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Morphologie

2020
978-3-8233-9145-6
Gunter Narr Verlag 
Sascha Michel

Der Band bietet einen einführenden Einblick in die linguistische Analyse des Aufbaus, der Struktur sowie der Bildung von Wörtern und holt Studierende da ab, wo sie schulgrammatisch stehen. Systematisch werden Grundbegriffe und Basiseinheiten der Morphologie erläutert, die Wortarten des Deutschen vorgestellt und in die Flexion sowie Wortbildung eingeführt. Abgerundet wird der Überblick durch die Unterschiede zwischen Flexion und Derivation sowie die Grammatikalisierung als Theorie morphologischen Wandels, die zeigt, dass es sich bei der Morphologie um ein hoch dynamisches Teilgebiet der Linguistik handelt.

wichtige Punkte für einen erfolgreichen Start ins Thema Morphologie zusammengefasst von Sascha Michel Dr. Sascha Michel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Erfurt. Sascha Michel Morphologie Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Zusatzmaterial zum Buch online unter http: / / meta.narr.de/ 9783823381457/ Zusatzmaterial.zip © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 2509-6036 ISBN 978-3-8233-8145-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9145-6 (ePDF) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 11 1.1 Vom Morph zum Morphem . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Morphologische ‚ Bausteine ‘ . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3 Segmentierung, Kopf-rechts-Prinzip und Paradigmenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Vom Morphem zum Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.1 Was macht ein Wort zu einem Wort? . . . . . 22 2.2 Der Wortschatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Die Wortarten des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.1 Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.2 Substantive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.3 Artikelwörter und Pronomen . . . . . . . . . . . . 35 3.4 Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.5 Adverbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.6 Präpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.7 Konjunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.8 Partikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1 Das Verb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.2 Das Substantiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.3 Das Adjektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.4 Artikelwörter und Pronomen . . . . . . . . . . . . 50 5. Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5.1 Wortbildungseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Affixe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Affixoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Fugenelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.2 Wortbildungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.2.1 Wortbildung des Substantivs . . . . . . . . . 63 5.2.2 Wortbildung des Adjektivs . . . . . . . . . . . 65 5.2.3 Wortbildung des Adverbs . . . . . . . . . . . . 67 5.2.4 Wortbildung des Verbs . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.3 Wortbildung im Sprachsystem . . . . . . . . . . . . 69 5.4 Wortbildung im Sprachgebrauch . . . . . . . . . . 72 6. Flexion versus Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 7. Morphologischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben unter http: / / meta.narr.de/ 9783823381457/ Zusatzmaterial.zip Inhalt 6 Vorwort Die Grammatik, also der ‚ Bauplan ‘ einer Sprache, ist das am intensivsten erforschte Gebiet der Linguistik und blickt auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurück. Allein die deutsche Grammatik füllt ganze Bände und ist in ihrer Fülle und Komplexität kaum zu überschauen. Ein Starter, der sich an Studienanfänger*innen richtet, kann demnach nicht einmal annähernd alle Bereiche abdecken, geschweige denn erschöpfend behandeln, auch wenn er sich ‚ nur ‘ mit der Morphologie, also einem (wenn auch wichtigen) Teilbereich der Grammatik (neben der Syntax), befasst. Das Ziel dieses Starters soll es deshalb sein, Studienanfänger*innen mit den Grundzügen der Morphologie vertraut zu machen. Wir greifen dazu einige Einzelphänomene heraus, während wir andere lediglich erwähnen oder streifen. Im ersten Teil werden zentrale Grundbegriffe und Analysemethoden diskutiert, bevor mit den Wortarten und der Flexion zwei Teilbereiche der Morphologie präsentiert werden, die den meisten Leser*innen von der Schulgrammatik her vertraut sind bzw. sein sollten. Die Wortbildung dürfte vielen Studienanfänger*innen dagegen neu sein. Wir wollen uns hier anschauen, wie komplexe Wörter im Deutschen gebildet werden, auf welche Einheiten dabei zurückgegriffen wird und wie diese systematisch bzw. musterhaft kombiniert werden. Die dann folgenden zwei Kapitel sollen schlaglichtartig in weiterführende Bereiche und Themen der wissenschaftlichen Erforschung von Morphologie einführen. Es geht dabei zum einen um die Abgrenzung zwischen Flexion und Derivation und zum anderen um die Herausbildung und Veränderung morphologischer Strukturen und Einheiten, die Grammatikalisierung. Wer weitergehende Informationen wünscht, findet Hinweise auf Gesamtdarstellungen und umfassende Einführungen in den jeweiligen Kapiteln sowie eine ausführlichere Darstellung der Flexion (Kap. 4) im Onlinematerial zu diesem Buch. Der Starter beginnt mit einem Überblick über die Teilgebiete der Morphologie. Dieser Überblick soll Ihnen anhand wichtiger Begriffe und Schlagwörter einerseits einen ersten Eindruck vermitteln, womit sich die Morphologie (und damit der Starter) beschäftigt und wie sie sich (sub-) klassifizieren lässt, andererseits sollen die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Kategorien veranschaulicht werden. Ich möchte mich ganz herzlich bedanken bei Hilke Elsen und Alexander Ziem für zahlreiche Korrektur- und Verbesserungsvorschläge. Bei Valeska Lembke vom Narr Verlag möchte ich mich ganz besonders für ihre Geduld, akribische Arbeit und stets freundliche Atmosphäre bedanken. Inhaltliche Fehler gehen allein auf mein Konto. Köln, im Juni 2020 Sascha Michel Vorwort 8 Morphologie Flexion Wortbildung Konjugation Deklination Einheiten Arten Verb Substantiv Wurzel Komposition Derivation Konversion Sonstige Adjektiv Affix determinativ explizit morphologisch Zusammenbildung Artikel Affixoid kopulativ implizit syntaktisch Zusammenrückung Pronomen Fugenelement possessiv Kürzung Konfix reduplikativ Rückbildung rektional Wortkreuzung 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 1.1 Vom Morph zum Morphem Die Morphologie ist die Lehre von der Gestalt und Form (altgriech. morphé = ‚ Gestalt ‘ , ‚ Form ‘ ) von Wörtern. Ähnlich wie beim Satz und Text (vgl. Greule 2017) geht es hierbei - vereinfacht gesagt - um ein ‚ Baukastenprinzip ‘ , bei dem Regeln und Muster angewandt werden, um (neue) Wörter zu bilden bzw. sie morpho-syntaktisch ‚ passend ‘ zu machen. Die wichtigsten Bausteine lernen wir in diesem Kapitel kennen. Die Grundeinheit, mit der sich Wörter ‚ formen ‘ und ‚ gestalten ‘ lassen, ist das Morphem. Unter Morphem versteht man in der Linguistik die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, die bereits semantisch und/ oder funktional klassifiziert ist. (Noch) Nicht klassifizierte bedeutungstragende Einheiten nennen wir Morphe. Morpheme werden in geschweiften Klammern und kleingeschrieben, Morphe dagegen in eckigen Klammern. Das Morphem wird gerne mit dem Phonem als die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit verwechselt. Phoneme sind genau wie Silben Gegenstand der Phonologie. Zwischen Morphologie und Phonologie gibt es große Unterschiede, was sich beispielsweise daran zeigt, dass Morphem- und Silbengrenzen nicht übereinstimmen müssen: vgl. die Morphemgrenze Häus-er vs. die Silbengrenze Häu.ser. Die Bedeutungen bzw. Funktionen von Morphemen reichen von relativ abstrakten grammatischen Funktionen bis hin zu Wörtern mit ausgeprägter begrifflich-lexikalischer Bedeutung. So besteht das morphologisch komplexe Wort Prüfungen aus drei Morphemen: 1. das lexikalische Morphem {prüf}, 2. das Ableitungsmorphem {-ung} und 3. das grammatische Morphem {-en} zur Pluralbildung. Hier sind wir schon einen Schritt weiter, als wir eigentlich sein sollten, denn vor der Klassifizierung zu Morphemen steht die Segmentierung in Morphe. Das heißt, bevor wir ihnen konkrete Funktionen und Bedeutungen zuschreiben, müssen wir Morphe als solche identifizieren. Dies klingt trivial, aber das folgende Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Wörter zunächst in Morphe, also noch nicht näher klassifizierte morphologische Einheiten, zu zerlegen: Das komplexe Wort Liebesbrief besteht aus drei Morphen: 1. [liebe], 2. [-s-] und 3. [brief]. Allerdings lässt sich nur in zweien der Fälle auch von Morphemen sprechen: Liebe und Brief bilden freie Lexeme, also Wörter, und sind als Morpheme somit unproblematisch. Problematischer dagegen erweist sich das Morph [-s-], da es hier augenscheinlich weder den Genitiv von Liebe (korrekt: der Liebe) noch den Plural markiert, aber ausdrucksseitig einem Flexionssuffix ähnelt. Von daher muss es als nicht näher klassifizierbares Morph betrachtet werden und wir werden später feststellen, dass solche Fugenelemente diachron (sprachgeschichtlich) häufig tatsächlich aus ehemaligen Flexionssuffixen hervorgegangen sind, synchron in der Gegenwartssprache inzwischen aber ganz andere Funktionen erfüllen (vgl. 5.1). Wir haben am Beispiel von Prüfungen schon gesehen, dass es Morphe gibt, die funktional als Pluralmorphem zu klassifizieren sind. Nun gibt es im Deutschen zahlreiche Möglichkeiten, den Plural flexivisch auszudrücken, wie die folgende Übersicht zeigt: 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 12 Pluralmorphem Beispiel -0- Wagen - Wagen -s Auto - Auto-s -er Kind - Kind-er -e Sitz - Sitz-e Umlaut Garten - Gärten -en Automat - Automat-en -n Wiese - Wiese-n Umlaut + -e Plan - Plän-e Umlaut + -er Haus - Häus-er Somit stehen im Deutschen ca. neun Morphe zur Realisierung des Pluralmorphems zur Verfügung - je nachdem, ob man Klassen wie -(e)n zusammenfasst, werden es auch weniger. Bei der Pluralbildung von Fremdwörtern können weitere Morphe hinzukommen, vgl. z. B. Lexikon - Lexika. In solchen Fällen, wo eine Funktion/ Bedeutung durch unterschiedliche Morphe formseitig realisiert wird, spricht man von Allomorphie. Allomorphe sind konkret realisierte Varianten eines Morphems. Umgekehrt können formseitig identische Morphe unterschiedliche Bedeutungen umfassen oder Funktionen erfüllen. Die Morphe -s oder -(e)n können z. B. nicht nur den Plural, sondern auch den Genitiv markieren: des Spiels, des Menschen. Hier liegt ein Fall von Homonymie vor, d. h. die Ausdrucksseite ist identisch, die Inhalts- und Funktionsseite aber verschieden, weshalb man bei -s, -(e)n und anderen von homonymen Morphen spricht. 1.1 Vom Morph zum Morphem 13 Allomorphie: Funktion Morph 1 Homonyme Morphe: Morph Morphem 1 Morphem 2 Morphem 3 Morph 2 Morph 3 1.2 Morphologische ‚ Bausteine ‘ Mit der Bestimmung von Morphen, Morphemen, Allomorphen und homonymen Morphen befinden wir uns auf einer sehr groben und abstrakten Ebene der Bestimmung der ‚ Bausteine ‘ von Wörtern. Kehren wir zu dem bereits segmentierten Wort Prüfungen zurück: Wir haben die Morpheme schon funktional näher als Derivationsmorphem {-ung} und grammatisches Morphem {-en} bestimmt. Damit haben wir eine grundlegende Unterscheidung zwischen lexikalischen Morphemen (meist Lexeme) einerseits und grammatischen Morphemen (Grammeme) andererseits getroffen. Obgleich eine Unterscheidung alles andere als unkompliziert ist, lässt sich sagen: Lexikalische Morpheme weisen eine stärker begrifflich-sachliche Bedeutung auf als grammatische Morpheme. So ist das Morphem {-ung} in Prüfungen nicht nur wortartverändernd (Verb → Substantiv), sondern kann auch Kollektiva ausbilden: siedeln - Siedlung, bebildern - Bebilderung. Nun unterscheiden sich nicht nur {-ung} und {-en}, sondern auch {prüf-} und {-ung}, obwohl es sich in beiden Fällen um gebundene lexikalische Morpheme handelt (da weder prüfnoch -ung frei vorkommen). Der Unterschied besteht darin, dass {prüf-} der nicht weiter zerlegbare Kern, die Wurzel (auch: Grund- oder Basismorphem), des Wortes 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 14 ist, der den Bedeutungsumfang des komplexen Wortes festlegt. Als Wurzel enthält das Morphem weder weitere lexikalische noch gebundene Morpheme. Zusammen mit {-ung}, das sich als Derivationssuffix hinten an die Wurzel heftet (lat. suffigere: ‚ hinten anheften ‘ ), bildet es im nächsten Schritt den Wortstamm {prüfung}, an den abschließend das Flexionssuffix {-en} tritt. Das Deutsche kennt neben lexikalischen und grammatischen Suffixen auch lexikalische Präfixe, also gebundene Morpheme, die ‚ vorne ‘ an die Wurzel ‚ geheftet ‘ werden (lat. prefigere: ‚ vorn anheften ‘ ) und maßgeblich die Bedeutung des komplexen Wortes festlegen: un +schön, ver+blühen. Es handelt sich um gebundene lexikalische Morpheme, die substanziell zur Bedeutung des komplexen Wortes beitragen: schön wird durch das Negationspräfix {un-} ins Gegenteil verkehrt, ähnlich wie das Präfix {ver-} das Gegenteil des Stammes blühen semantisch ausdrückt. Neben Prä- und Suffixen gibt es gelegentlich so genannte Zirkumfixe, die sich ‚ um einen Stamm herum heften ‘ (lat. circumfigere: ‚ drum herum heften ‘ ). Im Deutschen wird das Partizip Perfekt der schwachen und starken Verben mit Zirkumfix {ge-V-t} bzw. {ge-V-en} gebildet: gespielt, gelaufen. Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe bilden zusammen die Gruppe der Affixe. 1.3 Segmentierung, Kopf-rechts-Prinzip und Paradigmenbildung Morphologisch komplexe Wörter bestehen aus unmittelbaren und häufig aus mittelbaren Konstituenten (Mor- 1.3 Segmentierung, Kopf-rechts-Prinzip und Paradigmenbildung 15 phemen). Der Unterschied besteht in der Hierarchie der Konstituenten, wobei sich unmittelbare Konstituenten aus dem ersten Analyseschritt ergeben, mittelbare erst aus dem zweiten. So besteht das Substantiv Haustür aus zwei unmittelbaren Konstituenten ({Haus} + {Tür}), wogegen das Substantiv Lichtschalter aus den unmittelbaren Konstituenten {Licht} + {Schalter} und den mittelbaren Konstituenten {Schalt-}+{-er} besteht. Das heißt, bei Lichtschalter handelt es sich unmittelbar um ein N+N-Kompositum, das mittelbar eine deverbale {-er}-Derivation (Ableitung, vgl. 5.2.1) einschließt. Um solche internen morphologischen Strukturen sichtbar zu machen, bietet es sich an, sie als Baumdiagramme darzustellen: N N N Licht schalt- -er Sx V N Haus tür N N N Vor allem mehrdeutige Wörter können dadurch disambiguiert, also semantisch vereindeutigt werden, wie am Beispiel des Kompositums Mädchenhandelsschule exemplifiziert werden soll: 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 16 Mädchen handels schule Mädchen handels ¹ schule N N N N N N N N N N Beim ersten Diagramm bestehen die unmittelbaren Konstituenten aus Mädchen und Handelsschule, was also die Lesart ‚ Handelsschule für Mädchen ‘ eröffnet. Man spricht hier von Rechtsverzweigung. Beim zweiten Diagramm dagegen bestehen die unmittelbaren Konstituenten aus Mädchenhandel und Schule mit der Lesart ‚ Schule für Mädchenhandel ‘ . Hier spricht man von Linksverzweigung. In der gesprochenen Sprache kann die Betonung dazu beitragen, mehrdeutige Komposita semantisch zu unterscheiden: Mädchen'handelsschule vs. 'Mädchenhandelsschule. Unter lexikalischer Kategorie verstehen wir die semantischen Eigenschaften eines Lexems, also konzeptuelle oder referenzielle Eigenschaften. Die grammatische Kategorie dagegen bestimmt die morpho-syntaktischen Merkmale eines Lexems. 1 Gelegentlich wird dieses Fugen-s separat klassifiziert, es soll hier aber als zum Erstglied gehörig betrachtet werden, da es mit einem Wortstamm die Kompositionsstammform des Erstglieds bildet. Vgl. hierzu. 5.1.1. 1.3 Segmentierung, Kopf-rechts-Prinzip und Paradigmenbildung 17 Komposita und Derivationen weisen so genannte morphologische Köpfe auf. Köpfe legen nicht nur die Wortart der komplexen Bildung und damit deren Flexionseigenschaften fest, sondern auch die lexikalische Kategorie. Da Köpfe in komplexen Bildungen in der Regel rechts auftreten, spricht man auch vom Kopf-rechts-Prinzip. Beim oben diskutierten Beispiel Haustür, also einem Kompositum, ist Tür der morphologische Kopf. Er bestimmt die lexikalische Kategorie des Kompositums (= Gattungsbezeichnung), zudem wird das Kompositum entsprechend der femininen Substantive dekliniert (der Haustür, Gen.; die Haustüren, Pl., vgl. 4.2). Auch Suffixe fungieren in diesem Sinne als morphologische Köpfe: schön (Adj.) - Schönheit (Subst.): der Schönheit (Gen.) - die Schönheiten (Pl.) fahren (V) - fahrbar (Adj.): fahrbares (Auto) Morpheme lassen sich schließlich dahingehend unterscheiden, ob sie Paradigmen bilden, sich aufgrund gemeinsamer Merkmale also zu morphologischen Klassen zusammenfassen lassen. Dies soll für den folgenden Satz veranschaulicht werden: Der Hund spielt im Garten und läuft den Schweinchen nach. Die Segmentierung des Satzes liefert folgende Morphe: [der], [hund], [spiel], [-t], [im], [Garten], [und], [lauf-], [-t], [den], [schwein-], [-chen], [nach]. Die Klassifizierung führt zu folgenden lexikalischen und grammatischen Morphemen: 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 18 Lexikalische Morpheme: {hund}, {spiel-}, {Garten}, {lauf-}, {schwein}, {-chen} Grammatische Morpheme: {der}, {-t}, {im}, {-t}, {den}, {nach} Diese lassen sich je nachdem, ob sie frei oder gebunden auftreten, in folgende Paradigmen einordnen: Lexikalische Morpheme Grammatische Morpheme frei Hund, spiel-, Garten, lauf-, Schwein der, im, den, nach gebunden -chen -t Zu den freien lexikalischen Morphemen gehören die Simplizia, also die monomorphematischen Lexeme {Hund}, {Garten} und {Schwein} sowie die Verbbasen {spiel-} und {lauf-}. Letztere gelten als freie lexikalische Morpheme, weil sie in der Basisform den Imperativ, also die Befehlsform, bilden können (Spiel! , Lauf! ). Sie grenzen sich von gebundenen lexikalischen Verbbasen wie z. B. {sprech-} oder {geb-} ab, die im Imperativ eine Formveränderung aufweisen (Sprich! , Gib! ). Zu den gebundenen lexikalischen Morphemen gehört das Derivationssuffix {-chen}, das die Semantik des Wortes insofern affiziert (verändert), als es die Verniedlichungs-/ Verkleinerungsform von Schwein ausdrückt. Die freien grammatischen Morpheme bilden die Wörter {der}, {im}, {den} und {nach}, also Artikel und Präpositionen, die vor allem morpho-syntaktische Funktionen erfüllen. Als gebundenes grammatisches Morphem tritt nur {-t} in Erscheinung, das als Person- und Numerusflexiv die dritte Person Singular Präsens markiert. Somit besteht der Satz aus 11 Typen und 12 Token, d. h. 11 Vorkommen einzelner Wortformen, von denen eines 1.3 Segmentierung, Kopf-rechts-Prinzip und Paradigmenbildung 19 (nämlich {-t}) als Token zweimal im Satz vorkommt. Bei Typenfrequenz handelt es sich um das Vorkommen einzelner (grammatischer) Kategorien, bei Tokenfrequenz um die textbezogenen Realisierungen dieser Kategorien. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Typen und Token keineswegs so einfach wie es zunächst scheint. Aus wie vielen Wörtern besteht der folgende Satz? Eine Rose ist eine Rose und viele Rosen ergeben einen Rosenstrauß. Wer sagt: aus 11 Wörtern, hat Recht, wer aber sagt: aus 9 oder 7, liegt ebenfalls nicht daneben. Wie kann das sein? Im ersten Fall zählt man alle syntaktischen Wörter, also jedes einzelne Wort des Satzes, und kommt auf 11. Wer 9 Wörter zählt, zählt die Lexeme: eine (2 x), ist, Rose (2 x), und, viele, Rosen, ergeben, einen, Rosenstrauß. Schließlich lassen sich 7 Lexemverbünde ausmachen: ein- (3 x), Rose (3 x), ist, und, viele, ergeben, Rosenstrauß. Zusammenfassung Das erste Kapitel sollte die Basiseinheiten der Morphologie vorstellen und in die morphologische Analyse einführen, die später sowohl bei der Flexion als auch bei der Wortbildung benötigt wird. Diese vollzieht sich im Wesentlichen in zwei Schritten: 1. Segmentierung in Morphe: Komplexe Wörter werden in ihre morphologischen Basiseinheiten, Morphe, segmentiert. In diesem Stadium werden noch keine Aussagen über die Funktion der Einheiten und damit einhergehende Klassenbildung/ Paradigmatisierung getroffen. 1 Grundlagen: Begriffe, Basiseinheiten, Methoden 20 2. Klassifizierung zu Morphemen: Die segmentierten Morphe werden über ihre Funktion und paradigmatische Einordnung näher bestimmt. Es lassen sich dabei lexikalische von grammatischen und freie von gebundenen Morphemen unterscheiden. Die interne Struktur von morphologisch komplexen Wörtern lässt sich mittels Baumdiagrammen darstellen, wodurch unmittelbare und mittelbare Strukturen sichtbar werden. Dabei enthält jedes komplexe Wort einen morphologischen Kopf, der sich in der Regel rechts vom Wort befindet und aus freien Morphemen, aber auch z. B. aus Suffixen bestehen kann. Der Kopf legt die grammatischen, aber auch kategorialen Eigenschaften des ganzen Wortes fest. Weiterführende Literatur: z. B. Elsen (2014: 1 ff.), Meibauer (2015: 34 ff.). Fragen und Aufgaben 1. Was versteht man unter Allomorphie? 2. Stellen Sie folgende Wörter als Baumdiagramm dar: a. Schönheitskönigin b. Edelmarzipantorte 3. Aus wie vielen Typen und Token besteht folgender Satz? Wenn hinter einer Fliege Fliegen fliegen, fliegen Fliegen einer Fliege hinterher. 4. Bestimmen Sie den morphologischen Kopf: a. dehnbar b. Lässigkeit 5. Segmentieren Sie folgende Wörter in Morphe und klassifizieren Sie sie zu Morphemen: a. Tierheim b. Tische c. (des) Hauses d. Fruchtbarkeitsgottheiten Zusammenfassung 21 2 Vom Morphem zum Wort Wir haben uns im ersten Kapitel mit morphologischen Bausteinen von Wörtern beschäftigt. In diesem Kapitel wollen wir uns mit Wörtern auf weiteren Ebenen befassen und zunächst Eigenschaften von Wörtern diskutieren, bevor im zweiten Teil das Wort als Teil des Wortschatzes im Zentrum steht. 2.1 Was macht ein Wort zu einem Wort? In der Bibel steht: „ Im Anfang war das Wort “ (Joh. 1,1). Doch: Was ist ein Wort? Diese Frage ist mindestens genauso schwierig zu beantworten wie die Frage: Was ist Sprache? Beide Fragen eint das Schicksal, dass die Linguistik sich seit jeher intensiv um eine Klärung bemüht und in beiden Fällen lediglich zu einer definitorischen Annäherung gelangt ist. Wir wollen uns diese Definitionsvorschläge für das Wort im Folgenden etwas genauer anschauen und als Prüfkriterien die einschlägigen linguistischen Teildisziplinen Graphematik, Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik heranziehen. Graphematik Wörter sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie einer normierten Rechtschreibung folgen, wozu bei Substantiven im Deutschen etwa die Großschreibung am Wortanfang gehört. Zudem werden Wörter durch Spatien, also Leerzeichen, von benachbarten Wörtern abgegrenzt. Für die Mehrzahl der Wörter ergeben sich hier kaum Probleme, doch wie sieht dies mit Internetphänomenen, beispielsweise den so genannten Hashtags aus? Sind Bildungen wie #metoo oder #wirsindmehr nun ein Wort oder zwei bzw. drei Wörter? Für Ersteres spricht die Tatsache, dass sich die Bedeutung dieser Hashtags zunehmend holistisch und weniger kompositionell ergibt, da die Hashtags zur Bezeichnung von Kampagnen oder Protest dienen und somit die Referenzebene, also die Bezugnahme auf außersprachliche Entitäten (Gegenstände, Sachverhalte etc.), betreffen. Die konkrete inhaltliche Ausgestaltung vollzieht sich erst im (diskursiven) Gebrauch, beispielsweise durch begleitende Tweets oder Posts. Allerdings zeigt formale Nähe (Zusammenschreibung) nicht immer auch Lexikalisierung (vgl. 2.2), also semantische Verselbstständigung, an. Hashtags wie #WelttagderPoesie etwa unterscheiden sich von ihren phrasalen Pendants lediglich durch die Zusammenschreibung aufgrund formaler Hashtag-Konventionen. Außerdem fungieren syntaktische Phrasen oder Sätze nur in seltenen Fällen als Wörter. In der Wortbildung sind solche Bildungen unter dem Begriff Zusammenrückung bekannt und betreffen außerhalb der digitalen Welt meist nur eine Hand voll Belege wie Vergissmeinnicht, Taugenichts, Tunichtgut (vgl. 5.2.1). Dass Zusammenschreibung aber kein notwendiges Wortkriterium ist, zeigen auch trennbare Verben wie umfahren (Sie fährt den Mann um) oder ausmalen (Er malt das Bild aus) (vgl. 5.2.4). Phonetik/ Phonologie Wörter bestehen aus Silben und Phonemen, also Sprachlauten, die eine bestimmte Betonung und Intonation aufweisen. Dass sich Wörter durch Sprechpausen voneinander 2.1 Was macht ein Wort zu einem Wort? 23 abgrenzen lassen, stellt ein Ideal dar, das in der Praxis kaum aufrechterhalten werden kann. Im Redefluss werden Wörter nicht immer klar voneinander abgegrenzt, da Verschleifungen, Tilgungen, Kontraktionen, vor allem aber Assimilationen und Klitisierungen zu einer Aufhebung von Wortgrenzen und zu einer Verschmelzung von Wörtern führen. So kann aus haben wir > hamma werden oder aus geht es > geht ’ s (Wie geht ’ s? ). An der Verwendung des Apostrophs im zweiten Beispiel zeigt sich, dass sich die gesprochensprachliche Verschmelzung von Wörtern auch in der Schreibung widerspiegeln kann. Die Phonologie hat auch Einfluss auf die Länge von Wörtern, beispielsweise mit Blick auf Restriktionen hinsichtlich des Silbenbaus. Anfangs- und Endrand können im Deutschen laut des allgemeinen Silbenbaugesetzes nicht beliebig komplex sein. So kann der Anfangsrand aus maximal drei Konsonanten bestehen wie bei Strumpf [strumpf]. Außerdem fällt häufig die Sonorität der Phoneme zum Endrand hin, so dass etwa die Kombination von */ ml/ am Endrand nicht möglich ist, / lm/ dagegen schon, da / l/ sonorer (klingender) ist als / m/ (z. B. Helm). Morphologie und Syntax Die Sicht der Morphologie auf das Wort ist Gegenstand dieses Starters: Wörter können morphologisch einfach oder komplex sein. Neue Wörter lassen sich etwa durch unterschiedliche Wortbildungsarten bilden (vgl. 5.2), d. h. in der Regel durch die Verkettung von lexikalischen Morphemen erfolgt ein Ausbau des Wortschatzes. Dies bedingt, dass morphologisch komplexe Wörter intern strukturiert sind, also auf (un-)mittelbaren Konstituenten beruhen (vgl. 1.3). 2 Vom Morphem zum Wort 24 Allerdings gibt es auch hier Grenzen, was die morphologische Komplexität angeht. Typische Komposita bestehen aus zwei Morphemen (Haus+tür, Spiel+platz), drei oder mehr Morpheme sind eher selten und häufig auf Fachsprachen, die Literatur- oder Pressesprache bezogen: Ein-Euro-Job, Anti- Blockier-System. Ferner ist für viele Wörter kennzeichnend, dass sie morpho-syntaktisch abgewandelt, d. h. flexivisch in die jeweilige syntaktische Umgebung eingepasst werden. Man spricht hier von Deklination bzw. Konjugation (bei Verben) (vgl. 4). In der Regel dienen gebundene grammatische Morpheme dazu, Wörter „ fit für die Syntax “ zu machen. So muss das Verb im Plural stehen, wenn auch das Substantiv im Plural steht: Die Kinder spielen. Stark syntaktisch funktionalisiert sind auch freie grammatische Morpheme wie und, oder, aber etc. Sie stellen eine Verknüpfung zwischen Sätzen und Satzgliedern her, indem sie sie inhaltlich zueinander in Relation setzen. Dass die Grenzen zwischen Morphologie und Syntax fließend sind, machen so genannte Phrasenkomposita deutlich: „ Alles wird gut! “ -Bedürfnis, „ Ist denn heut schon Weihnachten “ -Franz (vgl. 5.3). Sind die Erstglieder solcher Bildungen (lexikalisierte) (Quasi-)Zitate und als ein Wort zu betrachten (und somit Gegenstand der Morphologie) oder als Phrasen (und damit Gegenstand der Syntax)? Semantik Wörter tragen Bedeutung. Diese auf den ersten Blick trivial anmutende Feststellung wirft auf den zweiten Blick zahllose Fragen auf. Das fängt schon bei der Frage an: Was ist überhaupt Bedeutung? Wörter sind Zeichen, die aus einer 2.1 Was macht ein Wort zu einem Wort? 25 Ausdrucksseite und einer Inhaltsseite bestehen. Der Ausdrucksseite (Phonemfolge) wird qua Konvention eine Inhaltsseite zugeordnet (vgl. de Saussure 1967), d. h. wir müssen als Kind oder Fremdsprachenlerner*innen einfach lernen, wie Ausdruck und Inhalt eines Wortes zusammengehören. Dennoch bleibt die Frage: Was ist die Bedeutung etwa des Wortes Baum? Eine Möglichkeit besteht darin, die Bedeutung durch binäre semantische Merkmale von anderen Wörtern abzugrenzen. So unterscheidet sich der Baum von der Blume etwa unter anderem durch das Merkmal [+ groß]. Allerdings stellt die so genannte Merkmalssemantik nur eine unzureichende Möglichkeit dar, Wortbedeutung erschöpfend zu explizieren. Ein Tannenbaum z. B., der nicht das für Bäume charakteristische Merkmal [+ Blätter] aufweist, wäre demnach kein Baum. Als Alternative zur Merkmalssemantik gilt die so genannte Prototypentheorie. Sie geht davon aus, dass wir Sprecher*innen Wortwissen um einen Prototyp herum ausbilden. Für deutsche Sprecher*innen wäre der Prototyp eines Baumes vermutlich die Eiche oder eine Birke, aber vielleicht erst in zweiter oder dritter Linie ein Tannenbaum. Eine Palme würden wir vermutlich nicht oder nicht direkt als Baum betrachten. Somit wird deutlich, dass Prototypen kulturell bedingt sind. Die Vorteile im Vergleich zur Merkmalssemantik liegen auf der Hand: Indem Bedeutung als kognitives Phänomen betrachtet wird, das eine Kategorisierung von Entitäten um Prototypen ermöglicht, lassen sich zentrale von peripheren Vertretern einer Kategorie unterscheiden. Darüber hinaus wird deutlich, dass Kategoriengrenzen unscharf sind, es also zu fließenden Übergängen zwischen benachbarten Kategorien kommen kann. 2 Vom Morphem zum Wort 26 Allerdings wirft auch die Prototypentheorie Probleme auf: Ist die Bedeutung des Wortes Baum ein kognitives Konzept/ Schema einer Eiche oder Birke? Ist es ein kognitives Schema einer konkreten Eiche/ Birke, die jemand im Garten stehen hat? Oder handelt es sich bei der Bedeutung um die Eigenschaften von Eichen/ Birken im Allgemeinen? Zu klären ist ferner, ob die prototypische Bedeutung nur die Ausdrucksbedeutung (Denotation) eines Wortes umfasst oder auch die kontextuell aktivierte Äußerungsbedeutung, also die Bedeutung, die Wörter im konkreten Gebrauch aktivieren. Wie sieht es schließlich mit der Bedeutung von grammatischen Wörtern aus? Welche Bedeutung tragen Konjunktionen (z. B. und, aber), Präpositionen (z. B. auf, in, unter) oder Artikel (z. B. der, die, ein)? Offenbar erfordert die Beschreibung von grammatischer ‚ Bedeutung ‘ bzw. Funktion andere Zugänge als die Beschreibung von lexikalischer Bedeutung. Auch wenn grammatische Wörter eher funktional als semantisch zu bestimmen sind, wäre es unsinnig, ihnen den Wortstatus absprechen zu wollen. Pragmatik Mit der im letzten Abschnitt vorgenommenen Unterscheidung zwischen Ausdrucksbedeutung einerseits und Äußerungsbedeutung andererseits befinden wir uns im Zentrum der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik. Während sich die Semantik traditionell mit der Ausdrucks-, also Kernbedeutung von Wörtern sowie mit Konnotationen befasst, untersucht die Pragmatik die Äußerungsbedeutung, also die kontextabhängige Bedeutung von Wörtern, sowie das Sprachhandeln. Diese Unterscheidung geht auf die - in der Forschung nicht unumstrittene - 2.1 Was macht ein Wort zu einem Wort? 27 Annahme zurück, Wörter enthielten einen allgemeingültigen Bedeutungskern, der fest mit der Ausdrucksseite eines Wortes verbunden und etwa in Wörterbucheinträgen festgehalten ist. Im konkreten Gebrauch wiederum würden dann nur bestimmte Aspekte dieser Kernbedeutung aktiviert, angereichert durch zusätzliche kontextuelle und situative Aspekte. Tatsächlich speist sich die Ausdrucksbedeutung aus der Äußerungsbedeutung und wird durch den konkreten Wortgebrauch stetig modifiziert. Zudem gibt es Wörter, die ihre Bedeutung erst durch die konkrete Situierung entfalten. Wenn ich sage: Ich bin gerade hier, bezieht sich der Satz auf komplett andere Rahmenbedingungen bzw. bedeuten die Wörter ich, gerade und hier etwas anderes, als wenn Alexander Gerst den Satz auf der Raumstation ISS im Weltall äußert. Solche Wörter, deren Bedeutung von der Ich-Jetzt-Hier-Origo (also von dem Sprecher zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort) abhängt, nennt man Deiktika und das Prinzip dahinter Deixis (ich = Personaldeixis, gerade = Temporaldeixis, hier = Lokaldeixis). Damit wird deutlich, dass sich Semantik und Pragmatik mit Bezug auf die Wortbedeutung eher arbeitsteilig als konkurrierend verhalten. Die Grenzen sind fließend und nicht immer ist es einfach zu bestimmen, welche Bedeutungsanteile konventionell mit einer Ausdrucksseite verbunden sind und welche erst situativ und kontextuell hervorgerufen werden. 2.2 Der Wortschatz Wörter bilden in ihrer Gesamtheit den Wortschatz einer Sprache. Der Wortschatz des Deutschen umfasst schätzungsweise 300 000 bis 400 000 Wörter (vgl. Meibauer 2015: 2 Vom Morphem zum Wort 28 15). Selbstverständlich variiert die Zahl der Wörter, die erwachsene Sprecher*innen aktiv verwenden, enorm. Ein Großteil dieser Wörter sind Usualismen, also solche Wörter, die fester Bestandteil des Wortschatzes sind und im Lexikon verortet werden. Darüber hinaus gelangen durch Neuschöpfung, Wortbildung (vgl. 5) oder Entlehnung ständig neue Wörter in den Wortschatz. Es ist deshalb zwischen nativen und nicht-nativen Wörtern zu unterscheiden: Letztere lassen sich in Fremdwörter einerseits und Lehnwörter andererseits unterteilen. Für Fremdwörter ist charakteristisch, dass sie in Aussprache, Schreibung und Flexion nicht oder nicht vollständig an die Nehmersprache angepasst sind (z. B. Chance), während gerade dies typisch für Lehnwörter ist (z. B. Bluse aus frz. blouse). Unter Lexikon kann Unterschiedliches verstanden werden: 1. Nachschlagewerk/ Wörterbuch, 2. kognitives Lexikon (mentale Speicherung, Produktion und Verarbeitung von Wörtern), 3. neuroanatomisches Lexikon (Sitz des lexikalischen Zentrums im Gehirn). Nicht alle Neubildungen landen irgendwann im Lexikon. Im Gegenteil: Einem Großteil von Wörtern ist häufig nur eine geringe Lebensdauer beschieden, da sie als Okkasionalismen bzw. Ad-hoc-Bildungen lediglich Spontanbildungen darstellen, um einen temporären Bezeichnungsmangel zu beheben (z. B. Balkonsingen). Gewinnen solche Okkasionalismen allerdings an Frequenz und werden von vielen Sprechern übernommen, gelten sie als Neologismen (z. B. Corona-App) und finden eventuell als neue Wörter Eingang ins Lexikon (= Lexikalisierung). Die Abgrenzung zwischen Okkasiona- 2.2 Der Wortschatz 29 lismus und Neologismus ist aber keineswegs trennscharf (vgl. Elsen 2011). Lexikalisierung bezieht sich auf die Aufnahme von Lexemen in das Lexikon/ den Wortschatz einer Sprache. Der Terminus kann ferner den Prozess der zunehmenden Verselbstständigung von komplexen Wörtern umfassen, bei der die Motivation zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite verdunkelt erscheint. Z. B.: Junggeselle = ‚ unverheirateter Mann ‘ ( ≠ ‚ junger Geselle ‘ ). Motivation (auch: Motiviertheit, Motivierung) liegt vor, wenn die Bedeutung eines Wortes aus der Bedeutung seiner Bestandteile ableitbar ist. Motivation ist ein gradueller Prozess, man unterscheidet zwischen vollmotivierten (z. B. Schornsteinfeger) und idiomatisierten (= demotiviert, z. B. Junggeselle) Lexemen an den beiden Enden der Skala. Das Lexikon ist ständig im Wandel. Neue Wörter treten hinzu, alte, aus der Mode gekommene Wörter (Archaismen) verschwinden. Dadurch wird unnötiger Ballast abgeworfen und das Lexikon orientiert sich stets am aktuellen Sprachgebrauch. Wer benutzt schließlich heute noch Oheim für Onkel oder weiland für damals/ früher? Zusammenfassung Das Wort ist eine nicht einfach zu fassende sprachliche Einheit. Obgleich sich bestimmte typische Charakteristika herauskristallisieren, gibt es immer wieder Ausnahmen und Abweichungen. Damit wird die Kategorie Wort selbst zu einem prototypischen Phänomen: Das prototypische Wort weist eine den graphematischen Regeln und Gepflogenheiten folgende 2 Vom Morphem zum Wort 30 Schreibung auf, wird phonologisch als Einheit ausgesprochen, folgt (bis auf die nicht flektierbaren Wortarten, vgl. Kap. 3.5 - 8) den Regeln der Flexion und ist in syntaktische Funktionen eingebunden, umfasst eine Ausdrucksbedeutung sowie eine (kontextuell abhängige) Äußerungsbedeutung bzw. erfüllt bestimmte kommunikative Funktionen. Das heißt nun nicht, dass Einheiten, die eine oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllen, keine Wörter darstellen. Vielmehr sind sie eher im Randbereich der Kategorie Wort anzusiedeln (je nachdem, wie viele Kriterien (nicht) zutreffen). Hierzu gehören etwa Phänomene der gesprochenen Sprache (z. B. haste statt hast du), der Werbung (z. B. Binneninterpunktion wie bei bahn.comfort oder typo- und ikonografische Marken- und Produktnamen), aber auch viele Internetphänomene wie die konsequente Kleinschreibung von Wörtern im Chat, Emojis oder Hashtags. Weiterführende Literatur: z. B. Heringer (2009: 18 ff.), Meibauer (2015: 17 ff.), Fuß/ Geipel (2018: 13 ff.), Boettcher (2009: 2 ff.). Fragen und Aufgaben: 1. Inwiefern stellen folgende Wörter Probleme für die Wortdefinition dar? a. sagste (< sagst du) b. auf ʼ s, über ʼ s c. und, aber, auch d. er, morgen, dort 2. Grenzen Sie Okkasionalismen von Neologismen ab. 3. Handelt es sich bei den folgenden Wörtern um Fremd- oder Lehnwörter? a. Avantgarde b. Plateau c. Fenster (aus lat. fenestra) d. skypen Zusammenfassung 31 3 Die Wortarten des Deutschen In Kapitel 2 haben wir uns eher allgemein mit der Frage auseinandergesetzt, auf welchen linguistischen Ebenen Wörter beschrieben werden können. Dabei ist schon die Unterscheidung zwischen lexikalischen und grammatischen Wörtern angeklungen. In diesem Kapitel sollen die einzelnen Wortarten genauer vorgestellt, subdifferenziert und voneinander abgegrenzt werden. Dies bildet die notwendige Grundlage für die Auseinandersetzung mit Flexion (Kapitel 4) und Wortbildung (Kapitel 5), die in der vorliegenden Einführung vornehmlich wortartbezogen erläutert werden. Unter Wortarten versteht man Klassen von Lexemen, die über ähnliche morphologische und/ oder syntaktische Eigenschaften verfügen. 3.1 Verben Verben (auch: Tätigkeitswörter, „ Tuwörter “ ) beziehen sich auf Handlungen (Handlungsverben wie essen, schreiben, arbeiten), Vorgänge (Vorgangsverben wie duften, wachsen) und Zustände (Zustandsverben wie wohnen, schlafen). Aus semantisch-funktionaler Sicht lassen sich drei Kategorien unterscheiden: Vollverben: Vollverben wie die eingangs genannten weisen eine mehr oder weniger ausgeprägte lexikalische Bedeutung auf. Sie können unterschiedliche Ergänzungen zu sich nehmen: Einstellige Verben verlangen eine Ergänzung (intransitiv, z. B. schlafen - ich schlafe), zweistellige Verben verlangen zwei Ergänzungen (transitiv, z. B. lieben - Peter liebt Inge) und dreistellige verlangen drei Ergänzungen (ditransitiv, z. B. geben - ich gebe ihr das Geschenk). Hilfsverben (auch: Auxiliare): Anders als Vollverben weisen Hilfsverben nur (noch) wenig lexikalische Semantik auf. Sie dienen der grammatischen Markierung (vgl. 4.1), wie etwa haben und sein zur Bildung von Perfekt (hat gegessen, ist gekommen) und Plusquamperfekt (hatte gegessen, war gekommen), werden zur Bildung des Futurs (wird singen) und werden und sein zur Bildung des Passiv (wurde getötet, ist gefangen worden). Diese Hilfsverben sind aus freien lexikalischen Verben, die heute noch parallel existieren, hervorgegangen. Diesen Prozess, den man Grammatikalisierung nennt, wollen wir uns in Kapitel 7 noch etwas genauer anschauen. Modalverben: Modalverben drücken Sprechereinstellungen, Möglichkeit, Erlaubnis etc. aus und bilden eine kleine, begrenzte Gruppe von Verben: können, dürfen, sollen, mögen, müssen, wollen. Sie treten stets mit Verben im Infinitiv auf: Er soll die Hausaufgaben machen. Wir müssen die Straße kehren. Sie will in Urlaub fahren. 3.2 Substantive Substantive (auch: Nomen, Nennwort, Namenwort, Hauptwort) sind die im Wörterbuch am häufigsten verzeichnete Wortart. Substantive lassen sich semantisch weiter subklassifizieren in (a) Konkreta und Abstrakta, (b) belebt und nicht belebt, (c) Appellative und Eigennamen und (d) zählbar und nicht zählbar. 3.2 Substantive 33 Zu (a): Konkreta wie Stuhl, Auto, Mensch, Baum bezeichnen Gegenstände, Lebewesen, Geräte etc., also alles (An-)Fassbare. Abstrakta wie Liebe, Sehnsucht, Friede, Angst etc. sind dagegen nicht gegenständlich, nicht (an-)fassbar, sondern meist virtuell (imaginiert) und umfassen häufig Gefühle, Werte oder Zustände. Zu (b): Belebt sind Substantive wie Mensch, Tier, Baum, unbelebt Substantive wie Auto, Telefon, Tisch oder Buch. In erster Linie trifft diese Unterscheidung auf Konkreta zu. Zu (c): Unser Hund heißt Bello. Dieser Beispielsatz enthält sowohl ein Appellativum als auch einen Eigennamen. Appellativa wie Hund sind Gattungsbezeichnungen, die sich auf Gattungen, Arten oder Klassen beziehen, deren Elemente bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Dagegen handelt es sich bei Bello um einen Eigennamen, der zur Identifizierung eines ganz bestimmten Individuums einer Gattung, Art oder Klasse dient. Eigennamen können - wie Bello - aus einem Wort bestehen, aber auch aus Phrasen wie das Weiße Haus, der Alte Fritz oder der Zweite Weltkrieg. Sie können - etwa bei Marken- und Produktnamen - Neuschöpfungen darstellen (vgl. 2.2): Vileda, Blend-a-med. Schließlich können sich Eigennamen zu Appellativa entwickeln: Celsius (Person zu Maßeinheit), Röntgen (Person zu Verfahren). Zu (d): Zählbarkeit stellt den Normalfall bei Substantiven dar, denn mit den meisten Substantiven lässt sich der Plural mühelos bilden: Kind - Kinder, Haus - Häuser. Allerdings gibt es auch solche, die nicht oder nur unter bestimmten Umständen zählbar sind. Hierzu gehören u. a. Eigennamen wie Johann oder Berlin, Abstrakta wie Freiheit, Hitze oder Nähe sowie Stoffbezeichnungen wie Milch, Kaffee und Wasser. 3 Die Wortarten des Deutschen 34 3.3 Artikelwörter und Pronomen Artikelwörter (häufig kurz: Artikel) stellen Begleiter von Substantiven bzw. Substantivgruppen dar. Sie modifizieren Substantive hinsichtlich ihrer Definitheit (Bestimmtheit), weshalb grundsätzlich zwischen definiten Artikeln einerseits und indefiniten Artikeln andererseits unterschieden wird: Definite Artikel (der, die, das) zeigen an, dass innerhalb einer unbestimmten Menge auf ein bestimmtes Element referiert wird: Mann - der Mann, Kind - das Kind, Zeitung - die Zeitung. Der definite Artikel dient somit zur eindeutigen Identifizierung und Abgrenzung von Elementen einer Klasse. Indefinite Artikel (ein, eine, einer) dagegen verweisen auf ein unbestimmtes Element einer Klasse: ein Mann, ein Kind, eine Zeitung. Pronomen stehen ‚ für Nomen ‘ , d. h. sie haben Stellvertreterfunktion oder fungieren als Begleiter zu einem Nomen. Sie werden verschiedenen Klassen zugeordnet: Personalpronomen: Diese lassen sich als ‚ typische ‘ Pronomina bezeichnen und ersetzen Substantive ‚ direkt ‘ . Zu ihnen gehören etwa ich, du, er, sie, wir etc. Possessivpronomen: Possessivpronomina sind besitzanzeigend, zu ihnen gehören beispielsweise mein, dein, unser, euer etc. Reflexivpronomen: Sie beziehen sich auf Elemente im gleichen Satz: sich (Er setzt sich auf die Bank), selbst (Sie hat das Auto selbst gelenkt). Demonstrativpronomen: Ähnlich wie der bestimmte Artikel erfüllen Demonstrativpronomen eine Verweis- oder Zeigefunktion: dieser, dieses, jener. 3.3 Artikelwörter und Pronomen 35 Interrogativpronomen (Fragepronomen): Mit Interrogativpronomen wie welch, welcher, was, wer, warum etc. werden Fragen eingeleitet. Indefinitpronomen: Hier sind Formen wie (irgend)jemand, niemand, keiner, man etc. gemeint, die auf eine unbestimmte Menge/ auf unbestimmte Elemente einer Klasse Bezug nehmen. 3.4 Adjektive Es lassen sich drei Stellungsvarianten des Adjektivs unterscheiden: Beim attributiven Gebrauch (zwischen Artikel und Substantiv) kongruieren Adjektive mit dem Substantiv: der bunte Ball. Beim prädikativen Gebrauch (kombiniert mit Kopulaverben wie sein, werden oder bleiben) und beim adverbialen Gebrauch (mit Bezug auf ein Verb, ein anderes Adjektiv oder eine Partikel) wird das Adjektiv nicht flektiert: Das Haus ist schön; Die Kapelle spielt laut; Ein angenehm milder Duft liegt in der Luft. Allerdings kann man es problemlos in die attributive und damit flektierte Position überführen: Das schöne Haus; Das laute Spielen; Ein angenehmer Duft. Semantisch beziehen sich Adjektive auf Substantive. Es lassen sich grob drei Klassen unterscheiden: Qualifizierende Adjektive: Sie geben ein Werturteil über eine Person, eine Sache oder einen Vorgang ab: schön, hoch, sauer, kalt, früh etc. Relationale Adjektive: Sie drücken eine Beziehung oder Zugehörigkeit aus: englisch, evangelisch, ärztlich, mittelalterlich, gestrig etc. Quantifizierende Adjektive (Zahladjektive): Sie geben eine Menge oder Rangordnung an: zwei, zwanzig, viele, zweiter etc. 3 Die Wortarten des Deutschen 36 3.5 Adverbien Adverbien (auch: Umstandswörter) stellen eine recht heterogene Klasse dar. Semantisch betrachtet geben sie die Umstände (wo, wann, wie, warum, mit welcher Wahrscheinlichkeit) von Geschehen und Objekten an. Einige Subklassen sind: Lokaladverb: Lokaladverbien verorten ein Objekt, Geschehen etc. räumlich und stellen räumliche Beziehungen her. Es lassen sich Ortsadverbien (hier, dort, unterhalb) von Richtungsadverbien (hin, her, hierhin, abwärts) abgrenzen. Temporaladverb: Temporaladverbien situieren ein Objekt, Geschehen etc. zeitlich und stellen zeitliche Bezüge her. Sie können sich etwa auf einen Zeitpunkt (jetzt, heute, abends, vorher), die Zeitdauer (immer, tagsüber, seither) oder Wiederholungen beziehen (mehrmals, manchmal, oft, häufig). Modaladverb: Modaladverbien benennen die Quantität (teilweise, haufenweise, halbwegs) und Qualität (so, anders, gern, nebenbei, vergebens) von Dingen. 3.6 Präpositionen Präpositionen treten meist mit Substantiven auf und bestimmen den Kasus, d. h. sie ‚ regieren ‘ ein Substantiv: Genitiv (wegen des Kindes), Dativ (mit dem Kind), Akkusativ (durch das Kind). Der Terminus Präposition bezieht sich allerdings nur auf eine von mehreren Stellungsmöglichkeiten, insgesamt lassen sich drei Stellungen (Adpositionen) unterscheiden: Präposition (Voranstellung): vor dem Substantiv (vor dem Haus, auf dem Stuhl, nach dem Regen). 3.6 Präpositionen 37 Postposition (Nachstellung): nach dem Substantiv, z. B. als Verbteil komplexer Verben (hinaufgehen: geht die Straße hinauf, hinabgehen: geht den Berg hinab). Zirkumposition (Herumstellung): um das Substantiv herum (von Anfang an, um Himmels willen). Hinsichtlich der Komplexität können primäre (in, auf, unter, vor), sekundäre (aufgrund, infolge, hinsichtlich) und tertiäre (in Bezug auf, am Rande, im Vorfeld) Präpositionen voneinander abgegrenzt werden. Semantisch gesehen lassen sich - ähnlich wie bei Adverbien - lokale (auf, unter, vor), temporale (seit, nach, gegen) und modale (außer, entgegen, einschließlich) Verwendungsweisen bestimmen. Hinzu kommen kausale/ konzessive Präpositionen (zwecks, bezüglich, trotz) sowie die von Verben (warten auf), Adjektiven (stolz auf) und Substantiven (Hoffnung auf) geforderten ‚ neutralen ‘ Präpositionen. 3.7 Konjunktionen Konjunktionen (auch: Binde-, Verknüpfungswörter) haben ‚ verknüpfende ‘ Funktion, beispielsweise verbinden sie Wörter, Sätze oder Satzglieder miteinander. Man unterscheidet zwei Gruppen von Konjunktionen: Subordinierende Konjunktionen (auch: Subjunktionen): Sie verbinden zwei Sätze miteinander, indem sie einen dem anderen unterordnen. Den übergeordneten Satz nennt man Matrixsatz, den untergeordneten Satz einleitenden Nebensatz. Bei subordinierenden Konjunktionen wird das finite Verb ans Ende des Satzes gesetzt: Er geht spazieren, obwohl es regnet. Mit Bezug auf die Bedeutung lassen sich z. B. folgende Typen unterscheiden: temporal (während, seit), kausal (weil, 3 Die Wortarten des Deutschen 38 da), konditional (falls, wenn), konzessiv (obwohl, gleichwohl), adversativ (wohingegen, stattdessen) etc. Koordinierende Konjunktionen: Sie verknüpfen nicht nur Sätze, sondern auch kleinere Einheiten wie Wörter und Phrasen miteinander. Koordinierende Konjunktionen sind allerdings nicht unter-, sondern nebenordnend, d. h. sie koordinieren gleichwertige Teile miteinander. Zu den semantischen Typen gehören etwa: additiv (und, sowie, sowohl … als auch), alternativ (oder, entweder … oder) etc. Wie die Beispiele zeigen, gibt es eingliedrige (seit, falls, und), mehrgliedrige (obwohl, stattdessen) und paarige Konjunktionen (sowohl … als auch, entweder … oder). 3.8 Partikeln Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Wortarten handelt es sich bei Partikeln um keine homogene Klasse, die nur nach morphologischen, syntaktischen oder semantischen Gesichtspunkten zu bestimmen ist. Vielmehr werden Partikeln nach pragmatischen Kriterien, d. h. hinsichtlich ihrer kommunikativ-funktionalen Eigenschaften, charakterisiert. Somit kommt ihnen in nähe- und gesprochensprachlichen Texten eine wichtige Funktion zu. Man unterscheidet folgende Subtypen: Gradpartikeln (auch: Steigerungs- und Intensivpartikeln): Gradpartikeln geben die Intensität (quantitativ und qualitativ) von etwas an und beziehen sich häufig auf ein Adjektiv oder Adverb (Sie singt sehr schön). Zu vielen Gradpartikeln liegen Dubletten in anderen Wortarten wie Adjektiven vor, die flektiert werden und sich häufig auf Substantive bezie- 3.8 Partikeln 39 hen: Er ist ausgesprochen schön (Gradpartikel) vs. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen (Adverb). Fokuspartikeln: Sie heben bestimmte Elemente im Satz (Bezugselemente) hervor. Folgende Subtypen gibt es: ● mengenbezogen: nur, wenigstens, auch etc.: Auch Mathilde ist zum Geburtstag gekommen. ● zeitbezogen: bereits, schon, erst etc.: Ich warte bereits seit drei Stunden auf dich! ● qualitätsbezogen: wenigstens, höchstens, fast etc.: Er hat sich wenigstens Mühe gegeben. Modalpartikeln (auch: Abtönungs- und Einstellungspartikeln): Modalpartikeln geben die Einstellung des Sprechers zum im Satz ausgedrückten Sachverhalt wieder, gelegentlich lassen sie sich auch als Kommentar bezeichnen. Zu den Modalpartikeln gehören etwa bloß, ja, doch, ruhig etc.: Mach das ruhig! ; Er hat ja keine einzige Aufgabe richtig gelöst. Als Kommentarpartikeln gelten sozusagen, gewissermaßen, quasi: Es hat sich quasi erledigt. Rehe sind gewissermaßen von Natur aus scheu. Infinitivpartikeln: Die Infinitivpartikeln zu bzw. um … zu markieren den Infinitiv des Verbs: Er hat sich etwas zu lesen gekauft. Sie geht in den Garten, um zu spielen. Negationspartikel: Die Negationspartikel nicht kann relativ frei im Satz verwendet werden: Er arbeitet nicht gerne. Nicht sie, sondern er arbeitet nicht gerne. Er arbeitet heute nicht. Er arbeitet nicht heute. 3 Die Wortarten des Deutschen 40 Superlativpartikel: Die Superlativpartikel am bezieht sich auf ein Adjektiv und nicht, wie die Präposition am, auf ein Substantiv: Peter ist am größten (Superlativ) vs. Peter ist am Haus angekommen (Präposition). Gesprächspartikeln: Zu den Gesprächspartikeln gehört eine Vielzahl an Subtypen, die kommunikative Aufgaben in Gesprächen erfüllen. Hierzu zählen u. a.: ● Antwortpartikeln wie nein, ja, doch: „ Hast du Hausaufgaben gemacht? “ - „ Nein! “ ● Sprechersignale, die anzeigen, dass der Sprecher das Rederecht ergreifen, behalten oder abgeben will: äh, also, okay, gut etc. Hierher gehören auch Begrüßungs- und Verabschiedungspartikeln wie hallo, hi, tschüss, ciao. ● Hörersignale (auch: Responsivpartikeln) wie stimmt, jaja, genau, die anzeigen, dass der Hörer dem Sprecher zuhört. Die Grenze zu den Antwortpartikeln ist hier fließend. ● Interjektionen, die vor allem Emotionen wie Freude, Überraschung, Traurigkeit, Schmerz etc. sowie Bewertungen und Aufforderungen ausdrücken: Hurra! , Aua! , Klasse! , Scheiße! , Bäh! Psst! Stöhn! , *grins* etc. Zusammenfassung Wir wollen die Bestimmung der Wortarten an einem konkreten Beispiel zusammenfassen. Der folgende Ausschnitt stammt aus einem Spiegel-Online-Artikel vom 07. 03. 2019: Kanadische Wissenschaftler haben einen Sensor entwickelt, der die Bewegung von Menschen verfolgt, die in gefährlichen Situationen arbeiten müssen. So könnte die Arbeit von Feuerwehrleuten oder Minenarbeitern überwacht werden. Zusammenfassung 41 Die Wörter des Textes lassen sich in folgende Wortarten einteilen: Verben: haben (Hilfsverb), entwickelt, verfolgt, arbeiten, müssen (Modalverb), könnte (Modalverb), überwacht, werden (Hilfsverb). Substantive: Wissenschaftler, Sensor, Bewegung, Menschen, Situationen, Arbeit, Feuerwehrleuten, Minenarbeitern. Artikelwörter: einen (Sensor), die (Bewegung, Arbeit) Pronomen: der, die (Relativpronomen) Adjektive: kanadische, gefährlichen Adverb: so (Modaladverb) Präpositionen: in, von Konjunktionen: oder (koordinierend) Weiterführende Literatur: z. B. Boettcher (2009: 20 ff.), Hentschel/ Weydt (2013: 13 ff.), Imo (2016: 13 ff.). Fragen und Aufgaben 1. Bestimmen Sie die Wortarten des folgenden Gedichtauszugs: Das Kuss-Gedicht (von Gerrit Engelke) Der Menschheit größter Hochgenuss ist ohne Zweifel wohl der Kuss. Er ist beliebt, er macht vergnügt, ob man ihn gibt, ob man ihn kriegt. Er kostet nichts, ist unverbindlich und vollzieht sich immer mündlich. Hat man die Absicht, dass man küsst, so muss man erst mit Macht und List den Abstand zu verringern trachten und dann mit Blicken zärtlich schmachten. (. . .) 2. Teilen Sie die Substantive des Gedichts in Konkreta und Abstrakta ein. 3 Die Wortarten des Deutschen 42 4 Flexion Im vorherigen Kapitel wurden die Wortarten des Deutschen eingeführt, näher beschrieben und funktional voneinander abgegrenzt. In diesem Kapitel soll die Flexion (lat. flectere: ‚ biegen, beugen ‘ ) dieser Wortarten im Zentrum stehen. Dabei wurde die Reihenfolge der Wortarten in Kapitel 3 nicht zufällig, sondern bereits mit Blick auf ihre Flexionseigenschaften gewählt, wie die folgende Übersicht verdeutlicht (hier reduziert dargestellt, vgl. ausführlich z. B. Boettcher 2009: 24): Verb Subst. Artikelw. Pron. Adj. Adv. Konj. Part. Präp. nicht flektierbar Wort flektierbar konjugierbar deklinierbar Wörter lassen sich zunächst dahingehend unterscheiden, ob sie flektierbar oder nicht flektierbar sind. Unter Flexion versteht man die morpho-syntaktische Abwandlung von Wörtern nach bestimmten Merkmalen einer Merkmalsklasse. Die nicht flektierbaren (auch: syntaktischen) Wortarten Adverb, Präposition, Konjunktion und Partikel (s. dazu Kap. 3.5 - 8) werden im Folgenden nicht mehr berücksichtigt. Wir konzentrieren uns auf die flektierbaren (auch: lexikalischen) Wortarten: das Verb, das konjugierbar ist, sowie die deklinierbaren Wortarten Substantive, Artikelwörter, Pronomen und Adjektive (s. auch Kap. 3.1 - 4). Kenntnisse über die Flexion gehören zum unverzichtbaren Handwerkszeug der Morphologie. Diese Grundlagen sollten im Schulunterricht bereits gelegt worden sein und werden im Folgenden lediglich rekapituliert. Falls sich bei der Lektüre größere Gedächtnislücken auftun, findet sich eine ausführlichere Fassung dieses Kapitels mit zahlreichen Beispielen online im Zusatzmaterial zu diesem Buch. 4.1 Das Verb Das Verb liegt in unterschiedlichen Verbformen vor: 1. Finite Verbformen: Das Verb in seiner konjugierten Form. Man spricht hier von finitem Verb oder Finitum. 2. Infinite Verbformen: Hierzu gehören der Infinitiv (Nennform des Verbs), das Partizip I (Partizip Präsens, z. B. singend, essend) und das Partizip II (Partizip Perfekt, z. B. gelacht, gefunden). Die folgenden fünf Flexionskategorien / Merkmalsklassen des Verbs lassen sich unterscheiden: Tempus: gibt die Zeitform des Verbs an. Das Deutsche verfügt über sechs Möglichkeiten der Tempusmarkierung: Präsens, Perfekt, Präteritum, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II. Vor allem mit Blick auf die Bildung von Präteritum und Partizip II lassen sich Verben in zwei Konjugationsklassen einteilen: 4 Flexion 44 1. Schwache Verben: Schwache Verben machen den Großteil des Verbbestands aus. Sie werden im Präteritum regelmäßig (daher auch: regelmäßige oder reguläre Verben) durch Anheften des Dentalsuffixes {-te} an den Stamm gebildet: spielen - spiel+te, freuen - freu+te, packen - pack+te. Das Partizip II der schwachen Verben wird mit dem Zirkumfix ge-V-(e)t gebildet: ge+spiel+t, ge+freu+t, ge+pack+t. 2. Starke Verben: Starke Verben bilden das Präteritum durch Vokalwechsel (Ablaut). Dieser folgt nicht mehr wie noch in früheren Sprachstufen einem klaren Schema, sondern muss für viele Verben einzeln gelernt werden: singen - sang, fliegen - flog, geben - gab. Hinzu kommen Klassen, die das Tempus kombinatorisch markieren, wie etwa die Modalverben (z. B. wollen - will/ wollte) oder so genannte Rückumlautverben (brennen - brannte). Das Partizip II wird mit dem Zirkumfix ge-V-en gebildet: ge+sung+en, ge+flog+en, ge+fund+en. Modus: sagt etwas über die Einstellung des Sprechers zur mit dem Verb ausgedrückten Handlung aus. Dabei werden die Modi Indikativ (er spielt), Konjunktiv I (er spiele), Konjunktiv II (er spielte) und Imperativ (Spiel! ) unterschieden. Numerus: Singular und Plural bezeichnen die Einzahl (er läuft) oder Mehrzahl (sie laufen) dessen, was mit dem Verb ausgedrückt wird. Person: kann beim Verb auf drei unterschiedliche Weisen ausgedrückt werden: Die erste Person (ich, wir) gibt den Sprecher an, die zweite Person (du, ihr) gibt den Adressaten an, die dritte Person bezieht sich auf alle weiteren Personen oder Gegenstände (er, sie, es). 4.1 Das Verb 45 Genus Verbi: Dazu gehören das Aktiv (für normale Aussagesätze) und das Passiv: Peter kocht den Reis - Der Reis wird (von Peter) gekocht. 4.2 Das Substantiv Substantive werden nach Numerus, Kasus und Genus flektiert. Numerus: Ähnlich wie beim Verb unterscheidet man beim Substantiv zwei Numeri, nämlich Singular und Plural. Fast alle Substantive bilden den Plural regulär, d. h. flexivisch mittels Pluralallomorphen (s. Kap. 1). Bei Wörtern mit Nullplural übernimmt zusätzlich der Artikel eine wichtige Numerusfunktion: der Reifen vs. die Reifen. Daneben gibt es Sonderformen bei fremdsprachlichen Lexemen wie bei Espresso - Espressi, Periodikum - Periodika, Schema - Schemata. Hier besteht häufig die Tendenz der Angleichung an die Pluralbildung der Zielsprache: Atlas - Atlasse (neben Atlanten), Komma - Kommas (neben Kommata). Ausgenommen von der Pluralbildung sind nicht zählbare Konkreta wie z. B. Milch, Wasser und Honig, vor allem aber Abstrakta wie etwa Liebe, Frieden und Glück. Man spricht hier von Singulariatantum. Den Gegensatz hierzu bilden Pluraliatantum wie Eltern, Ferien oder Kosten, die nur um Plural vorkommen. Kasus: im Deutschen Nominativ (wer? / was? ), Genitiv (wessen? ), Dativ (wem? ) und Akkusativ (wen? / was? ). Im Vergleich zum Finnischen, das weitaus mehr Kasus unterscheidet, und zum Englischen, das ein sehr reduziertes Kasussystem aufweist bzw. den Kasus mehrheitlich nicht 4 Flexion 46 über Deklination markiert, nimmt das Deutsche eine Zwischenposition ein. Das Deutsche verfügt über drei Deklinationsklassen des Substantivs: 1. Starke Deklination: Genitivmarkierung durch {-(e)s}. In diese Klasse gehören alle Neutra und wenige Maskulina: das Kind - des Kindes, der Lehrer - des Lehrers. 2. Schwache Deklination: Alle Kasus (bis auf den Nominativ) enden auf {-en}. Hierzu gehören die meisten Maskulina sowie Fremdwörter auf -ant, -ent oder -ist: der Mensch - des / dem / den Menschen; Sozialist - Sozialisten. 3. Deklination der Feminina: Die Formen sind endungslos, die unterschiedlichen Kasusformen können lediglich durch den Artikel angezeigt werden: die Frau (Nom.) - der Frau (Gen., Dat.), die Frau (Akk.). In der Sprachgeschichte lassen sich zahlreiche Übergänge zwischen den Deklinationsklassen nachweisen. So wechselte der Hahn von der schwachen in die starke Klasse: mhd. der hane, des hanen, die hanen > nhd. der Hahn, des Hahns, die Hähne. Auch heute gibt es zahlreiche solcher Schwankungsfälle wie etwa bei der Bär (des Bärs vs. des Bären). Zudem lassen sich einige Wörter belegen, die sich in keine der genannten Deklinationsklassen einordnen lassen, sondern Eigenschaften sowohl der starken als auch der schwachen Deklination aufweisen und deshalb gelegentlich als gemischte Deklination (auch: unregelmäßige Deklination) bezeichnet werden. Hierzu gehören Wörter wie Herz, Name oder Buchstabe: der Name (Nom.), des Namens (Gen.), dem Namen (Dat.), den Namen (Akk.). Genus: Das grammatische Geschlecht; wir unterscheiden im Deutschen zwischen Maskulinum (männlich), Femininum (weiblich) und Neutrum (sächlich). Es ist wichtig, das 4.2 Das Substantiv 47 grammatische Geschlecht vom biologischen Geschlecht (Sexus) abzugrenzen, da es hier keine Eins-zu-eins-Entsprechung gibt. Zwar fallen etwa bei der Mann und die Frau das grammatische und das biologische Geschlecht zusammen, bei Beispielen wie die Tür, der Tisch oder das Mädchen ist dies allerdings nicht der Fall, da die Referenten von Tür und Tisch kein biologisches Geschlecht aufweisen und der Referent von Mädchen ein feminines biologisches Geschlecht besitzt. Obwohl jedes Substantiv genau ein Genus aufweist, gibt es Wörter, die mehrere Genera haben können, welche dann bedeutungsunterscheidend sind: z. B. die Kiefer vs. der Kiefer, das Tor vs. der Tor. Zudem lassen sich Schwankungsfälle bei der Genuszuweisung beobachten, die häufig Fremd- und Lehnwörter betreffen: z. B. der/ das Virus, der/ das Blog. Anders als Kasus und Numerus ist das Genus fest an das Lexem gebunden und variiert nicht aufgrund der Verwendungsweise. 4.3 Das Adjektiv Das Adjektiv stellt insofern eine Besonderheit dar, als sich seine Flexionseigenschaften nach dem Substantiv richten, auf das es sich bezieht. Man spricht hier von Kongruenz, d. h. Adjektive (sowie Artikel) kongruieren mit dem Substantiv hinsichtlich Numerus, Kasus und Genus. Das schöne (Numerus: Sing., Kasus: Nom., Genus: Neutr.) Auto. Des schönen (Numerus: Sing., Kasus: Gen., Genus: Neutr.) Autos. Die schönen (Numerus: Pl., Kasus: Nom., Genus: Neutr.) Autos. 4 Flexion 48 Da sich die Flexionseigenschaften des Adjektivs in Numerus, Kasus und Genus nach dem Bezugssubstantiv richten, sollen sie hier - anders als beim Substantiv (vgl. Kap. 4.2) - nicht separat voneinander betrachtet werden. Man unterscheidet beim Adjektiv zwischen drei Deklinationsklassen. Genau wie beim Substantiv spricht man von starker, schwacher und gemischter Deklination: 1. Starke Deklination: Die starke Deklination tritt auf, wenn dem Adjektiv kein Artikelwort vorangeht, weshalb das Adjektiv die Deklination formal stärker markieren muss. Auch nach bestimmten Begleitpronomen wie z. B. manch, solch oder welch erfolgt die starke Deklination. Als Endungen kommen {-e}, {-en}, {-em}, {-er} und {-es} vor. Für den Nominativ Singular und Plural ergeben sich folgende Formen: kalter Regen, kalte Butter, kaltes Essen, kalte Zimmer. 2. Schwache Deklination: Adjektive werden dann schwach flektiert, wenn ihnen der bestimmte Artikel (der, die, das) oder Begleitpronomen wie dieser, jener, mancher, solcher, welcher vorangehen. Als Endungen kommen {-e} und {-en} vor: der kalte Regen, die kalte Butter, das kalte Essen, die kalten Zimmer. 3. Gemischte Deklination: Sie tritt nach dem unbestimmten Artikel (ein, eine) sowie nach Possessivpronomen (mein, dein, unser etc.) auf. Die gemischte Deklination umfasst im Singular sowohl Eigenschaften der starken als auch der schwachen Deklination: ein kalter Regen, eine kalte Butter, ein kaltes Essen, meine kalten Zimmer. Die drei Deklinationsklassen zeigen eine Tendenz zur Monoflexion, d. h. die Flexionseigenschaften werden in der Nominalphrase (Artikel, Adjektiv und Substantiv) hauptsächlich nur an einem Wort formal ausgedrückt und verhalten sich so ‚ arbeitsteilig ‘ . 4.3 Das Adjektiv 49 Was die Deklination der Adjektive von anderen nominalen Wortarten unterscheidet, ist die Fähigkeit zur Steigerung, auch Komparation genannt. Es gibt hier drei Steigerungsstufen: Positiv (Grundform des Adjektivs: groß), Komparativ (erste Steigerungsstufe: größer), Superlativ (höchste Steigerungsstufe: (am) größten). Positiv, Komparativ und Superlativ stellen also Vergleichsformen dar: ein Referent x ist beispielsweise größer als ein Referent y. Bisweilen kann ein absoluter Superlativ auftreten, der so genannte Elativ, der ohne Vergleich auskommt: beste Grüße (ohne den Vergleich zu guten und besseren Grüßen). Auch gibt es Adjektive, die nicht steigerbar sind, meist aus semantischen Gründen: z. B. tot (*toter, *am totesten), einzig (*einziger, *einzigster), nackt (*nackter, *am nacktesten). 4.4 Artikelwörter und Pronomen In Kapitel 3.3 wurden bereits die wichtigsten Artikel und Subklassen von Pronomen eingeführt. Sie werden nach Numerus, Kasus und Genus (und Pronomen teilweise auch nach Person) flektiert, die - ähnlich wie bei den Adjektiven (vgl. 4.3) - hier sinnvollerweise zusammen betrachtet werden. Zu den Artikelwörtern gehören sowohl der bestimmte als auch der unbestimmte Artikel, die beide ein Substantiv ‚ begleiten ‘ : z. B. der Mann, eine Frau. Dagegen können Pronomen - bis auf die Personal- und Reflexivpronomen - sowohl als Begleiter als auch als Stellvertreter fungieren. Dazu gehören: a. Personalpronomen wie ich, du, unser, euer, ihrer, ihnen. Wie in Kap. 2.1 bereits angedeutet, handelt es sich bei 4 Flexion 50 Personalpronomen um Personaldeiktika, da es stets kontextabhängig ist, auf wen oder was sie referieren. b. Reflexivpronomen: Das eigentliche Reflexivpronomen sich gibt es nur im Akkusativ und Dativ der dritten Person, im Nominativ wird es nicht flektiert: 1. Person 2. Person 3. Person Dativ mir (uns) dir (euch) sich ( sich ) Akkusativ mich (uns) dich (euch) sich ( sich ) c. Demonstrativpronomen wie dieser, diese und dieses haben Zeigefunktion, d. h. sie verweisen auf Dinge in der Welt. Sie können als Begleiter auf ein Substantiv verweisen (Dieser Mantel gehört mir) oder aber als Stellvertreter fungieren (Dieser ist grau). Auch der bestimmte Artikel kann als Demonstrativpronomen verwendet werden, den Unterschied zeigt die Betonung: „ Ist das der Mann? “ - „ Nein, es ist der. “ d. Possessivpronomen: Possessivpronomen zeigen den Besitz oder die Zugehörigkeit von etwas an (Das ist mein Buch.). Zu ihnen gehören: mein, dein, sein/ ihr/ sein (Singular) und unser, euer, ihr (Plural). Dabei liegen die gleichen Flexionsendungen vor wie beim unbestimmten Artikel. e. Interrogativ-, Indefinit- und Relativpronomen: Interrogativpronomen werden in Fragesätzen (W-Fragen) verwendet und können sowohl als Begleiter (Wessen Haus ist das? ) als auch als Stellvertreter (Wer spielt im Garten? ) auftreten. Mit Indefinitpronomen nimmt man auf eine unbestimmte Menge von Gegenständen, Anzahl von Personen ec. Bezug. Man unterscheidet zwischen flektierbaren (alle, kein(e), jemand, niemand) und unflektierbaren (etwas, man) Indefinitpronomen. Sie können als Begleiter (Alle 4.4 Artikelwörter und Pronomen 51 Vöglein sind schon da) sowie als Stellvertreter (Ich habe alle im Garten gesehen) fungieren. Relativpronomen wie der, die, das, welcher, was leiten Nebensätze ein und stellen einen Bezug zwischen Nebensatz und übergeordnetem Satz her (Das Auto, das vor der Tür steht, gehört mir). Sie erfüllen meist Stellvertreterfunktion, können aber auch als Begleiter zum Einsatz kommen, etwa wenn sie zusammen mit dem Bezugssubstantiv die Nominalphrase des übergeordneten Satzes näher bestimmen (Das Fahrrad, dessen Reifen aufgestochen sind, steht da drüben.). Zusammenfassung Die Wortarten des Deutschen lassen sich dahingehend unterscheiden, ob sie flektierbar oder nicht flektierbar sind. Die flektierbaren Wortarten teilen sich ferner in Konjugation einerseits und Deklination andererseits auf. Konjugierbar sind Verben, deklinierbar sind die nominalen Wortarten Substantiv, Adjektiv, Artikelwort und Pronomen. Zu den Flexionskategorien des Verbs gehören: Tempus, Modus, Numerus, Person und Genus Verbi. Zu den Flexionskategorien der nominalen Wortarten gehören Numerus, Kasus und Genus sowie teilweise Person beim Pronomen. Beim Adjektiv besteht die Besonderheit darin, dass sich die grammatischen Eigenschaften nach dem Bezugssubstantiv richten, d. h. sie kongruieren mit dem Substantiv hinsichtlich Numerus, Kasus und Genus. Außerdem kommt die Steigerbarkeit, die so genannte Komparation, hinzu. Bei Pronomen ist dahingehend zu unterscheiden, ob sie als Begleiter oder Stellvertreter von Substantiven fungieren. 4 Flexion 52 Weiterführende Literatur: z. B. Simmler (1998), Boettcher (2009), Thieroff/ Vogel (2009), Eisenberg (2013), Hentschel/ Weydt (2013), Vogel/ Sahel (2013), Elsen (2014), Duden (2016), Imo (2016). Fragen und Aufgaben 1. Bestimmen Sie die Flexionseigenschaften der unterstrichenen Verben: a. Am Anfang stand das Wort. b. Er sagt, er werde die Aufgabe nicht lösen. c. Übermorgen werde ich das Fahrrad repariert haben. 2. Bestimmen Sie Numerus, Kasus und Genus der unterstrichenen Substantive: a. Die Kinder essen den Pudding aus der Schüssel. b. Das Nilpferd liegt in dem Käfig der Elefanten. 3. Handelt es sich bei den folgenden Beispielen um die starke, schwache oder gemischte Deklination der Substantive? a. den Kandidaten (Akk.) b. des Stuhls (Gen.) 4. Bestimmen Sie die Stellung und die Deklinationsklasse der unterstrichenen Adjektive: a. Das frische Brot schmeckt hervorragend. b. Der neue Präsident hat ein schönes Büro. c. Kühle Säfte und kalte Platten mit Forelle blau gibt es auf der Feier. 5. Erläutern Sie Typ und Gebrauch der unterstrichenen Pronomen näher: a. Welches Seminar besuchst du? b. Dieses Buch habe ich schon gelesen. c. Den Stift habe ich in meiner Tasche gefunden. Zusammenfassung 53 5 Wortbildung Der Begriff Wortbildung ist prozessual und dynamisch zu verstehen - er umfasst einerseits Einheiten und Prozesse zur Bildung komplexer Wörter sowie andererseits deren Produkte. Gegenstand der Wortbildung sind somit die Struktur komplexer Wörter, ihre einzelnen Bestandteile (Wortbildungsmittel, -einheiten bzw. -elemente) ebenso wie die Art und Weise ihrer Verknüpfung (Wortbildungsprozesse, -typen bzw. -modelle). Wortbildung dient in erster Linie der Benennung von Gegenständen, Sachverhalten, Ereignissen und Eigenschaften, erfüllt also eine Nominationsfunktion (Nomination = Benennung). Lexikalisierte komplexe Bildungen wie Haustür oder Handschuh sind in den Gebrauchswortschatz eingegangen (Usualismen) und bilden mit monomorphematischen Einheiten wie Haus oder Schuh das Lexikon einer Sprache. Die Innovation und Dynamik der Wortbildung zeigt sich in der fortgesetzten Bildung von Okkasionalismen und Neologismen zur Füllung neu entstandener lexikalischer Lücken (vgl. Kap. 2.2). Neben der Bildung neuer Wörter zur Füllung lexikalischer Lücken wird Wortbildung aber auch für stilistische und textstrukturierende Zwecke genutzt, beispielsweise, um textstilistische Variationen zu schaffen. Sprecher*innen greifen je nach kommunikativen Rahmenbedingungen (Situation) und Intention (Funktion) auf Wortbildungselemente verschiedener Sach- und Tätigkeitsbereiche (Wortfelder) zurück und kombinieren diese zu neuen Benennungseinheiten. In Texten kann Wortbildung demnach semantisch kohärenzstiftend wirken und zusammen mit anderen sprachlichen Ebenen (Syntax etc.) zur Charakterisierung und Klassifizierung von Textsorten beitragen (vgl. Kap. 5.5). Da Wortbildungsprozesse strukturell-morphologische und/ oder semantisch-funktionale Veränderungen umfassen sowie auf bereits vorhandenen Wörtern basieren, ist die Wortbildung somit von benachbarten Phänomenen wie Bedeutungsverschiebung, Urschöpfung und Entlehnung zu unterscheiden. Die synchrone ‚ heimische ‘ (native/ indigene) Wortbildungsforschung des Neuhochdeutschen setzt sich zum Ziel, diejenigen nativen Einheiten und Prozesse zu beschreiben und zu analysieren, die heute zur Bildung neuer Wörter herangezogen werden. Sie grenzt sich so einerseits von der diachronen Wortbildung (vgl. Kap. 7), andererseits aber auch von der Wortbildung mit nicht-heimischen Elementen (vgl. Kap. 5.4) ab. Damit verbunden sind auch Fragen der Produktivität. Wortbildungseinheiten und -prozesse, die zu Neubildungen führen, sind produktiv (stark oder schwach), alle anderen unproduktiv. Hier sind allerdings, vor allem auch diachron, graduelle Abstufungen und Übergänge anzunehmen. 5.1 Wortbildungseinheiten Wurzeln und Affixe sind Kategorien, die sowohl in der Flexion als auch - als Einheiten zur Bildung neuer Wörter - in der Wortbildung eine Rolle spielen. Wie später (vgl. Kap. 6) noch zu zeigen ist, gibt es zwischen Affixen, die der Flexion dienen, und solchen, die zur Bildung neuer Wörter herangezogen werden, zum Teil deutliche Unterschiede. 5.1 Wortbildungseinheiten 55 Daneben gibt es so genannte wortbildungsspezifische Einheiten, nämlich Affixoide, Fugenelemente und Konfixe (vgl. Kap. 5.4). Affixe Wie in Kapitel 1 bereits erläutert, gelten Affixe, also Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe, als gebundene Einheiten, die nicht wort- und basisfähig sind, somit weder frei vorkommen noch mit anderen Affixen kombinierbar sind. Präfixe erscheinen vor einem Wortstamm und spielen bei der Substantiv- und Adjektivbildung nur eine untergeordnete Rolle. Hier verändern sie die Wortart der Basis in der Regel nicht: Mann (Substantiv) > Ex-Mann (Substantiv); schön (Adjektiv) > unschön (Adjektiv). Weitaus differenzierter ausgeprägt ist die Präfigierung jedoch bei der Verbbildung, da Präfixe hier wortart- und kategorienverändernd wirken können, d. h. aus Substantiven und Adjektiven werden Verben gebildet: Holz (Substantiv/ Sache) > abholzen (Verb/ Tätigkeit); taub (Adjektiv/ Eigenschaft) > betäuben (Verb/ Tätigkeit). Auch lassen sich mittels Präfixen Verben aus anderen, bereits bestehenden Verben ableiten: blühen (Verb/ Vorgang) > verblühen (Verb/ Vorgang), gehen (Verb/ Tätigkeit) > entgehen (Verb/ Vorgang). Diese nicht trennbaren Präfixverben sind von den Partikelverben zu unterscheiden, die eine Distanzstellung zwischen Partikel und Verb ermöglichen: umdrehen - Er dreht den Spieß um. Anders als die Präfigierung ist die Suffigierung bei Substantiven, Adjektiven und Adverbien stärker ausgebaut. Suffixe können aus Verben, Substantiven sowie Adjektiven (1) Substantive und (2) Adjektive bilden und dabei bisweilen die zugrunde liegende Kategorie verändern: (1) bergen (Verb/ 5 Wortbildung 56 Tätigkeit) > Bergung (Substantiv/ Tätigkeit), Spiel (Substantiv/ Sache) > Spielchen (Substantiv/ Sache); schön (Adjektiv/ Eigenschaft) > Schönheit (Substantiv/ Sache), (2) essen (Verb/ Tätigkeit) > essbar (Adjektiv/ Eigenschaft); Ekel (Substantiv/ Sache) > ekelhaft (Adjektiv/ Eigenschaft); viel (Adjektiv/ Eigenschaft) > vielfach (Adjektiv/ Eigenschaft). Bei der Verbbildung kommen nur wenige heimische Suffixe in Frage, die meisten sind heute unproduktiv oder stark eingeschränkt produktiv: Frost (Substantiv/ Zustand) > frösteln (Verb/ Vorgang). Adverbien nehmen insofern eine Sonderposition ein, als sie vielfach durch Suffixoide (vgl. 3.3) gebildet werden: {-halber} (anstandshalber), {-weise} (massenweise). Die Zirkumfigierung schließlich stellt eine Kombination aus Prä- und Suffigierung dar. Zirkumfixe sind gebundene Einheiten, die um eine Basis herum positioniert werden. Die wichtigsten wortbildungsbezogenen Zirkumfixe sind {Ge- . . .-e} zur Bildung von Substantiven (reden > Gerede), {ge- . . .-ig} zur Bildung von Adjektiven (lehren > gelehrig) und {be-. . .-ig-} zur Bildung von Verben (Gnade > begnadigen). Affixoide Affixoide (auch: Halbaffixe, Semiaffixe) nehmen eine Zwischenposition zwischen freien Wörtern, d. h. Kompositionsgliedern, und Affixen ein. Man unterscheidet gewöhnlich zwischen Präfixoiden ({Bomben-}, {Affen-}, {Sau-}) einerseits und Suffixoiden ({-trächtig}, {-werk}, {-arm}) andererseits. Affixoide teilen die Eigenschaft, dass sie sich aus gleichlautenden, frei vorkommenden Wörtern entwickelt haben, jedoch treten sie in ihrer abstrakteren Bedeutung nur gebunden auf. Die Erstglieder in Bombenparty, Affenhitze und 5.1 Wortbildungseinheiten 57 Sauladen tragen hier nicht die Bedeutung der frei vorkommenden Grundmorpheme Bombe, Affe und Sau, sondern übernehmen eine verstärkende (augmentative), also eher kategoriale Funktion (vgl. hierzu ausf. Kap. 7). Dieser Unterschied zeigt sich auch in der Betonung: Präfixoide werden häufig - wie Präfixe - nicht betont (bzw. nebenbetont), Komposita mit den entsprechenden freien Einheiten dagegen schon: z. B. 'Bombenabwurf ( ‚ Abwurf einer Bombe ‘ ) vs. Bomben'abwurf ( ‚ sehr guter Abwurf ‘ ). Ebenso haben sich die Zweitglieder in geschichtsträchtig, Astwerk oder kalorienarm semantisch so weit von ihren gleichlautenden Pendants trächtig, Werk und arm entfernt, dass sie semantisch entkonkretisiert erscheinen und, wie etwa bei {-werk}, ähnliche kollektive Kategorien bilden wie Affixe (z. B. bei {-heit}: Menschheit, {-tum}: Christentum). Da das semantische Kriterium in diesen Fällen jedoch ein vages darstellt - die Entkonkretisierung des Suffixoids {-arm} lässt sich im Vergleich zu dem freien Adjektiv arm nur schwerlich eindeutig bestimmen - , ist die Kategorie Affixoid umstritten und Belege werden alternativ vielfach entweder als Lexeme oder als Affixe klassifiziert (vgl. Elsen 2009, 2014; Michel 2013). Affixoidbildungen treten bei Substantiven (z. B. {Affen-} in Affentheater), Adjektiven (z. B. {grotten-} in grottenschlecht, {-arm} in knitterarm) und Adverbien (z. B. {-weise} in tonnenweise) auf. Fugenelemente Etwa zwei Drittel aller substantivischen Zusammensetzungen (vgl. 5.2.1) werden mit der Nominativ-Singularform des Erstgliedes gebildet, d. h. ohne verbindendes Element zwi- 5 Wortbildung 58 schen Bestimmungs- und Grundwort (gelegentlich spricht man auch von der Nullfuge): Haus+tür, Tisch+bein, Garten +laube, Zimmer+pflanze. Die restlichen nominalen Komposita weisen an der ‚ Nahtstelle ‘ (Fuge) zwischen Erst- und Zweitglied Elemente auf, die formal vielfach Flexionselementen gleichen, semantisch und funktional aber häufig davon abweichen und deshalb als Fugenelemente bezeichnet werden. Es heißt zwar Bischof+s+konferenz, obwohl eine Genitivlesart (* ‚ Konferenz des Bischofs ‘ ) hier kaum plausibel scheint, da mehrere Bischöfe an der Konferenz teilnehmen. Umgekehrt macht eine Plurallesart bei Hühn+er+ei (* ‚ Ei von Hühnern ‘ ) wenig Sinn, da das Ei von nur einem Huhn stammt. Wie bei der morphologischen Baumstruktur im ersten Kapitel schon gezeigt, sollen Fugenelemente hier als zum Erstglied von Komposita gehörig betrachtet werden, da sie zusammen die Kompositionsstammform bilden (vgl. Fuhrhop 1998; zu anderen Optionen vgl. Elsen 2014: 32 ff.). Je nach Zählung gibt es insgesamt 7 Fugenelemente: -0- (Haus+0+tür), -(e)n- (Decke+n+leuchte), -ns- (Name+ns+tag), -ens- (Herz+ens+angelegenheit), -(e)s- (Tag+es+anbruch), -er- (Kind+er+garten) und -e- (Hund+e+hütte). Hinzu kommen die fremdsprachlichen Fugenelemente -i- (Strat+i+graphie) und -o- (Spiel+o+thek). Je nachdem, ob das Fugenelement eine formale Entsprechung mit Flexionselementen hat, unterscheidet man zwischen paradigmisch und unparadigmisch. Als unparadigmisch gelten feminine Erstglieder mit -(e)s- (z. B. Liebe+s +brief, aber: Gen. der Liebe) sowie einige maskuline Erstglieder mit -(e)n- (z. B. Schwan+en+hals, aber: Pl. die Schwäne, Mond+en+schein, aber: Pl. die Monde). Letztere stellen Relikte einer alten Flexionsform dar, da die Erstglieder 5.1 Wortbildungseinheiten 59 Schwan und Mond diachron in andere Flexionsklassen wanderten (vgl. Fuhrhop 1998). Da Fugenelementen somit keine eindeutige morphologische Funktion zukommt, haben sie keinen Morphemstatus. Fugenelemente übernehmen eher vielfältige sprachsystematische (phonologische, morphologische etc.) und sprachgebrauchsbezogene (diasystematische) Funktionen wie etwa die Markierung von Morphemgrenzen bei komplexen Komposita (Stück+0+zahl vs. Frühstück+s+ei) oder die varietätenbezogene Bildung von Kompositionsstammformen, z. B. kinder- (Standardsprache) vs. kindes- (Sprache des Rechts) (vgl. Michel 2009 a; Nübling/ Szczepaniak 2009). Gelegentlich tritt Fugenbildung auch bei der Derivation auf: frühling+s+haft, held+en+haft, Christ+en+tum. 5.2 Wortbildungsarten Unter Wortbildungsart (auch: Wortbildungsmuster, -modell) fasst man ein „ morphologisch-syntaktisch und lexikalisch-semantisch bestimmtes [. . .] Strukturschema, das sich bei der Analyse gleichstrukturierter morphosemantisch motivierter Wortbildungen ermitteln lässt [. . .] “ (Fleischer/ Barz 2012: 68). Es handelt sich also um Muster, die abhängig von der Wortart zur Bildung neuer Wörter angewendet werden. Die folgenden Wortbildungsarten lassen sich wortartübergreifend belegen: 1. Komposition (auch: Zusammensetzung): Darunter versteht man die Verknüpfung von mindestens zwei Morphemen zu einem Wort. Es kann sich dabei um freie Morpheme oder um gebundene Morpheme wie unikale Morpheme/ Einheiten (z. B. Bromin Brombeere) oder Kon- 5 Wortbildung 60 fixe (vgl. 5.4) handeln. Komposita bestehen unmittelbar aus einem Erstglied und einem Zweitglied, welche selbst wiederum morphologisch komplex sein können. Je nach zugrunde liegendem semantischem Verhältnis zwischen Erst- und Zweitglied lassen sich folgende Haupttypen der Komposition unterscheiden: a. Determinativkomposita: Sie bilden den Großteil der deutschen Komposita. Die beteiligten Kompositionsglieder lassen sich semantisch in Bestimmungswort (auch: Determinans) und Grundwort (auch: Determinatum) unterteilen: Beim Bestimmungswort handelt es sich um das semantisch näher bestimmende (Erst-)Glied, das Grundwort (Zweitglied) dagegen legt die semantische Klasse des Kompositums fest. Zwischen Erst- und Zweitglied besteht also ein determinatives semantisches Verhältnis. Nomen: Haustür (Grundwort: Tür, spezifiziert durch Bestimmungswort Haus) Adjektiv: mausgrau (Grundwort grau, farblich spezifiziert durch Bestimmungswort Maus) b. Kopulativkomposita: Anders als bei Determinativkomposita besteht bei Kopulativkomposita, wo zwei Kompositionsglieder der gleichen Wortart miteinander verknüpft werden, kein determinatives, sondern ein gleichrangiges (auch: koordinierendes) semantisches Verhältnis. Die Position der Kompositionsglieder wäre somit austauschbar: Hähnchen süßsauer schmeckt genauso wie Hähnchen sauersüß. Bei den meisten Belegen hat sich allerdings nur eine Form durchgesetzt. 5.2 Wortbildungsarten 61 Nomen: Spieler-Trainer (Spieler + Trainer) Adjektiv: süßsauer (süß + sauer) 2. Explizite Derivation: Dabei handelt es sich um Ableitung mittels Affigierung, bei der an den Wortstamm Präfixe, Suffixe oder Zirkumfixe geheftet werden und so neue Wörter entstehen. Verb: verschlafen Nomen: Erzbischof, Schönheit, Gelache Adjektiv: unschön, kindisch, unglaublich Adverb: feiertags Vor allem Suffixe übernehmen dabei die Funktion, die dem Grundwort im Kompositum zukommt: Sie legen die semantische Klasse sowie die Wortart fest und bestimmen die Flexionseigenschaften des komplexen Wortes. Wir haben dies im ersten Kapitel schon als Kopf-rechts-Prinzip kennengelernt. Auf die explizite Derivation kommen wir ausführlich in Kapitel 6 zu sprechen, wenn wir sie von der Flexion abgrenzen. Bei der impliziten Derivation entstehen neue Wörter durch Vokalwechsel (z. B. Ablaut): werfen - Wurf, trinken - Trunk. 3. Konversion: Bei der Konversion werden Wörter ohne Affixe in eine andere Wortart umgesetzt (auch: transponiert). Man unterscheidet zwischen syntaktischer Konversion einerseits und morphologischer Konversion andererseits: Bei der syntaktischen Konversion bleibt das Flexionselement der Basis in der neuen Wortart erhalten (essen > das Essen). Bei der morphologischen Konversion 5 Wortbildung 62 werden Wortstämme in unterschiedliche Wortarten umgesetzt. Verb: Fisch > fischen Substantiv: kaufen > der Kauf Adjektiv: ausgezeichnet (Partizip II) > ausgezeichnet (Adjektiv) 5.2.1 Wortbildung des Substantivs Die Wortbildung des Substantivs weist eine große Vielfalt an Kompositions- und Derivationsmustern auf. Bei der Komposition, also der Verbindung zweier oder mehrerer Morpheme, dominieren Determinativkomposita mit substantivischen Erstgliedern (Haustür). Weitere Kompositionsarten sind: ● Kopulativkomposita vom Typ Fürstbischof. ● Rektionskomposita vom Typ Romanleser. Hier fungiert das Erstglied als Ergänzung eines deverbalen Zweitglieds, d. h. es besetzt die Leerstelle des zugrunde liegenden Verbs (hier die Objektergänzung von lesen). ● Possessivkomposita vom Typ Langbein. Das Determinatum wird sprachlich nicht ausgedrückt, vielmehr ist die Bildung metonymisch zu interpretieren: Ein Langbein ist kein ‚ langes Bein ‘ , sondern ‚ ein Mensch mit langen Beinen ‘ . ● Determinativkomposita mit anderen Wortarten als Erstglied (Verb: Spielburg, Adjektiv: Kurzgeschichte, Adverb: Außentemperatur etc.). ● Verdeutlichende Komposita vom Typ Einzelindividuum. Beide Kompositionsglieder sind semantisch gleich oder ähnlich. 5.2 Wortbildungsarten 63 ● Reduplikationskomposita vom Typ Wirrwarr. Die Kompositionsglieder (gelegentlich mit Vokalalternanz) werden hier verdoppelt. Die explizite Derivation wird im Bereich der Suffigierung durch eine Fülle von produktiven und unproduktiven, heimischen sowie nicht heimischen Suffixen repräsentiert. Zu den produktiven heimischen Suffixen gehören etwa {-er} (Lehrer) und {-ung} (Heilung) sowie einige Elemente zur Bildung von Verkleinerungsformen (auch: Diminution), z. B. {-chen}: Kindchen, und Geschlechtsbezeichnungen (auch: Movierung), z. B. {-in}: Lehrerin. Schwach produktiv oder unproduktiv sind dagegen z. B. die Suffixe {-el} (Ärmel) und {-sal} (Trübsal). Zu den produktiven Fremdsuffixen gehören z. B. {-ismus} (Kapitalismus) und {-ität} (Naivität), wobei Fremdsuffixe nicht selten in Konkurrenz zu heimischen Suffixen stehen (Absurdität vs. Absurdheit). Im Vergleich zur Suffigierung ist die Präfigierung im Bereich der substantivischen Wortbildung relativ gering ausgeprägt. Die vorwiegend zur (1) Steigerung und (2) Verneinung (auch: Negation) verwendeten Präfixe lassen sich ebenso wie die Suffixe in heimische und nicht heimische Einheiten einteilen: (1) {Erz-} (Erzfeind), (2) {Un-} (Undank), {Anti-} (Antiheld). Bei der Konversion unterscheiden wir im Wesentlichen die deadjektivische (alt > das Alte) und die deverbale, wobei sich Letztere in die Verbstammkonversion (blicken > der Blick) und die Infinitivkonversion (diskutieren > das Diskutieren) aufteilen lässt. Weitere Wortbildungsarten des Substantivs sind: ● Kurzwortbildung, bei der morphologisch komplexe Komposita oder syntaktische Wortgruppen in den meis- 5 Wortbildung 64 ten Fällen auf einen zusammenhängenden Bestandteil (Universität > Uni) oder die Anfangsbuchstaben (Lastkraftwagen > LKW, Zweites Deutsches Fernsehen > ZDF) gekürzt werden (vgl. Michel 2006) ● Zusammenbildung (Dreimaster, Dickhäuter), bei der die beteiligten Prozesse weder als Derivation (*Dreimast + {-er}, *Dickhaut + {-er}) noch als Komposition (Drei + *Master, Dick + *Häuter) klassifiziert werden können (vgl. Leser 1990) ● Zusammenrückung, bei der syntaktisch benachbarte Wörter zu einem einzigen Wort kombiniert, ‚ zusammengerückt ‘ werden (das Vergissmeinnicht, der Tunichtgut) ● Wortkreuzung (auch: Kontamination, Blend), bei der zwei oder mehrere Wörter zu einem neuen Wort verschmelzen (Kurlaub < Kur + Urlaub, Brunch < Breakfast + Lunch) 5.2.2 Wortbildung des Adjektivs Beim Adjektiv kommen hauptsächlich die Komposition, explizite Derivation, Konversion und Zusammenbildung zum Einsatz, im Vergleich zur substantivischen Wortbildung fehlen aber die Kurzwortbildung und die implizite Derivation. Nur eine geringe Rolle spielen darüber hinaus die Wortkreuzung (tragikomisch < tragisch + komisch), die Zusammenrückung (nudelessend) und die Rückbildung (Affixe werden weggelassen bzw. verändert, gleichzeitig findet ein Wortartwechsel statt: rückversichert < Rückversicherung). Die Komposition des Adjektivs ist - ebenso wie die des Substantivs - dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedliche Wortarten als Erstglied erscheinen können. Die wichtigsten 5.2 Wortbildungsarten 65 sind: 1. Substantiv (arbeitsunfähig), 2. Adjektiv (schwerverletzt) und 3. Verb (treffsicher). Neben den häufigen Determinativkomposita lassen sich vor allem einige wenige Kopulativkomposita (süß-sauer, schwarz-weiß), seltener Reduplikativkomposita (ruckzuck) nachweisen. Bei der expliziten Derivation zeigen sich produktive heimische Suffixe wie {-bar} (essbar) und {-lich} (kindlich); produktive Fremdsuffixe sind etwa {-abel} (diskutabel), das häufig mit {-bar} (diskutierbar) konkurriert, sowie {-ös} (graziös), das mit {-haft} (grazienhaft) oder {-ig} (porös - porig) alterniert. Daneben haben sich zahlreiche Suffixoide herausgebildet, etwa {-frei} (alkoholfrei) oder {-los} (hoffnungslos), die sich in einigen Verbindungen von ihren freien Pendants semantisch unterscheiden. Die Präfigierung ist bei der adjektivischen Wortbildung noch geringer ausgeprägt als bei der substantivischen. Einigen heimischen Präfixen wie {miss-} (missgestimmt) oder {un-} (unverkennbar) stehen Fremdpräfixe wie {in-} (inaktiv) oder {post-} (postoperativ) gegenüber. Das Zirkumfix {ge-. . .-ig} findet sich in Bildungen wie gefräßig oder geläufig. Erwähnenswert ist bei der Wortbildung des Adjektivs auch die Affixoidbildung. Sie führt mittels Prä- (z. B. {scheiß-} in scheißegal, {riesen-} in riesengroß) und Suffixoiden (z. B. {-arm} in kalorienarm, {-trächtig} in geschichtsträchtig) produktiv zu zahlreichen Neubildungen. Hinsichtlich der Konversion werden Adjektive desubstantivisch (die Angst > angst) und deverbal gebildet, wobei hier neben der Verbstammkonversion (starren > starr) insbesondere die departizipale Konversion (aufgeweckt > aufgeweckt: ein aufgeweckter Junge) von Bedeutung ist. 5 Wortbildung 66 5.2.3 Wortbildung des Adverbs Die Wortbildungsmöglichkeiten des Adverbs sind deutlich eingeschränkter als die des Substantivs, Adjektivs und Verbs (vgl. Kap. 5.2.4). Produktiv genutzt wird neben der Komposition lediglich die Zusammenrückung sowie die Suffixoidbildung. Von Suffigierung (z. B. {-dings} in neuerdings oder {-wärts} in himmelwärts) und Konversion (Heim > heim, Abend > abends) wird dagegen kaum produktiv Gebrauch gemacht. Bei der Komposition überwiegen Komposita mit -her und -hin (dorther; dorthin) sowie Präpositionaladverbien als Zweitglied (dabei, voran). Zur Zusammenrückung gehören Bildungen wie allerhand, immerzu oder zuguterletzt. Von den zahlreichen produktiven Suffixoiden lassen sich insbesondere {-weise} (auszugsweise), {-maßen} (bekanntermaßen) oder {-halber} (interessehalber) hervorheben. 5.2.4 Wortbildung des Verbs Die Bildung des Verbs unterscheidet sich fundamental von der Bildung der bisher behandelten Wortarten, was hier mit der engen Wechselwirkung zwischen Syntax und Wortbildung zusammenhängt. Zahlreiche trennbare Verben etwa führen zu einer Distanzstellung von Verb und Verbzusatz im Satz. Demnach ist die Präfigierung bei Verben wesentlich stärker und variantenreicher ausgeprägt als Komposition, Suffigierung, Zirkumfigierung und Konversion. Zudem tritt die Rückbildung als Wortbildungsmöglichkeit stärker hervor. Was die Komposition anbelangt, lassen sich vor allem Verbindungen mit substantivischem (danksagen), adjektivi- 5.2 Wortbildungsarten 67 schem (fertigstellen) sowie adverbialem (hinaufgehen) Erstglied nennen. Weniger häufig kommen dagegen Verbindungen aus zwei Verben (liegenlassen) vor. Die wenigen Suffixe, die bei der expliziten Derivation eine Rolle spielen, sind {-ier(en)} (spionieren), {-ig(en)} (festigen) und {-(e)l(n)} (blödeln). Als Zirkumfixe kommen z. B. {be- … -igen} (begradigen) oder {ver- … -igen} (verunreinigen) vor. Dem stehen zahlreiche funktional ausdifferenzierte Partikeln und Präfixe gegenüber, die zu trennbaren sowie nichttrennbaren Verben führen. Ersteres bezeichnet man als Partikelverbbildung, Letzteres als Präfixderivation. Verbpartikeln (auch: Halbpräfixe, trennbare Präfixe etc.), die trennbare Verben bilden, sind etwa {ab-} (ablaufen), {an-} (an-ziehen), {auf-} (aufgehen) und {zu-} (zugehen). Nicht-trennbare Verben werden dagegen z. B. von folgenden (1) heimischen und (2) nicht-heimischen Präfixen gebildet: (1) {be-} (besiegen), {er-} (erfinden), {zer-} (zerstören), (2) {de(s)-} (demaskieren), {in-} (in-jezieren) und {re-} (regenerieren). Diese beiden Gruppen werden ergänzt durch Einheiten, die sowohl zweitgliedbetonte Präfixverben als auch erstgliedbetonte Partikelverben erzeugen, so genannte Partikelpräfixverben: durch- (durchlaufen: Er durch-'läuft das Verfahren / Er läuft 'durch den Wald), um- (umfahren: Sie um-'fährt das Hindernis / Sie fährt den Mann 'um) und hinter- (hintergehen: Sie hinter-'gehen ihren Chef / Sie gehen 'hinter ihrem Chef). Bei der Konversion werden Verben aus substantivischen (Räder > rädern) und adjektivischen (krank > kranken) Basen gebildet. Die implizite Derivation ist bei der Verbbildung heute nicht mehr produktiv und findet sich nur noch in einigen 5 Wortbildung 68 wenigen Bewirkungsverben (auch: kausativen Verben), trinken > tränken, fallen > fällen, sinken > senken. Produktiver scheint dagegen die Rückbildung, die Verben aus tätigkeitsbezeichnenden Nomen (auch: Nomina actionis, Notladung > notlanden), personenbezeichnenden Nomen (auch: Nomina agentis, z. B. Kurpfuscher > kurpfuschen) und zusammengesetzten Partizipien II mit substantivischem oder adjektivischem Erstglied durch die Tilgung von Suffixen (zweckentfremdet > zweckentfremden) bildet. 5.3 Wortbildung im Sprachsystem Die theoretische und methodische Herangehensweise an Fragen und Probleme der Wortbildung ist traditionell primär sprachstrukturell bzw. sprachsystematisch geprägt. Im Vordergrund steht das Interesse an der Charakterisierung und Beschreibung des Sprachsystems, der Langue im Saussure ʼ schen Sinne. Ziel ist es, einerseits allgemeingültige Muster und Regeln zu bestimmen, die zum grammatischen Kenntnis- und Kernsystem gehören, sowie andererseits lexikalisch und morphologisch abgespeicherte Einheiten (Inventar an Lexemen und Morphemen) möglichst präzise zu erfassen. Dabei beziehen sich graphematische Fragestellungen etwa auf die Zusammen- und Getrenntschreibung (leer stehen vs. leerstehen), die Schreibung mit oder ohne Bindestrich (Schönheitsoperation vs. Schönheits-Operation), Groß- und Kleinschreibung (das Inkraftsetzen vs. das In-Kraft-Setzen), Binneninterpunktion (bahn.comfort) sowie Einzelprobleme wie die Schreibung von Kurzwörtern (FAZ vs. Faz) oder onymischen Zusammensetzungen, d. h. solche mit Eigennamen als Kompositionsglied (Goethejahr vs. Goethe-Jahr). 5.3 Wortbildung im Sprachsystem 69 Die Phonologie spielt dann eine Rolle, wenn phonologische Eigenschaften wie etwa Betonung, Intonation oder silbenstrukturelle Fragen im Zentrum stehen. So setzen einige Affixe bestimmte phonologische Eigenschaften der Stämme voraus, an die sie sich heften. Die Verteilung der Suffixvarianten -heit (Schönheit), -keit (Sauber-keit) und -igkeit (Festigkeit) beispielsweise ist strikt silbenstrukturell (phonotaktisch) geregelt, ebenso wie die i-Suffigierung, die Substantive als Kosewörter (überwiegend Eigennamen) erzeugt und zu einem trochäischen Muster führt: Klinsmann > klin.si (vgl. Féry 1997). Insbesondere innerhalb der Fremdwortbildung (vgl. 5.4) kommt es zu Abweichungen von üblichen phonotaktischen Mustern des Deutschen. Die Analyse des Zusammenwirkens zwischen Wortbildung und Syntax hat eine lange Tradition und versucht in erster Linie Satzstrukturregeln auf Wortstrukturregeln zu übertragen und eine Art Wortsyntax zu postulieren. Damit einher geht auch die Frage nach der Verortung der Wortbildung: Gehört sie zur Syntax oder stellt sie ein Teilmodul des Lexikons dar? Gerade die transformationalistisch ausgerichtete Forschung sieht eine Parallele zwischen Satzstrukturen und den Strukturen komplexer Wörter. Neben der Wortbildungsart Zusammenrückung werden auch die so genannten Phrasenkomposita als Schnittstellenphänomen zwischen Syntax und Morphologie bzw. Lexikon betrachtet. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Erstglieder von Bildungen wie Heile-Welt-Gerede oder „ Flasche-leer “ - Trapattoni Lexeme oder syntaktische Phrasen darstellen (vgl. Hein 2015). Eine ebenfalls viel diskutierte Verbindung besteht zwischen Wortbildung und Semantik insbesondere bei der 5 Wortbildung 70 Beschreibung semantischer Strukturen und semantischen Wissens: Reicht es aus, die Kernbedeutung von Wortbildungsprodukten anzugeben, wobei hier vom Sprachgebrauch zu abstrahieren ist, oder müssen ko- und kontextuelle Einflüsse ebenfalls berücksichtigt werden? Wie genau sieht eine (formal-strukturelle? prototypenbasierte? ) Bedeutungsbeschreibung aus? Lassen sich Wortbildungsprodukte überhaupt semantisch kompositionell erschließen und welchen Bedeutungsanteil steuert der jeweilige Wortbildungsprozess bei? Die Spanne der unterschiedlichen Herangehensweisen reicht von der Annahme stark formalistischer Argumentstrukturen über die Angaben semantischer Grundrelationen bis hin zu der Auffassung, dass je nach Ko- und Kontext unterschiedliche Interpretationen ein- und desselben Wortbildungsprodukts möglich sind (vgl. Michel/ Tóth 2014). Das mittlerweile schon legendäre Beispiel Fischfrau lässt demnach mindestens sieben Interpretationen zu (vgl. Heringer 1984): 1. ‚ Frau, die Fisch verkauft ‘ ; 2. ‚ Frau eines Fisches ‘ ; 3. ‚ Frau, die Fisch isst ‘ , 4. ‚ Frau, die Fisch produziert ‘ ; 5. ‚ Frau, die kühl wie ein Fisch ist ‘ ; 6. ‚ Frau, die den Fisch gebracht hat ‘ und 7. ‚ Frau, die bei dem Fisch steht ‘ . Die Lexikographie ist für die Wortbildungsforschung insofern relevant, als sie sich grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzt, welche Wortbildungseinheiten und -produkte in einem (elektronischen) Wörterbuch verzeichnet werden sollen (gehören z. B. Affixe in ein Wörterbuch? ), wie die Verschlagwortung (auch: Lemmatisierung) im Einzelnen beschaffen ist (müssen z. B. Affixoide gesondert lemmatisiert oder lediglich als weitere Lesart eines Eintrages ausgewiesen werden? ), welche Komponenten die Bedeutungsparaphrasen enthalten sollen und ab wann Neologismen den Status von Usualismen annehmen (vgl. Klosa 2013). Letzteres ist ein 5.3 Wortbildung im Sprachsystem 71 wichtiges Kriterium, um Einheiten des Sprachinventars von Einheiten, die Produkte kreativen Sprachgebrauchs darstellen, abzugrenzen. 5.4 Wortbildung im Sprachgebrauch Neuere Ansätze der Wortbildungsforschung ergänzen die unter 5.3 skizzierten sprachstrukturellen Beobachtungen durch eine stärkere Fokussierung des Sprachgebrauchs. Im Zentrum steht die Frage, wie Wortbildungseinheiten und -arten diasystematisch, d. h. mit Bezug auf das Varietätenspektrum, variieren. Antworten liefert ein Blick auf entsprechende Problem- und Fragestellungen, weshalb die Interaktion der Wortbildung mit unterschiedlichen Sprachgebrauchsdisziplinen wie Stilistik, Pragmatik, Soziolinguistik, Textlinguistik, Gesprächslinguistik und kognitive Linguistik (vgl. Elsen/ Michel 2009, 2011) im Folgenden beleuchtet wird. Wie bereits erwähnt, dient Wortbildung nicht nur dazu, Begriffe für neue Entitäten bereitzustellen, sondern auch Ausdrucksvarianten zu schaffen. Die Stilistik beschäftigt sich mit der Art und Weise der sprachlichen Gestaltung von Texten und untersucht u. a., welche Potenziale der Wortbildung hierzu genutzt werden (können). Dabei geht es um die Charakterisierung von Wortbildungsprodukten, aber auch in besonderem Maße um das stilistische Potenzial von Wortbildungsregeln. Ein bekanntes Beispiel ist die Konkurrenz von Konversion (Nominalisierung von Infinitiven) und Partizipialgefügen in unterschiedlichen Textsorten (z. B. Fachtextversus Alltagstextsorten): das Bedienen von Maschinen ist verboten vs. [. . .] ist verboten, Maschinen zu bedienen). 5 Wortbildung 72 Pragmatische Fragestellungen werden innerhalb der Wortbildungsforschung erst in jüngerer Zeit fokussiert. Es gilt, den Einfluss ko- und kontextueller Faktoren auf das Sprachhandeln zu untersuchen, wie z. B. die Wechselwirkung zwischen Wortbildung und (Lokal-)Deixis (hinausgehen vs. hereinkommen) oder den Beitrag, den Wortbildung bei der Be- oder Missachtung von Konversationsmaximen leistet. So befolgen viele Kurzwörter die 2. Maxime der Quantität: „ Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig “ (vgl. Grice 1993), was somit im Einklang mit dem Kooperationsprinzip in bestimmten Fachkreisen oder sozialen Gruppen steht. Für Außenstehende wird damit allerdings die 1. Maxime der Quantität ( „ Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig “ ) sowie die 1. Maxime der Modalität ( „ Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks “ ) verletzt. Die Bedeutung der Wortbildung für die Bestimmung von Sprechakten, also auf der Ebene des Äußerungsakts, gehört ebenfalls zum Aufgabenfeld der pragmatisch ausgerichteten Wortbildungsforschung. Auch die Soziolinguistik untersucht das Wechselspiel zwischen Wortbildung und Kontext, berücksichtigt aber in erster Linie soziale Variablen (wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung etc.), die als außersprachliche Faktoren den Sprachgebrauch beeinflussen. Für die entsprechenden Varietäten wie Jugend- oder Fachsprache sind jeweils unterschiedliche Wortbildungsarten charakteristisch. Meist gelten grundlegende Wortbildungsregeln für mehrere Varietäten, lediglich der Nutzungsgrad, die Produktivität oder die Frequenz sind unterschiedlich. So grenzt sich etwa die Jugendsprache unter anderem durch die bevorzugte Wahl der Derivation oder Affixoidbildung (z. B. durch die Verwendung von Einheiten wie {-fantös} oder {abge-X-t/ n} 5.4 Wortbildung im Sprachgebrauch 73 in abgespacet) von Fachsprachen ab, die dagegen stärker von der Wortgruppenlexembildung (z. B. aktive Daten, Balneum Hermal) Gebrauch machen (vgl. Elsen 2011). Die Textlinguistik stellt seit Langem ein wichtiges Anwendungsfeld der Wortbildung dar. Ein Text wird bestimmt durch Textkohäsion und Textkohärenz, also durch grammatische Strukturen und semantische Netze, sowie durch die Textfunktion. Bei allem hat die geschickte Wahl der Wortbildungsmittel einen entscheidenden Anteil. Rekurrente, also wiederkehrende, Wortbildungselemente und -muster stellen einen intra- und intertextuellen grammatischen Zusammenhang her, etwa wenn bestimmte Affixe, Kurzwörter oder Kompositionsarten in funktional ähnlichen Texten oder innerhalb eines Textes wiederholt vorkommen. Auch sind bestimmte Wortbildungstypen charakteristisch für bestimmte Textsorten. Das heißt, die Textsorte und damit die Sprecherintention haben Auswirkungen auf die verwendeten Wortbildungsmittel und dies wiederum beeinflusst die linguistische Analyse bzw. Textsortenklassifikation (vgl. Stumpf 2018). Umfangreiche empirische Untersuchungen der Gesprächslinguistik dokumentieren die Verteilung von Wortbildungseinheiten und -arten in der gesprochenen Sprache, stellen Frequenzen fest und kontrastieren diese mit der geschriebenen Sprache (vgl. Gersbach/ Graf 1984/ 1985). Das Potenzial der interaktiven Funktion von Wortbildung stand bislang jedoch kaum in größerem Umfang im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Dabei zeigen einzelne Falluntersuchungen sehr deutlich, dass Wortbildung zur Kohärenz von Gesprächen, zur Verständnissicherung und Profilierung von Gesprächsgattungen, -phasen sowie -rol- 5 Wortbildung 74 len, etwa in institutionellen Kontexten, beitragen kann (vgl. Elsen/ Michel 2010). Die kognitive Linguistik untersucht kognitive Strukturen und Prozesse bei der Bildung und Verarbeitung von (komplexen) Wörtern, also den Zusammenhang von Sprache und Denken. Sie widmet sich insbesondere der mentalen Konzeptualisierung bei der Bildung von Wörtern und der Kategorisierung von Wortbildungseinheiten und -produkten (vgl. Onysko/ Michel 2010). Demnach bietet etwa die Konstruktionsgrammatik eine Möglichkeit, Sonder- und Problemkategorien wie Affixoide, Zusammenbildungen etc. als feste Konstruktionen, d. h. Form-Bedeutungspaare, zu betrachten (vgl. Michel 2013, 2014). Die Prototypentheorie wiederum kann einen Beitrag zu einer dynamischen, empirischen intra- und interkategorialen Ordnung/ Struktur leisten, welche die unterschiedliche Gewichtung und Gradierung von Eigenschaften berücksichtigt (vgl. Michel 2006). Im Vergleich zur traditionellen Wortbildungsforschung, die sich primär für die Wortbildung mit heimischen Elementen interessiert, macht die Fremdbzw. Lehnwortbildung explizit Bildungen mit nicht-heimischen Elementen zu ihrem Gegenstand. In erster Linie geht es um die Kombinierbarkeit von heimischen und nicht-heimischen Elementen, so genannte hybride Bildungen, um die Kombinierbarkeit entlehnter Einheiten innerhalb des Deutschen und generell um strukturelle Einflüsse unterschiedlicher Sprachen (vgl. Müller 2015 a). In diesen Bereich gehört auch die intensive Debatte der letzten Jahre um den Begriff des Konfixes. Belege wie {Geo-}, {Öko-} und {Bio-} einerseits und {-thek} oder {-mat} andererseits stellen nicht-heimische Einheiten dar, die 5.4 Wortbildung im Sprachgebrauch 75 eine Zwischenposition innerhalb der Wortbildungselemente einnehmen: Mit Wörtern teilen sie die Eigenschaft der lexikalisch-begrifflichen Bedeutungsausprägung, mit Affixen ihr gebundenes Vorkommen. Sie verbinden sich mehrheitlich mit Wörtern (Ökotest), Affixen (Thermik) und anderen Konfixen (Biologe), sind also kompositionsglied- und basisfähig. Solche Belege, die nur als Erstglieder fungieren, werden als Präkonfixe bezeichnet und solche, die nur als Zweitelemente erscheinen, als Postkonfixe, wobei einige Belege positionsvariabel sind (z. B. {therm-} in Thermohose und {-therm} in endotherm) (vgl. Michel 2009 b, Donalies 2011: 12 ff., Elsen 2014: 39 ff.). Zusammenfassung Die Wortbildung dient der Erweiterung des Lexikons. Sie umfasst Wortbildungseinheiten auf der einen und Wortbildungsarten auf der anderen Seite. Zu den wichtigsten Wortbildungseinheiten gehören Wurzeln (lexikalische Grundmorpheme), Affixe, Affixoide, unikale Einheiten und Fugenelemente. Zu den wichtigsten Wortbildungsarten gehören Komposition, (explizite) Derivation und Konversion. Welche Wortbildungseinheiten und -arten produktiv genutzt werden, hängt sehr stark von der jeweiligen Wortart ab. So weist die Substantivbildung ein breites Inventar an Wortbildungsarten auf, die bei der Adverb- und Adjektivbildung teilweise gar nicht (z. B. Kurzwortbildung) oder deutlich eingeschränkter (z. B. Zusammenrückung und -bildung) vorkommen. Bei der Verbbildung dagegen ist die Präfigierung produktiver als bei allen anderen Wortarten. Traditionell geht es der Wortbildungsforschung darum, Aussagen zum Inventar an Wortbildungseinheiten und 5 Wortbildung 76 -regeln (Sprachsystem) zu treffen. In jüngerer Zeit verlagert sich der Schwerpunkt indes zu sprachgebrauchsbezogenen Wortbildungsfragen. Weiterführende Literatur: z. B. Henzen (1965), Simmler (1998), Eichinger (2000), Motsch (2004), Erben (2006), Heringer (2009), Donalies (2011), Fleischer/ Barz (2012), Vogel/ Said (2013), Elsen (2014), Meibauer (2015), Duden (2016). Fragen und Aufgaben 1. Bestimmen Sie im folgenden Gedicht von Paul Maar alle Wortbildungseinheiten und -arten und ordnen Sie Letztere nach Wortarten: Ein Drei-rad und ein Vier-zylinder Fahrn acht-sam um die Wette. Das Ganze spielt im tiefen Winter Und bei immenser Glätte. Ein Sieben-schläfer, der dies sieht, Langweilt sich ohne Zwei-fel, Wird dieses Treibens sehr bald müd ’ Und wünscht die zwei zum Deifel. (aus: Paul Maar: Der tätowierte Hund. Hamburg: Oetinger, 1968) 2. Erläutern Sie am Beispiel der Affixoide oder der Konfixe, inwiefern es sich hierbei um problematische Wortbildungskategorien handelt. 3. Zeigen Sie am Beispiel des Kompositums Hochzeitskleid, dass Fugenelemente (in der Regel) keine flexivische Funktion erfüllen. Zusammenfassung 77 6 Flexion versus Derivation Wir haben uns in den vorigen Kapiteln angeschaut, welche Funktionen Flexions- und Derivationsmorpheme übernehmen und wie sie hinsichtlich der unterschiedlichen Wortarten verteilt sind. Es gibt darüber hinaus noch eine Reihe weiterer Unterschiede, die es uns erleichtern, beide Morphemtypen zumindest tendenziell auseinanderzuhalten. Im Folgenden wollen wir uns mit diesen Unterschieden zwischen Flexion einerseits und Derivation andererseits etwas genauer beschäftigen und sie symptomatisch vergleichend gegenüberstellen (vgl. hierzu ausführlich Dressler 1989, 1996; Nübling 2002). Form: Flexionsmorpheme sind im Vergleich zu Derivationsmorphemen phonologisch kürzer ({-er}, {-(e)s}, {-(e)n} vs. {-lich}, {-keit}, {-ung}) und können auch durch Nullmorpheme realisiert werden. Bei Derivationsmorphemen werden kürzere Formen gelegentlich durch längere ersetzt: Schenke > Schenkung (von: schenken). Flexionsmorpheme treten syntagmatisch immer hinter Derivationsmorpheme, also an den Wortstamm: Schönheiten, ein mörderisches Angebot. Funktion: Die Funktion der Flexion besteht in der morphosyntaktischen Abwandlung von Wörtern, d. h. durch bestimmte Wortformen werden sie in syntaktische Umgebungen eingepasst. Die Derivation führt dagegen zur Bildung neuer Wörter und dient der Erweiterung des Lexikons bzw. der Benennung neuer Konzepte. Bedeutung: Flexionsmorpheme weisen eher relational-abstrakte, also grammatische Bedeutung auf, während Derivationsmorpheme eher lexikalisch-begriffliche Bedeutung umfassen. Zudem wirken Flexionselemente kaum auf das Konzept der Basis ein, während Derivationsmorpheme das Konzept der Basis stark beeinflussen. So verändern Pluralmorpheme das Konzept eines Wortes nicht (sondern drücken lediglich die Mehrzahl aus), während etwa Diminutivsuffixe das Konzept der Basis verändern. Bsp.: Katze - Kätzchen ( ‚ kleine Katze ‘ ). Bedeutungskonstanz: Bei der Flexion ergibt sich die Bedeutung häufig additiv aus den einzelnen morphologischen Bestandteilen von Wörtern, weshalb hier die Gesamtbedeutung vorhersagbar ist. Beispielsweise wird das Präteritum von schwachen Verben immer durch Dentalsuffix {-te} (spielen - spielte) gebildet. Bei der Derivation dagegen finden wir häufig Lexikalisierung vor: Mädchen, Zeitung. Obligatorik: Bei der Flexion ist die Obligatorik, also die notwendige grammatische Markierung (mit bestimmten grammatischen Morphemen), sehr hoch, da Flexionsmorpheme nicht einfach weggelassen oder ersetzt werden können. Etwa wird der Plural von Kind immer mit -er gebildet, hier gibt es keine Alternativen. Anders bei der Derivation, denn hier gibt es unterschiedliche Optionen, um Bedeutung auszudrücken: z. B. Gebirge durch mehrere Berge, Bergregionen, Berglandschaften etc. Reihenbildung/ Paradigmatizität: Reihenbildung, also die Tatsache, dass Reihen von Wörtern dem gleichen Muster unterliegen, ist bei der Flexion stark ausgeprägt, da jedes 6 Flexion versus Derivation 79 Wort (bis auf die nicht flektierbaren) morpho-syntaktisch abwandelbar sein muss. Bei der Derivation ist Reihenbildung dagegen gelegentlich eingeschränkt, etwa durch Blockierung: Lehrer, Spieler, Taucher, aber: *Stehler (wegen: Dieb). Somit bildet Flexion komplette (und systematische) Flexionsparadigmen aus (hohe Paradigmatizität, vgl. Kap. 4), während Derivation eher Wortbildungsreihen und -nester formiert, die durch Blockierung und Lexikalisierung geprägt und somit lückenhaft sein können (eingeschränkte Paradigmatizität). Auch gibt es Basen, die keine Derivation aufweisen, z. B. Tisch: *tischlich, *tischig, *tischhaft. Produktivität: Was für Reihenbildung und Paradigmatizität gilt, gilt auch für Produktivität, da Flexion hochgradig produktiv ist, was man etwa daran erkennen kann, dass Fremd- und Lehnwörter problemlos in das Flexionssystem des Deutschen integriert werden: surfen - du surfst, ich surfte; der Computer - des Computers, die Computer (Nullplural). Auch bei der Derivation kann Produktivität vorhanden sein, wir unterscheiden zwischen schwach und stark produktiven Mustern, je nachdem, ob und wie viele Neubildungen von einem Muster belegt sind: Stark produktiv ist etwa das {-bar}-Suffix, z. B. downloadbar. Schwach produktiv ist dagegen beispielsweise das Suffix {-tum}, z. B. Managertum. Daneben gibt es synchron unproduktive Suffixe, also solche, die in früheren Sprachstufen produktiv waren, aber heute nicht mehr zur Bildung neuer Wörter genutzt werden: z. B. {-e} wie in Lache (von lachen), Schreibe (von schreiben). Weiterhin gibt es Produktivitätsbeschränkungen, etwa was die Wortart einer Basis betrifft (untrinkbar, aber: *unschönbar, da sich {-bar} nur an Verben heftet), oder hinsichtlich der Bildung von Konzepten, wie z. B. bei der 6 Flexion versus Derivation 80 Movierung (Geschlechterableitung) von Hai (*Haiin) oder der Diminutivbildung (Verkleinerungs-/ Verniedlichungsbildung) von Radio (*Radiochen). Wortart: Flexionsmorpheme verändern die Wortart, an die sie sich heften, nicht: z. B. Kind (Subst.) - Kinder (Subst.), während dies bei Derivationsmorphemen durchaus vorkommt: z. B. schön (Adj.) - Schönheit (Subst.), essen (V) - essbar (Adj.). Flexionsmorpheme treten normalerweise nicht an unterschiedliche Wortarten, Derivationsmorpheme schon: z. B. {-ung}: dulden (V) - Duldung, Stall (Subst.) - Stallung, nieder (Adj.) - Niederung. Zusammenfassung Flexionsmorpheme sind häufig ausdruckseitig kurz, werden an den Wortstamm geheftet, tragen eher relational-abstrakte Bedeutung, weisen tendenziell hohe Bedeutungskonstanz, Obligatorik, Reihenbildung, Paradigmatizität und Produktivität auf. Sie verändern die Wortart nicht und treten für gewöhnlich nicht an unterschiedliche Wortarten (Ausnahme: homonyme Flexionsmorpheme, vgl. Kap. 1.1). Derivationsmorpheme dagegen sind ausdrucksseitig meist länger, bilden zusammen mit der Wortwurzel den Stamm, tragen eher begrifflich-lexikalische Bedeutung, weisen tendenziell niedrige Bedeutungskonstanz (häufige Lexikalisierung) und Obligatorik auf. Reihenbildung, Paradigmatizität und Produktivität sind häufig in Abstufungen und mit zahlreichen Ausnahmen vorhanden. Derivationsmorpheme können die Wortart der Wurzel verändern und sich an unterschiedliche Wortarten heften. Zusammenfassung 81 Fragen und Aufgaben 1. Lehrer, Fahrer, Verkäufer, *Kocher. Im Deutschen gibt es keine Nomen-Agentis-Bildung *Kocher. Erläutern Sie das zugrunde liegende Phänomen. 2. Das Niederländische hängt das Diminutivsuffix {-je} produktiv an verschiedene Wortarten, z. B. verstoppertje ( ‚ Versteck ‘ ), koeltjes ( ‚ kühl ‘ ), weetje (von weten = ‚ wissen ‘ ). Diskutieren Sie, ob es sich hierbei um Flexion oder Derivation handelt. 3. Wie lässt sich die Produktivität von Derivationsprozessen ermitteln? 6 Flexion versus Derivation 82 7 Morphologischer Wandel Sprache ist nicht statisch und erreicht nie einen Endzustand. Unsere heutige Sprache ist das Ergebnis von Veränderungsprozessen, die sich über Jahrhunderte hinweg abgespielt haben. Wir teilen die Perioden der Sprachgeschichte grob wie folgt ein: Althochdeutsch: 750 - 1050 n. Chr. Mittelhochdeutsch: 1050 - 1350 n. Chr. Frühneuhochdeutsch: 1350 - 1650 n. Chr. Neuhochdeutsch: ab 1650 n. Chr. Für alle Epochen sind Wandelprozesse auf sämtlichen sprachlichen Ebenen (z. B. Graphematik, Phonologie, Semantik, Syntax, Pragmatik etc.) auszumachen, so auch im Bereich der Morphologie (vgl. Nübling et al. 2017). Unter morphologischem Wandel sind Veränderungen im Flexions- und Wortbildungssystem des Deutschen zu verstehen, weshalb hier auch von diachroner Morphologie gesprochen wird. Sie steht damit im Gegensatz zur synchronen Morphologie, die sich mit Flexion und Wortbildung einer Sprachstufe (z. B. dem Mittelhochdeutschen oder dem Neuhochdeutschen) beschäftigt. Morphologischer Wandel lässt sich auch als grammatischer Wandel bezeichnen, der die Entstehung und Veränderung grammatischer Einheiten und Strukturen wie etwa die wortartbezogene diachrone Veränderung des Flexions- und Wortbildungssystems umfasst. Solche Veränderungen untersucht die Grammatikalisierungsforschung (vgl. Diewald 1997, Szczepaniak 2011), die hier als eine von vielen Theorien morphologischen Wandels (vgl. Nübling et al. 2017: 44 ff.) genauer beleuchtet werden soll. Unter Grammatikalisierung versteht man: 1. die Entstehung grammatischer Strukturen aus lexikalischen Einheiten, z. B. Hilfsverben aus Vollverben. 2. die Entwicklung von einem schwächer zu einem stärker grammatikalischen Status von grammatischen Einheiten, z. B. vom markierten Plural zum Nullplural. Zu 1.: Es wurde im ersten Kapitel bereits darauf hingewiesen, dass wir es in der Morphologie mit freien und gebundenen, lexikalischen und grammatischen Morphemen bzw. Voll- und Funktionswörtern (man spricht auch von Auto- und Synsemantika) zu tun haben. Diese terminologische Unterscheidung ist uns auch hier dienlich, denn grammatische Morpheme entstehen häufig aus lexikalischen Morphemen bzw. Vollwörter grammatikalisieren zu Funktionswörtern, indem sie grammatische Funktion(en) annehmen. Schauen wir uns zur Illustration hierzu das Verb haben an. Haben tritt in zwei Varianten auf: 1. als Vollverb mit der Bedeutung ‚ besitzen, über etwas verfügen ‘ und 2. als Hilfsverb (Auxiliar) zur Bildung der Verbtempora Perfekt und Plusquamperfekt. Das Hilfsverb ist aus dem Vollverb grammatikalisiert. Ohne auf die komplexen diachronen Prozesse dieser Entwicklung im Detail eingehen zu können, lassen sich u. a. folgende Besonderheiten für das Hilfsverb haben herausstellen (vgl. zu den einzelnen Grammatikalisierungsparametern Lehmann 1985: 306): Desemantisierung/ Entkonkretisierung: Die (konkrete) Bedeutung des Vollverbs ist verblasst, d. h. das Hilfsverb muss als semantisch entleert betrachtet werden. Allerdings tritt zu der inhaltlichen keine ausdrucksseitige Reduzierung hinzu, 7 Morphologischer Wandel 84 da das Hilfsverb phonetisch-phonologisch genau wie das Vollverb realisiert wird. Paradigmatizität: Das Hilfsverb übernimmt eine feste grammatische Funktion und bildet so, neben sein, zusammen mit dem Partizip II die Tempusform des Perfekts und Plusquamperfekts. In dieses grammatische Paradigma ist haben relativ stabil eingebunden, denn viele Verben bilden ihr Perfekt und Plusquamperfekt damit obligatorisch. Letzteres verringert also die paradigmatische Variabilität von haben als Hilfsverb, d. h. es stellt einen obligatorischen Tempusmarker einiger Verben dar. Syntagmatische Variabilität/ Skopus: Die syntagmatische Variabilität, also die freie Verschiebbarkeit im Satz, ist bei haben als Hilfsverb eingeschränkt, da es nicht allein vorkommt, sondern mit der Partizip II-Form eines Vollverbs eine Verbalklammer bildet. Sie besetzen die linke und rechte Satzklammer und ‚ umklammern ‘ somit das Mittelfeld (Peter hat den schönen Rasen morgens um halb vier gemäht.). Damit ist auch der Skopus, d. h. die Reichweite von haben, eingeschränkt, denn es bezieht sich lediglich auf das Verb im Partizip II. Analog lassen sich unzählige flexivische Grammatikalisierungsprozesse und -grade diachron sowie synchron beschreiben. Hierzu gehören etwa die Herausbildung des Dentalsuffixes {-te} aus dem Verb tun zur Bildung des Präteritums schwacher Verben, die Herausbildung des Futurmarkers werden aus dem Vollverb, das bekommen/ kriegen- Passiv aus den gleichlautenden Vollverben, die Herausbildung komplexer Präpositionen wie im Vorfeld, am Rande mit temporaler Bedeutung aus den gleichlautenden Präposition- Substantiv-Verbindungen mit lokaler Bedeutung u. v. m. 7 Morphologischer Wandel 85 Auch in der Wortbildung, besonders der historischen (vgl. Müller 2015 b), spielt Grammatikalisierung eine große Rolle, beispielsweise, wenn sich freie Morpheme oder Kompositionsglieder zu Derivationsaffixen entwickeln. So sind die Suffixe {-bar} (essbar), {-lich} (kränklich), {-heit} (Schönheit), {-tum} (Reichtum) oder {-schaft} (Freundschaft) aus den freien Lexemen ahd. b ā ri ( ‚ tragend ‘ ), l ī h ( ‚ Körper ‘ ), heit ( ‚ Person, Geschlecht ‘ ), tuom ( ‚ Urteil, Macht ‘ ) und scaf ( ‚ Geschöpf, Beschaffenheit ‘ ) hervorgegangen. Die freien Lexeme existieren im Neuhochdeutschen nicht mehr, weshalb die jeweiligen Grammatikalisierungsprozesse in früheren Sprachstufen zu rekonstruieren sind. Dennoch lassen sich auch gegenwärtig Grammatikalisierungsprozesse bei Einheiten beobachten, die wir in Kapitel 5.2.2 schon als Affixoide kennengelernt haben. Sie sind folgendermaßen zu charakterisieren: • Desemantisierung/ Entkonkretisierung: Alle Affixoide weisen semantische Veränderungen auf, d. h. die lexikalisch-begriffliche Ursprungsbedeutung ihrer freien Pendants scheint deutlich entkonkretisiert. So dienen die Präfixoide meist allgemein der Steigerung/ Hervorhebung des mit dem Zweitglied ausgedrückten Inhalts, während die Suffixoide häufig Kategorien wie Kollektiva ({-werk}, {-wesen}) bilden. Diese semantische Veränderung geschieht allerdings nicht abrupt, sondern vollzieht sich erst allmählich, geprägt von unterschiedlichen metonymischen und metaphorischen Prozessen. Gerade bei den Suffixoiden sind die metaphorischen Verbindungen zum Ursprungslexem häufig deutlich erkennbar und es wurde oben bereits 7 Morphologischer Wandel 86 angedeutet, dass ihr separater Status deshalb fragwürdig erscheint. Auf formaler, d. h. phonetisch-phonologischer Ebene sind die Affixoide vollkommen intakt, d. h. auch hier finden wir - wie beim haben-Auxiliar - keine ausdrucksseitige Reduktion vor. • Paradigmatizität: Vor allem die Präfixoide lassen sich in ein mehr oder weniger stabiles Paradigma, nämlich das der Steigerungsbildungen (speziell: Elativ), einordnen (vgl. Elsen 2014: 77). Allerdings ist die paradigmatische Variabilität hier größer als bei vielen flexivischen Grammatikalisierungsprozessen, was u. a. daran erkennbar ist, dass viele Affixoide austauschbar sind: Bombenstimmung, Riesenstimmung, Megastimmung, Granatenstimmung etc. • Syntagmatische Variabilität/ Skopus: Die syntagmatische Variabilität der Affixoide ist im Vergleich zu ihren freien Pendants stark eingeschränkt, da sie in ihrer veränderten Bedeutung/ Funktion nur gebunden vorkommen und somit entweder als Erstglied (Präfixoid) oder als Zweitglied (Suffixoid) fungieren. Somit wird deutlich, dass sich einige der in Kapitel 6 beschriebenen Unterschiede zwischen Flexion und Derivation (z. B. Obligatorik, Paradigmatizität) auch bei den unterschiedlichen Grammatikalisierungsprozessen niederschlagen. Zu 2.: Die Entwicklung von schwächer zu stärker grammatikalisierten Einheiten lässt sich am ehesten anhand der 7 Morphologischer Wandel 87 Verlaufsstadien der so genannten Grammatikalisierungsskala festmachen. Diese sieht u. a. folgende Stadien gegen Ende der Skala vor: Modulation - Null - Subtraktion. D. h. nach der Modulation, bei der grammatische Funktion in Form von Umlaut ausgedrückt wird, folgt die Nullmarkierung, also die Aufhebung der formseitigen grammatischen Markierung. Der letzte Schritt besteht darin, dass grammatische Information durch Subtraktion, also ausdrucksseitige Kürzung, ausgedrückt wird, was einem wichtigen natürlichen Morphologieprinzip zuwiderläuft, das besagt, dass Inhalt stets nach Ausdruck verlangt. Fortschreitende Grammatikalisierung geht also mit fortschreitender ausdrucksseitiger Reduktion einher. Sehr eindrücklich zeigt sich dies flexionsmorphologisch etwa bei der Pluralmarkierung in Dialekten. Wie Girnth (2000: 187 f.) für Teile des westmitteldeutschen Untersuchungsgebiets (Moselfränkisch und Rheinfränkisch) nachweist, dominiert in einigen Gebieten der modifikatorische und der Nulltyp gegenüber dem additiven Typ. So heißt der Plural von Hund vielfach nicht Hunde [h ʊ nd ə ], sondern [h ʊ nt] mit Nullplural, oder [h ʊ n], also subtraktiv. Ähnlich sieht es für Schuhe [ ʃ o: ] sowie für Tage [da: x], [da: ] aus. Auch für die fortschreitende Grammatikalisierung von Derivationsmorphemen lassen sich Entwicklungsphasen bestimmen, was für das Suffix -bar knapp dargelegt werden soll (vgl. Nübling et al. 2017: 77 f.): Bis ins Mhd. heftet sich {-bære} an nominale und dann zunehmend an verbale Basen, bis im Frnhd. nur noch verbale Basen in Betracht kommen. Gleichzeitig tritt eine ausdrucksseitige Reduktion ein, denn das auslautende e wird apokopiert (entfällt) und æ zu a reduziert. Gleichzeitig erfolgt eine Desemantisierung/ Entkonkretisierung, denn die Bedeutung ‚ kann x-en ‘ geht ver- 7 Morphologischer Wandel 88 loren und es bleibt die Bedeutung ‚ kann ge-x-t werden ‘ übrig. Ausdrucks- und inhaltsseitige Reduktion sind hier somit typische Charakteristika der zunehmenden Grammatikalisierung des Suffixes. Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir uns mit Prinzipien der Herausbildung und Veränderung grammatischer Strukturen beschäftigt. Diese beschreibt die Grammatikalisierungsforschung entweder als Übergang von Lexemen zu Grammemen oder als Übergang von schwächer zu stärker grammatikalisierten Einheiten. Parameter für eine Zunahme an Grammatikalisierung sind prototypischerweise eine ausdrucks- und inhaltsseitige Reduktion, die Verringerung der paradigmatischen und syntagmatischen Variabilität und damit eine erhöhte Obligatorik und Paradigmatizität. Allerdings ist zu beachten, dass es hier zahlreiche Abstufungen gibt, beispielsweise tritt semantische Reduktion häufiger auf als ausdrucksseitige. Grammatikalisierungsprozesse finden laufend statt, sowohl bei Flexionsals auch bei Derivationsmorphemen, und sind ein Beweis dafür, dass es sich bei Morphologie um ein hoch dynamisches linguistisches Teilgebiet handelt, dessen Räder niemals stillstehen. Fragen und Aufgaben 1. Erläutern Sie, was man unter Grammatikalisierung versteht. 2. Bestimmen Sie den Grammatikalisierungsstatus des Futur-Auxiliars werden. Zusammenfassung 89 3. Weshalb handelt es sich bei {Höllen-} in Höllenangst, Höllenschmerzen etc. um ein Affixoid? Inwiefern liegt hier ein Grammatikalisierungsprozess vor? 7 Morphologischer Wandel 90 Abkürzungsverzeichnis Adj. Adjektiv Adv. Adverb Ahd. Althochdeutsch Artikelw. Artikelwörter Frnhd. Frühneuhochdeutsch Fu. Fugenelement Gen. Genitiv Konj. Konjunktion Mhd. Mittelhochdeutsch N Nomen Part. Partikel Pl. Plural Präp. 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Derivation 16, 60, 65 f., 73, 78 ff., 87, 92 - explizite 62, 64 f., 68 - implizite 62, 65, 68 Flexion 31, 43 f., 48, 55, 62, 78 ff., 83, 87, 96 Fremdwort 29, 47 Fugenelement 12, 58 ff., 95 Genus 46 ff., 50 Grammatikalisierung 33, 84, 86, 88 f., 92 f., 96 Kasus 37, 46 ff., 50 Kategorie 17 f., 20, 26, 30, 55 f., 58, 86 Komposition 60 f., 63, 65, 67 Kompositum 16 ff., 25, 58 ff., 67, 94 Konfix 61, 75, 94 Konjugation 25 Konstituenten 15, 17, 24 Konversion 62, 64 ff., 72 Kurzwortbildung 64 f., 73 f., 88 Lehnwort 29, 48, 80 Lexem 12, 14, 17, 19 f., 48, 58, 70, 86 Lexikalisierung 23, 29 f., 79 ff. Lexikon 13, 29 f., 54, 70, 76, 78, 94 Modus 45 Morph 11 ff., 18, 20 Morphem 11 ff., 18 f., 25, 60, 63, 84, 86 Morphologie 11, 24 f., 44, 70, 83 f., 92, 94, 96 Motivation 30 Neologismus 29, 54, 71, 92 Numerus 45 f., 48, 50 Okkasionalismus 29, 54 Paradigma 18 f., 85, 87 Partikel 36, 56 Partikeln 39, 68 Person 19, 45, 51 Prä 66 Präfix 15, 56, 58, 62, 64, 66 ff. Produktivität 55, 73, 80 f. Pronomen 35, 50 Rückbildung 65, 67, 69 Semantik 19, 25, 27 f., 33, 70, 83 Substantiv 14, 16, 18, 25, 33 ff., 39, 41, 46 ff., 50 f., 56, 63 f., 70, 85 Suffix 15, 18, 56 f., 62, 64, 66 ff., 70, 80, 86, 88 Tempus 44 f. Usualismus 29, 54, 71 Verb 14 f., 25, 32 f., 36, 38, 40, 44 f., 67 ff., 79 f., 84 f. Wort 11 f., 15, 22, 24 f., 27, 30 f., 39, 43, 47 f., 54 f., 60, 70, 78 ff., 92 f., 95 Wortart 18, 33, 56, 60 ff., 80 f. Wortbildung 23, 29, 54 f., 60, 63 ff., 69 f., 72 ff., 83, 86, 92 ff. Wortkreuzung 65 Wortschatz 22, 24, 28, 30 Wurzel 14, 55, 81 Zirkumfix 15, 45, 57, 62, 66 ff. Zusammenbildung 65, 75, 94 Zusammenrückung 23, 65, 67, 70 Sachregister 98 MIT narr STARTER BEGINNEN, MIT narr STUDIENBÜCHER VERTIEFEN, ERFOLGREICH STUDIEREN! www.narr-STARTER.de ISBN 978-3-8233-8145-7 für einen schnellen Einstieg ins Thema Grundbegriffe und wichtige Zusammenhänge schnell erfasst ideal für die Seminarvorbereitung in den ersten Semestern Der Band bietet einen einführenden Einblick in die linguistische Analyse des Aufbaus, der Struktur sowie der Bildung von Wörtern und holt Studierende da ab, wo sie schulgrammatisch stehen. Systematisch werden Grundbegriffe und Basiseinheiten der Morphologie erläutert, die Wortarten des Deutschen vorgestellt und in die Flexion sowie Wortbildung eingeführt. Abgerundet wird der Überblick durch die Unterschiede zwischen Flexion und Derivation sowie die Grammatikalisierung als Theorie morphologischen Wandels, die zeigt, dass es sich bei der Morphologie um ein hoch dynamisches Teilgebiet der Linguistik handelt. www.narr.de