die vorrangig externe, soziokulturell bedingte Faktoren berücksichtigt, ordnet die jeweilige Sprache auf Grund solcher Kriterien ein wie die Zahl der Muttersprachler, die „Ausstrahlung“ (d.h. die Popularität in anderen Ländern bzw. die Zahl der Nichtmuttersprachler, die diese Sprache als Fremdsprache lernt bzw. lernen oder studieren will), die Verwendung als Amtsbzw. Arbeitssprache in internationalen Gremien und auf internationalen wissenschaftlichen und sonstigen Tagungen und in Publikationen, das Funktionieren als lingua franca in diversen Kommunikationsbereichen mit hohem Internationalisierungsgrad (Industrie, Finanzen, Medizin, Recht, Natur- und Geisteswissenschaften, Sport, Massenmedien etc.). Aus diachroner Sicht sind hierbei solche Kriterien essenziell wie Ausbildung der Standardvarietät, Variation und Norm, Einfluss auf andere Sprachen und Sprachkontakte (letztere sind übrigens auch für „sprachinterne“ Fragestellung durchaus relevant), Vorhandensein international anerkannter, darunter insbesondere ästhetisch wertvoller (literarischer) Texte, die in dieser Sprache geschrieben worden sind, usw. Michail L. Kotin 146 In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, diese Kriterienkomplexität auf das Problem der Stellung der deutschen Sprache unter anderen Sprachen zu applizieren. Dieses Ziel ist mit der Würdigung des Beitrags des Geehrten zur Popularisierung der deutschen Sprache und Bewusstmachung ihrer Weltgeltung im internationalen Ausmaß durchaus affin. Dabei werden sprachinterne („organologische“) und sprachexterne (soziokulturelle) Faktoren nach Möglichkeit in ihrer Wechselbeziehung bzw. Wechselwirkung dargestellt. Das Hauptziel dieser Darstellung besteht in einer Modellierung von linguistisch relevanten Parametern, die eine wissenschaftlich angemessene Basis für die adäquate Zuordnung der deutschen Sprache unter definitivem Ausschluss vorbzw. pseudowissenschaftlicher Kriterien wie die subjektiven, wissenschaftsfernen Axiologien und Präferenzen schaffen können. 2. Die „sprachinternen“ kriterien 2.1 Die genealogische Dimension Deutsch ist eine der elf heute erhaltenen germanischen Sprachen, von denen fünf (Isländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und Färöisch) zur nordgermanischen und sechs (Englisch, Deutsch, Niederländisch, Friesisch, Jiddisch und Afrikaans) zur westgermanischen Gruppe gehören. Die ostgermanischen Sprachen, von denen die bekannteste Sprache Gotisch ist (in der die ältesten germanischen Bibeltexte als Übersetzungen aus dem Griechischen vorliegen), sind als lebende Sprachen nicht erhalten geblieben, da ihre Träger ausgestorben sind. Deutsch ist etwa 15 Jahrhunderte alt. Seine Dialektbasis sind in erster Linie kontinentale germanische Mundarten zwischen Mittelgebirge und Alpenrand, d.h. gemeinhin Dialekte, die von der sog. zweiten, oder hochdeutschen Konsonantenverschiebung in einem mittelstarken bis starken Maße erfasst waren (vgl. Eggers 1963 (Bd. 1); Tschirch 1989; Schmidt 1994). Freilich ist die hochdeutsche Verschiebung der Geräuschlaute nur eines der Kriterien des Sprachwandels, in dessen Folge die hochdeutschen Dialekte entstanden sind, aber sie kann hier als Indikator für die Ausbildung einer neuen Sprachgemeinschaft innerhalb der Westgermania angesetzt werden. Die germanischen Sprachen sind ihrerseits eine große Sprachgruppe der indogermanischen (indoeuropäischen) Sprachfamilie neben anderen Sprachgruppen (romanische, keltische, slawische, baltische, indoiranische u.a. Sprachen) und Einzelsprachen, deren Zuordnung zu einer Gruppe nicht möglich ist (z.B. Griechisch oder Armenisch). Die genealogisch bedingten Züge, die Deutsch mit anderen indoeuropäischen Sprachen verbinden, sind u.a. flektierender Sprachbau, Nominativ-Akkusativ-Syntax, die u.a. mit dem Vorhandensein der Verbaldiathese einher geht, Kasusmorphologie und -syntax (wobei Deutsch in dieser Hinsicht, im Gegensatz zu sonstigen westgermanischen und sogar zu den Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 147 meisten skandinavischen Sprachen, ein stark ausgebautes Kasussystem hat und insofern die archaischen Züge der Indogermania stärker als andere germanische Sprachen beibehalten hat), etc. (vgl. Lehmann 1966; Sonderegger 1979). Wie die anderen germanischen Sprachen hat das Deutsche die indizierte Definitheitsmarkierung (Artikelkategorie), welche auch einigen anderen indogermanischen Sprachen (Romania, Südslavia, Griechisch) eigen ist. Wie die anderen germanischen Sprachen hat das Deutsche im Laufe seiner Frühgeschichte die grammatikalisierte Verbalkategorie des Aspekts verloren, aber im Unterschied z.B. zum Englischen keine overten grammatischen Ersatzformen dafür ausgebildet. Der Aspektverlust führte, wie Elisabeth Leiss (1992, 2000 u.a.) nachgewiesen hat, zu erdrutschartigen Veränderungen im gesamten Verbal-, ja sogar im Nominalsystem. Diese Besonderheit unterscheidet alle germanischen Sprachen, insbesondere aber gerade das Deutsche, von den slawischen Sprachen, die Aspektsprachen sind. Der Hauptunterschied der deutschen Sprache zu allen anderen indoeuropäischen, aber auch zu anderen germanischen Sprachen im Bereich der Grammatik, besteht in einer unikalen Satztopologie, in der die Zweitstellung des Finitums im unmarkierten Deklarativsatz mit Verbletztposition in allen anderen unmarkierten Syntagmen einschließlich Nebensatztopologie koexistiert. Darüber hinaus stehen die infiniten Prädikatsteile (Partizip II bzw. Infinitiv) im unmarkierten deutschen Deklarativsatz mit Auxiliar- oder Modalbzw. Modalitätsverben als Finita ebenfalls in Satzschlussposition, was die Satzklammerstruktur zur Folge hat, welche von allen indogermanischen Sprachen in dieser Form nur dem Deutschen eigen ist. Bezüglich des Wortschatzes ist Deutsch neben Niederländisch die „autochthoneste“ westgermanische Sprache, da Englisch bekanntlich wegen der normannischen Invasion des 11. Jahrhundert bis zu 60 Prozent seines germanischen Urwortschatzes verloren hat. Diese Entwicklung im Englischen seit der mittelenglischen Periode ist keinesfalls mit dem Einfluss dieser Sprache auf andere Sprachen der Welt, darunter auf das Deutsche, in den heutigen Tagen zu vergleichen. Daher sind wiederholte Versuche der Kämpfer für die Reinheit des Deutschen, die vermeintliche Bedrohung der deutschen Sprache durch englische Überfremdung zu thematisieren, zumindest stark übertrieben, wenn nicht gar abwegig. Das Problem liegt hier woanders und wird daher erst unten behandelt. Was nun den Wortschatz des Gegenwartsdeutschen betrifft, ist darin der Anteil der genuinen Einheiten sehr hoch. Mehr „eigene“ Wörter gibt es von allen germanischen Standardsprachen nur im Isländischen. 2.2 Die typologische Dimension Als Nominativ-Akkusativ-Sprache gehört das Deutsche zusammen mit anderen indoeuropäischen Sprachen zu einer sehr großen typologischen Sprachgruppe, die solchen Sprachen wie Ergativ- oder Aktivsprachen gegenüber steht Michail L. Kotin 148 (vgl. Dixon 1994). Die Letzteren haben eine prinzipiell andere Kasussyntax und besitzen in ihren Verbalsystemen keine Kategorie des Genus verbi. Das Deutsche ist im Gegensatz zu isolierenden oder agglutinierenden Sprachen eine flektierende Sprache, d.h., seine Flexionsmorphologie basiert auf der Formenkennzeichnung mittels der Endungen, die ihrem Status nach nicht monofunktionale Marker sind, wie z.B. Kasusendungen, die zugleich die Kasus- und die Numerusfunktion übernehmen. Allerdings ist die „Flexivität“ im deutschen Kasussystem lediglich in Resten geblieben, z.B. bei der Endung -(e)n im Dativ Plural, wo sie gegenwärtig beim mündlichen Sprachgebrauch oft weggelassen wird. Dagegen sind die Flexionsendungen im Verbalsystem als simultane Person- und Numerusmarker stabil. Die allen flektierenden Sprachen gemeinsame Tendenz zur Ausbildung analytischer Sprachformen betrifft auch das Deutsche, wobei diese Sprache einen mittleren Grad bei der Grammatikalisierung syntaktischer Fügungen aufweist. Englisch ist z.B. viel stärker analytisch geprägt, ebenfalls das Afrikaans. Russisch und noch mehr Polnisch sind dagegen viel „synthetischer“ als Deutsch. Agglutinative Elemente gibt es dabei im Deutschen ebenfalls, was in verschiedenem Umfang allen flektierenden Sprachen eigen ist. So wird der Plural der Substantive mittels der Pluralsuffixe gebildet; das präteritale Dentalsuffix schwacher Verben und das Konjunktivsuffix -e sind weitere Beispiele agglutinativer morphologischer Formanten. Der Ablaut bei der Bildung der Grundformen schwacher Verben und in der Wortbildung gehören zu den typologischen Grundzügen der Germania schlechthin, haben aber im Deutschen die archaische Systematik (Reihenbildung) als morphonologisches Mittel (innere Flexion) am besten beibehalten. Daher sind deutsche starke Verben nicht als einfach „unregelmäßig“ zu behandeln, sondern weitgehend systematisch organisiert, auch wenn der Ablaut keine produktive Formenbildung mehr ist. Das Fehlen der Aspektkategorie im Verbalsystem und das Vorhandensein der Artikelkategorie im Nominalsystem sind weitere typologisch relevante Merkmale des Deutschen. Wie Leiss (2000) vermutet, ist die Artikel-Aspekt-Ersatzdistribution eine wichtige typologische Universalie. Das typologisch wichtigste syntaktische Merkmal des Deutschen ist die Verbalklammer, welche oben schon skizzenhaft umrissen wurde. Die Eigenart des Deutschen aus dieser Perspektive prägt sein besonderes, keiner anderen Sprache der Welt ähnliches syntaktisches Profil. Eine weitere Eigenart ist die herausragende Stellung der Zusammensetzung als Wortbildungsmodell im nominalen Bereich. Sowohl die Anzahl der Determinativkomposita als auch ihre Typenvielfalt und ausgesprochen starke Produktivität unterscheiden das Deutsche nicht nur von den verwandten germanischen Sprachen, sondern auch von der absoluten Mehrheit der Sprachen der Welt. Diachron gesehen handelt es sich hierbei um eine kontinuierliche und unaufhaltsame Tendenz zur Lexikalisierung genuin syntaktischer Nominalstrukturen, die im Deutschen im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachen eine volle Ausprägung erhält. Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 149 3. Die „sprachexternen“ kriterien 3.1 Arealgeschichte und heutige Verbreitung Die eigentliche deutsche Sprachgeschichte beginnt zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert auf den Trümmern des von germanischen Stämmen eroberten Römischen Reichs, und zwar östlich des Rheins zwischen der Nord- und Ostseeküste und dem Alpenrand (Eggers 1963; Tschirch 1989; Schmidt 1994). Die westlicher des Rheins vorgedrungenen Germanen wurden sprachlich völlig romanisiert, sodass die weitere Arealgeschichte des Deutschen durch Ostausweitung gekennzeichnet war: Im Norden waren die Nordbzw. die Ostsee die natürliche Grenze und im Süden die Berge, hinter denen alle dorthin gelangten Germanen mit der Zeit ausgestorben sind. Durch Ostausweitung in kriegerischen Auseinandersetzungen mir slawischen und baltischen Völkern wurden die Gebiete zwischen dem Rhein und der Elbe zunehmend von den deutschsprachigen Stämmen besiedelt, woraufhin sie auch weiter östlich der Elblandschaft vorgedrungen sind. Die ursprünglichen Zentren der deutschen Sprache und Kultur am Rhein, Main, an der Weser und der nördlichen Donau erweiterten sich dadurch um neue Territorien, von denen das obersächsischthüringische Becken seit dem 15.-16. Jahrhundert eine besondere Rolle für die Ausbildung der künftigen binnendeutschen Standardvarietät spielte (vgl. Frings 1936). Die Verlagerung der politischen und kulturellen Zentren in die früher unterentwickelte Mark Brandenburg im 19. Jahrhundert und die Vereinigung Deutschlands unter preußischer Herrschaft 1871 hat die östlichsten Territorien des Landes in den Sog der Ausweitung der deutschen Sprachkultur gezogen, auch wenn diese Prozesse wegen der sehr lange dauernden Zersplitterung deutscher Gebiete keine üblichen Züge einer zentralisiert ausgerichteten, zentrifugalen Entwicklung trugen und vielmehr zentrifugale mit zentripetaler Entwicklung vermischen ließen. Eine nichtsynchrone Entwicklung von Kultur und Politik kennzeichnete Deutschland wie kein anderes Land Europas. Die direkte Folge davon ist die Ausbildung einer Norm der Standardvarietät auf der Grundlage ostmitteldeutscher Dialekte, die jedoch in einer norddeutschen Gestalt auftreten. Die Hauptstadt des vereinigten Deutschlands Berlin konnte im Gegensatz zu anderen europäischen Hauptstädten keinen entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung der Norm der binnendeutschen Standardsprache ausüben, wodurch die weitestgehend niederdeutsch geprägte Berliner Koine bis heute aus der Sicht der Sprachnorm marginalisiert bleibt. Bei anderen nationalen Varianten der neuhochdeutschen Sprache sieht die Situation anders aus. So ist das Österreichische Deutsch sehr stark an den Sprachusus der Wiener Koine gebunden. Die alemannischen Dialekte liegen dem sog. Schwyzerdütsch zu Grunde und die moselfränkischen dem Letzeburgischen. Im Großen und Ganzen kann hin- Michail L. Kotin 150 sichtlich des Binnendeutschen festgestellt werden, dass die Unifizierung der Standardvarietät gerade in den niederdeutschen Gebieten am stärksten verlief, während der Einfluss der Mundarten auf die Standardvarietät im Süden Deutschlands bis heute viel stärker ist. Entsprechend werden die Dialekte im Süden des Landes viel stärker gepflegt und nehmen im Bewusstsein der Sprecher einen viel wichtigeren Platz ein als die durch die Standardsprache nahezu völlig verdrängten niederdeutschen Dialekte. Dies ist mit einer Reihe von internen und externen Faktoren verbunden, allen voran mit der Tatsache, dass die ursprünglichen Träger niederdeutscher Dialekte die neue Sprache quasi als eine Fremdsprache lernen mussten, während die süddeutschen Sprecher diese entscheidende Trennlinie zwischen ihrem Mutterdialekt und der normierten Sprache wegen ihrer größeren Gemeinsamkeit nicht ziehen konnten. Außer den Ländern, in denen Deutsch die „Hauptsprache“ (Deutschland und Österreich) oder eine der „Hauptsprachen“ ist (die Schweiz und Luxemburg) gibt es weltweit größere oder kleinere Enklaven mit kompakt lebender deutschsprachiger Bevölkerung, die jeweils einen Dialekt oder mehrere, in der Regel sehr eng verwandte Mundarten spricht, z.B. der US-Staat Pennsylvania mit vorwiegend auf Pfälzischer Mundart aufbauender Sprache, die außerdem in kleinerem Umfang in Ohio, Indiana sowie im kanadischen Ontario gesprochen wird; vorwiegend schwäbisch geprägte Sprachinseln an der Wolga in Russland sowie in Kasachstan; ostmitteldeutsch sprechende deutsche Minderheiten in Tschechien und Polen; viele deutsche Sprachinseln in Lateinamerika etc. 3.2 Sprecherzahl und internationaler Status Heutzutage gehört Deutsch zu den großen Weltsprachen. Es wird von über 100 Millionen Menschen muttersprachlich gesprochen, von denen ca. 80 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland leben. Alle nationalen Varianten der normierten deutschen Standardvarietät sind in den wichtigsten Kommunikationsbereichen vertreten, und zwar: Massenmedien, Amtsverkehr, Bildung, Wissenschaft, Literatur, Religion sowie Alltagskommunikation (vgl. Ammon 2015). Ein außerordentlich starker historisch bedingter und heute weiterhin geltender Einfluss der deutschen Sprache in der Weltkultur ist unumstritten. Der riesige deutschsprachige Nachlass an gedruckten Quellen und die aktuelle Stellung der deutschen Sprache im Kontinuum weltweiter Kommunikation lässt Deutsch als eine der führenden Sprachen im kulturellen „Weltdiskurs“ einordnen. Daher lässt sich Deutsch u.a. als Bildungssprache einstufen (vgl. Habermas 1977; Feilke 2012). In Europa ist Deutsch nach Sprecherzahl die am stärksten vertretene Sprache, aber seine Verbreitung außerhalb der deutschen Sprachräume entspricht weder dieser Tatsache noch seinem Status als eine der wichtigsten Bildungssprachen der Welt. Es ist ohne Zweifel in internationalen Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 151 Gremien als Amts- und Arbeitssprache deutlich untervertreten. Dasselbe betrifft den Status des Deutschen in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und sonstiger öffentlicher Kommunikation. Ein selbst flüchtiger Überblick über die Tagungssprachen auf internationalen Symposien zeigt, dass Deutsch nicht nur hinter Englisch, sondern auch oft hinter Spanisch oder Französisch steht. Selbst Abhandlungen zur deutschen Sprachwissenschaft werden zunehmend auf Englisch verfasst, um einen möglichst weiten Leserkreis zu erreichen. Deutsch ist ferner keine übliche Arbeitssprache in den Bereichen der Diplomatie, der internationalen kulturellen Kommunikation, der internationalen Rechtsprechung, des Postwesens etc., die so gut wie vollständig von Französisch und Englisch beherrscht werden. Englisch ist praktisch neben Latein (was historisch bedingt ist, aber lediglich die Terminologie betrifft) die einzige international anerkannte Fachsprache in der Medizin. Nur im Maschinenbau und in der Autoindustrie konnte sich Deutsch auch international mehr oder minder als Sprache der Fachkommunikation durchsetzen, was wiederum mit herausragenden Positionen der deutschen Industrie und des Ingenieurwesens in diesen Branchen zusammenhängt. Die Position der deutschen Sprache in Europa und weltweit bedingt weitgehend seine Stellung als Fremdsprache, die gelernt oder studiert werden will. Freilich spielt hier auch die Sprachpolitik eine Rolle, welche eine Reihe von mehr oder weniger effizienten Maßnahmen zur Popularisierung des Deutschen erfasst, u.a. die Tätigkeit der weltweit vertretenen Goethe-Institute und anderer Stiftungen, deren Zweck vor allem oder neben anderen Zielen die Verbreitung der deutschen Sprache und ihres Ansehens in der Welt ist. Dazu gehört auch in einem sehr großen Maße die vielfältige Tätigkeit des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, deren langjähriger Direktor der in dem vorliegenden Band geehrte Prof. Dr. Gerhard Stickel gewesen ist. Trotz dieser und anderer Bemühungen geht die Zahl der Deutschlernenden und -studierenden in den meisten Ländern der Welt zurück. Dies ist leider eine allgemeine und schwer aufhaltsame Tendenz geworden. Der wichtigste Grund dafür ist ohne Zweifel die Expansion des Englischen, das mittlerweile in der Mehrheit der öffentlichen Kommunikationsbereiche eine lingua franca geworden ist. Außerdem macht sich auch in Deutschland die Tendenz bemerkbar, gerade im Bildungswesen, wo Deutsch wegen einer sehr großen Anziehungskraft deutscher Universitäten theoretisch stark popularisiert werden könnte, stattdessen immer mehr Kurse und Seminare in englischer Sprache anzubieten. Die Autoren dieser Konzeption gehen davon aus, dass sie dadurch zur Erhöhung der Attraktivität der deutschen Bildungsinstitute für ausländische Studierende und Hochschullehrer bzw. Wissenschaftler beitragen. Dass dies auf Kosten der immer schrumpfenden Kommunikation in der deutschen Sprache selbst innerhalb deutschsprachiger Länder erreicht wird, wird dabei als sekundär angesehen. Diese Schwerpunktverschiebung wirkt sich automatisch auf die Michail L. Kotin 152 Popularität des Deutschen im Schul- und Hochschulwesen verschiedener Länder negativ aus. Kaum noch in einem Land Europas, geschweige denn nichteuropäischer Länder wird Deutsch als erste Fremdsprache gelehrt. Dabei war dies noch vor einem Jahrzehnt durchaus üblich. Die Werbeparole für Deutsch als Fremdsprache klingt heute daher deutlich defensiv: „Englisch ist ein Muss - Deutsch ein Plus.“ In einer Zeit, wo statt Wissen Information als Primärquelle „individueller Gesamtkompetenz“ gilt, ist es dabei manchmal nicht leicht, einen Informationskonsumenten selbst vom Muss, eine Sprache zu erlernen, zu überzeugen, geschweige denn vom Plus, eine weitere Sprache zu beherrschen. Wenn nun die Wahl der Fremdsprache davon beeinflusst wird, dass selbst im Land, wo man in der Zukunft studieren oder arbeiten will, die englische Sprache völlig ausreicht, ist die Entscheidung für das Englische als erste und zugleich letzte Fremdsprache so gut wie vorprogrammiert. 3.3 Deutsch als Kontaktsprache Der hier verwendete Begriff Kontaktsprache erfasst sowohl den Einfluss des Deutschen auf andere Sprachen als auch den Einfluss anderer Sprachen auf das Deutsche. Unter Sprachkontakten werden ferner sämtliche Kontaktphänomene verstanden, denen die deutsche Sprache im Laufe ihrer Geschichte ausgesetzt wurde, und zwar wiederum sowohl aktiv als auch passiv. Die älteste deutsche Sprachgeschichte ist von zwei unterschiedlichen Typen des Sprachkontakts gekennzeichnet. Zum einen handelt es sich um spontan entstehende Wechselbeziehungen in den Regionen eines unmittelbaren Kontakts der Sprachträger, die im Zuge der Großen Völkerwanderung westgermanischer Kontinentalstämme mehrfach gewachsen sind. Die wichtigsten davon waren (hoch)deutsch-romanische (vgl. Frings 1966) sowie in einem nicht so starken Maße deutsch-slawische Kontakte - im letzteren Fall waren gerade niederdeutsch-slawische Kontakte in der ältesten Phase der Geschichte deutscher Dialekte intensiver als hochdeutsch-slawische. Zum anderen waren die Kontakte mittelbar, also gemeinhin kulturell bedingt: Sie ergaben sich aus der Rezeption des lateinischen und in einem viel bescheideneren Ausmaß des griechischen Schrifttums im Zuge der Christianisierung germanischer Stämme. Der erste Kontakttyp brachte sowohl Entlehnungen verschiedener Art in das Deutsche mit sich als auch den Einfluss des Deutschen auf die jeweiligen Kontaktsprachen. In den unmittelbaren Kontaktgebieten entstanden dabei zeitweilig sogar Diglossie bzw. Bilingualismus. In der weiteren Geschichte der deutschen Sprache gab bzw. gibt es Perioden, in denen der Einfluss fremder Sprachen in engeren Kommunikationsbereichen (wie z.B. der Einfluss des Französischen auf die Sprache des deutschen Rittertums im Hohen Mittelalter oder in der Dichtung des 17.-18. Jahrhunderts, der Einfluss des Lateins im universitären Bereich in frühneuhochdeutscher Zeit, der Einfluss des Eng- Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 153 lischen in der politischen und wirtschaftlichen Kommunikation im 19. Jahrhundert etc.) oder auch im kommunikativen Gesamtdiskurs (wie z.B. der heutige Einfluss des Englischen) äußerst stark war bzw. ist. Nichtsdestotrotz bleibt Deutsch im seinem - lexikalischen wie grammatischen - Kern sehr stabil und ist auch in keiner der Perioden seiner Entwicklung von umfassenden oder gar essenziellen Erosionen durch Überfremdung bedroht gewesen. Die Ausstrahlung der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur weit über die Grenzen deutschsprachiger Gebiete hinaus führte zur Beeinflussung vieler Kommunikationsbereiche anderer Länder durch das Deutsche, welche durch deutsche Einwanderung u.a. nach Russland seit dem 17. Jahrhundert oder in die USA seit dem 19.-20. Jahrhundert deutlich verstärkt wurde. In den gebildeten Kreisen der russischen Gesellschaft spielte die deutsche Sprache insbesondere zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert neben Französisch die führende Rolle. Die west- und ostslawischen Sprachen enthalten in ihrem Wortschatz eine relativ hohe Anzahl deutscher Entlehnungen, sowohl Fremdals auch Lehnwörter aus verschiedenen Bereichen: Alltagssprache, Wissenschaftssprache, Wirtschaft, Technik, Finanzwesen, Politik, Küche etc. 4. Die wechselwirkung sprachinterner und sprachexterner faktoren bei der zuordnung des Deutschen als weltsprache Nach dem sehr knappen Umriss essenzieller sprachinterner und sprachexterner Merkmale, die für die Entwicklung der deutschen Sprache und ihren Status in der heutigen Welt relevant sind, sollen nun die Wechselwirkung dieser Faktoren sowie ihre jeweilige Gewichtung aus der Perspektive der Problematik der Stellung des Deutschen in der Welt erörtert werden. Die erste Frage, die hierbei entsteht, ist nun sprachstruktureller Natur. Ist die deutsche Sprache tatsächlich dermaßen kompliziert und komplex aufgebaut, dass sie für das Erlernen größere Schwierigkeiten bereitet als andere Fremdsprachen, die potenziell statt des Deutschen die Rolle einer „ersten“ oder zumindest „zweiten“ Fremdsprache übernehmen könnten? Freilich handelt es sich dabei nicht um intuitive und unwissenschaftliche Vorstellungen und Stereotype, die diesbezüglich existieren, auch wenn diese auch nicht völlig grundlos sind. Aus der genealogischen Sicht ist Deutsch jedenfalls in einer relativ guten Position, da ihre „Nachbarsprachen“ vorwiegend zu derselben Sprachfamilie oder sogar zu derselben Sprachgruppe gehören. Der Grad an Verwandtschaft des Deutschen mit diesen Sprachen ist entweder hoch oder sehr hoch, was die Aneignung des Deutschen für ihre Träger vereinfacht. Zugleich ist aber Englisch ebenfalls eine germanische Sprache, die im Gegensatz zum Deutschen eine - zumindest für den Anfänger - einfachere Grammatik hat. Diese internen Parameter interagieren auf eine nicht immer durchsichtige, dabei aber relevante Art und Weise mit externen Faktoren. Die höchste Motivation für Michail L. Kotin 154 das Erlernen des Deutschen haben - vor allem aus wirtschaftlichen Gründen - die Einwohner der östlich von Deutschland gelegenen Länder Mitteleuropas. Die meisten von ihnen sprechen westslawische Sprachen, die einen schwächeren Verwandtschaftsgrad mit dem Deutschen haben als Niederländisch und die skandinavischen Sprachen, die westlich und nördlich von Deutschland liegen. Frankreich oder Italien, deren Einwohner romanische Sprachen sprechen, welche sich genealogisch gegenüber dem Deutschen in etwa wie die Slavia verhalten, haben aus historischen Gründen, aber auch angesichts der aktuellen wirtschaftlichen und kulturellen Situation kein allzu großes Interesse am „massenhaften Deutschlernen“ ihrer Bürger. Selbst in Ungarn, wo eine Sprache gesprochen wird, die mit dem Deutschen gar nicht verwandt ist, wird Deutsch äußerst gern gelernt und studiert. In beiden anderen zu Deutschland nahe liegenden „ugrofinnischen“ Sprachgemeinschaften, also in Estland und Finnland, wird dagegen deutlich Englisch bevorzugt. Die Träger der baltischen Sprachen, also Lettisch und Litauisch, sind aus historisch bedingten Gründen mit Deutschland eng verbunden und viele ihre Bürger arbeiten heute in Deutschland. Dies betrifft auch russischsprachige Einwohner der Baltischen Republiken (darunter Estlands). Daher ist Deutsch auch unter ihnen sehr populär. Die genealogische Verwandtschaft der baltischen Sprachen mit dem Deutschen ist ungefähr ebenso hoch wie die zwischen Deutsch und der Slavia, aber durch längere Kontakte mit der deutschen Sprache gibt es in Lettisch und Litauisch generell mehr Wortgut deutscher Herkunft. Die typologische Stellung des Deutschen ist für das Deutschlernen etwas weniger günstig als seine genealogische Verwandtschaft mit den Nachbarsprachen. Laut dem in der modernen Sprachtypologie verwendeten Typikalitätsindex, welcher auf Grund der Anzahl der typischen Merkmale errechnet wird, ist Deutsch eine der „untypischsten“ Sprachen der Welt (vgl. Comrie 2011, S. 22f.). Freilich ist auch das Englische zwar nicht so „untypisch“ wie das Deutsche, aber ebenfalls keine „typologisch einwandfreie“ Sprache, doch ist sein Typikalitätsindex wesentlich höher als der des Deutschen. Hier können natürlich wohl kaum alle essenziellen Faktoren aufgezählt und erörtert werden, welche für die „Untypikalität“ der deutschen Sprache sorgen, aber einige seien hier kurz erwähnt. Das Deutsche hat, wie oben bereits erwähnt wurde, eine äußerst untypische und eigenartige Satztopologie. Die Koexistenz des ausgeprägten Verbletzt-Typs mit der Kernstellung (V2) der finiten Verbform im Deklarativsatz und die daraus resultierende Satzklammer sind unbestritten primäre syntaktische Merkmale, die das Deutsche als eine äußerst spezifische Sprache erscheinen lässt. Da nun gerade die Satztopologie in der modernen Typologie als das wichtigste Kriterium angesehen wird, von dem eine ganze Reihe essenzieller Eigenschaften einer gegebenen Sprache ab- Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 155 hängen (vgl. Greenberg 1966; Lehmann 1978), verhält sich das Deutsche auch hinsichtlich vieler anderer Merkmale „untypisch“. Am meisten fällt hier die Komposition in der nominalen Wortbildung auf, die eine Kettenbildung von Strukturen ermöglicht, welche in der Mehrheit anderer Sprachen als syntaktische Verbindungen fungieren. Ein weiteres typologisch eigenständiges Merkmal des Deutschen ist das Vorhandensein starker und schwacher Deklination der Adjektive, welche noch dadurch erschwert ist, dass einige Deklinationsmuster Merkmale starker und schwacher Deklination (etwa ein herrlicher Sommer vs. einem herrlichen Sommer) aufweisen. Insgesamt kann somit festgestellt werden, dass das Deutschlernen selbst bei hoher Motivation auf Grund einiger Besonderheiten im Kernbereich der Grammatik und Wortbildung relativ hohe Anstrengungen des Lernenden erfordert. Die Verbreitung der deutschen Sprache in der Welt und ihre Rolle im internationalen Diskurs als Bildungssprache sowie das Vorhandensein eines riesigen Korpus historischer, literarischer und wissenschaftlicher Texte in der deutschen Sprache, verbunden mit der aktuellen deutschsprachigen Kommunikation, bestimmt den unumstrittenen Status des Deutschen als einer der führenden Weltsprachen. Diese Rolle bleibt seit Jahrhunderten mutatis mutandis relativ stabil. Potenziell hat das zu bedeuten, dass Deutsch sowohl sehr stark interne Positionen im deutschsprachigen Gesamtraum hat als auch eine sehr starke Ausstrahlung nach außen aufweist. In der Europäischen Union ist Deutsch eine Sprache, die von der zahlenmäßig stärksten EU-Bevölkerungsgruppe muttersprachlich gesprochen wird. Trotzdem ist Deutsch, gemessen an seinem realen Status in Europa und auch in der Welt, in internationalen Gremien und sonstigen Institutionen, dabei in bestimmten Bereichen (z.B. in der Bildung) sogar in deutschsprachigem Raum, als Amtsbzw. Arbeitssprache deutlich untervertreten. Dies senkt logischerweise die Attraktivität des Deutschlernens als Fremdsprache in den Nachbarländern und generell europa- und weltweit. Es handelt sich dabei nicht nur um die Verdrängung des Deutschen durch das expandierende Englisch - eine Tendenz, die heute unaufhaltsam ist und bei weitem nicht nur das Deutsche betrifft. Daneben wirken auch andere globale Faktoren, welche wiederum neben Deutsch so gut wie alle Bildungssprachen betreffen. In der modernen globalisierten Informationsgesellschaft mit absolutem Übergewicht an digital gespeicherten Informationsquellen nehmen solche Motive für Fremdsprachenerwerb wie das Streben nach dem Lesen von Texten im Original, der Wunsch nach Verständigung mit den Nachbarn in ihrer Muttersprache und generell die Erweiterung des Gesichtskreises kontinuierlich ab. Stattdessen werden solche Motive favorisiert wie die Fähigkeit eines schnellen Zugangs zur Information und ihrer Nutzung für das eng umrissene Ziel oder die Möglichkeit, eigene Informationen schnell und effizient unter anderen Teilnehmern der globalen Kommuni- Michail L. Kotin 156 kation zu verbreiten. Die Suche nach optimalen Realisierungsformen dieser Wünsche schließt notgedrungen eine Suche nach unifizierten Kodierungsformen dieser Informationen ein, wodurch logischerweise die Rolle von universellen Kommunikationsmitteln steigt, zu denen das Englische als eine sichere und bewährte lingua franca in den meisten Kommunikationsgebieten zählt. Zugleich gibt es andere Kommunikationsbereiche, die von den Einflüssen fremder Sprachen relativ unabhängig sind. Hierzu gehört vor allem die weit verstandene Alltagskommunikation - von der Kommunikation im Familien- und Freundeskreis bis hin zu Einkäufen, Arztbesuch, Finanzberatung, Reisen, Sport und Freizeit etc. Auch wenn selbst in einigen dieser Bereiche Englisch zunehmend akzeptiert und verwendet wird, wäre es eine Illusion, sogar langfristig mit einem Umsteigen auf Englisch in diesen Bereichen zu rechnen. Daher wird der jeweils länderbezogene Fremdsprachenerwerb auch in der Zukunft ohne Zweifel aktuell und erforderlich bleiben. Dies betrifft nun ganz besonders solche Weltsprachen wie Deutsch, da die Anzahl der Menschen, die die deutschsprachigen Länder auch in der Zukunft zu ihrem zeitweiligen oder dauerhaften Lebensmittelpunkt wählen oder aber berufliche und sonstige Kontakte mit deutschen Muttersprachlern dauerhaft pflegen werden, allen Aussichten nach wachsen soll. Ein deutliches Beispiel für die Ausweitung des Einflusses der deutschen Sprache und das Wachstum ihrer Rolle in den heutigen Tagen ist u.a. die Aneignung der deutschen Sprache durch Flüchtlinge und andere Immigranten in deutschsprachigen Ländern. Allerdings ist das Problem einer optimalen Vermittlung der deutschen Sprache für verschiedene Zielgruppen der Sprachlernenden und -studierenden heutzutage akut wie nie zuvor. Es ist ein Imperativ, neue, moderne, sprachwissenschaftlich fundierte Instrumente der Vermittlung der deutschen Sprache zu schaffen, welche u.a. historische, typologische, areallinguistische, normbezogene und sonstige Faktoren berücksichtigen müssen, um das Deutsche optimal und effizient zu lehren. Lehre ohne Berücksichtigung der aktuellen Forschungsergebnisse zur Synchronie und Diachronie des Deutschen wird unumgänglich zu Verlusten bei der Sprachvermittlung führen. Gleichzeitig sollen aber auch sprachpolitische Maßnahmen ergriffen werden, deren Zweck in der Erhöhung der Motiviertheit für das Deutschlernen sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in anderen Ländern besteht. Dabei sollen die Prioritäten dermaßen gesetzt werden, dass die konkreten Maßnahmen dem wirklichen Status des Deutschen nicht wider-, sondern entsprechen. Es handelt sich konkret um eine Politik zur Erhöhung des Status der deutschen Sprache innerhalb deutschsprachiger Länder und international durch ihre Verwendung in der Bildung und in nationalen und internationalen Gremien und Institutionen sowie in allen sonstigen Kommunikationsbereichen. Dagegen führen Diskussionen über die vermeintliche Existenzbedrohung des Deutschen durch Überfremdung wohl kaum zu positiven Ergebnissen bei der Deutsch in der Welt: Versuch einer historisch basierten Zuordnung 157 Erreichung des gesetzten Ziels, da sie nolens volens die deutsche Sprache marginalisieren und außerdem von falschen Prämissen über den Grad und Charakter der - zu Unrecht - postulierten „Erosion“ des Deutschen ausgehen. 5. fazit Das jahrelang von Prof. Gerhard Stickel geleitete Institut für Deutsche Sprache hatte seit seiner Gründung zwei miteinander eng verzahnte Ziele. Zum ersten ging es um ein möglichst lückenloses Dokumentieren des Deutschen als einer der umfangreichsten Korpussprachen der Welt und seine detaillierte Erforschung und Deskription. Zum zweiten musste das Deutsche im In- und Ausland popularisiert und verbreitet werden, wobei sich die IDS-Mitarbeiter ganz besonders um die richtig verstandene Sprachpflege kümmerten, die u.a. Variation und Formenvielfalt im System und in der Norm des Deutschen mit einschließt. Durch diese Tätigkeit, in der Forschung, Lehre und Sprachpflege stets als untrennbare Einheit gesehen wurden, ist es möglich geworden, unter den heutigen Bedingungen der Dominanz des Englischen als lingua franca in vielen Kommunikationsbereichen die Positionen des Deutschen als Weltsprache zu erhalten und in gewissem Sinn auch zu stärken. Die neuen Herausforderungen machen das weitere Meistern dieser Aufgaben unter besonderer Berücksichtigung der Wechselwirkungen sprachinterner und sprachexterner Faktoren bei der Bestimmung, aber auch in erster Linie bei der Aufrechterhaltung des Deutschen als Weltsprache unumgänglich. 6. literatur Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin. Comrie, Bernard (2011): Linguistics and typology from the vantage point of different languages. In: Kotin, Michail L./ Kotorova, Elizaveta G. (Hg.): Geschichte und Typologie der Sprachsysteme/ History and typology of language systems. Heidelberg, S. 17-27. Eggers, Hans (1963-1977): Deutsche Sprachgeschichte. Bde. 1-3. Reinbek bei Hamburg. Dixon, Robert M.W. (1994): Ergativity. Cambridge. Greenberg, Joseph H. (1966): Some universals of grammar with particular reference to the order of meaningful elements. In: Greenberg, Joseph H. (Hg.): Universals of language. 2. Aufl. Cambridge, MA/ London, S. 73-113. Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 233, S. 4-13. Frings, Theodor (1936): Die Grundlagen des Meißnischen Deutsch: ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der deutschen Hochsprache. Halle a.d.S. Frings, Theodor (1966): Germania Romana I. Halle a.d.S. Michail L. Kotin 158 Habermas, Jürgen (1977): Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache. In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Göttingen, S. 36-51. Lehmann, Winfred P. (1966): The grouping of the Germanic languages. In: Birnbaum, Henrik/ Puhvel, Jaan (Hg.): Ancient Indo-European dialects. Berkeley, S. 13-27. Lehmann, Winfred P. (1978): Syntactic typology: studies in the phenomenology of language. Austin. Leiss, Elisabeth (1992): Die Verbalkategorien des Deutschen. Berlin/ New York. Leiss, Elisabeth (2000): Artikel und Aspekt. Die grammatischen Muster von Definitheit. Berlin/ New York. Schmidt, Wilhelm (1994): Geschichte der deutschen Sprache. 6. Aufl. Stuttgart. Sonderegger, Stefan (1979): Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Bd. 1. Einführung - Diachronie - Konstanten. Berlin. Tschirch, Fritz (1989): Geschichte der deutschen Sprache. 3., erg. u. überarb. Aufl. Berlin. Pirkko nuoLiJärVi Deutsch In fInnlanD 1. einführung Die deutsche Sprache, frühere germanische Sprachformen, die deutsche Kultur und deutsche Wirtschaftsformen haben lange Zeiten die finnische Sprache und Kultur beeinflusst. Außerdem haben intensive Sprachkontakte zwischen indoeuropäischen und uralischen Völkern Einfluss auf die Entwicklung der dem Finnischen vorausgegangenen Sprachformen ausgeübt. Der Beginn der germanischen Kontakte dürfte spätestens in die Bronzezeit (2300-1700 v.u.Z.) zu datieren sein. Diese Kontakte mit germanischen Sprachen haben das Konsonantensystem des Urfinnischen gründlich verändert (Lehtinen 2007, S. 108-109) und für eine große Zahl von Lehnwörtern im Finnischen gesorgt, die im Laufe der Jahrhunderte an das finnische Laut-, Form- und Flexionssystem angepasst worden sind. Heute noch gebräuchliche alte germanische Lehnwörter, die in der Bronze- und Eisenzeit Eingang ins Urfinnische fanden, sind zum Beispiel: kallio ‘Felsen’, kauppa ‘Handel, Geschäft’, kulta ‘Gold’, kuningas ‘König’, nahka ‘Leder’, pyhä ‘heilig; Sonntag’, pyyhkiä ‘wischen’, rauta ‘Eisen’, ruis ‘Roggen’, tina ‘Zinn’, tuomita ‘urteilen’, väsyä ‘müde werden’, äiti ‘Mutter’ usw. (Lehtinen 2007, S. 226, 233; Häkkinen 1990, S. 250-253 sowie die dort erwähnte Literatur). Diese Wörter entstammen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen, die damals wichtig waren, was zeigt, dass die Kontakte mit germanischen Völkern intensiv waren und lang angedauert haben. Die deutsche Sprache war später über mehrere Jahrhunderte konkreter Bestandteil der finnischen Sprachlandschaft. Deutsch war Umgangssprache in etlichen Familien, Deutsch wurde in der Schule gelernt und an Universitäten studiert. Auch auf Internationalität zielende Aufbaustudien und das wissenschaftliche Leben orientierten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts namentlich nach Deutschland. Deutschsprachige Belletristik und Sachliteratur wird seit dem 19. Jahrhundert ins Finnische übersetzt, finnische Literatur wird in wachsendem Umfang ins Deutsche übertragen. Die sprachlichen Verhältnisse in Europa haben sich allerdings geändert und damit auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen und Sprachgebieten. Einfluss und Verwendungsbereich des Deutschen sind in Finnland in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen, obwohl Deutschland nach wie vor ein wichtiger Partner für Finnland ist, und zwar kulturell, politisch und wirtschaftlich. In meinem Artikel behandele ich den Umfang des Deutsch- Pirkko Nuolijärvi 160 unterrichtes an Schulen und Universitäten sowie die Verwendung des Deutschen in Wissenschaft und Wirtschaft in Finnland, vor allem im 20. und 21. Jahrhundert. Zunächst aber will ich die Geschichte der deutschen Kontakte und die Rolle der deutschen Sprache in bestimmten finnischen Städten sowie den Anteil Deutschsprachiger in der modernen finnischen Gesellschaft beleuchten. Nicht behandelt werden kann in diesem Zusammenhang die Lektüre und Übersetzung deutscher Belletristik, obwohl beide bedeutenden Einfluss auf die finnische Gedankenwelt und die literarische Bildung gehabt haben. 2. Deutsch in der Vergangenheit und der anteil Deutschsprachiger im finnland des 21. Jahrhunderts Die Präsenz der deutschen Sprache im mittelalterlichen Finnland war stark, ebenso der Einfluss der deutschen Kultur in den Hansestädten an der Ostsee und in den Städten in ihren Einflussbereichen. In Finnland gab es zwar keine Hansestädte, aber Tallinn und die anderen baltischen Städte übten besonders auf das am Finnischen Meerbusen gelegene Wiborg starken Einfluss aus. Nach Matti Klinge (1994, S. 36) waren verwandtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen im 14. und 15. Jahrhundert von großer Bedeutung. Dies setzte sich bis ins 18. und 19. Jahrhundert fort, als die bekannten Unternehmen Hackman, Stockmann und Paulig gegründet wurden. Das 16. Jahrhundert war für die Schriftkultur in vielen Ländern Europas ein Wendepunkt. Die Übersetzung religiöser Literatur in die Sprache des Volkes im Zuge der lutherischen Reformation Luthers bedeutete den Durchbruch der Volkssprache. Die Quellen der ältesten finnischen Literatur, zum Beispiel des von Mikael Agricola ins Finnische übersetzten Neuen Testamentes (1546), waren in griechischer, lateinischer, deutscher und schwedischer Sprache abgefasst (Häkkinen 1994, S. 83). Mikael Agricola und viele seiner Zeitgenossen studierten in Wittenberg und lebten somit inmitten der deutschen Kultur, obgleich damals an der Universität auf Lateinisch gelehrt und geforscht wurde. Auch unter anderem Rostock, Jena, Frankfurt an der Oder, Königsberg, Leipzig, Tübingen und Greifswald waren seit dem Ausgang des Mittelalters Städte, in denen Finnen studierten (Heininen 1981). Allerdings muss betont werden, dass höhere Bildung zu der Zeit in Finnland äußerst selten war und sich daher nur sehr wenige Studenten zum Studium ins Ausland begaben. Deutschland war näher als Paris, wo die Finnen vorher ihr Studium absolviert hatten. Die deutsche Sprache war die oder eine der Umgangssprachen in den Familien, die im Laufe vieler Jahrhunderte nach Finnland kamen, sowie eine wichtige Sprache im Wirtschaftsleben. Wiborg, das Finnland nach dem 2. Weltkrieg an die damalige Sowjetunion abtreten musste, war jahrhundertelang Deutsch in Finnland 161 eine vielsprachige Stadt. Finnisch, Schwedisch, Deutsch und Russisch waren auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Umfang Geschäftssprachen in Wiborg, sie waren aber auch Muttersprache oder Bestandteil des Sprachrepertoires vieler zu Hause oder im Arbeitsleben. Nach Marika Tandefelt (2001, S. 27-30) lebten im 16. Jahrhundert in Wiborg etwa zwölf deutsche Familien, Anfang des 17. Jahrhunderts kamen neun Familien hinzu und in den 1640er Jahren kam es geradezu zu einen Strom Deutschsprachiger in die kleine Stadt. Die meisten Zugezogenen waren junge Männer ohne Familie, die dann mit einer deutsch- oder schwedischsprachigen Frau eine Familie gründeten. So entstanden auch mehrsprachige Haushalte. Viele Wiborger Geschäftsleute hatten enge Verbindungen nach Deutschland, viele von ihnen hatten Deutsch in Deutschland gelernt. Im Arbeitsleben hatten aber auch Finnisch und Russisch ihren Platz. Engman (2009, S. 243-245) zufolge erklärt sich die große Zahl Deutschsprachiger in Wiborg mit ihren intensiven Verbindungen ins Baltikum, wo die deutsche Sprache eine bedeutende Rolle spielte. Gemessen an den Verhältnissen im Finnland des 18. und 19. Jahrhunderts wurde Deutsch in Wiborg außerordentlich viel verwendet. In den 1720er Jahren ging der Magistrat der Stadt Wiborg zum Gebrauch des Deutschen über, wobei das Kammerkollegium und viele Schulen damals bereits deutschsprachig waren. Im 18. Jahrhundert rechnete man sogar damit, dass das Schwedische aufgrund der Expansion des Deutschen ganz verschwinden würde. Erst als Finnland 1809 unter russische Verwaltung kam, begann sich die Stellung des Schwedischen und Finnischen zu erholen. 1812 waren unter den Einwohnern Wiborgs 44% finnischsprachig, 30% russischsprachig, 14% schwedischsprachig und 12% deutschsprachig. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die verschiedenen sozialen Gruppen getrennt voneinander: Die Stadtelite sprach Schwedisch, mitunter Französisch, die Geschäftsleute machten vom Deutschen und schlechtem Schwedisch Gebrauch, an den Schulen wurde mal Schwedisch, mal Finnisch gesprochen. Die russische Sprache spielte Engman und seinen Quellen nach die geringste Rolle. Das 1812 zur Hauptstadt des Finnischen Großfürstentums erhobene Helsinki war die andere vielsprachige Stadt im 19. Jahrhundert. Ursprünglich war Helsinki eine kleine schwedischsprachige Stadt, die ab 1870 stark zu wachsen begann: die Stadt hatte 1870 insgesamt 32.113 Einwohner und bis 1910 hatte sich die Einwohnerzahl mehr als vervierfacht, es lebten dort jetzt 140.000 Menschen. Deutschsprachig waren 1870 1,8% der Einwohner, 1910 0,7% (Paunonen 2006, S. 24). Die deutsche Bevölkerung gehörte im 19. Jahrhundert zum Helsinkier Adel und Bürgertum, ihr Einfluss auf das wirtschafliche Leben der Stadt war somit sehr wichtig. 1 1 Näheres zur deutschsprachigen Bevölkerung in Helsinki siehe Das deutschsprachige Helsinki (www.ssyl.fi/ de/ ajankohtaista/ saksalaiset-ja-helsingin-kehitys). Pirkko Nuolijärvi 162 Im Jahre 1858 wurde in Helsinki eine deutschsprachige lutherische Gemeinde ins Leben gerufen, an die dann später die deutsche Gemeinde in Turku angeschlossen wurde 2 (Paunonen 2006, S. 25). Die Gemeinde besteht bis heute. Im Kreis der Gemeinde wurde 1881 die Deutsche Bibliothek Helsinki gegründet, die ebenfalls weiterhin Bestand hat und für Interessierte, Studenten und Wissenschaftler ein zentraler Anlaufpunkt in Sachen deutsche Sprache ist. 3 Eine wichtige Institution für die Pflege der deutschen Sprache und für die Vermittlung deutscher Kultur ist auch das in Helsinki ansässige Goethe-Institut Finnland, das mit dem 1998 in Tampere gegründeten Deutschen Kulturzentrum kooperiert. In Helsinki wurde 1881, auch mit Hilfe privater Finanzierung, die Deutsche Schule Helsinki gegründet. Sie hat heute in den Klassen 1-9 zwei Züge, einen deutschen und einen deutsch-finnischen. In der Oberstufe wird nahezu nur auf Deutsch unterrichtet. 4 Die Deutsche Schule steht allen Schülern offen, denn die Einschulung setzt keine Deutschkenntnisse voraus. Über Jahrhunderte gab es in Finnland eine deutschsprachige Bevölkerung. Wie sieht es aber heute mit der Zahl der Deutschsprachigen im vielsprachigen Finnland aus? Mit dem Anstieg der Einwohnerzahl Finnlands hat sich der prozentuale Anteil der Deutschsprachigen verringert. 1990 stand Deutsch unter den gebräuchlichsten Muttersprachen in Finnland nach Finnisch, Schwedisch, Russisch und Englisch an fünfter Stelle. Es lebten damals 2.427 Personen mit deutscher Muttersprache im Land, wobei die Gesamteinwohnerzahl knapp unter 5 Millionen (4.998.478 Personen) lag. 25 Jahre später, 2014, hatte Finnland 5.471.753 Einwohner, 6.059 von ihnen waren deutschsprachig. Damit stand Deutsch an 16. Stelle der gebräuchlichsten Muttersprachen in Finnland. Größere Sprecherzahlen haben in absteigender Folge die Minoritätsprachen Russisch, Estnisch, Englisch, Somali, Arabisch, kurdische Sprachen, Chinesisch, Albanisch, Persisch bzw. Farsi, Thai, Vietnamesisch, Türkisch und Spanisch (Suomen tilastollinen vuosikirja 2015). Der größte Teil der deutschen Muttersprachler wohnt in Städten, in erster Linie im Großraum Helsinki und in Universitätsstädten anderswo in Finnland. 3. Der Deutschunterricht in finnischen schulen Deutsch ist seit dem 19. Jahrhundert Unterrichtsfach an finnischen Schulen. Nach Statistiken über die Anteile der Fachgruppen an den Gymnasien wurde zum Beispiel 1883 in den Realgymnasien 16-17 Wochstunden Deutsch unterrichtet (Piri 2001, S. 104). In den 1940er Jahren wurde gemäß den Vorschriften 2 Siehe Deutsche Gemeinde (www.ssyl.fi/ wp-content/ uploads/ 2012/ 10/ kirkko_netti.jpg). 3 Siehe Deutsche Bibliothek (www.ssyl.fi/ wp-content/ uploads/ 2012/ 10/ kirjasto_netti.jpg). 4 Siehe Deutsche Schule Helsinki (www.dsh.fi/ de/ schulinfos/ dsh-info). Deutsch in Finnland 163 der Schulbehörde in allen Schulen von der ersten Klasse an die jeweils andere einheimische Sprache, d.h. also Finnisch oder Schwedisch unterrichtet. Erste eigentliche Fremdsprache war in Knaben- und Koedukationsgymnasien Englisch, Deutsch oder Russisch, in Mädchengymnasien Englisch oder Deutsch sowie in klassischen Gymnasien Latein. Zweite Fremdsprache war Englisch, Latein, Deutsch oder Russisch, mitunter Französisch (ebd., S. 113). In den 1960er Jahren wurde es möglich, Englisch bereits in der ersten Klasse zu wählen. 1962 lernten 56,9% der Schüler Englisch als erste Fremdsprache, Deutschunterricht hatten 42,6% der Schüler (ebd., S. 113f.). Es muss allerdings angemerkt werden, dass jeweils nur ein Teil eines Jahrgangs das Gymnasium besuchte. Erst in den 1960er Jahren, kurz bevor die Gesamtschule für alle Schüler eingeführt wurde, war es möglich, auch in der Volksschule Unterricht in der anderen einheimischen Sprache und Fremdsprachenunterricht anzubieten. Die Gesamtschule wurde allmählich Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts eingeführt. In der Gesamtschule war der Unterricht in zwei Sprachen Pflicht, wobei eine Sprache davon Schwedisch (für finnischsprachige Schüler) oder Finnisch (für schwedischsprachige Schüler) war. Die Gemeinden konnten dabei selbst entscheiden, ob zuerst mit Schwedisch bzw. Finnisch begonnen wurde oder mit Englisch. Diese Entscheidung hatte weit reichende Folgen; der Anteil anderer Sprachen in der Gesamtschule sank dramatisch. So hatten zum Beispiel im Herbst 1974 ganze 0,4% der Gesamtschüler Deutschunterricht (Piri 2001, S. 116f.). Während ihres Bestehens hat die finnische Gesamtschule den Status der englischen Sprache gestärkt und gleichzeitig alle anderen Sprachen marginalisiert. Nach Angaben der Statistikzentrale (Suomen virallinen tilasto SVT 2015) war Englisch im Herbstschulhalbjahr 2015 die meist unterrichtete Fremdsprache in den Gesamtschulklassen 1-6. Von den Schülern der Klassen 1-6 hatten 66%, also 359.461 Schüler, Englisch als obligatorische oder wahlweise Fremdsprache. Unterricht in anderen Fremdsprachen hatten 5% der Schüler oder noch weniger. Deutschunterricht hatten 13.431 Schüler, d.h. 3,7%. So gut wie alle 174.724 Schüler der Klassen 7-9 hatten Unterricht in sowohl Englisch als auch Schwedisch oder Finnisch, und zwar als eigene Muttersprache, als obligatorische, als freiwillige oder als wahlweise Fremdsprache. Deutschunterricht hatten 17.830 Schüler, also 10,2%, in erster Linie als freiwillige oder als wahlweise Fremdsprache. Deutsch wird zwar, abgesehen von Englisch, mehr als andere Sprachen gelernt, aber der Unterricht beginnt sehr spät. Den Statistiken der Statistikzentrale zufolge (Suomen virallinen tilasto SVT 2015) hatten fast alle Abiturienten des Frühjahrs 2015 (insgesamt 29.252 Schüler) in der Oberstufe Englisch- und Schwedisch- oder Finnischunterricht ge- Pirkko Nuolijärvi 164 habt. Deutschunterricht hatten 20% der Abiturienten, Spanischunterricht etwa 18%, Französischunterricht 14% und Russischunterricht 10% gehabt. Der Anteil anderer Sprachen betrug unter 3%. Die Abiturienten hatten Englisch, Schwedisch und Finnisch in erster Linie als Pflichtfächer gehabt. Deutsch, Spanisch, Französisch, Russisch und andere Fremdsprachen waren in erster Linie wahlweise Fächer gewesen. Manche Schüler konnten sich zwar auch durch den relativ geringen Unterrichtsumfang in einer wahlweisen Fremdsprache eine gute Grundlage für Studium und Beruf verschaffen, aber es ist leider sehr beliebt geworden, in Sprachen wie Deutsch, Französisch und Russisch nur einige wenige Kurse, genug zum Händeschütteln, zu absolvieren (siehe Piri 2001, S. 280), wodurch man sich zwar sprachliches Elementarwissen aneignen kann, aber nicht einmal befriedigende Sprachkenntnisse erreicht. Nach Absolvierung der Oberstufe nehmen die Schüler an einer landesweiten Abiturprüfung teil. Die Prüfung besteht aus mindestens vier Fächern, von denen das Fach Muttersprache für alle obligatorisch ist. Die drei anderen obligatorischen Fächer können aus folgendem Kanon ausgewählt werden: die andere einheimische Sprache (Schwedisch, bzw. Finnisch), eine Fremdsprache, Mathematik, ein Realfach. Außerdem kann man für die Abiturprüfung noch ein oder mehrere freiwillige Fächer hinzu wählen. In Mathematik und den einheimischen Sprachen werden die Prüfungen in zwei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden veranstaltet, in den Fremdsprachen ist dies optional (Laki ylioppilastutkinnon järjestämisestä 672/ 2005, 2 §). 5 Praktisch werden jedes Frühjahr und jeden Herbst Prüfungen in zwei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden veranstaltet. Die Aufteilung in zwei verschiedene Schwierigkeitsgrade rührt daher, dass die Schüler in Finnland zwischen einem langen und einem kurzen Kurs wählen können. Der Prüfling kann dann auch in der Abiturprüfung den Schwierigkeitsgrad wählen. So ist es also möglich, nach einem langen Kurs nur die Prüfung für den kurzen Kurs zu wählen, die natürlich leichter ist und so zu einer besseren Note führen kann. Im Frühjahr 2016 absolvierten in Deutsch 380 Schüler die Prüfung des langen Kurses und 1.280 Schüler die des kurzen Kurses. Wie oben ausgeführt, ist die Zahl der Schüler, die freiwillig Deutschunterricht nehmen, bedeutend höher als die Zahl der Schüler, die an der Abiturprüfung teilnehmen und sie bestehen. 5 Im finnischen Abiturzeugnis werden folgende Noten und entsprechende Punkte erteilt: laudatur (L) 7, eximia cum laude approbatur (E) 6, magna cum laude approbatur (M) 5, cum laude approbatur (C) 4, lubenter approbatur (B) 3, approbatur (A) 2, improbatur (I) 0. Ausführliche Informationen über die finnische Abiturprüfung unter www.ylioppilastutkinto.fi/ fi/ deutsch. Deutsch in Finnland 165 4. lehre im fach Deutsch an den finnischen universitäten im Jahr 2015 Die finnische Universitätswelt macht seit Langem eine Umbruchsphase durch, in der Profilierung und Arbeitsteilung zentrale Prinzipien sind, deren Erfüllung der Staat von den Universitäten fordert. Dies bedeutet, dass unter anderem der Umfang des Lehrvolumens in den humanistischen Fächern überprüft wird, und in zahlreichen Papieren zur strukturellen Entwicklung finden sich Vorschläge zur Reduzierung der Lehre in Sprachfächern und zur Vermehrung der Zusammenarbeit zwischen den Universitäten. Da sich die Zahl derer, die ein Deutschstudium anstreben, verringert hat (vgl. oben die den Sprachunterricht an der Gesamtschule betreffenden Beschlüsse), ist die deutsche Sprache Gegenstand besonderer Überprüfung geworden. Nicht alle Sprachstudien haben das Magisterexamen zum Ziel, aber die Betrachtung des zu einem Sprachexamen führenden Studiums und der dieses Studium betreffenden Änderungsplanungen geben einen guten Einblick in die heutige Situation. 2015 wurde an acht finnischen Universitäten ein examenorientiertes Deutschstudium angeboten. Dabei weichen die Namen der Lehrfächer und die Inhalte leicht voneinander ab. An der Universität Helsinki wurden Germanische Philologie und das Lehrfach Deutsch Übersetzen, an der Universität Tampere das Programm Deutsche Sprache und Kultur sowie Deutsch Übersetzen, an der Universität Ost-Finnland Deutsche Sprache und Kultur sowie Deutsche Sprache und Deutsch Übersetzen, an der Universität Jyväskylä Deutsche Sprache und Kultur, an der Universität Oulu Germanische Philologie, an der Universität Vaasa und der schwedischsprachigen Åbo Akademi Deutsche Sprache und Literatur angeboten. Auf den ersten Blick scheint der Status der deutschen Sprache gut zu sein, doch problematisch ist, dass sich für diese Fächer nicht mehr so viele Studenten interessieren wie in früheren Jahrzehnten. Aktuell, im Herbst 2016 machen sich in mancher Hinsicht Veränderungen der Situation bemerkbar. An einigen Universitäten wird die Aufgabe des Faches Deutsch als Hauptfach erwogen, allerdings wurden noch keine Entscheidungen gefällt. Am weitesten sind die Universitäten Vaasa und Jyväskylä gegangen; sie haben im Oktober 2016 gemeinsam beschlossen, alle examenorientierte Lehre in sprachlichen Fächern ab 1. August 2017 nach Jyväskylä zu verlegen. Bei dieser Maßnahme werden keine sprachlichen Fächer liquidiert. Grund für die Verlegung ist die Vorantreibung der Arbeitsteilung und die Profilierung der jeweiligen Stärken der Universitäten, Vaasa konzentriert sich auf Wirtschaftswissenschaften, Verwaltungswissenschaften, Kommunikation und Technik, Jyväskylä auf angewandte Sprachwissenschaft. Pirkko Nuolijärvi 166 Was das Studium der deutschen Sprache und Kultur betrifft, erleben wir in Finnland eine verwirrende Phase. Auf der einen Seite sollen Gesamtschule und gymnasiale Oberstufe ihren Schülern eine möglichst breite Bildung und eine robuste Basis für das Berufsleben vermitteln, wie in Kapitel 6 beschrieben. Andererseits schwächen die Entscheidungen zur Begrenzung des Sprachunterrichtes, die in den Kommunen und an den Schulen getroffen werden, eben diese Bestrebungen. 5. wissenschaftliche Beziehungen zwischen finnland und Deutschland Die Akademie von Turku (die Vorgängerin der Universität Helsinki) hatte schon im 18. Jahrhundert sehr lebhafte Beziehungen nach Deutschland, und zwar besonders in den Naturwissenschaften, aber auch in den Humanwissenschaften. Besonders Göttingen war das Ziel finnischer Gelehrter; die Verbindungen mit den dortigen Wissenschaftlern waren für die damalige Zeit äußerst eng, in Göttingen besorgte man sich wissenschaftliche Literatur für die eigene Bibliothek. Aufgrund dieser Beziehungen wurden auch von Finnen verfasste Dissertationen und andere Forschungsarbeiten in Deutschland bekannt, entweder auf Latein oder auch ins Deutsche übersetzt (Kemiläinen 1991; Tarkiainen 1971). Das wissenschaftliche und kulturelle Leben in Finnland orientierte sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts stark am deutschsprachigen Raum. Nach dem Ersten Weltkrieg und den mit ihm einhergegangenen Verlusten orientierte sich die junge Republik gleich nach ihrer Entstehung in den 1920er Jahren nach Deutschland. Berlin stellte in den 1920er Jahren ein bedeutendes Zentrum des kulturellen Lebens dar, und auch auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten erholten sich die Verbindungen zu Deutschland (Leikola 1991). Da sich die Wissenschaft am deutschsprachigen Raum orientierte, war auch der Status des Deutschen als Wissenschaftssprache in Finnland in den 1930er Jahren bedeutend. Die gebildete Schicht des Landes beherrschte die deutsche Sprache und war gut mit der deutschen Kultur vertraut. Piri und ihren Quellen zufolge (2001, S. 105f.) konnten Ende der 1930er Jahre nur fünf oder sechs Professoren an der Universität Helsinki Englisch, alle anderen sprachen und schrieben Deutsch. Die deutsche Sprache wurde vor allem von finnischsprachigen Forschern bevorzugt, die schwedischsprachigen waren mehr auf die frankophone Welt ausgerichtet. Vom Ausgang der 1940er Jahre an verlagerten sich die wissenschaftlichen Kontakte in die Vereinigten Staaten von Amerika. Damit einher ging bei den finnischen Wissenschaftlern eine sprachliche Veränderung in den internatio- Deutsch in Finnland 167 nalen Beziehungen. Der Vormarsch des Englischen begann, die Verwendung des Deutschen in wissenschaftlichem Zusammenhang ging zurück. Es gibt allerdings Fachgebiete, in denen die deutsche Sprache bis heute einen bedeutenden Status hat halten können. Ein gutes Beispiel für eine solche wissenschaftliche Disziplin ist die finnisch-ugrische Sprachwissenschaft. Der größte Teil der internationalen Publikationen kommt allerdings heutzutage in Englisch heraus, und zwar in allen Fächern. Das Veröffentlichen von Forschungsergebnissen in den am besten referierten wissenschaftlichen Zeitschriften ist denn auch eines der Kriterien für staatliche Finanzierung. Kritik und Diskussion ruft die Frage hervor, ob gerade englischsprachige Zeitschriften immer in allen Fächern das höchste Niveau haben, obwohl die englische Sprache natürlich die breiteste Leserschaft garantiert. 6. Deutsch im wirtschaftsleben Im Vorstehenden ist bereits deutlich geworden, welche wichtige Rolle die deutsche Sprache und Deutschsprachige in den Handelsbeziehungen und im wirtschaftlichen Leben Finnlands seit dem 16. Jahrhundert gespielt haben. Deutschsprachige, die nach Finnland kamen, konnten selbstverständlich ihre eigene Sprache verwenden, aber auch in ihren Unternehmen mussten Finnischwie Schwedischsprachige wenigstens ein wenig Deutsch beherrschen. Im 19. Jahrhundert zogen eine ganze Reihe von Personen und Familien aus Deutschland und der Schweiz nach Helsinki, die entscheidenden Einfluss auf das finnische Wirtschaftsleben ausgeübt haben. Namen wie Fazer, Huber, Stockmann, Paulig und Tilgmann sind über die finnischen Grenzen hinaus bekannt geworden, und alle genannten Unternehmen existieren auch heute noch. Diese Immigranten haben so auf weit reichende und vielfältige Art und Weise die finnische Wirtschaft beeinflusst. Es sei erwähnt, dass der Buchdrucker Christoph Friedrich Ferdinand Tilgmann Direktor einer Druckerei und Buchdrucker, aber auch deutscher Übersetzer finnischer Literatur war. Diese Familien und Unternehmen beeinflussten durch ihre Existenz die finnischen Sprachverhältnisse so, dass die deutsche Sprache im 19. Jahrhundert in Helsinki eine beträchtliche Rolle spielte. Viele Untersuchungen heutiger Unternehmen weisen darauf hin, dass es für ein Unternehmen Voraussetzung für gelungene Geschäftstätigkeit ist, die Sprache des Kunden zu beherrschen (siehe z.B. ELAN 2006; Marschan-Piekkari/ Welch/ Welch 2015). In Bezug auf das Deutsche hat sich die Situation in zwanzig Jahren radikal verändert. Bei einer von Uta Müntzel und Liisa Tiittula 1994 durchgeführten Befragung finnischer Unternehmen, die in Finnland oder Deutschland aktiv sind, über den Gebrauch und die Notwendigkeit der deutschen Sprache, gaben 75% der Befragten in Finnland an, nahezu immer Pirkko Nuolijärvi 168 Deutsch zu verwenden, bei den Befragten in Deutschland waren es natürlich mehr, 96% (Müntzel/ Tiittula 1995). Auf solche Zahlen würde man heute kaum noch kommen. Obwohl die Verwendung der deutschen Sprache im finnischen Wirtschaftsleben wegen des Fehlens sprachkundiger Mitarbeiter in den letzten Jahren zurückgegangen ist, ist der Bedarf von Deutschkenntnissen im Gegenteil sogar gestiegen, da in Finnland immer mehr deutsche Unternehmen aktiv werden, die natürlich enge Beziehungen in den deutschsprachigen Raum haben. In den Unternehmen, die im Finnischen Industrieverband organisiert sind, waren 2013 die meist verwendeten Sprachen: Finnisch 97%, Englisch 76%, Schwedisch 47%, Russisch 29%, Deutsch 14%, Estnisch 5%, Chinesisch 4%, Französisch 2%, Spanisch 2%, Italienisch 1% und Portugiesisch 1% (EK 2013). Zwar sieht die Liste einigermaßen gut aus, aber die Arbeitgeber sind schon seit langem besorgt über die geringen Sprachkenntnisse der finnischen Jugendlichen, die ins Berufsleben eintreten, und sie betonen, dass bloße Englischkenntnisse in keinem internationalen Unternehmen ausreichen, sondern dass Kenntnisse in europäischen und vor allem asiatischen Sprachen benötigt werden. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Finnlands und in Finnland ist eine beachtliche Zahl deutscher Unternehmen aktiv. Ein Problem dabei ist das Finden von Arbeitskräften, die des Deutschen mächtig sind. Nach einer Befragung, die die Deutsch-Finnische Handelskammer 2015 durchgeführt hat (siehe z.B. Yle 2016), benötigen nahezu die Hälfte der Unternehmen, die auf die Befragung geantwortert haben, in Finnland Arbeitskräfte, die Deutsch können. Im Dienstleistungsbereich war der Bedarf noch sehr viel höher, aber nur sieben Prozent der Unternehmen hatten ohne Schwierigkeiten Arbeitskräfte mit Deutschkenntnissen gefunden. Im Handelsbereich berichteten drei von vier Unternehmen, die Arbeitskräfte suchten, sogar von bedeutenden Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Es ist denn auch besorgniserregend, dass die Anzahl der Deutschschüler in der Gesamtschule und in der gymnasialen Oberstufe in Finnland in den letzten Jahren sehr steil abgefallen ist, weswegen die Unternehmen einen immensen Mangel an Arbeitskräften mit Deutschkenntnissen haben, da an den Universitäten und Berufshochschulen sich nicht genug Studierende für das Deutschstudium interessieren. 7. was ist zu tun? Aus Sicht der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite ist die Welt einsprachig geworden, und vor allem der Anteil der englischen Sprache ist in allen internationalen Aktivitäten nach dem Zweiten Weltkrieg stark angewachsen und wächst weiter. In Finnland führt diese Entwicklung unter anderem zu einem stetigen Rückgang des Deutschstudiums und einer stetigen Deutsch in Finnland 169 Abnahme der Deutschkenntnisse. Allerdings ist dies noch nicht das Gesamtbild der Entwicklung. Gleichzeitig ist nämlich zu beobachten, dass Vielsprachigkeit in allen europäischen Staaten tatsächlich immer sichtbarer und notwendiger wird. Es ist gut möglich, dass die kulturelle und praktische Bedeutung der sprachlichen Diversität erneut erkannt wird und die Bedeutung vielsprachiger Individuen für die Gesellschaft auch von denen besser verstanden wird, die über Inhalt und Umfang des Sprachunterrichtes entscheiden. Wichtig ist außerdem, dass zum Beispiel das Deutschstudium an den Universitäten und Berufshochschulen auf vernünftige Art und Weise in das Studium anderer Fächer, wie Wirtschaftwissenschaften und technische Fächer, integriert wird. Deutschkenntnisse können entscheidenden Einfluss auf die Anstellungsmöglichkeiten junger Arbeitssuchender haben. Zudem ist es für die intellektuelle Atmosphäre in der finnischen Gesellschaft wichtig, sprachliche und kulturelle Beziehungen in verschiedene Richtungen aufrecht zu erhalten. Die Ausrichtung nach Deutschland ist seit dem Mittelalter wichtig für die Finnen und die Bedeutung des Austausches mit Deutschland ist durchaus nicht weniger geworden. Im Gegenteil. 8. literatur Das deutschsprachige Helsinki. www.ssyl.fi/ de/ ajankohtaista/ saksalaiset-ja-helsinginkehitys (Stand: Oktober 2016). Deutsche Bibliothek. www.ssyl.fi/ wp-content/ uploads/ 2012/ 10/ kirjasto_netti.jpg (Stand: Oktober 2016). Deutsche Gemeinde. www.ssyl.fi/ wp-content/ uploads/ 2012/ 10/ kirkko_netti.jpg (Stand: Oktober 2016). Deutsche Schule Helsinki. www.dsh.fi/ de/ schulinfos/ dsh-info (Stand: Oktober 2016). Die finnische Abiturprüfung. Ylioppilastutkinto Suomessa. 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Der wortschatz In Bewegung Doris aL-waDi Begegnungen mIt neuen wörtern: zu lexIkografIschen praktIken Im neologIsmenwörterBuch Des IDs Die Betrachtung einiger lexikografischer Praktiken im Neologismenwörterbuch des IDS (im Weiteren mit NWB abgekürzt) soll zugleich Folgendes verdeutlichen: Mit welchen Fragen können Lexikografen in der Welt neuer Wörter konfrontiert sein, in der es ein natürlicher Prozess ist, immer wieder Lösungen zu suchen und Entscheidungen zu treffen, für die es noch nicht viele Vorbilder gibt. Hierbei steht das Wörterbuch als Online-Medium mit seinen neuen Möglichkeiten im Vordergrund. In diesem Beitrag soll an einigen konkreten lexikografischen Umsetzungen veranschaulicht werden, was Herberg (2005) treffend feststellt: Entscheidend ist die Hypertext-Struktur von WiW [heute OWID], die für die Lexikografie eine neue Dimension eröffnet, weil sie den Nutzern, gleich ob Experten oder Sprachinteressierten, eine flexible, auf individuelle Bedürfnisse abgestimmte Informationsauswahl und -tiefe anbietet. ‘Nicht nachschlagen, sondern klicken’ heißt die Devise, um mehr über die Vernetzungen des Wortschatzes zu erfahren. (S. 293f.) Zugleich könnten die dargelegten konkreten lexikografischen Umsetzungen ein Teil dessen sein, das zur Erfüllung eines vom Jubilar geäußerten Anliegens im Zusammenhang mit lexikalischem Sprachwandel beiträgt: Weitere Untersuchungen des aktuellen lexikalischen Sprachwandels sollten nicht auf Anglizismen fixiert sein, sondern alle vorgefundenen Neuerungen, besonders auch die neuen Wortbildungen, in ihren Kontexten erfassen und analysieren. Zur Analyse sollte auch die Bestimmung ihrer kommunikativen Funktionen in den jeweiligen Gebrauchsdomänen gehören. (Stickel 2006, S. 8) 1. einführung Das Neologismenwörterbuch, lange Zeit dem Projekt „Lexikalische Innovationen“ zugehörig, ist - neben anderen korpusbasierten wissenschaftlichen lexikografischen Ressourcen - Bestandteil des Portals OWID am IDS, dem Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch. Die NWB-Artikel beschreiben neue Wörter (z.B. Flugmodus, Hashtag), neue Phraseologismen (z.B. personalisierte Medizin, jemand will nur spielen) und neue Bedeutungen etablierter Wörter (z.B. Tsunami ‘bedrohliche Entwicklung’, halbrund ‘beim Alter auf eine Fünf endend’), die seit den 1990er Jahren für den Wortschatz der deutschen Doris al-Wadi 174 Allgemeinsprache eine Rolle spielen, in exhaustiver Weise und nach wissenschaftlich fundierten Prinzipien. Die Ermittlung und Beschreibung dieser lexikalischen Einheiten erfolgt mit empirischen Methoden, primär korpusbasiert. Eine wesentliche Grundlage bildet das am IDS beheimatete Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) 1 mit Korpora der geschriebenen Gegenwartssprache, das über COSMAS II 2 recherchierbar ist. Für die einheitliche Struktur, den Zugriff und die Vernetzungen liegt den Wortartikeln eine Dokumenttyp- Definition (DTD) zugrunde, die im Projekt OWID im Rahmen der Datenmodellierung für Internetwörterbücher entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Lexikalische Innovationen“ für das NWB spezifiziert wurde (vgl. Müller-Spitzer 2011). Für die ausführliche Beschreibung eines Neologismus steht im NWB ein großes Repertoire an lexikografischen Datentypen zur Verfügung: beginnend bei der Lesartenbezeichnung und Zeitverlaufsgrafik über Angaben zu Neologismentyp, zeitlichem Aufkommen, Schreibung und Aussprache, Bedeutung, Wortbildung oder Herkunft, typischen Verwendungen, sinnverwandten Ausdrücken, grammatischem Gebrauch, Wortbildungsproduktivität, über Belege meist aus DeReKo bis hin zu einer Reihe enzyklopädischer und sprachreflexiver Erläuterungen und zu einigen weiteren Angaben z.B. zu Stil und Textspezifik. In der tagtäglichen Praxis hat sich gezeigt, dass bei vielen dieser lexikografischen Datentypen immer wieder Klärungsbedarf entsteht. In der Fachliteratur existieren recht häufig unterschiedliche, auch divergierende wissenschaftliche Konzepte und Auffassungen - letztlich ist dann für das NWB immer eine gültige Festlegung zu treffen, orientiert an einer bestimmten Referenzquelle. Oft waren aber auch eigene Vorschläge und Lösungen notwendig. Die Fragestellungen, das Für und Wider, die Diskussionen und schließlich die Festlegungen sind in einer ausführlichen Dokumentation festgehalten, die inzwischen knapp tausend Seiten umfasst. Ein Redaktionshandbuch gibt es nicht gesondert, es ist gewissermaßen als Extrakt in dieser Dokumentation enthalten. Die Quintessenz sind die Benutzerhinweise. 3 Aus dieser Vielfalt herausgelöst betrachtet werden im Folgenden Entscheidungsfindungsprozesse am Beispiel der sogenannten verdeckten neuen Wörter als einer besonderen Art des Zugangs zu den Wortartikeln (Kap. 2) sowie 1 Das Deutsche Referenzkorpus - DeReKo. www.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora (Stand: Februar 2017). 2 COSMAS II - Corpus Search, Management and Analysis System. Das Portal für die Korpusrecherche in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache. www.ids-mannheim.de/ cosmas2 (Stand: Februar 2017). 3 www.owid.de/ extras/ neo/ html-info/ benutzerhinweise.html (Stand: Februar 2017). Begegnungen mit neuen Wörtern 175 am Beispiel der Verlinkung zu Google-Bildern und am Beispiel der Gruppen thematisch zusammengehöriger Stichwörter als spezielle Arten der Vernetzungen in den Wortartikeln (Kap. 3). Zu den Grundlagen des NWB, zum Neologismusbegriff, zur Ermittlung der Neologismen vergleiche den Beitrag von Doris Steffens in diesem Band. 2. Die wege zu den wortartikeln - insbesondere: Verdeckte neue wörter 2.1 Zusammenschau Hier wird ein Überblick über die verschiedenen Zugänge zu den Wortartikeln, die das Neologismenwörterbuch als Online-Medium bietet, gegeben. Neben den Zugangsmöglichkeiten über die „Startseite“ sowie über die Buchstabenstrecke oder über die „Gehe-zu“-Funktion kann der Nutzer über die Seite „Wortartikel“ 4 (siehe Abb. 1) je nach Intention in verschiedene Stichwortlisten gelangen. In denen mit zeitlichem Bezug sind die Stichwörter nach ihrem zeitlichen Aufkommen jahrzehntweise gruppiert. Phraseologismen (z.B. ökologischer Fußabdruck, etwas/ jemanden nicht auf dem Schirm haben, ein gebrauchter Tag) sind noch einmal gesondert aufgelistet. Neues hinsichtlich Reihenbildung ist in der separat aufgeführten Liste „Strichlemmata“ berücksichtigt, die Stichwörter wie […] fasten bzw. Turbo/ turbo[…] enthält und zu den zugehörigen Wortartikeln führt, in denen sie ausführlich beschrieben und mit einer größeren Zahl diesbezüglicher Wortbildungen genannt sind (u.a. Autofasten, Fernsehfasten, Handyfasten, Konsumfasten bzw. Turboabitur, Turbodiät, Turbokarriere, turbomäßig). Darüber hinaus dürften ebenfalls von besonderem Interesse die Übersichten sein, in denen die Stichwörter nach Sachgebieten gruppiert sind, sowie das Register mit den sogenannten verdeckten neuen Wörtern, die weiter unten eingehender betrachtet werden. In den Übersichten „Stichwörter in Sachgruppen“ sind die Stichwörter zudem jahrzehntweise getrennt aufgeführt (siehe Abb. 2), wodurch u.a. gut zu beobachten ist, welche gesellschaftlichen Bereiche in welchem Zeitraum eine besondere Entwicklung genommen haben. Während beispielsweise Lexik aus dem Sachbereich „Umweltschutz/ Energie“ seit den 1990er Jahren (z.B. Dosenpfand, E-Auto, grüner Strom, Passivhaus, stoßlüften) über die Nullerjahre (z.B. Energieausweis, ökologischer Fußabdruck, Plusenergiehaus, Umweltzone, Zweigradziel) konstant in den Allgemeinwortschatz eingegangen ist, erfolgt eine wesentliche Wortschatzerweiterung in dem Sachbereich „Demografischer Wandel“ erst seit den Nullerjahren (z.B. Generation Silber, Mehrgenerationenhaus, Riesterrente, Seniorenhandy, Verhinderungspflege). 4 www.owid.de/ docs/ neo/ wortartikel.jsp (Stand: Februar 2017). Doris al-Wadi 176 abb. 1: bildschirmansicht: Die übersicht auf der seite „wortartikel“ - Ein klick auf „stichwörter in sachgruppen“ führt zu einer vergleichbaren ansicht wie in abbildung 2, ein klick auf „Verdeckte neue wörter“ wie in abbildung 4 - rechts: alle derzeitigen lexikografischen ressourcen von owiD Des Weiteren gibt es im NWB die „Erweiterte Suche“ (siehe Abb. 1 Mitte rechts), durch die u.a. nach Stichwörtern mit gemeinsamen Merkmalen gesucht werden kann, z.B. bezogen auf Neologismentyp, zeitliches Aufkommen, Wortart, grammatische Angaben, Wortbildung. Angenommen, neue Adjektive sind von Interesse, so kann selektiert werden, welche von ihnen nicht steigerbar sind, in welcher syntaktischen Funktion sie im Satz verwendet werden (attributiv, prädikativ, adverbial), welche von ihnen durch Zu- Begegnungen mit neuen Wörtern 177 sammensetzung (z.B. bildungsnah, systemrelevant) oder Ableitung (z.B. gefühlt, supi) entstanden sind, welche von ihnen vom Neologismentyp Neubedeutung sind (z.B. analog ‘real’, löffelfertig ‘fertig eingerichtet’) usw. 5 abb. 2: bildschirmansicht: Die sachgruppe „Politik“ in der übersicht „stichwörter in sachgruppen“ (ausschnitt) Ein weiterer Zugang zu den Wortartikeln des NWB besteht in der übergeordneten OWID-Suche. Das dafür vorgesehene, auf jeder OWID-Seite verfügbare zentrale Suchfeld im oberen Bereich der Bildschirmansicht (siehe Abb. 1) ermöglicht Suchen in allen oder in ausgewählten eingebundenen lexikografischen Ressourcen und findet neben Stichwörtern eine Reihe speziell gekennzeichneter Einträge, zeitigt also facettenreiche Ergebnisse und bietet damit Anregungen für verschiedenste Interessen. Das ist der ausgefeilten Recherchearchitektur in OWID zu verdanken, denn es gehörte zu einem der wichtigsten Designziele von OWID, „den Portalcharakter stärker zu gewichten, d.h. die Sichtbarkeit der verschiedenen Wörterbücher zu verstärken“ (Müller- Spitzer 2014, S. 350). Die Zeichenkette „pflicht“ beispielsweise führt u.a. zu folgenden Wortartikeln in folgenden lexikografischen Ressourcen: - Pflicht in „elexiko“ - Adel verpflichtet im „Sprichwörterbuch“ 5 Ausführlich dazu siehe den Beitrag von Doris Steffens in diesem Band. Doris al-Wadi 178 - verpflichten, sich in „Kommunikationsverben“ - Pflicht in „Schulddiskurs 1945-1955“ - treu in „Schulddiskurs 1945-1955“ (über das Sublemma pflichttreu) - Gehorsam in „Schulddiskurs 1945-1955“ (über das Sublemma Gehorsamspflicht) Was das NWB betrifft, lässt die Suche nach einem älteren Wort wie Pflicht eher kein Ergebnis erwarten, dennoch gibt es einige Treffer für Pflicht als Bestandteil von Zusammensetzungen - siehe Abbildung 3. Hier nun kommen die verdeckten neuen Wörter ins Spiel. abb. 3: bildschirmansicht: Ergebnis der owiD-suche nach „pflicht“ (ausschnitt), für das nwb entfaltet Begegnungen mit neuen Wörtern 179 2.2 Verdeckte neue Wörter Diese neuen Wörter sind selbst nicht augenfällig Stichwort, sondern innerhalb der Wortartikel aufgeführt - sie sind gewissermaßen verdeckt im NWB enthalten. Der Nutzer würde in der Regel nur bei der Rezeption eines Wortartikels auf solche Wörter stoßen. Mag auch sein, dass bestimmte Wörter vermisst werden, wie Kuchenlolli, SWIFT-Code, Tierselfie oder Shelfie, die in Wirklichkeit aber in Wortartikeln von dazu passenden Stichwörtern beleuchtet sind, nämlich von Cakepop, BIC bzw. Selfie. Um das NWB besser erschließbar zu machen und damit auch dergleichen Irritationen und Fehlinterpretationen vorzubeugen, kam es zu der Idee, diese neuen Wörter aus ihrer Unauffälligkeit herauszuholen - eine zuvor so noch nicht praktizierte lexikografische Vorgehensweise. Ein entsprechendes Konzept wurde erarbeitet und in Kooperation mit dem Projekt OWID umgesetzt; in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Zentrale DV-Dienste des IDS konnten die betreffenden neuen Wörter in den bis dato vorliegenden zahlreichen Wortartikeln auf Grundlage der Annotationen in der Wortartikelstruktur automatisch identifiziert und ausgefiltert werden. Seitdem erfolgt die entsprechende Kennzeichnung der neuen Wörter bei der Ausarbeitung neuer Wortartikel kontinuierlich. An den Beispielen in Abbildung 3 wird auch deutlich, dass zusammen mit einem verdeckten neuen Wort - zur besseren Orientierung - der Wortartikelbereich genannt ist, in dem es bei dem betreffenden Stichwort aufgeführt ist. Verdeckte neue Wörter kommen in erster Linie in den Wortartikelbereichen „Wortbildungsproduktivität“, „Sinnverwandte Ausdrücke“ und „Sprachreflexives“ vor. So sind Energieausweispflicht und Feinstaubplakettenpflicht Wortbildungsprodukte zu den Stichwörtern Energieausweis bzw. Feinstaubplakette. Das Synonym Meisterpflicht vom Stichwort Meisterzwang und das Antonym Pflichtkind vom Stichwort Kannkind sind zusätzlich unter „Sprachreflexives“ zu finden mit dem - nur den sinnverwandten Ausdrücken zukommenden - Hinweis, dass sie in den IDS-Textkorpora wenig belegt sind. Auf derzeit gut 1.800 Stichwörter im NWB kommen mehr als 4.800 verdeckte neue Wörter. Etwa drei Viertel davon sind Wortbildungsprodukte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Regel durch Ableitung, Kurzwortbildung und Präverbfügung entstandene Wörter sämtlich in den Wortartikeln aufgeführt sind, von den Zusammensetzungen aber nur ausgewählte. Die Häufigkeit, mit der das Stichwort als Grundwort bzw. als Bestimmungswort in neuen Zusammensetzungen auftritt, wird in einer vierstufigen Einteilung veranschaulicht: „selten“, normal [ohne Nennung], „häufig“, „sehr häufig“. Die Angabe „häufig als Grundwort bzw. Bestimmungswort“ beispielsweise ist gestützt durch bis zu einhundert verschiedene belegte Zusammensetzungen, es werden in der Regel aber nur vier aufgezählt. Bei noch mehr verschiedenen Doris al-Wadi 180 belegten Zusammensetzungen - das können auch Hunderte sein - werden unter Angabe von „sehr häufig“ nicht mehr als fünf aufgezählt, (1) beispielsweise bei Blog: Zusammensetzung: sehr häufig als Grundwort, z.B. in Bildblog, Internetblog, Modeblog, Videoblog, Wahlblog, (2) beispielsweise bei Cakepop: Zusammensetzung: häufig als Bestimmungswort, z.B. in Cakepopbäckerin, Cakepopkurs, Cakepoprezept, Cakepopstiel. Die genannten Beispiele verdeutlichen auch, warum ein verdecktes neues Wort in der Regel nicht Stichwort ist: Zum einen ist ein Teil von ihnen zwar wie die Stichwörter im Erfassungszeitraum in der Allgemeinsprache aufgekommen, hat sich aber nicht entsprechend verbreitet, wie die Belegung in den IDS-Textkorpora zeigt (Meisterpflicht). Mitunter gehören sie auch eher der Fachsprache an (SWIFT-Code). Zum anderen sind die meisten verdeckten Wortbildungsprodukte aus dem Erfassungszeitraum - diese können auch häufig belegt sein - semantisch durchsichtig und bedürfen keiner Bedeutungserklärung. Die für ihre Bildung relevanten Stichwörter als Wortbildungskonstituenten sind entsprechend beschrieben (vergleiche oben die Lexeme Blog und Cakepop mit ihren Wortbildungsprodukten). abb. 4: bildschirmansicht: register „Verdeckte neue wörter“ (ausschnitt), z.t. mit Entfaltung der zweiten stufe Begegnungen mit neuen Wörtern 181 Die verdeckten neuen Wörter kommen also über die allgemeine OWID-Suche zur Geltung (Abb. 3) und - wie eingangs erwähnt - über ein eigenes Register (Abb. 4), das auf der Seite „Wortartikel“ (Abb. 1) erreichbar ist. Im Register sind sie in zwei Stufen präsentiert: Die erste Stufe ist eine reine Auflistung, in der sich bestimmte Phänomene gut beobachten lassen. Die durch Anklicken sich entfaltende zweite Stufe zeigt das Stichwort und den dortigen Wortartikelbereich, in dem das verdeckte Wort zu finden ist. Zur besseren Orientierung ist auf die Benutzerhinweise verlinkt, denn dort ist u.a. die Einbettung der Wortartikelbereiche in die Struktur eines Wortartikels veranschaulicht. Weiterführendes zu diesem Thema vergleiche al-Wadi (2013). 3. Verlinkungen in den wortartikeln - insbesondere: links zu google-Bildern sowie links in gruppen thematisch zusammengehöriger stichwörter 3.1 Zusammenschau Ein Online-Medium wie das NWB ist hervorragend geeignet, durch Verlinkungen einen hohen Grad an Informationsvernetzung anzubieten, ausführlich dazu siehe Steffens (2008). Hier nur so viel als Überblick: Die „Reichweite“ der Verlinkungen im NWB ist dreigeteilt. Es gibt Verlinkungen 1) selbstverständlich der Wortartikel des NWB untereinander (z.B. sind sinnverwandte Ausdrücke, sofern sie Stichwort sind, systematisch wechselseitig miteinander verlinkt wie die Synonyme Smartwatch und Computeruhr, die Kohyponyme Flexitarier, Frutarier, Veganer und Veggie, die Antonyme Mobilnetz und Festnetz), 2) auf Wortartikel von Ressourcen in OWID (in erster Linie auf „elexiko“, aber z.B. auch auf gleichnamige Wortartikel in „Kommunikationsverben“ u.a. von den NWB-Wortartikeln chatten und posten aus) und auf „grammis“, 6 3) auf externe Webseiten mit vertiefenden sprachlichen oder sachlichen Informationen. Um hierfür eine Auswahl zu nennen: Vor allem bei Stichwörtern vom Neologismentyp Neubedeutung wie dampfen (‘eine E-Zigarette konsumieren’), Interview (‘Vorstellungsgespräch’), episch (‘großartig’) führen Links als nutzerfreundliches Zusatzangebot in Hinsicht auf ihre älteren Bedeutungen auf dementsprechende elektronische Nachschlage- 6 grammis - das grammatische informationssystem des instituts für deutsche sprache (ids). http: / / hypermedia.ids-mannheim.de (Stand: Februar 2017). Doris al-Wadi 182 werke. Im Wortartikelbereich „Enzyklopädisches“ ist sachliches Hintergrundwissen zu dem, was das Stichwort bezeichnet, angeführt und häufig auf Lexikonartikel in „Wikipedia - Die freie Enzyklopädie“ verlinkt. Gegebenenfalls gibt es Links auf Webseiten mit Informationen aus erster Hand, z.B. bei leichte Sprache auf das „Netzwerk Leichte Sprache“, bei Cakepop auf den Blog „Bakerella“ der US-amerikanischen Erfinderin der Cakepops, Angie Dudly, bei Girls’ Day auf das Portal der „Bundesweiten Koordinierungsstelle des Girls’ Day - Mädchen-Zukunftstags“, bei ELSTER auf das ELSTER-Portal mit aktuellen statistischen Auswertungen zur Steuererklärung. 3.2 Links zu Google-Bildern Unter „Enzyklopädisches“ sind auch die Links auf die Rubrik „Bilder“ von Google 7 zur Illustrierung besonders von gegenständlichen Stichwörtern eingebunden, und zwar mit der Standardangabe „Google-Bilder: hier klicken“, z.B. bei Kletterwald, Emoji, Tribal. Google-Bilder waren nicht von Anfang an vorgesehen. Zuerst wurden digitale Illustrationen hauptsächlich im Internet beschafft, wobei selbstredend auf den urheberrechtlichen Schutz zu achten war. Die im Wortartikel durch einen Klick zu öffnende „Abbildung“, wie die Illustration genannt wurde, war folgerichtig in der Nähe der „Bedeutungsangabe“ positioniert, da sie die konkrete bildliche Wiedergabe dessen veranschaulicht, was das Stichwort bezeichnet. Es stellte sich allerdings heraus, dass es für neuere Wörter kaum lizenzfreie Illustrationen gibt. Der Ausweg war schließlich, auf die Rubrik „Bilder“ von Google zu verlinken, wobei anwendungsbezogene Kriterien zur Prüfung der Geeignetheit aufgestellt wurden - durchaus in dem Bewusstsein, dass auch hierfür die Verfahrensweise wissenschaftlich zu untersuchen wäre, nach dem Vorbild von Kemmer (2014) und Klosa (2015), was aber im Hinblick auf die Zielsetzungen des Projektes „Lexikalische Innovationen“ zu weit führen würde. Zumindest aber so viel zu den anwendungsbezogenen Kriterien: Google liefert zu einem Suchwort bekanntermaßen eine größere, mehrere Bildschirmseiten umfassende Ansammlung von Bildern. Oft sind unpassende Bilder dabei, und ein Link im NWB wird nur dann gesetzt, wenn die Bilder der ersten Bildschirmseiten mehrheitlich das Denotat zeigen. Eine gewisse Unsauberkeit muss bis zu einem bestimmten Grad in Kauf genommen werden, z.B. für das Stichwort grünes Rezept: Auf den ersten Bildschirmseiten ist das Denotat zufriedenstellend abgebildet, weiter hinten aber erscheinen Bilder, die alles Mögliche mit „grün“ zu tun haben, z.B. Gemüse, Kräuter, auch Smoothies. Keine Links werden gesetzt, wenn Google-Bilder - freilich nach subjektivem 7 Google. www.google.com/ intl/ ALL_de/ contact/ impressum.html (Stand: Februar 2017). Begegnungen mit neuen Wörtern 183 Ermessen - Anstoß erregen könnten, was z.B. für viele zum Suchwort Bodypainting angenommen wird. Die erwähnten Einschränkungen hinsichtlich der Google-Bilder haben außerdem dazu geführt, die Links nicht zur „Bedeutungsangabe“, sondern unter „Enzyklopädisches“ zu stellen. Ebenso spielte hierbei der naheliegende Effekt der Ablenkung angesichts einer Fülle interessanter Bilder eine Rolle. 3.3 Gruppen thematisch zusammengehöriger Stichwörter Im Wortartikelbereich „Sprachreflexives“ gibt es in vielen Wortartikeln einen Passus, in dem nach einem Einleitungssatz gleichen Musters eine - des Öfteren größere - Anzahl von Stichwörtern aufgezählt und wechselseitig miteinander verlinkt ist, z.B.: (3) Im Bereich Wohnen sind seit den 90er Jahren folgende Bezeichnungen aufgekommen und im Neologismenwörterbuch Stichwort geworden: Boxspringbett, Carloft, Cocooning, Downlight, Dusch-WC, Floating Home, Gentrifizierung, geschlossene Küche, Homestaging, Homing, Induktionsherd, Kochinsel, Mehrgenerationenhaus, Servicewohnen, Servicewohnung, Townhaus, Townhouse, Wächterhaus. (4) Für Tätigkeiten, die sich auf Kommunikation im Internet beziehen, sind seit den 90er Jahren folgende Bezeichnungen aufgekommen und im Neologismenwörterbuch Stichwort geworden: anmailen, bloggen, chatten, emailen, facebooken, gruscheln, leaken, liken, mailen, posten, retweeten, simsen, skypen, texten, twittern, voipen, whatsappen, wischen, zwitschern. Es handelt sich hier um Gruppen von Stichwörtern, die gemeinsam haben, dass sie zu einem relativ eng gefassten Thema eines bestimmten Sachbereichs gehören. Im Einleitungssatz ist das jeweilige Thema in aller Kürze charakterisiert. Viele der seit den 1990er Jahren in den Allgemeinwortschatz des Deutschen eingegangenen Neologismen konnten einer der mittlerweile mehr als vierzig thematischen Gruppen zugeordnet werden. Damit die Zuordnungen handhabbar bleiben, sind die Gruppen inhaltlich so zugeschnitten, dass ein Stichwort in der Regel nur ein einziges Mal genannt ist, d.h. nicht in mehreren Gruppen vorkommt, es sei denn, es hat mehrere zuordenbare Lesarten. Die Entscheidung für diese neue, bisher so noch nicht praktizierte Art der lexikografischen Darstellung fiel, als klar wurde, dass etliche Stichwörter, die eine auffällige engere sachliche Zusammengehörigkeit zeigen, nicht oder nur partiell auf andere Weise deutlich miteinander verzahnt werden konnten. Das Wissen um die Zusammengehörigkeit solcher Stichwörter sollte fassbar bleiben und systematisch dokumentiert werden. In der Rubrik „Stichwörter in Sachgruppen“ (veranschaulicht in Abb. 2) ist die Zuordnungsgröße für diesen Zweck zu grobmaschig, doch beide Darstellungsformen sind sinnvoll, Doris al-Wadi 184 denn sie zeitigen verschiedene neue Zusammenhänge. Beispielsweise zum Sachgebiet „Sport“ lässt sich in der Sachgebietsübersicht, die nach Stichwörtern der 1990er-, Nuller- und Zehnerjahre untergliedert ist, u.a. gut erkennen, welche neuen Sportarten etwa wann im deutschen Sprachraum an Bedeutung gewannen. Die engere thematische Zusammengehörigkeit betreffender Stichwörter hingegen illustrieren derzeit fünf Gruppen, von denen hier zwei vollständig wiedergegeben, die anderen drei angedeutet sind: (5) Für neuartige Sportgeräte und Sportanlagen sind seit den 90er Jahren folgende Bezeichnungen aufgekommen und im Neologismenwörterbuch Stichwort geworden: Barfußschuh, Baumwipfelpfad, Bewegungspark, Crosstrainer, Flexibar, Handbike, Hochseilgarten, Igelball, Kletterwald, Niedrigseilgarten, Pezziball, Poolnudel, Powerplate, Schwimmnudel, Seniorenspielplatz, Slackline, Theraband. (6) Für neue sportliche Aktivitäten mit Bezug auf Fitness, Gymnastik sind seit den 90er Jahren folgende Bezeichnungen aufgekommen und im Neologismenwörterbuch Stichwort geworden: Aquacycling, Aquajogging, Callanetics, Cross-fit, Indoorcycling, Pilates, Powerplate 8 , Spinning, Tae-Bo, Work-out, Zumba. (7) Für neue sportliche Aktivitäten mit Bezug auf Springen, Klettern, Balancieren … 9 (8) Für neue sportliche Aktivitäten mit Bezug auf Laufen, Gleiten, Fahren … 10 (9) Besonders mit Bezug auf den Fußballsport … 11 4. schlussbemerkung Die in diesem Beitrag betrachteten konkreten lexikografischen Umsetzungen sollen das NWB besser erschließen und durch die Vernetzungen ein nutzerfreundliches, inspirierendes Angebot sein. Und in der Tat: Dass das NWB mit Sachbereichen und thematischen Gruppen (Kap. 3.3) ein besonderes Interesse von Nutzern an neuer Lexik im Zusammenhang mit Themengebieten befriedigen kann und damit dieses Angebot Bestätigung finden dürfte, zeigen die Erhebungen in einer breit angelegten empirischen Studie im Rahmen der Wörterbuchbenutzungsforschung des IDS-Projektes „Empirische Methoden“: In dem Frageblock zum gewünschten Ausbau der Suchfunktion ran-  8 Powerplate hat zwei zuordenbare Lesarten (‘Training’ und ‘Sportgerät’) und ist deshalb in zwei Gruppen genannt.  9 Diese thematische Gruppe siehe z.B. im Wortartikel Bungeejumping in www.owid.de/ wb/ neo/ start.html (Stand: Februar 2017). 10 Diese thematische Gruppe siehe z.B. im Wortartikel Inlineskating. 11 Diese thematische Gruppe siehe z.B. im Wortartikel Freistoßspray. Begegnungen mit neuen Wörtern 185 giert die Suchmöglichkeit nach Stichwörtern, „die zu einem bestimmten Themengebiet gehören“, bei den Probanden an vorderster Stelle (vgl. Klosa/ Koplenig/ Töpel 2014, S. 347). 5. literatur Herberg, Dieter (2005): Wissen über (neue) Wörter: Ein Internetwörterbuch entsteht. In: Gottlieb, Henrik/ Mogensen, Jens Erik/ Zettersten, Arne (Hg.): Symposium on Lexicography XI. Proceedings of the Eleventh International Symposium on Lexicography May 2-4, 2002, at the University of Copenhagen. (= Lexicographica: Series Maior 115). Tübingen, S. 293-301. Kemmer, Katharina (2014): Illustrationen im Onlinewörterbuch - Text-Bild-Relationen im Wörterbuch und ihre empirische Untersuchung. (= amades. Arbeiten und Materialien zur deutschen Sprache 47). Mannheim. Klosa, Annette (2015): Illustrations in Dictionaries; Encyclopaedic and Cultural Information in Dictionaries. In: Durkin, Philip (Hg.): The Oxford Handbook of Lexicography. Oxford, S. 515-531. Klosa, Annette/ Koplenig, Alexander/ Töpel, Antje (2014): Benutzerwünsche und -meinungen zu dem monolingualen deutschen Onlinewörterbuch elexiko. In: Müller- Spitzer, Carolin (Hg.): Using Online Dictionaries. (= Lexicographica: Series Maior 145). Berlin/ Boston, S. 281-384. Müller-Spitzer, Carolin (2011): Der Aufbau einer maßgeschneiderten XML-basierten Modellierung für ein Wörterbuchnetz. In: Klosa, Annette/ Müller-Spitzer, Carolin (Hg.): Datenmodellierung für Internetwörterbücher. 1. Arbeitsbericht des wissenschaftlichen Netzwerks „Internetlexikografie“. (= OPAL - Online publizierte Arbeiten zur Linguistik 2/ 2011). Mannheim, S. 37-51. Müller-Spitzer, Carolin (2014): Das Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch - OWID. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Redaktion: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim, S. 347-359. Neologismenwörterbuch (2006ff.): In: OWID. www.owid.de/ wb/ neo/ start.html (Stand: Februar 2017). 12 OWID - Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (2008ff.): Vorher unter dem Namen „elexiko“ (2003ff.). Hrsg. v. Institut für Deutsche Sprache. Mannheim. www.owid.de. (Stand: Februar 2017). Einschließlich der in diesem Beitrag genannten lexikografischen Ressourcen „elexiko“ (2003ff.), „Sprichwörterbuch“ (2012ff.), „Kommunikationsverben“ (2009ff.), „Schulddiskurs 1945-1955“ (2007). Steffens, Doris (2008): Zu den Verlinkungen in den Wörterbüchern des Internetportals OWID - ein Erfahrungsbericht aus Sicht des Neologismenwörterbuches (NWB). In: Klosa, Annette (Hg.): Lexikografische Portale im Internet. (= OPAL - Online publizierte Arbeiten zur Linguistik 1/ 2008). Mannheim, S. 97-106. 12 Zu den gedruckten Wörterbüchern Herberg/ Kinne/ Steffens (2004) und Steffens/ al-Wadi (2013) siehe „Literatur“ im Beitrag von Doris Steffens in diesem Band. Doris al-Wadi 186 Stickel, Gerhard (2006): Anglizismen und andere Neologismen im Deutschen. In: ALEG (Asociación Latinoamericana de Estudios Germanisticos) (Hg.): Deutsch in Lateinamerika. Ausbildung, Forschung, Berufsbezug. Akten des XII. ALEG- Kongresses, 13.-17. März, Havanna 2006. (Postprint. http: / / nbn-resolving.de/ urn/ resolver.pl? urn: nbn: de: bsz: mh39-49858). Leipzig/ Havanna, S. 1-9. al-Wadi, Doris (2013): Zwergentechnologie, Alphamädchen, zurückleaken. Verdeckte neue Wörter des Neologismenwörterbuchs besser zugänglich machen. In: Sprachreport 3/ 2013, S. 16-24. ZoFia bErDychowska / sabinE häusLEr entlehnung unD erBe: Fair unD Fegen 1. entlehnung und erbe Entlehnungen aus dem Englischen sind weder erst ein Phänomen der Nachkriegsjahre noch die Folge der Globalisierung, in der das Englische als die neue lingua franca nur eines der Ergebnisse dieses Prozesses, zugleich aber sein Vehikel darstellt. Die künftig eminente Rolle des Englischen hat Roman Dyboski, Professor für englische (britische) Literatur an der Jagiellonen Universität, bereits Anfang der 1930er Jahre erkannt (Dyboski 1931). In den Ergebnissen der Zeitungs- und Repräsentativerhebungen zu Einstellungen der Deutschen zu ihrer Sprache (Stickel 2013) spiegelt sich der in der Tat seit über 60 Jahren fortschreitende deutsch-englische Sprachkontakt, den die deutsche Sprachgemeinschaft erfährt. Eine modernere, nicht mehr puristische Sichtweise auf die Fremdwort-Lehnwort-Problematik begann mit einem 1967 erschienenen Aufsatz von Peter von Polenz (Dávid 2002, S. 73). Die Frage, was eigentlich als Anglizismus anzusehen ist, steht weiterhin in Diskussion. Eine Antwort darauf versucht nun das internationale Netzwerk GLAD (http: / / gladnetwork.org/ ) zu finden und eine operationale Definition des Anglizismus zu erarbeiten. Im Grunde genommen sind es jedoch nicht Sprachen, die in Kontakt treten, sondern ihre Träger, denn „[w]ie wir aufgeklärten Linguisten wissen, entwickelt sich eine Sprache nicht selbst. Sie ist ja kein Lebewesen, als das sie noch im 19. Jahrhundert gesehen wurde. Vielmehr wird eine Sprache entwickelt: durch den Gebrauch, den ihre Sprecher und Schreiber von ihr machen“ (Stickel 2013, S. 9). Individuell und/ oder als Sprachgemeinschaften eignen sie sich in wiederkehrenden sprachlichen Interaktionen mit den Trägern anderer Sprachen Elemente jener Sprachen an, integrieren sie in ihre Idiolekte und transferieren sie in weiteren Kommunikationsereignissen mit Sprechern desselben Polylekts in das gemeinsame Sprachgut. Historisch gesehen kann von grundsätzlich direkten kommunikativen Interaktionen ausgegangen werden, die infolge der ersten medialen, durch Johann Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern bewirkten Revolution durch schriftliche Kommunikation massiver, indirekt und auch ort- und zeitverschoben möglich geworden sind, um durch die neuen medialen Technologien beschleunigt und über die medial vermittelten Interaktionen globalisiert zu werden. So beeinflusst das Englische heutzutage auch diejenigen Sprachen, deren Träger nicht unbedingt in face-to-face-Situationen interagieren. Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 188 Kommunikation zwischen Trägern verschiedener Sprachen begünstigt Übernahmen aus nicht nur genetisch verwandten Sprachen. Im Falle genetisch eng verwandter Sprachen wie dem Deutschen und Englischen, die durch verschiedene geschichtlich wirksame Faktoren, v.a. die areale Trennung sowie kontaktinduzierten Sprachwandel in der Zeit der Wikingerüberfälle und deren Landnahme, sich auseinander entwickelt haben, finden sich unter dem entlehnten Sprachgut auch Formen, die in der Geber- und Nehmersprache auf eine gemeinsame Wurzel zurück gehen. 1.1 Der Anglizismus fair Unter Anglizismen 1 findet sich im Deutschen wie auch in vielen anderen Sprachen, u.a. im Polnischen, das Adjektiv fair, das insofern als formalsemantische Entlehnung gelten kann, als das Wort in seiner originalen bzw. an die Artikulationsmuster der Nehmersprache angenäherten phonetischen Form übernommen wurde, die Mańczak-Wohlfeld (Hg.) (2010, S. 11) für 15% der Entlehnungen aus dem Englischen ins Polnische feststellt, darunter auch für fair poln. [fer]. Für fair play wird jedoch in der auf dasselbe Korpus gestützten online-Enzyklopädie PWN die Originalaussprache angegeben: [feə r pleı] ‘Sportspiel oder Sportwettkampf, in anständiger Weise, edel, entsprechend den Vorschriften geführt (sog. sauberes Spiel)’ (PWN), gegenüber dem dt. Fair Play [ˈfɛːɐ̯ ˈpleɪ] (Duden). Die im Verlauf des Entlehnungsprozesses erfolgte Anpassung der fremden Form an die phonetisch-morphologischen Anforderungen der Nehmersprache hat zufolge, dass fair beim prädikativen und adverbialen Gebrauch entsprechend den Regeln des Deutschen unmarkiert bleibt: fair behandelt werden (vgl. Onysko 2007, S. 255), analog zu gut behandelt werden. In attributiver Verwendung passt es sich den Deklinationsregeln des Deutschen an, z.B. faires Spiel, faires Wahlrecht. Die Okkurrenzen der nicht deklinierten Form von fair mit dem Substantiv engl. play lassen eine Verbindung erkennen, die schon im Englischen die Phraseologisierung erfahren haben muss und als Phraseologismus ins Deutsche wie auch in andere Sprachen übernommen worden sein, so auch nach Kluge (1967) und Harper (2010). Von einer weitgehenden Anpassung zeugen die bereits auf 1935 datierte Superlativform: „die gründlichste und fairste Prüfung“ (DWDS, KK 166) und Vorkommen im Spiegel- Korpus 1994-2000 in Onysko (2007, S. 40, 63, 164, 171), der auch die komparierten Formen fairer, fairste, das Nomen Fairness/ Fairneß und eine hybride 1 Die Einstufung von fair als Anglizismus folgt hier dem Prinzip Synchronie über Diachronie, vgl. Onysko (2007, Kap. 5.4). Zur Diskussion von Entlehnung, Code-Switching und Anglizismus vgl. Onysko (2007, Kap. 3). Entlehnung und Erbe: fair und fegen 189 Adverbform fairerweise anführt. Im Polnischen ist die Anpassung bei Weitem nicht so fortgeschritten - fair wird nur prädikativ und adverbial verwendet. Die Rezeption von fair play als Ganzes führt im Polnischen zuweilen zu Tautologien, bspw. „ktoś gra fair play, czyli uczciwie” ‘jd spielt fair play, d.h. ehrlich’ (SJP, universal # 2004-04-21). 1.2 Bedeutung und Synonymgruppen Nach Onysko (2007, S. 255) zeichnet sich fair ähnlich wie cool und fit durch einen vergleichbar weiten semantischen Umfang aus. In Roget’s Thesaurus (2016) werden für engl. fair fünf Gruppen von Bedeutungen mit Synonymen angegeben, wobei die erste Gruppe mit 16 Synonymen die kleinste im Umfang, und die dritte (mit 47 Synonymen) die zahlreichste ist: 1. beautiful (16 Synonyme); 2. bright, cloudless (weather) (20 Synonyme); 3. impartial, unprejudiced (47 Synonyme); 4. light-complexioned, light-haired (26 Synonyme); 5. mediocre, satisfactory (25 Synonyme). Für das Deutsche ergibt die Recherche im Portal des DWDS ebenfalls fünf Synonymgruppen für fair: 1. anständig, aufrecht, aufrichtig, ehrbar, ehrlich, geradeheraus, grundanständig, grundehrlich, kreuzbrav, lauter, patent, rechtschaffen, redlich, treu, treu und brav, unverstellt, veritabel, wahrhaft; 2. OK (umg.), adäquat, akzeptabel, in Ordnung, passabel; 3. anständig, sportlich; 4. ritterlich; 5. billig, gerecht, recht. Die Bedeutungsgruppe (4) light-complexioned, light-haired ist dabei überhaupt nicht vertreten. Im Fortschreiten des Entlehnungsprozesses haben sich im Deutschen mehrere Kombinationen von fair mit Verben, Substantiven und Adverbien etabliert, allerdings nur begrenzt mit anderen Adjektiven (Onysko 2007, S. 255). Fair-Verbindungen mit Verben: sein/ handeln/ (als gesellschaftlich) fair gelten (fair weil nichts einbringend - 1930, KK 144)/ erfüllen (Pflicht)/ aufgebaut u.a.m. Die größte Vielfalt weisen Verbindungen mit Substantiven auf: faire Entscheidung/ Zusammenarbeit/ Verhandlungsmethoden/ Verfahren/ Kompensation/ Löhne/ Beschäftigungsbedingungen u.a.m. Mit Adverb und Adverbialbestimmung: gesellschaftlich fair; beim Essen fair sein. Unter den Spezialkorpora des DWDS ergibt das Spezialkorpus Blogs die meisten Treffer (3.160), insbesondere als Attribut zu: Vergütung, Umgang, Deal, Rohstoffe, fairer Weise (vgl. oben), fair erzeugte Kleidung, „faire“ Produktion/ Löhne/ Bezahlung, faires Argumentieren. Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 190 Im Filmuntertitel-Korpus kommt fair 2.691-Mal, in der Phrase mit sein, d.h. prädikativ gebraucht, besonders häufig vor: Das/ Es ist (nicht) fair (auch: jm. gegenüber/ zu jm./ für jn./ von jm.). Als Attribut tritt fair an viele Substantiva - zu Chance, Anhörung, Tausch, Spiel, Kampf, Einschätzung, Preis, Bezahlung, Rennen, Antwort, Mann, Prozess, Frage, Wettbewerb, Warnung, Entschädigung, Handel, Wahlen, Kritik, Lehrer, Freundschaftspreis, Wirtschaftssystem, Geschäft, Bedingungen, Politik, Ausgleich, Lösung, Verhandlungsführung etc., auch im Komparativ und Superlativ. Mit Verben, adverbial gebraucht: v.a. behandeln, handeln, finden, spielen, klingen, bleiben, fahren, zugehen, bewerten, zuweisen. Der Überblick der Koordinationen zu fair und ehrlich im DWDS-Portal ergibt, dass sie nicht nur miteinander kollokieren, sondern auch in thematisch gleichen Kontexten, jedoch zum Teil in anderen Wortumgebungen im Gebrauch sind. Geht man davon aus, dass Bedeutung durch intralinguale Oppositionen determiniert ist, so ist die Kookkurrenz von fair mit einem anderen Adjektiv in dem betreffenden Kontext als Exklusion bzw. Freilegung der durch das andere Adjektiv genannten Eigenschaft (des Sems) aus der Bedeutungsstruktur von fair zu deuten. Allerdings muss dabei der Verwendungskontext mit berücksichtigt werden. Dies dürfte auch der Grund sein, dass fair in der Bedeutung ‘anständig’ und synonym mit Anstand haben ‘wissen, was fair ist’ (DWDS, KK 135) verwendet, in fairer Weise abwechselnd mit fair, jedoch nicht synonym, sondern in Abgrenzung von ‘ethisch’ gebraucht wird: „Ich für meine Praxis bin lieber fair als ethisch.“ (Feuchtwanger 1930, S. 489). Die aktuelle Bedeutungsparaphrase für fair im DWDS ist: ‘anständig in seinem Verhalten anderen gegenüber’. Damit entsteht die Frage, ob anständig und fair bedeutungsgleich sind. In dem Fall wäre eine bedeutungsäquivalente Ersetzung durch natives Wortgut möglich. 2. etymologie und semantische entwicklung Das engl. Adjektiv fair ‘hübsch, schön, ehrlich, gerecht, angemessen’ wurde nach DWDS in der Bedeutung ‘anständig, ehrlich’ im 19. Jahrhundert aus dem Englischen ins Deutsche übernommen. Zuerst war fair auch als Qualitätsbezeichnung ‘ausgezeichnet, vorzüglich’ bei Warenangeboten üblich, dann vornehmlich ein Ausdruck der Sportsprache (Lloyd/ Lühr 2007, S. 5) im Sinne von ‘anständig, den Bestimmungen gemäß’ (DWDS). Für Bestimmung der historischen Quelle von fair seien Einträge in mehreren etymologischen Wörterbüchern vergleichend zusammengestellt sowie mit Belegen aus frühen Schriftdenkmälern untermauert. Entlehnung und Erbe: fair und fegen 191 Engl. fair [fɛər] ‘hübsch, schön, ehrlich, gerecht, angemessen’ geht auf ae. fæger ‘schön, lieblich, angenehm, anziehend’ über me. fæger, fai(e)r ‘blond, schön’ zurück und ist wegen der Anschlüsse in allen drei germanischen Zweigen (Heidermanns 1993, S. 181; Orel 2003, S. 89; Lloyd/ Lühr 2007, S. 5): ahd. fagar(i) ‘prächtig, blendend, schön’, as. fager ‘anmutig, schön, friedlich’, aisl. fagr ‘schön, hübsch, freundlich’, got. fagrs ‘geeignet, passend’ 2 < urgerm. *faǥráals gemeingermanisch anzusprechen. Für das Englische fair ist von der folgenden lautlichen Entwicklung auszugehen: fair < faier < fæger < fager < *faǥrá-. Für diese urgermanische Form des Adjektivs *faǥrákönnen bei Eintritt des Verner’schen Gesetzes zwei 3 suffixbetonte mögliche Vorläufer angesetzt werden, 4 die jeweils Konsequenzen für die Rekonstruktion der Semantik haben: *faǥrá- < *ph 2 k̂ rózu uridg. *peh 2 k̂ - ‘festmachen, fügen’ (Heidermanns 1993, S. 182; Rix et al. 2001, S. 461; Kroonen 2013, S. 122) oder *faǥrá- < uridg. *pok̂ rózur Verbalwurzel uridg. *pek̂ - ‘hübsch machen, aufgeräumt oder vergnügt sein’ (Lloyd/ Lühr 2007, S. 5; Rix et al. 2001, S. 467 bietet als Bedeutung von 2. uridg. *pek̂ - ‘sich freuen’). Gegen den Ansatz der o-Stufe im -ró-Adjektiv wendet sich Kroonen (2013, S. 122), der deswegen für das schwundstufige uridg. *ph 2 k̂ -róplädiert. Da außergermanische Anschlüsse fehlen, ist jedoch eine innergermanische Bildung 5 nicht unwahrscheinlich, sodass mit der bei Nomen substantivum oder Nomen adiectivum zu erwartenden -o-Stufe 6 und von anderen Adjektiven übertragenem -ró-Suffix gerechnet werden kann. Dass das Adjektiv nicht mehr in Gänze indogermanischen Wortbildungsregeln folgt, zeigt auch die für das sekundäre Verb got. gafahrjan ‘vorbereiten’, eigtl. ‘aufgeräumt machen’ (ohne Grammatischen Wechsel im Vergleich zu got. fagrs, vgl. Lloyd/ Lühr 2007, S. 5) anzunehmende wurzelakzentuierte Form *pók̂ roneben *pok̂ ró-. 2 Da das Adjektiv nur einmal im gotischen Korpus vorkommt, ist die Bestimmung seines Bedeutungsumfanges im Vergleich zu den übrigen germanischen Sprachen unsicher, siehe auch im Folgenden. 3 Orel (2003, S. 89) vergleicht urg. *faǥraz u.a. mit ved. pajrá ‘firm, solid’ (Mayrhofer 1963, II, S. 186 ‘fest, solide, zuverlässig, treu’), das wegen der vedischen Form jedoch auf eine Wurzel mit dem stimmhaften Palatal zurückgehen muss, d.h. auf uridg. *peh 2 ĝ- (vgl. Rix et al. 2001, S. 416 *peh 2 ĝ- ‘fest werden’). Die germanischen Formen im Wortfeld ‘sich freuen, erfreulich/ schön/ passend sein’ mit und ohne Grammatischen Wechsel g vs. h < ǥ vs. χ < k´/ k̂ ´ vs. ´k/ ´k̂ wären damit nicht zu erklären, u.a. ahd. Adjektiv fagar ‘prächtig, blendend, schön’ und Verb gifehan ‘sich freuen’. 4 So explizit de Vries (1961, S. 109) und Heidermanns (1993, S. 182). 5 Das evtl. hiermit zu verbindende air. áil ‘passend, erwünscht’ < vorurkelt. *pōkli- (Lloyd/ Lühr 2007, S. 5) kann wegen des anders lautenden Suffixes nichts zu einer morphologischen Entscheidung beitragen. 6 Vgl. weitere Bildungen mit -o-Stufe wie got. baitrs ‘bitter’ < vorurgerm. *b h oi̭ dro- (Kroonen 2013, S. 122). Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 192 Für die Bedeutungsentwicklung ist bei der Annahme von *ph 2 k̂ -rómit: ‘festgemacht, (gut) gefügt’ > ‘passend’ > ‘gut’ > 1. (‘moralisch) gut, friedlich’, 2. (optisch) gut/ schön, anziehend, prächtig’ zu rechnen. Für *pok̂ róist hingegen von ‘aufgeräumt’ > ‘(optisch) erfreulich, passend’ > (optisch) schön’, anziehend, prächtig > ‘(innerlich) schön, angenehm, gut’ auszugehen. Da beide Wurzeln lautlich zusammenfallen, ist letztlich auch eine gegenseitige Beeinflussung der Bedeutungen nicht undenkbar. 2.1 Nachweise in den Schriftdenkmälern Über den Bedeutungsansatz von urgerm. *faǥra- und die Bedeutungsentwicklung bis hin zu ne. fair können nur die Texte Auskunft geben. Befragt man zunächst einschlägige Wörterbücher zur Wortgeschichte (Roget’s 2016), erhält man für das englische Lexem bezogen auf das Wetter die als ursprünglich angesehene Bedeutung ‘schön’. Nach derselben Quelle habe sich aus einer anderen frühen Bedeutung im späten 12. Jahrhundert ‘moralisch sauber’ („morally pure, unblemished“), Mitte des 14. Jahrhunderts die Bedeutungsvariante ‘free from bias’, also etwa ‘neutral, nicht voreingenommen‘ entwickelt. Wie sieht es aber in den altenglischen Texten und in der frühen Überlieferung der Nachbarsprachen aus? Das Gotische als frühest bezeugte germanische Sprache kann mit lediglich einem Beleg (Streitberg 2000, S. 141) hier nur bedingt Auskunft geben: (1) Lk. 14,35: nih du airþai, ni du maihstau fagr ist; ut uswairpand imma. ‘Es ist weder für das Land noch für den Dünger tauglich; man wirft es hinaus.’ Entsprechend findet sich in den Wörterbüchern ‘passend, geschickt, geeignet.’ Aus dem Kontext - es geht um unbrauchbar gewordenes Salz - ist jedoch nur ‘geeignet, tauglich, brauchbar’ eine sinnvolle Übersetzung von got. fagrs. Da weitere Belege fehlen, ist der Bedeutungsumfang von got. fagrs nicht zu bestimmen. Gut bezeugt ist das Adjektiv hingegen im Nord- und Westgermanischen. Insofern sollen im Folgenden die Belege im altenglischen Beowulf, dem altsächsischen Heliand und der altnordischen Heimskringla und der Hrafnkels saga Freysgoða betrachtet werden. Im Altenglischen Beowulf ist das Adjektiv fæger dreimal belegt: einmal als rein optisch ‘schön’: (2) Beowulf 1136b-1137a: ðā wæs winter scacen, fæger foldan bearm. ‘Der Winter war vergangen, schön [war] der Erde Schoß.’ Entlehnung und Erbe: fair und fegen 193 2-mal in Bezug auf den Sitz des Häuptlings bzw. seine Heimat, also nicht nur äußerlich schöne Orte, sondern gute - einmal mit dem weiteren Attribut ‘Friedensstätte’: (3) Beowulf 520-523a: ðonon hē gesōhte swǣsne ēðel, lēof his lēodum, lond Brondinga, freoðoburh fægere, þǣr hē folc āhte, burh ond bēagas. ‘Von dort aus suchte er die geliebte Heimat auf, der seinen Leuten lieb war, das Land der Brondinge, die schöne Stätte des Friedens, wo er sein Volk hatte, Burg und Schätze.’ Im zweiten Beleg charakterisiert fæger die Festhalle als ‘schön’, aber gleichzeitig auch ‘gut, stabil gebaut’ und im weitesten Sinne ‘sicher’. (4) Beowulf 771-773a: þā wæs wundor micel þæt se wīnsele wiðhæfde heaþodēorum, þæt hē on hrūsan ne fēol, fæger foldbold; ‘Ihr Staunen war groß, dass die Halle den Kämpfenden widerstand, dass es nicht zusammenbrach, das schöne Gebäude; ’ Im altsächsischen Heliand kommt fagar 18-mal vor: 8-mal ‘optisch schön’, davon einmal in Verbindung mit Naturerscheinungen und Wetter: (5) Heliand 2258b-2560a Sie gibod lêstun, uualdandes uuord: uueder stillodun, fagar uuarð an flôde. ‘Dem Gebot gehorsam und des Waltenden Wort stillten die Wetter sich, freundlich wurde die Flut.’ 4-mal mit Schmuck: (6) Heliand 1720b-1724a Ne sculun gi suînum teforan iuuua meregrîton macon ettho mêðmo gestriuni, hêlag halsmeni, huuand siu it an horu spurnat, suluuiad an sande: ne uuitun sûƀreas geskêð, fagaroro fratoho. ‘Vor die Schweine sollt ihr nicht eure Meerperlen werfen, oder kunstvolles Gewirk, köstliche Kleinode, denn in den Kot treten sie’s, sudeln es im Sande, wissen nicht Bescheid von Zier, von schönem Schmuck.’ Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 194 2-mal ‘optisch schön’ von Gegenständen: (7) Heliand 1507-1511b Than uuilleo ic iu eft seggean, than sân ni suerea neoman ênigan êðstaf eldibarno, ne bi himile themu hôhon, huuand that is thes hêrron stôl, ne bi erðu thar undar, huuand that is thes alouualdon fagar fôtscamel, ‘Doch selber sag' ich euch, dass niemand schwören soll irgend Eide der Erdenbewohner: Bei dem Himmel, dem hohen, nicht, er ist des Herren Stuhl, nicht bei der Erde unten, sie ist des Allwaltenden schöner Fußschemel.’ einmal ausschließlich ‘optisch schön’ von Menschen - hier Salome, Tochter der Herodias: (8) Heliand 2745-2750b grôtte sie fora themu gumskepie endi gerno bad, that siu thar fora them gastiun gaman afhôƀi fagar an flettie: ‘Er grüßte sie vor den Gästen und begehrte dringend, dass sie vor den Tischgenossen zu tanzen beginne, die Schöne am Festmahl.’ Jesus wird hinsichtlich seines Äußeren dreimal mit fagar beschrieben, wobei in diesem Fall auch von einer inneren Schönheit ausgegangen werden kann bzw. diese impliziert ist: (9) Heliand 199b-201 lîk uuas im scôni, uuas im fel fagar, fahs endi naglos, uuangun uuârun im uulitige. ‘Der Leib war ihm schön, schön die Haut, das Haar und die Nägel, die Wangen waren ihm wonnig.’ Gleiches gilt für die Beschreibung der Engel - zweimal belegt: (10) Heliand 409b-412a Reht sô he thô that uuord gisprac, sô uuarð thar engilo te them ênun unrîm cuman, hêlag heriskepi fon heƀanuuanga, fagar folc godes ‘Wie er das Wort noch sprach, so kam zu dem einen der Engel Unzahl, eine heilige Heerschar von der Himmelsau, ein fröhliches Volk Gottes.’ Wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Menschen (einmal) oder Dinge bis zum abstrakten Heil (insgesamt viermal) über eine innere Schönheit verfügen, also gut bis hin zu moralisch gut sind, wird ebenfalls fagar verwendet: Entlehnung und Erbe: fair und fegen 195 als ‘gut’: (11) Heliand 2541-2544 uuolda im thar sô uunsames uuastmes tilian, fagares fruhtes. ‘Er wollte sich wonnesam Gewächs erzielen, erfreuliche Frucht.’ ‘moralisch gut’ (12) Heliand 1646b-1648a Lêstead iuuua gôdon uuerc, samnod iu an himile hord that mêra, fagara fehoscattos: ‘Tut gute Werke, häufet im Himmel euch größeren Hort, erfreulicheren Vorrat.’ ‘moralisch gut’ bei Menschen: (13) Heliand 1390b-1393a that gi thesoro uueroldes nu forð sculun lioht uuesan liudio barnun, fagar mid firihun oƀar folc manag, uulitig endi uunsam: ‘Dass ihr in der Welt hinfort ein Licht sollt sein den Menschenkindern, als unter den Menschen Erfreuliche, über der Völker viel wonnesam strahlend.’ und in Verbindung mit Heil: (14) Heliand 1557b-1559b than môst thu eft geld niman, suuîðo lioflîc lôn, thar thu is lango bitharft, fagaroro frumono. ‘So wird dir Vergeltung, gar lieblicher Lohn, wo du lange seiner bedarfst, erfreuliches Heil’. Insbesondere die vom Adjektiv abgeleiteten Adverbien machen im Altenglischen (fægre) und Altsächsischen (fagaro) eine Bedeutungsentwicklung hin zu ‘moralisch gut, angemessen’ etc. mit. Im Beowulf trifft das auf 4 von 5 Belegen zu: (15) Beowulf 2989-2990 He ðām frætwum fēng ond him fægre gehēt lēana mid lēodum, ond gelǣste swa; ‘Er empfing die Schätze und versprach ihm in angemessener Weise Lohn bei den Leuten und hielt sich an sein Versprechen.’ im Heliand auf 3 von 5 Textstellen: (16) Heliand 551-552b thô quaddun sie ina cûsco an cuninguuîsun, fagaro an is flattie. ‘Sie grüßten ihn höflich wie es einem Herrscher gebührte in seinem Gemach nach Sitte.’ Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 196 Im Altnordischen hingegen lassen von 23 aufgefundenen Belegen 7 22 nur die folgenden Bedeutungen zu: ‘schön’ (hinsichtlich Aussehen und Wetter): (17) Heimskringla XI/ 17: Sigurðr konungr var mikill vexti ok jarpr á hár, skǫruligr, ekki fagr, vel vaxinn, snœfurligr, fámæltr, ok oftast ekki þýðr, vingóðr ok fastúðigr, ekki talaðr mjǫk, siðlátr ok veglátr. ‘König Sigurd war hoch an Wuchs und hatte rötliches Haar, er war tüchtig, nicht schön, aber wohlgewachsen, ungestümen Wesens, wenig gesprächig und oft unwirsch, aber gut gegen seine Freunde und energisch im Entschluss.’ (18) Heimskringla XI/ 28: Þat var einn fagran veðrdag (var heitt skin) fóru menn á sund margir bæði af langskipum ok af kaupskipinu. ‘Es war herrliches Wetter - die Sonne schien heiß - da schwammen viele im Meer von den Kriegsschiffen wie von dem Handelsschiff.’ ‘glänzend’ (insbesondere bei Rüstungen, Schiffen, Schmuck)’: (19) Heimskringla XI/ 32: Þar setti hann fyrir altari tabolu, er hann hafði gera látit í Griklandi; hon var gǫr af eiri ok silfri ok gylld fagrliga, sett smeltum ok gimsteinum. ‘Dort vor den Altar ließ er einen Altartisch stellen, den er in Griechenland hatte fertigen lassen; er war aus Kupfer und Silber hergestellt und prächtig vergoldet, auch war er mit Emaille- und Edelsteinen besetzt.’ ‘herrlich’ (Sieg): (20) Heimskringla XIII/ 17: Tóku þar ófamikit fé ok unnu þar fagran sigr. ‘Sie gewannen dort außerordentlich viel Beute und einen herrlichen Sieg.’ Lediglich in einem Beleg scheint eine ethische Konnotation auf: (21) Heimskringla VII/ 22: Talaði hann ok sjálfr sitt mál fyrir konungi fagrt ok snjallt, ok kom svá, at Sveinn gekk til handa Magnúsi konungi ok gerðisk hans maðr. ‘Auch wusste er seine Sache vor dem König gut und geschickt zu vertreten und es kam schließlich dazu, dass Svend in König Magnus‘ Dienste trat und sein Mann wurde.’ 7 Unberücksichtigt geblieben sind aus der Heimskringla das Vorwort, das Buch VII und die Skaldenstrophen. Entlehnung und Erbe: fair und fegen 197 In der Hrafnkels saga Freysgoða kommt fagr nur zweimal in Kapitel 17 vor - in Kombination mit dem Nomen Schild und der Bedeutung ‘glänzend, schön’: (22) Ok riðu við fagra skjǫldu. ‘Und sie ritten mit glänzenden Schilden.’ Auch im Neuisländischen, Färöischen, Norwegischen, Schwedischen und Dänischen heißt fagur ‘hübsch’ oder ‘schön’ (de Vries 1961, S. 109). Die moralische Komponente fehlt. Da sich - unter Auslassung des Gotischen - für das West- und Nordgermanische die Bedeutung ‘(optisch) schön (in allen Facetten)’ finden lässt, sich ein ‘(moralisch) gut’ jedoch nur im westgermanischen Nordseeraum, während sie im Nordgermanischen bis heute fehlt, kann ‘schön’ als die ursprünglichere Bedeutung wahrscheinlich gemacht werden. Insofern ist der Etymologie der Vorzug zu geben, die mit uridg. *pok̂ rózu uridg. *pek̂ - ‘hübsch machen, aufgeräumt oder vergnügt sein’ diesen optischen Aspekt in den Vordergrund stellt. 2.2 fair und fegen Auch die verbalen Bildungen der Wurzel uridg. *pek̂ - ‘hübsch machen, aufgeräumt oder vergnügt sein’ 8 sind im Germanischen gut bezeugt, abgeleitet von einer urgerm. Vorform *pēk̂ -i̭ é/ ó-, die auf ein indogermanisches reduplizierendes Intensivum *pē-pek̂ -i̭ é/ ózurückgeht. Es lassen sich bereits im Urgermanischen zwei Varianten mit langem Wurzelvokal nachweisen: 1. urgerm. *fēgii̭ a/ e- ‘reinigen, verehren’ > mndl. vēghen, nndl. vegen, nostfries. fȧgen ‘fegen, reinigen, kehren’, saterfries. feegje ‘fegen’, aisl. fægja ‘reinigen (des Schwertes), verehren’, nisl. fægja ‘putzen, schmücken’, nnorw. fægja, nschwed. dial. fȧgga, fȧja ‘aufräumen’ und 2. urg. *fēgōi̭e/ a- > mndl. vāgen ‘reinigen’, nndl. vagen ‘fegen, putzen’, aisl. fága, ‘reinigen, glänzend machen’, nisl. fága ‘schmücken’ (Lloyd/ Lühr 2007, S. 101). Nhd. fegen geht auf ahd. fegôn - im Niederdeutschen belegt als as. fegon ‘putzen, glätten’, mndd. vegen dass. - und damit auf urgerm. *feǥōi̭ e/ a- ‘säubern, putzen’, eine deverbale Ableitung zu urgerm. *feχe/ a- ‘aufgeräumt machen’ < uridg. *pék̂ e/ o-, welches sich zu ahd. gifehan ‘sich freuen’ 9 und ae. ge-fēon 8 Seebold (1970, S. 189) spricht von „keiner überzeugenden Vergleichsmöglichkeit“ von ‘sich freuen’ mit entweder uridg. *pāk̂ - ‘festmachen’ oder uridg. *pōk̂ - ‘reinigen’. Orel (2003, S. 92 und 102) geht bei der Sippe um ‘putzen, reinigen’ von uridg. *peh 2 ĝ- ‘fest machen, fest werden’ aus. 9 Die bei Seebold (1970, S. 189) vorgetragene These, es handle sich bei ahd. gifehan ‘sich freuen’ um eine Entlehnung aus dem angelsächsischen Raum, ist nicht verifizierbar. Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 198 dass., eigtl. ‘aufgeräumt sein’, stellt (ebd.; Rix et al. 2001, S. 467) und innerhalb des Germanischen auch ein Kausativ ‘aufgeräumt machen’ > ‘befriedigen’ besitzt: uridg. *pok̂ -éi̭ e > got. fulla-fahjan ‘befriedigen’ (Rix et al. 2001, S. 467; Kroonen 2013, S. 122). Außerhalb des Germanischen finden sich lediglich im Baltischen Verwandte, allerdings handelt es sich nicht um morphologisch exakte Entsprechungen, sondern um Bildungen mit ō als Wurzelvokal: lit. puõšti, lett. pùost ‘reinigen, säubern, fegen, aufräumen, roden; putzen, schmücken’ < vorurbalt. *pōk̂ -i̭ é/ ó- (Lloyd/ Lühr 2007, S. 102; Rix et al. 2001, S. 467 setzt ein Kausativ *pṓk̂ -i̭ e ‘erfreulich machen’ mit Umbildung und sekundärem Akzent > *pōk̂ -éi̭ e-). Für das aus dem Englischen ins Deutsche entlehnte fair - das ererbte ahd. fagar ist nur bis in mittelhochdeutsche Zeit als vager ‘schön, herrlich’ belegt und nicht ins Neuhochdeutsche gekommen - bedeutet das nun, dass es über den Umweg der Entlehnung zu nhd. fegen gehört. Die semantische Verbindung dabei ist ‘erfreulich/ vergnügt sein’, die sich beim Verb im Vorgang ‘erfreulich machen = reinigen, putzen’ und beim Adjektiv als ‘aufgeräumt, schön’ niederschlägt und im westgermanischen Nordseeraum zu ‘moralisch schön/ gut’ weiterentwickelt wird. 3. fazit Die Zeitungsumfrage 1985/ 1986 zur Einstellung der Deutschen zu Veränderungen des Deutschen ergibt, „dass zu viele Fremdwörter gebraucht würden, besonders solche aus dem Englischen“ (Stickel 2013, S. 12) und die zweite Repräsentativerhebung 2008/ 09, dass weiterhin Anglizismen als eine Erscheinung der Sprachentwicklung negativ bewertetet werden (ebd., S. 27). Laienlinguistische Sprachkritik überschätzt häufig die Gebrauchsfrequenzen der Anglizismen im deutschen Wortschatz (Neuland/ Peschel 2013, S. 204). Die Frage ist, mit welchen Intentionen und Wirkungen Anglizismen gebraucht werden, in welchen Textsorten und in welchen Funktionen in der Fach- und Gemeinsprache, wie sie sich „im Systemzusammenhang des Wortschatzes zu den sinnbenachbarten Wörtern aus heimischem Sprachmaterial [verhalten]“ (Polenz 1967). Kann man behaupten, dass fair in der Gebersprache Englisch dasselbe bedeutet wie in den Nehmersprachen Deutsch und Polnisch? Auf kulturbedingte Bedeutungsunterschiede trotz morphologisch-syntaktischer Anpassung weist schon Kurt Tucholsky (Vossische Zeitung, 21.7.1927) hin: „‘Chameau’ heißt nicht immer: Kamel; das englische ‘fair’ ist nicht das, was die Deutschen mit ‘fair’ bezeichnen; ‘Humor’ heißt nicht ‘humour’ - es geht nicht.“ Wierzbicka (2006) betrachtet den Internationalismus fair als einen der Schlüsselbegriffe des Angloenglischen, die so spezifisch für die anglophone Entlehnung und Erbe: fair und fegen 199 Kultur seien, dass sie in andere Sprachen nicht adäquat übersetzt werden könnten und führt als Beispiel für interkulturelle Kollisionen in interkulturellen bilingualen Familien aus ihrer eigenen Erfahrung Folgendes an: Ihre Töchter, die in Australien aufgewachsen und bilingual sind, pflegen zu ihr auf Polnisch zu sagen: „To nie fair! “ ‘Das ist nicht fair’. Obwohl sie wissen, dass ihre Mutter zwar bilingual, aber kulturell dominant polnisch, nicht in diesen Begriffen denkt und das Wort fair fremd und in sprachlichen Interaktionen in der Familie aggressiv und verletzend findet und somit nicht gern hat, gebrauchen sie das englische Wort in ihren polnischen Äußerungen, weil sie auch wissen, dass es im Polnischen keine Entsprechung für fair bzw. für nicht fair gibt. Als Fazit aus dem historischen Teil der Überlegungen zu fair und fegen kann synthetisch gesagt werden, dass sie beide auf dieselbe urindogermanische Verbalwurzel zurückgehen. Der historischen (direkten) Quelle nach ist fair im Deutschen Anglizismus; fegen ein einheimisches Wort, wie fair im Englischen. Aus lautlichen Gründen wie wegen einer unterschiedlichen Entwicklung ist fair keine Rückentlehnung: fair wurde nicht aus einer Stufe des Deutschen (aus dem Ahd. ins Ae.) entlehnt, sondern hat sich wie fegen aus der Wurzel uridg. *pek̑ - ‘hübsch machen, aufgeräumt oder vergnügt sein’ entwickelt. Der gemeinsame semantische Kern der uridg. Verbalwurzel ‘schön machen’, in dem die Exhaustivität als implikatiert 10 anzusetzen ist, wofür der Bedeutungsanteil von ‘glänzen’ einen Hinweis (nicht aber Nachweis) liefert, entwickelte sich im Deutschen zu ‘exhaustiv sauber machen’, also fegen, im Falle des Englischen (wie im Altsächsischen) zu ebenfalls mit dem Merkmal ‘exhaustiv’ - und darüber hinaus durch anglokulturelle Anteile angereichertem - fair, also etwa ‘moralisch äußerst anständig’. Nimmt man mit Rot (1991, S. 38; vgl. Podhajecka 2006, S. 126) die Differenzierung der Entlehnungsquellen an, so wurde fair im Polnischen aus der historischen direkten Quelle entlehnt, während für fair im Deutschen die genetische und die direkte historische Quelle gelten. Die Formen fair und fegen gehen zwar auf eine gemeinsame Wurzel zurück, repräsentieren jedoch andere morphologische Kategorien und sind gegeneinander nicht austauschbar, sie stehen nebeneinander als Lehnwort und Erbe. 10 Dies muss für nhd. fegen wie auch das ne. Adjektiv fair angenommen werden - im Gegensatz zu den germanischen ‘putzen’-Verben, die morphologisch auf eine Intensivbildung zurückgehen. Zofia Berdychowska / Sabine Häusler 200 4. literatur Baetke, Walter (Hg.) (1952): Hrafnkels saga Freysgoða. Halle a.d.S. Behagel, Otto (Hg.) (1996): Heliand und Genesis. 10. überarb. Aufl. Tübingen. Dávid, Ágnes (2002): Englische Elemente in der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache. Soziolinguistische Ergebnisse einer korpusbasierten Analyse. 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Der weg Vom BIlD Des Deutschen zum Deutschen lehnwortgut Im lexIkon Des rumänIschen unD zurück 1 Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist die Betrachtung der lexikalischen Begegnung des Rumänischen und des Deutschen vor dem Hintergrund des Bildes des deutschen Siedlers im rumänischen Paradigma. Ausgangspunkt der Überlegungen sind zum einen den Allgemeinplatz bildende Fragen zu Sprechern, Kontakt-Konstellationen, zu Auswirkungen ihres Sprach- und Kulturkontaktes, denn Wörter werden erstmal von einzelnen Sprechern übernommen, nicht von der Sprache selbst (u.a. Winter-Froemel 2011, S. 4). Deutsche Lehnelemente in der rumänischen Sprache sind paradoxerweise Nah- und Fernentlehnungen 2 zugleich: sie beruhen auf direktem Kontakt, wurden durch das besondere Ansiedlungsbild und über den durch die deutschen Siedlergruppen geförderten Kontakt mit Reisenden und Handwerkern, durch Handelsbeziehungen etc. begünstigt. Aufgrund der Tatsache, dass die Ausbreitung der sprachlichen Innovation erst nach wiederholten Verwendungen in verschiedenen kommunikativen Situationen geschieht, wird der Entlehnungsprozess am Beispiel des besonderen Kontaktes in diesem Sprach- und Kulturraum in Verbindung mit dem Entstehungsprozess ethnischer Stereotype (als kulturelle Stereotype), in ihrer kognitiven Ausrichtung betrachtet. Wiederholte individuelle Begegnungen und Wahrnehmungen sammeln sich über Selektion, Reduktion, Koordination etc. zu sozial geteilten Überzeugungen über eine Gruppe. Seinerseits wird das Fremdbild durch wiederholte Begegnungen auf sprachlicher Ebene und Übernahme modelliert. 1 Ausgehend von Herta Müllers Essay-Überschrift im Prosaband Der König verneigt sich und tötet, lehnen zu Ehren Gerhard Stickels die Arbeitsziele des vorliegenden Aufsatzes sich an Themenbereiche an, die ihm als langjährigem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache und als Präsident der EFNIL so nahe liegen: an die Frage nach dem Stand des Deutschen in der Welt, des Deutschen im Kontext anderer Sprachen in Deutschland, zum Sprachgebrauch und zur Sprachpflege des Deutschen, zur nationalen und europäischen Sprachpolitik etc. Außerdem wird hier an das Thema der im Herbst 2016 in Warschau organisierten EFNIL-Tagung zu Stereotypes and linguistic prejudices in Europe angeknüpft. 2 Vgl. Scherner (1974, S. 278). Ruxandra Cosma 204 Sprachlich wird Fremdheitserfahrung mehrfach ausgewertet. Über kommunikative Ereignisse, individuelle Erfahrung, Wissensbestände öffnen sich Lebensbereiche, in denen über den Sprachkontakt herbeigeführte Innovationen möglich sind. Zum weiteren Ausgangspunkt wird daher die Überlegung genommen, dass Fremdbilder im wesentlichen Anteil zur begrifflichen Auffächerung des über kommunikative Prozesse entstehenden Lehngutes beitragen. In jede Kommunikationssituation gehen Annahmen über das Gegenüber und über die Gesellschaft mit ein. In Folge der Begegnungen gibt es in diesem Raum einen engen Ausschnitt des Lehnwortgutes, sowie einen Teil des phraseologischen Bestandes des Rumänischen, die Grundeinstellungen bleibend oder zeitweilig verbalisieren. Außerdem prägt auch die Art, in der der deutsche Siedler sein Umfeld, Kontaktsituationen beobachtet und versprachlicht, die aufnehmende Sprache. Jede der Perspektiven ist auf den Anderen bezogen; sie treffen sich im unterschiedlichen Maße jeweils im eigenen Lexikon, können infolge besonderer Kontaktsituationen innerhalb ein und desselben Lexikons auch komplementär sein. Grundlage für die vorliegende Untersuchung des deutschen Lehngutes bietet ein Teil des dexonline, eines Wörterbuchportals der rumänischen Sprache, das 59 Wörterbücher des Rumänischen zusammenbringt und auf dem DEX, 3 dem einschließlich Herkunftsangaben und Regionalismen bietenden, erklärenden Wörterbuch der rumänischen Sprache fußt. Für die Untersuchung wurden aus dexonline vier Varianten des DEX (1988, 1996, 2009, 2016) berücksichtigt und miteinander synchronisiert. Im Unterschied zum 19-bändigen Thesaurus (DLR, Dicționarul Limbii Române, 4 in der elektronischen Variante eDTLR), in dem 2.634 deutsche Lehnwörter und 34 Lehnwörter aus dem Siebenbürgisch- Sächsischen im Rumänischen vermerkt sind (z.B. Mărănduc 2013), nennt das DEX im dexonline 2.135 Wörter deutscher Herkunft. Älteren Einschätzungen (Sala 2001) zufolge macht das deutsche Lehnwortgut im Wortmaterial des Rumänischen 2,47% aus. Deutsche Eingänge in die rumänische Standardsprache und in regionale Varianten des Rumänischen sind u.a. von Arvinte (1971), Crößman-Osterloh (1985), Ioniță/ Gehl (1993), Purdela Sitaru/ Vasiluță (2002), Cujbă (1999), Marcu (2008), Crudu/ Marici (2013) etc. untersucht worden. Der Einfluss des Rumänischen auf Varietäten des Deutschen in deutschsprachigen Siedlungsräumen wird in den meisten Fällen im Rahmen lexikografischer Arbeiten, oder von Aufsätzen zur lexikografischen Arbeit registriert. So erfasst das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch (Haldenwang 2012) u.a. auch den Einfluss des Rumänischen auf die über 24 örtlichen Mundarten. Darüber hinaus wurde 3 DEX = Dicționarul explicativ al limbii române; https: / / dexonline.ro. 4 Dicționarul Limbii Române oder Dicționarul Tezaur al Limbii române (2010). București: Academia Română. In jeder Sprache sitzen andere Augen 205 das Deutsche in Nord-Siebenbürgen aufgezeichnet (u.a. Richter 1983, 1996), der Audio-Atlas Siebenbürgisch Sächsischer Dialekte 5 erstellt, ebenso wurden Banater deutsche Mundarten dokumentiert (Kottler et al. 2013). Während in Dokumenten der Zeit Meinungen und Haltungen historisch und politisch kontextuell betrachtet werden, bieten Lehnwörter sowie die Bereiche, aus denen sie stammen und in die sie eingehen, einen Einblick in eine konstante und stabile Haltung. Der Anteil der Lehnbeziehungen und Lehnelemente im Lexikon gibt Auskunft über Offenheit und Aufnahmefähigkeit der aufnehmenden Sprache, aber auch über Bereiche, in denen der Einfluss möglich, sogar genehm gewesen ist, daher über das Prestige, das die entlehnten Begriffe in einer Kultur und die Sprache selbst genießen. Heterostereotype sind auch Hinweise auf Zustände und Haltungen, das Fremdbild ist Resultat und zugleich Antrieb der Begegnung von Kulturen. 6 Der Bezug vom Bild einer ethnischen Gruppe in Mentalitätsmustern eines Volkes zu der Struktur des aus ihrer Sprache entlehnten Wortgutes kann leicht hergestellt werden, versteht man das Lexikon und den Sprachgebrauch in ihrer kulturwissenschaftlichen Dimension (u.a. Kämper 2007, S. 425). Der Weg von der Erstellung von Wörterbüchern zur Kultur sei daher nicht weit, dies nicht nur im Sinne der Nennung von Gebrauchsbedingungen für Lexeme oder im Sinne des Eingangs der Erinnerung unseres kommunikativen Gedächtnisses in die Wortschätze, wie Eichinger (2008, S. 5) erklärt. Ähnlich ist aus dem Bestand rumänischer Redensarten, die das Herkunftswort deutsch gebrauchen, eine aus dem Kontakt der Kulturen entstandene Grundeinstellung herauszulesen (u.a. bei Dumistrăcel 1999; Zaharia 2005). Der Zusammenhang mit Klischeevorstellungen und der Mentalitätsentwicklung ist in idiomatischen Wendungen (des Rumänischen) transparenter. 1. geteilter raum, geschlossener raum Die Begegnung des Rumänischen und des Deutschen erstreckt sich über neun Jahrhunderte, räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich in den verschiedenen Siedlungsgebieten. Deutsche Siedler, die in diese Gebiete reisten, doch so verschieden in ihrer Herkunft, sprachen Alemannisch, Rheinpfälzisch, Rheinfränkisch, Schwäbisch, Bayrisch-Österreichisch etc. (Crößmann- Osterloh 1985, S. 48). In Siebenbürgen siedelten sie sich ab dem 12. Jahrhundert an, in den eng beieinander gelegenen Gebieten der Sathmarer Gegend, der Maramuresch (der Oberwischauer-Gegend) in verschiedenen Ansiedlungswellen ab Ende des 11. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert, im Banat 5 www.asd.gwi.uni-muenchen.de. 6 In diesem Sinne sei aus Lipmanns Public Opinion (1922, Kap. 6) zitiert: „We are told about the world before we see it. We imagine most things before we experience them.“ Ruxandra Cosma 206 und im Banater Bergland Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Bukowina Ende des 18. Jahrhunderts. In jeder dieser Gegenden ist ein komplexer Kontakt- und Integrationsraum zu vermerken - in Siebenbürgen, wo deutsche Siedlergruppen mit Rumänen, Ungarn, Szeklern, Csángós, Motzen, Roma, Armeniern, Landlern, Juden, slawischen Ruthenen, Slowaken, Zipsern zusammenlebten, oder im Banat, „ehemals die multikulturelle Kornkammer der […] Habsburger Monarchie“ und „Heimat eines hervorragenden Weizens“, 7 in dem sich Donauschwaben fränkischer Mischmundart (Bradean-Ebinger 2005, S. 31) mit Rumänen, Serben, Ungarn, Juden, Roma, Tschechen, Slowaken, Spaniern, Franzosen und Italienern, Bulgaren, Kroaten aufeinander einstellten. Im Nordwesten Rumäniens ließen sich die Sathmarer Schwaben nieder, wiederholterweise waren diese im Zuge der Zeit Madjarisierungsbestrebungen ausgesetzt. In der weiter östlich gelegenen Maramuresch trafen Siedler aus Oberösterreich und aus der Zips mit Rumänen, Slowaken, Ungarn, Polen, Juden und Ruthenen zusammen. Für kurze Zeit wurden auch Siedlungen in der Dobrudscha, die 1840 von den aus Bessarabien zugewanderten Schwaben ausgingen, angelegt (siehe Crößman- Osterloh 1985). Aus der Sicht der siebenbürgisch-sächsischen Gruppen galt das Zusammenleben u.a. mit den in diesem Raum seit langer Zeit die Bevölkerungsmehrheit bildenden Rumänen in vielerlei Hinsicht eher als Nebeneinander. Klein (1998, S. 4) spricht von „versöhnter Verschiedenheit“, die über Akzeptanz und Toleranz das Andere legitimierte, jedoch die eigene Identität schützte und keine Vereinheitlichung verfolgte. In anderen Siedlungsräumen und zu anderen historischen Zeitpunkten lebte und erlebte man es anders. Auch waren z.B. Mischehen im Banat oder in der Sathmarer Gegend verbreiteter als in Siebenbürgen. 8 Das Miteinander mit Rumänen war in Siebenbürgen u.a. im Schulwesen möglich (König 1996): seit Mitte des 19. Jahrhunderts öffneten sich deutsche Schulen in Siebenbürgen auch Schülern nicht-deutscher Muttersprache. Das deutschsprachige Schulwesen hatte aber in der Geschichte in unterschiedlichen Siedlungsräumen unterschiedliche Prämissen, wurde nicht einheitlich gefördert. Die Beherrschung und Verwendung der deutschen Sprache ermöglichte einen regen Wissenstransfer in deutschen Siedlungsgebieten. Dies betraf „nicht nur Technologien und Techniken für die Herstel- 7 „Jede Volksgruppe hatte eigene Schulen, Gottesdienst in der eigenen Religion und Sprache sowie die Möglichkeit zur Pflege der eigenen Kultur. Jeder Volksgruppe war eine bestimmte Rolle zugedacht. […] Die Deutschen sollten ihren Nachbarn als Vorbild dienen, nach ‘deutscher Art’ Acker- und Weinbau zu betreiben und sich bessere Wohnhäuser zu bauen.“ (www.banaterra.eu/ german/ content/ das-banat-und-die-banater-schwaben-geschichte-undaktuelles). 8 www.nzz.ch/ international/ europa/ von-privilegierten-siedlern-zur-geschuetzten-minderheit- 1.18455941. In jeder Sprache sitzen andere Augen 207 lung von Gebrauchsgütern, sondern im gleichen Maße [auch die] für Bergbau und Landwirtschaft“, denn gleichermaßen wurden Steinsalz, Silber, Gold in den Westen ausgeführt (Niedermaier 2008, S. 2ff.). Deutsche Ansiedler betrieben Ackerbau, Viehzucht, bauten Kartoffeln an, waren Winzer, Bergleute, Handwerker, Kaufleute, gründeten Textil- und Ledermanufakturen, waren im Bauwesen tätig, waren Schulmeister, Musiker. Ab dem 19. Jahrhundert kamen auch Ärzte, Apotheker, Juristen, Ingenieure, Bankleute, Fabrikarbeiter in die Siedlungsgebiete. Die hier notwendigerweise beschränkte Zusammenfassung des Ansiedlungsprozesses deutschsprachiger Gruppen in Transsilvanien und in anderen Gebieten Rumäniens zeichnet ein Bild des Umfangs, der Verschiedenheit des Kontaktes und der sprachlichen Lage (vgl. Schubert 1980; Heitmann 1985; Mitu/ Gogâltan (Hg.) 1996; Gündisch/ Höpken/ Markel (Hg.) 1998; Dumistrăcel 1999; Förster/ Fassel (Hg.) 1999; Mitu 2000; Zach 2005; Girtler (Hg.) 2007; Engel 2013 etc.). Durch massive Auswanderung deutscher Siedler in den letzten Jahrzehnten klingt eine jahrhundertelang bestehende Kultur langsam aus. Jedoch werden die durch den Kontakt entstandenen mentalen Bilder, wie aktuelle Datenerhebungen zeigen, noch immer bestätigt. 9 2. Deutsch in rumänien 2.1 Im Selbstverstehen und im Fremdverstehen Die subjektive Interpretation der Fakten des Alltags und der Wirklichkeit macht Gebrauch von Techniken, die zur Vereinfachung komplexer Ereignisse verhelfen; durch mentale Schemata, kognitive Filter, soziokulturelle Erfahrungen wird diese Aufarbeitung erleichtert (vgl. Lippman 1922, S. 119). Stereotype sind verhaltensdeterminierend, sie beschreiben eine übergreifende Haltung gegenüber erkannten Eigenschaften einer Gruppe, beschreiben gleichzeitig soziale Erwartungen. In der Literatur häufig als unbeweglich und widerstandsfähig gegen Neuerungen und Veränderungen definiert, sind sie aber auch manchmal wechselhaft und insignifikant (Lehtonen 2005). Das Bild des Deutschen differenziert in rumänischer Wahrnehmung weniger nach den unterschiedlichen Siedlungsgruppen 10 (vgl. Dumistrăcel 1999; Zaharia 2005), das Ethnonym weist verschiedene Ausführungen auf: rum. german, neamț beziehen sich übergreifend auf den Deutschen, sas, șvab (‘der  9 Der Spiegel (in 31/ 2015) titelte neulich: Der Deutsche: sparsam, korrekt und effizient. So dachten die Rumänen und wählten Klaus Johannis zum Präsidenten. Kann er die Hoffnungen erfüllen? (25.7.2015, www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-137324597.html). 10 Selbst die Identifikationsmuster innerhalb der deutschsprachigen Siedlungen machen in der Zeit einen langen Prozess durch, vgl. u.a. Gündisch/ Höpken/ Markel (1998), Roth (1998). Ruxandra Cosma 208 Sachse’, ‘der Schwabe’) bezeichnen Siedlungsgruppen in Siebenbürgen und im Banat. Zwar gibt es Lexikalisierungen kommunikativer Konzepte wie lucru săsesc ‘sächsische Arbeit’, im Sinne von „Qualitätsarbeit als Gegenteil von dem, was die Sachsen unter rumänischer Arbeit verstehen“ (Bottesch 1998, S. 209), eine gruppendifferenzierende Ausdrucksweise ist jedoch eher selten. Aus der Beobachtung des deutschsprachigen Nachbarn in den verschiedenen Gegenden herausgewachsen, schreibt die allgemeine Vorstellung des Deutschen bei den Rumänen über die Jahrhunderte deutschsprachigen Gruppen und ihren Mitgliedern Eigenschaften zu, die den Dialog zwischen Kulturen fördern, keinesfalls hemmen. Es werden deutsche Eigenschaften genannt, wie in den binären Wortverbindungen mit nominaler Basis und Herkunftskollokator lucru nemțesc ‘deutsche Arbeit’, 11 marfă nemțească ‘deutsche Ware’, mașină germană ‘deutscher Wagen’, straie nemțești ‘westliche, städtische Gewänder’, neuerdings auch tuning nemțesc ‘deutsche Systemoptimierung’ etc. Durch den Kontakt entstanden in den Siedlungsräumen auch kritische Momente, die Beobachtungen mit zeitlicher Wirkungskraft hervorbrachten, sich aber nicht durchgehend durchsetzen konnten. Einige wenige sprachliche Ausdrücke, die als kritisch oder ironisch betrachtet werden können, werden u.a. in einer Phraseologismen-Untersuchung bei Zaharia (2005) aufgelistet, 12 viele sind aber mit der Zeit verblasst, sogar verschwunden. Das Selbstbild der Siebenbürger Sachsen wird u.a. von Roth (1998) dokumentiert. Die Siebenbürger Sachsen sahen sich als „Verteidiger des Abendlandes“, als „Kulturbringer in der unwirtlichen und kulturlosen Einöde des Ostens“, blieben mit dem binnendeutschen Raum stark verbunden. Diese selbst erkannten Aufgaben minimierten, wie Roth (ebd.) erklärt, Gemeinsamkeiten mit den sie umgebenden Ethnien, führten zu einem Bild einer „sich selbst isolierenden und abweisenden Gruppe“, zu einem den Maßstab setzenden Selbstbild, daher zur Abgrenzung. Aus diesem Grund sei dieses Bild Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts durch „ein Bemühen um ein harmonisches Mit- oder Nebeneinander mit den verschiedenen Völkern als ein angeborener Wesenszug“ ergänzt worden. Im Banat wurden Fleiß, Ausdauer, Nervenstärke, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, christlicher Glaube, Festhalten an der eigenen Sprache und Kultur (Bradean- Ebinger 2005, S. 32) zudem beschrieben. 11 Bottesch (1998, S. 209). 12 In Anlehnung an das Bild spät heiratender deutscher Siedler konnte beispielsweise die im Banat verbreitete Wortverbindung june nemțesc ‘deutscher Jüngling , Junggeselle’ angetroffen werden. Diese Eigenschaft wurde auf rumänische Männer, die nicht heiraten wollten, übertragen. Die Wortverbindung wird u.a. von Dumistrăcel (1999) in Anlehnung an Pop (1938) diskutiert. In jeder Sprache sitzen andere Augen 209 2.2 Sozialpsychologische und linguistische Untersuchungen im Mitbewerb Eigenschaften, die das Bild des Deutschen in Rumänien aktuell ausführen, werden hier aus neueren, auf Feldforschung und Umfragen basierenden Studien zitiert (Hunyady 1998 [2003]; Dâncu et al. 2014; David 2015 etc.). Die rumänische Sicht von Deutschen als organisiert (David 2015, S. 285), arbeitsam, aufrichtig, intelligent (Hunyady 2003; David 2015) ist gegenwärtig weniger differenziert als früher, als der direkte Kontakt zu deutschen Siedlungsgruppen strukturierende Wirkung hatte. Dies widerspricht jedoch nicht dem im Zuge der Zeit geprägten Bild, das Inzentiv und der Kontakt haben sich in Zahl und Art geändert. Im Auftrag der Konrad Adenauer-Stiftung fand 2015 eine Umfrage zur aktuellen Wahrnehmung der Deutschen in Rumänien 13 statt. In einer Wertungsreihe werden Korrektheit, Entwicklung und Seriosität als vorrangig verstanden, dann Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Nettigkeit, die gute Ausbildung, der Fleiß, Genauigkeit, Intelligenz, Pünktlichkeit und Professionalität wertgeschätzt. Durch neue Technologien sind Informationsquellen zum Deutschlandbild und zu Deutschen zugänglicher geworden: von den Befragten werden das Fernsehen (64%), das Internet (37%) und erst an dritter Stelle Freunde und Nachbarn (29%) in der Erhebung genannt. Nicht zuletzt wechselt der Blickwinkel auch zu der immer häufigeren Sicht rumänischer Aussiedler im Kontakt mit Binnendeutschen. Linguistische Untersuchungen am Sprichwortund/ oder am Phraseologismenkorpus (u.a. Stanciu 1982; Dumistrăcel 1999; Zaharia 2005) differenzieren feinkörnig. Nach verhaltens- und sittenbeschreibenden Eigenschaften deutschsprachiger Siedler listet Zaharia (2005) Wendungen des Rumänischen mit deutschem Ethnonym auf. Den Schlüsselbegriffen im Inventar der Wortverbindungen entsprechend, seien aus der Sicht der Rumänen deutsche Siedler aufrichtig, ordentlich, gehorsam, beharrlich, stolz, intelligent, einfallsreich, geschickt, arbeitsam, ausgeglichen (neamțul și pe dracul l-a învățat ca să meargă încălțat ‘der Deutsche hat selbst dem Teufel beigebracht, mit Schuhen zu laufen’, a sta/ merge drept ca neamțul ‘gerade stehen/ gehen wie ein Deutscher’, a tăcea ca neamțul ‘wie ein Deutscher schweigen’ etc.). Der Deutsche sei aber auch genügsam, selbstherrlich, rechne mit seinen Gegnern ab etc. (neamțu-i de altă lege și cu noi nu se-nțelege ‘der Deutsche ist anders versteht sich daher nicht mit uns’, neamțul se crede cel mai mare și cere la toți ascultare ‘der Deutsche meint, er sei der stärkste, verlangt von allen Gehorsam’ etc.). Kulturparameter wie Wohnen, Kleidung, Essen, sozialer Status galten häufig als Vergleichsbasis: neamțul nu stă în bordei, ci-și face casă cu temei ‘der Deutsche wohnt nicht in einer Hütte, sondern in einem festen Haus’, neamțul de poftește odată, românul de zece ori ‘lädt der Deutsche einmal ein, so lädt der Rumäne zehnmal ein’. 13 www.kas.de/ wf/ doc/ kas_40555-544-1-30.pdf? 150226194156. Ruxandra Cosma 210 3. zur struktur des deutschen lehnwortgutes im rumänischen Der Einfluss der deutschen Sprache auf den rumänischen Wortschatz belegt einen im Vergleich zu früheren Untersuchungen höheren Stellenwert, unmittelbar auf den Einfluss des Lateinischen und des Französischen folgend, berücksichtigt man die im Thesaurus (in der elektronischen Variante eDTLR) durchgeführte Zählung. Die hier registrierten Entlehnungen aus dem Deutschen 14 stellen etwa 1/ 5 der französischen Lehnwörter im Rumänischen dar (Mărănduc 2013, S. 530). Deutsche Lehnwörter sind überwiegend über direkten Kontakt und über die gesprochene Sprache ins Rumänische eingedrungen; zum Anteil deutscher Lehnelemente in literarischen Texten sei u.a. auf Cujba (1999) und Căpățână (2005) verwiesen. Crößmann-Osterloh (1985) zählt 1.440 aus dem Deutschen stammende Wörter. Davon sind die meisten Substantive (6/ 7), die Begriffe aus der Sachkultur, aus dem Handel, Nahrungs- und Genussmittel, technischem Fachvokabular beschreiben. Nach der von Crudu/ Marici (2013) in einem Neologismenkorpus durchgeführten Untersuchung sind 91,6% der aus dem Deutschen entlehnten Wörter Substantive (überwiegend Konkreta), 5,9% Verben und 2,5% Adjektive. Von den 2.135 im dexonline (spezifischerweise im DEX) in der vorliegenden Untersuchung gelisteten Entlehnungen werden in absteigender Rangfolge 15 folgende Bereiche registriert: Technik 19%, Wissenschaft 17%, Alltägliches 9%, Administratives 7%, Eigenschaften, Grundeinstellungen 6%, Berufsbezeichnungen 5%, Kleidung und Stoffe 4%, Medizin 4%, Handel, Buchhaltung, Bankwesen 4%, Musik 3%, Lebensmittel 3%, Bergbau, Geologie 3%, Druck, Buchdruck 3%, Natur und Naturphänomene 2%, Glaubensrichtungen, Völkerkunde 2%, Militärwesen 2%, Bauwesen, Architektur 2%, Sonstiges 2%, Landwirtschaft 1%, Sprache 1%. Die Klassifizierung identifiziert deutschen Einfluss überwiegend in der berufsbezogenen Kommunikation und in den Bereichen, in denen der Austausch Bildungs-, Entwicklungs- und Modernisierungsergebnisse hatte. Der technische und wissenschaftliche Bereich ist am aufgeschlossensten, und in diesem Zusammenhang wird die Annahme von Höpken (1998, S. 22f.), wonach Modernisierungserfolge mit Abbau stereotyper Fremdwahrnehmung zusammenhängen können, in diesem Raum bestätigt. 14 Die elektronische Variante des DTLR ist bislang nicht frei verfügbar. 15 Markus Fischer sei an dieser Stelle für weiterführende Kommentare herzlich gedankt. Mein bester Dank geht an Cătălin Mititelu für den Zugang zu den Daten in den vier Varianten von dexonline, sowie an Rosana Jica für die Unterstützung in der Datenverarbeitung. In jeder Sprache sitzen andere Augen 211 In ihrem kommunikativen Aspekt 16 dürften einige entlehnte Eigenschaftsbegriffe (Eichinger 2007), zustandsbeschreibende und -bewertende Adkopula, einige adverbial verwendete Adjektive, ferner einige Nomina als Indikatoren für dahinter liegende Grundeinstellungen relevant sein. Von den im DEX gezählten 258 Adjektiven wurden 74 der Gruppe Eigenschaften, innere Haltungen zugeordnet, die restlichen verteilen sich auf die Bereiche Wissenschaft, Medizin, Verwaltung, Alltägliches. Lehnelemente wie fain (fein, ‘schön’), chit (quitt), țais (‘genau’), acurat, crup (Krupp), musai (es muss sein), șlus (Schluss), rezolut (resolut), șmecher (Schmecker ‘schlau’) etc. kommen mit einigen wenigen Ausnahmen (z.B. beat crup ‘sturzbetrunken’, in Anlehnung an rum. beat tun ‘sehr betrunken’) noch häufig vor. 17 In vielen Fällen handelt es sich um Eigenschaften oder Verhalten, die im Kontakt mit deutschen Siedlern beobachtet wurden; die Eigenart und Ausdrucksart vom deutschen Siedler werden oft getreu übernommen, einschließlich auf syntaktischer Ebene, in der Distribution: merge țais ‘funktioniert sehr genau’, (e) șlus (es ist Schluss) verhaltensbeobachtend a face blau (blau machen) etc. aussagekräftig sind in diesem Kontext die modalisierte Aussage e musai de V SUPINUM / să V SUBJUNKTIV / V INFINITIV ‘es muss sein, dass’, 18 oder die Adkopula chit (quitt) in suntem chit (wir sind quitt). In dem ausführlicheren DEX-Bestand ist auch die fremde Perspektive, der Deutschen, erkennbar, wie in den einstufenden Adjektiven bombastic, grob, grobian, masiv, rabiat, simpatetic etc.. Aus der Sicht der Sachsen (Bottesch 1998, S. 208) galt der Rumäne als nicht wirtschaftlich, unpünktlich, unzuverlässig, intelligent, bauernschlau. Ferner wurden Substantive wie mișmaș (Mischmasch), sperț (Sperrzeug, ‘Schmiergeld’), șpil (Spiel ‘Arrangement’) etc. dieser funktionalen Kategorie zugeordnet. In diesem Sinne sei sperț (Sperrzeug, ‘Schmiergeld’) aus deutscher Sicht eine ironische Bezeichnung eines im sozialen Umfeld zu verschiedenen Zeiten verbreiteten Phänomens. Diese wechselseitigen Belege stützten die Beobachtung (u.a. von Höpken 1998, S. 27), dass in Kulturräumen Südosteuropas zur Abgrenzung Merkmale meist spiegelbildlich zugewiesen werden, von einer der Seiten aus auch als „Substitute für eigene Identitätswünsche“. 16 Die Vorstellungsmöglichkeiten des Substantivs begrenzende Funktion des attributiven Adjektivs wird von Trost (2006, S. 5) beschrieben. 17 Die Bildungsmechanismen von beat crup und țais lehnen sich an die zur Zeit ihrer Aufnahme technisch hochwertigen Marken-Produkte an (Krupp als Kanonenhersteller, Zeiss als Inbegriff der Exaktheit). 18 Hier einige Internet-Belege für die Strukturen e musai V sup - Ce e musai de vizitat în Salonic? (‘was muss man in Saloniki gesehen haben? ’), e musai V subj - vineri e musai să te distrezi (‘am Freitag muss man Spaß haben’), e musai V inf - e musai a respecta legea (‘das Gesetz muss respektiert werden’). Ruxandra Cosma 212 Dahingehend widerspiegeln Entlehnungen in vielerlei Hinsicht das Bild eines sozio-kulturellen Wandels, das Denken der Zeit. In Herta Müllers Abhandlung wechselt die Perspektive: in einem Banater Dorf trifft das Deutsche auf das Rumänische. Und es ist diesmal die deutsche Sprache, die Bilder aus dem Rumänischen mitnimmt: (1) In der Dorfsprache - so schien es mir als Kind - lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. […]. Der Kopf war da, um die Augen und Ohren zu tragen, die man beim Arbeiten brauchte. Die Redewendung: „Der hat seinen Kopf auf den Schultern, damit es ihm nicht in den Hals regnet“, 19 dieser Spruch konnte auf den Alltag aller angewendet werden. (Herta Müller 2003, In jeder Sprache sitzen andere Wörter) 4. literatur Arvinte, Vasile (1971): Die deutschen Entlehnungen in den rumänischen Mundarten. Berlin. 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LI, S. 449-455. xuEFu Dou neologIsmen, archaIsmen - Deutsche sprache Im wanDel 1. Vorbemerkung Vor 30 Jahren war ich als Humboldt-Stipendiat am Institut für Deutsche Sprache (IDS), um Neologismen zu erforschen. Das Institut befand sich in der Nähe des Wasserturms, einem Wahrzeichen der Stadt Mannheim. Prof. Dr. Gerhard Stickel war Institutsdirektor. Obwohl er vor gewaltigen Führungsaufgaben stand, betreute er doch mein Forschungsprojekt. Er korrigierte Wort für Wort das Manuskript meines Vortrags mit dem Titel „Neologismen im heutigen Deutsch“ (Dou 1987), den ich an den Universitäten Hamburg, Düsseldorf, Duisburg und Nürnberg-Erlangen hielt. Unter seiner Anleitung entstand meine Arbeit mit dem Thema „Neologismus und Neologismenwörterbuch“ (Dou 1989), dessen Resümee ich auf dem Heidelberger Lexikographischen Kolloquium vorgetragen habe. Auf Grund der von mir gesammelten neuen Wörter und Ausdrücke ließ er eine rückläufige Neologismensammlung erstellen, auf deren Grundlage ein deutsch-chinesisches Neologismenwörterbuch (Dou 2004) erarbeitet wurde. Es erschien im Jahr 2004 mit etwa 12.000 Stichwörtern. Die erfreulichen Ergebnisse meiner Neologismenforschung im IDS sind somit letztlich Herrn Prof. Dr. Stickel zu verdanken. Vor 30 Jahren gab es in Westdeutschland nur ganz wenige Lexikologen und Lexikografen, die sich mit Neologismen befassten. Infolgedessen hatte man damals kein richtiges Neologismenwörterbuch, was bei mir Unverständnis hervorrief: Zur Zeit gibt es in Deutschland Wörterbücher verschiedener Arten, die fast alle Lebensbereiche und Fachgebiete erfassen. Was die sprachlichen Wörterbücher betrifft, hat man neben den Duden-Reihen Archaismen-, Regionalismensogar noch Schimpfwörterbücher, aber kein Neologismenwörterbuch. Man kann schwerlich sagen, dass ein Neologismenwörterbuch weniger Bedeutung für die menschliche Kommunikation als ein Schimpfwörterbuch hat. (Dou 1989, S. 46) Heute sieht es ganz anders aus. Allein am Institut für Deutsche Sprache sind zwei Neologismenwörterbücher in Printausgabe entstanden, nämlich „Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen“ und „Neuer Wortschatz. Neologismen im Deutschen 2001-2010“. Hinzu kommt OWID, auf dem ihre Online-Version und jüngste Neologismen den Benutzern zur Verfügung stehen. Parallel dazu gibt es zahlreiche Aufsätze bzw. Beiträge über Neologie (Neologismenlexikologie) und Neographie (Neologismenlexikogra- Xuefu Dou 218 phie). Dadurch hat sich die Landschaft der Neologismenwörterbücher und der Neologismenforschung in Deutschland von Grund auf verändert. Das ist der mühevollen Arbeit von Sprachwissenschaftlern zu verdanken, insbesondere der Institutsleitung, Herrn Prof. Dr. Gerhard Stickel und seinem Nachfolger, Herrn Prof. Dr. Ludwig M. Eichinger (2004), die die Neologismenforschung zur langfristigen Aufgabe und das Neologismenwörterbuch zum Schwerpunktprojekt gemacht haben. 2. wortschatzwandel als zeugnis des sprachwandels Wie allbekannt, besteht eine Sprache aus drei Teilen, nämlich Phonetik, Grammatik und Lexik. Die Phonetik und Grammatik erweisen sich als verhältnismäßig stabil, während die Lexik ein offenes System aufweist. Unter dem offenen System ist zu verstehen, dass es ein ständiges Kommen und Gehen von Wörtern gibt, was man als Wortschatzwandel bezeichnet. Der ist Zeugnis des Sprachwandels. Hierfür sei zitiert: „Die natürlichen Sprachen unterliegen bekanntlich einer ständigen Wandlung. Dies gilt in erster Linie für den Bereich des Wortschatzes, in dem in relativ kurzer Zeit ganze Teile neu entstehen und wieder andere verschwinden.“ (Schmidt 1982, S. 193). Der Wortschatzwandel ist hauptsächlich durch den Wortschatzzuwachs gekennzeichnet, der diachronisch zu beobachten ist. Der „Abrogans“ gilt als das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache. Das Glossar enthält ungefähr 3.670 althochdeutsche Wörter (vgl. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Abrogans). Dieses Buch entstand um die Mitte des 8. Jahrhunderts. Ungefähr 1.000 Jahre später, genau gesagt im Jahr 1880, erschien unter dem Titel „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ (Duden 1880) der erste Duden mit etwa 27.000 Stichwörtern. 100 Jahre später, d.h. im Jahr 1980, erlebte der (Mannheimer) Duden zur deutschen Rechtschreibung seine 18. Auflage. Im Wörterbuchverzeichnis dieser 100-jährigen Jubiläumsausgabe sind schätzungsweise 110.000 Stichwörter registriert. Das bedeutet, dass die Stichwörterzahl innerhalb von 100 Jahren fast vervierfacht worden war. In seiner 26. Auflage 2013 beläuft sie sich sogar auf 140.000. Diese Zahlen können am besten Zeugnis über den deutschen Wortschatzzuwachs ablegen. 3. neologismen und archaismen als zeugen des wortschatzwandels Sprache dient als Mittel der zwischenmenschlichen Kommunikation und ist zugleich ein Spiegel der Gesellschaft. Gesellschaftliche Veränderungen finden ihren Niederschlag in der Sprache, vor allem im Wortschatz. In allen Lebensbereichen der Gesellschaft kommen immer wieder neue Dinge auf. Neue Sachverhalte verlangen neue Bezeichnungen; neue Disziplinen von Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 219 Technik und Wissenschaft bedürfen neuer Benennungen. Auf diese Weise entstehen neue Wörter und Ausdrücke, die man als Neologismen bezeichnet. Im Gegensatz dazu können Wörter und Ausdrücke veralten oder verschwinden, weil von Sprechern bezeichnete Gegenstände oder Sachverhalte (d.h. Denotate) nicht mehr existieren. Man bezeichnet veraltete und veraltende sowie verschwundene Wörter und Ausdrücke als Archaismen. Die Neologismen und Archaismen zeigen am deutlichsten Veränderungen im Wortschatz. Deswegen kann man sagen, dass sie Zeugen des Wortschatzwandels sind. 3.1 Zum Neologismus 3.1.1 Zum Begriff Neologismus Neologismus ist ein relativ junger Begriff. Das Wort steht noch nicht im „Grimmschen Wörterbuch“. Es fehlt auch im sechsbändigen „Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache“ (WDG). Der Begriff Neologismus wurde im „Wahrig-Deutsches Wörterbuch“ (1. Auflage 1966) noch negativ bewertet: „(sprachwidrige) Wortneubildung [neulat.; zu grch. neos ‘neu’ + logos ‘Wort’]“. Im „Kleinen Wörterbuch der Stilkunde“ von Siegfried Kral und Josef Kurz (Leipzig 1970) steht seine Inhaltsseite im Vordergrund: „Der Neologismus ist ein Ausdruck, der neue, ins Bewußtsein tretende natürliche und gesellschaftliche Erscheinungen benennt.“ In der „ Brockhaus Enzyklopädie“ (Band 13, Wiesbaden 1971) wird auf seine Etymologie und Funktion zur Wortbildung hingewiesen: „griechisch, eine neue, meist künstliche Wortbildung.“ „Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache“ (Duden- GWB, Band 4, 1. Auflage 1978) definiert den Neologismus wie folgt: „[frz. néologisme] (Sprachw.) in den allgemeinen Gebrauch übergegangene sprachliche Neuprägung (2) (Neuwort od. Neubedeutung).“ Diese Definition betont, dass der Neologismus zum Allgemeinwortschatz gehören sollte. „Duden - Deutsches Universalwörterbuch“(8., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015) hat die Definition vom GWB übernommen, indem es eine zusätzliche etymologische Angabe macht und Bedeutung 2. hinzufügt: „[frz. néologisme, zu griech. néos = neu u. lógos, ↑ Lógos]: 1. (Sprachw.) in den allgemeinen Gebrauch übergegangene sprachliche Neuprägung (2) (Neuwort od. Neubedeutung). 2. <o.Pl.> Neuerungssucht (bes. auf religiösem od. sprachlichem Gebiet).“ Im Neologismenwörterbuch mit dem Titel „Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen“ findet man eine exakte Definition zum Begriff Neologismus. Sie lautet: Ein Neologismus ist eine lexikalische Einheit bzw. eine Bedeutung, die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein Xuefu Dou 220 akzeptiert und in diesem Entwicklungsabschnitt von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird. (Herberg/ Kinne/ Steffens 2004, S. XII) In Anlehnung an den Vortrag zum Thema „Neologismus und Neologismenwörterbuch“ (Dou 1989) erkläre ich den Begriff Neologismus wie folgt: 3.1.1.1 Neologismus als eine lexikalische Einheit, die neu in der Form (Ausdrucksseite) oder neu in der Bedeutung (Inhaltsseite) ist Allgemein gelten Neologismen als Ausdrücke von neuen Erscheinungen und Sachverhalten in Natur (wie Klimawandel, Erderwärmung, CO 2 -Ausstoß) und Gesellschaft (wie Ostalgie, Westalgie, Diätenanpassung, Leistungskürzung, Brexit, Grexit). Die angeführten Wörter sind Neologismen, die neu in der Form und in der Bedeutung sind. Es gibt auch Neologismen, die zwar nicht neu in der Bedeutung, aber neu in der Form sind. Damit werden bestehende Sachverhalte anders bezeichnet. Zum Beispiel tritt die Prozesskostenhilfe an die Stelle des Armenrechts; die Putzfrau wird zur Raumpflegerin; die männliche Hebamme wird offiziell als Entbindungspfleger bezeichnet; aus dem Lehrling wird der Auszubildende (Kurzform Azubi). Solche Neologismen dienen zur Aufwertung mancher beruflichen Tätigkeiten und zur Nuancierung der Bedeutung. Außerdem begegnen uns noch Neologismen, die zwar nicht neu in der Form, aber neu in der Bedeutung sind. Damit sind ältere Wörter gemeint, die zu ihrer vorhandenen Bedeutung eine neue Bedeutung bekommen haben, wie Schüssel (Satellitenschüssel), Klatsche (Niederlage) u.a. Sie werden als Neosemantismen bezeichnet. Die Veränderung oder Erweiterung der Wortbedeutung stellt einen wichtigen Aspekt des lexikalischen Wandels dar. 3.1.1.2 Neologismus als ein zeit- und raumbedingter Begriff Zu beachten ist, dass Neologismus ein relativer Begriff ist und deswegen nur relative Gültigkeit besitzt. Die Gültigkeit bezieht sich sowohl auf die Zeit als auch auf den Raum. Neologismen entstehen immer in einer bestimmten Epoche. In der jeweiligen Zeit sind sie neu, danach aber nicht mehr. Bi- und Trizone, Stunde Null, Trümmerfrau, soziale Marktwirtschaft, Währungsreform, Atombombe in den 1940er Jahren; Ohnemichel, Fünfjahrplan, Sputnik in den 1950ern; hinterfragen, Antibabypille, Backfisch, Astronaut, Teach-in in den 1960ern; Frustration, Häme, linken, Pillenknick, Lesbe, Midlifecrisis in den 1970ern; Umweltauto, Multimedia, Ellbogengesellschaft, Perestroika, Glasnost in den 1980ern; Globalisierung, Ostalgie, GUS, Euro, Eurocent in den 1990er Jahren; Teuro, Ein-Euro- Job, Fanmeile, Anti-Terror-Krieg, Abwrackprämie in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts waren neue Wörter und Ausdrücke, die als Neologismen Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 221 bezeichnet wurden. Jetzt zählen sie nicht mehr zu den Neologismen, und bei der Erstellung eines Neologismenwörterbuchs sollten nur Wörter und Ausdrücke berücksichtigt werden, die erst seit dem Jahr 2011 aufgekommen sind. Sie sind zum Teil bereits zu Archaismen (wie Bi- und Trizone, Trümmerfrau, Fünfjahrplan) und zum großen Teil zu Angehörigen des Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache (wie Atombombe, Sputnik, Astronaut, Frustration, Multimedia, Euro, Fanmeile) geworden. Der Begriff Neologismus wird nicht nur auf eine bestimmte Zeitspanne, sondern auch auf einen bestimmten Raum beschränkt. Es gibt manche Wörter, die in Deutschland neu sind, nicht aber in anderen Ländern oder umgekehrt. Nach 1945 sind eine Menge von Anglizismen und Amerikanismen dem deutschen Wortschatz zugeströmt. Sie bilden einen wichtigen Bestandteil der Neologismen im heutigen Deutsch. Ein Teil davon ist in Großbritannien oder Amerika nicht neu. Das Wort Television z.B. war schon in den 1920er Jahren im englischsprachigen Raum entstanden und kam erst in den 1950er Jahren im deutschsprachigen Raum als eine Neuentlehnung auf. Mall, Gate, Event, Skate u.a. sind zu den deutschen Neologismen der 1990er Jahre zu zählen; aber sie stehen fast in allen englischen Allgemeinwörterbüchern, die vor 1990 erschienen sind. Das Wort ‘Feng-Shui, Fengshui’ als Neuentlehnung steht im „Duden - Deutsches Universalwörterbuch“ von 2007. Der Begriff 风水 (chinesische Lautschrift: fēngshuǐ ) existiert bei uns in China aber bereits seit mehr als 1.000 Jahren. Umgekehrt tauchen auch Germanismen in englischsprachigen Texten auf. „Die 52 Wochenhefte der internationalen Ausgabe von Time Magazine enthielten im Jahr 1997 insgesamt 849 Germanismen.“ (Kann 1998, S. 87). „Insgesamt über 5000 Germanismen gibt es im Englischen.“ (vgl. https: / / pagewizz.com/ german). Ein Teil davon ist sicher neu in England oder Amerika, aber in Deutschland nicht. Natürlich gibt es viele Wörter, die sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern neu sind, wie App, Cloud- Computing, Ebola, E-Commerce, Humankapital, Internetshopping, Internetvideo, New Economy, Smartphone, Virtual Reality u.a. Auch die chinesischen Entsprechungen hierzu sind Neubildungen. Das gilt vor allem für Ausdrücke auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik. 3.1.1.3 Neologismus als neues Wort, das eine relativ hohe Häufigkeit aufweist und zur Gemeinsprache gehört Den Kommunikationsbedürfnissen entsprechend kann man sprachliche Neubildungen schaffen. Im Rundfunk und Fernsehen hört man jeden Tag sprachliche Neuheiten. In der Presse, in der Werbung, besonders im Internet begegnen uns täglich neu gebildete Wörter und neu gebrauchte Redensarten. Neugeprägte Wörter müssen nicht unbedingt als Neolexeme ins Wörterbuch eingetragen werden. Hier muss man zwischen echten Neologismen Xuefu Dou 222 und Okkasionalismen unterscheiden. Nur diejenigen Wörter, die neu entstanden sind und von der Allgemeinheit viel gebraucht werden, d.h. eine relativ hohe Gebrauchsfrequenz aufweisen, sind zu den Neologismen zu zählen und werden dann im Wörterbuch berücksichtigt. Die von der Allgemeinheit akzeptierten Neologismen gehören dem Allgemeinwortschatz an. Ihre Zahl ist begrenzt, während die der Fachwörter ungeheuer groß ist. Die Elektronik hat etwa 60.000 Termini; die Medizin kennt etwa 250.000 Fachausdrücke und fachliche Fügungen; und die organische Chemie verfügt über etwa 3,5 Millionen Benennungen (vgl. Duden-GDW Band 1, Mannheim 1976, S. 3). Die Zahl der deutschen Wörter ist viel größer, als der Duden angegeben hat. Im Internet ist die Rede davon, dass die deutsche Sprache 5,3 Millionen Wörter hat (vgl. https: / / beta.welt.de/ kultur/ article124064744). Zweifelsohne gehören sie zum größten Teil zu den Fachausdrücken auf verschiedenen Gebieten. Dementsprechend muss man zwischen Neologismen und neuen Terminologien unterscheiden und eine richtige Auswahl treffen. Nur die lexikalischen Einheiten, die ursprünglich den Fachwörtern bzw. -ausdrücken zuzuordnen waren und später in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind, können als Neologismen bezeichnet werden. Aber die Grenze zwischen Allgemeinsprache und Fachsprache ist fließend. Viele neue Wörter wie Elektroauto, Festnetz, Internet, Knopflochchirurgie, USB-Stick (kurz Stick) u.a. waren zunächst Fachausdrücke, sind jetzt aber allgemein bekannt. Deswegen kann man sie zu den Neologismen in der Allgemeinsprache zählen. Die Technisierung stellt eine der Tendenzen der Wortschatzentwicklung dar. 3.1.2 Gliederung der Neologismen In formaler Hinsicht gliedere ich Neologismen in sieben Gruppen: 1. neue Komposita, 2. neue Entlehnungen, 3. neue Kunstwörter, 4. neue Ableitungen, 5. Neosemantismen, 6. neue Abkürzungen und Kurzwörter, 7. Neuphraseologismen. 3.1.2.1 Neue Komposita Die Komposition gilt als eines der wichtigsten Mittel zur Erweiterung des deutschen Wortschatzes. Es erübrigt sich hier, Komposita verschiedener Arten zu beschreiben. Aber es ist nennenswert, dass man mit Internet- und Onlineals Bestimmungswort eine Unmenge von neuen Komposita bilden kann, was das Merkmal des digitalen Zeitalters darstellt und gleichzeitig zum Wortschatzzuwachs führt. Die 6. Auflage des Duden-Universalwörterbuchs 2007 enthält nur 17 Internet-Komposita (von Internetadresse bis Internetuserin) und 8 Online-Komposita (von Onlinebanking bis Onlinezeitung). Acht Jahre Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 223 später, in seiner 8. Auflage 2015, sind 41 Internet-Komposita (von Internetadresse bis Internetzugang) und 32 Online-Komposita (von Onlineaktivität bis Onlinezeitung) registriert. Daraus ist zu ersehen, wie produktiv die beiden Wörter sind und wie Neologismen entstehen. 3.1.2.2 Neue Entlehnungen Auf verschiedene Weise werden neue Wörter aus verschiedenen Sprachen entlehnt. Hierbei sind nur in Stichworten einige Entlehnungsarten zu nennen: Direktübernahmen wie Tofu (aus dem Chinesischen 豆腐 dóufu), Scheinentlehnungen wie Handy, Lehnbedeutungen wie Maus (vom Englischen mouse) und Lehnübersetzungen wie Kollateralschaden (vom Englischen collateral damage). 3.1.2.3 Neue Kunstwörter Damit gemeint sind neue lexikalische Einheiten, die mit Hilfe der Teile zweier unterschiedlicher Wörter gebildet worden sind. Ein paar Beispiele dazu: Burkini aus Burka und Bikini, Glokalisierung aus Globalisierung und Lokalisierung, Infotainment aus Information und Entertainment, Teuro aus teuer und Euro. 3.1.2.4 Neue Ableitungen Es ist gang und gäbe, dass neue Wörter von den vorhandenen Wörtern abgeleitet werden. Viele Neologismen sind nichts anders als neue Ableitungen wie z.B. Hingucker (von hingucken), virtualisieren (von virtuell), probiotisch (von Probiotikum). Außerdem gibt es neue Wörter, die von neu entlehnten Wörtern abgeleitet worden sind e-mailen von E-Mail, googeln von Google, Twitterer und twittern von Twitter. 3.1.2.5 Neosemantismen (Neubedeutungen) Damit gemeint sind lexikalische Einheiten, die zu deren vorhandenen Bedeutungen eine neue zusätzliche bekommen haben, wie z.B. Klatsche (Niederlage), abhängen (sich entspannen), Virus (schadhaftes Programm). Der Unterschied zwischen der Lehnbedeutung und Neubedeutung besteht darin, dass es bei der ersteren um den Einfluss einer Fremdsprache geht, bei der letzteren aber nicht. 3.1.2.6 Neue Abkürzungen und Kurzwörter Die Ausdruckkürzung ist eines der Wortbildungsmittel, das zur Entstehung neuer Wörter führen kann. Zu den Abkürzungen gehören Initialwörter, bei denen Initiale entweder einzeln ausgesprochen (wie SMS für short message service) oder kombiniert ausgesprochen werden (wie NASDAQ für National Association of Securities Dealers Automated Quotations System, Pegida für Patrio- Xuefu Dou 224 tische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Es gibt Kurzwörter als Silbenanfangswort (wie Stasi für Staatssicherheitsdienst), Kopfwort (wie Navi für Navigationsgerät und Navigationssystem), Schwanzwort (wie Cent für Eurocent) und Klammerwort (wie Botel aus Boot und Hotel). 3.1.2.7 Neuphraseologismen Damit gemeint sind neue Wortverbindungen, deren Gesamtbedeutung nicht mehr identisch mit der einfachen Addition der Teilbedeutungen der einzelnen Wörter ist, wie z.B. Schmetterlinge im Bauch haben/ führen (sehr nervös sein), die Arschkarte haben (der Benachteiligte sein), die Chemie stimmt (es besteht eine gute Beziehung). 3.2 zum archaismus 3.2.1 Zum Begriff Archaismus Neologismus gilt als sprachwissenschaftlicher Begriff für das, was neu in den Wortschatz eingedrungen ist. Darüber wird nicht gestritten. Aber es gibt Streitigkeiten darüber, ob Archaismus als Oberbegriff für jene Teile der Lexik dienen sollte, die im Lauf der Zeit veraltet und aus dem Gebrauch gekommen sind. Schmidt führt dazu aus: Wie wenig das Phänomen des Veraltens von Lexemen wissenschaftlich bearbeitet worden ist, zeigt sich schon darin, dass es hier keinen eindeutigen Terminus gibt. Die bisher geläufigen Termini »Archaismus« und »Historismus« erscheinen insofern wenig geeignet, die bloße »Sache« ›Wort (Lexem), das seine kommunikative Relevanz verloren hat oder nicht mehr der Gebrauchsnorm entspricht‹, genau abzudecken, als sie oft für speziellere Begriffe stehen, von vornherein die zugehörigen Denotate einbeziehen oder auch als Bezeichnungen für Nichtsprachliches verwendet werden. (Schmidt 1982, S. 131) Dementsprechend wurde der Vorschlag gemacht, Archaismus durch Paläologismus als Antonym zu Neologismus zu ersetzen. Die Argumentation dafür: Paläologismus enthält ebenfalls -logismus (zu griechisch ‘Wort, Lehre’) als zweite Komponente. „Für die erste Komponente bietet sich paläo an,wenn man die alte griechische Bedeutung ‘veraltet’ zugrundelegt, …“ (Schmidt 1982, S. 201f.). Es gibt zugleich Sprachwissenschaftler, die auf dem Terminus Archaismus bestehen. Eine von ihnen wird zitiert: „Veränderung des Wortschatzes bedeutet aber auch, daß Wortgut veraltet und auch ausstirbt. ‘Archaismus’ ist daher der Oberbegriff für veraltendes und veraltetes Wortgut, das in der Peripherie des Sprachsystems existiert.“ (Schippan 1987, S. 259). Paläologismus ist zwar ein richtiger und eindeutiger Begriff zur Bezeichnung veraltender und veralteter Wörter, aber Archaismus ist seit langem im Gebrauch. Deswegen wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Archaismus Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 225 verwendet. Meiner Auffassung nach ist ein Archaismus eine lexikalische Einheit oder eine Bedeutung, die aus verschiedenen Gründen verschwunden oder allmählich außer Gebrach gekommen und nicht mehr von Relevanz für die gegenwärtige Kommunikation ist. 3.2.2 Gliederung der Archaismen Ich gliedere Archaismen in vier Gruppen: 1. untergegangene Wörter, 2. veraltende und veraltete Wörter, 3. Historismen, 4. Paläosemantismen. 3.2.2.1 Untergegangene Wörter Dabei gibt es zwei Fälle. Bei dem ersten Fall geht es um lexikalische Einheiten, die aus dem Vokabular der Gegenwartssprache ganz verschwunden sind. In den allgemeinsprachlichen Wörterbüchern werden sie nicht mehr berücksichtigt. „Kleines Lexikon untergegangener Wörter“ enthält schätzungsweise etwa 700 Stichwörter (von abergläubig bis zwier), „die in den heutigen allgemeinen Sprachwörterbüchern nicht mehr verzeichnet sind.“ (Osman (Hg.) 1999, S. 15). Auf seiner Vorderseite stehen 20 Wörter, nämlich Afterkind, anhaltsam, beekeln, bemeldet, Brast, Christmonat, Docke, fadennakkend, Heimatsucht, Leibrock, Liberey, Mahlschatz, Miederkleid, Poetenkasten, Quarre, sintemal, Tändelwoche, Tollhaus, Ungeberde, verhenkert. Bis auf Tollhaus (mit Kennzeichnung ‘früher’) fehlen alle Wörter im „Duden - Deutsches Universalwörterbuch“ (8. Aufl. 2015). Bei dem zweiten Fall geht es um Wörter, die nur noch in Redewendungen weiter existieren: anheischig für ‘verpflichtet’, heute nur noch in der Wendung ‘sich anheischig machen’; Fersengeld für ‘Abgabe’, heute nur noch in der Wendung ‘Fersengeld geben’; Kegel für ‘uneheliches Kind’, heute nur noch in der Wendung ‘mit Kind und Kegel’; Schindluder für ‘totes Tier’ heute nur noch in der Wendung ‘mit jm./ etw. Schindluder treiben’; Stegreif für ‘Steigbügel’, heute nur noch in der Fügung ‘aus dem Stegreif’. 3.2.2.2 Veraltende und veraltete Wörter Nun die Frage: Was versteht man unter ‘veraltend’ und ‘veraltet’? Im Duden - GWB erklärt man den Unterschied so: Bei den zeitlichen Zuordnungen besagt ‘veraltend’, daß ein Wort nur noch selten, meist von der älteren Generation gebraucht wird (z.B. Backfisch). Mit ‘veraltet’ wird angegeben, daß ein Wort nicht mehr Bestandteil des Wortschatzes ist; es kann aber in altertümelnder, scherzhafter oder ironischer Ausdrucksweise gebraucht werden (z.B. fürbaß). (Duden - GWB 1976, S. 16) Im WDG-Vorwort heißt es: 1. veraltet (veralt.) werden Wörter genannt, die heute nicht mehr gebraucht werden, in der heute noch gelesenen Literatur aber vorkommen und weithin noch verstanden werden (z.B. Binokel, Eidam). Xuefu Dou 226 2. veraltend soll angeben, daß das Wort heute nur noch wenig gebraucht wird und vornehmlich dem Wortschatz der älteren Generation angehört (z.B. Absud, Boudoir, Gendarm). (Klappenbach/ Steinitz 1964, S. 014). Bei veraltenden Wörtern finden das GWB und WDG einen gemeinsamen Nenner: Diese Wörter werden selten oder wenig, meist von der älteren Generation gebraucht. Was die beiden Wörterbücher unter veralteten Wörtern verstehen, zeigt eine Meinungsdifferenz. Das GWB bewertet sie als stilistisches Mittel, während das WDG auf ihre Irrelevanz beim Sprachgebrauch hinweist. In Bezug auf veraltende und veraltete Wörter vertrete ich die Auffassung: Diese Wörter gehören nicht mehr dem Zentralwortschatz an und zeigen geringere Gebrauchshäufigkeit, wobei es einen Gradunterschied gibt. Es ist sehr schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Ob ein Wort als ‘veraltend’ oder ‘veraltet’ gilt, hängt in vielen Fällen von subjektiven Eindrücken oder Kompetenzen der Verwender und den Bewertungskriterien ab. Ein Beispiel dafür: Das Wort Absud hat das WDG mit ‘veraltend’ gekennzeichnet, während es das GDB mit ‘veraltet, geh.’ markiert hat. Veraltende und veraltete Wörter sind Kandidaten für die Tilgung in zukünftigen Auflagen des Wörterbuchs. Zwei Beispiele dafür: Christmonat (auch Christmond ), Leibrock mit Kennzeichnung ‘veraltet ’und Mahlschatz mit Kennzeichnung ‘Rechtsspr, veraltet’ stehen noch im „Duden - Deutsches Universalwörterbuch“ (erste Auflage 1983); sie sind in der vierten Auflage 2001 nicht mehr verzeichnet. 3.2.2.3 Historismen Darunter zu verstehen sind in erster Linie Wörter und Ausdrücke, die für die deutsche Geschichte und für sozialen Wandel von Bedeutung sind, z.B. Dreikönigsbündnis, Fürstentag, Weimarer Republik, Nationalsozialismus (Kurzform: Nazismus), Konzentrationslager (KZ), Entnazifizierung, Marshallplan, Planwirtschaft, Deutsche Demokratische Republik (DDR), Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) usw. Die angeführten Wörter und Wortverbindungen gehören dem Geschichtsvokabular an. Ein Teil davon wird zwar heute noch gebraucht, aber das ändert nichts daran, dass die Sachverhalte, die sie zu bezeichnen hatten, nicht mehr existieren. Meiner Auffassung nach sind Wörter, die das Duden-GWB mit ‘früher’ (z.B. Armenarzt), ‘hist.’ ( 1 Bahn), ‘ns.’ (z.B. Braunhemd), mit ‘im MA’ (z.B. Hellebarde, Turnier) gekennzeichnet und die das WDG mit ‘hist.’ (z.B. Hellebarde, Ablaßbrief, Turnier), mit ‘naz.’ (z.B. Gestapo, die Achse Berlin-Rom) markiert hat, den Historismen zuzurechnen. Historismus wird meist als Begriff in Kunst- und Geschichtswissenschaft verwendet. Aber es gibt Sprachwissenschaftler, die ihn als Begriff für die Sprach- Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 227 wissenschaft gebrauchen, etwa Thea Schippan, die hier beispielhaft zitiert werden soll: So sind Wörter wie Maut, Brückenzoll, Wegzoll, Geleitgeld, Geleithaus nicht mehr bekannt und werden nur noch als Historismen verwendet, d.h. als Wörter, mit denen man historische Sachverhalte, Objekte bezeichnet, die der Kommunikation über Vergangenes dienen. Solche Historismen stammen aus allen Etappen der historischen Entwicklung. Wir sprechen z.B. mit Wörtern wie Minnedienst, Turnier, Lanze über mittelalterliche Bräuche, benutzen Dienstmagd, Knecht, Gutsherr, Pedell, wenn wir über soziale Verhältnisse der Vergangenheit sprechen. (Schippan 1987, S. 260) Anstatt den Begriff Historismus zu gebrauchen, verwendet Manfred W. Hellman die Wörter ‘historisieren’ und ‘historisiert’: „Historisiert werden im Verlauf der Wende zahlreiche Bezeichnungen insbesondre für aufgelöste Institutionen der DDR wie Staatsrat, Staatliche Plankommission …“ (Hellmann 1997, S. 62); „… historisierte Wörter wie Intershop, Intertank, Interhotel …“ (ebd., S. 63). Meiner Ansicht nach ist solcher DDR-typischer Wortschatz auch zu den Historismen zu zählen. 3.2.2.4 Paläosemantismen Im Gegensatz zum Neosementismus ist der Paläosemantismus ein bekanntes Wort, dessen alte Bedeutung nicht mehr existiert. Das Adjektiv ‘abfällig’ bedeutete früher ‘abtrünnig’. Im Lauf der Zeit ist diese Bedeutung verschwunden. Heute bedeutet es nur ‘ablehnend’. Das Verb ‘entstehen’ bedeutete früher ‘mangeln, fehlen’. Heute steht diese Bedeutung in keinem Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (vgl. „Kleines Lexikon untergegangener Wörter“ von Nabil Osman). Bei dem Substantiv ‘Ende’ findet sich dafür ein gutes Beispiel: Es gab eine Zeit, in der das deutsche Wort ‘Ende’ in der Bedeutung ‘Zweck’ verwendet wurde, so daß man fragen konnte ‘zu welchem Ende? ’ d.h.’ zu welchem Zweck, wozu? ’. Bekanntlich ist Schillers Antrittsrede, die er 1789 als Professor an der Universität Jena hielt: ‘Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ’ (Carstensen 1986, S. 55) Heute hat das Wort ‘Ende’ die Bedeutung ‘Zweck’ nicht mehr. 4. wechselbeziehung von neologismen und archaismen „Sprache ist nichts Statisches, sondern ein Organismus voller Dynamik, und somit ist sie auch den biologischen Gesetzen unterworfen, dem Wandel im Werden und Vergehen.“ (Müller 1982, S. 219). Das heißt: Sprache ist lebendig. Die Wörter gleichen Lebewesen. Sie werden geboren, sie können sterben, und es gibt auch kranke (nämlich veraltende und veraltete) Wörter. Die neugebo- Xuefu Dou 228 renen (d.h. neu entstandenen) Wörter sind Hoffnungsträger, weil sie zeitgemäß sind, sich neuen Gegebenheiten anpassen und neuen Bedürfnissen der zwischenmenschlichen Kommunikation entsprechen können. Deshalb erregen sie Interesse und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dagegen findet der Wort-Tod wenig, sogar keine Beachtung. Denn die Archaisierung, nämlich das Veralten und Aussterben von Wörtern, ist ein länger währender Prozess. Der Wortuntergang erfolgt meistens unbemerkt. Die Archaismen haben zwar für die heutige Kommunikation an Relevanz verloren, aber das bedeutet nicht, dass man von ihnen keinen Gebrauch mehr macht. Mit dem veralteten Wort oder der veralteten Wortform kann die gehobene Stilschicht zum Ausdruck gebracht werden, z.B. ich harre deiner für ich warte auf dich (vgl. Conrad (Hg.) 1985, S. 30). Untergegangene Wörter sind unverzichtbare Konstituenten von Idiomen (vgl. oben 3.2.2.1). Schippan hat Recht, wenn sie sagt: Archaismen sind unentbehrliche Mittel der Kommunikation über die Vergangenheit.Weder Geschichtsschreibung noch Schulbuch können auf Historismen mit zum Teil terminologischer Funktion verzichten. (Schippan 1987, S. 261) Die Archaismen gehören zum Wortschatz der deutschen Sprache. Veraltete und veraltende Wörter bilden einen absolut notwendigen Bestandteil des allgemeinsprachlichen Gebrauchswörterbuchs. Viele von ihnen waren Neologismen in einem früheren Zeitabschnitt (vgl. oben 3.1.1.2). Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts war fringsen ein neues Wort. Heute ist es verschwunden. In den 1960er Jahren gehörte Backfisch zu den Neosemantismen. Nun hat es den Vermerk ‘veraltet’ bekommen. Die neuen Wende-Wörter wie Wendelhals, Mauerspecht, Wessi, stehen zurzeit auf der Liste der bedrohten Wörter. Umgekehrt, es gibt auch alte Wörter, die eine Wiederbelebung erfahren haben. Manche Wörterbuchverfasser meinen, solch wiederbelebte Wörter könnten zu den Neologismen gezählt werden. Deshalb finden viele alte Wörter wie Aggression, relevant, sozial, Sozialismus u.a. Eingang ins Wörterbuch „Kennen Sie die neuesten Wörter? “ (Hellwig 1970). Wortverlust und Wortzuwachs stellen zwei Pole der Wortschatzentwicklung dar. Im Vergleich zum Wortzuwachs ist der Wortverlust sehr gering. Um diese Argumentation zu untermauern, seien folgende Zahlenangaben aufgeführt: In der Auflage (des Rechtschreib-Dudens) von 1968 sind 169 Wörter gegenüber der Auflage 1961 verschwunden; 2.300 bekamen 1968 den Vermerk ‘veraltet’. Gegenüber der vorausgehenden Auflage sind 1968 aber 6.640 Wörter neu hinzugekommen. Die Tendenz zum Wortverlust ist demnach offensichtlich schwächer als die Tendenz zum Wortzuwachs. (Greule 1980, S. 266) Die Tendenz zum Wortzuwachs geht weiter. „Allein in den vergangenen zehn Jahren vermehrte sich unser Wortschatz um mehr als 8.000 neue Wörter.“ (Mrozek 2008, S. 2). Die jüngste Auflage des Rechtschreib-Dudens von Neologismen, Archaismen - deutsche Sprache im Wandel 229 2013 hat 5.000 Wörter neu aufgenommen. Dagegen hat Bodo Mrozek in seinem zweibändigen „Lexikon der bedrohten Wörter“ schätzungsweise insgesamt nur 700 Lexeme registriert, die als ausgestorben oder verschwunden gelten. Die Zahl der neu aufgekommenen Wörter ist bei weitem größer als die der untergegangenen Wörter. Daraus lässt sich die Vitalität der deutschen Sprache ersehen. Die Lebenskraft der Sprache zeigt sich vor allem in den lexikalischen Veränderungen, die Neologie (Erneuerung) und Archaisierung implizieren. Die Wortschatzerneuerungen stehen mit den Archaisierungstendenzen in unmittelbarem Zusammenhang. 5. schluss Seit jeher gibt es Meinungsverschiedenheiten über Neologismen und Archaismen. In Bezug auf die Neologismen wird nicht über den Begriff gestritten, sondern in erster Linie darüber, ob es bei dem Phänomen um Spracherneuerung oder Sprachverfall geht. Manche neuen Wörter werden von den einen als unverständlich, hässlich oder überflüssig abgelehnt, während sie von den anderen als reizvolle oder praktische Neuerungen übernommen werden (vgl. Stickel (Hg.) 2001, S. VII). Bei der Diskussion über Archaismen dagegen geht es, wie oben erwähnt, vornehmlich um die Terminologie. Der Archaismus als sprachwissenschaftlicher Begriff hat sich bis jetzt noch nicht ganz etabliert. Sein Ersatz Paläologismus hat sich auch nicht durchgesetzt, so dass er weder in Nachschlagewerke noch in die Wikipedia Eingang gefunden hat. Der Historismus als sprachwissenschaftlicher Begriff findet sich weder im Lexikon noch im Internet. Ungeachtet dessen, dass es viele Meinungsdifferenzen über Begrifflichkeiten und die Bewertung von Neologismen und Archaismen gibt, lässt es sich aber nicht bestreiten, dass der bestehende Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache das Ergebnis des Wandels ist, der seit Jahrhunderten vor sich gegangen ist. Dieser Wandel ist durch die Wort-Geburt (Aufkommen von neuen Wörtern) und den Wort-Tod (Untergehen oder Veralten von Wörtern) gekennzeichnet. Das Fazit: Der Sprachwandel zeigt sich am deutlichsten im Wortschatzwandel. 6. literatur Wörterbücher und Quellen Duden, Konrad (1880): Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig. Duden (1980): Der Duden in 12 Bänden. Bd. 1. Die Rechtschreibung. 18., neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a. Duden (2006): Der Duden in 12 Bänden. Bd. 1. Die Rechtschreibung. 24., völl. neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a. Xuefu Dou 230 Duden (2013): Der Duden in 12 Bänden. Bd. 1. Die Rechtschreibung. 26., völl. n. bearb. und erw. Aufl. Berlin u.a. Duden (1976-1980): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Mannheim u.a. Duden (1983): Deutsches Universalwörterbuch. 1. Aufl. Mannheim u.a. Duden (2001): Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim u.a. Duden (2007): Deutsches Universalwörterbuch. 6., überarb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a. Duden (2015): Deutsches Universalwörterbuch. 8., überarb. u. erw. Aufl. Berlin u.a. Conrad, Rudi (Hg.) (1985): Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini. Leipzig. Hellwig, Gerhard (1970): Kennen Sie die neuesten Wörter? München. Klappenbach, Ruth/ Steinitz, Wolfgang (Hg.) (1964-1977): Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache in 6 Bänden. Berlin. Mrozek, Bodo (2008): Lexikon der bedrohten Wörter in zwei Bänden. Bd. I, 10. Aufl. 2008; Bd. II, 1. Aufl. 2006. Hamburg. Müller, Wolfgang: Neue Wörter. In: Brockhaus Enzyklopädie. Jahrbuch 2000-2008. Mannheim u.a. Osman, Nabil (Hg.) (1999): Kleines Lexikon untergegangener Wörter. 11., unveränd. 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Das projekt kogloss (2011 - 2012) - ansatz und ziele Im Bereich der Fachsprachen liegt noch immer ein starker Fokus auf der Sammlung, Erklärung und Übersetzung einzelner Fachausdrücke, Nachschlagewerke zu Terminologien gibt es für die unterschiedlichsten Professionen. Aber wie sieht es aus, wenn man über die Wortebene hinausgeht? Wohin sich wenden, wenn Fragen auftauchen, die nicht mit einzelnen Ausdrücken, sondern mit Wortkombinationen und sprachlichen Mustern zu tun haben? Einer ‘fachfremden’ Person dürfte es zum Beispiel schwer fallen, zu entscheiden, welche Konstruktionen im Wirtschaftsdeutsch benutzt werden, um von Prozentzahlen, Inflationsraten und Arbeitsmarktzahlen zu sprechen. Zu Verwunderung könnte führen, dass man Liquidität bereitstellen und zuführen oder auch jemanden damit versorgen kann. Und was bedeutet es eigentlich, wenn Wachstum negativ ist? Konventionelle Nachschlagewerke halten für derlei Fragen nur bedingt Rat bereit. Doch nicht nur im Bereich der Fachsprachen ergibt sich dieses Problem, sondern zum Beispiel auch beim Fremdsprachenerwerb. Beim Lehren und Lernen rückt man mittlerweile vom Pauken isolierter Vokabeln ab und greift auf die Vermittlung miteinander auftauchender Wörter und sprachlicher Konstruktionen zurück. Die Systematisierung eines solchen Zugangs ist aber auch hier noch ein Feld mit viel ungenutztem Potenzial. KoGloss stellt als sprachdidaktische Methode Möglichkeiten bereit, diesen Bedarf in eigenständiger Erarbeitung abzudecken. Authentisches Textmaterial aus beliebigen Domänen und Professionen soll im Hinblick auf sprachliche Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 234 Besonderheiten untersucht und festgehalten werden. Ziel ist es, typische sprachliche Muster des fokussierten Bereichs zu identifizieren und nutzbar zu machen, ohne dabei auf der Ebene einzelner Fachausdrücke zu verweilen. Für die Zusammenstellung und Auswertung der Texte ist kaum linguistisches Fachwissen nötig, so dass KoGloss nach kurzer Einarbeitungszeit von Nutzerinnen und Nutzern mit unterschiedlichsten sprachlichen Kompetenzen angewendet werden kann. Neben dem Wissenszuwachs bei der Arbeit am Textmaterial ist das Ergebnis ein Glossar mit spezifischen sprachlichen Mustern, die zum Beispiel für eine bestimmte Domäne charakteristisch sind oder helfen, ein spezielles Thema sprachlich zu erschließen. Die Methode wird parallel für das Deutsche und für die drei kleineren Sprachen des Baltikums Estnisch, Lettisch und Litauisch erprobt. Dabei wird exemplarisch ein Teil der Fachsprache Wirtschaft untersucht, indem sich alle Projektpartner in der jeweiligen Sprache mit Texten zum Thema Konjunktur und Konjunkturentwicklung auseinandersetzen und sie auf fachsprachliche Muster hin untersuchen. Getestet wird das Verfahren vor allem in Seminaren mit Studierenden, es findet aber auch Verbreitung und Anwendung in Workshops für Fremdsprachenlehrende und Übersetzer. Im Laufe der zweijährigen Projektarbeit wurden vier miteinander verknüpfte Konstruktionsglossare erstellt (vgl. www.kogloss.eu). Nachfolgend werden die drei „KOs“ des Projekts auf ihren projektüberschreitenden Nutzen hin reflektiert: Konstruktion, Korpus und Kollaboration. 1.1 Konstruktion als korpuslinguistisch ermitteltes, frequentes sprachliches Muster Der Begriff Konstruktion wurde entsprechend der Zielsetzung der KoGloss- Methode festgelegt. Das leitende Ziel des Projekts war es, frequente fachsprachliche Muster mit korpuslinguistischen Methoden zu ermitteln und sie in berufs- und anwendungsorientierten Glossaren zu erfassen. Es war damit klar, dass die zu erstellenden multilingualen Glossare Konstruktionen variierender syntagmatischer Komplexität umfassen werden und ihre Struktur von Sprache zu Sprache (beispielsweise Deutsch, Estnisch, Lettisch, Litauisch) unterschiedlich sein kann. Als Konstruktionen wurden somit korpuslinguistisch ermittelte statistisch frequente sprachliche Muster verstanden, die (Fach-)Wörter, Morphologisches, Syntaktisches, Phraseologisches umfassen und als komplexe Ausdrücke gelernt werden müssen (vgl. Haß/ Žeimantienė 2011, S. 4; Dubova/ Proveja 2016, S. 101). Die KoGloss-Methode ist als anwendungsorientierte und glossarerstellungsbezogene zu verstehen; so wird auch der Konstruktionsbegriff nicht theoriegebunden verwendet, anders also als beispielsweise bei den konstruktionsgrammatischen Ansät- KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 235 zen, in denen er „den weitreichendsten Grad an Terminologisierung“ (Bücker 2015, S. 452) erfahren hat. Die Konstruktionsgrammatik folgt im Grunde der Idee, „Sprache als ein prinzipiengeleitetes System zu verstehen“ (Ziem 2014, S. 15), es kommt auf die Erfassung systematischer Strukturierung des sprachlichen Wissens an. Zur einheitlichen Modellierung von sprachlichem Wissen schlägt die Konstruktionsgrammatik das Format der Konstruktion vor als: „konventionalisierte Form-Bedeutungspaare variierender Komplexität und Spezifität“ (ebd.). Konstruktionen als einheitliches Format zur systematischen Erfassung des sprachlichen Wissens umfassen dabei auch verschiedene morphosyntaktische Einheiten, solche wie etwa Derivations-/ Flexionsmorpheme, einfache wie komplexe Wörter, feste Mehrwort-Ausdrücke, grammatische Phraseme, Sprichwörter, Idiome, schematische Idiome, Vergleichssätze, Ditransitive, Wortarten und grammatische Relationen (vgl. ebd., S. 19). Allerdings stellt die Konstruktionsgrammatik die Frage: „Was ist in einer Sprache Konstruktion, was ist keine mehr? Haben vielleicht sogar alle sprachlichen Zeichen Konstruktionsstatus? “ (Dürscheid/ Schneider 2014, S. 171). Die Frage, was „(k)eine Konstruktion“ ist, muss nach Imo (2015) „in der zukünftigen Forschung aus der Perspektive unterschiedlicher Ansätze, die sich mit der Analyse von syntaktischen Strukturen befassen, beantwortet werden“ (2015, S. 573). Imo argumentiert für einen Theorien- und Methodenmix, „in dem neben Konstruktionen sowohl abstrakte Regeln (oder Satzmuster, Satzbaupläne, Valenzmuster etc.) ihren Platz haben als auch gesprächsorganisatorische Routinen, Strukturzwänge, die aus der Zeitlichkeit der Sprachproduktion entstehen, kollaborative Phänomene, wie sie typisch für Sprache-in-Interaktion sind etc.“ (ebd.). Für das Projekt KoGloss spielten weniger die genannten theoretischen Ansätze eine Rolle als korpusbasierte Methoden zur Ermittlung von typischen Kookkurrenzen, Kollokationen oder sog. n-Grammen. Es geht um „Musterhaftigkeit in Texten“ (Bubenhofer 2015, S. 485). 1.2 Korpus: Didaktik der Erstellung und Analyse von Korpora mittels Software In der heutigen Linguistik und Sprachdidaktik ist die Korpusbasiertheit eines der zentralen Prinzipien in der Forschung und beim Spracherwerb. Die KoGloss-Methode als eine lexikografische Methode beschäftigt sich unter anderem mit der Vermittlung korpusbasierten Arbeitens, das im Fremdsprachenerwerb und im Beruf eingesetzt werden kann. Storjohann (2005, S. 55) stellt als moderne Grundlage für die Lexikografie digitale Textsammlungen heraus, deren Vorteile ein großer Umfang sowie ihre Analysierbarkeit und Recherchierbarkeit mit spezieller Software sind. Die Wahl der Textsorten, de- Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 236 ren Textexemplare das Korpus bilden, ist eine der wichtigsten Fragen beim Korpusaufbau (ebd., S. 61). Auch KoGloss legte je Sprache eine Textsammlung zugrunde. In der zentralen Projektpublikation werden Kriterien für den Korpusaufbau erarbeitet (Projektgruppe KoGloss 2012). Für Textauswahl und Datenquellen spielen der Zugang zu Texten (z.B. im Internet öffentlich zugängliche Texte), das Thema der Texte sowie der Umfang des Korpus die zentrale Rolle. Dabei müssen z.B. Thematik, Textsorte, Medium, Textlänge, Zeitraum der Texte festgelegt werden. Die Textsorten- und Quellenvariation muss beachtet werden, damit eine hohe Frequenz von manchen textsortenspezifischen oder institutionsspezifischen Konstruktionen vermieden wird. Aus diesem Grund wird von der Projektgruppe darauf aufmerksam gemacht, dass der auf TXT-Format konvertierte Text als ein separates Dokument ein Medienkürzel der benutzten Quellen mit dem Datum und der Überschrift enthält (Projektgruppe KoGloss 2012, S. 7). Die Wichtigkeit der Metadaten für die Dokumentation kontextueller Aspekte der das Korpus bildenden Texte ermöglicht nach Lemnitzer/ Zinsmeister (2006, S. 46) eine gezieltere Analyse mittels spezieller Software. Eine der Softwares zur Untersuchung von Korpora ist das frei verfügbare und auch für linguistische Laien einfach zu bedienende Programm AntConc, das besonders für kleinere Textsammlungen (bis zu 20 Mio. Textwörtern) geeignet ist. 1 Als nächster Schritt der KoGloss-Methode erfolgt also die Recherche des erstellten Textkorpus mit Hilfe des Analyseprogramms AntConc (Projektgruppe KoGloss 2012, S. 9-24). Obwohl die KoGloss-Methode zum Ziel der kollaborativen Erstellung von Konstruktionsglossaren entwickelt wurde, können die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse über Korpusaufbau und -analyse mittels einer Software aber auch für sich genommen in der universitären Lehre Anwendung finden und damit als allgemein-wissenschaftliche methodologische Kompetenz gelten. 1.3 Kollaboratives Arbeiten in der Linguistik und allgemeine Medienkompetenz Der Einsatz des Lern-Management-Systems (LMS) moodle in KoGloss hatte einerseits den ganz praktischen Nutzen, dass moodle, ein Open-Source-Produkt, an den meisten europäischen Hochschulen administriert wird und mittlerweile bekannt ist und dass moodle das kollaborative Lernen in virtuellen Gruppen unterstützen kann. Es war auch wichtig, den DozentInnen und Stu- 1 Mehr Informationen zum AntConc-Programm siehe unter: www.laurenceanthony.net/ software.html. KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 237 dierenden das Zusammenarbeiten über geografische Entfernungen und nationale Grenzen hinweg zu vermitteln und in den Universitäten der Partner bekannter zu machen. Virtuelle Kollaboration bedeutet: an einem Text, einem Glossar, einer Datenbank, einem Wiki gemeinsam zu arbeiten, einander Kommentare zu Arbeitsergebnissen zu senden, einander Aufgaben zu stellen, miteinander in Foren über arbeitsorganisatorische Dinge zu ‘sprechen’, zu chatten oder auch Videokonferenzen durchzuführen. Alles dies kann moodle leisten, sofern die verantwortlichen ‘Lehrenden’ als Gruppe mit besonderen Zugriffs- und Änderungsrechten es so planen und anlegen. Andererseits antworten Erfahrungen mit Content-Management-Systemen (CMS), zu denen ein LMS wie moodle gehört, auch auf die Anforderungen der Bildungspolitik an Erwerb von ‘Medienkompetenz’ in Schule und Hochschule. Kaum eine größere Firma und keine Behörde arbeiten heutzutage noch ohne solche CM-Systeme. Erfahrungen und Hintergrundwissen sind notwendig, um das kollaborative Arbeiten am Arbeitsplatz mitgestalten und mitkontrollieren zu können. Dabei kann (und sollte) die Universität die einschlägigen Erfahrungen nicht nur ermöglichen, sondern auch kritisch reflektieren helfen. Eine Expertenkommission des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) hat 2010 jenseits allen Propagandagetöses klargemacht, dass Medienkompetenz aus zwei gleichgewichtigen Perspektiven bestimmt werden muss: Einmal aus der Perspektive des Individuums: Wie verstehen und wie gestalten die Individuen die digitalen Medien? Wie setzen sie sie für die eigenen Interessen ein? Zum anderen aus der Perspektive der Gesellschaft und der Arbeitswelt, die die Einzelnen vor neue Anforderungen stellen (BMBF 2010, S. 6). In dem Papier der Expertenkommission werden ‘digitale Kompetenzen’ in vier Themen- und Aufgabenfelder gegliedert (ebd., S. 7): - Information und Wissen, - Kommunikation und Kooperation, - Identitätssuche und Orientierung, - Digitale Wirklichkeiten und produktives Handeln. Hiervon sind v.a. die beiden ersten hochschuldidaktisch relevant, darunter auch die oben thematisierte Kooperation mittels digitaler Medien, die das Projekt KoGloss innerhalb wie außerhalb seiner finanzierten Laufzeit kennenzulernen erlaubte. Zum Aufgabenfeld Information und Wissen gehören die Herstellung sprachlicher Ressourcen (Glossare) aus anderen Ressourcen (Texten, Korpora); dabei kommt es nicht auf ‘strenge’ lexikografische Methodik an. Vielmehr wird empirisches Arbeiten und vor allem der Zusammenhang zwischen Informationsressourcen und Qualität des daraus ableitbaren Wissens erfahrbar. Das Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 238 Projekt bot den besonderen Vorteil, diesen Zusammenhang Studierenden zu vermitteln, die Fachinformationen normalerweise ungefragt nutzen und sich ganz auf deren ‘Auswertung’ bzw. Interpretation fokussieren. 2. über das ende hinaus Die Ergebnisse des Projekts sind und bleiben greifbar: Es gibt ein über vierzig Seiten langes Manual in deutscher und eines in englischer Sprache, die die Methode allgemein und anwendungsnah beschreiben. Und es gibt die vier miteinander verlinkten Glossare von Konstruktionen zum Thema Konjunktur und Konjunkturentwicklung, die nach Registrierung von jedermann genutzt werden können (www.uni-due.de/ kogloss.eu/ moodle.php). In den nachfolgenden Semestern stellte sich aber in allen beteiligten Universitäten und insbesondere in der Universität Vilnius wie in der Universität Duisburg-Essen heraus, dass einzelne Schritte bzw. Komponenten des Projekts zu Zwecken der Lehre variabel und neu eingesetzt werden können. Aus diesen Nachnutzungen werden im Folgenden Beispiele beschrieben. 2.1 KoGloss - Methode in der Germanistenausbildung am Beispiel des Themas „Bio - Produkte“ Die mehrschrittige KoGloss-Methode wurde unter anderem in der Germanistenausbildung im Rahmen des Seminars „Gegenwartsdeutsch“ an der Universität Vilnius eingesetzt. Die Studierenden im 8. Semester verfügen bereits über sehr gute Deutschkenntnisse und ausreichende linguistische Kenntnisse und Kompetenzen, so dass sie in der Lage sind, mit authentischen Sprachdaten zu arbeiten. Das Ziel des Seminars war, Germanistikstudierende für authentische Sprachverwendung zu sensibilisieren, indem die im KoGloss- Projekt erarbeiteten Verfahren vermittelt wurden, mit denen die Studierenden in ihrer beruflichen Zukunft Sprachdaten exzerpieren und für ihren Bedarf in einem Fachbereich linguistisch aufarbeiten können. Aus diesem Grund sind die Studierenden im Seminar alle Schritte der Methode durchgegangen, um die entsprechende Methoden-Kompetenz zu erwerben. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Methodenkompetenz der lexikografischen Erfassung von Daten. Darüber hinaus sollte dadurch die Rolle der linguistischen Kompetenz in der beruflichen Praxis - bei Erstellung eines fachsprachlichen Glossars - deutlich gemacht werden. Das Thema „Bio-Produkte“ wurde einerseits aufgrund seiner Aktualität gewählt, andererseits handelt es sich um ein fachliches, aber auch für einen breiten Rezipientenkreis bestimmtes Thema, welches noch wenig lexikografisch aufgearbeitet ist. Die Arbeit umfasste folgende Schritte: den Korpusaufbau KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 239 zum Thema „Bio-Produkte“, die Wortschatzanalyse mit der Software Ant- Conc und die Erstellung von Glossareinträgen. Im allerersten Schritt haben Kursteilnehmer/ innen Texte für das gemeinsame Korpus nach bestimmten Kriterien gesammelt und entsprechend bearbeitet. Die Anforderungen an die Korpustexte wurden in den Korpusbeschreibungen der Studierenden dokumentiert, in denen Textquellen, Texttypen, Textumfang, Schlüsselwörter der Textrecherche und der Zeitraum der Texte festgehalten sind. Durch die Dokumentation von Informationen über Korpustexte werden sich die Studierenden der Kriterien, die für ein ausgewogenes Korpus wichtig sind, bewusst. Die Studierenden haben außerdem zur Sicherung der Authentizität der erhobenen empirischen Daten ein Quellenverzeichnis gemäß des im Rahmen des KoGloss-Projektes erarbeiteten Modells in einer Excel-Datei erstellt, die Angaben zum Titel, zur Veröffentlichungszeit, zum Textumfang, zum Texttyp, zum Sender und den Link zur Homepage mit dem Text enthält. Das aufgebaute Gesamtkorpus stand allen Kursteilnehmer/ innen zur Verfügung. Eine weitere Aufgabe des Seminars bestand in der Ermittlung von diskursspezifischen Lexemen mit Hilfe der Software AntConc. Die gestellten Aufgaben sollten den Studierenden die Fähigkeit vermitteln, mittels verschiedener Funktionen der Software entsprechende Sprachdaten zu gewinnen, z.B. mittels der Funktion „Word List“ im Korpus zehn diskurspezifische Lexeme (z.B. Bio) festzustellen, mittels der Funktion „Clusters“ drei Konstruktionen zu jedem dieser Lexeme (z.B. Bio-Lebensmittel) zu ermitteln, mit der Funktion „Concordance“ Syntagmen mit fünf ausgewählten Konstruktionen (z.B. pflanzliche Bio-Lebensmittel) herauszufinden und mit Hilfe der Funktion „Concordance“ typische Beispielsätze mit fünf ausgewählten Konstruktionen aus dem Korpus herauszusuchen. Das Ergebnis war eine Liste mit 139 Lexemen für die Glossareinträge. Die Lexemliste enthält die diskursspezifischen Lexeme/ nominalen Konstruktionen, z.B. Bio-Anbau, Biokraftstoffproduzent, biologisch-dynamisch, biologischer Anbau, Demeter-Markenzeichen, Freilandhaltung, Geschmacksverstärker, nachhaltige Landwirtschaft, Naturkost, Ökostrom, Öko-Verordnung, ökologische Qualität. Bei der Erstellung der Liste spielte vor allem die Musterhaftigkeit und die Diskursspezifik eine Rolle, weil dies für die Spracharbeit im Beruf oder beim Sprachlernen besonders wichtig ist. Im letzten Teil des Seminars diente die Erstellung von Glossareinträgen der Kompetenz, linguistische Kenntnisse praktisch umzusetzen. In den Glossareinträgen haben die Studierenden Konstruktionen formal und semantischfunktional beschrieben. Nach dem von der Projektgruppe KoGloss (2012, S. 25) erarbeiten Muster des Glossareintrags wurden Angaben zur Morphologie, zur Syntax, zur Semantik und zum Gebrauch der Konstruktion (z.B. Verwendungshäufigkeit, orthografische Varianten) angeführt. Der Eintrag enthält auch Verwendungsbeispiele aus dem Korpus. Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 240 Die Studierenden sollten im Seminar also mit einem Instrumentarium bekannt gemacht werden, welches ihnen die Analyse der sprachlichen Daten in der zukünftigen beruflichen Praxis oder bei der wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht. Die Recherche von sprachlichen Mustern trägt auch zur Kompetenz des Lernens von Fremdsprachen bei, denn im Sinne von Ludewig stellen „Kollokationen für Fremdsprachler eine enorme Lernbelastung dar und werden von ihnen in deutlich geringerem Maße benutzt als dies bei Muttersprachlern der Fall ist“ (Ludewig 2005, S. 165). 2.2 KoGloss - Methode als Grundlage zur Erstellung eines Glossars juristischer Terminologie Im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Sprache des Straf- und Strafprozessrechts für MA-Studierende im Studienprogramm „Fachsprache Jura (Deutsch)“ wurden im Sommersemester 2013/ 2014 an der Universität Vilnius einzelne Schritte der KoGloss-Methode bei der Erstellung eines bilingualen Glossars juristischer Begriffe angewendet. Das Ziel dabei war es, durch Erstellung zweisprachiger Glossareinträge im moodle-Kursraum die wichtigsten Schritte der lexikografischen Arbeit umzusetzen. Das Glossar war für das Sprachenpaar Deutsch-Litauisch mit der Ausgangssprache Deutsch gedacht. Da die Studierenden mit dem KoGloss-Verfahren bereits vertraut waren, konnten ihre Fertigkeiten direkt auf konkrete Arbeitshandlungen der Glossarerstellung gerichtet werden. Es sollte in erster Linie eruiert werden, welche Struktur und welche Informationen ein multilinguales juristisches Glossar enthalten soll, um es als zuverlässige Ressource bei Bearbeitung und Übersetzung von einschlägigen Texten anwenden zu können. Als Muster für die Entwicklung des Glossareintrags wurde das Raster von KoGloss herangezogen. Die Ermittlung korpusbasierter Daten für den Glossareintrag erfolgte nach Erstellung eines eigenen Korpus, bestehend aus Gesetzestexten und zugänglichen juristischen Dokumenten, und nach Bearbeitung des Korpus mittels AntConc. Für die Erstellung von Glossareinträgen wurden den Studierenden thematische Reihen mit Lexemen aus strafrechtlichen Texten vorgegeben, z.B.: Vergehen, (leichte, mittelschwere, schwere, sehr schwere) Verbrechen; Jugendlicher, Heranwachsender; Beschuldigter, Angeschuldigter, Angeklagter; tateinheitlich, mehreinheitlich; Entzug, Verfall, Einziehung, Verbot; sicherstellen, beschlagnahmen, einziehen. Die genannten Lexeme bereiten bei der Suche nach Entsprechungen in einer anderen Sprache verschiedene Schwierigkeiten: Sie können z.B. in einer Sprache genauer spezifiziert sein als in der anderen (vgl.: die deutschen Lexeme Beschuldigter, Angeschuldigter und Angeklagter haben keine entsprechend differenzierenden Äquivalente im Litauischen), sie können auf unter- KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 241 schiedliche syntagmatische Strukturen festgelegt sein (vgl. dt. tateinheitlich und entsprechende Partizipialbzw. Nominalkonstruktionen im Litauischen) oder eine genaue Bedeutungsfestlegung verlangen (vgl. dt. sicherstellen, beschlagnahmen, einziehen). Ein Eintrag im Glossar juristischer Terminologie sollte somit neben den grammatischen Angaben und aus authentischen Texten eruierten zweisprachigen Entsprechungen auch n-Gramme als typische einsprachige Verwendungsmuster sowie sonstige Informationen enthalten, z.B.: Angeklagter: Angeklagte/ r f/ m - kaltinamoji/ kaltinamasis Grammatische Angaben: der/ die Angeklagte, des/ der Angeklagten, die Angeklagten Deutsch-litauische Entsprechungen: Feststellung der Identität des Angeklagten (§243 II 2 StPO) - kaltinamojo asmenybės nustatymas (BPK 265 str.) zugunsten des Angeklagten aussagen - liudyti kaltinamojo naudai auf Antrag des Angeklagten (§222a StPO) - kaltinamojo reikalavimu (BPK 425 str.) Typische Verwendungsmuster: Deutsch: Freispruch für den Angeklagten Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten Litauisch: kaltinamojo teisės į nešališką teismą kaltinamojo tardymo protokolas kaltinamasis pripažįsta kaltę Sonstige Informationen zum Gebrauch: Angeklagter ist der Beschuldigte oder Angeschuldigte (in Anklagezustand Versetzte), gegen den das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen hat (§157 StPO). Kaltinamasis yra nagrinėjimo teisme dalyvis. (BPK 22 str.) abb. 1: beispiel eines glossareintrags Unter sonstigen Informationen wurden weitere relevante Angaben angegeben, z.B. Synonyme, terminologische Erläuterungen oder Hinweise zu Problemfragen. Wichtig dabei war die Möglichkeit der kollaborativen Arbeit durch die Funktion der Kommentare, wodurch man die Einträge gegenseitig kommentieren und sie so verbessern konnte. Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 242 Die Studierenden haben im Seminar alle Schritte zur Erstellung eines eigenen Fachglossars erprobt. Nach Steube kann lexikografischen Laien mit einer solchen didaktischen Methode der angeleiteten Glossarerstellung „eine wissenschaftliche Methode an die Hand gegeben werden, zu beliebigen (fachlichen) Sprachausschnitten korpusbasierte Glossare zu erstellen“ (Steube 2014, S. 43). 2.3 Glossar für Studierende einer Vorlesung zur Unternehmensführung Projektbezogene Lehre und E-Learning stehen seit einiger Zeit hoch im Kurs der hochschuldidaktischen Diskussion. Um die guten von den schlechten Ideen dahinter zu trennen, sollte man es ausprobieren. Deshalb wurde im Wintersemester 2014/ 2015 im Rahmen des Zwei-Fach-Masterstudiengangs Germanistik an der Universität Duisburg-Essen (UDE) ein Seminar durchgeführt, das ein konkretes Produkt zum Ziel hatte: Die Teilnehmer der von W. Nienhüser und Mitarbeitern durchgeführten Vorlesung „Einführung in die Unternehmensführung“ im Fach Betriebswirtschaftslehre an der UDE konnten auf ein Lehrbuch sowie diverse E-Learning-Materialien wie z.B. Vorlesungsfolien, aber auch auf reine E-Learning-Lektionen zurückgreifen, um sich auf die abschließende Klausur vorzubereiten. Dieses Selbstlern-Angebot sollte um ein Fachglossar erweitert werden, das nicht nur Termini und Definitionen enthält, sondern auch zeigt, wie hier fachlich angemessen formuliert wird. Das Glossar sollte online im moodle-Kursraum der Vorlesung eingebunden werden. Bevor das Glossar erzeugende Seminar begann, galt es wie im ‘richtigen’ Projektleben eine Anforderungsanalyse zu erstellen. Dazu wurden die Vorlesungsteilnehmerinnen und -teilnehmer online befragt, ob ein Fachglossar überhaupt von Interesse sei, zu welchen Anlässen (Klausurvorbereitung, Lesen von Fachliteratur, Schreiben einer Hausarbeit) es womöglich genutzt werde. Ferner wurden Erwartungen an Art und Ausführlichkeit der Angaben (Definitionen, Beispiele, Formulierungshilfen, kurz oder länger) sowie an Vernetzungsinformationen (per Links und/ oder als visualisiertes Netz) ermittelt. Im Ergebnis zeigte sich, dass das zu erstellende Glossar vor allem kurze, knappe Definitionen mit passenden Beispielen bieten sollte; dazu wurden Verknüpfungsinformationen zwischen den ‘Fachbegriffen’ gewünscht. Wenig sinnvoll erschienen den Befragten Formulierungshilfen, d.h. Kollokationen oder Konstruktionen. Hintergrund war hier sicherlich der Zweck der Klausurvorbereitung. Hätte am Ende eine Hausarbeit geschrieben werden müssen, wären die Prioritäten möglicherweise andere gewesen. Interessant ist, dass in der Anforderungserhebung wie auch in der nachträglich durchgeführten Befragung zum empfunden Nutzen des Glossars die grafische Veranschaulichung von Begriffsrelationen zuungunsten reiner Verweise oder Hyperlinks betont wurde. KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 243 Als Korpus wurden das Lehrbuch und die anderen E-Learning-Materialien eingesetzt, damit die klausurrelevanten Inhalte identisch blieben. Bei den anstehenden Aufgaben, v.a. bei der Bestimmung der Glossar-Lemmata, überzeugte die Korpusanalysesoftware AntConc die germanistischen Masterstudierenden des Projektseminars nicht. Viel einfacher war es, das Sachregister des Lehrbuchs zu nutzen, um daraus die ca. 50 Hauptlemmata zu bestimmen. Auch Informationen zu hierarchischen Begriffsrelationen konnte man dem Sachregister ansatzweise schon entnehmen. Nach einem Arbeitsplan, der im Wesentlichen die Arbeitspakete von KoGloss zugrundelegte, entstanden im Laufe des Semesters alle Einträge des Glossars. Die formale Einheitlichkeit geriet erstaunlich groß; lediglich bei den Versuchen, die gewünschten Begriffsrelationen mit den beschränkten Möglichkeiten von moodle zu veranschaulichen, unterschieden sich die Leistungen der Seminarteilnehmer etwas. Die das Seminar abschließende Reflexion ergab zwei interessante Aspekte: Erstens haben die Teilnehmer erfahren, dass es möglich ist, auch ohne fachspezifisches Wissen und allein durch Einsatz linguistischer Methodik terminologische Definitionen und Begriffsrelationen zu ermitteln. Die anfängliche Skepsis wich dadurch. Zweitens haben die Teilnehmer auf verschiedene Weise und vor allem bei der Erarbeitung der Einträge erfahren, wie stark terminologisches Wissen aus semantischen Relationen besteht bzw. an diese gebunden ist. In diesem Zusammenhang erfanden sie eine eigene terminografische Bezeichnung, den „Pyramidenbegriff“, um auf terminologische Bäume zu referieren. Die Bewertung des Projektseminars war am Ende durchaus unterschiedlich: Lobten die einen - der studientypischen Simulationen überdrüssig -, dass endlich einmal ein echtes Produkt für andere hergestellt wurde, fand mindestens eine Teilnehmerin die Erarbeitung des Glossars zu wenig kreativ. Ein Semester ist zu kurz, um zu vermitteln, in welchen Arbeitsschritten wie viel Kreativität steckt und dass ein Projekt nicht zur Seite hin ‘ausfransen’ sollte. Ein Projekt ist, was ein zuvor bestimmtes Ziel realisieren soll. 2.4 Förderung der Schreibkompetenz An der Hochschule Ventspils (Lettland), die Mitglied im KoGloss-Projektkonsortium war, wurde und wird weiterhin die Arbeit mit einem Spezialkorpus in einem Seminar zur Förderung der Schreibkompetenz eingesetzt. Die Studierenden wurden aufgefordert, einen Textentwurf zur „kritischen Stellungnahme zur konjunkturellen Entwicklung Lettlands mit der Anführung von Argumenten auf Deutsch“ (Dubova/ Proveja 2016, S. 104) zu verfassen. Dabei wurden erwartungsgemäß neben üblichen auch ungebräuchliche Wortverbindungen produziert, und zwar oft ausgehend von der Erstsprache Ulrike Haß / Eglė Kontutytė / Vaiva Žeimantienė 244 Lettisch sowie von den Informationen in verfügbaren gedruckten Wörterbüchern. In einem zweiten Schritt korrigierten die Studierenden ihre Wortverbindungen, indem sie die AntConc-Kollokationsanalyse eines thematisch spezifischen Textkorpus nutzten. Die zweite Textfassung wurde folglich deutlich besser. Dubova/ Proveja (2016) nennen dies „datengeleitetes Lernen“ und betonen die größere Selbstständigkeit und Unabhängigkeit solchen Lernens von den üblichen, tendenziell starren und rasch veraltenden Quellen sprachlichen Wissens. Im Sinne eines hiervon prinzipiell unabhängigen Projektmoduls wurde die Glossarfunktion eingesetzt, indem zentrale Wortverbindungen des Spezialkorpus dauerhaft dokumentiert und kommentiert wurden. Durch die Dokumentation und Wiederholung werden die im ersten Fall genannten Lernprozesse gefestigt, verstetigt und im Medium des kollaborativen Glossars quasi ‘sozialisiert’ (ebd., S. 108). Im günstigen Fall werden Studierende Korpusanalysen auch im späteren Berufsleben nutzen, wenn sie ihre eigenen Schreibprodukte überprüfen und korrigieren wollen. Das Projekt diffundiert damit potenziell in die Berufswelten hinein. 2.5 Terminologiearbeit für eine kleine Sprache: Estnisch Abschließend sei ein anderes, nicht auf die universitäre Lehre bezogenes Beispiel für die ‘Vitalität’ des Projekts KoGloss angeführt, das der damalige estnische Partner, die Abteilung für Germanistik an der Universität Tartu in Form eines Promotionsprojekts verfolgt (Aluoja/ Loogus 2016). Ziel ist die Gewinnung und Dokumentation der gebräuchlichen Kookkurrenzen und syntaktischen Muster in den sogenannten medizinischen Leitlinien, mit denen Behandlungsstandards für jede relevante Krankheit festgelegt werden. Diese Textsorte richtet sich nicht nur an Mediziner, sondern wird auch von informationshungrigen Patienten herangezogen. Um der Falle schlecht vom Englischen ins Estnische übersetzter Texte entgegenzuwirken, werden in einem estnischen Korpus medizinischer Leitlinien die gebräuchlichen, ‘guten’ Konstruktionen herausgearbeitet, von den weniger gebräuchlichen Konstruktionen unterschieden und in einem Glossar dokumentiert. „Die Resultate der Korpusanalyse können als Hilfsmittel für Übersetzer, Sprachlehrer sowie für Ärzte und Medizinstudenten dienen, die mit medizinischen Texten arbeiten oder diese erstellen.“ (ebd., S. 209). Dasselbe geschieht in der o.g. Dissertation mit deutschsprachigen Leitlinien, um einen systematischen Vergleich textsortentypischer Konstruktionen zu erhalten. Dies führt offensichtlich zur Feststellung bestimmter bevorzugter Muster, was wiederum für Übersetzer und Terminologen relevant ist, die nach regelhaften und auf andere Text- und Themenbereiche übertragbaren Mustern suchen. KoGloss - Ein Projekt hat doch kein Ende. Perspektiven in Forschung und Lehre 245 3. ausblick Die sehr unterschiedlichen Beispiele aus den Universitäten Vilnius, Duisburg- Essen, Ventspils und Tartu zeigen, dass es gerade die modulare Aufgliederung des Projekts ist, die sie geeignet macht, in je anderen Lernkontexten eingesetzt zu werden. Die verschiedenen Schritte immer wieder anders kombinieren zu können, macht sie flexibel. Zwar ist jedes heutige Projekt in Arbeitspakete oder andere Module gegliedert, aber ein Methoden entwickelndes Projekt weist offensichtlich vielseitig wieder verwendbare Module auf. Ein linguistischer Studiengang oder eine sprachwissenschaftliche Qualifikationsarbeit ohne die Empirie irgendeines Korpus ist heute wohl kaum noch denkbar. Dabei kann und soll es aber nicht (mehr) um Wortforschung im Sinne der Untersuchung von Bedeutung und Gebrauch isolierter Lexeme gehen; vielmehr sind Wortverbindungen aller Art ins Zentrum des Untersuchungsinteresses gerückt, gleichgültig ob sich dieses Interesse auf abstraktere konstruktionsgrammatische Strukturen oder auf lexikalisch kodierte Kategorien richtet. Es kann dabei von Vorteil sein, nicht auf die online verfügbaren großen Textkorpora angewiesen zu sein, sondern kleine Spezialkorpora selbst zu erstellen und zu explorieren. Die Vorzüge der kleinen und mit einfachen Mitteln umzusetzenden Korpusmethodik hat die Projektpartner über die Laufzeit des Projekts hinaus zunehmend überzeugt und setzt, wie wir gezeigt haben, immer wieder Ideen zu neuen Realisierungen frei. Dabei ist es ein großes Glück, dass das Projekt nun ‘frei’ von Berichtspflichten, Arbeitsplänen und einem zeitlichen Ende ist. Seine Baumschulzeit ist vorüber und es lebt jetzt selbstständig. 4. literatur Aluoja, Siiri/ Loogus, Terje (2016): Kollokationen in medizinischen Leitlinien: Ein deutsch-estnischer kontrastiver Vergleich. In: Kontutytė, Eglė/ Žeimantienė, Vaiva (Hg.): Sprache in der Wissenschaft. Germanistische Einblicke. (= Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft 111). Frankfurt a.M., S. 207-219. BMBF (2010): BMBF, Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur. Medienbildung für die Persönlichkeitsentwicklung, für die gesellschaftliche Teilhabe und für die Entwicklung von Ausbildungs- und Erwerbsfähigkeit. www.dlr.de/ pt/ Portaldata/ 45/ Resources/ a_dokumente/ bildungsforschung/ Medienbildung_Broschuere_2010. pdf (Stand: Juli 2016). Bubenhofer, Noah (2015): Muster aus korpuslinguistischer Sicht. In: Dürscheid/ Schneider (Hg.), S. 485-502. Bücker, Jörg (2015): Schema - Muster - Konstruktion. In: Dürscheid/ Schneider (Hg.), S. 445-463. 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Das Wort als das wichtigste und ureigenste Element des Sprachsystems wird in der modernen Linguistik als linguistische Einheit unter phonetisch/ phonologischem, orthographischem, morphologischem, syntaktischem und semantischem Kriterium untersucht und beschrieben. Gehen wir jedoch der Frage nach, wie ein Wort rein physikalisch entsteht und besteht, so ist folgender Prozess systematisch festzuhalten: Ein Wort wird mental im Gehirn produziert, wobei dem konkreten Vorgang die neuronalen und biochemischen Mechanismen zugrunde liegen, die feine elektrische Impulse bzw. Energie erzeugen und verwenden. Seine Realisierung entsteht erst akustisch durch Sprechorgane in Form von Schallwellen, deren eigentliches Element Luft ist. Zur Produktion eines Wortes bzw. für die beiden Vorgänge benötigt der Mensch wie jedes Lebewesen Energie. Nur ein lebendiger Körper kann über die Energie verfügen, um ein Wort zu bilden. Für die Hervorbringung eines Wortes bzw. eines Lautgebildes ist daher Energie zwingend erforderlich. Das Wort ist demzufolge nicht nur als eine reine Lautäußerung sondern auch als Energieausbruch zu betrachten. Es wäre daher durchaus möglich, das gesprochene Wort als einen sinnbeladenen bzw. modifizierten Energieausbruch und als eine geistige Energieform anzusehen. Der energietragenden Funktion des Wortes wird jedoch sehr selten Aufmerksamkeit geschenkt, denn keine wissenschaftliche Disziplin sieht sich für dieses Aufgabengebiet verantwortlich, zumal auch die Gefahr besteht, in eine religiöse oder mystische Deutung abzugleiten. Sie stellt daher eine Grauzone dar und wird kaum untersucht. Es wäre daher angebracht, zunächst vom aktuellen Stand der Wissenschaft auszugehen, um klarzustellen, ob man sich hierbei in wissenschaftlicher Hinsicht tastend bewegen kann. Nach heutigem Stand der Wissenschaft ist es möglich, die Gehirnwellen mit Elektroden aufzunehmen und zu messen bzw. elektrische Impulse des Gehirns zu erkennen, sie von einem Computer in Echtzeit analysieren und nach ihren Frequenzanteilen zerlegen zu lassen. Durch Signalverarbeitung mit Hilfe des Computers kann allein mit Geisteskraft bzw. hirngesteuert etwas im digitalen Bereich in Bewegung gesetzt werden. Neue- Kuthan Kahramantürk 248 re Forschungen auf dem Gebiet ‘Neurofeedback’ zeigen schon jetzt, dass allein durch Gedachtes etwas digital gesteuert werden kann. Außerdem wissen wir aus der heutigen Technik, die auf Spracherkennung bzw. Sprachsteuerung basiert, dass das Wort bzw. die Sprache physikalisch als Energieträger zur Geltung kommen kann. Und dass der Mensch als einziges Wesen die Fähigkeit besitzt, Gedankenformen in Worte zu kleiden, die im Mitmenschen wieder gleiche oder ähnliche Vorstellungen erwecken, zeugt weiterhin von der energietragenden Funktion des Wortes. Wie viel materieller und immaterieller Wert jedoch in einem Wort stecken kann, zeigen uns heutzutage Wörter in Form rechtlich geschützter Markennamen, Begriffe und Zeichen, die vor allem dazu dienen, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von konkurrierenden Waren oder Dienstleistungen anderer Unternehmen zu unterscheiden. Will man die energietragende Funktion des Wortes in seiner Grundstruktur erfassen oder die Tragweite, die in einem Wort innewohnt, herausfinden, dann ist der Aspekt ‘Namenschutz’ oder ‘geschütztes Wort’ ein höchst geeigneter Ausgangspunkt. Mittlerweile ist das geschützte Wort bzw. die Handhabung des Wortes zum Kapital geworden und taucht als mitbestimmende Produktionskraft auf. Die Geschäftsleute, die das Wort bzw. die Sprache nicht nur unter dem formalen Aspekt als ein Laut- und Zeichensystem auffassen, sondern das Wort für den Menschen als sichtbare oder hörbare Ausdrücke des geistigen Gedankens mit Assoziationskraft betrachten, zielen auf den Gewinn. Das Wort selbst als Lautbild bzw. als Zeichen wird daher in unserem Industriezeitalter als mentales Kapital eingesetzt. Unter diesen Gesichtspunkten wäre es daher angebracht, unseren linguistischen Blickwinkel zu ändern und das Wort nicht nur als linguistische Einheit sondern auch als Energieträger aufzufassen und die energietragende Funktion des Wortes bzw. der Sprache im Zusammenhang mit der heutigen Wissenschaft und den religiösen und mystischen Betrachtungen zu untersuchen. Da wir uns im Grenzbereich von verschiedenen Disziplinen wie der Linguistik, den Neurowissenschaften, der Kognitionswissenschaft und der Physik bewegen und die kognitive Linguistik bzw. Kognitionswissenschaft, die mit diesem Thema im direkten Zusammenhang steht, zurzeit keine Antworten und keine Forschungsergebnisse liefern, begeben wir uns somit als Sprachwissenschaftler auf die Spurensuche nach den religiösen und mystischen Betrachtungen im christlichen Sinne. Um den Stellenwert des Wortes zu bestimmen, gehen wir auch der Frage nach, was für eine Rolle das Wort für den Geist spielt. Es scheint sehr naheliegend zu sein, dass zwischen dem Wort und dem Geist eine dialektische Beziehung besteht, die die Entstehung und Weiterbildung des menschlichen Bewusstseins fördert. Bei dieser Arbeit verdient diese Wechselbeziehung bzw. Wechselwirkung zwischen dem Wort und dem Geist in diesem Zusammenhang unser besonderes Augenmerk. Wir Hermeneutische Betrachtungen zum Stellenwert von „Wort“ in der christlichen Mystik 249 wollen uns somit neue Einblicke in die Funktion des Wortes verschaffen und versuchen uns unter dem Blickwinkel der christlichen Mystik in die energietragende Beschaffenheit des Wortes zu vertiefen, um neue Einsichten bzw. höhere Erkenntnisse zu gewinnen. Der Begriff ‘christliche Mystik’ wird hier im weitesten Sinne aufgefasst. Darunter werden auch Ansichten von Visionären wie Gottfried Mayerhofer und Emanuel Swedenborg, die im religiösen Sinne vom subjektiven Erleben von etwas sinnlich nicht Wahrnehmbarem berichteten und die Sprache bzw. das Wort nicht durch die Brille des linguistischen Rationalismus gehandhabt haben, einbezogen. Das Wort wird in der christlich-mystischen Betrachtungsweise oft als ein geistiges Produkt, als Sinnträger, als eine Hülle einer geistigen Idee, als Ausdruck des unsichtbaren Gedankens, als ein belebender Faktor und vor allem als Schöpfungsmittel Nummer eins dargestellt. Solches Gedankengut über Wort und Sprache ist nicht nur in der Bibel sondern auch bei anderen christlichen Mystikern zu treffen. Es liegt auf der Hand, dass man durch solches Gedankengut zur Erkenntnisgewinnung über die energietragende Funktion des Wortes neue Wege ebnen kann. In der Physik ist Energie jedoch eine physikalische Größe und wird gewöhnlich als die Fähigkeit, mechanische Arbeit zu verrichten, definiert. Gemäß der Relativitätstheorie sind Energie und Masse durch die Formel ‘Energie = Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat’ (E = mc 2 ) verknüpft. Energie könnte folglich nur aus Masse bestehen, aber das Wort, die Sprache oder der Gedanke stellen leider als geistige Produkte keine wägbare Masse dar, was jedoch nicht heißen soll, dass sie keine Energie besitzen. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Energie in verschiedenen Energieformen vorkommen kann und dass Energie nicht verloren geht; sie verwandelt sich nur. Im physikalischen wie im übertragenen Sinn ist Energie aber auch zu definieren als die Fähigkeit, etwas zu bewirken oder zu verändern. Genau hier liegt wohl der höchste Wert bzw. der immaterielle Wert des Wortes. Das Wort, wenn es auch vor tausend Jahren gesprochen und geschrieben wurde, hat heute immer noch seine Wirkung, und in dem menschlichen Geist „gesät“ kann es vieles verändern. Es scheint somit naheliegend zu sein, dass das Wort eine geistige Energie trägt und dadurch imstande ist, etwas zu bewirken oder zu verändern. In keiner Religion der Welt wird dem Wort so viel Macht und zentraler Stellenwert eingeräumt wie im Christentum. Betrachtungen, die dem Wort eine energietragende Funktion zuschreiben, sind in erster Linie in den biblischen Quellen zu finden. Nach der biblischen Auffassung entstand die ganze Schöpfung durch das Wort, d.h. die ganze Schöpfung trat mit dem Wort ins Leben, und nach der Schöpfungsgeschichte von Moses erschuf Gott das Licht bzw. die Welt mit dem Ausspruch „Es werde! “. Das Wort wird somit im Alten und Neuen Testament als Initiator der Schöpfung bzw. als Träger allen Fortschritts Kuthan Kahramantürk 250 dargestellt, und ihm wird eine metaphysische Existenz zugeschrieben. In dieser Betrachtungsweise wird das Wort nicht nur als Lautbild sondern als Energieträger bzw. das Schöpfungsmittel Nummer eins dargestellt und beansprucht daher den höchsten Stellenwert. Die Frage, ob in einem Wort so viel Energie stecken kann, dass es den Urknall auslösen könnte, wäre durchaus berechtigt, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass der Urknall sich im subatomaren Bereich bzw. für menschliche Sinnesorgane im metaphysischen Bereich vollzogen hat und dass die Entstehung des Universums bzw. von Materie, Raum und Zeit sich durch die Urknalltheorie erklären lässt, die zunehmend durch astronomische Beobachtungen bestätigt wurde und wissenschaftlich untermauert ist. Im einleitenden Satz aus dem Evangelium Johannes wird dem Wort bei der Entstehung des Universums bzw. in der Schöpfungsgeschichte der höchste Stellenwert beigemessen. Johannes fängt sein Evangelium mit den Worten an: „Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“. Der erste Satz „Im Anfang war das Wort“ verweist auf die initialzündende Rolle des Wortes und deutet darauf hin, welche Tiefe, welche Tragweite und vor allem welche Energie in dem Wort innegewohnt haben sollte und welch Unendliches in einem Wort verborgen sein könnte. Rein wissenschaftlich betrachtet fällt uns heute immer noch schwer nachzuvollziehen, wie mit einem Wort das ganze Universum bzw. die ganze Schöpfung erschaffen werden konnte. Die wissenschaftlich fundierte Erklärung dafür fehlt heute nach wie vor. Und wo Faust stecken geblieben ist, nämlich beim Ausspruch „‘Im Anfang war das Wort! ’ Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? “ (Goethe, Faust, 1986, S. 36), da soll der Mensch immer weiter forschen. Der Ausdruck „Im Anfang war das Wort“ deutet auf ein Schöpfungswort hin, welches wiederum eine unvorstellbare Menge an Energie in sich bergen sollte oder könnte. Wenn man in Betracht zieht, dass das Wort im Grunde genommen eine geistige Energie ist bzw. als Stellvertreter für einen Gedanken oder eine Gefühlsäußerung gebraucht wird, so lässt sich schlussfolgern, dass das Wort als Bewegungsenergie bzw. als Energieträger eingesetzt werden kann. Nach der mystischen Auffassung von Mayerhofer ist jedoch nicht das Wort sondern der Gedanke, der in dem Wort innewohnt, die treibende Kraft der Schöpfung. 1 So betrachtet lassen sich die Worte „Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“ aus dem Evangelium Johannes umformulieren: „Im Anfang war der Gedanke. Und der Gedanke war bei Gott und Gott war der Gedanke“. Somit ist nicht das Wort sondern der Gedanke, der ebenso ein geistiges Produkt ist, als der erste Hauptfaktor bzw. als eigentlicher Initiator der Schöpfung zu be- 1 „So ist der Gedanke das anregende Prinzip, das sich zum Begriff gestaltet; dieser Begriff gewinnt Form, Gehalt und Bedeutung erst durch das Wort, das sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Schöpfung“ (Mayerhofer 1996, S. 128). Hermeneutische Betrachtungen zum Stellenwert von „Wort“ in der christlichen Mystik 251 trachten; d.h. der Gedanke als geistige Potenz bzw. Macht offenbart sich durch das Wort. Es ist daraus zu schließen, dass der Gedanke der Bildner und das Wort das lautliche Bild des Gedankens ist. Unter dieser Betrachtungsweise erscheint nicht nur das Wort als ein geistiges Produkt sondern auch der Mensch selbst und die ganze Existenz. Nach Mayerhofers Darstellung wird der Gedanke, der der geistige Träger des Wortes ist, in die sicht- und hörbare Hülle bzw. in das Wort eingekleidet und verflüchtigt sich in die Tat. In seiner visionär-mystischen Betrachtungsweise bezeichnet er das Wort als „ein selbstschaffendes, erregendes, in alle Schöpfungsverhältnisse eingreifendes, geistiges Produkt“ (vgl. Mayerhofer 1996, S. 129). Nach seiner Ansicht ist das Wort eine Umhüllung des Gottes-Gedankens in der sichtbaren Welt. Ihm erscheint das Wort als „verkörperter Gedanke“ und die Sprache als „verkörpertes Geistiges“ (vgl. ebd., S. 78, 128). Das Wort kann demzufolge als Ausdruck des unsichtbaren Gedankens bzw. als Mittel zur Sichtbarmachung/ Materialisierung des Gedankens angesehen werden und ist folglich als umgewandelte Energie bzw. als Energieträger zu betrachten. Aus religiös-mystischer Sicht deutet auch der Spruch im Markus-Evangelium „Himmel und Erde vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“ (Jesus Christus, Bibel, Mark 13, 31) auf die energietragende Funktion des Wortes hin. Nach dieser Betrachtungsweise wohnt dem Wort die energetische Gedankenkraft inne, die das Materielle bzw. das Zeitliche überlebt. Wollen wir die Zeile „Und er sprach das Wort ‘Es werde’“ in der Bibel von der religiös-mystischen Seite betrachten, so ist das Wort nicht als Lautbild sondern als Energieträger aufzufassen, der das ganze Universum erfüllt und somit die Schöpfung gestaltet und weiter bildet. In deutscher bzw. türkischer Koranübersetzung heißt es jedoch „Sei! “ 2 (tr. „ol! “) also nicht „Es werde! “. Und zwischen „sein“ und „werden“ liegt eine tief greifende semantische Differenz, wobei das erste auf den Zustand bzw. auf die magische Entstehung und das letzte auf den evolutionären Prozess bzw. auf die zeitliche Entstehung hinweist. So ist der Leser sprachbzw. wortbedingt mit unterschiedlichem Gottverständnis konfrontiert. Beim ersten Fall ‘Es werde’ ist Gott als Schöpfer zu begreifen, der beim Schöpfen das Mittel „Zeit“, auch im Sinne von Planck- Zeit, anwendet, beim zweiten Fall bzw. bei der deutschen und türkischen Koranübersetzung „Sei! “ bzw. „ol! “ ist Gott als Schöpfer zu verstehen, der die Schöpfung ohne Entstehungsprozess als Zustand herbeiruft bzw. herbeizaubert. Betrachten wir dies im Hinblick auf die Formulierung „Es werde“, so lässt sich schlussfolgern, dass durch das Wort im zeitlichen Sinne bzw. im Laufe der Evolution eine Energieumwandlung erfolgt. Daher werden der Mensch und das materielle Leben nach der christlich-mystischen Betrach- 2 „… Allah schafft ebenso, was Er will: wenn Er etwas beschlossen hat, spricht Er nur zu ihm: Sei! und es ist“ (Koran, Sure 3 ‘Ali Imran’, Vers 47). Kuthan Kahramantürk 252 tungsweise als ein Werdendes aufgefasst. Das materielle Dasein bzw. Menschsein ist folglich nur als ein ‘Ist-Zustand’, ein Zeitintervall im fließenden Werden bzw. im immer währenden Werde-Zustand zu betrachten. Unter dem mystischen Aspekt wird der Mensch daher als werdendes Übergangswesen, der auf der Sprosse der materiellen Stufenleiter ‘Menschsein’ steht, angesehen. Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass das Wort „sein“ als Verb irregulär konjugiert wird und im Gegensatz zu anderen irregulären Verben mehrere, stark voneinander abweichende Allomorphe aufweist. Die Frage, ob ein Sinnzusammenhang zwischen der Irregularität des Wortes „sein“ und der materiellen bzw. physischen Welt im Sinne ‘Dasein bzw. Existenz’ besteht, ist schwer zu beantworten. Die moderne Physik besagt jedoch, dass das Universum nur zu einem kleinen Teil aus Materie (etwa 5%) besteht, was das Dasein am Rande erscheinen lässt und im Ganzen als irregulärer Zustand aufzufassen wäre. Die äußerst irreguläre Konjugation des existenziellen Wortes „sein“ könnte in Analogie zu dem irregulären Zustand des materiellen Daseins im ganzen Universum beurteilt werden. In einer visionär-mystischen Betrachtung verweist Swedenborg (2012) auf den besonders hohen Stellenwert des Wortes bzw. auf seine geistige Entsprechung und vermerkt, dass der eigentliche Wert des Wortes in seinem inneren und geistigen Sinn 3 liegt, der ursprünglich in der geistigen Welt bzw. außerhalb der materiellen Welt zu finden ist. Nach seiner Erkenntnis kann den höchsten Wert bzw. den tiefsten Sinn eines Wortes nur derjenige erfassen, der ein geistiges Schauen besitzt bzw. erleuchtet ist. So betrachtet liegt ein geistiger Sinn, welcher der innere Sinn heißt, in dem Wort, was dem Wort einen höchsten Stellenwert verleiht. So ist jedem Wort ein geistiger Grund bzw. ein innerer Sinn verborgen (vgl. Swedenborg 2012). Ähnliches Gedankengut lässt sich auch bei Meister Eckhart (siehe Noerr (Hg.) (1989); Quint (Hg.) (1963)) finden, der auf den geistigen Ursprung bzw. auf die Tiefe des Wortes hinweist: Was im eigentlichen Sinne in Worte gefasst werden kann, das muss von innen kommen und sich durch innere Form bewegen und nicht von außen her kommen; vielmehr: von innen her muss es herauskommen. Es lebt im eigentlichen Sinn im Innersten der Seele. (Deutsche Mystik 1996, S. 129) 3 „Dass niemand wissen kann, was der geistige oder innere Sinn des Wortes ist, wenn er nicht weiß, was Entsprechung ist. Dass alles und jedes, bis aufs Kleinste, was in der natürlichen Welt ist, Geistigem entspricht, und daher solches bezeichnet. Dass Geistiges, dem Natürliches entspricht, im Natürlichen unter anderer Gestalt erscheint, so dass es nicht erkannt wird. Dass kaum jemand weiß, wo denn das Göttliche im Wort sei, während es doch in seinem inneren und geistigen Sinn ist, dessen Dasein heutzutage unbekannt ist. Dass das Mystische des Wortes nichts anderes ist, als was sein innerer oder geistiger Sinn enthält, …“ (Swedenborg 2012, S. 11f.). Hermeneutische Betrachtungen zum Stellenwert von „Wort“ in der christlichen Mystik 253 Auch in den visionär-mystischen Schilderungen von Mayerhofer finden sich Sprachbetrachtungen, die auf den sehr hohen Stellenwert des Wortes hinweisen. Er stellt vor allem die energietragende bzw. schöpferische Funktion des Wortes in den Vordergrund. Nach seiner Darstellung ist das Wort nicht nur ein Ausdruck einer geistigen Äußerung sondern eine Hülle bzw. eine Überkleidung einer geistigen Idee. So gesehen ist das Wort selbst nur als die Hülle eines in ihm wohnenden Gedankens und somit als ein „verkörperter Gedanke“ aufzufassen (vgl. Mayerhofer 1996, S. 128): ‘Wort’ ist also, um es euch mit wenigen Worten zu sagen, nichts anderes als ein verkörperter Gedanke, der, zum Begriff gediehen, als Wort sich erst kundgibt, und ebendeswegen ein Schöpfungsakt; so wie es auch die Dreifaltigkeit in sich trägt, wie solches bei allen Schöpfungen erweislich ist, nämlich Geist, Seele und Körper; analog mit: Gedanke, Begriff und Wort. Es ist naheliegend, dass es zwischen Wort und menschlichem Geist bzw. Geistesbildung einen engen Zusammenhang gibt. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaften ist jedoch die Frage, welche Rolle das Wort für den Geist bzw. für die Gestaltung der Geistesbildung spielt, ist unerforscht. Und die Frage, was für eine Interaktion zwischen dem Wort und dem menschlichen Geist besteht, bleibt offen und stellt unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt die größte Herausforderung unseres Jahrhunderts dar. Nach Mayerhofer nimmt das Wort bei dieser Interaktion einen sehr hohen Stellenwert ein. Die Relevanz des Wortes für die Geistesbildung des Menschen kommt in seinen mystischen Darstellungen auf prägnante Weise zum Ausdruck. Er weist darauf hin, dass das Wort, wie das Licht für jeden Organismus als treibende Kraft zu dessen Entwicklung und dessen Endzweck beiträgt, auf den menschlichen Geist fällt und dort die schlummernden Geisteskräfte weckt. (vgl. Mayerhofer 2003, S. 231). Nach seiner Ansicht regt das Wort sozusagen die schlummernden Kräfte des Geistes an, befruchtet den Geist wie ein Regentropfen die Erde befruchtet. So hilft das Wort zur geistigen Entwicklung des Menschen. Er betrachtet das Wort als „geistiges Samenkorn“, 4 das in dem menschlichen Geist gesät, zur Erkenntnis dient. Nach seiner mystischen Auffassung kann das Wort, in menschlichen Geist gelegt, zu der Erkenntnis bzw. zum Bewusstsein wachsen wie ein Samenkorn, in gutes Erdreich gelegt, also zu einem Baum wachsen kann. Der menschliche Geist bedarf also einer Anregung von innen mit dem Wort, um ihn zu belebender Tätigkeit anzuspornen. Nach dieser Betrachtungsweise regte sich ohne das Wort aus dem menschlichen Geist nichts. Die Frage „Was wäre der Geist ohne das Wort? “ sei hier dahingestellt. Der Geist benötigt jedoch weiterhin das Wort als geistige Nahrung zur geistigen Fortentwicklung. Das Wort ist hier in anderen Worten als Vorwärtstreiber bzw. 4 „Im Worte liegt wie in einem Samenkorn der ewige Keim zu weiterer Saat, im Worte liegt eine ungeheure Triebkraft“ (Mayerhofer 2003, S. 178). Kuthan Kahramantürk 254 „Brennstoff“ des menschlichen Geistes aufzufassen und löst eine geistige Kettenreaktion aus, was ihm wiederum einen sehr hohen Stellenwert verleiht. Unter diesem Aspekt betrachtet lässt sich annehmen, dass das Wort selbst ‘die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis’ ist. Denn ohne das Wort wären kein Gedanke und keine Idee entstanden oder erschaffen worden. Folglich wären auch Bewusstsein und Erkenntnis nie entstanden. Auch bei Goethe finden sich inspirierende Gedanken bzw. Andeutungen und Spuren ähnlicher Sprachbetrachtung, die auf die befruchtende, energietragende Funktion des Wortes hinweisen. Im Buch Hafis im West-östlichen Divan verweist Goethe mit dem folgenden Vierzeiler auf die dialektische Beziehung zwischen Wort und Geist: Sei das Wort die Braut genannt, Bräutigam der Geist; Diese Hochzeit hat gekannt Wer Hafisen preist. (Goethe: West-östlicher Divan) (Beutler 1956) Wort und Geist stellt Goethe in dem oben angeführten Sinngedicht als Ehepaar dar und weist implizit darauf hin, dass eine dialektische Wechselwirkung zwischen dem Wort und dem Geist besteht. Er betrachtet das Wort als Erreger des Geistes bzw. der Gedankenwelt und verweist auf die Notwendigkeit und Relevanz der Wechselwirkung zwischen den beiden, indem er andeutet, dass der Geist des Wortes bedarf, um tätig zu sein, stets als eine Anregung zur Weiterbildung. Das Wort wird hierbei nicht nur als belebendes Element des Geistes sondern auch als notwendiges Element für die Gestaltung der Geistesbildung dargestellt. In anderen Worten braucht der menschliche Geist das Wort als Antrieb, um sich auszubilden. Goethe deutet auch implizit darauf hin, wie beides zusammenhängt und wie sie sich gegenseitig bedingen. Es lässt sich doch annehmen, dass das geistige Produkt bzw. das Bewusstsein erst durch das Funktionieren dieses binären Systems entstehen kann. Wort und Geist sind daher als dialektische Einheit im binären System des menschlichen Daseins zu betrachten. schlussbetrachtungen Das Wort ist die Quintessenz der menschlichen Sprache, denn ohne Wort existiert keine Sprache und ohne Sprache ist abstrakte Gedankenbildung bzw. Geistesbildung nicht möglich. In den christlich-mystischen Schriften wird dem Wort nicht nur in der Schöpfungsgeschichte sondern auch in der Geistesbildung des Menschen ein zentraler Stellenwert beigemessen. In dieser Betrachtungsweise entspringt das Wort als hörbar oder sichtbar ausgedrückter Gedanke dem menschlichen Geist und wird daher als Produkt des Geistes Hermeneutische Betrachtungen zum Stellenwert von „Wort“ in der christlichen Mystik 255 sowie als materielle Hülle des Gedankens bzw. des Gottes-Gedankens aufgefasst. Sein Anfang und seine Wurzeln liegen so betrachtet im Geist. Es wird folglich auf metaphysische Existenz zurückgeführt. Nach dieser Auffassung liegen nicht nur so viel Geistiges und Macht auch eine unendliche Tiefe und eine ungeheure Triebkraft in dem Wort. Darüber hinaus wird das Wort als die eigentliche Substanz der Gedankenwelt betrachtet, d.h. das Wort dient als ‘Grundnahrungsmittel’ für den Geist des Menschen bzw. für dessen geistige Entwicklung und ist demzufolge als Träger geistiger Potenzen bzw. als sich äußernde Kraft/ Energie aufzufassen, die immer wieder Neues schafft und baut. Der Mensch braucht und verwendet für jeglichen Gedankengang Energie. Betrachtet man die Gedankenwelt des Menschen, deren Element aus Wort besteht, unter dem physikalischen Aspekt, so ist festzustellen, dass die Gedanken aus den elektrischen Signalen bestehen, die im Gehirn der Menschen produziert werden und dass das Wort, in dem die Bedeutung/ der Sinn als potenzielle geistige Energie immanent ist, als Träger dieser Energie bzw. der Gedankenenergie gebraucht wird. Unter diesem Aspekt reflektiert sich das Wort, das in christlicher Mystik als sicht- und hörbare Hülle des Gedankens erscheint, als kompakter Datenträger. Für jeden Datentransport wird ein Träger gebraucht. Sowie Radiowellen, Schall, Elektrizität und Licht als Datenträger zum Einsatz kommen, kommt auch das Wort bzw. die Schrift als Gedanken- und Energieträger zur Geltung. Somit lässt sich schlussfolgern, dass das Wort für jeden Gedankentransport als Datenträger und für den geistigen Energietransport als Energieträger gebraucht wird, was ihm wiederum einen sehr hohen Stellenwert verleiht. Es liegt daher auf der Hand, dass unsere gedanklichen Produkte in geistiger Form Energie besitzen. Dass Energie nicht verloren geht, sondern nur in eine andere Energieform verwandelt werden kann, wissen wir heute aus der modernen Physik. Die Umwandlung einer Energieform in eine andere beruht auf dem physikalischen Satz von der Erhaltung der Energie. Er besagt, dass Energie nicht verloren gehen kann, sondern nur in eine andere Energieform umgewandelt wird. Jede Freisetzung von Energie bedeutet auch eine Energieumwandlung. Die geistige Energie in Form von Wort bzw. Gedanken lässt sich von einem Geist zu einem anderen oder von einer Generation zu einer anderen Generation übertragen und von einer Form in eine andere umwandeln. Das Wort als sinnbeladener, geistiger Energieträger, das in Mayerhofers Sinn als „geistiges Samenkorn“ dem anderen flüchtig gegeben wird, findet dort Anklang und löst eine geistige Kettenreaktion aus. Hierin liegt wohl die Kraft, mit welcher der Mensch in Humboldts Sinn aus der endlichen Zahl von Wörtern einen unendlichen Gebrauch machen kann, zumal durch das Wort, in dem bedeutungs- und sinnbeladene Energie liegt, andere Gedanken generiert bzw. multipliziert werden. Dank dieser energietragenden bzw. stimulierenden Einwirkung durch das Wort bzw. den Gedanken formt und bildet sich die Sprache im menschlichen Geist Kuthan Kahramantürk 256 immer weiter. So lässt sich auch unter diesem Aspekt das Humboldt’sche Mittel-Gebrauch-Theorem und „Gedanken- und Sprache-erzeugende Kraft“ 5 im Menschen erklären. Darin ist wohl auch die schöpferische Unendlichkeit der Sprache bzw. der Gedankenwelt zu begründen. Die Wirkung von Wort als geistiger Energieträger beschränkt sich jedoch auf den Geist und kann dazu verwendet werden, den geistigen Stand des Menschen zu verändern, um ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Es ist aber auch anzunehmen, dass das Wort bzw. die Sprache als potenzielle geistige Energie bzw. als mentale Energie in Gedankenform ein wertvolles immaterielles Gut darstellt. Sie ist folglich als gedanken- und ‘bewusstseinbeladenes’ Eigentum jedes einzelnen Menschen zu betrachten. Die Frage, inwieweit der Mensch in die Geheimnisse bzw. in die energietragende Funktion des Wortes für den menschlichen Geist und in dessen tiefen, geistigen Sinn eingeweiht wird, bleibt jedoch offen. Dennoch ist festzuhalten, dass das Wort deswegen so einen mächtigen Stellenwert in der christlich-mystischen Betrachtungsweise hat, weil in ihm der Gedanke als geistige Energie immanent ist. Das Wort als umgewandelte Gedankenenergie dient im menschlichen Geist zur geistigen Fortentwicklung und schafft folglich eine geistig erzeugte, lebendige Wirklichkeit. literatur Beutler, Ernst (Hg.) (1956): Goethe: West-östlicher Divan. (= Sammlung Dieterich 125). Bremen. Deutsche Mystik (1996). Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Louise Gnädinger. München/ Zürich. Goethe, Johann Wolfgang von (1986): Faust. Der Tragödie erster Teil. Stuttgart. Humboldt, Wilhelm von (1973): Werke in 5 Bänden. Bd 3: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt. Mayerhofer, Mayor Gottfried (1996): Lebensgeheimnisse. Bietigheim-Bissingen. Mayerhofer, Mayor Gottfried (2003): Schöpfungsgeheimnisse. Bietigheim-Bissingen. Noerr, Friedrich A. Schmid (Hg.) (1989): Meister Eckhart. Vom Wunder der Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten. Stuttgart. Quint, Josef (Hg.) (1963): Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate. München. Swedenborg, Emanuel (2021): Über das weiße Pferd in der Offenbarung, Kapitel 19, und sodann über das Wort und seinen geistigen oder inneren Sinn aus den »Himmlischen Geheimnissen«. Zürich. www.wlb-stuttgart.de/ referate/ theologie/ swvotxt2/ WP.pdf (Stand: November 2015). 5 „Sie [die Sprache] muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Sprache-erzeugenden Kraft“ (Humboldt 1973, S. 477). hartMut schMiDt lexIkografIsche DefIzIte eInes VolkswörterBuchs In Der BerücksIchtIgung Des neueren Deutschen wortschatzes 1. einführung Den Anspruch, ein „Volkswörterbuch“ der deutschen Gegenwartssprache zu werden, hat bisher nur der Orthographie-Duden realisieren können, typischerweise ein einbändiges Werk von - in vergangenen Jahrzehnten - handlichem Umfang. In dem Maß aber, wie „der Duden“ immer genauer auch über Aussprache, Grammatik, Bedeutung und regionale Geltung informierte, wurde er vom bloßen Rechtschreibehilfsmittel zum vielseitigen Wörterbuch. Im Vorwort der vierten Auflage (1893) hat Konrad Duden mit Stolz mitgeteilt, dass schon die dritte in ca. 111.000 Exemplaren verkauft werden konnte, ein Erfolg, der unter deutschen Wörterbüchern einzigartig war. Weitgehend zurücktreten mussten bisher worthistorische Informationen; da wollte Duden den großen deutschen Wörterbüchern keine Konkurrenz machen. Der Duden wurde nun aber, berücksichtigt man alle seine 26 Auflagen von 1880 bis 2013, eigentlich unbeabsichtigt auch zu einem wichtigen Zeugnis der jüngeren Geschichte des deutschen Wortschatzes (mehr darüber: Schmidt 2016a). Allerdings gilt dieses Urteil nur im großen Ganzen. Wie überraschend einzelne Befunde sind, soll hier an ausgewählten Beispielen dargestellt werden. Wohl am interessantesten sind dabei die wortgeschichtlichen Befunde über den Wortgebrauch in der NS-Zeit und seine Spiegelung im Duden vor und nach 1945 (siehe Schmitz-Berning 2000 und schon Sauer 1988, S. 120-133). 2. ns-wortschatz und historische hinweise Der Dudenverlag hat neben den Hauptausgaben gelegentlich knappere Darstellungen herausgegeben, so z.B. 1933 und 2012 einen „Volks-Duden“. Der Volksduden von 1933 verdient Aufmerksamkeit, weil er zwar durchaus schon einige NS-Wörter aufgenommen hat, aber, verglichen mit den regulären Duden-Bänden der NS-Zeit (11. Aufl. 1934 und 12. Aufl. 1941, wiederholt in „Normalschrift“ 1942), einen noch erstaunlich zurückhaltenden Eindruck macht. Erst die Auflagen von 1934 und 1941 haben den NS-Wortschatz ausgiebig berücksichtigt. Die 13. Auflage (1947) hat sich dann bemüht, zahlreiche deutliche NS-Wörter wieder zu entfernen. Das ist verständlich, wenn man Hartmut Schmidt 258 hoffte, die deutsche Sprache könne durch die Streichung des Wortschatzes des NS-Regimes gereinigt werden und so womöglich auch die Erinnerungen ihrer Sprecher. Aber die Folgejahre zeigten sehr bald, dass alle Versuche der Befassung und Abrechnung mit dem NS-Regime durch Gerichte (z.B. die Nürnberger Prozesse) wie auch durch Historiker, Zeitkritiker, Journalisten und Pädagogen oder erzählende Familienväter und -mütter auf den einschlägigen Wortschatz nicht verzichten konnten. Nach 1947 kehrten einige NS-Wörter in die Stichwortliste zurück, selten sachlich markiert, viel zu oft ganz unkommentiert. Aber wer genau hinschaut, merkt, dass sogar knappe Anmerkungen über wortgeschichtliche Befunde interessant sein können. Warum soll der Benutzer des Duden heute zwar sauber datierte sachliche Angaben zur Erläuterung von Stichworten wie „Donaumonarchie“ oder „Kulturkampf“ bekommen, aber (außer der Markierung „früher“) keinen historischen Hinweis über Stichwörter wie „Nationalsozialismus“ (im Duden seit 1929) oder „Wehrmacht“ (seit 1934) erhalten? Natürlich sind eigene wortgeschichtliche Analysen nicht Aufgabe des Duden, aber knappe einschlägige Markierungen würden den Duden dem Ziel, den Ratsuchenden als erstes umfassendes Auskunftsmittel zu dienen, noch näher bringen. Der nötige Druckraum könnte durchaus gewonnen werden (siehe Abschnitt 4). Die Grundlagen für kurze worthistorische Hinweise werden durch die historische Wortforschung gelegt, durch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (dessen Fortsetzung leider schwer bedroht ist, siehe Schmidt 2016b), durch hervorragende Spezialarbeiten wie die von Sauer und Schmitz-Berning, durch die etymologischen Wörterbücher von Friedrich Kluge (2011) und Wolfgang Pfeifer (1995), durch den von Helmut Henne und seinen Mitarbeitern erarbeiteten neuen Paul (2002) und andere Veröffentlichungen. 3. Beispiele Die folgenden Beispiele sollen keine Lösungen für die praktische Lexikografie bieten. Sie werben nur für mehr Interesse an wortgeschichtlichen Informationen auch über unsere Gegenwartssprache. Auf das wünschenswerte Zusammenwirken von Druckwerken und digitalen Auskunftssystemen wird im Schlussabschnitt eingegangen. 3.1 Zunächst einige Beispiele für allgemein interessierende, aber überraschend spät eingeführte Duden-Stichwörter mit deutlich älterer Gebrauchstradition: Menschenwürde: Erst seit 1961 Duden-Stichwort. Aber das Kompositum war schon im späten 18. Jahrhundert in festem Gebrauch. DTA (im DWDS) gibt Belege ab 1776 (Lavater), DWB weist das Wort nach bei Blumauer, Voss, Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs 259 Schiller (1785 Don Karlos), das GWB auch bei Goethe. 1832 spielte „Menschenwürde“ beim deutsch-polnischen Hambacher Freiheitsfest eine Rolle als Losungswort aktueller politischer Forderungen (Wirth 1832, S. 32 und 35). Völkerbund: Der Name des 1919 im Teil 1 des Versailler Friedensvertrags beschriebenen „Völkerbundes“ wurde 1929 Stichwort der 10. Duden-Auflage, der ersten nach dem Ersten Weltkrieg. Die Idee eines Völkerbundes (und die deutsche Bezeichnung) waren wesentlich älter. Das DWDS bietet 10 frühe Belege von 1791 (Georg Forster) bis 1889 (Treitschke). Auch DWB hat das Stichwort, aber nur wenige frühe Belege ab 1778. Grundlegend war Kants Forderung in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (Königsberg 1795), einen „Völkerbund“ zu gründen (2. Abschnitt, 2. Definitivartikel, 1. Absatz). Als sichere Grundlage einer politischen Gemeinschaft der Völker im künftigen republikanisch verfassten Europa wurde auf dem Hambacher Fest ein „Völkerbund“ in den Reden von Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg Wirth gefordert (beide Reden in: Wirth 1832, S. 41 und 42). Volkskammer: Erst seit 1973 Duden-Stichwort. DWB erklärt „Volkskammer“ im Jahr 1932 als „unterhaus, parlament“. Das DTA bietet hierfür im DWDS zehn Belege von 1832 bis 1885. Die beiden ersten stehen wieder im Bericht über das Hambacher Fest: „Der günstige Umstand, daß einige Monate nach der letzten Staatsumwälzung in Frankreich zwei deutsche Volkskammern gleichzeitig versammelt waren“ (Wirth 1832, S. 3) und: „das vereinigte Wirken der versammelten Volkskammern“ (ebd., S. 4). Andere DTA-Belege stammen von Ludwig Börne und Heinrich Treitschke. Wichtig ist aber die Erinnerung daran, dass „Volkskammer“ auch ein Terminus der Frankfurter Nationalversammlung wurde. Schon DWB erinnert an „Volkskammer“ im Sprachgebrauch Friedrich Christoph Dahlmanns, 1848 selbst Abgeordneter in Frankfurt, in dessen „Geschichte der französischen Revolution“ (Leipzig 1845). Dazu ein Beispiel aus dem „Stenographischen Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung“: „Es sind von drei deutschen Volkskammern Adressen an die Nationalversammlung eingegangen“ (Wigard 1849, S. 6211 b ). An diese Benennungstradition schloss der Name der „Volkskammer“ der DDR an, so wie der „Bundestag“ zu den vielen „Bundes“-Komposita aus der Bezeichnungstradition gehört, die „Der deutsche Bund“ (1815-1866) begründet hatte. Wirtschaftswunder: Die öffentliche Erinnerung der Bundesrepublik gilt fast ausschließlich dem eigenen „Wirtschaftswunder“ der frühen fünfziger Jahre. Dazu passt die späte Aufnahme des Wortes in den Duden 1967. Man wird aber annehmen dürfen, dass der Ökonomieprofessor, Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard die ältere Wortgeschichte noch kannte: 1926 veröffentlichte der Kölner Ökonomieprofessor Julius Hirsch, 1919 bis 1923 auch Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, eine eingehende Hartmut Schmidt 260 und recht positive Analyse der Wirtschaft der Vereinigten Staaten: „Das amerikanische Wirtschaftswunder“. Nicht nur das Berliner Tageblatt, sondern auch Kurt Tucholsky nahmen Hirschs Buch (Tucholsky in der Weltbühne) interessiert zur Kenntnis (Belege im DWDS). Nach der „Machtergreifung“ der Nazis publizierte der ehemalige Wirtschaftsredakteur des Berliner Tageblatts Hans E. Priester 1936, nunmehr im Exil in den Niederlanden, in Buchform eine kritische Analyse der Finanzierung der NS-Wirtschaft, vor allem der finanziellen Grundlagen der deutschen Aufrüstung, Titel: „Das deutsche Wirtschaftswunder“. Diese Analyse wurde offenbar auch in Deutschland zur Kenntnis genommen, denn am 1. Januar 1943 erschien im „Völkischen Beobachter“, der Parteizeitung der NSDAP, ein optimistischer Neujahrsartikel, der während des Stalingrad-Winters Beruhigung stiften sollte und Hans Priesters Überschrift „Das deutsche Wirtschaftswunder“ übernahm und half, sie klassisch zu machen. Auch in COSMAS II lernen wir etwas, nämlich dass Thomas Mann den Beginn des „deutschen Wirtschaftswunders“ schon auf das Jahr 1949 datierte (Erzählungen 1974, Bd. 13, S. 807). 3.2 Beispiele aus dem politischen und organisatorischen Wortschatz der NS-Zeit, meistens mit längerer Vor- und Nachgeschichte: Keines der hier genannten Duden-Stichwörter trug früher oder trägt heute eine Kennzeichnung, die auf seinen Gebrauch in der NS-Zeit hinweist. Nach dieser Zeit galten solche Hinweise wohl als unnötig, weil die 13. Auflage von 1947 den typischen NS-Wortschatz aus dem Duden entfernt hatte und bei späterer Wiederaufnahme die erneuerte allgemeinsprachliche Verwendung interessierte, nicht der NS-Gebrauch. Die Frage ist, ob heutige Nutzer dieses Wortschatzes seine Geschichte kennen oder doch durch knappe Kennzeichnungen auf diese Gebrauchsgeschichte aufmerksam gemacht werden sollten. Dasselbe gilt für Wörter wie „Endlösung“ oder „Volkssturm“, die nie in den Duden aufgenommen wurden, meist, weil sie erst nach der letzten NS-Auflage in Gebrauch kamen, aber heute nach Ausweis der großen digitalen Korpora durchaus üblich sind, überwiegend in der zeitkritischen Geschichts- und Erinnerungsliteratur, gelegentlich aber auch in unspezifischen Zusammenhängen. Textbelege können aus Platzgründen hier nur sehr beschränkt eingefügt werden. Sie sind jederzeit in COSMAS II oder DWDS einsehbar. Die Nennung von Belegzahlen aus COSMAS II und DWDS soll auf die Frequenzen des Gebrauchs von NS-Wörtern in modernen Texten aufmerksam machen: Arbeitsdienst: Im Duden 1934 und 1941. Gestrichen 1947, fehlt auch in allen Folgeauflagen. DWB hat das Wort seit 1874 zur Bezeichnung einer dienstlich angeordneten Arbeitsverpflichtung, oft als längerfristige Zwangsleistung. Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs 261 Auffällig ist die früh geläufige Verwendung des Wortes beim Militär und in der Landwirtschaft: „zum arbeitsdienst kommandierter soldat“, so in DWB (aus: Sachs/ Villatte, Deutsch-Französ. Wörterbuch, 1874); „Sie [Soldaten] haben in diesem Dorf ihre sogenannte Ruhe, das heißt Arbeitsdienst, Exerzieren, Appelle und Wachen“ (Vossische Zeitung, Abend-Ausgabe, 3.3.1916 [DWDS- Kernkorpus]); „die jungen Schnittochsen […] im 4. Jahre in vollen Arbeitsdienst genommen“ (Krafft, Lehrbuch der Landwirthschaft, in: DTA [DWDS]). In der Weimarer Republik wurde nach längerem Vorlauf 1932 der „Freiwillige Arbeitsdienst“ als staatliches Angebot für Arbeitslose eingeführt: „Reichsarbeitsminister Dr. Syrup gab die Zahl der gegenwärtig im freiwilligen Arbeitsdienst Tätigen mit 280.000 an“ (Archiv der Gegenwart, 2, 1932 [DWDS]). Im NS-Staat bleibt das Wort die übliche Kurzbezeichnung für die seit dem 26.6.1935 gesetzlich eingeführte Zwangsinstitution „Reichsarbeitsdienst“ (Schmitz-Berning 2000). Dudenstichwort nur in 1941; in 1947 gestrichen und nie wieder aufgenommen. COSMAS II hat 4.088 Treffer von 1934 bis 2015. DWDS bietet 463 Belege von 1900 bis 1999, davon 40 für die Zeit von 1900 bis 1932. Die Beleglage bezeugt auch nach der NS-Zeit eine stabile Gebrauchstradition des in einer Erzählung von 1943 durch Thomas Mann aufgenommenen Wortes: „alles, was Kräfte hatte bei ihnen [den Juden in Ägypten, HS], mußte auch Arbeitsdienst leisten, Fronwerk bei den mancherlei Bauten“ (Mann 1955, S. 869). „Auf seinem Weg zum Arbeitsdienst ist ein Häftling des Bayreuther Gefängnisses geflohen“ (Nürnberger Zeitung, 10.6.2015, S. 16 [COSMAS II]). Betriebsführer: Duden berücksichtigte den „Betriebsführer“ zuerst in 1934, strich ihn in 1947 und nahm ihn ab 1961 erneut auf, um ihn in 2000 wiederum zu streichen. Ab 2009 stellte Duden das neue Kollektivum „Betriebsführung“ in die Lücke. DWB belegt die Bezeichnung für leitende Angestellte im Bergbau mit Nachweisen von 1871 bis 1998. Seit 1933 propagierte der NS-Staat das Miteinander von „Betriebsführer“ und „Gefolgschaft“ und forderte deren Treueverhältnis als Basis seiner Wirtschaftslenkung. Er sah die Eigentümer größerer Landwirtschaftsbetriebe ebenfalls als „Betriebsführer“ (Schmitz-Berning 2000). Das DWDS-Kernkorpus bietet von 1900 bis 1994 195 Belege, das System COSMAS II von 1953 bis 2015 sogar 1193; die meisten befassen sich allerdings mit der NS-Zeit, nur wenige mit den Nachkriegsverhältnissen in der BRD. deutschstämmig: Im Duden zuerst in 1941. 1947 wurde der Eintrag beibehalten, aber von 1954 bis 1967 gestrichen. Erneut aufgenommen in 1973 und seitdem fortgeführt (auch 2013). Das gerade in den letzten Jahren aktuell gewordene Wort spielte im NS-System, das „deutschblütig“ bevorzugte, nur eine geringe Rolle, daher nicht bei Schmitz-Berning behandelt. DWB hat einen Beleg von 1923, das DWDS einen NS-Beleg von 1943, Duden (1999) bietet einen Hartmut Schmidt 262 von 1979 (Erich Loest). COSMAS II hat die erstaunliche Zahl von 9.247 Belegen von 1953 bis 2015 für die Grundform und die flektierten Formen. In diesem Fall hat Duden in 1973 angemessen auf eine neue Gebrauchsentwicklung reagiert. Ehestandsdarlehen: Im Duden seit 1934, als NS-Propagandawort (vgl. Schmitz-Berning 2000) in 1947 gestrichen und nie wieder aufgenommen. Umgangssprachlich wurden aber verschiedene finanzielle Förderungen für Eheschließungen in Ost und West weiterhin als „Ehestandsdarlehen“ bezeichnet, z.B.: „Ehestandsdarlehen für deutsche Mädchen, die einen Polen heiraten“ (Die Zeit, 16.12.1954) oder: „Ehepaar mit zwei Kindern in West-Berlin lebend - gefördert vom Senat mit Kinder- und Ehestandsdarlehen“ (Rheinpfalz, 9.4.2015, beide Beispiele aus COSMAS II). COSMAS II bietet 80 Belege für 1951 bis 2015, die meisten betreffen die NS-Zeit. DWDS bietet 30 ähnliche Belege. DWB und Duden (1999) verzichten auf eine Angabe über die Entstehung des amtlichen Terminus. Eintopf: Im Duden erst seit 1967, fest bis 2013. Das eigentliche NS-Propagandawort war „Eintopfsonntag“ (siehe Duden 1941). DWB bietet den frühen Beleg: „Hundertmal Eintopf“ (München 1933, Buchtitel). Der „Eintopf“ war das geforderte schlichte Sonntagsessen; zu kochen an den zweiten Sonntagen der Monate Oktober bis März, dessen Billigkeit eine nachweisbar gezahlte Spende an das Winterhilfswerk nach sich ziehen sollte (vgl. Schmitz-Berning 2000 und Paul/ Henne 2002). Greuel-/ Gräuelpropaganda: Im Duden ab 1934, in 1947 gestrichen. Seit 1980 ohne Erläuterung wieder aufgenommen und bis heute weitergeführt. Laut Schmitz-Berning (2000) während des Ersten Weltkriegs eingeführt. Das Wort fehlt noch in DWB. Das DWDS-Kernkorpus hat 26 Belege von 1933 bis 1997; sein erster Beleg stammt aus dem Völkischen Beobachter vom 2.4.1933: „Abwehrkampf gegen die Greuelpropaganda“. COSMAS II hat 310 Belege für Greuelpropaganda von 1933 bis 2015 und schon 271 Belege für die neue Schreibung Gräuelpropaganda von 1999 bis 2015. Konzentrationslager: Im Duden seit 1934, hier beschrieben als „Sammellager [für Zivilgefangene, Volksschädlinge]“. Ergänzt 1941, wobei „ostm.“ im NS- Staat für „österreichisch“ steht: „Sammellager [für Zivilgefangene, Volksschädlinge]; ostm.: Anhaltelager“. Der Rechtschreib-Duden behält das Stichwort von 1947 bis heute bei, verzichtet aber auf jede erklärende Angabe über den NS-Sach- und Wortgebrauch und damit auch auf eine deutliche Korrektur der Duden-Auflagen 1934 und 1941, obwohl korrekte Angaben in anderen Duden-Bänden durchaus stehen, so in: Duden (1999). „Konzentrationslager“ fehlt in DWB, weil der K-Band schon 1875 erschien und in DWB, weil die Neubearbeitung bedauerlicherweise nur bis zum F geht, die ganze Strecke H bis R aber, wie A bis F, schon im 19. Jahrhundert Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs 263 erarbeitet und publiziert wurde. COSMAS II hat 39.420 Belege der Grundform von 1933 bis 2015, ganz überwiegend aus der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und aus der Erinnerungsliteratur, einige auch in semantisch abgeleiteten Verwendungen. Das DWDS-Kernkorpus bietet 1.540 Belege für die Grundform von 1902 bis 1999. Die bei weitem überwiegende Zahl stammt aus der Zeit nach 1945, aber 18 Belege liegen vor 1932 und betreffen meistens englische Internierungslager im Burenkrieg und Lager der am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte. Kulturschaffende: Duden-Stichwort erst in 1967, hier noch ohne Geltungseinschränkung. Von 1973 bis 1986 lautet der Hinweis „DDR“, von 1991 bis 2013 zu Unrecht „regional“. Das DWDS hat Belege seit 1927, anfangs adjektivische, erst 1940 auch das Substantiv. Im NS-Gebrauch mindestens seit 1934: „Aufruf der Kulturschaffenden“ (nach dem Tod Hindenburgs, siehe Schmitz- Berning 2000); „die schöpferischen Kräfte und die Eigenart des Kulturschaffenden“ (Völkischer Beobachter, 10.3.1940 [DWDS]); COSMAS II hat 7.750 Belege von 1948 bis 2015, überwiegend mit DDR-Bezug, aber durchaus auch darüber hinaus: „Everding, sich zu später Stunde an Kulturschaffende wendend“ (Die Zeit, 21.3.1969 [COSMAS II]); „Wir bundesdeutsche Kulturschaffende“ (Die Zeit, 22.2.1985 [ebd.]); „Kulturschaffende aus der Schweiz und Europa“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.5.2016, S. 9); „Streiks der freiberuflichen Kulturschaffenden [in Frankreich, HS]“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.2016, S. 9). Auch in Österreich: „Bewerbungsfristen für Kulturschaffende“ (Neue Kronen-Zeitung, 3.1.1995 [COSMAS II]). Mischehe: Duden nimmt „Mischehe“ erstmals in 1915 als Stichwort auf, gibt aber keine Erklärung, so auch in 1929. Der Volks-Duden von 1933 verzichtet ganz auf das Stichwort. Duden 1934: „Ehe zwischen Personen verschiedenen Bekenntnisses oder verschiedener Rasse“. Duden 1941 gewichtet neu: „Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Rasse, früher verschiedener Bekenntnisse“. Was folgt, ist ein definitorischer Eiertanz. Duden 1947: „Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Bekenntnisse“; 1954 bis 1967: „[…] verschiedener christl. Bekenntnisse, verschiedener Volkszugehörigkeit“; 1973 und 1980: „[…] verschiedener Religionen, verschiedener christl. Bekenntnisse, verschiedener Volkszugehörigkeit“. In 1986 und 1991 wird der Rassenbegriff wieder eingeführt: „[…] verschiedener Religionen, verschiedener christl. Bekenntnisse, verschiedener Rassen“ (was „Rasse“ nun bedeuten sollte, erklären diese beiden Auflagen am Beispiel: „die weiße, gelbe, schwarze, rote ~“). In 1996 (so bis 2013) wird vorsichtiger geurteilt: „Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen od. Kulturkreise“, nur fehlte das erklärende Wort „Kulturkreis“ zunächst noch unter den Stichwörtern, also blieb es selbst ohne Erklärung. Auch DWB zog in der Definition 1885 bereits den Rassenbegriff heran: „ehe welche zwei personen verschiedener confession, nationalität oder rasse Hartmut Schmidt 264 eingehen“ (DWB). Als Beispiele werden dort Ehen zwischen (wohl deutschsprachigen) Kurländern und Russen sowie Christen und Juden genannt. In einem Frühbeleg von 1862 verweist Moritz Hess mit Stolz auf „die Unverwüstlichkeit der jüdischen Rasse in Mischehen mit indogermanischen Stämmen“ (bei Schmitz-Berning 2000). COSMAS II hat 1.033 Belege für „Mischehe“ von 1907 (Thomas Mann) bis 2015. Das DWDS-Kernkorpus bietet 136 Belege von 1905 bis 1999 und DTA steuert dem DWDS weitere 8 Belege von 1882 bis 1913 bei. Volksverräter: Im Duden zuerst in 1941. In 1947 wurde es nicht getilgt, sondern weitergeführt bis 1967. Danach als Stichwort nicht mehr zurückgekehrt. Das politische Schmähwort „Volksverräter“ stammt allerdings noch aus dem 18. Jahrhundert. DWB zitiert im frühesten Beleg Georg Forster: „die öffentliche meinung verurtheilt […] jeden volksverräther“. Auf dem Hambacher Fest beklagte der Redner Karl Heinrich Brüggemann („ein Preuße“): „die empörende Uebermacht unsrer Aristokraten und Volksverräther“ (Wirth 1832, S. 81). DTA (im DWDS) bietet fünf Belege aus dem 19. Jahrhundert, darunter. „Volksverräther und feige Memmen“ (Georg Büchner). Offenbar gehörte das Wort anfänglich allein der politischen Linken, die den Volksbegriff sozial, nicht national definierte, später wird es in allen Lagern benutzt. „Volksverräter“ erscheint im DWDS-Kernkorpus mit 96 Belegen von 1909 bis 1982 und in COSMAS II mit 473 Belegen von 1933 (Thomas Mann) und 1935 (Viktor Klemperer) bis 2015. Beispiele: „ein Volksverräter war, wer seine Entwicklung [die des Heeres, HS] hemmte“ (Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin [1909] in: DWDS-Kernkorpus); „Die Herrschaft der Wucherer, der Schieber, der Nichtstuer und Volksverräter hat ein Ende (Neue preussische Kreuz-Zeitung, 24.3.1920 in: ebd.). Wehrmacht: Der Volks-Duden von 1934 hat das Stichwort noch nicht. Aufgenommen wurde es erstmals im Duden 1934, also schon bevor am 16. März 1935 durch Gesetz aus der „Reichswehr“ die „Wehrmacht“ wurde. Von 1947 bis 1973 gab der Duden an, „Wehrmacht“ bezeichne „alle [bzw. „die gesamten“] Streitkräfte eines Staates“. Seit 1980 lautet die Formel: „früher für die Gesamtheit der [deutschen] Streitkräfte“. Das ist nicht korrekt, weil die Streitkräfte der Kaiserzeit oder der Weimarer Zeit nur ganz vereinzelt und nie offiziell „Wehrmacht“ genannt wurden. Das Wort war zwar auch nach Ausweis von DWB, DTA und DWDS schon vor 1935 vereinzelt in Gebrauch, bezeichnete dann aber eher die „Fähigkeit zur Verteidigung“ als die Institution der „Streitkräfte aus Heer, Marine, Luftwaffe“ insgesamt. Der Versuch, auch die Streitkräfte anderer Staaten „Wehrmacht“ zu nennen, z.B. die „Rote Armee“ als „Rote Wehrmacht“ (so belegt für 1935 im DWDS), war kaum erfolgreich. „Wehrmacht“ blieb auch nach 1945 die übliche Bezeichnung für die deutschen Streitkräfte der NS-Zeit. Das DWDS-Kernkorpus hat 4.228 Belege von 1900 Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs 265 bis 1999, die Mehrzahl stammt aus der Nachkriegszeit, bezieht sich aber auf die NS-Zeit. COSMAS II nennt 56.766 Belege von 1915 bis 2015 mit ähnlicher Gebrauchsverteilung wie im DWDS. 4. schlussbemerkungen Konrad Duden hat mehrfach betont, dass er den Ausschluss aller sich selbst erklärenden, einfachen Komposita und möglichste Knappheit auch aller ergänzenden Angaben zu den Stichwörtern angestrebt habe. Sein Buch mit zunächst ca. 27.000 Stichwörtern sollte „in erster Linie ein ‘Orthographisches’, nicht ein ‘Deutsches’ Wörterbuch“ sein (1887, S. V). In der 10. Auflage wird der Duden erstmals „ein deutsches Wörterbuch“ genannt (1929, S. 3*). Das war die Ankündigung des Ziels, das Aussageprogramm über den bisherigen Inhalt hinaus auszuweiten. Dieser Kurs wurde fortgesetzt: Die Dudenredaktion ist sich bewußt, daß sie durch diesen Ausbau des Werkes den Duden wieder einen Schritt weiter auf dem Wege vom reinen Rechtschreibbuch, das er ursprünglich gewesen ist, zum Wörterbuch geführt hat. Diese Entwicklung ist unvermeidlich, weil ein großer Teil unserer Sprachgemeinschaft kein anderes Wörterbuch besitzt. (Duden, Rechtschreibung, Mannheim 1961, S. 6) Diesem neuen Konzept folgend, hat sich der Duden seitdem zwar zu einem Werk mit rund 140.000 Einträgen entwickelt, aber der längst angestrebte Ausbau zu einem in vielfältigster Weise informierenden Vollwörterbuchs wurde durch die ständig erweiterte Stichwortzahl sehr erschwert. In Maßen war dieser Weg zweifellos vernünftig und lag im Sinn der Nutzer. Aber inzwischen schaut der Nutzer und Käufer mit Sorge auf das Preis-Leistungs-Verhältnis des immer dickeren Printwörterbuchs, wünscht sich ein handlicheres Druckwerk und hofft zugleich auf die Abstimmung der Leistung des gedruckten Dudens mit den Möglichkeiten eines digitalen Orthografieprogramms. Ein gewisser Teil der Stichwortvermehrung der letzten etwa 20 Jahre beruhte zudem auf der Abkehr von einem weiteren Prinzip Konrad Dudens. Der akzeptierte nur Stichwörter, die „bei einem Schriftsteller unserer Tage“ bezeugt seien (Vorwort, 1880, S. X), die letzten Auflagen des Duden bauen dagegen z.B. die Zahl der berücksichtigten movierten Feminina systematisch aus. So erscheinen heute im Duden sogar die „Reichskanzlerin“ (die es nie gegeben hat) und eine „Generalfeldmarschallin“ (die wir hoffentlich nie nötig haben werden), die schwer vorstellbaren Feminina „Grapscherin, Henkerin, Kinderschänderin, Lustmörderin“ oder „Vergewaltigerin“ und sogar die „Pimpfin“. Dass diese Wörter bei ernsthaften „Schriftstellern unserer Tage“ gefunden worden seien, wie sich das Konrad Duden wünschte, ist kaum zu glauben. Die „Pimpfin“, bei der man sich fragt, ob hier der verspottete „Pimpf“ des 19. Jahrhunderts oder der im deutschen Jungvolk der Nazizeit organisierte Hartmut Schmidt 266 eine späte Partnerin bekam, hat es zwar 2013 schon in die Rhein-Zeitung geschafft (COSMAS II), ist das aber wirklich ein ausreichender Grund für das neue Duden-Stichwort? Der Duden bleibt in seiner gewohnten Druckform, auch wenn er gelegentlich Kritik herausfordert, das wichtigste „Volkswörterbuch“ für den deutschen Sprachbereich. Auch seine noch verbesserungsfähigen digitalen Rechtschreibhilfen werden gern genutzt, denn nur ein ständig gepflegtes digitales System wird den heute erwarteten Dienst eines im Netz direkt eingreifenden Rechtschreibprogramms für alle im Netz gefertigten Texte leisten können. Im Zeitalter der Digitalität wird allerdings gerade deshalb eine große Sorge aktuell: Wird uns der gedruckte Duden längerfristig überhaupt erhalten bleiben? Es gibt eine bisher wie selbstverständlich gelingende Leistung des gedruckten einbändigen Wörterbuchs, die nicht gering geschätzt werden darf: Wir können es in die Hand nehmen, durchblättern und mehr oder weniger ausgiebig darin lesen. Dadurch erlangen wir einen sehr praktischen Überblick über den Kern des aktuellen Wortschatzes, auch über das System seiner grammatischen, historischen, regionalen, semantischen und stilistischen Konnotationen, und dies alles für einen genau datierten und überprüfbaren Zeitpunkt. Einen so einfachen sinnlich und rational fassbaren Überblick gewährt uns kein digitales System. Dort können wir uns zwar auf vielen Ebenen zu immer weiteren Hintergrundinformationen fortklicken, aber die Fülle und die Grenzen des Gesamtangebots werden uns kaum so klar wie im Druckwerk. Die digitalen Angaben können und sollen zwar laufend korrigiert, ergänzt oder getilgt werden, doch das Datum der Entstehung, Erneuerung oder Streichung des digitalen Angebots und die Gründe für solche Korrekturen sind kaum ablesbar. Das ist für alle, die Informationen zur Wortschatzentwicklung eines genau bestimmbaren Zeitraums suchen (wie sie die Dudenauflagen bieten), ein schwerer Nachteil. Sprachinteressierte Nutzer möchten nachprüfbare Angaben bekommen, nicht nur Informationen, die sich geradezu fließend verändern. Die Lösung des angesprochenen Problems liegt im Neben- und Miteinander beider Angebote. Wir könnten heute wieder zu knapperen gedruckten Dudenbänden zurückkehren. Die üblichen Ausweitungen des Angebots im Stil der bisherigen Bearbeitungen sind ohnehin an ihre in einem Einbänder noch beherrschbaren Grenzen geraten (und auch an die der von Konrad Duden gewünschten Bezahlbarkeit für alle Interessenten). Wir brauchen einen gedruckten Duden für vielleicht 80.000 Stichwörter, ausgewählt nach Häufigkeit und „Gewicht“ in den heute gelesenen und kulturell bestimmenden Texten, erneuert - wie bisher - in einem Rhythmus von etwa fünf Jahren. Ein damit abgestimmter digitaler Netz-Duden hätte diese Grundmenge an lexikografischen Informationen in jeder Hinsicht zu erweitern und nach seinen Möglichkeiten bei Bedarf zu korrigieren. Das Printwerk bekäme durch die Lexikografische Defizite eines Volkswörterbuchs 267 Stichwortkürzung endlich wieder Raum für genauere Angaben über das heutige Angebot hinaus. Ein Duden mit knapper gefasster Stichwortreihe, aber reicheren Gebrauchsangaben dürfte natürlich keinen Bogen mehr um den speziellen Wortgebrauch der NS-Zeit machen. Der heutige „kleine Duden“ (Duden 2014) ist zwar laut Vorwort auf 50.000 „Wörter und Beispiele“ reduziert worden, aber genauere Erklärungen (unter Beachtung auch des NS- Wortschatzes) bietet er leider nicht. Museale Ziele beim Stichwortangebot sollte ein moderner Duden natürlich nicht verfolgen, aber markante Wörter der NS-Zeit, die heute noch in festem Gebrauch sind, dürfen nicht verschwiegen, sondern sollten als Teile des NS-Wortschatzes markiert und auch in ihrem heutigen Gebrauch, falls dieser davon abweicht, knapp erklärt werden. 5. literatur und Quellen COSMAS II - Corpus Search, Management and Analysis System. Das Portal für die Korpusrecherche in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache. www.idsmannheim.de/ cosmas2 (Stand: Juli 2016). DTA: Deutsches Textarchiv der BBAW, benutzt über das DWDS-Kernkorpus. Duden (1880): Konrad Duden, Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig 1880 [Faks.-Druck, Mannheim 1980]. Benutzt wurden auch die Folgeauflagen (angegeben sind im Folgenden außer den Erscheinungsjahren nur Titeländerungen und geänderte Verlagsorte): 3. Aufl. Leipzig 1887; 4. Aufl. Leipzig und Wien 1893; 5. Aufl. 1887; 6. Aufl. 1900; Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache 7. Aufl. 1902; 8. Aufl. 1905; Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter 9. Aufl. 1915; Der große Duden, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter 10. Aufl. Leipzig 1929; 11. Aufl. 1934; 12. Aufl. 1941; DUDEN, Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter 13. Aufl. 1947; 14. Aufl. Mannheim 1954; 15. Aufl. 1961; 16. Aufl. 1967; 17. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1973; 18. Aufl. 1980; 19. Aufl. 1986; DUDEN, Rechtschreibung der deutschen Sprache 20. Aufl. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1991; 21. Aufl. 1996; Duden, Die deutsche Rechtschreibung 22. Aufl. 2000; 23. Aufl. 2004; 24. Aufl. 2006; 25. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 2009; 26. Aufl. Berlin, Mannheim, Zürich 2013. Duden (1999): DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden. 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a. [Durchpaginiert.] Duden (2014): Der kleine Duden. Deutsches Wörterbuch. 8., vollst. überarb. u. akt. Aufl. Berlin. DWB (1854-1971): Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. 1. Aufl. Leipzig. [32 Teile und Quellenverzeichnis.] DWB (1983ff.): Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. 2. Aufl. Leipzig (später Stuttgart). [Abgeschlossen sind A und D bis F, aber unfertig sind B und C.] DWDS: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Erarbeitet in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. www.dwds.de (Stand: Juli 2016). Hartmut Schmidt 268 GWB (1978ff.): Goethe-Wörterbuch. Stuttgart u.a. [Anfangs hrsg. v.d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; danach hrsg. v.d. Akademie der Wissenschaften der DDR; derzeit hrsg. v.d. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Aktuell in Arb. Bd. 6.] Hirsch, Julius (1926): Das amerikanische Wirtschaftswunder. Berlin. Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden. Königsberg. www.philosophiebuch.de/ ewfried.htm (Stand: Juli 2016). 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Schmidt, Hartmut (2016b): Fragen des Abbruchs oder der Weiterführung der Tradition des Deutschen Wörterbuchs in der Nachfolge der Brüder Grimm. In: Lobenstein-Reichmann, Anja/ Müller, Peter O. (Hg.): Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation. (= Studia Linguistica Germanica 129). Berlin/ Boston, S. 331-349. Schmitz-Berning, Cornelia (2000): Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/ New York. Volks-Duden (1933): Der Volks-Duden. Neues Deutsches Wörterbuch. Bearbeitet von Dr. Otto Basler und Rektor Waldemar Mühlner. Leipzig. Volksduden (2012): So schreiben wir richtig! Das Volkswörterbuch zur deutschen Rechtschreibung. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim/ Zürich. Wigard, Franz (Hg.) (1848-49): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. 9 Bde. Frankfurt a.M. [Durchpaginiert.] Wirth, Johann Georg August (1832): Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. 2 Hefte. Neustadt a.H. [Durchpaginiert]. [Faksimile-Ausgaben: Vaduz/ Liechtenstein 1977; auch: Neustadt a.d. Weinstraße 1981.] John siMPson from KnapsacK to Wessi. german loanworDs In englIsh: 1600 - 2000 Words borrowed from one language to another are vital evidence for the study of language, but they also reveal fascinating information about the relationship between the donor and the receiver cultures themselves. Loanwords from German into English provide evidence for the state of English over time, and in particular about how the most prevalent types of word formation change from one century to the next. But they also reveal significant information about the social and cultural relationship between nations - in this case between modern Germany and Austria (and their historical counterparts) and Britain and the rest of the English-speaking world, from the Early Modern period up to the present day. 1 The present paper examines the rise and fall of Modern High German loanwords in English from 1600 until 2000, principally making use of the record of borrowing documented by the Oxford English Dictionary (OED) in its Third Edition (online version, in revision 2000-). Groups of loanwords are analysed by century, with reference to the changing social and cultural landscape characterising relationships between the relevant nations over this period. This is not a simple picture: each language grows over the period in different ways, and the speakers of English look to German at different times for different types of borrowing, as the political and intellectual balance alters. English is classified as a Germanic language, as its origins lie in the expansion of early peoples from northern Europe to the British Isles. From the 6th century AD onwards, many thousands of Germanic words became English words, not necessarily through borrowing but also through forming part of the base language, or set of dialects, that found a home in Britain. Even today, almost all of the hundred most common words of English have Germanic roots. This is not to say that they are “German” words, but that they derive from the Germanic linguistic heritage of early northern Europe. But over time, English was subject to many other influences and has always been open to “accepting” foreign words into the language. The Norman Conquest presented an enormous challenge to Germanic words in English, and the English 1 For a comprehensive introduction to modern lexical borrowing, see Durkin (2014). On the impact of Modern High German loanwords see particularly pp. 360-364. See also, for example, Görlach (2003, pp. 128-130). John Simpson 270 language - and culture - in Britain spent several centuries finding an accommodation with these that suited Britain’s changing and growing position in the world as an independent nation. By 1600 the original factors which created English as a Germanic language were no longer in operation. German was not a natural feeder language of new words into English, and had simply become one of a number of languages which provided English with new words in particular areas. There was no longer an explicit “special relationship” between German and English, and so any examination of the mutual influences between these two languages needs to start again from ground zero. In order to do this, it is particularly necessary to appreciate the significance to the British Isles of Germany and Austria as they developed into modern nation states. 2 slow beginnings: the 17th century perspective For Britons living in the first years of the 17th century, the German-speaking world (and the German language) meant several things. Germany was a great trading nation, still controlling many of the trade routes along northern Europe through the Hanseatic League. Germany was therefore a significant player in the transmission of goods between the emerging trading nation of Britain and the rest of Europe. At the same time, Germany - as a federation of individual states - was immersed in the Thirty Years’ War, and mercenary and other involvement in this coloured British views of the country. Because of its physical distance from Britain, Austria was less significant as a source of loanwords into English, but in later years it assumed a more significant role through English speakers’ predilection for travel, music, and their interest in the work of key Austrian scientists. 2 The OED online search routines record some 3,500 loanwords in the English language from German between 1600 and 2000. This figure is over-generous, for the purposes of this paper, because of its generous inclusion of Low German words, especially in the 17th and 18th centuries, which often translate into informal English vocabulary items; by the inclusion of Swiss- German, and of Yiddish words, especially in the 19th and 20th centuries; and by the inclusion of words with a joint and otherwise problematic origin from several Germanic or other languages (especially Dutch). At present, some words derived from German names are not registered as of German origin in the dictionary, and so these will not be found in the following data. Etymology is sometimes an imprecise discipline, and any search routine legitimately provides this more extensive information, because “German” origin can mean different things to different scholars, and each needs to select the relevant subset from the available data. In this paper, the figure can be reduced by about ten percent by excluding words which do not fall into the category of Modern High German. From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600 - 2000 271 The German states presented a religious palette that was closer to Britain, after its break with Rome in the previous century, than to other major European players such as France and Spain. The Protestant and Lutheran backdrop offered some level of parallelism with Britain. As the century progressed, British scientists began to appreciate the work of their German peers in specific disciplines. To the British traveller and reader of travellers’ tales, the German states offered a strangely parallel but different world. However, this needs to be put in context: in the 17th and 18th centuries taken together, only about two hundred German terms entered English. This was a period of low vocabulary transmission. In terms of religion, the OED finds four words borrowed into English from German in the 17th century, and in general these characterise the Germanspeaking regions as the home of extreme religion sectarianism. Lutheran Swermers (first recorded use: 1607) and also Taborites (1646) enter the English word-hoard, though not as significant additions. Religion, as Britons well knew, was divisive, but they also found a place for the religious synergist (1601). It is, by contrast, always instructive to consider areas that did not provide words for English, and it was not in the 17th century, but only in later centuries, that Germany was seen as a natural source of philosophical and other intellectual terms. Germany itself was a strong provider of trade terms in the 17th century, as would be expected. As with all of the loans from German, these are predominantly nouns. But these trading terms fall into a small number of specific categories: monetary terms (coins and denominations), weights and measures, and a few traded goods. Many of these terms were short-lived in English: coins - the Hungar (1650), the fennin (1611), the groschen (1617) and the mariengroschen (also 1617), and the rappen (1617); measures such as the ohm (a liquid measure, 1611), the mosse (a measure of wine, 1617), the Steifkin (a measure of wine, 1617), the skippard (1622) and the loth (1638) (units of weight), and the fudder (a measure of wine, 1678); goods such as slyre (linen, 1621), rhine (hemp, 1639), garcopper (metal, 1654). 3 Even here, there is a suggestion of the German characteristics of precision and drinking later commonly associated with the nation. These loans reveal further aspect of the borrowing process: English does not necessarily borrow a German words in their native German form. Sometimes, as in the case of garcopper, it transmutes all or part of the term (here, Garkupfer) by giving it an English element. This is quite regular with borrowings from 3 Although nouns in modern German are written with an initial capital letter, the OED frequently downcases these according to the manner in which they are typically written in English. This style has been maintained here. John Simpson 272 other languages at this period; similarly, some borrowings are calques or loan-translations (such as sugar-bird, 1688, from German Zuckervogel). It might also be noted that the distribution and dating of borrowed terms depends heavily on the production of particular English-language texts which discussed issues of Anglo-German interest, such as Thomas Coryat’s Crudities: Hastily gobled up in Five Moneth’s Travels (1611) and Fynes Moryson’s Itinerarie (1617), or which were simple translations of German texts for the Englishspeaking market. These necessary characteristics of OED data-collection also inform borrowings in later centuries. 17th-century Britons seem to have associated German speakers with exercise and hiking (knapsack 1603, though also used in military contexts; snapsack, 1633), with meat and drink (skink, German ham, 1630; sauerkraut, 1633), rummer (drinking glass, 1625), and Mosel (wine, 1686). But there is as yet little from the world of the arts, folklore, and music, which form significant areas of later borrowings. In keeping with the political and cultural associations noted earlier, the German states and the Habsburg Empire were known for military terminology (Trabant, a guard, 1617; plunder, 1632 as a verb and 1643 as a noun - perhaps owing something to Dutch; Morgenstern, the weapon, 1637; the guns howitz, 1687 and howitzer, 1695). As the century progressed, science suddenly became an important subject of study, especially after the foundation of the British Royal Society in 1660. But Germanic science was at this time known for its earthy nature: there are numerous terms from metallurgy and mineralogy from the mid-17th century (spalt, 1668; quartz, 1676; blende, 1683; fluss, 1683; thornel, 1683). German scientific vocabulary also reached Britain from ornithology (smiring, 1655; hazel-hen, 1661; citril, 1678; kirmew, 1694; winnard, 1698), as well as in the names of other wild animals from the German word-hoard (hamster, a “German rat”, 1607; want-louse, 1655; steinbock, 1695). As time passed, English tended to look to German not for wildlife generally, but for animals (especially dogs) kept as pets. It would probably be fair to say that the English-speaker’s perception of the German-speaker at the time was of a robust individual, not steeped in intellectual pursuits, but energetic and persistent, with its scientific researchers involved especially (as the century evolved) in the physical sciences. The “character” words borrowed into English from German tend to reflect the former characteristic: Grobian (boorish, 1611; Owl-spiegle, jester, 1637; shirk, sponger, 1639; killcrop, brat, 1652): perhaps in many ways something like the Britons themselves. 4 4 An excellent detailed survey of data in this field may be found in Pfeffer/ Cannon (1994). From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600 - 2000 273 the hanoverian ascendancy A closer relationship between Germany and the British Isles was marked, at least in the higher echelons of society, in the 18th century by the ascension of George I and the House of Hanover to the English throne. However, the century as a whole was only slightly more indebted to the German language for items of vocabulary than was the 17th century: the OED records 160 words of German origin, of which some 130 derive from Modern High German. There is, however, a shift in focus. A small stream of religious words maintained the perceived sectarian outlook of German religion, and these arose principally in the second half of the century: Dunker (1751), Schwenkfelder (1792), Occasionalism (1797). Most disciplines showed a diminution of coinages, even in comparison with the 17th century’s low level. Military terms were restricted to the titles of ranks, despite the generally friendly relationship between the countries at the time (tolpatch, a foot soldier, 1705; veld-marshal, 1709; uhlan, cavalryman, 1753; jäger, rifleman, 1776). As might be expected, Germany was not a major source of nautical words (houseline, a light rope, 1712; norman, a securing pin, 1769). Trading terms were no longer units of measure (except for rub, 1756), but principally coins (schilling, 1753; Reichsthaler, 1757, and thaler, 1787). Towards the end of the century, word borrowings from German begin to emerge in the new United States as well as in the British Isles. Further ahead into the early 19th century, trading preoccupations merge into the new theoretical discipline of economics. The 17th century had demonstrated considerable interest in the structure of German and Habsburg society (Pfalzgraf, 1611; Rathaus, 1611; stift, princebishopric, 1637; stadhouse, 1646; landgravine, 1682; vogt, 1694), and this was maintained in the eighteenth (Reichschancellor, 1759; Pfalzgraviate, 1762; wildgravess, a female magistrate, 1762), fuelled both by British (and subsequently American) reading patterns and by travel. A wider variety of English-language texts, including popular compendia, concerned with everyday life in Germany and Austria were published in the 18th century. Thomas Nugent’s Travels in Germany (1768) appealed to a new tourist market; and Charles Burney’s Present State of Music in Germany (1773) informed readers about the music they had seen or heard as they travelled around the German opera houses, or attended performances in London. Both general and scientific interest in flora and fauna continued at a low level: shirk (1706) and hauser (1745, both sturgeons); rellmouse, dormouse, 1747; poodle, 1773; muggent, duck, 1785). Sometimes these appear first in informal texts, such as English diaries and journals. American interest in German agriculture found runcle (beet, 1788) in George Washington’s diaries, and the English interest in the mangel-wurzel (1787) surfaced. John Simpson 274 But the predominant sphere of borrowing in this century was science, and again outstandingly in metallurgy and mineralogy, from which almost half of the entire set of borrowed words derived, especially from mid-century onwards: spat, spar, 1706; hornstone, 1728; surturband, lignite, 1761; grunstein, 1784; uranium, 1790; syenite, 1794; zircon, 1794; mandelstein, 1799; etc.). In the late 18th century, English-speakers were introduced to the science of rocks and metals through the growing number of compendious technical dictionaries and encyclopaedias produced by scientists such as the Irishman Richard Kirwan, whose Elements of Mineralogy (1784 etc.) was combed by the OED. Sometimes these new terms were short-lived, to be superseded by later standard terminology (Müller’s glass/ hyalite; schiller spar/ bastite). The late 18th century saw a general increase in the native-language publication of scientific papers (rather than in Latin), and English scientists could read about the discoveries of German and Austrian scientists such as the chemist Martin Heinrich Klaproth, writer and scientist Rudolf Erich Raspe (who moved to England in 1775), and geologist Abraham Gottlob Werner. German life sciences were not yet firmly established on the international scene, and German medical exploration was, from the English perspective, still a thing of the future (only seltzer, 1744 and macrobiotic, 1797). The explosion in German chemistry still awaited the birth of the 19th century. Rather surprisingly, German industry was still barely represented in the English vocabulary of the 18th century: eschel, from glass-making, 1753, for example, and veneer (1702) and post (a pile, in paper-making, 1738). 5 If the century belonged to the mineral scientists, there were suggestions as the 18th century drew to an end of activity in other, intellectual, spheres. The 19th century saw the growth of German intellectualism, in philosophy, literature, educational theory, and language study, but with the arrival of Kant, the final decade of the 18th century plotted a new set of philosophical and educational words borrowed into English (Noumenon, 1796; analogon, 1797; Philanthropine, 1797; phoronomy, 1797; propaedeutic, 1798; obscurant, 1799), and felt the early echoes of German romanticism, a major influence especially on the more theoretically inclined English-speaking writers, poets, and thinkers (messianic, first recorded in Coleridge around 1794). But much of this high-flown vocabulary will have gone over the head of the regular British and American citizen, who doubtless found some of the longer compounded German terms confusing. At a lower level of vocabulary, the English-speaker was attracted by simple German conversational expletives (nix! look-out, 1753; mein Gott, 1795), or by regular terms of address such as mein Herr, 1796 - illustrated from popular literary productions (especially 5 See Ammon (2004). From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600 - 2000 275 drama and the early epistolatory and picaresesque novels, but indicative of a more general awareness of the terms). The Germanic propensity for games and gambling rumbled along, with snip-snap-snorum (1755, through Low German, still a source of informal terminology) and spill-house (1778, perhaps showing Dutch influence). The only “character” term from German at the time seems to have been hounsfoot (rascal, 1710, also perhaps showing Dutch influence). The appetite of the English speaker for German and Austrian foodstuffs in the 18th century appears to have been muted, with the principal borrowings being pumpernickel, 1738; noodle, 1779; Rudesheimer, 1788; Riesling, 1788; and Kraut (1790, like runcle, first noted from North America). It is perhaps surprising that even into the late 18th century the vocabulary of German music is still restricted in English, with only five examples: posaune, trombone, 1724; pantaleon, dulcimer, 1757; busaun = posaune, 1776; zinke, 1776; and waltz, from an English journal of 1781. german lexical expansionism in the 19th century The 19th century presents an entirely different picture of the lexical influence of German on English. There had been signs of change at the end of the 18th century, particularly in the world of the intellectual, but as the 19th century progressed, these changes began to seep into general educated use. Linguistic forecasters may not have expected this in 1800. From a fairly steady rate of borrowing of an average of fifteen words per decade in the previous two centuries, the first three decades of the 19th century saw this rise to a new average of over thirty. The 1830s marked the first great leap forward, with the borrowing of around ninety new terms from German, and by the end of the century the number of German innovations in the English vocabulary had rocketed to over two hundred per decade. German philosophy and literature - Natural, Romantic, Gothic, Kantian - became the index of the sensitive English-speaking writer and thinker, and an appreciation of this was passed on to a wider audience of people attracted by the mysterious natural forces promised by German texts. Simple philosophical terms become part of a grander discipline of intellectual history: Naturphilosoph, 1818 (Coleridge), Anschauung, 1820; Sehnsucht, 1847; Zeitgeist, 1848; Identitätsphilosophie, 1861, Weltanschauung, 1868; Lebenslust, 1890; energism, 1895). English speakers were captivated by these grand concepts. What were originally educational terms rubbed shoulders with the grander ideals of German scholarship, intellectual community, and university life: semester, 1826; Wissenschaft, 1834; Kommers, 1839; kindergarten, 1852; penal, freshman, 1854; Methodenstreit, 1893. Religion was no longer the preserve of sectarianism, but also merged with philosophy: John Simpson 276 acosmism, 18333; pneumatism, 1838; schwärmerei, 1845; paneutheism, 1874; pisteology, 1880; mysteriosophy, 1894. In previous centuries, language words had been largely restricted to the names of languages themselves, especially those of peoples living in central and eastern Europe. But in the 19th century the new study of philology came to life, and German-speaking scholars led the world in language analysis, which English speakers were keen to understand: factitive, 1830; umlaut, 1852; anlaut, 1881; Auslaut, 1880; inlaut, 1891; schwa, 1895. English-speaking comparative philologists puzzled over Grimm’s law (1838 in English) and Grassmann’s law (1891). By the mid 19th century, the language of intellectual life in Europe was German, and English borrowed heavily, as it sought to share in German prestige. But, as in previous centuries, the laurels for German lexical innovation were worn by the scientists. German-speaking scientists were still world-leaders in the description of minerals (pistacite, 1805; ixolite, 1846; mimetesite, 1867; cristobalite, 1888; raspite, 1898; and many more). But by now German scientists were exploring other domains. Not far behind mineralogy in terms of word creation came chemistry, no longer principally metal-based, but sharing the European fascination with describing the structure of compounds, alkaloids, alcohols: nicotianin, 1833; pinipicrin, 1859; helleborein, 1871; adenine, 1885; sabadine, 1891; flavonol, 1898). At times, these discoveries arose from the more traditional investigations into natural substances and plant structures, but increasingly they involved intellectual curiosity about any chemical compound or structure. Countless English scientists used and experimented with these compounds and used the German terms coined to describe them. Science was developing throughout Europe and America, and German and Austrian scientists followed and sometimes led these trends, expanding chemistry into biology, embryology, zoology, physiology, etc. in much the same way that they had helped to drive mineralogy into the more theoretical structural study of geology and geomorphology. The disciplines fed off each other, and developments became more integrated: a discovery in chemistry would lead naturally to a concomitant discovery in medicine, and German terminology was typically used to describe each. As the 19th century came to an end, some of the most striking scientific work in the German-speaking world focused on biochemistry and genetics, and one of the key words of the latter part of the century was another German creation: chromosome, described by the German anatomist Heinrich Wilhelm Gottfried von Waldeyer- Hartz in 1887, and almost immediately translated for an English-speaking audience by W. B. Bentham in 1888, in the Quarterly Journal of Microscopical Science. From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600 - 2000 277 Ironically, this most intensive area of German loans into English mainly provided borrowings from the Romance word-stock, rather than from native German terms, as German-speaking scientists tended to align with European scientists generally in selecting word elements from Greek and Latin when coining new scientific words. Some linguists regard these as words deriving from a common stock of international scientific vocabulary, not bounded by geography, but culturally and in terms of intellectual history they represent a significant feature of German innovation. It is easy to overlook the continued emergence of more everyday German vocabulary in English over this period. Travellers reported on the alpenstock (1828), the gasthof (1832) and gasthaus (1834), they used their rucksacks (1853), and admired the alpenglow (1862); they heard of opportunities for new exercise regimes (turnverein, 1852, in America; pangymnasticon, 1863, again principally in America); they enjoyed evenings, sometimes gambling away their money, of pinochle (1864), kriegspiel (1877), schafskopf (1886), Schneider (1886), or Ramsch (1887). In the 19th century they were less aware of new German military vocabulary (Landwehr, 1815; carthoun, cannon, 1849; Oberleutnant, 1861), but they learned more about the structure of German society: schloss, 1820; Residenz, 1824; zollverein, 1843; kursaal, 1850; Bundesrat, 1872 - as they continued their travels around the German-speaking world. And at last the English-speakers started to appreciate German and Austrian food, drink, and music in large quantities: (food) kohlrabi, 1808; smear-case, 1829; schnitzel, 1854; wiener, 1889; strudel, 1893; (drink) schnapps, 1818; Traminer, 1851; Maitrank, 1858; slivovitz, 1885; glühwein, 1898; Weinstuke, 1899; to name just a few. After two centuries of disregard, German and Austrian music took centre-stage in the English-speaking music-lover’s heart - organ stops, dances, instruments, songs, and musical theory: panharmonium, 1811; gemshorn, 1825; accordion, 1830; Lied, 1852; nonet, 1865; leitmotiv, 1880; mässig, 1884; Liebestod, 1889; durchkomponiert, 1892. The 19th century was a century in which German words streamed into English at a considerable rate, as the manifold aspects of German culture demonstrated their appeal to the English-speaking audience. The English, the Americans, the Australians, and many others benefited from German and Austrian health cures and health care, medical discoveries, food, drink, travel, art, literature, philosophy, and industry. If they needed a cure themselves after immersing themselves in this abundance, then they could turn to the works of Sigmund Freud, publishing in the late 19th century, but typically not translated into English until the twentieth. By the end of the 19th century German, and particularly Austrian, psychology, and sex-psychology, seemed set to have an answer for everything. John Simpson 278 german in the modern world: 20th-century loans In general, the rate of borrowing into English from other languages (especially Latin and French) has been steadily dropping over the centuries. 6 For German, the picture is not so clearcut. The OED records only about one hundred fewer loans from German into English in the 20th century, but they portray a very different picture of the relationship between English and German speakers, mirroring dramatic changes in the world over this period. Two world wars, the emergence of English as a global language, the shift of much scientific publication into English, the greater opportunity for German-speaking scientists to work abroad, particularly in America, and the emergence of the European Union, have all contributed to this changing linguistic environment. In the light of these changes, it is perhaps surprising that English has still incorporated, according to the OED’s record, over one thousand German words into English over the course of the 20th century. As usual, these changes need to be examined individually in order to determine the specifics of change. There is a noticeable reduction in the number of German words from the disciplines of philosophy, education, scholarship, and religion entering English in the 20th century, and in fact the stream more or less dries up in the 1960s. The same is true of psychology (including sexpsychology), strong in the early decades of the century (einfühlung, 1904; transvestite, 1911; intersexuality, 1916; ego-psychology, 1923; schizoid, 1925; Verfremdung, 1945), but much weaker after this. The OED’s record of German scientific coinages reduces sharply into the 20th century, not just in mineralogy, but in all of the other disciplines in which German-speaking scientists had been so active in the 19th century. Perhaps the most successful sciences in terms of borrowings into English were chemistry and particularly medicine, with major German pharmaceutical companies very active in these areas. This does not mean that scientific enquiry in the German-speaking countries was no longer operating on a world sphere. There are a number of possible factors. The simplest is that the OED is generally less comprehensive of neologisms in the very modern period, while new words fight to establish themselves in English and in the dictionary. But the emergence of English as a global language is also likely to be a significant factor: more scientific work is published in English, so that its authors can find an instantaneous international readership, and are able to attract international funding. In this context the United States (rather than Britain) has been the dominant cauldron of modern scientific enquiry. 6 Durkin (2014, pp. 299-303). From Knapsack to Wessi. German loanwords in English: 1600 - 2000 279 The overwhelming change in the relationship between the Englishand the German-speaking peoples in the 20th century is revealed in the number of words from German politics and the military that have been recorded in English sources. But even here there are sharp distinctions. Military terms entering English from German were considerably more prominent at the time of the Second World War than during WW1. The OED finds only a small number in the First War, including minenwerfer and U-boat from 1914, flammenwerfer, Minnie, and strafe in 1915, and Unteroffizier (1917) and the more informal spurlos versenkt in 1918. It seems that the recording of events in English was more likely to use English words for the impendimenta of war than German ones. This distinction carried over into more general political vocabulary: Realpolitiker in 1913 and Machtpolitik in 1916 are the principal borrowings from that period. But the lead-up to WW2 was more gradual, with the politics of Europe in confusion from the late 1920s and throughout the 1930s, at a time when English speakers had become more acclimatised to news reporting which incorporated German words. In the context of WW2 vocabulary, many words convey mixed military and political overtones: Reichschancellery (1932), gauleiter (1936), Reichsmarschall (1940), Stalag (1940) from the realm of German state structure; Nazi (1930), Schutzstaffel (1930), Third Reich (1930), Hakenkreuz (1931), Führer (1934), Oflag (1940), Sieg Heil (1940), Waffen SS (1943), and many others from the political sphere; and the more overtly militaristic flak (1938), panzer (1938), blitzkrieg (1940), Teller mine (1941), kriegie (1944), Schu mine (1945), etc. It is arguable that British reporting at the time used German words for their propaganda value. Despite these stark echoes of a divided past, other borrowings from German throughout the century followed well-trodden paths. German sport became more prominent than in former centuries, and especially skiing: sitzmark (1935), mogul (1955), wedeln (1957 as a noun and 1961 as a verb). English holiday-makers were always keen to visit German and Austrian slopes whenever they could. There is little sign of German fashion vocabulary, and football is only represented (from 1966) in the secondary Foosball. There appears to be no consistent borrowing in the area of business practice (except for allfinanz), nor - perhaps more surprisingly - in the vocabulary of the EU. English speakers clearly took such terms from other languages, or invented them themselves. German dogs remained popular, with new listings for larger varieties than the older dachshund and teckel: pincher (1906), Rottweiler (1912), schnauzer (1923), boxer (1934), Weimaraner (1943), löwchen (1969). Food and especially drink remained subjects dear to Englishand German-speakers hearts, with Britons split in their love of wine between Germany, France, Italy, etc.: sekt John Simpson 280 (1920), Sylvaner (1928), spritzig (1949), Qualitätswein (1971). German musical vocabulary no longer privileged particular styles, but was more eclectic: Götterdämmerung (1909); tingle-tingle, 1910; schreierpfeife (1939); Liederabend, 1958; and zugtrompete, 1978). It is perhaps appropriate to end with a selection of domestic and conversational words borrowed into English from German in the 20th century, as these convey something of the mixture of characteristics that English speakers found necessary to borrow: salonfähig, 1905; mutti, 1906; Schweinerei, 1906; sympathisch, 1911; tochus, 1914; echt, 1916; heil! , 1927; oma, 1948; glitzy, 1966; meister, 1975; über alles, 1967; Wunderkammer, 1976; as well as Ossi (1989) and Wessi (1990), from a political environment that is now superseded. afterword An examination of Anglo-German relations over the past four hundred years, seen through the record of German loanwords in English, reveals characteristics of both sets of speakers some of which they would be very proud, and some of which they might be less proud. German precision dates back at least to the concentration of units of measurement borrowed in the days of the Hanseatic League in the 17th century and earlier. Stamina for research and publication informs scientific work in the German world, from early investigations into metals and the earth sciences, to later discoveries in chemistry, biology, psychology, and genetics. The fluctuating alliances and oppositions of war change with the politics of the age; religion moves from sectarianism to abstraction, and German philosophy, education, literature and art take similar paths, passing through the great period of German intellectualism in the 19th century, when English speakers turned to German for instruction of so many areas of their mental lives. And for much of the time, in the background, there is a constant counterpoint of hospitality and song. references Ammon, Ulrich (2004): German as an international language of the sciences - recent past and present. In: Gardt, Andreas et al. (eds.): Globalization and the future of German. Berlin/ New York, pp. 157-172. Durkin, Philip (2014): Borrowed words: a history of loanwords in English. Oxford. Görlach, Manfred (2003): English words abroad. (= Terminology and Lexicography Research and Practice 7). Amsterdam. OED = Oxford English Dictionary (2000-). 3rd Edition (online version). Oxford. [in revision 2000-]. Pfeffer, J. Alan/ Cannon, Garland (1994): German loanwords in English: an historical dictionary. Cambridge. Doris stEFFEns Vom prInt zum onlInewörterBuch - zur erfassung, BeschreIBung unD präsentatIon Von neologIsmen am IDs 1. Vorbemerkung Gerhard Stickel war in den 90er Jahren während seiner Amtszeit als Direktor des IDS sehr interessiert daran, der Erarbeitung des ersten genuinen, auf Prinzipien der wissenschaftlichen Lexikografie basierenden Neologismenwörterbuches für das Deutsche 1 am IDS Raum zu geben und damit die defizitäre Situation im Bereich der Neologismenforschung in Deutschland zu beenden. 2 Als die Arbeiten an dem Projekt „Schlüsselwörter der Wendezeit“ (dazu der Beitrag von Dieter Herberg in diesem Band) dem Ende zugingen, so dass dessen Mitarbeiter für die neue Aufgabe absehbar zur Verfügung standen, veranlassten Gerhard Stickel und Rainer Wimmer die Verankerung des Projektes „Neologismen“ im Forschungsplan des IDS: „Vorbereitet wurde 1997 ein Projekt, das […] die deutschen Neologismen […] der Neunzigerjahre erfassen, 1 Zur Funktion von Neologismenwörterbüchern vgl. v.a. Herberg (1988). Hier nur so viel: „Ihre Nützlichkeit erweisen Neologismenwörterbücher […] nicht nur als aktuelle Nachschlagewerke in Form von Vorlaufbzw. Ergänzungswörterbüchern zu den großen allgemeinen Wörterbüchern der jeweiligen Standardsprache, sondern auch als wichtige wortgeschichtliche Quelle im Rahmen der Sprachgeschichtsschreibung.“ (Herberg 2004, S. 336). 2 Das erste (DDR-)Neologismenwörterbuch, das die Lücke auf dem Gebiet der Neologismenlexikografie im Deutschen zumindest teilweise hätte schließen können, wurde wendebedingt nicht beendet (vgl. dazu Klosa/ Steffens 2007, S. 451f.). Das ‘Wörterbuch der in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen Neologismen’ war „bis zu den Wendeereignissen des Jahres 1989 gut vorangekommen und als innovatives lexikografisches Projekt auch im Westen wiederholt vorgestellt worden […]. Es gab sicherlich gute Gründe, dieses Unternehmen aufgrund seiner makrostrukturellen Vorgaben mit dem Ende der DDR abzubrechen. Die Bemühungen um das erste deutsche Neologismenwörterbuch blieben damit zunächst allerdings auf der Strecke“ (Kinne 1996, S. 329f.). Wiegand richtete indirekt an germanistische Forschungseinrichtungen die Aufforderung, sich dieser Aufgabe nunmehr unter gesamtdeutschem Vorzeichen mit überarbeiteter Konzeption anzunehmen. „Eine germanistische Neologismenlexikographie von wissenschaftlichem Rang wird sich als Verlagslexikographie in Kürze wohl kaum entwickeln. Sie ist aber notwendig, und zwar u.a. auch deswegen, weil ihre Ergebnisse im lexikographischen Gesamtprozeß, der zu zweisprachigen Wörterbüchern mit Deutsch führt, dringend benötigt werden.“ (Wiegand 1990, S. 2187). Doris Steffens 282 beschreiben und dokumentieren soll, soweit sie sich im allgemeinsprachlichen Teil des Wortschatzes der deutschen Standardsprache in den Neunzigerjahren etabliert haben.“ 3 2. zu den grundlagen des projektes Im Projekt „Neologismen“ (seit 2008 „Lexikalische Innovationen“) wurde unter Leitung von Dieter Herberg 1997 begonnen, die Konzeption hinsichtlich der Erfassung und Beschreibung eines Wortschatzausschnittes mit dem Merkmal „neu“ zu erarbeiten sowie die entsprechende Stichwortliste aufzubauen - mit der Perspektive einer über mehrere Zehnjahreszeiträume angelegten wissenschaftlich-lexikografischen Darstellung. Ziel war die korpusbasierte Beschreibung des neuen Wortschatzes im Deutschen, der seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgekommen und in den allgemeinsprachlichen Teil des Wortschatzes der deutschen Standardsprache eingegangen ist. Geplant war zunächst ein gedrucktes Wörterbuch für die 90er Jahre. 2.1 Begriffsbestimmung Für den Untersuchungsgegenstand wurde folgende Begriffsbestimmung 4 zugrunde gelegt: Ein Neologismus ist ein neues Wort (z.B. Freistoßspray), ein neuer Phraseologismus (z.B. klare Kante zeigen) bzw. die neue Bedeutung eines etablierten Wortes (z.B. Netz ‘Internet’), die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommen, sich ausbreiten und als sprachliche Norm allgemein akzeptiert werden. „Neu“ sind solche lexikalischen Einheiten, die dem Sprachsystem am Beginn des auf ein Jahrzehnt angelegten Erfassungszeitraumes noch nicht angehört haben, an seinem Ende jedoch - mehr oder weniger - allgemein akzeptierte Bestandteile des Sprachsystems geworden sind, die also aus der Masse der ursprünglich in einer speziellen Kommunikationssituation geprägten Einmalbildungen herausgetreten sind. Die 90er Jahre waren als Einstieg in das Neologismenprojekt in mehrfacher Hinsicht interessant. Sie waren - nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 - das erste Jahrzehnt mit der nun wieder einheitlichen staatlichen Kommunikationsgemeinschaft. Zudem standen in den 90er Jahren erstmals große elektronisch gespeicherte Textmengen zur Verfügung, die für die Arbeiten einen großen Gewinn darstellen. 3 Institut für Deutsche Sprache (Hg.) (1998, S. 7). 4 Vgl. Kinne (1996) und Herberg/ Kinne (1998), Herberg (2001). Vom Printzum Onlinewörterbuch 283 2.2 Ermittlung von Neologismen Zur Ermittlung der stichwortwürdigen Neologismen aus der Menge der Neologismuskandidaten wurden für die Neologismen der 90er- und Nullerjahre wie auch des laufenden Jahrzehnts die folgenden Kriterien herangezogen (zu den Selektionskriterien vgl. Herberg 2002): Die Neologismuskandidaten müssen demzufolge - neu für den untersuchten Zeitraum sein - Bestandteil der Allgemeinsprache sein und - dem deutschen Sprachgebrauch entsprechen. (Letzteres bedeutet für Entlehnungen aus anderen Sprachen die Anpassung an das deutsche Sprachsystem, die sich in erster Linie in Substantivgroßschreibung, Genuszuweisung, Flexion äußert.) Die Kandidaten durchlaufen ein Prüfverfahren: In den elektronischen IDS- Textkorpora werden Zeitraum des Aufkommens sowie Belegmenge und -verteilung ermittelt und anhand dieses Befundes wird entschieden, ob die Kandidaten neu für den Erfassungszeitraum sind und ob ihre Vorkommenshäufigkeit in den Textkorpora so groß ist, dass daraus abgeleitet werden kann, dass sie bereits weitgehend akzeptierte Bestandteile des Allgemeinwortschatzes geworden sind. Begleitet wird diese Methode von einem Abgleich mit bestimmten allgemeinsprachlichen Wörterbüchern sowie Spezialwörterbüchern. Für die Neologismen der Zehnerjahre sind das die seit 2011 erschienenen Wörterbücher. Eine Wörterbuchkodifizierung lässt auf das Angekommensein eines Lexems in der Allgemeinsprache schließen, eine Nicht-Kodifizierung kann ein Indiz für seinen Neuheitswert sein. Die Buchung in einem z.B. 2009 erschienenen Wörterbuch schließt in der Regel die Aufnahme des Lexems in die Stichwortliste der Zehnerjahre aus (vgl. Steffens 2010, S. 3f.). Während neue Zeichenketten, also neu gebildete oder entlehnte Lexeme, in den elektronischen IDS-Textkorpora („Deutsches Referenzkorpus“ [DeReKo]) 5 in der Regel leicht mithilfe des Rechercheinstruments COSMAS II ermittelt werden können, ist das Procedere in Hinblick auf das Auffinden von Neubedeutungen wesentlich aufwendiger, da sie von den älteren Bedeutungen des Lexems anhand der kontextuellen Umgebung separiert werden müssen. Ein aktuelles Beispiel ist dampfen, eine in den Zehnerjahren aufgekommene Neubedeutung mit der Lesart ‘eine E-Zigarette konsumieren’. 5 www.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora. Doris Steffens 284 Natürlich gibt es bezüglich der Stichwortauswahl einen relativ großen Ermessensspielraum. So muss beurteilt werden, ob fach- und gruppensprachlich geprägter Wortschatz bereits die Grenze zur Allgemeinsprache überschritten hat, wie es z.B. bei Fracking (einem Verfahren zur Gewinnung von Erdgas- und Erdölvorkommen, das allgemeiner bekannt wurde, als es wegen der möglichen Gefahren für die Umwelt in die Kritik geraten ist) oder Work-Life-Balance (‘Ausgewogenheit zwischen Berufstätigkeit und Privatleben’) entschieden wurde. Zu prüfen ist auch, inwieweit vorwiegend mündlich gebrauchter Wortschatz (z.B. aggro ‘aggressiv’, übelst [Ausdruck zur Verstärkung eines nachfolgenden Ausdrucks mit positiver Bedeutung]) berücksichtigt werden kann, der in schriftlichen Texten naturgemäß weniger vorkommt. Das bedeutet, dass in solchen Fällen die absoluten Trefferzahlen in den elektronischen IDS-Textkorpora gesondert zu bewerten sind. Neologismenkandidaten nach unserem Verständnis brauchen häufig eine längere Phase der Beobachtung, bis sie entsprechend dieser Konzeption als Neologismus bezeichnet werden können und Eingang in die Stichwortliste finden. Erfüllt ein Kandidat nicht gleich die Bedingungen, muss das Vorkommen später, wenn das Korpus durch neue Texte aktualisiert ist, erneut geprüft werden. So erbrachte eine Recherche von Aufschieberitis, Bezeichnung für das gewohnheitsmäßige Aufschieben von als unangenehm empfundenen Tätigkeiten, im Jahr 2009 32 Treffer für die Nullerjahre - Grund für die Zurückstellung unter dem Vorbehalt einer nochmaligen späteren Recherche. 2014 finden sich dann 833 Belege, etwa zur Hälfte aus den Nuller- und Zehnerjahren, die nunmehr einen soliden Grundstock für die Bearbeitung dieses Stichwortes bildeten. Interessant ist bei Aufschieberitis, der umgangssprachlichen Entsprechung für das Fachwort Prokrastination, dass eine alte Sache mit neuen Bezeichnungen belegt wird, was wohl für die zunehmende Verbreitung bzw. das Bewusstwerden des Phänomens spricht. Ein Indiz für den Neuigkeitswert ist auch, dass Aufschieberitis in den Wörterbüchern gar nicht, Prokrastination erstmals in Duden - Fremdwörterbuch (2010) gebucht ist. Die Neologismen der 90er- und Nullerjahre sind in der Regel mit zeitlichem Abstand zum Aufkommen erfasst und bearbeitet worden (siehe Aufschieberitis). Der Wortschatz der Zehnerjahre dagegen wird durchweg zeitnah beschrieben. Dahinter stand der Wunsch, nunmehr auch ein ganz aktuelles Ergebnis vorzulegen und dabei zu testen, inwieweit sich die für einen Zehnjahreszeitraum konzipierte Methodik auch auf einen relativ kurzen Zeitraum anwenden lässt. Dieser Wortschatz ist z.T. so neu, dass die Frage der Zugehörigkeit zur Allgemeinsprache noch nicht abschließend beantwortet werden kann, z.B. Clickworker ‘(qualifizierter) Internetnutzer, der eine bestimmte Aufgabe im Rahmen von Crowdsourcing (gegen Bezahlung) bear- Vom Printzum Onlinewörterbuch 285 beitet’. Aber auch diese neuen Wörter müssen bereits eine gewisse anhand der IDS-Textkorpora belegte Verbreitung erfahren haben, um als Stichwort ins Neologismenwörterbuch aufgenommen zu werden. 3. zur orientierung des projektes in richtung onlinewörterbuch In der Abteilung Lexik, in der das Neologismenprojekt angesiedelt ist, wurde seit 1997 das Konzept für ein lexikalisch-lexikologisches korpusbasiertes Informationssystem zur deutschen Gegenwartssprache entwickelt. Es hieß in dieser Phase Leksis/ Lexxis, anschließend WiW (Wissen über Wörter), später elexiko, bevor es 2008 in OWID (Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch; www.owid.de) umbenannt wurde. Erklärtes Ziel war es, den Wortschatz der deutschen Sprache in umfassender Weise im Internet zu dokumentieren, allgemein verständlich zu erklären und linguistisch zu beschreiben. 3.1 Das Neologismenwörterbuch als Pilotprojekt Im Zuge der Weiterentwicklung des Informationssystems wurde das Neologismenprojekt Ende der 90er Jahre als dessen Pilotprojekt etabliert, weil der zugrunde liegende Wortschatzbereich, die Neologismen der 90er Jahre, relativ abgeschlossen und überschaubar war und die Arbeiten noch nicht sehr weit fortgeschritten waren. Mit diesem Schritt noch im Stadium der Konzeption profitierte das Neologismenwörterbuch gerade auch angesichts des neuen Wortschatzes mit besonderem Informationsbedarf von all den bekannten Vorteilen für ein Onlinewörterbuch: der Möglichkeit einer breiteren und tieferen Darstellung der Wortinformationen, den Aktualisierungs-, Ergänzungs-, Korrektur- und Vernetzungsmöglichkeiten, den Rechercheangeboten zur systematischen Suche nach Stichwörtern mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen, und nicht zuletzt von der medienneutralen Datenhaltung, die sich später beispielsweise bei der Herstellung der Druckvorlage für das Printwörterbuch der Neologismen der Nullerjahre (Steffens/ al-Wadi 2013) bewähren sollte. Die Integration der Neologismen in das elexiko-Portal hatte Pilotfunktion für den weiteren Ausbau dieses lexikalisch-lexikologischen Informationssystems, der eben nicht nur durch die Erarbeitung neuer Wortartikel innerhalb des elexiko- Wörterbuches, sondern auch durch den Einbezug lexikologisch-lexikografischer Arbeitsergebnisse aus weiteren Modulprojekten erfolgen soll. Dabei wurde mit der Veröffentlichung der Neologismen-Wortartikel ein Vorgehen erprobt, das relativ eng mit der Konzeption des elexiko-Wörterbuches verknüpft ist, indem die Wortartikelstruktur der Neologismen diejenige der elexiko-Wortartikel fortentwickelte und die Online-Präsentation der Neologismen-Wortartikel sich an derjenigen der elexiko-Wortartikel orientierte. (Klosa/ Steffens 2007, S. 459) Doris Steffens 286 3.2 Das Neologismenwörterbuch der 90er Jahre als Printversion Nachdem der Zeitplan anfangs völlig aus den Fugen geraten war, weil neben den konzeptionellen Änderungen (vgl. Tellenbach 2002) die Wortartikel neu angelegt und deren Daten mithilfe von XML 6 explizit ausgezeichnet werden mussten, wofür Teile der DTD 7 geändert bzw. an neologismenspezifische Anforderungen des Projektes angepasst wurden, lagen 2002 die geplanten Neologismen-Wortartikel in der DTD-Struktur ausgearbeitet vor. Da zu diesem Zeitpunkt die Freischaltung des Wörterbuchportals elexiko samt Neologismenwörterbuch noch nicht absehbar war, der Wortschatz der 90er Jahre aber möglichst zeitnah veröffentlicht werden sollte, griff die Projektgruppe das ursprünglich geplante Vorhaben einer Buchpublikation wieder auf und begann, die Daten für die Printversion aufzubereiten. 2004 erschien dann als Ergebnis das erste größere Neologismenwörterbuch für das Deutsche (Herberg/ Kinne/ Steffens 2004; vgl. Klosa/ Steffens 2007, S. 458). Zwar waren zu dieser Zeit die Vorteile einer medienneutralen Datenhaltung für die Herstellung der Druckvorlage noch Vision, aber die für die Internetfassung vorgesehenen Möglichkeiten deuteten sich in Bezug auf die Vielzahl der im Buch umgesetzten Datentypen, der neuen Typen lexikografischer Informationen, bereits an. Zudem spielte das aus herkömmlichen Wörterbüchern bekannte Platzproblem in Anbetracht des hier dargestellten relativ kleinen Ausschnitts aus dem Gesamtwortschatz, nämlich dem in den 90er Jahren aufgekommenen Allgemeinwortschatz mit dem Merkmal „neu“, kaum eine Rolle. Die Darstellung konnte relativ narrativ sein und so den in diesem Bereich bei den Sprachteilnehmern, nicht nur bei Deutschlernern, allgemein hohen Informationsbedarf befriedigen. 4. zum onlineauftritt des neologismenwörterbuches im wörterbuchportal owID Die Onlineversion des Neologismenwörterbuches wurde 2006 unter dem Namen „Neologismen der 90er Jahre“ in elexiko freigeschaltet. Sie umfasste ursprünglich knapp 700 Wortartikel. Inzwischen sind es - mit dem neuen Wortschatz der Nuller- und Zehnerjahre sowie den Nachträgen für die 90er Jahre - mehr als 1.800. 6 XML (eXtensible Markup Language) ist eine international standardisierte Metasprache zur Auszeichnung von Daten. 7 Dokumenttyp-Definition zur Festlegung der Artikelstruktur. Vom Printzum Onlinewörterbuch 287 Von den drei folgenden Bildschirmausschnitten aus dem Neologismenwörterbuch stammen die beiden ersten aus den Jahren 2006 und 2007. Der dritte zeigt das aktuelle, 2011 eingeführte Layout im Wörterbuchportal OWID. Weil es für ein- und denselben Wortartikel keine Bildschirmausschnitte in den beiden Versionen von 2006 und 2007 gibt, wurden zwei unterschiedliche Wortartikel, Buschzulage und Elchtest, zur Illustration verschiedener Veränderungen im Wörterbuchportal herangezogen. abb. 1: ausschnitt aus dem wortartikel buschzulage im wörterbuchportal elexiko von 2006 abb. 2: ausschnitt aus dem wortartikel Elchtest im wörterbuchportal elexiko von 2007 Doris Steffens 288 abb. 3: ausschnitt aus dem wortartikel Elchtest im wörterbuchportal owiD von 2016 Neben der zunehmend dezenter werdenden Farbigkeit fallen in den drei Abbildungen die unterschiedlichen Wortlisten in der linken Spalte auf: In Abbildung 1 sind die alphabetisch auf Buschzulage folgenden Wörter in der (ca. 300.000 Einträge umfassenden) elexiko-Gesamtstichwortliste zu sehen, in Abbildung 2 die auf Elchtest folgenden Stichwörter des Neologismenwörterbuches mit den Anfangsbuchstaben el und in Abbildung 3 die alphabetische Umgebung von Elchtest im Neologismenwörterbuch. Ein Vergleich der Abbildungen 1 und 2 mit der Abbildung 3 zeigt noch dies: - In Abbildung 3 hat das Neologismenwörterbuch (Name in der rechten Spalte und oben am Bildrand) kein Attribut „90er Jahre“ mehr, denn inzwischen ist auch der Wortschatz der Nuller- und Zehnerjahre freigeschaltet. Der Hinweis, in welchem Jahrzehnt das Stichwort aufgekommen ist, steht unterhalb des Stichwortes. - Abbildung 3 zeigt rechts die inzwischen in OWID eingecheckten Wörterbücher aus der Abteilung Lexik. „Die Stärke von OWID ist der integrierte, vereinheitlichte Zugriff auf unterschiedliche Wörterbücher zum Deutschen, die alle wissenschaftlich fundiert sind und korpusbasiert erarbeitet wurden.“ (Müller-Spitzer 2014, S. 355). - In Abbildung 3 ist im oberen Teil des Wortartikels die Zeitverlaufsgrafik 8 zu sehen (siehe Abb. 4). Diese Grafiken, die seit 2008 sukzessive imple- 8 Die Zeitverlaufsgrafiken hat das IDS-Projekt „Methoden der Korpusanalyse und -erschließung“ in Kooperation mit unserem Projekt entwickelt. Vom Printzum Onlinewörterbuch 289 mentiert worden sind, illustrieren Aufkommen und Verbreitung des jeweiligen Stichwortes anhand der IDS-Textkorpora. Auf der horizontalen Achse sind die Jahre markiert, auf der vertikalen Achse die relative Gebrauchshäufigkeit in den IDS-Textkorpora. abb. 4: Zeitverlaufsgrafik aus dem wortartikel Elchtest Der auffällig starke Ausschlag in den beiden ersten Jahren des Vorkommens von Elchtest ergibt sich zum einen aus dem medialen Interesse an dem missglückten Fahrtest in Schweden, bei dem im Oktober 1997 ein Mercedes umstürzte, was zur rasanten Verbreitung des Wortes Elchtest in der Bedeutung ‘Fahrtest’ führte, zum anderen aus der kurz darauf aufkommenden generalisierten Bedeutung ‘Bewährungsprobe’. Die Belegung seit 1999 in den IDS- Textkorpora demonstriert die Normalisierung des Gebrauchs und damit die stabile Verankerung von Elchtest im deutschen Allgemeinwortschatz. Dies betrifft beide Bedeutungen, was aus der Grafik nicht ersichtlich ist, die generalisierte mehr als die eigentliche. Im Folgenden je ein Beispiel aus den IDS-Textkorpora der Zehnerjahre für die beiden Lesarten ‘Fahrtest’ und ‘Bewährungsprobe’: (1) Bis 2015 will Opel in sein Testgelände in Rodgau-Dudenhofen (Kreis Offenbach) 28,5 Millionen Euro investieren. Dort soll unter anderem mit dem „Elchtest“ die Stabilität von Fahrzeugen geprüft werden. (Darmstädter Echo, 15.2.2014) (2) Ein Samstag bei Ikea ist immer auch ein Elchtest für die Beziehung. (Focus, 20.10.2014, Nr. 44) Doris Steffens 290 5. zur präsentation der stichwörter und des Datenmaterials des neologismenwörterbuches In den Zehnerjahren wurde konzeptionell und methodisch verstärkt daran gearbeitet, das Informationsangebot des Neologismenwörterbuches in OWID fundiert und systematisch zu erweitern. Es gab zwar bereits seit der Freischaltung 2006 die Möglichkeit der Verlinkung auf externe Quellen, v.a. Wörterbücher, und auch gewisse Suchmöglichkeiten nach Stichwörtern mit gemeinsamen Merkmalen, aber nun ging es darum, die Stichwörter alphabetisch und inhaltlich übersichtlich zu gruppieren sowie die in den Wortartikeln gespeicherten Daten umfassend zu erschließen und angemessen zu präsentieren. Wie sehen die Angebote für die Nutzer derzeit aus? 5.1 Zugriffsmöglichkeiten auf Stichwörter, auch Nichtstichwörter, über alphabetische Listen sowie über nach inhaltlichen Kriterien aufgebaute Übersichten Im Menüpunkt „Wortartikel“ sind diverse alphabetische Wortlisten eingerichtet, die die Neologismen-Stichwörter unter verschiedenen Gesichtspunkten zugänglich machen. Eine Liste erschließt die in den Wortartikeln an bestimmten Positionen vorkommenden neuen Nichtstichwörter („verdeckte Wörter“; dazu Doris al-Wadi in diesem Band). Darüber hinaus sind die Stichwörter auch inhaltlich zusammengefasst und in der Regel einem von ca. 20 Fach- und Sachgebieten zugewiesen, z.B. „Computer/ Internet/ Technologie“, „Umweltschutz/ Energie“, „Sport“. Die Fach- und Sachgebiete bringen zum Ausdruck, dass Neologismen bestimmte politischgesellschaftliche und wirtschaftlich-technische Entwicklungen widerspiegeln, die sich, abhängig von der gesellschaftlichen Gesamtsituation, im Erfassungszeitraum seit den 90er Jahren vollzogen haben und vollziehen. Ein Großteil der Stichwörter ist zudem thematisch zusammengefasst. Es handelt sich um ca. 40 Gruppen, die in den jeweiligen Wortartikeln platziert sind (dazu Doris al-Wadi in diesem Band). 5.2 Ermittlung von Stichwörtern mit gemeinsamen Merkmalen Der eigentliche Mehrwert des Onlinewörterbuches besteht darin, dass dank der XML-Datenmodellierung ein großes Repertoire von Angaben zur Verfügung steht, mit denen die Daten in den Wortartikeln ausgezeichnet werden können - Voraussetzung für die Recherchierbarkeit nach Stichwörtern mit gemeinsamen Merkmalen. Mit dem bisherigen Angebot, das seit der Freischaltung 2006 nur leicht modifiziert wurde, ließen sich die zahlreichen Mög- Vom Printzum Onlinewörterbuch 291 lichkeiten, die die dem Neologismenwörterbuch zugrunde liegende DTD bietet, bei Weitem nicht ausschöpfen: Viele Datentypen sind im bisherigen Rechercheangebot nicht berücksichtigt oder unvollständig. So konnte nach Wörtern mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen gesucht werden, aber nicht nach entsprechenden Phraseologismen, nach Wörtern, die Wortbildungsprodukte sind, aber nicht nach solchen, die entlehnt wurden. Viele andere Datentypen, die z.B. den Bedeutungswandel von Stichwörtern (z.B. Metaphorisierung, Generalisierung), die pragmatischen Informationen (z.B. meist mündlich, scherzhaft) oder die sinnverwandten Ausdrücke (z.B. Synonyme, Kohyponyme) betreffen, waren ebenfalls nicht recherchierbar. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist das Angebot für die „Erweiterte Suche“ im Neologismenwörterbuch in OWID grundlegend neu gefasst und wesentlich ausgebaut worden. Zwischen den in den Wortartikeln ausgezeichneten Daten gibt es viele aus fachlicher Sicht sinnvolle Kombinationsmöglichkeiten. Wesentlich erleichtert wird der Zugriff auf die Daten dadurch, dass die Ergebnistreffer - anders als bisher - bei jedem Klick, ohne Betätigung eines Buttons, sofort erscheinen. So lässt sich die Ergebnisliste jederzeit nachvollziehen. Auf ein nicht gewünschtes Ergebnis bzw. eines mit null Treffern kann deshalb unmittelbar, beispielsweise durch Rückgängigmachen des letzten Klicks, reagiert werden. Die Rechercheangebote richten sich v.a. an den fachlich spezialisierten Nutzer, der für eine bestimmte Fragestellung das entsprechende Wortmaterial geliefert bekommt. Folgende Fragestellungen seien beispielhaft genannt: - Welche Homonyme gibt es im Neologismenwörterbuch? - Welche Stichwörter haben mehrere Genera? - Welche Verben, welche Verbalphrasen bilden das Perfekt mit „sein“? - Welche Zusammensetzungen haben ein Konfix als zweiten Bestandteil? - Welche Stichwörter sind Lehnbedeutungen? Aber auch der sprachlich interessierte Laie wird beim Klicken durch das Angebot Informationen finden, die auch ihn interessieren, zu weiteren Suchen anregen und spielerischen Ambitionen Rechnung tragen können. Hier ebenfalls einige Fragestellungen: - Welche Stichwörter sind Kurzzeitwörter, also wieder außer Gebrauch gekommen? - Welche Stichwörter sind Pseudoanglizismen, also im Englischen gar nicht gebräuchlich? Doris Steffens 292 - Welche Stichwörter sind aus einer Fremdsprache entlehnt, die nicht Englisch ist? - Welche Stichwörter sind stilistisch markiert, werden also beispielsweise scherzhaft gebraucht? - Bei welchen Stichwörtern ist ein Wort„erfinder“ angegeben, also eine namentlich bekannte Person, der die Bildung des Wortes zugeschrieben wird? 6. ein ausgewählter aspekt bei der Beschreibung des neuen wortschatzes: die pseudoanglizismen Die Neufassung der „Erweiterten Suche“ (siehe 5.2) war mit ausgiebigen Tests verbunden, um die Richtigkeit und Vollständigkeit der Datenausauszeichnung zu prüfen. Dabei war es nötig, bestimmte inhaltliche Aspekte noch einmal im Zusammenhang zu betrachten, auch, um letztlich alle Stichwörter zu ermitteln, denen das jeweilige Merkmal zukommt. Dieser Arbeitsgang soll am Beispiel der Pseudoanglizismen, die - wie gesagt - nun über die „Erweiterte Suche“ recherchierbar sind, kurz beleuchtet werden. Als Pseudoanglizismen werden Wörter gefasst, die scheinbar als lexikalische Einheiten aus dem Englischen entlehnt wurden, die tatsächlich aber im Deutschen gebildet wurden oder die im Zuge eines Bedeutungswandels im Deutschen eine andere Bedeutung bekommen oder eine neue Bedeutung hinzubekommen haben. Ermittelt und überprüft werden die Pseudoanglizismen mithilfe deutscher und englischer Wörterbücher, der Sekundärliteratur und der Befragung von Muttersprachlern. Auch Texte im Internet werden zu Rate gezogen, wobei nicht immer zweifelsfrei zu klären ist, ob der jeweilige englischsprachige Text auch tatsächlich für englischen Sprachgebrauch steht. In OWID werden Pseudoanglizismen, die Wortbildungsprodukte sind, im Kopf des Wortartikels unter „Wortbildung“ in Verbindung mit einem entsprechenden Kommentar, in dem ggf. auch die entsprechenden englischen Bezeichnungen aufgelistet sind, dargestellt, z.B.: abb. 5: ausschnitt aus dem wortartikel basecap Vom Printzum Onlinewörterbuch 293 Pseudoanglizismen, die ursprünglich entlehnt wurden und im Deutschen eine neue Bedeutung bekommen oder hinzubekommen haben, werden unter Herkunft aufgeführt, z.B. Tape. Das Wort wurde ursprünglich mit der älteren Bedeutung ‘Tonband’ entlehnt, neben die sich dann die Lehnbedeutung ‘Kassette’ stellte. In den 90er Jahren kam eine weitere Lehnbedeutung, ‘Klebeband’, dazu sowie die im Deutschen entstandene Bedeutung ‘Verband’. 7. schlussbemerkung Im IDS-Wörterbuchportal OWID ist das erste größere Neologismenwörterbuch für das Deutsche präsentiert, das sich durch neue Stichwörter und Datentypen sowie benutzerfreundliche Angebote kontinuierlich erweitern und gleichzeitig permanent pflegen lässt. Auf die 2017 geplante Neukonzipierung des Gegenstandsbereiches des bisherigen Projektes „Lexikalische Innovationen“ darf man gespannt sein. 9 Auf der Basis des Neologismenwörterbuches ist zudem ein Folgeprodukt entstanden: Die Tatsache, dass zweisprachige Gesamtwörterbücher Neologismen kaum enthalten und besonders Lexikografen, die zweisprachige Wörterbücher verfassen, fachinterne Nutznießer von Neologismenwörterbüchern sind (vgl. Herberg 2004, S. 336), war ein Motiv für die Erarbeitung des Deutsch-russischen Neologismenwörterbuches (Steffens/ Nikitina 2014), das als Prototyp für die zweisprachige Lexikografie gesehen werden kann. Es wird in owid plus auch online erscheinen. 8. literatur Herberg, Dieter (1988): Stand und Aufgaben der Neologismenlexikographie des Deutschen. In: Harras, Gisela (Hg.): Das Wörterbuch. Artikel und Verweisstrukturen. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1987. (= Sprache der Gegenwart 74). Düsseldorf/ Bielefeld, S. 265-283. Herberg, Dieter (2001): Neologismen der Neunzigerjahre. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Aktueller lexikalischer Wandel. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2000). Berlin/ New York, S. 89-104. Herberg, Dieter (2002): Der lange Weg zur Stichwortliste. Aspekte der Stichwortselektion für ein allgemeinsprachliches Neologismenwörterbuch. In: Haß-Zumkehr, Ulrike/ Kallmeyer, Werner/ Zifonun, Gisela (Hg.): Ansichten der deutschen Sprache. Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag. (= Studien zur Deutschen Sprache 25). Tübingen, S. 237-250. 9 Die Verfasserin und Projektleiterin ist seit Januar 2017 im Ruhestand. Doris Steffens 294 Herberg, Dieter (2004): Das Projekt „Neologismen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts“. In: Scharnhorst, Jürgen (Hg.): Sprachkultur und Lexikographie. Von der Forschung zur Nutzung von Wörterbüchern. (= Sprache - System und Tätigkeit 50). Frankfurt a.M. u.a., S. 331-353. Herberg, Dieter/ Kinne, Michael (1998): Neologismen. (= Studienbibliographien Sprachwissenschaft 23). Heidelberg. Herberg, Dieter/ Kinne, Michael/ Steffens, Doris (2004): Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen. Unter Mitarbeit von Elke Tellenbach und Doris al-Wadi. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 11). Berlin/ New York. Institut für Deutsche Sprache (Hg.) (1998): Institut für Deutsche Sprache. Jahresbericht 1997. Mannheim. Kinne, Michael (1996): Neologismus und Neologismenlexikographie im Deutschen. Zur Forschungsgeschichte und zur Terminologie, über Vorbilder und Aufgaben. In: Deutsche Sprache 24, S. 327-358. Klosa, Annette/ Steffens, Doris (2007): Deutscher Wortschatz im Internet: Das Informationssystem elexiko und sein Modulprojekt Neologismen. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprach-Perspektiven. Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache. (= Studien zur Deutschen Sprache 40). Tübingen, S. 443-463. Müller-Spitzer, Carolin (2014): Das Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch - OWID. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Redaktion: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim, S. 347-359. Steffens, Doris (2010): Tigerentenkoalition - schon gehört? Zum neuen Wortschatz im Deutschen. In: Sprachreport 1/ 2010, S. 2-8. Steffens, Doris/ Nikitina, Olga (2014): Deutsch-russisches Neologismenwörterbuch. Neuer Wortschatz im Deutschen 1991-2010. Немецко-русский словарь неологизмов. Новая лексика в немецком языке 1991-2010. 2 Bde. Mannheim. [2., überarb. Aufl. 2016.] Steffens, Doris/ al-Wadi, Doris (2013): Neuer Wortschatz. Neologismen im Deutschen 2001-2010. 3., durchges. Aufl. 2015. 2 Bde. Mannheim. Tellenbach, Elke (2002): Neologismen der neunziger Jahre. Vom Textkorpus zur Datenbank. In: Irmhild Barz u.a. (Hg.): Das Wort in Text und Wörterbuch. (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologischhistorische Klasse 76, 4). Leipzig, S. 105-118. Wiegand, Herbert E. (1990): Neologismenwörterbücher (= Kapitel 2.4.1 von: Die deutsche Lexikographie der Gegenwart). In: Hausmann, Franz Josef u.a. (Hg.): Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 2. Teilbd. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.2). Berlin/ New York, S. 2185-2187. In Den tIefen Der grammatIk harDarik bLühDorn warum können DIe Deutschen moDalpartIkeln nIcht negIert werDen? syntaktIsche, semantIsche unD pragmatIsche grünDe 1. einleitung: grammatik der negation im Deutschen Mit Gerhard Stickel (1970) beginnt im deutschen Sprachraum die im engeren Sinne linguistische Literatur zur Negation. Alles, was seither dazu geschrieben wurde, hat in irgendeiner Weise, bewusst oder unbewusst, auf ihn Bezug genommen. Was also liegt im gegebenen Kontext näher als der Versuch, zu Gert Stickels Ehren eine Negationsfrage zu beantworten, die in der Fachliteratur öfter angesprochen, aber noch zu wenig untersucht worden ist? 1 Warum kann man sagen: ich habe es halt nicht gewusst, nicht aber: ich habe es nicht halt gewusst? Die Grammatik der deutschen Negation in nuce (vgl. Blühdorn 2012a): Seit Stickel (1970) wird ein abstraktes Negationsmorphem NEG angenommen, das in unterschiedlicher Form realisiert werden kann - als adverbiale Partikel nicht, als Wortbildungselement wie un-, non-, inusw., in Verschmelzungen mit Indefinita als kein, niemand, niemals usw. sowie auf einige wenige weitere Arten. NEG verhält sich syntaktisch und semantisch ähnlich wie die sogenannten Fokuspartikeln, etwa nur, auch und sogar. Wie diese kann es das Vorfeld eines Verbzweitsatzes einnehmen, allerdings nur, wenn es akzentuiert ist. Nach der Standardannahme, dass das Vorfeld Konstituenten vorbehalten ist, die mindestens Satzgliedwert haben (vgl. Sternefeld 2008/ 2009), ist nicht in (1) als Satzglied zu betrachten: (1) Sie können das Gerät ganz legal einsetzen, um auf Fehlersuche zu gehen, wenn in Ihrem Netz etwas hakt. / NICHT dürfen Sie allerdings fremde FUNK\verbindungen abhören und protokollieren. 2 1 Dank für hilfreiche Kommentare an Reinhard Fiehler und Marina Foschi Albert! 2 Die Belege in diesem Aufsatz stammen überwiegend aus dem Internet, Angaben zur Akzentuierung und Variationen zu Testzwecken von mir. Bei Bedarf habe ich Belege gekürzt oder lexikalisch verändert, stets aber unter Beibehaltung der relevanten grammatischen Strukturen. Akzentuierte Silben werden durch Großbuchstaben, steigende und fallende Tonbewegungen durch Schrägstriche angezeigt. Hardarik Blühdorn 298 Dass NEG allein das Vorfeld einnimmt, ist untypisch. Wenn es im Vorfeld steht, geht ihm in der Regel entweder ein modifizierendes, z.B. verstärkendes Adjunkt (erst recht, ganz und gar o.ä.) voraus: (2) Ganz und GAR\ nicht hatte ich sie nach ihrer Meinung gefragt. oder ihm folgt ein Bezugsausdruck, der durch NEG abgewählt wird: (3) Es war ein Tor gefallen, aber nicht WIR\ hatten es geschossen. (4) Nicht den / MENschen muss man töten, sondern den KRIEG\. (5) Nicht / FREIwillig sind die Vergleichsverfahren in/ SOfern, als bei Zustandekommen alle Gläubiger geBUN\den sind. (6) Die Terroristen sind nach dem 11. September nicht, wie befürchtet, in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eingedrungen. Nicht DORT\ haben sie Unheil angerichtet und Verderben über das Land gebracht. Die fettgedruckten Vorfeldausdrücke in (2) bis (6) haben Satzgliedstatus. Alternativ können sie im Mittelfeld stehen: (2a) … dass ich sie ganz und GAR\ nicht nach ihrer Meinung gefragt hatte (3a) … dass nicht WIR\ das Tor geschossen hatten (4a) … dass man nicht den / MENschen töten muss, sondern den KRIEG\ (5a) … dass die Vergleichsverfahren insofern nicht / FREIwillig sind, als bei Zustandekommen alle Gläubiger geBUN\den sind (6a) … dass sie nicht DORT\ Unheil angerichtet und Verderben über das Land gebracht haben NEG wird seinem Bezugsausdruck unmittelbar vorangestellt. Informationsstrukturell motivierte syntaktische Umordnungen, durch die NEG von seinem Bezugsausdruck getrennt werden und auch rechts von ihm zu stehen kommen kann, sind möglich: (3b) … dass / WIR NICHT\ das Tor geschossen hatten Die syntaktische Beziehung zwischen NEG und seinem Bezugsausdruck ist eine Adjunkt-Wirt-Relation. Als Bezugsausdruck/ Wirt kommt X(P) in Frage, also im Prinzip jede syntaktische Kategorie (einschließlich Projektionen des Verbs). Die Beispiele (3) bis (6) zeigen Nominalgruppen, eine Adjektiv- und eine Adverbgruppe als Bezugsausdrücke. NEG erweitert und modifiziert seinen Wirt, indem es ihm die thematische Rolle negiertes zuordnet. Dadurch wird der Wirt für seine Diskursstelle abgewählt. Die syntaktische Kategorie des Wirts wird durch die Adjunktion von NEG nicht verändert. Es gilt: (7) NEG + X(P) → X(P) Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 299 Nicht wir und nicht den Menschen sind ebenso Nominalgruppen wie wir und den Menschen; nicht freiwillig ist eine Adjektivgruppe wie freiwillig, nicht dort eine Adverbgruppe wie dort. Ausdrücke mit und ohne adjungiertes NEG haben dieselbe syntaktische Distribution. Auch in lexikalischen Einheiten, die NEG mit seinem Wirt bilden kann (Affixbildungen, Verschmelzungsformen) setzt dieser Parallelismus sich fort. In der Grammatik des Deutschen ist die Negation morphosyntaktisch als Erweiterung von Konstituenten durch Adjunktion implementiert. 3 Die semantische Wirkung der Negation auf den Satz entfaltet sich in einem zweiten Kompositionsschritt: Durch die Abwahl einer Konstituente kann auch der Satz als ganzer für seine Diskursstelle abgewählt werden (dazu mehr in Kap. 5). Einige wenige Arten von Konstituenten eignen sich nicht als Wirte für NEG, etwa referentielle Indefinita, ethische Dative, manche Satzadverbien und Modalpartikeln: (8) Er soll ein Museum gegründet haben. Dabei soll ihm (*nicht) ein gewisser Bonrott geholfen haben. (9) Das sind (*nicht) mir schöne Demokraten! (10) Sie können sich (*nicht) gerne an uns wenden. (11) Man war (*nicht) halt zu gutmütig mit ihnen. Die Gründe für die Nicht-Negierbarkeit/ Nicht-Abwählbarkeit dieser Konstituentenklassen sind unterschiedlich. Der vorliegende Aufsatz behandelt nur die Nicht-Negierbarkeit von Modalpartikeln. 2. syntax: modalpartikeln sind nicht erweiterbar Die deutschen Modalpartikeln (MPn) (vgl. Hentschel 1986; Thurmair 1989; Meibauer 1994; Moroni 2010; Coniglio 2011) zeigen charakteristische morphosyntaktische Eigenschaften, die als Ergebnisse sprachgeschichtlicher Erstarrung aufzufassen sind. Sie sättigen keine syntaktisch-semantischen Leerstellen anderer Ausdrücke und eröffnen selbst keine Leerstellen, die durch andere Ausdrücke zu sättigen sind. Ähnlich wie Satzadverbien können sie zu satzförmigen Ausdrücken relativ frei hinzugefügt und ebenso frei weggelas- 3 Eine Alternative dazu wäre eine Implementierung durch NEG-Köpfe, die den zu negierenden Ausdruck als Komplement nehmen. Dieses Kodierungsverfahren kommt in den Sprachen der Welt ebenfalls zum Einsatz. Auch für das Deutsche ist postuliert worden, dass NEG Kopf- Status hat (z.B. Jäger 2008) - eine These, die sich bei genauerer Betrachtung der distributionellen Fakten jedoch nicht aufrechterhalten lässt. Hardarik Blühdorn 300 sen werden. Unter Valenzgesichtspunkten sind sie „freie Angaben“, also Adjunkte, die sich an unterschiedlichen Stellen in den Strukturbaum des Satzes einfügen lassen. Man vergleiche das Satzadverb wahrscheinlich mit der MP ja: (12a) Auch hatten wahrscheinlich seine persönlichen Verbindungen diese Neigung mehr erregt als die richtige Abwägung der politischen Interessen. (12b) Auch hatten seine persönlichen Verbindungen wahrscheinlich diese Neigung mehr erregt als die richtige Abwägung der politischen Interessen. (12c) Auch hatten seine persönlichen Verbindungen diese Neigung wahrscheinlich mehr erregt als die richtige Abwägung der politischen Interessen. (13a) Ronald Reagan und die Saudis hatten ja diese Gruppe im Kampf gegen die Despoten der Region erst aufgebaut. (13b) Ronald Reagan und die Saudis hatten diese Gruppe ja im Kampf gegen die Despoten der Region erst aufgebaut. (13c) Ronald Reagan und die Saudis hatten diese Gruppe im Kampf gegen die Despoten der Region ja erst aufgebaut. Ebenso wie Satzadverbien sind MPn miteinander kombinierbar: (14) Toller Wagen! Wird leider wahrscheinlich wohl nie in mein Budget passen. (15) Der Juli ist ja halt doch schon ein recht warmer Monat. Dabei entstehen aber keine Wortgruppen als syntaktische oder semantische Einheiten, sondern die kombinierten MPn stehen für aufgetürmte Operatoren: Jede MP operiert selbständig und nimmt dabei Skopus über rechts von ihr stehende andere MPn. Im Unterschied zu Satzadverbien können MPn nicht das Vorfeld eines Verbzweitsatzes einnehmen: (12d) Wahrscheinlich hatten seine persönlichen Verbindungen diese Neigung mehr erregt als die richtige Abwägung der politischen Interessen. (13d) *Ja hatten Ronald Reagan und die Saudis diese Gruppe im Kampf gegen die Despoten der Region erst aufgebaut. Morphologisch sind die meisten MPn Simplizia. Sie können weder durch Wortbildung noch durch modifizierende Adjunkte erweitert werden: (12e) Auch hatten höchstwahrscheinlich / sehr wahrscheinlich / nur zu wahrscheinlich seine persönlichen Verbindungen diese Neigung erregt. (13e) Die Saudis hatten *höchstja / *sehr ja / *fast ja / *nur zu ja / *auch ja diese Gruppe im Kampf gegen Despoten aufgebaut. Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 301 Aus der morphosyntaktischen Nicht-Erweiterbarkeit der MPn folgt die erste Antwort auf die Titelfrage dieses Aufsatzes: MPn können nicht negiert werden, weil die Negation in der Syntax des Deutschen als Adjunktion implementiert ist. Diese ist auf MPn nicht anwendbar. 3. semantik: modalpartikeln sind alternativlos Dass MPn allein aus syntaktischen Gründen nicht negierbar sein sollten, leuchtet nicht ein. Die Negation ist ihrer Natur nach vor allem eine semantische Operation. Wenn für die Negation von MPn Bedarf bestünde, würde die Sprache Mittel finden, um sie zu ermöglichen. Wenn sie unmöglich ist, muss sie semantisch nutzlos sein. MPn zeigen eine Reihe auffälliger Beschränkungen, die in der Fachliteratur oft beschrieben worden sind - sie sind nicht akzentuierbar, nicht koordinierbar und nicht erfragbar: (15a) *Ist der Juli / JA oder HALT\ ein recht warmer Monat? (15b) *Wie ist der Juli recht warm - / JA oder HALT\? (15c) *Der Juli ist HALT\ ein recht warmer Monat. Diese Beschränkungen hängen eng miteinander zusammen. Sie betreffen Sprachmittel, deren semantische Funktion auf Alternativen Bezug nimmt. Die Hervorhebung eines Ausdrucks durch Akzent kennzeichnet ihn als Ergebnis einer Auswahl aus einer Menge von Alternativen, die an der betreffenden Diskursstelle einsetzbar gewesen wären (vgl. Rooth 1996; Büring 1997; Blühdorn 2012a; Lohnstein 2012). Aus dem Gegensatz zur Nicht-Ausgewähltheit der übrigen Alternativen ergibt sich die kontrastierende Wirkung des Akzents. Die Auswahl kann sich auf die Bedeutung des akzentuierten Ausdrucks im Gegensatz zu Ausdrücken mit anderer Bedeutung beziehen wie in (16) (Bedeutungsalternativen), auf den Referenten des Ausdrucks im Gegensatz zu Ausdrücken mit anderen Referenten wie in (17) (Referenzalternativen) oder auf die Form des Ausdrucks im Gegensatz zu bedeutungs- oder referenzgleichen Ausdrücken anderer Form wie in (18) (Ausdrucksalternativen): (16) Sie hatten MET\ getrunken. (nicht Bier) (17) Sie hatten HANS\ erwartet. (nicht Otto) (18) Er wurde rausgeWOR\fen. (nicht geschmissen) Nicht akzentuierbar sind Ausdrücke, zu denen es - im aktuellen Kontext oder absolut - keine Alternativen gibt, z.B. das leere Pronomen es: (19) *Auf den Wiederverkaufswert kommt ES\ mir besonders an. Hardarik Blühdorn 302 Koordiniert werden können nach Lang (1984) Ausdrücke, die unter einen gemeinsamen Oberbegriff (common integrator) fallen und sich dabei gegenseitig nicht subsumieren, also Ausdrücke, die Alternativen zueinander sind: (16a) Sie hatten / MET und BIER\ getrunken. (17a) Sie hatten weder / HANS noch OT\to erwartet. (18a) Soll ich ge/ WORfen oder geSCHMIS\sen sagen? Ausdrücke, die keine Alternativen zueinander sind, sind nicht koordinierbar, und Ausdrücke, die nicht koordinierbar sind, sind keine Alternativen zueinander: (19a) *Auf den Wiederverkaufswert kommt es und manches Andere mir besonders an. (16b) *Sie hatten sowohl Met als auch getrunken. (13f) *Hatten die Saudis die Gruppe leider oder wahrscheinlich aufgebaut? Auch die Eigenschaft der Erfragbarkeit ist auf Alternativen bezogen. Interrogativa stehen als Variable für Alternativenmengen. Durch eine Antwort wird die Alternativenmenge auf ein Element oder eine Teilmenge reduziert (vgl. Lohnstein 2000): (13g) Wer hatte die Gruppe aufgebaut? (die Amis, die Saudis, die Israelis …) (16c) Was hatten sie getrunken? (Met, Bier, Fanta …) (20) Wie blöd ist das denn? (sehr, ziemlich, gar nicht …) Nicht-Erfragbarkeit kann unterschiedliche Gründe haben. Klar ist aber, dass Ausdrücke, zu denen es keine Alternativen gibt, nicht erfragt werden können: (21) Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr. - *WAS\ weihnachtet? Bei MPn verweisen die Beschränkungen der Nicht-Akzentuierbarkeit, Nicht- Koordinierbarkeit und Nicht-Erfragbarkeit gemeinsam auf eine zugrundeliegende semantische Tatsache: MPn sind in einem wichtigen Sinn alternativlos. Sie stehen für disparate Bedeutungen, die nicht unter einen gemeinsamen Oberbegriff fallen, können deswegen zwar miteinander kombiniert, nicht aber gegeneinander ausgetauscht werden. Jede MP bildet eine eigene semantische Klasse. Aus der Alternativlosigkeit der MPn folgt auch, dass sie sich nicht als Bezugsausdrücke für Fokuspartikeln und für NEG eignen. Auch Fokuspartikeln und NEG stellen Bezüge zu Alternativen her (vgl. Blühdorn 2012a). Sie spalten die Gesamtmenge der verfügbaren Alternativen in zwei komplementäre Teilmengen - die der Alternativen, die an der betreffenden Diskursstelle (für den Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 303 Sprecher) auswählbar sind, und die der Alternativen, die dort nicht auswählbar sind - und ordnen ihren Bezugsausdruck einer dieser Teilmengen zu: (3c) Nur WIR\ hatten ein Tor geschossen. (3d) Auch WIR\ hatten ein Tor geschossen. (3e) Nicht WIR\ hatten ein Tor geschossen. Nur sagt: ‘mein Bezugsausdruck steht für die einzige auswählbare Alternative’; auch sagt: ‘mein Bezugsausdruck steht für eine von mehreren auswählbaren Alternativen’; NEG sagt: ‘mein Bezugsausdruck steht für eine nicht-auswählbare Alternative, und es gibt eine nicht-leere Menge weiterer Alternativen, unter denen auch auswählbare sein können’ (vgl. Dimroth 2004; Sudhoff 2010). Ein Ausdruck, der für eine auswählbare Alternative steht, kann mit sondern an den Bezugsausdruck von NEG angeschlossen werden. Die zweite Antwort auf die Titelfrage dieses Aufsatzes lautet mithin: MPn können nicht negiert werden, weil sie in keinem Alternativenverhältnis zueinander oder zu anderen Ausdrücken stehen. 4. exkurs: „akzentuierte modalpartikeln“ sind keine modalpartikeln Es gibt einige Partikeln - ja, doch, wohl und schon - die zweifellos als MPn verwendbar sind und dabei die in Kapitel 3 besprochenen Beschränkungen zeigen, die aber daneben auch akzentuierte Verwendungen zulassen (vgl. Gutzmann 2010; Blühdorn 2012b): (22) In Ordnung, du kannst ausgehen, aber dass du mir / JA rechtzeitig nach HAU\se kommst! (23) Otto glaubte nicht daran, dass er das Bild verkaufen würde, aber / DANN hat er es DOCH\ verkauft. (24) Otto behauptet, Anna hätte mit der Arbeit keine Mühe gehabt. - Sie hat SCHON\ Mühe gehabt, aber sie hat es geschafft. (25) Was, wir dürfen nicht tanzen? - Keine Sorge, ihr dürft WOHL\ tanzen. Ob Partikelverwendungen wie in (22) bis (25) den MPn zugerechnet werden können, ist umstritten. Die Akzentuierungen zeigen an, dass diese Partikeln aus Alternativenmengen ausgewählt wurden und in Kontrast zu nicht-ausgewählten Alternativen stehen. Allerdings kommt für keine von ihnen eine der anderen als Kontrastalternative in Frage. Soweit sie gegeneinander austauschbar sind, sind sie annähernd synonym: Hardarik Blühdorn 304 (23a) Otto glaubte nicht daran, dass er das Bild verkaufen würde, aber dann hat er es SCHON\ verkauft. (24a) Otto behauptet, Anna hätte mit der Arbeit keine Mühe gehabt. - Sie hat WOHL\ Mühe gehabt, aber sie hat es geschafft. (25a) Was, wir dürfen nicht tanzen? - Keine Sorge, ihr dürft DOCH\ tanzen. Ja und doch stehen bedeutungsähnlich in kontradiktorisch entgegengesetzten Kontexten: (22a) Ich soll / JA nicht zu spät kommen, aber ich komme DOCH\ zu spät. (22b) Ich soll / JA pünktlich sein, aber ich bin DOCH\ nicht pünktlich. Den vier Partikeln ist gemeinsam, dass sie auf Bedingungen verweisen, die die Zuordnung von Faktizitäts-, Wahrheits- oder Erwünschtheitswerten beeinflussen: ja weist darauf hin, dass der zugeordnete Wert vollständig aus dem relevanten Wissensbzw. Wollenshintergrund folgt; wohl zeigt an, dass der zugeordnete Wert durch starke Gründe gerechtfertigt wird; schon weist auf hinreichende Rechtfertigungsgründe hin; doch verweist auf Gegengründe, die überwunden worden sind (vgl. Blühdorn 2012b). Diese Partikelbedeutungen sind bei akzentuierter und unakzentuierter Verwendung gleich. Bei akzentuierter Verwendung kommt der Kontrast zu einer Alternative hinzu. Die einzige Alternative zu jeder der vier Partikeln ist NEG, das für den entgegengesetzten Faktizitäts-/ Wahrheits-/ Erwünschtheitswert steht: (22c) In Ordnung, du kannst ausgehen, aber dass du mir / NICHT zu spät nach HAU\se kommst! (23b) Otto war sicher, dass er das Bild verkaufen würde, aber dann hat er es NICHT\ verkauft. (24b) Otto behauptet, Anna hätte mit der Arbeit Mühe gehabt. In Wirklichkeit hat sie KEI\ne Mühe gehabt. (25b) Was, wir dürfen tanzen? - Ruhe hier, ihr dürft NICHT\ tanzen. In der Entgegensetzung zu NEG haben ja, doch, wohl und schon die Rolle positiver Polaritätspartikeln (vgl. Sudhoff 2012). 4 Ebenso wie die homonymen MPn verweisen sie auf Zuordnungsbedingungen für Werte. Es sind aber nicht diese Bedingungen, die sie als Polaritätspartikeln in Kontrast zueinander setzen, sondern die Werte selbst: positiv gegen negativ. Polaritätspartikeln sind nicht nur akzentuierbar, sondern können auch durch Fokuspartikeln und NEG modifiziert werden - ganz wie es für Ausdrücke, die aus Alternativenmengen stammen, zu erwarten ist: 4 Auch kaum, das nicht als MP fungieren kann, kann als Polaritätspartikel verwendet werden. Es zeigt dann das gleiche Verhalten wie die hier untersuchten Exemplare. Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 305 (22d) In Ordnung, du kannst ausgehen, aber dass du mir nur / JA rechtzeitig nach HAU\se kommst! (23c) Otto glaubte nicht so richtig daran, dass er das Bild verkaufen würde, aber am Ende hat er es sogar DOCH\ noch verkauft. (24c) Otto meinte, Anna hätte mit der Arbeit große Mühe gehabt. - Sie hat auch SCHON\ Mühe gehabt, aber sie hat es geschafft. (25c) Ich habe gehört, ihr wollt nicht tanzen, aber wollt ihr nicht / WOHL tanzen? In Kontexten wie (22d) bis (25c) werden die vorangestellten Partikeln - hier: nur, sogar, auch und nicht - oft als MPn betrachtet (z.B. in Thurmair 1989). Dieser Sicht kann sich eine genauere Analyse nicht anschließen. Die vorangestellten Partikeln in solchen Beispielen haben die gewöhnlichen Eigenschaften und die gewöhnliche Bedeutung von Fokuspartikeln bzw. NEG. Es gibt keinen Grund, sie einer anderen Klasse zuzurechnen. Ebenso wie NEG und im Unterschied zu MPn können Polaritätspartikeln erfragt werden, und zwar durch Entscheidungsfragen. (26) zeigt darüber hinaus, dass sie wie NEG durch Adjunkte erweiterbar sind: (22e) Muss ich rechtzeitig nach Hause kommen? - JA\. (23d) Hat Otto das Bild nicht verkauft? - DOCH\. (24d) Hat Anna mit der Arbeit nicht Mühe gehabt? - SCHON\, aber keine große. (26) Können Sie mir noch einen Cognac bringen? - Sehr WOHL\, mein Herr. Polaritätspartikeln können auch koordiniert werden, insbesondere mit NEG: (27) Dich hab ich nicht in Kammern eingeschlossen, / Als wo Du nicht und doch bist … (W. Shakespeare, Sonett Nr. 48, übersetzt von Fritz Krauss (1872)) (28) Diskussionen über die Höhe der Gage, die eine Gruppe nicht oder wohl beanspruchen dürfte, können an einem anderen Ort geführt werden. Fazit: Einige Partikeln können wahlweise als MPn oder als Polaritätspartikeln verwendet werden. In diesen Verwendungen zeigen sie ein völlig unterschiedliches grammatisches Verhalten. Für Polaritätspartikeln gilt keine der MP-typischen Beschränkungen. Sie bilden eine natürliche Klasse mit NEG. 5. pragmatik: modalpartikeln operieren über Illokutionen Sind MPn allein aufgrund ihrer Nicht-Erweiterbarkeit und Alternativlosigkeit nicht negierbar? Mindestens die in Kapitel 3 besprochenen Eigenschaften sind allen MPn gemeinsam. In diesem negativen Sinne bilden sie doch eine Klasse, fallen unter einen common integrator. Wahrscheinlich hat ihre Nicht- Negierbarkeit also noch tiefere Gründe. Um denen auf die Spur zu kommen, Hardarik Blühdorn 306 soll untersucht werden, wie der Skopus von NEG und der Skopus von MPn sich zueinander verhalten. Der Skopus von NEG ist zunächst seine syntaktische Bezugskonstituente, der NEG die Rolle negiertes zuordnet. Liegen NEG und seine Bezugskonstituente im Innern einer Phrase, so bleibt die Negation in dieser Einheit gefangen: (29) Nicht-Mitglieder können nur nicht-zugelassene Motorräder ausleihen. In (29) liegen innerhalb des Subjekts und innerhalb des Objekts NEG-Vorkommen mit Bezugsausdruck. In beiden Fällen wirkt sich die Negation semantisch nur innerhalb der Phrase aus. Ist die Bezugskonstituente dagegen ein Satzglied oder eine Projektion des Verbs, so kann die Wirkung der Negation sich von ihr auf die Satzbedeutung ausweiten (vgl. Blühdorn 2012a). Dahinter steckt ein einfacher Zusammenhang: Enthält ein Satz auf seiner Hauptstrukturlinie eine Konstituente, die für ihre Diskursstelle abgewählt ist, so muss geprüft werden, ob er als ganzer noch für seine Diskursstelle in Frage kommt. Liegt NEG im Skopus von Quantoren oder anderen Operatoren, kann seine Wirkung nach oben hin abgeschwächt oder sogar neutralisiert werden (z.B. die Hälfte der Eingeladenen ist gekommen/ nicht gekommen). Ansonsten kehrt NEG den Faktizitätswert des beschriebenen Sachverhalts für den relevanten temporalen Kontext und ggf. den Wahrheitsbzw. Erwünschtheitswert der Satzproposition für den relevanten epistemischen/ deontischen Kontext um, d.h. es kennzeichnet den deskriptiven Teil der Satzbedeutung und ggf. die Satzaussage insgesamt als abgewählt. In (30) ist das Objekt Motorräder Bezugskonstituente von NEG. Dessen negierende Wirkung weitet sich auf die Satzbedeutung aus. Der Satz sagt: ‘im relevanten temporalen Kontext ist es nicht der Fall, dass Nicht-Mitglieder Motorräder ausleihen können’ (negativer Faktizitätswert des beschriebenen Sachverhalts) und: ‘im relevanten epistemischen Kontext ist es nicht wahr, dass Nicht-Mitglieder Motorräder ausleihen können’ (negativer Wahrheitswert der Satzproposition): (30) Nicht-Mitglieder können keine Motorräder ausleihen. Propositionen sind der maximale reguläre Operationsbereich der Negation. Über sie hinaus wird NEG im Normalfall nicht wirksam. Das führt z.B. dazu, dass Nebensätze, die für eigene Propositionen stehen, nicht im Skopus einer Negation im Obersatz liegen können. (31) zeigt eine adversative während-Verknüpfung. Der Nebensatz steht für eine eigene Proposition. NEG kann nur die Proposition des Obersatzes erfassen. Eine Interpretation, in der es Skopus über den während-Satz bekommt, ist ausgeschlossen: Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 307 (31) Bei Hunden konnte sie kein Blut sehen, während sie bei Menschen da unempfindlich war. Der temporale während-Satz in (31a) liefert den Kontext, für den die Faktizität des im Obersatz beschriebenen Sachverhalts bewertet wird. Er ist Teil der Proposition des Gesamtsatzes. Über ihn kann NEG aus dem Obersatz heraus ohne weiteres Skopus nehmen: (31a) Bei Hunden konnte sie kein Blut sehen, während sie schwanger war. Zu anderen Zeiten hatte sie keine Probleme damit. Oberhalb der Proposition liegt in der Bedeutungsstruktur des Satzes die Ebene des Sprechakts. Auf sie hat NEG in der Regel keinen Zugriff. Ein Sonderfall sind Negationen, mit denen Ausdrucksalternativen abgewählt werden: (32) Man hat Sie … na ja … nicht rausgeschmissen, sondern gebeten zu gehen. Sätze wie (32) kann man so verwenden, dass NEG Skopus über die Formulierungshandlung, den lokutionären Akt im Sinne von Austin (1982) als unterste Teilebene des Sprechakts, nimmt. Die Formulierungsoption rausgeschmissen wird abgewählt und an ihre Stelle die Alternative gebeten zu gehen gesetzt (vgl. Deppermann/ Blühdorn 2013). Ob die semantische Wirkung von NEG auch die Illokutionsebene erreichen kann, ist umstritten (vgl. Blühdorn 2012a). Diesbezüglich gibt das Verhältnis von NEG zur Informationsstruktur, speziell zur Fokus-Hintergrund-Gliederung (FHG; vgl. Jacobs 1988), wichtige Hinweise. FHGn werden satzförmigen oder nicht-satzförmigen Ausdrücken zugeordnet, mit denen ein Informationstransfer im Rahmen einer Interaktion bezweckt ist, die also für sprachliche Handlungen stehen. Als Fokus wird diejenige syntaktische Konstituente ausgewählt - und im Deutschen durch Akzent sowie eine in der Regel fallende Tonhöhenbewegung gekennzeichnet -, mit der die Informationserwartung des Adressaten befriedigt werden soll, die für die relevante Informations- und Handlungseinheit angenommen wird. Für eine solche funktionale Einheit steht die Intonationsphrase, eine Formeinheit, in der genau eine syntaktische Konstituente als Fokus gekennzeichnet ist. Die Teile von ihr, die nicht Fokus sind, bilden ihren Informationshintergrund. NEG wird in Sprachausdrücke eingefügt, bevor deren FHG festgelegt wird, d.h. bevor über ihre Handlungsfunktion entschieden ist. Das erkennt man daran, dass sowohl NEG als auch seine Bezugskonstituente hinsichtlich ihrer Rolle in der FHG weitgehend frei sind: Beide können einzeln, gemeinsam oder als Teile einer komplexeren Konstituente für die Rolle des Fokus ausgewählt werden oder im Informationshintergrund verbleiben, ferner im Infor- Hardarik Blühdorn 308 mationshintergrund durch Akzentuierung als Kontrast-Topiks im Sinne von Büring (1997) gekennzeichnet werden. Nur in drei Spezialfällen geht von der Negation eine Anforderung an die FHG aus: wenn nur ein Teil der syntaktischen Wirtskonstituente von NEG als abgewählt gekennzeichnet werden soll wie einer Puppe in (33), wenn die Bezugskonstituente als referentieller Ausdruck abgewählt wird wie in (17b) oder wenn sie als Formulierungsoption abgewählt wird wie in (32a). In diesen drei Fällen muss die Bezugskonstituente akzentuiert werden: (33) Sie hatten doch nicht [den Kopf einer PUP\pe] gemeint. Es ging um den Kopf eines MEN\schen. (17b) Sie hatten ja / NICHT / HANS erwartet, sondern OT\to. (32a) / RAUSgeschmissen wurde er NICHT\. Bloß ge/ BEten zu GE\hen. Mit der Akzentuierung ist noch nicht entschieden, ob die Bezugskonstituente Fokus wird wie in (33) und (17b). Als Kontrast-Topik wie in (32a) kann sie auch zum Informationshintergrund gehören. Die Rolle von NEG selbst in der FHG bleibt auch in solchen Fällen variabel. In (33) und (17b) gehört es zum Informationshintergrund, in (17b) als Kontrast-Topik; in (32a) ist es Fokus. Zusammenfassend ist also festzustellen: Eine FHG wird Ausdrücken zugeordnet, in denen alle benötigten Vorkommen von NEG schon enthalten sind. Die FHG operiert stets über NEG. Für MPn gilt das Umgekehrte. Sie nehmen immer Skopus über Illokutionen. Ihre semantische Funktion besteht darin, Ausdrücke mit Handlungsfunktion in Beziehung zu Wissensund/ oder Wollenshintergründen zu setzen. Solchen Ausdrücken muss schon eine FHG zugeordnet sein, wenn die MP eingefügt wird. Das Stellungsverhalten der MPn reflektiert diesen Zusammenhang. Zu nicht-satzförmigen Ausdrücken mit eigener FHG stehen MPn stets peripher: (34) A - wie konnte / DAS nur pasSIE\ren B - / SEHR TRA\gisch A - / JA\ B - ein / UN\fall halt In satzförmigen Ausdrücken sind sie auf Positionen im Mittelfeld beschränkt. Ihr Stellungsverhalten zeigt sich besonders deutlich in Sätzen, in denen alle Satzglieder durch definite Pronomina realisiert sind. Solche Ausdrücke sind im Prinzip für den Informationshintergrund prädestiniert. Werden sie Fokus, sind sie besonders prominent. Beispielblock (35) zeigt, dass die MP die Position unmittelbar links der Fokuskonstituente einnimmt, unabhängig von deren Satzgliedfunktion und Linearstellung. Kontext ist ein Gespräch über Warum können die deutschen Modalpartikeln nicht negiert werden? 309 Grafikkarten zwischen zwei Kunden und mehreren Verkäufern eines Computergeschäfts. Für jede Variante des Satzes muss man sich einen Gesprächsmoment denken, in dem die fokussierte Konstituente erfragt wurde: (35) er hatte ihnen diese ja empFOH\len / DIEse hatte er ihnen ja empFOH\len / IHnen hatte er diese ja empFOH\len er hatte ihnen ja DIE\se empfohlen / DIEse hatte ihnen ja ER\ empfohlen / DIEse hatte er ja IH\nen empfohlen / IHnen hatte er ja DIE\se empfohlen / DIEse hatte ja ER\ ihnen empfohlen Die gezeigten Varianten erschöpfen weder die möglichen Linearisierungen der Konstituenten noch die möglichen FHGn. Sie sollen nur deutlich machen, dass die Stellung der MP sich nach der FHG richtet, also nach einer Eigenschaft des Sprachausdrucks, die sich nicht aus seiner Syntax oder Semantik, sondern aus seiner Handlungsfunktion erklärt. In einem Korpus, das Moroni (2010) untersucht hat, grenzten 97% aller MPn unmittelbar an eine informationsstrukturell hervorgehobene Konstituente an: 74% waren einem Fokus voran-, 6% einem Fokus nachgestellt, 17% waren einem Kontrast-Topik voran- oder nachgestellt. Nur in Verbzweitsätzen mit Fokus im Vorfeld können MPn nicht an eine durch Akzent hervorgehobene Konstituente angrenzen, denn sie müssen im Mittelfeld stehen, und rechts von einem Fokus sind innerhalb derselben Informations- und Handlungseinheit keine weiteren akzentuierten Konstituenten zugelassen: (36) ER\ hatte ihnen diese ja empfohlen DIE\se hatte er ihnen ja empfohlen IH\nen hatte er diese ja empfohlen Im Mittelfeld des deutschen Satzes besteht die Tendenz, adverbiale Operatoren von links nach rechts entsprechend ihrem Skopus anzuordnen. Wenn nun NEG in einen Ausdruck eingefügt werden muss, bevor diesem eine FHG zugeordnet wird, MPn dagegen stets erst nach der FHG-Zuordnung, so müssen MPn Skopus über NEG nehmen, und es ist zu erwarten, dass sie im Mittelfeld links aller NEG-Vorkommen zu stehen kommen. Wenn man die Varianten in Beispielblock (37) mit denen unter (35) und (36) vergleicht, so sieht man, dass dies tatsächlich der Fall ist: (37) er hatte diese ja niemandem empFOH\len / IHnen hatte er ja keine empFOH\len er hatte ihnen ja nicht DIE\se empfohlen ER\ hatte ihnen ja keine empfohlen Hardarik Blühdorn 310 er hatte ja niemandem DIE\se empfohlen / DIEse hatte ja niemand IH\nen empfohlen / IHnen hatte ja niemand DIE\se empfohlen DIE\se hatte ja niemand ihnen empfohlen Vorkommen von NEG und anderen Operatoren, über die eine MP Skopus nehmen muss, erklären, warum MPn de facto sehr häufig im linken Mittelfeld zu stehen kommen. Sie können dann von dem Fokus, dem sie zugeordnet sind, „weggerückt“ sein. NEG kann nur, wenn es ins Vorfeld bewegt wurde, linear links einer MP stehen: (38) NIE\mand i hatte ihnen diese ja t i empfohlen [nicht DIE\se] i hatte er ihnen ja t i empfohlen Auch in solchen Sätzen behält die MP Skopus über NEG. Für die Syntax ist anzunehmen, dass die negierte Vorfeldkonstituente aus einer Grundposition rechts der MP (t i ) vorangestellt wurde. Die dritte und letzte Antwort auf die Titelfrage lautet somit: MPn können nicht negiert werden, weil sie über Illokutionen operieren, während NEG maximal Skopus über Formulierungsoptionen nehmen kann. Selbst wenn MPn vielleicht doch unter einen common integrator fallen, könnte im Skopus von NEG über ihre Auswahl und über eventuelle Alternativen zu ihnen unmöglich entschieden werden. 6. literatur Austin, John L. (1982): How to do things with words. The William James lectures delivered at Harvard University in 1955. 2. Aufl. Oxford. Blühdorn, Hardarik (2012a): Negation im Deutschen. Syntax, Informationsstruktur, Semantik. 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Martin DurrELL / aLan scott zur proDuktIVItät Der untrennBaren VerBpräfIxe Im heutIgen Deutsch 1. einleitung Die untrennbaren Präfixe be-, ent-, er- und vergehören zu den wichtigsten verbalen Wortbildungselementen im heutigen Deutsch. 1 Im Laufe der Zeit haben sie Derivate nach verschiedenen Wortbildungsmustern hervorgebracht, aber von diesen sind heute nicht wenige unproduktiv geworden. Viele heute noch gebräuchliche Verben mit diesen Präfixen wurden früher nach Derivationsprozessen gebildet, die nicht mehr zur Bildung neuer lexikalischer Einheiten fähig sind, und einige von diesen, wie etwa entsprechen, sind vollkommen idiomatisiert. Andere Wortbildungsmuster mit den untrennbaren Präfixen sind jedoch im heutigen Deutsch durchaus noch produktiv, und in diesem Beitrag sollen diese anhand einer angemessenen Materialbasis festgestellt und eingehend untersucht werden. 2. zur morphologischen produktivität Vor vierzig Jahren schrieb Aronoff (1976, S. 35): „Productivity is one of the central mysteries of derivational morphology“, und er hat inzwischen seine Meinung zu diesem Problem anscheinend nicht wesentlich geändert, denn bei Aronoff/ Lindsay (2014, S. 73) liest man: „Linguists have struggled to precisely define what productivity is; quantifying and measuring productivity is, therefore, also problematic“. Produktivität darf nicht mit Frequenz bzw. Häufigkeit des Vorkommens verwechselt werden, denn, wie Elsen (2014, S. 27) sagt, „auch unproduktive Muster können mehr oder weniger häufig sein“. Jedoch können Muttersprachler nach erkennbaren Derivationsprozessen neue Wörter bilden, die von anderen Muttersprachlern verstanden werden, und wenn auf der Basis eines bestimmten Prozesses wiederholt solche neue lexikalische Einheiten entstehen, darf dies als Hinweis dafür gelten, dass dieses Wortbildungsmuster produktiv ist. Wie Bauer (2001, S. 98) schreibt, „the productivity of a morphological process is its potential for repetitive non-creative morphological coining“. 1 Zu dieser Gruppe gehört grundsätzlich auch das Präfix zer-, das semantisch weniger Probleme aufweist als die anderen Präfixe und hier nicht behandelt wird. Martin Durrell / Alan Scott 314 Damit kommt man jedoch zu dem Problem, wie man solche „neue Wörter“ erkennt und einschätzt. Sie müssen von Muttersprachlern akzeptiert und verstanden werden, aber gerade in diesem Punkt sind Akzeptabilitätsurteile nicht immer verlässlich, vgl. Haspelmath/ Sims (2010, S. 129). Autoritative Wörterbücher, wie etwa Duden (2012), verzeichnen natürlich nur Wörter, die als fester Bestandteil der kodifizierten Standardsprache gelten, und führen Neubildungen erst dann auf, wenn sie einen Maß an Akzeptanz erlangt haben. So lassen sie die Produktivität am ehesten diachron untersuchen, vgl. Aronoff/ Lindsay (2014, S. 76ff.), und sind vor allem als Verzeichnis schon etablierter Bildungen nützlich. So lässt sich die Produktivität von Derivationsmusters am effektivsten durch Untersuchungen des reellen Sprachgebrauchs feststellen, d.h. man muss in Texten nach Neubildungen suchen, die noch nicht in Wörterbüchern verzeichnet sind. Auch Okkasionalismen, d.h. Wörter, die lediglich einmal belegt sind, lassen auf die Produktivität eines Wortbildungsmusters schließen, aber Formen, die häufiger vorkommen, können auf die allgemeine Aufnahme eines neuen Lexems durch die Sprachgemeinschaft weisen. Solche Untersuchungen des eigentlichen Sprachgebrauchs, d.h. die Möglichkeit, die Produktivität von Wortbildungsmustern mit einem gewissen Grad an Objektivität zu erforschen, sind nun durch elektronische Sprachkorpora möglich geworden, die gezielte Suchen in größeren sprachlichen Datensammlungen auf eine Weise zulassen, die vorher kaum praktikabel war. Für diese Untersuchung heißt das, dass man mithilfe eines angemessenen Korpus eine viel größere Menge von Präfixverben auffinden und auswerten kann. 3. Die untersuchung 3.1 Die Materialbasis Das zugrundeliegende Material für diese Untersuchung bilden zwei Teilkorpora von insgesamt 1,4 Millionen Wörtern, die in früheren Arbeiten von Scott (2006, 2009, 2010) verwendet wurden und sich dort für Untersuchungen zu Derivationsprozessen im heutigen Deutsch als geeignet erwiesen: - das Tiger-Korpus (Version I) mit Texten der Frankfurter Rundschau aus den Jahren 1992-1996 (ungefähr 700.000 Textwörter) 2 - ein von Scott zusammengestelltes Korpus aus Spiegel Online aus dem Zeitraum November 2004-Januar 2005 (ungefähr 700.000 Textwörter) 2 www.ims.uni-stuttgart.de/ forschung/ ressourcen/ korpora/ tiger.html (Stand: 20.9.2016). Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 315 Beide Teilkorpora bestehen aus journalistischen Texten. Diese dürfen grob als repräsentativ gelten, jedoch erschien es sinnvoll, sie durch gezielte Internetuntersuchungen zu ergänzen, insbesondere um nach weiteren Beispielen für neue lexikalische Einheiten zu suchen, die in den Korpora vorkommen. Auch die neuste Version des DeReKo-Korpus wurde zu Rate gezogen, um das Vorkommen von einigen im Korpus belegten Neubildungen zu überprüfen. 3 3.2 Methodologie Zunächst wurde mit dem Suchprogramm WordSmith 4 nach allen Verben mit den Präfixen be-, ent-, er- und vergesucht. Alle Typen eines Wortbildungsmusters (WBM) wurden dann aufgelistet, die nicht in Duden (2012) verzeichnet sind, und das Verhältnis zur Gesamtzahl der durch dieses WBM gebildeten Typen berechnet: P = Typen eines nicht im Duden verzeichneten WBM/ Alle Typen dieses WBM Nach Meibauer et al. (2004, S. 181) weist ein hohes Verhältnis neuer Typen auf die Produktivität eines Wortbildungsmusters, und unsere Befunde wurden dann durch weitere Suchen nach dem Vorkommen dieser „neuen“ Typen ergänzt. Für jedes Wortbildungsmuster wurde das Verhältnis der Gesamtzahl der Token pro Typ berechnet: P = Token eines WBM/ Typen eines WBM denn nach Plag (2003, S. 53f.) sind „high-frequency words […] more likely to be stored as whole words in the mental lexicon“. Außerdem dürfte ein niedriges Token/ Typ-Verhältnis ein auf hohe Produktivität des WBM hinweisen, vgl. Meibauer et al. (2004, S. 180). Des weiteren gelten Hapax legomena als wichtiges Indiz für morphologische Produktivität, vgl. Aronoff/ Lindsay (2014, S. 73ff.), denn diese sind häufig Neubildungen, und ein Wortbildungsmuster, das viele Hapax legomena hervorbringt, ist sehr wahrscheinlich produktiv. Wir haben daher die Wortbildungen in unserem Material gemerkt, von denen nur ein Token belegt ist, und diese nach den von Baayen/ Lieber (1991, S. 809) vorgeschlagenen Schemen berechnet: P = Hapax legomena eines WBM/ Typen eines WBM P = Hapax legomena eines WBM/ Token eines WBM 3 Das DeReKo-Korpus ist auf der Internetseite www1.ids-mannheim.de/ kl/ projekte/ korpora/ zugänglich (Stand: 20.9.2016). Eine systematische Untersuchung dieses Korpus nach den hier verwendeten Methoden würde sicher interessante Ergebnisse liefern, bedürfte jedoch eines derart hohen Arbeitsaufwands, wie er den Autoren nicht möglich war. 4 Zu diesem Programm siehe www.lexically.net/ wordsmith (Stand: 20.9.2016). Martin Durrell / Alan Scott 316 4. Die untrennbaren präfixe 4.1 be- Das Präfix bekommt in deverbalen, denominalen und deadjektivischen Wortbildungsmustern vor, vgl. Donalies (2005, S. 118), Eichinger (2000, S. 223- 226), Elsen (2014, S. 215), Fleischer/ Barz (1995, S. 320f.) und Lohde (2006, S. 232f.). In unserem Korpus finden sich 314 Verbbildungen mit diesem Präfix, von denen 16 keine synchrone Derivationsbasis haben (z.B. begehren). Von den anderen sind 188 deverbal, 79 denominal und 31 deadjektivisch. 4.1.1 Deverbales be- Von den deverbalen Bildungen mit besind 29 idiomatisiert oder lexikalisiert, wie z.B. besitzen. Die anderen verteilen sich auf drei Wortbildungsmuster, von denen zwei mit einer Valenzänderung verbunden sind: a) Transitivierung eines intransitiven Verbs, z.B. bedrohen: 107 Belege; b) Objektverschiebung, wobei ein Dativ der Basis zum Akkusativobjekt wird, z.B. beliefern oder eine Adverbialbestimmung der Basis zum Akkusativobjekt wird, z.B. bebauen: 23 Belege; c) Intensivierung (wobei der semantische Unterschied zur Basis oft gering ist), z.B. befragen: 29 Belege. In unserem Korpus kamen zwei Neubildungen nach Typ (a) oben vor, die nicht in Duden (2012) verzeichnet sind, und zwar bedröhnen und begrübeln. Eine Internetsuche nach dem Infinitiv ergab 921 Belege für bedröhnen und 240 für begrübeln, und das DeReKo-Korpus hat 311 Belege für bedröhnen und 58 für begrübeln. Weitere Internetsuchen nach ähnlichen Neubildungen ergaben Beispiele wie: „Wie die meisten Themen wird auch die Literatur im Angelsächsischen professioneller bebloggt als anderswo“ sowie „Wir begoogeln alle mehr oder weniger ekannten Mietwagenanbieter“, und im Internet sind weiter über 500 Beispiele für begoogeln bzw. begooglen und über 2.000 für bebloggen zu finden. 4.1.2 Denominales be- Das dominante Wortbildungsmuster bei denominalen Bildungen mit beist ornativ, z.B. belohnen, und dem folgen 68 unserer 79 Korpusbelege, wenn auch einige Unregelmäßigkeiten aufweisen, indem drei eine Pluralform als Basis haben, wie bevölkern. Elf weitere haben eine zusätzliche Suffigierung mit -ig-, z.B. beabsichtigen, und zehn haben Umlaut des Basisvokals, z.B. beargwöhnen. Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 317 In unserem Korpus finden sich vier neu gebildete Hapax legomena: beflocken, beledern, beschlipsen und bespaßen, von denen keine in Duden (2000) vorkommen, aber in Duden (2012) sind schon beflocken und bespaßen aufgenommen worden. Internetsuchen ergaben 79.400 Belege für den Infinitiv beflocken, 2.090 für beledern und 12.900 für bespaßen. Für den Infinitiv beschlipsen waren keine Belege zu finden, aber 518 für das Partizip II beschlipst. Im Korpus sind weiter die abgeleiteten Nomina Beduftung und Bewichtelung belegt, deren Basen nicht bei Duden (2012) verzeichnet sind. Im DeReKo-Korpus kommen Formen des Verbs beduften aber 245-mal vor (und das Substantiv Beduftung - mit dem 14mal belegten Kompositum Beduftungsanlage - 130mal), und das Verb bewichteln einmal. Allerdings ergibt eine Internetsuche 5.060 Belege für den Infinitiv bewichteln. 4.1.3 Deadjektivisches be- Nur 16 der 31 deadjektivischen Bildungen folgen einem klaren Wortbildungsmuster, und zwar sind sie semantisch faktitiv, z.B. befreien. Bei den anderen Bildungen handelt es sich lexikalisierte Formen, wie z.B. beglaubigen. Im Korpus kommen keine deadjektivischen Neubildungen vor. 4.1.4 Zusammenfassung der Ergebnisse Tabelle 1 gibt die Statistik der Korpusbelege für regelmäßige Bildungen mit dem Präfix benach den in 4.1.1 bis 4.1.3 angeführten Wortbildungsmustern. Daraus lässt sich schließen, dass nur das erste deverbale Muster und das denominale zu Neubildungen fähig und daher produktiv sind. Basis Funktion Typen Token Neubildungen Token/ Typ Hapax/ Typen Hapax/ Token Verb Transitivierung 107 3009 2 28,12 0,18 0,006 Verb Intensivierung 29 991 0 34,17 0,14 0,004 Verb Valenzänderung 23 203 0 8,83 0,39 0,044 Nom. ornativ 68 1305 4 19,19 0,25 0,013 Adj. faktitiv 16 296 0 18,50 0,13 0,007 tab. 1: wortbildungsmuster be- 4.2 ent- Das Präfix entkommt in deverbalen, denominalen und deadjektivischen Wortbildungsmustern vor, vgl. Donalies (2005, S. 119), Eichinger (2000, S. 223ff.), Elsen (2014, S. 215f.), Fleischer/ Barz (1995, S. 322) und Lohde (2006, Martin Durrell / Alan Scott 318 S. 233f.). Lohde (ebd., S. 234) bemerkt, dass „der umfangreiche Bestand an demotivierten Bildungen“ für entgeradezu charakteristisch ist. Dies trifft auch für unser Material zu, denn von den 110 Belegen mit entin unserem Korpus haben 25 keine synchrone Basis für die Derivation, wie z.B. entbehren. Von den anderen sind 50 deverbale Bildungen, 27 denominal und 6 deadjektivisch. 4.2.1 Deverbales ent- Die 50 deverbalen Bildungen mit entmit einer klaren Basis für die Derivation verteilen sich auf drei Wortbildungsmuster: a) die Bildung hat reversative Bedeutung, d.h. (Wellmann 1995, S. 447), „die im Grundverb genannte Tätigkeit [wird] rückgängig gemacht oder aufgehoben“, z.B. entmilitarisieren: 22 Belege. b) das Verb mit entgibt ein Entfernen des Subjekts (bei intransitiven Verben, z.B. entlaufen) oder des Objekts (bei transitiven Verben, z.B. entreißen): 21 Belege. c) das Präfix hat inchoative Bedeutung, z.B. entbrennen: 7 Belege. In unserem Korpus finden sich keine neuen deverbalen Bildungen nach diesen Mustern, wohl aber Nominalisierungen in -ung von mit entpräfigierten Verben mit reversativer Bedeutung, z.B.: Enteinheitlichung, Enthierarchisierung, Entindustrialisierung, Entzäunung. Die diesen Bildungen zugrundeliegenden Verben führt Duden (2012) nicht auf, aber sie lassen sich sonst leicht belegen, z.B. ergibt eine Internetsuche 309 Belege für die Form des Präteritums enthierarchisierte, und das DeReKo-Korpus hat 35 Belege für alle Formen des Verbs und 75 für das davon abgeleitete Substantiv Enthierarchisierung. Auch sind Belege für das Verb enteinheitlichen nicht selten. Dieses Verb ist insofern auch interessant, als es sich wohl um eine reversive Ableitung von dem präfigierten vereinheitlichen handelt, als eine direkte Ableitung von dem Adjektiv einheitlich. Jedoch wären in diesem Fall beide Basen für die Derivation denkbar möglich, so wie bei entmutigen, das sich auch als Derivat von dem antonymischen Präfixverb ermutigen analysieren lässt denn als direkte Ableitung von dem Adjektiv mutig. 4.2.2 Denominales und deadjektivisches ent- Im unserem Material finden sich 27 Ableitungen mit entvon Substantiven und 6 von Adjektiven, die alle privative Bedeutung haben, z.B. entwaffnen, entleeren. Von den belegten Verben haben zwei denominale und ein deadjektivisches Umlaut, und zwar entkräften, entwässern und entblößen. In unserem Material finden sich weder denominale noch deadjektivische Neubildungen Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 319 mit ent-, aber Suchen im Internet ergaben einige weitere Beispiele für denominale Bildungen, wie z.B. entjazzen oder entsexen. Für deadjektivische Neubildungen ließen sich dagegen keine Beispiele finden. 4.2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse Tabelle 2 gibt die Statistik der Korpusbelege für regelmäßige Bildungen mit dem Präfix entnach den in 4.2.1 und 4.2.2 angeführten Wortbildungsmustern. Daraus erscheint, dass nur das erste deverbale Muster mit reversativer Bedeutung sowie das denominale Muster noch produktiv ist. Basis Funktion Typen Token Neubildungen Token/ Typ Hapax/ Typen Hapax/ Token Verb reversativ 22 342 0 15,55 0,27 0,018 Verb lokal 21 188 0 8,95 0,29 0,032 Verb inchoativ 7 44 0 6,29 0,14 0,023 Nom privativ 27 131 0 4,85 0,48 0,099 Adj. privativ 6 21 0 3,50 0,33 0,095 tab. 2: wortbildungsmuster ent- 4.3 er- Das Präfix erkommt in deverbalen, denominalen und deadjektivischen Wortbildungsmustern vor, vgl. Donalies (2005, S. 119f.), Eichinger (2000, S. 226ff.), Elsen (2014, S. 216), Fleischer/ Barz (1995, S. 323f.) und Lohde (2006, S. 234f.). In unserem Korpus finden sich 188 Bildungen mit er-, von denen 19 keine synchrone Basis haben (z.B. erlauben). Von den anderen sind 138 deverbal, 31 deadjektivisch und eine eventuell denominal. 4.3.1 Deverbales er- Die 138 nach erkennbaren Wortbildungsmustern deverbalen Derivate verteilen sich auf zwei Muster: a) Die Bildungen haben resultative bzw. perfektive Bedeutung, z.B. erwirtschaften, oft mit intensiver Wirkung, wie z.B. ergreifen: 128 Belege. b) Die Bildungen sind inchoativ und weisen auf den Beginn der im Basisverb bezeichneten Handlung, z.B. erklingen: 13 Belege. In unserem Korpus finden sich keine inchoativen Neubildungen, wohl aber für die andere Gruppe, für die die Aussage von Fleischer/ Barz (1995, S. 323) klar zutrifft, dass: „Die Hauptfunktion der Präfigierung von Simplizia mit Martin Durrell / Alan Scott 320 erin der Signalisierung des Anstrebens bzw. Erreichens eines Resultats der von der Basisverb bezeichneten Tätigkeit oder nur des Endes der Tätigkeit [besteht]“. In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, dass sehr viele Okkasionalismen mit diesem Präfix gebildet werden, wie z.B. erbüffeln, erramschen, erstudieren. Zwei nicht in Duden (2012) aufgeführte Neubildungen kommen in unserem Material vor, und zwar erpokern und erzocken, wobei es uns allerdings als fragwürdig erscheint, ob diese Formen als echte Okkasionalismen zu werten sind, denn eine Internetsuche brachte 26.200 Belege für erpokern und 27.900 für erzocken, und beide sind auch im DeReKo-Korpus belegt. Ähnliches gilt auch für Neubildungen aus Entlehnungen wie erbloggen und ergoogeln, von denen letzteres über 700-mal im DeReKo-Korpus belegt ist. Bei diesen stellt sich die von Bauer (2001, S. 34-47) erörterte grundsätzliche Frage über die Kriterien, nach denen ein Lexem als „etabliert“ gelten darf. Das von Fleischer/ Barz (1995, S. 323) als Okkasionalismus gewertete Beispiel erstudieren lässt sich z.B. über 800-mal in einer Internetsuche belegen und kommt neunmal im DeReKo-Korpus vor. Duden (2012) führt es nicht auf, aber es findet sich schon im Deutschen Wörterbuch (DWB Bd. 3, S. 1022) vor mit Beispielen aus Grimmelshausen und Stieler und ist also seit dem 17. Jahrhundert als mögliches Wort der deutschen Sprache belegt. Bei solchen Bildungen lässt sich kaum feststellen, ob sie von Muttersprachlern bei jedem Gebrauch nach regelmäßigen Derivationsprozessen neu gebildet werden oder als eigenständige Lexeme gespeichert sind. 4.3.2 Denominales und deadjektivisches er- Die denominalen und deadjektivischen er- Bildungen, für die ein synchron erkennbares Wortbildungsmuster feststellen lässt, haben alle resultative Bedeutung. Die Zahl der denominalen ist jedoch relativ klein, wie die Angaben in den gängigen Handbüchern bestätigen. Lohde (2006, S. 234f.) und Wellmann (1995, S. 447f.) führen keine Beispiele auf, Donalies (2005, S. 119) nennt das Muster „auffallend selten“ und erwähnt nur erdolchen und ermannen, und bei Fleischer/ Barz (1995, S. 309) findet man nur erlisten. Keine von diesen kommen in unserem Korpusmaterial vor, dort ist aber erhitzen belegt, das synchron eventuell als denominal gewertet werden könnte, da die ursprüngliche verbale Basis hitzen verlorengegangen ist. Wenn es sich als denominal analysieren ließe, wäre es aber die einzige denominale Bildung in unserem Korpus. Einige weitere Verben, z.B. erarbeiten, könnten als doppelt motiviert betrachtet werden, wie auch die oben erwähnten Neubildungen erbloggen, ergooglen und erpokern. Dagegen ist jedoch das im Internet mehrmals belegte ersexen, z.B. „Sie ersexte sich ein Vermögen.“ (BILD, 1.11.2009) eindeutig denominal. Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 321 Mit erwerden sowohl transitive als intransitive Verben aus Adjektiven gebildet, wobei erstere (z.B. erblinden) ingressiv sind und letztere (z.B. ermöglichen) faktitiv. Beide weisen auf eine Zustandsänderung und dürfen zusammenfassend als „resultativ“ bezeichnet werden. In unserem Material finden sich acht ingressive Bildungen, z.B. erlahmen, von denen eine (erröten) einen umgelauteten Stammvokal hat, sowie 20 faktitive, z.B. erfrischen (zwei mit Umlaut: ergänzen, erhöhen, und eine mit Verlust des Umlauts der Basis: erbosen). In unserem Korpus sind keine deadjektivischen Neubildungen, und wir haben auch keine in anderen Quellen finden können. 4.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse Tabelle 3 gibt die Statistik der Korpusbelege für regelmäßige Bildungen mit dem Präfix er-. In diese Tabelle wurden wegen der oben erörterten Problematik die denominalen Bildungen nicht aufgenommen. Ob diese, wie auch die deadjektivischen Bildungen, noch produktiv sind, konnte aufgrund unseres Materials nicht eindeutig festgestellt werden, aber angesichts der semantischen Ähnlichkeit mit den klar produktiv resultativen deverbalen Bildungen ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Die inchoativen deverbalen Bildungen sind dagegen deutlich nicht mehr produktiv. Basis Funktion Typen Token Neubildungen Token/ Typ Hapax/ Typen Hapax/ Token Verb resultativ 128 4237 2 33,1 0,109 0,003 Verb inchoativ 13 755 0 58,08 0,077 0,001 Adj. resultativ 31 741 0 23,9 0,031 0,001 tab. 3: wortbildungsmuster er- 4.4 ver- Das Präfix verkommt in deverbalen, denominalen und deadjektivischen Wortbildungsmustern vor, vgl. Donalies (2005, S. 120ff.), Eichinger (2000, S. 226ff.), Elsen (2014, S. 216), Fleischer/ Barz (1995, S. 324ff.) und Lohde (2006, S. 235ff.). Es ist das häufigste untrennbare Präfix, und in unserem Korpusmaterial finden sich 526 Bildungen mit ver-, von denen 60 keine synchrone Derivationsbasis haben (z.B. verlieren). Von den anderen sind 320 deverbal, 73 denominal und 73 deadjektivisch. 4.4.1 Deverbales ver- Deverbale nach noch erkennbaren Wortbildungsmustern gebilde Derivate mit ververteilen sich auf zwei Hauptmuster. Bei beiden können weitere semantische Unterschiede gemacht werden (Eichinger (2000, S. 227) spricht von Martin Durrell / Alan Scott 322 einer „Vielzahl von semantischen Nischen“), auf die wir in dieser kurzen Darstellung nicht weiter eingehen können: a) Die Bildungen mit verhaben perfektive bzw. resultative Bedeutung, z.B. verhungern, oft mit intensiver Wirkung, wie z.B. bei vermeiden. Dieses Muster ist oft mit einer Valenzänderung verbunden, z.B. verschweigen: 266 Typen. b) Die Bedeutung des Derivats mit verlässt sich nach Lohde (2006, S. 237) als „modal“ bezeichnen, indem die „Art und Weise der Verbalhandlung als ‘falsch’ bzw. ‘fehlerhaft’ betrachtet [werden]“, z.B. verbauen: 54 Typen. Charakteristisch für Verben mit verist der Umstand, dass nicht wenige polysem sind, indem sie beiden obigen Mustern zugeordnet werden können, z.B. verhören, verlesen, und in unserem Korpus sind 18 solche Verben belegt. Bei einigen Verben ist, synchron gesehen, die Bildung nicht mehr eindeutig oder hat sich im Laufe der Zeit geändert. Z.B. ist verringern eine Ableitung des nun obsoleten Verbs ringern und nicht von dem Adjektiv gering, wie man meinen könnte. Aus synchroner Sicht könnten dagegen verkohlen oder verschiffen als denominal betrachtet werden, oder als Bildungen von den (allerdings selten vorkommenden) Verben kohlen oder schiffen. Für verzinsen ist aber jetzt keine verbale Basis mehr vorhanden, und es kann daher nur als denominal gewertet werden. In unserem Korpus sind fünf perfektive/ resultative Neubildungen als Hapax legomena belegt, die nicht in Duden (2012) verzeichnet sind: verfeiern, vergaukeln, verkämpfen, verträufeln und verzwirbeln. Eine Internetsuche ergab mehrere Belege für alle diese Verben, und sie kommen auch nicht selten im DeReKo-Korpus vor, und zwar verfeiern 73-mal, vergaukeln 21-mal, verkämpfen 555-mal, verträufeln 11-mal und verzwirbeln 251-mal. Als Neubildung in der Gruppe (b) kommt als Hapax legomenon verspringen vor, das in Duden (2012) nicht aufgeführt wird, aber es scheint inzwischen sehr häufig geworden zu sein, vor allem, wie das DeReKo-Korpus mit 1.162 Belegen bestätigt, bei Berichten über Fußballspiele, z.B. „[...] kurz vor dem Schuss versprang der Ball und er schoss ins Out.“ (Niederösterreichische Nachrichten, 25.4.2013). 4.4.2 Denominales ver- Die denominalen Derivate mit ververteilen sich auch auf zwei Wortbildungsmuster, und zwar: a) faktitive oder resultative Verben, z.B. verkitschen, versklaven; vergreisen, versumpfen: 46 Belege. b) ornative Verben, bei denen nach Donalies (2005, S. 120) „das Präfix eine hinzufügende Tätigkeit [bezeichnet], die durch das von der Basis Bezeichnete semantisch näher bestimmt wird“, z.B. vergiften, versilbern: 27 Belege. Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 323 In unserem Korpus enthält die erste Gruppe zwei Verben mit einer nicht mehr gebräuchlichen Basis (verfemen und verunglimpfen), und des Weiteren sind vereidigen und vergewaltigen, mit zusätzlichem -ig-, semantisch kaum mehr durchsichtig. In der zweiten Gruppe ist verköstigen, mit Umlaut der Basis und dem Suffix -ig-, unregelmäßig, während das zusätzliche Suffix -ieren bei verklausulieren und verproviantieren wohl durch den fremdsprachlichen Ursprung der Basen bedingt ist - aber eventuell sind beide ursprünglich deverbal aus heute obsolet gewordenen Basen. In unserem Korpus sind zwei Neubildungen belegt, beide mit ornativer Bedeutung: verlinken und vermüllen. Diese werden in Duden (2000) nicht aufgeführt, aber Duden (2012) hat beide schon aufgenommen. Es soll wohl nicht überraschen, dass vor allem verlinken heute sehr häufig ist, mit 18.238 Belegen allein im DeReKo-Korpus für die Form verlinken, auch finden sich viele weitere Derivate wie verlinkbar und Verlinkerei. Auch vermüllen ist im DeReKo-Korpus über 1.000-mal belegt und hat ebenfalls weitere Ableitungen. Unser Korpus verzeichnet keine Neubildungen mit faktitiver bzw. resultativer Bedeutung, solche lassen sich jedoch durch Internetsuchen oder in anderen Korpora leicht finden, z.B. verzeichnet das DeReKo-Korpus 38 Belege für versurfen. Okkasionalismen mit Firmen- und Personennamen als Basis sind auch häufig, wie z.B. vermicrosoften und vermerkeln. 4.4.3 Deadjektivisches ver- Alle deadjektivischen Bildungen mit versind faktitiv bzw. resultativ, z.B. verdünnen oder verarmen, und sie sind eng verwandt mit den vergleichbaren denominalen Bildungen. Zu dieser Gruppe gehören auch die vielen Bildungen von Adjektiven aus Zahlwörtern, wie etwa verdreifachen. Auffallend groß ist die Anzahl solcher Derivate aus gesteigerten Adjektiven, wie z.B. vergrößern und verlängern, und zu dieser Gruppe darf wohl auch vernichten aus der Negationspartikel nicht gerechnet werden. An Unregelmäßigkeiten bei der Derivation kommt, wie bei anderen Gruppen, Umlaut des Stammvokals vor, und zwar bei vergüten und verjüngen. Dies weist wohl auf das Alter der Bildung hin, sowie darauf, dass diese als Lexeme voll etabliert sind, und bei verzärteln hat die Bildung zusätzlich das verbale Diminutivsuffix -el-. Unser Korpus verzeichnet keine Neubildungen nach diesem Muster, auch konnten keine in einer Internetsuche gefunden werden. 4.4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse Tabelle 4 gibt die Statistik der Korpusbelege für regelmäßige Bildungen mit dem Präfix vernach den in 4.4.1 bis 4.4.3 angeführten Wortbildungsmustern. Daraus lässt sich schließen, dass beide deverbale Muster zu Neubildungen Martin Durrell / Alan Scott 324 fähig und daher produktiv sind. Von den denominalen ist das ornative Muster auch wohl noch produktiv. Es lässt sich aufgrund unseres Materials nicht eindeutig feststellen, ob das faktitive bzw resultative Muster bei der denominalen und deadjektivischen Derivation noch produktiv ist, aber angesichts der semantischen Ähnlichkeit mit den produktiven deverbalen Bildungen, die analogische Derivationsprozesse begünstigen dürfte, lässt sich diese Möglichkeit nicht ausschließen. Basis Funktion Typen Token Neubildungen Token/ Typ Hapax/ Typen Hapax/ Token Verb perfektiv/ resultativ 266 6384 5 24,0 0,21 0,009 Verb „modal“ 54 897 1 16,61 0,17 0,020 Nom. ornativ 27 176 0 6,52 0,33 0,051 Nom. faktitiv/ resultativ 46 604 0 13,13 0,26 0,020 Adj. faktitiv/ resultativ 73 808 0 11,07 0,22 0,020 tab. 4: wortbildungsmuster ver- 5. fazit Aus dieser Untersuchung der Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch wird klar, dass in fast allen Fällen nur noch ein Wortbildungsmuster deutlich produktiv ist, und zwar: - be-: deverbal - Transitivierung - be-: denominal - ornativ - ent-: deverbal - reversativ - ent-: denominal - privativ - er-: deverbal - perfektiv bzw. resultativ - ver-: deverbal - perfektiv bzw. resultativ - ver-: deverbal - modal: ‘falsch’ - ver-: denominal - ornativ Die Ergebnisse von weiteren diachron produktiven Derivationsprozessen sind heute noch klar erkennbar, wie z.B. die inchoativen Verben mit ent-, aber diese sind nicht mehr imstande, neue Bildungen hervorzubringen. So lässt sich in der Wortbildungsmorphologie eine gewisse Ökonomie erkennen, indem einzelne Präfixe bei Neubildungen synchron eindeutig sind. Die Ausnahme bildet ver-, das in zwei deverbalen Wortbildungsmustern vor- Zur Produktivität der untrennbaren Verbpräfixe im heutigen Deutsch 325 kommt, aber die Homonymie bei solchen Verben, wie z.B. verhören, wirkt kaum störend, denn sie wird pragmatisch immer durch den sprachlichen Kontext disambiguiert. Und obwohl nicht alle Neubildungen fremdsprachliche (vorwiegend englische) Basen haben, lässt sich aus vielen Beispielen erkennen, wie im heutigen Deutsch Entlehnungen in der Wortbildung voll ausgenutzt werden, indem sie in Derivationsprozessen genau wie ererbte Basismorpheme behandelt und auf diese Weise in die deutsche Sprache integriert werden. Aus unserer Untersuchung wird auch klar, dass nur Neubildungen als echte Beweisführung für die Produktivität eines Wortbildungsmusters gelten können. Wie unsere Tabellen zeigen, bietet weder das Typ/ Token-Verhältnis noch das Verhältnis von Hapax legomena zu Typen oder Tokens klare Indizien für die Produktivität eines Wortbildungsmusters. Entgegen der in Abschnitt 3.2 oben erwähnten Annahmen scheint es, dass diese statistischen Berechnungen eher dazu dienen, den Grad der Produktivität eines Wortbildungsmusters festzustellen, das schon als produktiv erkannt wurde, und Hapax legomena sind eigentlich nur von Bedeutung, wenn es sich dabei um Neubildungen handelt. Die Produktivität eines Wortbildungsmusters lässt sich letztendlich nur dadurch einwandfrei beweisen, dass muttersprachliche Sprecher solche Bildungen hervorbringen und diese von anderen verstanden werden - eventuell ohne zu merken, dass es sich dabei um eine Neubildung handelt. Dass alle nicht in Duden (2012) aufgenommenen Bildungen, die in unserem Korpus vorkommen, auch häufig im Internet oder im DeReKo-Korpus belegt sind, zeugt für deren weitere Akzeptanz in der Sprachgemeinschaft und bestätigt somit die Produktivität dieser Muster. 6. literatur Aronoff, Mark (1976): Word formation in Generative Grammar. Cambridge. Aronoff, Mark/ Lindsay, Mark (2014): Productivity, blocking and lexicalization. In: Lieber, Rochelle/ Štekauer, Pavel (Hg.): The Oxford handbook of derivational morphology. Oxford, S. 67-83. Baayen, Harald/ Lieber, Rochelle (1991): Productivity and English derivation. a corpusbased study. In: Linguistics 29, S. 801-844. Bauer, Laurie (2001): Morphological productivity. Cambridge. Donalies, Elke (2005): Die Wortbildung des Deutschen. (= Studien zur Deutschen Sprache 27). 2., überarb. Aufl. Tübingen. Duden (2000): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 10 Bände auf CD-ROM. Mannheim. Duden (2012): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. CD-ROM. Mannheim. DWB = Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (1854-1960): Deutsches Wörterbuch. Leipzig. Martin Durrell / Alan Scott 326 Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. Elsen, Hilke (2014): Grundzüge der Morphologie des Deutschen. 2., aktual. Aufl. Berlin/ Boston. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Haspelmath, Martin/ Sims, Andrea D. (2010): Understanding morphology. 2. Aufl. London. Lohde, Michael (2006): Wortbildung des modernen Deutschen. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen. Meibauer, Jörg/ Guttroff, Anja/ Scherer, Carmen (2004): Dynamic aspects of German -er-nominals. A probe into the interrelation of language change and language acquisition. In: Linguistics 42, S. 155-193. Plag, Ingo (2003): Word-formation in English. Cambridge. Scott, Alan K. (2006): Productive nominal derivation in New High German. Diss., Univ. Manchester. Manchester. Scott, Alan K. (2009): Denominales -er: Ein Suffix lebt (wieder) auf. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 37, S. 221-235. Scott, Alan K. (2010): Accounting for the semantic extension of derived action nouns. In: Journal of Linguistics 46, S.1-24. Wellmann, Hans (1995): Die Wortbildung. In: Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 5, völl. neu bearb. Aufl. Mannheim u.a., S. 447f. sanDro M. MoraLDo Der korrektIVsatz Im Deutschen nach obWohl oDer Vom konnektor zum DIskursmarker 1 1. Verbend vs Verbzweitstellung: konzessives obwohl vs. korrektives obwohl In den letzten Jahren ist der konzessive Konnektor verstärkt in den Fokus der Gesprochene-Sprache-Forschung (GSF) geraten. Diese hat an authentischen Hörbeispielen eine Grammatikalisierungstendenz von dessen konzessiver, einräumender Bedeutung zur korrektiven Diskursmarkierung nachgewiesen. Im Anschluss insbesondere an die Forschungsergebnisse von Günthner (1999, 2000a, 2002, 2005, 2008) hat dann Moraldo (2012a, 2012b) zum einen versucht nachzuweisen, dass auch in schriftbasierten neumedialen Kommunikationsplattformen (z.B. Twitter) diese Hauptsatzwortstellung nach obwohl mittlerweile vorkommt. Zum anderen, dass Korrektivsätze vereinzelt auch in standardschriftsprachlichen Texten auftreten. (vgl. Moraldo 2012c). Der folgende Beitrag will nun die Entwicklung der Subjunktion obwohl zum Diskursmarker nachvollziehen. Ausgehend von seiner konzessiven Bedeutung (Kap. 2) soll korrektives obwohl zuerst anhand gesprochensprachlicher Beispiele illustriert, dann in konzeptionell mündlichen aber medial schriftlichen Kontexten analysiert und schließlich in standardschriftsprachlichen Texten nachgewiesen werden (Kap. 3), bevor abschließend seine Mutation von subordinierendem Konnektor zum Diskursmarker (Kap. 4) diskutiert wird. 2. zur konzessivität von obwohl Obwohl wird in Standardwie Lerner-Grammatiken als konzessive, subordinierende Konjunktion geführt. Für Weinrich stellt sie ein Sonderfall der Begründung dar, weil sie im Nebensatz einen Grund angibt, „der nicht handlungsbestimmend geworden ist“ (1993, S. 761). Anders formuliert: „Ein erwarteter Kausalzusammenhang bleibt unwirksam“ (Helbig/ Buscha 2001, S. 609), wie etwa in Beispielsatz (1): 1 Im Frühjahr des Jahres 1999 hielt Prof. Gerhard Stickel an der Staatlichen Universität in Mailand einen Vortrag zum Thema Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Dessen Anregungen und Überlegungen gaben mir den entscheidenden Anstoß, mich mit Trends in der Sprachentwicklung auseinanderzusetzen. Sandro M. Moraldo 328 (1) Nach den erstaunlichen Erfolgen von Paul stieg die Krakennachfrage exorbitant an, obwohl diese Tiere sehr anspruchsvoll in der Pflege und oft weitaus intelligenter als ihre Halter sind. (Die Welt, 25.6.2012) Obwohl leistet also die Einbettung eines Teilsatzes in einen anderen, wobei im subordinierten Teilsatz das finite Verb am Ende steht. Getrennt werden sie durch ein Komma. Eine weitere typische Konstruktion konzessiver Konnektoren ist deren Spitzenstellung, wobei der mit obwohl eingeleitete Teilsatz dem Hauptsatz vorangestellt werden kann (2). (2) Obwohl die Zahl der Spamnachrichten auf Facebook zuletzt zurückgegangen ist, gibt es nach Angaben des Sicherheitsunternehmens Sophos keinen Grund zur Entwarnung. (faz.net, 5.6.2012) Im (2) wird berichtet, dass das Sicherheitsunternehmen Sophos keinen Grund sieht, den Alarmzustand für ungefragt zugesendete E-Mails auf Facebook für beendet zu erklären, auch wenn diese in letzter Zeit zurückgegangen seien. Die konzessive Satzverknüpfung geht hier von der semantisch-pragmatischen Voraussetzung aus, dass eine Inkompatibilität zwischen den beiden Propositionen besteht, nämlich der Form, dass das Zurückgehen der Spamsendung durchaus eine Entwarnung rechtfertigen würde. Diese Inkompatibilität wird allerdings als irrelevant markiert. Konzessivsätze können aber auch in einen Teilsatz eingeschoben werden und ihn spalten (3) oder selbst gespalten werden (4): (3) BeIN Sports und das ZDF streiten sich deshalb hinter den Kulissen über die viel kostspieligeren Rechte in der Fußball-Champions-League, weshalb nun im Handball ein Stellvertreterkrieg geführt wird. „Es gibt leider keine Fortschritte“, erklärt Balkausky. Der Ausweg, eigens einen TV-Satelliten zu installieren, sei zu teuer. RTL ist, obwohl interessiert, aus diesen Gründen gar nicht erst in die Verhandlungen eingestiegen, weshalb ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz korrekt bemerkt, dieses Problem betreffe alle „frei empfangbaren deutschen Fernsehsender“. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2016) (4) Gleichzeitig hieß es aus der südsudanesischen Hauptstadt Juba, dass der Sudan noch sieben Kriegsgefangene aus dem Südsudan festhalte. Die Soldaten wurden in Kämpfen um das Ölfeld Heglig gefangen genommen. Obwohl sich der Südsudan, der Heglig zeitweise besetzt hatte, mittlerweile aus der Region zurückgezogen hat, bleibt die Lage angespannt. (Süddeutsche Zeitung, 25.4.2012) Weiterhin sind „elliptische Verkürzungen, insbesondere in Parenthesen“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 2312) ein Merkmal konzessiver Diskursrelationen (5): (5) Die deutschen Banken könnten sich, obwohl auf dem Heimatmarkt gesund, nicht vollständig den Risiken der Euro-Krise entziehen. (Die Welt, 7.6.2012) Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker 329 Halten wir fest: Bei konzessiven Konnektoren besteht ein Kontrastverhältnis zwischen einem im Hauptsatz bezeichneten Ereignis oder einer Tatsache und einer im Nebensatz ausgedrückten nicht erwarteten Folge. Im Gegensatz dazu stehen nun die Korrektivsätze, die auch mit obwohl eingeleitet werden können und eine Verbzweitstellung fordern. Sie sollen im folgenden Kapitel fokussiert werden. 3. Der korrektivsatz nach obwohl im Deutschen Korrektivsätze sind in erster Linie ein gesprochensprachliches Phänomen. Susanne Günthner (1999, 2000a, 2002, 2008) konnte anhand empirischer Untersuchungen „Aufschluß über die unterschiedlichen Formen und Funktionen von obwohl-Konstruktionen in der Alltagssprache“ geben und „unterschiedliche Diskursfunktionen“ nachweisen (1999, S. 411). Sie hat festgestellt, dass in der Alltagssprache obwohl auch mit Verbzweitstellung verwendet wird und dann nicht mehr eine einräumende, sondern eine berichtigende Funktion übernimmt. Folgendes Beispiel aus dem alltäglichen Leben soll dies kurz illustrieren. 2 Es handelt ich dabei um einen Smalltalk zwischen Vater (VA) und Tochter (TO) in der Küche. Die Tochter ist gerade dabei, für eine Gemüsesuppe Zucchini in gleichmäßige Würfel zu schneiden, als der Vater hinzukommt und einen Dialog (6) beginnt: (6) Küchengespräch zwischen Vater und Tochter 1 VA: HALlo- 2 TO: HALlo- 3 VA: alles KLAR? 4 TO: ja (.) alles KLAR; 5 VA: willst n schluck WASser? 6 TO: nEin DANke; 7 VA: willst NIX trinken; 8 TO: ich hab kein DURST; 9 VA: du hast kein DURST; 10 aber pApa hat dafür nen mOrdsDURST, 11 MENSCH. 12 was MACHSTN da? 13 TO: ich schneid zucCHIni. 14 VA: schneidest zuc! CHI! ni. 15 TO: JA- 16 VA: lass es mal n PApa machen. 17 TO: waRUM? 18 VA: ne obWOHL =NE- 19 du kannst es <lachend>BESser. 20 du kannst es BESser.> 21 TO: <lachend>ja oKAY.> 2 Prof. Dr. Manuela Caterina Moroni danke ich für die Hilfestellung bei der Transkription. Sandro M. Moraldo 330 22 VA: JA. 23 (.) was gIbsn heut abend zum ESsen; 24 TO: ich glAub (.) mineSTROne. 25 VA: und wo is die MAMma? = 26 =isse WEG-= 27 =isse EINkaufen; 28 TO: jaist EINkaufn ge(fahren). 29 VA: wo=im SUpermarkt. 30 TO: JA. 31 VA: und wann kommt sie WIEder? 32 TO: ääh gEgen: : (.) SECHS. 33 VA: gegen SECHS. 34 naja das Is ja (.) IS ja bald. 35 oKAY; 36 ich rUf sie vielleicht mal aufm (.) aufm HANdy an. 37 JA? = 38 =oKAY? 39 TO: oKAY- 40 VA: oKAY- 41 geh mal wieder rÜber an die ARbeit; 42 TSCHÜSS- 43 TO: TSCHÜ: SS- Am Thema und an gesprochensprachlichen Phänomenen wie dem Wegfall des Subjektpronomens (u.a. 5, 7, 14, 41), der Ellision der Flexionsformen (8, 13, 24, 36, 41) und vereinfachten syntaktischen Strukturen, die aufgrund der unmittelbaren Folge responsiver Züge gleich mehrere Satzglieder weglassen, etc., lässt sich ablesen, dass es sich hier um eine alltägliche Kommunikationssituation handelt. Nach der einleitenden Kontaktaufnahme kommt der Vater im weiteren Verlauf des Gesprächs auf das Schneiden der Zucchini zu sprechen, das er seiner Tochter abnehmen möchte, aber dann durch ein antizipierendes, umgangssprachliches ne mit anschließendem korrektiven obwohl zu verstehen gibt, dass er dies doch nicht machen möchte, dass er dies doch nicht machen möchte. Anscheinend kann es die Tochter doch besser. Neben der systematischen Erfassung der Funktionsbestimmungen des korrektiven obwohl in gesprochen-sprachlichem Datenmaterial 3 kam es im Laufe der Zeit auch zu Erhebungen in Texten der ‘sekundären Mündlichkeit’, „die mündliche Sprache rekonstruieren“ (Günthner 1999, S. 441, FN 28). Dass sich 3 Über die verschiedenen Funktionen von obwohl-Verbzweit-Konstruktionen in der Alltagssprache, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann, vgl. die exemplarische Analyse von Günthner (1999, S. 414ff.). Dort (ebd., S. 427ff.) auch die Ausführungen zum restriktiven Gebrauch von obwohl, das sowohl mit Hauptwie Nebensatz-Stellung stehen kann und damit auf „ein Kontinuum der Verwendung von konzessivem Subjunktor über den einschränkenden Gebrauch von obwohl bis zum korrektiven Diskursmarker“ (ebd., S. 429) verweist. Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker 331 nun die aus sprechsprachlichen Daten gewonnenen Erkenntnisse zum korrektiven obwohl auch auf schriftsprachliche übertragen lassen, lässt sich sehr gut an Kurznachrichten der Kommunikationsplattform Twitter belegen (vgl. Moraldo 2012a). So bestehen die Beispiele (7) und (8) aus jeweils zwei unmittelbar aufeinander bezogenen Tweets. Im ersten wird eine Aussage gemacht, die in der darauffolgenden zweiten Kurznachricht mit dem Konnektor obwohl ganz (7) oder teilweise (8) widerrufen wird: (7) Das hätte die Kripo gerne: Büro im coolen Duisburger Innenhafen : )! #Schimi Obwohl…Korrektur: Polizei HAT Gebäude im coolen Duisburger Innenhafen http: / / bit.ly/ fNTOyM Nur an anderer Stelle #Schimi (8) A: soll ich euch mit 60 fragen vollspammen? : D ich hab ja keinen blog mehr aber ich hab so bock drauf : D B: obwohl, ich pick mir nur die besten fragen raus : D In Beispiel (7) unterstellt der Twitterer der Duisburger Polizei den aus seiner Sicht als höchst unwahrscheinlich zu erfüllenden Wunsch, im Hafengebiet ein Büro haben zu wollen. Die anschließende mit obwohl eingeleitete Aussage impliziert, dass die Behauptung wider besseren Wissens gemacht wurde. Die Äußerung wird in einem Artikel, der in der Kurznachricht verlinkt ist, hinterfragt und die eingangs gemachte Unterstellung vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse revidiert. Auch in Beispiel (8) initiiert obwohl „einen Perspektivenwechsel des Sprechers“ (Günthner 2002, S. 70): Die Anzahl der zu verschickenden Fragen wird nach unten korrigiert und so der Aussageinhalt des vorangehenden Hauptsatzes teilweise zurückgenommen. In beiden Fällen steht obwohl im Vor-Vorfeld und übernimmt die Funktion eines „Vorlaufelements zur Markierung einer kommenden Nichtübereinstimmung“. Damit ist die Funktion von obwohl aber noch nicht ausgeschöpft. Auch sprecherübergreifende Verwendungsweisen, wie man sie in mündlichen Dialogen vorfindet, lassen sich in solchen textbasierten Kurznachrichten nachweisen: (9) A: Nebel in Zürich… Welch Überraschung… B: @claudiocandinas Obwohl: die letzten Tage hatten wir auch Sonnenschein…aber ich fahr’ heute eh nach #Chur In (9) korrigiert B in seiner Textnachricht die fast schon resignativ klingende Feststellung von A über den nebligen Dauerzustand in Zürich mit dem Hinweis, dass es zuletzt in Zürich auch sonnige Tage gegeben habe. Weiterhin kann korrektives obwohl einen eigenständigen Frage- („ob der regen wohl das hirn der glatzen aufweicht? obwohl welches hirn? ^^“) oder Imperativsatz einführen („@kruustyy obwohl, nicht zu der Mailadresse, schick mir dein Problem an musikkind@live.de bin im Urlaub und kann nur Hotmail-Mails abrufen.“). Auch Sandro M. Moraldo 332 Hauptsatzphänomene wie z.B. Herausstellungen oder die Positionierung im Vorfeld u.a. von Adverbien („Hoffentlich wird uns nie das Internet abgestellt. Obwohl, vielleicht würde Mappus es bei S21 Gegnern wagen : P“) lassen sich nachweisen. Weiterhin ließ sich diese ‘sekundäre Mündlichkeit’ bei korrektiven Konnektoren mit Verbzweitstellung auch „in Texten beobachten, die mündliche Gattungen reproduzieren, wie Rekonstruktionen von Interviews, Werbetexten und privaten Briefen“ (Günthner, 1999, S. 424). Dazu gehören auch literarische Textpassagen, die Mündlichkeit emulieren, wie etwa im Roman Brandung von Martin Walser (10): 4 (10) Halm litt. Er hörte ihm gierig zu. Sah schon wieder nur zu ihm hin. Halm hatte sich in den letzten Wochen nach Rainer Mersjohann gesehnt. Vielleicht konnte die Freundschaft wieder aufleben. Zu Hause hatte er keinen Freund. Einen nach dem anderen hatte er … verloren. Immer derselbe Grund: seine Freunde hatten ihn immer spüren lassen, daß sie bereit waren, ihm das und das zu verzeihen. Er hätte ihr Freund sein dürfen, obwohl … Nein, danke. Lieber nichts als das. Wenn Einschränkungen nötig waren, hatte er lieber keine Freunde. (Martin Walser. Brandung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 30) Korrektive Konnektoren können allerdings auch als Einleitungsmarker für direkte Rede (11) fungieren: (11) In einem gestern veröffentlichten Interview der Zeitung Sonntag bezeichnete sich der EFD-Chef als fit. Er habe keinen Grund, an Rücktritt zu denken, sagte Merz, der am kommenden 10. November 66 Jahre alt wird. Alle seine Dossiers würden gut laufen. Er sei für die ganze Legislatur gewählt. Die dauere vier Jahre. „Dann ist fertig, und ich bin dann zumal fast 70. Obwohl - John McCain ist bereits heute älter als ich und bewirbt sich um das höchste Amt. Aber keine Angst: Eine dritte Legislatur mache ich nicht.“ (St. Galler Tagblatt, 22.9.2008) Wie aus den angeführten Beispielen (6)-(11) ersichtlich wird, besteht zwischen dem konzessiven Konnektor obwohl und dem korrektiven Diskursmarker obwohl nicht nur keine funktionale, sondern auch keine syntaktische Äquivalenz. Die Unterschiede gegenüber obwohl + Verbendstellung, also seiner konzessiven Lesart, liegen dabei im semantisch-pragmatischen, syntaktischen und prosodischen Bereich. Während nun das konzessive obwohl einen Sonderfall der Begründung darstellt, weil es im Nebensatz einen Grund angibt, „der nicht handlungsbestimmend geworden ist“ (Weinrich 1993, S. 761), signalisiert ein Sprecher mit dem korrektiven obwohl einen „Perspektivenwechsel“, der semantisch gesehen „die Gültigkeit der vorausgehenden Äußerung revidiert“ (Günthner 1999, S. 422). 5 Weiterhin ist im Vergleich zur konzessi- 4 Zu korrektivem obwohl in literarischen Texte vgl. Moraldo (i.Er.). 5 Die Verbzweitstellung und die damit verbundenen neuen propositionalen Zusammenhänge zwischen den Teilsätzen finden sich auch bei anderen ursprünglich subordinierenden Kon- Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker 333 ven Verwendungsweise von obwohl, bei der die Reihenfolge der beiden Teilsätze austauschbar ist und der obwohl-Satz sowohl vorausgehen als auch nachgestellt werden kann, beim korrektiven obwohl nur Post-Position möglich. Es braucht eine Bezugsaussage in der Prä-Position, zu der es einen vollständigen oder partiellen Widerruf etablieren kann. Aus diesem Grund wäre (12b) ungrammatisch, da hier kein informationsstruktureller Kontrast zum korrektiven obwohl vorausgeschickt wird: (12a) Ich hasse diese Schreiben über Renteninformation. Ich verstehe immer nur Bahnhof. Obwohl…nich mal das : / (12b)* Obwohl…nich mal das : / Ich hasse diese Schreiben über Renteninformation. Ich verstehe immer nur Bahnhof. Letztendlich soll noch gezeigt werden, dass sich Korrektivsätze auch in Texten nachweisen lassen, die nicht dem Bereich der ‘sekundären Mündlichkeit’ entstammen, sondern dem der Standard-Schriftsprache. Als Datenbasis wurde die am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim konzipierte Volltextdatenbank COSMAS II (Corpus Search, Management and Analysis System) verwendet. Es sollen exemplarisch nur einige Belegstellen näher untersucht werden. Zur Veranschaulichung mögen vorweg folgende Beispiel dienen: (13) Die Schauspielerin Nina Dobrev dagegen musste einen Assistenten bemühen, der die Schleppe zurechtzupfte. Vielleicht sollten Dobrev, Ricci und die anderen einmal in Erwägung ziehen, es so zu machen wie Elizabeth Banks − und den überschüssigen Stoff einfach vorne an der Taille und über den Schultern tragen. Obwohl, vielleicht doch besser nicht. Derlei Alternativen wollen wohlüberlegt sein. (Süddeutsche Zeitung, 8.5.2012) (14) FDP-Zentrale, Berlin. Ein Jubel, als hätte die FDP gerade die Champions League gewonnen. Obwohl, so voll, dass nur noch Durchdrängeln möglich wäre, ist es dann doch nicht. Vielleicht kommen ja jetzt noch ein paar FDP-Fans hier vorbei. Die Frage ist, wem sollen sie zujubeln? Das ist ein klarer Erfolg von Wolfgang Kubicki. Der hatte im Wahlkampf an Parteichef Philipp Rösler herumgenörgelt und gilt sogar als ein möglicher ‘Königsmörder’ gegen den Vizekanzler. (Süddeutsche Zeitung, 6.5.2012) Zum einen handelt es sich bei (13) und (14) nicht um Interviews, Werbetexte, private Leserbriefe, literarische Passagen vermündlichter Schriftlichkeit o.Ä., sondern um informierende Darstellungsformen wie Bericht und Nachricht. Zum anderen liegt allen angeführten Beispielen eindeutig eine korrektive Struktur mit Verbzweitstellung zugrunde. So liegt z.B. in (13) die Stellungjunktionen wie weil oder wobei. Es handelt sich hier, so Ziegler (2009, S. 49), „um eine übergreifende Entwicklung innerhalb des Systems der Subjunktionen“. Vgl. zu weil Gohl/ Günthner (1999); Günthner (2000a, 2002, 2005, 2008), zu wobei Günthner (2000b) und Moraldo (2015). Sandro M. Moraldo 334 nahme eines Mode-Journalisten vor, der Schauspielerinnen zu einem anderen Kleidungsstil rät. Der Ratschlag wird dann durch eine Selbstkorrektur in Frage gestellt. Angezeigt wird dies durch den folgenden, mit obwohl eingeleiteten Teilsatz. Auch in den weiteren drei Belegen liegt jeweils eine Selbstkorrektur vor. Dass sich in standardschriftlichen Modelltexten aber auch sprecherübergreifende Verwendungsweisen nachweisen lassen, wie man sie in mündlichen Dialogen vorfindet, zeigen folgende Belege: (15) Es war ein bißchen wie Nachsitzen. Am Samstag nachmittag wurde Kulturpolitik gebüffelt - ziemlich grundsätzlich und im Schnellkurs. Das hatten sich die Grünen, genauer: ihre Heinrich-Böll-Stiftung, selbst verordnet, sie hatten dazu in den Kölner MediaPark geladen. Jahrelang haben sie dieses Politikfeld verschlafen und kampflos der Konkurrenz überlassen. Und das, obwohl doch Künstler wie Joseph Beuys zu ihren Gründerpaten zählen und ihre Stiftung ganz bewußt nicht nach einem Politiker, sondern nach einem Schriftsteller benannt ist. Dennoch, so Ralf Fücks eingangs mit nüchterner Offenheit, sei Kulturpolitik bei der Stiftung wie bei den Grünen bislang kein Thema gewesen. Obwohl, so ganz stimmt das ja nicht. Eine Musterschülerin wie Antje Vollmer, dem Rest der Klasse zeitweise weit voraus, hat schon früh und richtungweisend für ein neues, kulturförderfreundliches Stiftungsrecht gestritten […]. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.9.2001) In (15) kommt es zu einer Dissonanz zwischen der Behauptung von Ralf Fücks, Kulturpolitik spiele bei den Grünen bislang keine Rolle, und dem vom Journalisten angeführten Gegenbeispiel einer kulturförderfreundlichen Grünen-Politikerin wie Antje Vollmer. Dadurch wird die Behauptung von Fücks korrigiert. Obwohl steht im Vor-Vorfeld und übernimmt die Funktion eines „Vorlaufelements zur Markierung einer kommenden Nichtübereinstimmung“ (Günthner 2002, S. 70). Neben der sprecherübergreifenden Funktion, können Korrektivsätze dann weiterhin auch Frage- oder Imperativsätze bzw. Aufforderungen einführen: (16) So früh in der Saison spürt Lance Armstrong noch keinen Streß, ist sogar ungewohnt zugänglich. „He doesn’t talk“, er redet nicht - die übliche Auskunft des sportlichen Leiters des U.S. Postal Teams, Johan Bruyneel, hat noch keine Gültigkeit. Der Belgier arrangiert sogar ein exklusives Interview für die vier deutschen Medienvertreter vor dem Aufbruch zur zweiten Etappe. Hotel Amistel, Salon las Brencas: Lance Armstrong kommt fertig angezogen in Rennkluft und gerät, wie Jan Ullrich zwei Tage zuvor, gleich ins Schwitzen. Die Scheinwerfer, nicht die Reporter sind für einen so routinierten Redner wie den eloquenten Amerikaner schweißtreibend. Obwohl: Wie ist die Ankündigung auf seiner Website zu werten, er sei bei der Tour nicht zu schlagen? Jan Ullrich ohne Chance? Lance Armstrong überlegt kurz, brummt ein nachdenkliches „Mmmmm“ und erklärt: „Ich denke, so etwas habe ich nicht gesagt.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.3.2001) Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker 335 (17) Die Familie aus Mailand ist abgereist. Für kurze Zeit habe ich das Haus und die Stille des späten Inselnachmittags für mich allein. Elba ist nichts für die Liebhaber des morbiden Glanzes, den man in Italien so oft findet. Sie ist eine bäurische Insel geblieben. Kein Hauch einer höheren Kultur scheint je darübergegangen. Obwohl, nehmen wir einmal die Hintergründe, die auf Elba und die in der Malerei. Diese blauen Farbstufen am Abend, immer blasser werdend bis hin an den äußersten Rand. Woher haben die Renaissancemaler das wohl? Sie müssen auf Elba gesessen und über die Höhenzüge zum Monte Capanne geschaut haben. (Berliner Zeitung, 2.5.1998) Auch Hauptsatzphänomene wie etwa die Positionierung im Vorfeld von Präpositionalphrase (18) oder Adverbien (19) lassen sich nachweisen: (18) Ganz hoch hinaus ging’s nicht auf der Hüpfburg im Allerpark. Aber in die Luft gingen die Kinder gern und das nicht nur einmal. Das war eine Gelegenheit beim Sommerfest, sich richtig auszutoben. Wer noch Kräfte hatte, machte sich auf den Weg zu den Klettterwänden - dort ging es ein bisschen höher hinaus. Zur Abkühlung wurde oft die Eis-Arena genutzt, denn dort herrschten niedrige Temperaturen. Obwohl: Beim Eislaufen - die Schlittschuhe gab’s kostenlos - gerieten die Mädchen und Jungen rasch wieder ins Schwitzen. (Braunschweiger Zeitung, 18.8.2008) (19) Hat eigentlich schon mal jemand Fleetwood Mac gecovert? Zu blöd, müssen sie also immer noch selbst auftreten, und zwar am 9. November in der Festhalle. Schwer zu sagen, warum so eine talentierte Frau wie Heike Makatsch ausgerechnet von Fleetwood Mac schwärmt. Wobei die Flatterröcke von Stevie Nicks ja mittlerweile auch schon wieder bei H&M hängen. Ob Fielmann demnächst ein Daniel-Küblböck-Modell herausbringt? Wäre mal interessant zu erfahren, was dieses unmusikalische Nana-Mouskouri-Double am 30. November in der Offenbacher Stadthalle unter dem Motto ‘positive Energie’ darbieten will. Rolfing? Obwohl − eigentlich wollen wir das lieber gar nicht so genau wissen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.2003) Auffallend ist in allen Beispielen das syntaktische Stellungsverhalten von obwohl - es steht jeweils in der Vor-Vorfeld-Position - und die daraus folgende Umstellung des Verbs von der Endin die Zweitposition. Mit der syntaktischen Umstellung mutiert auch die semantische und pragmatische Gebrauchsbedingung von obwohl: Wird bei konzessiver Lesart die Gültigkeit der vorangehenden Äußerung nicht tangiert, erfolgt bei korrektiv Lesart ein partieller oder vollständiger Widerruf der im Hauptsatz geäußerten Bedingung. Die obwohl-Teilsätze liegen nun auch nicht mehr „im Skopus der illokutionären Kraft des Hauptsatzes“, sondern es liegen „getrennte illokutionäre Kräfte“ vor (Günthner 2000a, S. 363). Halten wir fest: Bei der linearen Ordnung des korrektiven obwohl handelt es sich nicht um eine syntaktische Stellungsvariante seiner konzessiven Bedeutung. Auch das unterschiedliche Satzmuster (Verbendvs. Verbzweitstellung) Sandro M. Moraldo 336 signalisiert diese Differenz. Beide obwohl-Satztypen bedingen eine eigenständige funktional-pragmatische Verwendungsweise. Sie sind „weder funktional noch grammatisch äquivalent“ (Günthner 2002, S. 72). „Beim korrektiven obwohl“, so Günthner (ebd., S. 69f.), „ist die obwohl-Äußerung […] nicht länger der vorausgehenden Äußerung untergeordnet, sondern sie bekommt das Hauptaussagegewicht, und die Information in der obwohl-Äußerung wird die für die Fortsetzung des Gesprächs relevante“. Geleistet wird damit die Hinterfragung einer Äußerung und eine daran direkt anschließende Korrektur dieser Aussage. Die semantische Bedeutungsverschiebung von der Konzessivität zur Korrektur wirkt sich auch auf syntaktischer Ebene aus. Die korrektiv-lineare Ordnung sieht nun zum einen so aus, dass obwohl aus der linken Satzklammer in das Vor-Vorfeld rückt und zum anderen das finite Verb von der Endin die Zweitposition versetzt wird. Zugespitzt formuliert: Die Funktionen von obwohl determinieren auch unterschiedliche lineare Ordnungen. Allerdings ist im Unterschied zur konzessiven Position des obwohl-Satzes, der dem Hauptsatz sowohl vorausgehen wie folgen kann, bei obwohl mit Verbzweitstellung nur Finalposition möglich (Günthner 2000a, S. 363). Korrektive obwohl-Sätze brauchen einen vorangehenden Bezugssatz, zu dem sie einen vollständigen oder partiellen Widerruf etablieren. Sie übernehmen somit diskursorganisierende Funktionen, wie sie Diskursmarkern eigen ist. Liegt hier also eine Rekategorisierung von der Subjunktion zum Diskursmarker vor? 4. um - , bzw. rekategorisierung: Von der subjunktion zum Diskursmarker Ausgehend von empirischen Untersuchungen zur gesprochen-sprachlichen Kommunikation stellen für Auer/ Günthner Diskursmarker eine Gruppe optionaler sprachlicher Zeichen dar, die „hauptsächlich oder ausschließlich in der gesprochenen Sprache vorkommen und sich durch ihre grammtische Position im Satz sowie über ihre Bedeutung für die Text- und Gesprächsorganisation definieren lassen“ (2003, S. 1). Auch der Konnektor obwohl zählt zu jenen Diskursmarkern, die „topologisch durch ihre ‘periphere’ syntaktische Stellung“ gekennzeichnet sind“ (ebd.) und die man „häufig syntaktisch und pragmatisch von der normgerechten Vorgabe abweichend verwendet“ (Imo 2012, S. 52). Die schon 1999 von Susanne Günthner zu Recht gestellte Frage Entwickelt sich der Konzessivkonnektor obwohl zum Diskursmarker? hat sie im Anschluss an ihre Ausführungen zu den diversen Formen und Funktionen von obwohl-Konstruktionen mit Verbzweit-Stellung dahingehend bejaht, dass die korrektives obwohl bestimmenden Kriterien jenen Merkmalen entsprechen, „die im Zusammenhang mit Diskursmarkern immer wieder genannt werden“ (Günthner 1999, S. 430). Wenn es um die Charakteristika des korrektiven obwohl geht, dann kommt es im Zusammenhang mit den Eigen- Der Korrektivsatz im Deutschen nach obwohl oder Vom Konnektor zum Diskursmarker 337 tümlichkeiten von Diskursmarkern im allgemeinen nach Günthner (ebd.) zu folgenden Gemeinsamkeiten: - zum einen handelt es sich beim korrektiven obwohl „um ein typisches Element der gesprochenen Sprache“, - zum anderen tritt es „äußerungsinitial“ auf, um „neue Äußerungen bzw. Redezüge“ einzuleiten, - ist weiterhin „optional“, „als die betreffende Äußerung beim Weglassen von obwohl nicht ungrammatisch wäre“, - ist außerdem „nur lose mit der syntaktischen Struktur der betreffenden Äußerung verbunden“, - wird schließlich „neben seiner Funktion als Diskursmarker noch in seiner traditionellen Funktion“ gebraucht, nämlich als subordinierende Konjunktion - nimmt nicht zuletzt „eine primär pragmatische bzw. metapragmatische Funktion“ ein, „indem es die sequentielle Beziehung zwischen der folgenden und der vorausgehenden Äußerung bzw. Handlung markiert“. In Bezug auf die Prosodiestruktur sei Folgendes angemerkt: Korrektives obwohl zeichnet sich gegenüber konzessivem obwohl meist auch durch eine eigenständige Intonationskontur aus. Das verbindet sie letztendlich auch mit Diskursmarkern, die „prosodisch selbstständig sein, also eigene Intonationsphrasen bilden (können)“ (Auer/ Günthner 2003, S. 1). Dadurch wird die mit Verb-Zweitstellung „verbundene größere Unabhängigkeit vom vorausgehenden Syntagma“ auch „prosodisch kontextualisiert“ (Günthner 2005, S. 50). Die dabei in der gesprochenen Sprache realisierte kurze Pause wird in der geschriebenen Sprache dann unterschiedlich umgesetzt. Eine Untersuchung geschriebensprachlicher Daten (Moraldo 2012a) hat ergeben, dass die Markierung eines möglichen Widerrufs der vorherigen Aussage meist durch ein Satz- oder Hilfszeichen erfolgt. Gleicht man nun die Beispiele (6)-(19), in denen sowohl gesprochenwie geschrieben- und standardschriftsprachliche korrektive obwohl-Konstruktionen vorkommen, mit den von Auer/ Günthner (2003) aufgestellten und von Imo (2012) präzisierten Merkmalen zur Bestimmung von Diskursmarkern einmal ab, dann fällt auf, dass es - mit Auer/ Günthner (2003) gesprochen - zu einer grammatischen Re- oder Umkategorisierung in dem Sinne kommt, dass sich ein sprachliches Zeichen (in unserem Fall obwohl) aus einer „zentraleren grammatischen Kategorie“ (hier Subjunktion) „in Richtung auf eine weniger zentrale grammatische Kategorie“ (Randkategorie Diskursmarker) entwickelt. Obwohl hat in den angeführten Fällen eindeutig einen verblassten semantischen Gehalt, denn es verlagert sein funktionales Zentrum aus Sandro M. Moraldo 338 dem semantisch-konzessiven in den diskursorganisatorischen Kontext. Die umbzw. rekategorisierte obwohl-Konstruktion erfüllt dabei dann gleich mehrere metapragmatische Funktionen, die rückbezüglich (retraktiv) und vorausweisend (projektiv) den jeweiligen Diskurs gestalten. Durch eine teilweise oder gar vollständige Korrektur vorausgehender Äußerungen oder Handlungen im obligatorisch postpositionierten obwohl-Syntagma leiten sie einen Perspektivenwechsel ein: „Der Informationswert in der obwohl-Äußerung ist nicht länger dem im vorausgehenden Satz gelieferten Informationswert untergeordnet, sondern die obwohl-Äußerung übernimmt nun die Rolle des ‘Nukleus’, indem sie die zentrale Aussage liefert“. (Günthner 1999, S. 415). Das korrektive obwohl ist dabei syntaktisch nicht in der Nachfolgeäußerung integriert. Seine besondere topologische Stellung wird in der gesprochenen Sprache dann meist noch durch eine kurze Pause markiert, in den geschriebensprachlichen Daten dagegen oft durch ein Satz- oder Hilfszeichen illustriert. Die Forschungsergebnisse einer differenzierten Betrachtung von korrektiven und deren Vergleich mit konzessiven obwohl-Konstruktionen hat gezeigt, dass obwohl neben seiner einräumenden und subordinierenden Funktion auch eine modifizierende, zurücknehmende und nebenordnende Rolle übernehmend kann, deren Charakteristika es zu einem Diskursmarker regelrecht prädestinieren. Mit dieser erweiterten Funktion wechselt obwohl nicht nur die Wortart (vgl. Imo 2012), nämlich von der Subjunktion zum Diskursmarker, sondern legt zugleich auch einen Trend in der Sprachentwicklung offen, der für eine dynamische Sprache wie das Deutsche und einen modernen Sprachgebrauch typisch ist. 5. literatur Auer, Peter/ Günthner, Susanne (2003): Die Entstehung von Diskursmarkern im Deutschen - ein Fall von Grammatikalisierung? Freiburg/ Münster. Gohl, Christine/ Günthner, Susanne (1999): Grammatikalisierung von ‘weil’ als Diskursmarker in der gesprochenen Sprache. 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In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation: wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2004). Berlin/ New York, S. 41-62. Günthner, Susanne (2008): ‘weil - es ist zu spät’. Geht die Nebensatzstellung im Deutschen verloren? In: Denkler, Markus et al. (Hg.): Frischwärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. Münster, S. 103-128. Helbig, Gerhard/ Buscha, Jürgen (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin u.a. Imo, Wolfgang (2012): Wortart Diskursmarker? In: Rothstein, Björn (Hg.): Nicht-flektierende Wortarten. Berlin, S. 48-88. Moraldo, Sandro M. (2012a): ‘Obwohl…Korrektur: Polizei HAT Gebäude im coolen Duisburger Innenhafen’. Die Kommunikationsplattform Twitter an der Schnittstelle zwischen Sprechsprachlichkeit und medial bedingter Schriftlichkeit. In: Günthner, Susanne et al. (Hg.): Kommunikation und Öffentlichkeit. Sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm. Berlin/ Boston, S. 183-208. Moraldo, Sandro M. (2012b): Gesprochene Sprache: Eine Herausforderung für den DaF-Unterricht. In: Birk, Andrea/ Buffagni, Claudia (Hg.): Linguistik und Sprachunterricht im italienischen Hochschulkontext. Münster u.a., S. 187-203. Moraldo, Sandro M. (2012c): Korrektivsätze (obwohl, obgleich, obschon, obzwar) - Zur Grammatik korrektiver Konnektoren und ihrer Bedeutung für den interkulturellen Fremdsprachenunterricht. In: Reeg, Ulrike/ Gallo, Pasquale/ Moraldo, Sandro M. (Hg.): Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht. Zur Theorie und Praxis eines Lerngegenstandes. Münster, S. 99-120. Moraldo, Sandro M. (2015): Sprachvariation als Sprachwandel im DaF-Unterricht oder Der Korrektivbzw. Restriktivsatz nach ‘wobei’ im geschriebenen Standarddeutsch. In: Runschke, Kerstin/ Peschel, Corinna (Hg.): Sprachvariation und Sprachreflexion in interkulturellen Kontexten. Frankfurt a.M., S. 97-104. Moraldo, Sandro M. (i.Ersch.): Obwohl - es war ja alles einleuchtend. Zum Diskursmarker obwohl in literarischen Texten. In: Moraldo, Sandro M./ Missaglia, Federica (Hg.): Sprachwandel - Perspektiven für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Heidelberg. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u.a. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 3). Berlin/ New York. Ziegler, Evelyn (2009): ‘Ich sag das jetzt so, weil das steht auch so im Duden! ’. Sprachwandel als Sprachvariation: weil-Sätze. In: Praxis Deutsch 215, S. 45-51. bruno strEckEr nIcht alle Deutschen sInD rassIsten Diskurskritische anmerkungen zum gebrauch bestimmter negierter allquantoren Sie finden den Titel dieses Beitrags empörend? Sie meinen, mit ihm werde Ungeheuerliches behauptet? Dann haben Sie ihn vermutlich dahin gehend verstanden, als werde damit behauptet, dass zwar nicht alle, aber sehr wohl die meisten Deutschen Rassisten seien. Doch wie kommen Sie zu dieser Deutung? Tatsächlich wird damit nichts dergleichen behauptet. Sie sind lediglich - auf eigene Verantwortung! - den einen Schritt weiter gegangen, den ein allgemeines Prinzip kommunikativen Handelns nahe legt, nämlich, dass Behauptungen nicht von Ungefähr aufgestellt werden. Wieso sollte jemand, der sich überhaupt dazu äußert, ob alle Deutschen Rassisten seien, eine Einschränkung von „alle“ auf „nicht alle“ vornehmen, wo er doch mit „sehr viele“, „nur manche“ oder „nicht viele“ weit deutlicher Stellung beziehen könnte? Die Empörung, die der Titel dieses Beitrags provoziert, kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit bestimmten Aussagen dieses Typs vorbereiten. Sicher lassen sich auch zahllose Aussagen mit negierter Allquantifikation bilden, die keine größere emotionale Reaktion hervorrufen, so etwa (1) Nicht alle Knollenblätterpilze sind giftig. (2) Nicht alle Primzahlen sind ungerade. (3) Nicht alle Dieselfahrzeuge halten die gesetzlichen Grenzwerte ein. Doch ganz anders wirken solche Aussagen: (4) Nicht alle Männer sind Schweine. (5) Nicht alle Blondinen sind dämlich. (6) Nicht alle Lehrer sind Sadisten. (7) Nicht alle Priester sind Kinderschänder. Diese und vergleichbare Aussagen werden möglicherweise sogar stärkere Reaktionen auslösen als die entsprechenden nicht negierten Aussagen, denn diese könnte man leichter einfach als dumme Sprüche abtun. Nun wird sich die Aufregung über Aussagen dieser Art im Rahmen eines Beitrags zu einer Festschrift ziemlich in Grenzen halten, doch man stelle sich vor, der Sprecher der Bundesregierung äußerte dergleichen im Rahmen einer Pres- Bruno Strecker 342 seerklärung. Allein schon die Vorstellung ist aberwitzig. Doch als Vergleichbares in Reaktionen auf die Terrorakte in Paris und Brüssel sowie auf die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof zum letzten Jahreswechsel im Hinblick auf bestimmte andere Gruppen von Menschen mehrfach öffentlich geäußert wurde, blieb die Ungeheuerlichkeit der Aussagen weitgehend unerkannt: (8) Die größten Kopfschmerzen bereitet mir Stigmatisierung, Verallgemeinerung - so ein bisschen, wie es in Ihrer Frage anklingt. Nicht alle Flüchtlinge sind Kriminelle, und nicht jeder besorgte Bürger ist gleich ein Rechtsradikaler. Es macht mir große Sorgen, dass diese Differenzierung in der öffentlichen Diskussion kaum noch stattfindet. (NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) in einem Interview mit Live1 [www1.wdr.de/ radio/ 1live/ magazin/ topics/ interviewjaeger-104.html]) (9) Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte: „Dass eine so große Zahl von Personen, offensichtlich mit Migrationshintergrund, diese Übergriffe verübt haben sollen, stellt eine neue Dimension dar.“ Flüchtlinge gleich welcher Herkunft dürften jedoch nicht unter Generalverdacht gestellt werden. (taz, 6.1.2016. S. 1) (10) Nicht alle Flüchtlinge sind potenzielle Terroristen! (www.tlz.de/ web/ zgt/ politik/ detail/ -/ specific/ Nicht-alle-Fluechtlinge-sind-potenzielle-Terroristen- 324181614) (11) Der Papst resümierte: „Ich halte es nicht für richtig, den Islam mit Gewalt gleichzusetzen.“ Nicht alle Muslime seien gewalttätig, und nicht alle Katholiken. (www.spiegel.de/ panorama/ papst-franziskus-islam-und-gewalt-nichtgleichsetzen-a-1105568.html) (12) Seit Monaten versuchen wir „Gutmenschen“ den Leuten hier klar zu machen, nicht alle Moslems sind Extremisten, nicht alle Flüchtlinge sind Attentäter, nicht alle Flüchtlinge sind kriminell. Wir geben uns die größte Mühe den Dumpfbacken zu erklären, dass man nicht alle über einen Kamm scheren kann. (rayer, 22.2.2016 auf www.stern.de/ noch-fragen/ was-machen-wir-mitsachsen-nun-ernsthaft-3000038039.html) Dass die Empörung in Anbetracht solcher Äußerungen ausblieb, mag wohl damit zu tun haben, dass man darin vor allem den Versuch sah, auf eine aufgeregte Stimmung besänftigend einzuwirken. Doch, ohne den Protagonisten solcher Äußerungen andere als gute Ansichten zu unterstellen, ist festzustellen, dass die Mittel, die sie gewählt haben, eher kontraproduktiv waren. Verneinung ist ihrer Natur nach Reaktion. Sieht man von initialer Negation als literarischem Stilmittel ab, wird man feststellen, dass negativ formulierten Aussagen im Diskurs in der Regel eine positiv formulierte Aussage oder eine Entscheidungsfrage vorangeht. Wurde dies nicht ausdrücklich festgestellt, kann man davon ausgehen, dass der negierende Sprecher oder Schreiber unterstellt, seine Adressaten seien der Ansicht oder neigten zumindest dazu anzunehmen, Entsprechendes sei der Fall. Nicht alle Deutschen sind Rassisten 343 Stellt man etwa fest, nicht alle Deutschen seien Rassisten oder nicht alle Flüchtlinge seien kriminell, dann greift man die Ansicht an, eben dies sei der Fall. Und dies wäre bei entsprechenden Aussagen grundsätzlich angemessen, wenn tatsächlich davon auszugehen wäre, jemand hätte ernstlich behauptet, alle Deutschen seien Rassisten, bzw. alle Flüchtlinge Terroristen. Auf Nachfragen dürften und könnten jedoch selbst eingefleischte Deutschen- und Fremdenhasser von sich weisen, dass sie je dergleichen behauptet hätten. Und das heißt nicht weniger, als dass sie sich sogar den Aussagen anschließen könnten, die vermeintlich gegen sie gerichtet waren. Aussagen wie „Nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen“ gehen als Kritik pauschaler Ablehnung von Flüchtlingen ins Leere, weil sie dieser rigide Verifikationsbedingungen unterstellen und weil sie ihrerseits zu einfach gestrickt sind. Pauschale Einschätzungen beruhen nicht auf umfassender Überprüfung ihres Gegenstands sondern bestenfalls auf reichlich unvollständiger Induktion, und sie entziehen ihre darauf gründenden Einschätzungen jeder Kritik mit dem Hinweis, Ausnahmen bestätigten die Regel. Ein Flüchtling, der nachweislich kein Terrorist ist, genügte, um die entsprechende All-Aussage zu erschüttern, doch diese steht überhaupt nicht zur Diskussion. Zugleich aber fordert die negierte All-Aussage nicht mehr, als dass mindestens ein Flüchtling kein Terrorist sein darf, was breiten Raum lässt für die Vermutung, bei Weitem die meisten Flüchtlinge seien Terroristen. Eine Aussage wie „Nicht alle Flüchtlinge sind Terroristen“ bleibt als Kritik, aber auch als sachliche Feststellung gemeint nahezu nichts sagend, doch damit nicht genug: Sie kann das Feuer schüren, das sie zu löschen sucht, indem sie ohne Not Behauptungen unwidersprochen lässt, nach denen Flüchtlinge häufig oder typischer Weise Terroristen seien. Was uns zurück bringt zu der Frage, was Aussagen dieses Typs so empörend machen kann: Sie nehmen als infam empfundene Unterstellungen nur sehr unzureichend zurück. Wo es um Einschätzungen von Menschen und deren Taten geht, sind negierte All-Aussagen nicht zuletzt auch deshalb unbefriedigend, weil sie keinesfalls alternativlos sind. Man könnte sehr wohl auch andere Quantifikationen vornehmen, die vielleicht nicht dieselbe logische Präzision haben, auch schwerer zu verifizieren wären, dafür jedoch besser skalieren. Mit Aussagen wie diesen, bezöge man deutlicher Position: (13) Viele Deutsche sind Rassisten. (14) Manche Deutsche sind Rassisten. (15) Einige Deutsche sind Rassisten. (16) Verwindend wenige Deutsche sind Rassisten. Bruno Strecker 344 Doch Aussagen mit negierter Allquantifikation sind da weit bequemer, da sie einerseits leicht zu verifizieren, anderseits schwer zu falsifizieren sind. Böse Stimmen könnten sagen: Geradezu ideal geeignet für den politischen Diskurs, denn sie legen einen nur wenig fest. Wer behauptet hat, nicht alle Flüchtlinge seien Terroristen, wird leicht einen finden, der gewiss kein Terrorist ist. Und unterstellt man ihm, er habe behauptet, nahezu alle oder doch viele Flüchtlinge seien Terroristen, kann er sich darauf zurückziehen, er habe sich mit seiner Aussage nicht einmal darauf festgelegt, dass ein einziger Flüchtling Terrorist sei. Die Aussage, dass nicht alle Flüchtlinge Terroristen sind, wird nicht dadurch falsch, dass kein Flüchtling Terrorist ist. Problematisch würde die Aussage erst dann, wenn es überhaupt keine Flüchtlinge gäbe, doch das ist eine ganz andere Diskussion. gisELa ZiFonun was Ist „sprachlIcher Ballast“ unD wIe gehen wIr DamIt um? 1. Der anlass: ein zeitungsartikel Ballast ist ‘bloße Last’, 1 also Last ohne Nutzwert, die allein um ihres Gewichtes willen z.B. in der Schiff- oder Ballonfahrt eingesetzt wird. Ballast wird abgeworfen, wenn dieses zusätzliche Gewicht unerwünscht ist, z.B. wenn ein Heißluftballon aufsteigen soll. Bei einem sinkenden Schiff kann der Ruf „Ballast über Bord“ lebensrettend wirken. Ballaststoffe in der Nahrung sind weitgehend unverdaulich, jedoch verdauungsfördernd, insofern sie z.B. die Verweildauer der Nahrung im Magen verkürzen oder die Peristaltik des Darms anregen. In der modernen Ratgeberliteratur geht es häufig auch um das Abwerfen von „innerem Ballast“, wenn die Gedanken, Gewohnheiten und Gefühle parallel zum Frühjahrsputz im Haus „entrümpelt“ werden sollen. Die Idee des „reinen“ Lebens flackert ja immer wieder auf mit allerlei „Ents“ oder einem „Los“: Entschlacken, Entrümpeln, Loslassen. Wie nun ist es mit sprachlichem Ballast? Nicht gemeint sind hier, das sei vorausgeschickt, die individuellen Schnörkel in der Rede - solche sind übrigens beim Jubilar in vorbildlicher Weise entsorgt - sondern die Last ohne Nutzwert, also das „Überflüssige“ im Sprachsystem. Gibt es das? Und wer befindet darüber? Jedenfalls scheint selbst unter Sprachwissenschaftlern die Vorstellung, Sprachen könnten Ballast enthalten und ihn bei Bedarf entsorgen, vertreten zu sein. Denn in der „Zeit“ vom 7. April 2016, S. 50 findet sich ein längerer Artikel des Südslavisten Uwe Hinrichs unter dem Titel: „Die deutsche Sprache wirft Ballast ab“. Hinrichs geht von der sicher zutreffenden These aus, dass das Hochdeutsche „aus seinem Reichtum eine flexible Sprechnorm“ entwickle, die den kommunikativen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst ist. Und diese Entwicklung fasst er, bevor er ins Detail geht, so zusammen: „Das gesprochene Deutsch baut ordentlich Ballast ab, der Satzbau wird einfacher und effizienter, in allen Medien wirkt eine starke Doktrin von Schnelligkeit und mündlicher Effizienz. Noch nie war das gesprochene Deutsch von der Schulgrammatik so weit entfernt wie heute, und die Schere geht immer weiter auseinander.“ Hier wird, was in einem 1 So wird Ballast im Wiktionary (mit Verweis auf Wahrig) erklärt, und zwar als „entlehnt aus niederländisch ballast → nl / barlast → nl „bloße Last“, also Last ohne Nutzwert, zu niederländisch baar → nl „bloß, nackt“. Gisela Zifonun 346 journalistischen Text zulässig und sogar sinnvoll sein mag, aus Sicht des Linguisten doch stark vereinfacht, Disparates wird miteinander verknüpft, Unbewiesenes wird behauptet: Die „Einfachheit“ des Satzbaus in gesprochener Sprache gegenüber dem ggf. komplexeren Satzbau geschriebener Texte ist keineswegs primär ein Effekt der „Entfernung von der Schulgrammatik“, sondern ist dem Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geschuldet, also in erster Linie der Situationsentbundenheit des schriftlichen Formulierens, die beispielsweise komplizierte hypotaktische Strukturen (wie diese hier) ermöglicht, gegenüber der situationsgebundenen mündlichen Äußerung, die die Grenzen unseres Kurzgedächtnisses respektieren muss. Zutreffend ist sicher, dass heute auch im öffentlichen und veröffentlichten Sprechen, das sogar schriftlich vorformuliert sein mag, alltagsnäher formuliert wird und stärker als früher Formen der konzeptionellen Mündlichkeit übernommen werden mögen. Eichinger (2005, S. 364) erklärt den erkennbaren Normwandel durch den alle regionalen Unterschiede überlagernden Einfluss der Massenmedien Rundfunk und Fernsehen, aber auch durch einen erheblichen sozialen Wandel, der mit einer Umschichtung sozistilistischer Wertungen unter anderem in Bezug auf sprachliche Stilformen verbunden ist: Heutzutage ist aber die Standardsprache in ihren Ausprägungen der Bestandteil eines differenzierten alltagssprachlichen Modells. In ihr ist die Standardsprache nicht mehr nur die Sprache höchster Offizialität und Öffentlichkeit, sondern deckt eine deutlich größere Breite an Verwendungen ab. Die Gewöhnung an die gesprochene Hochsprache, die nicht zuletzt durch die sprechenden elektronischen Medien Radio und Fernsehen vorangetrieben worden ist, hat der Hochsprache in ihrer gesprochenen Form das Maß an struktureller Mündlichkeit zurückgegeben, die sie als Alltagssprache brauchbar macht, ohne dass dadurch der Bereich des Standards verlassen würde. (ebd.) Die Distanz zwischen Text- und Redegattungen mag sich verringert haben. Aber dabei wird nicht per se von der „Schulgrammatik“ abgewichen. Außerdem: Woher weiß der Autor, dass die Schere zwischen dem normativ Gesetzen und dem mündlich Geäußerten noch nie so weit auseinanderging? Der mündliche Sprachgebrauch ist uns über die deutsche Sprachgeschichte hinweg weitgehend unbekannt. Erst in jüngster Zeit sind uns verlässliche Aufzeichnungen und Aufnahmen natürlichen Sprechens überliefert. Ich vermute, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Allein schon die ausgeprägtere Dialektgebundenheit früherer Zeiten hat in der Regel zu einer beachtlichen Distanz gegenüber der schriftlichen Hochsprache geführt. Welche Phänomene führt Hinrichs in seiner „Tour d’horizon“ an? Als Kern des Sprachwandels nennt er Veränderungen im Kasussystem: „Alle vier Fälle geraten mächtig in Bewegung, sie werden oft verwechselt, verschliffen oder auch ganz weggelassen.“ Und wie zu erwarten heißt es: „Der alte Geni- Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 347 tiv stirbt zuerst und wird oft durch kleine Wörter ersetzt, die Präpositionen: das Auto von Philipp, die Zukunft für Deutschlands Banken, die Justiz in Deutschland.“ Der deutsche Genitiv, das ist bekannt, „stirbt“ allerdings schon lange. „In den heutigen Mundarten ist der Genitiv bis auf erstarrte Reste untergegangen“, heißt es bei Behaghel (1923, S. 479), der dieses „äußere Schicksal des Genitivs“ bereits durch die Abschwächung der vollen Endvokale im Ausgang der ahd. Zeit eingeleitet sieht. So nennt er denn auch schon das Vorkommen endungsloser Genitivformen etwa für das 16. Jh. wie in eines alten man oder des römischen kaiser. Auch der Ersatz des adnominalen Genitivs durch ein „kleines Wort“, in erster Linie die Präposition von, habe schon im Mittelhochdeutschen begonnen (ebd., S. 536). Und zwar mit gutem Grund: „Geht dem abhängigen Substantiv kein Pronomen mit deutlicher Kasusendung und auch kein Adjektiv voraus, so tritt mit Rücksicht auf die Deutlichkeit die Umschreibung [d.h. die Präposition von, G.Z.] ein.“ Blatz (1896, S. 366) spricht hier vom „kahl gebrauchten Nomen, dessen Genitiv gar nicht oder nicht leicht als solcher zu erkennen ist.“ Die Ungrammatikalität begleiterloser Appellativa im Genitiv - und damit der Zwang zur Periphrase - ist ein Thema, das in der neueren Grammatikographie unter dem Stichwort „Genitivregel“ intensiv bearbeitet wurde. Unter den von Hinrichs genannten Beispielen ist die Zukunft für Deutschlands Banken übrigens ein solcher Fall: Deutschlands Banken enthält zwar mit Deutschlands einen untergeordneten Genitiv - und ist als solches schon ein Gegenbeispiel zur These vom allgemeinen Genitivsterben - aber die Gesamt-NP enthält kein flektiertes Pronomen oder Adjektiv und kann damit nicht „kahl“ oder „nackt“ an das regierende Substantiv Zukunft angeschlossen werden. Dass hier nicht von sondern für als Verbindungsstück gewählt wird, ist wahrscheinlich dem weiteren Kontext geschuldet und spricht eher für sprachliche Flexibilität. Ähnlich auch bei Justiz in Deutschland: Was ist falsch daran, wenn die Justiz in Deutschland lokalisiert wird, anstatt sie einfach durch den Genitiv als Deutschland zugehörig zu qualifizieren? Nur bei das Auto von Philipp wäre der pränominale (oder markierter auch der postnominale) Genitiv ein grammatisch korrektes und semantisch gleichwertiges Äquivalent. In diesem wie in anderen Fällen kann nur eine sorgfältige Analyse des tatsächlichen Sprachgebrauchs durch korpusgrammatische Untersuchungen klären, ob und ggf. wo tatsächlich eine Veränderung im quantitativen Verhältnis der alternativen Ausdrucksformen eingetreten ist. Als Beispiele für das Abschleifen anderer Kasusendungen nennt der Autor u.A.: den Präsident (statt den Präsidenten), der Strom geht zu den Verbraucher (statt zu den Verbrauchern), er hat darauf kein Anspruch (statt keinen Anspruch). Was das letzte Beispiel angeht: Hier kann, wenn es sich tatsächlich um die Verschriftlichung eines Hörbeispiels handelt, die im Mündlichen übliche und absolut Gisela Zifonun 348 normale Realisierung der Flexionsendung als silbischer Nasal (statt einer schwahaltigen Endung) ungehört geblieben oder schriftlich nicht erfasst worden sein. Die beiden anderen Beispiele betreffen mit der Kasusmarkierung der schwachen Maskulina und dem Flexiv des Dativ-Plurals der Substantive zwei weitere neben dem Genitiv bedeutende Baustellen des Kasussystems im Deutschen, auf die wir zurückkommen werden. Er nennt weitere Beispiele außerhalb des notorischen Kasussystems, etwa artikellose Formen nach Präposition wie in Westen oder in ZDF, das Aussterben des Konjunktivs Präteritum oder des Futur II und erklärt „Migration, Sprachkontakte, Mehrsprachigkeit“ zum Motor dieses Sprachwandels. Damit macht er die wachsende Interaktion des Deutschen mit den Sprachen der hier lebenden Migranten, also z.B. mit Türkisch, Arabisch, Russisch, für die beschleunigte Veränderung verantwortlich. Der Autor schätzt diese Entwicklung positiv ein. Die neue ballastärmere Umgangssprache sei die Sprachform, in der Migranten und Nicht-Migranten „den Alltag flexibel managen“ könnten. Dabei setze die deutsche Sprache nur Tendenzen fort, die schon seit Jahrhunderten in ihr angelegt seien, was zutrifft. Mit Vorsicht zu genießen ist allerdings wieder die folgende Diagnose: „Sie [die deutsche Sprache, G.Z.] wird allmählich wie das Englische, ‘analytischer’, das heißt, es gibt weniger Grammatik, mehr Präpositionen und einen entspannteren Satzbau. Vieles wird schon durch die reine Wortfolge geregelt.“ Das könnte man im Einzelnen auseinandernehmen. Ich erwähne nur einen Punkt: Es ist ja nun so, dass das Deutsche schon im Vergleich zum Englischen einen „entspannten“ Satzbau hat, wenn man darunter die Möglichkeit versteht, aus informationsstrukturellen Gründen z.B. den Satz mit einem beliebigen Satzglied zu beginnen und nicht unbedingt Subjekt - Prädikat - Objekt aufeinander folgen zu lassen, eben weil wir noch immer in der Regel die syntaktische Funktion an den Kasusformen der nominalen Gruppen insgesamt erkennen können. Sollen wir das wirklich als Ballast abwerfen und uns die Wortfolge regeln, d.h. mehr oder weniger alternativlos aufzwingen lassen? Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt dieses Exkurses, der uns in das Thema einstimmen sollte, angekommen. Wie steht es mit sprachlichem Ballast allgemein und mit dem Ballast, den angeblich das Deutsche im Begriff ist abzuwerfen. Ich kann im Folgenden nicht alle als Ballast charakterisierten sprachlichen Erscheinungen unter die Lupe nehmen. Vielmehr möchte ich folgende Teilthemen aufgreifen: - Kann bezüglich des gegenwärtigen Kasussystems des Deutschen von Ballast und Ballastabwerfen gesprochen werden? Dabei werde ich eine primär synchrone Perspektive einnehmen, wobei ich mir bewusst bin, dass diese für eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem Thema Ballast unbedingt durch eine diachronische zu ergänzen wäre. Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 349 - Wird im gegenwärtigen Deutsch grundsätzlich nur Ballast abgeworfen? Gibt es nicht auch Tendenzen, die man als ein Ballastaufnehmen betrachten könnte? - Stimmt Hinrichs’ Diagnose, dass ein enger Zusammenhang zwischen den beobachteten Veränderungen und der Globalisierung besteht? - Ist - dies kurz abschließend betrachtet - Ballast überhaupt eine angemessene Metapher? 2. Das kasussystem - ein Ballast? Das Kasussystem des Deutschen insgesamt als Ballast zu empfinden, ist nachvollziehbar, insbesondere aus der Sicht einer Person, die das Deutsche als Zweit- oder Fremdsprache erlernt. Zwar stellen die vier Kasus des Deutschen eine vergleichsweise überschaubare Zahl dar, bereits im Vergleich etwa mit den sieben Kasus des Polnischen oder den (je nach Zählung) 20 bis 22 Kasus des Ungarischen. Noch überschaubarer ist die Zahl der Kasusflexive, die zur Markierung der Kasusformen von Substantiven, Adjektiven und Determinativen eingesetzt werden: es handelt sich - auch diese Zahl kann je nach Seh- und Zählweise differieren - um insgesamt fünf Suffixe, wenn wir die schwahaltigen, in der Schrift also mit -e versehenen, und die schwalosen Formen nicht getrennt zählen, und zwar: -er, -(e)n, -(e)s, -em, -e. Voll ausgeschöpft wird dieses Inventar, unter Nutzung der schwahaltigen Formen, nur in der pronominalen bzw. starken Flexion, wie etwa bei der Flexion des Demonstrativums dieser. In der Flexion der Substantive erscheinen nur -(e)s und -(e)n, jeweils als Kasusflexiv des Genitiv Singular bei Non-Feminina, also Maskulina (wie bei Mannes) oder Neutra (wie bei Wetters), bzw. Kasusflexiv des Dativ Plural bei Substantiven aller drei Genera (wie bei Hunden, Klöstern, Müttern). Das -e- Suffix wird anders als in der pronominalen Flexion beim Substantiv zur Auszeichnung von Dativ-Singular-Formen der Non-Feminina gebraucht, jedoch nur noch als weitgehend obsolete Form (wie bei dem Manne/ Kinde). Eine bedeutende Rolle spielt hingegen das genannte Suffixinventar bei der Numerusmarkierung der Substantive: Mit Ausnahme von -(e)m werden alle Suffixe als Pluralsuffixe des Substantivs verwendet wie in: Kinder, Frauen, Pullis, Hunde. Warum also erscheint das Kasussystem trotz dieser „Armut“ im Inventar als so kompliziert? Dafür gibt es gleich mehrere, zum Teil zusammenhängende Gründe: Ein Grund ist, dass, wie bereits angedeutet, weder ein bestimmtes Suffix an eine bestimmte (Kasus-)Funktion gebunden ist - das Suffx -er in dieser kann eine Maskulinum-Singular- oder eine Genitiv-Plural-Form sein - noch umgekehrt eine bestimmte (Kasus-)Funktion nur durch ein bestimmtes Suffix ausgedrückt werden kann. Letzteres gilt besonders für die Pluralmarkierung der Substantive, bei der insgesamt vier Flexive und zusätz- Gisela Zifonun 350 lich noch der Umlaut zum Zuge kommen können. Damit verbunden ist auch, dass in vielen Fällen die Suffixe gleichzeitig Kasus- und Numerusfunktion tragen. Diese Uneindeutigkeit der Flexionsaffixe ist insgesamt ein Kennzeichen des fusionierenden Sprachtyps, dem das Deutsche als indoeuropäische Sprache seiner Herkunft nach angehört und dessen Merkmale es teilweise noch beibehält. Sprachen wie das Ungarische, die weitgehend dem Prinzip ‘eine Form pro grammatischer Funktion - eine grammatische Funktion pro Form’ folgen, mögen zwar über ein bedeutend größeres Inventar an Flexionssuffixen verfügen; die Verteilung ist jedoch beim agglutinierenden Sprachtyp transparenter. Ein weiterer erschwerender Grund ist die Existenz verschiedener substantivischer Deklinationsklassen, die zwar überwiegend genusabhängig verteilt sind, aber eben nicht ausnahmslos. Diesem kurzen Abriss zufolge könnte man leicht zu der Einschätzung kommen, hier liege ein äußerst unökonomisches, „ballaststoffreiches“ System vor. Allerdings sind bei diesem rein inventarisierenden Blick wichtige Gesichtspunkte außer Betracht geblieben. So die Frage der „flexivischen Kooperation“ in der NP und, dem übergeordnet, die Frage nach dem Sinn und damit auch der Verzichtbarkeit von Kasusflexion. Statt von „flexivischer Kooperation“ wird in der deutschen Grammatikographie oft von „Gruppenflexion“ gesprochen. Gemeint ist die Beobachtung, dass die flexivischen Markierungen an den flektierbaren Teilen einer ausgebauten NP also von Determinativ (z.B. Artikel), attributivem Adjektiv und Substantiv jeweils einen Beitrag zu der Kasus-Numerus-Markierung der NP leisten, in dem Sinne dass erst das Zusammenspiel der einzelnen flexivischen Markierungen einen bestimmte Kasus-Numerus-Wert festlegt bzw. zumindest die Anzahl der möglichen Homonymien weitgehend reduziert. Vereinfachend wird oft die Funktion der Numerusmarkierung dem substantivischen Kopf zugeschrieben, die Kasusmarkierung dem Determinativ oder dem attributiven Adjektiv. Zwar ist es zutreffend, dass der substantivische Kopf weitgehend flexivisch den Numerus der Phrase klarstellt (Zusammenfall von Singular und Plural vor allem bei den nicht-umlautfähigen Substantiven mit einem Schwa-Suffix bzw. Pseudosuffix auf -el, -er, -en wie in der/ die Hebel, das/ die Wesen, der/ die Jäger) und dass die Determinative, vor allem die Artikel die Hauptlast der Kasus-Unterscheidung tragen. Allerdings, darauf macht Bernd Wiese (2017) aufmerksam, leisten die Determinative diese Differenzierung nur in Abhängigkeit vom substantivischen Kopf und dessen Genus-Numerus-Merkmalen: Die Formen auf -er beispielsweise (wie dieser, der) disambiguieren nur dann zwischen Nominativ, einer ambigen Genitiv/ Dativ-Form und (eindeutigem) Genitiv, wenn Genus und Numerus des substantivischen Kopfes feststeht wie jeweils in der Mann, der Frau, der Männer/ Frauen/ Kinder. Aufgrund dieser Kooperation mit Genus und Numerus sind in Verbindungen aus Determinativ und Substantiv Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 351 bei den Maskulina im Singular alle vier Kasus differenziert, bei den Feminina fallen jeweils die beiden direkten Kasus Nominativ und Akkusativ und die indirekten Kasus Genitiv und Dativ zusammen (die Frau versus der Frau), im Plural aller Genera die beiden direkten Kasus (die Männer/ Frauen/ Kinder versus der Männer/ Frauen/ Kinder versus den Männern/ Frauen/ Kindern). Zu den Neutra heißt es bei Wiese (ebd., S. 1293): Eine besondere Situation liegt im Neutrum Singular vor. Aufgrund der Homonymie von Formen wie dieses NOM/ AKK.SG.N / dieses GEN.SG.N reichen die Determinative zur Anzeige der hier geltenden Kasusdifferenzierung, nämlich (wie im Plural) nom/ akk vs. dat vs. gen nicht aus. Die Doppelsetzung des pronominalen Flexivs im Genitiv (wie in dieses Hauses) sichert aber auch in diesem Fall die generell geforderte Unterscheidung von direkten und indirekten Kasus. Die Kasusmarkierungen am Substantiv sind innerhalb von Determinativ- Substantiv-Phrasen nicht generell redundant; sie können zur Festlegung der Kasusspezifikation der Phrasen wesentlich beitragen. Diese Ausführungen haben zumindest angedeutet, dass es möglicherweise nicht damit getan ist, die Kasusmarkierungen am Substantiv einfach als Ballast einzusparen und sich auf eine „Kasus-Mono-Flexion“ des Determinativs zu verlassen, bzw. stattdessen hilfsweise und nur unzureichend auf die Monoflexion eines Adjektivs wie in den folgenden Formen mit weggelassenem Substantivflexiv: guter Wein NOM versus guten Wein AKK/ GEN , gutem Wein DAT . Die Kasusmarkierung komplett und ersatzlos entfallen zu lassen, geht ohnehin nicht an. Sie leistet Wesentliches für die Kodierung und Entschlüsselung von Satzbedeutungen, indem die durch unterschiedliche Kasus ausgezeichneten NPs unterschiedliche syntaktische Relationen wie Subjekt, direktes oder indirektes Objekt verkörpern und damit auch unterschiedliche Rollen wie agens oder experiens, patiens und benefaktiv, um nur einige zentrale zu nennen. Zwar gibt das Prädikatsverb als Organisationszentrum des Satzes die Funktionen und Rollen als solche vor, aber bei mehr als einer zu vergebenden Rolle müssen die Rollenträger grammatisch unterschieden werden. Genau das leistet die Kasusmarkierung der NP. Sprachen können das Problem auch anders lösen. Die grammatischen Mittel sind aber grundsätzlich begrenzt. Neben der Kasusmarkierung kommen - zumindest wenn wir bei den Optionen europäischer Sprachen bleiben - die Reihenfolge und der Einsatz von grammatischen Hilfswörtern, in erster Linie Adpositionen (Prä- oder Postpositionen) in Frage. Rollenmarkierung allein durch Reihenfolgebeschränkungen ist, wie bereits oben angedeutet, ihrerseits mit Folgelasten verbunden - auch diese können als Ballast empfunden werden. Adpositionen als Rollenmarkierer müssten als reine Relationsmarker ihres ursprünglichen lokalen oder auch temporalen Gehalts entkleidet werden, „grammatikalisiert“ werden. Kurz gesagt: Vereinfachungen haben ihren Preis. Gisela Zifonun 352 3. Ballast aufnehmen: das Beispiel der „sprachlichen gleichstellung“ von frauen Wer Ballast in der realen Welt der Schiffe oder Heißluftballons abwerfen will, muss ihn zuvor aufgenommen haben. Bei den Vorstellungen zum sprachlichen Ballastabwurf spielt dagegen üblicherweise die Ballastaufnahme keine Rolle - weder als Vorgang in einer früheren sprachgeschichtlichen Stufe noch als Denkmöglichkeit in der Gegenwart. Das gängige Muster ist vielmehr das, das wir auch rudimentär bei Hinrichs erkennen können: Eine Sprache wie das Deutsche reduziert Schritt für Schritt die Komplexität der Flexionsmorphologie, z.B. durch Abbau des Inventars, durch Ökonomisierung der Distribution, also z.B. durch Beseitigung von Kongruenz und Monoflexion. Gleichzeitig wird sie immer „analytischer“ oder aber sie nähert sich einer isolierenden Sprache an. Wie dieser „Ballast“ zustande gekommen ist, ob er „immer schon“ da war oder seinerseits in grauer Vorzeit erst „aufgenommen“ wurde, interessiert hier nicht. Dieses populäre Kurzzeitgedächtnis in Sachen Sprachwandel nimmt sich in der Regel die Entwicklung des Englischen vom Altenglischen zum heutigen Englisch zum Vorbild. Forscher wie Wilhelm von Humboldt oder Georg von der Gabelentz hingegen haben andere Zeiträume im Blick. Humboldt hat in verschiedenen Schriften - z.B. in Humboldt (1830-1835) - ein idealtypisches Bild der Entwicklung einer Sprache vom isolierenden über den agglutinierenden zum fusionierenden Typ entworfen. Weiter als bis zu diesem von ihm als höchste Entwicklungsstufe gedachten Evolutionsstand geht Humboldt nicht; damit wäre, so ist anzunehmen, das Ende der jeweiligen Sprachgeschichte erreicht, die Sprache könnte in diesem Zustand verharren. Genau dies tut sie jedoch nicht: es setzen die bekannten Abbauerscheinungen ein. Von der Gabelentz hat das gesehen und geht nicht von einer linearen, sondern einer „spiralförmigen“ Entwicklung aus; vgl. dazu Lehmann (1998). Von der Gabelentz also, so scheint es, hat gesehen, dass der ideale flektierend-fusionierende Sprachtyp gleichzeitig als der ballaststoffreichste empfunden werden kann: eine Ironie des Sprachenschicksals. Wenn also auch bei der Sprachevolution Ballastaufnahme und Ballastabwurf zyklisch aufeinander folgen mögen, so können wir auch fragen, ob nicht auch gegenwärtig oder in jüngerer Zeit entgegen dem Trend in der Flexionsmorphologie in anderen Bereichen Ballast aufgenommen wurde oder wird. Ein ganz hervorragendes Beispiel ist der Sprachwandel im Zuge der so genannten „sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern“. Bekanntlich zielte die feministische Sprachkritik, vor allem der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, darauf ab, der Dominanz maskuliner Personenbezeichnungen und damit aus ihrer Sicht der gefühlten Dominanz einer „Männersprache“ entgegenzuwirken. Hintergrund ist dabei die sprachsyste- Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 353 matische Asymmetrie zwischen den Genera Maskulinum und Femininum im Deutschen. Das Maskulinum ist das „unmarkierte“ Genus im Sinne der Markiertheitstheorie: Maskuline Formen weisen in der Flexionsmorphologie am meisten Differenzierungen auf, wie wir oben bereits bezüglich des Kasus gesehen haben. Bei femininen Formen hingegen beobachten wir die meisten Synkretismen: So fallen im Singular der femininen Substantive alle Kasus und bei den femininen Formen der Determinative jeweils die direkten und die indirekten Kasus zusammen. Auch semantisch ist das Maskulinum gegenüber dem Femininum in den indoeuropäischen Sprachen unmarkiert; dies hat z.B. Jakobson (1960) bezüglich des Russischen gezeigt: Maskuline Substantive können, sofern es sich um Personenbezeichnungen handelt, geschlechtsneutral verwendet werden, oder aber, vor allem, wo sie in Opposition zu entsprechenden Feminina (wie etwa bei eine Arzt und eine Ärztin, die Bürger und Bürgerinnen) stehen, Personen des männlichen Sexus bezeichnen. „Das Verhältnis ist das eines unmarkierten zu einem markierten Term einer privativen Opposition: Der unmarkierte Term kann als Obergriff (‘generisch’) oder als Komplementärbegriff zum markierten Term fungieren“, heißt es bei Wiese (2017, S. 1048). So genannte ‘äquipollente Oppositionen’, bei denen von zwei Einheiten notwendig jede ein Sexusmerkmal hat, das die andere nicht hat, also jeweils ‘männlich’ versus ‘weiblich’, sind demgegenüber eher die Ausnahme. Man denke etwa an Hahn - Henne, Hengst - Stute oder die Verwandtschaftsbezeichnungen Vater - Mutter, Sohn - Tochter usw. Besonders manifest wird im Deutschen die privative Opposition - oder aus Sicht der feministischen Sprachkritik die sprachliche Benachteiligung von Frauen - im Bereich der Wortbildung: Das Movierungssuffix -in zeichnet den markierten Term, das Femininum, durch ein Mehr an Sprachmaterial gegenüber dem unmarkierten Maskulinum aus, das entweder ein Simplex sein kann (wie bei Arzt, König) oder aber ein bereits durch ein Suffix -er (Bürger, Lehrer, Wähler), -or (Professor, Lektor) auch -ent (Student, Patient), -ant (Demonstrant, Protestant) abgeleitetes Substantiv. So wie die sprachliche Gleichbehandlung dann in Reaktion auf die feministische Kritik in der Regel (z.B. in Stellenausschreibungen, im amtlichen Sprachgebrauch) praktiziert wurde, nämlich durch den Gebrauch von Paarformeln aus maskuliner und movierter femininer Form, bedeutete sie in der Tat „Ballast“. Und das nicht nur auf der Ebene der Sprachverwendung, also einzelner Textprodukte, sondern auch auf der Ebene des intendierten Systemwandels. Auch die quasi ballaststoffärmere Variante mit Binnen-I hilft nicht wirklich weiter, da sie ja letztlich eine an die Schrift gebundene „Abkürzung“ für die Paarformel ist. Was den intendierten Systemwandel angeht, so läuft er im Prinzip auf die Ersetzung einer privativen durch eine äquipollente Opposition hinaus: Lexeme wie Arzt oder Bürger wären dann nicht mehr geschlechtsneutral zu verwenden, sondern nur noch sexusspezifisch, mit allen ballaststoffreichen Konsequenzen, die das hätte. Gisela Zifonun 354 Gert Stickel hat bereits im Jahre 1998 diese Konsequenzen im Auge, wenn er schreibt (1998, S. 77): Ich meine, die feministische Sprachkritik hat sich zu rasch und zu ausschließlich für die forcierte Movierung entschieden und damit zur Forderung nach konsequenter Verwendung von Paarformeln wie Bürgerinnen und Bürger oder Lehrerinnen und Lehrer in Texten, die sich auf Personen beider Geschlechter beziehen oder in denen es auf das Geschlecht der Gemeinten nicht ankommt oder ankommen sollte. Stickel verbindet diese Kritik mit dem Ratschlag einer grundsätzlichen Vermeidung von „weiblich markierten(n) Bezeichnungsformen für alle Berufe und Funktionen, die geschlechtsunspezifisch sind“ (ebd., S. 75). Er meint weiter (ebd.): „Die Bezeichnungen würden dann - was sie jetzt zweifellos noch nicht sind - nach und nach geschlechtsneutral, weil es dann kein Geschlechtsparadigma mehr gäbe.“ Es sei dahingestellt, ob Letzteres wirklich zutrifft, denn die paradigmatische Opposition kann ja nicht gänzlich, also sprachsystemweit, aufgehoben werden, weil wir sie ja in bestimmten Kontexten nach wie vor brauchen. Man muss also weiter mit den „janusköpfigen“ privativen Oppositionen leben. Dennoch: Das Sprachbewusstsein könnte sich durch die Befolgung von Stickels Ratschlag langsam ändern, wenn (wieder) die geschlechtsneutrale Verwendung der Maskulina gestärkt würde. Das allerdings würde Souveränität bei den Sprachbenutzern voraussetzen und den Mut, sich gegen den Mainstream zur Wehr zu setzen. Sie haben und hätten dabei die innere Logik des Sprachsystems auf ihrer Seite: Genusdifferenzierungen, die die zwei Genera mit der Sexusunterscheidung assoziieren, kommen um die Auszeichnung eines der Genera als unmarkiert nicht herum. Dass dies das maskuline Genus ist, in unseren Sprachen, mag einem androzentrischen Weltbild, das die indoeuropäisch sprechenden Stämme mit Sicherheit hatten, geschuldet sein. Das heute auf das feminine Genus umzupolen, geht nicht, weil es „das Eingemachte“ unserer Sprachen tangiert. Ein besonders drastischer Eingriff besteht in dem Versuch, unter Vermeidung von suffixalem Ballast, einfach etwa ein X anstelle von -or/ -orin (oder vielleicht auch -er/ -erin usw.) an einen Stamm anzufügen, wie von Lann Hornscheidt (2012) etwa am Beispiel ProfessX vorgeschlagen. Dies sei auch mit dem Vorteil verbunden, keine Festlegung auf Zweigeschlechtlichkeit bzw. „zweigenderung“ (Hornscheidt 2012, S. 294 et pass.) zu erzwingen, sondern die Anzahl möglicher gender-Zuordnungen offen zu lassen. Wie die Lektüre des Buches von Hornscheidt (2012) zeigt, sind diese und andere Strategien der „ent_genderung“ allenfalls als emanzipatorisch gemeinte Experimente für Fortgeschrittene zu verstehen, nicht als realisierbare Sprachveränderungsvorschläge. Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 355 4. Besteht ein zusammenhang mit globalisierung? Kommen wir wieder zurück zu den Veränderungen, die Hinrichs in seinem Beitrag im Auge hatte und die er auf den Einfluss von Migration, Sprachkontakten und Mehrsprachigkeit zurückführt, kurz also auf die veränderten Bedingungen, die für das Deutsche im Zeitalter der Globalisierung bestehen. Hinrichs verweist auf den Balkan, die romanischen Sprachen, Kreolsprachen, das Englische. Immer habe intensiver Sprachkontakt oder Mehrsprachigkeit die Grammatik vereinfacht. Das mag stimmen. Aber es kommt dabei auf viele soziolinguistische und historische Faktoren an. Für das Deutsche des 21. Jahrhunderts ist sicher keines der von Hinrichs genannten Beispiele eine Blaupause. Vor allem ist zu fragen: Wie verhalten sich die Mehrsprachigkeit in den Sprachbiografien einzelner Personen oder Gruppen und Mehrsprachigkeit als Aussage über eine Sprachgemeinschaft, also „individuelle“ und „gesellschaftliche Mehrsprachigkeit“ (Keim 2012, S. 16-24), zueinander? So zeigen uns die Befunde etwa von Keim (2008), dass Sprachformen mit einer reduzierten Grammatik, also z.B. Fehlen von Präpositionen und Artikeln, in erster Linie Kennzeichen einer „Jugendsprache“ sind, die von Jugendlichen unterschiedlicher Ethnien untereinander, etwa in der Klassengemeinschaft oder in der Freizeit, gesprochen wird. Dabei ist dieser „Multiethnolekt“ in der Regel nur eine der Varietäten des Deutschen, die diese Jugendlichen beherrschen. In anderen Kommunikationssituationen, z.B. im Unterrichtsgespräch, können sie sich sehr wohl der entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten der konventionellen deutschen Grammatik bedienen. Schließlich mögen sie sogar, je nach individuellen Lebenswelten und Lebensentwürfen, die in der Jugend auch als identitätsstiftendes Gruppenmerkmal gepflegte Sprachform mehr oder weniger ganz hinter sich lassen und wie jedes andere Mitglied der Sprachgemeinschaft sich situationsangemessen aus dem reichen Vorrat an Regio- oder Dialekten, an funktionalen Varietäten und Registern des Deutschen bedienen und dabei ihren eigenen kommunikativen Stil entwickeln; vgl. dazu Keim (2008). Dabei gestalten sie, unter der Hand, wie alle anderen Sprecher die weitere Entwicklung dieser Varietäten und damit auch des Deutschen insgesamt mit. Wir werden sehen, was in diesem „living language laboratory“, wie Hinrichs die gegenwärtige Situation des Deutschen nennt, an bleibenden Neuerungen für die gesprochene und geschriebene Standardsprache „ausgekocht“ wird. 5. zum (kurzen) schluss: Ist Ballast eine angemessene metapher? Abschließend frage ich: Ist die Redeweise von sprachlichem Ballast überhaupt angemessen? Ballast abwerfen ist „im wirklichen Leben“ eine prototypische, sprich intentionale Handlung: Menschen beraten über die angemessene Stra- Gisela Zifonun 356 tegie in einer Zwangslage oder aber sie fassen in panischer Not einen einsamen Entschluss. „Die Sprache“ selbst ist natürlich kein solcher Akteur. Sie ist im Sprachwandel, wie wir seit Keller (1994) wissen, weitgehend, wenn man von beabsichtigten Eingriffen wie den oben erwähnten, feministisch inspirierten absieht, ein Phänomen der dritten Art, weder von Akteuren intentional verursacht, noch von Zufällen vorangetrieben: Sie wandelt sich vielmehr, als wäre sie von einer unsichtbaren Hand (invisible hand) gesteuert, in der Weise, dass die Summe vieler Einzelhandlungen von Sprechern - unbeabsichtigt - einen Zustand erzeugt, der uns im Nachhinein als sinnvoll, oder gar geplant erscheinen mag. Dann, im Rückblick, sieht es für die einen so aus, als habe sich die Sprache selbst entrümpelt. Die anderen aber mögen den Verlust an Reichtum 2 nostalgisch bedauern. Beide Haltungen, aber auch ein resigniertes Sich-in-das-Unvermeidliche-Fügen greifen zu kurz. Die Sprecher, jeder einzelne und die Sprachgemeinschaft insgesamt, gestalten die Zukunft ihrer Sprache - zwar überblicken sie nicht die Wirkungen ihrer sprachlichen Handlungen auf das Sprachsystem, aber jede Wahl oder Abwahl von Möglichkeiten kann auf Nachahmung oder Ablehnung stoßen und schlägt im Labor des Sprachwandels zu Buche. 6. literatur Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax: eine geschichtliche Darstellung. Bd. I: Die Wortklassen und Wortformen. A: Nomen, Pronomen. Heidelberg. Blatz, Friedrich (1896): Neuhochdeutsche Grammatik mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache. Bd. 2: Satzlehre. Karlsruhe. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Union der Deutschen Akademien der Wissenschaft (Hg.) (2013): Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Berlin/ Boston. Eichinger, Ludwig M. (2005): Standardnorm, Sprachkultur und die Veränderung der normativen Erwartungen. In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2004). Berlin/ New York, S. 363-381. Gabelentz, Georg von der (1901): Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig. [Nachdruck: Tübingen 1972.] Hornscheidt, Lann (2012): Feministische W_orte: ein Lern-, Denk- und Handlungsbuch zu Sprache und Diskriminierung, Gender Studies und feministischer Linguistik. Frankfurt a.M. 2 Vgl. dazu die Dokumentation „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“. Der Beitrag von Eichinger zur Flexionsmorphologie enthält u.A. zu den in diesem Aufsatz genannten Entwicklungen des Kasussystems auch quantitative Auswertungen. Was ist „sprachlicher Ballast“ und wie gehen wir damit um? 357 Humboldt, Wilhelm von (1830-1835): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes. In: Humboldt, Wilhelm v.: Werke. Bd. 3. 1979. 5., unveränd. Aufl. Stuttgart, S. 368-756. [Nachdruck: Darmstadt 1963.] Jakobson, Roman (1960): The gender pattern of Russian. In: Studii şi cercetări lingvistice 11/ 3, S. 541-543. Keim, Inken (2008): Die „türkischen Powergirls“: Lebenswelt und kommunikativer Stil einer Migrantinnengruppe in Mannheim. 2. durchges. Aufl. (= Studien zur Deutschen Sprache 39). Tübingen. Keim, Inken (2012): Mehrsprachige Lebenswelten: Sprechen und Schreiben der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen. Tübingen. Keller, Rudi (1994): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen/ Basel. Lehmann, Christian (1998): Wilhelm von Humboldts Theorie der Sprachevolution. http: / / www.christianlehmann.eu/ publ/ Humboldts_Sprachevolution.pdf. (Stand: Februar 2017). Stickel, Gerhard (1998): Der Sprachfeminismus geht in die falsche Richtung. In: Brunner, Margot/ Frank-Cyrus, Karin M. (Hg.): Die Frau in der Sprache. Gespräche zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Wiesbaden, S. 73-80. Wiese, Bernd (2017): Nominalflexion. In: Gunkel, Lutz et al.: Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: das Nominal. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 14.2). Berlin u.a. BlIcke auf Den sprachgeBrauch ManFrED w. hELLMann wIssenstransfer Im IDs zum thema „sprache unD kommunIkatIon In DeutschlanD ost unD west“ - ein konzept - Vorbemerkung Der folgende Beitrag will keineswegs eine Agenda sein für einen Wissenstransfer - wenn er denn ernsthaft gewünscht wird -, sondern er will eine Diskussion anregen für ein Konzept eines solchen Transfers. 1. wann und warum ist wissenstransfer erforderlich Wissenstransfer ist im Bereich von Unternehmen, besonders großen, als wichtige Managementaufgabe erkannt und wird umgesetzt, weil Expertenwissen teuer erworben wird und deshalb nicht verloren gehen darf, sondern auf geeignete Personen transferiert werden muss. Es hat sich eine eigene kommerzielle Sparte entwickelt. 1 Auch öffentliche Institutionen, z.B. die Metropolregion Rhein-Neckar, nehmen sich der Sache an. 2 Das erstaunt zunächst ein wenig, weil die traditionelle Weise der Wissensweitergabe bei Personalwechsel die „Einarbeitung des Nachfolgers“ ist - ganz unspektakulär seit Jahrhunderten meist erfolgreich praktiziert. Aber offenbar reißt die personelle Kontinuität - Voraussetzung für den Prozess der „Einarbeitung des Nachfolgers“ - sowohl in Betrieben als auch bei Behörden und in wissenschaftlichen Institutionen immer öfter ab. 1 Zahlreiche Angebote dazu auch im Netz. Ausführlich etwa Annette Hexelschneider (2014) oder Wissenstransfer.ch: www.wissenstransfer.ch/ ausgangslage. 2 Vgl. die Einladung zum 10. Wissenstransfer-Tag der Metropolregion Rhein-Neckar am 29. September 2016 in der SRH Hochschule Heidelberg: „Der Austausch von Wissen und innovativen Ideen, das Bilden von Netzwerken und nicht zuletzt das Weitergeben von Lösungs-Ansätzen ist die Idee, die hinter dem Wissenstransfertag steht. Mit dem 10-jährigen Jubiläum wird das erfolgreiche Event fortgesetzt; der Wissenstransfertag ist mittlerweile eine feste Größe in der Metropolregion.“ (http: / / wissenstransfertag-mrn.de/ wp-content/ wtt_ eventreg/ 10WTT_Flyer.pdf). Manfred W. Hellmann 362 Das hat verschiedene Gründe, zum Beispiel: - grundsätzliche Aufgabe oder „outsourcing“ einer Produktionslinie / eines Forschungsgebietes, - Ersatz von Dauer-Arbeitsplätzen durch befristete, - Einschätzung des Wissens älterer Mitarbeiter als „veraltet/ überholt“ und deshalb nicht transferwürdig, - Einschätzung des Arbeitsgebietes als nicht mehr aktuell/ zeitgemäß/ trendy o.Ä. und weitere. Wenn sich herausstellt, dass der so entstehende Kontinuitätsabriss nicht im Interesse des Unternehmens/ der Institution ist, dann allerdings wird Wissenstransfer zur dringenden Managementaufgabe. Ein wichtiger Grund kann sein - und ist es im vorliegenden Fall nach meinem derzeitigen Kenntnisstand -, dass sich eben diese Einschätzung über den Nutzen eines Arbeitsgebietes für die Trägerinstitution wandelt: von „verzichtbar“ zu „wünschenswert“. 2. wissenschaftsintern/ wissenschaftsextern begründbare themen Die bei weitem größte Zahl von Forschungsthemen und -projekten in linguistischen Forschungsinstitutionen wie dem IDS werden - nach der Unterscheidung von Barth und Metzger (Barth/ Metzger 2005, S. 13) - auf Grund rein wissenschaftsinterner Kriterien betrieben, d.h. Begründung und Durchführung sind nur Fachleuten (oft nur des engeren Fachgebietes) verständlich. Eine interessierte, kritisch begleitende, nachfragende nicht-linguistische Öffentlichkeit gibt es dafür nicht. Dies ist nach den genannten Autoren einer der Gründe, warum die Linguistik so oft als „abgehoben“, „nicht relevant“, „esoterisch“ und letztlich als ziemlich überflüssig betrachtet wird und warum man ihr nicht mehr zutraut, Antwort auf drängende Fragen zu geben (ebd., S. 12). Daneben gab und gibt es auch im IDS Themen, für die durchaus öffentliches Interesse vorhanden ist, für die es also außer einer wissenschaftsinternen auch eine wissenschaftsexterne Rechtfertigung gibt. Dazu gehören bzw. gehörten unter anderem: - Rechtschreibung - Studien zum Sprachgebrauch türkischer Migranten/ innen in Mannheim - Neologismen im heutigen Deutsch - fremdsprachlicher Einfluss (Fremd- und Lehnwörter) - Sprache des Nationalsozialismus Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 363 - Sprache in Umbruchzeiten: Revolution 1918/ 19, Machtergreifung 1933, Sprache der Nachkriegszeit bzw. ihrer Eliten, Revolte der „68-er“, friedliche Revolution 1989/ 90 - „Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West“ bzw. „in den beiden deutschen Staaten“ Die letzten drei Spiegelstriche benennen sprachhistorische Themen; sie vermitteln sprachhistorisches Wissen, auf dessen „gesellschaftlich-demokratischen Gebrauchswert“ Martin Wengeler verweist (Wengeler 2005, S. 237). Einen zusätzlichen, nämlich aktuell handlungsorientierenden Gebrauchswert hätten Themen, die sich zum Beispiel mit den umfassenden propagandistischen Angriffen beschäftigen, denen Europa insgesamt, speziell Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Ziel der Destabilisierung zurzeit ausgesetzt sind: 1) der Propaganda der russischen Staatsmedien, 2) der Propaganda des militanten Islamismus, 3) der Propaganda der militanten Rechten. Die deutschen Erfahrungen mit zwei Diktaturen könnten hier motivieren. Linguistische Analyse und Aufklärung wären dringlich. Beispiele für weitere höchst aktuelle Themen lassen sich leicht finden. Aber lassen sich auch linguistische Antworten auf solche drängenden Fragen finden? 3. Bearbeitung des themas im IDs Das im Titel genannte Thema - damals höchst aktuell, heute historisch - wurde im Institut für Deutsche Sprache von August 1964 bis Juli 2001 kontinuierlich bearbeitet. Zeitweise wurde es durch eine eigene Forschungsstelle des IDS in Bonn (1964 bis 1980), danach von 1981 bis 2001 durch mindestens einen hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeiter in Mannheim bearbeitet und in der Öffentlichkeit vertreten, nämlich durch den Verfasser dieses Beitrags. Dazu gibt es einen rückblickenden Beitrag im Jubiläumsband des IDS (Hellmann 2014). Seit seinem rentenbedingten Ausscheiden im Juli 2001 ist das Thema gegenüber den Medien nur noch sporadisch vertreten worden, und zwar mit wenigen Ausnahmen durch den genannten Mitarbeiter selbst, vornehmlich aus Anlass von Jahrestagen des Mauerfalls bzw. der Vereinigung (1999/ 2000, 2004/ 2005, 2009/ 2010, 2014/ 2015) auf Grund von studentischen, journalistischen oder behördlichen Anfragen. Eine/ n Mitarbeiter/ in, zu dessen dienstlichen Aufgaben die Bearbeitung dieses Themas und damit die Bedienung solchen öffentlichen Interesses gehörte, gibt es im IDS nicht und gab es auch nicht zum Zeitpunkt des Ausscheidens; eine „Einarbeitung des Nachfolgers“ war deshalb nicht möglich. Manfred W. Hellmann 364 Natürlich ist der Verfasser nicht der einzige, der sich mit dem im Titel genannten Thema wissenschaftlich befasst hat. Und natürlich ist das IDS in Mannheim nicht der einzige Standort, wo dieses Thema wissenschaftlich bearbeitet worden ist und in Zukunft bearbeitet werden könnte. Vom Standort IDS Mannheim aus gesehen ist der Verfasser, soweit erkennbar, der am ehesten infrage kommende Partner für einen Wissenstransfer; vom Standpunkt des Verfassers aus gilt umgekehrt das Gleiche. Außer durch den Verfasser liegen seit etwa 2000 Beiträge zum Thema vor durch Wissenschaftler/ innen um Georg Stötzel/ Martin Wengeler (Düsseldorf/ Trier), Armin Burkhard (Braunschweig/ Magdeburg), Josef Klein (Koblenz- Landau/ Berlin), Ulla Fix, Irmhild Barz, Marianne Schröder, Steffen Pappert (alle Leipzig), Gerd Antos (Halle-Wittenberg) und Ruth Reiher (Berlin). An dieser Liste fällt zweierlei auf: Es überwiegen die sogenannten Bindestrich- Linguistiken (Politolinguistik, Soziolinguistik, Kommunikationslinguistik, Textlinguistik), und deutlich mehr als die Hälfte der Genannten sind emeritiert bzw. in Rente. 4. öffentliche nachfrage Die zu jedem Jubiläum des Mauerfalls / der Vereinigung geäußerte Vermutung, dass sich das Interesse an diesem Thema „totläuft“, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Im Jubiläumsjahr 2014/ 15 erreichten mich 14 ernsthafte Anfragen: Bitten um Interviews, um Beispiellisten, um Beiträge, um Mitwirkung an Sendungen; nur drei davon konnte ich durch einfache Verweise auf Literatur und Nachschlagewerke beantworten, alle anderen machten Arbeit, zum Teil viel Arbeit. Sie führten andererseits zu einer Vielzahl von Artikeln bzw. Nachdrucken in der regionalen und überregionalen Presse, zu Rundfunk- und einer Fernsehsendung (Bayrisches Fernsehen) 3 und zu einem größeren Zeitschriftenbeitrag in einer zeithistorischen Zeitschrift in Jena (Hellmann 2016). Vor Jahren hätte dies vielleicht die Eitelkeit des alt gewordenen Wissenschaftlers gepflegt - 2015/ 16 machte es ihn besorgt: Er ist 2016 achtzig Jahre alt geworden, die Fähigkeit, so etwas zu leisten, lässt nach. Der nächste Jubiläums- Hype im Jahre 2019/ 20 wird ohne ihn laufen. Dabei dürfen wir damit rechnen, dass jener Hype nicht wesentlich geringer ausfallen wird als zum 25-jährigen Jubiläum 2014/ 15, denn ein Zeitraum von 30 Jahren gilt als eine Generation; nicht nur Fragen nach dem „was war“, „wie war es“, „warum war es so? “ werden erneut gestellt werden, sondern vermehrt Fragen wie „was ist geblieben“, „was ging verloren“, „was wirkt wie nach? “. Wir sollten darauf vorbereitet sein. Und mit „wir“ meine ich nicht mehr den Autor dieses Beitrags. 3 Bayrisches Fernsehen, „Faszination Wissen“, 3.11.2014. Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 365 5. aufgabe: sicherung des themas - wie und durch wen? Aber wer leistet den Dienst am Thema dann? Oder geht das Thema verloren, weil das Wissen und das know what, know how, know who verloren gehen? Noch kann das Wissen nicht - in der Terminologie von Gerd Antos (Antos 2005b, Vorwort, S. IXf.) - als „verloren“ gelten, aber doch schon als „latentes“ bzw. „abgesunkenes Wissen“, das auch im IDS nicht mehr jedermann und jederzeit zur Verfügung steht. Theoretisch könnte man verlorenes Wissen auch später rekonstruieren, wenn es einigermaßen gut dokumentiert worden ist. Aber das ist ungleich aufwändiger und fehleranfälliger als ein direkter Wissenstransfer, solange die früher Beteiligten noch aktionsfähig sind. Es ist unrealistisch anzunehmen, dass verlorenes Wissen nachträglich erarbeitet werden könnte, wenn es als abgesunkenes jetzt nicht transferiert werden kann. Zudem: Antos - mit Verweis auf Ernst Pöppel 4 - weist darauf hin, dass rekonstruierbar nur explizites Wissen sein kann, d.h. solches, das schriftlich geordnet niedergelegt und verfügbar gehalten wurde. Implizites Wissen - Erfahrungen, Erlebnisse, Sensorium für Wahrscheinlichkeiten, für das „eigentlich Gemeinte“ - haben nur die Beteiligten. Solches Wissen wird, emotional konnotiert, quasi als Ton-Bild-Sequenzen gespeichert und am ehesten anekdotisch transferiert. Kommt also ein Transfer nicht rechtzeitig zustande, ist zumindest diese Art von Wissen definitiv verloren. 5 Stellungnahme des IDS - Voraussetzungen eines Transfers Mit diesen Überlegungen und einer Liste der in 2014/ 15 geleisteten wissenschaftlichen „Öffentlichkeitsarbeit“ ging ich Ende 2015 zum Direktor des IDS, Prof. Ludwig M. Eichinger. 4 Pöppel (2000) (Literaturangabe bei Antos 2005a, S. 363) unterscheidet allerdings „drei Welten des Wissens“: 1. Explizites (begriffliches) Wissen, 2. Implizites (Handlungs-) Wissen, 3. Anschauungs- (bildliches) Wissen. Ich fasse hier zur Vereinfachung die Wissenswelten 2 und 3 zusammen. Beide sind nicht oder nur schwer systematisierbar, kodifizierbar und - ganz praktisch - kopierbar. 5 Die Konsequenz von Traditionsbzw. Diskursbrüchen ist nach Antos (2005a, S. 358): „Wissen verblasst, wird vergessen oder geht verloren. Wenn gar die personale Verankerung von Wissen verloren geht, bleibt im besten Falle, nämlich bei entsprechender Konservierung, Information erhalten.“ Aber „damit der Benutzer etwas davon hat, muss er das objektivierte Wissen revitalisieren, er muss durch die Daten und Texte hindurch den Bezug zu dem herstellen, von dem die Daten und Texte handeln. Er muss, kurz gesagt, Information wieder in Wissen verwandeln“ (Böhme 1999, zitiert nach Antos 2005a, S. 358). Manfred W. Hellmann 366 Das Ergebnis unseres Gesprächs war: 1) Mein Anliegen, im Alter von 80 Jahren das Thema weiterzugeben, wird als nachvollziehbar anerkannt. 2) Das IDS sieht sich als der richtige Anlaufpunkt oder Ankerplatz für die Weiterführung dieses Themas: „Wo, wenn nicht hier? “ 3) Auch über den nächsten Jubiläums-Hype hinaus sollte das Thema möglichst als ein sprachhistorisches und zugleich öffentlichkeitsrelevantes im IDS gepflegt werden. 4) Eine/ n Mitarbeiter/ in zu befähigen, dieses Thema auch in Zukunft verantwortlich zu vertreten, ist nicht in einem einzelnen Kolloquium oder ähnlichem zu schaffen. Ein professioneller, strukturierter Wissenstransfer ist wünschenswert. 5) Diese/ r Mitarbeiter/ in sollte drei Bedingungen erfüllen: - fachlich qualifiziert sein, - willens und bereit sein, sich für das Thema zu engagieren, - Gewähr für Nachhaltigkeit bieten, d.h. selbst weit genug vom Rentenalter entfernt sein und eine gesicherte (unbefristete) Stelle haben, um die Gefahr zu mindern, dass sich das Transferproblem in kurzer Zeit erneut stellt. 6) Dieser Transfer sollte in Hinblick auf das fortgeschrittene Alter des Transferierenden „bald“ stattfinden, sofern die genannten Voraussetzungen erfüllt sind („Wenn nicht bald - wann dann? “). Der Direktor des IDS hielt auch die Punkte 4, 5 und 6 für erreichbar. Insofern ist auch die Grundsatzfrage „Warum soll überhaupt ein solcher Wissenstransfer stattfinden? “ beantwortet. Inzwischen ist die Entwicklung vorangeschritten: Nachdem ein Gremienbeschluss des IDS vorliegt, dass der Arbeitsbereich „Sprache in Umbruchzeiten“ in der Abteilung Lexik in etwa zwei Jahren aufgelöst werden soll, kommt als „Ankerplatz“ für das Thema gemäß der aktuellen Homepage des IDS 6 die IDS-Abteilung „Zentrale Forschung“ mit dem Programmbereich „Sprache im öffentlichen Raum“ (Leitung: Dr. Albrecht Plewnia) in Betracht. Der Programmbereichsleiter hat sein persönliches Interesse am Thema erklärt, sodass man hoffen darf, dass das erforderliche Maß an Personalkapazität und Zeitbudget sowohl für den Transfer als auch für die laufende Betreuung des Themas bereitgestellt wird. Entschieden ist dies freilich noch nicht. 6 Homepage des IDS: www.ids-mannheim.de/ direktion/ sprache-im-oeffentl-raum.html. Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 367 6. Die w-fragen-kette Gehen wir das zu entwerfende Konzept eines Wissenstransfers entlang der bewährten W-Fragen-Kette an: Wer transferiert Wissen welcher Art auf welche Weise mit welchen Inhalten mit welchem Ziel an wen? 7 6.1 Zu (1) wer Diese Position ist als einzige schon entschieden: Der Transferierende ist der Autor dieses Beitrags. Ich nenne ihn zur Vereinfachung „A“. Soweit erkennbar, ist A der einzige durch das IDS noch verfügbare und grundsätzlich transferbereite Experte für dieses Thema. Allerdings: Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass zu bestimmten Teilbereichen oder Detailfragen auch andere aktive oder ehemalige Mitarbeiter/ innen des IDS, insbesondere solche aus der ehemaligen DDR, unterstützend, korrigierend, erweiternd herangezogen werden. Sie wären ggf. A 1 bis A x. . Zu bestimmten Teilaspekten wären solche Korrektive sogar wünschenswert. 8 6.2 Zu (6) an wen Ebenso ist die 6. und letzte Position entschieden, allerdings nur dem Rahmen nach. Der Transfer wird, wenn die Voraussetzungen gemäß Punkt 5 (5) erfüllt sind, in Richtung auf das IDS und im IDS stattfinden. Ich nenne den „Zielort“ jetzt „B“. Innerhalb des IDS sind 3 Ebenen zu unterscheiden: 1) die Leitungsebene B 1 ; diese hat das Projekt Wissenstransfer befürwortet. 2) die Abteilungs- oder Projektebene B 2 ; deren Leiter hat sein persönliches Interesse erklärt. Wegen des notwendigen Arbeitsaufwands wird B 2 bestimmte Arbeiten delegieren wollen; dies wäre dann 3) die Arbeitsebene B 3 ; es wäre zu wünschen, dass es dem IDS gelingt, auch für die Position B 3 eine Person zu benennen, die die unter Punkt 5 (5) genannten Voraussetzungen erfüllt. Sie bedürfte in jedem Falle der fördern- 7 Zitat nach Wikipedia, Stichwort Wissenstransfer, hier mit Verweis auf Antos/ Wichter (Hg.) (2005) und Krogh, Georg von/ Köhne, Marija (1998): Der Wissenstransfer in Unternehmen. Phasen des Wissenstransfers und wichtige Einflussfaktoren. In: Die Unternehmung 5, S. 235-263. 8 Dies schon deshalb, weil A seit 2001 nicht mehr in den laufenden fachlichen Informationsfluss eingebunden ist und weil ihm bewusst ist, dass nicht alle alles genau so sehen und beurteilen wie A. Auch dies Wissen ist zu transferieren. Manfred W. Hellmann 368 den Unterstützung durch die Abteilungs-/ Projektebene, und zwar schon ab der Vorbereitung des Transfers. Dies ist bisher nur Wunsch, nicht Wirklichkeit. Ich fasse die Ebene B 2 und die virtuelle Ebene B 3 zur Arbeitsebene B A9 zusammen. Ich unterscheide die folgenden drei Phasen der Arbeit: 1) Phase des Transfers selbst und der Einarbeitung ins Thema, 2) Phase der selbstständigen Weiterarbeit und laufenden Betreuung des Themas (intern motiviert), 3) Phase des sekundären Transfers anlässlich von Anfragen (extern motiviert). 6.3 Zu (2) Wissen welcher art (2).1 Domänen des Wissens (2).1.1 „know what“ - Wissen was wichtig ist Nicht alles, was in den Nachkriegsjahren oder auch nur in den letzten vier Jahrzehnten an Wissen angesammelt wurde, soll transferiert werden, sondern relevantes Wissen. Welche Art von Wissen ist relevant? Statt einer wissenstheoretischen Diskussion können wir hier den einfacheren Weg wählen: Relevant ist Wissen dann, wenn es - öffentlich oder wissenschaftsintern - nachgefragt wird. Nachgefragt wird Wissen im vorliegenden Fall durch Studierende, Vertreter von Medien (Journalisten), von Behörden, evtl. Verlagen oder Herausgebern von Sammelbänden oder Veranstaltern von Tagungen. Ich nenne sie zusammengefasst „Interessenten“. Anlässlich der genannten Jubiläen kam es zu solchen Anfragen diverser Interessenten. In einem ersten Ansatz könnten wir also sagen: Relevantes Wissen im vorliegenden Fall ist Wissen, das (meist aus Anlass der genannten Jubiläen) von Interessenten nachgefragt worden ist. Dieser Ansatz ist auch insofern sinnvoll, als wir ja mit dem nächsten „Anlass“ 2019/ 20 rechnen. Damit wäre auch ein erster Ansatz für Abschnitt 6.4 „auf welche Weise“ gefunden. 9 Die Arbeitsebene B A könnte also aus mehreren Personen bestehen. Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 369 Allerdings sind Anfragen, welcher Herkunft auch immer, relativ zufallsabhängig. Sie bedürfen unbedingt einer Ergänzung in zweifacher Weise: a) Assoziative Ergänzung: Hier können und sollen die am Transfer Beteiligten selbst ergänzende oder kontrastierende Fragen formulieren. b) Systematische Ergänzung: Ohne systematische Ergänzung wäre das zu transferierende Wissen nur schwer systematisch zu transferieren, es bliebe mehr oder weniger chaotisch. Für den Schritt „systematische Ergänzung“ können Vorgaben aus der Fachwissenschaft verwendet werden. (2).1.2 „know where“ - Wissen wo ich Gesuchtes finde Dazu gehören Kenntnisse der Ressourcen im IDS selbst (Bibliothek, Korpora, Medien-Sammlungen, Archive) sowie auswärtiger Bibliotheken und Sammlungen, 10 ferner Kenntnisse der einschlägigen Nachschlagewerke und Wörterverzeichnisse. (2).1.3 „know who“ - Wissen wer gesuchtes Wissen hat bzw. wen man wozu kontaktieren kann. Dies ist manchmal der kürzeste Weg zum gesuchten Wissen, aber nicht immer gangbar. (2).1.4 „know why“ - Wissen warum eine Information gesucht oder nützlich sein kann und für wen (2).1.5 „know how“ - Wissen wie man fragt, sucht und findet und nicht zuletzt: wie man weitergibt (2).2 Explizites / implizites Wissen Diese Übersicht betrifft zwar vor allem, aber nicht ausschließlich, sogenanntes explizites Wissen. Transferiert werden soll auch, soweit möglich, implizites Wissen, also aus Erfahrungen, Erlebnissen, Gesprächen, Sinneseindrücken, Gefühlen stammendes Wissen über Alltag und Leben der Menschen im sozialistischen System der DDR. Dieses Wissen ist kaum systematisierbar und deshalb schwierig zu vermitteln; am ehesten noch narrativ-anekdotisch „aus gegebenem Anlass“. 10 Z.B. die Bibliothek des „Arbeitsbereichs für Geschichte und Politik der DDR“ (ehem. Prof. Hermann Weber) am Institut für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte der Universität Mannheim. Hingewiesen sei für den sprachlichen Aspekt auch auf die thematisch spezialisierte Handbibliothek Hellmann. Manfred W. Hellmann 370 (2).3 Sprachwissen/ Sach- und Systemwissen Eine weitere Unterscheidung ist erforderlich: (a) Sprachlich-kommunikatives Wissen, (b) Sach- und Systemwissen. Für einen erfolgreichen Transfer von Wissen zu (a) ist Wissen zu (b) Voraussetzung. Beispiel 1: Zum Verstehen, was ein Wort wie Reisekader vor 1989 für DDR- Bürger bedeutete, reicht die Kenntnis der denotativen (Wörterbuch-)Bedeutung nicht aus; die Konnotationen und Assoziationen sind unerlässlich und diese sind nicht zu verstehen ohne Kenntnis des Grenzregimes, der Rolle der Staatsicherheit, des internen Systems von Privilegien, der Beziehungen zwischen Betrieben und Staat, der Sehnsucht der meisten DDR-Bürger nach Reisen in eine ganz andere Welt etc. Beispiel 2: Um zu verstehen, welche sprachlich-kommunikative Anpassungsleistung DDR-Bürger in den Jahren nach 1989/ 90 erbracht haben, ist es hilfreich, sich z.B. den Wandel im Vokabular, den Texten und den Handlungsstrategien des Alltags-Problemfeldes „Wohnungssuche“ oder „Stellensuche“ zu vergegenwärtigen. Hieraus wird ersichtlich, dass es in der Tat nicht nur um Vermittlung von Faktenwissen oder gar nur lexikalischem Wissen geht: Damit der Benutzer etwas davon hat, muss er das objektivierte Wissen revitalisieren, er muss durch die Daten und Texte hindurch den Bezug zu dem herstellen, von dem die Daten und Texte handeln. Er muss, kurz gesagt, Information wieder in Wissen verwandeln. (Vgl. auch Anm. 5: Böhme 1999, zitiert nach Antos 2005a, S. 358) Das, wovon die Daten und Texte handeln, ist nicht weniger als das Leben, Sprechen, Kommunizieren der Menschen im Staat DDR. 6.4 Zu (3) auf welche weise 6.4.1 Formen des Transfers Wie wird der Transfer organisiert? Sicher nicht so, als Monolog. Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 371 Sondern eher so, als initiierter Dialog: Wobei die Grafik 1 11 suggeriert, das von A transferierte Wissen bilde sich 1-zu-1 im Kopf von B A ab. Das tut es sicher nicht: Schon beim Prozess des Transferierens selbst verändert sich das Wissen, zum einen weil es aus einem Cluster in Linearität überführt werden muss, zum andern weil die Implementierung von transferiertem Wissen selbst ein aktiver Prozess ist, bei dem die vorhandene Wissensumgebung das Implementat verändert, wie auch das Implementat die vorhandene Wissensumgebung verändert. 6.4.2 Phasen des Transfers Vgl. hierzu auch unten Abschnitt 7. Nach von Krogh/ Köhne (1998) durchläuft der Wissenstransfer unabhängig vom Umfang des Wissens immer die Phasen Initiierung, Wissensfluss und Integration. Bei der Initiierung wird der Wissenstransfer eingeleitet, in der Wissensflussphase findet die tatsächliche Transaktion des Wissens statt und in der letzten Phase wird das neu transferierte Wissen überprüft und ggf. in die bestehende Wissensbasis integriert. 12 Die Initiierung verläuft monologisch durch mündliche oder schriftliche Vorgaben, voraus geht ein Kolloquium zur Feststellung des schon vorhandenen Wissens. Die Wissensflussphase soll dialogisch verlaufen, mit ständiger Möglichkeit der Rückfrage oder - im fortgeschrittenen Prozess - als Kolloquium. In der Phase der Integration und Kontrolle werden u.a. kleinere Aufgaben gestellt, auch als kleine Rollenspiele, z.B: - Wie beantworten Sie die folgende Journalistenanfragen: Was ist untergegangen/ was ist erhalten geblieben? Was hat die Bevölkerung am meisten bedrückt? Etc. … 11 Die Grafik ist übernommen aus Hexelschneider (2014). 12 Zitat nach Wikipedia, Stichwort Wissenstransfer. Manfred W. Hellmann 372 - Entwerfen Sie eine Kurzrezension zu einem neu erschienenen Wörterbuch zum DDR-Wortschatz. - Entwerfen Sie eine Rezension zu einem einschlägigen Zeitschriften-/ Sammelbandbeitrag. - Was würden Sie in einem Fernsehbeitrag zum 30. Jahrestag des Mauerfalls für unerlässlich/ wünschenswert und zugleich mediengerecht halten? - Was würden Sie dem Bundespresseamt/ dem Kanzleramt antworten, wenn es Sie nach dem Stand der sprachlichen Vereinigung fragt? (Materialbzw. beispielgestützt) - Entwerfen Sie einen Fragebogen, um in einer Stadt Thüringens mittels Umfrage festzustellen, ob und ggf. welche Wörter und Wendungen aus der DDR noch bekannt sind. 6.5 Zu (4) mit welchen Inhalten Die Inhalte gliedern sich in solche zu a) Staat, Gesellschaft, Alltag der DDR, b) Sprache und Kommunikation in der DDR sowie zwischen DDR und BRD. Für beides gibt es brauchbare systematische Darstellungen; zu (a) ferner eine Fülle von Einzeldarstellungen zu nahezu jedem Aspekt der DDR. Zu (b) gibt es brauchbare Zusammenfassungen in sprachwissenschaftlichen Handbüchern, z.B. dem „HSK“, und zwar in eher historischer Darstellung von Hartmut Schmidt (Schmidt 2000) und in eher systematischer Darstellung von Manfred W. Hellmann (Hellmann 2005). Hier ein Überblick über die Arten von Inhalten (nicht die Inhalte selbst) in der Systematik des letzteren Beitrags: 2. Begriffliche Klärungen: Sprachspaltung/ Spracheinheit/ Varietäten 3. Quantitatives: in Wörterbüchern/ in öffentlich relevanten Sachgebieten 4. Typisierung lexikalischer Spezifika: 4.1 Probleme, Kategorien 4.2 Typen lexikalischer Spezifika: Lexemspezifika und Scheinspezifika / Bezeichnungsspezifika / Bedeutungsspezifika / Spezifische Wertungen und Konnotationen/ Ossi-Wessi- Konnotationen, Fremd- und Selbstbilder/ spezifische Wendungen/ Spezifische Häufigkeiten/ Wortfeldspezifika / Spezifische Handlungsfelder Exkurs: Die Abkürzung „BRD“ 5. Gruppen-, fach- und sondersprachliche Differenzen: Gruppensprachliches / Fachsprachliches / Lexik oppositioneller Gruppen/ Dialektales Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 373 6. Einflüsse aus Fremdsprachen 7. Syntax, Stil, Phraseologie: Grammatisches System/ Formulierungsmuster/ Feminin-Markierung/ Modifikatoren 8. Textsorten, Textmuster, Kommunikationssituationen: Zeitungen/ Werbung/ Halböffentliche Textsorten/ Kommunikationssituationen in Gesprächen/ in Talkshows 9. Sprachdifferenzierung in Umfragen 10. Ausgleichstendenzen: 10.1 Bis zur Wende: Präsenz von West-Medien/ Korrespondenten/ Besuche / linke Protestbewegung/ Friedensbewegung/ Übersiedler 10.2 Nach der Wende Ob dies alles Gegenstand eines Transfers sein sollte oder kann, bleibe dahingestellt; es hängt davon ab, wieviel Zeit sich die Beteiligten nehmen wollen. Die Übersicht kann aber wohl als Warnung dienen, das Thema und damit den Aufwand für den Transfer nicht zu unterschätzen. 6.6 Zu (5) mit welchem ziel Allgemein gesagt: Am Ende des Transfers sollte sich B A in allen relevanten Aspekten des „sprachlichen Ost-West-Themas“ ähnlich gut auskennen wie A, und zwar - mit dem Ziel eines erneuten Transfers, jetzt als Experten-Laien-Kommunikation, nämlich gegenüber journalistischen und anderen Interessenten in der Situation einer kommunikationsinitiierenden Anfrage; - mit dem Ziel, dem IDS in Bezug auf dieses Thema nachhaltig die Kompetenz zu sichern und - sie ggf. weiterzuentwickeln, z.B. durch Entwicklung neuer Fragen und Konzeption neuer Forschungsprojekte. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit empfiehlt sich der Aufbau einer Wissens-Datenbank, in der das transferierte Wissen (hier vor allem, aber nicht nur, lexikalischer Art) gesammelt und verfügbar gehalten wird. Das heißt: B A hat am Ende des Transfers optimalerweise - einen Überblick und routinierten Zugriff auf - die Ressourcen im IDS, - weitere Ressourcen außerhalb des IDS, - sonstige einschlägige Literatur incl. Nachschlagewerke, - ist daher in der Lage, neue Beiträge zum Thema angemessen zu beurteilen, - hat Zugang zu und Routine in der Handhabung diverser Wortlisten, Manfred W. Hellmann 374 - hat Fähigkeit zur Neuorganisation einschlägigen lexikalischen und anderen Wissens z.B. in einer speziellen Datenbank, - besitzt die Fähigkeit, sprachliche Erscheinungen in DDR-Texten richtig einzuordnen und zu interpretieren (z.B. zeitlich, senderbezogen, empfängerbezogen, sprachregisterbezogen, textsortenbezogen, intentional), - kann Wissen adressatenbezogen (öffentlichkeits)wirksam formulieren und weitergeben, - kann Wissen neu strukturieren und weiterentwickeln, auch ggf. in Gestalt neuer Projektvorschläge. 7. zum Verfahren 7.1 Vorbereitungsphase Dem eigentlichen Transfer wird eine Vorbereitungsphase vorausgehen müssen, in der 1) das Projekt und sein Verlauf im verfügbaren Zeitrahmen vorgestellt und diskutiert werden, 2) das schon vorhandene Wissen (insbesondere Sachwissen zur DDR) festgestellt wird; was vorhanden ist, muss nicht transferiert werden. 7.2 Initiierungsphase Hier werden schriftliche Vorgaben (Texte, Kopien, Literaturhinweise) dominieren als Einführungen 1) in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Alltag der DDR - auch historisch -, 2) in Sprache und Sprachgebrauch in der DDR (teilweise im Vergleich zur BRD), 3) in Kommunikation zwischen Ost und West. 7.3 Wissensflussphase Für diese Phase ist konstitutiv, dass es sich nicht um einen Experten-Laien- Transfer handelt, sondern um einen Experten-Experten-Transfer, also um einen Transfer zwischen Kollegen. Diese Phase wird daher weniger monologisch, sondern zunehmend dialogisch, eher als Kolloquium verlaufen: Wissen wird nicht nur vorgelegt, sondern von B A auf der Basis selbstständig angeeigneten Wissens aktiv abgefragt und im Dialog geklärt. Im letzten Drittel dieser Phase werden Kurzreferate von B A den Dialog einleiten können. Wissenstransfer zum Thema „Sprache und Kommunikation in Deutschland“ 375 7.4 Integrationsphase Ich bevorzuge hier den Ausdruck „Einübungsphase“: In immer erneuten kleinen Probesituationen wird durchgespielt, wie B A auf unterschiedliche Anfragen/ Anforderungen von außen (Beispiele oben Abschnitt 6.4.2) oder auch aus der Wissenschaft selbst wissenschaftlich angemessen antworten könnte. Und zwar in der Erwartung, dass B A irgendwann das Spiel besser beherrscht als A. Dann ist der Transfer beendet. Der Verfasser knüpft daran die Hoffnung, dass er dann nicht mehr gefragt werden muss. 8. literatur Antos, Gerd (2005a): Die Rolle der Kommunikation bei der Konzeptualisierung von Wissensbegriffen. In: Antos/ Wichter (Hg.), S. 339-364. Antos, Gerd (2005b): Vorwort. In: Antos/ Wichter (Hg.), S. IX-XII. Antos, Gerd/ Wichter, Sigurd (Hg.) unter Mitarbeit von Daniela Schütte und Oliver Stenschke (2001): Wissenstransfer zwischen Experten und Laien. Umrisse einer Transferwissenschaft. (= Transferwissenschaften 1). Frankfurt a.M. u.a. Antos, Gerd/ Wichter, Sigurd (Hg.) (2005): Transferwissenschaft. Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem. (= Transferwissenschaften 3). Frankfurt a.M. u.a. Barth-Weingarten, Dagmar/ Metzger, Markus (2005): Ein problematischer Dialog: Bedingungen für die Kommunikation Wissenschaft - Öffentlichkeit und ihre Konsequenzen am Beispiel der Linguistik. In: Antos/ Wichter (Hg.), S. 3-26. Hellmann, Manfred W. (2000): Divergenz und Konvergenz. Sprachlich-kommunikative Folgen der staatlichen Trennung und Vereinigung Deutschlands: Ein Überblick. In: Eichhoff-Cyrus, Karin M./ Hoberg, Rudolf (Hg.): Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende - Sprachkultur oder Sprachverfall? (= Reihe „Thema Deutsch“ 1). Mannheim/ Leipzig u.a., S. 247-275. [Leicht gekürzte Vorabversion von Hellmann (2005).] Hellmann, Manfred W. (2005): Differenzierungstendenzen zwischen der ehemaligen DDR und BRD. In: Cruse, D. Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter (Hg.): Lexikologie / Lexicology - Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. (= HSK 21.2). Artikel Nr. 156, S. 1201- 1220. Berlin/ New York. Hellmann, Manfred W. (2014): Die Bonner „Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch“ (F.ö.S.) 1964-1980. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Redaktion: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim, S. 80-98. Hellmann, Manfred (2016): Eigentlich nur ein paar kurze Fragen. Über die Schwierigkeit, im November 1988 Gewissheit zu erlangen. Teil 1 in: Gerbergasse 18 - Thürin- Manfred W. Hellmann 376 ger Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik 78, S. 36-41. Teil 2 in: Gerbergasse 18 - Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik 79, S. 33-36. Hexelschneider, Annette (2014): Das Wesentliche wirksam transferieren - wie kann das gelingen? Online unter: www.knowvis.com/ allgemein/ wissenstransfer-daswesentliche-wirksam-transferieren-wie-kann-das-gelingen (Stand: Januar 2017). HSK = Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / Handbooks of Linguistics and Communication Science. Begr. von Ungeheuer, Gerold/ Wiegand, Herbert E. Hrsg. v. Wiegand, Herbert E. Berlin/ New York. Krogh, Georg von/ Köhne, Marija (1998): Der Wissenstransfer in Unternehmen. Phasen des Wissenstransfers und wichtige Einflussfaktoren. In: Die Unternehmung 5, S. 235-263. Schmidt, Hartmut (2000): Entwicklung und Formen des offiziellen Sprachgebrauchs der ehemaligen DDR. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2). 2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Berlin/ New York, Artikel 148. Wengeler, Martin (2005): Sprachgeschichte der Bundesrepublik - (k)ein Thema für Schule, Medien, Öffentlichkeit? In: Antos/ Wichter (Hg.), S. 231-248. Wikipedia: Stichwort Wissenstransfer. Online unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wissenstransfer. DiEtEr hErbErg wenDerückBlIck - lexIkologIsch. zum öffentlIchen sprachgeBrauch 1989/ 90 Vorbemerkung In der Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag ist in der dort enthaltenen Vita zu lesen: „Marksteine seiner administrativen Tätigkeit nach innen sind unter anderem die Umsiedlung des Instituts in das neue Domizil im Herzen der Stadt und die Integration von über 20 Mitarbeitern des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der Akademie der Wissenschaften in Berlin im Jahr 1991.“ (Haß-Zumkehr/ Kallmeyer/ Zifonun (Hg.) 2002, S. 688). Sowohl die langjährigen IDS-Mitarbeiter aus der Mannheimer Friedrich- Karl-Straße als auch die neuen aus der Prenzlauer Promenade in Berlin trafen Anfang Juli 1992 erstmals im für alle neuen Dienstgebäude des IDS in Mannheims Quadrat R5 zusammen. Es ist vielleicht nachvollziehbar, wenn rückblickend ein Beteiligter den Wunsch verspürt, dem Jubilar an seinem 80. Geburtstag zu der gelungenen Integration in das neue Gebäude, in den Mitarbeiterstamm und in das Arbeits- und Forschungsprogramm des IDS zu gratulieren und ihm wie auch den anderen Persönlichkeiten in den Leitungsgremien dafür nochmals Dank zu sagen. Im Folgenden soll am Beispiel eines konkreten Projektes - „Schlüsselwörter der Wendezeit“ - ins Gedächtnis gerufen werden, wie eine kleine Gruppe aus Berlin gekommener Lexikologen/ Lexikographen im Zusammenwirken mit Alt-Mannheimern eine aktuelle Aufgabe in Angriff nahm und in die Tat umsetzte (Herberg/ Steffens/ Tellenbach 1997). 1. Das wende korpus (wk) Frühzeitig war absehbar, dass sprachliche Aspekte der Wendezeit im IDS zu bearbeiten sein würden, waren doch hier seit Jahren Forschungen zur Thematik „sprachliche Ost-West-Probleme“ beheimatet (vgl. Herberg (Hg.) 2008). Ehe jedoch konkrete Untersuchungsgegenstände verbindlich festgelegt werden konnten, war es vordringlich, ein Korpus von Texten der Jahre 1989/ 90 zu schaffen. Das im IDS angesiedelte Korpus war das Ergebnis eines vom IDS angeregten und vom Bundesministerium für Forschung und Technologie Dieter Herberg 378 geförderten Kooperationsprojektes, das 1990/ 91 unter dem Titel „Gesamtdeutsche Korpusinitiative (GKI)“ vom IDS und vom (bis Ende 1991 bestehenden) Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR bearbeitet wurde. Das Hauptziel des Vorhabens wurde 1990 im Förderungsantrag des IDS folgendermaßen beschrieben: „Geplant ist, arbeitsteilig mit dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Berlin/ Ost) ein maschinell gespeichertes Korpus im Umfang von 4 Millionen Wörtern aufzubauen, das ausgewählte Texte aus der DDR und der Bundesrepublik zur Thematik ›politischer Umbruch‹ und ›Annäherung/ Vereinigung‹ enthält und die Beschreibung des Wandels im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik von Mitte 1989 bis Ende 1990 ermöglicht.“ Diese Zielsetzung war von der Einsicht bestimmt, dass es das atemberaubende Tempo der politischen Ereignisse erforderte, auf diese Ereignisse bezogene Texte möglichst rasch zu sammeln und für linguistische Analysen aufzubereiten und verfügbar zu machen. Das Ergebnis der GKI liegt als sogenanntes „Wende-Korpus“, d.h. als dokumentarisch aufbereitete, computergespeicherte Sammlung ausgewählter Textdokumente aus dem öffentlichen Sprachgebrauch in Deutschland zu den Themen „Politischer Umbruch in der DDR“ und „Annäherung und Vereinigung der beiden deutschen Staaten“ vor und besteht aus zwei analog strukturierten und nach den gleichen formalen Konventionen erfassten Teilkorpora: WKD (Wende-Korpus DDR) und WKB (Wende-Korpus BRD). Die detaillierte Darstellung von Veränderungen oder Besonderheiten im Sprachgebrauch relativ zu bestimmten historischen Fakten der Wendezeit machte es erforderlich, den Gesamtzeitraum zu strukturieren. Es wurde eine Segmentierung in sechs Zeitphasen vorgenommen, die jeweils von dominanten historischen Ereignissen, Entwicklungen, Gegebenheiten bestimmt sind: Phase 1: 1.7.89-17.10.89 (Massenflucht, Montagsdemonstrationen, 40. Jahrestag der DDR) Phase 2: 18.10.89-28.11.89 (Maueröffnung) Phase 3: 29.11.89-18.3.90 (Weg zu den ersten freien Volkskammerwahlen) Phase 4: 19.3.90-22.8.90 (Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion) Phase 5: 23.8.90-15.10.90 (Weg zur staatlichen Einheit) Phase 6: 16.10.90-31.12.90 (das geeinte Deutschland) Alle Texte des Korpus sind entsprechend dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung bzw. Entstehung einer dieser Zeitphasen zugeordnet worden. Wenderückblick - lexikologisch. Zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 379 Über Anlass, Zielsetzung, Voraussetzungen, Durchführung und Ergebnisse gibt im Einzelnen der Bericht Herberg/ Stickel (1992) Auskunft; hier sollen lediglich die leitenden Gesichtspunkte für die Auswahl der Texte etwas ausführlicher dargestellt werden: Das WKD enthält 1.632 Texte aus der DDR bzw. aus den neuen Bundesländern mit zusammen ca. 1,5 Millionen Wortformen. Die Texte wurden unter den Gesichtspunkten der chronologischen Zuordnung, der übergreifenden Thematik und der Textsortenvielfalt ausgesucht. Nach dem ersten Kriterium - der chronologischen Zuordnung - wurden Texte mit erkennbarer Beziehung zu relevanten politisch-historischen Ereignissen gewählt (z.B. 40. Jahrestag der DDR, Montagsdemonstrationen, Volkskammerwahl, Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, staatliche Vereinigung). Nach dem zweiten Kriterium waren Texte zu berücksichtigen, die die Entwicklung wichtiger Themen über einen längeren bzw. über den gesamten Zeitraum widerspiegeln (z.B. Stasiproblematik, nationale Frage). Um - drittes Kriterium - eine möglichst große Sortenvielfalt zu repräsentieren, wurden neben Zeitungstexten auch viele andere Textsorten und Äußerungsformen berücksichtigt, die für die öffentliche Kommunikation in der DDR im Zusammenhang mit der Wende wichtig waren (z.B. Aufrufe, Flugblätter, Wahlmaterialien, öffentliche Reden, verschriftlichte Volkskammerdebatten). Texte aus Tages- und Wochenzeitungen wie z.B. Berliner Zeitung, Neues Deutschland, Junge Welt, Leipziger Andere Zeitung, Wochenpost machen rund 50% des WKD-Teilkorpus aus. Das WKB enthält 1.755 Texte aus der alten Bundesrepublik, den alten Bundesländern, mit zusammen ca. 1,8 Millionen Wortformen. Die Auswahl orientierte sich auf Texte, die einen inhaltlichen Bezug zu den historischen Ereignissen in der DDR und zur staatlichen Vereinigung haben. Als Quellen wurden vor allem Tages- und Wochenzeitungen und Zeitschriften genutzt. Hinzu kamen Protokolle von Sitzungen des Bundestages aus dieser Zeit. Anders als für das WKD wurden keine zusätzlichen Textsorten berücksichtigt, da etwa Flugblätter, Aufrufe, offene Briefe u.Ä. für die öffentliche Diskussion der DDR-Ereignisse in der alten Bundesrepublik keine Rolle spielten. In einem Teil der WKB- Texte finden sich allerdings Zitate oder indirekte Wiedergaben aus solchen Dokumenten. Texte aus Periodika wie Mannheimer Morgen, Rheinischer Merkur, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Die Zeit, Stern, die tageszeitung machen etwa 80% des WKB-Teilkorpus aus. 2. „schlüsselwörter der wendezeit“ als projekt Das Wendekorpus wurde von 1993 an in der IDS-Abteilung „Sprachentwicklung in der Gegenwart“ (Abteilungsleiter: Wolfgang Teubert) linguistisch innerhalb des dreiteiligen Rahmenthemas „Sprachwandel in der Wendezeit“ Dieter Herberg 380 ausgewertet. Außer der Erarbeitung eines korpuserschließenden Wortregisters und der Untersuchung von Bedeutungsvarianz in Texten zur deutschen Einheit wurden Schlüsselwörter der Wendezeit analysiert und lexikographisch aufbereitet. Nur auf dieses letztgenannte Projekt soll im Folgenden eingegangen werden (vgl. Herberg 1996). Das zunächst ins Auge gefasste Vorhaben, wendebedingte Veränderungen im öffentlichen Sprachgebrauch in Bezug auf die Lexik auf der Basis des Wendekorpus möglichst allseitig und erschöpfend zu untersuchen, erwies sich sehr bald als zu umfangreich und zu aufwendig für ein Zweijahresprogramm von drei Mitarbeitern (Dieter Herberg, Doris Steffens, Elke Tellenbach). Bei den Überlegungen, wie das allzu ausgedehnte Untersuchungsfeld sinnvoll zu begrenzen wäre und mit welchem konzeptionellen Ansatz einerseits der Vorteil unserer speziellen Forschungslage (Vorhandensein und Verfügbarkeit eines Textkorpus; Anknüpfungsmöglichkeit an methodische Erfahrungen lexikologisch-lexikographischen Arbeitens des IDS) möglichst optimal genutzt werden und andererseits ein interessantes und nützliches Ergebnis entstehen könnte, erschien uns schließlich das Schlüsselwortkonzept erfolgversprechend. Der Schlüsselwort-Begriff wird zwar relativ häufig, aber zumeist unreflektiert benutzt und kaum ja in brauchbarer Weise bestimmt. Annähernde Übereinstimmung besteht unter seinen Verwendern darin, dass es sich um einen relativen Begriff handelt, der nicht operationalisierbar ist und mit dem keine Systemeigenschaften lexikalischer Einheiten erfasst werden, sondern der vielmehr zur Sphäre des Gebrauchs gehört. Die am häufigsten angelegten Kriterien zu seiner Bestimmung sind: inhaltliche Relevanz, Typizität und Vorkommenshäufigkeit in Bezug auf den untersuchten Bereich. Trotz der ihm eigenen Unschärfe schien uns das Schlüsselwortkonzept für die Eingrenzung unserer gebrauchsbezogenen Aufgabe geeignet zu sein, und wir benutzen es für diesen Zweck in folgender Weise: Die Rolle von Schlüsselwörtern der Wendezeit (Mitte 1989 bis Ende 1990) schreiben wir solchen lexikalischen Einheiten (Simplizia, Wortbildungen, Mehrwortlexeme, Phraseologismen) zu, die dominanten Inhalten des wendezeitbezogenen öffentlichen Sprachgebrauchs in einer, in mehreren oder in allen Phasen dieses Zeitraumes typischen sprachlichen Ausdruck geben, sie gleichsam kondensiert auf den Begriff bringen, und die daher in dem betreffenden Zeitraum häufig gebraucht werden. Diese Arbeitsdefinition ermöglicht zwar die Reduktion der wendezeitbezogenen Lexik der WK-Texte auf einen überschaubaren Kandidatenkreis, bietet aber für die konkrete Auswahl der zu bearbeitenden Stichwörter immer noch Wenderückblick - lexikologisch. Zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 381 einen sehr weiten Ermessensspielraum. Bei dieser Auswahl war bestimmend, dass das angestrebte Ergebnis nicht ein Wörterbuch herkömmlicher Art mit einer Vielzahl von knappen, stark standardisierten Einzelartikeln sein sollte, sondern vielmehr war die Absicht, eine begrenzte Zahl wendezeitrelevanter sprachlicher Ausdrücke in ihrem wendezeitspezifischen Gebrauch relativ ausführlich zu analysieren, zu interpretieren und zu dokumentieren. Das Ergebnis ist mithin kein Wörterbuch im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr ein „Buch über Wörter“, wie es auch die im Untertitel verwendete remotivierende Bezeichnung „Wörter-Buch“ andeuten soll. 3. Das Informationsangebot und seine struktur Bei der Sichtung der von uns als bearbeitungswürdige Stichwörter qualifizierten Einheiten zeigte sich, dass es aus linguistischen Gründen, aber auch darstellungsökonomisch und im Benutzerinteresse sinnvoll und günstig sein würde, nicht einer Schema-F-Kodifikation zu folgen, sondern drei unterschiedliche Sorten von Artikeln vorzusehen: Einzelwortartikel, Gruppenartikel und Rahmenartikel. Im Folgenden wird die Artikelsorte Einzelwortartikel etwas ausführlicher beschrieben, während die beiden anderen Artikelsorten nur eine Kurzcharakteristik erhalten. 3.1 Einzelwortartikel Der Einzelwortartikel beschreibt in der Regel eine lexikalische Einheit, mitunter auch mehrere lexikalische Einheiten, die zu derselben Wortfamilie gehören, z.B. Akte, Einheit, Runder Tisch, Volk; Demokratie/ demokratisch, frei/ Freiheit. Jeder Einzelwortartikel besteht aus sechs lexikographischen Textbausteinen, von denen fünf obligatorisch sind und der sechste fakultativ ist. Es sind dies im Einzelnen: (1) Stichwort, Stichwörter (2) Kodifizierung Es wird angegeben, ob und ggf. wie die wendezeitrelevante(n) Bedeutung(en) des Stichworts, der Stichwörter in zwei verbreiteten, vor der Wende erschienenen, vom Typ her vergleichbaren gegenwartssprachlichen Wörterbüchern aus der DDR (Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache - HDG) und aus der BRD (Duden. Deutsches Universalwörterbuch - DUW) bereits kodifiziert ist/ sind bzw. welche usuellen Ausgangsbedeutungen für wendezeitspezifische Neubedeutungen darin festgehalten sind. Diese Angaben dienen im Interpretationsteil, dem Baustein (3), als Bezugs- und Vergleichsdaten für die Herausarbeitung des wendezeitspezifischen Gebrauchs. Dieter Herberg 382 (3) Interpretation Dies ist der wichtigste und in der Regel auch umfangreichste Baustein des Artikels. In ihm wird alles das mitgeteilt, was sich an linguistisch relevanten Erkenntnissen aus der Analyse der Belege des Wendekorpus gewinnen lässt. Die Interpretation bezieht sich u.a. auf - Auffälligkeiten in Bezug auf die Verteilung in den Teilkorpora, in einzelnen Phasen; - Bedeutungs- und Sacherläuterungen; - Ursachen und Art der wendezeitbedingten Veränderungen (neues Lexem, neue Bedeutung, Frequenzveränderung); - wendzeitrelevante Synonyme/ Antonyme zum Stichwort mit anderem Wortstamm; - Fragen der Wertung (z.B. in Abhängigkeit vom politischen Standort); - Bindung an bestimmte Textsorten, Quellentypen, Sachgebiete; - auffällig neue Gebrauchsweisen (vor allem neue Kollokationen); - grammatische Besonderheiten; - Wortbildungskonstruktionen; - enzyklopädische und sprachgeschichtliche Zusatzinformationen; - Sekundärliteratur. Dieser Baustein bildet den Kern des Artikels. Er ist gekennzeichnet durch Diskursivität und Narrativität. Er ist intern nur gering standardisiert, zumal die einzelnen Interpretationsaspekte von Fall zu Fall unterschiedliches Gewicht haben. Eine gewisse interne Struktur erhält dieser umfangreiche Textbaustein dadurch, dass den Aspekten „Kollokationen“ und „Wortbildung“, die besonders materialreiche Abschnitte ergeben, eigene Unterkapitel gewidmet sind. (4) Resümee Dieser Baustein enthält eine kurze Zusammenfassung der wendzeitrelevanten linguistischen Befunde in Bezug auf die Charakterisierung als Neulexem, auf die Bedeutung und auf den Gebrauch. (5) Belege (6) Literatur Baustein (6) ist als einziger fakultativ; er verzeichnet ggf. sprachwissenschaftliche Literatur speziell zum Stichwort und zu seiner Wortfamilie. Wenderückblick - lexikologisch. Zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 383 3.2 Gruppenartikel In Gruppenartikeln werden lexikalische Einheiten ein und derselben Wortart dargestellt, die gleiche/ ähnliche oder gegensätzliche Bedeutung haben, d.h. in einem paradigmatischen Zusammenhang stehen, und die von annähernd gleicher kommunikativer Relevanz sind, z.B. Beitritt/ Anschluss/ Angliederung/ Annexion/ Einverleibung/ Übernahme/ Vereinnahmung; Marktwirtschaft/ Planwirtschaft/ Kommandowirtschaft; alt/ neu. Die Struktur von Gruppenartikeln weicht insofern von der der Einzelartikel ab, als im Interpretationsteil die auf alle Mitglieder dieser Lexemgruppe zutreffenden, übergreifenden Aspekte im Zusammenhang zur Sprache kommen und das für dieses oder jenes Einzellexem Spezifische im Anschluss an Baustein (3) in kurzen Einzelwort-Abschnitten (die Bezeichnung „Artikel“ träfe wegen der fehlenden Eigenständigkeit dieser Abschnitte nicht zu) dargestellt wird. 3.3 Rahmenartikel In Rahmenartikeln werden lexikalische Einheiten zusammengefasst, die in einen bestimmten wendezeitrelevanten thematischen Rahmen, also gleichsam zu einem „Schlüsselthema“ gehören. Sie können durchaus verschiedenen Wortarten angehören und in der Bedeutung differieren. Solche von uns behandelten thematischen Rahmen sind z.B. / Vorbildwirkung der Sowjetunion/ (dazu gehören Lexeme wie Glasnost, Perestroika, Umgestaltung, neues Denken, Tapetenwechsel) oder / Bezeichnungen für Vertreter des alten Systems/ (dazu gehören Lexeme wie Altlast, Betonkopf, Blockflöte, Hardliner, rote Socke, Seilschaft, Wendehals). Die formale Struktur von Rahmenartikeln ähnelt der der Gruppenartikel: Auf eine relativ ausführliche Gesamtinterpretation des thematisch zusammengestellten Lexemfeldes folgen kurze Abschnitte zu Besonderheiten des Gebrauchs einzelner Feldmitglieder. 4. Die retrodigitalisierung des wörter - Buches Zu der in der Vorbemerkung begründeten Wahl des Themas für diesen Beitrag hat sich in jüngerer Zeit ein zusätzlicher Grund gesellt, der die Erinnerung an das Schlüsselwort-Projekt rechtfertigt: Das 25-jährige Jubiläum der Ereignisse der Wendezeit hat das IDS zum Anlass genommen, die „Schlüsselwörter der Wendezeit“ für eine Onlineversion aufzubereiten und in das Wörterbuchportal OWID zu integrieren. Sie wurde im September 2014 freigeschaltet. Mit dieser Aufgabe waren Carolin Müller- Spitzer, Frank Michaelis (Projekt OWID) und Doris Steffens (Projekt Lexikalische Innovationen und seinerzeit Mitautorin des Wörter-Buches) befasst. Dieter Herberg 384 Die Arbeit empfahl sich in mehrfacher Hinsicht: - Aus aktuellem Anlass wurden damit die in den „Schlüsselwörtern der Wendezeit“ präsentierten linguistischen Analysen und Ergebnisse zum Sprachgebrauch der Wendezeit interessierten Nutzern allgemein verfügbar gemacht. - Das Ergebnis eines weiteren Projektes der IDS-Abteilung Lexik ist damit in OWID integriert. - Die Onlineversion stellt sich thematisch neben die von Heidrun Kämper konzipierten Wörterbücher zum Schulddiskurs 1945-55 und zum Protestdiskurs 1968/ 69, die ebenfalls jeweils auf einen Zeitabschnitt der jüngeren deutschen Geschichte mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen Bezug nehmen. Die ursprüngliche Printversion „Schlüsselwörter der Wendezeit“ heißt in der digitalen Version „Schlüsselwörter 1989/ 90“ und ist unter www.owid. de zugänglich. Doris Steffens hat in einem illustrierten Beitrag für den „Sprachreport“ das Informationsangebot und die Nutzungsmöglichkeiten ausführlich dargestellt (Steffens 2014); im Anschluss daran sei hier lediglich kurz resümiert: Das Onlinewörterbuch erschließt von den insgesamt mehr als 1.000 behandelten wendezeitrelevanten Wörtern und Wortverbindungen direkt die etwa 150 Stichwörter, darunter viele Schlüsselwörter. Durch die Retrodigitalisierung des Wörter-Buches „Schlüsselwörter der Wendezeit“ konnten die Ergebnisse dieses aus den 1990er Jahren stammenden Projektes, die aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Ereignisse der Wendezeit wieder an Interesse gewonnen haben, in OWID integriert werden. Dem interessierten Nutzer wird ein Produkt zur Verfügung gestellt, das die linguistischen Analysen und Ergebnisse des Buches vollständig wiedergibt und zugleich den Zugriff auf die Stichwörter, den Kernbereich des wendezeitrelevanten Wortmaterials, dank der Navigationsangebote schnell und übersichtlich ermöglicht und damit gegenüber der Printpublikation erleichtert. Damit dürfte ein Beitrag zum nachhaltigen Nutzen der skizzierten lexikologisch-lexikographischen Arbeitsergebnisse geleistet worden sein. 5. literatur Haß-Zumkehr, Ulrike/ Kallmeyer, Werner/ Zifonun, Gisela (Hg.) (2002): Ansichten der deutschen Sprache. Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag. (= Studien zur Deutschen Sprache 25). Tübingen. Herberg, Dieter (1996): Schlüsselwörter der Wendezeit. Ein lexikologisch-lexikographisches Projekt zur Auswertung das IDS-Wendekorpus. In: Zettersten, Arne/ Wenderückblick - lexikologisch. Zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 385 Pedersen, Viggo H. (Hg.): Symposium on Lexicography VII. (= Lexicographica. Series Maior 76). Tübingen, S. 119-126. Herberg, Dieter/ Stickel, Gerhard (1992): Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache 20, S. 185-192. Herberg, Dieter/ Steffens, Doris/ Tellenbach, Elke (1997): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 6). Berlin/ New York. Herberg, Dieter (Hg.) (2008): Manfred W. Hellmann: Das einigende Band? Beiträge zum sprachlichen Ost-West-Problem im geteilten und im wiedervereinigten Deutschland. (= Studien zur Deutschen Sprache 43). Tübingen. Steffens, Doris (2014): Schlüsselwörter der Wendezeit - Das gleichnamige Wörter- Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90 ist im IDS-Wörterbuchportal OWID online. In: Sprachreport 4/ 2014, S. 40-44. uta itakura 20 Jahre Danach: sozIale VeränDerung unD sprachlIche VerBreItung. Verkaufsgespräch BeI Japanern In DüsselDorf tempora mutantur et nos mutamur in illis (nach Ovid) 1. einführung Fast 20 Jahre sind vergangen, seit ich für meine Dissertation Untersuchungen über Ein- und Verkaufsgespräche von Deutschen und Japanern in Deutschland und Japan durchführte. Dort wurden konkrete verbale und nonverbale Handlungen zwischen deutschen bzw. japanischen Verkäufern und deutschen bzw. japanischen Kunden beim Ein- und Verkaufen untersucht. Untersuchungsorte waren dabei Düsseldorf, wo die meisten Japaner in Deutschland ansässig sind, Tokio, wo die meisten Deutschen in Japan ansässig sind, Heidelberg, das von vielen japanischen Touristen besucht wird, und Nagano, wo deutsche Touristen damals bei der Olympiade waren (Itakura 2003). Anlässlich dieser Festschrift für meinen Doktorvater Prof. Dr. Gerhard Stickel versuchte ich, eine kleine Untersuchung durchzuführen, um sprachliche Veränderungen im Verlauf der Zeit und der sozialen Veränderung zu beobachten. Als ersten Versuch führte ich Interviews und eine Fragebogenaktion unter japanischen Verkäufern in Düsseldorf durch: einem der vier damaligen Untersuchungsorte, wo heute noch die größte japanische Gemeinde in Deutschland besteht. Zuerst wurden im Interview mittels der Befragung von 1998 (Itakura 2003) verbale Handlungen zwischen Verkäufern und deutschen sowie japanischen Kunden ermittelt. Darüber hinaus wurde nach der Verwendungstendenz von relativ neuen japanischen Formulierungen beim Ein- und Verkaufen mittels eines neuen Fragebogens gefragt. Behandelt wurden Formulierungen, die in Japan verbreitet sind, obwohl diese meistens grammatisch bzw. semantisch nicht korrekt sind. Um das Ergebnis in Düsseldorf mit dem heutigen Sprachgebrauch in Tokio zu vergleichen, wurde der gleiche Fragebogen auch an Studierende in Tokio verteilt. In dieser Abhandlung werden die Veränderung der Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Uta Itakura 388 Sprache behandelt. Im folgenden zweiten Abschnitt werden soziale Veränderungen in Düsseldorf thematisiert, im dritten Abschnitt werden die Ergebnisse der zwei Befragungen analysiert und zum Schluss wird eine Möglichkeit der Sprachverbreitung im Zusammenhang mit der heutigen Gesellschaft dargestellt. 2. 1998 - 2016: gesellschaftliche Veränderungen aus der sicht der Befragten Bei der Untersuchung wurden zwei verschiedene Frageformen verwendet. Die erste war der Fragebogen von 1998, in dem nicht nur nach verbalen, sondern auch nach nonverbalen Handlungen zwischen deutschen sowie japanischen Verkäufern und deutschen sowie japanischen Kunden gefragt wurde. Bei Interviews konnten außerdem nicht nur Antworten auf die Frage zu Formulierungen von Verkäufern und Kunden erhalten werden, sondern auch verschiedene Informationen über gesellschaftliche Verhältnisse. Auf Grundlage dieser Informationen lassen sich die Veränderungen in den letzten 20 Jahren aus Sicht japanischer Verkäufer folgendermaßen zusammenfassen: (a) Multikulturalisierung in Düsseldorf, (b) Veränderung der japanischen Gesellschaft in Düsseldorf und (c) Einfluss der Internetverbreitung auf das Ein- und Verkaufen. Diese drei Punkte werden im Folgenden der genannten Reihenfolge entsprechend behandelt. 2.1 Multikulturalisierung in Düsseldorf Nach der Beobachtung von japanischen Verkäufern wird in Düsseldorf die japanische Kultur - wie z.B. japanisches Essen - nicht mehr einfach als exotisch und seltsam betrachtet, wie es vor 20 Jahren noch der Fall war. Es ist nicht mehr selten, dass deutsche Kunden in japanischen Geschäften versuchen, Japanisch zu sprechen, auch wenn das Sprachniveau je nach Person unterschiedlich ist. Laut den Verkäufern handelt es sich dabei um Japanischlernende, Japankenner oder Personen, die in Japan gewohnt haben. Früher, so die Verkäufer, war das Interesse an Japan gering und galt der traditionellen Kultur (etwa Bonsai), aber heutzutage interessieren sich Deutsche vermehrt für japanisches Essen, Mangas und Anime (Animationsfilme). Mangas und Anime üben sogar Einfluss auf das Einkaufen aus: Die Fans suchen und kaufen in Düsseldorf, was sie in Mangas bzw. Animationsfilmen kennengelernt haben, wie z.B. meron-pan (= Melonenbrot; süßes Brötchen mit Melonenmuster). Der Gesamteindruck der Verkäufer war, dass die so genannte „Japanerstraße“, die Immermannstraße, früher eine stark von Japanern geprägte Atmosphäre hatte, doch inzwischen hat sich die japanische Kultur mit dem 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 389 Stadtteil verbunden. Parallel dazu ist die Zahl der Kunden mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gestiegen, und die Stadt Düsseldorf selbst hat sich internationalisiert. Bezüglich der Internationalisierung und Multikulturalisierung stelle ich im Folgenden Daten aus dem Statistischen Jahrbuch Düsseldorf (1999, 2015) vor. Die Bevölkerungszahl von Düsseldorf betrug im Jahr 1998 568.400, darunter 100.909 Ausländer (Auswertung aus dem Einwohnermelderegister, mit Hauptwohnung gemeldete Personen: Statistisches Jahrbuch Düsseldorf, 1999). Bezogen auf den Herkunftskontinent stammten 77% dieser Ausländer aus Europa, 12% aus Asien, 8% aus Afrika, 2% aus Amerika und 0,1% aus Australien und Ozeanien. Asiaten waren insgesamt 12.501 Personen mit den fünf häufigsten Herkunftsländern Japan (37%), Iran (18%), Korea (6%), China (4%) und Indien (3%). Die Zahl der Japaner war damit eindeutig die größte unter den asiatischen Ausländern. Die meisten ausländischen Einwohner waren Türken, gefolgt von Griechen, Jugoslawen, Italienern, Marokkanern und Japanern auf der sechsten Position. Im Jahr 2015 hatte Düsseldorf 603.210 Einwohner, davon 126.388 Ausländer. Aus Europa stammten 72%, aus Asien 17%, aus Afrika 8%, aus Amerika 3% sowie aus Australien und Ozeanien 0,2%. Unter den Asiaten war der Anteil der Japaner 25%, Chinesen 14%, Iraner 10%, Inder 10% und Koreaner 6%. Die sechs größten Ausländergruppen waren Türken, Griechen, Polen, Italiener, Serben/ Montenegriner und Japaner als Rangsechste. Die Tendenz, dass die Anzahl ausländischer Besucher sowie die Vielfältigkeit ihrer Staatsangehörigkeit steigen, zeigt die Statistik der „Ankünfte und Übernachtungen in Beherbergungsstätten“ (1999, S. 146) bzw. der „Ankünfte und Übernachtungen nach dem ständigen Wohnsitz der Gäste 2014“. Beim Stand Ende 1998 betrugen die Ankünfte und Übernachtungen von ausländischen Gästen in Hotels, Hotel Garnis, Gasthöfen und Pensionen ca. 425.000. Die meisten Besucher kamen aus Großbritannien und Nordirland (14%), gefolgt von den Vereinigten Staaten (10%) und Japan (9%; ca. 37.100 Personen). Die Zahl der Ankünfte und Übernachtungen stieg auf ca. 2.650.000 beim Stand 2014 (2015, S. 187). 1 Unter dieser Gesamtzahl waren 35.500 Japaner, d.h. nur 1%; sie nahmen damit Rang 10 der Heimatländer ein. Im Vergleich zu 1998 hat Düsseldorf heute also viel mehr Gäste aus verschiedenen Ländern. Das ist der Hintergrund der Aussage japanischer Verkäufer, dass die Atmosphäre der Stadt im Vergleich zu früher kulturell vielfältig geworden sei. 1 Ich stelle hier einfach die Daten von 1998 und 2014 vor. Obwohl der Untersuchungsgegenstand bei den Daten von 1998 und 2014 nicht unbedingt identisch ist, lässt sich daraus schon die Tendenz ablesen. Uta Itakura 390 2.2 Veränderung der japanischen Gesellschaft in Düsseldorf Nach Angaben des Ministry of Foreign Affairs of Japan aus dem Jahr 1999 waren damals 23.202 Japaner in Deutschland ansässig. In Düsseldorf wohnten davon 6.091 - die größte japanische Gemeinde in Deutschland. Für 2015 nennt dieses Ministerium 42.205 in Deutschland wohnende Japaner, davon 7.038 in Düsseldorf. Düsseldorf bleibt die Stadt, in der die meisten Japaner in Deutschland wohnen. In dieser Stadt gibt es 384 japanische Betriebe (Stand 2015). Bemerkenswert ist, dass sich 139 von 296 vor Ort gegründeten japanischen Körperschaften in Bundesländern befinden, die zum Zuständigkeitsbereich des Japanischen Konsulats Düsseldorf gehören, und das bedeutet, dass auch viele Japaner in der Region wohnen. Die Informationen von japanischen Verkäufern über die Japaner in Düsseldorf können in zwei Punkte zusammengefasst werden: Der erste Punkt ist, dass die Zahl der Japaner in den Zwanzigern im Vergleich zu früher stieg, und der zweite Punkt ist, dass japanische große Banken und Großhandelsfirmen von Düsseldorf abgezogen sind und ihre Angestellten in den Vierzigern und Fünfzigern ebenfalls die Stadt verlassen haben. Stattdessen stieg die Zahl von Ingenieuren und Handwerkern. Außerdem können sich seit dem Jahr 2000 Japaner unter 29 Jahren mit dem so genannten Working-Holiday-Visum in Deutschland aufhalten. Bezüglich des ersten Punkts beträgt der Anteil von Zwanzigern 11,59%. Die Anteile anderer Generationen sind: Neunziger 0,06%, Achtziger 0,31%, Siebziger 2,5%, Sechziger 6,03%, Fünfziger 11,57%, Vierziger 22,08%, Dreißiger 22,6%, Zehner 10,06% und Jüngere 13,2% (Ministry of Foreign Affairs of Japan: 2016). Da eine Altersstatistik erst seit 2012 erhoben wird, ist es leider nicht möglich, die Äußerungen der Verkäufer zu den Veränderungen mittels Statistik zu belegen. Auch die Branchen der japanischen Betriebe in Düsseldorf werden erst seit einigen Jahren genau erfasst. Im Jahr 2015 gab es 606 japanische Betriebe im Bezirk des Japanischen Konsulats Düsseldorf, davon zehn aus der Finanz- und Versicherungsbranche. Den größten Anteil machen Gewerbe (270) aus, Großhandel und Einzelhandel (114), Beherbergung und Gastwirtschaft (53). Eine Statistik der Angestelltenzahlen je nach Branche war nicht zu finden. 2.3 Einfluss der Internetverbreitung auf das Ein- und Verkaufen Eine weitere Feststellung japanischer Verkäufer ist, dass die Entwicklung des Internets das Kundenverhalten geändert hat. Es gibt Kunden, vor allem Deutsche, die im Voraus die Waren recherchieren und das Geschäft besuchen, um eine bestimmte Ware zu kaufen. Bei der Untersuchung im Jahr 1998 wurde zwar bereits die Tendenz dargestellt, dass deutsche Kunden die Geschäfte mit Einkaufswillen betreten. Dies bedeutete damals jedoch z.B. 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 391 eine Tasche kaufen zu wollen und zielte nicht auf eine bestimmte Tasche beim ersten Besuch ab. 3. untersuchung 3.1 Methode Das Ziel der Untersuchung ist, die Verwendungstendenz von relativ neuen japanischen Formulierungen im Verkaufsgespräch in Düsseldorf und in Tokio zu vergleichen. Diese Formulierungen nennt man „Baito-kotoba (Teilzeitjob-Sprache)“ („Baito“ ist das verkürzte deutsche Wort „Arbeit“.). Obwohl sie grammatisch falsch sind oder nicht unbedingt als akzeptabel betrachtet werden, sind sie verbreitet, und daher sind sie in Japan ein umstrittenes Thema. Die Sprecher verwenden solche Formulierungen in dem Glauben, dass es sich um höfliche Formen handelt. Für die Befragung habe ich die Formulierungen gewählt, die in Kitahara (Hg.) (2004, 2005, 2007) beschrieben sind und beim Verkaufsgespräch verwendet werden. Ich habe die Gesprächsphase angenommen, der diese Formulierungen jeweils entsprechend sind, und habe sie mit anderen möglichen Formulierungen gemischt erfragt, damit die Verwendungstendenz der Formulierungen in der jeweiligen Phase deutlich wird. Bei der Formulierung wurde jeweils der Grad gefragt, in dem sie der Befragte im Alltag gehört hat bzw. hört. Gefragt war also weder grammatische Kenntnis noch persönliche Verwendungstendenz des Befragten. Für jede Formulierung konnte der Befragte eine der folgenden Antworten wählen: 1. Ich habe die Formulierung nie gehört. 2. Ich habe sie einige Male gehört. 3. Ich höre sie manchmal. 4. Ich höre sie häufig. 5. Ich höre sie immer. Die Fragebogenaktion mit Interviews wurde im August 2016 durchgeführt. Zielpersonen waren 21 japanische Verkäufer in Düsseldorf (mit einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten bis fast fünfzig Jahren) und 20 japanische Studierende in Tokio. Fünf der 21 Verkäufer haben keine Erfahrung, in anderen japanischen Geschäften in Düsseldorf etwas eingekauft zu haben. Deswegen fragte ich bei der Befragung nach ihrer Erfahrung in Japan. Für eine umfassende Untersuchung müsste der Kreis der Befragten nach Bedingungen wie der Geschäftsart, dem Alter etc. eingeschränkt werden, aber auch ohne die Einschränkung war es doch möglich, Antworten und Informationen auf Grund der Beobachtungen und Erfahrungen von Personen mit verschiedenem Hintergrund zu sammeln. Uta Itakura 392 3.2 Untersuchungsergebnisse Im Folgenden gehe ich auf die Formulierungen der Verkäufer in den jeweiligen Phasen des Verkaufsgesprächs ein. Untersucht wurden die Formulierungen aus Kitahara (Hg.) (2004, 2005, 2007), die dort als problematisch behandelt sind, und andere Formulierungen in der betreffenden Phase des Verkaufsgesprächs. Hinter der neutralen Formulierung schreibe ich hier eine deutsche Übersetzung. Die Ergebnisse der anderen Befragung, nämlich der gleichzeitig durchgeführten Interviews mittels des Fragebogens von 1998 (im Folgenden „Frageboten 1998/ 2016“ genannt), worin genauere Formulierungen von den Verkäufern selbst und den Kunden erfragt wurden, werden ebenfalls erwähnt. In Bezug auf den Inhalt wird in diesem Aufsatz nur auf die Formulierungen des Verkäufers fokussiert. <Frage 1> Formulierung, wenn Ihnen der Verkäufer die von Ihnen gewünschten Waren gebracht hat: (a) „(shōhin) no hō, o-mochi-shi-mashita.“ (b) „(shōhin) o o-mochi-shi-mashita.“ (Ich habe (die Ware) gebracht.) (c) „kochira (shōhin) ni nari-masu.“ (d) „(shōhin) de daijōbu desu ka.“ Die grammatisch richtige Formulierung (b) bedeutet „Ich habe die Ware gebracht“ in der höflichen Form. Die Anzahl der Antwort bei den Studierenden steigt von Nummer 1 bis 4 (der oben erwähnten Antwortmöglichkeiten) und vier von 18 Studierenden markieren die Nummer 5 „Ich höre die Formulierung immer“. Im Gegensatz dazu gibt es nur vier Verkäufer, die die Erfahrung haben, diese Formulierung in Düsseldorf gehört zu haben. Sogar sieben Verkäufer wählten Nummer 1, d.h. „nie gehört“. Sechs wiesen darauf hin, dass Formulierung (b) in Japan verwendet wird. Anders als in der Formulierung (b) ist in (a) „no hō“ hinzugefügt, womit der Gegenstand (die Ware) undeutlich wird, weil „hō“ eigentlich „Richtung“ bedeutet. Dadurch, dass der Sprecher den Gegenstand nicht direkt als Objekt benennt, wird seine Bescheidenheit ausgedrückt und er glaubt, dass er damit höflich spricht (Kitahara (Hg.) 2004). Jedoch ist „no hō“ in diesem Satz überflüssig, und Noguchi (2009) mahnt, die Verwendung resultiere in einem entgegengesetzten Ergebnis. Vier von 17 Studenten nahmen für die Formulierung (a) die Nummer 1 („nie gehört“), sechs die Nummer 2, zwei Nummer 3, fünf Nummer 4. Im Gegensatz dazu wählten drei Viertel der Verkäufer in Düsseldorf die Nummer 1. Der restliche Teil kreuzte 4 („Ich höre sie häufig“) an, und alle fügten Kommentare darüber hinzu, wer das sagt: jüngere Verkäufer Mitte Zwanzig und/ oder mit Working-Holiday-Status sowie diejenigen, die keine Joberfahrung in 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 393 Japan haben (wo bei Job-Beginn zum Teil geschult oder unter Anleitung gearbeitet wird). Interessant sind auch die Antworten von Verkäufern, die sich bei der Befragung das Verkaufsgespräch in Japan vorgestellt und angekreuzt haben: Diejenigen, die schon lang im Ausland ansässig sind, haben die Formulierung auch in Japan nicht gehört, während diejenigen, die neu nach Düsseldorf gekommen sind, die Formulierung in Japan gehört haben. Die Ergebnisse bei (a) und (b) zusammengefasst, ist die Verwendung von (a) schon in Tokio verbreitet, jedoch ist die Häufigkeit von (b) noch größer. Diejenigen, die die Formulierung (a) in Düsseldorf benutzen, können charakterisiert werden mit: Mitte Zwanzig, Working-Holiday-Aufenthalt, Job-Beginn erst in Düsseldorf. „Nari-masu“ in der Formulierung (c) ist die höfliche Form des Verbs „naru“. „Naru“ hat zwei Bedeutungen, nämlich „ein Gegenstand verändert sich“, also im Sinne von „werden“, und „es muss so werden, auch wenn es anders ist, als der Gesprächspartner vermutet hat“ (Kitahara (Hg.) 2004). Diese beiden Bedeutungen passen nicht zu der Formulierung (c) im Verkaufsgespräch. Im Fall der ersten Bedeutung müsste sich, wenn die Ware etwa eine Tasche ist, irgend etwas anderes in eine Tasche verwandeln. Im Fall der zweiten Bedeutung müsste der Verkäufer etwas vom Kunden Unerwartetes bringen, jedoch bringt er genau das Gewünschte. In beiden Fällen stimmt die Formulierung mit der Wirklichkeit nicht überein und verwirrt den Kunden. Statt „narimasu“ müsste „desu (= sein)“ oder dessen höfliche Form „de-gozaimasu“ gesagt werden, aber in der Gegenwart wird „de-gozaimasu“ tendenziell nicht benutzt. Statt dieses Wortes fügt man „naru“ in den Satz ein (Kitahara (Hg.) 2004, Noguchi 2013). Nach dem Nihongo Kizyutu Bunpō Kenkyūkai (2009) wird der Satz euphemistisch mittels der Formulierung, die die Erscheinung, die Absichtslosigkeit ausdrückt, und damit wird das höfliche Verhalten des Sprechers angezeigt. Auch erwähnt ist, dass man diese Formulierung bei der Kundenbedienung verwendet. Drei Viertel der befragten Studenten markierten Nummer 4 („Ich höre diese Formulierung häufig“) und Nummer 5 („Ich höre sie immer“), und nur eine Person wählte die Nummer 1 („Ich habe sie nie gehört“). Die Verkäufer haben hingegen ganz unterschiedlich geantwortet. Ein Verkäufer informierte, dass diese Formulierung von jungen Kollegen verwendet wird. Die Ergebnisse zeigen, dass die Formulierung (c) in Düsseldorf nicht so oft wie in Tokio verwendet wird, während sie in Japan schon allgemein verbreitet ist. Formulierung (d) „(shōhin) de daijōbu desu ka“ ist eine Variante von „… de yoroshii desu ka/ machigai arimasen ka“ im Sinne von „War es richtig? / Habe ich das Richtige gebracht? “. „Daijōbu“ bedeutet ursprünglich „sicher, zuver- Uta Itakura 394 lässig“, aber nach Digital Daijisen (2012) hat das Wort eine neue Verwendungsweise. Dieses Wort befindet sich manchmal in Entscheidungsfragesätzen und dessen Antwortsätzen, wo es im Sinne von Notwendigkeit, Möglichkeit oder Einverständnis verwendet ist. Bei der auf diesen Ausdruck bezüglichen Befragung entstand ein deutlicher Unterschied zwischen den Studenten in Tokio und den Verkäufern in Düsseldorf: Nur vier Verkäufer haben die Erfahrung, diesen Ausdruck gehört zu haben, während nur drei von 17 Studenten markierten, dass sie diesen Ausdruck niemals gehört haben. Den Informationen der Verkäufer nach verwenden ihn junge Kollegen, die Mitte Zwanzig und im Working Holiday sind. Interessant sind auch die Antworten von Verkäufern, die sich bei der Befragung das Verkaufsgespräch in Japan vorstellten: Diejenigen, die schon lang im Ausland wohnen, haben die Formulierung auch in Japan nicht gehört, während diejenigen, die erst seit kurzem in Düsseldorf als erstem Auslandsaufenthalt wohnen, die Formulierung in Japan gehört haben. <Frage 2> Angenommen, Sie kaufen Ware im Wert von 21 Euro/ 2.160 Yen (inkl. MwSt.) und geben dem Verkäufer einen 100-Euroschein/ einen 10.000-Yenschein. Formulierung des Verkäufers bei Entgegennahme des 100-Euroscheins/ des 10.000-Yenscheins: (a) „1-man-Yen chōdai-shi-masu.“ (Ich bekomme 10.000 Yen.) (b) „1-man-Yen o-azukari-shi-masu.“ (c) „1-man-Yen kara o-azukari-shi-masu.“ „chōdai-shi-masu“ in der Formulierung (a) ist eine verbindliche Form von „chōdai-suru“. „chōdai-suru“ bedeutet „bekommen“. Anders als „morau“, eine „bekommen“ bedeutende neutrale Form, enthält „chōdai-suru“ die Funktion, dass die Position des Gesprächspartners relativ erhöht wird, indem der Sprecher mittels diesem Ausdruck die eigene Position senkt. Das Ergebnis war eindeutig: In Japan hört man diese Formulierung im Alltag, hingegen hört man sie in Düsseldorf wenig. Nur ein Viertel der Verkäufer hat diesen Ausdruck in Düsseldorf gehört, während drei Viertel der Studierenden Nummer 3 („Ich höre diese Formulierung manchmal“) und Nummer 4 („Ich höre sie häufig“) wählten. In (b) ist der Ausdruck „azukaru (= aufbewahren)“ semantisch nicht passend. Der Kunde lässt das Geld nicht aufbewahren, sondern bezahlt mit Geld, und der Verkäufer bewahrt es nicht auf. Trotz dieses Problems kreuzte keiner der Studierenden die Nummer 1 („Ich habe diese Formulierung nie gehört“) an. Der größte Teil der Antworten entfiel auf Nummer 5 („Ich höre sie immer“) gefolgt von 4 („Ich höre sie häufig“) und von 3 („Ich höre sie manchmal“). Daher kann man sagen, dass dieser Ausdruck in Japan in der Regel benutzt wird. Im Gegensatz zu der Neigung bei den Studenten hatte die größte Ant- 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 395 wortzahl bei den Verkäufern die Nummer 3, gefolgt von den Nummern 4 und 5. Die Formulierung (b) verwendet man in Düsseldorf demnach nicht so oft wie in Tokio. Die Formulierung (c) hat außer dem bei der Formulierung (b) erwähnten „azukaru“ noch einen zu beachtenden Punkt, nämlich „kara (= von … aus)“. Man könnte den Satz (c) als „Ich bekomme 2.160 Yen von 10.000 Yen“ interpretieren, aber nach Kitahara (Hg.) (2005) hört man in Japan schon „1.000 Yen chōdo kara o-azukari-shimasu (= von genau 10.000 Yen aus bewahre ich auf)“. Unter den Studierenden war keiner und unter den Verkäufern nur einer, der diese Formulierung noch nie gehört hat. Angemerkt wurde, dass man sie schon in Düsseldorf hört und dass die Sprecher „jung“, „Jobanfänger ohne Erfahrung in Japan“, „im Working Holiday“ sind. Die Informanten selbst wurden in Japan belehrt, dass diese Formulierung nicht richtig ist. Im Fragebogen 1998/ 2016 stehen drei Fragen bezüglich der Formulierung beim Geldbekommen: „Wenn Sie vom Kunden das Geld nehmen, sagen Sie etwas zu ihm? “, „Wenn Sie einen 100-Euroschein/ 10.000-Yenschein für die Ware im Wert von 21 Euro/ 2.100 Yen (und MwSt.) nehmen, sagen Sie etwas zum Kunden? “ und „Wenn Sie das Geld passend nehmen, sagen Sie etwas zum Kunden? “. Keiner in Düsseldorf nannte „kara o-azukari shimasu“. <Frage 3> Formulierung, mit der die Verkäufer das Wechselgeld herausgeben: (a) „O-tsuri wa 7.840 Yen desu.“ (Das Wechselgeld beträgt 7.840 Yen.) (b) „O-tsuri wa 7.840 Yen de-gozaimasu.“ (c) „O-tsuri no hō wa 7.840 Yen desu.“ (d) „7.840 Yen no o-tsuri ni nari-masu.“ Das Wort „gozaimasu“ in Satz (b) ist eine höfliche Form von „desu (= sein)“ in Satz (a). Diese beiden Formulierungen sind grammatisch richtig. Hingegen enthält (c) den bei der <Frage 1 (a)> erwähnten Ausdruck „no hō“, und (d) das bei der <Frage 1 (c)> erwähnte „ni naru“. Im Vergleich zum Ergebnis bei (a) entsteht ein deutlicher Unterschied zwischen dem Ergebnis bei den Studenten und dem bei den Verkäufern. Die meisten Verkäufer meinten, dass sie den Ausdruck (b) niemals in Düsseldorf hörten, während drei Viertel der Studenten den Ausdruck hörten, sogar ein Drittel davon „immer“. Bezüglich der Formulierungen (c) und (d) zeigten beide Gruppen ungefähr die gleiche Tendenz: Bei (c) ist die Zahl der Antworten mit Nummer 1 („nie gehört“) am größten, gefolgt von 2 („einige Mal gehört“), 3 („manchmal“), 4 („häufig“). Jedoch war das Verhältnis der Antworten je nach Gruppe unterschiedlich. In Düsseldorf kreuzten 62% die Nummer 1 an, 23% die 2; hingegen entschieden sich in Tokio 41% für die Nummer 1 und 35% für die Nummer 2. Die Formulierung ist demzufolge eher in Japan zu hören. Nebenbei bemerkt Uta Itakura 396 hat kein Verkäufer in Düsseldorf beim Fragebogen 1998/ 2016 diese Formulierung genannt. Die meisten Befragten beider Gruppen kreuzten die Nummern 3 bis 5 für den Ausdruck (d) an, und zwar 79% der Verkäufer und 94% der Studierenden. Von den Studierenden wurde die Nummer 5 am meisten genannt, nämlich von 41%. Hingegen entfiel der restliche Anteil bei den Verkäufern auf die Nummer 1, also „nie gehört“. Dies zeigt, dass diese Formulierung auch eher in Japan verwendet wird. 2 <Frage 4> Sie bezahlen mit der Kreditkarte. Formulierung, wenn der Verkäufer Ihre Karte entgegennimmt: (a) „Kādo o o-azukari-shi-masu.“ (= Ich bewahre Ihre Karte auf.) (b) „Kādo no hō o-azukari-shi-masu.“ Wie bei der <Frage 2> erwähnt, bedeutet das Wort „azukaru“ „aufbewahren“. Anders als bei <Frage 2> entspricht dessen Verwendung hier jedoch dem Verhalten des Verkäufers. Daher ist die Formulierung (a) ein Standard in dieser Szene. Über die Hälfte der Studenten kreuzte die Nummer 4 („Ich höre diese Formulierung häufig“) an. Bei den Verkäufern verteilten sich die Antworten auf alle Nummern gleichmäßig. Die Formulierung (b) enthält das schon bei <Frage 1> und <Frage 3> erwähnte überflüssige Wort „no hō“ in der Absicht, den Gegenstand „Karte“ nicht direkt anzuzeigen. Die Tendenz der Antworten ist je nach Gruppe unterschiedlich. Der größte Teil der Studenten (6/ 15) wählte die Nummer 4 („Ich höre diese Formulierung häufig“), und nur drei Studenten nannten Nummer 1 („nie gehört“). Hingegen haben zwei Drittel der Verkäufer in Düsseldorf diese Formulierung „nie gehört“. Eine Verkäuferin, die diese Formulierung in Düsseldorf schon gehört hat, meinte, sie wisse, dass diese Formulierung grammatisch nicht richtig ist; wenn sie sie jedoch höre, vermute sie, dass man in Japan heutzutage vielleicht so sage und sei geneigt, sie zu verwenden. Möglicherweise versuchen also diejenigen, die lange im Ausland sind, die in Japan verwendeten Formulierungen nachzuahmen. Bei den Interviews beschrieb jedoch kein Verkäufer in Düsseldorf die Formulierung (b) als die eigene. <Frage 5> Sie bezahlen mit der Kreditkarte. Formulierung, wenn der Verkäufer Ihre Unterschrift verlangt: (a) o-namae o itadake-masu ka.“ (Kann ich Ihren Namen bekommen? ) (b) „o-namae o o-negai-shi-masu.“ (Ich bitte Sie um Ihren Namen.) (c) „o-namae-sama o o-negai-shi-masu.“ (d) „go-shomei o-negai-shi-masu.“ (Ich bitte Sie um Ihre Unterschrift.) (e) „sain o o-negai-shi-masu.“ 2 Bei der Befragung 1998/ 2016 schrieben die Verkäufer in Düsseldorf als konkrete Formulierung für das Wort Wechselgeld nicht „o-tsuri“, sondern „o-kaeshi“. 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 397 (a) bis (e) sind jeweils die Formulierungen, mit denen die Kundenunterschrift erbeten wird. „o-namae“ in den Äußerungen (a) bis (c) besteht aus dem Substantiv „namae (= Name)“ und dem Präfix „o“ und ist eine richtige Formulierung. 3 Bei (a) ist das Wort „itadaku (= bekommen)“ der Situation nicht entsprechend. 4 Wörtlich interpretiert müsste die Formulierung (a) bedeuten, dass der Verkäufer den Namen des Kunden erhält, jedoch wird sie im Sinne des Unterschriftverlangens benutzt. Trotz dieses Bedeutungsunterschieds machten drei Viertel der befragten Studierenden die Erfahrung, diese Formulierung gehört zu haben. In Düsseldorf antworteten die meisten Verkäufer (80%), dass sie dort die Formulierung (a) nie gehört haben. Die Antworten der Studierenden reichten von Wahlnummer 2 bis 5. Dabei fand sich der größte Anteil der Antworten bei der Nummer 3 („Ich höre diese Formulierung manchmal“). Die grammatisch richtige Formulierung von (b) wäre „o-namae o kaku no o o-negai-shi-masu. (Ich bitte Sie darum, Ihren Namen zu schreiben.)“ Bei dieser Formulierung entstanden bei den zwei Gruppen unterschiedliche Ergebnisse. Die meisten Studenten wählten Nummer 4 („Ich höre diese Formulierung häufig“), die meisten Verkäufer hingegen die Nummer 1 („Ich habe sie nie gehört“). Die Verkäufer, die vor weniger als einem Jahr aus Japan nach Düsseldorf kamen und die zur Situation in Japan antworteten, kreuzten auch Nummer 4 und 3 an, hingegen wählten die Verkäufer die Nummer 1, die schon mehrere Jahre nicht in Japan ansässig sind, jedoch zur Situation in Japan antworteten. Diese Formulierung ist also in Japan heutzutage zu hören. „O-namae-sama“ in der Formulierung (c) ist grammatisch falsch. „sama“ ist eine höfliche Form von „san“, die angefügt wird an Personennamen - wie z.B. „Stickel-sama (Herr Stickel)“ - oder an ein personenzeigendes Wort wie „o-kyaku-sama (Herr Kunde/ Frau Kundin)“. In (c) ist „sama“ jedoch einem nicht personenzeigenden Wort zugefügt, weshalb „o-namae-sama“ grammatisch nicht richtig ist. In Bezug auf (c) antworteten fast alle Befragten beider Gruppen, dass sie sie nie gehört haben. Das heißt, diese Formulierung ist noch nicht allgemein verbreitet. Die Varianten (d) und (e) unterscheiden sich nur in einem Wort, nämlich „goshomei“ und „sain“, der Unterschrift. Die Antworten der Studierenden hatten folgende Tendenz: Bei (d) war die Hälfte der Antworten die Nummer 4 („Ich höre die Formulierung häufig“), und das war der größte Anteil der Antworten, gefolgt von den Nummern 3 und 5. Bei (e) war der größte Anteil bei Nummer 3 Um die Höflichkeit gegenüber dem Gesprächspartner zu zeigen, fügt man dem Substantiv das Präfix „o“ zu, das den Gegenstand zeigt, der dem Gesprächspartner gehört. 4 „Itadaku“ bedeutet „bekommen“ mit derselben Funktion von „chōdai-suru“ (siehe <Frage 2>). Mit dem Wort „itadaku“ senkt der Sprecher seine eigene Position, sodass die Position des Gesprächspartners relativ erhöht wird. Uta Itakura 398 5, gefolgt von Nummer 4. In Düsseldorf meinte über die Hälfte der Verkäufer, dass sie (d) nie gehört haben, und bei (e) wählten zwei Drittel die Nummer 4 und die Nummer 5 („Ich höre die Formulierung immer“). In Düsseldorf hört man demzufolge deutlich öfter das Lehnwort „sain (= Sign)“ als das japanische Wort „shomei“ mit dem funktionell verbindlichen Präfix „go-“. <Frage 6> Formulierung, wenn der Verkäufer Ihnen die Karte zurückgibt: (a) „Kādo o o-kaeshi-shi-masu.“ (Ich gebe Ihnen die Karte zurück.) (b) „Kādo no hō o-kaeshi-shi-masu.“ (c) „Kādo o arigatō-gozaimashi-ta.“ <Frage 6> bezieht sich auf den Ausdruck bei der Rückgabe der Kreditkarte. Die Formulierung (a) ist angemessen und auch grammatisch richtig. Sie ist eine höfliche Formulierung von „Kādo o kaesu (Ich gebe die Karte zurück)“. 15 von 16 Studenten nannten Nummern zwischen 3 („Ich höre sie manchmal“) und 5 („Ich höre sie immer“). In Düsseldorf kreuzten jeweils etwa ein Drittel die Nummer 4 („Ich höre sie häufig“) und die Nummer 1 („Ich habe sie nie gehört“) an. In Kommentaren wiesen diejenigen, die die Formulierung nie gehört haben, darauf hin, dass man sie in Japan hört. Dem Wort „kādo (= Karte)“ ist bei (b) das Wort „no hō“ zugefügt. Wie oben bei <Frage 1a>, <3c> und <4b> erklärt, vermeidet man mittels „no hō“, den Gegenstand direkt anzuzeigen. Der größte Anteil der Antworten der Studenten konzentrierte sich auf die Nummer 4, gefolgt gleichermaßen von Nummer 3 und Nummer 5. Diese drei Nummern umfassen zwei Drittel der Antworten. In Düsseldorf erhielt die Nummer 1 die meisten Antworten. Die zweithäufigste Antwort war die Nummer 2 („Ich habe sie einige Male gehört“). Das restliche Drittel verteilte sich auf die Nummern 4 und 5. Die Aufenthaltsdauer derjenigen, die die Formulierung (b) mit „no hō“ nie gehört haben, ist länger als die von Verkäufern, die die Nummer 4 bzw. 5 ankreuzten. In Düsseldorf scheint diese Formulierung also noch nicht so verbreitet wie in Tokio. In der Tat nannte sie keiner der Verkäufer beim Interview mittels Fragebogen 1998/ 2016. Für die mit einem Dankeswort formulierte Version (c) nannte der größte Anteil der beiden Gruppen die Nummer 1 („Ich habe sie nie gehört“). <Frage 7> Formulierung, wenn der Verkäufer Ihnen die Ware gibt: (a) „kochira ga (shinamono) ni nari-masu.“ (b) „kochira ga (shinamono) desu.“ (Das ist die Ware.) Die grammatisch richtige Formulierung ist (b). Bei (b) war die größte Zahl der Antworten (acht von 18 Studenten) bei Nummer 3 („Ich höre sie manchmal“), gefolgt von vier Antworten bei Nummer 4 („Ich höre sie häufig“). Die Version (a) ist - wie bei <Frage 1c> und <Frage 3d> erwähnt - eine verbindliche Formulierung von „ni naru“ und nicht angemessen. Jedoch ist hier die Tendenz 20 Jahre danach: Soziale Veränderung und sprachliche Verbreitung 399 noch deutlicher: sieben von 17 bei der Nummer 4 und sechs bei Nummer 5 („Ich höre sie immer“), und kein Student wählte die Nummer 1 („nie gehört“). Diese Ergebnisse deuten an, dass die Formulierung (a) in Japan im Allgemeinen öfter verwendet wird als die grammatisch richtige (b). In Bezug auf die beiden Formulierungen ergibt sich bei den Verkäufern ein ebenfalls deutliches Bild. Bezüglich der normalen Formulierung (b) steht bei ihnen die Nummer 1 („nie gehört“) mit der Hälfte der Antworten an erster Stelle. Für die Formulierung (a) wurde die Nummer 4 („manchmal gehört“) am meisten gewählt und die Anzahl der Antworten für die Nummern 3, 4 und 5 betragen zwei Drittel der Antworten. Interessant waren hier die Anmerkungen der Verkäufer: Diejenigen, die die Formulierung (a) in Düsseldorf nie gehört haben, meinen, dass sie (a) in Japan sehr oft hören. Laut den Verkäufern, die (a) manchmal hören, sagen junge Verkäufer (a). Die Befragten selbst vermeiden diese Formulierung, weil sie beim früheren Jobben in Japan über das sprachliche Verhalten belehrt wurden. 4. zusammenfassung Die Untersuchung für diese Abhandlung wurde in sehr kleinen Gruppen durchgeführt, jedoch zeigte sie den Zustand der sozialen Veränderung im Verlauf der Zeit und dementsprechend neue Tendenzen der Sprachverwendung. Die sozialen Veränderungen in Düsseldorf während der vergangenen 20 Jahre waren japanischen Verkäufern nach vor allem die Multikulturalisierung der Stadt, die Veränderung der dortigen japanischen Gesellschaft und der Einfluss der Internetverbreitung auf das Ein- und Verkaufen. Der Sprachgebrauch im Heimatland und in der Gemeinde im Ausland sollte sich im Allgemeinen unterschiedlich entwickeln. Dies bestätigte sich in der Untersuchung angesichts der unterschiedlichen Tendenzen in Tokio und Düsseldorf bezüglich des Gebrauchs derjenigen Formulierungen beim Ein- und Verkaufen, die neuerdings in Japan verwendet werden. Die vergangenen beiden Jahrzehnte waren jedoch auch geprägt von der fortschreitenden Globalisierung mit einer Zunahme des Verkehrs zwischen Ländern sowie einer deutlich größeren Mobilität der Menschen, besonders der der jungen Generation. Diese junge Generation spielt eine große Rolle dafür, dass sich neuer Sprachgebrauch in Japan in den japanischen Gemeinden im Ausland verbreitet. 5. literatur Amt für Statistik und Wahlen der Landeshauptstadt Düsseldorf (1999, 2015): Statistisches Jahrbuch Düsseldorf. Düsseldorf. Digital Daijisen (2012): Shogakukan. https: / / kotobank.jp/ dictionary/ daijisen (Stand: Oktober 2016). Uta Itakura 400 Itakura, Uta (2003): Sprachliche Konventionen des Gebens und Nehmens und ihre sozialen Bedingungen im Deutschen und Japanischen. Ein Vergleich des sprachlichen Verhaltens der Deutschen und Japaner bem Ein- und Verkaufen. Mannheim. Kitahara, Yasuo (Hg.) (2004): Mondai na nihongo. Tokio. Kitahara, Yasuo (Hg.) (2005): Zokudan! Mondai na nihongo. Bd. 2. Tokio. Kitahara, Yasuo (Hg.) (2007): Mondai na nihongo. Bd. 3. Tokio. Ministry of Foreign Affairs of Japan (1998, 2016): Annual report of statistics on Japanese nationals overseas. www.mofa.go.jp/ mofaj/ toko/ page22_000043.html (Stand: Januar 2017). Nihongo Kizyutu Bunpō Kenkyūkai (2009): Gendai nihongo bunpō 7. Tokio. Noguchi, Keiko (2009): Baka-teinei-ka suru nihongo. Keigo komyunikēshon no yukue. Tokio. Noguchi, Keiko (2013): Shitsurei-na keigo. Goyō-rei kara manabu, tadashii tsukaikata. Tokio. JacQuELinE kubcZak welchen eInfluss haBen werBeslogans auf DIe Deutsche sprache? 1. einleitung Werbeslogans sollen auffallen und einem im Gedächtnis haften bleiben! Sie schaffen es z.B. durch eine eingängige Reimstruktur (Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso), durch eine ungewöhnliche semantische Opposition (Ariel wäscht nicht nur sauber sondern rein) oder durch rhetorische Figuren (genial einfach - einfach Genial: Werbung für Bosch). In den letzten Jahren wird in den Medien und in der Werbung mit Sprüchen gearbeitet, die die anerkannte Grammatik außer Kraft setzen. In unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert sind Slogans wie „Hier werden Sie geholfen! “, „Lebst du schon oder wohnst du noch? “, „das König der Biere“, „So geht Bank heute“ und noch viele mehr. In diesem Beitrag möchte ich die Geschichte einiger solcher Werbesprüche nachvollziehen und schauen, ob sie als Muster in die Allgemeinsprache eingegangen sind. Die Werbesprüche, die hier präsentiert werden, widersprechen in unterschiedlichen Weisen anerkannten grammatischen Gepflogenheiten. Dargestellt werden folgende Slogans bzw. Werbesprüche: Hier werden Sie geholfen! Lebst du schon oder wohnst du noch? So geht Bank heute 1 2. hier werden sie geholfen! Verona Feldbusch-Pooth machte schon Ende der 1990er Jahre diesen Slogan der Telefonauskunft von Telegate (11880) berühmt. Verona Feldbusch-Pooth wurde zweisprachig - deutsch-spanisch - erzogen (wie sie selbst sagt) und in diesem Slogan wird geschickt mit einer Interferenz aus den romanischen Sprachen, hier speziell aus dem Spanischen, gespielt. Die Person, der geholfen wird, wird in den romanischen Sprachen mit Hilfe eines direkten Objekts 1 Ein ähnlicher Spruch Er kann Kanzler wurde ausführlich in Kubczak (2014) dargestellt. Diese Struktur scheint wohl schon den Weg in die Alltagssprache gefunden zu haben. In einem Gespräch während einer Geburtstagsfeier hörte ich zwei ältere Damen ganz ungezwungen und ohne Ironie über Staubsaugerroboter sprechen: „Kann er auch Teppiche? “ - „Ja, er kann Teppiche, er kann sogar Ecken! “. Jacqueline Kubczak 402 dargestellt, nicht durch ein Dativobjekt wie im Deutschen. Ersetzt man das Dativobjekt des Verbs helfen durch ein grammatisch fehlerhaftes Akkusativobjekt, wird ein volles werden-Passiv ermöglicht, das beim deutschen Verb helfen eigentlich nicht erlaubt ist. Gestützt wird dieses regelwidrige Passiv auch durch die semantische Nähe zum Verb unterstützen, dessen regelkonformes Passiv Hier werden Sie unterstützt lautet. Der Werbespruch wird seit seiner Entstehung sehr häufig verwendet: Es finden sich 156.800 Treffer für „werden Sie geholfen“ im WWW (Google-Suche August 2016), und auch im DeReKo 2 finden sich circa 300 Treffer. Schaut man sich aber die Treffer in DeReKo genauer an, so fällt auf, dass die Wendung meist in Anführungszeichen steht, also zitiert wird, wie z.B. in diesem Beleg: Das Verona-Feldbusch-Credo „Hier werden Sie geholfen“ ist out, der Hyper-Trend heißt: Wer auf Hilfe hofft, dem ist nicht zu helfen. (die tageszeitung, 26.5.2000, S. 28). Nur circa 50 Treffer werden nicht als direktes Zitat markiert. Allerdings wird auch hier meist indirekt auf den Zitat-Charakter abgehoben, und der Sprecher/ Schreiber zeigt, dass er wohl weiß, dass der Satz falsch ist, wie z.B. in den folgenden Belegen: (1) Man sieht auch, dass Sie mittlerweile kapiert haben, worum es geht. Wir sind sehr erfreut darüber. Sie sehen: Hier werden Sie geholfen. (Beifall und Heiterkeit bei der SPD) (Protokoll der Sitzung des Parlaments Landtag Rheinland-Pfalz am 11.12.2008. 58. Sitzung der 15. Wahlperiode 2006-2011. Plenarprotokoll, Mainz am Rhein, 2008) (2) Gehören Sie auch zu denen, die manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen? Kommen Sie nach Cochem, da werden Sie geholfen. Nein, nicht von Verona. Die Verwaltung selbst sorgt dafür, dass kräftig abgeholzt wird. (Rhein-Zeitung, 29.1.2000; Meinung) 3 Oder es handelt sich in den Belegen um Ankündigungen von Vorträgen bzw. Hinweise auf einen Auskunft-Service, die sich geschickt dem Werbeslogan für Telegate anschließen: Getreu dem Veranstaltungsmotto: Haben Sie Diabetes? Hier werden Sie geholfen! (Rhein-Zeitung, 14.10.2000) und noch direkter: 115 - hier werden Sie geholfen. Auf der Computermesse Cebit wird eine einheitliche Behörden- Servicenummer vorgestellt. (Berliner Zeitung, 8.3.2007, S. 11) Sehr selten (4 Treffer) sind Belege, in denen weder Ironie noch Zitat-Charakter zu entdecken sind: (3) Sie haben einen stressgeplagten Menschen an Ihrer Seite und wissen noch nicht, was Sie ihm zum Geburtstag oder gar zu Weihnachten schenken. Jetzt werden Sie geholfen: Wie wäre es mit einer Terminkette. (Nordkurier, 15.4.2015, S. 15) 2 DeReKo: Das deutsche Referenzkorpus = Korpora geschriebener Gegenwartssprache des IDS. 3 Hervorhebungen von mir. Welchen Einfluss haben Werbeslogans auf die deutsche Sprache? 403 (4) Für all jene, die bislang nur laut zeterten, gibt es jetzt die Reklamationszentrale Schweiz. Dort werden Sie geholfen, wenn Sie Ihre Beschwerde loswerden wollen, und zwar per Telefon. (St. Galler Tagblatt, 5.10.2012, S. 9) Es scheint, dass, trotz großen Bekanntheitsgrades dieses fehlerhafte Passiv (noch? ) keinen Eingang in die Allgemeinsprache gefunden, sondern den Zitatcharakter beibehalten hat. Man kann wohl Hundt (2009, S. 127) beipflichten, wenn er sinngemäß schreibt, dass auch wenn eine Wendung durch zunehmende Frequenz des Gebrauchs vertrauter erscheint, die Zunahme der Frequenz nicht zur Akzeptabilisierung der Regelverletzung führt, „wenn die Regelverletzung ganz offenkundig ist und auch von sprachlichen Otto-Normalverbrauchern erkannt wird“. Was offensichtlich der Fall ist bei hier werden Sie geholfen! Das Bewusstsein bei „Otto-Normalsprecher“; dass eine leicht erkennbare Verletzung der grammatischen Gepflogenheiten vorliegt, ist wahrscheinlich der Grund, warum ein anderer grammatikalisch falscher Satz Ich verspreche es ihn, 4 der zwar nicht Teil eines Werbeslogans ist, sondern von Uwe Hinrichs (2016, S. 2) als ein Beispiel für den Einfluss von Migrantensprache auf das Deutsche angeführt wird, weder in DeReKo noch im WWW Spuren hinterlassen hat! [DeReKo „verspreche es ihn/ dich“: ⌀ Vorkommen]. Im WWW gab es nur 2 Belege. Ein Beleg stammte aus der PDF-Fassung des Vortrags von Hinrichs und der zweite Beleg aus seinem Buch „Multi Kulti Deutsch“. 3. lebst du schon oder wohnst du noch? 2002 wartete der Ikea-Katalog mit dem genialen Spruch auf Lebst du schon oder wohnst du noch? , in dem das Verb leben, da es hier ohne Komplemente gebraucht wird, i.S.v. „sein Leben genießen, bewusst gestalten“ verstanden werden soll. 5 Dieses Verb leben wird einem Verb wohnen gegenübergestellt, das hier regelwidrig einwertig gebraucht wird. Nach der anerkannten Grammatik ist das Verb wohnen aber zweiwertig. Es braucht entweder ein situatives Objekt oder ein Objekt der Art und Weise (man wohnt irgendwo z.B. in Mannheim bzw. irgendwie z.B. schön). Da wohnen im Werbespruch ohne ein zweites Objekt erscheint, muss der Leser/ Hörer seine Fantasie bemühen, und sich ein „schieres Wohnen“ vorstellen, ohne das etwas über den Ort (wo), oder die Art und Weise gesagt wird (wie), ein schieres „wohnhaft sein“ also, das in Opposition zu dem positiv besetzten „das Leben genießen, bzw. sein Leben bewusst gestalten“ steht. Genial! 4 Das gilt sicher auch für den berühmten Satz des Fußballtrainers Trapattoni: „Ich habe fertig! “. 5 Siehe Sublemma ‘leben 4’ aus dem Artikel LEBEN in E-VALBU (Kubczak 2011). Jacqueline Kubczak 404 Das Muster dieses Werbespruchs hat Schule gemacht: Seit 2002 gibt es in DeReKo 719 Belege für dieses Muster. Hier ein paar Beispiele aus den letzten Jahren: (5) „Googelst du noch oder blätterst du schon? “ (Nordkurier, 24.11.2010) (6) „Es muss heißen: Bedenkst du noch, oder erlässt du schon, aber nicht anders herum.“ (Protokoll der Sitzung des Parlaments Landtag Schleswig-Holstein, 25.2.11) (7) Schaust du noch oder blickst du schon? (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Jugendsonntag, Wikipedia, 2011) (8) Imitierst du noch, oder erfindest du schon? (Die Zeit (Online-Ausgabe), 6.9.2012; Nach dem Wischen) (9) Lernst du noch oder sonnst du schon? (Mannheimer Morgen, 17.1.2013, S. 17) (10) Jammerst du noch, oder machst du schon? (Die Zeit (Online-Ausgabe), 16.10.2014; Schluss mit Tschakka) (11) „Zitierst du noch oder bearbeitest du schon? “ (Die Zeit, 3.6.2015, S. 7) In allen diesen Beispielen fehlen bei mindestens einem der beiden Verben die obligatorischen Komplemente. Das Muster des Werbeslogans scheint auf dem Weg, in die Allgemeinsprache einzugehen: Es gibt eine große Variationsbreite bei den benutzten Verben. Auch die Lebensbereiche, in denen das Muster verwendet wird, sind vielfältig. Gestützt wird das Muster dadurch, dass es eine Möglichkeit aufnimmt, die die deutsche Sprache im Prinzip bereit hält (nur nicht für alle Verben): Die Möglichkeit, ein Verb absolut zu gebrauchen, wie z.B. lernen: Lernst Du noch! oder beobachten und feststellen: Der Verfassungsschutz kritisiert nicht, sondern beobachtet und stellt fest; Wissenschaftler auch. (Wikipedia, 2011: Diskussion: Studentenverbindung/ Archiv/ 2009). Ein bestehendes Muster wird einfach auf Bereiche, in denen es nach den akzeptierten Regeln der Grammatik keine Anwendung findet, ausgedehnt und beflügelt so die Fantasie der Leser/ Hörer. 4. so geht Bank heute! Die Auffälligkeit dieses Slogans und seiner Struktur ist schwieriger zu erfassen. Aber vorerst ein kleiner Einblick in die Geschichte und auf den Verbreitungsgrad des Werbespruchs. Der Anfang des Siegeszugs von So geht Bank heute! ist klar festzumachen: Die Belege in DeReKo und im WWW fangen 2009 an. Werbespezialisten prägten diesen Werbespruch für die Citybank (jetzt Targo Bank). Dieser Satz wird inzwischen variiert, ein Zeichen, dass sich seine Struktur einen Weg in die Allgemeinsprache bahnt. Die Variation zeigt sich zum einen darin, dass das Verb ausgetauscht werden kann. Neben gehen findet man auch müssen und sollen und z.B. sogar schmecken. Welchen Einfluss haben Werbeslogans auf die deutsche Sprache? 405 (12) Soo! muss Technik. (Werbeslogan Saturn: seit dem 5.12.2011) (13) Danke für das Gespräch mit Frau Direktor Bergmann - „so soll Sonntag“ (profil, 22.5.2015, S. 6, 7, 8) (14) So schmeckt himmlisch. (RTL, 24.2.14) [Werbung für Yogurette.] Zum anderen betrifft die Variation den Bereich desjenigen, von dem behauptet wird, dass es „so ginge/ müsse/ solle/ schmecke“ u.Ä.: (15) So geht Steuererklärung heute, clever, günstig, bequem! (www.xing.com, 2.12.2013); (16) So muss Haushalt. (www.kommune21.de, 23.3.2014) (17) So muß Frühling. (www.lokalkompass.de, 23.3.2014) (18) So geht Mindestlohn: 70 000 Dollar im Jahr. (Nürnberger Nachrichten, 17.4.2015, S. 1) (19) So geht Fleisch. Für Profis, Hobbyköche und leidenschaftliche Tieresser: Mit diesen Küchenhelfern gelingt die Zubereitung von saftigen Braten, rosafarbenen Steaks oder zarten Buletten. (FOCUS, 17.1.2015, S. 114) (20) Die überarbeitete Gear S hat ein gebogenes Display und einen Internetzugang per SIM-Karte, ist also nicht nur Fitness-Tracker, sondern auch Telefon und Navi. Fazit: So geht Zukunft, allerdings recht klobig und mit schwacher Akku-Leistung. (FOCUS, 31.1.2015, S. 128-129) (21) so geht Zeitung. (Die Zeit, 5.2.2015, S. 10) (22) So geht Standort. (Mannheimer Morgen, 3.3.2015, S. 21) Der Gebrauch des Musters so geht/ muss/ soll/ schmeckt/ … x, wobei das Substantiv, das die Stelle von X einnimmt, artikellos erscheint, hat genauso wie der Gebrauch des Musters von wohnst du noch oder lebst du schon stark um sich gegriffen. Ein Indiz für die zunehmende Kraft dieser Struktur hat sich schon bei der Suche nach Beispielen für diesen Beitrag gezeigt. Gab es in den Jahrgängen 2010/ 2011 in DeReKo nur wenige Beispiele für diese Struktur, so sind sie im Jahrgang 2015 in Fülle vorhanden (schon über 70 verschiedenartige Beispiele für das erste Halbjahr 2015). Ebenso interessant ist die Feststellung, dass auch die regelkonformen Beispiele für das Muster so geht x (artikellos) in den jüngsten Jahrgängen (2014/ 2015) explosionsartig vermehrt auftreten. Ein weiteres Indiz für die Kraft der Struktur dieses Slogans ist die Erweiterung der Wortklassen, mit deren Hilfe auf dasjenige, das so geht/ soll/ schmeckt usw. Bezug genommen wird. Waren es am Anfang nur Substantive, sind es inzwischen auch Adjektive, die diese Funktion erfüllen können, wie z.B. So geht günstig (Werbeslogan für Ford) oder wie in dem Beleg: Seit einigen Monaten wirbt die Firma mit ihrem Online-Putz-Service. Ihre Slogans springen einem entgegen, bei Facebook, im Fitnessstudio. „Du trainierst. Helpling putzt“, heißt es dort, oder „So einfach geht sauber“ (Süddeutsche Zeitung, 27.9.2014, S. 25). Jacqueline Kubczak 406 Diese Ausdrucksweise erregt stark die Gemüter, wie ein Blick in Internetforen zeigt. (23) „So geht Bank heute“, behauptet eine Bank. Doch wohin geht? Was macht Bank? Die Menschen gehen weniger Bank, gehen lieber online. Ist das Wunder? Wenn heute so sprechen. Wenn Bank so geht wie spricht, will ich dort auch nicht hin. (www. sprachgedanken.de/ aufgeschnappt, 18.4.2013) Und aus einem anderen Forum: (24) Teilnehmer A stellt die Frage: „Hey Leute kennt ihr die eine Werbung mit dem Slogan: so geht Bank heute ? ! ? ! ? Was ist das bitte für ein Deutsch? ! uh“ (25) Worauf Teilnehmer B antwortet: „wüsste nicht was daran falsch ist“ (www.squadhouse.de/ forum-Beitraege/ smalltalk-1/ , 10.4 2010) Was bei diesem Satz falsch bzw. auffällig ist, wird im folgenden Abschnitt noch untersucht. Aber vorerst soll noch ein kleiner Text mit einer großen Auswahl an Variationsmöglichkeiten und dem Versuch einer Erklärung der Struktur vorgeführt werden: (26) Die Sachsen sind nicht die Ersten, die zur Eigenwerbung der „So geht“-Idee verfallen. Eine kleine Auswahl: „So geht katholisch“ nennt das Bistum Fulda eine Wanderausstellung. „So geht Bank heute“ lautet der Slogan eines Kreditinstituts. „So geht Deutschland“ heißt eine Rubrik der Deutschen Welle über Vorurteile gegenüber Deutschen. „So geht Energiewende“ hat die Grünen-Bundestagsfraktion erst kürzlich ein eigenes Positionspapier benannt. „So geht sauber“ ist von einer Reinigungsfirma aus Bayern besetzt. Selbst Germanisten machen keine Einwände gegen „So geht sächsisch“ geltend. Für „Werbesprache“ sei das in Ordnung, teilt die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden mit. Die Chemnitzer Sprachwissenschaftlerin Ruth Geier lobt die „anregende“ Wirkung des griffigen Slogans durch die Vieldeutigkeit von „gehen“. 6 (www.freiepresse.de, 5.3.2014) Dass sich die Wirkung des Slogans auf die Vieldeutigkeit des Verbs gehen zurückführen lässt, wie im letzten Beispiel behauptet wird, ist sehr zweifelhaft, denn die Auffälligkeit der Struktur bleibt auch dann erhalten, wenn das Verb ausgewechselt wird: sollen oder müssen statt gehen und sie bleibt auch bestehen beim Wechsel zu schmecken. Worin liegt also die Auffälligkeit? 6 Hervorhebung von mir. Welchen Einfluss haben Werbeslogans auf die deutsche Sprache? 407 Was ist das Besondere an der Struktur? Die Besonderheit, die jeder spürt, ist nicht so einfach zu fassen, denn es gibt genügend Beispiele mit einer ähnlichen Struktur, die nicht auffällig sind. Das Verb gehen wird hier in der Bedeutung „funktionieren“ gebraucht, so wie es in den regelkonformen Sätzen so geht eine Uhr oder so geht Monopoly der Fall ist. Schauen wir uns zum Vergleich einige weitere nicht auffällige Sätze mit so geht an, in denen das Verb gehen in der gleichen Bedeutung gebraucht wird wie in So geht Bank heute. (27) „Wir sind die Mehrheit.“ So geht Demokratie. (Die Rheinpfalz, 10.2.2015) (28) Sich rockig anziehen, den Zopf lösen, die Haare durch die Luft wirbeln lassen und beherzt in die imaginären Saiten greifen: So geht Luftgitarrespielen auf hohem Niveau. (29) Die integrierte Kopfstütze am Sitz und das Radio für die richtige Musik, so geht schöner Fahren. (Sonntagsblick, 28.2.2010, S. 9) (30) Warum wünschen Sie keine Aussenseiter? Sie kennen doch die Gesetzmäßigkeiten: Was erst Aussenseiter werden später Insider. So geht Geschichte, Forschung. (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Diskussion: Urstromtal, 2011) (31) Student trifft Obdachlosen, startet Aktion Uwe, holt ihn von der Straße, gründet Media-Agentur für soziale Zwecke, bloggt über Klimaverhandlungen: So geht soziales Engagement im Internet. (Zeit Campus, 20.4.2010, S. 18) (32) So geht Trail-Running: Laufen fernab von Betonstrassen und breiten Waldwegen, möglichst kleine Pfade benutzen das ist Trail-Running. (NZZ am Sonntag, 31.5.2015, S. 55) Warum ist der Werbespruch So geht Bank heute, dessen Struktur (so + gehen + Substantiv ohne Artikel) auch in unauffälligen Sätzen zu finden ist, besonders? Die Substantive, die in den grammatisch korrekten Beispielen regelkonform ohne Artikel vorkommen, sind entweder Bezeichnungen für Handlungen: Running, Luftgitarrenspielen, Fahren; Bezeichnungen für Spiele: Monopoly, Poker; oder Bezeichnungen für politische Systeme, Fächer: Demokratie, Mathematik, Geschichte. Es sind alles Bezeichnungen für regelgesteuerte Handlungen oder Sachverhalte. Das Substantiv Bank bezeichnet aber einen Gegenstand (Gebäude) oder eine Institution. Nach der herrschenden Grammatik müsste es mit einem Artikel verbunden werden. Das Eingebundensein in der Struktur so geht X (artikellos) zwingt aber den Leser/ Hörer zu einem semantischen Kategoriensprung: Von der Bezeichnung für ein Gebäude oder eine Institution zur Bezeichnung für eine regelgesteuerte Handlung oder einen regelgesteuerten Sachverhalt, wie etwa das englische und neu-deutsche Wort banking: So geht Jacqueline Kubczak 408 banking heute wäre ein grammatisch korrekter Satz. Allerdings verlöre dann der Adressat der Werbung die Verbindung zu einer bestimmten Institution, einer Bank - in diesem Fall der Targo Bank - aus den Augen. Wie funktionieren die anderen Beispiele? So geht Zukunft: Zukunft ist die Bezeichnung für eine Zeitspanne. Eine Zeitspanne „funktioniert aber nicht irgendwie“, auch hier muss der Leser einen Kategoriensprung nachvollziehen: Zukunft wird hier als Handlung bzw. Vorgang uminterpretiert, etwa i.S.v. Zukunftsgestaltung, Zukunftsvision. Ähnlich muss Fleisch in So geht Fleisch uminterpretiert werden in so etwas wie Fleischzubereitung, Standort etwa in Standortgestaltung, Zeitung in Zeitunggestaltung, Zeitungaufmachung oder auch (je nach Kontext) in Zeitungseinflussnahme. Die schieren Charakterisierungen durch Adjektive müssen in Handlungen bzw. Sachverhalte uminterpretiert werden: so geht günstig in so geht günstig sein, bzw. günstig werden oder auch günstig verkaufen; so geht sauber in so geht sauber werden bzw. sauber machen. Ähnlich wie in dem Beispiel lebst du schon oder wohnst du noch wird mit so geht X (artikellos) eine vorhandene Möglichkeit der deutschen Sprache auf Bereiche ausgedehnt, in denen sie nach den akzeptierten Regeln der Grammatik bis dahin keine Anwendung gefunden hatte. Am Beispiel „So geht Sächsisch“ hieß die unselige Werbekampagne, bei der zur Weihnachtszeit letzten Jahres in der Altstadt Gratis-Wurst verteilt werden sollte. (Nürnberger Nachrichten, 13.4.2015, S. 14) kann man das Verfahren schön zeigen: Ginge es in dem Beispiel um die sächsische Sprache, wäre an dem Satz nichts auszusetzen. Nun geht es aber in dem Beispiel nicht um die sächsische Sprache, und der Leser/ Hörer muss seine Fantasie bemühen, um Sächsisch zu ergänzen etwa zu sächsische Mentalität oder sächsische Art zu leben, oder vielleicht noch zu etwas anderem, je nach Kontext. 5. fazit und gewagter Blick in die zukunft Im Gegensatz zu dem ersten Werbespruch hier werden Sie geholfen, der eigentlich nur als Zitat in der Allgemeinsprache vorhanden ist, haben die beiden letzten vorgestellten Slogans das Potenzial, nicht nur als Zitate in die Allgemeinsprache einzugehen, sondern die Sprache strukturell zu bereichern. Die deutsche Sprache, die Gerhard Stickel, sowohl als Direktor des IDS als auch später in seiner Funktion als Mitglied des deutschen Sprachrates und Leiter des „European Federation of National Institutions for Language“ (EFNIL) bei der Europäischen Union sehr am Herzen lag und liegt, zeigt auch hier ihre Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit. Welchen Einfluss haben Werbeslogans auf die deutsche Sprache? 409 6. literatur DeReKo: Das Deutsche Referenzkorpus. Abfragbar über COSMAS: www.idsmannheim.de/ cosmas2. Hinrichs, Uwe (2016): Ich mach Facebook, und Du? Wie Migration die deutsche Sprache verändert. Manuskript-Version der SWR2-Aula-Sendung vom Sonntag, 31.7.2016, 8.30 Uhr. Hundt, Markus (2009): Normverletzungen und neue Normen. In: Konopka, Marek/ Strecker, Bruno (Hg.): Deutsche Grammatik - Regeln, Normen, Sprachgebrauch. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2008). Berlin/ New York, S. 117-140. Kubczak, Jacqueline (2011): E-VALBU - Das elektronische Valenzwörterbuch deutscher Verben. http: / / hypermedia2.ids-mannheim.de/ evalbu. Kubczak, Jacqueline (2014): Er kann Kanzler! Wir können billig! : schwer zu fassende Neuerungen in der deutschen Sprache! In: Annali - Sezione Germanica, Università degli Studi di Napoli „L’Orientale“, XXIV, 1-2, S. 127-139. ichiro Marui argumentatIon nIcht erwünscht 1 - eInstellungen zum argumentatIVen Im JapanIschen unD Deutschen einleitung Dieser Beitrag behandelt Erscheinungsweisen des Argumentativen im Japanischen und Deutschen. Diesbezügliche Unterschiede und ihre Hintergründe werden je nach alltäglichen und institutionalisierten Situationen dargestellt. Im ersten Teil werden Relationen von schwer bemerkbaren Normalitäten verbaler Interaktion und Kooperationsstilen dargestellt. Unterschiedliche Orientierung an Gleichheit bzw. Andersartigkeit entspricht jeweils positiver oder negativer Einstellung zur Argumentation. Die Grundzüge argumentativer Handlungen im Japanischen und Deutschen, die sich vorwiegend in Alltagsinteraktionen manifestieren, werden skizziert. Anhand deutschsprachiger Beispiele wird gezeigt, wie in (halb-)öffentlichen Diskursen eine positive Einstellung zur Argumentation reflexiv ausgedrückt wird. Krasse Differenzen zum Japanischen sind zu erwarten. Im zweiten Teil werden zuerst Hinweise auf historische Prozesse der Modernisierung Japans als Hintergrund der negativen Einstellung zur Argumentation gegeben. Anschließend werden in Anlehnung an kritische Untersuchungen öffentlicher Diskurse Beobachtungen über die gegenwärtige Situation vorgestellt. Der dritte Teil behandelt zur Erörterung der oben erwähnten Umstände sprachlichinteraktionale Eigenschaften des stigmatisierenden Worts hūhyō (‘Gerücht’). Dabei geht es um eine Herausarbeitung von Strategien zum Vorbeugen und Außerkraftsetzen der prototypischen Form der Argumentation. Zum Schluss wird nach der Zusammenfassung der Ausführungen auf den Sinn der Argumentation als allgemeines Werkzeug der Konfliktbewältigung hingewiesen. 1 Dies ist eine gekürzte Fassung einer umfassenderen Arbeit zu Diskursen in Japan nach dem 11.3.2011. Hier fehlende Textbeispiele sind dort zu sehen. Ichiro Marui 412 1. normalitäten der Interaktion und einstellung zur argumentation 1.1 Integrative und kompetitive Kooperationsstile Die Normalitäten verbaler Interaktion basieren auf der Wirksamkeit geteilter Kooperationsstile in der jeweiligen Sprachgemeinschaft (Marui 2006, Kap. I). Diese schwer zu reflektierenden Basis-Stile stellen zugleich die Matrix dar, aus der sich verschiedene, jeweils spezifizierte interaktionale Stile wie gruppeneigene soziale Stile (Kallmeyer 1994) herausbilden. Sie sind bestimmt durch die entgegengesetzten Neigungen zu Gleichsein (Ähnlichkeit) und Anderssein (Verschiedenheit) und variieren deren Ausprägungen entsprechend. Die Neigung zum Gleichsein ist kompatibel mit Gemeinsamkeit (Zusammensein) und Orientierung an Gegebenheiten, während die zum Anderssein mit Individualisierung (Alleinsein) und Orientierung am Vollzug bestimmer lokaler Prozeduren (Marui 2006, Kap. VI, VII) einhergeht. Zum beliebigen Vergleichspaar Japanisch-Deutsch wurden das Vorherrschen des integrativen Kooperationsstils im Japanischen und des kompetitiven im Deutschen postuliert. Der erstere ist hergeleitet von der Neigung zum Gleichsein und der letztere von der zum Anderssein. Dabei handelt es sich um eine Heuristik, um herauszuarbeiten, wie die grundlegenden Kooperationsstile anhand verschiedener (nicht-)verbaler Materialien festzustellen und wie die Faktoren, die die Interaktionsgeschehnisse konstruieren, systematisch zu erfassen sind. Sehr auffällige Unterschiede kann man beim genannten Vergleichspaar durch die Verwendung dieses Begriffspaars identifizieren, und zwar am klarsten im Bereich der Argumentation/ Diskussion (Marui 1995, Marui 2006, Kap. I, IV). Es ist ersichtlich, dass argumentative Verfahren, die in ihrer prototypischen Form Dissense voraussetzen, nur schwer durch den integrativen Stil gehandhabt werden können. Es ist nicht selbstverständlich, wie es heute im deutschsprachigen Raum gültig zu sein scheint, dass man bereit ist zu diskutieren, wenn sich Meinungen unterscheiden. Es ist offensichtlich, dass man im Deutschen (sogar) in Smalltalks eine argumentative Sprechweise bevorzugt, auch wenn es keinen faktischen Dissens gibt, um das laufende Gespräch lebhafter zu gestalten. Dissense haben Geselligkeitswert (Kotthof 1989)! Meinungen sollten geäußert werden, und ihre Unterschiede sind willkommen. Folglich ist die Möglichkeit argumentativer Gestaltung verbaler Interaktion als ein Merkmal der interaktionalen Normalität aufzufassen, die nicht weiter besteht, wenn diese Möglichkeit gestört wird (Marui/ Nishijima/ Reinelt 1996). Hingegen wird im Japanischen in entsprechenden Situationen die Orientierung an Gemeinsamkeiten bevorzugt. Dies geschieht oft durch gegenseitige Bestätigung der geteilten Wissenskomponente. Offensichtlichkeit gilt in die- Argumentation nicht erwünscht 413 sem Zusammenhang als Gegebenheit. Es wird als peinlich empfunden, wenn es echte Gegensätze in Meinungen gibt. Marui (2006, Kap. IV) analysiert ein latent konfligierendes Gespräch unter guten Bekannten und zeigt, wie ein argumentativer Prozess sowohl unter den Kontrahenten als auch durch andere teilhabende Personen gemeinsam und vorsichtig zustandegebracht und so gestaltet wird, so dass es am Ende weder Sieger noch Verlierer geben kann. Es gibt auch solche Fälle, in denen von Formulierungen (z.B. warum-weil-Sequenzen) her sehr argumentativ verfahren werden kann, weil keine echten Dissense vorhanden sind, was allen Beteiligten bekannt sein muss (ebd.). Kompetitive Stile sind auf sehr intime Beziehungen beschränkt. Es ist nicht realistisch anzunehmen, dass in einer Gruppe/ Gesellschaft nur ein Stilprinzip herrscht. Es kommt auf die unterschiedlich akzentuierten Verteilungen der Stile je nach den Lebensformen und Lebenswelten an. 2 1.2 Positive Einstellung im Deutschen Unterschiede in der Einstellung zur Argumentativität wurden überwiegend an Materialien aus alltäglichen Bereichen festgestellt (Marui 2006, Kap. IV). Wenn man Diskurse in öffentlichen Bereichen v.a. in den Medien oder der Politik mit in Betracht zieht, findet man dort auch Unterschiede in reflexiven Thematisierungen des argumentativen Verhaltens. Es gibt auf der deutschen Seite Zeugnisse für reflexive Einsicht in den Sinn der Argumentation/ Diskussion und ihre Faktoren. Anlass sind fremdenfeindliche, z.T. auch gewalttätige Vorfälle im Osten der Bundesrepublik, die im Zusammenhang mit der Flüchtlings- und Immigrantenproblematik in verschiedenen Medien aufgegriffen worden sind. Besonders interessant dabei ist: Manche Kommentare und Berichte weisen darauf hin, dass in den betreffenden Gegenden Diskussionen, verbale Auseinandersetzungen oder Debatten eher selten vorkommen. So hat z.B. Tilman Steffen, Redakteur der ZEIT ONLINE, darauf aufmerksam gemacht, dass die Demonstranten, mit denen er zu sprechen versuchte, die argumentative Weise des verbalen Streitens nicht praktizieren. Dadurch vermittelt er die Ansicht, die in weiten Kreisen der Bevölkerung gültig zu sein scheint, dass nämlich verbales Streiten zählt, und welche Eigenschaften das öffentliche Sprechen aufzuzeigen hat (1). (1) Gespräche am Rande von Pegida-Demonstrationen haben gezeigt: Es herrscht jede Menge Empörung, aber es gibt keinen Streit. Denn beim Streiten müsste man die Meinung des anderen akzeptieren, aushalten oder das Gegenüber mit 2 Der Zen-Buddhismus z.B. gilt in Japan traditionell als Ort der geübten Argumentation. Ichiro Marui 414 seinen Argumenten überzeugen. Die Empörungssachsen reklamieren zwar Meinungsfreiheit - aber immer nur für ihre personliche Sichtweise. Einen Dialog führen sie nur mit jenen, die ihnen bereits zugestimmt haben. Der Politologe Johannes Staemmler, der sich bei der Untersuchung der „Kommunikation im ländlichen Raum“ Ostdeutschlands engagiert, gibt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ausführlichere Kommentare zur kommunikativen Situation in problembeladenen Teilen des Landes (2). Daraus kann man schließen, was er sich als wünschenswerte Weise auch des öffentlichen Sprechens vorstellt: die „grundlegende Fähigkeit, sich im Gespräch auseinanderzusetzen, einen Konflikt zu besprechen oder Positionen zu beziehen“. (2) Johannes Staemmler: Die grundlegende Fähigkeit, sich im Gespräch auseinanderzusetzen, einen Konflikt zu besprechen oder Positionen zu beziehen, scheint vielen zu fehlen. Sonst würde jedem, der da steht, dämmern, dass das problematisch ist, was er sagt. Außerdem herrscht im Osten eine Wagenburgmentalität. Man ist gut geübt, in „Wir“ und „Die“ zu unterscheiden. Innerhalb dieses „Wir Ossis - die anderen“ ist keine Debatte möglich. […] Innerhalb des „Wir Ossis“ fehlt dagegen jeder Diskurs. Das fehlt zwischen den Kindern und Eltern, das fehlt zwischen den Eltern und sogar zwischen den Kindern […]. Die ZEIT ONLINE präsentiert ein Interview (3) mit einer Familie, in dem Vater und Sohn über politisch aktuelle Themen diskutieren. Es ist als eine inszenierte halböffentliche Debatte anzusehen. Hierbei geht es nicht um Authentizität und inhaltliche Qualität der Diskussion und der einzelnen Meinungen. Es geht vielmehr um die reflektierenden Feststellungen der beiden darüber, was sie in den und durch die verbalen Auseinandersetzungen erlebt haben und erleben: Verbales Streiten beeinträchtigt Beziehungen nicht; man schätzt die Klarstellung der Meinungsunterschiede; verbales Streiten ist annehmbar; die Gleichstellung der Diskutanten ist vital u.s.f. In diesem Artikel ist das grundlegende Prinzip der Interaktion im kompetitiven Stil manifestiert: Man kooperiert, indem (bzw. weil) man konkurriert. So gesehen deckt das kompetitiv-argumentative Stilprinzip im Deutschen sowohl alltäglich-private als auch öffentliche Bereiche ab. (3) DIE ZEIT (Z): Familie Sauerborn, wir sitzen bei Ihnen am Abendbrottisch und sprechen über Politik. Haben Sie darauf eigentlich noch Lust? Ludger (L): Es würde auch ohne Politik gehen. (…) Aber Sie haben es ja so gewollt! Robert (R): Ganz ehrlich: Mein Vater und ich, wir könnten vermutlich gar nicht anders. Wir müssen ständig diskutieren. Ich studiere inzwischen in Mainz, aber sobald ich hier bin, geht es meist gleich los. Z: Herr Sauerborn, Sie haben im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz die AfD unterstützt. Sie, Robert, sind strikt dagegen. Hat das Ihrem Verhältnis geschadet? R: Ich würde sagen, die Differenzen sind klarer zutage getreten. Aber ich finde nicht, dass unser persönliches Verhältnis dadurch belastet ist. Argumentation nicht erwünscht 415 L: Im Gegenteil: Mein Bekenntnis zur AfD hat es in gewisser Weise sogar belebt. Robert ruft mich heute öfter an. […] Z: Und dann streiten Sie? L: Ach - ich überzeuge meinen Sohn lieber, als dass ich mit ihm streite. R: Du würdest mich gerne überzeugen, Ludger. Z: Sie nennen ihn beim Vornamen? R: Ja, aber das hat überhaupt nichts mit dem politischen Streit zu tun. (…) In so einem Gespräch wie heute ist es vielleicht sogar ganz nützlich: Würde ich Papa sagen, wären wir nicht auf Augenhöhe. Das ist im Japanischen nicht der Fall. Der Unterschied in der Einstellung zum und der Einschätzung vom argumentativen Stil v.a. in der Öffentlichkeit wurde schon früh vom japanischen Schriftsteller Takashi Hirose in einem Band dokumentiert. Zu den Themen der Atom-Politik interviewte er Anfang der 1990er Jahre protestierende Bürger/ innen, Politiker, Beamte, Unternehmer und Wissenschaftler und resümierte seine Einsicht etwas idealisierend wie folgt: In Deutschland gilt Diskussion als gesellschaftliche Regel. Wer nicht diskutiert, wird nicht als Person anerkannt. Dass jemand keine Meinungen hat, schadet seiner Würde als Mensch. In Japan droht diese Würde in der Unternehmens- und Bürokratengesellschaft verloren zu gehen. Man hat Angst, fühlt sich in der Firma oder Gesellschaft bedroht und hört auf, zu handeln und Meinungen zu äußern. (Hirose/ Hashiguch 1994, S. 155, 160) Im Folgenden sehen wir uns diesen Umstand genauer an. 2. charakteristiken (nicht - )öffentlicher Diskurse im Japanischen 2.1 Modernisierungsprozesse Japans und ihre interaktionalen Konsequenzen Über die Modernisierungsprozesse Japans und ihre Konsequenzen in interaktionalen Dispositionen geben die Arbeiten von Yasutomi (2012a, b) eine klare Übersicht, auf die sich auch dieser Beitrag stützt. Er hat den Begiff des tachibashugi (Standort-ismus) eingeführt, der etwa „Positionismus“ heißen würde. Er beschreibt damit die Beobachtung, dass gesellschaftliche Agenten der Handlung und des Denkens funktional betrachtet nicht einzelne Personen sind, sondern die Positionen der Personen in der jeweiligen Institution. Es wird von den Einzelnen erwartet, gemäß ihren instituionellen Positionen zu handeln. Diese Positionen sind an die Interessen und Privilegien der Institution gebunden. Jedes Mitglied der Institution hat die Pflicht, auch durch Unwahrheiten oder Lügen ihre Interessen zu verteidigen. Diese Art der Vorstellung von den an institutionelle Positionen gebundenen Agenten war schon vor der Meiji-Zeit gefestigt, und wirkte in der Kriegszeit verheerend, hat den verlorenen Weltkrieg jedoch überlebt und ist durch den Wirtschaftsauf- Ichiro Marui 416 schwung, der eine Unternehmensgesellschaft hervorgebracht hat, weiter gestärkt worden (Yasutomi 2012a, S. 191ff.). Im Japanischen ist die Verteilung der Stilprinzipien in (nicht-)öffentlichen Bereichen wegen der Folgen der historischen Wandlungsprozesse schwer erfassbar. Der integrative Stil mit der Neigung zum Gleichsein, der in Alltagsinteraktionen wirksam war und ist, wurde in modernen Institutionen umfunktionalisiert und ideologisiert. Dadurch entstanden Vorstellungen wie die von Schulen, Firmen oder dem Staat als Gemeinschaft. Diese Ideologie beinhaltete eine Vorstellung von Lebenswelten in Institutionen (Marui 2015, S. 47), wo „wir“ als „Innen“ eindeutig definiert waren und sind. Diese Vorstellung grenzt virtuell außen von innen streng ab, was dem integrativen Stil im Alltag zuwiderlaufen muss(te). Wer eine Position in einer Instituiton hat, darf andere ausgrenzen. So kann ein Angestellter einer Chemiefabrik die durch das Abwasser Erkrankten aggressiv und überheblich behandeln und doch zugleich zu Hause als gutmütiger Vater gelten, der nicht gern streitet. Diese Art des unvermittelten Nebeneinanders der Stilprinzipien hat seine Wurzel in den genannten Prozessen, die gewaltsam getrieben wurden. Im politisch-ökonomischen Bereich im Besonderen werden andere Methoden als die argumentative Vermittlung divergierender Interessen bevorzugt. Eine der Methoden wird ne-mawashi (Wurzel-herumgraben: zum Umpflanzen eines Baums die Wurzeln im Voraus abschneiden) genannt und hat ihren Ursprung in der Zeit vor der Modernisierung. Vor einer Sitzung versucht man z.B., die Betreffenden unter der Hand zu einer Meinung zu überreden bzw. zu erpressen. Die Sitzung wird dann eine Zeremonie, die allerdings abgehalten werden muss. In einer lockeren Form werden Meinungen nacheinander geäußert, ohne direkte gegenseitige Bezüge, dann macht der Vorgesetzte abrupt einen Entscheidungsvorschlag, der bereits vereinbart worden ist und auch bewilligt wird. Hier sieht man einen Zustand, der daraus entstanden ist, dass viele moderne Institutionen, die Argumentation voraussetzen, benötigen oder zulassen, unvorbereitet eingeführt wurden, so dass interaktionale Verfahren, die seither in den betreffenden Institutionen, Hochschulen inbegriffen, herausgebildet wurden, dem genannten Charakter nicht angepasst wurden. Offene Diskussion lässt offene, ja unerwünschte Konklusionen zu, was mit dem Bedürfnis nicht zu vereinbaren ist, das Interesse der Institution durchzusetzen. 2.2 Beobachtungen zur gegenwärtigen Lage Zur anti-argumentativen Tendenz in Japanischen v.a. im politisch-ökonomischen Bereich gibt es diskurskritische Beiträge. Yamashita (2003) spricht von zwei Strategien in parlamentarischen Debatten, die unverhüllt adialogisch Argumentation nicht erwünscht 417 sind, sodass man etwa die Methode der critical dicourse analysis gar nicht zu verwenden braucht. Die eine nennt der Autor ingin-burei (‘sehr höflich’ - ‘unhöflich’), was besagt, dass man übertriebene Höflichkeit zum Nichtssagen einsetzt. Die andere ist die des Ausweichens, mit der die Befragten versuchen, direkte Antworten zu den Fragen zu vermeiden, die ihre Position und die Interessen ihrer Institution gefährden könnten. Er weist ferner darauf hin, dass zu formalen Präsentationen von Gutachten in Gremien oft nur diejenigen eingeladen werden, die es nicht wagen, der Regierung zu widersprechen. Dialogische Auseinandersetzung ist unerwünscht. Kritische Analysen und Betrachtungen der öffentlichen Diskurse zum nuklearen Unfall in Fukushima, zu dem aktuellsten Thema schlechthin, und allgemein zur Atom-Politik werden im Folgenden vorgestellt. Noro/ Yamashita (2012) unterzieht die Diskurse der Regierung, die den Mythos der AKW-Sicherheit etabliert haben, einer ausführlichen Analyse und erklärt ihre Eigenschaften, die weite Teile der Bevölkerung dahin geführt haben, diese Diskurse zwar zur Kenntnis zu nehmen, die Fiktion aber nicht durchzuschauen. Die Charakteristiken der Diskurse, die die Regierung zum Zweck der Mythosbildung parat hat, werden wie folgt zusammengefasst: Diese Diskurse sind nützliche Mittel zum politischen Zweck, die aus solchen sprachlichen Stoffen bestehen, die für die Bevölkerung ebenso annehmbar wie überzeugend sind. Wenn eine Tatsache erhellt wird, die mit den Diskursen nicht kompatibel ist, werden andersartige Diskurse genutzt. Politik wird betrieben, indem man vielfältige diskursive Stoffe bereitstellt, um sie gemäß den Situationen einzusetzen. (Noro/ Yamashita 2012, S. 165) Das würde dann heißen: Wenn die Bevölkerung aufgrund solcher Diskurse glaubt, AKW seien sicher, dann gilt, dass sie sicher sind. Der anti-argumentative Charakter ist auch hier auffällig: Es geht nicht um interaktiv-diskursive Überprüfung der Probleme, sondern um Glaubwürdigkeit. Najima (2015) diskutiert über die Möglichkeiten der Einflussnahme der Macht auf die Medien und analysiert die Auswirkungen der Zeitungsdarstellungen auf die allgemeine Meinungsbildung. Durch die manipulative Berichterstattung werden die Menschen (die in Fukushima vs. „wir“) und die Sachverhalte (verseuchte vs. nicht verseuchte Regionen) psychisch gespalten. Durch Schilderungen, die unsichere Sachverhalte zu vollendeten Tatsachen machen (jeder AKW-Ausfall kostet Geld), und durch solche, die bestehende Tatsachen verschwinden lassen (nicht die nukleare Verseuchung, sondern die Abnahme des Verkaufs von Produkten betonen: s.u.), werden die Leser zum Vergessen und Verdrängen verleitet. Noro (2015a) analysiert Lehrbücher für Schulen zum Thema Radioaktivität, die vom japanischen Kultusministerium verfasst sind, und stellt als Fazit folgende Überlegungen an: Ichiro Marui 418 Um die Atompolitik weiter zu forcieren, gibt es für den Staat nur die Möglichkeit, weiter zu behaupten, dass AKW sicher seien, dass die Radioaktivität harmlos sei, und dass die Nahrungsmittel nicht gefährlich seien. Der Staat muss weiter mit Wort und Geld die Bevölkerung betrügen. Er übernimmt keine Verantwortung für den nuklearen Unfall, um sich nicht mit den immensen Problemen der AKW-Nutzung auseinandersetzen zu müssen. Er verwendet so gegenüber der Bevölkerung verschiedene Sprachtechniken mit leeren Ausdrücken. (Noro 2015a, S. 89f.) Daran kann man absehen: Die Sprache wird eingesetzt, nicht um gegenseitig Meinungen auszutauschen, sondern um einseitig zu manipulieren. Noro (2015b) behandelt das Problem der sabotierten Erwiderung anhand der Protokolle des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Reaktorunfall in Fukushima und kommt zu der Feststellung: eine so elementare Sequenz wie Frage-Antwort kann nicht oder nur mühsam zustande kommen, indem die Gefragten durch Umformulierungen (Anweisung/ Rat; Grenzwert/ Maß) den Fokus der Frage verschieben oder durch Ausweichen den inhaltlichen Kern vertuschen. Yasutomi, der an der Universität Tokio als ordentlicher Professor tätig ist, schlägt vor, den Begriff der Tōdai wahō (‘Uni.-Tokio-Redeweise’) einzuführen, um die Eigenschaften der positionistischen Diskurse als eine betrügerische Redeweise der indifferent Zuschauenden herauszuarbeiten (Yasutomi 2012a). Damit sind v.a. die Diskurse von Professoren renommierter Universitäten gemeint, die oft als Experten z.B. für Atomkraft zugunsten der Regierung und solcher Firmen wie TEPCO in Medien auftreten. Er zählt 20 Eigenschaften der Tōdai wahō in Form von Geboten auf. Diese Redeweise kann als das Resultat der Modernisierungsprozesse Japans im Bereich der Interaktion betrachtet werden. Auf diese Weise kann man die argumentative Themenbehandlung vermeiden, die auf der Gegenseitigkeit freier Meinungsäußerungen und auf einer offenen Haltung gegenüber einem unbestimmten Ausgang beruht. Zugleich macht man bei dieser Redeweise vom integrativen Prinzip tückischen Gebrauch: Der „Positionist“ weiß, dass man sich nicht widersetzt, wenn ein anderer etwas zu sagen hat, und redet in Tōdai wahō. Damit ist aber die Tatsache geschaffen, dass „fachlich richtiges“ Wissen erteilt worden ist: Man braucht keine Diskussion. 3. stigmawort 3 und nasenbluten-skandal Zur Illustration des oben Beschriebenen möchte ich als Beispiel das Worts hūhyō (Wind-Beurteil: ‘Gerücht’) aufführen. Die lexikalische Bedeutung hat wie das deutsche Wort einen negativen Beiklang. Hūhyō wie Gerüchte liefern 3 Hermanns (1982). Argumentation nicht erwünscht 419 kein solides Wissen. Das wort hūhyō ist ein Kompositum chinesischer Herkunft und somit klingt stilistisch formaler als sein Synonym, uwasa. Das Wort wird eher in instituionellem Rahmen als im Alltag verwendet. Im Bereich der Wirtschaft verwendet man es speziell in der Zusammensetzung mit higai (Schaden). Hūhyō-higai bezeichnet den Umstand, dass der Verkauf bestimmter Produkte, die Benutzung von Anlagen und Einrichtungen oder der Besuch von touristischen Reisezielen durch Gerüchte beeinträchtig wird. Seit dem Jahr 2011 ist bei beiden Wörtern eine stigmatisierende Verwendungsweise hinzugekommen. In der neuen Gebrauchsweise werden Schilderungen von Tatsachen oder begründbare Annahmen als hūhyō-Verbreitung oder als Verursacher von hūhyō-higai gebrandmarkt. Die Aussage, dass die radioaktive Verseuchung nicht auf Fukushima begrenzt ist, sondern in Teilen von Ostjapan und noch weiter verbreitet ist, gehört dann als hūhyō verdammt. Wie zu erwarten ist, wird die verurteilende Verwendung oft mit solchen Ausdrücken wie „unwissenschaftlich“ bekräftigt. Somit sind die minimalen Auskünfte über den Hintergrund des „Oishinbo (‘Der Gourmet-Typ’)“-Skandals gegeben. Diese populäre Manga-Serie 4 behandelt in der neuesten Folge die aktuelle Lage in Fukushima (Kariya/ Hanasaki 2014). In der Bildgeschichte wird geschildert, wie gravierend die Schäden durch das Erdbeben und v.a. die radioaktive Verschmutzung sind, die nicht leicht zu beheben sein werden. Im Verlauf der Recherchen durch die Hauptfiguren (die besagten Gourmettypen) passiert es, dass einige von ihnen Nasenbluten erleben. Dazu erzählt ein interviewter Bürgermeister aus der stark betroffenen Gegend, ein Porträt einer real existierenden Person, von ähnlichen Erlebnissen. Soweit die Geschichte, die wie schon angedeutet eine raffinierte Mischung von Fiktion und Realität darstellt. Daraufhin beginnt das Bashing des Werks, angefangen vom Gouverneur von Fukushima („die Darstellung fördere hūhyō“), verbreitet von gleichgesinnten Medien. Schließlich äußern sich auch der Kanzleichef und der Kultusminister skeptisch gegenüber der Darstellung im Werk. In diesbezüglichen Diskursen tauchen wiederholt beide Stigmawörter und Aussagen wie „es ist unwissenschaftlich“, „wissenschaftlich richtige Informationen sind nötig“ usw. auf. Der Autor versucht seinerseits, sich mit Belegen zu verteidigen, aber die attackierte Redaktion gibt nach mit dem Statement, man werde die Sache sorgfältig überprüfen. Was die Politiker und Mitläufer an diesem Werk stört, ist nicht so sehr das Nasenbluten wie viele andere Schilderungen mit Zeichnungen, die sehr realistisch ausfallen. Die im Werk explizierten Tatsachen und Meinungen, die für Regierende unerwünscht sein können, sind z.B. folgende: 4 Mehr als 100 Millionen verkaufter Exemplare insgesamt (Kariya/ Hanasaki 2014). Ichiro Marui 420 - Es gibt keine genaue Karte der Kontamination, weil die Regierung hohe Entschädigungsforderungen fürchtet und die Tatsachen nicht erhellen will (Kariya/ Hanasaki (2014), Bd. 111, S. 57). - Der Grenzwert von Cäsium in der Nahrung soll nicht 100 Bequerel, sondern null sein (ebd., S. 99). - In den Lesebüchern des Kultusministeriums kommen weder die Überwachungszone noch nukleare Verseuchungen noch Fotos des Reaktorunfalls vor (ebd., S. 111). - Weil der Mythos der Reaktorsicherheit widerlegt ist, will das Ministerium einen neuen von sicherer Radioaktivität erfinden (ebd., S. 112). - Nasenbluten weist auf Kontamination mit niedrigen Dosen hin (ebd., S. 246). - Der entlassene Bürgermeister sagt, dass man Fukushima verlassen solle, denn das Leben der Kinder sei wichtig, und wer in Japan seine eigenen Gedanken äußert, wird seines Amtes als Bürgermeister enthoben (ebd., S. 253), usw. Das sind lauter Darstellungen der Tatsachen und Ansichten, die zwar nicht automatisch wahr oder richtig sind, die aber diskutabel, prüfbar oder bestreitbar sind. Man merkt sogar, dass man sich unbefangen argumentativ äußern könnte, wenn man nicht durch zu verteidigende Privilegien der Institutionen vorbelastet wäre, was bei neuen Bürgerbewegungen auch zu sehen ist. Was sind die zu verteidigenden Interessen, die hinter der abschätzenden Verwendung der beiden Wörter stecken? Was will man vertuschen, indem man diskutable Aussagen disqualifiziert? Was ist zu vermeiden? Zu vermeiden sind einmal öffentliche Diskussionen über die Ursache des Nasenblutens, die erweitert werden könnten auf die aktuelle Lage der Kontamination, Diskussionen, die ausufern könnten bis hin zu der grundsätzlichen Frage nach der Sicherheit in den so verseuchten Regionen. Auf dieser Stufe könnte sich sogar die Frage nach der Verantwortung stellen. Um die Verantwortung für eine Tatsache zu leugnen, müssen die Verantwortlichen diese Tatsache verneinen (lassen), wenn das nicht leicht zu bewerkstelligen ist, vertuschen (lassen), verkleinern (lassen), außer Acht lassen (lassen), nicht öffentlich besprechen (lassen), verdrängen (lassen), vergessen lassen. Mit Yasutomi zu sprechen, liegt in dem Lassen der Sinn der Institutionen mit den Positionen, die „lassen gelassen“ werden. Die Verwendungsweise des Worts hūhyō (und hūhyō-higai) kann man in ihrem herabsetzenden Charakter als eine Strategie betrachten, den Wahrheitsgehalt einer Tatsachenschilderung zu entwerten. Sie dient dazu, jede weitere Auseinandersetzung mit der gemeinten Tatsache zu verhindern. Die Sprache wird hier benutzt, um argumentativen Austausch, der sich auf die Wahrheitsprüfung der Gesagten stützt, zu verhindern, statt ihn zu fördern. Argumentation nicht erwünscht 421 4. schluss Oben wurde gezeigt, wie verschieden die Einstellungen zum Argumentativen sein können, indem eingehend japanische Verhältnisse dargestellt wurden. Dort wird Argumentation blockiert durch den Positionismus, der sich einzig nach den institutionseigenen Interessen richtet. Als Mittel zum Erhalt dieser Interessen kann formal argumentative Redeweise eingesetzt werden wie im Fall von Tōdai wahō, die aber keine Gegenseitigkeit freien argumentativen Austausches zulässt. So sieht man im Japanischen ein unvermitteltes Nebeneinander vom integrativen Prinzip im Alltag, wo auch nur sehr vorsichtig argumentiert wird, und von den positionistischen Prinzipien einschließlich der Umfunktionalisierung des Integrativen in modernen Insitutionen, in denen auch prototypisches Argumentieren partiell praktiziert wird. Das Ziel dieses Beitrags liegt nicht darin, Gesellschaften anhand einiger Beobachtungen polarisierend darzustellen, sondern zu überprüfen, wie man mithilfe der oben benutzten Begriffe diskursiv-argumentative Verhaltensweisen in Gesellschaften charakterisieren kann. Dabei gibt es auch im Deutschen aktuelle Probleme. Ein Ausdruck wie „Wir sind das Volk.“, der einmal als ein plausibles Argument gegen den „Unrechtsstaat“ fungierte, bekommt heute ganz andere (anti-)argumentative Funktionen, wenn er z.B. den Menschen, die vor Tod und Hunger geflohen sind, zugerufen wird. Positionistische Redeweise könnte auch im Deutschen in andersartigen Formen wirksam sein. Es ist in den Gesellschaften, die auf einer demokratischen Basis existieren, sicher unentbehrlich, dass unvereinbare Interessen und Meinungen durch freien Austausch der Äußerungen herausgearbeitet werden, um diesen Zustand bewältigen zu können; dies unabhängig von den Eigenschaften der Beteiligten. Eine solche Möglichkeit sollte sozial, gesellschaftlich und institutionell gesichert sein. Argumentieren sollte als ein nützliches Mittel bei Entscheidungsprozessen und zur Konfliktbewältigung frei zugänglich sein. 5. materialien Beleg (1) = Sachsen sieht das nicht so eng. Von Tilman Steffen. www.zeit.de/ gesellschaft/ 2015-09/ sachsen-rassismus-islam-asyl-heidenau-ursachen (Stand: 21.9.2015). Beleg (2) = Der Osten wird nicht über Nacht weltoffen. Von Johannes Staemmler: Interview von Antonie Rietzschel. www.sueddeutsche.de/ politik/ proteste-gegenfluechtlinge-der-osten-wird-nicht-ueber-nacht-weltoffen-1.2624903 (Stand: 21.9.2015). Beleg (3) = Am Abendbrottisch mit … Familie Sauerborn. Interview: Martin Machowecz und Anne Hahnig. www.zeit.de/ 2016/ 26/ afd-politischer-konflikt-familie (Stand: 11.7.2016). Kariya, Tetsu/ Hanasaki, Akira (2014): Oishinbo (Der Gourmet-Typ), Bde. 110/ 111. [in Jap.]. Ichiro Marui 422 6. literatur Hermanns, Fritz (1982): Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II. Hildesheim, S. 87-108. Hirose, Takashi/ Hashiguchi, Joji (1994): Deutschlands Waldwächter. Tokio. [in Jap.]. Kallmeyer, Werner (1994): Das Projekt „Kommunikation in der Stadt“. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikation in der Stadt. Teil 1: Exemplarische Analysen des Sprachverhaltens in Mannheim. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4, 1). Berlin/ New York, S. 1-38. Kotthoff, Helga (1989): Stilunterschiede in argumentativen Gesprächen oder zum Geselligkeitswert von Dissens. In: Hinnenkamp, Volker/ Selting, Margaret (Hg.): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik. (= Linguistische Arbeiten 235). Tübingen, S. 187-202. Marui, Ichiro (1995): Argumentieren, Gesprächsorganisation und Interaktionsprinzipien. In: Deutsche Sprache 23, S. 352-373. Marui, Ichiro (2006): Zur Theorie von verbaler Interaktion - Analyse der Selbstverständlichkeiten. Tokio. [in Jap.]. Marui, Ichiro (2015): Überdenken interkultureller Kommunikation. In: Iwasa, Kazuyuki/ Iwasa, Mitsuhiro/ Mori, Naoto (Hg.): Trans-border Studies, Liiburushuppan. Kochi, S. 37-57. [in Jap.]. Marui, Ichiro/ Nishijima, Yoshinori/ Reinelt, Rudolf (1996): Argumentativity in everyday conversation. In: Research Reports of Kochi University 45, S. 83-113. Najima, Yoshinao (2015): Gesellschaftliche Auswirkungen der Zeitungsberichte. In: Najima/ Kanda (Hg.), S. 199-239. [in Jap.]. Najima, Yoshinao/ Kanda, Yasuko (Hg.) (2015): Zu öffentlichen Diskursen nach dem AKW-Unfall vom 11.3. Tokio. [in Jap.]. Noro, Kayoko (2015a): Was man von Diskursen zu „Umwelt, Energie, Atomkraft und Radioaktivitätenerziehung“ ablesen kann. In: Najima/ Kanda (Hg.), S. 53-100. [in Jap.]. Noro, Kayoko (2015b): Vom harten Weg zum sanften - Atomkraft und Kommunikation. 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Marisa siguan schon wIeDer eIne werther üBersetzung? zum lesen unD üBersetzen Von klassIkern Als Beitrag in diesem für Gert Stickel herausgegebenen Band möchte ich einige mehr persönliche als akademische Überlegungen zum Lesen und zum Übersetzen von Literatur im Lichte einer Kanondebatte schreiben, über die ich manchmal mit ihm gesprochen habe. Als Auslandsgermanistin und Inhaberin eines Lehrstuhls in Barcelona musste ich lange Zeit sehr unterschiedliche Dinge lehren, auch als Kulturvermittlerin fungieren. Das hieß Sprachunterricht betreiben in Kombination mit dem Literaturunterricht, es hieß auch übersetzen. Als Literaturwissenschaftlerin bin ich im Kontext dieses Bandes unter Linguisten eine etwas exotische Figur, deshalb habe ich ein interdisziplinäres Thema gewählt. Das Lesen behandle ich aus der Perspektive der Selbstkonstruktion und der Kanondebatte, aber indem ich mich mit dem Themenkomplex der Übersetzung beschäftige hoffe ich Ansatzpunkte zu linguistischen Fragen im Bereich der literarischen Übersetzung zu geben. Vor ungefähr einem halben Jahrhundert schrieb der mir sehr liebe Autor Jean Améry für seinen Vortrag „Ein Leben mit Büchern“ folgende Zeilen: Der lebenslange Umgang mit Büchern, wenn ich versuche, ihn zu analysieren […] ist wesentlich ein Umgang mit Menschen. […] Davos, das war Castorp, das waren Ziemssen, Settembrini und Madame Chauchat. In der Normandie, die ich häufig bereise, finde ich in einem elenden Nest die Fusspuren der Emma Bovary. Illiers ist Combray. Sollte ich jemanls nach Moskau kommen, würde ich zweifellos aufs intensivste die geisterhafte Gegenwart Raskolnikows verspüren. Die subjektive Welt eines jeden Lesers ist bevölkert: nicht nur von den realen Personen, deren Bekanntschaft er im Leben gemacht hat, sondern von Geschöpfen der Literatur. Sie sind um uns, Julien Sorel und der junge Werther, der Zögling Törless und Leopold Bloom; Hans Giebenrath, Serenus Zeitblom, […]. Beizufügen ist freilich, dass alle hier Aufgereihten und hinter ihnen die zahllosen Nichtgenannten einen erheblich höheren Realitätsgrad haben als viele Personen, die im Laufe unseres Lebens in Fleisch und Blut vor uns hintraten. (Améry Mk 81.1275, S. 2) Zumindest bis zu meiner Generation haben die Subjektkonstruktion, und damit auch die Sozialisation, sehr viel mit Lesen zu tun; darin zum Teil natürlich auch mit dem Lesen von Literatur. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Lesen heute für die Sozialisation und für die Identitätskonstruktion des Einzelnen nicht mehr so bedeutsam ist. In hohem Maße kommt jetzt das Visuelle hinzu. Geschichten werden nicht nur in Büchern, sondern in Filmen erzählt und Marisa Siguan 424 wahrgenommen, wenn nicht sogar in Videoclips. Oder in den Texten von Rap- oder Hip-Hop-Musik. Das ist bei unseren Studierenden und Kindern sicher der Fall. Aber auch bei ihnen spielt das Lesen noch eine Rolle, und dabei sehr wesentlich das Erleben von Geschichten. Für diejenigen, die in starkem Maße mit Literatur aller Arten sozialisiert worden sind, also für die Literaturleser, bestimmt die „Selbstkonstruktion“, von der Amérys Zitat im Grunde handelt, den Aufbau eines eigenen, individuellen Kanons, oder besser - um der Kanondiskussion für den Moment aus dem Weg zu gehen - einer persönlichen, begrenzten Lieblingsbibliothek. Dafür werden Vorschläge aus dem tradierten Kanon mit eigenen Entdeckungen vermischt, um eine eigene, individuelle, Konstruktion zu ermöglichen. Und dabei geht es natürlich nie nur um „Höhenkammliteratur“ oder um Literatur, die ausschließlich aus der eigenen Nationalliteratur stammt. Wenn wir unseren persönlichen Kanon, die Bücher, die für uns wichtig sind oder gewesen sind, durchgehen, kommt sicher ein schönes, gattungsreiches, multikulturelles, individuelles Sammelsurium zusammen. Wie steht es aber nun heute um bestimmte Figuren aus dem tradierten Kanon? Wie steht es zum Beispiel um Goethe? Auf ihn möchte ich mich jetzt sozusagen exemplarisch beschränken. Welche Position hat Goethe in Spanien? Gehört er zum eigenen, persönlichen Kanon eines (nicht einmal) wichtigen Teils der Leser? Kann er das überhaupt? Wer liest noch Die Leiden des jungen Werther, zum Beispiel, wenn es nicht gerade Pflicht in der Schule oder im Germanistikstudium ist? Oder gar Wilhelm Meisters Wanderjahre, die nirgendwo Pflichtlektüre sind? Baut heute noch jemand Goethes Werke in seine Identitätskonstruktion ein? Wenn man sich vor die Aufgabe gestellt sieht, Goethe zu kommentieren und zu übersetzen, sollte man sich auf solche Überlegungen einlassen. Denn man sollte sich darum bemühen, es zu ermöglichen, dass sein Werk in die „Selbstkonstruktionen“ der Leser und Leserinnen eingebaut wird. Das sollte man sich überhaupt bei jedem Autor oder jeder Autorin vornehmen, die man übersetzt oder kommentiert. Was für einen Sinn hätte sonst das Überleben der Literatur über die Zeiten? Der tradierte Kanon wandelt sich bekanntlich: nach gesellschaftlichen Strategien des Erinnerns und Vergessens, nach institutionalisierten Benützungen der Autoren oder Autorinnen, nach Prozessen der Automatisierung. Auch der persönliche Kanon wandelt sich im Laufe der Lebenserfahrungen. Literatur wird kreativ gelesen, und sie wird so gelesen, wie der Leser oder die Leserin sie brauchen, um in der Welt zurechtzukommen, sich mit der Tradition auseinanderzusetzen, „Selbstkonstruktion“ zu betreiben, und auch, wenn sie selber schreiben, um einen eigenen literarischen Weg zu finden. Manchmal werden Autoren für eine Zeit vergessen und dann wieder entdeckt, manchmal werden sie endgültig vergessen. Manchmal werden Schon wieder eine Werther - Übersetzung? 425 auch Autoren neu entdeckt, öfter sogar Autorinnen, denn sie fanden eher selten ihren Weg in den tradierten Kanon. Aber Goethe gehört unzweifelhaft zum universalen literarischen Kanon; er hält sich beharrlich darin und gehört auch hier in Spanien im Schulwesen dazu, soweit es darin noch „literatura universal“ gibt, was nur begrenzt und als Wahlfach der Fall ist. Wie steht es nun um ihn? Wird er wirklich gelesen? Walter Muschg fragte sich schon 1986 bei einer Rede zu Goethes Geburtstag danach, und seine Antwort war schon damals eher bescheiden: Es wird leicht geschehen, dass die Antwort auf solche Fragen seltsam gewunden ausfällt; so als wüsste der Gefragte nicht recht, ob er sich zu seinem stillen Verdacht bekennen darf; ob er sich übelnehmen muss, dass ihn Goethe eigentlich nicht bewegt; ob es eine Schande ist, dass er sich nicht bewegen lässt. […] Wieder stehen wir vor dem Kreuz von Goethes Ruhm: bedeutend, aber für wen? (Muschg 1986, S. 170-172) Goethe ist eine indiskutable Größe, jeder hat groben Respekt vor seinem Werk; niemand stellt infrage, dass man ihn lesen müsste; jeder weiß etwas über ihn; er scheint aber weit weg und im Schulwissen „vertrocknet“ zu sein. In Spanien dürfte die Situation nicht viel anders sein, vielleicht mit dem Vorteil dass er, da er ja nicht zum eigenen „Nationalparnass“ gehört, als etwas fremder und weniger vertrocknet erscheint, als etwas exotischer. Außerdem ist es in Spanien so, dass es eine Rezeption von Goethe als Person, als Autor, als Intellektuellen gibt, die in die Rezeptionen seines Werks intensiv hineinspielt, was nicht unbedingt zu seinen Gunsten ausgeht. Hierzu kann man symptomatisch einige Beispiele aus dem 20. Jahrhundert anführen. So schreibt der Romanautor aus der 98er-Generation Pío Baroja in Anarquistas literarios 1895 über Goethe: „si se organizase en el Parnaso una milicia de Genios, Goethe sería su tambor mayor. Tan grande, tan majestuoso, tan sereno, tan colmado de talentos, tan lleno de virtudes y, sin embargo, tan antipático“ (Pageard 1958, S. 67). 1 Und besonders bekannt ist Ortega y Gassets Plädoyer von 1949 für einen Goethe für Schiffbrüchige: „Escríbanos un Goethe para náufragos“ 2 (1971, S. 565). Man müsse die Klassiker benutzen: für das eigene Leben, für die eigene Rettung im Schiffbruch des Lebens. Ortega plädiert für eine Kultur für Schiffbrüchige, weil er den Menschen seiner Zeit als schiffbrüchig erlebt. Das ist insofern positiv, als Ortega im Schiffbruch den großen Stimulus des Menschen sieht: „la sensación de naufragio es el gran estimulante del hombre“ (ebd., S. 561). Die Frage ist aber, ob die Lite- 1 „Wenn man auf dem Parnass eine Miliz der Genies organisieren würde, wäre Goethe ihr Tambourmajor. So groß, so majestätisch, so gefasst, so voller Talente, so voller Tugenden und, trotz allem, so unsymphatisch“ (Übersetzung von mir, M.S.). 2 „Schreiben Sie uns einen Goethe für Schiffbrüchige.“ Marisa Siguan 426 ratur einen ausreichenden Rettungsring im Schiffbruch des menschlichen Lebens bietet: „¿Es la literatura un salvavidas suficiente en el gran naufragio que es la vida humana? “ Nun gewinnt Goethe Wert als jemand, der dauernd gegen den Schiffbruch gelebt und von dieser Erfahrung aus geschrieben hat. Ein weiteres Beispiel für eine Goetherezeption zur Auseinandersetzung mit der eigenen Wirklichkeit zeigt sich in den Romanen von Jorge Semprún (1994, 1997). Sie tragen autobiografische Züge und befassen sich in verschiedenen Weisen mit der Erfahrung des Überlebens in und nach dem Konzentrationslager. Um die Erfahrung des Horrors zu schildern, realisiert Semprún (ebd.) in seinen Romanen oft eine Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition und ihren Formen. So nimmt Semprún (ebd.) auch Goethe in sein Werk auf. Er wird zu einer fast obsessiven Figur im Roman Was für ein schöner Sonntag, aber auch in Schreiben oder Leben. In Was für ein schöner Sonntag lässt ihn Semprún (ebd.) mit Eckermann auf dem Ettersberg bei Weimar spazierengehen, wo sich das Konzentrationslager befindet. Der argumentative Faden, der dies zulässt, ist die Anwesenheit von Leon Blum in Buchenwald, auch inhaftiert und Verfasser des Essays Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann. In den Gesprächen, die Semprún ins Leben ruft, wird das Thema der Kultur und des Intellektuellen in seinem Verhältnis zur Macht angeschnitten. Was das Problem ausmacht, ist die Frage, wie man in Weimar eine Vergangenheit von aufgeklärter Klassik mit einem Konzentrationslager vereinbaren könne. Goethe schaut sich das Lager aus der Distanz an, benützt die kalte Beobachtung zum Theoretisieren. Aus der Perspektive der Realität des Lagers wird der gefährliche Weg einer mit Despotismus verbundenen Aufklärung sichtbar und auch die Ambivalenz des Verhältnisses der Kultur zur Macht. Das sind alles Beispiele für die Art, wie Goethe in die Selbstkonstruktion verschiedener spanischer Schriftsteller und Denker des 20. Jahrhunderts eingegangen ist. Sie zeigen verschiedene Möglichkeiten, Goethe zu sehen, zu lesen, zu benutzen. Wenn man sich nun die Aufgabe stellt, Goethes Werke auf Spanisch herauszugeben und zu kommentieren, müsste man alle diese Möglichkeiten Goethe zu lesen, diese Tradition sozusagen, im Auge behalten. Man sollte sich fragen, welche Aspekte in seinem Werk heutige Fragestellungen erlauben, und zwar unterschiedliche Arten von ihnen. Und man sollte danach trachten, Möglichkeiten des Lesens anzubieten und nicht so sehr geschlossene Interpretationen zu liefern, die dem Leser alles fix und fertig servieren. Mein Vorschlag ist, dass man dem Leser Inspiration liefert, damit er sich vielleicht etwas von Goethes Werken in seine Selbstkonstruktion „einbaut“. Dafür muss man ihm aber Möglichkeiten offenhalten, Türen und Fenster sozu- Schon wieder eine Werther - Übersetzung? 427 sagen, und auch Hilfe mit Sachwissen anbieten. Diese editorische Haltung betrifft sowohl die Abfassung des Kommentars zu den Werken wie auch die Sprache der Übersetzung, denn sie ist es ja, die das Werk vermittelt. Wie macht man das bei Goethe auf eine spanische Ausgabe bezogen? Was habe ich mir gedacht, als ich daran gearbeitet habe? Goethe ist für eine solche offene Haltung besonders gut geeignet. Denn sein Werk ist äußerst vielfältig und erlaubt verschiedenartige Interpretationsansätze und Problemstellungen. Es geht also in erster Linie darum, ihn aus der olympischen Ruhe wachzurütteln, mit der er in den Kanon eingegangen ist - eine Ruhe die er wohl in seinem Leben nie hatte - und ihn als experimentierfreudigen und vielfältigen Autor hinzustellen. Unsere Sensibilität, über ein halbes Jahrhundert nach Ortega, ist weiterhin von Schiffbrüchen aller Art geprägt, und scheint ein offenes, perspektivenreiches, fragenreiches Lesen zu bevorzugen, es zumindest geschlossenen Interpretationen in der Art eines Rezepts oder einer Lehre vorzuziehen. Goethe gewinnt Gewicht als neugieriger, experimentierender Autor, der ein großes Gefühl für wegweisende Probleme und Gedankengänge seiner Zeit besaß und an ihnen unterschiedliche ästhetische Lösungen in den verschiedenen Gattungen ausprobierte. Er konnte ein Thema tragisch im Roman behandeln wie im Werther und ihm anschließend in dramatischer Form eine polyvalente Lösung geben, ironisch und bis zu einem gewissen Grad glücklich bis hin zu utopisch wie bei Stella. Er konnte die Bildung Wilhelm Meisters zu einem harmonisierenden Schluss in den Lehrjahren führen und sie danach in den Wanderjahren gewissermaßen infrage stellen, so wie er in den Gesprächen deutscher Ausgewanderten konkrete Aspekte möglicher Bildungswege infrage stellt, oder auch die Möglichkeit einer Harmonisierung des persönlichen und des gesellschaftlichen Glücks in der Liebe. Eine Möglichkeit die auch in den Wahlverwandschaften infrage gestellt wird: Die Domestizierung der Liebe und der Sexualität in der Ehe bleibt ein fragwürdiges Unternehmen. Die Texte bilden ein Netz von Verweisen, sie beziehen sich aufeinander in ihren Problemstellungen, opponieren zum Teil gegeneinander aber sind auch jeweils in ihren Strukturen von Oppositionen bestimmt: Sie bilden ein breites Feld, das dem Leser ermöglicht sich jeweils Möglichkeiten auszusuchen, harmonisierende oder problematisierende Lesarten zu bevorzugen. Diese Möglichkeit sollte die Interpretation ihm lassen, sie auch fördern. Um zeitgenössische Fragestellungen an Goethes Werk zu führen, braucht der Interpret nur auf die eigene Erfahrung zurückzugehen: auf die Fragestellungen, die für seine eigene Selbstkonstruktion von Wichtigkeit waren. Diese können den Kommentar fokusieren, sozusagen als roter Faden an ihm entlanggehen und die Struktur definieren nach der sowohl historisches und philologisches Wissen als auch konkrete Problemanalysen dargebracht werden. Marisa Siguan 428 Gerade die Subjektkonstruktion von der am Anfang die Rede war, nämlich die Subjektkonstruktion durch Bücher, durch Literatur, durch schriftliches Wissen, ist in Goethes Romanwerk auf eine extreme Weise präsent. Seine Romanfiguren gehen durch alle Krisen des modernen Subjekts. Sie thematisieren Subjektbildung als komplizierten Prozess der individuellen Verwirklichung in Konfrontation mit der Gesellschaft; sie problematisieren die Funktion der Subjektivität in diesem Prozess. Sie beschreiben Individualität auch als Suche nach einem Glück, in dem sich das Persönliche und Private in Harmonie mit dem Gesellschaftlichen vereinen sollte, eine oft gestörte und in Missverhältnissen aufgehende Suche. Sie beschreiben Individualität als unendlichen Bildungsprozess der eigenen Identität, in dem sich das Wissen und die Wirklichkeit begegnen müssen, und oft in Opposition zueinander stehen. Mit diesen Erwägungen bin ich natürlich längst dabei zu erläutern, was mich an Goethes Romanen fasziniert und was ich als roten Faden für meine Kommentare nehme. Wichtig dabei sind mir die Kontradiktionen und Oppositionen in seinen Werken, ist das Bewusstsein, dass diese sich gegen eine geschlossene Interpretation sperren, weil immer offene Fragen bleiben. Goethe macht es dem Leser nicht leicht. Das Identifikationspotenzial bei Werther lässt auch Ironie und Distanz durchschimmern. Der Leser liest einen Text, in dem das kulturelle Gedächtnis der Zeit in Texten und Verweisen allgegenwärtig ist, er merkt, dass Werthers Subjektivität eine literarische, angelesene ist, es wird ihm bewusst, wie Werther sich in die Welt hineinliest und dann die Welt verliert, wie er eigentlich weder weiß, was er liest noch was er sagt. Und der Leser kann darin Prozesse beobachten, wie sie uns in unserer kodifizierten, dilettantisch wahrgenommenen Welt geläufig sind. Beim Lesen können wir uns über den harmonisierenden Abschluss von Wilhelm Meisters Bildung in den Lehrjahren freuen, über dessen bevorstehende Ehe die besten Gefühle haben, die erzieherischen Mittel der Turmgesellschaft preisen, wir können aber auch sehen, wie die Figuren, die sich der gesellschaftlichen Anpassung sperren, die es nicht schaffen auf bestimmte individuelle Merkmale zu verzichten, an dieser Gesellschaft zugrunde gehen, und zwar so, dass ihr Untergang dem Erzähler fast das Herz bricht. Und wir können lesen wie Natalie, die Idealfrau, an den Erziehungsmethoden des Abbé Kritik übt und bestimmte Figuren als Opfer davon sieht. Wir können die Ehe als harmonischen Abschluss der Lehrjahre ansehen, wo das individuelle und das gesellschaftliche Glück gesichert werden, werden dann aber mit der nicht zu bändigenden, außergesellschaftlichen Sexualität in manchen Geschichten der Ausgewanderten konfrontiert oder auch mit der gesellschaftlich nicht zu zügelnden Liebesleidenschaft der Wahlverwandschaften. Wir können die Resignation und den Lebenswillen von Charlotte und dem Hauptmann bewundern oder dem entgegengesetzt das Versinken in Liebe und Tod von Ottilie und Eduard. Schon wieder eine Werther - Übersetzung? 429 Zu den vielen Oppositionen, die Goethes Romane strukturieren, gehört auch eine, die mir als Frau besonderen Spaß macht, und das ist die Opposition zwischen Frauen- und Männergestalten in den Momenten, wo die Frauen heilsame und vernünftige, sozusagen auf dem Boden verankerte Kritik, Opposition oder Ironie gegenüber den männlichen Aktivitäten äußern (dazu siehe Herwig, 1997). Es gibt wunderbare Frauengestalten bei Goethe, und sie schaffen es auch einen Teil des Bildungseifers infrage zu stellen. Natalie erwähnte ich gerade; ein anderes Beispiel ist Hersilie, die in den Wanderjahren die Weisheitssprüche des Oheims infrage stellt, was ein etwas zweifelhaftes Licht auf die gesamte pädagogische Provinz wirft. Die Devise Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen, die der philantropische Oheim über seine Haustür hängt, wird durch den ironischen Kommentar von Hersilie aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchtet, der zumindest den Anspruch auf Allgemeingültigkeit infrage stellt: Wir Frauen sind in einem besonderen Zustande. Die Maximen der Männer hören wir immerfort wiederholen, ja wir müssen sie in goldenen Buchstaben über unsern Häupten sehen, und doch wüssten wir Mädchen im Stillen das Umgekehrte zu sagen, das auch gölte, wie es gerade hier der Fall ist. Die Schöne findet Verehrer, auch Freier, und endlich wohl gar einen Mann; dann erlangt sie zum Wahren, das nicht immer höchst erfreulich sein mag, und wenn sie klug ist, widmet sie sich dem Nützlichen, sorgt für Haus und Kinder und verharrt dabei. So habe ich´s wenigstens oft gefunden. Wir Mädchen haben Zeit zu beobachten, und da finden wir meist, was wir nicht suchten. (Hamburger Ausgabe 8, 1950, S. 66) Die verschiedenen Perspektiven erlauben verschiedene Interpretationen, lassen einen Dialog zwischen sich ergänzenden Meinungen offen: einen Dialog, der nicht mit einer einzigen Schlussfolgerung schließt, nicht mit einer bündigen Maxime. Dieser Dialog braucht einen Leser, der bereit ist, in Komplizenschaft zu treten, einen Leser wie Hersilie. Und das ist der Leser den man über den Kommentar fördern sollte, dem man das Lesen ermöglichen sollte. Die Sprache des Textes wird durch die Übersetzung vermittelt, und hier kommen linguistische Fragen und Probleme zum Ausdruck, ganz konkret das Problem, die Varianz der Sprache des Textes in eine Varianz der Ankunftssprache zu übertragen. Das ist nun eine Schwierigkeit, die nicht immer gut gelöst wird. Die Verleger von der Wichtigkeit guter literarischer Übersetzungen zu überzeugen ist ein Kapitel für sich. Wenn man sich aber zu dieser heroischen Tat bereit erklärt (und zur Übersetzung von Literatur braucht man tatsächlich Heldenmut), muss man sich als erstes die Frage stellen, in welche Art von Sprache man übersetzt, bzw. wie man bestimmte autoren- und zeitspezifische Varianz in die andere Sprache transferiert, wie man darin eine weitere eigene autoren- und zeitspezifische Varianz für den Autor schafft. Im Unterschied zu der Originalsprache altern Übersetzungen gerade deswegen, Marisa Siguan 430 weil die verschiedenen Lösungen zeitgebunden sind. Im Laufe der Zeit braucht man neue Übersetzungen, genauso wie man neue Interpretationen herausarbeitet. Das heißt für einen Autor des 18., 19. Jahrhunderts, dass man entscheiden muss, welche Art von Spanisch man benutzt: ein archaisierendes, das geziert klingen könnte, oder ein gegenwärtiges. Meiner Ansicht nach, und wenn man Goethe seine Modernität gönnen will, sollte man ein modernes Spanisch nehmen, aber nicht so, dass man Slang oder Untergrundjargon benutzt, wenn es besonders expressiv zugehen soll, sondern dass man sich an eine kultivierte Hochsprache hält, in der man mit romantisierenden Elementen vielleicht in bestimmten Momenten Distanz schaffen kann: eben Literatursprache der Tradition, die eine Distanz zum Leser wahrt. Darin aber sollte die Sprache möglichst melodisch gut klingen, was nicht so selbstverständlich ist, wie es sich sagt. Dabei heißt „gut klingen“ beileibe nicht, dass man den Autor in seinen Eigentümlichkeiten ‘korrigiert’, sondern dass man ihnen gerecht wird. Bei Werther zum Beispiel gibt es hierin große Schwierigkeiten zu überwinden. Der Roman treibt die Sprache der Empfindsamkeit bis zu ihren äußersten Konsequenzen. Die Sprache des Romans ist hyperbatonreich und expressiv, es häufen sich Interpunktionszeichen und unfertige Sätze, ganz besonders die unfertigen Wenn-Sätze, die Anakoluthe und Ellipsen. Wie man das löst, ist in jedem Einzelfall zu bedenken; aber mein Vorschlag ist, dass man diese Charakteristik des Textes nicht korrigiert, indem man daraus ganze Sätze macht, sondern dass man versucht, sie auf möglichst harmonische Weise in die andere Sprache zu transponieren. Es darf schon so klingen, dass man merkt, wie der Autor mit unfertigen Sätzen hantiert, weil er damit einen bestimmten expressiven Zweck verfolgt. Das aber darf nicht die Sprache, das Lesen holprig machen. Viele Werther-Übersetzungen vervollständigen die Sätze, reduzieren die Interpunktion, ‘korrigieren’ so den Held mit der Begründung, dass unfertige Sätze auf Spanisch unmöglich klängen. Im Prinzip gilt dieses Argument ja auch normalerweise für die deutsche Sprache. Man muss aber der eigenen, autorspezifischen Varianz Goethes in diesem Sinne gerecht werden. Das Argument, dass es besser klinge, wenn man die Sätze vollständig macht, hilft hier nicht. Es müsste auch anders gut klingen können. Dazu ein Beispiel: Im Werthers Brief des 10. Mai heißt es: Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen Schon wieder eine Werther - Übersetzung? 431 der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! Wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: …] (1982, S. 351) Mein Vorschlag dazu respektiert die Struktur der Sätze und behält die „unfertigen“ Wenn-Konstruktionen mit Hilfe von Interpunktionszeichen: Cuando la neblina del valle estimado asciende en torno a mí, y el alto sol reposa en la superficie de la oscuridad impenetrable de mi bosque, y me tiendo entonces sobre la crecida hierba junto a la cascada del arroyo, y cercano a la tierra me maravillan miles de hierbecillas variadas; cuando percibo el zumbido del pequeño mundo entre tallos, las innumerables y misteriosas formas de los gusanillos, de los mosquitos, y siento la omnipresencia del todopoderoso que nos creó a su imagen y semejanza, el soplo de quien es todo amor, que flotando en eterna delicia nos sostiene y ampara; ¡amigo mío! cuando cae la tarde ante mis ojos, y el cielo y el mundo a mi alrededor reposan en mi alma como la imagen de una amada; entonces me invade la nostalgia y pienso: ¡ay, […] (2006, S. 7) Literarisches Übersetzen erfordert eine akribische Sprachanalyse und ein feines Gefühl für Varianz in allen Dimensionen und in beiden Sprachen. Es ist eine mühselige Arbeit, bei der man viel über die Sprache lernt. Der eigene Beitrag, der neue Text in der Zielsprache müsste wie ein neu geschriebener Text sein, hinter dem der Übersetzer verschwindet, transparent wird. Das ist natürlich nie ganz erreichbar, sollte aber das Ziel sein. Eine letzte interessante Einsicht ist die Feststellung, dass von der Übersetzung kein Weg zurück ins Original führt: Wenn man die Übersetzung zurückübersetzt, entsteht wieder ein neuer Text. Auch das kann eine interessante, lehrreiche Übung im kontrastiven Deutschunterricht sein und die Sprachanalyse fördern. Zum Abschluss will ich noch einmal zur Selbstkonstruktion zurückkehren: die Selbstkonstruktion durch Lesen. Dafür möchte ich zwei Lesemöglichkeiten angeben, die bei Goethe zu finden sind. Als erste Möglichkeit die des lesenden Paares Werther und Lotte: Bei seinem letzten Besuch liest Werther Lotte aus seiner Ossian-Übersetzung vor. Das Lesen erschüttert beide bis an den Rand des Erträglichen, lässt sie einen leidenschaftlichen Kuss wechseln. Der Text dient als symbolischer Verweis auf ihre Leiden: so glauben sie, oder zumindest so glaubt es Werther. Das Paar weiß nicht, dass ihr so intimes, so persönliches und so einzigartiges Erlebnis eigentlich ein Zitat ist. Es reiht sie ein in eine Kette von Liebenden, die ihrer Liebe beim Lesen verfallen: Paolo und Francesca, die in Dantes Inferno ihre Liebe und ihre Schuld schildern, sind die bekanntesten davon. Sie alle lesen. Aber derjenige, der am intensivsten liest, bis zu dem Punkt, dass er sich selber auf die Literatur projiziert und darüber der Welt einen Sinn gibt - einen Sinn, der ihr nicht entspricht -, ist Werther. Sein Lesen schafft Sinn, aber dieser Sinn Marisa Siguan 432 erklärt ihn, seine Identität, nicht die Welt, und Werther wird an ihr zerbrechen. Seine Mauer aus Büchern hat keinen Ausgang zur Welt, er sieht nur durch blinde Fenster und Türen, könnten wir sagen. Im 8. Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren finden wir ein anderes Leserpaar, Friedrich und Philine. Ihr Lesen ist ein Spiel: Sie setzen sich mit einem Stapel Bücher und einer Sanduhr an einen Tisch und lesen sich abwechselnd Fragmente aus den Büchern vor in der Zeit, die von der Sanduhr markiert wird. Die Lesefragmente kommen beim zufälligen Öffnen der Bücher zustande. In dieser Alternanz von Fragmenten wird ein Sinn dem anderen gegenübergestellt; es ist unmöglich einen einheitlichen Schluss oder Ausgang zu finden; alles kann im ewigen Dialog der Assoziationen bleiben; man kann neue Assoziationen und neuen Sinn finden; alles ist möglich. Die Büchermauer wird auseinander genommen und gleichzeitig aufgebaut, und es können Bücher durch Fenster und Türen fliegen. Lustig kann es zugehen, sicher aber nicht gemütlich. Alle diese Möglichkeiten bietet Goethe. Ihn zu edieren und zu übersetzen, sollte sie fördern, nicht einschränken. Selbst auf das Risiko hin, das Imre Kertész aufzeigt, wenn er fragt: „Jedes Verstehen ist Missverstehen. Können wir dann sagen, dass das Missverständnis ein Werk am Leben erhält? Nein, wir können es nicht so ohne weiteres sagen.“ (Kertész 1999, S. 16). literatur Améry, Jean: Ein Leben mit Büchern. Améry-Nachlass im Marbacher Literaturarchiv, Mk 81.1275. Goethe, Johann W. von (1950): Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Goethes Werke (= Hamburger Ausgabe in 14 Bänden 8). Hamburg. Goethe, Johann W. von (1982): Die Leiden des jungen Werther. In: Goethes Werke (= Hamburger Ausgabe in 14 Bänden 6). Hamburg. Goethe, Johann W. von (2006): Los sufrimientos del joven Werther. Traducción de Marisa Siguan y Eduardo Aznar en: Goethe: Narrativa. Edición de Marisa Siguan. Biblioteca de Literatura Universal. Madrid/ Córdoba. Herwig, Henriette (1997): Das ewig Männliche zieht uns hinab: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«. Tübingen/ Basel. Kertész, Imre (1999): Ich - ein anderer. Reinbek bei Hamburg. Muschg, Adolf (1986): Goethe als Emigrant. Frankfurt a.M. Ortega y Gasset, José (1971): Sobre un Goethe bicentenario. In: Ortega y Gasset, José: Obras Completas. 3. Ausg. T. 9. Madrid, S. 551-608. Pageard, Robert (1958): Goethe en España. Madrid. Semprún, Jorge (1994): Was für ein schöner Sonntag. 3. Aufl. Frankfurt. a.M. Semprún, Jorge (1997): Schreiben oder Leben. Frankfurt. a.M. shigEru yoshiJiMa moDel for Intercultural communIcatIon: a reVIseD Draft 1. Introduction: pre-consideration about “communication” and “culture” 1.1 Communication We understand “communication” as the action of at least two individuals exchanging information through either verbal or non-verbal signs. This paper will discuss about successful communication acts and analyze what sort of impediments can lead to unsuccessful communication. Hereby the communication act can be regarded as successful if the transmitted information maintains the same or approximately the same contents when received. 1.2 Culture Based on Klaus Hansen, we will understand the “culture” as the standardization of mental and physical behavior in a collective in a society. These can be large “collectives”, like “nation” or “folk/ ethnicity” with “national-spirit” or “ethnicity”, and moving down to the smallest one, “family” with concepts such as “family traditions”. Under this definition, individuals are inevitably excluded from our discussion, but these individuals belong at once to several collectives like male-, merchantsor smokers-collective, and so on (multi-collective). By any specific, concrete communication act, therefore, it is not clear from which perspective one speaks. 1.3 Intercultural communication When a communication act can be organized only through individuals and the culture can be recognized only collectively, a culture is excluded from the place of communication. We will understand “intercultural communication” as communication carried out by individual interlocutors with different cultural backgrounds. In the analysis of a concrete intercultural communication act, therefore, we must distinguish between the customs of each interlocutor, the collectives they are to be assigned to, and their own personality. There the individual plays a quasi-role of an agent of the collective while presenting his or her own individual existence at the same time. This is one of the fundamental challenges faced by studies on cultures. Shigeru Yoshijima 434 2. model for the monolingual communication Because I know no model for intercultural communication, I will start from the 1974 Tübinger model designed for an introductory book on linguistics, and modified to correspond to the current state of linguistic and communication research: Fig. 1: revised tübinger Model 2.1 Signifiant and signifié in the communication act Communication aims to share information among all participants of the communication act. This information to be transmitted has two sides (signifiant and signifié). One side has physical features such as sound waves, light waves or haptic acts, e.g., touching of the body. The other side includes the information/ meaning. Both concepts referring to the word level (code) by de Saussure are substituted now with proposition at the sentence/ text level. So now we have three conceptions of proposition, connotation and illocution. 2.2 Proposition and illocution The term proposition has its origin in logic, and we linguists have obtained the concept illocution from language philosophers such as Austin who suggested in his book “How to do things with words” (1964) that a sentence refers not only to the reality or incident (“proposition”) presented through the words, but Model for Intercultural Communication: A revised draft 435 also includes another aspect of meaning, intention of utterance (“illocution”). “Illocution” is divided further into the subcategories assertive, directive, commissive, declarative and expressive. 1 2.3 Connotation The term connotation has gone unchanged since the Tübinger Model. This term referred at first to the meaning additionally given to a word, expressing the mental, social relations to the speaker. We see correspondent phenomena at the sentence and text level too. An example would be the Chinese or Japanese passive construction, which originally expresses the demerit of the fact (proposition) presented in the sentence for the subject or relating person. (Cf. further examples later.) 2.4 Constellation and procedure of communication “Participant 1 ” and “participant 2 ” in Figure 1 should correspond to the “speaker” and “hearer” in the Tübinger Model, and other possible functions such as writer and reader, and in the singular or in the plural. This was intended to correspond to the reality of communication. 2.5 Production of information The origin of information to be shared is built first in our mind. An (external or intrinsic) impulse for the information taken into our mind cognitively is processed and takes the form/ Gestalt of an image. This image is not always the same; each participant in the communication has a somewhat different image so that it is sometimes necessary to confirm the identity of images expressed through words. This confirmation is possible in face-to-face conversation (meaning negotiation). In other cases, e.g., fictional text, we must work solely with mental images. The image in the mind of participant 1 is transformed to signs (words and sentences). These sentences are then transmitted through a channel to participant 2 . 2.6 Channel and media Channel here means all physical senses activated by a communication act. They are the audial, visual and haptic channels. Through these channels verbal and non-verbal information is transmitted to the partner. 1 Vanderveken (1995, p. 15-17). Shigeru Yoshijima 436 The nonverbal information transmitted through these channels is assumed to have the same structure as verbal information, and they are activated simultaneously in a communication act. And I propose the concept of multichannel as Figure 2. Fig. 2: Multichannel The term Media is introduced to refer to new transmission technology, e.g., E-mail or TV. They exert influences on the contents and structure of information. 2.7 Encoding (verbalizing) and decoding (understanding) Figure 1 shows the process of encoding and decoding of signs operating simultaneously in three dimensions, namely proposition, connotation and illocution. It is important to note that not all members of a language society allocate the same image to the same sign. A communication act can be considered as successful when the participants work with their images inside of the intersection of each of the three dimensions. 2.8 Feedback When one is not sure that one’s own image and that of the partner are identical, i.e. when working outside of the striped area, usually a confirmatory action is attempted. An arrow with point at both ends presents the action of feedback. However, it is very difficult to integrate this iterative dynamic movement into our static figures. Therefore I must construct another model, as in the next section. Model for Intercultural Communication: A revised draft 437 3. flow chart of communication 3.1 Hundsnurscher’s model 2 Oral communication usually occurs as an exchange of utterances. Hundsnurscher proposes a model for the basic development of a dialogue as below. This model is constructed from very simple general speech acts: initial speech act (ISPA : whatever kind of illocution), and two kinds of reply to the ISPA; “positive notification” and “negative notification”. The speech act “insist” allows a further development of the dialogue. Positive notification and resignation can end the dialogue. Then a new dialogue can start. Basic Model Turn 1 Turn 2 Turn 3 Turn 4 Turn 5 Turn X Type Speaker 1 Sp 2 Sp 1 Sp 2 I ISPA: Will you be my wife? PN: Oh, yes. II ISPA: Will you be my wife? NN: No! RSI** : OK, I see. III ISPA: Will you be my wife? NN: No! INS: Please be my wife! PR*: Well, if you will make me happy. IV ISPA: Will you be my wife? NN: No! INS: Please be my wife, please! NN: No: I’ll never think of it! RSI: ** OK, I give up. V IPSA: Will you be my wife? NN: No! INS: Please be my wife, please! NN: No: I’ll never think of it! INS: Please be my wife, I beg you! ∞ ISPA = initial speech act; PN = positive notification; NN= negative notification; *PR = concession= PN; **RSI = resignation/ give up table 1 2 Hundsnurscher (1994, p. 218). Shigeru Yoshijima 438 Hundsnurscher presents an extended model. He sees one more possible step between the initial speech act and the following reply. These steps prepare for a definitive reply, to confirm or to elicit additional information. This indefinite notification is followed by a clarification by speaker 1 and 2. When the indefinite point has been clarified the dialogue can proceed. This clarification act can occur repeatedly, especially in intercultural communication. Turn 1 Turn 2 Turn 3 Turn 4 Turn 5 Type Speaker 1 Sp 2 Sp 1 Sp 2 Sp 1 Clarifying phase I ISPA: Will you be my wife? IN: I don’t know. CL: What do you mean? RP = PN: Actually yes, but first I must ask my father. II ISPA: Will you be my wife? IN: I don’t know. CL: What do you mean? RP = NN: No: my father won’t let me. RSI: So, I must give up. or INS: Please persuade your father and become my wife! IN = indefinite notification: confirming question, requiring more information CL: clarifying act RP = Reply to the clarifying question table 2 4 Intercultural communication 4.1 Society or culture While intracultural communication can be carried out only inside the social norms/ conventions depicted with a single circle in Figure 1, we should premise two circles of different societies or cultures with an intersection as in Figure 4 in the section 5. These societies surely exert influences on communication in regard to content or themes, style and practice. The cultural differences can be the impediments to successful communication. Model for Intercultural Communication: A revised draft 439 In cases where the two circles have no common intersection, a communication act is theoretically impossible. But in the reality communication can take place in some way even if the intersection is minimal. The question is what makes this communication possible. Here I could suggest an additional set which enables the virtually normal communication on both sides. I name this set T O L E R A N C E -A R E A . 4.2 Linguistic/ communicative competence The model in Figure 1 premises the competence of participants approximately as equal in quantity and quality. In a concrete interaction achieved in a sequence of many turns taken, the participants activate their whole range of available competences and knowledge, as the foundation for all understanding: they are general, cultural, situational, behavioral, pragmatic, graphic and linguistic knowledge 3 or competences. (I name them R E S O U R C E as a whole). However, in reality the participants do not possess these competences in the same quantity and quality. This can be observed even within a monolingual, intracultural interaction, e.g., in a conversation between an educated adult and a young preschool child. This diversity can be ignored to a large extent in intracultural communication, because in adult-child interaction the adult has mastered, in most cases, certain techniques to overcome such diversity. And in other cases too participants recognize the diversity of the partner soon and are ready to make efforts to overcome the gaps and will ask for clarification if necessary. Otherwise he or she will ignore the unclear passage and tolerate it, or try to infer the partner’s intent when possible on the base of their general knowledge. This cooperative attitude is fundamental to the successful mutual understanding in general. In intercultural communication, however, the participants on both sides usually cannot calculate these diverse competences. At the initial encounter they first notice some discrepancies, in most cases through pronunciation. According to their impression they plan their communicative strategy more or less carefully. 4.2.1 Phonetic/ sound aspects The sound system is so basic, and its acquisition demands a long time. The natural acquisition of one’s mother tongue usually requires about five years for reaching the standard pronunciation. After the critical period it is very difficult to reorganize this system. In a foreign language, therefor, even a trained 3 Cf. Doyé (2013, Intercomprehension). Shigeru Yoshijima 440 learner often reveals the influences from L1-pronunciation. I can say this from my own experience. The Automatization in this area is not completed yet in my case. 4.2.1.1 Phone vs. phoneme Phonemes merely play the role of meaning distinctions in intra-monolingual communication, and whether some sounds are accepted as their varieties depends solely on this function. So long as they do not overrun the border of phonetic realization of other phonemes, they are accepted as allophones. But in intercultural communication between non-native speakers, phonemes should be considered from another perspective. For instance, with regards to the distinction between / r/ and / l/ , the assignment of these liquid-sounds can be seen as arbitrary. Instead of classifying [r], [R] and [ʁ] as a single group of phoneme / r/ , it is possible to handle them as different phonemes. Some German or French people produce the suppository [ʁ] almost as a [χ] in some sound contexts like in Garten, as [gaʁten] (uvular). When this vibrant-feature is ignored, or if one has no fine listening ability, it could be classified to the phoneme-group / χ/ . The consideration above shows that in intercultural communication, the phoneme and its relation to phone (realization of phonemes) should be flexibly disposed, namely each phoneme should provide an extended sound image from that of its own language. Imagine a conversation between an L1-speaker of English and a Japanese person speaking English as L2 who cannot distinguish / r/ and / l/ . When the Japanese says, “I lead a newspaper at breakfast. My wife doesn’t like it.” A speaker of English as L1 may not understand the utterance literally and ask back: “Do you read a newspaper at breakfast? ”, as in a classroom where the teacher corrects the student’s pronunciation indirectly. However, a native or a talented nonnative English speaker may be able to interpret the utterance of the Japanese in this direction from the outset. He or she infers what is meant. This inference is easily available, because the act to lead a newspaper at breakfast is implausible, going against the semantic valence/ collocation. This is a meaning-negotiation, clarifying act. In this case the partner sets up the framework of temporal homonyms for read and lead. In a communication act between a Chinese and a Japanese, deviations like the above causes no problem when they both speak English as L2, a vehicle language. They will interpret the utterance on the basis of their own languages. Their languages have so many homonyms and / r/ and / l/ always construct a pair of homophones. Model for Intercultural Communication: A revised draft 441 These observed actions, named T O L E R A N C E , are supported by the ability to infer on the basis of linguistics and general knowledge. And this tolerance is sustained by a fundamental precondition, Cooperative attitude, especially for the intercultural communication. When, on the other hand, the inference is unavailable, even a cooperative communication would fail. Since almost only physical components are dominant in the phonological area, the inference is of another nature than that of meaning inference. It demands its own independent graphic as below. Here the society plays a minimal role. Fig. 3: Phonetic transmission The relation of phoneme 1 and 2: - Case 1: When they are identical both in regard to acoustics and phonetics, we will find the phonemes in the intersection of “common phonemes”. There the mutual phonological identification is confronted with no problem. - Case 2: If the phoneme 1 and 2 are not identical, the identification would be difficult, unless both phonemes are tolerated and located as varieties into the intersection “tolerance area”. For example / r/ and / l/ build a virtual phoneme / r+l/ in the language in question. Shigeru Yoshijima 442 - Case 3: If the interlocutors cannot acknowledge either as varieties, mutual understanding is impossible on the sound level. There should be an alternative expression necessary that allows for Case 1 or 2, in order to continue the interaction. - For acoustic realization 1 and 2, there is no guarantee that they are the same. The technical diversity, e.g., diverse quality of the transmission and reception equipment cause biased transmission of the sound, e.g., a / r/ , can be received as / d/ : Märchen as Mädchen. I often encounter this difficulty in a video-conference. 4.2.2 Formal aspect: vocabulary, grammar 4.2.2.1 Vocabulary The diversity between the participants in this competence area influences the flow of intercultural communication. The lexical competence of the partner is noticed and evaluated almost simultaneously to the phonetic one. The disposition of read and lead shown in the previous section would have no function if the partner does not have these words in his vocabulary. Therefore the more competent he is, the more effectively his interlocutor can be helped cooperatively. This cooperation presupposes the ability to infer the communicational intention of the interlocutor. The more competent speaker can and should help the less competent partner in their vehicle language in a communication act. It can be meaning-clarifications through questions, or proposals of alternative expressions or interpretations. When the participants have approximately the same level of high competence, mutual helping actions or cooperative meaning construction will be feasible. 4.2.3 Proposition, connotation and illocution Real communication acts are achieved in a form of discourse, structured from sequences of utterances. They are tangible by the sensors of human beings. However, since proposition, connotation, illocution are extracts from the contents of the discourse, they cannot be verified in the sense of positivism. 4.2.3.1 Connotation When we hear an utterance: (1) My father doesn’t like Japanese cars. and (2) Daddy doesn’t like Jap cars. we recognize no difference in the expressed content (proposition). “My father” and “Daddy” refer to the same person in the relation “father-child” to the speaker. And “Japanese” and “Jap” refer to the same ethnicity. But the differ- Model for Intercultural Communication: A revised draft 443 ences can be seen in the emotional, evaluating attitude to the expressed items. “Daddy” expresses a familiar feeling of the speaker to the “father”, and “Jap” a pejorative attitude to ethnicity. The two Japanese sentences below with different semi-auxiliary verb ageru and yaru (original meanings of them are “give”) respectively refer to the same action (proposition): (3) Jack wa Jane no shukudai o tetsudatte ageta/ yatta. (‘Jack helped Jane with her homework.’) “ageta/ yatta” present different personal relationships between Jack and Jane. The former expresses the friendly spontaneous helping action, while the latter the same action includes the patronizing character of Jack toward Jane. 4.2.3.2 Illocution Illocution can be understood as a new, important object for foreign language education and for the research of intercultural communication as well. In regard to the classification of illocution we can find a certain difference between language philosophers and linguists. Vanderweken, 4 a follower of Searle, classifies illocution according to the criteria of whether the factum expressed in dictum already exists at the time of utterance, or happens concurrently, or afterwards, or merely in the mind of the speaker. However, Zifonun et al. see this issue inductively from the real (authentic) dictum and ask what kind of action (Handlung) it expected. These different inductive vs. deductive approaches are, I suppose, one of the motivations which prompted the Mannheimer linguists to the reclassification of the illocution assertive into quaestive and assertive, for example. The former was considered by the philosophers as a sort of directive which demands an answer as a verbal reaction to the given utterance. The attempts to develop a typology of illocutions since Searle seem to lack theoretical basis, as Zifonun et al. notice. They therefore are guarded about building a general typology of illocution and limit their work to the survey of ascertainable illocutions in authentic German sentences. For the research of intercultural communication, however, the contrastive analysis of illocution types is indispensable, because one reacts first to the illocution of the utterance, not absolutely upon the expressed proposition. Second, illocution belongs to the area of pragmatics, namely to the culture, and as culture differs from one to another, the type of illocution can vary too. And an utterance can be interpreted in opposite direction, e.g., apology vs. demand/ 4 Vanderveken (1995, p. 15-17). Shigeru Yoshijima 444 condemnation; courteousness vs. arrogance, depending on the communicative situation (See example (4) below). In this sense it is desirable to consider these issues from the perspectives of rhetoric, which deals with the means to achieve successful communication. We mean “illocution” as the expected/ aimed action of the communication partner stimulated through the utterance of the counterpart. And we distinguish two types of illocutions, the primary and secondary. We have usually no difficulty with the primary illocution because its intention is formulated clearly in the dictum. Here we will observe mainly the secondary illocution which appears in varied realizations. Below we see an often cited example for primary and secondary illocution: (4) Interaction Type 1 Interaction Type 2 A: “It is very warm here! ” (a directive, expecting a positive notification/ IDS-Grammatik: judgement/ confirming question) B: “Yes, it is very warm.” (an assertive with positive notification) A: “It is very warm here! ” (a directive, on the premise of a positive notification, expecting an action to remove the negative fact) B: “Shall I switch the air conditioner on? ” (a commissive, a proposal) In Type 1, B gives the positive notification to the utterance of A, in the primary illocution, namely an affirmative answer directly to the content of the question. That would be correct from the viewpoint of school grammar. But from the social aspect it is not adequate, since A is expressing his wish with this utterance. The reaction of B who does nothing, by affirming the question, can be interpreted in two ways: B wasn’t aware of A’s illocution, probably because of lack of socio-linguistic competence. or B is rejecting the request made by A, thinking that A has no right to demand something of B in this way, namely A is arrogant. But if A was B’s supervisor, B’s reply would mean hostility or insubordination. However, in Type 2, in contrast to Type 1, the wish expressed through secondary illocution should be interpreted as more courteous than through primary illocution. Model for Intercultural Communication: A revised draft 445 One more example: Child: Mizu ga nai yō! (There is no water! ) 5 Mother: Mizu o kudasai! tte iinasai! (Say ‘give me some water, please! ’). The mother’s correction of the secondary illocution to “Mizu o kudasai! ” with primary illocution reflects the rules for the communication as the results of socialization. But the mother can respond in another way: (a) You can go to the kitchen and get it/ help yourself! or (b) Water is in the refrigerator. Whether the child can say the same sentence to the father too, depends first on the relations between them. To the father who usually does not set the table, the child could merely express the wish through the primary illocution: “Please bring me some water! ” For foreign language learning and intercultural communication, the speech act plays a greater role now, since the focus has shifted to the communicative approach. More studies in this field, from the perspective of contrastive sociolinguistics are called for; who, to whom and when different types of illocution are allowed. This is particularly the case where secondary illocution functions in opposite directions, for example, courteous vs. arrogant ways. 4.3 Impediments in intercultural communication acts 4.3.1 Connotation If a speaker utters a sentence in L2-English as (2) in 4.2.3.1, the speaker of L1- English will tolerate it, and interpret it as (1). The speaker will assume that the interlocutor lacks the expression for “father”, and possesses only the word “daddy”, for whatever reason. In this case the connotation is neutralized. But if a good L2-English speaker utters the same (2) sentence, the partner would understand it literarily together with the biased connotation. There he will infer insufficient language education, or the real intention, feeling or attitude 5 The prosody of the utterance or specified indicators in certain languages prompts probably to the interpretation of the utterance as a requirement (an emphasis “yoh! ” as in this Japanese example). Shigeru Yoshijima 446 of the speaker to the object. Or in a stage where the friendship among interlocutors is developed to some intimacy, one partner may attempt to correct it while making fun of the utterance. But such a case will probably occur rather infrequently. A speaker of a foreign language usually learns the target language in a (language-)school, where neutral words and phrases are learnt first in regard to connotation. (Yet this is a problem for Japanese learners, since there are scarcely any neutral expressions in Japanese. Most Japanese expressions are biased through connotation.) 4.3.2 Hidden risks of connotation In the globalized world, the so-called internationalisms have spread throughout wide regions of the world. It makes international mutual understanding feasible. But some concepts have their own connotation which have their validity only inside the nation/ country and can raise misunderstandings: e.g., the concept of a “nation”. While Americans are generally proud of their own nation and have some positive connotation to this term, Germans or Japanese can be somewhat skeptical. This difference in attitude to the same term can cause misunderstanding or lead to a different conclusion. It is an example of a communication act which has not achieved 100% success. Similar problems can be seen in regard to some of the so-called specific notions 6 like “male”, “female”, “love/ sex”, “family”, … “god”. These concepts are common or general as far as they are found in almost all languages. But the attitude to them, the connotation or savoir-être, can vary from one ethnicity/ generation to another. For better mutual understanding it is desirable to conduct more research from this perspective. 4.3.3 Illocution In an intercultural situation the utterance in (4) can proceed probably in varied ways: (4’) A: It is very warm here! Could you please switch on the air conditioner? B: Yes; of course! Here the request and the reason for it are expressed explicitly in primary illocution. The expression in secondary illocution, therefore an indirect request, has the risk of not being understood and work inadequately in social 6 Threshold Level (1990). Model for Intercultural Communication: A revised draft 447 aspect as in (4). The use of an indirect formulation largely depends on the communicational situation, on the social relation of the communication partners. In addition, they would be used first by advanced language users. In a communication act in general, what one reacts to depends on the occasion. Of course one reacts to the facts imbedded in the dictum. In a normal situation, however, one reacts often to the connotation or the ways in which the illocution is delivered. These facts we often experience in our daily life, as we analyzed in the previous sections, seem to shift the focus in intercultural communication. A simple tendency can be recognized as follows: the lower the formal competence in the target language such as articulation, grammar, and vocabulary, the less focus is laid on the connotation or secondary illocution by the counterpart. And the higher the competence in the target language, the more negatively the violation against the standard works. 5. the third possible intercultural communication 5.1 Intercomprehension In the intercultural, but monolingual communication, as is often observed, a participant speaks in his/ her L1 and the others speak in the same language as an L2. Hereby it is sure that the (educated) L1 speaker has an advantage, since in the L1 one can express one’s thoughts and feelings best. That means speakers of the language other than their L1 face a disadvantage. The extreme case can be seen in “Foreigner talk”, in which the L2-speaker can hardly maintain his opinion against his counterpart sufficiently, but must frequently yield to the L1 speaker. To resolve this problem, the third possible form is proposed, namely Intercomprehension: all speak their own language and understand the other(s)’. There is no need for interpretation between the languages because all participants have sufficient listening competence in all languages to comprehend each other. This form is now being acknowledged as a possible approach to intercultural education and communication, supported by the policy of the Council of Europe and EU to learn two languages in addition to one’s own. But its application is limited yet to languages groups with a common linguistic heritage. 7 7 Cf. Doyé (2013, p. 342). Shigeru Yoshijima 448 5.2 EOLE (Éveil au Langage/ Ouverture aux Langues à l’Ecole) For mutual intercultural understanding, some fundamental premises should be set: above all the awareness of diversity of these knowledges among the interlocutors. This awareness is not easily obtained, because most human beings grow up in a monolingual society up to the school age. To overcome this challenge, one approach is initiated in the French speaking Switzerland and now practiced in other several countries as well. 8 In these schools, EOLE pupils should acquire the fundamental senses for the intercultural and interlingual communication; openness and respect to otherness, tolerance, cooperative attitudes. And these attitudes combined will sustain the intercultural competences, promoting parallel competences in their own language and culture. 6. a model for intercultural communication In Figure 4, I will present my model for successful intercultural communication, which should serve as the conclusion of my discussion. Fig. 4: intercultural communication - Communication takes place inside the intersection of the different norms of different societies. What is located in this intersection (Tolerance area) can be tolerated by both participants, and contributes to mutual understanding. 8 Cf. Perrgaux (2013). Model for Intercultural Communication: A revised draft 449 - The information sent from participant 1 is interpreted by participant 2 . The interpretation is actualized inside the intersection of resource 1 and of resource 2 . - The quality and quantity of the resources can be unequal, but can be enlarged during the interaction (even temporally through tolerance). - The intersection of the norms of societies in question can be widened and enlarged through the repeated cultural exchanges temporally or even definitively. - Intercultural norms exist not yet in a visible form, but the sprout of these intercultural norms already exists to some extent when we are ready to accept manners that are not familiar in one’s own society. 7. references Baumgärtner, Klaus/ Steger, Hugo (ed.) 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Berlin/ New York. aBschlIessenDe worte rainEr wiMMEr loBlIeD auf gerharD stIckel Dass das IDS im Sommer 1992 in ein neues Gebäude in Mannheim R 5, 6-13 einziehen konnte, in dem es bis heute untergebracht ist, ist ein wesentliches Verdienst von Gerhard Stickel (vgl. Stickel 1992). Die Stiftung „Institut für deutsche Sprache“ war 1964 von acht Germanistik-Professoren (unter ihnen auch ein Schweizer und ein Österreicher) errichtet worden, und die Stadt Mannheim hatte dem Institut Arbeitsräume an verschiedenen Orten in der Mannheimer Innenstadt zur Verfügung gestellt. Außerdem gab es Arbeitsstellen als Außenstellen des IDS in Bonn, Freiburg i.Br., Tübingen und Innsbruck. Gerhard Stickel hatte die Problematik dieser Unterbringung des IDS für eine dauerhafte, fruchtbare wissenschaftliche Arbeit klar erkannt und arbeitete zielstrebig daran, den Gründern und Trägern der Stiftung die wissenschaftshinderlichen und kontraproduktiven Unterbringungs- und Arbeitsverhältnisse des IDS darzulegen und zu erläutern. Wer Erfahrungen mit Konkurrenzkommunikationen im wissenschaftlichen Bereich hat, kann kaum hoch genug einschätzen, dass er mit diesen Bemühungen letztendlich Erfolg hatte. Keine Arbeitsstelle für deutsche Sprache verzichtete gern darauf, eine Außenstelle des IDS zu beherbergen. Die erfolgreiche, auf Dauer angelegte Neuunterbringung des IDS in der Mannheimer Innenstadt wäre nicht möglich geworden ohne die intensiven und fruchtbaren Beziehungen, die Gerhard Stickel in jahrelanger beharrlicher und umsichtiger Arbeit zur Mannheimer Stadtverwaltung aufgebaut und gepflegt hat. Persönliche Kontakte zu den Bürgermeistern der Stadt haben geholfen, die Sache des IDS auch zur Sache der Stadt Mannheim zu machen. Als das neue IDS-Gebäude im Sommer 1992 bezugsfertig war, war es für die Mannheimer Mitarbeiterschaft etwas zu groß ausgelegt, so dass zu überlegen war, ob nicht einige Räumlichkeiten noch einem anderen Mieter zur Nutzung angeboten werden sollten bzw. müssten (vgl. Stickel 1992, S. 2f.). Glückliche historische Umstände haben dazu geführt, dass eine solche Lösung für die Gebäudenutzung nicht mehr erforderlich wurde: Infolge des Falls der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands konnte das IDS Anfang 1992 zweiundzwanzig Sprachwissenschaftler/ innen der früheren Akademie Rainer Wimmer 452 der Wissenschaften der DDR übernehmen. Bei der Integration dieser Wissenschaftler/ innen hat Gerhard Stickel ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt. Seine einladende, umsichtige und natürlich auch sachliche, arbeitsbezogene Vorgehensweise war auschlaggebend für eine erfolgreiche, gute Aufnahme der ehemals Berliner Mitarbeiter/ innen. Dass diejenigen Mitarbeiter/ innen, die keine engen familiären Beziehungen zu Berlin hatten, nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Arbeitsleben in Mannheim geblieben und heimisch geworden sind, ist letztlich ebenfalls ein Verdienst Stickels. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass sie in Mannheim ein attraktives Lebensumfeld gefunden haben. In den Jahren 1982 bis 1994 waren Gerhard Stickel und ich gemeinsam im Vorstand des IDS tätig. Es gab eine Arbeitsteilung in der Weise, dass einer der beiden Vorstände jeweils auf Zeit die Verwaltungsgeschäfte leitete und der andere sich den wissenschaftlichen Aufgaben des Instituts widmete. Ich habe diese Zeit der Zusammenarbeit in allerbester, positiver Erinnerung. Sie wurde dadurch beendet, dass ich eine Professur an der Universität Trier übernehmen konnte. Dies war durchaus im Sinne der staatlichen Geldgeber des Instituts, die eine Person als Vorstand des IDS für angemessen hielten. Gerhard Stickel hat für den Aufbau, den Erhalt und und die nationale wie auch internationale Profilierung des IDS als Forschungs- und Dokumentationsstelle für die deutsche Sprache unschätzbar viel geleistet. Er selbst hat das, was er erreichen konnte, eher zurückhaltend eingeschätzt. Bei der Amtseinführung seines Nachfolgers Ludwig Eichinger am 1. Oktober 2002 hat er bemerkt, dass er in seiner Amtszeit für die strukturellen und wirtschaftlichen Arbeitsbedingungen des IDS einiges (ich sage eher: sehr viel) erreicht habe (vgl. Stickel 2014, S. 142). Er räumt ein, dass er an einigen wissenschaftlichen Vorhaben des IDS mitgewirkt habe, hält die Einflussnahmen aber eher für nachrangig. Aufgrund der langen Zusammenarbeit mit Stickel glaube ich sagen zu können, dass er diese zurückhaltende Selbsteinschätzung tatsächlich hatte und hat. Eitelkeiten sind nach meinen Erfahrungen nicht seine Sache. Nach meinen Erinnerungen und Erfahrungen war er der ideale Leiter des IDS, und ich möchte versuchen, diese Einschätzung mit dem Hinweis auf einige Stichwörter zu erläutern. Weltoffenheit. Das IDS ist die zentrale Forschungs- und Dokumentationsstelle für dir deutsche Gegenwartssprache in Deutschland und wird in dieser Rolle bzw. Funktion von Sprachgermanisten und Sprachinteressierten aus aller Welt konsultiert. Von der Leitung des IDS wird erwartet, dass sie die mit dieser Rolle verbundenen Aufgaben bestmöglich wahrnimmt. Genau das hat Gerhard Stickel immer getan, und er ist auch nach seinem altersbedingten Ausscheiden aus dem aktiven Dienst unermüdlich für das IDS tätig. Er pflegt Loblied auf Gerhard Stickel 453 nach wie vor bewährte und vielfältige Kontakte ins In- und Ausland und berät Sprachgermanisten weltweit. Es hat mich immer beeindruckt, wenn er Gäste des IDS, auch solche mit nichtgermanischen Muttersprachen, mit ein paar Sätzen in ihrer eigenen Muttersprache begrüßen konnte, was sofort für eine freundliche und Willkommen heißende Atmosphäre sorgte. Zudem ist er stets auf der Suche nach neuen Perspektiven für die Aufgaben und Aktivitäten des IDS. Er arbeitet unermüdlich daran, bewährte Arbeiten zu fördern und neue Ziele und Vorhaben zu entdecken (vgl. auch Funke 2013.) Forschungspraxis. Nach meiner Erfahrung und Einschätzung hat Gerhard Stickel das Institut für Deutsche Sprache in herausragender Weise geleitet. Er hat die Arbeitspläne und Vorhaben des IDS mit vorbildlichem, nie nachlassendem Engagement, mit Kreativität und Ausdauer mitgestaltet und nach Innen und Außen vertreten. Er hat Kooperation im IDS und mit Partnern außerhalb des Instituts auf bestmögliche Weise gefördert und gestaltet. Gute Kooperation zeichnet sich dadurch aus, dass man auf andere Menschen nach deren eigenen Bedingungen eingeht (vgl. Sennett 2014, S. 18). Das setzt Einfühlungsvermögen und Analysefähigkeit voraus. Guter Wille und Leistungsbereitschaft sind eine Selbstverständlichkeit. So etwas wie geheime Absprachen oder „Klüngelwirtschaft“ kommen überhaupt nicht in Frage. „Das sind doch alles Selbstverständlichkeiten“, wird mancher versucht sein zu sagen. Mancher wird aber auch zugeben müssen, dass ihm solche arbeitshinderlichen und atmosphärisch schädlichen Phänomene nicht fremd sind. Auch ich habe (natürlich) vor und nach meiner Zeit mit Gerhard Stickel solche Erfahrungen gemacht. Ich bin aber sicher, dass ich mich in der Einschätzung seiner Arbeit und Leistungen für das IDS nicht täusche. literatur Funke, Joachim (2013): Neues durch Wechsel der Perspektive. In: Fischer, Hans Rudi (Hg.): Wie kommt Neues in die Welt? Weilerswist, S. 187-196. Sennett, Richard (2014): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München. Stickel, Gerhard (1992): Ein neues Haus für die Sprachforschung. In: Sprachreport Extra 3/ 1992, S. 1-3. Stickel, Gerhard (2014): Schlechte und bessere Zeiten für das IDS. In: Institut für Deutsche Sprache (Hg.): Ansichten und Einsichten. 50 Jahre Institut für Deutsche Sprache. Redaktion: Melanie Steinle, Franz Josef Berens. Mannheim, S. 122-143. VIta 1963 Staatsexamen (Deutsch und Englisch) an der Universität Freiburg i.Br. nach Studium der Fächer Germanistik, Anglistik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Freiburg und Bonn sowie der Wesleyan University, Connecticut/ USA 1964-1966 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Rechenzentrum (DRZ) in Darmstadt. Ab 1965 Leiter der Fachgruppe „Linguistik“ 1966-1970 Assistent am Seminar für Allgemeine und Indogermanische Sprachwissenschaft der Universität Kiel 1969/ 70 Promotion in Allgemeiner Sprachwissenschaft, Germanistik, Anglistik (s.c.l.) 1970-1973 DAAD-Lektor an der „Literatur-Fakultät“ der Kyushu University, Fukuoka/ Japan Ab 1973 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim; Leiter des Projekts „Deutsch-japanische kontrastive Grammatik“ 1974 Vertretung eines Lehrstuhls für Linguistik an der Universität Bielefeld (Prof. Harald Weinrich) im Sommersemester 1974 Leiter der Abteilung „Kontrastive Linguistik“ des IDS (Dezember) 1976-2002 Direktor des IDS ab März 1976 (1982 bis 1994 gemeinsam mit Prof. Dr. Rainer Wimmer) Seit 1986 Honorarprofessor der Universität Mannheim 1993-2001 Mitglied des Beirats Germanistik des DAAD 1993-2003 Mitglied des Forschungsrats der Universität Mannheim 1994-2002 Mitglied des Präsidiums der Leibniz-Gemeinschaft (WGL) 2001-2007 Mitglied des Beirats Sprache des Goethe-Instituts 2001 Verleihung des Verdienstkreuzes am Bande des Bundesverdienstordens 2002 Eintritt in den Ruhestand Seit 2003 Gründungsmitglied des Deutschen Sprachrats Vita 456 Seit 2003 Vertreter des IDS in der European Federation of National Institutions for Language (EFNIL), seitdem Präsident von EFNIL 2004 Verleihung des Ordre de chevalier des arts et lettres (Paris) 2016 Ehrendoktorat der Lettischen Universität Riga 2017 Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Bundesverdienstordens schrIften 1. monografien und aufsätze 1964 Automatische Textzerlegung und Registerherstellung. Darmstadt. (= Programm- Information PI-11, hrsg. v. Deutschen Rechenzentrum). 1966a Linguistik und automatische Datenverarbeitung. In: Darmstädter Blätter (TH Darmstadt) 4, S. 31-36. 1966b ‘Computerdichtung’ - Zur Erzeugung von Texten mit Hilfe von datenverarbeitenden Anlagen. In: Der Deutschunterricht 2, S. 120-125. 1966c (mit Manfred Gräfe): Automatische Textzerlegung und Herstellung von Zettelregistem für das Goethe-Wörterbuch. In: Sprache im technischen Zeitalter 19, S. 247-257. 1967 ‘Monte-Carlo-Texte’ - Automatische Manipulation von sprachlichen Einheiten. In: Exakte Ästethik 5, S. 53-57. 1968a [Rezension von] Hays, David G. (Hg.) (1966): Readings in automatic language processing. New York, und Hays, David G. (1967): Introduction to computational linguistics. New York. 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Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer 2009, 584 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6470-2 50 Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen 2009, 340 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6471-9 51 Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ 2010, 283 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6518-1 52 Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier / Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern 2010, 392 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6519-8 53 Gisella Ferraresi Konnektoren im Deutschen und im Sprachvergleich Beschreibung und grammatische Analyse 2011, 350 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6558-7 54 Anna Volodina Konditionalität und Kausalität im Deutschen Eine korpuslinguistische Studie zum Einfluss von Syntax und Prosodie auf die Interpretation komplexer Äußerungen 2011, 288 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6559-4 55 Annette Klosa (Hrsg.) elexiko Erfahrungsberichte aus der lexikografischen Praxis eines Internetwörterbuchs 2011, 211 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6599-0 56 Antje Töpel Der Definitionswortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch des Deutschen Anspruch und Wirklichkeit 2011, 432 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6631-7 57 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 2011, 253 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6632-4 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan / Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen 2012, 343 Seiten €[D] 49, - ISBN 978-3-8233-6633-1 59 Magdalena Witwicka-Iwanowska Artikelgebrauch im Deutschen Eine Analyse aus der Perspektive des Polnischen 2012, 230 Seiten 72, - ISBN 978-3-8233-6703-1 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie 2012, 470 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6704-8 61 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Christiane Schoel / Dagmar Stahlberg (Hrsg.) Sprache und Einstellungen Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel 2012, 370 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6705-5 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource 2012, 400 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6706-2 63 Annette Klosa (Hrsg.) Wortbildung im elektronischen Wörterbuch 2013, 279 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6737-6 64 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion 2013, II, 334 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6738-3 65 Kathrin Steyer Usuelle Wortverbindungen Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht 2014, II, 390 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6806-9 66 Iva Kratochvílová / Norbert Richard Wolf (Hrsg.) Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, 510 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6921-9 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-6960-8 69 Nofiza Vohidova Lexikalisch-semantische Graduonymie Eine empirisch basierte Arbeit zur lexikalischen Semantik 2016, ca. 340 Seiten €[D] ca. 88, - ISBN 978-3-8233-6959-2 70 Marek Konopka / Eric Fuß Genitiv im Korpus Untersuchungen zur starken Flexion des Nomens im Deutschen 2016, 283 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8024-5 71 Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht 2016, 282 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8032-0 72 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt / Wolfgang Kesselheim Interaktionsarchitektur, Sozialtopographie und Interaktionsraum 2016, 452 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8070-2 73 Irmtraud Behr, Anja Kern, Albrecht Plewnia, Jürgen Ritte (Hrsg.) Wirtschaft erzählen Narrative Formatierungen von Ökonomie 2017, 280 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8072-6 74 Arnulf Deppermann, Nadine Proske, Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch 2017, 420 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8105-1 75 Nadine Schimmel-Fijalkowytsch Diskurse zur Normierung und Reform der deutschen Rechtschreibung Eine Analyse von Diskursen zur Rechtschreibreform unter soziolinguistischer und textlinguistischer Perspektive 2017, 460 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8106-8 76 Eric Fuß, Angelika Wöllstein (Hrsg.) Grammatiktheorie und Grammatikographie 2017, 200 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-8107-5 77 Jarochna Dabrowska-Burkhardt, Ludwig M. Eichinger, Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 2017, 474 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8132-7 Jarochna Dąbrowska-Burkhardt / Ludwig M. Eichinger / Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global Dąbrowska-Burkhardt / Eichinger / Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 77 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Der Themenkreis dieses Bandes umfasst Fragen der system- und normbezogenen Deskription des Gegenwartsdeutschen unter Berücksichtigung seiner Variierung und Dynamik, darunter insbesondere in den Bereichen des Wortschatzes, der Grammatik, der Textlinguistik und der kontrastiven Sprachforschung, der Sprachpolitik, der Sprachkultur sowie der Sprachdidaktik und des Faches „Deutsch als Fremdsprache“. Die einzelnen Beiträge können vier zentralen und miteinander verschränkten Arbeitsfeldern zugeordnet werden: „Das Deutsche in der Welt“, „Der Wortschatz in Bewegung“, „In den Tiefen der Grammatik“ und „Blicke auf den Sprachgebrauch“. 014017 SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt.qxp_014017 U_SDS 77 - Dabrowska-Burkhardt 20.04.17 12: 00 Seite 1