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Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht

2019
978-3-8233-9147-0
Gunter Narr Verlag 
Andrée Gerland
Russell West-Pavlov

Die aktuelle Flüchtlingsdebatte fordert die Wissenschaft zu einem intensiven gesellschaftlichen Dialog auf. Wie können wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis öffentlicher Räume überführt werden? Wie ist mit der veränderten Lage an Schulen umzugehen? Welche Bildungskonzepte erfordert die kulturelle Vielfalt? Und was für eine Schlüsselrolle kann hierbei der Literatur zukommen? Der vorliegende Band nimmt sich dieser und weiterer Fragen interdisziplinär an, indem er sowohl Forscher als auch Flüchtlingshelfer unterschiedlicher Kontexte zu Wort kommen lässt.

Die aktuelle Flüchtlingsdebatte fordert die Wissenschaft zu einem intensiven gesellschaftlichen Dialog auf. Wie können wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis öffentlicher Räume überführt werden? Wie ist mit der veränderten Lage an Schulen umzugehen? Welche Bildungskonzepte erfordert die kulturelle Vielfalt? Und was für eine Schlüsselrolle kann hierbei der Literatur zukommen? Der vorliegende Band nimmt sich dieser und weiterer Fragen interdisziplinär an, indem er sowohl Forscher als auch Flüchtlingshelfer unterschiedlicher Kontexte zu Wort kommen lässt. www.narr.de ISBN 978-3-8233-8147-1 West-Pavlov / Gerland Interkulturelle Bildung Russell West-Pavlov / Andrée Gerland (Hrsg.) Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht Potenziale und Beispiele der Integration in Schule, öffentlichem Raum und Literatur Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht Russell West-Pavlov / Andrée Gerland (Hrsg.) Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht Potenziale und Beispiele der Integration in Schule, öffentlichem Raum und Literatur Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8147-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9147-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0190-5 (ePub) Umschlagabbildung: Street-Art in Tarifa, Spain. Künstler: © Yescka; Photographie: © Jonathan Rutsch. www.ibraaz.org/ essays/ 116 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 21 39 55 73 93 109 125 137 Inhalt Russell West-Pavlov / Andrée Gerland Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I: Theoretische Vorüberlegungen S. Karin Amos Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ reflektiert am Beispiel des Umgangs mit Geflüchteten . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Rieger-Ladich Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seddik Bibouche Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanna Schirovsky Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration . . . . Teil II: Schule und Universität Arhea Venessa Marshall Vorläufige Überlegungen zur Interkulturellen Bildung anhand des Refugee Programms an der Universität Tübingen 2016-2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russell West-Pavlov Ausländisch für Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lukas Müsel Ein Gespenst geht um in Europa … Fremdenfeindlichkeit und die Soziale Frage: Intersektionale Bildung als Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doro Moritz Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 175 185 201 215 233 245 259 281 297 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe Vom Nutzen der Zuwanderung: SchülerInnen mit Migrationshintergrund als Ressource für die Bundesrepublik von morgen - Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil III: Öffentlicher Raum Luzia Köberlein Wieviel Vielfalt darf ’s denn sein? Integration und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schustereder Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg - Integration im Spannungsfeld zwischen Anerkennung, Qualifikation und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bader Flucht und Gesundheit: Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Seiberth Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung. Erwartungen, Herausforderungen und Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Odila Triebel Kulturelle Migration als Gemeinwohl? Eine Perspektive aus der Außenkultur- und Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil IV: Kulturformen Molly Brown Between the Lines: Fantasy in Fracturing Classrooms - Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nina Liewald Die Macht der Worte: Narrative Repräsentationen von islamischem Fundamentalismus und ihr Beitrag zur interkulturellen Bildung . . . . . . . . . Heather Merle Benbow Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ Henning Steinfeld How would you like to be me? Der Erwerb interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 313 315 Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 1 Street-Art in Tarifa, Spain. Künstler: © Yescka; Photographie: © Jonathan Rutsch. (Quelle: https: / / www.ibraaz.org/ essays/ 116). Reproduktionsrechte wurden erteilt. Vielen Dank an Anya Heise-von der Lippe und Joi Garbe für sprachliche Beratung. Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen Russell West-Pavlov / Andrée Gerland 2018 kursierte in der deutschen Politik die rechts-konservative Kampfparole des „Asyltourismus“. Mit diesem Unwort war gemeint, dass Flüchtlinge von Land zu Land reisen würden, um immer wieder dort Asylanträge zu stellen, wo es ihnen am besten gefällt. Der Slogan war im höchsten Maße zynisch, weil er unterstellte, dass Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder Hunger mit reichen Touristen vergleichbar seien. Er suggerierte, ihre Flucht sei ein Luxus, den sich nur Menschen leisten, die Flucht im Grunde gar nicht nötig haben, weil sie jederzeit wieder ab- oder weiterreisen können. Angesichts des wahren Ausmaßes des Leids, das die Menschen aus Afrika oder aus dem Nahen Osten in die Flucht trieb und nach wie vor treibt sowie angesichts der gefähr‐ lichen Überfahrten bzw. langen Fußmärsche, die die Geflüchteten auf sich nahmen und nehmen, war der Begriff auch hochgradig respektlos und men‐ schenverachtend. Kaum überraschend also, dass die Devise „Asyltourismus“ beinahe zum Unwort des Jahres 2018 gekürt wurde (Unwort 2018). Sie wurde von dem bayerischen Ministerpräsident Söder zum ersten Mal am 15. Juni ver‐ wendet, jedoch stammt sie ursprünglich aus dem Jahr 2014 und geht auf den bayerischen Kollegen Hermann und noch weiter zurück (Asyltourismus 2018). Der Begriff baute auf dem früheren Slogan des „Sozialtourismus“ auf, der in ähnlicher Weise auf eine vermeintliche Herumreiserei auf der Suche nach einem unverdienten und auf Kosten der Einheimischen erworbenen Glück anspielte (Sozialtourismus 2014). Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt entstand in Tarifa/ Spanien ein Streetart-Stencil, das auf dem Umschlag des vorliegenden Bandes abgebildet ist. 1 Das Bild zeigt einen hellhäutigen Jungen mit einem Surfbrett unter dem Arm, der auf einen anderen, dunkelhäutigen Jungen zuläuft. Der zweite Junge hat an Stelle eines Surfbretts einen Rettungsring unter dem Arm. Die beiden Jungen sind jeweils mit einem gesprayten Text versehen. Neben dem Jungen mit dem Surfbrett ist zu lesen: „Yendo por una buena ola“ (in etwa: „Auf der Suche nach einer tollen Welle“, wobei das Verb „ir“ „laufen“ oder „gehen“ be‐ deutet), neben dem mit dem Rettungsring steht „Huyendo por una mejor vida“ (etwa: „Auf der Suche - noch genauer: Auf der Flucht - nach einem besseren Leben“). Das darin enthaltene Wortspiel besteht in der gleichen Aussprache der Wörter „Yendo“ und „Huyendo“, jedoch hat die erste Redewendung eine eher positive Resonanz, während die zweite einen deutlichen negativen Anklang be‐ sitzt. Auf diesem Bild kollidieren daher Bilder des teuren Freizeitvergnügens an der Mittelmeerküste mit solchen der Misere einer oft illegalen und häufig töd‐ lichen Flucht - der Rettungsring deutet auf die sehr große Zahl von Todesopfern unter den Geflüchteten, die über die sogenannte „Mittelmeer-Route“ versuchen nach Europa zu gelangen. Im Mittelmeer sind im Jahr 2018 bis Ende September fast 2000 Menschen gestorben (Missing Migrants 2018). Im Jahr 2017 waren es mehr als 5000, 2016 mehr als 3000 und 2015 fast 4000 Menschen (IOM 2016; IOM 2018), die während der Flucht im Mittelmeer umgekommen sind. Auf dem Bild treffen in grotesker Hinsicht zwei Formen äußerster physischer Auslastung aufeinander: einerseits die des Extremsports, andererseits die der extremen Ge‐ fahr. Beide sind jedoch vereint durch einen anscheinend identischen körperli‐ chen Habitus. Genau diese täuschende äußerliche Übereinstimmung unter‐ mauert die beißende Ironie des Bildes. So ein Aufeinandertreffen von Gegensätzen macht zunehmend die Strände von Südeuropa aus und zwar auf eine Art und Weise, die immer frappierender Ähnlichkeiten mit den eng be‐ nachbarten Kontrasten des globalen Südens hat. Ein derartiges Aufeinander‐ prallen von Wohlstand und Misere zeichnet die seismischen Kontinentalrisse zwischen den Reichen und den Armen unserer Welt aus, die immer stärker die globale Politik bestimmen (Sassen 2014; Latour 2018). Derartige Bilder sind seit der Veröffentlichung eines Fotos des spanischen Fotografen Javier Bauluz in den 1990er Jahren in Europa nicht mehr unbekannt. Auf dem Foto sitzen zwei Touristen zurückgelehnt unter einem Sonnenschirm am Strand von Zahara de los Atunes und schauen - anscheinend unberührt und sorglos - auf die bereits in der Sonne aufgeblähte Leiche eines Geflüchteten am Strandufer (Hulme 2005: 44). Das Streetart-Stencil, das wir für den Umschlag des vorliegenden Bandes ausgewählt haben, funktioniert anders. Auch wenn der Ort der Kunstaktion ähnlich nah an der Mittelmeerküste liegt, findet die dort abgebildete Konfrontation nicht in einem primär räumlich bestimmten Rahmen statt, sondern entscheidend ist hier die Dimension der Zeit. Die durch die Spray-Technik leicht entfremdeten Jungen deuten stellvertretend auf die zwei Sozialblöcke des Globalen Nordens und Südens. Wichtig ist hier jedoch, dass sie 10 Russell West-Pavlov / Andrée Gerland die Jugend darstellen und somit die Zukunft des Planeten. Deren Treffen findet in der Migration statt, einem der kontroversesten Themen der heutigen Politik und einem der zentralen Brennpunkte der zukünftigen Politik: Nach einer weit‐ gehend stabil bleibenden Zahl von Menschen auf der Flucht in den Jahren zwi‐ schen 2000 und 2010 wurden es ab dem Jahr 2011 stetig mehr. Im Jahr 2011 waren 42,5 Millionen Menschen auf der Flucht, 2012 waren es bereits 35,8 Millionen, 2013 51,2 Millionen, 2014 59,5 Millionen, 2015 65,3 Millionen, 2016 65,6 Millionen und 2017 gipfelte die Zahl bei 68,5 Millionen (UNCHR 2011; 2012; 2013; 2014; 2015; 2016; 2017). Angesichts der besorgniserregenden Stoßrichtung der aktu‐ ellen Weltpolitik, um nicht von den noch erschreckenderen Entwicklungen im Klimawandel zu sprechen, ist es unwahrscheinlich, dass die Zahlen in den kommenden Jahren zurückgehen werden. Der globale Klimawandel, der ebenso stetig zunimmt (WMO 2018; IPCC 2018), und die daraus resultierende Konflikte können zu einem weiteren Anstieg der Zahlen führen, die das gegenwärtige Niveau im Jahr 2050 um das Dreifache übersteigen werden (Rigaud et al. 2018). Ende des Jahrhunderts werden die steigenden Meerespegel 25 Prozent der von Menschen bewohnten Teile der Erdoberfläche überschwemmt haben (Nealon 2016: 121). Die Zukunft ist die Migration und die Migrant*innen werden jung sein (vgl. Smith 2019). Einer der wichtigsten Orte, an denen in Zukunft Men‐ schen zusammenkommen werden, werden nicht nur die Strände Südeuropas, sondern auch die Schulen Nordeuropas sein, wo sich künftig Einheimische und Neuankömmlinge die Schulbank noch stärker als bislang teilen werden. Die Ängste und Vorbehalte, die im Zuge von solchen Zusammenkünften im Bildungswesen aufkommen, sind die Auslöser für den vorliegenden Sammel‐ band. Der Band basiert auf der Wahrnehmung, dass die Lehramtsstudierenden der Universität Tübingen im Hinblick auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 2015 ihrem künftigen Berufsfeld mit großer Sorge entgegensehen. In dem Jahr der Massenmigration nach Europa blickten die europäischen Regierungen ge‐ meinsam panisch in die Zukunft des Kontinents, wenn nicht gar des Planeten (Alexander 2017). Die Welle der Geflüchteten, die im Sommer 2015 Nordeuropa erreichte, wurde als überwältigender Ansturm erlebt, wobei die Anzahl der ein‐ gereichten Asylanträge weit unter einer Million blieb, wie sich später heraus‐ stellte. Nicht nur war diese Zahl relativ gering im Vergleich zu dem, was ärmere Nationen des globalen Südens regelmäßig bewältigen müssen, vielmehr war die vermeintliche „Flüchtlingskrise“ gar keine Krise, sondern der Normalfall - wovon sich die reichen europäischen Länder bislang abschirmen konnten. Klar wurde vor allem, dass die europäischen Regierungen auf die Ereignisse völlig unvorbereitet waren, nicht, weil sie die dafür nötigen Ressourcen nicht auf‐ bringen konnten, sondern weil sie die Realität der globalen Migrationsströme 11 Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen ausblenden und vor allem behaupten, diese gehe sie nichts an. Ganz im Gegen‐ teil: Fakt ist, dass die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 - auch wenn die Zahlen dank massiver Grenzsicherungen und Abschottungsstrategien auf Kosten von Tausenden im Mittelmeer ertrunkenen Menschen deutlich zurück‐ gegangen sind - nur die Spitze des Eisbergs bildet und das Gesicht der Zukunft trägt. Im Zuge dieser Realitätsverweigerung waren bzw. sind die europäischen Regierungen kaum imstande, eine pragmatische Bewertung der Gesamtlage durchzuführen und somit eine realistische und konkrete Politik für die komm‐ enden Jahrzehnte zu entwerfen. Vor allem spaltete die „Flüchtlingskrise“ die deutsche Gesellschaft zwischen vermeintlich naiven „Gutmenschen“ und Anhängern verschiedener rechtsge‐ richteter Gruppierungen (u. a. Pegida und AfD), wovon viele zu den innerdeut‐ schen Verlierern der neoliberalen Globalisierung und der zunehmend größer werdenden Kluft zwischen Armen und Reichen gehören. Die bereits tiefen Risse der deutschen Gesellschaft wurden schlagartig sichtbar (Hagelüken 2017). Grundlegende Fragen der nationalen Identität und der Ressourcenverteilung werden auf zunehmend aggressive Art und Weise debattiert. Sollte der Begriff der „Flüchtlingskrise“ überhaupt einen Sinn haben, dann bezieht er sich nicht auf die Geflüchteten - die ohnehin die zukünftige Normalität darstellen -, son‐ dern auf die deutsche Gesellschaft selbst, die sich gezwungen sah, sich öffentlich im Rahmen der globalen Grenzregime zu positionieren und zu entscheiden, in‐ wiefern sie sich tatsächlich an die öffentlich propagierten Glaubensbekenntnisse von Offenheit und Menschenrechten hält. Ein unerwarteter, wenn auch ironischer Vorteil des kollektiven Schocks von 2015 war, dass die Gesellschaft plötzlich wahrnahm, wie unvorbereitet sie auf solche Vorkommnisse war und im Zuge dessen sehen konnte, wo die schwere Arbeit fortan geleistet werden muss. Angesichts des Ausmaßes der Migrations‐ wellen, die im Zuge des Klimawandels auf alle Nationen der Welt - wenn auch in unterschiedlichem Maße - zukommen, wird zunehmend sichtbar, wie wenig sich die politische Elite Deutschlands überhaupt auf die künftigen Herausfor‐ derungen eingestellt hat. Ein Beispiel dafür: Mitte Februar 2019 prognostizierte ein Bericht der wirtschaftsnahen Bertelsmann-Stiftung einen künftigen Bedarf an ca. 250.000 Fachkräften pro Jahr, der nur über Zuwanderung abzudecken sei, wobei die Hälfte davon aus Nicht-EU-Staaten stammen werde (Kubis / Fuchs / Schneider 2019). In derselben Woche beschloss die CDU-Führung die Möglich‐ keit der Grenzschließung, um künftig ungewollte Einwanderung, sprich eine erneute Flüchtlingswelle wie 2015, zu verhindern (Zamperoni 2019). Obwohl eine Vielzahl an einfallsreichen Behilfsstrategien es bereits ermöglicht haben, knapp die Hälfte der seit 2015 angekommenen Geflüchteten in Beschäftigungs‐ 12 Russell West-Pavlov / Andrée Gerland verhältnisse zu bringen (Gensing 2018), fehlten derartige kreative Lösungsan‐ sätze zu den zwei anscheinend unterschiedlichen Problemen gänzlich in den CDU-Beratungen über die Einwanderungsbzw. Asylpolitik. Gegenwärtig sind kaum kreative Visionen oder tragfähige Entwürfe für solchen Szenarien unter der aktuellen politischen Elite zu finden. Es fehlen „neue Ideen für die Einwan‐ derungsgesellschaft“ (Terkessidis 2016). „‚Das Deutsche‘ ist immer noch eine Leerstelle, es fehlt immer noch an Elementarem - an neuen Begriffen, Kon‐ zepten und Geschichten“ (Plamper 2019: 10). Die häufigste politische Devise lautet stattdessen: Weiter so, es soll sich nichts ändern (vgl. z. B. Meaney 2017). Innovative Ideen dazu, wie die jetzige Situation Grundlagen für eine tragfähige Zukunftsstrategie zugunsten aller im Land lebenden Menschen liefern könnte, stehen weitgehend noch aus. Diese traurige Bilanz gilt insbesondere für das Bildungssystem, der Schmiede der künftigen Generation schlechthin. Die Schule ist der Ort, wo die Menschen ausgebildet werden, die einerseits die Folgen der jahrzehntelangen Versäum‐ nisse der bisherigen Politik werden ausbaden müssen und die andererseits auch diejenigen sind, die in nicht allzu ferner Zukunft neue Lösungen für diese Ver‐ säumnisse finden bzw. umsetzen müssen. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 hat gezeigt, zu welch geringem Ausmaß das deutsche Bildungssystem, von der Kita bis hin zur Universität, trotz der unabdingbaren Notwendigkeit angesichts erhöhter Migrationszahlen auf einen Zuwachs von Schüler*innen und Studierenden aus ganz verschiedenen Kulturkreisen vorbereitet ist. Die Lehrerbildung quer durch die Bundesländer deckt nur bedingt den Bedarf an Ausbzw. Fortbildungen im Bereich der inter‐ kulturellen Erziehung, Bildung oder Sprachbildung ab. Wenige Komponenten des Lehrerbildungsangebots ermöglichen einen Kompetenzerwerb in den Be‐ reichen der interkulturellen Kommunikation, Mehrsprachigkeit, kulturellen bzw. sprachlichen Vielfalt, sprachlichen Inklusion usw. (Morris-Lange / Wagner / Altinay 2016). Lehramtskandidat*innen sind sich aufgrund ihrer Er‐ fahrung aus Praktika und Praxisseminaren jedoch durchaus bewusst, welch kulturell und sprachlich sehr gemischten Klassengruppen sie in der Schule er‐ warten und stehen der Ausbildung, die ihnen von den Hochschulen angeboten wird, dementsprechend kritisch gegenüber. Sie sehen auch, mit welchen ad hoc-Lösungen Lehrer*innen - oft nur mit minimaler und unzureichender Un‐ terstützung von staatlichen Instanzen - auskommen müssen, um unter den ge‐ genwärtigen Bedingungen geeignetes Unterrichtsmaterial zusammenzustellen, eigene Unterrichtsstrategien zu entwickeln oder überhaupt den erhöhten Bedarf an DaF-Kursen abzudecken. 13 Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen Schulen und andere Bildungsanstalten sind jedoch zentrale Orte, wo die Mi‐ gration als wichtiger Einflussfaktor für die fortschreitende Veränderung der Gesellschaft beobachtet werden kann. Noch mehr: die Schule ist der Ort, wo die Chance, aktiv in sozialen Transformationensprozesse einzugreifen, direkt er‐ griffen werden kann. Die Schule und deren Klassenzimmer spiegeln soziale Konflikte wider, aber sie bilden auch Freiräume, wo die sozialen Subjekte von morgen weitgehend geformt werden und wo der gesellschaftliche Habitus der Bürger*innen von übermorgen gebildet wird. Die Schule ist ein wichtiger Schmelztiegel der zukünftigen Gesellschaft und die Lehrenden sind wichtige Akteure in diesem Prozess der Zukunftsbildung. Die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte wird unter an‐ derem in den Schulen stattfinden. Mangels genuin kreativer und zukunftsträchtiger Antworten auf diese He‐ rausforderungen seitens der politischen Elite der Bundesrepublik und der Ver‐ antwortlichen der Bildungspolitik des Landes, geschweige innerhalb der Struk‐ turen der Lehrerbildung hat sich eine Gruppe von Lehrenden aus der „Initiative Globaler Süden“ an der Universität Tübingen als Aufgabe gesetzt, ein infor‐ melles Lehrangebot zusammenzustellen, um diese Lücken einigermaßen zu füllen oder zumindest ein Forum zu etablieren, wo solche brisante Themen dis‐ kutiert und die berechtigten Besorgnisse der Lehramtsstudierenden ernst ge‐ nommen werden konnten. Dies geschah in der Form einer über drei Jahre (April 2016 bis Februar 2019) laufenden offenen Ringvorlesung, deren Ziel war, die Leerstellen in der Lehramtsausbildung vor allem im Bereich der interkulturellen Bildung durch Impulse von außen und mittels der Schaffung von Gesprächs‐ räumen ansatzweise zu kompensieren. Um einen Rahmen für lebendige Debatten zu schaffen und um Studierenden eine kreative Auseinandersetzung mit solchen Fragestellungen unter Berück‐ sichtigung der zunehmenden Heterogenität der schulischen Kundschaft zu er‐ möglichen, wurde eine Reihe Referent*innen aus verschiedenen sozialen Berei‐ chen, nicht nur im Bildungssektor, zu offenen Gesprächsrunden eingeladen. An der Ringvorlesung nahmen Vertreter*innen aus Politik, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft und der sozialen Zivilgesellschaft teil, um diverse Fragen zur heu‐ tigen und künftigen Migrationsgesellschaft anzusprechen. Die Referent*innen waren Lehrende aus Schule und Universität, aber auch Praktiker aus den ver‐ schiedensten Bereichen der Öffentlichkeit. Die Zuhörer*innen kamen mehr‐ heitlich aus den Lehramtsstudiengängen, vertreten wurden jedoch alle mögli‐ chen Fachrichtungen. Die große Spannbreite an Fächern spiegelt sich in der Verschiedenheit der hier gesammelten Vorträge wider. 14 Russell West-Pavlov / Andrée Gerland Die Investition in Bildung ist eine Aufforderung, die parteiübergreifend for‐ muliert wird. Man verspricht sich davon Wissen, Persönlichkeitsentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit. Doch wie sieht es mit der Offenheit gegenüber dem vermeintlich Fremden aus? Welche Bildung erzieht zum Perspektivwechsel und zum gegenseitigen Respekt? Welche Bildung ermöglicht ein Weltbürger-Be‐ wusstsein? Eine Antwort hierauf bietet das Konzept der interkulturellen Bil‐ dung, die sich als Vermittlerin zwischen den Kulturen versteht, die neue Kom‐ munikationswege aufzeigt, Austauschbereitschaft fördert und eine Plattform zum Abbau von Missverständnissen bietet. Diese Imperative sind angesichts der Verunsicherungen der aktuellen globalen Flüchtlingspolitik notwendiger denn je - deshalb überrascht es, dass das Konzept und seine Anwendung vor allem im schulischen Kontext kaum erörtert wurde. Dabei ist eine Perspektive, die den Anderen nicht als Defizit, sondern als Potenzial betrachtet, eine gewinnbrin‐ gende für jede gesellschaftliche Institution und Schicht. Genau das sollte die Vorlesungsreihe zeigen, indem sie einen Dialog mit Referenten aus unterschied‐ lichen gesellschaftlichen Verankerungen anstieß, der das Konzept der interkul‐ turellen Bildung reflektierte und problematisierte und in dem alle Beteiligten die Chancen einer solchen interkulturellen Bildung zusammen eruieren konnten. Wir hoffen, dass die hier vorliegende Beiträge zur anhaltenden Debatte in der deutschen Gesellschaft über Migration und Flucht vielen anderen Lehrenden und Lernenden helfen werden, sich mit den Herausforderungen der kommenden Jahre auseinanderzusetzen. Wenn die in diesem Band gesammelten Aufsätze weitere Reflexionsprozesse auslösen und auf produktive Art und Weise neue Fragen aufwerfen, wird der Band seinen Zweck erfüllt haben. Literatur Alexander, Robin (2017) Die Getriebenen: Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht. München: Siedler. Asyltourismus (2018) ‚Äußerung in den Tagesthemen: Was meint Söder mit „Asyltou‐ rismus“? ‘ ARD-Online 15.06.2018. URL: https: / / faktenfinder.tagesschau.de/ inland/ soeder-asyltourismus-101.html (zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019). Fuchs, Johann / Alexander Kubis / Lutz Schneider (2019) Zuwanderung und Digitalisie‐ rung: Wie viel Migration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig? Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Gensing, Patrick (2018) „Faktencheck zum Arbeitsmarkt: Keine ‚Märchenstunde‘ über Flüchtlinge“. ARD-Tagesschau online, 17.12.2018. URL: http: / / faktenfinder.tagesschau. 15 Plädoyer für eine interkulturelle Bildung für morgen de/ inland/ kramer-fluechtlinge-arbeitsplaetze-101.html (zuletzt aufgerufen am 18. De‐ zember 2018). Hagelüken, Alexander (2017) Das gespaltene Land: Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört - und was die Politik ändern muss. Munich: Knaur. Hulme, Peter (2005) „Beyond the Straits: Postcolonial Allegories of the Globe“, in Ania Loomba et al., hg. Postcolonial Studies and Beyond. Durham NC: Duke University Press, 41-61. IOM (2016) „IOM Counts 3,771 Migrant Fatalities in Mediterranean in 2015“. International Office of Migration (United Nations Migration Agency) website. 01.05.2016. URL: www.iom.int/ news/ iom-counts-3771-migrant-fatalities-mediterranean-2015 (zuletzt aufgerufen am 21. September 2018). 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Karin Amos Ohne Frage ist die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen eine wichtige Aufgabe der Schule und ohne Frage wird hier viel geleistet und es gibt eine große Zahl sehr engagierter Lehrerinnen und Lehrer. Die Schulsozialarbeit ist ebenfalls involviert und auch die Politik ist sich der Bedeutung der schuli‐ schen Integration bewusst und hat Maßnahmen zur Unterstützung ergriffen, wie ein Blick auf die entsprechenden Seiten der Ministerien zeigt (stellvertretend für die Vielfalt von Maßnahmen und Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund siehe die Seiten des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg: https: / / km-bw.de/ Fluechtlingsintegrati on). Unterstützt werden die Anstrengungen der Schulen durch eine Vielzahl anderer Akteure, individueller und kollektiver, z. B. ehrenamtlich arbeitender Einzelpersonen, Stiftungen, Wirtschaft. Neben vielen sehr positiven Beispielen zur schulischen Integration von Geflüchteten gibt es auch Klagen aus der Praxis und Anzeigen von Überforderung. Letztlich muss man sich die Situation vor Ort sehr genau ansehen, denn die Bedingungen der Integration, auch die materiellen und personellen Ressourcen sind trotz einer, im Unterschied etwa zu den USA, grundsätzlich größeren Finanzierungsgleichheit der Schulen durchaus unter‐ schiedlich. In diesem Beitrag will ich nicht die Vielfalt der Praxis beleuchten, denn es finden sich immer Illustrationen sowohl für gelingende als auch für misslingende Integrationsanstrengungen. Vielmehr möchte ich nochmals einige grundsätzliche Themen adressieren, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Dazu eine Vorbemerkung: Die professionelle Praxis zu reflektieren, ist eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft. Diese Reflexion sollte aber nicht im Gestus des „Besserwissens“ erfolgen, sondern in aller Anerkennung der Leis‐ tung, die Praktiker und Praktikerinnen erbringen. In diesem Fall, in dem es um Schule geht, sind dies vor allem die Lehrerinnen und Lehrer. Der Vorteil, den die Wissenschaft gegenüber der Praxis hat, ist die Entlastung von Handlungs‐ druck und damit einhergehend die Möglichkeit einer distanzierten Betrachtung. Zwar ist es richtig, dass sich eine professionelle Praxis gerade dadurch aus‐ zeichnet, dass sie reflektiert ist; allerdings ist dies im Alltag oft leichter gefordert als realisiert, zumal der Lehrauftrag der Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland ein höheres Stundendeputat umfasst als in vielen anderen OECD-Ländern, al‐ lerdings auch bei besserer Bezahlung. In jedem Falle ist eine distanzierte, selbst‐ kritische Betrachtung der Praxis schwierig, wenn keine Zeit bleibt, das eigene Tun zu überdenken oder auch sich des Rahmens zu vergewissern, in dem man tätig ist. Daher beginnt der Beitrag mit einer Betrachtung einiger Eigenheiten der Institution Schule, die sie auf der einen Seite für Integrationserwartungen prädestinieren, die andererseits aber immer wieder zu systematischen Enttäu‐ schungen und zu Anfälligkeiten für Othering-Prozesse führen. Schule inkludiert eben nicht nur, sie exkludiert auch, aber dieser Befund sollte nicht Anlass bieten zur Resignation, sondern vielmehr Ansporn bieten zu einer Minderung der aus‐ schließenden Effekte, wenn sie sich auch nicht beseitigen lassen. Hintergrund dieser Fokussierung ist, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht hinreichend gefördert werden, noch immer liegt die Rate derjenigen, die als „at risk“ gelten, zu hoch. Unter „at risk“-Schülerinnen und -Schülern versteht man all diejenigen, deren Leistung in den Kernbereichen so schlecht ist, dass eine vollwertige Teil‐ habe am öffentlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft stark gefährdet ist. Das Problem sind nicht die mangelnden kognitiven Fähig‐ keiten, sondern nicht erfolgte Förderung. Von dieser nicht oder nur mangelhaft erfolgten Förderung sind besonders auch Kinder und Jugendliche mit so ge‐ nanntem Flucht- oder Migrationshintergrund betroffen. Im Jahr 2016 zeitigte die PISA-Studie katastrophale Ergebnisse für Baden-Württemberg, fast 26 % der Neuntklässler galten als „Risikoschüler“. Dabei hat sich das, was bereits die erste PISA-Studie festgestellt hatte, die hohe Korrelation von Migrationshintergrund bzw. sozialer Herkunft und Bildungserfolg weiter fortgesetzt. Gleichzeitig waren Ende des Jahres 2016 gemäß einer Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM 2016: 87) unter den nach Deutschland Geflüchteten 54.000 vierbis sechsjährige Kinder, 118.000 elfbis sechzehnjährige Kinder und Jugendliche und 36.000 sechzehnbis achtzehnjährige Die Herausforderungen für das Bildungssystem sind also erheblich und es ist zu befürchten, dass auch in dieser spezifischen Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrations-, nämlich mit Fluchthintergrund viele auf der Strecke bleiben werden. In einem zweiten Schritt sollen einige Charakteristika der Interkulturellen Pädagogik in den Blick genommen werden, ein besonderes Augenmerk wird dabei auf zentrale Bezeichnungen und wirkmächtige Konzepte gerichtet. Ein Zwischenstück spricht die schwierige Frage der Menschenrechte an. Im dritten 22 S. Karin Amos Schritt soll eine ethnographische Vignette herangezogen werden, um zu zeigen, wie schnell und unflektiert es zu Othering-Prozessen kommen kann. Viertens soll eine kurze holzschnittartige Darstellung, welche die Kinder und Jugendli‐ chen mit Fluchthintergrund in schulaffine und nicht-schulaffine teilt, die Pro‐ blematik der Bildungsteilhabe und des Othering nochmals verdeutlichen und schließlich soll ein Plädoyer für eine enge Zusammenarbeit von Schule und Universität, um wechselseitig die jeweiligen blinden Flecken zu korrigieren, den Beitrag abrunden. Dabei geht es auch darum, wie die Praxis korrigierend gegen bestimmte Vereinseitigungen der Wissenschaft wirken kann. Schule - zwei soziologische Schlaglichter An dieser Stelle sollen nur zwei Perspektiven angeführt werden, die Schlag‐ lichter auf institutionelle Charakteristika von Schule werfen: die des so ge‐ nannten Neo-Institutionalismus und der soziologischen Differenzierungsthe‐ orie. Besonders der soziologische Neo-Institutionalismus um John Meyer an der Stanford University hat die enge Beziehung von Schule und der Prägung nati‐ onaler Mitgliedschaft untersucht (Meyer / Boli / Ramirez 1997, Boli / Ramirez / Meyer 1985; Ramirez / Boli 1987). Es geht hier gar nicht darum zu entscheiden, ob der Neo-Institutionalismus, der Funktionalismus oder Marxistische Theorien recht haben; ob Schule, im Sinne öffentlich organisierter, finanzierter und ver‐ antworteter Veranstaltung, entstanden ist, weil sie funktional ist für die Gesell‐ schaft und ihre Qualifikationsanforderungen, weil sie gesellschaftliche Macht‐ verhältnisse legitimiert und reproduziert oder weil sie gesellschaftliche Mitgliedschaft befördert, also dazu beiträgt, Schule als Imaginierte Gemein‐ schaft, als imagined community, um das berühmte Wort Benedict Andersons aufzugreifen, zu perpetuieren. Vielmehr wird der Neo-Institutionalismus in den Blick genommen, weil er sich auf die grundsätzliche Integrationsfunktion von Schule bezieht - für die „eigenen“ Kinder. „Eigen“ kann Unterschiedliches heißen. Es kann heißen, dass nur die Kinder, die einer als Abstammungsge‐ meinschaft sich verstehenden Nation angehören, auch der Schulpflicht unter‐ liegen. Dies ist historisch in Deutschland der Fall gewesen, zumindest teilweise. Es kann auch heißen, dass Kinder im Namen der Nation angerufen, interpelliert werden, im Sinne Etienne Balibars. In jedem Falle ist die Schule verstrickt mit dem nationalen Kollektiv, in das sie eingebettet ist - ein wichtiges Indiz hierfür ist nach wie vor die Bedeutung von schulischer Sprachenpolitik, die in engem Zusammenhang steht mit der gesamtgesellschaftlichen Sprachenpolitik eines Landes. Sprache ist ein hervorragendes Beispiel für die Manifestation von An‐ erkennungskämpfen in Form von Zugehörigkeiten. Vor diesem Hintergrund 23 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ wundert es nicht, dass Inklusion immer auch eine exkludierende Kehrseite hat - auch in der Schule. Niklas Luhmann, das ist der zweite Soziologe, von dem die Rede sein soll, hat mit seiner Differenzierungstheorie sehr deutlich unterstri‐ chen, dass Schule an sich noch nicht hinreichend in Gesellschaft inkludiert. In funktional differenzierten Gesellschaften ist sie die notwendige, aber nicht hin‐ reichende Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe, die in unserer Gesellschaft wesentlich über die Integration in den Arbeitsmarkt gesichert ist. Ohne ent‐ sprechende Bildungstitel und Bildungszertifikate ist eine Teilhabe an höherer Bildung oder an Ausbildung nicht möglich, wenn diese nicht jenseits des regu‐ lierten Arbeitsmarktes stattfinden soll. Der Schultheoretiker Helmut Fend (2006) hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass zur grundsätzlichen Integrations‐ funktion auch die Qualifikations-, Allokations- und Selektionsfunktion der Schule tritt - von der Legitimationsfunktion ganz zu schweigen. Die schulischen Qualifikationen manifestieren sich letztlich in entsprechenden Abschlüssen, die wiederum Berufs- und Lebenschancen zuweisen. Da der Markt segmentiert und zudem noch hierarchisch gegliedert ist, erklärt sich auch die Selektionsfunktion. Begehrte Bildungstitel und Bildungszertifikate würden ihren Wert verlieren, würden sie ohne Unterschied an alle vergeben werden. Gleichzeitig gilt das me‐ ritokratische Prinzip, wodurch am Ende alle das Gefühl haben, dass sie den Platz einnehmen, den sie verdienen. Hinzu kommt, dass Schule nicht nur nach Leis‐ tung funktioniert, das hat der PISA-Ländervergleich hinreichend gezeigt, son‐ dern auch nach anderen Gesichtspunkten, welche durchaus zu Benachteili‐ gungen und Ungerechtigkeiten führen. Dies soll verdeutlichen, dass sich jede Form des „Schulbashings“ oder „Lehrerbashings“ verbietet; solche pauschalen Zuschreibungen gehen an der Realität vorbei. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Lehrerinnen und Lehrer die widersprüchlichen Anforde‐ rungen deutlich spüren und sich zu ihnen verhalten müssen. So hat beispiels‐ weise die Erwartung, hohe Leistungen aller Schülerinnen und Schüler zu gene‐ rieren, eine Fokussierung auf Stoffvermittlung zur Folge - zulasten des Erziehungsauftrags, den die Schule ja auch hat. Die Erwartung, möglichst alle zum Erfolg zu führen, impliziert, dass die individuelle Förderung nur in ge‐ ringem Umfange realisiert werden kann. Insgesamt sind die schulischen Steu‐ erungsformen und Steuerungsinstrumente heute so ausgerichtet, dass sie vor allem die Leistung in den Blick nehmen, und nach Maßgabe der aktuellen Dis‐ kussionen sind diese Leistungen vor allem in den naturwissenschaftlich-ma‐ thematisch-technischen, den so genannten MINT-Fächern zu erbringen und selbstverständlich in der Verkehrssprache Deutsch. Eine auf den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin bezogene Individualförderung ist da nur schwer möglich. 24 S. Karin Amos Die Interkulturelle Pädagogik Der Bereich der Pädagogik, der am meisten mit den Fragen der Integration von zugewanderten Menschen befasst ist, ist die Interkulturelle Pädagogik, die in den achtziger Jahren das Erbe der in Misskredit geratenen Ausländerpädagogik angetreten hat. An die Stelle der vielkritisierten Defizit-Diagnosen trat der Dif‐ ferenzbegriff; nicht mehr Assimilation oder Rückkehr, sondern Toleranz und Vielfalt sollten Pädagogik orientieren. Gleichzeitig gibt es seit Jahren eine leb‐ hafte Auseinandersetzung um die Bezeichnung Interkulturelle Pädagogik, weil, kurz gesagt, die Kulturalisierung oder kulturelle Überformung einer im Kern gesellschaftlich und politisch zu adressierenden Frage befürchtet wird. Der Vor‐ wurf lautet, dass soziale Ungleichheiten als kulturelle Differenzen verhandelt und damit verharmlost werden. Diese Kritik wurde meiner Erinnerung nach in einem Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 1998 auf einen ersten Punkt gebracht und dauert seitdem an. Die Lösungen, die seither diskutiert werden, gehen in Richtung allgemeiner Differenzpädagogik, Migra‐ tionspädagogik, Antirassistische Pädagogik oder Intersektionalität, um nur ei‐ nige wichtige Ansätze zu nennen. Gleichzeitig ist aber auch die Auseinander‐ setzung mit ‚Kultur‘, etwa durch die Cultural Studies, weiterentwickelt und sind verstärkt postkoloniale Impulse aufgenommen worden. Schließlich sollte noch erwähnt werden, dass im Unterschied zur englischen Bezeichnung Intercultural Education, wobei intercultural etwas ungebräuchlicher ist als multicultural, im Deutschen mindestens drei unterschiedliche Bedeutungen von education un‐ terschieden werden: Erziehung, Bildung und Pädagogik, die sich alle drei in education verdichten. Obwohl die Interkulturelle Pädagogik nicht nur auf den schulischen Kontext bezogen ist, ist Schule doch ihr zentrales Handlungsfeld, weil in der Schule Zu‐ gehörigkeiten verhandelt werden und zwar historisch und systematisch mit Blick auf das nationale Kollektiv. Paul Mecheril hat diesen Komplex als „ethno-natio-kulturell“ (2002) bezeichnet und damit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, dass „Kultur“ auch Ethnie und Nation umschließt. Interkulturelle Pä‐ dagogik transportiert mithin Vorstellungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Normen und Werte und unterstellt nicht selten, dass sich diese in die Subjekte einschreiben und sie maßgeblich prägen; dass sie sozusagen somatisch werden. Diese Vorstellung spielt in der Praxis noch immer eine große Rolle, wenn sie in der theoretischen Diskussion auch weitgehend als überwunden gilt, denn ein solcher Determinismus widerspricht einer zentralen These von ‚Bildung‘, der zufolge es um das Verhältnis von Ich und Welt geht und dies wiederum bedeutet, dass Bildung befähigt, sich zur Welt zu verhalten und damit auch zu unter‐ 25 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ schiedlichen Werte- und Normensystemen, die eben nicht einfach übernommen, sondern reflektiert und angepasst werden. Die Interkulturelle Pädagogik trägt das schwierige Erbe naturalisierter nationaler Imaginationen und folgt im Kern einer „Kugel-“ oder „Sphärenlogik“ (vgl. dazu auch die „Sphärentrilogie“ von Peter Sloterdijk 2004). Der postmoderne Differenzdiskurs, der für die Entwicklung der Interkultu‐ rellen Pädagogik in Deutschland eine nicht unwichtige Rolle spielte, führte oft zu verkürzten Interpretationen von „Differenz“ gerade nicht im Sinne von Deleuze und Guattari oder Derrida. Stattdessen wurde sie zur Stabilisierung des Kugel‐ modells herangezogen, das unterstellt, dass (National-)Kulturen als abgeschlos‐ sene, um nicht zu sagen „abgedichtete“ (hier lassen sich zwei Wortbedeutungen von „Dichtung“ erkennen) Einheiten vorgestellt werden, die sich klar und ein‐ deutig voneinander differenzieren lassen. Es ist daher auch kein Wunder, dass die Unterscheidung von „eigen“ und „fremd“ im Sinne von „anders(artig)“ einen zentralen Topos in den interkulturellen Pädagogikdiskursen markiert, in der Theorie und in der Praxis. Historisch hat Marianne Krüger-Potratz (2005) für Deutschland gezeigt, dass die Sprachenpolitik bereits im neunzehnten Jahrhun‐ dert ein wichtiges Thema war. Welche Rechte hatten die Minderheiten, die Sorben und die Dänen, welche die polnischen Migranten, die ins Ruhrgebiet eingewan‐ dert waren? In der Zeit der Nachkriegsarbeitsmigration war die Integration der entlarvenderweise so bezeichneten „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterkinder“ bei gleichzeitiger „Rückkehroption“ Thema (der Ausdruck ‚Fremdarbeiter‘ stand auch zur Diskussion, wurde dann wegen seiner nationalsozialistisch belasteten Ge‐ schichte aufgegeben). Hier wurde zuerst diskutiert, ob die „Gastarbeiterkinder“ überhaupt der Schulpflicht unterliegen - ähnlich wie dies bei geflüchteten Kin‐ dern heute teilweise noch immer der Fall ist. All dies zeigt, dass in pädagogischen Feldern gesellschaftliche Kämpfe ausgetragen werden, dass dieses Ringen um Definitionen keineswegs trivial, sondern symptomatisch für die stakes ist, für das, was auf dem Spiel steht, für den Einsatz im Bourdieu’schen Sinne. Der Differenz‐ begriff, stärker als der Defizitbegriff, den er in der Interkulturellen Pädagogik ab‐ löst, aber eigentlich eher überlagert, eignet sich hervorragend, um Grenzzie‐ hungen und Abgrenzungen vorzunehmen und damit die „Anderen“ auf eine bestimmte Position festlegen. Und wenn man es genau bedenkt, ist der Begriff „Kinder mit Migrationshintergrund“ nur unwesentlich besser als „Gastarbeiter‐ kind“, weil auch hier ein Somatischwerden der Differenz, eine fast leiblich zu nennende Einschreibung zum Ausdruck gebracht wird, die als permanenter Marker bestehen bleibt. Differenzbildungen und Othering-Prozesse bilden einen engeren Zusammenhang, als es der offiziellen Konzeption der Interkulturellen Pädagogik lieb ist, die sich mit Differenz nicht nur vom Defizitbegriff der „Aus‐ 26 S. Karin Amos länderpädagogik“ absetzen will, sondern auch die überkommenen Assimilati‐ onsan- und -zumutungen abwehren möchte, aber gleichzeitig oft nicht ver‐ meiden kann, dass die Furcht vor Assimilation die zugewanderten Menschen dauerhaft in Distanz zur Aufnahmegesellschaft bringt. Ich begrüße vor diesem Hintergrund sehr, dass die Kolleginnen Dorothee Kimmich und Ingrid Hotz-Davies den Ähnlichkeitsgedanken stark machen und damit die entweder / oder-, ja / nein-Dichotomie des (trivialen) Differenzbegriffs irritieren zugunsten eines mehr oder weniger, also einer feineren Abbildung von Graden der Unterschiedlichkeit. Auf jeden Fall geht es darum zu illustrieren, dass unsere Begriffe nicht unschuldig sind; sie prägen unsere Wahrnehmungs‐ muster und Denkweisen. Deshalb ist es wichtig, die Begriffswahl zu reflektieren. Noch eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang: Ähnliches wie das, was sich zu „Gastarbeiterkind“ oder „Schüler mit Migrationshintergrund“ anmerken lässt, gilt auch für den ebenfalls sehr umstrittenen Begriff des „Flüchtlings“. Im Unterschied zum englischen refugee, bei dem sehr viel stärker der Akzent auf refuge, also Zuflucht liegt, und refugee also anders als escapee beinhaltet, dass hier das Zufluchtgewähren, der sichere Ort, in den Blick genommen wird, ist der Begriff des Flüchtlings gleich aus mehreren Gründen, die beispielsweise im Bremer Sprachblog www.sprachlog.de/ 2012/ 12/ 01/ fluechtlinge-und-gefluechte te/ thematisiert werden, problematisch. Zwischenschritt: Schule und Menschrechte Wenn ich im Folgenden ‚Interkulturelle Pädagogik‘ und die hierzulande so ge‐ nannte ‚Flüchtlingskrise‘ versuche in einen Zusammenhang zu bringen, so be‐ ziehe ich mich zunächst, aber nur um mich dann von ihr abzugrenzen, auf Hannah Arendt. Arendt (2001, Kapitel neun) formulierte ihre These vor dem Hintergrund der weitgehenden Alternativlosigkeit des Nationalstaats und pos‐ tulierte, dass jede neue Generation ja erst in die bestehenden Verhältnisse ein‐ geführt und mit diesen vertraut gemacht werden müsse. Aber was heißt Nati‐ onalstaat zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Sicher sind Nationalstaaten noch immer die weitgehend alternativlose Organisationsform menschlicher Gesell‐ schaften. Aber schon bei ‚menschlich‘ fängt die Diskussion an spannend zu werden und bei territorialer Organisation erst recht. Denken wir an aktuelle Debatten zu Transhumanismus oder Posthumanismus, so ist sofort evident, dass zeitgenössische Sozialtheorien nicht nur den Menschen, sondern auch die Mit‐ geschöpfe in den Blick nehmen. Ebenso evident ist, dass die noch gültigen ter‐ ritorialen Demarkationen keinen dauerhaften Bestand haben werden. Bürger- und Menschenrechte sind zu rekonfigurieren und zwar im Horizont vulnerabler 27 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ Geschöpfe auf einem vulnerablen Planeten. Daher soll in den folgenden Aus‐ führungen die Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus, zwi‐ schen genereller und konkreter Inanspruchnahme zum Gegenstand gemacht werden. Ins Pädagogische übersetzt bedeutet dies, dass in der Rede über die Flüchtlingskrise zwei unterschiedliche und traditionsreiche Bildungsdiskurse angesprochen sind, ohne als solche kenntlich gemacht zu werden: die Men‐ schenbildung oder vielleicht auch Menschenerziehung und die Bürgerbildung oder Bürgererziehung. Es ist nicht uninteressant, dass die Pädagogik der euro‐ päischen Aufklärung diese Differenz thematisierte, ohne sie lösen zu können und dass sie in der Folge immer mehr verwischte und uns bis heute etwas hilflos macht. Eines der Urdokumente dieses Spannungsverhältnisses ist Rousseaus Erzie‐ hungsroman „Emile“, den er nicht zufällig im gleichen Jahr veröffentlichte wie seinen „Contrat Social“. In „Emile“ geht es genau darum: Wie kann die Erziehung zum Menschen gesichert werden, ohne durch die Erziehung zum Bürger über‐ lagert und sozusagen vereinnahmt zu werden? Rousseau muss daher eine künst‐ liche pädagogische Situation schaffen, um seine Dreiteilung, dass der Mensch durch die Natur, die Dinge und andere Menschen erzogen wird, zu verdeutli‐ chen. Dabei richtet er aber seine Menschenerziehung, die nach seiner Vorstel‐ lung der Bürgererziehung vorausgehen muss, an einem durchschnittlichen Kind aus. Er konstruiert für seine Pädagogik einen Knaben, der modern gesprochen, in der Mitte der Gaus’schen Normalverteilungskurve angesiedelt ist: ein nor‐ males Kind. An diesem normalen, vernunftbegabten, aber eben noch nicht ver‐ nünftig handeln könnenden Kind richtet sich die gesamte moderne Pädagogik aus und entwickelt im deutschsprachigen Raum für die diesen Vorstellungen nicht entsprechenden Kinder eine Sonderpädagogik, die erst im Zuge der jüngsten Inklusionsdebatten infrage gestellt wurde. Diese Kritik kommt, auch dies ist kaum ein Zufall, aus der Menschenrechtsdiskussion und wurde promi‐ nent von der UNESCO vorangetrieben, als derjenigen Unterorganisation der Vereinten Nationen, die sich unter anderem mit Bildungsfragen befasst. Warum erwähne ich diesen Zusammenhang? Bei der Relektüre von John Rawls Theorie der Gerechtigkeit stolperte ich nochmals über seine Urszene der Gerechtigkeit als Fairness. Ich darf aus der Übersetzung zitieren: in der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher ge‐ schichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als ein primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefaßt, die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaften 28 S. Karin Amos dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vor‐ stellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter dem Schleier des Nichtwissens fest‐ gelegt. (Rawl 2000: 29) Hier soll es gar nicht um die Fragen von Gerechtigkeit und Menschenrechten im Einzelnen gehen, sondern um die Einsicht, dass dieser Strang, der in der Pädagogik der Aufklärung aufschien, um dann gleich wieder verwischt zu werden (siehe Rousseau), nie systematisch weiterentwickelt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Frage nach der Menschenbildung nicht unabhängig von kon‐ kreten gesellschaftlichen Bedingungen behandelt wurde, Menschenbildung und Bürgerbildung also immer zusammengedacht sind. Hannah Arendt hat dies ein‐ drücklich ebenfalls mit Blick auf Flucht und Vertreibung auf den Punkt gebracht: Es gibt keinen schlimmeren Zustand, als nicht gewollt zu sein, nirgendwo Auf‐ nahme zu finden. Nicht nur, nicht dahin zurück zu können, wo man herkommt, ist tragisch, sondern auch nirgends sonst anzukommen. Es wundert daher nicht, dass Arendt Menschenrechte nicht jenseits von Bürgerrechten dachte, und so ist es bis heute. Mit unserem Insistieren auf Differenzen, der Betonung ver‐ nünftiger Subjekte mit eigenen Zielen, haben wir den Zustand der Fairness übergangen. Die Menschenbildung geht, so finden wir es bei Humboldt, von einem Menschheitsideal aus, dem Ausdruck zu verleihen jedem Menschen als Aufgabe gestellt ist. Wie wir einander als Menschen zu begegnen, uns zu ver‐ halten haben, was unser Menschsein ausmacht; wie wir einander als Menschen erkennen usw., sind Fragen, die in diese Richtung gehen. Dies sind, ganz im Sinne Rawls oder auch der Naturrechtstheoretiker, vorgesellschaftliche Fragen, Fragen, die jenseits kontingenter Ordnungen gestellt sind, sondern die sozu‐ sagen den Urgrund unserer Erfahrungen als verletzliche und endliche Wesen ausmachen. Die Kritik, es handele sich bei den Menschenrechten eben letztlich doch um historisch und kulturell situierte Artikulationen (europäischer) Vor‐ stellungen, ist zwar berechtigt, sollte aber nicht dazu führen, dass wir den kei‐ nesfalls einzigartigen Grundgedanken aufgeben: nämlich das Menschsein an sich zu denken, ohne die Signifikanz von Differenzen. Und daran knüpft sich nun die alles entscheidende Frage an, auf die uns die aktuelle ‚refugee crisis‘ verweist: Können wir Mensch differenzlos denken, haben wir einen Diskurs entwickelt, der es zulässt, Menschen jenseits der gesellschaftlich relevanten Differenzlinien zu denken? 29 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ Migration und wie Schule mit ihr umgeht Sowohl die Theorie der Schule als auch die Interkulturelle Pädagogik sind Arenen, in denen gesellschaftliche Kämpfe ausgetragen werden. Die Schule ist traditionell eher auf Homogenität ausgerichtet und soll nun mit Vielfalt um‐ gehen, ohne die Vielfalt in einer Einfalt aufgehen zu lassen. Was Schule genau zu tun habe, wie sie mit Vielfalt umgehen solle, markiert den Schauplatz zahl‐ reicher Auseinandersetzungen, an denen neben der Pädagogik auch die Politik und die Medien maßgeblich beteiligt sind. Es wundert folglich nicht, dass die Beantwortung der Frage, warum Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund noch immer oft auf der Strecke bleiben und von der Schule in ihren Möglich‐ keiten nicht hinreichend gefördert werden, sehr unterschiedlich beantwortet wird. Sehr oft ist die Perspektive die einer mangelnden Passung: einer man‐ gelnden Passung zwischen dem, was das Herkunftsmilieu für die Kinder tun will oder tun kann; und spiegelbildlich dazu: einer Ausrichtung der Schule an Vor‐ stellungen von Normalität oder an den Werten und Normen der Mittelklasse. In diesem Zusammenhang zu nennen wäre beispielsweise der Ansatz der kultu‐ rellen Reproduktion, der mit dem Namen Pierre Bourdieu verbunden ist. Dieser, wie andere Reproduktionstheorien, geht davon aus, dass die Schule gesell‐ schaftliche Machtverhältnisse nicht nur spiegelt, sondern auch aktiv hervor‐ bringt. Im Falle der kulturellen Reproduktionstheorie Bourdieus wäre der Ha‐ bitus der Mittelklasse der maßgebliche Bezugspunkt, an dem sich das Handeln der Lehrerinnen und Lehrer ausrichtet. Kinder aus Arbeiterfamilien oder aus depravierten Familien, so die These, bringen keine der Kapitalformen mit, die in der Schule geschätzt werden: weder kulturelles noch soziales noch symbo‐ lisches Kapital. Sie tun sich daher mit den schulischen Anforderungen eher schwer. Eine ähnliche Sichtweise findet sich in den soziolinguistischen Studien der sechziger und siebziger Jahre. Auch diese Studien gehen davon aus, dass die Schule eine andere Sprachform erwartet oder voraussetzt als die von den Kin‐ dern in ihren Familien praktizierte. Unter anderem arbeiten diese Studien mit der mit dem Namen Basil Bernstein verbundenen Unterscheidung in den so genannten elaborierten und restringierten Sprachcode. Ganz anders dagegen der Ansatz der institutionellen Diskriminierung, der mit den Namen Frank-Olaf Radtke und Mechtild Gomolla (2009) verbunden ist. Der Kern der Argumentation ist, dass durch das Routinehandeln der Organisa‐ tion Diskriminierungen erfolgen - ohne eine wie auch immer geartete Absicht. Um zu verdeutlichen, dass Diskriminierungen relativ beliebig sind, nennen die AutorInnen das Beispiel des Schicksals der Katholischen Arbeitertochter vom Lande. Dies war eine soziologische Kunstfigur der sechziger Jahre und galt als 30 S. Karin Amos Inbegriff der Bildungsbenachteiligung. Sie war weiblich, weil Mädchen auf‐ grund der noch vorherrschenden Vorstellung des männlichen Ernährers als we‐ niger in ihren Bildungsaspirationen zu unterstützen galten als Jungs. Dies wurde verstärkt durch den eher mit konservativen Wertvorstellungen assoziierten Ka‐ tholizismus. Hinzu kam die soziale Herkunft in den unteren sozialen Schichten (Arbeiterkind). Diese galten und gelten noch immer, das ist konstant geblieben, als bildungsfern und wenig geeignet, Kinder, gleich welchen Geschlechts, auf höheren Bildungswegen zu unterstützen. Ländliche Regionen, im Unterschied zur Stadt, waren in den sechziger Jahren noch deutlich schlechter versorgt mit weiterführenden Schulen, eine Bildungsungerechtigkeit ergab sich also allein schon durch den Wohnort. Nun wäre die heutige Kunstfigur eher der muslimi‐ sche Arbeiterjunge aus dem sozial benachteiligten Viertel der Großstadt. Daran sieht man, dass sich fast alle „Markierungen“ oder „Differenzlinien“ geändert haben, außer der sozialen Herkunft. Für Frank-Olaf Radtke und Mechtild Go‐ molla sind dies klare Indizien dafür, dass die Diskriminierungen nicht erfolgen, weil die Lehrerinnen und Lehrer xenophob oder rassistisch sind, sondern nur aufgrund der Handlungsroutinen der Organisation Schule - schließlich sind die Mädchen nicht auf einmal klüger geworden, sie haben keine großräumigen Fördermaßnahmen erfahren; vielmehr hat nur die Schule ihre Routine verändert und andere Entscheidungen getroffen. Mit der Bildungsexpansion einher ging die Suche nach bisher unausgeschöpften „Bildungsreserven“ - und die fand man unter anderem in den Mädchen. Im letzten Teil des Beitrags werden diese un‐ terschiedlichen Zugänge nochmals kommentiert. Allerdings sollen zunächst Beispiele aus ethnographischer Perspektive angeführt werden, welche den Ge‐ danken des Titels des Beitrags aufnehmen: Othering „Other People’s Children“. Othering „Other People’s Children“ „Other People’s Children“ lautete der Titel einer ethnographischen Studie von Lisa Delpit aus dem Jahre 1995. Im Untertitel: „Cultural Conflict in the Class‐ room“. In einer Rezension ihres Buches in der Harvard Educational Review wird vor allem hervorgehoben, dass sich Lisa Delpit einer wichtigen, aber oft vermie‐ denen Frage stelle, nämlich wie die gesellschaftlichen Machtungleichgewichte Resonanz im schulischen Unterricht fänden. Durch aussagestarke Gespräche, heißt es dort weiter, die Delpit mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie mit Eltern unterschiedlichen sozialer und kultureller Hintergründe geführt habe, sei es ihr gelungen zu zeigen, wie ‚aufgeladen‘ die alltäglichen Interaktionen sind mit negativen Zuschreibungen und spekulativen Annahmen hinsichtlich der Fä‐ 31 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ higkeiten, der Motivationen und Interessen, aber auch der persönlichen Integ‐ rität von sozial benachteiligten und farbigen Kindern. In der Tat zeugen viele der von Delpit beschrieben Szenen von den Alltags‐ theorien, die in der Kreuzung von medialer Darstellung, Politik und Pädagogik entstehen und sich oft unreflektiert verbreiten. Die Vignetten, die in verdich‐ teter Form die Missverständnisse und unbegründeten Attributionen schildern, die täglich in den Klassenzimmern zu beobachten sind, sehen etwa so aus: Kann ein Kind mit dunkler Hautfarbe, dessen Familie offensichtlich Empfängerin wohlfahrtsstaatlicher Zuwendungen ist, die Schere bei einer Bastelarbeit nicht so halten, wie es die Entwicklung der Feinmotorik nach dem Lehrbuch vorsieht, führt das schnell zu Spekulationen, die aber nicht als solche zu erkennen ge‐ geben, sondern als sicheres Faktenwissen präsentiert werden. So wird be‐ hauptet, die nicht entwickelte Fähigkeit sei auf schlechte Familienverhältnisse zurückzuführen, auf unübersichtliche Verwandtschaftsbeziehungen und auf mangelnde Förderung der kindlichen Entwicklung. Ganz ähnlich eine andere Szene: ein kleiner ‚schwarzer‘ Junge (ca. fünf Jahre alt) gibt einem kleinen ‚weißen‘ Mädchen einen enthusiastischen Bear Hug, eine große mit Verve aus‐ geführte Umarmung. Diese Szene bietet ebenfalls Anlass zu Spekulationen hin‐ sichtlich des unterstellten promiskuösen Lebens der Mutter, welches, so ver‐ muten die Lehrerinnen / Erzieherinnen, dazu führt, dass der Junge schon sehr früh und für sein Alter bei weitem zu früh unangemessene Sexphantasien aus‐ leben wolle. Solche Zurechnungen und Stereotype sind auch im deutschen pä‐ dagogischen Diskurs anzutreffen. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhun‐ dert habe man von sittlicher Verwahrlosung gesprochen, wobei sich die Zuschreibungen um andere Differenzmerkmale angelagert hätten. Nicht Haut‐ farbe, sondern Armut sei das Distinktionsmerkmal gewesen, aber die Logik der ‚Rettungsanstalten‘ war diesen bürgerlich-protestantischen Askriptionen nicht unähnlich. Wobei sich die „Rettung“ eher auf Jugendliche bezog und nicht auf die unterstellte sittliche Verwahrlosung Fünfjähriger. Es ist von diesen wenigen Beispielen her betrachtet klar, dass es sich um Othering-Prozesse handelt, also um solche Zuschreibungen, die Kinder, die nicht den gesellschaftlichen Normal- und Normalitätserwartungen entsprechen, zu ‚anderen‘ machen. Dieses Othering kann sich an sehr viele Differenzmerkmale anlagern: an Hautfarbe, soziale Herkunft, Geschlecht. Diese Zuschreibungen lassen sich mit schulisch relevanten Kontexten in Beziehung setzen: mit erwar‐ teter familialer Unterstützungskultur zur Bewältigung der schulischen Anfor‐ derungen, mit Bildungsorientierung, mit allen Praktiken, die schulischerseits herangezogen werden können, um Bildungserfolg und Bildungsteilhabe zu plausibilisieren. Folglich ist eines der wesentlichen Themen, das zum Lackmus‐ 32 S. Karin Amos test für Unterstützungswilligkeit avanciert, die Frage nach der Integration. Die Migrierten und Geflüchteten sollen möglichst schnell und umfassend mit un‐ serer Kultur, oft als christlich abendländisch bezeichnet, vertraut gemacht werden und sich, das ist der meist unausgesprochene, aber doch deutlich un‐ terlegte Wunsch, mit unseren Werten und Normen identifizieren, um damit, so ließe sich der Gedanke weiterführen, Othering-Prozesse zu vermeiden oder zu‐ mindest zu mildern. Dass die Wertedebatte selbst eine problematische Ge‐ schichte hat, dass die Frage, auf welche „Werte“ wer antwortet, letztlich der Kontingenz geschuldet ist, mit der sich Gesellschaften, die auf transzendentale Verankerung, auf ihre Begründung in einer wie auch immer gearteten jensei‐ tigen Verortung verzichten, herumschlagen müssen, bleibt dabei oft ausge‐ blendet. Werte sind mitnichten unverhandelbar und dauerhaft festgeschrieben: Es handelt sich vielmehr um Konventionen, die permanent hinterfragt und neu verhandelt werden müssen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche und ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler „Flucht“ und „Vertreibung“ lassen sich als Sonderfälle von Migration be‐ schreiben, man kann aber auch umgekehrt sagen, dass Flucht und Vertreibung nochmals auf die Problematik verweisen, in vereinheitlichendem Gestus über Migration zu reden. Kinder und Jugendliche mit so genanntem Fluchthinter‐ grund fordern Schule, aber auch die Pädagogik als Wissenschaft sichtbarer als andere Gruppen an zwei Fronten heraus: Die eine ist ihre oft unglaubliche Leis‐ tungsbereitschaft und ihr Wille und ihre Einsatzbereitschaft, es zu schaffen. Und tatsächlich schaffen es viele auch, erstaunlich schnell, allen Belastungen zum Trotz. Es überrascht nicht, dass dies in den meisten Fällen die Kinder sind, die aus bildungsnahen Familien kommen. Auch wenn die Familie nicht direkt un‐ terstützen kann, so vermittelt sie doch die Haltung und verfügt über kulturelles Kapital. Auch wenn die Bildungsabschlüsse der Erziehungsberechtigten viel‐ leicht nicht immer anerkannt werden, ist die Bedeutung des inkorporierten kulturellen Kapitals nicht zu unterschätzen. Im Lichte der oben genannten Theorien zur kulturellen Reproduktion und institutionellen Diskriminierung lässt sich erklären, warum dies so ist. Diese Kinder und Jugendliche „passen“, sie sind bereit und fähig Leistungen zu erbringen, verfügen über eine hohe Mo‐ tivation und Bildungsaspirationen, sie sind Hoffnungsträger für die Beseitigung des Fachkräftemangels, einige von ihnen werden Teil der wissenschaftlichen Elite von morgen sein. Diese Kinder bestätigen das kollektive soziale Image, das in der Schule transportiert wird, und sind weniger von Othering-Prozessen be‐ 33 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ troffen. Diese Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung irritieren das System nicht; in sie zu investieren, verspricht hohe „rates of return“. Auch für die Lehr‐ kräfte sind diese Kinder und Jugendliche nur sehr bedingt „other people’s children“; es ist nicht schwer, aus ihnen gleichberechtigte „Landeskinder“ zu machen, wie es unser föderales System vorsieht. Mit Hannah Arendt gespro‐ chen, sind diese Kinder gesellschaftlich gewollt. Gleichzeitig stehen sie nicht für das Menschsein an sich, sondern für das differenzierte Menschsein: nicht Vul‐ nerabilität, sondern Selbstvertrauen und der Glaube an die Selbstwirksamkeit zeichnen sie aus. Hinzu kommt, dass sie, im Unterschied zu den Arbeitsmi‐ granten der sechziger und siebziger Jahre und deren Kindern und Kindeskin‐ dern, mit keiner kollektiven Erzählung des Defizits und der (Selbst)Ab- und Ausgrenzung belastet sind, ihnen wird keine Geschichte zugeschrieben, sie be‐ ginnen vielmehr gleichsam „tabula rasa“. Die Flucht hat eine Zäsur in ihren Lebensweg gesetzt, aber das gibt ihnen gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Anfangs, macht sie zu Pionieren, die sich den Lebensweg nun selbst fort‐ schreiben müssen. Selbstverständlich werden hier viele Projektionen deutlich, aber es sind zumeist positive, die sich um den schulischen Erfolg unter er‐ schwerten Bedingungen anlagern. Gelingt es hingegen nicht, relativ rasch an das Leistungsniveau der Regel‐ klassen anzuschließen, sind Kinder und Jugendliche traumatisiert, sind ihre Fa‐ milien so belastet, dass sie sich nicht einlassen können auf den schulischen Alltag in der neuen Umgebung, tut sich das Schulsystem deutlich schwerer mit den Geflüchteten. Wenn die Kinder und Jugendliche vielleicht weniger Eigen‐ initiative und Motivation zeigen, wenn sie mehr Ressourcen fordern als die Schulen bereit oder fähig sind zu geben, hat die Schule wesentlicher seltener Konzepte zur Verfügung, um die Kinder und Jugendlichen anders als primär in kognitiver Hinsicht anzusprechen. Die Integrationsvorbehalte seitens der Auf‐ nahmegesellschaft sind größer, die Skepsis, ob diese Kinder und Jugendliche einen produktiven Beitrag leisten werden, ist höher usw. In gewisser Hinsicht wiederholt sich hier, was aus dem Bildungsteilhabestudien nur zu bekannt ist: Nicht nur Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Herkunftsfamilien tun sich schwer mit der Schule, die Schule tut sich auch schwer mit ihnen. Dies sind die Kinder, deren Potenziale oft erst gar nicht er‐ kannt werden, weil man es ihnen doch nicht zutraut. Wenn diese grundsätzliche Wahrnehmung dann noch auf eine rigide Einstellung trifft, die Begabung als erblich betrachtet und folglich Misserfolg quasi genetisch zurechnet, wird das Scheitern schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Hinzu kommt ein Drittes: so unterschiedlich beide Gruppen sind, sie verweisen durch die Tatsache der Flucht- und Vertreibungserfahrung auf das ungelöste Problem der Menschen‐ 34 S. Karin Amos rechte und der Menschenrechtserziehung. Denn das Gewolltsein der einen und das potentielle Nichtgewünschtsein der anderen bezieht sich auf die Dimension der antizipierten bürgerlichen Teilhabe, nicht auf das rein Menschliche. Dies zu denken, ist nach wie vor ein Problem. So holzschnittartig diese Darstellung auch ist, so kann sie illustrieren, dass es nicht die Frage der Flucht an sich ist, die über die schulische Integration entscheidet, sondern das Zusammenkommen oder Auseinanderdriften von Vorstellungen, Erwartungen, Bereitschaften sowohl seitens der geflüchteten Kinder und Jugendlichen und ihren Familien als auch des Schulsystems und seines Personals. In anderen Worten: Am Ende des Tages wird in diesen nervösen Zeiten viel daran entschieden werden, wie es den jungen Zugewanderten gelingt, zu ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler zu finden bzw. wie sie darin unterstützt werden. Gelingt ihnen dies nicht oder werden sie darin nicht unterstützt, dann liegt es nahe, dass Othering-Prozesse aus Kindern und Jugendlichen „other people’s children“ machen. Für eine verstärkte Verständigung von Wissenschaft und Praxis Dieser abschließende Teil möchte in einem kurzen Ausblick für die notwendigen Gespräche zwischen Praxis und Wissenschaft werben - in der Frage des schu‐ lischen Umgangs mit Flucht und Vertreibung, aber auch darüber hinaus. Zum einen kann die Wissenschaft darüber aufklären, wie Sprache Wahrnehmungen präformiert. So gibt es einen fest etablierten Diskurs, dass Kinder und Jugend‐ liche mit Migrationshintergrund eher zur Gruppe der „Risikoschüler“ zählen, und ein Teil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen wird schnell unter diese Gruppe subsumiert. Zum anderen kann die Praxis aber auch korrigierend ein‐ wenden, dass es nicht unwichtig ist zu bestimmen, mit welchen Phänomenen man es zu tun hat und in welcher Beziehung diese stehen. Dieser Frage sollte sich die Wissenschaft stellen, sie epistemologisch und ontologisch ernst nehmen und nicht nur auf die Bedeutung von Redeweisen und Semantiken verweisen. Jenseits dieses grundsätzlichen Dialogs zwischen Erziehungswissenschaft und schulischer Praxis offenbart gerade der Umgang mit Geflüchteten noch ein ganz elementares Problem und aktualisiert die alte Frage nach dem Verhältnis von Menschenbildung und Bürgerbildung. Eine globale Pädagogik müsste aber genau diese Frage stellen. Darum ist es unbedingt notwendig, die Zwänge, aber auch die Visionen von Schule zu bedenken und dabei die alte vernachlässigte Frage nach den Menschenrechten wieder einzubeziehen - und zwar nicht in Form von Menschenrechtserziehung, sondern als Erziehung zum Menschen. Hierfür ist es notwendig, die unterschiedlichen Traditionen, Zugänge, aber auch Sackgassen der Menschenrechtsdiskussion aufzuarbeiten und kritisch daran 35 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ anzuschließen. Ein guterAusgangspunkt sind die Thesen von Hannah Arendt, gerade weil ihre Argumentation provokativ und zugespitzt ist und weil sie überzeugend gezeigt hat, dass historisch zu den tradierten Fundierungen im Naturrecht oder einem Glauben an das Göttliche für moderne Gesellschaften kein Weg zurückführt. Der schulische Umgang mit den Menschenrechten hat aber entscheidende Folgen, denn nach Arendt sind die Menschenrechte vor allem eine Frage der Praxis und nicht der Theorie. Wie wir zusammenleben, wie wir einander behandeln und einander begegnen, ist von elementarer Bedeutung und in Zeiten globaler Verstrickungen und globalen „Aufeinanderangewiesen‐ seins“ entscheidet sich viel daran, wie wir mit geflüchteten jungen Menschen in der Schule umgehen. Literatur Arendt, Hannah (2001). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Im‐ perialismus, Totalitarismus. München: Pieper Verlag. Boli, John / F. O. Ramirez / J. W. 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Interkulturelle Bildung. Eine Einführung (Lernen für Europa, Bd. 19). Münster: Waxmann. Mecheril, Paul (2002). ‚Natio-kulturelle Mitgliedschaft - ein Begriff und die Methode seiner Generierung‘. Tertium comparationis 8(2), 104-115. Meyer, John W. / John Boli / George Thomas / F. O. Ramirez (1997). ‚World Society and the Nation‐State‘. American Journal of Sociology, 103(1), 144-181. Ramirez, Francisco O. / John Boli (1987). ‚The Political Construction of Mass Schooling: European Origins and Worldwide Institutionalization‘. Sociology of Education, 60(1), 2-17. Rawls, John (2000). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 36 S. Karin Amos Sloterdijik, Peter (2004). Sphären. Drei Bände. Blasen. Globen. Schäume. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 37 Othering „Other People’s children“ - Schule und „kulturelle Differenz“ 1 Für wertvolle Unterstützung bei der Überarbeitung des Vortragsmanuskripts, das diesem Beitrag zugrunde liegt, danke ich Jule Janczyk und Linnéa Hofmann. Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren 1 Markus Rieger-Ladich Immanuel Kant steht vor dem Giftschrank Auch wenn Immanuel Kant heute seinen Ruhm insbesondere den drei großen Kritiken verdankt, beruhte seine Popularität in Königsberg doch kaum weniger auf zwei Vorlesungen, die er alternierend anbot - er las regelmäßig Geographie und Anthropologie sowie Pädagogik. Seine Vorlesung zur Anthropologie, die er erstmals 1772/ 73 hielt, trug den heute etwas kryptisch klingenden Titel „Anth‐ ropologie in pragmatischer Hinsicht“. Das erste Buch dieser Vorlesung behan‐ delt das Erkenntnisvermögen und erschließt sich sehr viel leichter als etwa die berühmte Kritik der reinen Vernunft. Paragraph 1 verhandelt das „Bewußtsein seiner selbst“ und wendet sich dem Kind zu. Kant interessiert sich hier für die besondere Fähigkeit, in der ersten Person Singular zu sprechen. Der Text beginnt wie folgt: „Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zu‐ rückkehrt. - Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst“ (Kant 1799/ 1983: 37). Kant konstatiert hier also eine „Merkwürdigkeit“: Als erklärungsbedürftig gilt ihm das Auseinanderklaffen von Sprachentwicklung und Selbstbewusstsein; er stellt eine gewisse Verzögerung fest: Obwohl das Kind viele seiner Bedürfnisse bereits sprachlich artikulieren könne, vollziehe sich die Entwicklung seines Selbstbewusstseins doch eigentümlich retardiert. Sie hält nicht ganz Schritt mit der sprachlichen Entwicklung. Karl oder Paula können zwar ihre Anliegen for‐ mulieren, ihre Wünsche zum Ausdruck bringen; sie können auch Dinge be‐ werten und kommentieren, aber zunächst eben nur, indem sie von sich in der dritten Person sprechen. Das klingt, als existiere hier ein gewisser Abstand zur eigenen Person. Wenn Paula sagt, dass Paula nun auch mit der Carrera-Bahn spielen wolle (und Karl endlich die Finger davon lassen solle), wissen zwar alle Beteiligten, wovon sie spricht, und verstehen ihr Anliegen, aber grammatika‐ lisch ist es zweifellos falsch. Im Paragraph 2 hält Kant das besondere Ereignis fest, das im Prozess der Individuierung der Wechsel von der 3. zur 1. Person Singular darstellt: „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein […]“ (Kant 1799/ 1983: 38). Hier wird nun nicht nur der Grammatik Genüge getan, hier kommt auch - so Kant - noch etwas anderes zum Ausdruck. Wir erhalten auf diese Weise Einsicht in den Menschen und in das, was ihn von anderen Wesen unterscheidet: Greift der Mensch auf die 1. Person Singular zurück, zeigt sich darin eben auch ein be‐ sonderes Selbstverhältnis. Diese Rede vom Ich ist nicht nur grammatikalisch korrekt, sie wirft auch ein Licht darauf, welcher Art unser Selbstverhältnis ist: Das „geliebte Selbst“ wird nun zum „Vorschein“ gebracht, wann immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Das Selbstverhältnis des Menschen ist also fraglos af‐ fektiv besetzt. Wir Menschen, so lässt sich Kant interpretieren, stehen unserem Selbst nicht indifferent gegenüber; wir lieben es. Und sind nicht wenig stolz da‐ rauf; daher zeigen wir es - bei jeder passenden (und auch bei vielen unpas‐ senden) Gelegenheit(en). Bevor ich mich erneut Kant zuwende, möchte ich zunächst daran erinnern, dass die Ontogenese eine riskante Angelegenheit ist. Die Herausbildung eines belastbaren Selbstverhältnisses, das Operieren mit stabilen Identitäten und die sichere Unterscheidung von 1. und 3. Person Singular sind beileibe keine Trivi‐ alitäten. Sie müssen vielmehr als überaus störanfällige Prozesse gelten. So ist der Weg vom Neugeborenen zu einem Kleinkind gefährlich und kennt keinerlei Garantieren, denn am Anfang der Ich-Werdung steht das Du. Das Gegenüber, das sich uns zuwendet, wird auf diese Weise zum zweiten Geburtshelfer. So hat auch der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma (2008) in einer erhel‐ lenden Freud-Lektüre an das Ausgeliefertsein des Neugeborenen erinnert: „Die Welt ist nichts, was mich automatisch versorgt, noch bevor ich Schmerzen leide, sondern zuerst leide ich, schreie, und dann habe ich vielleicht Glück und werde wieder satt. Glück muss man auch haben, denn das langsam zum Ich werdende Menschen‐ wesen kann für sich nichts tun. Es ist ausgeliefert. Dieses Gefühl begleitet die Ich-Wer‐ 40 Markus Rieger-Ladich dung und bleibt als abrufbares Befindlichkeitspotential vorhanden“ (Reemtsma 2008: 105; Herv. durch Markus Rieger-Ladich). Dies ist präzise formuliert und ruft durchaus unangenehme Tatsachen in Erin‐ nerung. Das Neugeborene ist auf elementare Weise verletzbar; es ist der Welt ausgeliefert. Es betritt als sog. „Mängelwesen“ (Gehlen) die Bühne der Welt und ist in kaum zu überbietender Weise darauf angewiesen, dass ein anderer - ein Du - sich seiner annimmt. Das Ich, auf das wir nach Kant doch gemeinhin so stolz sind, verdankt sich eben nicht unserer eigenen Anstrengung. Weder das Ich noch das Selbstverhältnis können daher als Trophäe gelten, als Ergebnis intensiver Bemühungen, vielmehr verdankt sich die Ich-Werdung der Zuwen‐ dung anderer - und eben nicht eigenen Anstrengungen (vgl. Arendt 1981; Meyer-Drawe 2000). Auf diese Facette der conditio humana hat auch die politische Philosophin Judith Butler hingewiesen. Sie erinnert in ihrem Buch Gefährdetes Leben (2005) an unsere elementare Verletzbarkeit und spricht davon, dass die „Ausbildung des Ichs“ stets auf die „Quelle dieser Verletzbarkeit“ verweise: „Dies ist eine Voraussetzung, eine Bedingung des Lebens, die von Anfang an auf der Hand liegt, über die wir nicht streiten können.“ (Butler 2005: 48) Wir verdanken uns also nicht uns selbst; das Ich verdankt sich dem Du. Es verdankt sich damit einer anderen Person, die sich uns zuwendet, die auf unsere elementare Ausgeliefert‐ heit reagiert, die um unsere Verletzbarkeit weiß - und geeignete Maßnahmen ergreift: eine Decke bereithält und entsprechende Kleidung, den Wechsel von hell und dunkel arrangiert, die Temperatur reguliert u. a. m. Und damit zurück zu Kant und dessen Anthropologie. Ich zitiere den Anfang von Paragraph 2, von dem ich schon die erste Zeile genannt hatte, nun voll‐ ständig. Hier heißt es: „Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism anderer), doch verdeckt […]“ (Kant 1799/ 1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich). Wir sind also - so könnte man dies paraphrasieren - zunächst kleine Egoisten; und die einzige Grenze des Egoismus‘ besteht darin, dass kleine Egoisten fort‐ während auf andere kleine Egoisten treffen. Etwa in einer Kindertagesstätte oder in der Schule. Karl wähnt sich zwar im Mittelpunkt des Geschehens, er hat gelernt Ich zu sagen und artikuliert fortwährend seine Anliegen und Bedürf‐ nisse; in der Familie, in der er aufwächst, wird ihm dieser Status womöglich auch eingeräumt. Vielleicht steht er hier tatsächlich im Zentrum des Geschehens und absorbiert die Aufmerksamkeit aller Beteiligten. Freilich - sobald er eine Bil‐ 41 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren dungseinrichtung betritt, trifft er auf andere vernunftbegabte Zweibeiner, auf andere kleine Egoisten, die es ihrerseits gelernt haben, Ich zu sagen und die ebenfalls lauthals ihre Interessen artikulieren. Kant unterscheidet nun drei Formen des Egoismus: Es gibt ihn demnach in logischer, ästhetischer und in praktischer Hinsicht. Von besonderem Interesse ist hier der moralische Egoist. Kant charakterisiert ihn wie folgt: „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt […].“ Das ist für Kant, den Vertreter einer rigorosen Pflichtethik, höchst unbefriedigend. Wie lässt sich nun dieser Neigung, diesem tief verwurzelten Egoismus begegnen? Wie lässt sich - psychoanalytisch gesprochen (vgl. Freud 1924) - auf den Narzissmus reagieren? Kant macht hier einen sehr bedenkenswerten Vorschlag: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltenbürger zu betrachten und zu verhalten“ (Kant 1799/ 1983: 38; Herv. durch Markus Rieger-Ladich). Kant, so wird hier deutlich, hatte bereits ein feines Gespür für die Versuchung des Narzissmus, die derzeit wieder intensiv diskutiert wird (vgl. Dombek 2016). Unter der Überschrift des Egoism verzeichnet er zunächst den stillen Jubel, mit dem wir den Wechsel von der Rede der 3. Person Singular zur 1. Person Singular vollziehen. Dieser Wechsel gilt auch Kant als eine große Errungenschaft. Aber er weiß schon um die Abgründe des Egoismus; er sucht bereits nach einem Gegengift - und sieht dies im Pluralismus, den wir in uns ausbilden sollten. Der Aufklärer aus Königsberg setzt an dieser Stelle nicht zu tiefgreifenden syste‐ matischen Ausführungen an; so verlangt es auch keinen größeren interpreta‐ torischen Aufwand, das Verhältnis von Egoismus und Pluralismus etwas näher zu bestimmen. Vorgängig ist der Egoism; er scheint für Kant zur natürlichen Ausstattung des Menschen zu zählen. Und obwohl wir das Ich als Instanz am wenigstens uns selbst verdanken, pflegen wir doch ein affektiv besetztes Ver‐ hältnis zu unserem Selbst. Weil dieser Egoismus in der Gefahr steht, fortwährend zu wachsen, ist er auf eine gegenläufige Kraft angewiesen. Der kantsche Egoism muss also in eine Balance gebracht werden - und eben dies geschieht durch die Ausbildung dessen, was er den Pluralism nennt. Erst wenn beide hinreichend stark ausgeprägt sind, nimmt die Ich-Entwicklung jene Form an, die auch den Ethiker Kant überzeugt. 42 Markus Rieger-Ladich 2 Vgl. hierzu etwa das Themenheft der Zeitschrift für Pädagogik 2009 und den Band der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie „Das Pädagogische und das Politi‐ sche“: Rita Casale/ Hans-Christoph Koller/ Norbert Ricken (Hrsg.) (2016). Slavoj Žižek sucht radikale Erfahrungen Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass sich diese eigentümliche Doppelbe‐ wegung begrifflich auch als Bildung fassen lässt. Ich lese mithin Kant so, dass er zwei gegenläufige Bewegungen identifiziert und diese aufeinander bezieht: Er kennt eine Bewegung der Zentrierung, die zu einem stabilen, identifizier‐ baren Ich führt, das über klare Grenzen verfügt. Dieses Ich prägt ein positives Selbstverhältnis aus und wähnt sich als Mittelpunkt der Welt. Weil es sich dabei um eine radikale Täuschung handelt, um ein veritables Missverständnis, um eine Selbstverkennung, darf die Ichwerdung in diesem Stadium nicht als abge‐ schlossen betrachtet werden. Das Ich muss daher den Egoism wenn nicht über‐ schreiten, so doch in sich eine gegenläufige Instanz aufbauen. Eben dieses Ge‐ gengewicht zum Egoism ist der Pluralism. Der Bewegung der Zentrierung korrespondiert daher bei Kant eine Bewegung der Dezentrierung, über die das Ich lernt, sein irriges Selbstverhältnis zu überwinden. Die These, die ich nun zu plausibilisieren suche, lautet: Genau jenes kompli‐ zierte Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen ist geeignet, der Dis‐ kussion um den Bildungsbegriff wichtige Impulse zu verleihen (vgl. Tenorth 1997; Dörpinghaus 2016; Rieger-Ladich 2019). Und nicht nur dies: Sie kann nicht nur die Debatte um den Bildungsbegriff beleben, sondern auch neue Perspek‐ tiven für die politische Bildung eröffnen. Kants Rede von Egoism und Pluralism kann als eine Möglichkeit interpretiert werden, die Politische Bildung neu zu buchstabieren. 2 In der Vergangenheit hat die erste Bewegung - jene der Ich-Ausbildung, der Zentrierung - ungleich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Wir haben zunächst, das hatte der Psychoanalytiker Jacques Lacan (1991) in seinem berühmten Vor‐ trag über das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion ausgeführt, kein ganzes, vollständiges Bild von uns. Dies wird von uns als Mangel erlebt - und so ima‐ ginieren wir jene Ganzheit, die wir schmerzlich vermissen. Wir prägen also ein halbwegs stabiles Selbstverhältnis aus und blenden dabei aus, dass wir unsere Autonomie und Ich-Stärke nur imaginieren, dass wir uns selbst fortwährend betrügen. Aber es ist ein Selbstbetrug, der uns immerhin (einigermaßen) hand‐ lungsfähig werden lässt (vgl. Schäfer 1996; Meyer-Drawe 2000). Allerdings führt dies zu einer Limitierung der Bildungstheorie. Nicht weniger wichtig als die Bewegung der Zentrierung ist daher jene der Dezentrierung. Diese ist freilich bislang kaum zum Gegenstand der Bildungstheorie geworden. 43 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren 3 Vgl. hierzu etwa aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Richard Rortys (2003) erhel‐ lenden Essay über fiktionale Literatur, David Foster Wallaces eindrucksvolle Rede am Kenyon College (2012) und meine Interpretation der TV-Serie Breaking Bad (vgl. Rieger-Ladich 2016). Wir müssen es eben auch lernen, von uns zu abstrahieren; wir müssen uns von der verführerischen Vorstellung lösen, im Zentrum des Geschehens zu stehen, den Mittelpunkt der Welt zu bilden. 3 Diese Vorstellung schmeichelt zwar un‐ serem Narzissmus und bedient unsere Neigung zum Selbstbetrug - und doch sollten wir nicht stehenbleiben, wenn wir von der Ich-Werdung in einem an‐ spruchsvollen Sinne sprechen und die politische Dimension von Bildungsproz‐ essen nicht aus den Augen verlieren wollen (vgl. Bünger / Trautmann 2012). Damit rückt die Erfahrung von Differenz ins Zentrum der Reflexion. Wenn wir den Narzissmus überwinden wollen, den kantschen Egoism, die Liebe zum eigenen Selbst, dann müssen wir uns für jene Kontexte interessieren, in denen das möglich wird. Dabei spricht vieles dafür, sich von einem Denken zu verab‐ schieden, das auf die Logik der Akkumulation vertraut. Wir sollten also nicht länger damit rechnen, dass wir einfach nur unsere Erfahrungen sukzessive er‐ weitern, dass wir uns mit der Pluralität der Welten mehr und mehr vertraut machen (vgl. Koller 2012). Nicht zuletzt Theoretiker*innen, die sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt haben, sprechen davon, dass die Erfah‐ rung von Differenz keine ist, die wir uns suchen und gezielt herbeiführen können. Die Erfahrung von Differenz wird stattdessen als ein Widerfahrnis be‐ schrieben. Die Erfahrung von Alterität stößt uns zu; sie erschüttert und verstört uns. Sie konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir nicht kontrollieren können, die uns - metaphorisch gesprochen - den Boden unter den Füßen wegziehen (vgl. Buck 1984). Es ist dies nun genau jener Typ von Erfahrung, der im Zentrum eines Essays von Slavoj Žižek (2016) steht, der vor einigen Jahren unter dem Titel Wir sind alle sonderbare Irre in der ZEIT erschien. Žižek kommt hier auf einen Typ von Erfahrung zu sprechen, den man als ein Gegenmittel zu unserem tief verwur‐ zelten Narzissmus interpretieren kann. Er schreibt: „Wir ‚sind‘ unsere Lebensform, sie ist unsere zweite Natur, die deshalb auch nicht direkt durch ‚Bildung‘ zu verändern ist. Dafür ist etwas viel Radikaleres vonnöten, eine Art Brechtscher ‚Verfremdung‘, eine tiefe existentielle Erfahrung, durch die uns schlagartig aufgeht, wie albern sinnlos und willkürlich unsere Sitten und Rituale sind - dass nichts natürlich ist daran, wie wir uns umarmen und küssen, wie wir uns waschen, wie wir unsere Mahlzeiten einnehmen“ (Žižek 2016: 35). 44 Markus Rieger-Ladich Wir müssen also zu diesem Zweck Kontingenzerfahrungen machen. Symboli‐ sche Ordnungen müssen von uns als symbolische Ordnung erlebt werden - erst dann büßen sie ihre Macht ein, unsere Lebensform zu stabilisieren und uns gegen unbequeme Anfragen zu immunisieren (vgl. Rieger-Ladich 2017a). Bei Žižek heißt es weiter: „Das Paradox liegt aber darin, dass wir erst diesen Nullpunkt der ‚Entnaturalisierung‘ durchschreiten müssen, wenn wir uns auf den langen und schwierigen Prozess der allgemeinen Solidarität einlassen wollen […]. Wenn wir eine allgemeine Solidarität wollen, müssen wir erst in uns selbst allgemein werden und uns in ein allgemeines Verhältnis zu uns selbst setzen, indem wir Abstand zu unserer eigenen Lebenswelt gewinnen. Dazu bedarf es harter und schmerzlicher Arbeit, nicht nur des sentimentalen Nachsinnens über Migranten als einer neuen Form von Wanderarbeitern, von ‚no‐ madischem Proletariat‘“ (Žižek 2016: 35; Herv. durch Markus Rieger-Ladich). Žižek macht hier deutlich, dass es keine Kleinigkeit ist, sich von der eigenen Lebensform zu lösen. Unsere Lebensform bleibt uns nicht äußerlich; sie wird von uns verkörpert, sie ist identitätsstiftend (vgl. Spranger 1966). Daher sollten wir Erfahrungen von Differenz eben nicht als bloße Erweiterung unserer Er‐ fahrungen begreifen. Die Voraussetzung dafür, den eigenen Narzissmus tat‐ sächlich hinter sich zu lassen und eine universalistische, „allgemeine Solidarität“ zu entwickeln, besteht also darin, das Vertraute möglichst weit hinter sich zu lassen und sich gleichsam von sich selbst loszureißen. Diesen Abstand zu sich zu gewinnen, ist nach Žižek weder eine Spielerei noch ein Vergnügen; es ist vielmehr „harte und schmerzliche Arbeit“. Wir müssen das, was uns bekannt (und wichtig) ist, gleichsam „einklammern“; wir müssen uns von ihm zu lösen suchen. Dies ist nun durchaus nicht so außerordentlich, wie es zunächst vielleicht klingen mag. Jede und jeder von uns kennt diese Erfahrung, von der Žižek spricht. So ist die Erfahrung der Dezentrierung auch nicht das ganz Andere, das sich ereignishaft vollzieht. Es sind nicht zuletzt ästhetische Erfahrungen, die uns dazu verführen (können), uns von dem liebgewonnen Selbstverhältnis zu lösen. Ästhetische Erfahrungen konfrontieren uns mit Alterität, sie lassen uns Diffe‐ renz schmecken; sie vermögen es, eine Drift auszulösen, die uns aus dem Zen‐ trum rückt - und dies, indem sie uns mit anderen sozialen Milieus, mit anderen Grammatiken, mit anderen Erfahrungsräumen vertraut machen (vgl. Rieger-La‐ dich 2014). Ästhetische Zeugnisse verführen uns dazu, von unserem Ich abzu‐ sehen, das Vertraute hinter uns zu lassen - und uns mit anderen Biographien und Lebensläufen, mit anderen Liebesbeziehungen und Formen des Begehrens, mit anderen Schicksalen und Tragödien vertraut zu machen. Wir sind daher 45 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren dringend auf ästhetische Zeugnisse - auf Romane und Comics, auf das Theater und die Oper, auf Kinofilme und TV-Serien - angewiesen, wenn wir das Eigene als das Eigene begreifen wollen, wenn wir das ernsthaft befragen wollen, was uns vertraut ist (und richtig erscheint). Wenn wir also jenen Pluralism in uns ausbilden wollen, von dem Kant spricht, wenn wir jene allgemeine Solidarität entwickeln wollen, von der Žižek spricht, dann besteht eine Möglichkeit darin, sich ganz gezielt ästhetischen Zeugnissen zuzuwenden. Sie betreiben jene Befremdung des Eigenen, auf die wir dringend angewiesen sind. Romane, Filme und TV-Serien sind Agenten der Alterität - und als solche trainieren sie unsere Vorstellungskraft (vgl. Gabriel 2013; Rieger-La‐ dich 2017b). Mit der Inanspruchnahme unserer Vorstellungskraft üben sie zu‐ gleich unsere Fähigkeit des Perspektivenwechsels. Die Identifikation mit fikti‐ onalen Figuren bedient daher nicht notwendig den Eskapismus; sie kann dem Training unsere Fähigkeit der Perspektivenübernahme - und damit der Empa‐ thie - dienen. Der Bewegung der Dezentrierung korrespondiert somit die Ent‐ wicklung unseres Einfühlungsvermögens (vgl. Stein 1917). Wir müssen, so scheint es, regelmäßig einüben, von uns abzusehen; wir müssen unser Vorstel‐ lungsvermögen beharrlich trainieren - wie einen Muskel, den wir im Fitness‐ studio immer wieder mit neuen Reizen versorgen, um ihn sukzessive auf ein neues Niveau zu führen. Indem ästhetische Zeugnisse - etwa: Romane, Kinofilme, Platten und Fern‐ sehserien - unser Einfühlungsvermögen schulen, rücken sie uns aus dem Zen‐ trum; sie können dergestalt als Gegengift zu unserem Narzissmus wirken und unsere Empathiefähigkeit trainieren. Und auf diese Weise können sie dazu bei‐ tragen, dass wir empfänglicher werden und dünnhäutiger für das Leid und das Unglück anderer. Dass die Ausbildung dieser Fähigkeit auch politisch dringend geboten ist, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Nachdem Hunderttausende auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Armut und Hunger den Weg nach Deutschland gefunden haben, ist es dringender denn je, die politischen Ereig‐ nisse nicht nur aus der hegemonialen Perspektive zu betrachten (vgl. Messer‐ schmidt 2016; Rieger-Ladich 2018). José Palazón schießt ein Foto Dass der Mensch mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet ist, dass er von sich selbst abzusehen vermag, verweist auf eine Besonderheit der conditio hu‐ mana. Wir besitzen keine Mitte; wir leben unser Leben nicht aus dem Mittel‐ punkt der Existenz heraus und sollten dies nicht als Makel betrachten. Helmuth Plessner hat, als einer der wichtigsten Vertreter der Philosophischen Anthro‐ 46 Markus Rieger-Ladich 4 Diese ist fraglos auch als zivilisatorische Errungenschaft zu betrachten. Wir müssen uns nicht nur - wie Hans Blumenberg (2001) wiederholt in Erinnerung gerufen hat - die Welt vom Leib halten, sondern bisweilen auch das Gegenüber (vgl. Lethen 1994). Distanznahme kann daher für alle Beteiligten durchaus hilfreich sein. pologie, daran immer wieder erinnert - und darauf verweisen, dass der Fähigkeit zur Empathie eine weitere Fähigkeit korrespondiert. In seinem Vortrag zum „Problem der Unmenschlichkeit“ (Plessner 1967/ 2015: 330) hält er hierzu fest: „Von alters her hat sich der Mensch als ein Zwischenwesen verstanden, halb Tier, halb Geist, eine Halbheit und Gebrochenheit, welche in eins die Quelle seiner Stärke und Schwäche ist.“ Der Mensch sei auf eigentümliche Weise exzentrisch positioniert; er kenne keine Mitte und könne sich auch aus diesem Grund die Position anderer zu eigen machen. Aber der Mensch ist nicht nur der Nähe und der Anteilnahme fähig, sondern auch der Distanznahme. Er ist zur Empathie fähig, aber eben auch zur Indifferenz. Es ist die Abständigkeit des Menschen zu sich selbst, seine eigentümliche Gebrochenheit, die seine Ambiguität ausmacht. Allein der Mensch kann Empa‐ thie entwickeln; aber auch nur er kann die Welt objektivieren - und dabei von allen Gefühlen absehen. Und so steht diese Gebrochenheit, diese konstitutionelle Unbehaustheit, für Glanz und Elend des Menschen. Die Ausbildung von Kultur und Zivilisation ist eben auch daran geknüpft, dass er in seiner „natürlichen Umgebung“ nicht aufgeht; aber es ist eben auch diese Distanz, die ihn in die Lage versetzt, zu seinem Gegenüber ein instrumentelles und manipulierendes Verhältnis einzugehen. Der viel beschworenen Fähigkeit zur Empathie korres‐ pondiert daher, so die Mahnung Plessners, die Fähigkeit zur Distanznahme. 4 Die Rückseite der Anteilnahme ist mithin eine Haltung, die den Belangen anderer gegenüber indifferent ist (vgl. Breithaupt 2017). Ich will dies an einem berühmt gewordenen Foto näher erläutern. Es wurde 2014 von dem Journalisten José Palazon aufgenommen (vgl. Kassam 2014). Zu sehen ist darauf der Golfclub der Stadt Melilla, der durch einen ca. 5 Meter hohen Zaun geschützt ist. Der Golfplatz wird von einigen Spielern genutzt. Es ist al‐ lerdings noch eine andere Personengruppe zu sehen: Auf dem Kamm des Zaunes sitzen Geflüchtete, die den Zaun zu überwinden suchen. Die Gemeinde Melilla ist eine spanische Exklave und liegt auf dem afrikanischen Kontinent. Sie grenzt an Marokko und befindet sich auf einer stark frequentierten Flüchtlingsroute. In den vergangenen Jahren versuchten Hunderte Geflüchteter, diesen Draht‐ verhau zu überwinden. Nur wenigen gelang es; und die meisten derer, die es schafften, den Zaun zu erklettern, wurden von der Guardia Civil dazu genötigt, ihn umgehend wieder zu verlassen. Diese berühmte Aufnahme illustriert daher wie ganz wenige sonst, was Plessner in seinem eindrücklichen Text zur Un‐ 47 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren menschlichkeit zum Gegenstand gemacht. Das Foto zeigt in aller Schonungslo‐ sigkeit, wozu wir Menschen fähig sind. Die Golfer, die hier zu sehen sind, gehen ihrem Hobby nach. Sie treiben Sport, gönnen sich etwas Bewegung; sie arbeiten womöglich auch an ihrem Handicap - und dies, während in unmittelbarer Nähe Menschen auf der Flucht sind. Men‐ schen, die womöglich ihre Familienmitglieder zurückgelassen haben, die vor Krieg und Elend geflohen sind, die Schreckliches erlebt haben, die versuchen, einen Fuß auf den Boden des Golfplatzes zu setzen, weil dieser zu Spanien zählt. Es gibt also Menschen, das zeigt diese Aufnahme, die im Angesicht größter Not ihrem kostspieligen Hobby nachgehen, die im Anschluss vielleicht ein schattiges Plätzchen aufsuchen und einen kleinen Imbiss zu sich nehmen. Und dies: vis-à-vis zu jenen, die womöglich alles, was sie noch besitzen, am Leib tragen, die fürchten müssen, von der Guardia Civil festgenommen zu werden, die einen verzweifelten Blick auf das werfen, was sie (auf legalem Wege) vielleicht nie erreichen werden. Wenn wir diese Aufnahme nun mit den Augen Plessners betrachten, so lautet eine schmerzhafte Lektion: Wir sollten die weißen Golfer nicht als „unmensch‐ liche“, „grausame“ Vertreter ihrer Art betrachten; sie führen uns nur vor, wozu wir aufgrund unserer Konstitution in der Lage sind. Wir können Anteilnahme entwickeln, aber - wir müssen es nicht. Es gibt hier keine Automatismen. Wir sind mit dem Vermögen zum Perspektivenwechsel ausgestattet; wir können von unseren Interessen absehen; wir können der Versuchung des Egoism (Kant) wi‐ derstehen; aber wir können eben auch genau das Gegenteil tun. Wir können die Augen verschließen vor dem Leid anderer; wir können abstrahieren von den Nöten anderer (vgl. Sontag 2003). Wir können uns über eine Platzunebenheit ärgern - und dem Drama der Geflüchteten, das sich vor unseren Augen vollzieht, gegenüber unempfänglich bleiben. Wir Menschen können das. Und wir tun es, immer wieder. Wir sind geübt im Wechselspiel von Anteilnahme und Distanz‐ nahme. So leben wir unser Leben, unseren Alltag - und dies im Angesicht einer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die im weltweiten Maßstab längst „monst‐ röse“ Ausmaße (Habermas 2011) angenommen hat. Das Foto von Palazón lässt sich auch noch in einer anderen Weise interpre‐ tieren. Und dies im Rückgriff auf Arbeiten Judith Butlers (2005). Die Vulnera‐ bilität kennzeichnet uns als Wesen, die körperlich-leiblich verfasst sind. Aller‐ dings lässt sich zeigen, dass diese Verletzbarkeit auch eine politische Dimension besitzt. Sie ist nicht nur innerhalb der symbolischen Geschlechterordnung - zwischen Männern und Frauen, Schwulen und Lesben, zwischen Trans- und Intersexuellen - ungleich verteilt; sie ist auch im globalen Maßstab betrachtet höchst ungleich verteilt, was etwa an den Statistiken zur Kindersterblichkeit 48 Markus Rieger-Ladich 5 Vgl. dazu etwa: Armin Nassehi (2016) und ausführlicher: Frank-Olaf Radtke (2016). deutlich wird (vgl. Janssen 2018). Die Verletzbarkeit ist im globalen Süden un‐ gleich stärker ausgeprägt als etwa in den wohlhabenden Staaten Westeuropas. Wir, die wir im globalen Norden ein überaus privilegiertes Leben leben, haben diese Verletzbarkeit lange Zeit (und einigermaßen diskret) in den globalen Süden exportiert (vgl. Lessenich 2016). Damit hängt nun zusammen, dass auch die Trauer um die Opfer höchst un‐ gleich ausfällt. Allen Reden von Solidarität und Verantwortung in Zeiten der Globalisierung zum Trotz, scheint es, dass wir mit unserer Anteilnahme zumeist sehr wählerisch sind. Es scheint, dass die Opfer, die es zu beklagen gilt - bei kriegerischen Auseinandersetzungen etwa -, unterschiedlich gewichtet werden. Insbesondere in den Zeiten des Krieges sollten wir uns daher nach Butler „die Frage stellen, wessen Leben als wertvoll gilt und welches betrauert werden kann und um wessen Leben nicht getrauert wird. Kriege“, so Butler weiter, „teilen Bevölkerungen in Betrauerbare und Nichtbetrauerbare.“ (Butler 2010: 43) Es gibt in der Folge jene, die als Opfer gelten, die einen Namen tragen und über die berichtet wird, und es gibt die ungezählten Namenlosen, über die wir fast nichts wissen. Carolin Emcke macht Exklusion zum Gegenstand Eine politische Bildung müsste genau dies zum Gegenstand machen: Sie müsste fragen, wer welche Geschichten zirkulieren lässt - etwa über Geflüchtete, die aus Syrien geflohen sind und den Weg nach Deutschland gefunden haben. Sie müsste die Frage nach den Narrativen, Semantiken und Rhetoriken aufwerfen: Welche Narrative werden hier bemüht? Welche Semantiken kommen zum Ein‐ satz und welche rhetorischen Figuren? Welche Metaphern werden verwandt? Wessen Perspektiven werden eingenommen? (Und wessen nicht? ) Welche Stimmen werden gehört? (Und welche nicht? ) Welche Verallgemeinerungen werden gewählt? Welche Kollektive aufgerufen? Welche Fotografien werden ausgewählt? Und von wem? Wie werden die Cover der Nachrichtenmagazine gestaltet? Und mit welchen Absichten? Wo setzen die erzählten Geschichten ein? Und wo enden sie? Welches Maß an Komplexität gilt noch als zumutbar? Wie umfangreich und wie facettenreich darf die „Story“ werden? 5 Wenn wir tatsächlich unseren Egoism hinter uns lassen wollen, wenn wir Solidarität entwickeln und Anteilnahme praktizieren wollen, wenn wir ein In‐ teresse an gegenhegemonialen Erzählungen haben, müssen wir uns zwingend für die unterschiedlichen Formen und Formate der Berichterstattung interes‐ 49 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren sieren. Dies ist unverzichtbar, wenn es um die Entwicklung dessen geht, was Butler mit einer treffenden Wendung die „Politik der Empfänglichkeit“ genannt hat. In Frames of War, das in der deutschen Übersetzung den Untertitel trägt: Warum wir nicht jedes Leid beklagen, führt sie dazu aus: „Unsere Gefühle werden teilweise durch unsere Deutung der uns umgebenden Welt konditioniert; die Auslegung unserer Gefühle verändert diese Gefühle selbst.“ (Butler 2010: 46) Wir müssen uns daher nicht nur für Fragen der Narration, sondern auch für Fragen der Repräsentation interessieren. Also nicht allein den Perspektiven‐ wechsel einüben sowie das Einfühlungsvermögen trainieren (vgl. Stein 1917), sondern auch den Blick schärfen für die in Umlauf gebrachten Bilder, Seman‐ tiken und Narrative sowie für die Interessen, die darin zum Ausdruck kommen. Anders formuliert: Es gilt, die hegemonialen Kämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden, lesen und dechiffrieren zu lernen (vgl. Mouffe 2015). Und dies stets im Wissen darum, dass wir für unsere Urteilsbildung auf Ge‐ schichten und Bilder dringend angewiesen sind. Genau auf diese Herausforderung hat Carolin Emcke in den vergangenen Jahren immer wieder hingewiesen. In einer Sammlung neuerer Essays, die um „Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ (2013) kreisen, macht sie die Politik der Bilder zum Gegenstand. Emcke hat von vielen Kriegen vor Ort berichtet - und dabei immer wieder auch die Frage der Darstellung von Leid und Ungerechtigkeit reflektiert. Ein besonderes Augenmerk warf sie dabei auf Mechanismen des Ausschlusses. Insbesondere schlug sie vor, hier vier Mechanismen der Exklusion zu unterscheiden. Es gibt danach (vgl. Emcke 2013: 167 ff.): 1. Politische, Juristische Formen der Exklusion, 2. Ästhetische, virtuelle Formen der Exklusion, 3. Sprachliche Formen der Exklusion und 4. Praktiken und Gewohnheiten. Von besonderem Interesse ist der zweite Mechanismus insofern, als ästhetische und virtuelle Formen der Exklusion bislang tatsächlich kaum erforscht sind. Emcke beschreibt diesen Mechanismus wie folgt: „Sie funktionieren einerseits über das Unsichtbar-Machen als Form der Exklusion. Be‐ stimmte Personen oder Gruppen werden visuell nicht repräsentiert, sie tauchen op‐ tisch schlicht nicht auf. […] Zugleich gibt es aber auch die gegenteilige Technik der Exklusion, das Sichtbar-Machen als etwas Anderes: Die visuelle Entstellung oder Re‐ duktion auf etwas Anderes: Die visuelle Entstellung oder Reduktion auf etwas Diffe‐ rentes. Muslime […] werden visuell gerne auf einen bestimmten Typus reduziert. Minderheiten generell werden oft nur in bestimmten Phänotypen mit bestimmten 50 Markus Rieger-Ladich 6 An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass hier eine gewisse Ungleichzeitigkeit zu beobachten ist: Im Bereich der Popkultur - etwa in neueren TV-Serien - kommt es zu einer Pluralisierung der Perspektiven sowie zu einer Berücksichtigung unterschied‐ licher Subjektpositionen (vgl. Meilicke 2016; Rieger-Ladich 2017b), zugleich gibt es - und das womöglich auch als Reaktion auf diese Liberalisierung - eine Rückkehr des offenen Ressentiments und eine Renaissance des autoritären Denkens (vgl. Messer‐ schmidt 2016; Emcke 2016a). 7 Vgl. hierzu aber die Reportage „Über das Meer“ von Wolfgang Bauer (2014). Assoziationsketten und Rollenmustern visuell verkoppelt“ (Emcke 2013: 176; Herv. durch Markus Rieger-Ladich). 6 Allerdings reicht es nicht aus, so Emcke, diese Praktiken der Exklusion nur möglichst präzise zu benennen; sie müssen vielmehr „ausbuchstabiert werden in konkrete Erfahrungen, sie müssen übersetzt werden in Bilder und Worte, die anschlussfähig sind für diejenigen, die diese Erfahrungen nie gemacht haben.“ Der größte Gegner von „Emanzipation und Anerkennung sind [daher] nicht repressive Gesetze allein, sondern [ist die] mangelnde Vorstellungskraft.“ (Emcke 2013: 176) Unsere Vorstellungskraft ist auf den Rohstoff der Anschauung angewiesen, auf sinnliches Material. Was aber tun, wenn uns die Bilder hierfür fehlen? Wenn wichtige Ereignisse von niemanden bezeugt werden können? Diese Frage hat Emcke in ihrer Rubrik für die Süddeutsche Zeitung in aller Dringlichkeit aufgeworfen. Von der Titanic wissen wir - und dies mehr als 100 Jahre nach ihrem Untergang - ganz exakt, wie viele Menschen an Bord waren (2220), wie viele starben (1514), wir kennen die Namen der Reisenden, wir wissen sogar, „wie viele Kilogramm Tee (440 kg) und Kaffee (1100 kg) die Titanic mitführte und wie viele Tonnen Fleisch und Fisch (72,5)“ (Emcke 2016b: 5). Wir wissen überdies, wo genau sie sank. Und es gibt, nicht zuletzt, einen sehr populären Kinofilm, der uns immer wieder mit Bildern, Geschichten und Gefühlen versorgt. Von jenen Flüchtlingsbooten aber, die in den letzten Jahren im Mittelmehr gekentert sind, wissen wir fast nichts. 7 Es gibt niemanden, der den Schrecken in seinem ganzen Ausmaß überblicken und verlässlich bezeugen könnte. Wir kennen weder die genaue Zahl der Opfer, noch kennen wir die Namen der Er‐ trunkenen. Es sind namenlose Opfer, deren Nöte und Leiden, deren Wünsche und Hoffnungen wir wohl nie erfahren werden. Wir kennen nicht ihre Ge‐ schichten. Und auf diese wären wir doch zwingend angewiesen, wenn wir dafür Sorge tragen wollen, dass unser Urteilsvermögen und unsere Vorstellungskraft nicht verkümmern. 51 Unsere (Denk-)Gewohnheiten befragen: Politische Bildung neu buchstabieren Literatur Arendt, Hannah (1981). Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper. Bauer, Wolfgang (2014). Über das Meer - Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Eine Reportage. Berlin: Suhrkamp. Blumenberg, Hans (2001). ‚Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhe‐ torik‘, in Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 406-431. Breithaupt, Fritz (2017). Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp. Buck, Günther (1984). Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deut‐ schen humanistischen Bildungsphilosophie. Paderborn: Schöningh. Bünger, Carsten / Felix Trautmann (2012). ‚Demokratie der Sinne‘, in Nobert Ricken / Nicole Balzer, Hg., Judith Butler: Pädagogische Lektüren. 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Aus diesem Grund werden beide als wichtige Achse meines Beitrages zur Frage, was passiert, wenn unterschiedliche Kulturen sich im öffentlichen Raum begegnen, am Anfang behandelt. Dann wird der öffentliche Raum und die ihm inhärenten Logiken erfasst, um schließlich zu der eigentlichen Frage‐ stellung zu kommen: Was geschieht, im Sinne von gesellschaftlicher Integration, wenn unterschiedliche Kulturen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen? Kultur - Kulturen - kulturelle Prägung Man kann sich ewig streiten über den Begriff der Kultur und ihn auf sehr un‐ terschiedliche Weise definieren. In der Fachliteratur spricht man von über „ein‐ hundertfünfzig Kulturbegriffe(n) aus Ethnologie und Anthropologie“ (Ort 2003: 23). Dabei existieren Welten zwischen deterministischen Modellen wie der Sys‐ temtheorie von Luhmann, in der Kultur lediglich als „Gedächtnis der sozialen Systeme“ (ebd.: 30) betrachtet wird, und der Tradition der verstehenden Sozio‐ logie, in der Kultur „das von den Mitgliedern einer Gesellschaft selbst gespon‐ nene Bedeutungsgewebe ist“ (ebd.: 34). Im ersten Fall ist das Individuum eher machtlos gegenüber bestimmten kulturellen Abläufen und Gesetzmäßigkeiten, im zweiten kann der Mensch in Interaktion mit anderen Individuen durch ge‐ zielte Handlungen Einfluss auf die allgemeine kulturelle Entwicklung nehmen. Zwischen diesen beiden Polen wurden im Laufe der Geschichte alle möglichen Aspekte und Nuancen des Phänomens Kultur behandelt und beschrieben. Al‐ lerdings wurde bei keinem Versuch die Diffusität des Begriffes aufgehoben, durch keine Definition und keinen kulturtheoretischen Ansatz. Dennoch ist es möglich, sich aus der Fülle der Theorievorschläge einiger zu bedienen, die für das hier behandelte Thema fruchtbar sind. Vier erscheinen mir besonders ge‐ eignet. Ich werde sie im Folgenden vorstellen. Als erste sei die Habitustheorie von Pierre Bourdieu (1979; 1983) genannt, die ein hervorragendes Analyseinstrument liefert, das wiederum für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum hilfreich ist. Habitus ist für Pierre Bourdieu ein Dispositionssystem der sozialen Akteure, welches das Fundament ihrer sozialen Praxis darstellt und ihr Verhalten in der Öffentlichkeit steuert. Wie die Menschen ihre gesellschaftliche Praxis gestalten, also wie sie ihre Um‐ welt wahrnehmen, erfahren, erkennen und in ihr agieren, steht immer in un‐ mittelbaren Zusammenhang mit ihrem Habitus. Habitus bedeutet nicht nur Disposition, sondern gleichzeitig auch „Haltung, Erscheinungsbild, Gewohn‐ heit, Lebensweise“ (Schwingel 1998: 54) bzw. „Körperhaltung, ästhetische Wahr‐ nehmungs- und Bewertungsmuster (‚Geschmack‘), die sich vor allem als ‚Aver‐ sion‘ äußern, soziale Wahrnehmungsmuster und Haltungen und schließlich kognitive und normative Deutungsmuster“ (Lutz 1991: 41). Habitusformen sind also dauerhafte Dispositionen bzw. inkorporierte Programme der sozialen Ak‐ teure, die sich in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen. Sie sind nur schwer und langsam veränderbar, weil sie Produkt der Geschichte sind, in der die aktive Präsenz früherer Erfahrungen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Bourdieu 1993: 101). Die Berücksichtigung der Theoriekompo‐ nente Habitus im Sinne von Pierre Bourdieu ist ein wichtiger Schlüssel zur Deutung der Grammatik von Kulturen-Begegnungen im öffentlichen Raum. Denn im öffentlichen Raum werden immer wieder nur solche Personen ge‐ duldet, die den „adäquaten Habitus aufweisen“ (Kuhn 2016: 220). Dies ist nicht zufällig, denn „öffentlicher Raum ist immer auch exklusiver Raum. Verschiedene Städte in verschiedenen historischen Epochen unterscheiden sich vor allem darin, wer auf welche Weise aus welchen Räumen draußen gehalten wird: Heute sind es Obdachlose, Drogenabhängige und Gruppen ausländisch wirkender, männlicher Jugendlicher. Im 19. Jahrhundert waren es Frauen und das Proleta‐ riat“ (Siebel zit. nach Kuhn 2016: 213). Der zweite Theorievorschlag findet sich in den Arbeiten des in seiner Zeit bekannten „Center for Contemporay Cultural Studies“ (CCCS) in Birmingham, der für das Verstehen von Begegnungen im öffentlichen Raum ebenfalls fruchtbar für die Praxis angewandt werden kann: im CCCS verstand man unter Kultur „eine Art historisches Reservoir - ein vorab konstituiertes Feld der Mög‐ lichkeiten - das die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen aufgreifen, transfor‐ mieren und weiterentwickeln. Jede Gruppe macht irgendetwas aus ihren Aus‐ gangsbedingungen, und durch dieses Machen, durch diese Praxis werden kulturelle und gesellschaftliche Bedeutungsmuster reproduziert und vermittelt. 56 Seddik Bibouche Aber diese Praxis findet nur in dem gegebenen Feld der Möglichkeiten und Zwänge statt“ (Clarke 1979: 41). Mit der gebotenen Vorsicht impliziert dies für jede gesellschaftliche Gruppe potentiell die mögliche Einflussnahme auf die all‐ gemeinen Normen und Werte in einem Gemeinwesen. Aus diesem Grund wurden Subkulturen in den Analysen des CCCS nicht als Übel, sondern als „Ort des Widerstandes und der produktiven Aneignung potentiell mehrdeutiger In‐ halte angesehen“ (Lutter / Reisenleitner 2001: 36). Diese Sichtweise passt be‐ sonders gut zur kritischen Betrachtung von Vielfalt im Sinne kultureller Inter‐ aktionen, Begegnungen, Konflikte und Emergenz neuer kultureller Ausdrucksformen im öffentlichen Raum, in dem man wie nirgendwo sonst das kreative und z. T. krude Aneinanderreiben einander fremder Kulturen beob‐ achten kann. Dabei sind eben diese Reibungen als „gesellschaftliche Verständi‐ gungs- und Aushandlungsprozesse und als solche systemimmanent und funk‐ tional notwendig“ zu betrachten (Keding 2009: 38). Neue kulturelle Erscheinungen bzw. Verhaltensweisen, die mit der Vielfalt und Diversität im Öffentlichen Raum aufkommen, weichen manchmal erheblich von den vorherrschenden Mustern ab, was die Anpassungsprozesse durch Kon‐ flikte im öffentlichen Raum begründet. Hier kommen wir zur dritten Analyse‐ brille und damit zu einem ursoziologischen Thema: dem abweichenden Ver‐ halten. Die Frage ist dabei nicht, ob abweichendes Verhalten normal ist, schließlich wissen wir spätestens seit Emil Durkheim um die strukturelle Nor‐ malität des abweichenden Verhaltens, weil es eben keine funktionierende Ge‐ sellschaft ohne abweichendes Verhalten geben kann. Das Ziel der Schaffung einer kriminalitätsfreien Gesellschaft ist so gesehen nicht nur unrealistisch, sondern im Sinne einer integrierten, sich entwickelnden Gesellschaft auch nicht hilfreich für diese (vgl. Durkheim 1984: 155 ff.). Durkheim geht noch weiter und stellt fest, dass das abweichende Verhalten von heute durchaus die Norm von morgen sein kann. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist die permanente Be‐ stätigung dieser Logik. Aktuell braucht man nur auf die Entwicklung der allge‐ meinen Haltung gegenüber unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen hin‐ zuweisen. Also geht es bei neuen kulturellen Erscheinungen im öffentlichen Raum nicht um das konservative Lamentieren über eine unbekannte soziale Grammatik des Alltagslebens im öffentlichen Raum, sondern um den möglichst fruchtbaren Umgang damit, also um die Integration der diversen neuen kultu‐ rellen Phänomene. Bevor ich mich aber dem Begriff der Integration widme, gehe ich auf eine für das Thema Kultur weitere relevante Theoriekomponente ein. Auf dem Weg zur Integration unterschiedlicher kultureller Muster ist die viel‐ leicht größte Hürde das, was Herbert Marcuse in den 1960er-Jahren unter der Formel „affirmativer Charakter der Kultur“ subsumiert hat. Hierbei geht es darum, 57 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum dass sich bestimmte bürgerliche Vorstellungen über „gute Kultur“ trotz perma‐ nenter kultureller Umwälzungen und Modernisierungsprozesse hartnäckig er‐ halten. Diese Vorstellungen von „guter Kultur“ beeinflussen wiederum bewusst oder unbewusst auch Multiplikatoren/ innen, Politiker/ innen, Sozialarbeiter/ innen und deren Konzepte für die Praxis einer Integrationsarbeit. Insofern han‐ delt es sich dabei nicht nur um eine abstrakte Ideologie, sondern vielmehr um eine verbindliche Orientierung für ein konkretes Handlungsinstrumentarium im Dienste von Kultur-, Sozial- und Integrationspolitik. Dazu Marcuse: „Unter affir‐ mativer Kultur sei jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur zu ver‐ stehen, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig -seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist, die aber jedes Individuum ‚von innen her‘, ohne jene Tatsäch‐ lichkeit zu verändern, für sich realisieren kann“ (Marcuse 1965: 63). Es versteht sich dann von allein, dass die auf einer solchen Grundlage entwickelte Praxis, ob politisch, sozial oder pädagogisch motiviert, sich normativ an den von der herr‐ schenden Kultur als gut definierten Verhaltensweisen orientiert, und sich ver‐ pflichtet fühlt, vermeintliche Abweichungen davon zu korrigieren, z. B. bei Mi‐ granten. Ein solcher Ansatz sorgt allerdings nicht nur disziplinierend für die Aufrechterhaltung von tradierten Machtverhältnissen entlang der Demarkati‐ onslinie Einheimische/ Fremde ohne Rücksicht auf die Authentizität und Legiti‐ mität fremder Kulturen, er wirkt dadurch gleichzeitig kontraproduktiv auf die etablierten Kulturen selbst, denn eine Kultur, die sich nicht an neue gesellschaft‐ liche Bedingungen anpasst, wird den unter anderem durch Migrationsbewe‐ gungen kommenden Herausforderungen nicht standhalten. Fassen wir rekapitulierend die vier wichtigsten Bausteine zum Thema Kultur in Zusammenhang mit der Vielfalt im öffentlichen Raum zusammen. Jeder Mensch hat im Laufe seiner Geschichte einen Habitus entwickelt, der ihm als Orientierungssinn „hilft, sich innerhalb der sozialen Welt im allgemeinen und spezifischer Praxisfelder im Besonderen zurechtzufinden“ (Schwingel 1998: 57), besonders in der Öffentlichkeit. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass ein Habitus sich nur langsam verändern kann. Habitus entwickelt sich innerhalb eines so‐ ziokulturellen Kontextes, auf einem Feld der Möglichkeiten, auf dem alle kultu‐ rellen Erscheinungen durch die Praxis diverser Gruppen transformiert und wei‐ terentwickelt werden können. Diese weiteren Entwicklungen, weil sie neu sind, stellen oft vermeintlich bedrohliche Abweichungen innerhalb der etablierten Kultur mit ihrem affirmativen Charakter dar. Zwei Möglichkeiten bieten sich in 58 Seddik Bibouche dem Fall an: die Bekämpfung bzw. Disziplinierung der neuen und möglicher‐ weise abweichenden kulturellen Phänomene oder ihre Integration. Integration der Gesellschaft - Integration in die Gesellschaft In diesem Abschnitt über Integration geht es um den in den letzten Jahren mög‐ licherweise am kontroversesten diskutierten Begriff der Sozialwissenschaften. Vernünftigerweise kann man sich nicht am sozialwissenschaftlichen Diskurs beteiligen, ohne den Begriff Integration zu verwenden, weil er unmittelbar mit der Frage nach der sozialen Ordnung zusammenhängt, und „das Problem der sozialen Ordnung und das der Integration der Gesellschaften sind der zentrale Gegenstand des Nachdenkens über die Gesellschaften immer gewesen. Es ist die Frage, wie die Gesellschaft als eine Einheit in der Verschiedenheit ihrer Systeme und Akteure möglich ist, einer Verschiedenheit, die so spannungsreich und ge‐ rade darüber dann so leistungsfähig und damit zusammenhängend macht.“ (Esser 2000: 285) Das Hauptproblem bei diesem Begriff liegt zweifelsohne in der gängigen Gleichsetzung bzw. Verwechselung von Integration als Gesellschaft mit der Integration in die Gesellschaft (vgl. Treibel 2016: 33 ff.). Unter anderem deshalb ist der Begriff Integration zum Kampfbegriff mutiert. Er wird unzuläs‐ sigerweise mit anderen Begriffen, Einstellungen, Haltungen oder Ideen ver‐ wechselt oder auch willentlich z. B. mit Assimilation gleichgesetzt. In der De‐ batte um die Integration von Flüchtlingen wird gelegentlich eben diese Forderung als Diskriminierung angesehen und als Rassismus bezeichnet. Diese Einschätzung speist sich aus dem Missverständnis, dass die Forderung nach Akzeptanz der rechtlichen Basis und vorherrschender Grundwerte, die in Summe für die Organisation und Gestaltung des Alltags wie auch das Selbst‐ verständnis der Umgebungsgesellschaft - einschließlich der Gestaltung der Vielfalt des Öffentlichen Raums - von größter Bedeutung sind, eine unzulässige Beschneidung der Persönlichkeitsrechte bedeuten würde. Die Forderung nach Assimilation wiederum beruht auf einer fremdenfeind‐ lichen, xenophoben oder rassistischen Haltung, die der Illusion einer kulturell homogenen Gesellschaft unterliegen und deswegen von „den Fremden“ ver‐ langen, sich auf eine Weise in die Gesellschaft einzugliedern, die sie nicht mehr als Andersartige erkennbar sein lässt. Insbesondere sollen sie das reibungslose Funktionieren der diversen Funktionssysteme der Gesellschaft nicht stören. Dafür werden Bedingungen benannt, welche, ganz im Sinne einer vermeintlich kulturell homogenen Gesellschaft, von den neuen Bevölkerungsgruppen erfüllt werden und bei den nachfolgenden Generationen dazu führen sollen, dass diese Gruppen voll und ganz unauffällig werden. Gefordert wird hier also nicht Inte‐ 59 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum gration, sondern Assimilation: in Erscheinung und Verhalten der Aufnahmege‐ sellschaft angepasst oder vielmehr untergeordnet. Dass dies nicht geschieht, wird oft als Renitenz interpretiert, gefolgt von der Forderung nach restriktiven Maßnahmen mit der Vorstellung, damit Assimilation erzwingen zu können. In Wahlkampfzeiten blühen bei diversen Parteien die abstrusesten Vorschläge zum Thema Integration von Migranten bzw. Flüchtlingen. Der Begriff Integration wird also aus verschiedenen Perspektiven oder politischen Haltungen heraus missinterpretiert und missbraucht. Angesichts dieser Tatsache wird von Seiten mancher Sozialforscher*innen und politischer Gruppen immer wieder die For‐ derung laut, den Begriff Integration aufzugeben (vgl. Treibel 2016: 42). Das ist verständlich, allerdings erfüllt bisher keiner der vorgeschlagenen alternativen Begriffe die Erwartungen, und zwar weder semantisch noch soziologisch (ebd.). Dazu gesellt sich ist die Frage, ob die Wissenschaft immer dann neue Begriffe entwickeln muss, wenn vorhandene politisch oder ideologisch missbraucht werden. Ich halte es hier mit Judith Butler, die sich dazu wie folgt äußert: „das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist. Wenn ein Begriff fraglich ist, soll das etwa heißen, dass wir also nur diejenigen Begriffe verwenden können, die wir bereits beherrschen? Wenn man einen Be‐ griff befragt, warum sieht es dann so aus, also wollte man seine Verwendung verbieten lassen? “ (zit. nach Scherr 2006: 169). Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff Integration, sondern genauso für den Begriff Kultur. Im soziologischen Sinne hat der Begriff Integration eine lange und wichtige Tradition, auch wenn er als Idee unter sehr unterschiedlichen Konzepten und Begriffen in der Literatur erscheint und verwendet wird, und als Arbeitsinstru‐ ment in der Wissenschaft weiterentwickelt werden sollte (Treibel 2016: 43). Als Gegenbegriffe kennen wir z. B. die Desintegration, aber auch Segmentation, Anomie, Exklusion oder Ausgrenzung, abweichendes Verhalten, Devianz, Dis‐ soziation, Segregation, Fragmentierung usw. Diese Begriffe haben alle ihre Be‐ rechtigung, weil sie jeweils besondere Aspekte der Nicht-Integration be‐ schreiben. Sie sind sehr nützlich für eine differenzierte Diskussion, aber besonders interessant ist, dass alle uns mitteilen, was mit einer nicht integrierten Gesellschaft geschieht, dass diese nämlich zerfällt. Der Zusammenhalt der Ge‐ sellschaft ist die Voraussetzung für ihr Funktionieren. Und natürlich brauchen die einzelnen Teile der Gesellschaft, also die Gruppen und ihre Individuen, etwas Gemeinsames, damit die gesellschaftliche Integration gewährleistet wird. Um den Integrationsgrad einer sozialen Gruppe festzustellen, nennt Durkheim (1997) drei Dimensionen: die Zahl und die Intensität der Interaktionen zwischen den Individuen innerhalb der Gruppe, also eine eher zivile Dimension; das Teilen gemeinsamer Werte, in diesem Fall handelt es sich um eine moralische Dimen‐ 60 Seddik Bibouche sion; und gemeinsame Ziele, was in etwa einer politischen Dimension ent‐ spricht. Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Theorie Durkheims muss noch erwähnt werden: Durch die Integration wird das Individuum nicht den gesell‐ schaftlichen Zwängen unterworfen, sondern an sie gebunden. Integration ist in der Tat zunächst nichts anderes als der Zusammenhalt von Teilen in einem systemischen Ganzen oder der Prozess der Eingliederung der einzelnen Individuen in eine Gruppe oder von einzelnen Gruppen in eine Ge‐ sellschaft oder von unterschiedlichen Individuen oder Gruppen in ein Ganzes. Integration ist nie starr und kann ganz unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Dadurch, dass es sich immer um einen dynamischen Prozess handelt, ist es nicht möglich, von einem Integrationsprozess zu sagen, dass er definitiv ist, weder definitiv gescheitert noch definitiv gelungen. Man kann bestenfalls durch be‐ stimmte Zustandsindikatoren Tendenzen feststellen, die mit bestimmten Er‐ scheinungen verbunden sind. Indikatoren können uns anzeigen, ob gerade eine Integration stattfindet oder sich umgekehrt abschwächt. „Ausgrenzung und In‐ tegration sind Verlaufsmuster, die sich durch die Richtung ihrer Bewegung un‐ terscheiden: an den Rand der Gesellschaft oder in ihre Mitte“ (Häußermann / Siebel 2004: 17). Diese Feststellung verleiht der Diskussion eine optimistische Note, die für die Praxis wichtig ist, denn wenn Integration ein nicht endender gesellschaftlicher Prozess ist, besteht die Hoffnung, steuernd einwirken und die notwendigen Schritte in die richtige Richtung machen zu können. Solche Schritte können auf unterschiedlichen Ebenen, mit unterschiedlichen Schwer‐ punkten und mit unterschiedlicher Gewichtung gegangen werden. Es kann sich ebenso um politische Entscheidungen mit erheblicher Tragweite handeln wie auch um beiläufige Begebenheiten, denn „Integration gelingt oder misslingt in jeder kleinen alltäglichen Handlung“ (ebd.). Integrationsprozesse selbst können in mehrere Dimensionen differenziert werden, wie etwa von der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages vorgeschlagen (Heckmann / Tomei 1999). Dabei wird zwischen struktureller, kultureller, sozialer und identifikatorischer Integration unterschieden. Die strukturelle Dimension beschreibt die rechtliche und berufliche Lage eines In‐ dividuums, die kulturelle Integration betrifft kognitive Aspekte wie die Sprache, die soziale Integration widerspiegelt Qualität und Quantität der Kontakte und Beziehungen und schließlich ist bei einer gefühlsmäßigen Bindung an das Ein‐ wanderungsland von der identifikatorisch Integration die Rede (vgl. Treibel 2016: 39 ff.). Die letzte Dimension der Integration entwickelt sich häufig erst bei späteren Generationen der Einwanderer. Alle vier Dimensionen der Integration können sich bei derselben Person sehr unterschiedlich und vor allem unab‐ hängig voneinander entwickeln, zum Beispiel waren Arbeitsmigranten in 61 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum Deutschland Jahrzehnte lang systemisch perfekt integriert, ohne Deutsch zu beherrschen und ohne private Kontakte zur einheimischen Bevölkerung zu haben. Der öffentliche Raum Auf den ersten Blick ist der öffentliche Raum eine simple Sache: es gehören alle Verkehrs- und Grünflächen dazu, in der Regel auch die Gewässer im Besitz einer Gemeinde oder Körperschaft des öffentlichen Rechts, die von dieser bewirt‐ schaftet werden und für alle Menschen frei zugänglich sind. An dieser Stelle hört die simple Sache auf, denn ein „öffentlicher Raum, als jederzeit für jeder‐ mann, ohne jede Einschränkung zugänglicher Raum, hat niemals in irgendeiner Stadt existiert“ (Siebel 2016: 77). In der Tat ist die Liste der Orte lang, die auf dem ersten Blick als frei zugänglich erscheinen, es letztlich aber nicht sind. Ge‐ nannt seien beispielsweise Bahnhöfe oder Einkaufszentren, die vollständig in privater Hand sind, auch wenn sie sich als öffentlicher Raum inszenieren (Kuhn 2016: 220). Dazu kommen diverse Gated Communities, abgeschirmte Hofquar‐ tiere (ebd.: 221) und nicht zuletzt die „Angsträume“; z. B. sind „Parkanlagen, in denen Frauen fürchten müssen, vergewaltigt zu werden … keine öffentlichen Räume“ (Siebel 2016: 79). Schließlich und endlich existiert der öffentliche Raum in allen Kulturen der Welt und unterliegt gleichzeitig Regeln, wobei diese je nach Epoche, Kulturraum oder Regime unterschiedlich ausfallen können. Der ame‐ rikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall (1966) beschreibt sie anekdoten- und detailreich in umfangreichen vergleichenden Studien zu diversen Kulturen. Unterschiedliche Elemente wie die Gestaltung des öffentlichen Raums, die Kom‐ munikations- und Bewegungsformen in ihm, die Grenzen der Intimität, die sinnliche Wahrnehmung der Umwelt durch die Akteure, das Verhältnis der Ge‐ schlechter, der Generationen und Klassen zueinander u. v. m. spielen dabei wichtige Rollen. Die genannten Studien mögen in Zeiten der Globalisierung zum Teil obsolet erscheinen, nichtsdestotrotz kann jeder Tourist noch heute ohne große Anstrengungen und ohne wissenschaftlichen Blick die bedeutenden Dif‐ ferenzen zwischen einem Markt in Nordafrika und einem in Deutschland wahr‐ nehmen und damit die Ergebnisse der vergleichenden Studien von Hall aus der subjektiven Erfahrung heraus bestätigen. Das ist eine wichtige Feststellung an‐ gesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt im öffentlichen Raum im Zuge von größeren Migrationsbewegungen und daraus entstehenden Unsicherheiten. Jeder Mensch bewegt und benimmt sich im öffentlichen Raum zunächst ent‐ sprechend seiner Sozialisation. Hierbei existieren zwischen unterschiedlichen Kulturen reale Differenzen. Wenn nun unterschiedliche Kulturen im öffentli‐ 62 Seddik Bibouche chen Raum aufeinandertreffen, treffen zwangsläufig auch diese Differenzen aufeinander. Viele dieser Differenzen mögen Konstruktionen sein, sie werden trotzdem gelebt, „zweifellos spielt Ethnizität heutzutage eine Rolle - Menschen identifizieren sich als Russen, Polen oder Türken und werden als solche gesehen; sie glauben, ihre ethnischen Zugehörigkeiten transportieren bestimmte Eigen‐ schaften, oder sie bekommen diese Eigenschaften von außen zugeschrieben“ (Terkessidis 2010: 118 f.). Zum öffentlichen Raum in Deutschland gibt es eine umfangreiche Literatur. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit dem öffentlichen Raum, seine Gestal‐ tung und Nutzung weder einheitlich noch zufällig oder neutral sind (vgl. Bern‐ hard 2016). Alles was im öffentlichen Raum wahrgenommen wird oder im Ver‐ borgenen wirkt, ist Ergebnis „lange(r) Auseinandersetzungen, die auch mit den Mitteln des architektonischen Designs, also mit Symbolen geführt werden. Dabei geht es um sehr viel. Wer das Bild eines Raumes und die Regeln, die darin gelten, bestimmt, der entscheidet auch darüber, wer zu diesem Raum zugelassen wird.“ (Siebel 2016: 72) Weil aber der öffentliche Raum per se permanent und für alle zugänglich bleiben sollte, werden Segregationskriterien entwickelt, die die Homogenität indirekt gewährleisten sollen. So gilt die Grundregel, dass nie‐ mand belästigt werden darf und es „sollen Ekel oder anstoßerregende Merkmale und Verhaltensweisen aus dem öffentlichen Raum herausgehalten werden. Es handelt sich um ein Prinzip mit hohem Diskriminierungspotential, denn Men‐ schen können auf zwei Weisen gegen es verstoßen: erstens wenn sie unter be‐ stimmten Stigmata leiden … wie körperliche Behinderung und Hautfarbe, oder als Träger sozialer Merkmale, auf die sie keinen Einfluss haben“ (ebd.: 73 f.). Damit wird Exklusivität geschaffen und das Wesensmerkmal des öffentlichen Raums, nämlich die freie Zugänglichkeit, teilweise aufgehoben. Gleichzeitig wäre in globalisierten Zeiten die totale Kontrolle des öffentlichen Raums in einer liberalen und marktorientierten Gesellschaft kontraproduktiv für eben diese, und so kommt es dort trotz symbolischer oder konkreter Inklusionssperren doch zur kulturellen Vielfalt mit den zwangläufig dazu gehörenden Nutzungskon‐ flikten (vgl. Kuhn et al. 2012: 203). Anonymität im öffentlichen Raum Der Grad der Anonymität im öffentlichen Raum nimmt mit der Größe des Ortes zu. In einem Dorf sind die sozialen Verflechtungen oft so eng, dass die Individuen sich selten als Unbekannte begegnen, sondern meistens als Menschen, deren Status als Angehörige einer bestimmten Familie oder als Teil eines Beziehungs‐ systems zugewiesen bzw. bekannt sind. Das ist die Grundlage der sozialen Kon‐ 63 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum trolle, welche die Atmosphäre für das öffentliche Leben bestimmt. Kaum jemand kann sich im öffentlichen Raum eines Dorfes ungestraft den expliziten oder impliziten Regeln des Miteinanders widersetzen. Nicht so in der Stadt, in der die Anonymität charakteristisch für den öffentlichen Raum ist. Hier halten sich Menschen auf, begegnen sich, interagieren eventuell flüchtig miteinander, ohne sich zu kennen, ohne erkennbare Bindungen oder Verpflichtungen. Wir er‐ fahren in der Regel über die optisch wahrnehmbaren Unterschiede hinaus wenig über die diversen Akteure im öffentlichen Raum. Wer sie sind, woher sie kommen, wo sie hinwollen, ihre Ziele und Absichten, alles ist offen, denn der öffentliche Raum steht allen Menschen zur Verfügung, mit den weiter oben er‐ wähnten Einschränkungen ist er für alle Menschen zugänglich, es ist also gleichzeitig der Ort, in dem die ganze Vielfalt, welche die Menschen auszeichnet, sich begegnen kann und dies auch tut. Stadtsoziologisch spricht man hier von einer unvollständigen Integration (vgl. Bahrdt 1961: 39 ff.). Dies sagt nun nichts über den realen gesellschaftlichen Integrationsgrad der einzelnen Individuen, ob systemisch, kulturell, sozial oder identifikatorisch (siehe weiter oben), son‐ dern nur, dass dieser Integrationsgrad sich nicht von selbst erschließt. Selbst‐ verständlich haben alle Individuen, die sich im öffentlichen Raum begegnen, einen Status, sie sind im Sinne von Pierre Bourdieu (1979) mit diversen Kapi‐ taltypen ausgestattet, haben also ein gewisses Bildungsniveau, besitzen be‐ stimmte Kompetenzen und eine gewisse Kaufkraft, sie haben Familie und Freunde, sie verkehren in bestimmten Milieus, kurz, sie haben ein eigenes kom‐ plexes Leben, das man auf den ersten Blick selten erahnen kann. Die gesell‐ schaftlichen Rollen der Akteure bleiben im öffentlichen Raum verborgen, es sei denn, Statusattribute werden durch Kleidung oder Accessoires symbolisch zur Schau gestellt, wie in Jugendkulturen, politischen Bewegungen oder Religionen immer wieder üblich. Ein Status kann sich auch durch diverse Handlungen wie betteln, musizieren, Flugblätter verteilen, teilweise oder umfassend vermitteln. Ein Gruppenauftritt gepaart mit starken symbolischen Signalen und spezifische Handlungen - ein Extrembeispiel wären die missionierenden Auftritten der re‐ ligiösen Gruppe Hare-Krischna oder jede andere Art von Demonstration - ist wiederum die Affirmation einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit wie Glaube oder Ideologie der Teilnehmenden, hebt aber die Anonymität der Individuen dieser Gruppe keinesfalls auf, sondern verstärkt sie noch, da die Individuen in der Gruppe sozusagen identifikatorisch verschmelzen. Der Effekt, dass Außen‐ stehende die Einzelnen in der Gruppe nur als Angehörige dieser Gruppe wahr‐ nehmen und ihnen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweise unterstellen, ist gewiss nicht diskriminierend, sondern von den Betroffenen beabsichtigt, es ist vielmehr der eigentliche Sinn der Veranstaltung. 64 Seddik Bibouche Kulturelle Begegnungen im öffentlichen Raum Bisher habe ich in meinem Beitrag versucht, die einzelnen Dimensionen, ver‐ borgene wie manifeste, zu beschreiben, die für die Begegnungen der Kulturen im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielen. Diese Dimensionen sind auf Seiten der Akteure Habitus, kulturelle Ausprägung und Integration, auf Seiten des öffentlichen Raums Exklusions- und Inklusionsmechanismen durch Gestal‐ tung, Funktion und Regeln. Auf der Metaebene schließlich sind die diversen Funktionssysteme der Gesellschaft wie Rechtsystem, Wirtschaft und politische Machtverhältnisse von Bedeutung. Die Komplexität des Zusammenspiels all dieser Dimensionen kann vielleicht durch eine graphische Darstellung reduziert werden. Die Graphikform ergibt sich geradezu zwingend aus der Ablehnung rein linearer Beschreibungen, die der Mehrdimensionalität des Phänomens, vor allem den Durchdringungsdynamiken der unterschiedlichen Dimensionen, nicht gerecht werden können. Mit diesem Modell kommen wir der Realität teil‐ weise näher, weil damit erstens eine lineare Kausalität als Begründung für die hier beschriebenen Phänomene vermieden wird und zweitens die Überschnei‐ dungsmomente in den Mittelpunkt gestellt werden, die eher zum Verstehen von Dynamiken der Begegnung von Kulturen beitragen. Sinn der Übung ist weniger, eine präzise Analyse des Phänomens „Begegnungen der Kulturen im öffentli‐ chen Raum“ zu liefern - dafür ist dieser Rahmen nicht ausreichend - als viel‐ mehr das Gefühl der Komplexität einer jede Begegnung im öffentlichen Raum zu vermitteln, unabhängig davon wie einfach, belanglos oder unproblematisch diese Begegnungen erscheinen mögen. In diesem Abschnitt möchte ich die einzelnen Elemente der Graphik nur streifen, eine detaillierte Erläuterung wäre zu umfangreich. Lediglich auf drei Aspekte werde ich ausführlicher eingehen, da sie mir für unsere Fragestellung zentral erscheinen: die Ressourcen der Akteure im öffentlichen Raum, das Wirken der soziokulturellen Felder, in denen sie sich bewegen, und schließlich die Stimmung im öffentlichen Raum. Dimensionen kultureller Begegnungen im öffentlichen Raum Alles was im öffentlichen Raum stattfindet, geschieht in einem gesellschaftli‐ chen Kontext, der für alle Akteure gleich ist. Das bedeutet nicht, dass auch die soziale Wirklichkeit der Akteure gleich ist. Dennoch stehen alle unter dem Ein‐ fluss der Funktionssysteme, die für die Integration der Gesellschaft sorgen. So steht das politische System für kollektiv bindende Entscheidungen, das Rechts‐ 65 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum system für die rechtsförmige Bearbeitung von Konflikten, das Wirtschafts‐ system für die Minderung von Knappheit usw. (vgl. Krause 2001: 132). Die Funktionssysteme produzieren die Bedingungen, unter denen der öffent‐ liche Raum organisiert und verwaltet wird. Die Zuständigkeit für Gestaltung, Regeln, Kontrolle und Atmosphäre des öffentlichen Raums wird an die Ge‐ meinden bzw. die Körperschaften des öffentlichen Rechts delegiert. Aber „der städtischer Raum ist keine vorgegebene Wirklichkeit, sondern ein gelebter Ort, der für die Menschen in dem Maße bedeutsam wird, als sie mit dem Raum und einzelnen seiner Elemente bestimmte Bedeutungen verbinden. Je unterschied‐ licher die Lebensweisen, desto unterschiedlichere Bedeutungen kann ein und derselbe Raum der Stadt annehmen“ (Siebel 2016: 22), und „die Straßen und Plätze der Städte [haben] eine eminent politische Funktion als Räume, in denen symbolische Kämpfe um soziale Anerkennung und um politische Macht ausge‐ tragen werden“ (ebd.: 88). Im öffentlichen Raum selbst treffen sich aus unterschiedlichen Gründen die Akteure mit ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen, ihren diversen kultu‐ rellen Hintergründen, spezifischen Erfahrungen, Ressourcen, Bedürfnissen und Verhaltensweisen, Wünschen und Nöten, kurzum mit allem, was die mensch‐ liche Existenz ausmacht. Der öffentliche Raum ist „durch seine allgemeine Zu‐ gänglichkeit oft der einzige Ort der Begegnung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen, die sonst kaum gemeinsame Handlungszusammenhänge haben. Man muss sich einigen, wer rechts und wer links vorbei geht und welche Regeln einzuhalten sind oder nicht, kurz: in Interaktion treten. Begegnungen heißt nicht nur Verständnis und Akzeptanz, sondern vor allem auch Aushandeln, Ab‐ grenzung und Konflikt“ (Keding 2009: 13). Dabei darf der Konflikt keinesfalls nur als Problem betrachtet werden, er ist vielmehr unabdingbar, denn „Gesell‐ schaften integrieren sich nicht über Harmoniebekundungen und hehre Ziele, sondern über Konflikte. Ohne Konflikte keine soziale Integration. Je mehr Kon‐ flikte desto besser - vorausgesetzt sie durchkreuzen sich gegenseitig; dadurch werden aus Streithähnen in einem Konflikt Verbündete im Anderen“ (Hondrich 2004: 90). Konflikte im öffentlichen Raum entstehen häufig in Zusammenhang mit Raumaneignungsprozessen durch einzelne Individuen, Gruppen, Geschäfte oder Organisationen. Weil der öffentliche Raum aber grundsätzlich allen Men‐ schen frei zugänglich sein sollte, werden Bestrebungen zur „Territorialisierung“ immer wieder zu Quellen von Konflikten. Die Raumaneignung kann sehr un‐ terschiedliche Formen annehmen: körperliche durch Mobilität oder Verweilen, symbolische durch das Anbringen von Werbeplakaten, das Zurücklassen von Müll, durch Zigarettenrauch oder Essensgeruch, akustische durch entspre‐ 66 Seddik Bibouche chende Kommunikation oder Musik und schließlich auch über strukturgebende Elemente wie Wegeführung und Bodenbeläge (vgl. Keding 2009: 26). Natürlich haben die Konflikte auch mit der Pluralität der Werteorientierungen der Akteure bzw. der gesellschaftlichen Gruppen im öffentlichen Raum und mit den dort herrschenden Machtverhältnissen zu tun. Abweichende Verhaltensweisen sind in einer durch Pluralität und Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft unver‐ meidlich und generieren selbstverständlich Konflikte zwischen den beteiligten Akteuren Individuum, Gruppe, Organisation oder der den Staat vertretenden Instanzen. Die entscheidende Frage ist dann nicht mehr, wie Konflikte ver‐ mieden werden, sondern vor allem wie mit ihnen umgegangen wird. Konflikte im öffentlichen Raum können auf unterschiedliche Weisen gelöst werden. Lö‐ sungsansätze, die auf Partizipation und Dialog beruhen, haben sich bisher als die erfolgreichsten erwiesen, „das Austarieren unterschiedlicher Auffassungen und Anforderungen an den öffentlichen Raum ist dabei zentrale Aufgabe. Auf dem Weg des Ausgleichs divergierender Interessen müssen alle Beteiligten - Anwohner, Hauseigentümer, Gewerbetreibende, die öffentliche Hand - einge‐ bunden werden. Ziel ist dabei, dass alle beteiligten Akteure gemeinsame Stra‐ tegien entwickeln“ (Kuhn 2016: 233 f.). Akteure - soziokulturelle Felder - öffentlicher Raum Soziokulturelle Felder sind komplexe und dynamische Gebilde, die alle eta‐ blierten sozialen, kulturellen und politischen Normen und Werte, Symbole und habitualisierten Handlungsweisen einer Gemeinschaft an einem Ort umfassen. Sie differenzieren sich in einzelne Felder wie das des Privaten oder der Familien, das der Vereine oder gemeinschaftlichen Aktivitäten, das der Kirche, des Poli‐ tischen usw. aus. Zwischen den einzelnen Feldern findet eine Wechselwirkung statt, welche die Gesamtdynamik einer Gemeinschaft wesentlich beeinflusst und die Sozialisation der Akteure dauerhaft prägt. Davon hängt maßgeblich die Alltagstimmung in einem Gemeinwesen ab. Dies trifft in besonderem Maß auf kleinere Gemeinden zu, in denen aufgrund der räumlichen Enge und der Enge der sozialen Beziehungen die Vermischung von Öffentlichkeit und Alltagswelt besonders groß ist. In einer tätigen Auseinandersetzung mit und auf den soziokulturellen Feldern entwickeln Menschen ihre allgemeinen Orientierungen und eignen sich die Elemente an, die ihnen eine Lebensführung auf diesen Feldern und eine Veror‐ tung im öffentlichen und im institutionellen Raum ermöglichen. Dabei erproben sie in Bezug auf die dort herrschenden Normen und anerkannten kulturellen Symbole ein Verhaltensrepertoire, das dazu dient, ihre Handlungsfähigkeit in 67 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum der Lebenswelt zu erhöhen. Die Art und Weise, wie sie mit diesen Prozessen umgehen, entscheidet am Ende über ihren sozialen Status oder ihre Stellung in den jeweiligen soziokulturellen Feldern. Ein entscheidender Aspekt dabei ist die Wechselwirkung zwischen den Ressourcen der Akteure und den soziokultu‐ rellen Feldern, in denen diese Ressourcen zur Geltung kommen. Das Ergebnis dieser Wechselwirkung kristallisiert sich zu einem Habitus, der nichts anderes ist als die soziokulturell verformte zweite Natur eines Individuums und dabei dessen Geschmack, Sprachstil, Körperhaltung, psychische Dispositionen und Haltungen, soziale Wahrnehmungsmuster und kulturpolitische Haltungen sowie kognitive und normative Deutungsmuster umfasst. An diesem Habitus kann man folglich auch die Zugehörigkeit einer Person zu einem bestimmen Feld erkennen und dementsprechend seine Haltung zu ihm abstimmen. Der Habitus hängt stark von der lokalen Bindung eines Menschen zu seiner Umge‐ bung ab. Je stärker diese Bindung ist, desto intensiver wird die Wechselwirkung zwischen Akteur und Milieu und desto charakteristischer wird sein Habitus. Dass dies beim Verhalten im öffentlichen Raum zum wichtigsten Erkennungs‐ merkmal wird, ist evident und erklärt zum Teil die Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Fremden, die per Definition selten oder nicht den identischen Habitus haben wie diejenigen, die einen - anderen - gemeinsamen Vergemeinschaf‐ tungsprozess erlebt haben. Habitus ist immer das Produkt einer Geschichte, die sich weder verkürzen noch beschleunigen lässt. Zu dieser Geschichte gehört auch die Herkunft der Akteure. Sie zu ignorieren, ließe sich unter der Sparte „wohlwollender Rassismus“ subsumieren, weil, wie der frühere Leiter des CCCS Stuart Hall es prägnant formulierte, „[…] wir alle von einer bestimmten gesell‐ schaftlichen Position aus sprechen, aus einer bestimmten Geschichte heraus, aus einer bestimmten Erfahrung, einer bestimmten Kultur […]. In diesem Sinne sind wir alle ethnisch verortet, unsere ethnischen Identitäten sind für unsere subjektive Auffassung darüber, wer wir sind, entscheidend“ (Hall 1966: 23). Atmosphärische Verdichtungen im öffentlichen Raum Diskursanalytische Untersuchungen, wie sie z. B. vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung durchgeführt wurden, zeigen, wie stark Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Vorurteil und Ressentiment gegenüber unerwünschten Fremden im Alltag und in der Alltagssprache verankert sind (vgl. Jäger 1992). Diese Vorurteile bilden im öffentlichen Raum unter bestimmten Bedingungen eine Grundstimmung, welche sich je nach Gegebenheit zu einer problemati‐ schen Qualität steigern kann, die ich atmosphärische Verdichtung nenne. Wenn z. B. aktuelle Ereignisse wie Terroranschläge vor dem Hintergrund konserva‐ 68 Seddik Bibouche tiver Orientierungen und entlang rechter ideologischer Deutungsmuster inter‐ pretiert werden, entstehen immer wieder bei der Mehrheitsbevölkerung Stim‐ mungen, die den Bereich der latenten feindlichen Haltung gegenüber unerwünschten Fremden verlassen, und sich dezidiert zu offen rassistischen und aggressiven Positionen entwickeln. Diese atmosphärischen Verdichtungen können sich bei einem gegenseitigen Aufschaukeln der Akteure insbesondere unter Alkoholeinfluss zu einer emotionalen Qualität steigern, aus der oft straf‐ rechtlich relevante Handlungen entstehen. In besonderer Weise problematisch ist, dass derlei atmosphärische Verdichtungen den Kontext für Enttabuisie‐ rungsprozesse liefern, die sich wiederum als Grundlage für neue Konstruktionen der Normalität eignen, neue Mythen über die unerwünschten Fremden entwi‐ ckeln und Grenzüberschreitungen - gleich ob auf der Diskurs- oder Handlungs‐ ebene - quasi legitimieren, sicher aber erleichtern (vgl. Jäger 1992: 220 ff.; 295 ff.). „So sind die in rassistische Diskurse Verstrickten zwar Opfer eines ‚Geistes geistloser Zeit‘. Indem sie in den rassistischen Diskurs verstrickt sind, sind sie aber zugleich potentielle Täter, die eines Tages auch zu wirklichen Tätern werden können, oder zumindest aktive Mitläufer. So gesehen, sind sie ‚unschul‐ dige Täter‘, ihre ‚Unterwerfung unter das Gegebene‘, das angeblich ‚Normale‘, korrespondiert mit ihrer Rebellion gegen den mythisch beschworenen, als un‐ normal gezeichneten Ersatzfeind.“ (ebd.: 297) Fazit Wenn Menschen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, treffen immer kom‐ plexe Welten aufeinander, wenngleich diese Komplexität in der Regel kaum sichtbar wird. Dennoch wirken bei jeder Begegnung auf ganz unterschiedlichen Ebenen viele Kräfte und Logiken im Verborgenen, die kaum vom einzelnen Subjekt wahrgenommen, geschweige denn beeinflusst werden können. Dabei entstehen permanent und unauffällig neue Paradigmen, die dauerhaft das Zu‐ sammenleben der beteiligten Akteure und ihre jeweiligen Orientierungen und Einstellungen beeinflussen. Dies geschieht nicht reibungslos. Konflikte gehören dazu und erfüllen eine positive Funktion, wenn die Politik, gleich ob auf natio‐ naler oder lokaler Ebene, es versteht, für die Integration intelligente Regulative einzusetzen. Sie können juristischer, organisatorischer, kultureller, sozialer oder technischer Art sein, wichtig ist vor allem, dass diese Instrumente das Grund‐ prinzip der demokratischen Partizipation aller Beteiligten berücksichtigen und eine würdevolle Anerkennung der Differenzen berücksichtigt, soweit diese von den Akteuren selbst beansprucht werden, denn „eine emanzipierte Gesellschaft … wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der 69 Kulturelle Vielfalt im öffentlichen Raum Versöhnung der Differenzen“ (Adorno 1951: 130). Was diese Differenzen nicht dürfen ist, die grundlegenden Prinzipien und Werte der demokratischen Rechts‐ ordnung in Frage zu stellen und den Weg zu einer Gesellschaft, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“ (ebd.: 131), zu versperren. Literatur Adorno, Theodor W. (1951). Minima Moralia. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Bahrdt, Hans Paul (1961). Die moderne Großstadt. Hamburg: Rowohlt. Bernhard, Christoph, Hg. (2016). Städtische öffentliche Räume - Planungen, Aneignung, Aufstände 1945-2015. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Bourdieu, Pierre (1979). Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1983). Die feinen Unterschiede. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1993). Sozialer Sinn - Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2006). Hass spricht - Zur Politik des Performativen. Frankfurt/ M: Suhrkamp. Clarke, John u. a. (1979). Jugendkultur als Wiederstand. Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurt/ M: Syndikat. Durkheim, Emil (1984). Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt/ M: Suhrkamp. Durkheim, Emil (1997): Der Selbstmord. Frankfurt/ M: Suhrkamp. Esser, Hartmut (2000): Soziologie - Spezielle Grundlagen. 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Die Notwendigkeit eines solchen Ausweges wird umso offenkundiger, je stärker die gegenwärtigen Tendenzen des Isolationismus und Nationalismus zur Normalität werden. Eine grundle‐ gende Rolle käme dabei der Dimension der Erziehung und ihren Institutionen zu. Wären nicht die Schulen der prädestinierte Ort, an dem sich die Herausfor‐ derungen gewissermaßen organisch ergeben, denen zu begegnen der Kosmo‐ politismus sich zur Aufgabe gesetzt hat? Unweigerlich würde hierbei die Frage der Identität ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Inwiefern stünden Konstrukte der Identität einem demokratischen Fortschritt aus kosmopoliti‐ scher Perspektive im Wege, welche Auswege böten sich an? Daran schließen sich die Diskussionen einer notwendigen Toleranz und der Voraussetzungen für die Partizipation von Individuen an, welche in Anerkennung bestehender Un‐ terschiede die Bedingungen globaler Gerechtigkeit berührten. Grundsätzliche Überlegungen zum Kosmopolitismus Jede und jeder von uns ist Teil von verschiedenen Gemeinschaften. Bereits die Stoiker gingen davon aus, dass jeder Mensch Teil von zwei Gemeinschaften sei: Erstens die lokale Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, und die in vielen Fällen unsere Staatsbürgerschaft begründet, woran in der bürgerlichen Gesellschaft wiederum Privilegien wie das Wahlrecht, das Recht auf Unterstüt‐ zung im Falle von Krankheit und Arbeitslosigkeit und vieles mehr geknüpft sind. Und die zweite, die laut Seneca „truly great and truly common“ (Seneca in Held 2010: 40) sei. Für Martha Nussbaum liegt in dieser zweiten Gemeinschaft die Basis dafür, was uns allen gemein sei: „the equal worth of reason and humanity in every person“ (Nussbaum in Held 2010: 40), womit ihr Nussbaum eine vor‐ rangige Rolle vor Gruppierungen nach Nationalität, Ethnizität und Klasse ein‐ räumt. Für Nussbaum steht fest, dass wir alle als Weltbürger*innen in erster Linie der Weltgemeinschaft verpflichtet sind: „The basic idea of classical cos‐ mopolitanism involves the notion that each person is ‚a citizen of the world‘ and owes a duty, above all, ‚to the worldwide community of human beings‘“ (ebd.). Seyla Benhabib unterscheidet drei Dimensionen von Staatsbürgerschaft: Da ist zum einen die Dimension, in der eine Person Teil der „kollektiven Identität“ (Benhabib 2008b: 43) eines Landes sei und es ist dieser Punkt, der uns im Fol‐ genden vor allem beschäftigen wird. Die nächste Stufe ist die der „politischen Zugehörigkeit“ (ebd.), wie im Falle von EU-Bürger*innen und deren Rechte und Ansprüche in den Gastländern sowie in der Europäischen Union. Und zuletzt „die höchste Stufe der Staatsbürgerschaft“ (ebd.), die den Anspruch auf die vollen sozialen Rechte und Leistungen begründet. In diesem Rahmen kann ich den Bereich des Rechts lediglich streifen. Stattdessen werde ich mich auf Fragen des Kosmopolitismus als moralische Haltung konzentrieren, die sich vor allem mit Fragen nach dem Schutz der Menschenrechte, nach globaler Gerechtigkeit und der Neugestaltung diskriminierender internationaler Systeme beschäftigt. Betrachten wir die heutigen Nationalstaaten, so erkennen wir zum einen den demos, ein Staatsvolk, das eine „politische Gemeinschaft mit klaren Regeln, durch die die Beziehungen zwischen dem Innen und dem Außen bestimmt werden“ (Benhabib 2009: 65), darstellt und zum anderen das Konzept des ethnos. Den ethnos, so der Vorschlag Benhabibs, bildet „eine Gemeinschaft, die durch die Macht gemeinsamen Schicksals und gemeinsamer Erinnerungen, durch Zu‐ sammenhalt und Zugehörigkeit verbunden ist“ (Benhabib 2008b: 62). Geflüch‐ tete oder andere Asylsuchende haben nicht die Möglichkeit, selbst zu ent‐ scheiden, ob sie Teil sein möchten oder nicht und können nicht ohne das aktive Zutun des ethnos Eintritt in diese Gemeinschaft finden. Benhabib hält das Prinzip des ethnos für unvereinbar mit den Prinzipien universalistischer Ethik und plädiert dafür „demokratische Bürgerschaft und Nationalität voneinander loszulösen“ (Benhabib 2008c: 156). Deshalb haben wir darüber hinaus die Gemeinschaft der Weltbürger*innen, die auf der Grundlage kosmopolitischer Normen aufgebaut ist. Hier schwingt schon mit, worum es im Kosmopolitismus im Prinzip geht: eine Gemeinschaft zu stiften, die sich über ausgrenzende Aspekte der menschlichen Identität wie Nationalität, Klasse, Geschlecht oder Religion zu erheben vermag, und einen Raum schafft für das Einende, aus dem niemand, ganz gleich welcher Herkunft, ob behindert oder nicht-behindert, ob alt oder krank, ausgeschlossen werden kann. Auch darf und kann, so betonten bereits die Stoiker, der Zufall der Geburt 74 Hanna Schirovsky in eine Nation, eine Kaste etc. keine Rechtfertigung für eine Besser- oder Schlechterstellung von Personen liefern (vgl. Nussbaum 2010b: 157). Nussbaum betont den moralischen Aspekt des Kosmopolitismus als Errungenschaft der Aufklärung. Die Wurzeln dieser Moralität sieht sie bereits in der Stoa verwur‐ zelt. Dieser Kosmopolitismus strebt an, Ungerechtigkeiten auszugleichen, die durch die Geburt in verschiedene Lebensumstände entstanden und die dafür verantwortlich sind, dass der jeweilige Mensch sich mehr oder weniger gut ent‐ falten kann. Anstatt der „politischen Schicksalsgemeinschaft“ (Benhabib 2008b: 62) sollte also vielmehr die „moralische Gemeinschaft“ (Nussbaum 2010b: 157) betont werden, in der das Individuum die Anderen schlicht als Menschen, und schon aus diesem Grunde als ebenbürtig begreift und behandelt. Der / die Weltbürger*in zeichnet sich dadurch aus, dass er / sie die von Menschen ge‐ machten Konstrukte als solche erkennt und kritisch hinterfragt. Er / sie bedient sich für sein / ihr tägliches Handeln der Vernunft und fühlt sich den Mitmen‐ schen gegenüber verpflichtet, das eigene „Handeln durch Gründe zu rechtfer‐ tigen“ (Benhabib 2008a: 24). Der Kosmopolitismus lässt sich definieren als eine „normative Philosophie, die diskursethische universalistische Normen über die Grenzen des Nationalstaates hinausträgt“ (ebd.). Nachdem der Nationalsozialismus das brutale und menschenverachtende Gesicht der Überhöhung einer menschlichen ‚Rasse‘ und der versuchten Aus‐ rottung anderer Bevölkerungsgruppen gezeigt hatte, wurde mit der Allge‐ meinen Erklärung der Menschenrechte 1948 durch die Vereinten Nationen ein Fundament gelegt, das allen Menschen gleiche Rechte auf ein Leben in Würde und in Unversehrtheit garantieren sollte. Dennoch häufen sich auch weiterhin die Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Zudem zeigen empiri‐ sche Studien sehr deutlich, dass es sich beispielsweise im Falle von Völker‐ morden nicht, wie häufig angenommen, um gewaltsame Konflikte zwischen weit entfernt lebenden Konfliktparteien handelt, sondern dass es oftmals Riva‐ litäten zwischen Nachbarn sind, die eskalieren. Seyla Benhabib kommt, mit Ver‐ weis auf Will Kymlicka, deshalb zu dem Schluss: „‚Die profane Entwicklung wiederholter Begegnung‘ zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen bietet absolut keine Garantie dafür, dass eine kosmopolitische Haltung sich ver‐ breitet, die alle Menschen als Individuen mit dem Recht auf gewisse Rechte ansieht“ (Benhabib 2008c: 135). Die Aufgabe des Kosmopolitismus besteht also darin, die moralische Verpflichtung gegenüber meiner Mitwelt als oberste Ins‐ tanz wirksam werden zu lassen, um Gefahren der Spaltung zwischen Menschen zu verhindern. Doch wie kann es dann gelingen, eine solche kosmopolitische Haltung zu verbreiten? 75 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Kosmopolitische Erziehung Bereits die Stoiker betonten die Wichtigkeit einer „good civic education“ (Nuss‐ baum 2010b: 157). Wenn wir die Entwicklung der Pädagogik in Deutschland und ihre Veränderungen durch den Unterricht mit „Migrationsanderen“ (Mecheril 2004: 93) betrachten, so stellen wir jedoch fest, dass sich die Debatten sowohl im Rahmen der sogenannten Ausländerpädagogik Mitte des 20. Jahrhunderts, als auch der späteren pädagogischen Ansätze von der interzur transkulturellen Pädagogik zwischen einerseits Ablehnung und andererseits Heraushebung der Andersartigkeit, zwischen dem Fokus auf Andere als Defizitäre und der Fest‐ schreibung des / der Anderen auf seine / ihre Andersartigkeit, bewegt (vgl. Me‐ cheril 2004: 101 f.), womit ein Einbezug auf Augenhöhe verhindert wird. Einen konkreten Ansatz, worin kosmopolitische Erziehung im Kern besteht, bieten Hans Küngs Darlegungen zum Projekt Weltethos, dessen Aufgabe folgen‐ dermaßen formuliert wird: „um Wege zu einem gelingenden Miteinander zu ebnen, brauchen wir zukunftsweisende Ideen und Konzepte, die nicht polari‐ sieren, sondern die Alternativen bieten“ (Küng 2012: 123). Küng bezieht sich hierbei auf das interkulturelle Lernen und auf das Ziel, einen Bewusstseins‐ wandel zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, im Kindes- oder Jugendalter, zu erreichen. Hierfür seien folgende Aspekte wichtig: Das Fördern von Interesse an anderen Kulturen, die Vermittlung von Kenntnissen sowohl in Bezug auf die eigene, als auch auf andere Kulturen, insbesondere auch was die jeweiligen Werte angeht, die Ermöglichung einer vorbehaltlosen und respektvollen Be‐ gegnung auf Augenhöhe, die Ressentiments und Voreingenommenheit entge‐ genwirkt sowie die Herausbildung eines Geistes der friedlichen Koexistenz auf der Grundlage gemeinsamer Werte (vgl. ebd.). Kosmopolitische Erziehung würde insbesondere in der Erziehung dazu be‐ stehen, sich selbst in Relation zu anderen zu setzen, und dabei sowohl mehr über sich selbst als auch über unsere Mitmenschen zu lernen. Kosmopolitische Er‐ ziehung gibt uns die Möglichkeit, uns selbst und unsere Rolle im Weltgefüge besser zu verstehen. Nussbaum zitiert Marcus Aurelius, der die Basis der kos‐ mopolitischen Erziehung folgendermaßen zusammenfasst: „Accustom yourself not to be inattentive to what another person says, and as far as possible enter into that person’s mind (…) Generally one must first learn many things before one can judge another’s action with understanding“ (Nussbaum 2010b: 158). Die Überprüfung und Hinterfragung der eigenen Person und des eigenen Handelns ist nicht nur entscheidend für die Herausbildung einer Persönlichkeit mit welt‐ bürgerlicher Verantwortung, sondern vermag es auch, unser eigenes Leben zu bereichern, indem wir eine Fülle von Alternativen und Optionen zu unserem 76 Hanna Schirovsky eigenen Handeln kennenlernen: „By looking at ourselves through the lens of the other, we come to see what in our practices is local and nonessential, what is more broadly or deeply shared“ (Nussbaum 2010b: 159). Die Hinterfragung unseres eigenen Denkens und Handelns bewahrt uns davor, es als die Norm zu betrachten und damit Gefahr zu laufen, anderes Denken und Handeln als un‐ natürlich und minderwertig zu beurteilen. Diese Gefahr zeigt sich in der wieder neu aufflammenden Leitkultur-Debatte. Hier werden für das erfolgreiche Zu‐ sammenleben in Deutschland vor allem die neu hinzugekommenen Personen und deren Fähigkeit zur Assimilation an eine angebliche Mehrheitskultur ver‐ antwortlich gemacht, anstatt die Wichtigkeit der gemeinsamen Definition des Zusammenlebens und die Notwendigkeit des Aufeinander-Zugehens von beiden Seiten in den Fokus zu heben. Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang lautet: Wie kann die Begeg‐ nung mit dem Fremden in uns und in anderen gelingen? Die Psychoanalyse geht davon aus, dass ablehnendes Verhalten von Menschen gegenüber ‚Anderen‘ in erster Linie Auskunft gibt über die Art des Umgangs mit dem Eigenen. Durch eine Übertragung der eigenen, als sozial unerwünscht oder unliebsam wahrge‐ nommenen Wesenszüge auf die ‚Anderen‘ kann der / die Einzelne sich als von diesen Wesenszügen befreit und damit als höherwertig im Vergleich zu jenen ‚Anderen‘, die nun aufgrund der negativen Persönlichkeitsanteile als minder‐ wertig gelten, betrachten (vgl. Shooman 2012: 56). Dies geschieht zum Beispiel, indem Muslim*innen Frauenfeindlichkeit unterstellt wird. In scharfer Abgren‐ zung des Christentums vom Islam wird Ersteres auf Kosten des Letzteren auf‐ gewertet und beansprucht für sich, fortschrittlich zu sein und im Gegensatz zum Islam für die Gleichberechtigung der Frau zu stehen (ebd.). Yasemin Shooman legt dar, dass der einstige biologistische Rassismus im Laufe des letzten halben Jahrhunderts einer Art „Neobeziehungsweise Kultur‐ rassismus“ (Shooman 2012: 53) gewichen ist. Dieser neue Rassismus festigt strukturelle Diskriminierung von Vertreter*innen einzelner Kulturen zugunsten der Höherbewertung anderer Kulturen, ohne auf den historisch negativ kon‐ notierten Rassebegriff rekurrieren zu müssen. Die Wirkung ist jedoch ähnlich: Es kommt zu einer hierarchischen Anordnung der Kulturen, wobei die Religion, die Teil der Kultur ist, als das neue Distinktionsmerkmal fungiert (vgl. Shooman 2012: 53 f.) und eine binäre Gegenüberstellung von Muslim*innen auf der einen und Christ*innen auf der anderen Seite ermöglicht (vgl. Shooman 2012: 55). Stuart Hall legt weiter dar, dass Kultur Dingen Bedeutung verleihe und ihnen Positionen innerhalb eines vorherrschenden Bewertungssystems zuweise. Diese Bedeutung sei jedoch niemals wert- und bezugsfrei, sondern immer „relational“ (Hall 2001: 328). Für die Zuschreibung von Bedeutung sei die Abgrenzung von 77 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration etwas Gegensätzlichem notwendig. In diesem Prozess werden Machtpositionen herausgebildet, welche eine Legitimation für den „Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen“ (Hall in Shooman 2012: 57) der einen Gruppe auf Kosten einer anderen Gruppe zu liefern versuche. Wie kann diesen Mechanismen der Ablehnung begegnet werden, sodass es zu einer Integration der abgelehnten Anteile und einer Versöhnung mit dem Fremden in uns und in Anderen kommen kann? Eine Verringerung der Frem‐ denfeindlichkeit durch Verringerung der Fremden durch verstärkte Homogeni‐ sierung in der Gesellschaft ist weder realistisch noch erstrebenswert. Jedoch ist eine Verringerung der unbewussten Abgrenzungsprozesse durch Reflexion und Bewusstmachung der eigenen Projektionsmechanismen denkbar. Die Aufgabe der kosmopolitischen Erziehung wäre letztlich, zu vermitteln, dass Menschen, in all ihrer Verschiedenheit und Ambivalenz, in sich selbst sowie untereinander, gleichwertig sind, und zwar nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie unter‐ schiedlich sind. Diese Differenz als Potential anstatt als Gefahr zu erkennen, darin besteht die Herausforderung, die im Rahmen der aktuellen Migrationsbe‐ wegungen auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die kosmopolitische Haltung stehe somit für die „Hybridität, Veränderlichkeit und das Anerkennen des frag‐ mentierten und innerlich zerrissenen Charakters des menschlichen Selbst“ (Waldron in Benhabib 2008a: 24). Darüber hinaus würden wir durch kosmopolitische Erziehung befähigt, Pro‐ bleme der internationalen Kooperation besser lösen zu können, so zum Beispiel das Trittbrettfahrerproblem im Bereich der öffentlichen Güter (vgl. O’Neill 2010: 73) wie der Verschmutzung von Luft und Gewässern, wo das Verursacherprinzip nicht mehr greift. Wir würden lernen, ethisch motiviertes Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen an den Tag zu legen und deren Rechte in unser Tun ein‐ zubeziehen: „If we really do believe that all human beings are created equal and endowed with certain inalienable rights, we are morally required to think about what that conception requires us to do with and for the rest of the world“ (Nussbaum 2010b: 160). Und zu guter Letzt erlernten wir das kritische Hinter‐ fragen dessen, was wir erfahren. Wir lernten Unterscheidungen, mit denen wir aufgewachsen sind, als solche zu erkennen und uns selbst Fragen zu stellen, zum Beispiel zur Bedeutung von Staatsgrenzen und was diese mit globaler Solidarität zu tun haben. Zunächst einmal bedeuten Staatsgrenzen unweigerlich den notfalls gewalt‐ samen Ausschluss von Menschen aus einer Gruppe mit bestimmten Privilegien. Laut Marianne Heimbach-Steins handele es sich bei Staatsgrenzen in erster Linie um Instrumente der Gestaltung politischer Räume, die niemals absolut gelten dürften. Da sie darüber hinaus Ausdruck von herrschenden Machtverhältnissen 78 Hanna Schirovsky innerhalb geopolitischer Ordnungen sind, dürfe und müsse, so Heim‐ bach-Steins, ihr Zweck und Geltungsbereich hinterfragt werden (Vortrag im Rahmen der Mönchengladbacher Sozialethischen Gespräche 2017). Auch David Held betont unter Verweis auf Thomas Pogge, dass Staatsgrenzen sich in his‐ torisch zwiespältigen Kontexten und meist als Resultat von Zwang und Gewalt herausgebildet hätten: „Borders obscure the common circumstances of human‐ kind and, thus, could not have the moral significance frequently ascribed to them. The individual belongs to the wider world of humanity; moral worth cannot be specified by the yardstick of a single political community“ (Held 2010: 41). Oftmals wurden Grenzen am Reißbrett entworfen und beschlossen und aus vormaligen Nachbarn wurden Feinde. Staatsgrenzen spalten, anstatt zu einen und wirken damit als Antagonisten zum Bestreben des moralischen Kosmopo‐ litismus, das, was Menschen eint, hervorzuheben. Für Martha Nussbaum hat kosmopolitische Erziehung die Aufgabe, über die Willkür vieler menschenge‐ machter Ausgrenzungssysteme nachzudenken und deren Zweck zu erkennen. Die Hinterfragung der moralischen Legitimität derartiger Kategorisierungen müsse Teil der kosmopolitischen Erziehung sein. Andernfalls führe sie lediglich zu einer Fortsetzung der sozialen Ausgrenzungsprozesse: „An education that takes national boundaries as morally salient too often reinforces this kind of irrationality, by lending to what is an accident of history a false air of moral weight and glory“ (Nussbaum 2010b: 159). Die größte Gefahr für das friedvolle Zusammenleben von Menschen besteht in der Hierarchisierung der (kollektiven) Identitäten sowie im Versuch, Men‐ schen in starren Kategorien von Religionen oder Kulturen unter Betonung le‐ diglich dieser einen singulären Klassifikation zu fassen, so wie es beispielsweise Samuel Huntington in seinem Buch „Clash of Civilizations“ tat. Er ging in seiner Analyse von angeblich homogenen Kulturen entlang religiöser Frontlinien aus und ignorierte dabei die große Bandbreite an Heterogenität innerhalb der je‐ weiligen Gruppen (vgl. Sen 2006: 10 f.). Huntingtons Thesen genießen auch heute noch große Popularität. Doch gerade dieser Versuch, die Komplexität einer zusehends vernetzten Welt durch Simplifizierung zu fassen, führt zu immer neuen Konflikten. Die Herausforderung der Migration und des Kosmo‐ politismus besteht also darin, das Potential der pluralen Identitäten wie „Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral und Politik“ (Sen 2007: 12) zu erkennen und gezielt zu nutzen gegen spalterische Tendenzen, wie sie aktuell im Wiedererstarken nationalistischer Bewegungen in vielen Ländern insbeson‐ dere in der EU, aber auch andernorts, zu sehen sind. 79 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Kosmopolitismus und Identität Amartya Sen betont, dass es von entscheidender Bedeutung sei, keine Identität oder Zugehörigkeit als alleinige zu verstehen. Ebenso könne keine Identität als in sich geschlossene Einheit betrachtet werden, die unabhängig von äußeren Einflüssen sei (vgl. Sen 2006: 20). Es gehe vielmehr darum, die Diversität der verschiedenen Zugehörigkeiten als Chance zur friedlichen Konfliktbeilegung durch die dadurch entstehenden mannigfaltigen Schnittpunkte von Individuen und Gruppen zu verstehen. Die Einteilung der Welt in eine Ansammlung von singulären Identitäten liefere stattdessen Zündstoff für immer neue Konflikte (vgl. Sen 2006: 16). Darüber hinaus müsse die Freiheit zur Priorisierung der ver‐ schiedenen Identitäten bei den Individuen selbst verbleiben (vgl. Sen 2006: 34). Gleichwohl, so betont Sen, sei die Freiheit zur Priorisierung teilweise extrem eingeschränkt und werde stark durch das Umfeld und dessen Zuschreibungen beeinflusst (vgl. Sen 2006: 6). Hier ist zu denken an die aktuelle Situation ver‐ mehrter terroristischer Anschläge, die teilweise durch Migrant*innen muslimi‐ schen Glaubens begangen wurden, und der damit einhergehenden Aufforde‐ rung der Mehrheitsbevölkerung an ‚die‘ Muslime, dazu Stellung zu beziehen, selbst wenn der / die Einzelne betont, der muslimische Glaube spiele eine eher untergeordnete bis gar keine Rolle für ihn / sie selbst. Amartya Sen stellt sich gegen populäre Kulturtheoretiker*innen, die auf das angeblich unausweichliche, gewaltsame Aufeinanderprallen der verschiedenen Gruppierungen fokussieren. Denn indem ständig in der Öffentlichkeit, insbe‐ sondere durch Massenmedien, die Behauptung des fortschrittlichen, friedfer‐ tigen ‚Westens‘ beschworen wird, der - in angeblicher Isolation von Einflüssen anderer Kulturen - die heutigen universellen Ideale wie Demokratie, Freiheit und Toleranz herausgebildet habe, während ‚der‘ Islam als der qualitative Ge‐ genpol dazu die genannten Werte angeblich nicht verinnerlicht habe und wo‐ möglich sogar ablehne, werden sich die Prozesse der Abgrenzung und Abschot‐ tung der jeweiligen Kulturvertreter*innen täglich wiederholen. Wir können beobachten, wie Gemeinsamkeiten unter Mitgliedern einer Gruppe geschaffen werden, so zum Beispiel durch die Konzeption einer Nation als kollektive Identität mit „geteilten Zuneigungen“ (Rawls in Nussbaum 2010a: 337) unter ihren Mitgliedern. Diese Annahme von geteilten Zuneigungen auf‐ grund der Tatsache, dass man im gleichen geografischen Gebiet lebt, wider‐ spricht dem Grundsatz der Moral als Basis des friedlichen Miteinanders, die allen Weltbürger*innen die gleichen Rechte einräumt, nicht nur jenen, denen wir uns aufgrund von angenommenen, quasi sozial vorgegebenen Emotionen zugeneigt fühlen. Dem Konzept der Nation als Gemeinschaft mit geteilten Zuneigungen 80 Hanna Schirovsky kann die Annahme entgegengestellt werden, dass Zuneigungen sehr viel eher durch gewichtige Erfahrungen aus dem Alltagsleben geprägt werden als auf‐ grund des zeitgleichen Aufenthalts an einem Ort. In bestimmten sozialen Kontexten werden Solidarität und Identität neu ge‐ bildet beziehungsweise neu bewertet, je nachdem, ob aufgrund eines geteilten Identitätsmerkmales zum Beispiel eine Notlage entsteht, die gemeinsam zu be‐ wältigen ist. Pierre Bourdieu stellte fest, dass gesellschaftliches Handeln einen Unterschied erzeugen kann, wo zuvor keiner existierte und „soziale Magie“ (Sen 2007: 41) Menschen beeinflusst, indem sie deren Anderssein formuliert. Nuss‐ baum erwähnt an dieser Stelle indirekt den Einfluss von Machtkonstellationen in gesellschaftlichen Diskursen. So neigten wir dazu, die Deutungshoheit der „herrschenden Gruppe“ (Rawls in Nussbaum 2010a: 337) zu unterschätzen und deren Behauptungen in Bezug auf Zusammenhalt und Homogenität von Gruppen Glauben zu schenken. Bei genauerer Betrachtung würden wir jedoch, so Nussbaum, feststellen, dass Gemeinschaft sehr viel stärker durch gemeinsame Erfahrungen geschaffen werden kann als durch das zufällige geografische Ko‐ existieren. So können beispielsweise Erfahrungen der Unterdrückung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung Individuen weitaus stärker einen als der gemeinsame Aufenthaltsort von Individuen, welche jedoch völlig verschiedene Alltagsrealitäten erleben (vgl. ebd.). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Nationalität zwar durchaus ein Ge‐ meinschaftsgefühl erzeugen kann, dass dieses Gefühl der Zuneigung sich jedoch ebenso durch alltägliche und lebenspraktische Identitätsmerkmale hervorrufen lässt, weshalb die Nationalität nur einen Teil der Identität ausmacht und nicht zu Lasten anderer Identitätsmerkmale überbewertet werden sollte. Den ent‐ scheidenden Unterschied macht die Haltung gegenüber den anderen Gemein‐ schaftsmitgliedern und ob der / die Einzelne diesen gegenüber gleichgültig ist oder sich ihnen moralisch verpflichtet fühlt. Es könne von der Nation als einer Schicksalsgemeinschaft gesprochen werden, vorausgesetzt die beteiligten Ak‐ teure haben sich aktiv dafür entschieden, ein gemeinsames Schicksal zu teilen (vgl. Kymlicka 2010: 437). Entscheidend im Rahmen einer kosmopolitischen Erziehung ist die Er‐ kenntnis, dass Kultur, Nation und Identität keine passiven und unveränderlichen Entitäten sind, sondern vielmehr dynamisch sind und durch tägliche Hand‐ lungen bestätigt und erneuert werden. Auch sei laut Amartya Sen die kulturelle Freiheit nicht durch die Geburt in einen Kulturkreis begründet, sondern durch aktive Ausübung dieser Freiheit (vgl. Sen 2007: 42 ff.). Amartya Sen zählt neben Martha Nussbaum zu den prominentesten Vertreter*innen der Capabili‐ ties-Theorien, welche die Verwirklichungschancen von Menschen untersuchen 81 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration und fragen, inwieweit diese Menschen selbst über ihr Leben und die erstre‐ benswerten Ziele darin entscheiden können. Darüber hinaus müsse, so Sen, be‐ tont werden, dass der Zusammenhang zwischen kultureller Freiheit und kul‐ tureller Vielfalt nicht zwangsläufig positiv sei. Für die Frage der Bedeutung der kulturellen Vielfalt in diesem Zusammenhang ist vielmehr entscheidend, „ob und in welchem Maße sie den Menschen hilft, eigene Entscheidungen zu treffen“ (Sen 2007: 126). Kosmopolitismus und Toleranz Rainer Forst legte im Rahmen seiner Toleranzstudien dar, dass Toleranz bedeute, sich mit genau denjenigen Details im Zusammenleben mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, wo wir an unsere eigenen Grenzen stoßen. Das, worüber wir nicht diskutieren wollen, mache den Kern dessen aus, womit wir uns im Rahmen der Ausübung von Toleranz gegenüber anderen notwendigerweise auseinandersetzen müssen. Toleranz darf hierbei nicht mit Ignoranz verwechselt werden, denn die Gleichgültigkeit angesichts des Tragens eines Kopftuches ist kein Zeichen von Toleranz, wenn wir gleichzeitig nicht bereit sind, über unsere kategorische Ablehnung der Burka zu streiten, sondern symbolisiert vor allem, was uns im Grunde egal ist, und wo unsere Toleranzgrenze tatsächlich verläuft. Wie zuvor bereits erläutert, ist die Schule der ideale Ort zum Erlernen kos‐ mopolitischer und damit auch toleranter Einstellungen. Genau hier haben wir im besten Falle gelernt, dass die Freiheit des / der Einen dort endet, wo sie die Freiheit des / der Anderen verletzt. Insofern kann gegen das Tragen eines Kopf‐ tuchs beispielsweise im Unterricht nur ein auf Fakten begründetes Argument geltend gemacht werden, so zum Beispiel, wenn die Freiheit einer zweiten Person oder das Zusammenleben im öffentlichen Raum dadurch eingeschränkt wird. Ist dies nicht der Fall, beschränkte das Verbot des Tragens eines muslimi‐ schen Kopftuches, so Forst, die Glaubensfreiheit der Einzelnen zugunsten der Intoleranz der Anderen. Am Beispiel der sogenannten Kopftuchaffäre zeigt sich die Vielschichtigkeit des Zusammenspiels von kultureller Vielfalt und kultureller Freiheit. So stellten drei muslimische Schülerinnen die Grenze „zwischen Öffentlichem und Pri‐ vatem“ (Benhabib 2008b: 51) im Frankreich der späten 1980er-Jahre in Frage, als sie mit einem Kopftuch im Unterricht erschienen, obwohl ihnen dies zuvor von der Schulleitung verboten worden war. Sie konterkarierten die geltenden Regeln des Zusammenlebens zwischen französischer Mehrheitsgesellschaft und Bürger*innen muslimischen Glaubens, indem sie mit einem einfachen Akt des Ungehorsams gegenüber der staatlichen Autorität die Widersprüchlichkeit des 82 Hanna Schirovsky Verbots von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum durch die Ausübung des Rechts der Religions- und Glaubensfreiheit offenlegten und damit eine lang‐ wierige Debatte lostraten, welches Recht nun Vorrang habe. Sie nutzten, so Benhabib, die Freiheiten der französischen Gesellschaft, um einen für sie wich‐ tigen Aspekt ihrer Identität selbstbewusst zum Ausdruck zu bringen und dafür den Schutz ihres Rechts auf „religiöse Differenz“ (ebd.) vom Staat einzufordern. Dabei lehnten sie sich sowohl gegen den französischen Staat als auch gegen die Elterngeneration auf. Die Schülerinnen wurden während der gesamten Debatte nicht zu ihren Beweggründen befragt und hatten keine Möglichkeit, sich auf diese Art Gehör zu verschaffen. Sie ergriffen jedoch die Chance, ihre kulturelle Freiheit auszuüben und dabei einen „symbolischen Aushandlungsprozess“ (ebd.) in Gang zu setzen, an dessen Ende eine Verschiebung der kulturellen Bedeutung eines einfachen Stückes Stoff als Ausdruck ihrer Religiosität zum Ausdruck eines „kulturellen Widerstands“ (Benhabib 2008b: 54). stand. Für Benhabib steht das Tragen des Kopftuchs damit für „einen Akt des Gewissens, der moralischen Freiheit“ (Benhabib 2008b: 56). Während das Kopftuch für die älteren Migrant*innengenerationen die Auf‐ rechterhaltung der Tradition bedeutet, ermöglichte es hier der jüngeren Gene‐ ration, mit Traditionen zu brechen und wurde Ausdruck einer Rebellion gegen die Erwartung der Elterngeneration sowie der Aufnahmegesellschaft (vgl. Gas‐ pard / Khosrokhavar in Benhabib 2008b: 51). Um jedoch zu erkennen, worum es sich wirklich handelt, bedarf es eines unvoreingenommenen Blickes, der dem Impuls widersteht, das Gesehene sofort in Kategorien von traditionell / altmo‐ disch / unterdrückt versus modern / aufgeklärt / emanzipiert einzuordnen. Diesen unvoreingenommenen Blick können wir durch kosmopolitische Erzie‐ hung erlernen, die uns befähigt, von den gängigen Werturteilen einen Schritt zurückzutreten und uns unserer eigenen Ambivalenz bewusst zu werden, bevor wir uns daranmachen, über das Handeln der Anderen zu urteilen. Bevor der / die aufgeklärte Weltbürger*in also ‚den‘ Migrant*innen mangelnden Integrati‐ onswillen oder Traditionalismus vorwirft, sollte er / sie genau hinsehen, ob diese Personen tatsächlich über die Freiheit verfügen, selbst zu entscheiden, wie sie leben möchten und ob sie über reale und faire Bildungschancen und Teilhabe‐ möglichkeiten in der Gesellschaft verfügen. Diese Entscheidungsfreiheit des / der Einzelnen ist essentiell für den Kosmopolitismus, der, wie wir gesehen haben, nur insofern taugt, wie er den beteiligten Personen solche Freiheiten einräumt: „Wir müssen mit dem Anderssein der anderen leben lernen, deren Art und Weise zu leben unserer eigenen höchst bedrohlich scheinen mag. Wie sonst sollte moralisches und politisches Lernen stattfinden, außer durch solche Be‐ gegnungen in der Zivilgesellschaft? “ (Benhabib 2008b: 58) 83 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Kosmopolitismus und Partizipation Wie wir bereits gesehen haben, treffen wir vielfach auf Situationen, in denen Personen keine Teilhabe an Aushandlungsprozessen haben, die sie selbst be‐ treffen. Das Dilemma von gesellschaftlichen Diskursen liegt insbesondere darin begründet, dass die von den Konsequenzen und Ausschlusskriterien betroffenen Personen nicht an deren Artikulation beteiligt sind. Dieses selbstreferentielle System wird zu selten hinterfragt und zu häufig als gegeben hingenommen. Deshalb lauten die beiden entscheidenden Fragen für den kosmopolitischen Menschen, „von wem“ und „für wen werden die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft formuliert? “ (Nussbaum 2010a: 35). Hier stellt sich die Frage nach dem Problem des Zirkelschlusses, wonach die von der Frage ihres möglichen Ein- und Ausschlusses betroffenen Personen keine Möglichkeit haben, mitzuentscheiden, denn: „Es gibt kein demokratisches Verfahren, um demokratisch zu entscheiden, wer Teil des demos sein soll und wer nicht, weil eine solche Entscheidung bereits die Unterscheidung zwischen denen, die entscheiden dürfen, und den anderen, die nicht zu dem Demos ge‐ hören, impliziert“ (Benhabib 2009: 73 f.). Da wir an dieser Stelle unweigerlich mit einem Problem konfrontiert sind, für das sich auf der Ebene des Rechts keine Lösung finden lässt, habe der Kosmopolitismus die Aufgabe, die Resultate der Inklusion und Exklusion von Individuen dadurch aufzulösen, dass sie auf eine höhere Ebene, der des „Weltbürgerrechts“ (Benhabib 2009: 68), angehoben werden. So findet sich für Benhabib bereits bei Kant die Grundlage für den Grundsatz der Nichtrückschiebung, welcher später ein wichtiger Bestandteil der Genfer Flüchtlingskonvention wurde (vgl. Benhabib 2009: 68 f.). Benhabib er‐ läutert Kants Ausführungen zum „Besuchsrecht“ (Kant 1795: 358), womit der Anspruch auf einen Aufenthalt in einem fremden Land begründet ist. Dem / der Asylsuchenden kann laut Kant der Aufenthalt versagt werden, wenn das Wohl‐ ergeben der Person dadurch nicht gefährdet würde. Solange der Neuankömm‐ ling sich jedoch „friedlich verhält“ (ebd.), gebe es keinen Grund, ihm nicht ebenso friedfertig zu begegnen. Auf der Ebene des Weltbürgerrechts spielen ju‐ ristisch notwendige Konstrukte von Ordnung wie Staatsgrenzen eine sekundäre Rolle. Die Aufgabe des Kosmopolitismus bestehe somit laut Benhabib in der Entwicklung von „transparenten Öffentlichkeiten“ (Post 2008: 9) sowie eines zivilgesellschaftlichen Diskurses, der zu übernehmen anstrebt, was das Recht nicht fassen kann. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist zudem das durch David Held formulierte Prinzip der „active agency“ (Held 2010: 69) als eines der acht Prin‐ zipien des Kosmopolitismus, welches mit der von Sen hervorgehobenen Wahl- 84 Hanna Schirovsky und Handlungsfreiheit verglichen werden kann. Für Held besteht, unter Beru‐ fung auf Rawls, die Hauptaufgabe des Kosmopolitismus darin, einen Weg zu finden, sich gewaltfrei, inklusiv und diversitätssensibel über kulturelle Werte auseinanderzusetzen: „They [the principles - HS] are, in short, about the pre‐ requisites of just difference and democratic dialogue. The aim of modern cos‐ mopolitanism is the conceptualization and generation of the necessary back‐ ground conditions for a ‚common‘ or ‚basic‘ structure of individual action and social activity“ (Held 2010: 77). Auch sei an dieser Stelle auf die Ausführungen Karl Christian Friedrich Krauses verwiesen. Krauses Bestreben war es, eine Möglichkeit zu finden, alle Personen an der Ausformulierung der sie betreffenden Regeln partizipieren zu lassen. Krause kritisierte, ebenso wie die Vertreter*innen der Capabilities-Theo‐ rien, klassische Sozialvertragstheorien, welche allzu oft jene Vertragsparteien begünstigen, die schon immer an oberen Ende der Hierarchie angesiedelt sind und über die materiellen sowie diskursiv-normativen Ressourcen verfügen, um den Ausgang der Vertragsverhandlungen zu ihren Gunsten zu lenken (vgl. Dierksmeier 2016: 133 ff.). Darüber hinaus stellt Krause vererbte Besitzstände in Frage, welche eine durch das Schicksal der Geburt erworbene Besserstellung beinhalten, die nur schwer mit kosmopolitischen Gerechtigkeitsprinzipien ver‐ einbar ist (vgl. Dierksmeier 2016: 165). Kosmopolitismus und globale Gerechtigkeit Der Kosmopolitismus strebt an, die Grenzen, welche die auf Differenz pochende Politik durch ihre interne Teilung in ethnische, religiöse und andere Unter‐ gruppen erschaffen hat, zu transzendieren und nach moralischen Grundsätzen zu denken. Doch insbesondere in Migrationsfragen stehen wir nicht nur vor dem Problem des Ausschlusses von Menschen aus verschiedenen Gruppen, zum einen aufgrund der Tatsache, dass sie nicht die vollen Bürgerrechte erhalten, zum anderen durch sozialen Ausschluss aufgrund von Sprachbarrieren oder Vorurteilen. Neben dem Ausschluss aus Gruppen sei insbesondere das Phä‐ nomen des postkolonialen, ungleichen Einschlusses entscheidend, um das Machtgefälle zwischen Gruppen von Privilegierten und Benachteiligten sowie die daraus entspringenden Frustrationen und Konflikte verstehen zu können (vgl. Sen 2006: 89). In Bezug auf die globale Verteilungsgerechtigkeit und somit auch die Migra‐ tion, deren Hauptursachen neben Krieg und Verfolgung oftmals in den Folgen wirtschaftlich desaströser Lebensbedingungen in den Heimatländern liegen, stellt sich die Frage: Kann globale Gerechtigkeit durch Zwang, also in Form von 85 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Gesetzen erreicht werden? Mein Argument lautet, dass es vielmehr entschei‐ dend ist, die faktisch nicht existente sozioökonomische Gleichheit durch Ver‐ handlungen auf Augenhöhe zu überbrücken. In den heutigen Diskursen über Armut im globalen Süden wird oftmals das Erbe des Kolonialismus zugunsten des auf Vorurteilen begründeten Irrglaubens an eine angebliche Rückständigkeit bestimmter Kulturen in den Hintergrund gedrängt. Doch wurden während der Kolonialzeit Profite, die im globalen Süden erwirtschaftet wurden, der Imperi‐ almacht zugeführt, anstatt sie in die Erzeugerländer zu reinvestieren und damit die Wirtschaft in den Ländern des globalen Südens nachhaltig anzukurbeln. Somit wurden den Ländern langfristig die Ressourcen entzogen, die sie für einen wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt hätten. Der moderne Kapita‐ lismus führt die asymmetrischen Beziehungen zwischen den Ländern des glo‐ balen Nordens und jenen des globalen Südens fort. Dies führe, so Sen, wiederum zu einer Kontinuität der Ungleichheiten in der globalen Wirtschaft durch asym‐ metrische Machtverteilung durch die G8, den Waffenhandel und andere un‐ ethische Geschäftspraktiken (vgl. Sen 2006: 140). Durch kosmopolitische Erziehung werden wir befähigt, diese Interdepen‐ denzen zu verstehen und über Alternativen nachzudenken, um die Asymmet‐ rien zu ändern, welche die Länder des globalen Südens dauerhaft schlechter gestellt halten. In einer Welt, in der eine große gegenseitige Abhängigkeit zwi‐ schen den Nationen besteht, lässt sich schnell begreifen, dass durch die Logik gegenseitiger Vorteile jene Akteure, die vergleichsweise weniger beitragen (können) zum gemeinsamen Kuchen, nicht an erster Stelle in Verhandlungen um die Verteilung des Kuchens einbezogen werden. Für Nussbaum ebenso wie für Benhabib liegt es deshalb auf der Hand, dass zur internationalen Gerechtig‐ keit eine grundlegende Kritik der Hierarchien zwischen den Nationen durch eine „radikale Infragestellung nationaler Grenzen und grundlegender ökono‐ mischer Arrangements notwendig“ sei (Nussbaum 2010a: 57) und dass der Kos‐ mopolitismus in Zeiten des globalisierten Welthandels eine große Verantwor‐ tung habe, das Wirtschaften ethisch verantwortbar zu gestalten (vgl. Benhabib 2009: 72). Die simple Tatsache, eine Welt zu bewohnen, lässt uns nicht automatisch moralisch verantwortlich handeln. Nur wenn wir uns aktiv dafür entschieden, nicht bloß unser eigenes Wohlergeben, sondern auch jenes der anderen betei‐ ligten Personen in unser Tun einzuschließen, aufgrund der moralischen Über‐ zeugung, dass die anderen ebenso ein Anrecht auf ein Leben in Würde und Freiheit haben, könnten Wirtschaftsgemeinschaften fair wirtschaften, also in einer Weise, dass alle Beteiligten den ihnen aufgrund ihrer Ebenbürtigkeit zu‐ 86 Hanna Schirovsky stehenden Anteil am Gewinn, unabhängig ihrer anfänglichen Verhandlungspo‐ sition, erhielten (vgl. Kymlicka 2010: 437 f.). Das Ziel des Weltbürgerrechts muss also im Neudenken und in der Neuge‐ staltung der Wirtschaftsbedingungen und ihrer Folgen weltweit liegen. Ent‐ scheidend ist hierbei, dass dies nicht als Mittel zum Zweck, sprich aus Angst vor Kriegen und anderen negativen Konsequenzen geschieht, sondern moralisch fundiert wird, als Selbstzweck und aus Überzeugung. Ein halbherziges, im Grunde egoistisches Agieren aus Angst vor negativen Konsequenzen für das eigene Leben kann nicht als moralisch verantwortliches Handeln eines / einer kosmopolitisch aufgeklärten Weltbürger*in gelten. Des Weiteren reiche es nicht aus, dass die Bewohner des globalen Südens ein bisschen vom Reichtum des globalen Handels abbekommen, sondern dass sie einen gerechten Anteil daran erhalten (vgl. Sen 2006: 134). Dafür müssen die Prinzipien der Generationenge‐ rechtigkeit einmal nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit projiziert und die ungleichen Ausgangsbedingungen aufgrund der durch die Kolonialge‐ schichte geschaffenen Abhängigkeitsstrukturen durch eine Begegnung auf Au‐ genhöhe im Jetzt harmonisiert werden. Eine Grundlage hierfür kann jedoch kaum im Rahmen des gegenwärtigen Mainstream-Ökonomismus gefunden werden. Fazit Zusammenfassend können wir feststellen, dass die Ausbildung einer kosmopo‐ litischen Haltung nach den Grundsätzen wie sie Hans Küng im Rahmen des Projekt Weltethos formuliert hat, als Basis für ein friedliches Zusammenleben von Individuen und Gruppen entscheidend ist. Darüber hinaus eröffnet das An‐ erkennen der Pluralität von Identität eine große Bandbreite an Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten zu entdecken, welche für ein gewaltfreies Miteinander not‐ wendig sind und Brücken bilden über Trennendes in Sprache, Geschlecht oder Nationalität hinweg. Zudem lässt sich Toleranz und die Würdigung des Rechts auf Andersartigkeit des Gegenübers auf gleichberechtigter Ebene als ein Grund‐ element einer ethisch-moralischen Haltung festlegen. Wir haben des Weiteren gesehen, dass sozioökonomische Teilhabe über rechtlich begründete Partizipa‐ tionsmöglichkeiten hinausgedacht und im Sinne des Weltbürgerrechts ver‐ standen und umgesetzt werden muss, bevor wir uns als aufgeklärte Weltbürger*innen daranmachen können, die Zugangsvoraussetzungen zur und die Ausbeutungsprozesse durch die globale Wirtschaft gerecht zu lösen. 87 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Literatur Appiah, Kwame Anthony (2006). Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. London: Penguin Books. Benhabib, Seyla (2008a). ‚Die philosophischen Grundlagen kosmopolitischer Normen‘, in Seyla Benhabib, Hg., Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frankfurt / Main: Campus Verlag GmbH, 19-42. Benhabib, Seyla (2008b). ‚Demokratische Iterationen: Das Lokale, das Nationale, das Glo‐ bale‘, in Seyla Benhabib, Hg., Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frank‐ furt / Main: Campus Verlag GmbH, 43-74. 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Mai 2017. 89 Vom Staatsbürger zum Weltbürger - Herausforderung der Migration Teil II: Schule und Universität Vorläufige Überlegungen zur Interkulturellen Bildung anhand des Refugee Programms an der Universität Tübingen 2016-2017 Arhea Venessa Marshall Die gegenwärtige Flüchtlingsdebatte im Kontext Dieser Band beschäftigt sich mit einem höchst gegenwärtigen und bedeutenden Thema, „Interkulturelle Bildung und die Flüchtlingsdebatte“. Dennoch mag es lehrreich, wenn nicht gar nötig, sein zu betrachten, welche „Flüchtlingsde‐ batte(n)“ thematisiert wird und aus welcher Perspektive(n). Konzentriert man sich allein auf die unfreiwillige globale Migration von Individuen und Perso‐ nengruppen seit Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, lassen sich un‐ zählige Ereignisse in verschiedenen Nationen identifizieren, welche ausgelöst haben, was gemeinhin als „Flüchtlingskrisen“ bezeichnet wird. Diese Krisen entwickeln sich, wenn der Bedarf von Flüchtlingen an Asyl steigt und die Gruppen, welche Asyl gewähren (Nationalstaaten), auf verschiedene Art ant‐ worten, üblicherweise vorgegeben durch eine Flüchtlingspolitik in Verbindung mit einem Asylsystem. Der Begriff „Flüchtlingskrisen“ wird typischerweise in den Massenmedien als emotional geladene Phrase verwendet, die dazu neigt ein Pandämonium hervorzurufen, welches den Diskurs über und die Kommentare zu unerwünschten Migranten und Immigrationswellen wieder aufgreift. Der gefährliche Charakter dieses Begriffs findet sich sowohl auf dem syntaktischen als auch auf dem pragmatischen Level der Analyse. Irgendwie dient das Wort ‚Flüchtling‘ als Deskriptor des Wortes ‚Krisen‘. Zunächst muss auf der Ebene der Krise geklärt werden, was eine Krise ist und für wen. Eine Krise ist eine Zeit intensiver Schwierigkeit oder Gefahr. Krisen sind bis zu einem gewissen Grad unerwartet, sie beschreiben eine verwundbare Gruppe und eine Bedrohung. Wenn die beiden Wörter, ‚Flüchtling‘ und ‚Krise‘, auf den Titelblättern ge‐ druckter und digitaler Medien zusammengeführt werden, hat dies gerne den Effekt, dass die Bewohner oder Bürger der Region die verwundbare Gruppe sind und die Bedrohung nicht nur in den Flüchtlingen als Personengruppe besteht, sondern auch in den zugehörigen Regierungsbeschlüssen und -maßnahmen, welche juristisch und bildlich Form annahmen als Asylantenwohnheime, spe‐ zieller Unterricht etc. Im Falle Deutschlands wird das Recht auf Asyl Opfern von Verfolgung durch das Grundgesetz gewährt (siehe die offizielle Website des Bundesministeriums für Inneres). Selbst wenn Asyl und Flüchtlingspolitik in der beständigen natio‐ nalen Politik umrissen sind, beeinflussen erwartete Größe und Reaktionszeit die Wahrnehmung, die viele Bürger haben (meist aus den Medien), dass Flücht‐ lingswellen plötzlich und unerwartet auftreten, statt erwartet und theoretisch in der Nationalpolitik mitbedacht. Die Rolle der Medien in der Einflussnahme darauf, wie Flüchtlingskrisen wahrgenommen werden, ist gravierend, bedau‐ erlicherweise übersteigt es die Kapazitäten dieses Artikels, dieses spezifische Mittel der Debattenproduktion zu untersuchen. Wenn wir über die Flüchtlingsdebatte sprechen, müssen wir bedenken, dass es zahlreiche Gründe für die verschiedenen Perspektiven auf das Debattierte gibt. Es gibt Debatten darüber, wer als Asylsuchende/ r gelten sollte und wer als Flüchtling, andere fragen, ob Flüchtlinge zeitweiliges oder dauerhaftes Asyl in Drittländern erhalten sollten, wieder andere diskutieren darüber wie es möglich wäre, Kulturen der Integration und Inklusion zwischen Flüchtlingen und den Bürgern und Regierungen, die die Asylsuchenden willkommen heißen, zu schaffen / fördern. Dies sind lediglich ein paar der über die letzten Jahre disku‐ tierten Themen, wenn es um Flüchtlinge geht. Ein wichtiger, aber oft vernach‐ lässigter Aspekt dieser Themen ist für gewöhnlich die Frage nach Integration, Beteiligung und sogar Einbindung in das alltägliche Leben, sei es das Wissen um soziale Normen, die das öffentliche Leben sowie die Dinge dazwischen und subtil auftretende Bereiche des Alltagslebens, wie Bildung, bestimmen. Der Großteil der Hilfe die Flüchtlinge in diesen alltäglichen Aspekten des Lebens erhalten, scheint von hilfsbereiten Bürgern zu kommen, die das Bedürfnis haben und dazu getrieben sind Hände und Füße der legislativen Maßgaben zu sein, die Flüchtlingen ermöglichen Asyl zu finden. Leider scheint hinter vielen der debattierten Punkte eine grundlegende Un‐ sicherheit auf. Dies kommt nicht überraschend, bedenkt man, dass niemand weiß was die Zukunft für Flüchtlinge oder alle anderen bereithält, selbst ange‐ sichts der am besten geplanten politischen Strukturen. Deshalb steht dieser Essay hinter den Worten Angela Merkels: Furcht ist kein guter Ratgeber. Inte‐ ressanterweise diskutieren die meisten Zeitungsartikel die Flüchtlingsthematik, mit wenigen Ausnahmen, explizit im Rahmen von Migrations- und Außenpo‐ litik und mit dem Fokus auf Sicherheit und Verteidigung. Es ist sehr ungewöhn‐ lich, dass man einen Bericht über Flüchtlinge liest, in dem sich die Begriffe 94 Arhea Venessa Marshall ‚Vielfalt‘ und ‚interkulturelle Erfahrung / Zusammentreffen‘ finden. Warum wird offenbar eine Seite der Flüchtlingserfahrung lieber hervorgehoben als eine andere? Vielleicht eine produktivere Frage wäre: ist dies schon zuvor ge‐ schehen? Sicherlich ist dies kein Medienphänomen, seien es gedruckte oder di‐ gitale Medien, das für Berichte über Flüchtlinge einzigartig wäre. Man brauch lediglich Berichte über freiwillige und unfreiwillige Migration zu lesen und das Muster wiederholt sich. Zugleich gibt es in Ländern wie Deutschland auf allen Ebenen öffentlicher institutioneller Systeme Initiativen, die Vielfalt und Inter‐ nationalisierung befürworten. An vorderster Front aktiver Debatten und praktischer Maßnahmen sehen wir Universitäten, etwa die Universität Tübingen, welche Internationalisierungsbe‐ strebungen zeigt und Vorlesungsreihen über die Verbindung zwischen inter‐ kultureller Bildung und der Flüchtlingskrise/ -debatte hält. Diesen Ambitionen zum Trotz gibt es eine Trennung zwischen Vorbereitungskursen für Flüchtlinge und den Internationalisierungsbemühungen an der Universität Tübingen, ein Kritikpunkt, der hier nicht weiterverfolgt, aber hoffentlich andernorts diskutiert wird. Auf ähnliche Weise etabliert die Politik den feinen Unterschied zwischen Flüchtling und Asylbewerber. Die Arbeit der getrennten, aber in diesem Zu‐ sammenhang verbundenen Institutionen, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, ist existentiell für die Entwicklung der Debatte zu interkultureller Bildung und Flüchtlingen in Deutschland, da sie die aktuell eingesetzten strukturellen Regierungseinrich‐ tungen sind. Diese Einrichtungen bestimmen zu einem gewissen Grad die for‐ melle Bildungserfahrung von Flüchtlingen, sobald sie im System sind. Ich emp‐ finde es als wichtig, formelle und informelle Bildung als weiteren Aspekt der Debatte herauszustellen, weil beide Möglichkeiten existieren; da sich die vor‐ liegende Fallstudie aber auf einen formellen Rahmen konzentriert, empfehle ich weiteres Nachforschen zu den Unterschieden (vgl. Sinclair 2007; im Grunde kann der Hauptunterschied als die Fähigkeit identifiziert werden, dem Teil‐ nehmer ein anerkanntes Zertifikat auszustellen). Die unterschiedlichen Ein‐ richtungen können sowohl in formellem als auch in informellem Rahmen ko‐ operieren, von unterschiedlichen Aufträgen bis zum Erreichen miteinander verschränkter Ziele. Die weiteren Teile dieses Berichts sollen einen einfachen Einblick in die Schritte geben, die zu Integration und Einbindung in die Bildung führen, sodass man sich vorstellen kann, warum die später erwähnten Organisationen und In‐ dividuen eine Rolle in den interkulturellen Erfahrungen von Flüchtlingen im Flüchtlingsprogramm der Universität Tübingen zu spielen haben. Es ist wichtig anzumerken, dass, obgleich diese Phasen derart beschrieben sind, dass sie sich 95 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 gegenseitig auszuschließen scheinen, die Phasen zu Überschneidungen und Verzögerungen neigen. Beginnend mit den Schritten zur Anmeldung für Asyl, nachdem man Zuflucht gesucht hat, lassen sich die Phasen des Asylprozesses in Deutschland, bekannt als „integriertes Flüchtlingsmanagement“, in drei Schritten beschreiben: 1. Ankunft und Registrierung, 2. der Asylprozess und 3. Integration oder Rückkehr, wie beschrieben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das hier ‚integriert‘ verwendet wird, hat nicht die zweifache Be‐ deutung von erfolgreicher Integration und Beteiligung an den verschiedenen Aspekten der Bildung, inklusive Sozialisation und die Gleichheit in den Res‐ sourcen verbunden mit dem Bildungssystem (seien sie ökologisch, elterlich oder materiell, um ein paar zu nennen). Vor Januar 2017, als das Integrationsgesetz in Kraft trat, waren Asylsuchende, inklusive jener mit guten Aussichten in Deutschland zu bleiben, nicht verpflichtet Integrationskurse zu besuchen, welche vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Mittel beworben wurden, um das Ziel zu erreichen, in Deutschland zu leben. Als Ergebnis der wachsenden Zahl an Flüchtlingen, die durch die Gesetzesänderung verpflichtet oder berechtigt wurden, an diesen Kursen teilzunehmen (während Abwesen‐ heiten den Verlust von Vorteilen nach sich ziehen konnten), stieg die Zahl derer, die solche Kurse bereitstellen (Knight 2016). Während sich diese Kurse meist darauf konzentrieren deutsche Sprachkenntnis und Wissen über die deutsche Kultur, Geschichte und Gesetzgebung zu verbessern, wird das Element ‚inter‐ kultureller Bildung‘ als Aspekt der Integration oft vernachlässigt. Interkulturelle Bildung Die 2007 von der UNESCO veröffentlichte Stellungnahme „Guidelines on Inter‐ cultural Education“ (UNESCO 2007) dient als Ausgangspunkt für das Konzept der „interkulturellen Bildung“, wie es in diesem Aufsatz besprochen wird. Wie in den Richtlinien von 2007 definiert, kam interkulturelle Bildung als Antwort auf die Herausforderung „Qualitätsbildung für alle bereitzustellen“. Sie dient den Bildungszielen, welche die internationale Kommission für Bildung für das ein‐ undzwanzigste Jahrhundert als die „vier Säulen der Bildung“ definiert hat: lernen zu wissen, lernen zu tun, lernen zusammenzuleben und lernen zu sein. Neben dem Fokus auf vielfältiges Lernen fördert bewusste interkulturelle Bil‐ dung die Akzeptanz von Multikulturalismus. Sie strebt dabei das gegenseitige Verständnis an und erzielt folglich ein Miteinander der Kulturen statt eines bloßen Nebeneinanders, und entspricht somit weiteren Zielen der Bildungspo‐ litik. 96 Arhea Venessa Marshall Die Perspektive interkultureller Bildung ist nicht neu. Unter anderem Namen wurde sie zuvor auf praktische Fälle der ‚Integration‘ zugewanderter Schul‐ kinder, von Kindern von Einwanderern oder Kindern, die selbst geographische Migration erlebt haben, angewandt. Dies ist der Rahmen, zu dem wir zurück‐ kehren, um die Bildung moderner Flüchtlinge, vor allem in Deutschland, zu thematisieren. Klar ist es, dass Bildungssysteme sich von Land zu Land unter‐ scheiden, allerdings muss auch die Variation innerhalb von Nationen bedacht werden - dies stellt eine Herausforderung für den Bildungsaspekt der Flücht‐ lingsdebatte dar. Wie offen ist das Gastgeberland Deutschland in Bezug auf An‐ erkennung der Bildungsstandards in den Herkunftsländern der Flüchtlinge? In‐ wiefern beeinflusst die vorherige Bildungserfahrung die Erwartungen eines/ r Schülers/ in an eine neue Bildungsumgebung? Wie können die Richtlinien für interkulturelle Bildung (vornehmlich gedacht, um Schulkindern die Integration zu erleichtern) angepasst werden, um auch den Flüchtlingen zu helfen, welche sich in der schwierigen Situation finden ihren höheren Bildungsweg bereits be‐ gonnen oder abgeschlossen zu haben, ohne dass ihre geleistete Arbeit außerhalb ihres Herkunftslands anerkannt wird? Dies sind einige der Hauptfragestel‐ lungen im Kern der praktischen Arbeit, Flüchtlinge bei ihrer Entscheidung, ihre Bildung im Land ihres Asyls fortzusetzen, zu unterstützen. Ein weiteres theoretisches Ziel interkultureller Bildung ist, „Universalismus“ (wie in der Universalität der Menschenrechte) und „kulturellen Pluralismus“ einzubeziehen. Diese Absichten sind wichtig, aber die Möglichkeiten sie zu im‐ plementieren variieren. Betrachten wir beispielhafte Erfahrungen aus dem Flüchtlingsprogramm, sehen wir, dass das Einbeziehen kulturellen Pluralismus nicht zwingend mit Fokus nur auf unterschiedliche Herkunftsländer geschehen muss. ‚Kulturell‘ bezieht sich nicht nur auf Ähnlichkeiten in Erfahrungen und Erwartungen an Normalität, basierend auf einem gemeinsamen nationalen Hin‐ tergrund, sondern auch auf die Komplexität der ‚Flüchtlingskultur‘. Diese ‚Flüchtlingskultur‘ wird auch aus einer teilweise gemeinsamen Erfahrung ge‐ boren, die Erfahrung ein Flüchtling und möglicherweise ein Asylbewerber in einer bestimmten Generation oder Neuankömmling in einem spezifischen na‐ tionalen System zu werden. Diese Kultur überspannt ursprüngliche Staatszu‐ gehörigkeit und in gewissem Maße vorhergehende sozioökonomische Grenzen. Diese pluralistische ‚Flüchtlingskultur‘ wird am deutlichsten sichtbar, wenn der Begriff und die Ziele „interkultureller Bildung“ nicht nur auf die einzelne Pers‐ pektive des Interkulturellen zwischen ‚ursprünglicher Kultur‘ der Flüchtlinge und der Kultur der Gastgeberländer konzentriert sind. Durch einen weiteren Blick auf das Konzept der „Interkulturalität“, auch jene zwischen Individuen und Gruppen, welche durch die gemeinsame (aber unterschiedliche) Erfahrungen 97 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 Flüchtling zu werden, im Kontext der Flüchtlingsdebatte eine gemeinsame Iden‐ tität annehmen, erlaubt interkulturelle Bildung eine Perspektive auf die Erfah‐ rungen von Flüchtlingen, die nicht gebunden ist durch das Überpinseln von Besonderheiten in verschiedenen Flüchtlingsdebatten, welche großteils von den Flüchtlingen selbst nicht diskutiert werden. Wie interkulturelle Begegnungen, so ist auch interkulturelle Bildung ein in‐ teraktiver Handlungsprozess. Den Dutzenden so genannten Best-Prac‐ tice-Theorien zum Trotz ist interkulturelle Bildung eine kontextbasierte erfah‐ rungsgeleitete Methode, um welche herum institutionelle Programme versuchen ihre Rahmen zu ziehen. Die Interkulturalität in der Bildungsarbeit mit Flüchtlingen beginnt nicht mit der Fluchterfahrung. Ich vertrete die Ansicht, dass interkulturelle Bildung mit den Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen Individuen in einem geteilten Raum beginnt, seien sie bedingt durch familiäre, soziale und ähnliche Hintergründe. Wie bereits erwähnt, hängen diese kultu‐ rellen Unterschiede nicht primär von verschiedenen Ursprungsländern ab, ob‐ gleich dies die Unterschiede sind, die normalerweise in Flüchtlingsdebatten auf internationaler Ebene hervorgehoben werden, falls sie nicht vollständig ausge‐ löscht und durch den Deskriptor „Flüchtlinge“ ersetzt werden. Beispiele dieser Formen der Verallgemeinerung in den Medien zeigen sowohl positive als auch negative Pfade von Absicht und Auswirkung, wie das gefeierte Flüchtlingsteam bei den olympischen Sommerspielen 2016, welches vier Herkunftsländer um‐ fasste, oder die mannigfaltigen, aber intensiven Berichte über mehrere sexuelle Übergriffe in der Neujahrsnacht 2016, von denen viele die Gewalt der zunehm‐ enden Zahl an Nordafrikanern, Flüchtlingen oder Einwanderern anrechnen. Der Gebrauch dieser Begriffe wurde nicht als neutrale Repräsentation irgendeiner dieser Gruppen und Individuen, die von diesen Kategorien bezeichnet werden, gesehen. Diese Wortwahl in den Medien und in späteren Unterhaltungen über die Vorfälle brachte den isolierenden und ausschließenden Effekt des Gebrauchs von Begriffen ans Licht, die unter bestimmten Umständen polarisieren, wenn interkulturelle Unterschiede auf der Ebene nationaler Identität in Flüchtlings‐ debatten hervorgehoben wird. Aus diesen Gründen betrachtet das „Refugee Programm“ (auch bekannt als Refugee-Kurs) der Universität Tübingen den Wunsch nach interkultureller Bil‐ dung mit Flüchtlingen als Mittel zur Reflexion und aktives Lernfeld. In Anbe‐ tracht dessen, dass das Programm zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels noch in seiner ersten Durchführungsphase bis zum Juli 2017 steckt, sind die dargestellten Ansichten und Beobachtungen vorläufig und abhängig davon, wie das Programm 2016/ 17 strukturiert und eingeführt wurde. Die ersten Erfah‐ rungen werden möglicherweise zu vorsichtigen Anpassungen führen. 98 Arhea Venessa Marshall 1 Die Verwendung des Begriffs „Teilnehmer“ anstelle von Studenten beabsichtigt, in dem Versuch die nicht traditionelle Natur des Programms und der Beteiligten darzustellen. Das Programm umfasst Lernen im Klassenraum und darüber hinaus, mit einem großen Pool an Lehrenden. Das Programm wäre nicht erfolgreich, wäre es nicht voll von Teil‐ nehmern, die genau das tun, was der Begriff beinhaltet - teilnehmen, sich aktiv mit dem Programm identifizieren und es gemeinsam mit dem administrativen Team formen. Zudem befreit der Begriff die im Programm Eingeschriebenen von dem viel genutzten und kaum kritisch sezierten Begriff „Flüchtling“. Das Refugee Programm an der Universität Tübingen: Konzept, Teilnehmer, vorläufige Beobachtungen Die ersten Teilnehmer 1 des Refugee Programms begannen den Unterricht Mitte Oktober 2016. Etwas über ein Jahr zuvor wurde das Programm konzeptionell mit der Einrichtung der Stabsstelle Flüchtlingskoordination initiiert. Die Aufgabe der Stabsstelle war (und ist) einen Vorbereitungskurs für Flüchtlinge zu konzi‐ pieren, die studieren wollen. Der Auswahlprozess war derart schwierig und kompetitiv, dass der ursprünglich geplante Kurs für 25 Teilnehmer auf zwei Kurse mit nahezu doppelter Teilnehmerzahl von 45 Plätzen ausgedehnt wurde. Das Programm wurde daraufhin in zwei Gruppen geteilt, „Refugee-Kurs I“ und „Refugee-Kurs II“. Mit über hundert erhaltenen Bewerbungen, die Hälfte inner‐ halb der letzten vier Tage der Bewerbungsphase eingegangen, sah sich das Aus‐ wahlkomitee sehr qualifizierten Bewerbern gegenüber, von denen die wenigsten eine deutsche Universitätszulassung hatten. Viele Bewerber hatten schon in ihren Heimatländern studiert und einige hatten das Studium sogar schon abge‐ schlossen. Es gab sogar Bewerbungen von Syrern mit Noten im obersten Viertel, die aufgrunddessen umgehend eine Universitätszulassung erhielten. Der Bewerbungsprozess lief etwa drei Monate und beinhaltete eine schrift‐ liche Bewerbung, welche eingereicht werden musste, und in manchen Fällen ein kurzes Kandidateninterview, entweder persönlich oder telefonisch. Ihre Eig‐ nung für ein Hochschulstudium mussten die Bewerber anhand früherer Schul- oder Hochschulnoten nachweisen. Außerdem mussten sie die folgenden Doku‐ mente vorlegen, um für die Teilnahme am Programm in Betracht gezogen zu werden: ein Sprachzertifikat für Deutsch B1, basierend auf dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GER) für Sprachen, ein Motivationsschreiben, in dem der geplante Studienverlauf in Deutschland dargelegt wird, und Flücht‐ lingsstatus. Erfolgreiche Bewerber wurden über ihre Auswahl im Juli informiert, dies wurde als strategisch betrachtet, da einige Aspekte bezüglich der Aufnahme ins Programm noch geklärt werden mussten. Diese beinhalteten (und beinhalten noch), eine Bleibe in Tübingen zu finden, einem Gebiet berüchtigt für seinen Mangel an bezahlbaren Wohngelegenheiten für Studenten (vgl. Rekittike 2016) 99 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 - Tübingen wird ständig als Universität mit einer Stadt, anstatt als Stadt mit einer Universität, ohne ausreichend (bezahlbare) Wohnungen bezeichnet. Wei‐ terhin brauchten die angenommenen Bewerber: Deckung von Lebenshaltungs‐ kosten, Beförderungskosten (welche mit der Bezirksverwaltung geklärt werden mussten, bei der die Teilnehmer gemeldet waren, in einigen Fällen außerhalb Tübingens) und die Wahrscheinlichkeit einen Platz im gewünschten Studium zu erhalten (vor allem bei Teilnehmern, die entschlossen waren in ihrem Hei‐ matland Medizin zu studieren und ebenso motiviert zu versuchen an deutschen Universitäten ein Medizinstudium zu beginnen). Die Herausforderung in einem fremden Land zu studieren wird somit vergrößert und der Rahmen des ur‐ sprünglich konzipierten Programms musste angepasst werden, um den Bedürf‐ nissen der Teilnehmer in den Kursen, aber auch auf dem Weg zu und von den Kursen, gerecht zu werden. Der erste Zyklus des Refugee Programms an der Universität Tübingen, der über das Wintersemester 2016/ 2017, die Semesterferien sowie das folgende Sommersemester 2017 andauerte, umfasste eine demographisch diverse Gruppe. Die Teilnehmer des ersten Kurses repräsentierten sieben Herkunftsländer: Ägypten, Nigeria, Eritrea, Togo, Syrien, Iran und Irak. Die meisten Teilnehmer stammten aus Syrien, während jeweils höchstens zwei Teilnehmer die anderen Länder repräsentierten. Ein Drittel der Teilnehmer war weiblich und es wurden vier Geschwisterpaaren Plätze im Programm angeboten, von denen nur drei annehmen konnten. Die akademischen Interessen der Teilnehmer reichten von den Geisteswissenschaften über die Naturwissenschaften bis zur Humanme‐ dizin, viele nannten die folgenden Studiengebiete in ihren Motivations‐ schreiben: Humanmedizin, Medizintechnologie, Pharmazie, Anglistik, Politik, Jura, Betriebswirtschaft, Informatik, Wirtschaft, islamische Theologie, Archi‐ tektur, Koreanistik, Sozialarbeit und Luft- und Raumfahrttechnik. Angesichts einer so unterschiedlichen Gruppe von Individuen musste die Struktur des Kurses Facetten miteinschließen, in welchen die Teilnehmer zusammen‐ wachsen, sich gemeinsam verbessern und das breite Spektrum an Möglichkeiten innerhalb des deutschen höheren Bildungssystems erleben konnten. Der Inhalt des Programms konzentrierte sich nicht nur auf deutsche Sprach‐ kurse, sondern auch auf interkulturelle Orientierungskurse. ‚Interkulturell‘ be‐ zieht sich hier, wie im vorhergehenden Teil beschrieben, auf kulturelles Be‐ wusstsein und Synthese durch Erfahrung und naturalisierte Identität, ist aber auch zu verstehen als Basis eines Lernens über die kulturellen Dynamiken, in denen man sich wiederfindet. Dieses doppelseitige Konzept macht diesen Vor‐ bereitungskurs einzigartig unter der aktuellen Masse an Kursen für anerkannte Flüchtlinge in Deutschland. Während des ersten Semesters beendete die Gruppe 100 Arhea Venessa Marshall das „Orientierungssemester“, welches dazu diente gemeinschaftlich die vorhan‐ denen Deutschkenntnisse vom mittleren auf das obere mittlere Niveau zu heben. Während dieser Phase des Programms besuchten alle Teilnehmer Deutschkurse an vier Tagen die Woche und ein Tutorium. Der Fokus auf Sprachkompetenz wurde auf 18 Stunden pro Woche Lernen während des Unterrichts gesetzt. Die Sprachkomponente begleitend gab es eine Komponente zur interkulturellen Orientierung für einen der Kurse, Refugee-Kurs I mit mindestens 8 zusätzlichen Stunden Unterricht, wobei die behandelten Themen primär auf Englisch disku‐ tiert wurden. Dieses Format trug zur interkulturellen Komponente durch Mul‐ tilingualismus bei, konnte allerdings nur dem Flüchtlingskurs I angeboten werden, da dessen Zusammensetzung neben den deutschen Sprachkenntnissen auch entscheidend von den Englischkenntnissen der Teilnehmer bestimmt worden war. Weitere Bestreben der kulturellen Orientierungskomponente um‐ fassten die Weitergabe und Untersuchung der verschiedenen kulturellen Werte in Deutschland. Kurse wurden gegeben zu deutscher Geschichte und Politik, Religion in einer säkularen Gesellschaft, Leben im modernen Deutschland sowie interkulturellem Training. Andere optionale Kurse umfassten die Teilnahme in einem Debattierklub, eine interkulturelle Beratungsstunde, eine Frauenstunde, ein Musikprojekt und einen Kurs in kreativem Schreiben. Der Antrieb hinter solchen ‚national‘ - auf Deutschland - orientierten Kursen wurzelte meist in den Richtlinien, die vom Bundesamt für Migration und Flücht‐ linge (BAMF) vorgeschlagen und für Integrationskurse implementiert wurden. Diesem Rahmen zufolge besteht das Hauptziel solcher „Orientierungskurse“, neben den Zielen deutsche Geschichte und Staatsstruktur für ein tieferes Ver‐ ständnis der deutschen Gegenwart zu studieren und die Möglichkeit an deut‐ scher Gesellschaft und Nation teilzunehmen zu demonstrieren, darin, die Fä‐ higkeit zu lehren sich in einer komplexen heterogenen Gesellschaft zu orientieren. Zu diesem Zweck wurden Individuen mit Flüchtlingserfahrung dazu eingeladen ihre Erfahrungen zu teilen und sich der Aufgabe zu stellen, als integraler Teil des Prozesses ihren Platz in Deutschland zu finden, die Perspek‐ tive zu wechseln. Da eine Auswahl getroffen werden musste, welche Aspekte der Geschichte auf dem Weg zum heutigen Deutschland in den Kursen hervor‐ gehoben werden sollten, mussten Kriterien festgelegt werden. Dieser Auswahl‐ prozess wurde in Absprache mit den Durchführenden von staatlichen Integra‐ tionskursen beschlossen. Im Kern bieten Kurse über Politik in einer Demokratie, Geschichte und Ver‐ antwortung, Mensch und Gesellschaft akademisch gesehen den Teilnehmern die Gelegenheit aktiv die Informationen über deutsche Politik, Geschichte und So‐ zialleben den Gegebenheiten ihrer Heimatländer durch Diskussion und Simu‐ 101 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 lation gegenüberzustellen und zu analysieren. Auf dieser Basis wurde eine Zahl historischer Schlüsselthemen für das erste Semester beschlossen, unter diesen: 1) Grundlagenwissen über den Nationalsozialismus - Diktatur, den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg, Flüchtlinge und Verfolgung, 2) Deutschland nach 1945: Alliierte Besatzung, Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), 3) von Teilung bis Wiedervereini‐ gung und 4) die deutsche Wiedervereinigung und ihre Bedeutung für die Ge‐ genwart. Zusätzlich wurden die folgenden politischen Themen u. A. unter‐ richtet: Grundrechte in der Verfassung, Prinzipien der Staatsstruktur, Verfassungsorgane, Bürgerrechte und Pflichten und Teilnahmemöglichkeiten auf Bundes-, Regional- und Kommunalebene. Jenseits akademischer, theoretischer Themen wurden auch Strategien zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse und solche zum Erwerb neuen kulturellen Wissens kommuniziert. Im Kurs „Leben in der modernen deutschen Gesellschaft“ hatten Darstellungen von Vielfalt hohe Priorität. Der Kurs stellte unter dem Aspekt der Reflexionen über Toleranz und praktizierte Demokratie ein breites Spektrum an Diskussionsthemen bereit: Familienstrukturen, Rechte von Kindern und Frauen, Emanzipation, die Kompatibilität von Familie und Karriere, Vorstellungen von Alter und Altern, Medienkompetenz, religiöse Viel‐ falt, interreligiöse Beziehungen, Dialog und Konflikt. Aufgrund der unzähligen Möglichkeiten der Organisation eines solchen Kurses wurden einige Themen als nützliche und wünschenswerte Ergänzungen für folgende Zyklen des Pro‐ gramms beibehalten. Beispiele solcher Ergänzungen sind unter anderen: Arbeit - gestern und heute, das soziale System und die Wirtschaft - Wettbewerb und ökonomische Globalisierung. Teilnehmer mussten allerdings nicht auf den fol‐ genden Zyklus des Programms warten, um solch wichtige Themen erneut zu behandeln, da das „Fit-for-Study“ Semester in weiten Teilen dort weitermachte, wo das Orientierungssemester aufgehört hatte. Nach dem ersten Semester, in dem die Teilnehmer in deutscher Sprache, Kultur und Lebensumständen unterrichtet worden waren, verlagerte das wei‐ terführende „Fit-for-Study“ Semester die erworbenen Fähigkeiten in die Praxis. Teilnehmer mussten ihre Sozialkompetenz in Hybridkursen anwenden, die deutsche Grammatik und Kultur in Verbindung mit essentiellen fachlichen Grundlagen unterrichten, beispielsweise: Deutsch für Mediziner, Mathematik, Chemie, Akademisches Englisch und einige andere. Diese Kurse begleiteten Deutschkurse, in denen Teilnehmer in drei Gruppen unterteilt wurden. Die Hybridkurse wurden von den Teilnehmern individuell ausgewählt, basierend darauf was am sinnvollsten wäre als Auffrischung und um gutes Hintergrund‐ wissen für ihre nächsten Schritte, sei es an der Universität oder alternativen 102 Arhea Venessa Marshall Einrichtungen höherer Bildung und Ausbildung, zu erwerben. Unabhängig davon, was die Teilnehmer nach dem Refugee Programm tun wollen, gibt es Standards der Integration außerhalb von Klassenzimmern und Kursen, die eben‐ falls teilweise in der Verantwortung einer studentischen Organisation, StudIT-MmF, liegt. Um den parallelen Wunsch und Bedarf der Teilnehmer, sich in die Gesell‐ schaft und Universität zu integrieren und inkludiert zu werden, jenseits der Kurse zu erhöhen, entwarf die Studierendeninitiative International Tübingen, StudIT, ein unterstützendes Programm. Das Unterstützungsprogramm wurde von einem speziellen Zweig der Studenteninitiative für internationale Studenten StudIT-MmF (Studierendeninitiative International Tübingen für Menschen mit Fluchthintergrund), im Besonderen verantwortlich für die Unterstützung von Individuen mit Flüchtlingshintergrund, in Kollaboration mit der Stabsstelle für Flüchtlingskoordination der Universität Tübingen übernommen. Das Rahmen‐ programm beinhaltete ein Buddy-Programm, Exkursionen und gemeinschaft‐ liche Aktivitäten wie Stammtische, Koch- und Backabende. Das Gründungsteam des StudIT-MmF wurde im August 2016 etabliert und bestand aus vier Studenten aus verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen Flüchtlingshilfe- und Migrationserfahrungen. Diese studentischen Hilfskräfte dienten als Tutoren, Lehrassistenz, Kontakt, inoffizielle Berater und Verbindungspersonen zwischen Teilnehmern und verschiedenen Universitätseinrichtungen (bspw. Bibliothek, Cafeteria und andere). Die Arbeit der studentischen Hilfskräfte erlaubt auch eine spürbare Verbin‐ dung zwischen Unterstützungsprogramm und Unterrichtsstoff durch Exkursi‐ onen, informelle Sitzungen und andere extra-curriculare Aktivitäten. Von be‐ sonderem Interesse waren die Exkursionen nach Nürnberg, um die Folgeeffekte des Nationalsozialismus und der Wellen des Antisemitismus damals und heute zu untersuchen; nach Stuttgart, um einen Blick auf die Ziele der europäischen Wirtschaftszone und die Europäische Union als interregionale Regierungsor‐ ganisation zu werfen und um ein regionales Mittelstandsunternehmen zu be‐ suchen, um ein Beispiel eines ökonomischen Bausteins der Region zu be‐ trachten, in der sich die Teilnehmer gerade befinden und die sie in manchen Fällen als den Ort betrachten, an dem ihr Leben weitergeht. Früh identifizierten wir den Wunsch der Kursteilnehmer mit den Beratern der verschiedenen Uni‐ versitätsabteilungen, für die sie sich interessierten, in Kontakt zu treten. Zu diesem Zweck plante das StudIT-MmF Team eine Anzahl von Gesprächen und Info-Veranstaltungen. Die organisierten Besuche von verschiedenen universi‐ tären und administrativen Abteilungen, zuständig für Finanzierung und Zulas‐ sung zu den gewünschten Studiengängen, waren als Gelegenheiten intendiert, 103 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 bei denen die Teilnehmer gezielt Fragen stellen konnten zu den Fächern und Studiengängen, an denen sie in ihren Motivationsschreiben und Interviews In‐ teresse bekundet hatten. Die logische Frage, die solch einer Sitzung folgte, war: Was fange ich mit so einem Abschluss in Deutschland an, sobald ich mein Stu‐ dium abgeschlossen habe? Abhängig von den bisherigen akademischen Erfah‐ rungen der Teilnehmer - Erwartungen, wie eine Einrichtung für höhere Bildung funktionieren sollte, Forschungsgebiet und Karriereerwartungen -, war diese Frage manchmal einfach, manchmal komplex zu beantworten. Es war hilfreich vorab gesammelte Daten als Überblick zu haben, wie diese Fragen beantwortet werden könnten, wichtiger war jedoch eine durchgängig weitergeführte Pseudo-Aufzeichnung davon, wo die Teilnehmer stehen, bezüglich ihrer akade‐ mischen und beruflichen Interessen angesichts der bereitgestellten Informa‐ tionen. Vielleicht einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste, Faktor des Pro‐ gramms, den die studentischen Hilfskräfte ebenfalls betreuten, war das Sam‐ meln von Feedback der Teilnehmer bezüglich der akademischen Anforde‐ rungen, Unterschiede in akademischer Kultur ihrer Herkunftsländer und der, in der sie sich nun wiederfanden, ihrer Wahrnehmung der interkulturellen Kom‐ petenz ihrer Lehrer, ihrer Meinungen zu Qualität und Geschwindigkeit der Kurse und bezüglich der Effizienz der Kommunikation zwischen Verwaltung, dem Team der studentischen Hilfskräfte und den Lehrern. Evaluationen wurden während des Semesters in Sprechstunden mit dem Leiter des Programms und ausgebildeten studentischen Hilfskräften informell, aber auch formell durch Evaluationsformulare am Semesterende durchgeführt. In der formellen Evalua‐ tion wurden Teilnehmer gebeten ihre Meinung zum Erfolg des Kurses anhand von Standardkriterien mitzuteilen: Umgebung des Klassenraums, Organisation und Durchführung des Kurses durch den Lehrer, Klarheit der Aufgabenstellung und Eigenaufwand. Das Feedback dieser Evaluationen war bisher durchweg he‐ terogen; wo ein Teilnehmer der Ansicht ist, bestimmte Themen hätten länger oder detaillierter behandelt werden sollen, kritisiert ein anderer, dass diese Themen zu detailliert und lange behandelt wurden - leider fehlt in diesem Be‐ richt der Platz besondere Fälle zu beschreiben. Durch diese Evaluationen habe ich die Pluralität interkulturellen Lernens bei Teilnehmern aus demselben Her‐ kunftsland und unabhängig von ihrem Herkunftsland beobachtet. Das Refugee Programm ist kontinuierlicher Selbstevaluation durch die Beteiligten unter‐ worfen, ebenso verhält es sich mit den Teilnehmern. Ich wage zu sagen, dass in diesem Programm viele von ihnen die Homogenität ihrer „Flüchtlings“-Identität in Frage gestellt haben und in ihren eigenen sozialen Kreisen produktive De‐ batten begonnen haben, indem sie teilen, was sie im Programm über sich selbst 104 Arhea Venessa Marshall entdeckt hatten und gelehrt wurde. Die Frage am Ende des ersten Zyklus wird natürlich sein, ob das Refugee Programm 2016/ 2017 erfolgreich war? Besprechung / Offene Enden Im Juli 2017 hat die erste Gruppe des Refugee Programms an der Universität Tübingen den oben genannten zweisemestrigen Kurs mit einer Teilnehmer‐ verbleibquote von über 90 % abgeschlossen. Ist diese Tatsache ausreichend, um den Erfolg des Programms zu bemessen? Ich stelle diese Frage zum Abschluss dieses kurzen Blicks auf das Programm mit der Absicht, dass die Debatte fort‐ besteht. Wenn die Teilnehmer das Refugee Programm abschließen, kommen Fragen auf bezüglich der Finanzierung ihrer Studien oder anderer Ausbildungs‐ wege, Traumaverarbeitung in einer größeren institutionalisierten Struktur, Testergebnissen und des Lebens nach dieser anfänglichen vorstrukturierten In‐ tegrationsinitiative. Dies sind die zu bedenkenden Punkte, die ich aus der Praxis gezogen habe, in Diskussionen mit den Teilnehmern und den studentischen und administrativen Teams des Programms, durch Organisation von Abteilungsbe‐ suchen und indem ich persönlich versucht habe die kurzfristigen Auswirkungen der Debatten auf der individuellen Ebene zu verstehen. Bezüglich eines Studiums an deutschen Universitäten stellen viele unserer Teilnehmer dessen Wert verglichen mit dem tatsächlichen Wert eines Ab‐ schlusses in Frage. Da das Maximalalter für den Erhalt von Hilfe durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bei 35 Jahren liegt, sind viele Teil‐ nehmer der ersten Gruppe besorgt, da sie, wenn sie mit einem Bachelorstudi‐ engang beginnen müssen und einen Master oder höheren Abschluss anstreben, die Altersgrenze im Lauf ihres Studiums überschreiten werden. Daher fragen sich einige von ihnen, ob eine Ausbildung in Zusammenhang mit ihrem Inter‐ essengebiet an dualen Hochschulen praktikabler wäre. Basierend auf diesem Beispiel sollte die weitere Debatte im Besonderen versuchen die anhaltende fi‐ nanzielle Abhängigkeit vom Staat für Flüchtlinge, die Integration durch höhere Bildung anstreben, zu reduzieren. Dieser Punkt hängt auch mit dem Thema der Traumabewältigung zusammen, welches lebhaft in professioneller Ausbildung für die Arbeit mit Flüchtlingen behandelt wird. Traumabewältigung ist eine Fä‐ higkeit, die jeder, Flüchtling oder nicht, beherrschen sollte, da sie nützlich ist für das Individuum wie für seine Umgebung. Traumabewältigung an dieser Stelle zu erwähnen ist wichtig aufgrund ihres Effekts in Bildungsstrukturen, besonders in interkultureller Hinsicht. Traumata können sich in wiederholten unbewussten Verspätungen, chronischer Abwesenheit und panischem Ver‐ halten in kontrollierten Klassenzimmersituationen äußern. Diese Verhaltens‐ 105 Das Refugee Programm an der Universität Tübingen 2016-2017 weisen, wahrgenommen ohne die Perspektive des Traumas, erscheinen wie Gleichgültigkeit gegenüber der Lerngruppe und könnten, aus Sicht des inter‐ kulturellen Verständnisses von Zeit, zu Konflikten führen. Daher ist ein Ver‐ ständnis der Wurzeln von Traumata, selbst wenn sie vor der Flucht aus dem Heimatland verursacht wurden, notwendig, wenn nicht einfach praktisch für Erfahrungen in interkultureller Bildung. Weiterhin bringt uns der Einfluss von Traumata zurück zu der Frage, wie Erfolg beim Programm beurteilt wird, dieses Mal aus Sicht der Teilnehmer. Prüfungen können heutzutage viele verschiedene Formen annehmen; für den Universitätszugang für internationale, inklusive Flüchtlinge haben jedoch die meisten Prüfungen die Form eines standardisierten Sprachtests. Unter solchem Zeitdruck finden viele Teilnehmer es schwierig die Aufgaben zu erfüllen. Be‐ trachten wir das Refugee Programm, eine scheinbar abgeschlossene Lernum‐ gebung innerhalb einer größeren Bildungsstruktur, kann angenommen werden, dass diese Stress- und Angstpegel sich vervielfachen. Dies ist eine enge Auswahl der zu bedenkenden Punkte, welche in der politischen Debatte über Flüchtlinge in den Medien selten, wenn überhaupt, zu finden sind. Die Debatten sollten auch beginnen, ihren Blick auf die Herausforderungen zu lenken, wie sie sich in der Praxis darstellen, und Möglichkeiten zu eruieren, um Flüchtlinge aktiv zu un‐ terstützen, die sich auf das Abenteuer der interkulturellen Bildung einlassen. Literatur Delors, Jacques (1996). ‚Learning: The Treasure Within - Report to UNESCO of the In‐ ternational Commission on Education for the Twenty-first Century‘. <http: / / unesdoc.unesco.org/ images/ 0010/ 001095/ 109590eo.pdf> (May 15, 2017). Faigle, Philip / C. Guler / K. Polke-Majewski (2017). ‚Silvesternacht in Köln „Mit einer gewissen Grundaggressivität.“‘ Zeit Online. <http: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ zeitgeschehen/ 2017-01/ silvesternacht-koeln-polizei-migranten-racial-profilingnordafrikaner> (April 20, 2017). German Federal Ministry of the Interior. ‚Asylum and refugee policy in Germany‘. <http: / / www.bmi.bund.de/ EN/ Topics/ Migration-Integration/ Asylum-Refugee- Protection/ Asylum-Refugee-Protection_Germany/ asylum-refugee-policy-germany _node.html> (April 13, 2017). Knight, Ben. (2016). ‚Merkel presents new refugee integration law as „milestone“‘. <http: / / www.dw.com/ en/ merkel-presents-new-refugee-integration-law-asmilestone/ a-19281722> (April 13, 2017). ‚Refugee Olympic Team‘ (2016). <www.olympic.org/ news/ refugee-olympic-team> (April 8, 2017). 106 Arhea Venessa Marshall Rekittike, Volker (2016). ‚Wohnungsnot in Tübingen: 156 Häuser stehen leer‘. Schwäbi‐ sches Tagblatt. <http: / / www.tagblatt.de/ Nachrichten/ Wohnungsnot-in-Tuebingen- 156-Haeuser-stehen-leer-292727.html> (May, 2017). Sinclair, Margaret (2012). ‚Education in emergencies‘. <http: / / www.cedol.org/ wp-content/ uploads/ 2012/ 02/ 52-56-2007.pdf> (April 8, 2017). Westdeutscher Rundfunk (2016). ‚Wendepunkt Silvesternacht - sind Flüchtlinge noch willkommen? ‘. WDR: Ihre Meinung. <https: / / programm.ard.de/ ? sendung=2811119149 019035> ( June 27, 2019). Windmüller, Gunda (2015). ‚Das ist die großartige Antwort von Angela Merkel auf die Islam-Angst eines besorgten Bürgers‘. Huffington Post. <http: / / www.huffington‐ post.de/ 2015/ 09/ 08/ angela-merkel-antwort-bee_n_8101800.html> (April 8, 2017). 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Interessant an dieser ima‐ ginären, aus dem Sprechakt entstehenden Gruppe ist ihr Zwischendasein. Wer ist sie? Alle möglichen Antworten auf diese Frage bieten sich an: die seit Gene‐ rationen in Deutschland geboren und lebenden Ausländer, die aufgrund des ius sanguinis bis 2001 in vielen Fällen keine „Passdeutschen“ werden konnten (Storz / Wilmes 2007; BMI 2019); oder vielleicht die vielen „Gutmenschen“, die aufgrund ihrer politischen bzw. humanitären Überzeugungen eine diskriminie‐ rende oder gar rassistischen Sozialbzw. Rechtsordnung ablehnen. Auf jeden Fall sind das jene Gruppen, die weder den reinen „Ausländern“ noch den „reinen“ Deutschen zugeordnet werden können, also all jene, die in irgendeiner Art und Weise das Gefühl haben, in einer schwer definierbaren Grauzone zwi‐ schen klaren Identitätsblöcken zu leben. In diesem Spruch identifizieren sie sich einerseits nicht mit „den Deutschen“, obwohl sie durch das „lassen“ eine geo‐ graphische Zugehörigkeit aufweisen; dank dieser geographischen Sesshaftig‐ keit unterscheiden sie sich von denjenigen, die durch ihr (ver)„lassen“ Deutsch‐ land den Rücken kehren. Sie bilden also rein konzeptuell, virtuell die noch imaginäre Gruppe der die nichtdeutschen Deutschen - ein Widerspruch in sich. Eine weitere Komplexität überlagert diese unklaren Zugehörigkeitsverhält‐ nisse. Der Spruch bezieht sich nicht nur inhaltlich und denotativ auf den Raum, der verlassen bzw. nicht verlassen wird, sondern funktioniert ferner perfor‐ mativ, in dem er die „Ausländer“ in der Sprache anspricht, die sie anscheinend während ihres Aufenthalts erworben haben: die deutsche Sprache. Betont nicht angesprochen werden dagegen die, die gemeinhin als Urheberrechtbesitzer der deutschen Sprache gelten: die deutschsprachigen Deutschen. Es entsteht daher eine merkwürdige Spaltung zwischen dem Sprechakt und seinem Adressaten. Die Ausländer erweisen sich gleichzeitig als linguistisch nicht passförmig (nur die Deutschen besitzen die Sprache „richtig“), aber dennoch als mora‐ lisch-ethisch würdiger als Ansprechpartner als die „Urheber“ oder „Hüter“ der Sprache selbst. Dadurch wird die Sprache selbst zum Ort einer Spaltung des Deutschseins. Die Sprache verkörpert nicht mehr den Kern der nationalen Iden‐ tität, sondern wird im Akt des Ansprechens selbst aus sich herausgeworfen, über die eigene Grenzen hinweg zu den „Ausländern“. Da sich diese Ausländer of‐ fensichtlich noch in Deutschland befinden (der Sprechakt zielt auf die Verhin‐ derung der suggerierten anstehenden Massenauswanderung), wird sich die Sprache selbst in ihrem eigenen Geschehen entfremdet. Im Moment des An‐ sprechens der Fremden auf Deutsch wird sich die deutsche Sprache selbst fremd. Wörter aus der Fremde Dieses Sich-selbst-Fremdwerden der deutschen Sprache ist nicht neu. Es hat eine Geschichte, die spätestens an der Schwelle zum modernen Gastarbeiter-Multi‐ kulturalismus im heutigen Deutschland einsetzt (Herbert 1986: 194-236). Diese Einstellung legt Theodor W. Adorno im Jahr 1959 in seiner kurzen Rundfunk‐ rede, „Wörter aus der Fremde“ dar (Adorno 1961: 110-30). Es geht Adorno um den Widerstand seitens der Einheimischen gegenüber „Fremdwörtern“, d. h. gegenüber sprachlichen Fremdkörpern im Haus des Seins, deren Anwesenheit innerhalb der konservativen sprachlichen Normen der Zeit einen Störfaktor darstellen. In der „Spannung zwischen Fremdwort und Sprache“ (ebd.: 115) er‐ öffnet sich eine gewisse Möglichkeit, das Eins-mit-sich-selbst-sein der Sprache, vor allem durch den bewusst spielerisch bzw. provokanten Umgang mit der Sprache, aufzubrechen: „Das konformistische Moment der Sprache, den trüben Strom, in dem die spezifische Absicht des Ausdrucks ertrinkt, vermag er [der Schriftsteller] durchs Fremdwort zu unterbrechen“ (ebd.: 115). Durch die hier suggerierte Brechung der Sprache bietet Adorno den Beweis dafür, dass „Keine Sprache […] ein Organisches, Naturhaftes“ ist (ebd.: 114). Hier lässt Adorno so etwas wie einen Brecht’schen Verfremdungseffekt zum Vorschein kommen, der die ideologische Konstruktion der Alltagssprache offenlegt und durch „gezielte Regelverletzung“ (Pusch 1990: 11-12, 35-36) es dem kritischen Beobachter er‐ laubt, die glatten Oberfläche des „gesunden Menschenverstand[s]“ zu durch‐ brechen. Das plötzlich bloßgestellte Nichtorganische an der Sprache zeugt von ihrer Geschichtlichkeit: „Dabei ist freilich, was unorganisch scheint, in Wahrheit 110 Russell West-Pavlov nur geschichtliches Zeugnis, das des Mißlingens jener Vereinheitlichung“ (Adorno 1961: 113). Interessant an Adornos Aussage ist vor allem das, was in ihr fremd bleibt: Unter der Oberfläche des Textuellen („Zeugnis“) bzw. des Rechtlich-Juristischen („Zeuge“) ist gerade etwas sehr Organisches, gerade das „Naturhafte“, das Adorno soeben abgelehnt hat: das Zeugen, d. h. die Produktion der „Natural History“ im Sinne der Naturgeschichte. Hier kommt das nicht Ver‐ einheitlichte der Sprache zum Vorschein; ihre Fähigkeit mit unendlicher Krea‐ tivität immer wieder Neues hervorzubringen. Das Fremdwort ist das Unorga‐ nische in der Sprache als Gemeinsinn, als Kommunikationsmittel der geschlossenen Gesellschaft, geradezu das Ent-schlossene der Sprache, ihr ent-grenzender Drang zur Produktion von Neuheit und ständiger Andersartig‐ keit des Sinns. Das Fremdwort ist der Ort, wo das Gewöhnliche der Sprache zunächst von außen aufgebrochen wird, so dass sich ebenfalls die Kreativität manifestiert, die aller Sprache innewohnt. Dies geschieht zunächst auf negative Art und Weise, wodurch dem Fremd‐ wort die Schuld des Scheiterns zur Last gelegt wird: „Wogegen man sich beim Fremdwort sträubt, ist nicht zuletzt, daß es an den Tag bringt, wie es um alle Wörter steht: daß die Sprache die Sprechenden nochmals einsperrt; daß sie als deren eigenes Medium eigentlich mißlang“ (Adorno 1961: 116). Mit anderen Worten: die Kommunikation scheitert immer und auch bzw. sogar am meisten, wenn sie im Rahmen der eigenen und deshalb vermeintlichen durchsichtigen Sprache stattfindet. Um so mehr muss sie also scheitern, wenn es um das Fremde im Eigenen, um das Fremdwort innerhalb der Mutterbzw. Landessprache geht: „In jedem Fremdwort steckt der Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kon‐ trollierten Gebrauch das Wissen, daß Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur durch alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken sei“ (ebd.: 116). Eine Fremdsprache ist nicht etwas, das man erst in der Schule lernt. Vielmehr ist eine Fremdsprache etwas, das im Kern der eigenen Sprache von Anfang an steckt. Das Fremdwort, das sich vermeintlich als Eindringling mit Gewalt und zu Unrecht Zugang zum Gemeinwesen verschafft, ist deshalb nur der verhasste Auslöser einer ungewollten Einsicht in das tiefe Fremdsein der eigenen Sprache. Das ist der erste, negative Teil der Fremderfahrung in der Sprache. Nun zum zweiten, positiven Teil, der von Adorno durch eine unmittelbare Umkehrung dargestellt wird: „es lockt eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem Umkreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus möchte“ (ebd.: 112). Das Fremdwort löst Aggression aus, weil es das Fremde im Herzen der eigenen Sprache zu Tage bringt. Gleichzeitig löst es umgekehrt Neugierde aus, die ein tiefes Heimweh offenlegt, das genauso mächtig im Wesen 111 Ausländisch für Deutsche der Sprache, in ihrem grundlegenden Drang zur Kreativität, schlummert. Die Topographie eines linguistischen Außens, das von vornherein im Zentrum der Sprache verborgen liegt, geht mit einer zentrifugal fortschreitenden Genealogie, mit dem Prinzip eines Verkoppelns nach Außen, einher. Mit der Metapher der „Exogamie“ verwendet Adorno ein bildliches Konzept an der Schnittstelle von Raum und der Zeit. Die Exogamie ist das räumliche Prinzip, das Eheschließungen außerhalb der Gruppe festlegt. Insofern ist die Exogamie auch ein zeitliches Prinzip, bei dem etwas aus der Gegenwart heraus in eine fremde, unbekannte Zukunft hinein erzeugt wird. Das Fremdwort ist daher die treibende Kraft (oder zumindest das Symptom) eines linguistischen Erzeugens, die eher die Transformation der Sprache in Richtung des Fremdseins beschleunigt, als dass sie die Sprache stabilisiert und in ihrer bekannten, ver‐ trauten Form aufrechterhält. Eine solche Vorstellung untermauert Adornos Vi‐ sion einer zukunftsorientierten deutschen Sprache: „Damit können die Fremd‐ wörter etwas von jener Utopie der Sprache, einer Sprache ohne Erde, ohne Gebundenheit an den Bann des geschichtlichen Daseiendes bewahren, die be‐ wußtlos in ihrem kindlichen Gebrauch lebt“ (ebd.: 120). Wie soeben angemerkt schwankt Adorno an dieser Stelle zwischen räumli‐ chen und zeitlichen Paradigmen. Er bietet eine linguistische Utopie, die für ge‐ wöhnliche als Zukunftsvorstellung gehandelt wird, hier jedoch als „Nicht-Ort“ fungiert: weniger im Sinne Augés (2014), wo sie Verortungen der hypermo‐ dernen Leere darstellen, als Orte, die von der üblichen Übereinstimmung zwi‐ schen nationaler Identität, nationalem Territorium und nationaler Sprache los‐ gelöst sind, so dass diese utopische Sprache als „Sprache ohne Erde“ erscheint. Solche eine „Sprache ohne Erde“ ist nicht ortlos, sondern verabschiedet sich von jeglicher Verbindung zu nationalen Imaginarien der räumlichen Zugehö‐ rigkeit. Diese Art nationaler Zugehörigkeit bringt mit sich wiederum eine Fan‐ tasie geschichtlicher Kontinuität und „Gebundenheit an den Bann des ge‐ schichtlichen Daseiendes“ (Adorno 1961: 113). Zusammengefügt erzeugen diese beiden Paradigmen der räumlichen und zeitlichen Zugehörigkeit die tödlichen Phantasmen des „Blut und Boden“, die die rassistischen Staatsbürgschaftsmo‐ delle untermauert haben, die in die Denkform des ius sanguinis als Mechanismus der Ausgrenzung und nicht in die des ius soli eingebettet sind. Diese zwei Achsen der Diskriminierung über Raum und Zeit will Adorno nun außer Gefecht setzten mithilfe der Störkraft der Fremdwörter. Adorno macht in dieser Hinsicht diskret auf eine spezifisch deutsche Geschichte der Sprache aufmerksam: „Diese Span‐ nung [zwischen Fremdwort und Sprache] scheint aber dem Deutschen eigen‐ tümlich zu sein“ (ebd.: 115). Mit Ausnahme von dem geringen und ausschließlich symbolischen Widerstandswert der Verwendung von Fremdwörtern in der 112 Russell West-Pavlov nationalistischen Rhetorik des Ersten Weltkriegs (ebd.: 112) und einer skizzen‐ haften Geschichte des Scheiterns einer integrativen und aufklärungsgebun‐ denen Standardsprache der deutschen Mittelschichten, die nicht einmal die ge‐ waltige Standardisierungskraft des Dritten Reichs überwinden konnten (ebd.: 114; vgl. auch Klemperer 1947), bemüht sich Adorno in keiner Weise, eine Ge‐ nealogie der deutschen Sprachen zu entwerfen. Immerhin aber behält er etwas eines rudimentären Entwicklungsschemas in dem Augenblick, in dem er be‐ hauptet, die Rolle der Fremdwörter sei, „etwas von jener Utopie der Sprache […] [zu] bewahren, die bewußtlos in ihrem kindlichen Gebrauch lebt“ (Adorno 1961: 120). Dieses Entwicklungsmuster setzt den Verlust der utopischen Hoffnungen voraus, die insbesondere in Kindheitsträumen schlummern (Bloch 1982) - eine verlorene Epoche der ununterbrochenen Verbindung zum „symbiotic Real“ in der Redewendung von Morton (2017: 15), die noch nicht einem trennenden, bestrafenden „Geschieden-Sein“ der Realität zum Opfer gefallen ist. Diese Utopie sabotiert nicht nur die Rhetorik des Nationalismus, sie projiziert ferner einen imaginären Ort, dessen syntaktische Markierung aufgrund der kontinuierlichen Grenzüberschreitungen des Nationalismus negativ ausfällt. Im Gegensatz zu der eingezäunten Zitadelle der nationalistischen Imagination ähnelt die Utopie der Fremdwörter vielmehr den „Heterotopien“ Foucaults (Fou‐ cault 2005), die an wahre Orte angrenzen und somit Raum für sonst verdrängte bzw. unterdrückte Energien schaffen, die ansonsten aus solch eingeengten To‐ pographien verbannt wären. Adorno versieht diese Utopie, wie oben bereits angemerkt, lediglich mit der Beschreibung „eine Art Exogamie der Sprache“, wozu er die unpersönliche Form verwendet: „es lockt“ (Adorno 1961: 112). Das „Es“ deutet auf etwas außerhalb des menschlichen Kreises hin, auf die Entste‐ hung der Sprache schlechthin, an der Stelle, wo sie nicht als Ausdrucksmittel des Menschen fungiert, sondern als schöpferische Kraft an sich vortritt. An einer anderen Stelle erklärt Adorno das Unpersönliche an der Sprache mit Bezug auf den Dichter Hölderlin. Da, wo die deutsche Philologie das lyrische Kunstwerk als höchsten Ausdruck des dichterischen Gemüts betrachtet, stellt Adorno hin‐ gegen das Kunstwerk als eigenständiges Wesen in den Vordergrund: „[D]ie Künstler selbst indessen werden durch ihre Erfahrung darüber belehrt, wie wenig ihr Eigenes ihnen gehört, in welchem Maß sie dem Zwang des Gebildes gehorchen“ (ebd.: 157). Das schöpferische an dem „sprachlichen Kunstwerk“ (Kayser 1984) gehört in seinem schöpferischen Wesen am wenigsten dem Künstler. Da die Kraft der Sprache als unpersönliches „Es“ jedoch eine struktu‐ rell deckungsgleiche Stellung mit der „Exogamie“ teilt, bleibt „Es“ nicht „unper‐ sönlich“, auch wenn es dadurch keinesfalls weniger nicht-menschlich erscheint. 113 Ausländisch für Deutsche Vielmehr ist die Sprache als Außen, wie der Vergleich mit der Ehe andeutet, mit der Markierung der Begierde versehen: „Es lockt“. Das schöpferische Wort ist im Grunde genommen immer ein Fremdwort; ein Fremdwort, das lockt, da es sich in seiner unendlich kreativen Entfaltung der Kontrolle der menschlichen Kraft entzieht. Das Entkommen des künstlerischen Wortes aus den Schranken der menschlichen Regeln ist jedoch kein Charakte‐ ristikum der Kunst alleine, sondern wohnt jeglicher Sprache, auch der Alltags‐ sprache, inne. Genau dies legt das Fremdwort offen. Auf diese Art und Weise unterläuft Adornos Metapher der Utopie der Sprache eine Verwandlung. Die Utopie der Sprache wird zunächst negativ beschrieben, um den Ketten des Na‐ tionalismus zu entkommen. Anschließend jedoch wird sie positiv beschrieben, da diese Utopie von diesem Zeitpunkt an eine fremd-lockende Anziehungskraft annimmt. Ausländisch für Deutsche Auch wenn Adorno etliches zur Bildung und zur Erziehung als gesellschaftliche Bildung verfasst hat (1971), tangieren seine Bemerkungen zu „Fremdwörtern“ in erster Linie kaum Fragen der sprachlichen Bildung. Sie sind für eine unmit‐ telbare Übertragung in den Bereich der interkulturellen Bildung weitgehend untauglich. Man könnte aber meinen, dass sie ein konzeptuelles Potential be‐ herbergen, das von anderen nachträglich entfesselt worden ist. In diesem Sinne wird im Folgenden eine Lektüre eines vor kurzen erschienenen Schulsprach‐ lehrbuchs Ausländisch für Deutsche (Colombo-Scheffold / Fenn / Jeuk / Schäfer 2008a) unternommen. Wo Adorno seine Überlegungen den Fremdwörtern widmet, fokussiert das Handbuch auf nicht ganz unähnliche Art und Weise fünfzig Jahre später die Fremdsprachen. Das Handbuch, sich an Deutschbzw. Sprachlehrer in deutschen Schulen richtet, will den Lehrer*innen die ganze Bandbreite der von den Schüler*innen gesprochen Sprachen, bekannt machen. Dabei arbeitet das Lehrbuch von An‐ fang an mit einer gezielten Provokation. Der spielerisch anmutende Titel „Aus‐ ländisch für Deutsche“ ist eine chiastische Umkehrung des etwas altmodisch klingenden Schulfach „Deutsch für Ausländer“, heute „Deutsch als Fremd‐ sprache“ (kurz DaF). Diese Provokation funktioniert auf mindestens zwei Ebenen. 1. Der Begriff „Ausländisch“ überträgt die undifferenzierte Homogenisierung in den Bereich der Sprache, die normalerweise die vage Masse der „Anderen“ um‐ fasst (von Neuankömmlingen bis hin zu Alteingesessenen der dritten Genera‐ tion, die sogar Inhaber*innen deutscher Pässe sein mögen). Somit werden andere 114 Russell West-Pavlov Sprachen als die deutsche Nationalsprache ähnlich undifferenziert zusammen‐ gefasst. Gerade dieser humorvolle Verzicht auf eine Binnendifferenzierung in‐ nerhalb des vermeintlich einheitlichen „Ausländisch“ treibt solche Tendenzen auf die Spitze. Dies bewirkt einerseits eine satirische Widerspiegelung der glei‐ chermaßen mythologischen Homogenisierung des nationalen Selbstbilds. An‐ dererseits gewinnen dadurch die nicht-schulischen aber allgegenwärtigen Mi‐ grantensprachen, die bislang als völlig unbedeutend galten, an Sichtbarkeit. Diese Sichtbarkeit durch Homogenität, die bislang dem Deutschen vorbehalten war, gilt es nach der ersten Provokation des Titels genauer durch zu deklinieren. Deshalb also bietet das Handbuch einen Überblick über die Vielzahl an Spra‐ chen, die an deutschen Schulen tatsächlich gesprochen werden. Dadurch wird die im Titel spielerisch suggerierte Homogenität dieser Sprachen auf sehr konkrete Art und Weise dekonstruiert. Es geht darum, die groben Strukturen und Erschei‐ nungsformen solcher Sprachen darzustellen, so dass Deutschlehrer*innen die Logik solcher Sprachen im kognitiven Auge behalten können, wenn sie die deut‐ sche Sprache lehren. Somit beabsichtigt das Buch eine Erleichterung des Sprach‐ lernprozesses im Deutschen durch das Bewusstsein der möglichen Interferenzen und Irritationen, die eventuell aus den anderen Muttersprachen entstehen können. Dank dieser Strategie entsteht ein neuer interkultureller Sprachlernan‐ satz in der Pädagogik des Deutschen. Dies stellt einen wichtigen Paradigmenwechsel innerhalb der Sprachpäda‐ gogik des Deutschen dar. Es wird dadurch eingeräumt, dass das Deutsche als Nationalsprache nicht mehr ausschließlich als der homogene Raum der Mut‐ tersprachler fungiert, sondern dass es von Verfahren und Prozessen des Zweitbzw. Drittspracherwerb durchzogen ist. Man kann die Bedeutung dieses Para‐ digmenwechsels nicht genug betonen. Sie verwischt die seit eh und je herrschende Unterscheidung zwischen dem (unmarkierten und deshalb norma‐ tiven) „Deutschen“ einerseits und solchen (markierten und deshalb abweich‐ enden) Varianten wie „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) oder „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ). Da solche pädagogischen Etikettierungen auch verschie‐ dene Lernergruppen produzieren und aufrechterhalten, entstehen dementspre‐ chend durch die Verwischung solchen Grenzen neuartige Schülerschaften. Das Deutsche tritt als interkulturelle Sprache und als gemeinsamer, wenn auch durchaus heterogener Sprachraum hervor. 2. Die spielerisch chiastische Umkehrung „Ausländisch für Deutsche“ sugge‐ riert, dass die Deutschen in ihrem eigenen Land nun eine Fremdsprache lernen müssen. Hiermit werden, freilich auf spielerische Art und Weise, die paranoi‐ dene Reaktionen derer ins Lächerliche gezogen, die behaupten, sie werden „überfremdet“. Man stelle sich vor, die Deutschen wachen in einem Land auf, 115 Ausländisch für Deutsche das einst das ihre war, müssten aber nun als nichtgebildete Einwanderer bei den Ausländern Einführungskurse in „Ausländisch“ belegen! Das ist jedoch im End‐ effekt genau das, was das Lehrbuch als Aufgabe übernimmt. Es bietet einen knappen Überblick über die vielen Sprachen von den ca. 30 Prozent (oder mehr) Kindern, die zu Hause eine andere Sprache als Deutsch bzw. eine andere Sprache und Deutsch sprechen (Chlosta / Ostermann / Schroeder 2003; Chlosta / Oster‐ mann 2008; Fürstenau / Gogolin / Yagmur 2003; IT NRW 2012; Schroeder 2007). Wie die Herausgeber sofort einräumen (Colombo-Scheffold / Fenn / Jeuk / Schäfer 2008b: 8) ist die Sammlung an Sprachen bei Weitem nicht vollständig. Wichtige Sprachen wie Polnisch, Serbisch, Kurdisch oder Portugiesisch wurden aus Gründen der (Nicht-)Verfügbarkeit gewisser Referenten im Rahmen der Vorlesungsreihe auf welcher das Handbuch basiert, vernachlässigt. Ein Jahr‐ zehnt später müsste man beispielsweise das Fehlen von Arabisch als ein gra‐ vierendes Manko benennen - was aber in Krifka et al. (2014) beispielhaft auf‐ gehoben worden ist. Insofern verschiebt das Handbuch das Verhältnis zwischen Außen und Innen, zwischen Muttersprache bzw. Nationalsprache und Fremdsprache -ja es kehrt das Verhältnis sogar ganz um. Das Handbuch stellt sich an die Grenze zwischen mehreren Sprachzonen und fungiert als Mittler. Dabei fungieren Lehrer*innen und Schüler*innen als Mit-Übersetzer*innen bzw. Ko-Mittler*innen, die im Pro‐ zess der eigenen Selbstverwandlung als Helfer*innen tätig werden. Das Deut‐ sche wird zu einer „Kontaktzone“ (Pratt 1991; 1992) wo Jede*r eine Rolle in der gegenseitigen Sprachvermittlung zu spielen hat. Darüber hinaus denkt das Handbuch die Topographie des Klassenzimmers neu. Noch herrscht in den meisten fachdidaktischen Lehrbüchern das imaginäre Bild des Klassenzimmers als ein weitgehend homogener Raum, in dem Fremd‐ sprachen nur beiläufig und gelegentlich die ungestörte Harmonie eines mut‐ tersprachlichen Hochdeutschen trüben. Hier im Gegenteil gerät ein ganz an‐ deres Klassenzimmer ins Blickfeld: Das Klassenzimmer als Raum der Übersetzung und der Translativität tritt hervor. In einem Bildungsumfeld, in dem sich „der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ nicht wesent‐ lich geändert hat seit Gogolin (1994) den Begriff eingeführt hat, bildet Auslän‐ disch für Deutsche einen sowohl gewagten wie auch pragmatischen Versuch, aufgrund der real existierenden Mehrsprachigkeit der Schülerschaft die kultur‐ elle bzw. sprachliche Grundlage der deutschen Schule (und des Deutschunter‐ richts an deutschen Schulen) zu überdenken. 116 Russell West-Pavlov Fremdsprachen in der deutschsprachigen Schule Dieser Prozess last sich noch genauer anhand einer detaillierten Lektüre der Einleitung des Bands (Colombo-Scheffold / Fenn / Jeuk / Schäfer 2008b) dar‐ stellen. Die Autor*innen arbeiten sich mit allmählich radikaler werdenden Stel‐ lungnahmen zum Sprachunterricht an deutschen Schulen vor. Die Einleitung startet mit einer keineswegs kontroversen Feststellung über die wachsende Be‐ deutung des Sprachunterrichts im Rahmen der deutschen curricularen Inhalte, belegt durch die „Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz“ bzw. der „Bildungspläne der Bundesländer“ (ebd.: 7). Der nächste Schritt besteht darin, die Bedeutung der Muttersprache beim Erlernen der Zweitsprache zu betonen - ohne dabei zu spezifizieren, ob es sich bei der Muttersprache um Deutsch oder eine andere Sprache handele. Aus diesem Kontext heraus wird der Sprachver‐ gleich als Grundlage für den Zweitspracherwerb konzeptualisiert: Zum Beispiel erhielte der Arbeitsbereich „Sprache untersuchen“ im Deutschunterricht eine ganz neue Qualität, wenn Schülerinnen und Schüler verschiedener Mutterspra‐ chen ihre Fähigkeiten in der Erstsprache mit einbringen und aufgrund eines sprach‐ übergreifenden Vergleichs zu strukturellen Erkenntnissen in der Zweitsprache Deutsch und ggf. in ihren Erstsprachen gelangen. (ebd.: 7) Dies ist ein bahnbrechender Ansatz, und zwar aus drei verschiedenen Gründen. 1. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden Fremdsprachen weitgehend aus dem deutschsprachigen Klassenzimmer verbannt, mit Ausnahme natürlich von den klassischen „Akademikersprachen“: Englisch, Französisch, danach Spanisch und Italienisch und, für eine kleine Elite freilich, Latein und Griechisch. Andere Sprachen behielten den Status von „gesprochenen“ Sprachen im Gegensatz zu den „schriftlichen“ oder „literarischen Sprachen“ (Latein und Griechisch galten selbstverständlich und nicht nur aus wortwörtlichen Gründen als „schriftliche“ Sprachen schlechthin). Sprachen wie Polnisch, Kroatisch, Griechisch (wohlge‐ merkt: Neugriechisch) galten als „Alltagssprachen“, besaßen aber keine Rele‐ vanz für den Hochschulzugang oder für Akademikerberufe. „Gesprochene“ Sprachen konnten beispielsweise als „AG“ („Arbeitsgemeinschaft“: mit anderen Worten ähnlich wie Töpfern oder Basketball) im Rahmen des schulischen Zu‐ satzangebots wahrgenommen werden, galten jedoch nicht als Abiturfächer. Die Hierarchie zwischen „schriftlichen“ und „gesprochenen“ Sprachen spiegelt nicht nur eine Rangordnung innerhalb der EU zwischen westlichen und südli‐ chen bzw. östlichen Ländern, zwischen den mächtigen Kern- und kleineren Randnationen, wider. „Gesprochene“ Sprachen waren nicht die Sprachen der unmittelbaren (westlichen) EU-Nachbarn, sondern lediglich die, die man als 117 Ausländisch für Deutsche Sprachen für den Alltagsgebrauch zu Hause oder auf der Baustelle verwenden konnte. In dieser Rangordnung steckte sogar Überbleibsel von einer Unter‐ scheidung zwischen fortgeschrittenen Zivilisationen und den primitiven Kul‐ turen der „Völker ohne Schrift“. Aufgrund dieser vielschichtigen Sedimentie‐ rung von Ideologien waren Sprachen wie Türkisch, Bosnisch oder Portugiesisch von der Schule verbannt. (Russisch, eine der meistgesprochenen Fremdsprachen Deutschlands mit mehr als 3 Millionen Sprechern, hat einen ambivalenten Status hier. Russisch ist eine „schriftliche“ Weltsprache mit einer imperialen Vergan‐ genheit. Ihr Stellenwert hat sich in Deutschland insofern zementiert, als dass sie zum einen ein halbes Jahrhundert lang die lingua franca des sozialistischen Blocks und eine Pflichtschulsprache der DSF (Deutsch-Sowjetischen Freund‐ schaft) in der DDR war. Zum anderen gelangte sie zu einem „Nachleben“ als erste Fremdsprache in vielen Schulen in den neuen Bundesländern - wenn auch mit immer weniger Anhängern. Gleichzeitig ist Russisch aber auch eine „ge‐ sprochene“ Sprache im Gebrauch von mehreren Generationen „Spätaussied‐ lern“.) Diese Sprachhierarchie wird implizit in Ausländisch für Deutsche durchei‐ nandergebracht. Diese einst verpönten „gesprochenen Sprachen“ erhalten eine plötzliche Relevanz für jeglichen Spracherwerb - sogar den der deutschen Mut‐ tersprache. Der Lernprozess wie er im Handbuch dargestellt wird, wird zu einem kosmopolitischen und translativen Verfahren. Mehr noch: die absichtlich vagen Formulierungen, die in der Beschreibung des „sprachvergleichsbasierten Spracherwerb“ auftauchen, lassen offen, inwiefern das translative Lernen even‐ tuell sogar dem Erlernen der Erstsprache förderlich sein könnte; jener Sprache also, aus der überhaupt übersetzt werden muss und auf welcher die Übersetzung gründet. In einer ultimativen Umkehrung der einstigen Sprachhierarchie werden die „gesprochenen“ Fremdsprachen zu einer wichtigen Bedingung für das Erlernen der hegemonialen, einheimischen Nationalsprache. 2. Neben der Frage der impliziten Sprachhierarchie, die quer durch die Gesell‐ schaft hindurch bestimmte Sprachen zum zweitrangigen Status von Randdia‐ lekten herabstuft, bestehen schulinterne Gründe für die Verbannung von nicht-hegemonialen Sprachen. Es erscheint höchst plausibel, dass das Prinzip der „monolingualen“ Schule zumindest zum Teil auf der Notwendigkeit der Vorherrschaft der Lehreridentität beruht. Es scheint so, dass auch die Autorität der Lehrkräfte eine Rolle spielt, die durch das Eindringen von anderen Sprachen als Deutsch oder der Sprachen des Sprachlehrers (Englisch bzw. Französisch) gefährdet wäre. Die Lehrerschaft an deutschen Schulen entstammt weitgehend den oberen Mittelschichten. Durch die systemische Selbstreproduktion des deutschen Schulwesens (Kinder mit Migrationshintergrund werden systema‐ 118 Russell West-Pavlov tisch ausgesiebt und in Hauptbzw. Realschulen kaserniert) bleibt der Lehrer‐ beruf, bedingt durch das verpflichtende Hochschulstudium, potentiellen künf‐ tigen Anwärter*innen weitgehend versperrt. Der Zugang zur Schule bleibt fast ausschließlich einer Lehrerschaft vorbehalten, die durch das Abitur und die Universität Kompetenzen in mindestens einer westeuropäischen „schriftliche“ Sprache hat, jedoch selten eine „gesprochene“ Sprachen beherrscht. Unter sol‐ chen Bedingungen bedeutet das Sprechen im Klassenzimmer von Sprachen wie Türkisch, Kroatisch oder Russisch, die der Lehrerschaft keine Zugriffsmöglich‐ keiten bieten, einen Autoritätsverlust (Luchtenberg 1999: 91). „Gesprochene“ Sprachen im Klassenraum zuzulassen würde daher heißen, Autorität zugunsten von Kommunikation aufzugeben. Das Erlernen von Spra‐ chen (in der Mehrzahl! ) mit Hilfe des Sprachvergleichs bedeutet zwangsläufig, dass der/ die Lehrer*in zugeben muss, dass manche Schüler*innen manche Spra‐ chen besser beherrschen als sie oder er. Zugleich entsteht eine multipolare Lernsituation, in der unterschiedliche Sprachkompetenzen zusammenkommen, ohne dass es einer Hierarchie bedarf, außer der, die ohnehin nötig ist, um den Lernablauf zu sichern. Das Klassenzimmer besteht fortan aus einem Miteinander von sprachlichen Kontaktzonen. Solche Lernsituation verlangen stetige Über‐ setzungen und Vermittlungen, was zweifelsohne durchaus anstrengend werden kann, jedoch einen stetigen Lerngewinn mit sich bringen kann. Die Sprache ist nicht ein Objekt, das angeeignet werden muss, sondern wird zu einem Prozess, an welchem man ständig teilnehmen muss, wenn man ein Bürger der modernen Gesellschaft werden will. Ferner wird das Klassenzimmer zum Lernlabor für die multikulturelle Gesellschaft der Zukunft. Der Klassenraum wird zum Mikro‐ kosmos des Einwanderungsland Deutschlands, das aus der heutigen Gesell‐ schaft entstehen muss, um die kommende demographische (und daher wirt‐ schaftliche) Katastrophe zu vermeiden (Fuchs / Kubis / Schneider 2015; 2019). 3. Ein solcher auf Sprachvergleich basierender Spracherwerb würde der Mehr‐ sprachigkeit eine sozioökonomische Legitimation verleihen, die sie als real exis‐ tierende soziale Qualifikation im heutigen Deutschland auf dem Arbeitsmarkt bislang jedoch kaum besitzt. Das Verbannen von „gesprochenen“ Sprachen aus der Schule geht einher mit einer weitverbreiteten Ablehnung der alltäglichen Mehrsprachigkeit an Schulen und im Allgemeinen in der Gesellschaft Deutsch‐ lands (Karaksoglu 2016: 39; Hinnenkamp 2010). Es wird von Personen mit einem „Migrationshintergrund“ erwartet, dass sie die deutsche Sprach beherrschen, hingegen finden die „gesprochenen“ Migrantensprachen auf dem deutschen Arbeitsmarkt kaum Anerkennung. Esser (2009: 84) behauptet: „In keinem Fall gibt es für die ‚multiple Inklusion‘ [d. h. mannigfaltigen kulturellen Verbin‐ dungen bzw. Mehrsprachigkeit] im Vergleich zur ‚Assimilation‘ eine Prämie auf 119 Ausländisch für Deutsche dem Arbeitsmarkt […] Die zur Zweitsprache zusätzliche Beherrschung der Mut‐ tersprache […] bringt auf dem Arbeitsmarkt offenbar so gut wie nichts“. Eine universitäre Untersuchung aus dem selben Jahr (Meyer 2009) unterstreicht den beruflichen Wert der Mehrsprachigkeit, aber offensichtlich besteht eine Kluft zwischen der Forschung und der Praxis; die Anerkennung der Mehrsprachig‐ keit, die im universitären Bereich bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist, braucht eine Zeit, um in der Arbeitswelt anzukommen. Die Auffassung von Zweisprachigkeit als „Störfall“ beherrscht weiterhin die Debatten um die Mehr‐ sprachigkeit an Schulen, so dass eine Autorin in jüngster Vergangenheit (Tracy 2014) sich gezwungen sieht, klarzustellen, dass Mehrsprachigkeit weder eine Behinderung von noch ein Hindernis für eine Integration darstelle, sondern dass die Mehrsprachigkeit als Bereicherung und Ressource zu verstehen sei. Trotz der Hartnäckigkeit solcher Vorurteile und Vorbehalte gegen die Mehrsprachig‐ keit gewinnt deren soziale Akzeptanz langsam an Terrain im deutschen Bil‐ dungswesen, zumindest auf theoretischer Ebene (BMBF 2015; Jakisch 2015; Krifka et.al 2014; Sauerborn 2017). Die Frage, inwiefern diese Akzeptanz aus der Theorie in die Lehrebildung und von dorthin zum Klassenzimmer hinabsickert - oder umgekehrt, inwieweit sie aus der Praxis aufgeklärter Lehrer*innen hi‐ naufsteigt, bleibt zu klären. Ausländisch für Deutsche nimmt die Normalität der Mehrsprachigkeit in Schulen hin und macht die Pluralität der Sprachen im Klassenraum zum Aus‐ gangspunkt für die best practice. Das Handbuch hat viel Gemeinsamkeiten mit anderen Aufrufen zu einer breiteren Akzeptanz von ‚Vielfalt als Normalfall‘ (Morris-Lange / Wagner / Altinay 2016) im deutschen Schulwesen. Die Autor*innen des Bandes treten dafür ein, dass die Sprachenvielfalt im Klassen‐ raum zum wichtigen Bestandteil der linguistischen und pädagogischen Aus‐ stattung wird, was sie an der faktisch bereits etablierten Wirkungskraft im „au‐ ßerschulischen“ bzw. „natürlichen“ Bereich des (Sprach)Lernens festmachen. Auf diesem Weg, so hoffen die Autor*innen, erkennen die Lehrenden die „Fehler von Lernenden als Lernerhypothesen […] die eventuell eine Übertragung von Strukturen der Erstsprache auf die Zweitsprache sein können“ (Colombo-Schef‐ fold / Fenn / Jeuk / Schäfer 2008b: 7). Somit gewinnt das „gebrochene Deutsch“ der Lernenden an Legitimation. Es wird nicht mehr als ein ausschließlich defi‐ zitäres Phänomen betrachtet, sondern erscheint fortan als Kontaktzone mit einer eigenen internen bzw. externen Logik. In einem bemerkenswerten Beispiel von Verdoppelung und konzeptueller Redundanz betonen die Autor*innen, dass die deutsche Sprache selbst gewisse Strukturen vorweist, die zur Falle für die Lernenden werden können, egal welche Muttersprache von diesen gesprochen wird: 120 Russell West-Pavlov Der Blick soll nämlich auch dafür geschärft werden, dass es Eigenarten des Deutschen gibt, die allen Lernern, relativ unabhängig von der jeweiligen Erstsprache, ähnliche oder vergleichbare Schwierigkeiten bereiten können. (ebd.: 7) Dieser Zusatz erscheint weitgehend überflüssig, angesichts der Tatsache, dass die Autor*innen in ihren Ausführungen zum Sprachvergleich als Lernmethode eine großzügige Multivektorialität unter den Sprachen der Lernenden einge‐ räumt und somit die Gleichstellung der verschiedenen Sprachen gewährleistet haben. Es handelt sich jedoch hier um eine dezidierte Ablehnung der vermeint‐ lichen Neutralität des Deutschen als einer Sprache, die sich sämtlichen Kom‐ plikationen, Irritationen und Interferenzen entziehen würde, die allen anderen sprachlichen Interaktionen unterlaufen. Auf dieser Art und Weise legen die Autor*innen die Grundlage für eine noch weitreichendere Schlussfolgerung: Ferner könnte eine solche Lehrerkompetenz im Unterricht adäquat zur Geltung kommen, etwa dadurch, dass Lernende angeleitert werden, Deutsch als eine Sprache neben anderen zu sehen und sich so mit einer Außenperspektive auf das Deutsche vertraut zu machen. (ebd.: 7) Hier wird vorgeschlagen, dass sich die Mehrheit der deutschen Muttersprachler die Außenperspektive der ca. 30 Prozent der Schüler*innen zu eigen machen, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen. Somit wird das Deutsche, zu‐ mindest gelegentlich bzw. vorübergehend, zur Fremdsprache für die mutter‐ sprachlichen Einheimischen. Im Endeffekt mag jede*r Sprecher*in der Sprache, egal ob sie oder er Deutsch als Muttersprache, als Zweit- oder sogar als Dritt‐ sprache spricht, in eine Lage geraten, wo sie oder er zwischen den Erfahrungen der Sprache als vertraute Muttersprache und umgekehrt als sprachliches Mi‐ nenfeld oder unbekanntes Territorium hin und her schwankt. Jede*r macht eine Erfahrung der „Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache“ (Deleuze / Guattari 1976: 38). Jede*r Sprecher*in wird somit zu Mittler*in in der eigenen Kontakt‐ zone (vgl. West-Pavlov 2019). Die Schule auch. Literatur Adorno, Theodor W. (1961) Noten zur Literatur II. Frankfurt/ Main: Suhrkamp. 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Gleichzeitig fürchten wir aber, dass eben diese Grenze nicht so sicher und stabil ist, wie wir denken. Wir fürchten, dass diese fremde, bösartige Welt auf unsere Welt übergreift und dass ihre unantastbaren Bewohner uns Schaden zufügen. Plötzlich scheint es nicht mehr wichtig, dass diesen Geistern keine objektive, materielle Struktur eignet, sondern sie lediglich durch die Geschichten heraufbeschworen werden, denen wir ausgesetzt sind. Plötzlich ist, so scheint es, unser gesamtes Denkvermögen außer Kraft gesetzt - wir wissen, dass es keine Geister gibt, aber dennoch fürchten wir ihre Existenz. Der Grund dafür ist eine fundamentale, eine poten‐ tiell lebensbedrohliche Verunsicherung; eine Verunsicherung, die zumindest die Möglichkeit in sich birgt, unser bisheriges Leben nachhaltig zu verändern. Der Grund dafür, so scheint mir, liegt darin, dass wir natürlich nicht alles über unsere Welt wissen, sie uns überfordert, uns bedroht. Auch wenn wir es für unwahr‐ scheinlich halten, dass ein Monster unter unserem Bett lauert, oder ein Vampir durch das offene Fenster fliegt, gibt es diese leise Stimme in unserem Kopf, die uns davon überzeugt, uns tief unter die Decke zu verkriechen, die uns vor feind‐ lichen Übergriffen schützen wird. Unsere Decke verstärkt jene durchlässig ge‐ wordene Grenze, schafft uns einen Raum, in dem wir uns warm und wohlig 1 Eine verstärkt kulturwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses von Geisterge‐ schichten und der Konstruktion von Flüchtlingen findet sich in Müsel, Lukas (2018). „Another Other: The Refugee. On Finding the Missing Link in the Evolution of the Human Zoo,“ in Postcolonial Interventions: An Interdisciplinary Journal of Postcolonial Studies 3(1), 38-69. fühlen und von der kalten, dunklen und bösartigen Außenwelt nichts mitbe‐ kommen. Dass diese Unwahrscheinlichkeit über die andere siegt, ist nichts An‐ deres als Ausdruck von Verunsicherung, Auswegs- und Hilflosigkeit. ‚Der Flüchtling‘ ist, genau wie der Geist aus unseren Gruselgeschichten, ein Revenant, ein Wiederkehrer in politischer wie in ökonomischer Hinsicht. 1 Aus politischem Blickwinkel ist er ein entrechtetes Wesen. Nacktes Leben, mit Agamben (2002) gesprochen - gefangen zwischen bios und zoe, zwischen poli‐ tischem und natürlichem Leben - ein ehemals lebender Mensch, der mit seiner Flucht eben dieses Leben und damit seine Rechte aufgab und nun als etwas weniger als das wiederkehrt. Das Mittelmeer ist sicherlich das drastischste Bei‐ spiel für diesen prekären Status, in dem die straffreie Tötung durch das Verbot von Seenotrettungen allzu offensichtlich wird. Weniger offensichtlich, doch nicht minder drastisch, zeigt sich der politische Status von Flüchtlingen in ihrer Abhängigkeit von der Gnade der sie aufnehmenden Staaten: individuelles Schutzbedürfnis - und damit die Anerkennung als Individuum, als Mensch - weicht mehr und mehr der Unterteilung in übergreifende Gruppen, etwa ‚Wirt‐ schaftsflüchtlinge‘, ‚politisch Verfolgte‘ oder ‚Flüchtlinge aus sicheren Her‐ kunftsländern‘. Ökonomisch gesehen, ist ‚der Flüchtling‘, wie Slavoj Žižek (2015, 80) schreibt, „der Preis der globalen Wirtschaft“ - das logische Resultat impe‐ rialistischer Politik; Arendts (1986) anthropomorphisierter Bumerang. Die handfesten ökonomischen Interessen des globalen Nordens hinterlassen überall wo sie durchgesetzt werden verbrannte Erde: Ils nous utilisent comme des chameaux Dans des conditions qu’on déplore Ils nous mènent souvent en bateau Vers des destinations qu’on ignore Ils allument le feu, ils l’activent Et après, ils viennent jouer aux pompiers Tiken Jah Fakoly (2003 On a tout compris) zeichnet über den Reim ‚chameaux/ bateau‘ die direkte Auswirkung von Ausbeutungsverhältnissen auf Migrations‐ bewegungen nach. Anstatt veräußerbare Lasten zu Markte zu tragen - so die Angst vieler Menschen in Europa - tragen sie sich selbst als Last auf andere Märkte. Gleichzeitig wird über den Reim ‚déplore/ ignore‘ die gewollte Unsicht‐ 126 Lukas Müsel barkeit der Reduzierung von Menschen auf einfache Arbeitstiere herausgestellt, die gewollte Unsichtbarkeit des Zusammenhangs von Märkten und Fluchtbe‐ wegungen - und die Unsicherheit der Menschen, die diesen unmenschlichen Verhältnissen zurecht um jeden Preis entkommen wollen, alles hinter sich lassen und fliehen obwohl sie den Morgen nicht kennen. Dadurch entfachte Feuer werden von den Medien häufig als religiöse, traditionalistische oder ethnische Konflikte gezeichnet, die es vom ‚aufgeklärten‘ Norden zu löschen gilt - und plötzlich bekommt das platonische Gleichnis der Gaukler, die mit ihren Fackeln die Schatten an die Höhlenwand werfen, einen traurigen und sarkastischen Un‐ terton. Hinter diesen Konflikten stehen häufig ökonomische Interessen, die selten Teil unserer Wahrnehmung sind, die gleichzeitig aber reale Ausbeutungs‐ verhältnisse zementieren: „Ils pillent nos richesses/ Et se disent être surpris de voir l’Afrique toujours en guerre“ (Fakoly 2003, Françafrique). Menschen, die vor wirtschaftlicher Unterdrückung oder aus Kriegsgebieten fliehen tragen diese Umstände wie ein dunkles Mal mit sich. Genau wie die Geister aus unseren Gruselgeschichten überschreiten diese Menschen eine Grenze und werden da‐ durch potentiell gefährlich - sie kommen aus einer ‚barbarischen‘ Welt, in der scheinbar sinnloser Mord und Totschlag die grausame Realität ist. Sie bringen eine Welt mit sich, vor der wir uns fürchten, mit der wir bisher keine Berührung hatten; eine Welt, die vollständig dem hegemonialen Diskurs und unserer Fan‐ tasie ausgeliefert ist - und wie viel koloniales Erbgut diese Erzählungen von fremden, orientalischen Ländern in sich tragen, bleibt das Sujet einer ausführ‐ licheren Arbeit. ‚Der Flüchtling‘ wird damit ein in jeder Hinsicht ‚un-heimliches‘ Wesen: nicht nur ein Wesen, das, trivialphilologisch gesprochen, nichts mit un‐ serem ‚Heim‘ zu tun hat, sondern ein Wesen, das, ganz im freudschen Sinne, zugleich vertraut und unvertraut ist - ein Revenant, ein Wiederkehrer des Ver‐ drängten, eine Wiederbelebung des infantilen Realitätsverständnisses, das wir glaubten überwunden zu haben (Freud 1970). Wichtig ist, dass die Gefahr dabei - genau wie die Gefahr, die von Geistergeschichten ausgeht - natürlich keinerlei objektive oder materielle Ursachen hat. Die Angst vor der Gefahr jedoch schon. Ich möchte mir nicht anmaßen, hier eine vollständige Rassismus-Theorie zu entwickeln. Doch ich möchte versuchen, dem aktuellen Diskurs über Fremden‐ hass, der sich in reiner Ideologiekritik ergeht, entgegenzusteuern. Das rasante weltweite Anwachsen rechter Bewegungen kann weder durch genetischen noch durch kulturellen Rassismus oder neue Konzepte wie „kulturelle[n] Fundamen‐ talismus“ (Stolcke 1995) zur Genüge erklärt werden. Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, dass es innerhalb der Rechten ideologisch gefestigte Rechts‐ extreme gibt, die zweifelsohne einen biologistischen Rassismus-Begriffs ver‐ fechten. Noch soll in Frage gestellt werden, dass der Begriff der ‚Rasse‘ in der 127 Fremdenfeindlichkeit und die Soziale Frage: Intersektionale Bildung als Ziel Neuen Rechten Großteils in einen naturalistischen Kulturalismus übergegangen ist. Dennoch muss, so hoffe ich zeigen zu können, die soziale Frage in den Mit‐ telpunkt gestellt werden, um sich einer Erklärung des massiven weltweiten Zu‐ laufs rechter Bewegungen adäquat nähern zu können. Im gegenwärtigen Dis‐ kurs um die Bewegung der Gilets Jaunes in Frankreich oder die letztjährigen Ausschreitungen in Chemnitz nimmt dieser Aspekt beispielsweise keine Rolle ein. Die gewalttätigen Demonstrationen der Gelbwesten, so verkündete Macron am 5. Januar 2019 via Twitter, seien moralisch verwerflich: „Ceux qui commet‐ tent ces actes oublient le cœur de notre pacte civique.“ Auf ähnliche Weise er‐ öffneten die Toten Hosen ihren #wirsindmehr Aufritt in Chemnitz mit dem Lied ‚Sascha‘, in dem das Portrait eines bildungsfernen, arbeitslosen Rassisten als Wurzel allen Übels gezeichnet wird: „Der Sascha, der ist arbeitslos“ und, so der ironische Zusatz, er „kennt sogar das Alphabet“, „ist politisch informiert / und weiß, dass jeder Fremde stört“ (Tote Hosen 1993, Sascha). Gewalt, so die Kon‐ klusion Macrons (und die des hegemonialen Diskurses), geht von unzivilisierten Menschen aus, die sich nicht zu benehmen wissen. Fremdenhass, so die Kon‐ klusion der Toten Hosen (und die des hegemonialen Diskurses), ist ein dummer Gedanke, der nur Menschen in den Sinn kommt, die selbst gerade so das Al‐ phabet kennen und daher arbeitslos sind. Weder Gewalt noch Rassismus sind aber actes gratuites. Stattdessen sind sie verwoben in ein mehrschichtiges, interdependentes Bedingungsgefüge, in dem die soziale Frage einen zentralen Knotenpunkt bildet. Eine Analyse wie die Macrons oder die der Toten Hosen verkennt, dass Menschen nicht gewalttätig sind, weil sie verroht sind und nicht arbeitslos, weil sie ungebildet sind. Men‐ schen sind arbeitslos oder arm, weil ihre Arbeitskraft ein unnützer Kostenfaktor ist, der in der freien Konkurrenz über kurz oder lang gedrückt oder gar gänzlich eliminiert werden muss. Ihre Armut und ihre Arbeitslosigkeit sind notwendiger Bestandteil des Kapitalismus. Die Gilets Jaunes gehen auf die Straße, weil sie sich gegen Macrons Sozialabbau und seine Arbeitsgesetze wehren, die auf eine Fle‐ xibilisierung des Arbeitsmarktes abzielen. Sie sind gewalttätig, weil sie vom System ausgeschlossen und verletzt werden, weil der ‚pacte civique‘ auch von Seiten des Staates nicht eingehalten wird. Ebenso die fremdenfeindliche De‐ monstration in Chemnitz: der Rassismus der Demonstranten ist - zum größten Teil - keine eingefleischte Ideologie. Stattdessen sind es Menschen, die sich zurecht verlassen fühlen; Menschen die nicht einmal mehr ihre Arbeitskraft frei verkaufen können - wie es das Grundgesetz ihnen eigentlich garantiert - weil sonst die Hartz 4-eigenen Sanktionen greifen; Menschen, die unter Sozialabbau, expandierendem Niedriglohnsektor und dauernder Unsicherheit aufgrund mas‐ senhafter Leiharbeit leiden. Der Ursprung ihrer Fremdenfeindlichkeit liegt in 128 Lukas Müsel eben jener lebensbedrohlichen Verunsicherung, jener Auswegs- und Hilfslosig‐ keit, die wir als Kinder empfanden, als wir uns aus Angst vor den Geistern die Decke über den Kopf zogen. Neue rechte Bewegungen reagieren, so scheint es, auf ökonomische Aus‐ grenzung mit kultureller Abgrenzung. Die Präsidentschaft Trumps, der Brexit, die Gilets Jaunes oder der Aufschwung der AfD muss im Lichte solcher Über‐ schneidungen gesehen werden - und ein antifaschistischer Diskurs muss diese Intersektionalität notgedrungen berücksichtigen, um nicht zur Symptom-Be‐ kämpfung zu verkommen. Im Gegensatz zum Interkulturalitäts-Begriff versucht der Intersektionalitäts-Begriff eine bloße Akkumulation verschiedener Diffe‐ renzkategorien - wie Klasse, Rasse, Geschlecht oder Körper - zu vermeiden und betont stattdessen ihre Vernetzung und gegenseitige Überschneidung. Degele und Winker (2009, 23) betonen in ihrer Mehrebenenanalyse die Kontextabhän‐ gigkeit solcher intersektionaler Ansätze: die verschiedenen Ebenen - Gesell‐ schaftsstrukturen, Identitätskonstruktionen und symbolische Repräsentationen - sind nicht alle gleich gewichtig, sondern variieren je nach Untersuchungsge‐ genstand und -Ebene. Fremdenfeindliche Abgrenzungsmechanismen auf der Ebene der Identitätskonstruktion sind unmittelbares Resultat ökonomischer Unsicherheiten (Strukturebene) und der ebenfalls daraus resultierenden Ideo‐ logien (symbolische Repräsentation), die ihrerseits wieder auf die Strukturebene rückwirken. Jede Art der eigenen Lebensabsicherung, so argumentieren sie, ist […] mit vielfältigen Unsicherheiten verbunden. Hohe Erwerbslosenquoten und pre‐ käre Beschäftigungsverhältnisse sowie Lohnkürzungen und die Reduktion wohl‐ fahrtsstaatlicher Ausgleichzahlungen führen für viele zu erhöhter Verunsicherung - die mitunter auch neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen können. Um Verunsiche‐ rungen zu bewältigen, grenzen sich Individuen mit Hilfe von Differenzierungskate‐ gorien ab und schaffen Zugehörigkeiten. (Winker / Degele 2009, 26) Der geringe kollektive Nutzen und die minimale Sicherheit, die das kapitalisti‐ sche System arbeitenden Menschen gewährt, verlangt Erklärungsmuster, die „den Status hegemonial abgesicherter Begründungen“ (Winker / Degele 2009, 26) erlangen und selbst wiederum abhängig von der jeweiligen Differenzie‐ rungskategorie sind. Für einen Großteil der Mittel- und Oberschicht gilt - wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen - dass Flüchtlinge und Arbeitslose, also Menschen, die staatliche Zuwendungen erhalten, ohne selbst zu arbeiten, ‚Sozialschmarotzer‘ sind; die Gründe für eine solche gleichermaßen rassistische und klassistische Abgrenzung scheinen in der drohenden Erosion der Mittel‐ schicht zu liegen, in der Gefahr des sozialen Abstiegs (vgl. Kronauer 1997; Wac‐ quant (2018). Der sprechende Titel eines Zeitungsartikels über die Gilets Jaunes 129 Fremdenfeindlichkeit und die Soziale Frage: Intersektionale Bildung als Ziel - „die Mittelschicht ist erschöpft“ (Finkenzeller 15. Dez. 2018) - illustriert ein‐ dringlich, dass eben diese Angst der Bewegung zugrunde liegt. Diese Abgren‐ zung auf der Strukturebene wird wiederum durch Ideologien gefestigt, die Ver‐ sagen und Erfolg im Kapitalismus individualisieren - der gesellschaftliche Status der Mittelschicht legitimiert sich durch die vermeintliche Tatsache, dass im System für jeden die Möglichkeit angelegt ist, zu gewinnen: harte Arbeit müsste daher belohnt werden und wer faul ist, sollte seine gerechte Strafe be‐ kommen (vgl. Winker / Degele 2009, 46; Friedrich 2011, 23). Für diejenigen, wiederum, die am härtesten unter der kapitalistischen Ausbeutungspraxis leiden, gelten ähnliche - und hier zum Zwecke der Klarheit stark pauschalisierte - Erklärungsmuster: ihre Lage ist ohnehin prekär und wird mit fortschrei‐ tendem Sozialabbau und stetig sinkenden Löhnen immer prekärer. Zusätzliche potentielle Konkurrenz auf dem Sozial- und Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge führt folglich zu fremdenfeindlichen Abgrenzungsmechanismen. Was es also zu hinterfragen gilt, ist die scheinbar unbeugsame Prämisse des Kapitalismus als die beste aller Welten. Dabei wirkt es beinahe ironisch, dass der Kapitalismus durch exakt die Mechanismen wirkt, die der Angst vor Flüchtlingen zu Grunde liegen: er ist ungreifbar aber übergriffig, unsichtbar aber überse(h)end. Die Ar‐ beitsteilung und Entfremdung macht es dem arbeitenden Menschen unmöglich den Mehrwert zu sehen, den er produziert, oder den Exploitationsgrad, unter dem er arbeitet - der Wert der Ware wird, mit Marx (1962[1867], 52) gesprochen, zur „gespenstischen Gegenständlichkeit“. Genauso unsichtbar ist für den arbei‐ tenden Menschen, was mit dem Geld geschieht, das seiner Mehrarbeit ent‐ stammt. Er sieht nicht, wie es zirkuliert, welche Investitionskreisläufe es durch‐ läuft, mit welchen anderen Kapitalfraktionen es verschmilzt. Der ungeheure Mehrwert der Ideologie zeigt sich darin, dass er sich vor ‚dem Flüchtling‘, nicht aber vor diesem übermächtigen Geist fürchtet, vor diesem Vampir, wie Marx (1962[1867], 247) das Kapital liebevoll nannte: „Das Kapital ist verstorbene Ar‐ beit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ Die Kritik des fremdenfeindlichen Diskurses à la #wirsindmehr muss demnach zumindest kritisch gesehen werden. Ist die moralische Überlegenheit, die im Appell einer solchen Bewegung an das Herz der arbeitenden Bevölkerung, das täglich schwächer schlägt, wirklich gerechtfertigt und zielführend? Müsste die Kritik sich nicht viel eher auf das ‚Ding ohne Herz‘, das Kapital, richten? Wer ist dieses wir? Kaschiert es nicht Unterschiede innerhalb der Differenzkategorie ‚Klasse‘? Arbeitet es tatsächlich aktiv und ausschließlich gegen Rassismus oder trägt es stattdessen unterschwellig (und unbewusst) zur weiteren Ausgrenzung von ohnehin bereits aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen bei? Der intersek‐ 130 Lukas Müsel tionale Ansatz erlaubt es, differenzflexibel an rassistische Erklärungsmuster he‐ ranzutreten und so kulturelle Überblendungen der sozialen Frage aufzudecken. Um Fremdenfeindlichkeit den Nährboden zu entziehen, muss daher lang‐ fristig etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen verändert werden. Obwohl es innerhalb eines Systems, das, wie bereits dargelegt, auf Armut und Arbeits‐ losigkeit angewiesen ist, unmöglich ist, dass alle Menschen tatsächlich die glei‐ chen Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommen, muss dieser Missstand den‐ noch nach Möglichkeit eingedämmt werden. Da die Schule sowohl gesamtgesellschaftlich - durch ihre indirekte Einbindung in den Produktions‐ prozess - wie auch individuell - durch ihre bedeutsame Funktion in den Ent‐ wicklungsjahren junger Menschen - eine zentrale Rolle einnimmt, scheint es sinnvoll, sie als Ansatzpunkt zu wählen, um gesellschaftliche Teilhabe zu ver‐ bessern und Vorurteile abzubauen. Dabei geht es mir nicht darum Schule als Möglichkeit zu begreifen, soziale Unterschiede zu nivellieren - Uwe Sielert (2006, 12) stellt richtig fest, dass Schulen „soziale und materielle Ungleichheiten nur wenig mindern“ können (vgl. Erler 2007, 7). Es soll hier dementsprechend nicht die Forderung nach einer sozialstaatlichen Fokussierung von Chancen‐ gleichheit im Bildungssystem gehen, da solch eine Orientierung, wie auch Heike Solga (2012) zeigt, nicht effektiv ist und andere, eminent wichtige Lösungsme‐ chanismen wie gesellschaftliche Umverteilung, Lohnsteigerungen oder Be‐ schäftigungsausbau aus dem Blickfeld geraten. Stattdessen soll es darum gehen, dass Schule zu Solidarität befähigen muss; dass Schule dazu befähigen muss, soziale und kulturelle Unterschiede und Probleme zu reflektieren, Zusammen‐ hänge zwischen verschiedenen Differenzkategorien herzustellen und bei aller Unterschiedlichkeit einzelner Akteure deren Gemeinsamkeiten herauszustellen. Um ein solches Ziel erreichen zu können, muss der Reproduktionscharakter der Schule erkannt und abgebaut werden. Das bedeutet erstens, dass die aktive Auseinandersetzung mit sozialen und kulturellen Differenzen fest in den form‐ gebenden Strukturen der Institution verankert werden müssen (z. B. Schulge‐ setz, Bildungspläne etc.). Das bedeutet zweitens - und dieser Aspekt soll im letzten Teil dieses Essays ausgeführt werden - dass Lehrerinnen und Lehrer sich der Reproduktionsmacht der Schule bewusst werden müssen und intersektio‐ nale Ansätze daher in der Lehrerbildung verstärkt implementiert werden sollten. Dass die Schule als gesellschaftlicher Reproduktionsmechanismus fungiert, ist seit Bourdieu (1971) bekannt. Fend (2012) arbeitet darauf aufbauend drei zentrale Reproduktionsfunktionen des Schulsystems heraus: die Reproduktion und Institutionalisierung von kulturellen- und Symbolsystemen - die Qualifi‐ kationsfunktion der Schule, die für den Produktionssektor verantwortlich 131 Fremdenfeindlichkeit und die Soziale Frage: Intersektionale Bildung als Ziel ist.Die Reproduktion der Sozialbzw. Klassenstruktur - die Selektionsfunktion der Schule, die der Notwendigkeit der Allokation ‚hoher‘ und ‚niedriger‘ sozialer Positionen Rechnung trägt (Fend 2012). Die Reproduktion bestehender Werte und Normen - die Integrationsfunktion der Schule, die politische Herrschafts‐ strukturen legitimiert (Fend 2012). So können diese drei Funktionen im schuli‐ schen Kontext den drei von Winker und Degele (2009) herausgearbeiteten Ebenen - Strukturebene (Qualifikationsfunktion), Identitätsebene (Selektions‐ funktion), Repräsentationsebene (Integrationsfunktion) - zugeordnet werden. Die Normalisierungsmacht der Schule liegt demnach darin, dass sie mannigfal‐ tige Differenzkategorien, die sich zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen in Wechselwirkung befinden, negiert. Hier liegt ein basales Problem des Schulsys‐ tems, das nur durch veränderte Rahmenbedingungen behoben werden kann. Aufgrund der strukturellen Trägheit von Schulen, sind solche langfristigen Ver‐ änderungsprozesse jedoch durch Maßnahmen zu komplementieren, die weniger Anlaufzeit benötigen und stattdessen kurzfristig und flexibel einsetzbar sind. Um allerdings unmittelbar einen Umgang mit einer solchen Problematik zu finden, muss der Aspekt der Intersektionalität in der Lehrerausbildung eine zentrale Rolle einnehmen. So können einerseits Unterrichtsqualität und -er‐ fahrung für alle Schüler nachhaltig verbessert und andererseits Schüler für die sozialen und kulturellen Differenzen ihres Umfeldes sensibilisiert werden (vgl. Oberhoell 2012). Interkulturelle Kompetenzen, die auf eine lebensferne „Ziel‐ kultur“ (Haß 2006, 141) ausgerichtet sind, sowie Lehrwerke, die nur eine nor‐ mierte Schülerschaft ansprechen, sind in diesen Belangen wenig hilfreich. Statt‐ dessen muss die Lehrkraft offen und kontextabhängig der Frage nach[]gehen, welche Differenzaspekte für das pädagogische Handeln relevant sind; welche institutionellen Barrieren die gleichbe‐ rechtigte Teilhabe von Individuen und Gruppen versperren, wo die Ursachen dafür zu suchen sind und welche strukturelle Veränderungen gleichberechtigte Teilhabe befördern könnten. (Emmerich / Hormel 2013, 201) Die Lehrkraft muss also stattdessen zur Selbstreflexion sowie zur Analyse der Zusammensetzung ihrer Schulklasse befähigt werden. Sie muss dafür sensibili‐ siert werden, ihre Lehrinhalte und Unterrichtsmaterialien daraufhin zu über‐ prüfen, ob sie differente Lebensrealitäten (kritisch) behandeln und ins Verhältnis zur ‚Norm‘ setzen. Sie muss in der Lage sein, differenzierten Unterricht gestalten zu können, bei dem benachteiligte Schüler genauso angesprochen werden. Sie muss einen Raum schaffen, in dem ein angstfreier und respektvoller Umgang miteinander möglich ist; einen Raum, in dem Schüler sich untereinander über ihre verschiedenen Erfahrungen austauschen können. Sie muss Diversität aktiv 132 Lukas Müsel gestalten können, indem alle Schülerinnen und Schüler miteinbezogen werden können - zum Beispiel, wie das IMST-Netzwerk der Universität Klagenfurt vor‐ schlägt (Oberhoell 2012), Schüler als ‚Betriebsräte‘ einsetzen oder Diskussions‐ runden organisieren, um so demokratische Kompetenzen zu vermitteln. Gerade der Sprach- und Literaturunterricht bietet sich dabei an, um zum vernetzten Denken anzuregen oder sich in andere Perspektiven zu versetzen. Interkultu‐ relle Kalender oder ein gemeinsames Kochbuch, kreative Schreibprozesse oder Buddy-Systeme - all diese Maßnahmen können zum Erlernen von Akzeptanz, Offenheit und Solidarität beitragen. Mit theaterpädagogischen Methoden kann es Schülern ermöglicht werden, die Welt aus anderen Augen zu sehen - und soziale Probleme so real erfahrbar zu machen, sie ins Verhältnis zur eigenen Position zu setzen. In der Auseinandersetzung mit Literatur jeder Art können Schüler und Schülerinnen die fiktive, gelesene Welt und ihre Hürden, Probleme und Möglichkeiten ins Verhältnis zu ihrer Lebenswelt setzen - und so Lö‐ sungsstrategien für eigene Probleme übernehmen oder entwickeln. Sie werden dazu befähigt, ‚hinter‘ den Text, hinter die Oberfläche zu schauen, seine Kons‐ truktion zu identifizieren und interne Widersprüche und Verbindungen aufzu‐ decken und zu problematisieren - Erkenntnisse, die sie auf sich übertragen und, langfristig gesehen, nach außen tragen können. Noch einmal: Rassismus, faschistisches Gedankengut und Fremdenfeindlich‐ keit werden durch solche Maßnahmen genauso wenig abgeschafft werden können wie de facto existierende Klassenunterschiede. Dennoch müssen für die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft Lösungen gefunden werden, die solche Problematiken zumindest eindämmen. Die Lehrerbildung scheint mir diesbezüglich ein pragmatischer Ansatzpunkt. Das Klassenzimmer ist ein Abbild der Gesellschaft, in dem Identitätsverhandlungen sowie Ab- und Ausgren‐ zungen in stets wechselnden Kontexten stattfinden. Die frühe Erfahrung eines produktiven Umgangs mit sozialen und kulturellen Unterschieden befördert ein solidarisches Gemeinschaftsgefühl, indem er dazu beiträgt, Ängste vor dem ‚Fremden‘ oder ‚Andersartigen‘ ab- und Gemeinsamkeiten aufzubauen. Der Fokus der Schule muss darin liegen von der bloßen Beschreibung und der un‐ kritischen Hinnahme von Tatsachen wegzukommen. Stattdessen müssen diese Sachverhalte analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden - die Schüler und Schülerinnen müssen dazu angehalten werden ‚warum? ‘ zu fragen; die Frage, die ihre Position im Klassenverbund, und ihre Position in der Gesell‐ schaft bestimmt; die Frage, die ihr Bewusstsein und ihr Verhalten gegenüber anderen in den Mittelpunkt rückt; die Frage, die alle Gruselgeschichten implo‐ dieren lässt: Warum fürchte ich mich vor Geistern? 133 Fremdenfeindlichkeit und die Soziale Frage: Intersektionale Bildung als Ziel Literatur Agamben, Giorgio (2002). 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Interkulturelle Bildung und Erziehung ist zentrales Thema für die Schulen und Einrichtungen der frühen Bildung. 2. Interkulturelle Bildung und Erziehung ist essentiell für die Entwicklung von Jugendlichen und Kindern hin zu offenen und toleranten Persönlich‐ keiten. 3. Beides steht bislang zu wenig im Fokus der Politik und der Gesellschaft. Was versteht man unter interkultureller Bildung? Interkulturelle Bildung trägt der Tatsache Rechnung, dass unsere Gesellschaft durch Zuwanderung multiethnisch, multikulturell und multireligiös geprägt ist, und dass es darauf ankommt, in gegenseitiger Achtung miteinander zu leben. Sie setzt die Anerkennung von Andersheit voraus, impliziert das Engagement für Gleichheit gegen diskriminierende Strukturen und beinhaltet unter diesen Vorzeichen die Bemühung um gegenseitiges Verstehen und um Dialogfähigkeit. Interkulturelle Erziehung verfolgt unterschiedliche Ziele: 1. Fördern des Verständnisses unterschiedlicher Perspektiven 2. Aushalten von Widersprüchen (Ambiguitätstoleranz) 3. Erziehung zu Respekt vor anderen Menschen 4. Abbau von Vorurteilen 5. Anpassung (integrativ, aber auch assimilativ) 6. Erziehung zur Interkulturalität 7. Bewahrung der Eigenständigkeit 8. Gemeinsame Erziehung in sozialpädagogischen Einrichtungen (wechsel‐ seitige Lernerfahrungen anbahnen) Andere Erziehungsansätze wurden mit dem Konzept der interkulturellen Er‐ ziehung weiterentwickelt: 1. Zweisprachige Erziehung 2. Interkulturelle zweisprachige Erziehung 3. Menschenrechtserziehung 4. Friedenserziehung 5. Demokratische Erziehung 6. Antirassistische Erziehung 7. Transkulturelle Erziehung 8. Inklusion (Pädagogik) Die pädagogischen Ansätze zum „Umgang mit Fremden und Fremdheit“ haben sich gewandelt. Während die Ausländerpädagogik in den 1970er-Jahren noch davon ausging, dass die Zugewanderten in die Gesellschaft einzupassen seien, vertritt die interkulturelle Pädagogik die interkulturelle Bildung als gegensei‐ tigen Verstehensprozess. Im Zuge der Inklusionsdebatten in den letzten Jahren wird versucht, die Differenz nicht als Ausgangspunkt pädagogischer Konzepte zu sehen, sondern den Blick auf die individuellen Bedürfnisse zu lenken. Grup‐ penspezifische Zuschreibungen sollen unterbleiben, jede und jeder ist Teil der Gesellschaft. Inklusion macht Integration „überflüssig“. Dieser umfassende An‐ satz kommt in der Pädagogik entschieden zu kurz. Interkulturelle Erziehung muss Thema und Haltung nicht nur in der Arbeit mit Migrant/ innen sein, son‐ dern in der Bildung aller Kinder und Jugendlichen. Wie notwendig das ist, be‐ legen uns der Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit und Alltagsrassismus. Was kann interkulturelle Bildung und Heterogenität leisten? Bildung ist ein Menschenrecht und muss jedem, unabhängig von kulturellen und sozialen Unterschieden, gewährt werden. Eine vielfältige Gesellschaft bietet 138 Doro Moritz Entwicklungsperspektiven in allen gesellschaftlichen Feldern. Großbetriebe und Unternehmen setzen aktiv auf Vielfalt und Diversität. Deshalb ist interkul‐ turelle Bildung eine Schlüsselkompetenz in modernen Gesellschaften. Zentral ist dabei die „Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt“, wie sie im Bildungsplan Baden-Württemberg auch als Leitperspektive verankert wurde. Voraussetzung für einen gewinnbringenden Umgang mit Vielfalt ist für die Bildungseinrich‐ tungen, gut mit Heterogenität umgehen zu können. Heterogenität zeigt sich in vielfältiger Form, zum Beispiel in der Sprache, Kultur und Werteorientierung, Religion und Bildungsstand. Auch Erfahrungen unterscheiden sich sehr deut‐ lich. Ein EU-Migrant aus Spanien hat andere Erfahrungen als Asylsuchende aus Kriegsgebieten. Das Schulsystem in Deutschland ist jedoch traditionell stark vom Homoge‐ nitätsparadigma geprägt. Insbesondere die Einteilung in Gruppen nach Leis‐ tungsfähigkeit und/ oder nach Behinderung ist in unseren Schulstrukturen fest verankert, wie das ausdifferenzierte Schulsystem mit seinen Schularten zeigt. Wir sind das einzige Land in Europa, das Schüler/ innen im Alter von zehn Jahren auf verschiedene Schulen sortiert. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit der Bil‐ dungschancen von der sozialen Herkunft in Deutschland und vor allem in Baden-Württemberg besonders hoch. Interkulturelle Bildung in der Praxis an Baden-Württembergs Bildungseinrichtungen Politische Entscheidungen und Richtlinien sind für den Aufbau und die Fort‐ entwicklung interkultureller Bildung in den Bildungseinrichtungen wegwei‐ send. Ohne den politischen Willen und dessen Verankerung in Bildungsplänen, Leitlinien und Gesetzen, gestaltet sich ein Umdenken in unseren Bildungsein‐ richtungen mühsam bis unmöglich. Positiv zu erwähnen sind daher ausdrück‐ lich Entscheidungen des Kultusministeriums in der Wahlperiode der grün-roten Landesregierung von 2011 bis 2016. Es ist fraglich, ob diese Ansätze unter einer konservativ-geführten Regierung eingeführt worden wären. 1. Die im Jahr 2016 eingeführten neuen Bildungspläne enthalten sogenannte Leitperspektiven, die sich als Querschnittsthemen durch alle Unterrichtsfächer ziehen sollen. Großen gesellschaftlichen Widerstand hat dabei die Leitperspek‐ tive „Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt“ - auch sexuelle Vielfalt - ausgelöst, die in hohem Maße irrationale Befürchtungen und Unterstellungen transpor‐ tiert hat. Der massive Protest gegen die Leitperspektive war getragen von Pie‐ tisten, christlichen Fundamentalisten, Rechtspopulisten und namentlich AfD-Mitgliedern. Homosexualität wurde mit Pädophilie gleichgesetzt. Per‐ 139 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? sonen, die sich für die Leitperspektive einsetzten (auch ich), wurden massiv öffentlich beschimpft und bedroht. Die mehr als ein Jahr andauernde Ausein‐ andersetzung belegt einerseits, dass sich ein nennenswerter Teil unserer Ge‐ sellschaft der Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt verweigert und andererseits, wie notwendig eine sehr intensive interkulturelle Bildung unserer Gesellschaft ist. Die GEW hat sich sehr offensiv für die Leitperspektive engagiert und war deshalb heftigen Angriffen und Verleumdungen ausgesetzt - bis hin zum Vor‐ wurf „Pädophilen-Gewerkschaft“ zu sein. 2. Unter der Regie von Kultusminister Stoch (SPD) ist es gelungen eine gemein‐ same Erklärung zur Friedensbildung mit zahlreichen Friedensorganisationen und der GEW zu unterzeichnen. Eine Service-Stelle Friedensbildung wurde ein‐ gerichtet, die Unterrichtsmaterialien und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte bereitstellt und Personen für inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Thema Friedensbildung qualifiziert. 3. Der Aufbau von Gemeinschaftsschulen durch die grün-rote Landesregierung war ein wichtiger und notwendiger Schritt, der Diskriminierung und Selektion verhindern bzw. abbauen kann. Leider dreht das CDU-geführte Kultusministe‐ rium diese Entwicklung aktuell wieder zurück. 4. Inklusion an Schulen wurde unter Grün/ Rot gesetzlich verankert. Trotz guter erster Ansätze der grün-roten Regierung kann die interkulturelle Bildung in Baden-Württemberg ihr volles Potenzial (noch) nicht entfalten. Das liegt daran, dass die pädagogische Arbeit mit Migrant/ innen und mit Geflüchteten sich hauptsächlich auf die Sprachförderung und die pädagogischen Herausforde‐ rungen, die diese Menschen mitbringen, konzentriert. Dieser Blickwinkel ist unter den Aspekten der Integration und Teilhabe deutlich zu eng. Er ist be‐ gründet in der konservativen politischen Haltung und der damit einhergeh‐ enden fehlenden Schwerpunktsetzung bei der Zuweisung von Ressourcen. Die Folge ist, dass weder in der hier lebenden Mehrheitsgesellschaft noch bei Min‐ derheiten, Geflüchteten und Zugewanderten die Ziele interkultureller Bildung vorankommen. Interkulturelle Pädagogik spielt an unseren Schulen eine untergeordnete Rolle. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: 1. Sie spielte bisher in der Lehrerausbildung keine Rolle. 2. Maßnahmen reduzieren sich mangels Ressourcen weitgehend auf Sprach‐ förderung. 3. Die Zusammensetzung der Lehrerschaft ist kulturell relativ homogen. 140 Doro Moritz 4. Die Weiterqualifizierungsangebote für Lehrkräfte sind sehr begrenzt. 5. Trotz des zu beklagenden Ressourcenmangels und fehlender sonstiger Unterstützung ist interkulturelle Bildung auch eine Frage der Haltung gegenüber Individuen. Zahlen und Fakten: Aktuelle Voraussetzungen und Rahmenbedingungen interkultureller Bildung in baden-württembergischen Schulen Wie stellt sich die Situation an den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, insbesondere bei der Sprachförderung, dar? a.) Bei Migrant/ innen an allgemeinbildenden Schulen 1. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte an allen allgemeinbildenden Schulen lag im Schuljahr 2013/ 14 bei 19,3 Prozent. 2. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an den Grundschulen lag im Schuljahr 2013/ 14 mit knapp 23 Prozent deutlich über dem Anteil dieser Gruppe an den allgemeinbildenden Schulen ins‐ gesamt. 3. Während an Werkreal-/ Hauptschulen 36 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Zuwanderungsgeschichte hatten, betrugen die Anteile an Realschulen nur rund 16 Prozent und an den Gymnasien lediglich 10,5 Prozent. 4. An Förderschulen haben 35 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Da die schulische Arbeit mit Migrant/ innen ungenügend mit Ressourcen aus‐ gestattet ist, stellt dies eine erhebliche zusätzliche Herausforderung für die Grundschulen sowie Haupt- und Werkrealschulen dar. b.) Migrant/ innen an beruflichen Schulen 1. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in den einzelnen Schularten der beruflichen Schulen recht unterschiedlich vertreten. Den höchsten Anteil weist das Vorqualifizierungsjahr Arbeit/ Beruf (VAB) auf, in dem Jugendliche einen dem Hauptschulabschluss gleichgestellten Abschluss erwerben können. Mit gut 58 Prozent hatten nahezu drei Fünftel der Teil‐ nehmerinnen und Teilnehmer einen Migrationshintergrund. 141 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? 2. Die Anteile der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund an den Berufskollegs und den Berufsfachschulen sind mit rund 23 Prozent bzw. gut 29 Prozent überdurchschnittlich. 3. Mit 20 Prozent entsprach der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshin‐ tergrund an den Teilzeit-Berufsschulen (duale Ausbildung) dem Durch‐ schnitt aller beruflichen Schulen. Welche Konzepte standen und stehen den Schulen für die schulische Integration bisher zur Verfügung? Für Kinder und Jugendliche gibt es folgende Förderkonzepte und Unterstüt‐ zungsangebote: 1. Für den frühkindlichen Bereich (1 bis 3 Jahre) sind das die Krippen und Kindergärten. Die GEW lehnt es ab, dass die Gruppen in Kitas vergrößert werden, um geflüchtete Kinder aufzunehmen. Dies ist allerdings nach einer Regelung des Kultusministeriums seit Dezember 2016 möglich. Kita-Träger können zur Aufnahme von Kindern von Geflüchteten die je‐ weils festgelegte Gruppengröße um zwei auf 30 Kinder je Gruppe er‐ höhen. Dafür ist keine Genehmigung mehr notwendig, sondern lediglich eine sogenannte „Selbstverpflichtungserklärung“ der Träger, für zusätz‐ liches „geeignetes“ Personal zu sorgen. 2. An den allgemeinbildenden Schulen (für die 6 bis 13jährigen) werden so‐ genannte VKL-Klassen (Vorbereitungsklassen) eingerichtet. Nach einigen Monaten wechseln die Schüler/ innen in die Regelklasse. 3. Im Bereich der Beruflichen Schulen (13 bis 20 Jahre) werden sogenannte VABO-Klassen (Vorbereitung auf Arbeit und Beruf ohne Sprachkennt‐ nisse) gebildet. Nach diesem einjährigen Bildungsgang können Schüler/ innen in eine VAB-Klasse wechseln, um dort den Hauptschulabschluss zu erwerben. Von dort aus besteht die Chance eine duale Ausbildung zu be‐ ginnen oder eine weitere berufliche Vollzeitschule zu besuchen. Die Vorbereitungsklassen werden vor allem an Grundschulen sowie an Haupt-/ Werkreal- und Gemeinschaftsschulen gebildet. Hier ist kritisch anzumerken, dass fehlende deutsche Sprachkenntnisse nichts mit Begabung zu tun haben und deshalb die Zuweisung an die Haupt- und Werkrealsowie die Gemeinschafts‐ schule eine unangemessene Einengung auf Bildungsgänge darstellt. Im Schul‐ jahr 2016/ 2017 gab es an allgemeinbildenden Schulen circa 2000 VABO-Klassen, und circa 570 Klassen an beruflichen Schulen. Vorrangig verfolgt der Unterricht in Vorbereitungsklassen das Ziel, die deut‐ sche Sprache zu erlernen, soziale Kompetenzen und kulturelle Kenntnisse zu 142 Doro Moritz erwerben. Die Schüler/ innen werden auf die Regelklasse vorbereitet, die ihrem Alter und Leistungsstand entspricht. Sie sind in der Regel ein Jahr, längstens zwei Jahre in einer Vorbereitungsklasse. Beim Übergang in die Regelklasse entscheidet die Schule über die Aufnahme. Damit wird auch über die Schulart entschieden. In der Regelklasse gelten be‐ sondere Regeln für die Notengebung. Je nach Ressourcenlage wird zusätzliche Sprachförderung gewährt. Der Wechsel in die Regelklasse ist auch unterjährig möglich. Interkulturelle Erziehung für hier aufwachsende Kinder findet nahezu nicht statt. Sofern sie stattfindet, erfolgt sie mit den Migrant/ innen und im ge‐ meinsamen Unterricht. Unterschiedliche Auffassungen gibt es zur Frage, ob Schüler/ innen ohne Sprachkenntnisse in einer Sonderklasse unterrichtet oder ob sie in Regelklassen integriert werden. Ganz klar abzulehnen ist es, wenn Schüler/ innen in Regelklassen unterrichtet werden, die dafür kein zusätzliches Personal bekommen. Dann ist der Unterricht in der Regelklasse lediglich eine Sparmaßnahme. Sinnvoll ist er dann, wenn er durch zusätzlichen Sprachunter‐ richt begleitet wird. Juristische und gesellschaftliche Hürden Juristische Hürden behindern die schnelle Integration außerdem zusätzlich: 1. Laut Schulgesetz besteht in Baden-Württemberg erst nach sechs Monaten eine Schulbesuchspflicht. 2. Die Schulverwaltung gewährt Kindern kein Schulbesuchsrecht in der Erstaufnahmeeinrichtung. 3. Das Schulgesetz gewährt Jugendlichen kein Schulbesuchsrecht nach dem 21. Geburtstag. 4. Im Bereich der beruflichen Schulen bestehen trotz Schulpflicht Warte‐ listen in beträchtlichem Umfang. Auch gesellschaftliche Hürden stellen sich bei der Integration: 1. Schüler/ innen werden nach Alter der Schule zugewiesen. 2. Die Schule entscheidet auch über die Aufnahme. 3. Den Geflüchteten ist häufig nicht bekannt, dass es das Bildungs- und Teilhabepaket gibt. 4. Außerdem wird das Recht auf Schulbesuch für Geflüchtete ohne Papiere (Sans-Papiers) durch Routinen erschwert. 5. Schülerinnen und Schüler können häufig Papiere nicht vorlegen, weil sie sie nicht haben und sich nicht trauen das zu sagen. Deshalb gehen sie 143 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? dann nicht zu Anmeldung. Häufig scheitert die Anmeldung dann an diesen Hürden. Pädagogische Herausforderungen Die unterrichtliche Arbeit mit Flüchtlingen kann und darf sich keineswegs auf den Erwerb der deutschen Sprache beschränken. Diese jungen Menschen bringen besondere individuelle Hintergründe mit: Viele sind unbegleitete min‐ derjährige oder auch erwachsene Flüchtlinge. Der Kontakt mit Zuhause, Heimweh, zerstörte Familienstrukturen bestimmen ihre emotionale Situation. Viele haben Schulden und Sorgen um die eigene Zukunft. Sie befinden sich in depressiven Stimmungsschwankungen und Belastungen. Die Problematik Aus‐ bildung und Arbeit belastet sie. Auch kulturelle Unterschiede und Rassismus sind bestimmende Themen. Lehrkräfte brauchen eine große Bereitschaft zur Beziehungsarbeit, Bereit‐ schaft zur Stärkung der Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler, Offen‐ heit, Toleranz, Empathie, Geduld und Verlässlichkeit. Sie müssen die Heteroge‐ nität aushalten und gestalten. Sie müssen bereit sein zur Auseinandersetzung mit interkulturellem Lernen. Sie benötigen Kompetenzen bezüglich des Sprachunter‐ richts. Auch Fortbildungsbereitschaft zu Deutsch als Zweitsprache, Phonetik, Mi‐ gration, Interkulturalität und Traumatisierung sind gefordert. Die Heterogenität der Schülerschaft in diesen Klassen ist groß. Sie reicht von Geflüchteten und Kin‐ dern aus Europa über Kinder, die alphabetisiert werden müssen und diejenigen, die über Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Nicht nur das. Die Heterogenität zeigt sich am Herkunftsland, Alter, Geschlecht, Muttersprache, ggf. Mehrspra‐ chigkeit, der gesellschaftlichen und kulturellen Sozialisation, Lernpotenzial, (Sprach-)Lernerfahrung, Schulbildung / Berufsausbildung, Bedarf / Bedürfnisse, Lernvoraussetzungen, Lerntradition, Grad der Kooperationsbereitschaft und -fä‐ higkeit, Migrationserfahrung, Aufenthaltsdauer in Deutschland, Motivation, Vor‐ handensein eines Berufswunsches, Berufstätigkeit, vor dem Kurs erworbene Deutschkenntnisse, Rolle, die in der aufnehmenden Gesellschaft eingenommen wird, Religion. Viele Schülerinnen und Schüler haben fluchtbedingt länger keinen Unterricht erhalten. In den Klassen herrscht hohe Fluktuation. Für den Umgang mit Traumata haben Lehrkräfte keine Kompetenzen. Es besteht ganz erheblicher Abstimmungs- und Vernetzungsbedarf zum Beispiel mit dem Ausländeramt, So‐ zialarbeiter/ innen, Trägern der Jugendhilfe, Ehrenamtlichen, Eltern. Zu den pä‐ dagogischen Herausforderungen gehört auch, dass 40 Prozent und mehr der Schülerschaft unterjährig in die Klassen kommen. 144 Doro Moritz Welcher Strukturen bedarf es, um allen Schülerinnen und Schülern pädagogisch (besser) gerecht zu werden? Die Bedingungen für die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen werden durch Ressourcenmangel erschwert. Schulleitungen fehlt Zeit. Insgesamt fehlen Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache. An den Schulen fehlen Räume. Lehr‐ werke, Arbeitsbücher und Differenzierungsmaterial müssen mühsam zusam‐ mengesucht und beschafft werden. Fortbildungen sind überbucht. Berufsan‐ fänger/ innen, Quereinsteiger/ innen, pensionierte Lehrkräfte und Lehrkräfte ohne abgeschlossene Ausbildung unterrichten Flüchtlinge. Dazu kommt, dass Lehrkräfte mit befristeten Verträgen aufgrund rechtlicher Vorgaben nach zwei Jahren ihren Dienst beenden müssen und sich dann wieder andere Lehrkräfte neu in die Aufgaben einarbeiten müssen. Lehrkräfte mit der Qualifikation für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) gibt es nur in sehr begrenztem Umfang. Das Qualifizierungsangebot der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg ist 2015 ausgelaufen. Die GEW und der Landesaus‐ schuss für Migration und Diversity haben einen Forderungskatalog für die Sprachförderung vorgelegt. Er beinhaltet die Senkung des Klassenteilers auf 15 Schüler/ innen, Übergang in Regelklasse unterjährig und so früh wie möglich, Entlastungsstunden nicht für die Schulleitungen, sondern auch für die Lehr‐ kräfte sowie DaZ als eigenständiges Fach. Es ist unabdingbar für die Konzeption der Sprachförderung an den Schulen verbindliche Standards zu entwickeln, Rahmenkonzepte zur Verfügung zu stellen und die dafür notwendigen Mittel auszuweisen. Wenn Integration gelingen soll, können diese Aufgaben nicht der Zufälligkeit überlassen sein, sondern müssen bestimmte Qualitätskriterien er‐ füllen. Dies wäre auch eine Unterstützung der damit beauftragten Schullei‐ tungen und Kolleg/ innen. Was sind Gelingensbedingungen für einen wirksamen Beitrag der Schule an der Integration und Inklusion von Zugewanderten? (Interkulturelle) Bildung kann gelingen. Allerdings stehen dem Gelingen in er‐ heblichem Umfang Maßnahmen der aktuellen grün-schwarzen Landesregie‐ rung entgegen. Die Landesregierung streicht im Haushaltsjahr 2017 1074 Lehrerstellen. Damit will sie den Haushalt zugunsten künftiger Generationen sanieren. Tat‐ sächlich vernichtet sie Zukunftschancen junger Menschen und verhindert ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe. Grundlage für diese Stellenstrei‐ chungen sind Schülerzahlprognosen aus dem Jahr 2014, also einem Jahr, in dem 145 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? die große Zahl Geflüchteter noch gar nicht in Deutschland angekommen war. Aufgrund des Lehrermangels werden Klassen teilweise aufgelöst. Zum kom‐ menden Schuljahr wird die Stundenzuweisung für diese Klassen gekürzt. Für den Unterricht der Geflüchteten wurden befristet 600 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen. Sie sollten zum Schuljahr 2017/ 2018 wieder entfallen. Immerhin hatte sich die Landesregierung hernach entschieden nur 200 dieser 600 Stellen nicht zu verlängern. Das ist allerdings absolut kontraproduktiv. Sehr wertvolle Unterstützung sind Schulpsycholog/ innen. Auch hier stand im Jahr 2016 die Streichung von Stellen im Raum, die dann noch verhindert werden konnte. Der Schlüssel von Schulpsycholog/ innen und Schüler/ innen beträgt derzeit 1: 10.400. Im Zuge interkultureller Erziehung wäre auch die Einführung des Ethikun‐ terrichts ab Klasse 1 dringend notwendig. Die Hälfte und mehr Schülerinnen und Schüler besuchen nicht den an den staatlichen Schulen angebotenen Reli‐ gionsunterricht. Ethik-Unterricht wird in Baden-Württemberg derzeit lediglich ab Klasse 7 des Gymnasiums und ab Klasse 8 der anderen weiterführenden Schulen angeboten. Sowohl die grün-rote als auch die grün-schwarze Landes‐ regierung hatten dieses Ziel im Koalitionsvertrag. Umgesetzt wurde es bisher nicht - aus Ressourcengründen. Der Weg zu einer interkulturellen Erziehung ist sehr steinig und mühsam und wird leider nicht als die große gesellschaftliche Herausforderung und Chance anerkannt, die sie tatsächlich ist. Gesellschaftliche Herausforderungen wie Fremdenfeindlichkeit aber auch mangelnde Integrationsbereitschaft werden nicht grundlegend durch Erziehung und Bildung angegangen. Es wird lediglich an Symptomen gearbeitet. Im Jahr 2016 waren 73,8 Prozent der Asylerstan‐ tragssteller/ innen jünger als 30 Jahre. Das macht deutlich, dass in beträchtlichem Umfang in diese jungen Menschen investiert werden muss, wenn sie die Chance bekommen sollen, sich in unsere Gesellschaft und in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu braucht es über das traditionelle Schulsystem hinaus weiter‐ gehende Bildungsangebote. Notwendige Rahmenbedingungen Wenn die Schule ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden soll, müssen aus der Sicht der GEW Rahmenbedingungen auf unterschiedlichen Ebenen deutlich verbessert werden: 146 Doro Moritz a.) Schulebene 1. Ganztagsschule, Schule als Lern- und Lebensraum 2. Klassenlehrerprinzip und fester Klassenraum für jede Klasse 3. Klassenteiler höchstens 15 4. Lern- und Lehrmaterial in ausreichender Menge u. guter Qualität 5. Bereitstellung von Differenzierungsmaterial 6. Gruppenteilungen und Team-Teaching an mehreren Stunden pro Tag 7. Patenklasse oder Patenschüler*innen 8. Informationen für Eltern über das Bildungssystem in Herkunftssprachen b.) Qualität 1. Unterricht an jedem Schultag und nach der Stundentafel des Jahrgangs 2. Mindestens zehn Stunden/ Woche DaZ 3. Flexible und kontinuierliche Integration in die Regelklasse 4. Verbindlicher Themenplan 5. Nach dem Übergang in die Regelklasse weiterhin Sprachförderunterricht und Hausaufgabenhilfe c.) Ebene Unterstützungssysteme 1. Multiprofessionelle Teams: - Sozialpädagog/ innen nach dem Schlüssel 1: 40 - Dolmetscher/ innen - Traumaexpert/ innen 1. DaZ-Lehrkräfte an Schulen bzw. DaZ-Berater/ innen an SSÄ bzw. RPen 2. Supervision und Coaching 3. Zuweisungen für: - Förderung in Deutsch in der Regelklasse - Konzeptentwicklung und Koordination an der Schule - Elternarbeit - Kooperation mit Jugenddiensten, Sozialarbeiter/ innen, Ehrenamtli‐ chen, … Diese Maßnahmen sind notwendig, um die Voraussetzungen für eine gelingende Integration zu schaffen. Interkulturelle Erziehung ist mehr. Sie braucht: 1. Konzepte und Kompetenzen statt Flickschusterei 2. Ressourcen und weitere Unterstützung 3. Haltung, die den Blick auf das Individuum hat 4. Heterogenität und Vielfalt beim pädagogischen Personal 147 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? 5. Gemeinsames Lernen/ gemeinsame Erfahrungen 6. Ganztagsschule - Schule als Lern- und Lebensraum Es geht auch anders! Meine Ausführungen machen deutlich, dass interkulturelle Bildung als konse‐ quentes Konzept nicht im Ansatz stattfindet. Dass es auch anders als in Deutsch‐ land geht, beweist zum Beispiel Südtirol. Südtirols Schulen und Kitas verfolgen explizit das Ziel der bestmöglichen Unterstützung der Entwicklung jedes und jeder Einzelnen. Die dafür notwendige Haltung ist jederzeit spürbar. Südtirols Bildungspolitik schafft die entsprechende personelle Ausstattung (für 22 Schüler/ innen in der Grundschule zwei Lehrpersonen und eine Integrations‐ lehrkraft) und nimmt keine Selektion der Kinder vor (keine Sonderschulen, ge‐ meinsames Lernen bis Klasse 8). Manche Schulen arbeiten mit einem Konzept teilweise dreisprachiger Alphabetisierung. Offenheit, Austausch und interkul‐ turelle Erziehung sind eine Selbstverständlichkeit. Südtirols Bildungssystem zeigt, dass es möglich ist, gerechte und allen gerecht werdende Bildung zu ge‐ stalten. Bildung, die den Blick auf Vielfalt fördert und lebt. Daran arbeitet die GEW als Bildungsgewerkschaft. Wofür sich die GEW einsetzt In Deutschland ist die GEW Teil der Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, De‐ mokratie und Rechtsstaat - gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Ge‐ walt. Die DGB-Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, der Bundesver‐ band der Arbeitgeber, der Deutsche Olympische Sport Bund, der Deutsche Kulturrat und der Naturschutzring haben gemeinsam einen Aufruf verab‐ schiedet mit der klaren Aussage: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Er enthält folgende Forderungen: 1. Die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts 2. Einen Dialog über kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede und die Schaffung von Räumen der Begegnung 3. Eine solidarische und nachhaltige Politik, die allen in Deutschland le‐ benden Menschen gerechte Teilhabechancen eröffnet 4. Ein verbessertes Bildungsangebot als Schlüssel für eine erfolgreiche ge‐ sellschaftliche Integration 5. Eine Flüchtlingspolitik, die im Einklang mit unseren humanitären und menschenrechtlichen Verpflichtungen steht und faire Asylverfahren ga‐ rantiert 148 Doro Moritz 6. Politische Entscheidungen, die interkulturelle Begegnungen im schuli‐ schen, betrieblichen und gesellschaftlichen Alltag unterstützen sollen Eine Bildungspolitik, deren Ziel die Einhaltung der Schuldenbremse ist und die deshalb für Maßnahmen, die junge Menschen bei der Entfaltung ihrer Persön‐ lichkeit unterstützen und Vielfalt stärken, keine Ressourcen einsetzt, bietet eine sehr schlechte Voraussetzung für eine vielfältige, tolerante und interkulturelle Gesellschaft. Was nützt das Einhalten der Schuldenbremse, wenn viele junge Menschen als Verlierer dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit gesellschaftli‐ cher Teilhabe und erfolgreicher beruflicher Tätigkeit erhalten? Anhang: Abkürzungsverzeichnis DaZ Deutsch als Zweitsprache GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissen‐ schaft RP Regierungspräsidium SSA Staatliches Schulamt VAB Vorqualifizierungsjahr Arbeit und Beruf VABO Vorbereitung auf Arbeit und Beruf ohne Sprachkenntnis VKL Vorbereitungsklasse 149 Interkulturelle Erziehung und Migration. Welchen Beitrag kann Schule leisten? Vom Nutzen der Zuwanderung: SchülerInnen mit Migrationshintergrund als Ressource für die Bundesrepublik von morgen - Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe Das kürzlich erschienene Buch der britischen Migrationswissenschaftler Ale‐ xander Betts und Paul Collier, Gestrandet (2017), entwirft einen bemerkens‐ werten neuen Ansatz für die Lösung des weltweiten „Flüchtlingsproblems“. An‐ statt geflüchtete Menschen lediglich zu „lagern“ - buchstäblich allzu oft in gefängnisähnlichen Lagern -, schlagen Betts und Collier vor, geflüchteten Men‐ schen ein Recht auf Arbeit zuzugestehen. Die Begründung der britischen Wis‐ senschaftler, ganz in der Tradition des englischen Utilitarismus, ist wirtschaft‐ lich gedacht (vgl. Collier 2013): Unter den jetzigen Bedingungen werden die Geflüchteten als vorübergehende Besucher betrachtet, die auf der Durchreise seien und möglichst schnell wieder in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Tatsächlich ist die Realität anders, so Betts und Collier: Der Großteil der derzeit 65 Millionen Geflüchteten bleibt in den Aufnahmeländern, viele länger als ge‐ plant, und wird für die Gastländer zur Last, während die Geflüchteten selbst oft jahre- oder sogar jahrzehntelang in einer Art Zwischenstadium ausharren. Damit die Geflüchteten einerseits nicht faktisch sesshaft werden und anderer‐ seits den Einheimischen keinen mutmaßlichen Wirtschaftsschaden zufügen, bleibt ihnen die Arbeit untersagt. Die Zeit der Flucht wird dadurch für Millionen von Menschen zu einer leeren Wartezeit. Die britischen Wissenschaftler schlagen stattdessen vor, die wirtschaftliche Kraft der Geflüchteten durch die Freigabe des Rechts auf Arbeit freizusetzen, womit zweierlei erreicht werden soll: Einerseits wären die Geflüchteten keine wirtschaftliche Last mehr für die aufnehmende Gesellschaft, oder gar für die internationale Hilfsgemeinschaft; andererseits würden die Geflüchteten die Wirtschaft ankurbeln und damit zum Wachstumsmotor (wie in der Tat fast überall; vgl. Bonin 2014; Boubtane / Dumont / Rault 2016) für die aufnehmende Mikroregion. Aus menschenrechtlicher Perspektive stellt diese wirtschaftliche Rolle auch für die geflüchteten Menschen einen Gewinn dar. Sie können durch ihr wirtschaftliches Tun wieder als Menschen hervortreten: und zwar nicht durch die Anerkennung von abstrakten Menschenrechten, die ohnehin heut‐ zutage im Globalen Süden eine extrem problematische Schattenexistenz führen (Baxi 2002; 2007), sondern durch das konkrete Recht auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe durch Arbeit - d. h. die Chance, zum Gemeinwohl durch Produktivität, mit anderen Worten durch Kreativität, dynamisch beizu‐ tragen, sei es durch die Herstellung von Gütern, Dienstleistungen, Arbeits‐ plätzen (beispielsweise stellen laut Betts und Collier [2017: 221 f.] die 21 % der Geflüchteten in Kampala/ Uganda, die legal arbeiten, zu 40 % Einheimische ein), Wissen oder gar durch die Etablierung von sozialen Netzwerken und zwischen‐ menschlichen Beziehungen. In diesem Sinne geht es in diesem Aufsatz darum, die sogenannte „Flücht‐ lingskrise“ als Chance für die deutsche Gesellschaft zu begreifen und zu er‐ greifen - und zwar als die Gelegenheit im Allgemeinen, Zugewanderte primär als Ressource für die Wirtschaft und darüber hinaus als beitragende gesell‐ schaftliche Akteure zu betrachten. Dadurch werden sie, sofern sie arbeiten, nicht mehr als Eindringlinge, als Fremdköper, als Bedrohung, oder als Last emp‐ funden, sondern als gleichberechtigte, an sozialen Vorgängen und somit an der Herstellung von Gesellschaft teilhabende Menschen betrachtet. Diese Sicht‐ weise ist wichtig, da sie eine deutliche Verschiebung der hierzulande herr‐ schenden „Zugehörigkeits-“ und „Integrationskriterien“ darstellt, die zurzeit den öffentlichen Diskurs dominieren. Die landläufigen Kriterien basieren auf schwammigen Kategorien wie „Kultur“, die allzu leicht als Abwehrmecha‐ nismen missbraucht werden können und werden (z. B. „Leitkultur“ als faktischer Katalog von Ausschlusskriterien); oder sie basieren, weit pragmatischer und nüchterner, auf „Verfassungspatriotismus“, d. h. auf dem Grundgesetz als Ka‐ talog gesellschaftlicher Normen, die aber wiederum im Alltagsgebrauch relativ vage sind und daher wenig konkrete Anhaltspunkte für positive Verhaltensre‐ geln bieten. Arbeit dagegen bietet ein nüchternes, konkretes, universell an‐ wendbares Fundament für gesellschaftliche Teilhabe. Sie hat darüber hinaus eine solide Tradition im Nachkriegsdeutschland als Motor für Integration bei‐ spielsweise von „Vertriebenen“ (Streek 2017: 26) und später von „Gastarbeitern“ in Städten wie Stuttgart oder Regionen wie dem Ruhrgebiet. Wie von Münkler und Münkler (2016: 287) vorgeschlagen, gilt Arbeit als sine qua non für soziale und daher nationale Zugehörigkeit: Als Deutscher soll hier […] ein jeder verstanden werden, der davon überzeugt ist, dass er für sich und seine Familie durch Arbeit […] selbst sorgen kann und nur in Not- und 152 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe Ausnahmefällen auf Unterstützung durch die Solidargemeinschaft angewiesen ist. Für diesen Deutschen gilt weiterhin, dass er Grund hat, davon auszugehen, dass er durch eigene Anstrengung die angestrebte persönliche Anerkennung und einen gewissen sozialen Aufstieg erreichen kann. Es ist nicht Ziel dieser zunächst utilitaristisch anmutenden Aussage, die Defi‐ nition von Bürgerrechten an eine eng gefasste alters- und gesundheitsbedingte Arbeitsfähigkeit der BürgerInnen zu koppeln. Dies würde bedeuten, man hätte lediglich einen neuen Exklusivitätsbegriff geschaffen (vgl. auch Plamper 2019: 319 für eine trifftige Kritik des Münkler’schen Ansatzes). Vielmehr geht es darum, Nationalität über die aktive Teilhabe am Arbeits- und Sozialsystem eines Landes möglichst umfassend zu definieren und damit sowohl mit dem Stereotyp des Migranten als Sozialschmarotzer als auch mit den am rechten politischen Rand angesiedelten Vorstellungen erblich oder gar biologisch bedingter Staats‐ angehörigkeit aufzuräumen. Es handelt sich um einen beinahe postnationalen Zugehörigkeitsbegriff, der die Nation nicht als gegebene Größe versteht, son‐ dern als aktiven Gestaltungsraum mit offenem Zugang für alle die, die bereit sind, an ihrer Konstruktion mitzuwirken. Arbeit gilt hier als ein „positiver, be‐ ziehungsbezogener Aspekt des menschlichen sozialen Tuns, der Konstruktion des Selbst und des Anderen im Laufe des Alltagslebens“ (Comaroff / Comaroff 2012: 58; übers. RWP). Die Definition soll dementsprechend möglichst inklusiv und gestaltungsfreudig ausgelegt werden. Im vorliegenden Aufsatz dient die Arbeitsfähigkeit der Geflüchteten als Me‐ tapher für deren allgemeine Fähigkeiten - oft unterschätzte Fähigkeiten die, so die hier vertretene These, als Ressource für die aufnehmende Gesellschaft be‐ trachtet werden sollten. Insbesondere wird die Schule als Ort der Aktivierung von Können-als-Ressource unter Zugewanderten (nicht nur Geflüchteten, son‐ dern auch anderen Menschen mit Migrationshintergrund) betrachtet, um eine diverse Bürgerschaft von morgen heranzu(er)ziehen. Es geht hier also darum, nicht nur Geflüchtete als potentielle Akteure der Gesellschaft zu betrachten, sondern die sogenannte „Flüchtlingskrise“ als Anstoß dafür zu nehmen, die all‐ gemeine Lage der Zuwanderung in Deutschland neu zu betrachten. Es soll im Folgenden die hierzulande noch viel zu selten vertretene Sichtweise der Zu‐ wanderung als Entwicklungsmotor und als gesellschaftliche Ressource im spe‐ zifischen Bereich der Schulbildung, und zwar ganz gezielt auf dem Gebiet der Lehrerbildung im Fach Englisch, erprobt werden. 153 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch Die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert Wirtschaftswissenschaftler wie Piketty (2014) oder Milanovic (2016) machen auf eine global immer weiter auseinander gehende Schere zwischen Reichen und Armen aufmerksam. Paradoxerweise wird diese Schere innerhalb der Länder nicht von einer analogen Differenz zwischen den Ländern begleitet, sondern umgekehrt: die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern schrumpfen, und zwar so, dass die europäischen Länder sogar ihren privilegierten Platz in den kommenden Jahrzehnten verlieren könnten - wenn sie nicht ihr Wachstum durch steigende Zuwanderung von gut ausgebildeten Migranten sichern (Milanovic 2016: 205-210): „Der Norden kann ohne eine kon‐ tinuierliche Zuwanderung von Arbeitskräften nicht auskommen“ (Münkler / Münkler 2016: 30). Dies gilt nicht weniger für Deutschland, vielleicht sogar mehr aufgrund seiner herausragenden Stellung in der Weltwirtschaft: Der demographische Wandel ist einer der zentralen Einflussfaktoren, der den deut‐ schen Arbeitsmarkt in Zukunft nachhaltig verändern wird. Bis heute unterschätzen viele jedoch das Ausmaß dieser Veränderung: Nach einer aktuellen Umfrage glauben immerhin 28 Prozent, dass Deutschland in den kommenden Jahrzehnten ohne Ein‐ wanderer gar nicht oder um maximal eine Million Menschen schrumpfen wird. Ohne Zuwanderung wird aber das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bei kon‐ stanten Erwerbsquoten bis zum Jahr 2050 um rund 16 Millionen Menschen und damit um 36 Prozent zurückgehen. […] Wenn dieser nicht ausgeglichen werden kann, drohen vielfältige volkswirtschaftliche Konsequenzen. Unternehmen, die nicht genug Arbeitskräfte finden, werden ihr Gewerbe einschränken, im internationalen Vergleich erheblich höhere Gehälter zahlen oder Arbeitsplätze ins Ausland verlagern müssen. Gleichzeitig verteilen sich die Kosten für soziale Sicherungssysteme und sonstige staatliche Ausgaben (z. B. Infrastruktur) auf weniger Schultern. Vor allem stark stei‐ gende Sozialversicherungsbeiträge wären die Folge. (Fuchs / Kubis / Schneider 2015: 1) Diese globale Sachlage setzt eine nüchterne und fachliche Diskussion darüber voraus, wie gegenwärtige und künftige Zuwanderer am besten in die Gesell‐ schaft integriert werden können, um eine solide arbeitende Bevölkerung zu er‐ halten. Ferner setzt diese Fragestellung den optimalen wirtschaftlichen Einsatz sowohl der bereits hier lebenden Bevölkerung wie auch der kommenden Gene‐ rationen voraus - bleiben doch Menschen mit Migrationshintergrund als Folge von systemischer Unterförderung schon im Jugendalter oft „unter ihren Mög‐ lichkeiten“. Konkret gesehen werden SchülerInnen mit Migrationshintergrund tendenziell durch mannigfaltige Arten der schulischen Selektion von Gymna‐ 154 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe sium, Abitur und Hochschulstudium ferngehalten und dadurch aus höheren Diensten und Verdiensten ausgeschlossen. Diese Art sozialer Reproduktion von sozioökonomischer Ungleichheit schadet allen in unserer Gesellschaft lebenden Menschen, da sie die Steuereinnahmen verringert, was zu schrumpfenden sozialen Etats und schwindenden Rentenkassen führt. Da Letzteres zu einem immer wichtigeren Thema - auch Wahlkampfthema - wird, ist die sozioöko‐ nomische Bedeutung der Arbeitskräfte von Menschen mit Migrationshinter‐ grund - sowohl gegenwärtig wie auch künftig - von primärer Bedeutung für das Gemeinwesen. Das schulische System spielt eine zentrale Rolle in der Si‐ cherung des Gesamtwachstums der Gesellschaft. Um SchülerInnen mit einem Migrationshintergrund - eine Gruppe, die ungefähr ein Drittel der Schülerschaft ausmacht - so weit wie möglich innerhalb des Bildungssystems aufsteigen zu lassen (mit dem Ziel höherer Einkommen und Steuereinnahmen), müssen nicht nur Deutsch und Mathematik, die als Weichensteller, d. h. Aussieb-Instanzen, fungieren, angepasst werden; auch anderen Sprachen müssen als Plattform für dieses Bildungskonzept fungieren, das Diversität als Ressource und Chance be‐ greift und als solche hegt und fördert. In den Worten von Dietz (2011: 104) bildet diese Annahme eine dritte nach den Stadien des Problematisierens und des Em‐ powerments eintretende Phase des Diskurses der interkulturellen Bildung, in der „schließlich die Wahrnehmung dieser Diversität und Homogenität als eine Res‐ source, […] pädagogisch genutzt werden kann und soll, um interkulturelle Kom‐ petenzen nicht nur der Angehörigen von Minderheiten, sondern aller Schüle‐ rinnen und Schüler zu entwickeln.“ Im Folgenden liegt der Fokus auf Englisch als der am weitesten verbreiteten „ersten Fremdsprache“ (Englisch wird von beinahe allen SchülerInnen der re‐ levanten Altersgruppe zwischen 10 und 16 gelernt) und ihrem möglichen Po‐ tential als Rahmen für das Erlernen von Diversitätskompetenzen. Allein die Tatsache das die englische Sprache für rund ein Drittel der schulischen Engli‐ schlernerInnen nicht die „erste“ Fremdsprache, sondern bereits die zweite oder dritte Fremdsprache ist, trifft den Kern der Sache: Ausgerechnet im Fremdspra‐ chenlernen wird der Tatsache nicht Rechnung getragen, dass der Fremdspra‐ chenunterricht von vornherein ein mehrsprachiger und plurikultureller Raum ist, in den viele der LernerInnen bereits ausdifferenzierte Diversitätskompe‐ tenzen mit hineinbringen. In der Tat stehen EnglischlehrerInnen zunehmend vor sprachlich und kulturell höchst diversen Schulklassen, sind jedoch durch ihre Lehrerausbildung beinahe vollständig unvorbereitet auf diese Aufgabe. Ihre Reaktionen sind kreativ, ausgeklügelt und spontan, bilden aber eine „Strategie von unten“ die oft ad hoc, lokal und situationsbedingt ist, sodass sie leider, trotz 155 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch aller Kreativität und allen Einfallsreichtums, wenig Auswirkung auf das Ge‐ samtsystem hat. Daher bedarf es gerade in dieser Zeit eines neuen Ansatzes in der Lehrebil‐ dung, welcher der Mehrsprachigkeit und kulturellen Vielfalt im Klassenzimmer aufgeschlossen entgegentritt und diese Ressourcen als die tatsächliche Aus‐ gangslage für einen diversitätsorientierten Lehransatz erkennt und nutzt - denn dies ist bisher nicht der Fall. Ausgangspunkt mehrsprachige Schule und plurikulturelle Gesellschaft Seit einigen Jahren wird das deutsche Schulsystem zunehmend mehrsprachig und multikulturell. Der Prozentsatz an Kindern in deutschen Schulen mit dem Status „Ausländer“ stieg von 7,7% in den Jahren 2014/ 2015 auf 9,5% in den Jahren 2015/ 2016 an (Statistisches Bundesamt 2015a). Der „Mikrozensus“ von 2015 zeigte, dass der Prozentsatz der 10-15 Jährigen (eine Altersgruppe, in der allge‐ mein Schulpflicht besteht) mit Migrationshintergrund bei 32,2% lag (Statisti‐ sches Bundesamt 2016b: 37). Das BMBF registrierte einen ansteigenden Pro‐ zentsatz von SchülerInnen mit Migrationshintergrund von 19,9% im Jahre 2006 auf 27,9% im letzten Jahr und stellte dabei auch eine Erweiterung der Palette an „Herkunftsländern“ fest (BMBF 2016). In einigen Städten in Deutschland, wie beispielsweise Bremen, hat mehr als die Hälfte aller Schulanfänger einen Mig‐ rationshintergrund (Karakasoglu 2016: 40). Daten aus den frühen 2000ern (Chlosta 2003; Fürstenau et al. 2003; Schroeder 2007) deuten an, dass rund 30 % aller Grundschulkinder mehrsprachig sind; anderthalb Jahrzehnte später fallen die Zahlen sicherlich eher höher als niedriger aus. Der Zustrom von Flüchtlingskindern in deutsche Schulen 2015 trat relativ kurzfristig auf und ist bereits wieder abgeflaut. Der erste Schock ermöglicht es aber, weniger akute, sondern eher langfristige und bereits bestehende Entwick‐ lungen hervorzuheben: Trotz der stetig wachsenden Tendenz zu kultureller Vielfalt an deutschen Schulen ist das Bildungssystem nur bedingt fähig, Kinder mit Migrationshintergrund in die höheren Bildungs- und Verdienstschichten zu befördern. Fest verwurzelte Formen institutioneller Diskriminierung haben zur Folge, dass besonders LernerInnen mit einem nicht-deutschen muttersprachli‐ chen Hintergrund tendenziell benachteiligt werden (Luchtenberger 1999: 78 f.; Solga / Dombrowski 2009: 26-28). Das heißt jedoch aus der Perspektive der „Human Resources“ (wie es so schön auf Neudeutsch heißt), dass das System Deutschland einen substantiellen Anteil eines seiner wertvollsten „Rohstoffs“ mutwillig wegwirft: nämlich, den „ausländischen“ Sektor des Bevölkerungsan‐ 156 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe teils junger LernerInnen, der angesichts einer drohenden demographischen Ka‐ tastrophe - und infolgedessen abflachender Wirtschaft - eine unverzichtbare Gruppe produktiver BürgerInnen darstellt (Luchtenberg 1999: 196 f.; Milanovic 2016). Das deutsche Schulsystem ist bereits jetzt nicht in der Lage (oder nicht willens), die hier lebenden SchülerInnen mit Migrationshintergrund in die hö‐ heren Bildungsschichten zu integrieren, geschweige denn künftige Wellen, gar Generationen von Zuwanderern aufzunehmen und zu möglichst hochproduk‐ tiven und hochverdienenden Arbeitnehmer*innen zu machen. Angesichts des Ernstes der Lage, darf dies nicht so bleiben, es besteht dringender volkswirt‐ schaftlicher Handlungsbedarf. Das Migrationsphänomen 2015, das hierzulande als „Flüchtlingskrise“ erlebt wurde, war vielleicht nicht so sehr eine Krise als eine Andeutung dessen, was in näherer Zukunft die Norm sein könnte - aus zweierlei Gründen: Einerseits weil internationale Konflikte und die Konsequenzen der globalen Erwärmung zunehmend bereits jetzt immer größere Migrationsbewegungen auslösen, die auch in Europa zu spüren sein werden (Nealon 2016: 121); Andererseits, weil einfache ökonomische Realitäten (d. h. im Klartext mangelnde Arbeitskräfte in Schlüsselgebieten der Wirtschaft) die deutsche Regierung früher oder später dazu zwingen werden, eine Aufweichung der derzeitigen „Obergrenzen“ zu ak‐ zeptieren, oder, weniger dramatisch, eine seit Jahrzehnten notwendige aber nach wie vor aufgeschobene Migrationspolitik zu entwickeln und umzusetzen (Münkler / Münkler 2016; Bade 2016). Es ist dringend notwendig zu handeln. Aber wie? Wenn der Staat erfolgreich einen höheren Anteil Migrant*innen schulisch integrieren will, um die ökonomischen Ressourcen dieser Migration zu nutzen, werden deutsche Schulen ihren Ansatz zur Mehrsprachigkeit und Plurikultu‐ ralität in der Lehrplangestaltung, den Lehrmethoden sowie der Lehrerausbil‐ dung und Lehrereinstellung gründlich umgestalten müssen. Es muss eine Pä‐ dagogik der Vielfalt (Prengel 1993) implementiert werden, die zum Vorteil (anstatt zum Nachteil) des einen Drittels der LernerInnen mit Migrationshin‐ tergrund arbeitet, um sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Qualifikati‐ onen, Kompetenzen und später ihres wirtschaftlichen Ertrags im Bildungs‐ system zu halten. Einen Ansatz dazu bietet der schulische Englischunterricht als „Modellplattform“ für das gemeinsame Lernen und Erproben des Spektrums der Diversitätserfahrungen und Mehrsprachigkeitsverflechtungen. 157 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch Englisch als Modell für Diversität Englisch ist die meistunterrichtete Fremdsprache an deutschen Schulen. Die meisten SchülerInnen haben auf die eine oder andere Weise Kontakt mit dem Englischen: „über [den Englischunterricht ] wird in der Regel die erste schulische Begegnung mit einer Fremdsprache angeregt“ (Jakisch 2014: 205 f.). Englisch als Fremdsprache ist nicht nur die am breitesten angelegte Fremdsprachen-Plattform für deutsche SchülerInnen; vielmehr bietet der Fremdsprachenunterricht Englisch eine Fülle an potentiellen Lehransätzen, in denen kulturelle und sprachliche Vielfalt gleichzeitig Ausgangspunkt und Rahmenkriterium sind (Christ 2008; Jakisch 2015). Englisch‐ unterricht muss daher als Plattform für ein verändertes Erlernen linguistischer und kultureller Diversität nicht nur als didaktischer Inhalt, sondern vielmehr als päda‐ gogische Form genutzt werden. Im Sinne Wittgensteins (1990: 32 f.) geht es we‐ niger um ein didaktisches Sagen als um ein pädagogisches Zeigen der Möglich‐ keiten einer bereits von Vielfalt und Mehrsprachigkeit geprägten Schülerschaft, deren bereits vorhandene Diversitätskompetenzen anerkannt, eingebunden und produktiv genutzt werden sollen. Die Rolle der deutschen Sprache als Weichensteller und Ausschlusskriterium ist längst erkannt worden (Diefenbach 2007; Gomolla / Radtke 2009). Forde‐ rungen, die Unterstützung von Deutsch als Fremdsprache für LernerInnen mit Migrationshintergrund zu verstärken, sind lobenswert und immens wichtig für den zukünftigen beruflichen Werdegang dieser Kinder (BMBF 2016; Gamper/ Schroeder 2016). Aufrufe zur Verbesserung des deutschen Sprachunterrichts bergen allerdings das Risiko, den „monolingualen Habitus“ der deutschen Schule (Gogolin 1994) noch tiefer zu verankern, anstatt die Schule einer real existier‐ enden multilingualen Realität zu öffnen. Im schlimmsten Fall können solche an sich berechtigten Forderungen die „Normativität“ monolingualer Denkstruk‐ turen und Lernumgebungen verstärken, bis hin zu einer ungewollten Unter‐ stützung von Vorstellungen linguistischer Exklusivität, wie sie in konservativen politischen Kreisen propagiert wird: „Deutsch ist bei uns die verbindliche Sprache im öffentlichen Leben - keine andere“ (CSU 2016, „Leitkultur“). Im Ge‐ gensatz dazu stellt Englisch als Schulfach eine wichtige Gelegenheit dar, das Sprachenlernen an sich als ein Herantasten an kultureller Diversität auszulegen - aus dem einfachen Grund, dass kulturelle und sprachliche Diversität (zumin‐ dest latent) bereits in der Tiefenstruktur des Fachs an sich vorhanden ist. Für die meisten EnglischlernerInnen bietet das Englische die Gelegenheit zu einer gemeinsam erlebten Kontaktaufnahme bzw. Auseinandersetzung mit sprachli‐ cher Andersartigkeit - und diese gilt es als primären „Stoff “ des Lernprojekts didaktisch in den Vordergrund zu stellen. 158 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe Dass es bereits existierende Rahmen für solche Innovationen gibt, zeigt die Tatsache, dass insbesondere seit der Flüchtlingskrise 2015, aber auch schon lange davor, LehrerInnen multilingualer Klassen pragmatische, kreative und er‐ folgreich anwendbare Strategien entwickelt haben, um mit ihrer heterogenen Lernerschaft angemessen umzugehen (Agarwala / Schenk / Spiewak 2016; Luch‐ tenberg 1999: 85-135; Schule-BW 2017). Solche Strategien bleiben meist auf die „informelle“ Ebene der lokalen, schulimmanenten Anwendung beschränkt, so‐ dass ihre Ausstrahlung und Wirkung wenig Resonanz im breiteren Bildungs‐ system finden. Jedoch sind die ersten Anzeichen eines Transfers auf die Theo‐ rieebene (im Sinne einer Erschließung mit möglicher systemimmanenter Wirkung) bereits erkennbar (z. B. die verschiedenen Beiträge in Doff 2016). Al‐ lerdings ist fraglich, inwiefern solche wissenschaftlichen Berichte über ad hoc-Lösungen aus der Praxis der Fachdidaktik tatsächlich die angehende nächste Lehrergeneration erreichen. Eine sporadische Berichterstattung müsste in der Methodenforschung erst formalisiert werden, um dann in der Theorie und Praxis der Lehrerbildung umgesetzt zu werden (Giesler / Schuett / Wolter 2016: 65). Dieser Prozess ist eng verbunden mit und hängt stark ab von der noch ausstehenden Erkennung der „Normalität“ eines bereits durch Migration und Mehrsprachigkeit tief geprägten schulischen Umfelds (Karaksoglu 2016: 39; Hinnenkamp 2010). Hier scheint die Lehrerbildung relativ weit hinter der Realität her zu hinken: Von deutschen Lehrkräften wird erwartet, „dass sie die gestiegene Zahl junger Flüchtlinge und ein Vielfaches an förderbedürftigen Kindern und Jugendlichen individuell unterstützen, doch nur ein Bruchteil der Lehrenden fühlt sich auf diese Aufgabe vorbereitet. Dazu tragen u. a. deutliche Mängel in der Lehrerbil‐ dung in den Bundesländern bei. […] Auch 20 Jahre nach dem Länderbeschluss von 1996, der eine flächendeckende Aus- und Fortbildung ganzer Lehrerkolle‐ gien vorsah, gilt der Umgang mit Vielfalt in den meisten Schulen weiterhin als Spezialqualifikation.“ (Morris-Lange / Wagner / Altinay 2016: 4) Fazit: der „Um‐ gang mit Vielfalt bleibt ein Randthema“ im Lehramtsstudium (ebd.: 11). Besonders aussagekräftig in dieser Hinsicht sind fachdidaktische Lehrbücher, die im Grundstudium Einsatz finden. Man kann davon ausgehen, dass das Grundlagenwissen, das hier vermittelt wird, im Großen und Ganzen den Stoff der Lehrbildung relativ eindeutig widerspiegelt. Insofern fungieren solche ein‐ führenden Lehrwerke als Maßstab dafür, inwiefern kulturelle und linguistische Diversität ein zentrales - oder, umgekehrt, ein peripheres - Element des Grund‐ lagenwissens für angehende EnglischlehrerInnen darstellen. Zusammenfassend kann man sagen, dass solche Lehrtexte ein monokulturelles und monolinguales Zielpublikum voraussetzten und dadurch eine geteilte Welt imaginieren: die 159 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch einer kulturell homogenen Heimat (wo Englisch gelernt wird) gegenüber einem kulturell heterogenen Ausland (wo Englisch gesprochen wird). Somit wird das Fremdsprachenlehren und -lernen in hermetische Zonen aufgeteilt, wobei die dynamische Komplexität einer aus sprachlich-kulturellen Verflechtungen be‐ stehenden Welt völlig aus den Augen verloren wird. Die Lehrbücher gehen davon aus, dass die interkulturellen Kompetenzen, die SchülerInnen im Englischunterricht erwerben sollen, auf ein „anderswo“ ge‐ richtet sind - d. h. auf sogenannte „Ziel-Kulturen“ (Grimm / Meyer / Volkmann 2015: 167), die außerhalb unseres Kulturkreises „da draußen“ in der englisch‐ sprachigen Welt liegen und dabei von „essentialist binary oppositions between one’s own culture and ‚strange, ‚alien‘ or ‚other‘ cultures“ als „starting point for processes of ‚intercultural learning‘“ ausgehen (Doff / Schulze-Engler 2011: 1). Solche Einstellungen spiegeln die grundlegenden Annahmen des baden-würt‐ tembergischen Bildungsplans wider, nach dem „die Voraussetzung“ um „Schü‐ lerinnen und Schüler zu befähigen, in vielfältigen Kommunikationssituationen erfolgreich zu agieren“, „fundierte Kenntnisse über verschiedene englischspra‐ chige Länder“ sind (Baden-Württemberg MKJS 2016: 7). Solche Kenntnisse sind zweifellos wichtig - aber vorrangig im Endeffekt für die wohlhabenden 0,5% deutscher SchülerInnen der Sekundarstufe, die als AustauschschülerInnen ins Ausland gehen (in die USA, nach Kanada, Neuseeland, Australien, Großbritan‐ nien oder nach Irland - die in dieser Reihenfolge beliebtesten Austauschziele), sowie für eine ähnliche Anzahl Auszubildender, die während ihrer Ausbildung ins Ausland gehen (Bundesregierung 2016; Gerland 2016). Überwiegend ist in solchen Lehrtexten die unausgesprochene Annahme eines „Durchschnittsschülers“ vorherrschend (trotz des Eingeständnisses, dass ein solches Wesen nicht existiert, siehe auch Grimm / Meyer / Volkmann 2015: 141), der kulturell „unmarkiert“ bliebt. Die „Durchschnittsschülerin“ vertritt eine kulturelle Hegemonie, die deshalb nicht thematisiert werden muss - „[d]enn noch immer dominiert das Bild eines monolingual ausgerichteten, von deut‐ schen MuttersprachlerInnen ausgehenden Unterrichts […] und das, obwohl Sprachenvielfalt und Plurikulturalität längst der Normalfall in vielen Lern‐ gruppen sind“ ( Jakisch 2014: 205 f.). Entgegen der explizit erklärten Aufmerk‐ samkeit für die Spezifika der „Lerneridentitiäten“ und der expliziten Anerken‐ nung der „students‘ expertise regarding other cultures“ (Grimm / Meyer / Volkmann 2015: 168 f.) gehen diese durchaus progressiven und modernen Lehr‐ bücher von einem monokulturellen und monolingualen Lernumfeld aus, das es so nicht (mehr) gibt. Die Tatsache, dass Interkulturalität sehr stark, sogar massiv im schulischen Englischunterricht vorhanden ist, und dass „classrooms today are rarely mono‐ 160 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe cultural environments, so that the borders between what might be intuited as students ‚own‘ cultures and the ‚other‘ cultures are blurred to start with“ (Reichl 2013: 232), ist aus diesen Lehrbüchern keineswegs zu entnehmen, ebenso wie deren mehrsprachige Spuren an Schulen kaum explizit sichtbar sind (Luchten‐ berg 1999: 129). Obwohl solche Lehrbücher wichtige Aspekte der Sachlage wie „Inklusion“ und „Heterogenität als Möglichkeit“ thematisieren (Kuty / Haß in Haß 2006: 37 f.), weisen diese Lehrtexte kaum - und wenn, höchstens ansatz‐ weise - auf die mehrsprachige und multikulturelle Diversität der jungen Lern‐ erInnen hin, die das Zielpublikum der Lehrerbildung sind. Die Lehrbücher zi‐ tieren zum Beispiel (wohlbemerkt bereits veraltete) Ansätze wie „multiliteracies“ aus dem angelsächsischen Bereich (New London Group, Cazden et al. 1996). Die „Übersetzung“ solcher importierten Konzepte bleibt je‐ doch auf der Strecke: Es fehlt eine Umsetzung auf der Ebene der Tiefenstruktur des fachdidaktischen Denkens, da die wohlgemeinte Absicht, „[to] expand the idea and scope of literacy pedagogies to account for the context of our culturally and linguistically diverse and increasingly globalized societies“ (Cazden et al. 1996: 61, zit. in Grimm / Meyer / Volkmann 2015: 200) anscheinend nur für „fremde“ Gesellschaften und nicht für die eigene gilt. Sogar eine innovative Studie aus jüngster Vergangenheit wie Jakischs Dis‐ sertation (2015) zum Englischunterricht als Plattform für mehrsprachigen Fremdsprachenunterricht geht davon aus, dass Deutsch die Standardsprache ist - mit dem Ergebnis, dass die Mehrsprachigkeit im Sinne der EU-Richtlinien als eine noch zu entwickelnde Fertigkeit unter deutschen Fremdsprachenlerne‐ rInnen dargestellt wird. Was ist mit der nachweisbar vorhandenen Mehrspra‐ chigkeit an jeder deutschen Schule? Die Tatsache, dass Jakischs eigene Test‐ gruppe bereits einen Anteil von 15 Prozent mehrsprachigen SchülerInnen aufweist (darunter werden 14 Sprachen aufgelistet) ( Jakisch 2015: 157-160), wird als völlig unbedeutend für das Forschungsprojekt behandelt. Vermutlich sind diese mehrheitlich nichteuropäischen Sprachen nicht relevant für eine aus‐ schließlich auf EU-Richtlinien basierende Untersuchung; folglich wird diese Art Mehrsprachigkeit stillschweigend als nicht wissenschaftlich bedeutend einge‐ stuft. Statistisch gesehen, und aus der Sicht der „Human Resources“ ist jedoch dieser Prozentsatz - ein Sechstel - keineswegs gering; und in vielen deutschen Schulen ist der Anteil mehrsprachiger SchülerInnen um vieles höher. Es sei an dieser Stelle noch an die eingangs angemerkten tatsächlichen Ausmaße der Plu‐ rikulturalität bzw. Mehrsprachigkeit unter FremdsprachenlernerInnen erinnert: Der Prozentsatz der 10bis 15-Jährigen (d. h. einer Altersgruppe, in der der Englischunterricht fast flächendeckend ist) mit Migrationshintergrund betrug 32,2 Prozent beim „Mikrozensus“ 2015 (Statistisches Bundesamt 2016b: 37). Auch 161 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch in einer Schule in der, wie bei Jakisch, der Anteil an mehrsprachigen Schüle‐ rInnen lediglich die Hälfte davon beträgt, ist ein Sechstel eine signifikante Größe, die nicht vernachlässigt werden darf. Vernachlässigt wird diese statis‐ tisch belegbare Realität jedoch fast ausnahmslos in der fachdidaktischen Fach‐ literatur. Diese Diskrepanz zwischen der schulischen Realität und den struktu‐ rell geprägten Denksystemen der Fachdidaktik muss überwunden werden, soll das Bildungssystem in der Lage sein, überhaupt mit den sich rasant veränder‐ nden Phänomenen der deutschen Gesellschaft von heute und morgen mitzu‐ halten. Eine solche Diskrepanz ist weitverbreitet in allen Bereichen der bundesre‐ publikanischen Gesellschaft - wie beispielsweise im Falle des nach wie vor gel‐ tenden „Grundsatz[es] der Vermeidung der Mehrstaatigkeit“ (von Münch 2007: 159-187), dessen Aufgabe z. B. bereits 1995 Gegenstand eines Gesetzesentwurfs war (Deutscher Bundestag 1995: 5), der jedoch längst durch die behördliche Einbürgerungspraxis der letzten 10 Jahre überholt ist: Seit 2006 werden mehr als die Hälfte aller Einbürgerungen von Ausländer*innen unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit durchgeführt (Worbs 2008: 26); der Prozentsatz steigt langsam aber kontinuierlich (Bundesbeauftragte für Integration 2016: 433). Umso wich‐ tiger ist es, solche Widersprüche an Schlüsselstellen wie in der Schule und in anderen Behörden im Sinne von Transparenz und Modernisierung auszu‐ merzen. Die schulische Realität als Chance Angenommen, man würde diese Realität als Ausgangspunkt für eine anders gedachte Fachdidaktik des Englischen betrachten-was wäre dann zu tun? Der Englischunterricht und die darauf vorbereitende Lehrerbildung müssten auf der zugrunde liegenden Realität einer plurikulturellen und mehrsprachlichen Ler‐ nerschaft und auf der grundlegenden Tatsache, dass Migration den Hauptträger heutigen sozialen Wandels darstellt, aufbauen. Feldmann (2015) geht davon aus, dass der gegenwärtige Nationalstaat und seiner Staatsbürgerschaft als norma‐ tive, identitätsstiftende Instanzen weitgehend überholt sind. Stattdessen bildet Migration das grundlegende Paradigma heutigen politischen Lebens und die treibende Dynamik sämtlicher sozialer Erfahrungen. Mit anderen Worten, wie es neuerdings von dem Archäologen Wemhoff ausgedrückt wurde (im expliziten Gegensatz zum Diktum des Innenministers Seehofer, Migration sei „die Mutter aller Probleme“ [Migration 2018]): „Migration ist der Anfang aller Entwicklung“ (Marks 2018). In der Formulierung von Massumi (2002: 7), „[p]osition no longer comes first, with movement a problematic second. It is secondary to movement 162 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe and derived from it. It is retro movement, movement’s residue“. Mit anderen Worten geht es um eine „basale Mobilität“ („originary mobility“: Dubow 2004) die alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens bis ins kleinste Detail bestimmt. Aus dieser Warte können Migration, Mehrsprachigkeit und Plurikulturalität nicht lediglich als zusätzliche Aspekte einer schulischen Gesamtrealität be‐ trachtet werden, beispielsweise als eine von verschiedenen Facetten von „He‐ terogenität“ (z. B. Bohl/ Budde/ Rieger-Ladich 2017). Vielmehr sollten sie von vorneherein als die treibenden Kräfte eines grundlegend und radikal verän‐ derten Konzepts des Englischunterrichts hervortreten (Karakasolglu 2016: 39 f.). Die große Herausforderung für eine künftige Fachdidaktik des Englischen ist die strukturelle Transformation ihrer Rahmenprinzipien, bis in die tiefsten Winkel ihres konzeptionellen Aufbaus, im Sinne des allgegenwärtigen Ein‐ flusses des Mobilitätsparadigmas (Merriman 2012). Eine solche Durchdringung des Theoriegebäudes der Fachdidaktik mit den elementaren Prinzipien der Mi‐ gration, der Diversität und der Mehrsprachigkeit ist aber kein theoretisches Anliegen an sich, sondern spiegelt lediglich die Präsenz aller drei Faktoren im heutigen Unterrichtskontext wider. Alles schön und gut, könnte man meinen: aber was bedeutet das im Kon‐ kreten? 1. Es muss eine nüchterne Debatte über den gesellschaftlichen und den öko‐ nomischen Wert der Mehrsprachigkeit geführt werden. Die überall vertretene Meinung, Personen mit Migrationshintergrund hätten ein Identitätsproblem, ist schlichtweg falsch. Dagegen trifft es zu, dass die Gesellschaft aufgrund absurder Einstelllungen zur vermeintlichen Einheitlichkeit der Personenidentität ein Pro‐ blem mit solchen Migrant*innen hat, welches diesen dann zugeschoben wird. 2. Kinder bzw. Jugendliche mit einem Migrationshintergrund sollten nicht als defizitär betrachtet werden, wie es die Mehrzahl bestehender Lehrbücher dar‐ stellt (Niehaus / Hoppe / Otto / Georgi 2015), sondern sollten als erfahrene „Grenzgänger“ im Besitz von hochkomplexen sozioökonomischen Fertigkeiten angesehen werden. Analog zu der Erkenntnis, dass ZweitsprachlernerInnen be‐ reits über ausgefeilte Sprachlernmuster, -mechanismen und -verfahren ver‐ fügen, und daher nicht wie ErstsprachlernerInnen im Kindesalter behandelt oder unterrichtet werden können, müssen wir auch einsehen, dass mehrspra‐ chige SchülerInnen eine ganze Palette an wertvollen Kompetenzen bereits mit in den Lernprozess einbringen (Pennycook 1994: 136, 305 f.). Wir müssen un‐ seren SchülerInnen zutrauen, dass sie bereits etwas wissen, und auch zu lernen wissen (Friere 1972; Rancière 1991). Wer einen Migrationshintergrund hat, bringt interkulturelle Kompetenzen mit; wer zwei- oder mehrsprachig aufwächst, bringt Sprachlernfertigkeiten 163 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch (mentale Software) und transkulturelle Transfer-Skills mit. Es entsteht daher eine Schülerschaft, die sich mit Carli Coetzee (2013) als „accented“ bezeichnen lässt. Die Frage lautet dann: wie können solche Fertigkeiten zum Vorteil aller Lernenden in den Lernprozess integriert werden? 3. Solche Grundeinstellungen können auch Anlass dafür sein, sich endgültig von überholten Bildern einer eurozentrischen Welt zu verabschieden. Das Zentrum-Peripherie-Modell des globalen Englisch (Kachrus „innere“ und „äu‐ ßere Kreise“ [1986]), das allzu oft als präskriptive Hierarchie missverstanden wird, entspricht längst nicht (mehr) der Realität der englischsprachigen Welt. Immer bedeutsamer wird heutzutage die fortschreitende Vermehrung von Va‐ rietäten des Englischen. Jüngste Forschungsarbeiten betonen die unendliche Kreativität und Veränderbarkeit des Englischen - oder besser: der verschiedenen Englische - als ein transkulturelles, translokales, und „metropolitisiertes“ Me‐ dium der sprachlichen Kommunikation (Pennycook 2007, 2010; Pennycook / Otuji 2015). Diese sprachliche Vielfalt des Englischen ist längst bei uns ange‐ kommen, nicht zuletzt in Person der vielen Geflüchteten, die aus Ländern stammen, wo Englisch als Amtssprache Gültigkeit besitzt. Dennoch halten deutsche Bildungspläne an überholten eurozentrischen Hierarchien fest: „Im Zuge einer zunehmenden Globalisierung werden bei Aussprache und Intonation neben General American und Received Pronunciation auch andere englische Standardsprachen akzeptiert, wie zum Beispiel Australian English, Irish English oder Indian English“ (Baden-Württemberg MKJS 2016: 9). Ganz abgesehen davon, dass die „Received Pronunciation“ in Großbritannien, geschwiege ir‐ gendwo anders, nicht mehr gesprochen wird, ist anzumerken, dass Afrika, wo English als Amtssprache in zahlreichen Ländern vertreten ist, hier nicht einmal erwähnt wird. Aber, wenn „Kontakt mit Muttersprachlern“ eines der Kriterien der Vermittlung von Sprache ist, dann ist African English genauso wichtig wie Irish English. Dennoch besteht hier weiterhin eine klare globale Rangordnung: „Wichtigste Bezugsländer im Englischunterricht sind Großbritannien und die USA, wobei auch die Auseinandersetzung mit anderen englischsprachigen Na‐ tionen bedeutsam ist.“ (Baden-Württemberg MKJS 2016: 5) In Anbetracht der Tatsache, dass viele SprecherInnen des Englischen aus Afrika als Geflüchtete in deutschen Schulklassen sitzen, könnte der Kontakt mit Muttersprachlern hier und jetzt zu einem Kriterium für einen neuen Ansatz in Sachen Sprachenlernen im transnationalen Kulturgeflecht werden. Mit anderen Worten, die Sprache selbst ist zur interkulturellen Plattform geworden, die in ihrer Vielfalt nicht irgendwo draußen, sondern auch hier in Deutschland zu finden ist und damit bietet sich eine Gelegenheit, mittels der vorhandenen mehrkulturellen und 164 Russell West-Pavlov / Lukas Müsel / Anya Heise-von der Lippe mehrsprachigen Ressourcen, eine neue Sprachlernkultur zu erforschen und zu entwickeln. 4. Auf der Basis dieser Grundlagen könnte man eine Reihe konkret reflek‐ tierter Lehrstrategien einführen: - Das positive Hervorheben tatsächlicher Mehrsprachigkeit (Luchternberg 1999) als Antrieb, um bereits existierende Sprachkompetenzen als einen wertvollen Kompetenzbereich zu erschließen; - Die Thematisierung von Mehrsprachigkeit und plurikulturellen Anbin‐ dungen innerhalb von Lehrstrategien, um den Gruppenzusammenhalt zu stärken und mehr Lernanreize zu schaffen; - Die Entwicklung von linguistischen Unterrichtsmaterialien, deren Fokus auf verschiedenen Varietäten von Englisch liegt und damit die Diversität der Sprachkenntnisse der LernerInnen selbst widerspiegelt (z. B. Luch‐ tenberg 2002); - Die Entwicklung kultureller Unterrichtsmaterialien, deren Fokus darauf liegt, die von SchülerInnen selbst erlebte Diversität zu reflektieren (z. B. Schäfer 2016; Reid, Major 2017); - Das Ziel mehr LehrerInnen mit Migrationshintergrund und mit ausge‐ wiesenen Mehrsprachigkeitskompetenzen einzustellen, um ein besseres Verstehen des Lernumfelds zu erreichen und um positive Identifikations‐ modelle zu schaffen (Karakasoglu 2011). Wenn Deutschland seine derzeitige Position als führende Wirtschaftskraft und seinen hohen Lebensstandard erhalten möchte, ist es abhängig von den ange‐ stiegenen Migrationsraten und der erfolgreichen Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt (Bonin 2014; Collier; Fuchs / Kubis / Schneider 2015, 2019; Milanovic 2016; Münkler / Münkler 2016). Diesem Projekt liegt also eine fun‐ damental ökonomische Argumentation zu Grunde: wenn SchülerInnen mit Mi‐ grationshintergrund ein Drittel der LernerInnen ausmachen, dann ist es im In‐ teresse des Wirtschaftswachstums, eines angemessenen Fundamentes an Steuerzahlern und einer stabile Rentengrundlage so viele LernerInnen in der Schule zu halten wie möglich, damit sie den bestmöglichen Schulabschluss und die bestmögliche Hochschulbildung erreichen können, um so im bestmöglichen Berufsfeld arbeiten können. Im Gegensatz zur derzeitigen diskriminierenden (oder zumindest vernachlässigenden) Herangehensweise, sollte eine Unter‐ richtspraxis implementiert werden, die das nutzbare Potential in diesen Lern‐ erInnen sieht; in der Tat eine Praxis, die sie als „Human Resources“ sieht und daher pädagogische Strategien nutzt, um Migration als einen Ausbildungsfaktor zu integrieren anstatt sie zu ignorieren und diese LernerInnen so im Bildungs‐ 165 Vom Nutzen der Zuwanderung: Ansätze in der Lehrerbildung bzw. Fachdidaktik Englisch system hält, was auf lange Sicht positive Abstrahleffekte auf die Wirtschaft hat. Eine weitere Folgeentwicklungen einer diversitätsorientierten Englischlehrer‐ bildung bzw. Englischdidaktik wird die Verbesserung eines generellen Be‐ wusstseins der Komplexitäten und die Akzeptanz einer kulturellen Pluralität unter einem Großteil der arbeitenden Bevölkerung sein, was wiederum den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft stärkt, die faktisch schon längst eine Migrationsgesellschaft ist. Dies wiederum wird die Attraktivität Deutschlands als Zielland für weiter dringend benötigte Neuankömmlinge steigern. Englisch als Schulfach ist die erste Fremdsprache einer großen Mehrheit der SchülerInnen und kann daher potentiell - nach der notwendigen Anpassung an eine Schülerschaft mit Migrationshintergrund - ein effektiver Faktor sein, so viele SchülerInnen wie möglich im System zu halten. Die Befähigung von Leh‐ rerInnen als Prozessbegleiter stellt uns unter dieser Perspektive vor eine Fülle an Aufgaben, und wir brauchen daher ein Lehrerbildungssystem, das Lehramts‐ kandidatInnen entsprechend ausbildet. 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Auf die Frage, mit welchem Titel ich mich an der Ringvorlesung „Interkul‐ turelle Bildung und die Flüchtlingsdebatte“ beteiligen würde, habe ich ganz spontan entschieden, meinen heutigen Beitrag mit der Frage „Wieviel Vielfalt darf ’s denn sein“ zu überschreiben. Insbesondere seit 2016, als die Zahl der ge‐ flüchteten Menschen in Tübingen stark gestiegen ist, erfahre ich neben einer großartigen zivilgesellschaftlichen Willkommenskultur auch, dass die Akzep‐ tanz von Vielfalt immer wieder an enge Grenzen stößt; Grenzen, die Fremdheit markieren, um gesellschaftliche Ausgrenzung zu begründen. Ein paar Beispiele aus der Praxis: Da wird kritisch angemerkt, dass die Kopftuch tragende Mus‐ limin nicht auf einem Willkommensflyer abgebildet sein müsse, denn Frauen‐ unterdrückung solle ja nicht gefördert werden. Da wird als Paradebeispiel für frauendiskriminierendes Verhalten das Beispiel des muslimischen Mannes oder der muslimischen Schüler angeführt, die einer Frau - z. B. der Lehrerin - die Hand nicht geben. Da erfahre ich von einer Tübingerin, dass ihr Sohn nicht in eine Disko eingelassen wurde mit dem Argument, dass schon zu viel Ausländer da seien. Da nimmt vor dem Hintergrund von Terroranschlägen und politischen Konflikten in den Herkunftsländern von Geflüchteten das Misstrauen gegen‐ über, aber auch unter Zugewanderten zu. Da weiß ich, dass Zugewanderte bei der Wohnungssuche Diskriminierungen erleben. Da höre ich, dass Geflüchtete dankbar sein müssen dafür, dass ihnen hier ein Dach über dem Kopf und die nötige Grundversorgung zur Verfügung gestellt wird - Kritik von Geflüchteten an ihren hiesigen Lebensverhältnissen wird als Zumutung empfunden. Gesetzliche Rahmenbedingungen und Zahlen zu Asylsuchenden in Baden-Württemberg Nachrichten von Terror, gewaltsamen Konflikten und Kriegen in Syrien, in Irak, in der Ukraine, in Afghanistan, Nigeria und zahlreichen anderen Ländern der Welt, Bilder von Menschen, die unter desaströsen Bedingungen in Flüchtlings‐ lagern hausen müssen oder die sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Eu‐ ropa machen, von Menschen, die auf der Flucht ertrinken oder in Lastwagen ersticken, strömten über Fernsehen und andere Medien in unsere Wohnzimmer. Über 65 Mio. Menschen sind laut UNHCR weltweit auf der Flucht, drei Viertel der Flüchtenden sind Binnenflüchtlinge. Zunehmend kamen nicht nur die Bilder, sondern auch viele geflüchtete Men‐ schen in Europa, in Deutschland, in Baden-Württemberg und bei uns in Land‐ kreis und Stadt an. Stellten im gesamten Jahr 2013 gerade einmal knapp 8000 Menschen in Baden-Württemberg einen Asylantrag, so hat sich die Zahl der Asylantragstellenden in den Jahren 2014 und 2015 vervielfacht: Im Jahr 2015 wurden fast 98.000 Asyl-Erstanträge in Baden-Württemberg gestellt. Und dabei ist es wichtig zu wissen, dass viele geflüchtete Menschen gar nicht die Mög‐ lichkeit hatten, zeitnah mit ihrer Registrierung einen Asylantrag zu stellen. Als Ende August 2015, ob der großen Zahl der flüchtenden Menschen, die nach Europa kamen, das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge faktisch nicht weiter verfolgt wurde und keine Überstellungsverfahren in die Ersteinreise‐ länder mehr eingeleitet wurden, ist die Zahl der in Deutschland ankommenden Geflüchteten noch einmal erheblich gestiegen. So wurden allein im Monat No‐ vember 2015 in den Erstaufnahmestellen in Baden-Württemberg 40.000 Men‐ schen registriert, etwa 15.000 konnten in diesem Monat ihren Asylantrag stellen. Danach ist die Zahl der Neuankommenden genauso schnell wieder gefallen, wie sie gestiegen ist. Im Mai 2016 sind 2703 Menschen in den Flüchtlings-Erstauf‐ nahmestellen in Baden-Württemberg registriert worden. Der Rückgang der Flüchtlingszahlen in Deutschland ist nicht etwa darin be‐ gründet, dass weniger Menschen weltweit auf der Flucht sind. Er geht vielmehr darauf zurück, dass sehr viel unternommen wurde, um den „ungeordneten Zu‐ strom von Flüchtenden nach Europa“ (wie es hieß) einzugrenzen. Man hat es allenthalben in den Medien mitverfolgen können: Die Schließung der Grenzen 176 Luzia Köberlein auf der Balkanroute und die Übereinkunft zwischen der EU und der Türkei, die vorsieht, dass alle Flüchtlinge, die „illegal“ nach Griechenland übersetzen, zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden können. Nur wer nach‐ weisen kann, dass er in der Türkei verfolgt wird, soll bleiben dürfen. Im Ge‐ genzug hat sich die EU bereit erklärt, bis zu 72.000 syrische Bürgerkriegsflücht‐ linge aus der Türkei auf legalem Wege aufzunehmen. In Deutschland wurden quasi im Sauseschritt die Asylgesetze verändert, Asylpakete geschnürt und Maßnahmen auf den Weg gebracht, wie z. B. das beschleunigte Asylverfahren, besondere Aufnahmezentren für Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, Einschränkungen des Familiennach‐ zugs für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus, schärfere Regelungen was die Abschiebung betrifft. Gleichzeitig wurde für Asylbewerber_innen mit „guter Bleibeperspektive“ der Zugang zu Integrationskursen und Arbeitsmarkt erleichtert. Und seit dem 1. Januar 2016 gibt es neue Visa- Regelungen für den Arbeitsaufenthalt von Staatsangehörigen aus den Balkanstaaten (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien). Diese gesetzlichen Regelungen und Verordnungen fallen nicht in die Entscheidungskompetenz von Kom‐ munen, sie haben aber Auswirkungen auf das konkrete Auf- und Annehmen, auf die Stimmung und das Miteinanderleben in der Stadt. Zahlen und Daten zu geflüchteten Menschen in der Stadt 875 geflüchtete Menschen lebten im Mai 2016 im Stadtgebiet Tübingen in den vorläufigen Gemeinschaftsunterkünften des Landkreises, d. h. sie sind noch im Asylverfahren. Die meisten konnten dezentral und kleinteilig, d. h. in Woh‐ nungen bzw. Wohngemeinschaften unterkommen. Die vorübergehende Unter‐ bringung in der Kreissporthalle konnte inzwischen (Stand: April 2017) aufge‐ geben werden. Die Shedhalle in Tübingen soll sukzessive geräumt und nur als Notfallstandort aufrechterhalten werden. Von den Bewohnerinnen und Bewohnern der vorläufigen Gemeinschaftsun‐ terkünfte sind 43 Prozent weiblich und 57 Prozent männlich, knapp 41 Prozent sind Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. Hauptherkunftsländer bzw. Regionen der Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften sind Mittlerer und Naher Osten (576), allen voran Syrien und Nordirak. Mit deutlichem Abstand folgen Menschen aus afrikanischen Staaten (132) - insbesondere Nigeria und Gambia - und Menschen aus dem Balkan (121), insbesondere Serbien. Im Mai 2016 lebten 244 Menschen in den Anschlussunterbringungen der Stadt. Vor einem Jahr waren es noch 145. Von diesen sind 37 Prozent weiblich 177 Integration und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Tübingen und 63 Prozent männlich, 35 Prozent sind jünger als 18 Jahre. In die städtischen Anschlussunterbringungen werden diejenigen zugewiesen, deren Asylver‐ fahren nach 24 Monaten immer noch nicht abgeschlossen ist oder deren Asyl‐ antrag negativ beschieden wurde, die aber aufgrund eines Abschiebehinder‐ nisses nicht abgeschoben werden können sowie diejenigen, die als Flüchtlinge anerkannt wurden, die aber keine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt finden konnten. In Windeseile mussten zuerst also Unterkünfte für die ankommenden Men‐ schen angemietet oder geschaffen werden, und danach mussten Strukturen auf‐ gebaut oder weiterentwickelt werden, die den geflüchteten Menschen den Zu‐ gang öffneten zum (Anschluss-)Wohnen, frühkindlicher und schulischer Bildung, zu Qualifizierung, Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung, zu Informa‐ tion und Beratung, zum Gesundheitssystem, zum kulturellen Leben, zu nach‐ barschaftlichen Beziehungen, zum Leben im Quartier und in der Stadt. Dies alles mit den zur Verfügung stehenden finanziellen, räumlichen und personellen Ressourcen in der gebotenen Eile, gleichzeitig aber auch transpa‐ rent, wohldurchdacht und gut aufeinander abgestimmt anzugehen war, ist und bleibt eine große Herausforderung (man denke nur an die unterschiedlichen Zuständigkeiten von Land, Landkreis und Stadt) für Verwaltung und Stadtge‐ sellschaft. Stadtverwaltung Unterbringung und Integration von geflüchteten Menschen sind Querschnitts‐ themen, die sich durch alle Dezernate und Fachbereiche der Stadtverwaltung ziehen - vom Baudezernat mit seinen Fachbereichen, zu den Fachbereichen Bürgerdienste Sicherheit und Ordnung, zum Fachbereich Familie, Schule, Sport und Soziales, zum Fachbereich Kultur bis hin zu den Fachbereichen Finanzen und Personal- und Organisationsentwicklung. Stand zunächst die schnelle Unterbringung der neu ankommenden geflüch‐ teten Menschen durch den Landkreis im Vordergrund, so geht es seit Mitte 2017 auch um die langfristige Schaffung von Wohnraum und eine nachhaltige Stadt- und Quartiersentwicklung, die sowohl der „einheimischen“ Bevölkerung als auch den geflüchteten Männern, Frauen, Kindern- und Jugendlichen gerecht wird. Dienste und Einrichtungen der Stadt, z. B. Einwohnermeldeamt, Stan‐ desamt, Ausländeramt, die Stadtbücherei, Stadtmuseum, aber ganz besonders auch städtische Bildungseinrichten, Kitas und Schulkindbetreuung müssen sich auf die Bedürfnisse einer schnell angestiegenen Zahl von neu ankommenden geflüchteten Menschen einstellen. Darüber hinaus ist auch die Stadt als Arbeit‐ 178 Luzia Köberlein geberin und Wirtschaftsförderin gefragt, Wege in Arbeit und Arbeitsplätze für geflüchtete Menschen zu öffnen. Die Stadt richtet seit Mitte 2017 Arbeitsgele‐ genheiten für Asylbewerberinnen und Asylbewerber ein, z. B. bei der Feuer‐ wehr, im Friedhof, in der Kita und im Stadtmuseum. Stadtgesellschaft In noch viel schnellerem Tempo als die hauptamtlichen Strukturen und Ange‐ bote sind das freiwillige Engagement und Freiwilligeninitiativen für Geflüchtete gewachsen. Quasi um jede Gemeinschaftsunterkunft im Tübinger Stadtbezirk haben sich selbst organisierte Asylfreundeskreise gebildet. Zahlreiche neue Netzwerke und Arbeitskreise sind entstanden. Die Stadt unterstützt dieses zi‐ vilgesellschaftliche und ehrenamtliche Engagement. Sie hat 2016 einen Förder‐ topf eingerichtet für Kleinprojekte (1.000-5.000 Euro), die Teilhabe von geflüch‐ teten Menschen am gesellschaftlichen Leben in der Stadt unterstützt und fördert. Das Engagement pulsiert in der Stadt und ich denke, nicht nur die Geflüch‐ teten profitieren davon, sondern auch die engagierten Unterstützerinnen und Unterstützer selbst. „Ich wohne jetzt schon so lange hier“, sagt eine ältere Dame, die sich in einem Freundeskreis für geflüchtete Menschen in ihrem Stadtteil engagiert. „Aber erst jetzt lerne ich bei den Treffen im Asyl-Freundeskreis meine Nachbarn kennen.“ Wer sind diese freiwilligen Helferinnen und Helfer? Es sind vor allem Frauen, die sich engagieren. Ihr Anteil liegt - laut einer online-Befragung des Berliner Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung - bei rund 70 Prozent. Die Helferinnen und Helfer sind überdurchschnittlich gebildet, rund 60 Prozent haben einen Studienabschluss und viele - mehr als im Bevölke‐ rungsdurchschnitt - haben einen Migrationshintergrund. Die Ehrenamtlichen im Flüchtlingsbereich sind relativ jung (zwischen 20 und 30 Jahre) oder bereits im Rentenalter. Die mittlere Generation ist weniger häufig vertreten. Offenbar - so die Studie - haben Menschen, die sich unentgeltlich für Flüchtlinge ein‐ setzen, hohe ideelle Werte. 74 Prozent der Befragten gaben als Motiv für ihr Engagement an, die Gesellschaft gestalten zu wollen. Nur 3,5 Prozent sagten, sie versprächen sich davon berufliche Vorteile. Das ist laut der Studie ein viel niedrigerer Anteil als bei Freiwilligen in anderen Bereichen. Ein großer Teil der ehrenamtlichen Arbeit besteht darin, geflüchtete Men‐ schen im Alltag zu begleiten, bei Ämtergängen zu unterstützen, bei der Woh‐ nungssuche zu helfen, Fahrdienste anzubieten oder Nachhilfe zu leisten. Freun‐ deskreise organisieren Freizeitangebote und Feste, sie bieten niedrigschwellige Deutschkurse an oder vermitteln in Einrichtungen und Institutionen. Viele Eh‐ 179 Integration und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Tübingen renamtliche sind auch in die Arbeit von hauptamtlichen Einrichtungen der Flüchtlingshilfe eingebunden - wie z. B. in die Asylverfahrensberatung im Coffee to stay - oder als Ausbildungsbegleiterinnen im Asylzentrum, als Sprach‐ tutorinnen bei Bildungs- und Sprachkursträgern, als Kultur- und Sprachmitt‐ lerinnen in der Migrationsberatungsstelle der Caritas, im Universitätsklinikum oder bei refugio, dem Verein zur Beratung und Behandlung von Folterüberle‐ benden und traumatisierten Flüchtlingen. Dieses großartige freiwillige Engagement, diese ehrenamtlich organisierte Willkommenskultur darf jedoch kein Ersatz für hauptamtliche Willkommens‐ strukturen sein. Im Gegenteil, sie muss Kritik und Ansporn für diese sein. Eh‐ renamtliche kritisieren z. B. die unterschiedlichen Zuständigkeiten und die mangelnde Abstimmung der zuständigen Behörden im Hinblick auf Unterbrin‐ gung und Betreuung der Geflüchteten (beispielsweise ist die Erstaufnahme Auf‐ gabe des Landes, für vorläufige Unterbringung und Sozialbetreuung von Ge‐ flüchteten während und nach dem Asylverfahren wiederum zeichnet sich der Landkreis verantwortlich, während Anschlussunterbringung und Wohnraum‐ betreuung in der Anschlussunterbringung in den Tätigkeitsbereich der Stadt fällt). Sie beklagen, dass sie so viel Zeit mit Formularen und Ämtergängen ver‐ bringen müssen, weil Behörden in Bezug auf Information und Kommunikation nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der geflüchteten Menschen eingestellt seien. Sie weisen darauf hin, dass die professionellen Hilfestrukturen nicht aus‐ reichend ausgestattet und ausgebildet sind, um ihrem Auftrag angemessen ge‐ recht werden zu können. Sie erfahren, dass es quasi eine Wissenschaft für sich ist, sich im Dschungel der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Regelungen und der daraus sich ableiteten Rechte im Hinblick auf Teilhabe- und Selbstbestimmungs‐ möglichkeiten zurechtzufinden. Sie kritisieren, dass Zugänge in offizielle Sprachkurse, in berufsbezogene Qualifizierungen, in Arbeitsgelegenheiten und Ausbildung zu kompliziert und oft durch bürokratische Barrieren verstellt sind. Sie ergreifen Partei für geflüchtete Menschen, die oft viele Monate, gar Jahre auf ihr Verfahren oder den Familiennachzug warten müssen und begleiten diese in der Zeit des Verfahrens, achten darauf, dass Fristen nicht versäumt und alle Papiere bei Antragstellung beisammen sind. Sie sind traurig und wütend, wenn Menschen und ganze Familien, die sie begleitet haben und die ihnen lieb ge‐ worden sind, nach Abschluss des Verfahrens in eine andere Gemeinde verwiesen oder gar abgeschoben werden. Sie werden auch zunehmend müde und mürbe, weil sie sich und ihre Hilfsbereitschaft von Politik und Behörden ausgenutzt und ihre Anliegen nicht genügend wahrgenommen fühlen. So gibt es vom Ehrenamt also durchaus berechtigte Kritik an den hauptamt‐ lichen, professionellen Strukturen. Aber auch die Profis in der Flüchtlingssozi‐ 180 Luzia Köberlein alarbeit und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden erfahren die ehrenamtliche Hilfe manchmal als ambivalent. Sie sehen die vielen Engagierten, die für die Ankommenden ganz wichtige Unterstützung leisten, die sich in viel‐ fältigster Weise fortgebildet haben und über großen Sachverstand und Fach‐ kenntnisse verfügen, die sich sowohl mit der Situation in der Herkunftsländern der Geflüchteten, als auch mit ihrer Rolle als Helfende kritisch auseinanderge‐ setzt haben, die up to date sind im Hinblick auf Aufenthaltsrecht und Asylver‐ fahren und daran geknüpfte Regelungen und Verordnungen beim Zugang zu Sprachkursen, Ausbildung und Arbeit, die ihre Beziehungen und Netzwerke nutzen, um bei der Wohnungs- oder Ausbildungssuche zu helfen, die als Nach‐ barn aushelfen, die ehrenamtlich dolmetschen, die flexibel und unaufwändig helfen, wenn Hilfe gebraucht wird. Als schwierig empfunden wird hingegen, wenn manche der freiwillig Enga‐ gierten den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber äu‐ ßerst fordernd auftreten, die sehr parteilich für „ihren Flüchtling“ bzw. „ihre Flüchtlingsfamilie“ eintreten, die sofort und ausführlich Information und Bera‐ tung einfordern und Leistungen einfordern, die - vor dem Hintergrund der strukturell gegebenen Möglichkeiten - schlichtweg nicht einlösbar sind, die die Lücken im Förder- und Unterstützungssystem den Mitarbeiter_innen als man‐ gelhaftes Engagement oder fehlenden Sachverstand auslegen. Als schwierig werden auch Helferinnen und Helfer wahrgenommen, die sich schwer damit tun, wenn ihr gut gemeintes Kontakt- oder Nachhilfeangebot nicht ange‐ nommen wird oder die mit regelrecht missionarischem Eifer unterwegs sind. Engagierte also, die ihre eigenen Grenzen und die Grenzen der anderen nicht kennen, die sich selbst und damit auch diejenigen, denen sie helfen wollen, überfordern. Aber nicht nur zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, sondern auch unter den Unterstützerinnen selbst gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen davon, was Hilfe für und Solidarität mit geflüchteten Menschen ganz konkret bedeuten und darüber, wie aus dem Fürein Miteinander werden kann. Ja, und die Geflüchteten selbst? Wo ist ihre Stimme? Wie erleben sie ihre Situation in Tübingen? Welche Erwartungen haben sie? Auch ihre Stimme setzt sich aus vielen Stimmen zusammen, die nicht immer im harmonischen Gleich‐ klang schwingen. Ich muss zugeben, ich erfuhr anno 2017 eher aus der sozial‐ arbeiterischen und ehrenamtlichen Praxis als aus dem direkten Gespräch mit Geflüchteten selbst, was die drängendsten Probleme der geflüchteten Menschen vor Ort waren: lange Wartezeiten im Asylverfahren; Ungewissheit in Bezug auf Familiennachzug; Unsicherheit ob der eigenen Zukunft und der Zukunft der Kinder; provisorische Unterkünfte; fehlende Privatsphäre; Orientierungslosig‐ 181 Integration und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Tübingen keit; Kommunikationsschwierigkeiten, auch aufgrund mangelnder Deutsch‐ kenntnisse; Schwierigkeit eine Arbeit zu bekommen und Geld zu verdienen; gesundheitliche Probleme und Probleme beim Zugang ins Gesundheitswesen; Ohnmachtsgefühle; Heimweh … Wie wir als Stadt geflüchtete Menschen mehr beteiligen und in einen Dialog um ein gutes Miteinanderleben in der Stadt einbeziehen können, daran arbeiten wir weiterhin. Akzeptanz von Vielfalt Wie gesagt, es ist viel passiert im Jahr 2016, auch was die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber geflüchteten Menschen angeht. War die Stimmung bis zur Mitte des Jahres von einer Welle der Willkommenskultur für Flüchtlinge getragen, so sind inzwischen auch andere Stimmen und Stimmungen ver‐ nehmbar. Es gibt Stimmen in Politik und Gesellschaft, die die Verantwortung der rei‐ chen Länder im Hinblick auf die Ursachen der weltweiten Fluchtbewegungen zum Thema machen und das moralische Recht der Geflüchteten nach Europa zu kommen unterstreichen. Stimmen, die die Aufnahme von geflüchteten Men‐ schen nicht nur als humanitäre Verpflichtung, sondern als Chance und Berei‐ cherung für die hiesige Gesellschaft sehen (Stichworte: demographischer Wandel und Fachkräftebedarf). Diejenigen, die eine Kultur der Vielfalt bzw. ein Miteinanderleben in Vielfalt mitgestalten und mitbewegen wollen. Stimmen, die skeptisch sind, die Grenzen der Belastbarkeit spüren, die die hohe Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge als Überforderung oder gar als Bedrohung für den sozialen Frieden und das eigene soziale Wohlergehen und die persönliche Si‐ cherheit wahrnehmen. Landes- und europaweit nimmt auch die Zahl der Bür‐ gerinnen und Bürger zu, die sich von Vorurteilen und Rassismen leiten lassen und Angst vor Überfremdung lautstark zum Ausdruck bringen. Angestachelt und aufgeheizt werden diese diffusen Ängste von rechten Ideologien, die eine angeblich wesensmäßige kollektive Herkunft und christlich-abendländische Kulturidentität beschwören. Diese - so behaupten sie - sei durch migrantische Einflüsse bedroht, insbesondere durch den Islam oder auch durch die Zuwan‐ derung von Menschen aus armen Ländern (Stichwort: Wirtschaftsflüchtlinge). Ideologien wie diese spalten, polarisieren und sind der Nährboden für Gewalt. Täglich werden Menschen in Deutschland angepöbelt und angegriffen - sei es wegen ihrer äußeren Erscheinung, ihrer angenommenen Religion oder anderer Zuschreibungen. 2015 wurden laut offiziellen Angaben, so Amnesty Internati‐ 182 Luzia Köberlein onal, Flüchtlingsunterkünfte 1031 Mal zum Ziel von Straftaten - fünfmal so oft wie im Jahr zuvor. Wir leben in einer Welt, in einer Gesellschaft, in einer Stadt, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein respektvolles, an der Würde des einzelnen Menschen und den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen. Und damit komme ich auf meine Eingangsfrage zurück: Wieviel Vielfalt darf ’s denn sein? Wie offen ist unsere Gesellschaft / unsere Stadt für Vielfalt? Wie hoch halten wir den Wert der Freiheit in unserer Gesellschaft? Ich meine damit nicht die Freiheit des „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, sondern die Freiheit zur Differenz? Wie sehr tritt die Mehrheitsgesellschaft für die Frei‐ heit von Minderheiten und für die Freiheit und Vielfalt im Denken, im Glauben, im Aussehen, im Lieben und Leben ein? 183 Integration und Teilhabe von geflüchteten Menschen in Tübingen Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg - Integration im Spannungsfeld zwischen Anerkennung, Qualifikation und Arbeitsmarkt Stefan Schustereder Einleitung Der Umgang mit Heterogenität, ganz unerheblich ob kulturell, sprachlich, eth‐ nisch, durch Bildung oder durch soziale Herkunft oder durch eine ganze Reihe weiterer Faktoren geprägt, ist ein zentraler Bestandteil der alltäglichen Arbeit aller Beteiligten im Bereich Bildung. Der Umgang mit heterogenen Lerngruppen erstreckt sich vom Kindergarten bis hin zur Universität, vom Lernen mit Klein‐ kindern bis zu Erwachsenen und Senioren. Dazu gehört seit Jahrzehnten auch die Arbeit mit Lernenden unterschiedlicher Herkunft in den verschiedensten Bildungskontexten. In den Jahren 2014 und 2015 kam es zu einem starken An‐ stieg der Zahl von Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und wirt‐ schaftlicher Perspektivlosigkeit nach Deutschland kamen. Diese unerwartet hohe Anzahl von Geflüchteten in Deutschland machte eine Überprüfung von Zielen, Strukturen und den Möglichkeiten in der Arbeit mit diesen Menschen und in ihrer Integration sowohl im Ganzen als auch innerhalb der Bildungssys‐ teme notwendig. Kindergärten, Schulen und Universitäten entwickelten in der Folge Konzepte zur Ausbildung und Integration der Geflüchteten, welche zum Ziel hatten, neben den vorrangig sprachlichen Barrieren auch kulturelle und religiöse Unterschiede zu überbrücken und einer großen, von starker Hetero‐ genität geprägten Gruppe von Menschen schnell und nachhaltig den Weg in die sprachliche und kulturelle Integration in Deutschland zu ermöglichen. Dabei standen insbesondere die Integration von Kindern in das deutsche Bildungs‐ system sowie die Integration von Erwachsenen in die Arbeitswelt im Mittel‐ punkt des politischen und gesellschaftlichen Interesses. Die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen verläuft entlang der Schul‐ pflicht. Kinder und Jugendliche, die nach deutscher Rechtsprechung der Schul‐ pflicht unterliegen, werden in Regelschulen, also Schulen des Ersten Bildungs‐ weges wie Real- oder Gesamtschulen sowie Gymnasien, aufgenommen und dort integriert. Erwachsenen stehen verschiedene Integrationsmöglichkeiten, nicht zuletzt die in den vergangenen Monaten immer wieder in die Kritik geratenen Integrationskurse zur sprachlichen und kulturellen Integration sowie zur Vor‐ bereitung einer Integration in den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Diese rechtlich vorgegebene, scharfe Trennlinie zwischen diesen beiden Gruppen hingegen führte dazu, dass eine bestimmte Altersgruppe der Geflüch‐ teten, nämlich diejenigen, die in Deutschland nicht mehr der Schulpflicht un‐ terliegen, jedoch in ihrer Heimat noch keinerlei berufliche Ausbildung oder Er‐ fahrung sammeln konnten, also Jugendliche und Erwachsene im Alter zwischen etwa 17 und 21 Jahren, nur bedingt in den Fokus der Integrationsbemühungen und ihrer unterschiedlichen Konzepte gelangte. Hier ergaben sich seit 2015 Möglichkeiten und Herausforderungen insbesondere für Schulen des Zweiten Bildungsweges, zu denen auch das Theodor-Schwann-Kolleg der Stadt Neuss zählt. Der Zweite Bildungsweg und das Weiterbildungskolleg in NRW Der Zweite Bildungsweg umfasst Schulen und Ausbildungsgänge, welche es Menschen ermöglichen, auch nach dem Ende der Schulpflicht noch Schulab‐ schlüsse zu erreichen. Das Angebot richtet sich insbesondere an Erwachsene, welche bereits über Berufserfahrung verfügen. Allerdings finden sich im Zweiten Bildungsweg auch vermehrt junge Erwachsene und Jugendlich ab 17 Jahren, welche im Ersten Bildungsweg keinen Schulabschluss erworben haben oder welche sich aufgrund von Arbeitslosigkeit dazu entschließen, einen wei‐ teren, höheren Schulabschluss anzustreben. Die Aufnahmevoraussetzungen für den Besuch einer Schule des Zweiten Bildungsweges variieren nach Bundes‐ ländern, in Nordrhein-Westfalen umfassen sie die Volljährigkeit der Studie‐ renden, in Ausnahmefällen können auch Bewerber im Alter von 17 Jahren auf‐ genommen werden. Außerdem müssen Bewerber eine Berufs- und Arbeitserfahrung nachweisen, je nach Schulform muss diese insgesamt sechs Monate bis zwei Jahre umfassen. Im Zweiten Bildungsweg finden sich Abendhauptschulen, Abendrealschulen und Abendgymnasien sowohl in privater, beispielsweise unter Leitung der Kir‐ chen, als auch in staatlicher Trägerschaft. In Nordrhein-Westfalen sind die Schulen des Zweiten Bildungsweges, insbesondere wenn mehrere Schulformen zusammengefasst in einer Schule angeboten werden, auch als Weiterbildungs‐ kollegs bekannt. Die Schulabschlüsse der Ausbildungsgänge im Zweiten Bil‐ dungsweg sind denen des Ersten Bildungsweges gleichwertig, Abschlussprü‐ 186 Stefan Schustereder fungen werden, soweit im jeweiligen Bundesland üblich, auch hier als zentrale Prüfungen abgelegt. Der Ausbildungsgang zur Abendrealschule dauert, je nach bereits vorhan‐ denem Abschluss, etwa vier Ausbildungssemester. Davor ist es den Weiterbil‐ dungskollegs überlassen, einen Vorkurs anzubieten, welcher den Einstieg in den Ausbildungsgang vorbereitet, Grundlagen vermittelt und auffrischt sowie mit Arbeitsweisen und Alltag der Ausbildung vertraut macht. Am Ende der Ausbil‐ dungszeit in der Abendrealschule absolvieren die Studierenden, wie die Schü‐ lerinnen und Schüler am Weiterbildungskolleg bezeichnet werden, die Zent‐ ralen Abschlussprüfungen zum Mittleren Schulabschluss. Abhängig von Ergebnis, Motivation und der im Vorfeld gesammelten Berufserfahrung können Studierende dann in den Ausbildungsgang Abendgymnasium aufgenommen werden, dieser dauert, ebenfalls je nach bereits vorhandenem Abschluss, in der Regel sechs Semester, bereits nach vier Semestern können die Studierenden einen Abschluss zur Fachhochschulreife erlangen. Entscheiden sich die Studie‐ renden nach dem vierten Semester zum Verbleib in der Schule, können sie nach weiteren zwei Semester am zentralen Prüfungstermin der Abiturprüfungen teil‐ nehmen. Eine Besonderheit des Zweiten Bildungsweges in Nordrhein-Westfalen ist, anders als an Schulen des Ersten Bildungsweges, die Organisation der Ausbil‐ dung in Semestern und nicht in Schuljahren. Zwar folgen die Schulen den Zweiten Bildungsweg den Unterrichtsterminen des Bundeslandes, jedoch bein‐ haltet das Schuljahr hier zwei Unterrichtssemester, das Wintersemester beginnt im Anschluss an die Sommerferien, das Sommersemester mit dem Beginn des zweiten Schulhalbjahres im Februar. Diese zeitliche Besonderheit begründet sich in den Prüfungen, welche im Zweiten Bildungsweg nicht nur, wie im Ersten Bildungsweg üblich, zum Frühjahrstermin, sondern auch zu einem Winter‐ termin absolviert werden können. Dies bedeutet, dass die Studierenden sowohl zu den regulären Prüfungsterminen für den Mittleren Schulabschluss und das Abitur im Frühjahr des Jahres sondern außerdem auch zu den für die Schulen des Zweiten Bildungsweges zusätzlich angebotenen Herbstterminen absol‐ vieren können. Entsprechend ist der Einstieg in die Ausbildungsgänge am Wei‐ terbildungskolleg nicht nur zum Ende der Sommerferien, also zum Winterse‐ mester, sondern auch zum Semesterwechsel im Februar möglich, so dass die Studierenden ihre Ausbildung am Weiterbildungskolleg nicht nur an einem sondern an zwei Termin pro Jahr beginnen und folglich auch abschließen können. 187 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg Die Ausbildung am Theodor-Schwann-Kolleg in Neuss Das Theodor-Schwann-Kolleg ist eine Schule des Zweiten Bildungsweges der Stadt Neuss in Nordrhein-Westfalen, westlich der Landeshauptstadt Düsseldorf und nördlich von Köln. Die Studierenden besuchen die Schule in drei verschie‐ denen Ausbildungsgängen, dazu gehören die Abendrealschule, das Abendgym‐ nasium sowie der Ausbildungsgang Abitur Online, welcher in Nordrhein-West‐ falen ebenfalls durch die Weiterbildungskollegs betreut und angeboten wird. Studierende absolvieren ihre Ausbildung in einer blended-learning Umgebung, sie verbringen die Hälfte der Unterrichtszeit in der Schule, die andere Hälfte der Zeit arbeiten sie mit Hilfe einer Lernplattform und unter Betreuung ihrer Lehrer selbstorganisiert in ihrer Freizeit von zuhause aus. Im Ausbildungsgang Abend‐ realschule bot die Schule bis 2015 den Einstieg in das zweite Studiensemester an, dies bedeutet, dass lediglich Studierende mit einem qualifizierenden Haupt‐ schulabschluss in die Schule aufgenommen werden konnten. Es wurde kein erstes Abendrealschulsemester angeboten, auch einen Vorbereitungskurs für zukünftige Studierende der Abendrealschule gab es bis 2015 nicht. Anders als die Bezeichnungen der Ausbildungsgänge Abendrealschule und Abendgymnasium vermuten lassen, bietet das Weiterbildungskolleg verschie‐ dene Zeitschienen an, zu welchen der Unterricht besucht werden kann. Am Theodor-Schwann-Kolleg findet der Unterricht sowohl in der Abendrealschule als auch im Abendgymnasium in Klassen vormittags und abends statt. Die Kernunterrichtszeit am Vormittag liegt zwischen 8: 30 Uhr sowie 13: 30 Uhr, die Kernzeit des Abendunterrichts liegt zwischen 17: 30 Uhr und 22: 00 Uhr, Unter‐ richtsstunden dauern in der Regel 90 Minuten. Unterricht am Nachmittag, wie er vereinzelt an anderen Weiterbildungskollegs angeboten wird, bietet das The‐ odor-Schwann-Kolleg in Neuss im Moment nicht an. Aktuell besuchen etwas mehr als 500 Studierende die Schule, diese verteilen sich auf die Klassen des Vormittags- und Abendunterrichts. Wie bei Schulen des Zweiten Bildungsweges üblich, sind die Lerngruppen am The‐ odor-Schwann-Kolleg in Neuss stark heterogen. Die Altersstruktur umfasst Stu‐ dierende zwischen 17 und über 40 Jahren, Studierende aus mehr als über einem Dutzend verschiedener Länder besuchen die Schule. Insgesamt liegt der Anteil an Studierenden, die aus Haushalten mit Migrationshintergrund kommen, bei fast 70 Prozent. Das Schulleben am Theodor-Schwann-Kolleg ist dementsprechend von großer kultureller, sprachlicher und internationaler Vielfalt geprägt, eine Ei‐ genschaft welche die Schule für die Aufnahme und Ausbildung geflüchteter junger Erwachsener besonders geeignet macht. 188 Stefan Schustereder Geflüchtete am WBK Neuss - Voraussetzungen und Einrichtung einer Integrationsklasse Im Kontext der angestiegenen Fluchtbewegung im Jahr 2015 erreichten insge‐ samt etwa 1300 neue Schülerinnen und Schüler unter den geflüchteten Familien den Rhein-Kreis-Neuss. Die Schülerinnen und Schüler wurden nach ihrer Auf‐ nahme durch die Kommunalen Integrationszentren (KI) registriert, bezüglich ihrer weiteren Schullaufbahn beraten und auf 28 Schulen im Kreis verteilt. Die Zahl neuer Schülerinnen und Schüler aus der Gruppe der Geflüchteten in Neuss hat sich in der Zwischenzeit auf etwa 80 pro Monat reduziert, nach wie vor werden diese vom KI registriert, beraten und auf die Schulen verteilt. Im Zuge dieser wachsenden Schülerzahlen wurden etwa 1200 Stellen für DaF/ DaZ Lehr‐ kräfte durch die Bezirksregierung Düsseldorf geschaffen (KI Neuss, Februar 2017). Da sich unter den Geflüchteten auch viele junge Erwachsene mit umfangrei‐ chem Bildungsbedarf befanden, wurden bereits 2015 an verschiedenen Weiterbil‐ dungskollegs des Landes Nordrhein-Westfalen Kurse und Klassen zur Aufnahme junger Erwachsener unter den Geflüchteten eingerichtet. In der zweiten Hälfte des Jahres wurde dieser steigende Bedarf auch an das Theodor-Schwann-Kolleg kommuniziert und die Erarbeitung eines Ausbildungskonzeptes für diese Studie‐ rende initiiert. Nach Besuchen der Schulleitung und der Koordination der zu‐ künftigen Integrationsklassen des Theodor-Schwann-Kollegs in Kursen mit ge‐ flüchteten Studierenden an Weiterbildungskollegs in Mönchengladbach und Essen wurde der erste Kurs im April 2015, also mitten im Sommersemester ein‐ gerichtet. Die Entscheidung, eine Integrationsklasse spontan einzurichten, war der hohen Zahl an jungen Erwachsenen geschuldet, welche bereits seit mehreren Monaten auf einen Schulplatz warteten und ohne Beschäftigung in ihren Unter‐ künften lebten, denen aber aufgrund ihres Alters und der bereits erfüllten Schul‐ pflicht eine Ausbildung an den Schulen des Ersten Bildungsweges verwehrt wurde. Im Laufe der konzeptionellen Erarbeitung von Bedarf und Inhalt der ge‐ planten Integrationsklasse in den ersten Monaten des Jahres 2016 zeigte sich, dass tatsächlich eine große Zahl junger Erwachsener Geflüchteter im Rhein-Kreis Neuss untergebracht worden war, dieses warteten teilweise bereits seit mehreren Monaten darauf, ihre in ihren Heimatländern begonnene und dann aufgrund der Konflikte in Syrien, dem Irak oder Afghanistan abgebrochene schulische Ausbil‐ dung fortzusetzen. Um eine Integration dieser Menschen sowie ihre Ausbildung mit dem Ziel eines in Deutschland qualifizierenden Schulabschlusses schnellst‐ möglich fortzusetzen entschied die Schulleitung im Frühjahr 2016 daher kurz‐ fristig, eine Integrationsklasse während des Sommersemesters einzurichten. 189 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg Der Vorschlag der Schulleitung stieß auf die breite Unterstützung des Kolle‐ giums am Theodor-Schwann-Kolleg, es fanden sich sofort Kolleginnen und Kol‐ legen mit Erfahrungen im Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache welche anboten, den Unterricht in der Klasse zusätzlich zu ihrer bereits vorhandenen Unterrichtsverantwortung zu übernehmen. Da die seitdem gestellten Anträge auf personelle Unterstützung in der Arbeit und im Unterricht der Integrations‐ klasse allesamt von Seiten der Bezirksregierung Düsseldorf abgelehnt wurden, wird der Unterricht in den Integrationsklassen bis heute von den im regulären Schulbetrieb eingesetzten Lehrerinnen und Lehrern der Schule geleistet, die Be‐ fürwortung und aktive Unterstützung des Konzepts durch das Kollegium ist seit der Einrichtung der Klasse im Frühjahr 2016 ausnahmslos positiv. Diesen Entwicklungen folgend begannen im April 2016 insgesamt 25 neue Studierende, die hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak stammten, ihre Ausbildung am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss. Die Studierenden wurden in Kooperation mit dem Kommunalen Integrationszentrum in Neuss, der Flücht‐ lingshilfe in Kaarst sowie weiteren Partnern in Bereich der Flüchtlingshilfe in die neu eingerichtete Klasse aufgenommen, mit Arbeitsmaterialien ausgestattet und in einem neu eingerichteten Vorkurs in den Fächern Deutsch, Mathematik und später auch Englisch unterrichtet. Die Integrationsklassen am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss seit dem April 2016 Die rechtlichen Vorgaben und Bedingungen der Ausbildung an den Weiterbil‐ dungskollegs führten in der konzeptionellen Vorbereitungsphase der Integrati‐ onsklasse zur Frage, wie die Ausbildung und Integration der neuen Studierenden mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Abendrealschule verbunden werden können. Ziel des Konzeptes war es, die Studierenden auf den erfolgrei‐ chen Einstieg in den Ausbildungsgang Abendrealschule vorzubereiten, da sie zum Teil noch nicht über Schulabschlüsse verfügten, zum Teil jedoch auch die von der Bezirksregierung geforderten Zeugnisse und Dokumente ihrer Ausbil‐ dung in ihren Heimatländern nicht auf ihre Flucht vor Krieg und Verfolgung mitgenommen hatten und damit eine Anerkennung ihrer früheren Abschlüsse schwierig oder gar unmöglich war. Gleichzeitig gibt die Ausbildungsordnung der Abendrealschulen eine Höchst‐ verweildauer von maximal sechs Semestern, also drei Jahren vor (APO WBK, §. 4.2). Da eine sprachliche und inhaltliche Vorbereitung der Geflüchteten, welche allesamt kein Deutsch konnten, sowie eine inhaltliche Vorbereitung auf die zentrale Abschlussprüfung des Mittleren Schulabschlusses innerhalb dieser 190 Stefan Schustereder Zeit nicht möglich erschien, entschied sich die Schulleitung und die Koordina‐ tion der Integrationsklasse für die Einrichtung eines Vorkurses zur Vorbereitung der neuen Studierenden. Hier verlängert sich die Höchstverweildauer um wei‐ tere Semester, welche nicht zur Ausbildungszeit der Abendrealschule hinzuge‐ rechnet werden, jedoch genügend Zeit zur sprachlichen und inhaltlichen Vor‐ bereitung der Studierenden für den Einstieg in den Abendrealschule boten (APO WBK, §. 4.4 sowie §. 5.1). Ziel war es, die Studierenden der Integrationsklasse im Rahmen eines Vorkurses innerhalb von zwei Semestern auf den Deutschtest für Zuwanderer (DFZ) im Sprachniveau B1 vorzubereiten. Dieser Test entspricht den Vorgaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und folgt dem Rahmencurriculum für Integrationskurse, welche durch das Goethe-Institut entwickelt wurden. Das erfolgreiche Bestehen des Testes ist dabei zum einen Teil der vorgeschriebenen Integrationsbemühungen der Geflüchteten, zum an‐ deren auch eine wichtige Voraussetzung für die weitere erfolgreiche Ausbildung hin zu einem qualifizierenden Schulabschluss. Die im April 2016 aufgenommen Studierenden begannen so ihre Ausbildung am Theodor-Schwann-Kolleg und wurden, nach Bestehen eines schulinternen Sprachtests im Fach Deutsch im Niveau A1/ A2, nach den Sommerferien zum Wintersemester 2016/ 2017 fast alle in ein zweites Semester versetzt. Studie‐ rende, welche die Prüfung nicht bestanden hatten, konnten das Semester in einem zu diesem Zeitpunkt neu eingerichteten Vorkurs wiederholen, um die Versetzung in das Folgesemester des Vorkurses in einem zweiten Anlauf zu er‐ reichen. Aufgrund der andauernden Nachfrage konnten nach den Sommerferien 2016 wieder 25 Studierenden in diesen neuen Anfängerkurs aufgenommen werden, welcher ebenfalls von den Lehrerinnen und Lehrern des The‐ odor-Schwann-Kollegs zusätzlich zu ihren Unterrichtsverpflichtungen in den beiden Ausbildungsgängen Abendrealschule und Abendgymnasium betreut wurde. Die Studierenden wurden zum Teil vom Kommunalen Intergrations‐ zentrum in Neuss, zum Teil auch von privaten Flüchtlingshelfern und anderen Organisationen der Flüchtlingshilfe an die Schule verwiesen, dies führte zu einer weiterhin kontinuierlichen Auslastung der vorhandenen Kapazitäten in der Aufnahme und Betreuung Geflüchteter am Theodor-Schwann-Kolleg, bis heute befinden sich zu jeder Zeit zwischen 10 und 25 Interessenten auf einer Warteliste um ihre Ausbildung am Kolleg beginnen zu können. Neben den engen und exzellenten Kooperationen der Schule mit dem Kom‐ munalen Integrationszentren, der Flüchtlingshilfe, aber auch dem Jugendmi‐ grationsdienst und einer ganzen Reihe privater Initiativen zur Betreuung und Unterstützungen Geflüchteter im Rhein-Kreis Neuss wurde im Herbst 2016 außerdem eine Kooperation zwischen dem Theodor-Schwann-Kolleg und der 191 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg Volkshochschule Neuss vereinbart, welche es den Studierenden in den Vor‐ kursen ermöglicht, am DFZ-Test teilzunehmen, welcher durch die Volkshoch‐ schule für die Teilnehmer der dortigen Integrationskurse angeboten wird. Integrationskurse am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss im Jahr 2017 Diese neue Kooperation führte dazu, dass der erste, im April 2016 aufgenom‐ mene Vorkurs im Frühsommer 2017 am DFZ-Test der VHS Neuss teilnehmen konnte. In der Zwischenzeit hatte der Kurs einige Studierende verloren, insge‐ samt wurden vier der im April 2016 aufgenommen Studierenden innerhalb der zwei Semester abgeschoben, zwei weitere mussten die Ausbildung abbrechen um an durch die Ausländerbehörde zugewiesenen Integrationskursen teilzunehmen und zwei weitere hatten die Schule aus unbekannten Gründen verlassen. Gleich‐ zeitig konnten die so freigewordenen Plätze im Verlauf des Semesters immer wieder neu vergeben werden, so dass die Gruppengröße von Einrichtung des Kurses bis zum DFZ-Test insgesamt stabil gehalten werden konnte. Von den im Sommersemester 2017 insgesamt 25 eingeschriebenen Studierenden haben 22 den DFZ-Test erfolgreich bestanden und konnten so nach den Sommerferien 2017 in das erste Semester des Ausbildungsgangs Abendrealschule übernommen werden, Ziel ist die Teilnahme und das Bestehen der zentralen Abschlussprüfung für den Mittleren Schulabschluss im Sommersemester 2019, also etwa drei Jahre nach ihrem Schulbeginn am Theodor-Schwann-Kolleg in Neuss. Neben diesem ersten Semester konnte auch der im Wintersemester 2016/ 2017 eingerichtete Vorkurs erfolgreich weitergeführt werden. Die insgesamt 22 Stu‐ dierenden dieser Klasse schließen gerade die Ausbildung im Sprachniveau A2 ab und werden Ende des Jahres 2017, abhängig von der Terminierung des DFZ-Tests an der Volkshochschule Neuss, ihre B1 Prüfung antreten und im An‐ schluss ihre Ausbildung im Ausbildungsgang Abendrealschule fortsetzen. Schließlich ist es der Schulleitung und der Koordination der Integrations‐ klassen auch im Sommersemester 2017 gelungen, einen weiteren Vorkurs mit insgesamt 26 jungen Erwachsenen einzurichten, welche auf der Flucht vor Kon‐ flikten und Krieg in ihren Heimatländern in Neuss angekommen sind. Die Nachfrage nach der Ausbildung in den Integrationsklassen am The‐ odor-Schwann-Kolleg ist daher auch ein Jahr nach der Einrichtung des ersten Kurses nach wie vor stabil, es ist noch immer nicht möglich, alle der sich auf den Wartelisten befindenden Studierenden aufzunehmen und die Integrations‐ klassen der Schule erfahren noch immer großes Interesse durch die Studie‐ renden sowie durch unsere engen Kooperationspartner wie dem Kommunalen Integrationszentrum, der Flüchtlingshilfe in Kaarst oder auch dem Jungendmi‐ 192 Stefan Schustereder grationsdienst im Rhein-Kreis Neuss. Aktuell sind daher mittlerweile fast 100 Studierende in den Vorkursen bzw. für das erste Semester im Ausbildungsgang Abendrealschule eingeschrieben bzw. angemeldet (Stand Juni 2017). Heterogenität und Multikulturalität - die Integrationsklassen am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss Die eingangs beschriebene typische Heterogenität von Lerngruppen im Zweiten Bildungsweg spiegelt sich erwartungsgemäß auch in den Lerngruppen der In‐ tegrationsklassen wider. Aktuell finden sich hier fast 100 Studierende im Alter von 17 bis etwa 40 Jahren, die Zusammensetzung entspricht also insgesamt der einer Regelklasse des Zweiten Bildungsweges. In Hinblick auf das Geschlecht der Studierenden ist festzustellen, dass die Mehrheit der Studierenden in den Integrationsklassen, etwa 70 %, männlich ist. Dies ist mit den Bedingungen der Fluchtbiographien der Studierenden zu erklären, das Geschlechterverhältnis spiegelt in etwa das Verhältnis in Gruppen Geflüchteter im Rhein-Kreis Neuss insgesamt wider (Integrationsprofil Rhein-Kreis Neuss, 4). Die Bildungsbiographien der Studierenden in den Integrationsklassen sind ebenfalls von einer starken Heterogenität geprägt. In den Vorkursen finden sich Studierende, welche in der Vergangenheit nur ein bis zwei Jahre Schulbildung durchlaufen haben, andererseits gibt es auch eine Reihe von Studierenden, bei‐ spielsweise aus Aleppo, welche bereits mehrere Semester Studienfächer wie beispielsweise Wirtschaftswissenschaften an einer Universität studiert haben. Insbesondere in diesen Fällen bleibt die Frage einer Anerkennung früherer Ab‐ schlüsse oder schulischer Leistungen oft noch offen. Einerseits war es vielen der Studierenden aufgrund der Fluchtumstände nicht möglich, Zeugnisse von Schulen und Universitäten oder sogar Zeugnisse und Dokumentationen früher Arbeitgeber mit nach Deutschland zu bringen, in anderen Fällen, wenn diese Dokumente vorhanden sind, müssen sie erst durch aufwändige und kostenin‐ tensive Verfahren durch vereidigte Übersetzer in die deutsche Sprache übersetzt und durch die Behörden anerkannt werden. In den vergangenen Monaten zeigte sich hier, dass Schulabschlüsse aus den Ursprungsstaaten häufig geringer ein‐ gestuft werden als Schulabschlüsse in Deutschland, weshalb die Mehrheit der Studierenden in den Vorkursen nicht über ein Äquivalent zum Mittleren Schul‐ abschluss in Deutschland verfügt und diesen deshalb nachholen möchten. Neben der bei nahezu allen Studierenden zu beobachtenden großen Motiva‐ tion, schnellstmöglich einen berufs- oder studienqualifizierenden Schulab‐ schluss nachzuholen, fällt auch eine umfangreiche Unterstützung durch oft eh‐ renamtlich tätigen Betreuer und Helfer auf. Diese begleiten die Studierenden 193 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg nicht nur zur Anmeldung in der Schule und organisieren zu Beginn Dolmetscher für das Anmeldeverfahren, sondern halten auch regelmäßig Kontakt zu den mit dem Unterricht und der Semesterleitung betrauten Kolleginnen und Kollegen, um diese über aktuelle Entwicklungen, beispielsweise bei den Anerkennungs‐ verfahren oder bei der Suche nach einer Unterkunft, Praktika oder der Aner‐ kennung von Zeugnissen aus den Heimatländern zu informieren. Gleichzeitig erhalten viele der Studierenden hierbei zusätzlichen Nachhilfeunterricht in Deutsch als Fremdsprache um sie in ihrem Lernfortschritt zu unterstützen und so schnell wie möglich auf die anstehende Prüfung vorzubereiten. Eine deutliche Belastung in den Bemühungen aller am Lernfortschritt dieser Studierenden beteiligten sind die laufenden Anerkennungsverfahren durch die Ausländerbehörden. Diese äußert sich meist in drei verschiedenen Aspekten, der Häufung von Terminen bei den zuständigen Behörden, durch die die Stu‐ dierenden oft Unterricht verpassen, sowie durch die Zuweisung der häufig schon fortgeschrittenen Studierenden zu Integrationskursen und, schließlich, die Abschiebung von Studierenden, deren Anträge abgelehnt werden. Die Studierenden der Integrationsklassen sind verpflichtet, im Verlauf ihres Anerkennungsverfahrens eine ganze Reihe von Terminen und Gesprächen wahrzunehmen, die zu einem großen Teil während der Unterrichtszeit termi‐ niert werden. Dadurch fehlen sie immer wieder im Unterricht und ihr Lernfort‐ schritt wird entsprechend verlangsamt. Gleichzeitig gab es in der Vergangenheit bereits etwa ein halbes Dutzend Fälle, in denen Studierende der Vorkurse am Theodor-Schwann-Kolleg ihre Ausbildung abbrechen mussten, um an einem von der Ausländerbehörde zugewiesenen Integrationskurs teilzunehmen. Dies ist für Studierende wie Lehrer eine Belastung, zumal die Studierenden häufig bereits fortgeschritten sind und die anstehende DFZ-Prüfung schon im Auge haben und dann plötzlich in einen Integrationskurs für Anfänger zurückgestuft werden. Dort verzögern sich die Wartezeit zur Prüfung und damit auch die Wartezeit zur Fortsetzung ihrer schulischen oder beruflichen Ausbildung nicht nur, sie sind häufig auch gezwungen, bereits gelernte Inhalte nochmals zu wie‐ derholen. Insgesamt entsteht so der Eindruck, dass die Studierenden, die im Verlauf ihrer Ausbildung den Vorkurs verlassen müssen um an einem Integra‐ tionskurs teilzunehmen, in ihrer schulischen Entwicklung und ihrer Integration eher gebremst als gefördert werden und damit für die jungen Erwachsenen wertvolle Zeit verlieren. In diesem Zusammenhang werden die Kooperationen mit unseren externen Partnern, die mit dieser Problematik bereits Erfahrung haben, intensiviert und die Studierenden wie die Kolleginnen und Kollegen der Klassen erhalten hier wenn notwendig Hilfe und Beratung. Dennoch haben die durch die Ausländerbehörde zugewiesenen Integrationskurse vor der Ausbil‐ 194 Stefan Schustereder dung in den Integrationsklassen des Theodor-Schwann-Kollegs rechtlich Vor‐ rang, es bleibt zu hoffen, dass Einzelfallentscheidungen über den Verbleib in den Vorkursen in Zukunft von Lernstand und Lernfortschritt der Studierenden ab‐ hängig gemacht werden können. Der Unterricht in den Integrationsklassen am Theodor-Schwann-Kolleg Der Unterricht der Vorkurse und des ersten Semesters der Abendrealschule am Theodor-Schwann-Kolleg wird zeitgleich mit dem Regelunterricht der anderen Ausbildungsgänge der Schule durchgeführt. Im Hinblick auf Anwesenheit und Mitarbeit der Studierenden wurden die Befürchtungen von häufiger Abwesen‐ heit und häufigem Abbruch der Ausbildung bisher nicht bestätigt. Die Anwe‐ senheit im Unterricht und die Ausbildungskontinuität in den Integrations‐ klassen ist wesentlich besser als zu Beginn der Kurse erwartet und vergleichbar, vielfach sogar etwas konstanter als in den Regelausbildungsgängen wie der Abendrealschule und dem Abendgymnasium. Die Kolleginnen und Kollegen werden im Unterricht in den Vorkursen außerdem von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern unterstützt, welche re‐ gelmäßig selbst am Unterricht teilnehmen und dort Arbeitsgruppen betreuen, Übungen unterstützen und schwächeren Studierenden in Arbeitsphasen zur Seite stehen. Jede der Integrationsklassen hat mittlerweile feste ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, welche von den Studierenden sehr geschätzt werden und die Arbeit in den Vorkursen innerhalb des Unterrichts, aber auch durch die Mitarbeit bei außerunterrichtlichen Veranstaltungen maßgeblich unterstützen. Darüber hinaus stehen die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer den Studie‐ renden oft auch außerhalb des Unterrichts mit Rat und Tat zur Seite, beispiels‐ weise bei der Vorbereitung auf Tests und Klausuren, bei der Unterstützung im Verstehen von Briefen und Anschreiben der Behörden oder beim Schreiben von Lebensläufen, Briefen und Bewerbungen. Außerhalb des Unterrichts profitiert die Arbeit mit den Integrationsklassen außerdem auch von einem noch immer wachsenden Netzwerk und einer engen Kooperation mit außerschulischen Partnern. Dazu gehören neben dem Kom‐ munalen Integrationszentrum des Rhein-Kreises Neuss auch die evangelische Kirchengemeinde Kaarst, der Jugendmigrationsdienst im Rhein-Kreis Neuss sowie eine ganze Reihe weiterer teilprivater und privater Partner und Helfer. Durch diese engen Kooperationen ist die Arbeit in den Integrationsklassen am Theodor-Schwann-Kolleg mittlerweile in Neuss und darüber hinaus in der um‐ liegenden Region bekannt und erfreut sich auch über ein Jahr nach dem Beginn 195 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg noch immer großer Unterstützung und wachsendem Interesse und kann daher als in der Region erfolgreich etabliert betrachtet werden. Dies zeigt sich auch im wachsenden Interesse von Betrieben und Einrich‐ tungen in der Umgebung, welche immer öfter Bereitschaft und Interesse be‐ kunden, Studierende der Integrationsklassen für kurzsowie mittelfristige Prak‐ tika aufzunehmen und zu betreuen. Häufig verfügen die Studierenden bereits über umfangreiche, teilweise sogar mehrjährige Berufserfahrungen, wodurch solche Praktika für die Unternehmen wie auch für die Studierenden selbst viel‐ versprechende Möglichkeiten für eine persönliche wie berufliche Integration in Deutschland darstellen. Integrationsperspektiven der Geflüchteten am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss Ein Jahr nach Beginn der Integrationsklassen und nach dem kürzlich gelun‐ genen, erfolgreichen Abschluss des ersten Jahrgangs mit der DFZ-Prüfung lassen sich bereits einige Aussagen über die Integrationsperspektiven der Stu‐ dierenden der Vorkurse am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss treffen. Aus dem ersten Jahrgang werden nahezu alle Studierenden im Wintersemester 2017/ 2018 in den Regeschulbetrieb des Ausbildungsganges Abendrealschule aufge‐ nommen werden. Drei Studierende werden aktuell zur Probe aufgenommen, sie müssen die DFZ-Prüfung im Sommer wiederholen und ggf. das vergangene Se‐ mester im Vorkurs nochmals wiederholen, um die Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt bestehen zu können. Zwei Studierende aus diesem Kurs, welche hofften nach der Übersetzung und Anerkennung ihrer früheren schulischen und universitären Leistungen in ihren Heimatländern ihr Studium in Deutschland fortführen zu können, wurden in den vergangenen Monaten abgeschoben, so dass aktuell für keinen Studie‐ renden ein Direkteinstieg in ein Studium an einer deutschen Universität in Frage kommt. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass zwei bis drei Studierende, welche keine Fortsetzung ihrer schulischen Ausbildung anstreben, sondern vielmehr eine berufliche Ausbildung oder Tätigkeit wünschen, die Schule nach dem kommenden Semester bis zum Abschluss der DFZ-Prüfung verlassen werden. Diese Studierenden werden aktuell von den Kolleginnen und Kollegen der Be‐ rufsberatung am Theodor-Schwann-Kolleg betreut und eine Integration in den Arbeitsmarkt mit Partnern der Schule in Industrie und Wirtschaft vorbereitet. Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass einige Teilnehmer der Integrations‐ klassen am Theodor-Schwann-Kolleg nach dem erfolgreichen Bestehen der DFZ-Prüfung nach etwa einem Jahr an der Schule bereits die Möglichkeit einer 196 Stefan Schustereder Überleitung in den Arbeitsmarkt bietet. Aktuell streben dies Studierende in den Bereichen Kinderbetreuung, Logistik sowie Metallbau an. Für Studierende, welche nach dem Ende der Integrationsklassen einen Mitt‐ leren Schulabschluss anstreben, ergibt sich eine Ausbildungsdauer zwischen Beginn der Vorkurse bis zur Zentralen Abschlussprüfung für den Mittleren Schulabschluss von insgesamt etwa drei bis vier Jahren, abhängig von Vor‐ kenntnissen und Lernprogression. Die Studierenden, die im Wintersemester 2017/ 2018 also ihre Ausbildung im Ausbildungsgang Abendrealschule antreten werden, können, bei erfolgreichem Ausbildungsverlauf, im Frühjahr 2019 an der Abschlussprüfung für den Mittleren Schulabschluss teilnehmen und danach ihre Ausbildung am Abendgymnasium fortsetzen oder eine Berufsausbildung an‐ streben. Die Einrichtungen zur Beratung der Schullaufbahn sowie zur Berufs‐ beratung am Theodor-Schwann-Kolleg werden die Studierenden bei der Prü‐ fung und Auswahl ihrer Option dabei begleiten. Für Studierende des ersten, im April 2016 eingerichteten Jahrgangs, bietet sich dann folglich im Sommer 1919 die Möglichkeit eines Übergangs in den Ausbildungsgang Abendgymnasium, welcher nach zwei Jahren, oder vier Se‐ mestern, die Gelegenheit bietet, die Fachhochschulreife bzw. nach einem wei‐ teren Jahr die allgemeine Hochschulreife zu erreichen (APO WBK §. 4.3). Damit steht diesen Studierenden fünf Jahre nach Beginn ihrer Ausbildung am The‐ odor-Schwann-Kolleg die Möglichkeit eines Studiums an einer Fachhochschule bzw. nach sechs Jahren die Möglichkeit eines Studiums an einer Universität in Deutschland oder im Ausland offen. Natürlich sind alle diese möglichen Perspektiven vom Lernerfolg der Studie‐ renden sowie von den in den meisten Fällen noch laufenden Anerkennungs‐ verfahren abhängig. Gleichzeitig sind hier im Hinblick auf die Integration der Teilnehmer der Integrationsklassen, neben den privaten Umständen und Ent‐ wicklungen der Studierenden, noch einige weitere politische und gesellschaft‐ liche Faktoren im Hinblick auf die schulische Qualifizierung und die Integration der Studierenden in den Arbeitsmarkt von Interesse. Geflüchtete am WBK im Spannungsfeld zwischen Qualifizierung und Ausbildung Die sich durch die Ausbildung am Theodor-Schwann-Kolleg ergebenden ver‐ schiedenen Optionen zur schulischen Bildung sowie zur Integration in den Ar‐ beitsmarkt stellen die Studierenden vor wichtige Entscheidungen für ihr wei‐ teres Leben, sowohl hier in Deutschland als auch in ihren Heimatländern. Viele der Studierenden haben den Wunsch, schnell eine Stelle zu finden und ihr ei‐ 197 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg genes Einkommen zu erwirtschaften, gleichzeitig wünschen sie sich auch eine bestmögliche schulische Ausbildung um später einen gut bezahlten, sicheren Beruf ergreifen zu können. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es in Nordrhein-Westfalen ca. 47.000 Geflüchtete ohne Arbeit gibt (Bundesagentur, November 2016), dies entspricht ungefähr 6,8% aller Arbeitslosen in NRW. Zur gleichen Zeit gibt es darunter etwa 10.000 Geflüchtete im Alter zwischen 18 und 20 Jahren, welche jedoch auch nicht mehr der Schulpflicht unterliegen und daher auch nicht be‐ schult werden. Diese Studierenden sind somit im Fokus verschiedener politi‐ scher und gesellschaftlicher Akteure, dazu gehören der Arbeitsmarkt und Un‐ ternehmender Regionen, die Politik sowie die ausbildenden Schulen des Zweiten Bildungsweges wie das Theodor-Schwann-Kolleg in Neuss. Verschiedene Unternehmen im Rhein-Kreis-Neuss haben in diesem Zusam‐ menhang wiederholt ihr Interesse bekundet, Studierende der Integrations‐ klassen für Nebentätigkeiten oder Praktika in ihren Betrieben aufzunehmen. Die Studierenden haben zwar keine in Deutschland anerkannten Schulabschlüsse oder Berufsausbildungen, verfügen aber häufig über umfangreiche berufliche Erfahrungen, welche für den Arbeitsmarkt in Deutschland insbesondere im handwerklichen Bereich sowie im Niedriglohnsektor von Interesse sind. Gleich‐ zeitig sind ihre unmittelbar nach ihrem Ausbildungsbeginn am The‐ odor-Schwann-Kolleg nur grundlegenden Sprachkenntnisse in Deutsch ein Grund, weshalb sie in den Unternehmen nur einfache Tätigkeiten übernehmen können. Eine Berufsausbildung oder nachhaltige Integration in den Arbeits‐ markt erscheinen ohne zumindest fortgeschrittene Sprachkenntnisse in Deutsch nur in Ausnahmefällen möglich. Eine schnelle Integration der jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt ist auch von Seiten der Politik angestrebt. Als Folge stehen die Studierenden von Beginn ihrer Ausbildung an der Schule in einem Spannungsfeld zwischen einer grundlegenden und nachhaltigen sprach‐ lichen und später schulischen Ausbildung innerhalb des Zweiten Bildungsweges sowie einer schnellen Integration in den Arbeitsmarkt. Hierbei erscheinen ein umfangreiches Angebot an Praktika sowie eine ganze Reihe von Angeboten von einfachen Tätigkeiten und Aushilfsjobs den Studie‐ renden in den Integrationsklassen attraktiv, diese stehen jedoch häufig im Ge‐ gensatz zum Ziel einer nachhaltigen und qualifizierten Integration in den Ar‐ beitsmarkt. Diese erscheint den Studierenden in Hinblick auf ihre nur grundlegenden Sprachkenntnisse und das häufige Fehlen von qualifizierenden Schul- oder Ausbildungsabschlüssen, entweder generell oder in Deutschland anerkannt, zeitintensiver und mittelfristig langsamer. Ein schneller Berufsein‐ stieg mit der Perspektive auf ein geringes, aber schnell erreichbares Einkommen 198 Stefan Schustereder birgt für viele der Studierenden, welche zum Teil auch schon eigene Familien haben, eine große Attraktivität. Aus schulischer Sicht hingegen sprechen verschiedene Gründe für eine um‐ fangreiche sprachliche und schulische Ausbildung der Studierenden: eine nach‐ haltige Schulbildung mit einem qualifizierenden Schulabschluss beinhaltet die Perspektive auf eine nachhaltige berufliche Ausbildung über einfache Tätig‐ keiten und Aushilfstätigkeiten hinaus und erscheint auch in Hinblick auf eine mögliche Rückkehr der Studierenden in ihre Heimatländer zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll. In Deutschland verspricht eine nachhaltige schulische und berufliche Ausbildung der Studierenden eine mittel- und langfristige Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt, aber auch in ihren Heimatländern bietet eine solche Ausbildung eine wesentlich bessere Zukunftsperspektive als die Über‐ brückung der Zeit ihres Aufenthaltes in Deutschland mit einfachen Arbeiten und Aushilfstätigkeiten. Aus diesem Grund präferiert das Ausbildungskonzept des The‐ odor-Schwann-Kollegs in Neuss eine zwar länger dauernde, mittelfristig jedoch nachhaltigere und sicherere schulische Ausbildung mit dem Ziel eines qualifi‐ zierenden und in Deutschland sowie vermeintlich im Ausland anerkannten Schulabschlusses vor kurzfristigeren Lösungen wie einer Integration in den Ar‐ beitsmarkt anhand wenig qualifizierter und daher auch kaum nachhaltiger An‐ stellungen und Tätigkeiten. Diese erscheinen sowohl im Hinblick einer mittel- und langfristigen Integration in Deutschland wie auch im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr in die Heimatländer, dem dortigen Wiederaufbau und der Gründung einer Existenz und einer Familie dort kaum nachhaltig. Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Einrichtung der Integrations‐ kurse innerhalb des Zweiten Bildungsweges insgesamt und am The‐ odor-Schwann-Kolleg im Besonderen kurzfristig und den äußeren Umständen der Migration einer großen Zahl von Geflüchteten nach Deutschland im Jahr 2015 geschuldet war. Der Aufbau und die Konzeptentwicklung eines Curricu‐ lums der Integrationsklassen am Theodor-Schwann-Kolleg in Neuss erfolgte daher schrittweise und in enger Kooperation mit den städtischen und regionalen Partnern, allen voran dem Kommunalen Integrationszentrum und verschie‐ denen Akteuren der Flüchtlingshilfe, um den immanenten Bedürfnissen und Herausforderungen durch das Unterrichten und die Betreuung der neuen Stu‐ dierenden an der Schule gerecht zu werden. Dabei ist es gelungen, einen ersten Kurs von der Aufnahme zum erfolgreichen Abschluss der DFZ-Prüfung zu be‐ 199 Geflüchtete im Zweiten Bildungsweg gleiten und die Studierenden auf den Einstieg in den regulären Ausbildungsgang an der Abendrealschule vorzubereiten. Gleichzeitig konnten in jedem Semester aus eigenen Mitteln weitere Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse für Ge‐ flüchtete als Vorkurs eingerichtet werden, im Wintersemester wird für die Stu‐ dierenden außerdem ein erstes Semester im Ausbildungsgang Abendrealschule eingerichtet. Insgesamt sind so aktuell etwa 100 Studierende an der Schule un‐ tergekommen, welche in den beiden vergangenen Jahren als Geflüchtete nach Deutschland und in den Rhein-Kreis-Neuss gekommen sind. Abgesehen von wenigen Studierenden, welche durch Abschiebung, aus privaten Gründen oder aufgrund von Zuweisung eines Integrationskurses die Ausbildung am The‐ odor-Schwann-Kolleg abbrechen mussten, blieben die Kurse weitgehend stabil und konnten Ihre Ausbildung bisher erfolgreich fortsetzen. Das Ziel der Schule in der Arbeit mit den Integrationsklassen ist es, die Studierenden nachhaltig erst in deutscher Sprache für die Anforderungen der DFZ-Prüfung und später im Rahmen des Kerncurriculums für das erfolgreiche Bestehen der Zentralen Prü‐ fung für den Mittleren Schulabschluss auszubilden um ihnen eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt, ggf. anhand einer Berufsausbildung oder an‐ hand einer weiteren schulischen Ausbildung mit dem Ziel eines (Fach-) Hoch‐ schulabschlusses und einem möglichen Studium zu ermöglichen. Literatur Arbeitskreis Sprachförderung am Kommunalen Integrationszentrum des Rhein-Kreis Neuss (2017). Sitzung am 08. Februar 2017. Bundesagentur für Arbeit (2016). ‚NRW-Arbeitsmarkt im November: Arbeitslosigkeit er‐ reicht Jahrestiefststand‘ (Presse-Info 043/ 2016) vom 30.11.2016. Verordnung über die Ausbildung und Prüfung in den Bildungsgängen des Weiterbil‐ dungs-Kollegs (Ausbildungs- und Prüfungsordnung Weiterbildungskollegs - APO WBK) vom 23. Februar 2000, zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Mai 2015. Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales Nordrhein-Westfalen (2016). Integrati‐ onsprofil Rhein-Kreis Neuss. Daten zu Zuwanderung und Integration, Ausgabe 2016. 200 Stefan Schustereder Flucht und Gesundheit: Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge in Deutschland Thomas Bader 1. Wer kommt nach Deutschland und was wissen wir über den Suchtmittelgebrauch von Flüchtenden? Die Zahl der nach Deutschland zwischen 2013 und April 2017 eingereisten Flüchtlinge beläuft sich auf 1.628.981, davon haben 1.516.526 einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Der Zustrom der Flüchtlinge nahm ab Oktober 2016, im We‐ sentlichen wegen der Unterbrechung der am meisten genutzten Balkanroute, drastisch ab. Die meisten Flüchtlinge sind im April 2017 aus Syrien und der Arabischen Republik (20,3%) eingereist, gefolgt von Menschen aus Irak (8,8%), Afghanistan (8,5%), Iran und Islamischer Republik (6,9%) (Bundesamt für Mig‐ ration, Statistik Ausgabe April 2017, www.bamf.de). Wegen der zugenommenen Lebensrisiken auf den Fluchtrouten und der Verhinderung der Weiterreise in der Türkei und Libanon hat die Zahl der eingereisten Flüchtlinge mit Asylantrag in den Folgejahren 2017 (222.683 Anträge) und 2018 (185.853) weiter abge‐ nommen (statista online). Epidemiologische Untersuchungen über den Konsum von Suchtmitteln vor der Flucht, während der Flucht und einem Beginn nach der Flucht liegen bis heute nicht vor. Seit 2016 werden Erfahrungen verschiedener Anlaufstellen für Flüchtlinge und von Suchtberatungsstellen berichtet. Sarrazin und Hauck be‐ richten von einer Arbeitsgruppe, die auf das 2000-2004 von der Europäischen Union geförderte Projekt „Search“ und „Search II“ aufbaut. An die Erfahrungen anknüpfen konnte man vor allem bei der Gruppe der unbegleiteten minderjäh‐ rigen Flüchtlinge. Die Erkenntnisse deckten sich mit den aktuell notwendigen Maßnahmen zur Erreichung der Betroffenen: - Bedarf für allgemeine Aufklärung zur Sucht - Bereitstellung von Aufklärungsmaterial - Schulungen/ Trainings für die MitarbeiterInnen Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die meisten suchtmittelabhängigen erwachsenen Flüchtlinge bereits im Heimatland Suchtmittel konsumiert haben. Dabei handelt es sich vor allem um junge, allein auf der Flucht befindliche, Männer. 2014 waren 70,5% aller Asylanträge von Männern unter 30 Jahren ge‐ stellt worden (BAMF). Es wird übereinstimmend berichtet, dass nahezu 100 % der flüchtenden Frauen regelmäßig Medikamente (Schmerzmittel, Beruhi‐ gungsmittel) nehmen. Ihrer Tradition im Heimatland entsprechend sprechen sie darüber nicht und vertrauen sich auch nicht ihrem Partner an. Ein professio‐ neller Zugang ist deshalb besonders schwierig. Gleiches gilt für drogenkonsu‐ mierende Frauen, die in regionalen Studien selten erfasst werden. Drogenkon‐ sumierende Frauen werden stigmatisiert, sie haben keinen gleichwertigen Zugang zu Hilfeprogrammen wie Männer. Lediglich im Iran gibt es Spezialan‐ gebote für Frauen (Pfeiffer-Gerschel). Die Abhängigkeitsraten sind in den Fluchtländern teilweise sehr hoch, die konsumierten Substanzen unterscheiden sich erheblich. Maßgeblich für die Ver‐ fügbarkeit der Drogen sind in den Produktionsländern vor allem die Existenz‐ sicherung der Familien, Arbeit, Ernährung und Sicherheit. Die mit dem Konsum verbundenen Fragen der Gesundheit, vor allem der psychischen Gesundheit und Sucht, sind kein vordergründiges Thema. Die 12-Monatsprävalenzen aus dem World Drug Report 2015 ergeben für nordafrikanische Cannabiskonsumenten 4,3%, für den Nahen und Mittleren Osten 3,4% und für Ost- und Südosteuropa 2,3%. Zum Vergleich: In West- und Zentraleuropa beträgt der Wert 5,7%. Opioid-Konsumenten dagegen sind gegenüber West- und Zentraleuropa (0,5%) häufiger in den Herstellerländern vertreten: Naher- und Mittlerer Osten 1,9% (! ), Ost- und Südosteuropa 1,4%, Nordafrika 0,2% (12-Monatsprävalenz, World Drug Report 2015). Die Regionen unterscheiden sich in der Verbreitung der Drogen erheblich: - Mittlerer Osten und Nordafrika: Anbau von Rauschmitteln zunehmend, internationaler Handel, Einsatz von Substanzen bei Kriegshandlungen - Nordafrika: Verbreiteter Anbau von Cannabis (Marokko und Ägypten), seit 2012 Anstieg des Konsums von Opioiden, Cannabis, Kokain und Am‐ phetaminen vom Typ der Stimulantien - Mittlerer Osten: Anstieg des Konsums von Opioiden, Amphetaminen, Kokain und verschreibungspflichtigen Medikamenten (World Drug Re‐ port 2013) - Iran: Traditioneller Konsum von Opioiden, steigender Methamphetamin‐ konsum - Irak: Traditioneller Konsum von Opium 202 Thomas Bader - Afghanistan: Traditioneller Konsum von Opioiden; ca. 1,6 bis 3 Mio. Opiatabhängige (Prävalenz 5-10%, Westeuropa 0,2%). In Afghanistan exis‐ tieren ca. 2300 Behandlungsplätze in ca. 100 mit internationaler Hilfe fi‐ nanzierten Einrichtungen. Das größte Behandlungsangebot besteht in Kabul mit ca. 300 Plätzen. - Libanon: Herstellung von Fenethyllin (ehemalig Captagon) - Jordanien: Massiver Anstieg des Konsums von Captagon (World Drug Report 2013) - Syrien: Steigender Konsum von Captagon (World Drug Report 2013) - Ägypten: Aktuell höchste Prävalenz des Heroinkonsums in Nordafrika, Verbreitung von Tramadol - Marokko: Steigender Konsum von Kokain und Opiaten - Saudi-Arabien: Verbreitung von Benzodiazepinen - Balkan: Drogenabhängige sterben gegenüber der Normalbevölkerung vergleichsweise früher, was als Hinweis auf eine schlechte Versorgungs‐ situation der Gruppe verstanden wird. Männer aus Bosnien und Herze‐ gowina zeigen eine höhere Alkoholbelastung als deutsche Männer (Punktprävalenz 2004 5,19% gegenüber 4,51%) Insgesamt wird von einem Anstieg des Konsums von Stimulantien ausgegangen, der den Anstrengungen der Flucht geschuldet ist. Die sehr unterschiedlichen Konsumerfahrungen in den Heimatländern und auch die unterschiedlichen Hil‐ fesysteme führen in den Zufluchtsländern zu zum Teil gegensätzlichen Erwar‐ tungen und Vertrauen in die Hilfen. Die Verbreitung von HIV-Infektionen bei Drogenkonsumenten weicht ex‐ trem von der deutschen Situation ab (Iran ca. 15 %, Marokko 10 %, Deutschland 0,005%). Die schlechte Datenlage lässt darüber hinaus eine hohe Dunkelziffer vermuten (Pfeiffer-Gerschel). 2. Gesetzliche Leistungen zur Behandlung und gesundheitliche Unterstützung Die Gewährung von Sozial- und Gesundheitsleistungen richtet sich in Deutsch‐ land nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylgesetz. Erst wenn ein Ausländer Asyl beantragt, können Maßnahmen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Anspruch genommen werden. Nach §. 4 AsylblG haben Asylsuchende, Gedul‐ dete, Bürgerkriegsflüchtlinge, vollziehbar Ausreisepflichtige sowie deren Ehe‐ gatten bzw. Lebenspartner und deren minderjährige Kinder in den ersten 15 Monaten nach Einreise nur Anspruch auf die Behandlung akuter Erkrankungen und akuter Schmerzzustände. Die Behandlung von chronischen Erkrankungen, 203 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge Beeinträchtigungen oder Traumata wird nach §. 6 AsylbLG nur im Einzelfall und dann auch nur im Ermessen zur „Sicherung des unabweisbar Unerlässli‐ chen“ gewährt. Das Asylverfahren läuft in fünf Stufen ab: 1. Registrierung ggf. Verteilung innerhalb von Deutschland (nach dem Kö‐ nigsteiner Schlüssel) 2. Zuteilung eines Termins beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 3. Asylantragstellung 4. Anhörung 5. Entscheidung durch das BAMF (Hager, Nina 2016) Eine Duldung erhält, wer kein Aufenthaltsrecht hat und aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann. Neben den humani‐ tären Gründen kann es auch andere Konstellationen geben, in denen keine Auf‐ enthaltserlaubnis erteilt wird, der/ die Betroffene aber dennoch nicht abge‐ schoben werden kann. Der am häufigsten anzutreffende Grund ist, dass die Identität der/ des Ausländerin/ Ausländers ungeklärt ist, weil sie/ er keine Papiere hat bzw. keine konkreten Angaben zu seiner/ ihrer Identität macht (machen kann). Faktisch ist dann kein Staat vorhanden, der den/ die AusländerIn auf‐ nehmen muss, und es kann auch keine zwangsweise Durchsetzung der Ausreise erfolgen. Ein weiterer Grund kann ein deutsches Kind sein, wenn der auslän‐ dische Elternteil im Interesse des Kindes nicht abgeschoben werden darf (Art. 6 GG) (Migration und Behinderung 2017: 16). Eine Duldung ist eine Anerkennung des/ der AusländerIn als Eingereister, aber keine Anerkennung als Asylant. Unter diesen Umständen werden Leis‐ tungen zur medizinischen Versorgung eingeschränkt gewährt. Der Paritätische Niedersachsen unterscheidet „starke und schwache Aufenthaltsrechte, die un‐ terschiedliche Aufenthaltsperspektiven und damit verschiedene Leistungsan‐ sprüche mit sich bringen. „Schwach“ sind z. B. die einfachen Bescheinigungen (AKN Ankunftsnachweis / BüMA Bescheinigung über die Meldung als Asylsu‐ chender), die Aufenthaltsgestattung und die Duldung, da diese Papiere dem/ der Betroffenen zunächst nur vorübergehend bzw. für kurze Zeit einen Aufenthalt ermöglichen sollen und die Bleibeperspektive i. d. R. unklar bzw. schlecht ist (Migration und Behinderung 2017, 16). Die Gewährung von speziellen medizinischen Hilfen bei einer Sucht ist zwar im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt, stellt sich aber in der Praxis nicht nur wegen oftmals bestehender Sprachprobleme als schwierig dar. Leistungen 204 Thomas Bader werden aus unterschiedlichen Gründen von den zuständigen Behörden nicht gewährt oder der Zugang zur unmittelbaren Hilfe ist aufgrund langer Warte‐ zeiten kaum möglich. Die Behörde hat einen Ermessensspielraum, der sich auf die Einschätzung der Notwendigkeit (akute Erkrankung, Schmerzen) bezieht. Entzugsbehandlungen können grundsätzlich gewährt werden als Krankenbe‐ handlung (SGB V), die im Anschluss meist wichtige Entwöhnungsbehandlung ggflls. gem. §. 2 AsylbLG in Verbindung mit §. 54 SGB XII. Zuständig ist dafür das Sozialamt. In verschiedenen Bundesländern wurde die elektronische Ge‐ sundheitskarte eingeführt (Berlin, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein flä‐ chendeckend, Thüringen teilweise sowie einzelne Kommunen im gesamten Bundesgebiet), die eine eigenverantwortliche und gleichberechtigte Umgangs‐ form ermöglicht. „Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als Indivi‐ duen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der BRD nicht auf Dauer aufhalten […]. Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthaltes realisiert werden.“ (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - Az.: 1 BvL 10/ 10 und 1 BvL 2/ 11, nach Migration und Behinderung 2017: 17) Dieser Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts wird fak‐ tisch nicht befolgt. Der unterschiedliche Grad des Aufenthaltsstatus ist maßge‐ bend dafür, welche Hilfen und in welchem Umfang sie gewährt werden. EU- Asylverfahrensrichtlinie und EU-Aufnahmerichtlinie werden in Deutschland häufig nicht umgesetzt! Deshalb sind Widersprüche im Falle von Ablehnungen oft wichtig und durchaus erfolgversprechend. 3. Wer hilft? Die Hilfsangebote der NGO’s am Beispiel von Ärzte der Welt und der Hilfebedarf Flüchtender Neben diversen Hilfsorganisationen, die auf internationaler und nationaler Ebene tätig sind, ist das internationale Netzwerk Ärzte der Welt e. V. (Doctors of the World - Médecins du Monde) in 82 Ländern mit ca. 400 Hilfsprogrammen tätig. Daneben werden 180 nationale Programme der jeweiligen nationalen Chapter durchgeführt, in Deutschland zurzeit in vier Städten (Berlin, Hamburg, München, Stuttgart). Ziel der Aktivitäten ist die medizinische und soziale Un‐ terstützung von Menschen in Notsituationen. Dies geschieht angesichts der Not und existenziellen Bedrohung der Menschen ohne Einschränkungen sofort und so umfassend wie möglich. In der Flüchtlingshilfe ist Medicins du Monde in Syrien und Griechenland aktiv. Auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Tilos ist Medicins du Monde (MdM) mit medizinischen Anlaufstationen präsent, ebenso auf dem 205 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge griechischen Festland in Thessaloniki, Patras und Chania. Allein in diesen sechs Stationen konnte nahezu 170.000 Menschen mit medizinischer und psychoso‐ zialer Hilfe unmittelbar nach ihrer Flucht über das Mittelmeer geholfen werden. Die Situation der Flüchtenden hat sich in Griechenland in den Jahren 2017/ 2018 dennoch drastisch verschlechtert. Die Flüchtlingslager sind überfüllt, in Lagern mit einer Kapazität von 6.000 Flüchtenden leben 17.000 Menschen, ein großer Teil davon Kinder. 19 zivilgesellschaftliche Organisationen rufen 2018 Verant‐ wortliche zum Handeln auf. Die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in Deutschland ist Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der aber nicht ansatzweise den Bedarfen ent‐ sprechen kann. So übernehmen Ärzte der Welt mit mobilen Einrichtungen me‐ dizinische Hilfe an Brennpunkten, wo Flüchtlinge ankommen oder auch in Flüchtlingsunterkünften. Ziel ist dabei, neben der Soforthilfe die Flüchtlinge dem öffentlichen Gesundheitssystem zuzuführen, dabei zu helfen, ihre Rechte einzufordern und ihnen soziale Sicherheit zu geben. Neben den NGO’s sind die fachlichen Hilfen im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips an gemeinnützige Or‐ ganisationen wie kirchliche Träger (Diakonie und Caritas) und überkonfessio‐ nelle Träger wie Der Paritätische, Deutsches Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt delegiert. Diese bieten diverse Programme zur Flüchtlingshilfe, Suchthilfe und Hilfen zur Integration an. Ärzte der Welt (MdM) unterhält zur Betreuung Flüchtender und anderer Gruppen Basisgesundheitsdienste mit Verbindungen zu Polikliniken, mobilen Einheiten, Möglichkeiten der Vor-Ort-Beratung und Behandlung. Es werden für ausgegrenzte Populationen wie Wohnungslose, Drogenabhängige, psychisch Kranke sowie irreguläre Migranten und EU-Bürger ohne Krankenversicherung ebensolche Dienste vorgehalten. Die Not Flüchtender hört nicht mit der Ankunft im Zielland auf. Trotz gesetzlich geregelter Rahmenbedingungen erhalten viele Flüchtende, aber auch inzwischen über Monate und Jahre in Deutschland le‐ bende ehemalige Flüchtende medizinische und soziale Hilfen zum Leben und Überleben. Um die politische Dimension zu begreifen, ist die Datenerfassung und Aus‐ wertung der Hilfen unerlässlich. Umfassende laufende quantitative und quali‐ tative Berichte über die Art der Hilfen, die rechtliche Situation Betroffener, „Testimonials“-Fall-Studien sowie die dafür notwendige Öffentlichkeits- und politische Arbeit (Advocacy) gehören zu den Leistungen der NGO’s. Neben zahlreichen Einzelspendern beziehen NGO’s auch von Stiftungen und Firmen Mittel zur direkten Hilfe. Die Hilfsbereitschaft ist in Deutschland sehr positiv ausgeprägt. Besonders die Hilfe in akuten Krisen wird mit Spenden un‐ terstützt. Für längerfristige Engagements für andauernde Krisen, wie die seit 206 Thomas Bader mehr als 6 Jahren andauernde Flüchtlingskrise, sind weniger Spender zu ge‐ winnen, wenn auch hier insgesamt auf hohem Niveau gespendet wird. Staatliche Stellen wie das Auswärtige Amt und das Bundesentwicklungsministerium nutzen NGO’s ebenfalls zur Umsetzung politisch verabredeter Hilfen in spezi‐ ellen Ländern. So stellt die Bundesrepublik Deutschland zur Linderung der Hungersnot in Jemen und der Flüchtlingskatastrophe in Syrien und in anderen Ländern regelmäßig beachtliche Summen zur Verfügung. Vulnerabilität, Gesundheitsrisiken in der Heimat und im Aufnahmeland, ursächliche, beeinflussende Faktoren Die sehr unterschiedlichen Bewältigungsformen der lebensbedrohenden Flucht haben diverse unterschiedliche Gründe: Die individuelle Lebensgeschichte, der Grad individueller Resilienz, die soziale Einbindung vor und während der Flucht und die physische und psychische Konstitution sind maßgebend. Eine beispiel‐ hafte Übertragbarkeit der Bewältigungsstrategien ist nicht möglich, sie ist im Gegenteil sogar gefährlich. Alle Erfahrungen während der Flucht sind Ausnah‐ mezustände, sie sind existenziell und lassen alle Fähigkeiten unterschiedlich nutzen. Die Realisierung des Heimatverlustes mit den Auswirkungen einer sozialen Entwurzelung, die andauernde Verfolgung und Gefahr vor Gewalt beanspru‐ chen alle psychischen Ressourcen zur Bewältigung und die Befähigung zur Ent‐ wicklung einer kurzfristigen Strategie zur Fortsetzung der Flucht. Der unsichere Aufenthaltsstatus nach Ankunft im Zielland, die problematische Unterkunft mit undurchschaubaren Konflikten verursachen über die Freude und Erleichterung des Erreichten einen neuen Schock und Befürchtungen des Versagens. Kultur‐ elle und sprachliche Barrieren verstärken Ängste, weil es keine Möglichkeit einer Realitätsüberprüfung gibt. Sehr vieles bleibt im Ungewissen und bietet sich an für Spekulationen und die Entwicklung von Ängsten. Materielle Not breitet sich aus oder wird antizipiert, Ängste werden erneut beflügelt. Unter all diesen Erfahrungen wird erlebt, dass Suchtmittel von anderen konsumiert werden und vermeintlich Erleichterung verschaffen. Die Grundlage für suchtaffines Ver‐ halten kann gelegt sein. Gewalterfahrungen Im MDM Observatory wird bereits 2014 zu Gewalterfahrungen festgestellt, dass 84,4% der Patienten über mindestens eine Gewalterfahrung berichten. 52,1% kommen aus einem Land, in dem Krieg herrscht. 39,1% berichten über erfah‐ rende Gewalt durch Polizei und Militär, 37,6% der Frauen berichten über sexuelle Übergriffe, davon berichten 24,1%, dass sie vergewaltigt wurden. 10 % berichten 207 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge über Gewalterfahrungen im Aufnahmeland. Die oben beschriebenen Gesund‐ heitsrisiken auf der Flucht werden mit diesen Erfahrungen zu einem Konglo‐ merat tiefster psychischer Verletzung und Schädigung der Persönlichkeit. Psychische Probleme gepaart mit persönlicher Gewalterfahrung werden von mehr als 40 % der Befragten als schwerwiegend oder sehr schwerwiegend be‐ zeichnet. Ohne Gewalterfahrung benennen noch 38,6% die psychische Belastung als schwer, 1,7% davon als sehr schwer. Rund ein Viertel aller Befragten fühlt sich generell gesundheitlich beeinträchtigt. Die sehr unterschiedlichen Verarbeitungsmöglichkeiten psychischen Leids lassen ahnen, dass die psychische Befindlichkeit starken Schwankungen unter‐ worfen ist. Flüchtende sind von mannigfaltigen fremden Einflüssen umgeben, die eine andauernde Anforderung und Erwartung auslösen. Psychotherapeuti‐ sche Maßnahmen bei Traumatisierungen sind nur nach klarer Diagnose und Klärung der individuellen Rahmenbedingungen, in denen der Flüchtende lebt und die eine gewisse Tragfähigkeit bieten müssen, indiziert. Der Behandlungs‐ bedarf für Traumata wird sehr unterschiedlich eingeschätzt, was auf eine un‐ klare Diagnostik schließen lässt. Erkrankungen auf der Flucht Die Flucht impliziert permanent ein hohes Sterberisiko, bisher ertranken min‐ destens 40.000 Menschen in der Ägäis. Flüchtende haben in den Transitländern kaum Zugang zur Gesundheitsversorgung, sofern nicht NGO’s spezielle Ange‐ bote vorhalten. Insbesondere Frauen und Schwangere bedürfen gezielter Un‐ terstützung. So kommt es vereinzelt zu Totgeburten, zu akuten Appendicitiden, vermehrt zu Bronchitiden, Lungenentzündungen, ernsthafter Dehydration, Un‐ terernährung, Wunden, Hauterkrankungen und Gastroenteritiden. Berichtet wird auch von Erschöpfungszuständen und (s. o.) Traumatisierungen. Viele Flüchtende leiden unter gesundheitlichen Folgen von Übergriffen durch Polizei, Grenzbeamte und Schleppern (Serbien, Türkei, Mazedonien, Bulgarien). Meyer-Thomson berichtet aus seiner Praxis für Substitution in Hamburg von häufigen TBC-Erkrankungen (pre-migration and reactivating factors, MDR-TBC). Hepatitis B sei deutlich auffälliger als Hepatitis C und HIV-Infek‐ tionen. Viele Patienten litten unter Kriegsverletzungen und Folgen von Folter. Fast alle haben einen sehr schlechten Zahnstatus und zeigen einen schlechten Ernährungszustand mit gastrontestinalen Beschwerden. Hautprobleme infolge schlechter hygienischer Bedingungen auf der Flucht würden ebenfalls häufiger diagnostiziert (Meyer-Thompson, HG, 2016). Nur 3 % migrierten aus Gesundheitsgründen, weit hinter ökonomischen (24 %), politischen (28,2%) oder familiären (19 %) Gründen. 208 Thomas Bader 90,5% der Patienten mit chronischen Erkrankungen kannten ihre Erkrankung vor der Einreise nach Europa nicht. Die häufig geäußerte Befürchtung, Flüchtlinge kämen vordergründig, um gesundheitliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, ist in dieser Form ad ab‐ surdum zu führen. Flüchtlinge müssen neben den vielfältigen existentiellen Entscheidungen über das Verlassen der Heimat und der Familie auf der Flucht immer wieder lebensentscheidende Maßnahmen ergreifen: Reicht das Geld für die vielen Fluchthelfer? Reicht es im Falle des Scheiterns für einen weiteren Fluchtversuch? Gefährde ich die zurückgebliebene Familie mit meinen Ent‐ scheidungen? Anbetracht dieser fast unvorstellbaren Dimensionen ist ein Motiv für eine bessere Gesundheitsversorgung nicht bestimmend. Gespräche mit Flüchtenden bestätigen dies in unterschiedlichsten Situationen wie in Krisen, in Aufnahme‐ gesprächen bei Ankunft in Europa, in Schulungen unterschiedlichster Art. Die von Bajbouj dargestellte Entwicklung von der Unzufriedenheit bis zur Entscheidung der Migration zeigt fünf Stufen bis zum tatsächlichen Verlassen der Heimat unter Berücksichtigung des soziokulturellen Umfeldes des Heimat‐ landes. Auf der gegenüberliegenden Seite durchläuft der Flüchtende bis zur Bindung in der neuen Heimat erneut fünf Stufen, geprägt vom soziokulturellen Umfeld des Ziellandes, mitunter aber auch der Transitländer. Die dabei durch‐ lebte Verunsicherung ist vorstellbar, die psychischen Belastungen korrelieren mit verfügbarer Resilienz, individueller Konstitution und der Existenz eines noch belastbaren sozialen Umfeldes, z. B. im Heimatland. Der durchschnittliche Zeitaufwand für die Flucht wird von fast allen unter‐ schätzt. Rückschläge an Grenzen und Überwindung des Meeres lassen eine Zeitkalkulation kaum zu. Damit verbunden ist auch der finanzielle Aufwand sehr bedingt kalkulierbar. Manche Flüchtende müssen sich zwischendurch als Arbeiter verdingen, meist extrem ausgenutzt und in Abhängigkeit der Gunst zur Weiterreise. Nach 23 Monaten haben zumindest 70 % der aus Afrika Flüch‐ tenden und 80 % der aus Afghanistan und Pakistan Flüchtenden eine Chance, in ihrem Zielland anzukommen. Risikofaktoren für Sucht Häufig werden Depressionen (MDE - Major Depressive Episodes) sowie PTSB (Posttraumatische Belastungsstörungen) diagnostiziert, die eine Suchterkran‐ kung begünstigen können. Suizidalität, Psychosen in Form der First Episode Psychosis (FEP) sind ebenfalls Grundlagen bei Suchterkrankungen. Pathologisches Spielen ist für die Gruppe Flüchtender ein meist neues Sym‐ ptom. Ursächlich dafür wird die Spielhalle als kostengünstiger Treffpunkt bei 209 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge freiem Kaffee gesehen, wo man Gleiche trifft mit ähnlicher Lebensstruktur und momentaner Verurteilung zum Nichtstun. Unter diesen Umständen erleben diese Menschen stets einen anderen, der gerade gewinnt, was fern jeder nüch‐ ternen Betrachtung emotional die Hoffnung auf einen ebenfalls eintretenden Gewinn nährt. Der vermeintlich geringe Einsatz, die Hoffnung auf einen le‐ bensverändernden Gewinn und die bestehende Perspektivlosigkeit lässt jed‐ wede Kontrolle schwinden. Riskanter Drogenkonsum, affektive Störungen und Angststörungen werden insbesondere bei Einwanderern jüngeren Alters gesehen, wobei die vorherrsch‐ enden lokalen Drogenkonsummuster im neuen Land häufig übernommen werden. Jugendliche und junge Erwachsene werden mitunter in den Wohn‐ heimen für Flüchtlinge zum Cannabishandel rekrutiert. Nicht wenige werden auf diesem Weg selber zu Konsumenten und geraten in eine Abhängigkeitsspi‐ rale (nach Meyer-Thompson, HG, 2016). Die Charité Berlin betreibt im Campus Berlin-Mitte eine Psychiatrische Clea‐ ringstelle für Flüchtende. 2016 wurden über einen Zeitraum von 4,5 Monaten 892 Patienten nach Diagnosen und notwendigen Interventionen erfasst. Dabei ergibt sich, dass die Diagnose Sucht mit 5,2% an letzter Stelle von sechs Symp‐ tomgruppen steht. An erster Stelle werden Depressionen mit 35 % und Post‐ traumatische Belastungsstörungen mit 21 % genannt. Gleich hoch ist der Anteil der Menschen mit Anpassungsstörungen. Erst danach kommen klassische Di‐ agnosen wie Schizophrenie und Angststörungen mit einem Anteil von 6,4% und 6,2%. Größtenteils werden Experteninterventionen empfohlen, bei Anpas‐ sungsstörungen mehrheitlich niedrigschwellige Interventionen. Bei Depressi‐ onen werden je hälftig Experten- und niedrigschwellige Interventionen emp‐ fohlen. Die Untersuchung zeigt, dass in der Gesamtheit Sucht das am wenigsten aus‐ geprägte Krankheitsbild darstellt. Man kann daraus zum einen schließen, dass andernorts eher Akuthilfe betrieben wird und eine differenzierte Diagnostik zurückgestellt wird. Zum anderen scheinen Suchtprobleme bei vielen Flüch‐ tenden zu Beginn ihres Aufenthaltes noch keine Prägung krankhafter Züge zu haben. Das spricht dafür, dass Suchtmittelabhängigkeit verstärkt erst im Ziel‐ land entwickelt wird. Unter diesen Umständen müssten Präventionsmaß‐ nahmen, die besondere Situation Flüchtender berücksichtigend, verstärkt ent‐ wickelt und eingesetzt werden. 210 Thomas Bader 4. Was ist notwendig für eine generelle Gesundheitsversorgung Suchtmittelabhängiger Flüchtlinge? Obwohl in Deutschland langjährige Erfahrungen mit der Behandlung ausländ‐ ischer Abhängiger, insbesondere Russlanddeutscher, bestehen, ist die Situation mit einer großen Anzahl afrikanischer und arabischer Flüchtender anders zu bewerten. Damals wurden die kulturellen Unterschiede und ihre tief verwur‐ zelte Bedeutung erst nach und nach klar. Eine Anpassung der russischen Kli‐ enten an das deutsche Therapiehilfesystem war im Prinzip nicht möglich. Es galten andere Werte, unter denen ein sich Einlassen auf therapeutische Prozesse nur wenigen gelang. Die Familie und der Patriarch standen über allem. Was die Familie befahl, galt. Eine eher flache Hierarchie in den Therapeutischen Ein‐ richtungen wurde als lasch und schwach empfunden und ständig hintergangen. Die afrikanische und arabische Klientel folgt in vielerlei Hinsicht ähnlichen Mustern. Die Familie steht über allem, eine vertrauensvolle Öffnung Fremden gegenüber wie Therapeuten ist fremd. Therapeutische Reflektionen mit Ver‐ haltensanalysen und Verhaltensmodifikationen sind ebenfalls ungewohnt. Es muss davon ausgegangen werden, dass ein „innerer Zugang“ zu therapeutischen Prozessen vorerst bei den meisten Flüchtenden nicht möglich ist. Dabei ist die psychische Not, in der sich die meisten befinden, ungleich größer als zur Zeit der Aufnahme Russlanddeutscher. Die heutigen Geflüchteten können meist nicht auf bereits integrierte Familienangehörige zurückgreifen, sie erleben enorme Sprachhindernisse, sind meist nicht adäquat ausgebildet und mit ihrer Flucht entwurzelt. Trotz der großen Bemühungen in Deutschland, Benachtei‐ ligten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, gelingt dies nur bedingt. Wirksame Teilhabe erfordert eine Verbundenheit zum Lebensmittel‐ punkt. Darauf aufbauend kann Integration und Verbundenheit schrittweise er‐ folgen. Suchtmittelabhängigkeit wird in ihrer Entwicklung durch diverse Gefühls‐ empfindungen wie Einsamkeit, Verlassenheit, Versagensängste und in der Folge depressiver Verstimmungen begünstigt. Die Integration eines Abhängigen in eine fremde Umgebung ist schwierig, zumal eines Geflüchteten. Umgekehrt bleibt es ebenso schwierig. Ein in einer Gemeinschaft lebender Geflüchteter findet nicht die Akzeptanz des Süchtigen, der hier sozialisiert wurde und den Nachbarn vertraut ist. Der geflüchtete Süchtige ist ihnen fremd, als Zugewan‐ derter und als Süchtiger. Abhängigkeitsgefährdete und suchtkranke Geflüchtete müssen vor allem einen niedrigschwelligen Zugang zum Hilfesystem erhalten. Das heißt, sie müssen kurzfristig einen Ersttermin zu einem Gespräch in einer Beratungsstelle 211 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge bekommen, ggflls. muss die Beratungsstelle imstande sein, einen Hausbesuch zu verabreden. Wochenlanges Warten auf einen Termin kann nicht erklärt werden und wird als Ablehnung empfunden. Hilfemaßnahmen müssen die kulturellen Bedingungen berücksichtigen. Die obligatorische Psychosoziale Be‐ gleitung bei Substitution, die im Prinzip sinnvoll ist, kann z. B. nicht als Bedin‐ gung für Substitution gelten, weil ihre Anwendung einen reibungslosen sprach‐ lichen Austausch erfordert. Es können andere, für die einheimische Klientel noch wenig erprobte Therapien genutzt werden. Ambulante Maßnahmen ver‐ schiedenster Art können indiziert sein, kurze, aber häufige Kontakte sind sinn‐ voller als lange Kontakte in zeitlich größerem Abstand. Es müssen Maßnahmen zur Integration geschaffen und angewandt werden. Dazu gehören Schule und Ausbildung oder berufliche Erfahrungen während des therapeutischen Pro‐ zesses. Die Begleitung einer beruflichen Tätigkeit während oder nach der The‐ rapie sollte obligatorisch sein. In einem fremd anmutenden, verunsichernden Kontext eines therapeutischen Prozesses kann eine berufliche Tätigkeit Sicher‐ heit und Halt geben, wenn sie den Neigungen entspricht und erfolgverspre‐ chend verläuft. Suchtherapien haben mit dieser Kombination schon vor vielen Jahren einen erfolgreichen Ausgleich zwischen gegensätzlichen Bereichen ge‐ schaffen. Die von der WHO modifizierte Versorgungspyramide basiert auf der An‐ nahme der klassischen Hilfepyramide. Demnach sind die Hilfen in fünf Stufen hierarchisch gegliedert von der Überlebenshilfe bis zur freien Selbstverwirkli‐ chung unter Abstinenz. Die Hilfen bauen aufeinander auf, das Ziel setzt der Klient selbst. Die Modifikation gliedert sich in vier Stufen und berücksichtigt die beson‐ deren Lebensumstände der Geflüchteten, indem sie als Basisstufe Schutzmaß‐ nahmen und eine Grundversorgung definiert. Damit soll der Betroffene die le‐ bensnotwendige Sicherheit erfahren, die Grundlage jeglichen Handelns ist. Auch als Suchtmittelkonsument muss ihm diese Sicherheit geboten werden. Dazu gehört unabdingbar die Klärung möglicher rechtlicher Einschränkungen wegen Suchtmittelkonsums. Stufe 2 bezieht Familie und Gemeinschaft unter‐ stützend ein. Dies entspricht der kulturellen Erfahrung der Geflüchteten und stellt eine sinnvolle und hilfreiche Stufe dar. Stufe 3 und Stufe 4 beziehen sich auf erst allgemeine, dann spezifische Hilfen. Sie lassen inhaltliche Gestaltung zu, sodass individuelle Besonderheiten einbezogen werden können. Es wird keine Differenzierung zwischen abstinentem Leben und akzeptierendem Sucht‐ mittelkonsum vorgenommen. Auch damit werden viele Wege eröffnet. Ange‐ sichts der bedingten Kenntnisse der Betroffenen wären alle aus den hiesigen 212 Thomas Bader Therapieprogrammen abgeleiteten Festlegungen einschränkend. Festlegungen vergäben die Chance eines anderen Weges. Alle Hilfeansätze bedürfen einer engen Koordination mit Hilfen in angrenz‐ enden Bereichen wie Psychiatrie, Wohnungslosenhilfe, Straffälligenhilfe, Job‐ center u. a. Die oft beklagten Schnittstellenprobleme zwischen verschiedenen Bereichen müssen hier überwunden werden. Es muss aber leider festgestellt werden, dass die Betreuung Geflüchteter alles andere als bereichsübergreifend abläuft. In vielen Kommunen in Deutschland haben sich in den letzten Jahren (nach 2016) spezialisierte Suchtberatungsangebote für Geflüchtete etabliert wie z. B. Sucht Hamburg (service@sucht-hamburg.de), Guidance in Berlin-Schön‐ eberg (guidance@notdienstberlin.de). Diese Einrichtungen verfügen über Er‐ fahrungen mit interkultureller Beratung und helfen gezielt. Die Geflüchteten in spezialisierten Einrichtungen zu beraten macht Sinn. Einer der wichtigsten Ansätze im Hilfekanon wird die Prävention sein. Es gilt zielgerichtet, sprachlich und kulturell angemessen entwickelt, Printbroschüren und online-Informationen bereit zu stellen, aber auch Präventionsprojekte für die Zielgruppe zu entwickeln. Auch hier werden gute Ergebnisse nur im ge‐ meinsamen Handeln mit anderen, mit der Kultur der Geflüchteten vertrauten, Bereichen entstehen. Partizipation muss bei allen Maßnahmen Berücksichti‐ gung finden. Prävention soll gelebt werden. Literatur Bajbouj, Malek (2017). Fachverband Drogen und Suchthilfe: fdr Sucht Kongress (2017) Vortrag. Hager, Nina (2016). Vortrag: Rechtliche Bestimmungen der gesundheitlichen Versorgung … in: 56. DHS Fachkonferenz Sucht, Erfurt. Meyer-Thomson, Hans-Günter (2016). Vortrag: Migration, und Opioidabhängigkeit unter Geflüchteten aus Syrien, Irak, Iran und Afghanistan, Beobachtungen aus einer Sub‐ stitutionsambulanz. In: DHS 56. DHS Fachkonferenz Sucht, Erfurt. Paritätischer Niedersachsen (2017). Migration und Behinderung. 11,16,17. Hannover. Pfeiffer-Gerschel, Tim (2016): Tretter, Felix, Arnold, Melanie: Dokumentation BAS e. V. Workshop Suchtprobleme bei Flüchtlingen, 2016, 3-4. Sarazin, Doris, Hauck, Dieter E. (2016). Wir fangen nicht von vorne an …, 55-58, in Flucht - Trauma - Sucht. LWL. Münster. 213 Die gesundheitliche Situation und Versorgung suchtmittelbelasteter Flüchtlinge Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung. Erwartungen, Herausforderungen und Potenziale Klaus Seiberth Einführung Kaum ein Begriff hat die Debatte um Sport und Integration in den letzten Jahren stärker geprägt als der des ‚Interkulturellen‘. Am prominentesten taucht das ‚Interkulturelle‘ aktuell im organisierten Sport auf. Dort ist die ‚interkulturelle Öffnung‘ zu einem programmatischen Anspruch der Sportverbände geworden, bei dem es darum geht, Sportverbände und -vereine ‚fit‘ für die Einwande‐ rungsgesellschaft zu machen (Deutsche Sportjugend 2014). Auch wenn sich im organisierten Sport die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass sich Interkulturalität nicht ausschließlich auf den Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft reduzieren lässt, ist die sportpolitische Debatte um Sport und Inter‐ kulturalität noch immer stark auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshin‐ tergrund ausgerichtet (DSB 2004; DOSB 2015). Als Resultat dieser Debatte sind in den letzten Jahren zahlreiche Fortbildungs- und Qualifizierungsprogramme entstanden, die darauf abzielen, Vereinsmitglieder, -funktionäre und Übungs‐ leiter ‚interkulturell‘ zu sensibilisieren und ‚interkulturell‘ kompetent zu ma‐ chen (Braun und Finke 2010; DOSB 2009). Die Programmatik des ‚Interkultu‐ rellen‘ taucht jedoch auch in anderen Sportsettings prominent auf. So werden in Kommunen und Schulen ‚interkulturelle‘ Sportfeste organisiert. Und auch der Sportunterricht rückt als besonderes Setting für interkulturelle Bildungs- und Lernprozesse in den Fokus (Gerlach et al. 2011; Gieß-Stüber / Grimminger 2010; Grimminger 2011). Deutlich wird an diesen Beispielen, dass Sport unabhängig vom konkreten Rahmen, in dem er stattfindet, als Kontaktraum verstanden wird, dem spezifi‐ sche Potentiale von Interkulturalität zugrunde liegen und in dem die Voraus‐ setzungen für ‚interkulturelle‘ Verständigungsprozesse als besonders ‚günstig‘ erscheinen. Dass diese Ansprüche und Erwartungen den Sport vor große He‐ rausforderungen stellen, wird deutlich beim Blick auf die Gruppe der Geflüch‐ teten. Denn viele der geflüchteten Menschen kommen aus Herkunftsländern, in denen der Alltag von Krieg und Terror geprägt ist und haben nicht selten eine lebensgefährliche Flucht hinter sich. Hinzu kommt, dass sie sich in einem Land befinden, dessen Sprache sie oft nicht sprechen und dessen Ordnungen und Gepflogenheiten ihnen noch weitgehend fremd sind. Viele der Flüchtlinge stammen außerdem aus Ländern, in denen Sport vollkommen anders organisiert bzw. institutionalisiert ist als in Deutschland. Gerade mit Blick auf diese Gruppe stellt sich die Frage umso nachdrücklicher, welchen Beitrag Sport im Sinne einer ‚interkulturellen‘ Verständigung leisten kann. In diesem Beitrag soll aber grundsätzlich nach Zusammenhängen zwi‐ schen Sport und Interkulturalität gefragt werden. Dabei soll es auch um die Frage gehen, in welchem Maße Sport anschlussfähig an die Programmatik der interkulturellen Bildung ist. Zum Gegenstandsbereich von Interkulturalität Um diese Fragen zu beantworten, ist Interkulturalität als Gegenstand näher zu bestimmen. Doch genau diese Bestimmung gestaltet sich insofern schwierig, als Interkulturalität in zahlreichen Formen thematisiert wird. Das ‚Interkulturelle‘ taucht dabei als unspezifisches Schlagwort, pädagogische Programmatik, soziale Konstruktion, stereotype Deutungsvorlage und vieles mehr auf. In den Sozial‐ wissenschaften wird deshalb sehr kontrovers darüber diskutiert, was überhaupt unter Interkulturalität zu verstehen ist, wo sie entsteht und wie sie sich zeigt (Leggewie / Zifonun 2010; Bolten 2014; Auernheimer 2007). Darum stellt sich zunächst die Frage nach dem Gegenstandsbereich von Interkulturalität. Grundsätzlich steht die Verbreitung des Attributs interkulturell in engem Zu‐ sammenhang mit der Entstehung und Verbreitung der Interkulturellen Päda‐ gogik, die in Deutschland die sogenannte Ausländerpädagogik ablöst. Den Aus‐ gangspunkt dafür bildet die Erkenntnis, dass Migrationsprozesse, wie sie durch die Anwerbeabkommen in den 1950er und 1960er in Gang gesetzt wurden, großen Einfluss auf die deutsche Gesellschaft genommen haben. In scharfer Abgrenzung zur Defizitperspektive der Ausländerpädagogik rückt dabei das Differenzparadigma in den Mittelpunkt (Auernheimer 2007; Roth / Wolfgarten 2017). Grundlage hierfür ist die Annahme, dass die „wachsende transnationale Weltgesellschaft […] nicht durch Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit, sondern durch Vielfalt, Differenz und Komplexität charakterisiert“ ist (Wulf 2006: 33). Die Interkulturelle Pädagogik fokussiert dabei vor allem auf kulturelle Diffe‐ renzen und versteht diese als bereichernde Aspekte einer pluralistischen Ge‐ sellschaft (Auernheimer 1990; Nieke 1995). 216 Klaus Seiberth Kennzeichnend für dieses pädagogische Meta-Konzept ist sein hoher Ab‐ straktionsgrad. Im Mittelpunkt steht deshalb die Herleitung eines allgemeinen Bildungsauftrags und weniger die Aufstellung konkreter Handlungsempfeh‐ lungen. Anerkennung und Gleichheit repräsentieren die zwei zentralen Grund‐ sätze dieser Programmatik. Grundlage ist ein Bildungsverständnis, das den Di‐ alog mit dem (kulturell) Anderen zur zentralen Bildungsaufgabe erhebt. Fremdheits- und Differenzerfahrungen sind demzufolge Ausgangspunkte für interkulturelle Bildungs- und Lernprozesse. Interkulturelles Lernen ist darauf ausgerichtet, für kulturelle Andersheit und Vielfalt zu sensibilisieren - ohne dabei den Anspruch zu vertreten, diese Differenzen aufheben zu wollen. Im Kern geht es um die Qualifizierung für einen reflektierten, konstruktiven Umgang mit Heterogenität in der Weltgesellschaft und damit zur Befähigung zur Mehr‐ perspektivität, Reflexivität und Offenheit. Mit ‚interkultureller Kompetenz‘ wird dabei zum einen eine Voraussetzung von Handlungsfähigkeit in der Welt‐ gesellschaft, zum anderen ein elementarer Aspekt pädagogischer Professiona‐ lität verstanden (Auernheimer 2007; 2010; Wulf 2006; Seiberth 2012). Trotz dieser hohen ideellen Ansprüche hat sich gerade an der Interkulturellen Pädagogik eine paradigmatische Kontroverse entzündet. Im Kern geht es hierbei um die Frage, was das Attribut interkulturell überhaupt bezeichnet und umfasst. So dominiert in der Entstehungszeit der Interkulturellen Pädagogik ein Para‐ digma, das Interkulturalität exklusiv an Ethnizität und Nationalität bindet. Cha‐ rakteristisch für dieses Begriffsverständnis ist, dass „inter-nationale Interaktion quasi als die Situation ‚echter‘ Interkulturalität“ verstanden wird, „da diese Form der Interkulturalität dem subjektiven Empfinden nach häufig mit dem höchsten Grad an Fremdheitserfahrung, Komplexität und Misslingenswahrscheinlichkeit assoziiert wird“ (Rathje 2006: 10). Die Gruppe der Geflüchteten dient aktuell als Paradebeispiel für diese Form von Interkulturalität. Kennzeichnend für diese Auslegung des Begriffs ist, dass Interaktionen dort zu ‚interkulturellen‘ Inter‐ aktionen werden, wo Menschen unterschiedlicher Nationalität oder ethnischer Herkunft in Kontakt treten. Beim Blick auf die Gruppe der Menschen mit Mig‐ rationshintergrund wird allerdings deutlich, wie problematisch dieses Ver‐ ständnis von Interkulturalität sein kann. Denn die Klassifizierung ‚interkultu‐ rell‘ wird hier unabhängig vom Selbstverständnis der beteiligten Personen sowie unabhängig davon vergeben, ob es sich nun um Menschen mit eigener Migra‐ tionserfahrung oder aber um deren Kinder oder Kindeskinder handelt, die weder über eigene Migrationserfahrungen noch auf Primärerfahrungen mit dem Her‐ kunftsland der Eltern oder Großeltern zurückgreifen können (Thiel / Seiberth / Mayer, 2018). Auf die Engstellungen, Gefahren und Folgen solcher Konzepte von (Inter-)Kulturalität haben zahlreiche Publikationen hingewiesen (Bolten 2014; 217 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung Mecheril 2013; Nassehi 2003; Rathje 2009; Sökefeld 2004; Zifonun 2014; Zwengel 2010). Im Zuge dieser Kritik wird vor einer „Substanzialisierung, Totalisierung und Territorialisierung von Kultur“ (Hörning / Reuter 2004: 9) gewarnt. Gleich‐ zeitig werden empirische Belege dafür geliefert, dass die ethnische Herkunft kaum mehr Aussagekraft im Hinblick auf das (kulturelle) Selbstverständnis, Werte und Präferenzen von Personen mit Migrationshintergrund besitzt (Wip‐ permann / Flaig 2009). Vielmehr ist davon auszugehen, dass Menschen mit Mi‐ grationshintergrund vielfältige und multiple Identitäten entwickeln, die zahl‐ reiche (jugend-, szene-, ethno- oder national-) kulturelle Bezüge aufweisen, die sich kulturessentialistischen Zuteilungen entziehen (Foroutan 2013; Mecheril 2003; Simon / Ruhs 2008). Die Interkulturelle Pädagogik sieht sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, die Vielfalt an potentiellen Bezügen von Interkultura‐ lität nicht ausreichend zu berücksichtigen. Entsprechend drastisch fällt bis‐ weilen die Kritik an ihr aus: Doch hat man sich in der interkulturellen Pädagogik wie im interkulturellen Ma‐ nagement bisher mit der Reproduktion bekannte[r] Kultur-Stereotype zufriedenge‐ geben […] und so ist es wenig verwunderlich, dass nach 30 Jahren ‚interkulturellem Coaching‘ noch immer dieselben ‚Missverständnisse‘ ausgeräumt werden müssen. (Leggewie / Zifonun 2010: 16) Zwar muss diese Kritik insofern relativiert werden, als die Interkulturelle Pä‐ dagogik im Laufe ihrer Entwicklung ihren Gegenstandsbereich des Interkultu‐ rellen deutlich erweitert und sich klar gegenüber kulturalistischen und ethni‐ zistischen Konzepten positioniert hat (Auernheimer 2007). Nichtsdestotrotz findet sich dieses ursprüngliche Verständnis von Interkulturalität bis heute in öffentlichen und politischen Debatten, in Publikationen und insbesondere in Konzepten der Praxis. Obwohl „häufig davon die Rede ist, dass Kultur nicht umstandslos mit Nation und Ethnizität assoziiert werden darf, findet sich in den meisten Konzepten ausnahmslos eine Auseinandersetzung mit internationalen und interethnischen Situationen“ (Mecheril 2013: 21). Das Label interkulturell wird in diesen Fällen fast ausschließlich in Zusammenhang mit der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund verwendet und unterstellt dabei, dass es sich bei Kontakten zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund um genuin interkulturelle Kontakte handelt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem „Beobachtungsschema Kultur“ (Nassehi 2003: 237) führt zu der Erkenntnis, dass „kulturelle Vielfalt nicht allein auf einer so genannten ‚interkulturellen Beziehungʻ [beruht], die in der heutigen Diskussion eine hohe Aufmerksamkeit erhält“. Vielmehr „sind auch Genera‐ tions- oder Klassenunterschiede wie zudem jegliche Form der Milieu- und Grup‐ 218 Klaus Seiberth penbildung potentiell mit einer Ausdifferenzierung sozio-kultureller Erfah‐ rungswelten verbunden“ (Schittenhelm 2007: 94). Mit diesem Verständnis von Interkulturalität wird nicht nur der Gegenstandsbereich von Interkulturalität erheblich erweitert. Interkulturalität tritt damit in Erscheinung als dynamischer und „eigenständiger, irreduzibler sozialer Tatbestand“ (Zifonun 2014: 189), der in der Interaktion zwischen Gruppen, Kollektiven oder fiktiven Klassen immer wieder aktualisiert wird (Rathje 2006). „Interkultur meint dann die Muster, Re‐ gelmäßigkeiten und Strukturen, die der Austausch ausprägt und mittels derer der Austausch verarbeitet wird“ (Zifonun 2014: 190). Interkulturalität und Sport: Bezüge - Erscheinungsformen - Repräsentationen Der Sport repräsentiert einen Gesellschaftsbereich, in dem Interkulturalität in spezifischer Weise zum Thema gemacht wird. Darum soll es hier um die Frage gehen, welche Erscheinungsformen, Repräsentationen und Konstruktionen von Interkulturalität sich im Sport und in der Kommunikation über Sport zeigen. Bei der Suche nach typischen Repräsentationen von Interkulturalität rücken schnell die Olympischen Spiele in den Fokus. Dies hängt zum einen damit zu‐ sammen, dass die Olympische Idee eine immense Bedeutung für die globale Ausbreitung des Phänomens Sport hatte. Zum anderen liegt der Olympischen Idee der Anspruch einer grenzüberschreitenden Verständigung auf der Grund‐ lage von gemeinsamen Regeln, Werten und ethischen Prinzipien zugrunde. Die Olympischen Spiele stehen sinnbildlich für den Brückenschlag zwischen ‚Kul‐ turen‘ und den verbindenden Anspruch des modernen Sports. Interkulturalität zeigt sich diesem Verständnis zufolge im fairen sportlichen Wettkampf zwischen Völkern, Nationen bzw. Nationalkulturen (Thiel / Seiberth / Mayer 2013). Im Sport finden sich viele weitere Beispiele, die darauf hinweisen, dass Inter‐ kulturalität hier eng an Konzepte von Internationalität gekoppelt ist. Das ist insofern naheliegend, als die Erfolgsgeschichte des modernen Sports eine Ge‐ schichte der Internationalisierung ist. Dies zeigt sich nirgends deutlicher als im Spitzensport. Durch die Internationalisierung von Regelwerken, der Gründung von Internationalen Dachverbänden (wie der FIFA) oder der Entstehung von internationalen Wettbewerben hat sich der Spitzensport zu einem globalen System mit eigenen Strukturen und Logiken entwickelt. Transnationale Eliten- und Talent-Migration hat dazu geführt, dass in vielen nationalen Spitzenligen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Nationalität tätig sind. Im Mittelpunkt des Spitzensports steht jedoch nicht die ‚interkulturelle‘ Begeg‐ 219 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung nung, sondern die Erbringung von Spitzenleistungen - unabhängig von ethni‐ scher Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Nationalität. Die Tatsache, dass der Diskurs über Sport, Interkulturalität und Integration in Deutschland dennoch häufig am Beispiel von Spitzensportlern wie Mesut Özil oder am Beispiel der deutschen Herren-Fußball-Nationalmannschaft geführt wird, verweist auf den Stellenwert und die Symbolkraft des Spitzenports. Inter‐ kulturalität wird mit Blick auf den Spitzensport vor allem daran festgemacht, dass Athleten unterschiedlicher ethnischer Herkunft gemeinsam in derselben Liga, derselben Mannschaft spielen oder für denselben nationalen Fußballver‐ band auflaufen. Der Spitzensport (und vor allem der Fußball) taucht dabei als genuin leistungsfixierter Sozialraum auf, der in der Lage ist ethnische oder national-kulturelle Differenzen zu überbrücken. Und in der Tat zeigt der Blick auf die Deutsche Herren-Fußball-Nationalmannschaft, dass sich hier zahlreiche Spieler mit Migrationshintergrund, die oft auch für das Herkunftsland ihrer El‐ tern oder Großeltern spielen könnten, für Deutschland als ‚Fußballnationalität‘ entscheiden. Namen wie Ilkay Gündogan oder Leroy Sané stehen stellvertretend für diese Form von Interkulturalität und sind längst Symbole für die besondere Integrationskraft des Spitzenfußballs in Deutschland geworden. Das ‚Interkulturelle‘ taucht darüber hinaus auch im vereinsbezogenen Brei‐ tensport auf. So hat sich der organisierte Sport in Deutschland nach 1945 dem Grundsatz der Offenheit verpflichtet. Dahinter steht die Idee, dass der Zugang zum Vereinssport prinzipiell offen sein sollte und Aspekte wie die ethnische Herkunft, Hautfarbe oder Nationalität keine Rolle spielen sollten (Thiel / Sei‐ berth / Mayer 2013). Ein besonderes „interkulturelles“ Kontaktpotential wird dem Sportverein außerdem deshalb attestiert, weil er in Deutschland die größte Freiwilligenvereinigung und somit einen zentralen sozialen Kontaktraum dar‐ stellt (Breuer 2017). Dabei gelingt es den Sportvereinen wie keiner anderen Freiwilligenvereinigung Menschen mit Migrationshintergrund zu inkludieren (Braun / Nobis 2012; Mutz 2013; Mutz / Burrmann 2015). Hinzu kommt, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), die Landessportverbände sowie viele Fachverbände (wie z. B. der Deutsche Fußball-Bund) Geflüchtete längst als ‚neue‘ Zielgruppe identifiziert haben und sich darum bemühen, dieser Gruppe den Weg in die Sportvereine zu erleichtern (Seiberth / Thiel / Hanke 2018). Es ist offensichtlich, dass sich dieser Anspruch der Offenheit und der Öffnung mit grundlegenden Prinzipien der interkulturellen Bildung deckt. Doch obwohl das ‚Interkulturelle‘ im Sport häufig als Synonym für Internationalität verwendet wird, sind Sportvereine auch in anderer Hinsicht ein Beispiel für Vielfalt und Interkulturalität. Denn in den Sportvereinen sind heute Männer und Frauen verschiedener Generationen, Religionen, (Bildungs-)Schichten und Milieus or‐ 220 Klaus Seiberth ganisiert. Die soziale Öffnung der Sportvereine (DSB 1972) hat außerdem zu einer Pluralisierung von Sport- und Bewegungsangeboten, -verständnissen und -motiven geführt (Cachay / Thiel 2000). In vielen Sportvereinen finden sich heute sowohl Menschen, die klassischen Wettkampfsport betreiben wollen als auch solche, die sich einfach nur regelmäßig bewegen oder die spezifische Ge‐ sundheitsangebote wahrnehmen möchten. Man unterschätzt jedoch die Funktion der Sportvereine in Deutschland, wenn man davon ausginge, dass Sportvereine ‚nur‘ Gelegenheiten zur sportlichen bzw. körperlichen Betätigung böten. Sportvereine sind darüber hinaus auch Räume, in welchen Menschen Kontakte knüpfen, Beziehungen pflegen und Netzwerke bilden können. Menschen können hier Gemeinschaft erleben, Zu‐ gehörigkeit und Anerkennung erfahren. Sie können Erfahrungen mit demokra‐ tischer Mitbestimmung sammeln und sich ehrenamtlich engagieren (Breuer / Wicker / Forst 2011; Mutz 2012; Seiberth 2017). Gerade für Geflüchtete bietet sich hier idealtypisch eine Gelegenheit, um außerhalb der Erst- oder Anschluss‐ unterbringung in Kontakt mit Angehörigen der Aufnahmegesellschaft zu kommen, deren Sprache zu lernen und darüber etwas über das Aufnahmeland, dessen Sportsystem und die Idee von Breitensport zu erfahren - die es in dieser Form in vielen anderen nationalen Sportsystemen übrigens überhaupt nicht gibt. Populäre Sportarten und Bewegungspraktiken sowie global gültige Regel‐ werke liefern so etwas wie einen universalen Kern, der ein gemeinsames Sport‐ treiben selbst dann ermöglichen soll, wenn die Sporttreibenden nicht dieselbe Landessprache sprechen. Doch auch wenn die Vision vom alle Sprachen sprech‐ enden Sport weit verbreitet ist, so muss gerade mit Blick auf Geflüchtete davon ausgegangen werden, dass im Vereinssport und dessen regelmäßigem Trai‐ ningsbetrieb Sprache eine der wichtigsten Voraussetzungen für internationale Verständigung darstellt. Im Gegensatz zu den vielen ideellen Interkulturalitätserwartungen, die von Sportverbänden, Politik und Medien an den Sport gestellt werden, taucht das ‚Interkulturelle‘ in Zusammenhang mit Sport auch als Hindernis für Verständi‐ gung auf. Diese Problemperspektive findet sich in der sportbezogenen Integra‐ tionsforschung seit den 1980er Jahren (Seiberth 2015). Dabei wird davon aus‐ gegangen, dass im Zuge von Migrationsprozessen eben auch nationale Sport-, Bewegungs- und Körperverständnisse auf den Plan getreten sind, denen In‐ kompatibilität mit der bestehenden ‚deutschen‘ Sport- und Bewegungskultur attestiert werden. Das Aufeinandertreffen dieser als different konstruierten eth‐ nisch-nationalen Sportkulturen führt demzufolge im Sport zuverlässig zu Prob‐ lemen, Missverständnissen und Konflikten. Interkulturalität steht somit auch für die Stör- und Konfliktanfälligkeit des Sports durch ethnische und 221 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung national-kulturelle Einflüsse (Bröskamp 1994; Gebauer 1986). Diese sportbezo‐ gene Debatte ist nicht nur deshalb relevant, weil sie statische und stark homo‐ genisierende Konstruktionen von Nationalkultur und Sportkultur sichtbar macht, sondern auch deshalb, weil sie sich eben auch auf solche Personen be‐ zieht, die bereits in der Bundesrepublik Deutschland geboren sind, und bei wel‐ chen „es angesichts der zu durchlaufenden Sozialisationsinstanzen völlig un‐ plausibel [ist], dass ihnen die Körper- und Bewegungskulturen der so genannten ‚Mehrheitsbevölkerung‘ fremd sind, und es ist nur wenig einleuchtend, dass ihre Körperpraxen fundamental mit denen der Menschen ‚ohne‘ Migrationshinter‐ grund kollidieren“ (Thiel / Seiberth 2009: 20). Eine Besonderheit dieser Debatte ist, dass Interkulturalität hier nicht nur entlang von ethnisch-nationalen Differenzen konstruiert wird, sondern darüber hinaus auch geschlechtsspezifische, interreligiöse Differenzannahmen zur An‐ wendung kommen. Es ist nämlich zumeist die Gruppe der muslimischen Mäd‐ chen und Frauen mit Migrationshintergrund, an der die vermeintliche Unver‐ einbarkeit von Sport- und Körperverständnissen veranschaulicht wird - obwohl zahlreiche Studien darauf hinweisen, wonach ein universales ‚muslimisches‘ Körperkonzept ebenso wenig existiert, wie ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Islam und sportlicher Aktivität von Frauen (Kay 2006; Klein 2011; Walseth / Fasting 2003). Typisch für diese Argumentationen ist die Nicht-Be‐ rücksichtigung von individuellen Präferenzen, Werten und Lebensstilen (Sei‐ berth 2012). Grundsätzlich zeigt die Sportforschung, dass sich im Sport interkulturelle Schablonen und Deutungsvorlagen etabliert haben, die folgenreich für den Sport selbst sind (Müller 2010; Soeffner / Zifonun 2008; Stahl 2011). Verschiedene Stu‐ dien geben Grund zur Annahme, dass sich auf verschiedenen Ebenen des Sports „Stereotype der Interkulturalität“ (Zifonun 2008) etabliert haben. Stereotype wie z. B. das des ‚heißblütigeren Südländers‘ sind weit verbreitet und erlauben es dem Sender dem vermeintlichen Südländer spezifische Charaktereigenschaften, Mentalitätsmuster, technische Fertigkeiten sowie besonderes Temperament zu‐ zuschreiben. Gleichzeitig dienen sie als Erklärungen für Verhalten, Reaktionen oder auftretende Konflikte. Dies zeigt sich insbesondere in der Sportberichter‐ stattung, in der nationale, ethnische und rassische Stereotype noch immer sa‐ lonfähig sind (Müller 2009; Seiberth / Thiel 2014; Zifonun 2008). Die Anfälligkeit des Sports für solche stereotypen Deutungsvorlagen hängt eng mit dessen starkem Körperbezug zusammen. Der Körper ist im Sport das zentrale Interaktionsmedium. Gleichzeitig ist der Körper die sichtbare Manifes‐ tation einer Person und somit erster Ansatzpunkt von Zuschreibungen und Konstruktionen von Interkulturalität. In einem Setting, in dem körperliche In‐ 222 Klaus Seiberth teraktionen im Mittelpunkt und verbale Interaktion tendenzielle in den Hinter‐ grund treten, sind es zunächst phänotypische Merkmale, die die Aufmerksam‐ keit der Sporttreibenden auf sich ziehen. Eben deshalb basieren Differenzannahmen im Sport nicht selten auf der Deutung von offensichtlichen körperlichen Merkmalen wie der Haut- und Haarfarbe oder dem Körperbau. So setzt das Stereotyp des ‚heißblütigeren Südländers‘ in der Regel an der körper‐ lichen Erscheinung von Personen an (Müller 2010; Zifonun 2008). Dies verweist darauf, dass im Sport ein erhöhtes Risiko für die Ethnisierung, Nationalisierung und Kulturalisierung von körperlichen Merkmalen besteht. Speziell im Fußball setzen ethnisierende Provokationen nicht selten an körperlichen Merkmalen an (Ribler 2008). Dabei wird von bestimmten Merkmalen auf einen ethnischen Hintergrund und davon auf eine bestimmte „Kultur“ geschlossen. Es sind diese „Projektionen diskursiver Ordnungen von Kultur auf die sich in Sporträumen bewegenden Körper“ (Thiel / Seiberth 2009: 21) über die eine ursächliche Ver‐ bindungen zwischen ethnischer Herkunft und einer bestimmten Mentalität sowie typischen Verhaltensweisen hergestellt wird (Seiberth / Thiel 2014). Wie folgenreich solche ‚interkulturellen‘ Differenzannahmen im Sport sein können, lässt sich an der Debatte um sogenannte ‚interkulturelle‘ Konflikte veranschaulichen. Das Attribut ‚interkulturell‘ wird dabei in der Regel auf solche Auseinandersetzungen im Sport angewendet, an denen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund beteiligt sind. Damit wird nicht nur eine Kategorisie‐ rung vorgenommen, sondern zugleich auch die vermeintliche Konfliktursache mitgeliefert. So wird nämlich in der Regel davon ausgegangen, dass diese Kon‐ flikte durch ‚kulturelle‘ Differenzen bedingt seien. Betrachtet man solche soge‐ nannten ‚interkulturellen‘ Konflikte jedoch näher, so fällt auf, dass solche Kon‐ flikte vom Phänomen her auch zwischen Menschen derselben ethnischen Herkunft vorkommen. Der Grund dafür, warum Konflikte zwischen Spielern mit und ohne Migrationshintergrund von den Beteiligten so schnell als ‚inter‐ kultureller‘ Konflikt bezeichnet wird, hängt damit zusammen, dass die Betei‐ ligten auf populäre Deutungsvorlagen von Interkulturalität zurückgreifen, wie sie den gesellschaftlichen Diskurs um Integration prägen. Diese ‚interkultu‐ rellen‘ Deutungsvorlagen ermöglichen es den Konfliktbeteiligten aus einem Re‐ gelverstoß, wie er in sportlichen Wettkampfsituationen regelmäßig vorkommt, eine ‚interkulturelle‘ Angelegenheit zu machen. Die Vergabe des Labels ‚inter‐ kultureller Konflikt‘ erfolgt dabei häufig unabhängig vom konkreten Konflikt‐ gegenstand. So „sind es nicht zwangsläufig kulturbezogene Themen, die in einem sogenannten interkulturellen Konflikt unter dem Topos des Interkultu‐ rellen verhandelt werden“ (Seiberth / Thiel 2014: 66). Dass dennoch von Seiten der Beteiligten davon ausgegangen wird, dass es sich um einen ‚interkulturellen‘ 223 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung Konflikt handelt, hängt mit der Absorptionskraft dieses Topos zusammen. Fol‐ genreich ist dies insofern, weil sportliche Wettkämpfe dadurch gewissermaßen interkulturalisiert werden. Vorliegende Studien geben Grund zu der Annahme, dass solche Interkulturalisierungen auch im Vorfeld von Wettkämpfen einge‐ setzt werden. In dem Maße, in dem z. B. Trainer im Vorfeld von Begegnungen auf diese Deutungsvorlagen zurückgreifen, tragen sie erheblich zu einer Inter‐ kulturalisierung von Wettkämpfen bei. Dass solche interkulturalisierten Kon‐ fliktkonstellationen ein erhebliches Eskalationsrisiko bergen, ist evident (Sei‐ berth / Thiel 2014). Interkulturelle Bildung im und durch Sport In Anbetracht dieser Erkenntnisse stellt sich die Frage nach den interkulturellen Bildungspotenzialen des Sports umso nachdrücklicher. Im Folgenden wird da‐ nach gefragt, wo interkulturelle Bildung im Sport ansetzen kann und wie sich interkulturelle Bildungs- und Lernprozesse im Sport inszenieren lassen. Zu diesem Zweck werden differenz- und dissenzorientierte Ansätze von konver‐ genzorientierten und dekonstruktiven Ansätzen unterschieden (Seiberth 2012: 210 ff.): Differenz- und dissenzorientierte Zugänge zielen darauf ab, kulturelle Differenzen entlang von fremden Sport-, Bewegungs- und Körperpraxen sichtbar und erfahrbar zu machen (Thiele 1999; Gieß-Stüber 2005; Gramespa‐ cher / Grimminger 2005). Der Sport bietet hierzu einen riesigen Fundus an exotischen Sportarten, al‐ ternativen Bewegungsformen und unbekannten Körperpraktiken, durch deren Ausführung gezielt Fremdheitserfahrungen initiiert werden und deren Refle‐ xion dann zu interkulturellem Verständnis führen soll. In der Regel werden hierzu spezifische national- oder ethno-kulturelle Sport- und Bewegungsprak‐ tiken herangezogen. So können z. B. griechische Volkstänze, asiatische Kampf‐ künste, unbekannte Nationalsportarten oder auch alternative Spielarten be‐ kannter Sportarten (z. B. Basketball gemäß der Spielweise der Navajos) ausprobiert und in ihrer Unterschiedlichkeit verstanden werden. Gleichzeitig haben sich im Zuge der Ausdifferenzierung des Sports in Deutschland abseits des klassischen Wettkampfsports zahlreiche neue Sportszenen und Bewegungs‐ formen etabliert, die sich für die gezielte Provokation von Differenz- und Fremd‐ heitserfahrungen eignen. Das Ausprobieren von neuen, unbekannten Sport- und Bewegungsformen soll körperbezogene Differenz- und Fremdheitserfahrungen ermöglichen und zur Erkenntnis führen, dass diese Praktiken trotz ihrer Unter‐ schiedlichkeit ihre Berechtigung haben (Seiberth 2012). 224 Klaus Seiberth Ein Vorteil dieser Herangehensweise besteht in der vergleichsweise einfa‐ chen Inszenierung von körperlichen Differenzerfahrungen. Aus Sicht der Sport‐ didaktik besteht darin zudem die Chance, Schülerinnen und Schüler unter‐ schiedlicher ethnischer Herkunft als ‚Experten‘ für nationalkulturelle Sport-, Bewegungs- und Körperpraktiken einzusetzen. Dies kann in solchen Fällen sinnvoll sein, wo Schülerinnen und Schüler über entsprechende Primärerfah‐ rung verfügen oder sich als Experten anbieten. Die Reduzierung von Körper- und Bewegungsvielfalt auf national-kulturelle Unterschiede birgt jedoch auch die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu Re‐ präsentanten einer fremden Körper- und Bewegungskultur und damit zu Fremden gemacht werden. Für den in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jungen mit türki‐ schem Migrationshintergrund können solche Arrangements jedoch auch zum Problem werden - nämlich dann, wenn er dabei auf seine ethnische Herkunft reduziert und zum ‚Repräsentanten‘ türkischer National-Kultur wird, ohne dass dies seinem Selbstverständnis entspricht. Aus diesem Grund bergen differenz- und dissenzorientierte Zugänge immer auch die Gefahr, dass Differenzen per‐ sonalisiert und Personen kulturalisiert werden. Das Risiko von Stigmatisie‐ rungen ist bei einem solchen Vorgehen vergleichsweise hoch. Eben hier zeigt sich die Komplexität interkultureller Lernarrangements im Sport. Sie müssen Differenzen sichtbar machen, ohne dabei gängige Stereotypen zu reproduzieren. Sie müssen der Uneindeutigkeit und Vielfältigkeit moderner Einwanderungs‐ gesellschaften Rechnung tragen und gleichzeitig die Erkenntnis zulassen, dass Personen weder dem Klischee türkischer noch deutscher Bewegungskultur ent‐ sprechen können. Eine Konsequenz daraus könnte sein, verstärkt auf solche Lernarrangements zu setzen, die beispielhaft für die individuelle Rezeption und die Veränderbarkeit von traditionellen Körper- und Bewegungspraktiken unter Migrationsbedingungen sind (Seiberth 2012). In Abgrenzung zu differenzorientierten Zugängen gehen konvergenzorien‐ tierte und dekonstruktive Zugänge (Seiberth 2012: 213) davon aus, dass eine aus‐ schließliche Fokussierung auf Divergenzen nicht verlässlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden sportspezifischen Stereotypen der Inter‐ kulturalität beiträgt. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, dass die Erfahr‐ barmachung von Differenz nur unter der Voraussetzung sinnvoll ist, dass dabei gesellschaftliche Konstruktionen von Differenz kritisch hinterfragt werden und dass darüber hinaus auch solche Bewegungsarrangements inszeniert werden, über die Gemeinsamkeiten im Fremden erkannt werden können. Ein solcher Anspruch setzt ein Hinterfragen jener ‚interkulturellen‘ Zuschreibungsketten voraus, die den Anderen in seiner Körperlichkeit auf seine ethnische Herkunft 225 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung reduzieren. Gerade weil der Körper im Sport so eine exponierte Position hat und er sich Bewertungen und Interpretationen nicht entziehen kann, besteht eben hier die besondere Chance einerseits körperliche Erfahrungssituationen zu schaffen und diese andererseits vor dem Hintergrund eines dekonstruktiven Anspruchs zu reflektieren. Solche Zugänge eignen sich in besonderer Weise zur Dekonstruktion von ‚Stereotypen der Interkulturalität‘, wie sie im Sport und in der Kommunikation über Sport vorkommen. Vor allem im Hinblick auf die häufig stereotypisierte Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund oder für Geflüchtete können dekonstruktive Bewegungsarrangements einen Beitrag zur Irritation von Kultur- und Nationalstereotypen beitragen, der über den Sport hinausgeht. Gleichzeitig ist aber auch darauf hinzuweisen, dass solche Sport- und Bewe‐ gungsarrangement sehr anspruchsvoll in ihrer Umsetzung sind und ein hoch‐ qualifiziertes Personal erfordern, das nicht nur über Wissen um Differenzen, Gemeinsamkeiten und (Macht-) Ungleichheiten zwischen Gruppen sowie über Einblicke in gesellschaftliche Konstruktionen von Interkulturalität verfügt, son‐ dern das zudem noch dazu in der Lage ist, konstruktive Reflexionsprozesse in Gang zu setzen und zu moderieren. Vor allem Letzteres findet im Sport gewis‐ sermaßen unter erschwerten Bedingungen statt, weil ein Großteil der Inter‐ aktionen primär körperlicher Natur ist, und oftmals jenseits verbaler Re‐ flexionen stattfindet. Aus diesem Grund erweist sich die pädagogische Inszenierung solcher Bildungsprozesse im Sport als komplex und vergleichs‐ weise störanfällig (Seiberth 2012). Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweise haben die beiden Zugänge auch einige Gemeinsamkeiten. Grundsätzlich setzen beide neben der Bereit‐ schaft der Beteiligten ein hohes Maß an Wissen, (Vermittlungs-)Kompetenz und Reflexionsfähigkeit beim pädagogischen Personal voraus. Die Sportverbände haben dies erkannt und in den letzten Jahren zahlreiche ‚interkulturelle‘ Qua‐ lifizierungs- und Fortbildungsangebote entwickelt. Die Prüfung der Frage, in welchem Maße die bestehenden Qualifizierungsangebote der Sportverbände, der Kommunen sowie der Hochschulen für eine reflexive interkulturelle Bil‐ dungsarbeit adäquat qualifizieren, steht noch weitgehend aus. Die vorliegenden Erkenntnisse der Sportforschung geben Grund zu der An‐ nahme, dass nicht alle Sport- und Bewegungssettings in gleicher Weise für in‐ terkulturelle Bildungsprozesse geeignet sind. So kann nicht davon ausgegangen werden, dass im leistungsbezogenen Wettkampfsport regelmäßig und systema‐ tisch Raum und Zeit für Bildungsinhalte eingeräumt wird, die keinen unmittel‐ baren Wettkampfbezug aufweisen. 226 Klaus Seiberth Der Schulsport erscheint in mehrfacher Hinsicht dafür geeignet, interkultu‐ relle Lern- und Bildungsanstöße zu geben. Zum einen, weil Körperlichkeit und Körpererfahrung ohnehin zentrale Bildungsaspekte des Schulsports sind. Zum anderen, weil in den meisten Bildungsplänen für das Fach Sport die Vielfalt an unterschiedlichsten Sport- und Bewegungsformen, Sportmotiven und -ver‐ ständnissen längst abgebildet ist. Dennoch ist auch hier davon auszugehen, dass der Bildungsanspruch und das Bildungsverständnis der Sportlehrkräfte von zentraler Bedeutung sind. Dies bedeutet jedoch auch, dass eine Didaktik der reduzierten Ansprüche, die sich ausschließlich auf motorische oder technische Lernprozesse beschränkt, interkulturelle Bildungsprozesse ebenso einschränkt wie die ausschließliche Orientierung am Prinzip Leistung (Seiberth 2012). Fazit Wenn es um Sport geht, ist der Begriff des ‚Interkulturellen‘ in der Regel eng an die Idee von Internationalität sowie an das Phänomen der transnationalen Mi‐ gration gekoppelt. Auch wenn die Sportverbände ein differenziertes Verständnis von Interkulturalität entwickelt haben, wird Interkulturalität im organisierten Sport noch immer schwerpunktmäßig in Zusammenhang mit der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund thematisiert. Diese vergleichsweise enge Fixierung auf diese Gruppe ist insofern naheliegend, als die Sportverbände seit Langem explizit den Anspruch vertreten, eine tragende Rolle bei der Integration von zugewanderten Menschen übernehmen zu wollen. Dies zeigt sich insbe‐ sondere beim Programm „Integration durch Sport“, das ursprünglich für die Gruppe der Spätaussiedler konzipiert wurde, in der Folge auf die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ausgeweitet und aktuell um die Ziel‐ gruppe der Geflüchteten erweitert wurde. Während in der aktuellen Flücht‐ lingsdebatte lange Zeit fast ausschließlich darüber diskutiert wurde, wie die Flüchtlingszahlen reduziert werden können, haben die Sportverbände und viele Sportvereine bereits zu einem frühen Zeitpunkt Maßnahmen eingeleitet, um diesen Menschen den Zugang zum Sport zu erleichtern. Mit dieser expliziten Fokussierung auf ethnisch und national Fremde aktualisiert der organisierte Sport den eigenen Anspruch, ein über Landesgrenzen hinweg verbindendes ‚in‐ terkulturelles‘ Medium zu sein. Gleichzeitig trägt er der Idee der sozialen Öff‐ nung Rechnung, wonach allen Bevölkerungsgruppen spezifische Gelegenheiten zum lebenslangen Sporttreiben geboten werden sollen. Doch selbst dort, wo dies gelingt, ist nicht davon auszugehen, dass sich not‐ wendigerweise so etwas wie ‚interkulturelle‘ Verständigung einstellt. Auch wenn viele Slogans, Clips und Kampagnen suggerieren, dass bereits das ge‐ 227 Sport, Interkulturalität und interkulturelle Bildung meinsame Sporttreiben zuverlässig zu Anerkennung, Respekt und Verständnis für den Anderen führt, so genügt ein Blick in die aktuelle Sportforschung, um zu erkennen, dass im Sport eben auch solche Konstruktionen von Interkultura‐ lität zu finden sind, die sich in Form von Ethnisierungen, Kulturalisierungen und Stereotypisierungen zeigen. Damit soll keinesfalls bestritten werden, dass Sport- und Bewegungssettings erhebliche Potentiale der Begegnung und Verständigung bergen. Die Anzie‐ hungskraft, Nicht-Ernsthaftigkeit sowie der Spielcharakter des Sports liefern günstige Bedingungen für den Kontakt zwischen Menschen, die es in dieser Form in vielen anderen Gesellschaftsbereichen nicht gibt. Diese Bedingungen allein garantieren jedoch keine Verständigung, die über die sportliche Interak‐ tion hinausgeht. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass ‚interkultu‐ relle‘ Verständigungsprozesse auch im Sport an entsprechende Rahmenbedin‐ gungen und Ressourcen, konkrete Ziele, nachhaltige Konzepte sowie an engagierte und qualifizierte Personen gebunden sind. Die Qualität der Qualifi‐ zierungsangebote hängt insbesondere davon ab, in welchem Maße es gelingt „die ganze Vielfalt unterschiedlicher - eben nicht nur ‚ethnischer‘ - Gruppen in den Blick zu nehmen und deren Kontakt als interkulturell zu interpretieren“ (Zifonun 2014: 189). Literatur Auernheimer, Georg (1990). Einführung in die interkulturelle Erziehung. Darmstadt: Wis‐ senschaftliche Buchgesellschaft. Auernheimer, Georg (2007). Einführung in die interkulturelle Pädagogik (6. Aufl.). Darm‐ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 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In der dann 2005 verabschiedeten Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions wird dabei explizit mit „Austausch“ ein Zu‐ sammenhang hergestellt zwischen Respekt vor Verschiedenheit, dem Bemühen um Verständigung über diese hinweg und Inspirationsquellen für zukünftige kulturelle Praktiken. War schon im Gründungsdokument der UNESCO selbst in Artikel I als eines ihrer Ziele benannt, den freien Austausch von Ideen, Worten und Bildern zu unterstützen, werden in der Konvention 2005 nun die damit intendierten Ziele ausgeführt. In beiden Dokumenten werden kulturelle Diver‐ sität und Austausch in einen Begründungszusammenhang gestellt. So soll ei‐ nerseits Austausch gefördert werden, weil es Verschiedenheit gibt. Und ande‐ rerseits soll die Ausdifferenzierung kultureller Praktiken durch Austausch gefördert werden. Denn im Hinblick auf technologische Entwicklungen, die zu‐ nehmende Vereinheitlichung herzustellen schienen, wurde im kulturellen Aus‐ tausch ein Kreativitätspotential gesehen. Seine Bedeutung wurde noch einmal mehr diskursiv aufgeladen durch eine Verbindung zur Ökologie. So heißt es in Artikel I „As a source of exchange, innovation and creativity, cultural diversity is as necessary for humankind as biodiversity is for nature.“ Derzeit scheint es nun, als müsste der Zusammenhang von Kulturschutz und Mobilität neu erklärt werden. Pluralität als Voraussetzung für die Zukunftsfä‐ higkeit von Gesellschaften, Akzeptanz einer inhärenten Diversität fast aller Wir-Bildungen, Kultur als auf zukünftige Praxis gerichtete Handlungsform und gleichzeitig, aber keineswegs allein, Traditionssicherung - all dies ist derzeit Bestandteil politischer Auseinandersetzung. Im Feld der Kultur werden aktuell zentrale politische Differenzen ausgetragen. Möglich ist dies, weil kulturelle Praktiken eine ambige Qualität haben. Sie sind Artikulation von Prägung. In dieser Eigenschaft lassen sie Tradition erkennbar werden, und damit auch Un‐ terschied, und ermöglichen auch Wir-Bildung. Kulturelle Produktionen sind aber auch je neu artikuliert, nehmen immer Spuren ihrer jeweiligen räumlichen und zeitlichen Kontexte mit auf, sind je neues Handlungsgeschehen. Damit ist Kultur immer auch offen für Aushandlungen und offen für Inspiration zu neuer Varianz. Diese ambige Qualität ist der Grund, warum um die Kultur derzeit ein politischer Streit um Zugehörigkeit und Verteilungsgerechtigkeit ausgetragen werden kann. Lange schien das oben zitierte Verständnis kultureller Mobilität, wenn nicht Konsens, so doch stabile Mehrheitsmeinung auch international zu sein. Nun ist es anders. Anfang Juli 2018 wurde die „Brüsseler Erklärung - für die Freiheit der Kunst! “ veröffentlicht (Change 2018). Sie stellt sich gegen den Vorwurf einer „linksliberalen Vielfaltsideologie“ zu folgen: Das Recht auf freie Meinungsäu‐ ßerung, die Vielfalt und die Freiheit der Kunst sind in Europa in Gefahr. „Kultur entsteht durch Austausch, nicht durch Abschottung. (…) Kunst ist frei, sie muss nicht gefallen und sie darf nicht dienen. Nur so kann sie ihre innovative Kraft entwickeln und uns immer wieder neue Perspektiven eröffnen“ (Change 2018). Eine Gegenposition zitiert DIE ZEIT in Gestalt des neurechten Literaturwis‐ senschaftlers Günter Scholdt: „Nach Kommunismus und Nationalsozialismus dämmert hier innerhalb eines knappen Jahrhunderts langsam bereits der dritte Totalitarismus herauf, getarnt als universalistische Toleranz, Emanzipation, An‐ tidiskriminierung oder ‚herrschaftsfreier Diskurs‘.“ (Probst 2018) Ist das eine nun eine politische Haltung wie das andere - oder ist die Freiheit der Kultur, die ihre Mobilität miteinschließt, nicht schlichtweg Menschenrecht und globales Ge‐ meinwohl? Und wie ist dies begründet? In der Argumentation der Neuen Rechten werden die liberalen Grundlagen von Kulturaustausch, die mit Gedanken- und Meinungsfreiheit zusammenhän‐ gende Freiheit zum künstlerischen Ausdruck, der mit der Anerkennung der rechtlichen Gleichheit aller Menschen einhergehende Respekt vor kultureller Verschiedenheit, zu einem zu überwindenden Gedankensystem erklärt. Ein Ausnahmezustand wird rhetorisch evoziert, in dem es keine Zeit für Debatte und Aushandeln von Kompromissen mehr geben könne. Es geht im Folgenden nun nicht darum, einen Kosmopolitismus gegen einen Kommunitarismus in einer einfachen Entgegensetzung argumentativ zu unterstützen. Aus kommu‐ nitaristischer Sicht sind legitime und begründete Fragen an Verteilungsgerech‐ tigkeit auf nationaler Ebene sowie auf Nebenkosten von Mobilität und Kom‐ 234 Odila Triebel 1 Zu diesen Einstellungen siehe den auf langjährige Forschung im Brückenprojekt des WZB „The Political Sociology of Cosmopolitanism and Communitarianism“ gestützten Artikel von Onawa Lacewell und Wolfgang Merkel (2013). Darin wird eine kulturelle und eine sozioökonomische Fundierung dieser Einstellungen unterschieden, die kei‐ neswegs parallel gehen. Die Autoren weisen auch daraufhin, dass Globalisierungslasten national erfahren werden, da Internationalisierung auch zu einer Reduzierung öffent‐ licher Güter und Dienstleistungen auf nationaler Ebene geführt habe und ökonomische Ungleichheit zugenommen habe. Dies, ebenso wie die Frage, ob die ökologischen Kosten von Mobilität und Kommunikation, die maßgeblich den Grad ökonomischer globaler Vernetzung ermöglicht haben, angemessen eingerechnet sind, sind ernstzunehmende mit abzuwägende Argumente und Herausforderungen für die Demokratien im 21. Jahr‐ hundert. Die folgenden Ausführungen fokussieren auf die Voraussetzungen und Not‐ wendigkeiten kultureller Mobilität im internationalen Rahmen. munikationstechnologien stellbar. Zur Frage hier steht aber, in welcher Weise die derzeit dominierenden radikalen und exkludierenden Formen kommunita‐ ristischer, bzw. in dieser Form wohl besser als identitär gefassten, Einstellungen, auch wenn sie nicht so radikal vertreten werden wie in der hier zitierten Posi‐ tion, dennoch zum einen Freiheitsrechte übersehen, ihren Verlust in Kauf nehmen oder sie absichtlich verabschieden und vor allem aber auch Lebenswir‐ klichkeiten im 21. Jahrhundert verfehlen. Die Freiheit der Kunst, die notwendige Förderung von Künstlermobilität und der Migration von kulturellen Praktiken und Artefakten bedeutet keine Legali‐ sierung aller Wanderbewegungen, keine Grenzenlosigkeit von Staaten, keine Infrastrukturförderung für entsolidarisierte Hedonisten und keinen Freifahrt‐ schein für Superreiche. So wird es dargestellt in Zeiten fragiler Solidarpakte und zunehmender globaler Interdependenzerfahrung. 1 Liberalismus und Kommuni‐ tarismus dürfen aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, wenn die Menschheit die Komplexität des planetaren Zusammenlebens friedlich gestalten will. Denn der Maßstab jedes Sozialentwurfes muss sein, wie am besten mit den wissenschaftlich dokumentierten Missständen wie Klimawandel sowie globaler Ungleichheit und nicht zuletzt dem einen wirklich neuen Sozialentwurf, dem durch technologische Entwicklung im Entstehen begriffenen Dataismus, um‐ gegangen werden kann (Harari 2015). Die conditio humana steht im Übergang vom 20. zu 21. Jahrhundert, wie Ul‐ rich Beck analysiert hat, vor einer umfassenden Transformation. Aus der welt‐ umspannenden materiellen und geistigen Interdependenz aller Menschen folgt zum einen die Erosion territorialer Autonomie und Souveränität, zum anderen eine kosmopolitische Verpflichtung. Auch nach Zygmunt Baumann kann die Geschichte der Menschheit als zunehmende Ausdehnung der praktizierten Wir-Formationen erzählt werden (Baumann 2017: 37-56). Allerdings bleiben alle diese Formationen Strukturierungen in einem „Wir und die anderen“-Schema: 235 Kulturelle Migration als Gemeinwohl? alle Instrumentarien zur Bewältigung von Konflikten beruhen bislang auf Be‐ dingungen der Autonomie, der gegenseitigen Unabhängigkeit und Souveränität. Laut Beck sind diese aber nun für die gegenwärtige Situation nicht mehr ange‐ messen. Die Realität der gegenseitigen Abhängigkeit verlange eine qualitative Änderung, nämlich die Trennung der Frage der Zugehörigkeit von der der Ter‐ ritorialität bzw. staatlichen Souveränität (vgl. hierzu Beck 2007). Dabei hat Beck nicht den Profit räumlich ungebundener Kapitalgeber zentral im Blick, sondern die ökologische Situation. Diese im Fokus stehende Herausforderung skizziert Slavoj Žižek mit folgender Zuspitzung treffend: Die Behörden in Tokio gingen für einen Moment nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima davon aus, 20 Millionen Menschen aus Großraum Tokio evakuieren zu müssen. „Wohin? “, fragt Žižek. „Was, wenn Nordsibirien bewohnbar und landwirtschaftlich nutz‐ barer wird? Und ganze Regionen südlich der Sahara unbewohnbar werden wegen Dürre? Lokale und globale Umweltveränderungen können uns vor die Notwendigkeit eines unerhört großflächigen sozialen Wandels und erneuter Völkerwanderungen stellen“ (Žižek 2016: 81). Diese Migrationsbewegungen nicht zur Barbarei werden zu lassen, ist eine globale Zivilisationsaufgabe. Die Herausforderung in dieser Situation ist neben einem Erlernen und Kul‐ tivieren einer Fern-Solidarität, die Gemeinschaftsgüter zu erkennen und mit ihnen Gemeinsinn artikulierbar zu machen. Kulturarbeit kann sich dies zur Aufgabe machen. Kulturarbeit kann einen solchen Gemeinsinn, der nicht ex‐ klusive Wir-Bildungen ins Zentrum seiner Ziele stellt, sondern ein planetares Überleben der möglichst Vielen - nicht nur einer privilegierten Minderheit - unterstützen. Als Grundlage eines solchen globalen Gemeinsinns, nennt Žižek vier Com‐ mons, die so wichtig seien wie Post, Elektrizität und Verkehrsinfrastruktur (Žižek 2016: 83). Zunächst das Commons der Kultur als Sprache, Kommunika‐ tion, Erziehungsmedien. Dazu gehört auch, nicht der Ideologie zu verfallen, die neuen digitalen Technologien könnten eine neue Heimat schaffen. Denn wenn jedes beliebige Ereignis an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit beliebig schnell zugänglich wird, ist jeder Winkel der Welt technologisch erobert und mittels der übermittelten Daten potentiell wirtschaftlich und politisch aus‐ beutbar. Und die Fragen, so Žižek, bleiben: „Wofür? Wohin? Und was dann? “ (Žižek2016: 13/ 14). Des Weiteren sind dies die Commons der äußeren Natur: der Umwelt und ihrer Veränderungen; die Commons der inneren Natur wie das biogenetische Erbe der Menschheit und sein emanzipatorisches Streben und schließlich die Commons der Menschlichkeit wie Gerechtigkeit und Sozial‐ formen mit möglichst schwachen Strukturen von Eingeschlossenen und Aus‐ geschlossenen. 236 Odila Triebel Einer Kulturarbeit in diesem Sinne geht es dabei nicht um beliebig offene Grenzen. Integration braucht Kapazitäten für Bildung, Wohnen und Arbeit. Es geht aber um Fluchtursachenbekämpfung und um eine Lebensstilanpassung an begrenzte Ressourcen im Hinblick auf größere globale Gerechtigkeit sowie eine Arbeit am Begriff der Zugehörigkeit. Vielleicht klingt das wie eine Utopie und vielleicht auch wie eine, deren Hochkonjunktur nun schon wieder Vergangen‐ heit ist. Der Optimismus, mit den Möglichkeiten des Internets mehr Transpa‐ renz, Teilhabe und Kooperation zu ermöglichen, ist Einsichten in die Manipu‐ lationspotentiale und die Fragmentierung des Öffentlichen Raumes der neuen Technologien gewichen. Demokratische Institutionen haben sich nicht weiter‐ verbreitet und ökonomisch entstanden neue Ungleichgewichte. Dies ist die der‐ zeitige Ernüchterung. Ist also eine Kulturarbeit für die Commons unrealistisch? Man muss, so Appadurai, fragen, warum schon die Zeit, als der Optimismus am größten war, die 90er Jahre, auch gleichzeitig eine Zeit der Massengewalt war (Appadurai 2009: 14). Appadurai sieht eine Ursache in der Verunsicherung der Idee des nationalen Ethnos (und seiner Ideologie nationalen Geistes, der heiligen Nation, der ethnischen Reinheit, die Anthropologen auf eine Wunschvorstel‐ lung eines vollständigen und vollkommenen Körpers zurückführen). Einschrän‐ kungen ökonomischer Souveränität und nationalen Wohlstandes tragen dazu bei, aber sind nicht alleinige Ursache: „Der Typ der Verunsicherung, um den es mir hier geht, hängt sehr eng mit der Tatsache zusammen, dass es heute Hun‐ derttausende ethnischer Gruppierungen gibt, deren Bewegungen, Begeg‐ nungen, Kulturen, Lebensstile und mediale Repräsentationen tiefsitzende Zweifel darüber nähren, wer eigentlich zu „uns“ und wer zu „den Anderen“ gehört“ (Appadurai 2009: 17). Schon früher habe Hannah Arendt die Idee der Volksgemeinschaft die Achillesferse liberaler Gesellschaften genannt. Denn vor ihrem Hintergrund erst werden Minderheiten zu Minderheiten. Deswegen führt Appadurai weiter aus: „Allgemeiner gesprochen […] sind Minderheiten die Lunte an einem explosiven Cocktail aus Verunsicherungen, der sich zwischen dem Alltag und seinen schnell sich wandelnden globalen Hintergrund zusammenbraut. Wegen ihres gemischten Status schaffen sie Ver‐ unsicherung bezüglich des nationalen Selbst und der nationalen Staatsbürger‐ schaft. Ihr ambivalenter juristischer Status bringt Verfassungen und Rechtsord‐ nungen unter Druck. Ihre Mobilität gefährdet die Sicherung der Grenzen. Ihre Finanzgeschäfte verwischen einerseits die klaren Grenzen zwischen Volkswirt‐ schaften und andererseits den Unterschied zwischen legalen und kriminellen Geschäften. Ihre Sprachen nähren die Sorgen um den nationalen kulturellen Zusammenhalt. Besonders in einer urbanen Gesellschaft bietet sich ihr Lebens‐ stil für die Kanalisierung verbreiteter sozialer Spannungen an. Ihre Politik ist 237 Kulturelle Migration als Gemeinwohl? normalerweise multifokal und damit für Sicherheitsstaaten stets ein Anlass zur Beunruhigung. Sind sie wohlhabend, dann beflügeln sie die Phantasie von einer Globalisierungselite, als deren Paria-Vermittler sie auftreten. Sind sie arm, dann bieten sie sich als Symbole für das Scheitern vieler Formen der Wirtschafts- und Sozialhilfe an“ (Appadurai 2009: 59). Was hier in Bezug auf Minderheiten in einem nationalen Territorium analy‐ siert wird, funktioniert gleichermaßen in einer Projektion nach außen und kann das derzeitige Erstarken von Nationalismen erklären. Noch einmal mehr unter den Bedingungen der digitalen Medien muss der „Andere“ nicht mehr im ei‐ genen Land angetroffen werden, um als Bedrohung wahrgenommen zu werden. Appadurai analysiert, dass mit den Möglichkeiten der Informationstechnolo‐ gien, der beschleunigten Zirkulation von „Nachrichten, Kapital und Flücht‐ lingen“ nationale Grenzen und Zugehörigkeiten weniger eindeutig und schwä‐ cher werden - und damit Auslöser von Angst werden können. Diese Erosionen ermöglichen tatsächlich neue und möglicherweise auch ausgeweitete Formen von Terror. Aber, so Appadurai, sie ermöglichen auch neue Formen der Wir-Bil‐ dung, neue Formen der Interessenaggregation, neue Formen der Solidarisie‐ rung: eine wie er es nennt transnationale „tiefendemokratische“ Graswurzel‐ globalisierung (Appadurai 2009: 149 ff.). Es entstünden Organisationen, oft in Zusammenarbeit mit multilateralen Institutionen, Regierungen von Heimatlän‐ dern, globalen Geldgebern, Kräften lokaler und internationaler Zivilgesellschaft. Sie arbeiteten ohne starke Zentrale. Sie seien beteiligt an der Gestaltung eines dritten Raumes, in dem Märkte und Staaten gezwungen sind nicht nur Bedeu‐ tung anzuerkennen, sondern auch Mitsprache zu gewähren. An dieser interna‐ tionalen Zivilgesellschaft und ihrem pazifizierenden Potential sei zu arbeiten. Auf sie sei Hoffnung zu setzen. Wie aber könnte dies ein evidenzbasierter transnationaler Wert werden? Nüchterne Anthropologen verweisen auf die soziale Produktivität von Gewalt als Vergemeinschaftungsübung. Was also kann der Behauptung eines Rechts des Stärkeren oder eines Rechts auf exklusive Wir-Bildung und Abschottung ent‐ gegengesetzt werden? Kultur kann auch als Praxis kollektiver Werte-Genese aufgefasst werden. Al‐ lerdings in einem komplexeren Verfahren als dem Erzählen eines „Narrativs“, das die Dichotomie von Universalismus und Relativismus nicht auflösen kann. Hans Joas sieht die Schwierigkeit in der Begründung von Werten darin, dass Bindung an Werte mit einer Vorstellung von Wertvollem aus Erfahrungen und ihren Verarbeitungen hervorgeht und nicht allein aus rationaler Herleitung. Damit sind Werte aber als kontingent, also nicht notwendig, erkennbar. Aber sind sie damit zwingend auch relativ? Mit Kants Philosophie verbinde sich die 238 Odila Triebel Hoffnung auf eine moralphilosophische Argumentation, die unabhängig von aller Geschichte universelle Geltung habe. Mit der Einsicht in geschichtliche Entstehung aber relativieren sich mit Nietzsche alle Universalismen. Joas Ausweg ist die Idee der Wertegeneralisierung als affirmativer Genealogie. Sie sei „weder ein Konsens im Sinne des rationalargumentativen Diskurses noch eine bloße Entscheidung zur friedlichen Koexistenz trotz eines unüberwind‐ baren Wertedissenses“ ( Joas 2015: 264). Joas spricht von dem Wert der Unver‐ fügbarkeit der Person als sakral in dem Sinne, dass er sich auf subjektive Evidenz (z. B. Bindungskraft aus Erfahrung oder Verantwortungsannahme einer gewalt‐ vollen Vergangenheit) und affektive Intensität gründe ( Joas 2015: 18). Diese Sakralisierung konkurriere ständig mit anderen Sakralisierungen wie etwa der der Nation oder der klassenlosen Gesellschaft ( Joas 2015: 101). Begründet werden kann sie deswegen nur in einer gemeinsamen Praxis ihrer Generalisie‐ rung: Das Resultat gelingender Kommunikation über Werte sei mehr oder we‐ niger als das Resultat eines rationalen Diskurses: „zwar kein voller Konsens, aber eine dynamische wechselseitige Modifikation und Anregung zur Erneue‐ rung der je eigenen Tradition“ ( Joas 2015: 264). In dieser begründenden Praxis ähnlich spricht Francois Jullien von Kultur als Aktivierung im Gegensatz zu einer Kultur als Identität. Kultur als Aktivierung ziele auf ein rebellisches, re‐ gulatives Universelles, das niemals fertig ist. Kultur als Ressource sei eine Sorge um das Gemeinsame, das deswegen aber nicht gleichartig sein muss ( Julien 2018). Kulturarbeit in diesem Sinne erzählt nicht primär von sich, repräsentiert nicht primär, sondern zielt auf gemeinsame Praxis. Und zwar immer wieder und je neu. „Austausch“ ist hierfür notwendige Voraussetzung. Die Idee eines globalen Zusammenlebens braucht also zentral kulturelle Kompetenz. Und zwar nicht nur, um mit dem Anderen, der schon da ist und den Anderen, die noch kommen werden, unter den Bedingungen der Differenz kommunizieren und handeln zu können. Sie braucht kulturelle Praktiken auch, wie oben dargestellt, zur gemeinsamen „grenzüberschreitenden“ Wertegenerie‐ rung, zum Gestalten der Commons. Sie braucht Phantasie und Mittel zur Ge‐ staltung neuer, nicht ausschließlich an ein Territorium gebundener und ergänz‐ ender Solidaritäten: „Die Probleme, vor denen wir heute stehen, lassen sich nicht mit einem Zauberstab, per Handstreich oder Wunderheilung lösen; sie erfordern nichts Geringeres als eine kulturelle Revolution“ (Baumann 2017: 55). Globales menschenrechtsbasiertes Zusammenleben braucht aber auch kul‐ turelle Kompetenz, weil diese Idee selbst mit kulturellen Mitteln verteidigt werden muss. Sie stellt eine Frage an uns, wie wertvoll uns die Kultur der libe‐ ralen Werte (unveräußerliche gleiche Würde, gleiche Rechte für jeden Men‐ schen) ist und wie kunstvoll wir diese Ressource nutzen wollen und können. 239 Kulturelle Migration als Gemeinwohl? Denn diese Idee, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie in der oben zitierten Deklaration zur Norm wurde, ist zwar rational argu‐ mentativ begründbar, aber ist nicht allein ein theoretisches Konstrukt. Wie die aktuellen politischen Debatten zeigen, ist jede Äußerung positioniert, Teil eines kulturalisierten Feldes. Argumentationen sind verkörpert, werden ausagiert, vertreten, haben also einen politisch-performativen Aspekt. Sich für Normen einzusetzen bedeutet, auf eine Handlungsmöglichkeit zu verweisen, auf eine andere als die faktische Situation, und bedeutet aber eben auch, sich abzu‐ grenzen. Deswegen ist es nötig, Zustimmung mit vielen verschiedenen Mitteln zu ermöglichen: mit anschaulichen Erzählungen, mit empirischen Beispielen, und vor allem mit gemeinsamen Lernerfahrungen - und Wege zu suchen wirk‐ lich gesamtgesellschaftlich anschlussfähig zu sein (zum Problem der kulturellen Segregation um die Frage kosmopolitischer Einstellungen und Kulturpraktiken, vgl. Reckwitz 2017). Erhalten und verteidigt werden kann diese Idee einer globalen Zivilität aber auch nicht allein mit kulturellen Mitteln, sondern im Zusammenhang mit Ab‐ kommen, Gesetzen und Institutionen. Dass nicht das Recht des Stärkeren zählen soll, ist Lernergebnis aus einem höchst gewalttätigen 20. Jahrhundert und aus dieser Einsicht wuchsen Institutionen wie die UNESCO und wurde die Men‐ schenrechtskonvention (zu der auch kulturelle Menschenrechte gehören! ) ver‐ abschiedet. Ebenso entwickelte das Völkerrecht sich entscheidend weiter. Im internationalen und transkulturellen Sinne einer solchen Weltgemeinschaft, ba‐ sierend auf dem rationalen und faktenorientierten Diskurs der Wissenschaft und dem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung und freien kulturellen Ausdruck, arbeiten auch die Institutionen der Kulturmittler. Diese sind national geförderte, rechtlich aber als Zivilgesellschaft organisierte Mittlerorganisati‐ onen der Außenkultur- und Bildungspolitik in Deutschland, wie der DAAD, die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, die Alexander von Humboldt Stif‐ tung, das Goethe Institut, das ifa (Institut für Auslandsbeziehungen). Sie arbeiten unter anderem auch zentral an der Infrastruktur, die eine solche Praxis benötigt: Sie schaffen Möglichkeiten zu Spracherwerb, Länderkenntnis, Begegnung ebenso wie die Bundesministerien die Rechtsrahmen, die z. B. Visavergabe und Kulturgüterschutz regeln, schaffen (zu Entstehung, Aufgaben, Struktur, Insti‐ tutionen der AKBP in Deutschland vgl. z. B. Maaß 2015). Neben diesen Institutionen und Rechtsrahmen braucht eine normengeleitete internationale Kulturzusammenarbeit auch die hard facts von Wissensvermitt‐ lung, wie z. B. in empirischer Sozialforschung, Psychologie, Globalgeschichte, Recht. Sie braucht eine Hochschule als Demokratieort, die interkulturell aufge‐ schlossene, rechtlich versierte, historisch kenntnisreiche, für die Traumata an‐ 240 Odila Triebel derer Gemeinschaften sensible junge Menschen bildet. Nicht zuletzt mutige, die Realitäten ins Auge blicken können und dennoch motiviert sind, für eine globale Humanität als menschlicher Gemeinschaft offener Gesellschaften einzutreten. Aufgaben für Studium und Lehre sind damit umrissen. Arbeitsfelder gibt es viele! Literatur Appadurai, Arjun (2017 [2009]). Die Geographie des Zorns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Baumann, Zygmunt (2017). ‚Symptome auf der Suche nach ihrem Ursprung‘; in Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhr‐ kamp. Beck, Ulrich (2007). Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Harari, Yuval Noah (2017 [2015]). Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München: Beck. Change (2018) ‚Brüsseler Erklärung für die Freiheit‘. URL: www.change.org/ p/ brüsselererklärung-für-die-freiheit (24 October 2018). Joas, Hans (2015). Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin: Suhrkamp. 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Teil IV: Kulturformen Between the Lines: Fantasy in Fracturing Classrooms - Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern Molly Brown Übersetzt von Lukas Müsel In ‚Out of a Book‘, einem der Essays aus Collected Impressions, beteuert Schrift‐ stellerin Elizabeth Bowen (1950: 267) folgendermaßen die Bedeutung des Lesens in der Kindheit: „I feel certain that if I could read my way back, analytically, through the books of my childhood, the clues to everything could be found. The child lives in the book; but just as much the book lives in the child.“ Wenn sie auf ihre ersten Leseerfahrungen zurückblicken, werden viele Leser Bowens Sichtweise vermutlich intuitiv zustimmen. Francis Spufford (2002: 21-2) betont in seinem bewegenden Memoir The Child that Books Built die nachhaltig prä‐ gende Rolle des Lesens in der Kindheit: What follows is more about books than it is about me, but nonetheless it is my inward autobiography, for the words we take into ourselves help to shape us. They help form the questions we think are worth asking; they shift around the boundaries of the sayable inside us, and the related borders of what’s acceptable; their potent images, calling on more in us than the responses we will ourselves to have, dart new bridges into being between our conscious and unconscious minds, between what we know we know, and the knowledge we cannot examine by thinking. Auch das vorliegende Essay geht gewissermaßen von diesen Behauptungen aus: Ich hoffe erstens zu zeigen, dass durch das Lesen bestimmter postmoderner Fantasy-Romane die Türen zu einem flexiblen, aber dennoch sicheren erzäh‐ lerischen Raum geöffnet werden, in dem jugendliche Leser den mit dem Er‐ wachsenwerden einhergehenden Schwierigkeiten entgegentreten können. Zweitens soll analysiert werden, wie und warum gerade Fantasy-Romane ein so kraftvolles Hilfsmittel sein können, um Vorurteile zu konfrontieren und so‐ ziale Integration unter Jugendlichen zu befördern. Was ich zu sagen habe, speist sich hauptsächlich aus meinen Erfahrungen in Südafrika, wo die Wahlen von 1994 ein neues Zeitalter einläuteten, in dem, zu‐ mindest in bisher vorrangig weißen Schulen, beinahe über Nacht rassenge‐ trennte Klassenzimmer durch gemischtrassige ersetzt wurden. In Gesprächen mit Lehrerfreunden stellte sich heraus, dass jüngere Kinder diesen Verände‐ rungen offener entgegentraten als ältere - von denen einige von weitaus tieferen Narben vergangener Traumata gezeichnet waren und von denen alle weitaus länger mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert waren. Südafrikanische Gym‐ nasiallehrer fanden sich dadurch oft in eine Position zwischen zwei entgegen‐ gesetzten kulturellen Trennlinien gezwängt. In solchen Situationen stellte sich bald heraus, dass der effektivste Weg die Spannungen zu lösen gerade nicht darin bestand, sie direkt anzusprechen, sondern viel eher darin, sie indirekt anzugehen und es den Jugendlichen zu ermöglichen selbst Schritt für Schritt Richtung Ver‐ söhnung zu gehen, indem sie lernten zwischen den Zeilen der Texte zu lesen, die auf der Oberfläche rein gar nichts mit ihrer Situation zu tun hatten. Natürlich sind diese Erfahrungen aus Südafrika nicht eins zu eins auf Deutschland zu übertragen; ich denke dennoch, dass es viele Ähnlichkeiten gibt und ich hoffe zeigen zu können, dass in beiden Ländern die fantasievolle Aus‐ einandersetzung mit fiktiven Welten einer der wirkmächtigsten Wege ist, auf denen Lehrer - wenn sie angemessen damit umgehen - Empathie befördern und sozialen Zusammenhalt stärken können. Die verschiedenen Verkörpe‐ rungen der Erzählung entfalten, um es in Paul Ricœurs (1992: 170) Worten zu sagen, „an imaginary space for thought experiments in which moral judgement operates in a hypothetical mode.“ Nichtsdestotrotz muss an die Idee, dass Bücher eine bestimmte Wirkung auf junge Leser haben können, mit Vorsicht herangegangen werden. In der Tat werden zuversichtliche Sichtweisen bezüglich der Verbindung zwischen Lesen und Identitätsstiftung von Kritikern gegenwärtig oft als naiv oder gar reaktionär abgetan. Wir wissen nicht - wie Suman Gupta (2005: 299) zynisch beobachtet -, dass „‘[c]hildren’s literature is a playing field that has little to do with children as reading subjects, but a great deal to do with ‚children‘ as a politically effica‐ cious category in the adult world. In broader terms, children’s literature emerges from, and impinges upon, a nexus of social, political and economic relations wherein adult desires are played out with ‚children‘ as a constantly and conve‐ niently constructed category.“ Generell begünstigen solche Ansichten die binäre Opposition zwischen Er‐ wachsenem und Kind; einer Dichotomie, die wenig theoretischen Raum für die Berücksichtigung der Subkategorie der Adoleszenz lässt, wie Alison Waller (2009: 6) beobachtet: 246 Molly Brown […] the „set of meanings“ contained in adolescence is quite distinct from childhood and cannot be described in straightforwardly oppositional terms. For instance, ado‐ lescence does not clearly refer to ideas of innocence, origin or moral security, and it is located, not merely as „other“ to adulthood, but also as „other“ to childhood. It is a liminal space onto which a distinct dichotomy of desires or fears cannot easily be projected. In der Konsequenz wurde eine Perspektive hervorgehoben, die das Jugendalter als liminale Phase sieht, während der Jugendliche sich in einer unbequemen Übergangszone befinden. In diesem nebulösen Raum werden sie ermächtigt durch ihre Blicke, ihre physischen Fähigkeiten, die verstärkte Zahlkraft und ihre Präsenz als Schlüsselfiguren in einer Post-Sechziger Mythologie, das die ju‐ gendliche Rebellion glorifiziert (Trites, 2000: xi) - und dennoch gleichzeitig ent‐ machtet durch die zunehmende Objektivierung des adoleszenten Körpers, ihre verringerte Befugnis in den formalen Arbeitsmarkt einzutreten und durch das, was Heather Scutter (1999: 251) als „extensive adult anxiety about the disap‐ pearing child and the disappearance of childhood“ bezeichnet. Insbesondere der letzte Faktor trägt dazu bei, dass Erwachsene von Jugendlichen eines Bildes des „getting out of hand, going out of bounds, moving beyond control“ haben. Da‐ durch entsteht die Tendenz, den Räumen, in denen das verschwindende Kind / der entstehende Erwachsene als „feral, wild, chaotic, corrupt, evil“ (Scutter 1999: 251) eingeschrieben werden. Die negativen Aspekte dieser Reaktion sind eine Erinnerung an das, was der Kulturanthropologe Victor Turner (1969: 95) betont: dass liminale Stadien in menschlichen Kulturen selten positiv oder auch nur neutral wahrgenommen werden, sondern stattdessen oft „likened to death, to being in the womb, to invisibility, to darkness, to bisexuality, to the wilderness and to an eclipse“ werden. All diese Aspekte werden verstärkt wenn der / die Jugendliche bezüglich Sprache, Nationalität, Religion oder Erfahrung als ‚an‐ ders“ definiert und festgelegt wird, so dass die Besorgnis um die Rolle solcher jungen Erwachsenen in Gesellschaften, die sich im sozialen Wandel befinden, oft beinahe hysterische Ausmaße annimmt. Vielleicht liegt der Grund darin, dass realistische Jugendromane so oft unbe‐ hagliche Sachverhalte thematisieren und routinemäßig das ‚Happy End‘ ver‐ werfen, das für junge Leser so wichtig ist, in dem Versuch der Bewältigung eben solcher Ängste. Karen Coats (1999: 291) beispielsweise nutzt Julia Kristevas (1995) Untersuchung zur komplexen Interdependenz von Adoleszenz, orientie‐ rungsloser Psyche und Schreiben, um zu behaupten, dass es in der Jugendlite‐ ratur oftmals um den Begriff und die Analyse der Abjektion geht. Noch beun‐ ruhigender ist, dass Nikolajeva (2010: 113) in der Verhandlung einiger schwedischer Jugendromane, die von Frauen geschrieben wurden, den Aufgang 247 Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern dessen ausmacht, was sie als einen neuen und verstörenden Stereotyp der Frau betrachtet. Njkolajeva behauptet, dass man - von diesen Romanen ausgehend - annehmen müsse, dass „urban girls in Sweden normally get blind drunk every Friday when they are twelve, have their first sexual experience at thirteen, and are daily subjected to rape, incest, and drugs.“ Die Beobachtung, dass die auf‐ fällige Fixierung dieser fiktionalen Repräsentationen auf solch negative Extreme adoleszenter Erfahrungen scheinbar eher anerkennend als ‚Vorbild‘ gesehen wird, anstatt als warnende Geschichte benutzt zu werden, beunruhigt sie. Da das so schräg zu den akzeptierten Moralvorstellungen steht, die vorgeblich er‐ wachsenes Verhalten steuern, muss sie schlussfolgern, dass die Ideologie, die diese Romane vermitteln, nur auf der „alterity, the authors’ perceptions of their protagonists as ‚the Other‘“ basieren (Njkolajeva 2010: 120). In gewisser Weise muss also jede Diskussion um die Adoleszenz als distinkte und liminale Phase auf der Berücksichtigung zweier separater Konzepte auf‐ bauen: das Erwachsenenalter, das sie anstrebt und die Kindheit, aus der sie her‐ vorgeht. Es ist daher kaum überraschend, dass Heather Scutter (1999: 11) in Displaced Fictions - einem Überblick zeitgenössischer australischer Jugendlite‐ ratur - Folgendes zusammenfasst: When we have been assailed on all sides by marketing hype about the new daring, intelligence, complexity and rawness of young adult fiction, it is salutary to remind ourselves that, in many crucial respects, the genre has been running on the spot. That spot looks backward at a green and gold world, the world of the earlier and younger self, of childhood, of the pastoral; and it looks forward at a grey and black world, the world of the future self, of adulthood, of the counter-pastoral. The problem in young adult fiction lies in the reconciliation of these once and future selves. Scutters Beobachtung impliziert die Idee, dass Jugendbuchautoren es sich zu oft erlaubt haben, sich in den Modus eines düsteren Realismus zurückzuziehen, indem sie die traditionelle Sichtweise auf Kinderliteratur als inhärent didakti‐ sches oder ethisches Medium zurückwiesen. Ein solcher Modus - während er die Einfachheit, Stabilität und den Optimismus, der herkömmlich mit Kinderli‐ teratur verknüpft wird, unterminiert - befördert ironischerweise dennoch weiter reduktive Stereotypen von Jugendlichen und thematisiert nicht alles, was Chimamanda Ngozi Adichie (2009) in einem einflussreichen TED-talk die Ge‐ fahr der einzigen Geschichte nennt. Was diese Beobachtungen andeuten ist, dass die Autoren vieler neuerer Ju‐ gendbücher - während sie vielleicht dachten, sie würden junge Leser bevoll‐ mächtigen, indem sie die didaktischen Konventionen der Vergangenheit zu‐ rückweisen - eben diesen einen Satz von Lektionen oft einfach durch einen 248 Molly Brown anderen Satz gleichermaßen verstörender Lektionen ersetzten. Interessanter‐ weise argumentiert Wayne Boothe (1988: 151-2) in The Company that We Keep: An Ethics of Fiction, dass der Versuch im zwanzigsten Jahrhundert eine Unter‐ scheidung zu treffen „between genuine literature […] and ‚rhetoric‘ or ‚didactic‘ literature is entirely misleading if it suggests that some stories […] are purged of all teaching.“ Anders gesagt: zeitgenössische Moralkritik geht von der Prä‐ misse aus, dass alle Geschichten moralische Systeme sind - eine Ansicht, die auch Aidan Chambers (2010: 275) teilt, indem er von Jugendbüchern sagt: „They propose meanings and possibilities, reasons and motives, better rather than worse ways of living, whether their authors mean them to or not.“ Daher kann man mit Marlene Goldman (2007: 810) behaupten: „Contempo‐ rary ethical criticism is not simply concerned with our relationship to literature and to the good, but, more specifically, with our relationship to the other.“ Ähn‐ lich formuliert auch Derek Attridge (2004: 125) die Konventionen der Moral‐ kritik um: „‚[a] responsible response to an inventive work of art, science, or philosophy […] is one that brings it into being anew by allowing it […] to refigure the ways in which I, and my culture, think and feel.“ Bevor die Verleger durch die - von Jonathan Hunt (2007: 142) so bezeichnete - ‚fantasy renaissance‘ in den späten neunziger Jahren auf die immense Lukra‐ tivität des Jugendbuchmarktes aufmerksam wurden, gehörten Fantasy-Romane für Jugendliche zu dem, was von Eltern, Fachmännern und Literaturkritikern schlechtgemacht oder gar gänzlich negiert wurde. Es gibt viele mögliche Erklä‐ rungen für die Fantasy-Aversion erwachsener Kritiker; sie reichen von religi‐ ösem Fundamentalismus über die nachhallenden Echos der modernistischen Abneigung jeglicher Unterhaltungsliteratur bis hin zu einem unausgespro‐ chenen, jedoch erstaunlich weit verbreiteten kulturellen Misstrauen gegenüber Lust, da, wie Northrop Frye (1976: 25) behauptete, Akademiker Fantasy oft als „delightful, and therefore detestable“ ansehen. Weitaus wichtiger für diesen Ar‐ tikel jedoch, sieht Darko Suvin (1979: 4) den Wert von Fantasy-Literatur in ihrer Fähigkeit eine Erfahrung „kognitiver Entfremdung“ herbeizuführen. Parado‐ xerweise ist es genau das, was es ihr - mit J. R. R. Tolkien gesprochen - ermög‐ licht eine ‚recovery‘ zu erleichtern; eine neue Wertschätzung des Bewussten und Bekannten. Dadurch wird es Christine Mains (2009: 62) möglich von Fantasy-Li‐ teratur zu behaupten, dass [w]hile some criticisms of the field do have some validity - that it is politically con‐ servative, that it appeals to children and the childish, that it is formulaic and repetitive, especially in the trend to never-ending sequels - fantastic fiction can be a way of describing an imperfect world and provoking social change. 249 Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern Der Grund dafür, dass Fantasy-Literatur das Potential hat, die Stereotype zu korrigieren, die unsere gegenwärtige Kultur prägen, liegt vielleicht - wie die Moralphilosophin Margaret Somerville (2006: 15) schreibt - in Folgendem: Humans share their imaginations and bond with one another through the stories they tell. A story is to human growth as a fact is to science, mathematics is to physics, or poetry is to the human spirit. Myths are a special kind of story. They capture and express realities that cannot be put directly into words and shared in any other way. Mit Robert A. Collins (1982: 108-20) anders ausgedrückt: Fantasie oder Mythen und die Realität sind untrennbar miteinander verbunden, so dass die Definition von ‚Fantasie‘ die Definition von ‚Realität‘ und die postmoderne Verwischung der Trennung zwischen dem ‚Realen‘ und dem ‚Imaginären‘ miteinschließt. In gewisser Weise sind Fantasy-Settings und die Charaktere, die darin auf‐ tauchen dann nur teilweise durch ihre physischen Eigenschaften und Aktionen definiert; viel grundlegender ist, dass sie alle durch ihre Rollen in einem sym‐ bolischen Drama definiert werden können. Wie Brian Attebery (1980: 182) es ausdrückt: „The entire fantasy world becomes a map of the mind, and the conflict that takes place there is like a medieval psychomachia, a contest between per‐ sonified virtues and vices, or in more modern terms between integrative and destructive forces within the personality“. Die Wahrnehmung von Fantasy als etwas, das inhärent genug Potential birgt, um sowohl die persönliche Moral und Übergangsriten zu adressieren, könnte auch von einem Bewusstsein davon re‐ sultieren, dass die Erzählstrukturen - im Gegensatz zu den beinahe unendlich variablen Charakteren und Settings - sehr viel fester sind. John Clute (1997: 804, 942, 1098) zum Beispiel behauptet, dass alles, was er als ‚tatsächliche Fantasy-Li‐ teratur‘ bezeichnet, einem Prozess folgt, der von einer Falschheit ausgeht, an‐ schließend über eine Ausdünnung (einer Erkenntnis, dass die Welt weniger ist als sie sollte oder sein könnte) und die darauffolgende, einen Wendepunkt markierende, Erfahrung einer Erkenntnis oder Epiphanie bis hin zu einem Hei‐ lungsprozess führt. Traditionelle Fantasy sieht sich unter Umständen mit dem Vorwurf konfron‐ tiert, dass die Vorhersagbarkeit der Struktur und die schablonenhaften narra‐ tiven Konventionen den interpretativen Freiraum einschränken. Dennoch würde ich behaupten, dass Kritik dieser Art nicht berücksichtigt, dass jugend‐ liche Leser - während sie bedeutend älter sind als Vorschulkinder, die mittler‐ weile den größten Teil des modernen Märchen-Publikums ausmachen - unter Umständen emotional genauso verletzlich sein können. In genau diesem Kon‐ text einer solchen Unsicherheit bezüglich der Bedürfnisse und emotionalen Be‐ lastbarkeit jugendlicher Leser sehe ich die Attraktivität der Fantasy-Literatur; 250 Molly Brown 1 Die wissenschaftliche Gültigkeit der Evolutionspsychologie ist noch im Begriff etabliert zu werden und viele Literaturwissenschaftler sind nicht bereit eine Theorie zu billigen, die das Verständnis von Identität zu einer existentialistischen Erkenntnis der Biologie reduziert. Differenzierte Interpretationen, die vorsichtig die komplexen Interaktionen zwischen Biologie und Kultur untersuchen werden jedoch, wie Allison Waller (2009: 191) bemerkt, „increasingly influential in discussions about human subjectivity and behaviour“ und sind daher in einer guten Position, neues Licht auf verschiedene As‐ pekte menschlichen Verhaltens zu werfen - inklusive des Leseverhaltens Jugendlicher und dessen imaginärer Funktionsweise. in ihrer inhärenten Möglichkeit die Herausforderungen des Neuen zu themati‐ sieren und gleichzeitig die Sicherheit des Bekannten vorauszusetzen. Obwohl zeitgenössische Fantasy-Literatur für Jugendliche ein mehr oder we‐ niger gutes Ende garantiert, zeigt die Verwendung vieler postmoderner Tech‐ niken - wie etwa die des double-voiced discourse, metafiktionale Verspieltheit und Geschichten mit offenem Ende -, dass das Genre deutlich komplexer und ambivalenter ist als die Bevorzugung von Happy Ends vielleicht andeutet. Da‐ raus folgt, dass die besten zeitgenössischen Jugendromane den Jugendlichen / die Jugendliche dazu anspornen sich mit sich selbst und der Welt auseinander‐ zusetzen, durch die er oder sie definiert ist. Das geschieht jedoch nicht durch eine erzwungene Konfrontation des Lesers mit den Unzulänglichkeiten der Er‐ wachsenenwelt ohne, dass auf irgendwelche beschützenden Strategien zurück‐ gegriffen wird. Es geschieht vielmehr dadurch, dass er ermutigt wird, sich aus dem Kokon der Kindheit zu lösen, indem er auf die heldische Erkenntnis der ‚Ausdünnung‘ intuitiv mit der sehr ähnlichen Erkenntnis reagiert, dass auch die kindliche Welt eine seltsamerweise verkleinerte und nicht länger befriedigende Umgebung geworden ist. Diese eindringliche Erkenntnis ermöglicht dann den Übergang in einen freischwebenden Raum der die reale Welt überwacht, ihre Normen in Frage stellt und Möglichkeiten für einschneidende Veränderung an‐ bietet bevor der Held - und damit auch der Leser - ins Bekannte zurückgeführt wird, das er nun, da er (zumindest potentiell) dazu befähigt wurde, unter neuen und vielleicht sogar subversiven Gesichtspunkten betrachten kann. Das relativ neue Feld der Evolutionspsychologie betont ebenso eine Neube‐ wertung der Wichtigkeit kindlichen Lesens. Während der Terminus ‚Entwick‐ lung‘ allgemein mit Charles Darwins Beobachtungen über die Welt der Biologie in Verbindung gebracht wird, haben unter anderem Richard Dawkins ([1976] 1989, 1982, 1986), Daniel Dennett (1991, 1995, 1999, 2017), Susan Blackmore (1999), Kate Distin (2005) gezeigt, dass die grundlegenden Elemente des Darwi‐ nismus lediglich Reproduktion, Veränderung und Selektion sind - und dass Evo‐ lution in jedem Feld, in dem diese Elemente präsent sind, sehr wahrscheinlich ist. 1 Dawkins (1982: 290) behauptete daher, dass genauso wie das Gen die Ent‐ 251 Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern 2 Interessanterweise zeigen neuere neurologische Studien über das jugendliche Gehirn scheinbar, dass das Gehirn selbst durch kulturelle Faktoren beeinflusst ist. Nachdem Howard Sercombe (2010, 34) einige dieser Belege in einem Artikel in der Zeitschrift The Journal of Adolescent Research zusammenfasst, behauptet er, dass „the brain as a structure is not only shaped by genetics, by biology, but also by environment, by ex‐ perience. The brain does not only determine experience. Experience also determines the brain.“ wicklung des Körpers vorantreibt, die Entwicklung des Geistes durch das Mem determiniert wird, das er als eine Einheit ‚kulturellen Erbes‘ bezeichnet. Auf dieses Argument aufbauend, argumentieren Dennett (1999) und Blackmore (1999), dass die Mem-Theorie unausweichlich zu dem Schluss führt, dass der menschliche Verstand - von dem traditionell angenommen wird, er habe die Fähigkeit zu Kreativität und Entscheidungsfindung - eigentlich ein Komplex parasitischer Meme ist, ein Memplex, und dass jede Vorstellung des Individuums als unabhängiges, seine Vorstellungen und Gedanken kontrollierendes Wesen eine völlige Illusion ist. Distin (2002: 52) weist diese Auffassung jedoch zurück, indem sie argumen‐ tiert, dass „[u]nlike genetic mutation, which is an essentially mindless process, cultural processes may be directed by intentional human decisions“. Sie stützt diese Behauptung mit dem Hinweis darauf, dass Kinder vielleicht mit der an‐ geborenen Fähigkeit zur Welt kommen, neue Konzepte oder Meme erlangen zu können. Distin (2005: 168) zeigt damit auf, dass das angeborene geistige Potential eines Individuums entwickelt und nicht durch die Interaktion mit einer Umwelt erzeugt wird, „a crucial element of which is memetic“. Entscheidend ist dann, wie Distin (2005: 89) betont, dass Meme als Repräsentationen sowohl „both within human minds and outside them, in information stores like books and blueprints“ gefunden werden können. Das alles ist offensichtlich relevant für diejenigen, die Interesse am Lesen haben, da es impliziert, dass der menschliche Verstand „developed by interaction with existing culture“ 2 werden kann und dass „external representations [such as books] play an essential role in memetic replication“ (Distin 2005: 90). Die enorme Erweiterung des nutzbaren Mem-Speicherplatzes in Schriftkul‐ turen kann daher als etwas gesehen werden, das Variation bestärkt statt Ho‐ mogenität zu befördern. Da die Kapazität des gegenwärtigen Mem-Speichers unendlich ist, ist sie als inklusiv und nicht exklusiv zu betrachten Memetische Innovation oder Mutation setzt mit höherer Wahrscheinlichkeit bei einem Kind ein, das liest, als bei einem Kind, das ausschließlich den kulturellen Memen seiner erwachsenen Bezugspersonen ausgesetzt ist. 252 Molly Brown Carlsen (1980: 40) weist außerdem darauf hin, dass das Leseinteresse meistens zwischen zwölf und vierzehn Jahren seinen Höhepunkt erreicht - eine Tatsache, die scheinbar John Abbotts und Terry Ryans Vermutung unterstützt, dass gerade Jugendliche vermutlich offener für neue Meme sind, da Veränderungen im ju‐ gendlichen Gehirn wie dafür gemacht erscheinen, junge Erwachsene darin zu bestärken „to question authority, challenge earlier ways of learning, fear less and risk more“ und dadurch kulturelle Adaptionsprozesse zu beschleunigen. Aus diesem Blickwinkel gesehen, ist die „[a]dolescence […] the last valid space for fantastic empowerment before the responsibilities of adulthood commence.“ Interessanterweise stellt Distin (2005: 44) auch heraus, dass Meme im Grunde integrativ sind und daher eine größere Chance haben den „Mem-Pool zu durch‐ dringen“[of „penetrating the meme pool“] wenn sie mit den anderen Memen in dieser Umgebung übereinstimmen. Das legt den Kritikern von Kinder- und Ju‐ gendbüchern zwei interessante Dinge nahe: erstens, solchen Memen, die sich komplett von den bereits im Verstand des Lesers aktiven unterscheiden, könnte weniger Widerstand entgegengebracht werden, wenn sie in eine Fantasiewelt integriert werden, die sich aufgrund ihrer Differenz von der eigentlichen Welt als inhärent harmlos darstellt. Zweitens, Mem-Übertragung führt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Neukombination, wenn die Anzahl dissonanter Meme begrenzt ist. Wenn also Jugendromane dafür kritisiert werden, dass sie „the potential for radical retellings of adolescence, which test dominant discur‐ sive frameworks“ liefern (Waller 2009: 195) aber zu oft Werte ins Feld führen, die „conventional and even reactionary“ (Waller 2009: 195) sind, könnten die Kritiker möglicherweise die Tatsache übersehen, dass es genau die beruhigende Anwesenheit einer bedeutenden Anzahl dominanter Meme ist, die den betref‐ fenden Roman zu einem effektiven Übermittler einer begrenzten Anzahl von subversiven aber dafür mehr beunruhigenden Memen macht. Es scheint also wieder, als würde die einzigartige Fähigkeit von Fantasy-Romanen - trotz der Situierung im Rahmen einer beruhigenden und optimistischen Erzählstruktur - Staunen und Neuartigkeit zu provozieren, sie zu einem besonders mächtigen Werkzeug machen, um herausforderndes memetisches Material zu übermitteln. In seiner Massey-Vorlesung The Educated Imagination von 1963 antwortete Northrop Frye auf eine hypothetische Frage, was der Nutzen davon sei, ausge‐ dachte Welten zu analysieren, in denen „anything is possible and anything can be assumed, where there are no rights or wrongs and all arguments are equally good“, mit folgenden Worten: One of the most obvious uses, I think, is its encouragement of tolerance. In the ima‐ gination our own beliefs are also only possibilities, but we can also see the possibilities in the beliefs of others. Bigots and fanatics seldom have any use for the arts, because 253 Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern they’re so preoccupied with their beliefs and actions that they can’t see them as also possibilities. (Frye 1963: 33) 2006, mehr als vierzig Jahre später, zitierte Margaret Somerville Frye in ihrer Massey-Vorlesung The Ethical Imagination: Journeys of the Human Spirit, in der sie die Macht der Literatur würdigt, indem sie behauptet, dass sie eine Sprache bereitstelle, durch die wir Zugang zu „the full spectrum of our human ways of knowing, especially moral intuition, imagination and creativity“ (72) bekommen. Pragmatisch gesehen ist es das, was meine Studenten und ich herausgefunden haben. Wenn wir in einem multikulturellen Klassenzimmer voller unausgespro‐ chener Spannungen unter und zwischen Jugendlichen stehen, ist die beste Art damit umzugehen nicht die direkte Konfrontation, sondern die Anregung sich mit - mitunter vielen fantastischen - Texten auseinanderzusetzen. Dadurch wird es möglich soziale Zerwürfnisse zu verlagern und sie in weniger bedroh‐ lichen Kontexten anzugehen. Über viele Jahre nutzten wir im Fachbereich Eng‐ lisch Harper Lees To Kill a Mockingbird (1960) und Chinua Achebes Things Fall Apart (1959) als Texte in unseren Kursen für Jurastudenten im ersten Semester. Ich kann es nicht an beiden Händen abzählen, wie viele Studenten mir daraufhin sagten, eines der beiden Bücher habe für sie wie eine Epiphanie gewirkt; als wir aber versuchten Alan Patons Cry the Beloved Country ([1948] 2003) zu unter‐ richten - ein Buch, das sich mit ähnlichen Inhalten in südafrikanischem Kontext auseinandersetzt -, protestierten fast alle Studenten jeglicher Nationalität mit anhaltendem Widerstand und Unmut dagegen. Memetische Schranken dieser Art können oft auch dadurch vermieden werden, dass historische Literatur benutzt wird, oder Literatur, die in einem anderen Land spielt. Bücher wie Ian Serrailliers The Silver Sword ([1956] 2003), das von einer Gruppe deutscher Kinder handelt, die aus dem vom Krieg zer‐ störten Berlin in die Schweiz fliehen, Eva Ibbotsons The Morning Gift (1993), das die Geschichte von Ruth, einer österreichischen Jüdin erzählt, die als Flüchtling in London lebt, oder Anne Holms I Am David ([1965] 1989), in dem es um einen Jungen geht, der vor dem diktatorischen Regime eines namenlosen osteuropäi‐ schen Landes nach Schweden flieht, könnten es deutschen Kindern viel leichter ermöglichen imaginär eine Flüchtlingserfahrung nachzuvollziehen, als aktuelle realistische Romane über Syrer in Deutschland. Durch solche Romane könnten auch Flüchtlingskinder die Erfahrung machen, dass Happy Ends für jeden mög‐ lich sind - selbst für heimatvertriebene und verletzliche Protagonisten. In Südafrika war eine meiner Studenteninnen, eine junge Lehrerin, sehr er‐ folgreich damit, in zerstrittenen und polarisierten Klassen Suzanne Collins The Hunger Games (2008) einzuführen. Der Roman spielt in einer Welt, in der jedes Jahr zwei junge Menschen aus jedem Distrikt zufällig ausgewählt werden, um 254 Molly Brown in einer Reality-Fernsehsendung gegeneinander anzutreten, sich zu jagen und schließlich zu töten. Es gewinnt derjenige, der überlebt und sein / ihr Bezirk bekommt für ein Jahr Ruhm und zusätzliche Rationen. Der Roman ist attraktiv für Jugendliche und da die Gesellschaft die Bewohner jedes Distrikts aus einem stereotypischen Blickwinkel betrachtet, bietet er sich für Diskussionen jeglicher Art darüber an. Das Spiel ums Überleben hebt auch den Wert von Kooperation hervor und die korrupten Erwachsenen, die die jungen Protagonisten als Un‐ terhaltungsobjekte missbrauchen und sie nicht als gleichwertig betrachten, werden als Musterbeispiele dafür herausgestellt, was radikales ‚Othering‘ einer Gesellschaft antun kann. Ähnlich verhandelt Ursula le Guins jüngste Trilogie Gifts (2004), Voices (2006) und Powers (2007) wesentliche Probleme bezüglich Macht und Verletzlichkeit. Besonders in Voices wird untersucht wie sich ein Mädchen in einer von Wüs‐ tenbewohnern besetzten Stadt, die einer dem Islam ähnelnden Kultur anhängen, zögerlich Schritte in Richtung eines neuen Modells sozialer Integration unter‐ nimmt und mit Gender-Vorurteilen aufräumt. Suman Gupta (2003: 85) zeigte auch, dass J. K. Rowlings Harry Potter-Reihe „deliberately and self-consciously with different worlds“ spielt - unsere eigene eingeschlossen. Die Unterwerfung kleiderloser magischer Wesen wie Zen‐ tauren, Goblins und Hauselfen evoziert unmissverständlich Ausbeutungsmuster des alltäglichen Lebens. Während ihre Andersartigkeit am offensichtlichsten durch die pferdeartigen Körper der Zentauren, die langen Finger der Goblins und die fledermausartigen Ohren, die übergroßen Augen und die zwergenhafte Größe der Hauselfen dargestellt ist, sind sie auch durch subtilere, aber nichts‐ destotrotz vertraute Kennzeichen als ‚das Andere‘ markiert. Im Gegensatz zu Firenze, dem überaus blonden und wohlgemerkt freundlichsten der Zentauren (1997: 187), hat Ban, sein Antagonist, „schwarze Haare und einen schwarzen Körper“ [„black-haired and -bodied“] und sieht „wilder“ aus (1997: 185). Genauso haben die Goblins dunkle Gesichter und „dark, slanting eyes“ (2000: 387), die Jackie C. Horn (2010: 81) verdächtig an die „stereotype of the Jewish money‐ lender or perhaps even of an Italian Mafioso“ erinnern. Dobby, der Hauself, hat nicht nur „an ugly brown face“ (1998: 249), sondern spricht auch auf eine Art und Weise, die, wie Brycchan Carey (2003: 103) zeigt, „reminiscent of 1930s and 40s Hollywood misconceptions of African-American dialects“ ist. Diese Hin‐ weise auf eine Art ‚Racial Profiling‘ berücksichtigend, wird es schwer zu argu‐ mentieren, dass Figuren wie Firenze, Griphook und Dobby nicht innerhalb einer komplexen Dialektik von Zueignung und Widerstand fungieren, die anhaltende Muster kolonialer und postkolonialer Interaktion widerspiegelt. Im Lichte dieser Ausführungen ist es interessant zu erwähnen, dass Potter-Poster letztes Jahr bei 255 Zwischen den Fronten: Fantasy in zerbrechenden Klassenzimmern den Protesten gegen Studiengebühren in London und bei unseren eigenen #Fees Must Fall-Protesten auftauchten - ein Indikator dafür, dass junge Leser durch das Lesen von Fantasy-Romanen nicht einfach nur das nötige Vokabular er‐ langen können, um ihre Forderungen auszudrücken, sondern darüber hinaus das Potential, die emotionale Komplexität ihrer Reaktionen auf Krisen anspie‐ lungsreich zu kommunizieren. Ich hoffe, dass dieser Artikel ein wenig zu Debatten über Fantasy-Jugendli‐ teratur beitragen kann, indem er behutsam Bowens (1950: 267) Behauptung bei‐ pflichtet, dass „the child lives in the book“ genauso wie „the book lives in the child“ und gleichzeitig versucht zu zeigen, dass „a more insightful description of the reading process […] comes from viewing the reader and the text as both acting upon and constraining each other within the broader context of acting upon and being constrained by social practices“ ( Jones 2006: 290). Literatur Achebe, Chinua (1959). Things Fall Apart. London: Heinemann. Adichie, Chimamanda Ngozi (2009). ‚The Danger of a Single Story‘. www.ted.com/ talks/ chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story? language=en. (Accessed 26th May 2016). Attebery, Brian (1980). The Fantasy Tradition in American Literature: From Irving to Le Guin. Bloomington, IN: Indiana University Press. Attridge, Derek (2004). The Singularity of Literature. 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Die Angst vor Anschlägen und einer Infiltration von Gruppen Geflüchteter durch terroristische Netzwerke ist nicht unberechtigt, wird jedoch auch gezielt von unterschiedlichen Interessengruppen genutzt, um Ressentiments zu schüren und isolationistische Bestrebungen voranzutreiben. Angesichts dieser schwierigen weltpolitischen Lage erfährt die politische Bil‐ dung von Bürgerinnen und Bürgern eine wachsende Bedeutung. Die derzeitigen Erfolge von Parteien und Politikern, die sich populistischer Argumente be‐ dienen, deuten jedoch auch an, dass Menschen nicht mehr nur mit moralischen oder sachlichen Argumenten zu erreichen sind, sondern auch auf einer emoti‐ onalen Ebene überzeugt werden müssen. Eine Reflexion über andere Kulturen, Religionen und Lebensweisen und eine Bekämpfung von Vorurteilen ist am besten über den persönlichen Kontakt zu erreichen. Darüber hinaus bietet je‐ doch auch die Literatur eine wirksame Möglichkeit zur Beschäftigung mit an‐ deren Lebenswelten. Der vorliegende Artikel basiert auf drei Grundannahmen, welche auf die „Macht der Worte“ in diesem Kontext verweisen. 1. Worte sind machtvoll, weil sie Handlungen initiieren und Sichtweisen verändern können - auf positive als auch negative Art und Weise, was der gefährliche Einfluss islamistischer und rechtspopulistischer Dema‐ gogen belegt. 2. Worte erlangen eine besondere Wirkung, wenn sie Teil eines öffentlichen Diskurses sind. Dies verweist auf die besondere Verantwortung von Jour‐ nalisten, Schriftstellern, Politikern und Intellektuellen für die Prägung der öffentlichen Meinung. 1 Hier sei auf ein umfassendes Forschungsprojekt verwiesen, das bis heute wegweisende Wirkung entfaltet. Das Fundamentalism Project (geleitet von Martin Marty und Scott Appleby, unterstützt durch die American Academy of Arts and Sciences) als eines der größten breit angelegten, interdisziplinären Forschungsprojekte, war über einen Zeit‐ raum von 5 Jahren (von 1987-1995) damit befasst, Kernmerkmale oder Familienähn‐ lichkeiten zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von religiösem Fundamenta‐ lismus zu identifizieren (siehe Marty/ Appleby (1991 (a) und (b)). Das Projekt gibt einen guten Überblick über verbindende strukturelle und ideologische Elemente und zeigt gleichzeitig die Vielfalt religiöser Fundamentalismen weltweit auf. 3. Worte besitzen ein ethisches Funktionspotential und können im Sinne von Hubert Zapfs Verständnis von Literatur als „kultureller Ökologie“ ein Potential als „kulturkritischer Metadiskurs“, „imaginativer Gegendis‐ kurs“ und „reintegrativer Interdiskurs“ entfalten (siehe Zapf 2005; 2006; 2007; 2008 (a) (b) (c); 2016). Dabei kann dem Phänomen des islamischen Fundamentalismus aufgrund seiner hohen Komplexität an dieser Stelle nicht Rechnung getragen werden. Aufgrund des Fehlens eines umfassenden Regelwerkes und einer übergeordneten Auto‐ rität, die das Monopol einer religiösen Deutungshoheit besitzen würde, ist mus‐ limische Glaubenspraxis stark durch historische und ökonomische Bedin‐ gungen, verschiedene Regierungsformen, regionale Spezifika sowie unterschiedliche religiöse Schulen geprägt. Ähnlich schwierig zu definieren ist der Begriff Fundamentalismus. Fundamentalistische Strömungen gibt es in allen Religionen. Sie entstanden häufig als Gegenbewegungen zu Modernisierung, Industrialisierung und rapidem gesellschaftlichem Wandel und stellten somit eine Reaktion auf ökonomische, politische und soziale Probleme sowie einen damit verbundenen empfundenen Werteverfall dar. 1 Im Erkenntnisinteresse liegt also nicht das Phänomen des islamischen Fun‐ damentalismus an sich, sondern das Potential von Literatur gesellschaftliche Defizite aufzuzeigen, marginalisierten Gruppen eine Stimme zu verleihen und unterschiedliche Diskurse miteinander zu verhandeln und zu reintegrieren. Dabei wird der Frage nachgegangen, auf welche Art und Weise es Literatur vermag dem Leser Einblicke in Lebenswelten zu geben, die nicht nur fremd, sondern auch in hohem Maße befremdlich sind. Politik und Gesellschaft sehen sich zunehmend ratlos mit zwei Fragen kon‐ frontiert: Warum radikalisieren sich Menschen und opfern zum Teil sogar ihr Leben dafür? Und: Wie kann eine Gesellschaft dieser Tendenz entgegenwirken? Der vorliegende Artikel begreift den Roman als ein Medium, das diese Fragen auf besondere Art und Weise zu ergründen vermag und dabei einen wichtigen 260 Nina Liewald Beitrag zu gesellschaftlichen Diskursen leistet. Dabei stehen Literatur und Fun‐ damentalismus in einer spannungsgeladenen Wechselbeziehung. Zur Interaktion von Literatur und Fundamentalismus Literatur verbindet Menschen weltweit. Sie lehrt uns, zeigt uns andere Sicht‐ weisen auf und fordert uns heraus. Gerade diese Herausforderung, die Infrage‐ stellung von Weltbildern und Auffassungen, hat im Zusammenhang mit einer Thematisierung des Islam und seiner fundamentalistischen Formen große po‐ litische Sprengkraft entwickelt. Trotz ihres oftmals satirischen Charakters wird Literatur von islamischen Fundamentalisten als gefährlich eingestuft, da sie Widerstand ausdrückt, die öffentliche Meinung zu beeinflussen vermag und gesellschaftlichen Wandel unterstützen kann. Weltweite Proteste und gewalt‐ tätige Ausschreitungen gegen die dänische Zeitung Jyllands Posten infolge der Veröffentlichung islamkritischer Karikaturen im Jahr 2005, die Erhöhung des Kopfgeldes für die Tötung Salman Rushdies 25 Jahre nach Verhängung der Fatwa im Jahr 2014, das Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, welches im Januar 2015 zwölf Menschenleben kostete, verdeutlichen die politische Brisanz von Literatur und Kunst. Autoren, die sich kritisch mit dem Islam auseinandersetzen, sehen sich mit einer unkalkulierbaren Gefährdung ihrer persönlichen Sicherheit und Anfeindungen durch muslimisch-fundamen‐ talistische Kreise weltweit konfrontiert. Dennoch findet das Thema in der Literatur zunehmende Beachtung - nicht nur in Form von politik- oder religionswissenschaftlichen Abhandlungen und autobiographischen Arbeiten. Auch Romanautoren treten mit ihren Werken immer wieder mit der breiten Öffentlichkeit in einen spannungsgeladenen Dis‐ kurs. Klaus Stierstorfer beschreibt Literatur im dritten Band seiner Reihe Project Fundamentalism Literatur als a particularly productive field for negotiations of and with fundamentalisms, which in turn calls for ethical considerations to be included. […] From the point of literature, fundamentalism can be seen as a stimulus to literary authors who may find an im‐ pressive suggestiveness and dramatic power in fundamentalist figures and tenets which can propel their plots and challenge their tolerance and openness: a problematic of the modern world with which they can engage and […] a challenge or even barrier for creative work for the fear of oppression and persecution, growing from many fundamentalists‘ inbred fear and suspicion of literary persons, whom they naturally categorise as secular or even profane (Stierstorfer 2008: 10-11). 261 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung Die zum Teil gewalttätigen Reaktionen verweisen auf die gesellschaftliche Re‐ levanz von Literatur als Medium zur Äußerung von Kritik, als Plattform zur Verhandlung unterschiedlicher Positionen und wirksames Mittel zur Untermi‐ nierung fundamentalistischer Ideologien. Das ethische Potential von Literatur Literatur wird von Fundamentalisten als machtvolles Medium angesehen, das Meinungen zu beeinflussen oder einseitig zu manipulieren vermag. Gleichzeitig kann Literatur als Spezialdiskurs jedoch auch ein Funktionspotential entfalten, das einen produktiven Dialog zwischen unterschiedlichen Positionen eröffnet. Die amerikanische Moralphilosophin Martha Nussbaum ist von der besonderen Eignung des Romans als Medium zur Verhandlung moralischer Fragestellungen überzeugt. Der Roman als fiktive ‚Fallstudie‘ vermag dem Leser einen Einblick in andere Sichtweisen zu vermitteln und darzulegen, wie abhängig ethische Entscheidungen von persönlichen Begleitumständen sind. Nussbaum betont insbesondere den „ethical value of emotions“ (Nussbaum 1992: 40). Ihre Ideen basieren auf dem Glauben daran, dass Literatur die Macht besitzt Empathie zu wecken, antagonistische Positionen zu verhandeln und damit letztlich auch einen Wandel von Sichtweisen und Werturteilen zu befördern. Literatur gibt dem Leser die Möglichkeit neue Blickwinkel einzunehmen, aus der Distanz heraus verschiedene Wertvorstellungen miteinander zu vergleichen und eigene (Vor)urteile zu reflektieren. Die Erkenntnis universeller menschli‐ cher Bedürfnisse, die über die Grenzen von Ort, Zeit, Religion, Klasse oder Eth‐ nizität hinausweisen, kann die Wirkmacht entfalten Empathie für das Leid an‐ derer Menschen und moralischen Gemeinschaftssinn zu fördern (Nussbaum 1998: 242). So lernen wir vielleicht die Welt, andere Menschen und letztlich auch uns selbst besser kennen. Wie Wolfgang Iser beschreibt, hat die Literatur viel‐ leicht ein stückweit ihre traditionellen Funktionen verloren. Im Zeitalter von Wikipedia, Fernsehen und sozialen Medien ist Literatur nicht mehr zwangs‐ läufig die erste Wahl zur Informationsgewinnung, Dokumentation oder Unter‐ haltung. Im Gegenzug, so Iser, ist die Bedeutung der Literatur in ihrer ethischen Dimension jedoch noch gestiegen (Iser 1996: 14). Darüber hinaus verweisen die andauernden Konflikte um eine Kanonisierung von Literatur auf ihre Bedeu‐ tung als kulturelles Kapital (Ahrens / Volkmann 1996: 3), in dem vorherrschende Machtverhältnisse und Wertvorstellungen ihren Ausdruck finden. Die postko‐ loniale Literaturwissenschaft sieht Literatur in diesem Zusammenhang bei‐ spielsweise als wirkungsvolles Werkzeug von Minderheiten um Konflikte und 262 Nina Liewald ungleiche Machtverhältnisse zu adressieren sowie kollektive Identitäten zu ver‐ handeln (vgl. Gymnich 2005: 121). Mit Verweis auf die zwei Romane Maps for Lost Lovers (2004, kurz MLL) von Nadeem Aslam und The Good Muslim (2011, kurz TGM) von Tahmima Anam, die beide einen Perspektivwechsel vollziehen und sich mit potentiellen ‚Innen‐ ansichten‘ islamischer Fundamentalisten auseinandersetzen, soll beispielhaft beleuchtet werden welches Funktionspotential fiktionale Literatur zu diesem komplexen Thema im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs entfalten kann. Beide Werke spiegeln eine scharfe Kritik am Phänomen des islamischen Fundamen‐ talismus wider, jedoch auch an ökonomischen, politischen und sozialen As‐ pekten. Nadeem Aslam: Maps for Lost Lovers Nadeem Aslam wurde 1966 in Pakistan geboren und kam im Alter von 14 Jahren nach England als sein Vater, ein Dichter und Kommunist, vor dem islamistischen Regime von Zia ul-Haq floh. Mit einem politisch engagierten Vater und einer streng religiösen Mutter kam Aslam schon früh mit dem Spannungsfeld zwi‐ schen Orthodoxie und anderen Lebensentwürfen in Kontakt. Er bezeichnet sich selbst nicht als gläubig und hat in England eine Heimat sowie beruflichen Erfolg gefunden, kennt jedoch auch die Probleme britischer Muslime, die unter Sprach‐ problemen, sozialem Abstieg und der Fremdheit im Exil leiden. Während der Entstehung von MML lebte Aslam in asiatischen Migrantenvierteln verschie‐ dener englischer Städte. Sein Roman beschreibt zwar keine realen Ereignisse, basiert jedoch auf seinen Erfahrungen. Der Autor kritisiert fundamentalistische Sichtweisen stark, betont jedoch auch, dass es im Islam ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Sicht- und Lebensweisen gibt (vgl. Chambers 2011: 137). Aslams Roman MLL thematisiert das Leben pakistanischer Migranten der ersten Generation in England und beschreibt die Geschichte einer gescheiterten Integration. Schauplatz ist eine fiktive englische Stadt, die von den Einwande‐ rern verschiedener asiatischer Länder nur „Dasht-e-Tanhaii“ oder „The Wilder‐ ness of Solitude. The Desert of Loneliness“ (MLL 29) genannt wird. MLL greift das Problem von Parallelgesellschaften auf und die schwierige Lage von Men‐ schen, die einen Ort zum Leben gefunden haben - jedoch keine neue Heimat. Der Roman erzählt das Leben des pakistanischen Einwanderers Shamas und seiner Frau Kaukab in einer Gemeinschaft von Einwanderern, die keine Inter‐ aktion mit dem Rest der Gesellschaft pflegt. Aslam beschreibt alltägliche fun‐ damentalistische Praktiken wie arrangierte Ehen, strikte Verhaltensregeln, Klei‐ dungsrichtlinien und eine Ablehnung interkultureller oder interreligiöser 263 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung Beziehungen. Im Zentrum des Romans stehen ein Ehrenmord und der dazuge‐ hörige Mordprozess. Darüber hinaus beleuchtet der Roman detailliert die Ge‐ danken- und Gefühlswelt von Kaukab, die ein islamisch fundamentalistisches Weltbild verkörpert, sowie die zunehmende Entfremdung von ihrem Ehemann Shamas, einem liberalen Humanisten. In der Welt von Dasht-e-Tanhaii üben fundamentalistische Sichtweisen einen großen Druck auf alle Mitglieder der Gemeinschaft aus, unabhängig davon ob sie sich den Regeln beugen oder sich dagegen auflehnen. McCulloch beschreibt den Schauplatz als „an imprisoned dark world of phallocentric horror […and] patriarchal ignorance“ (McCulloch 2012: 83). In der Tat zeichnet Aslam ein düs‐ teres Bild der Unterdrückung von Frauen durch islamisch fundamentalistische Gesetze. Zwangsehen, Gewalt, Vergewaltigung, Ehrenmorde und die Abtrei‐ bung von Mädchen (siehe MLL 136, 157-159, 251) prägen das Leben der Ge‐ meinschaft. Weibliche Charaktere wie Kaukab oder Suraya scheinen die Werk‐ zeuge ihrer eigenen Unterdrückung noch zu verteidigen. Die zweite Generation lehnt sich jedoch gegen religiöse Gesetzmäßigkeiten und die Lebensweise der Elterngeneration auf. Kaukab’s Tochter Mah-Jabin besteht darauf, ihr Leben selbst zu bestimmen und macht ihrer Mutter Vorwürfe dafür, dass sie mit 16 Jahren nach Pakistan verheiratet wurde: „You must be a moral cripple if you think what you did to me wasn’t wrong. [… W]hy didn’t you make sure I avoided such a life? “ (MLL 113) Die von Aslam geschaffene Welt ist gekennzeichnet von Doppelmoral - be‐ sonders im Bereich der Sexualität. So werden außereheliche Beziehungen un‐ verheirateter junger Menschen geächtet, während ein Imam der Kinder verge‐ waltigt seinen Beruf weiter ausüben darf und zudem noch von der Gemeinschaft gedeckt wird. Aslam spielt mit der moralischen Entrüstung seiner Leser, die in diesem Fall durch die perfide Begründung für die Verschleierung einer Straftat noch verstärkt wird: „the scandal would give Islam and Pakistan a bad name [… and] if the police got involved and shut down the mosque no one would teach their sons to stay away from the whore-like white girls“ (MLL 235). Konzepte von Schande und Ehre werden ad absurdum geführt. Die Vertuschung von Ver‐ brechen und die strikte Abgrenzung der Community von der Britischen Gesell‐ schaft und ihrem Rechtssystem bringen Hoffnungslosigkeit und Misstrauen hervor. Dasht-e-Tanhaii ist ein klaustrophobischer Ort, „a place of Byzantine intrigue and emotional espionage“ (MLL 176), an dem jegliche Individualität oder Verletzung der Regeln Gefahren birgt: the neighborhood […] hoards its secrets, unwilling to let on the pain in its breast. Shame, guilt, honour and fear are like padlocks hanging from mouths. No one makes 264 Nina Liewald a sound in case it draws attention. No one speaks. No one breathes. The place is bumpy with buried secrets and problems swept under the carpets (MLL 45). Während in anderen ‚fictions of migration‘ Rassismus und das Gefühl der Aus‐ grenzung oder auch Loyalitätskonflikte eine zentrale Rolle für Radikalisie‐ rungsprozesse spielen, ist die Ausgrenzung in Aslams Roman selbstgewählt. Gleichzeitig ist sie bedingt durch den Mangel an zentralen Grundvorausset‐ zungen für eine erfolgreiche Integration. Keiner der Charaktere hat sich bewusst orthodoxer Religiosität zugewandt. Das beschriebene Gesellschaftsbild scheint vielmehr einer stark traditionellen kulturellen Prägung zu entspringen. Kaukab hat als Tochter eines muslimischen Geistlichen eine streng orthodoxe Erziehung genossen, Surayas Religiosität entspringt der Armut und Benachteiligung ihrer Eltern, da für die unteren gesellschaftlichen Schichten religiöse Schulen in vielen Ländern die einzigen Bildungseinrichtungen sind, die allen Familien offen‐ stehen. Aslams Roman führt Fundamentalismus nicht auf den Islam zurück, sondern auf einen Mangel an Bildung und Alternativen. Bei Charakteren, die eine gute Bildung genossen haben, ist eine Abkehr von essentialistischen Sichtweisen er‐ kennbar. Gleichzeitig weist das Werk auch auf die doppelte Marginalisierung der Einwanderer hin, die nicht nur in England Außenseiter sind, sondern auch von der Oberschicht ihres Herkunftslandes als „sister-murdering, nose-blowing, mosque-going, cousin-marrying, veil-wearing inbred imbeciles“ (MLL 312) be‐ trachtet werden. Die Reaktion der Protagonistin auf diese Verachtung verweist auf ein zentrales Problem: „We are driven out of our countries because of people like her, the rich and the powerful. We leave because we never have any food or dignity because of their selfish behaviour. And now they resent our being here too. Where are we supposed to go? “ (MLL 312) Nicht Rasse, Ethnizität oder Religion werden als zentrale Faktoren für eine Radikalisierung beschrieben, sondern ein Mangel an Bildung sowie ökonomische und soziale Nöte. Dabei unterscheidet Aslam jedoch deutlich zwischen religiösen Führern und Verführten. Beschreibungen wie die Szene eines ‚Exorzismus‘ bei der eine junge Frau brutal getötet wird (vgl. MLL 184-185), verdeutlichen in grausamen Bildern von Folter und Barbarei die lebensgefährliche Macht der Verführer und die Folgen der Überordnung eines fundamentalistischen Systems über den Wert des menschlichen Lebens. Zu keinem Zeitpunkt erhält der Leser einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt dieser religiösen Führer. Kaukab hingegen ist ein runder Charakter, der laut der meisten Kritiker tragisch ist, aber auch menschlich (vgl. Shamsie 2004: n. p., Bhattacharya 2004: n. p.). Da sie eine der wichtigsten Fokalisierungsinstanzen darstellt, erhält der Leser ausführliche Ein‐ blicke in ihre Motivationen, Gedanken und Gefühle, die zwar keine Sympathie, 265 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung aber doch Empathie und Mitgefühl zu wecken vermögen. Kaukab verkörpert wie keine andere Figur die Einsamkeit und Isolation, die mit der Entstehung von Parallelgesellschaften einhergeht: „The ‚thank you‘ she murmurs to the flower-deliveryman is her third exchange with a white person this year; there were five last year; none the year before“ (MLL 69). Diese Isolation ist mit einer Ohnmacht verbunden, die auf großer Unsicherheit aufgrund von Unvermögen und mangelnder Bildung beruht. „Who is this green woman in a sari? “ (MLL 27), fragt Kaukab, als sie eine Postkarte ihres Sohnes von der Freiheitsstatue in New York erhält. Der Leser sieht ihre Scham im Kontakt mit der Gesellschaft, die Entfremdung von ihren Kindern und die menschliche Seite der Figur, die als „picture of loneliness“ (MLL 45) beschrieben wird. Ihr Glaube ist für den Cha‐ rakter ein Stück Heimat, das ihr Identifikation, Stabilität und Orientierung schenkt in einer Welt, in der sie sich nicht zurechtfindet. Kaukab bleibt sowohl in der öffentlichen als auch der privaten Sphäre, in Pakistan als auch in England, eine marginalisierte Figur. Sie ist dominant und gleichzeitig hilflos, gefangen zwischen ihrer Liebe für die Familie und ihrer or‐ thodoxen Weltsicht. Besonders ihr Unvermögen ihre Haltungen zu hinterfragen und ihre Verantwortung für das Leid ihrer Kinder anzuerkennen, machen sie zu einer tragischen Figur. Ihre Einstellung „punishments are of divine origin and cannot be judged by human criteria“ (MLL 322) beschreibt die elementare Natur fundamentalistischer Religion: Das göttliche Gesetz ist kein Gegenstand der Verhandlung. Im Einklang mit dieser Haltung zeigen auch die Täter des Ehren‐ mordes keinerlei Reue. Moral, Schuld, Ehre und Scham sind determiniert durch Kultur und Religion: „My religion is not the British legal system, it’s Islam“ (MLL 115), unterstreicht Kaukab, auch wenn sie sich zu keiner Zeit mit diesen reli‐ giösen Inhalten auseinanderzusetzen scheint. Bemerkenswert ist besonders die völlige Abwesenheit des Lebens außerhalb der Community. England wird abgelehnt als „nest of devilry from where God has been exiled […] denied and slain“ (MLL 30), ist jedoch überhaupt nicht prä‐ sent in Aslams Roman. Beschrieben werden auch nicht die Konflikte zwischen Migranten und einer Mehrheitsgesellschaft, wie dies zahlreiche Romane tun. Pesso-Miquel beschreibt diesen Fakt wie folgt: the novel plays down classical post-colonial oppositions between the coloniser and the colonised, offering us instead a detailed vision of the dissensions within the im‐ migrant community, structured along lines of class, nationality, language, generation, and above all religion and gender“ (Pesso-Miquel 2011: 135). Insbesondere der Generationenkonflikt tritt stark zutage. Für die Einwanderer der ersten Generation ist Identität untrennbar mit religiösen und kulturellen 266 Nina Liewald Werten des Heimatlandes verbunden. Die zweite Generation hingegen ist in einem völlig anderen Umfeld aufgewachsen, individualistischer geprägt und verfolgt einen liberaleren Lebenswandel, wodurch ständige Konflikte mit den fundamentalistischen Sichtweisen der Elterngeneration entstehen. Die Idee des Exils beschreibt nicht nur das Leben in einem anderen, stets fremd bleibenden Land, sondern auch den Kern der Identität von Figuren wie Kaukab, die Ver‐ änderungen nicht annehmen können: „For all the alienation of their exile, his characters‘ most devastating and irredeemable loneliness is within“ (Kapur 2005: n. p.). Der Roman zeigt jedoch auf, dass es selbst in scheinbar geschlossenen fundamentalistischen Systemen eine Vielfalt an Ansichten und Lebensweisen gibt, wie besonders Shamas und die junge Generation verdeutlichen, die zu‐ nehmend traditionelle Regeln hinterfragen. Die Gegenwart mag hoffnungslos erscheinen - dies gilt jedoch nicht für die Zukunft. Tahmima Anam: The Good Muslim Tahmima Anam stammt ursprünglich aus Bangladesh, kann jedoch als Bewoh‐ nerin von Weltstädten wie Paris, New York, Bangkok und zuletzt London als kosmopolitische Künstlerin bezeichnet werden. Seit 2010 britische Staatsbür‐ gerin, besitzt sie noch starke Verbindungen zu ihrem Heimatland. Ihre Mutter ist eine feministische Aktivistin und ihr Vater ein bekannter sozialistischer Journalist, dessen Zeitung 2007 aufgrund des Abdrucks ‚blasphemischer‘ Kar‐ rikaturen in eine politische Kontroverse verwickelt war (Chambers 2011: 158-159). Neben diesen Erfahrungen mit dem Kampf um Meinungsfreiheit gegen religiöse Doktrin prägte Anam auch die intensive Beschäftigung mit der Ge‐ schichte ihres Landes. Ihre Großmutter erlebte noch den Pakistanischen Bür‐ gerkrieg 1971 und Anam selbst interviewte für ihre Dissertation Hunderte von Kriegsteilnehmern. Ähnlich wie Aslam ist Anam nicht religiös, akzeptiert je‐ doch den Glauben und weiß um die große Diversität an Glaubensrichtungen und -praktiken innerhalb des Islam. Anams zweiter Roman TGM erzählt die Geschichte von Maya Haque und ihrem Bruder Sohail in ihrem Bestreben die Traumata des Befreiungskrieges in Bangladesh zu verarbeiten. Der Roman spielt im Jahr 1984/ 85 und beinhaltet Rückblenden in die frühen 1970er Jahre. Als Maya nach einem Jahrzehnt in ihr Heimatdorf zurückkehrt erkennt sie, dass ihr Bruder nun religiöser Führer in‐ nerhalb der Gemeinschaft Tablighi Jamaat ist. Sie begibt sich auf die Suche nach den Gründen für diesen Wandel und versucht ihren Bruder davon abzuhalten seinen kleinen Sohn Zaid in eine streng fundamentalistisch islamische Schule zu schicken. Zaid ertrinkt beim Versuch ihn aus der Madrasa zu retten, wo ihm 267 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung ein Leben voll von Gewalt, Entbehrung und sexuellem Missbrauch droht. Diese tragischen Ereignisse sind eingebettet in Rückblenden, die dem Leser einen Ein‐ blick in vergangene Ereignisse geben, die prägend für beide Charaktere waren. So verließ Maya 1977 ihr Heimatdorf, nachdem sie mitansehen musste, wie eine Freundin ausgepeitscht wurde, weil sie ein Kind mit Down-Syndrom gebar. Während des Krieges eröffnete sie eine Klinik, um vergewaltigte Frauen zu be‐ handeln und arbeitete als Ärztin in verarmten Gegenden des Landes. Sohail, der als Soldat für die ‚Freiheitskämpfer‘ gekämpft hatte, kehrte traumatisiert aus dem Krieg zurück und fand Trost in der Religion, die ihm erstmals wieder Halt und neues Selbstvertrauen gab. Der Roman spiegelt auch die Suche nach Gerechtigkeit wider, was die be‐ schriebene Gerichtsverhandlung zu Kriegsverbrechen symbolisch unterstreicht. Wie Anam in einem Interview beschreibt, repräsentiert die Beziehung zwischen Sohail und seiner Schwester Maya den Konflikt zwischen Religion und Säkula‐ risierung und verweist auf die Auseinandersetzungen „from the 1980s about whether Bangladesh should continue to hold to its secular, Marxist-inflected nationalism, or embrace new Islamist movements“ (Chambers 2011: 164). Die Geschichte der Familie ist eingebettet in die Geschichte des Landes und die Fa‐ milienkrise spiegelt die Krise der Nation infolge von Exil, Verlust und Trauer wider (Hussein 2011: n. p.). Die persönliche und die politische Sphäre sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Anam beschreibt den kulturell geprägten Glauben des ländlichen Bangladesh, gegen den Maya als gebildete Frau und aufgeklärte Humanistin nur sehr schwer ankommt. Auch hier wird der Islam dazu missbraucht, die Unterdrückung der Frau zu rechtfertigen. In brutalen Szenen wird beschrieben, wie Religion als Rechtfertigung für Grausamkeiten verwendet wird, die ihren Ursprung viel‐ mehr in Traditionen, Aberglauben und mangelnder Bildung haben. Auspeit‐ schungen (TGM 23), demütigende Bestrafungen infolge kleinster Regelverstöße (TGM 235) sowie Kindsmisshandlungen (TGM 114) sind die Folge. Die Sympa‐ thie des Lesers wird insbesondere durch die Beschreibung des Leids von Sohails kleinem Sohn Zaid gelenkt, dem es an Kleidung, Nahrung und Hygiene, beson‐ ders jedoch an Liebe und Bildung mangelt. Die Behandlung des Kindes wird als Methode religiöser Erziehung verstanden. Den Beschreibungen wohnt jedoch ein besonderer Horror inne durch die Tatsache, dass der kleine Junge für die Passagen in der Madrasa selbst als Fokalisierungsinstanz fungiert: The courtyard strewn with chicken bones, a dirty drain clogged with spit. […] He is alone with the blanket and the plate, the grey light from a slit between the thatch and the wall, the scratch of rats, and as the lock is turned he hurls himself at the door and opens his voice to the footsteps fading with every moment, until there is nothing but 268 Nina Liewald his own voice, begging to be released, and his fist on the wall, and each cry echoing into the next: Abboo, Abboo, Abboo. At this moment he is more afraid of what is in the room, the aloneness and the rats and the line of light against the wall, than of what is beyond. He is wrong (TGM 172-173). Das Leben in der Madrasa wird als Hölle auf Erden beschrieben, mit Referenzen zu sexuellem Missbrauch (vgl. TGM 239). Das unvorstellbare Leid des Jungen lenkt die Sympathien des Lesers klar in Richtung einer Ablehnung fundamen‐ talistischer Systeme. Trotzdem erhält der Leser auch einen kurzen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt seines Vaters Sohail, der seine Radikalisierung nach seiner Rück‐ kehr aus dem Krieg psychologisch plausibel macht und die Komplexität des Themas verdeutlicht. Der Protagonist wird als Mensch beschrieben, der stets Humor besaß und nicht an die Religion, sondern an Liebe und Freundschaft glaubte (vgl. TGM 158). Seine Radikalisierung ist eng mit dem Trauma des Krieges verbunden: Sohail finds, in the spring after he has returned from the war, that his hands will not stop shaking. […] Ma, he wants to say, my hands will not stop shaking. Will you say a prayer and blow on them? Will you twine your fingers through mine and bind them to yours? But he stops. He isn’t a child any more [sic.]; he’s a man, a soldier back from the war. He asks himself if he can be right again, if he can be good. […] He had killed an innocent man. The man was not an enemy, not a soldier. Just someone who had let the wrong word come out of his mouth. There is only one way to be good now. The Book has told him he is good, that it is in his nature to be good (TGM 123-124). Gerade seine Sensibilität und sein Gewissen führen zu einem Zustand von Schmerz, Angst und Trauma, deren Linderung die Religion verspricht. Der Stil des Romans erweckt Empathie für das Leid eines Mannes, für dessen Traumata keine andere Hilfe oder Lösung angeboten wird als der Glaube an Gott: „this Book is what brought him to the surface and allowed him to breathe.“ (TGM 126) Religion wird als janusköpfiges Phänomen beschrieben das gleichzeitig rettet und zerstört. Die Flucht in eine allumfassende und gleichzeitig isolationistische Gemeinschaft erscheint dem Protagonisten als einziger Ausweg, der ihm eine neue Identität verschafft, seinem Leben Sinn gibt und das Gefühl, dass Gott an das Gute im Menschen glaubt - ein Glaube, den er in Bezug auf sich selbst verloren hat. Neben Stabilität und Orientierung verspricht der Koran Gerech‐ tigkeit, Gleichheit und Gemeinschaft: „The Book was the miracle. It was so simple. That was the power of the message. It turned them into brothers and guardians of one another. It promised equality. It promised freedom.“ (TGM 166-167) Gerade in schwierigen Zeiten und Konflikten mit hoher Komplexität 269 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung entfalten Fundamentalismen mit ihren einfachen Antworten eine ganz beson‐ dere Anziehungskraft. Wie Bidisha anmerkt, erfahren alle Charaktere des Ro‐ mans eine unterschiedliche Radikalisierung, werden jedoch „invaded and trans‐ formed by interests much larger than themselves“ (Bidisha 2011: n. p.). Religiöser Fundamentalismus wird als Anker für seine Anhänger und politi‐ sches Instrument der Mächtigen beschrieben, jedoch nie als religiös motivierte Lebensweise. Religiöser Fundamentalismus verursacht Leid, wird jedoch als eine menschliche Grausamkeit von vielen beschrieben, wie die Referenzen zu diversen Kriegsverbrechen belegen. Religiöse, politische und kulturelle Prak‐ tiken verschmelzen miteinander. Die Inhalte von Sohails religiösem Dogma werden niemals im Detail erläutert. Der Fokus liegt auf dem Individuum und seinen persönlichen Motiven. Die Sehnsucht nach Heimat, Orientierung und einer Befriedigung spiritueller Bedürfnisse werden als bedeutende Faktoren für eine Hinwendung zu fundamentalistischer Radikalisierung gesehen. Dabei un‐ terscheidet Anam stets zwischen dem Islam und dem Islamischen Fundamen‐ talismus. Besonders die starke und emanzipierte Protagonistin Maya und ihre tolerante, liebevolle Mutter Rehana konterkarieren Stereotype eines vermeint‐ lich engstirnigen, gewalttätigen Islam. Die Autorin beschreibt im Hinblick auf ihren Roman: I didn’t write this novel as a kind of anti-fundamentalist tract. I could have, because I think the rise of the Islamic Right has been dangerous in Bangladesh. I’m totally against everything that it stands for: that anti-feminist, anti-progressive movement has nothing to recommend it. Having said that, I think every character in a novel has to be understood by the writer and can’t just be portrayed as representing something bad. Even though I disagree with a lot of the things that Sohail does in The Good Muslim, I had to write about him from the inside. There’s an explicit logic in his mind to everything he does, and that logic is very important. You can decide if you want to judge him or not (Chambers 2011: 173). Literatur als kulturelle Ökologie Hubert Zapf sieht literarische Werke als „imaginative Biotope“ und „Labore menschlicher Selbsterforschung“ (Zapf 2007: 155), in dem alle Teile eines Sys‐ tems in enger Wechselwirkung miteinander stehen. Alles ist wie in einem öko‐ logischen System miteinander verbunden - so auch die persönliche und die politische Sphäre. Die vorliegenden Texte verweisen auf Zapfs Überzeugung, dass Individualität immer in Wechselbeziehung zu einer Gemeinschaft besteht, und zeigen auf, welch große Rolle gesellschaftliche Normen spielen. 270 Nina Liewald Die Werke geben sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage, welche Ka‐ talysatoren zu fundamentalistischer Radikalisierung führen. Aslams Werk stellt das Erlebnis gescheiterter Integration sowie die Verhaftung in einer traditiona‐ listischen, patriarchalischen Herkunftskultur als entscheidenden Faktor für die Entwicklung fundamentalistischer Sichtweisen in den Vordergrund, der durch Bildungsferne und mangelnde Alternativen noch verstärkt wird. Der Roman von Anam, dessen Schauplatz in einem Kriegs- und Krisengebiet angesiedelt ist, verbindet Radikalisierungsprozesse hingegen stärker mit traumatischen Kriegs‐ erlebnissen. Beide Werke betonen die politische Sphäre. Islamischer Fundamen‐ talismus wird als Mittel zur Kontrolle und Unterdrückung von Menschen be‐ schrieben. Religiöse Inhalte spielen hingegen kaum eine Rolle. Religion fungiert in diesem System nicht als Wurzel dieses Übels, sondern als Symptom oder scheinbare Medizin gegen bestehende Missstände. Sie wird als Teil von Kultur und Tradition dargestellt aber nicht als ausschlaggebender Faktor für Radikali‐ sierungsprozesse. Beide Werke betonen dabei den oftmals geringen Entschei‐ dungsspielraum des Individuums. Die Romane zeigen, dass Mechanismen von Inklusion und Ausgrenzung nicht zwangsläufig auf Basis von religiöser Identität funktionieren, sondern die Trennlinien innerhalb einer jeden Gesellschaft verlaufen: zwischen verschie‐ denen Ethnien oder politischen Parteien, zwischen sozialen Klassen, zwischen Menschen mit unterschiedlichem Bildungsstand oder schlicht zwischen Eltern und Kindern oder unterschiedlichen Generationen. Die wahre Trennlinie ver‐ läuft nicht zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen, sondern zwischen Menschen mit einem humanistischen Weltbild, in welchem das Leben und die Freiheit des Individuums als das höchste Gut gelten, und verschiedensten Formen von Fundamentalismus. Die Werke zeigen, dass Identität niemals nur durch einen Faktor bestimmt wird, sondern durch das Zusammenspiel einer Vielzahl unterschiedlicher Zugehörigkeiten, die unseren Charakter, unsere An‐ sichten und Handlungen beeinflussen. Beide Autoren kritisieren essentialisti‐ sche Sichtweisen, unterscheiden jedoch genau zwischen dem Islam und seinen fundamentalistischen Auswüchsen. Beide Autoren beschreiben auch muslimi‐ sche Charaktere, die tolerant und liebenswürdig sind, mit denen sich der Leser identifizieren kann. Auch stellen sie ein breites Spektrum muslimischer Lebens‐ weisen und Auffassungen dar. MLL beleuchtet die Gefahren multikultureller Gesellschaften mit all ihren Schattenseiten: von Rassismus über die Bildung von Parallelgesellschaften bis zur Etablierung religiös begründeter Fundamentalismen. Die Ausweglosigkeit dieser Systeme führt zu „chronic states of self-alienation, failed communication and paralyzed vitality“ (Zapf 2007: 155). Das Spannungsfeld des Romans ergibt 271 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung sich dabei nicht aus der Diskriminierung einer Minderheit durch die Mehrheits‐ gesellschaft oder Konflikten zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Islam‘. Es ver‐ weist auf Konflikte zwischen Islamischem Fundamentalisten und säkularen Muslimen innerhalb einer Gemeinschaft. Der Roman kann also nicht primär als Gegendiskurs gegen eine weiße Mehrheitsgesellschaft gelesen werden, sondern als Gegendiskurs gegen das Diktat einer fundamentalistischen Minderheit. Be‐ sonders Frauen und junge Menschen leiden in diesem System unter Marginali‐ sierung und Aslam gibt ihnen eine Stimme. Kaukab als die Hauptrepräsentantin dieses orthodoxen Systems ist ein Sinn‐ bild des von Zapf beschriebenen ‚death-in-life‘-Motivs (2007: 156). Es erscheint zweifelhaft, ob eine Reintegration der verschiedenen Religionen, Generationen und Weltanschauungen auf der Handlungsebene möglich ist. Dasht-e-Tanhaii ist eine statische Gemeinschaft mit Mitgliedern, die ihre Prinzipien und Hand‐ lungen nicht hinterfragen. Momente interreligiöser Begegnungen sind selten und ein harmonisches Miteinander scheint nur in Auflehnung gegen das System möglich. Die Liebesbeziehung zwischen Kaukabs Bruder und Kiran, die dem Glauben der Sikh angehört, deutet die Möglichkeit einer Beendigung von Kon‐ flikten an: „She doesn’t know this but her lover eventually named his baby daughter after her - Kiran, it being a name acceptable to both Sikhs and Muslims. A ray of light“ (MLL 13). Auch TGM identifiziert zahlreiche Defizite eines bestehenden Machtsystems: von ungesühnten Kriegsverbrechen und Diktatur bis zur Unterdrückung und dem sexuellen Missbrauch von Frauen in Bangladesh. Die weibliche Protago‐ nistin repräsentiert einen Gegendiskurs gegen dieses System, indem sie vehe‐ ment für die Rechte anderer eintritt, als Journalistin Ungerechtigkeiten öffent‐ lich anprangert und im Rahmen der Kriegsprozesse vielen marginalisierten Menschen eine Stimme verleiht. Der Roman ist gekennzeichnet durch eine Viel‐ zahl komplexer scheinbar unlösbarer Konflikte. Auf der Handlungsebene dauern sowohl die Entfremdung zwischen Maya und Sohail als auch die politi‐ schen Probleme in Bangladesh an: „There could be no sense between them. He would remain a hallucination to her, the ghost of a man she used to love. And she would remain a stranger to him“ (TGM 289). Trotzdem schenkt uns der Epilog einen kurzen Blick auf einen Moment der Versöhnung und des gemein‐ samen Schicksals, das letztlich alle Figuren des Romans teilen. Piya Islam, eine Frau, die während des Krieges von Sohail gerettet wurde, legt ihr Zeugnis ab und erinnert Maya an alles, was sie ursprünglich an ihrem Bruder liebte: “This is my son. His name is Sohail. I named him after the man who rescued me from that place. The man who saved my life.“ Piya steps down from the witness box. Maya reaches for her, and in front of all these people, the people who have come to bear 272 Nina Liewald witness and the ones who have come to tell their stories, they embrace. All that is good in her brother, and all that is good in her, is in this field [. …] But she recognises the wound in his history, the irreparable wound, because she has one too. His wound is her wound. Knowing this, she finds she can no longer wish him different (TGM 293). Die letzten Worte des Romans verweisen auf sein Potential als reintegrativer Interdiskurs und beschreiben einen Moment der Regeneration, einer Aussöh‐ nung mit persönlichem und kollektivem Trauma. Diese Aussöhnung birgt per‐ spektivisch die Chance von kultureller Erneuerung, auch wenn keine Harmo‐ nisierung der Konflikte auf der Handlungsebene stattfindet. Seiner Stimme Gehör zu verschaffen löst nicht alle Probleme, aber es vermag einen Prozess der Heilung und des gegenseitigen Verstehens zu initiieren (Smith 2011: n. p.). Die Macht der Worte: Zur Signifikanz von Kunst und Literatur im Kampf gegen den Fundamentalismus Beide Romane verdeutlichen, dass für eine perspektivische Reintegration anta‐ gonistischer Diskurse vor allem eines notwendig ist: Kommunikation. Isolation und Einsamkeit von Menschen im Exil fördern Abschottung, inneren Rückzug und eine weitere Anwendung religiöser und kultureller Standards aus dem Hei‐ matland. Auch Schweigen innerhalb einer Gemeinschaft führt zu weiterer Ent‐ fremdung und einem Fortbestehen an Missständen. Nur durch Kommunikation können Traumata bewältigt, Verbrechen geahndet, Ungerechtigkeiten beseitigt und Kontakte geknüpft werden. Auch wenn die geschilderten Missstände auf der Handlungsebene fortbestehen, verweisen die Werke doch in dreifacher Hin‐ sicht auf die „Macht der Worte“: Erstens verweisen die Werke auf die „Macht von Worten“ zur Verhandlung antagonistischer Diskurse und das Funktionspotential von Literatur als reinte‐ grativem Interdiskurs. Dies wird nicht nur auf einer strukturellen, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene aufgegriffen. Aslam und Anam betonen in diesem Kontext den oft sehr geringen Handlungsspielraum des Einzelnen in zerstöre‐ rischen Konflikten. Auf der Handlungsebene ist nicht immer eine Reintegration antagonistischer Diskurse möglich. Trotzdem fungieren alle Werke als Platt‐ form, auf der unterschiedliche Sichtweisen miteinander in Dialog treten. Dies erzeugt Spannungen, der Leser erhält jedoch gleichzeitig die Möglichkeit, ver‐ schiedene Positionen miteinander zu vergleichen, abzuwägen und letztlich auch im Rahmen des Rezeptionsprozesses zu reintegrieren. Zweitens zeigen die Werke eindrücklich die Einflussmöglichkeiten von Lite‐ ratur auf, Lesern fremde Lebenswirklichkeiten näherzubringen und ihre Sicht‐ 273 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung weisen auf die Wirklichkeit zu verändern. Auch wenn Forschungsprojekte im Bereich der kognitiven Narratologie noch zu analysieren haben, inwieweit sich die Lektüre fiktionaler Literatur tatsächlich auf Gedankenprozesse und Gefühle von Lesern auswirken kann, erscheint die These Nussbaums, dass eine Änderung des Standpunktes und durch Empathie mit Figuren hervorgerufene Emotionen sich langfristig auch auf Gedanken und Haltungen der Leser auswirken können, durchaus berechtigt. In diesem Kontext wird der ethischen Verantwortung des Individuums große Bedeutung beigemessen. Die Leser sollen zu Achtsamkeit und Handeln aufgefordert werden, dazu einfache Antworten und Vorurteile zu hin‐ terfragen und sich mit anderen Auffassungen auseinanderzusetzen. Die Romane vereint der unerschütterliche Glaube an die Würde des Menschen und die Be‐ deutung von Empathie für den Bau von Brücken zwischen verschiedenen Kul‐ turen und Religionen. Die Sympathielenkung zugunsten einer humanistischen Weltanschauung wird gezielt durch die Perspektivenstruktur gefördert. Alle Texte betonen die schwierige Lage des Individuums in einer globalisierten Welt, in der es an Orientierung und Stabilität zu fehlen scheint und es keine einfachen Antworten auf die Vielzahl an Fragen der Menschen gibt. Universale mensch‐ liche Bedürfnisse nach Heimat, Gemeinschaft und spirituellen Leitbildern rücken in den Vordergrund. Fundamentalismen scheinen diese Bedürfnisse auf den ersten Blick zu befriedigen, werden jedoch von beiden Autoren als oberflächliche und gefährliche Antworten auf die Probleme unserer Zeit entlarvt. Die Sympathie des Lesers wird sowohl durch den Inhalt als auch die Form der Werke gelenkt. Die Art der Darstellung von Erzählern, Fokalisierungsins‐ tanzen und deren Beziehungen untereinander beeinflusst die Wahrnehmung der ethischen Werturteile, die von den einzelnen Charakteren vertreten werden. Gleichsam sind Faktoren wie Ereignishaftigkeit, die Konstruktion von Kontrast- und Korrespondenzrelationen sowie die Darstellung von Gefühlen und Ge‐ danken der Figuren zentral, um nur einige Aspekte zu nennen. All diese struk‐ turellen Elemente beeinflussen zu einem nicht geringen Anteil die Sympathielenkung des Lesers und somit auch das Funktionspotential, das ein Werk in diesem Kontext entfalten kann. Den Autoren gelingt es mittels narra‐ tiver Strategien fundamentalistische Radikalisierung psychologisch plausibel zu machen, ohne sie zu entschuldigen. Die Protagonisten, welche fundamentalis‐ tischen Sichtweisen zum Opfer fallen, sind individualisiert und der Leser erhält detaillierte Einblicke in ihre Gefühls- und Gedankenwelt. Durch diesen „mik‐ roskopischen“ Fokus auf ein individuelles Schicksal und eine geschickte Wahl von Fokalisierungsinstanzen wird die Empathie des Lesers für die moralischen Dilemmata und die Verantwortung des Individuums geweckt. Stereotypen wird mithilfe einer differenzierten Darstellung eines breiten Spektrums unterschied‐ 274 Nina Liewald 2 Für eine detaillierte Beschreibung der Verwendung einer hybriden Ästhetik unter Rückgriff auf Metaphern und Symbolik unterschiedlicher Kulturkreise in Aslams Werk siehe auch Green / Childs (2013). licher Lebensweisen im Islam der Boden entzogen. Darüber hinaus tendieren die beiden Texte mehr zu mimetischer als zu diegetischer Darstellung. D. h. die Werke stellen Handlung und Dialoge in den Fokus und es findet weniger Ver‐ mittlung durch eine Erzählerfigur statt. Dies trägt dazu bei, dass die Texte un‐ mittelbarer auf den Leser wirken, mehr direkte Gedankengänge und Emotionen der Figuren transportiert werden und eine Bewertung der Handlung durch den Leser erfolgen muss. Die Werke verweisen, drittens, auf die Verantwortung des Individuums sich Essentialismen gleich welcher Art entgegenzustellen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei Künstlern, Schriftstellern oder Intellektuellen zu, die es vermögen gehört zu werden und einen Einfluss auf die öffentliche Meinung auszuüben. Beide Werke kontrastieren eine Reihe unterschiedlicher Weltanschauungen stellen jedoch die Signifikanz humanistischer Werte in den Vordergrund. Die Ro‐ mane adressieren das große Potential der Literatur als Zufluchtsort vor der Rea‐ lität, als verbindendes Element zwischen verschiedenen Kulturen und als letzten Rückzugsort für das freie Denken. Aslam und Anam unterstreichen die Verant‐ wortung des Autors dem Leser fremde Sichtweisen näherzubringen und Essenti‐ alismen zu bekämpfen. In MML findet der Kampf zwischen Shamas und Kaukab oder Humanismus und Fundamentalismus auch auf einer symbolischen Ebene zwischen der Liebe für Literatur und Kunst und deren Ablehnung statt. Kaukab glaubt nur an ein Buch, Shamas an eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen, an Liebe und Schönheit, die in der Kunst ihren Ausdruck finden. Der Alltag ist Kaukabs reli‐ giösen Regeln unterworfen, Hoffnungen und Träume finden sich jedoch nur in Shamas Literatur. Literatur ist ein Symbol der Freiheit und auch der kulturellen Hybridität. So konstatiert Pesso-Miquel: „Aslam uses images and devices bor‐ rowed from the masters of Urdu poetry, thus turning his novelistic prose into a poetic hybrid“ (Pesso-Miquel 2011: 132) 2 . Aslam beschreibt Kunst und Literatur als menschliches Bedürfnis, als Hoffnungsträger und unterstützendes Element eines interkulturellen Austauschs mit dem Potential „to light up the distance between two human beings“ (MLL 13). MLL beschreibt Literatur als machtvolles Instrument für die Adressierung elementarer menschlicher Bedürfnisse und Emotionen. So erreicht Kunst was Religion nicht vermag: Brücken zu bauen und Liebe in den Herzen der Menschen zu entfachen. Dabei misst der Roman dem Künstler die besondere Aufgabe zu, dem Leser zu vermitteln „what we should aim for, […] what’s truly worth living for, and dying for, in life“ (MLL 168). Aslam 275 Narrative Repräsentationen von Islamismus und interkulturelle Bildung vertritt eine sehr entschiedene Haltung zu diesem Thema und betont das Po‐ tential von Literatur zur Unterminierung essentialistischer Diskurse: Coming from the culture and country I come from - Pakistan - I was always aware of the potential for truth-telling that existed in any form of artwork - painting, music, the written word, cinema. In any of these art forms you could do things that - because they told the truth about existence - could offend the powerful who had heavy in‐ vestments in lies (O Connor: n. p.). Auch TGM thematisiert die fundamentalistische Ablehnung nicht-religiöser Schriften, die in der Beschreibung einer Bücherverbrennung durch den Prota‐ gonisten als „Hitler-style“ (TGM 216) einen deutlichen Ausdruck findet. Die to‐ talitäre Komponente dieser Unterdrückung freier Meinungsäußerung wird deutlich unterstrichen. Besonders das Verbot von Bildung für den kleinen Jungen Zaid, der sich nichts sehnlicher wünscht als lesen zu lernen und mit anderen Kindern eine Schule zu besuchen, impliziert eine klare Wertung. Lite‐ ratur steht für Wissen, Befreiung und Austausch, der Fundamentalisten ver‐ wehrt bleibt. Sie wird als machtvolles Werkzeug beschrieben, als „banana peel on which all dogmas slip“ (Hassan 2008: 22). Romane können einen wichtigen Beitrag dazu leisten menschliche Beweg‐ gründe zu erforschen und dem Leser näherzubringen. Die in Politik und Medien deutlich werdende Hilflosigkeit im Umgang mit dem islamischen Fundamenta‐ lismus zeigt, dass eine erfolgreiche Lösung von Problemen nur dann gelingen kann, wenn sie nicht bei den Symptomen ansetzt, sondern bei einer Ergründung möglicher Ursachen für Terror und Radikalisierung. Hier birgt die Wirkungs‐ kraft fiktionaler Literatur zur Veränderung von Sichtweisen und zur Weckung von Empathie eine große Chance. Sie kann vielleicht ein wenig dazu beitragen ein Umdenken zu befördern, das langfristig zur Entwicklung von Handlungs‐ strategien beiträgt, die nicht nur die Symptome, sondern auch die Wurzeln fun‐ damentalistischer Gewalt adressieren. Für einen nachhaltigen ganzheitlichen Ansatz benötigen wir Einsichten in unterschiedliche Sichtweisen und die Be‐ reitwilligkeit dazu, diese auch zu diskutieren. Literatur zeigt uns, dass die Wirk‐ lichkeit komplexer ist als die täglichen Zeitungsschlagzeilen, was eine Beschäf‐ tigung damit so wichtig für die politische Bildung macht. Die derzeitige politische Situation verweist ferner auf die zentrale Bedeutung klarer Stellungnahmen gegen Verletzungen von Menschenrechten und Rechts‐ staatlichkeit unter dem Deckmantel religiöser Gesetze. Wir benötigen eine Ge‐ sellschaft die gegen pauschale Verurteilungen von Menschen muslimischen Glaubens vorgeht, eine Gesellschaft mit offenen Armen aber auch klaren Grenzen und Bürgerinnen und Bürger, die für freiheitlich-demokratische Werte 276 Nina Liewald mit Zivilcourage eintreten - gleich welcher Herkunft oder Religion. In diesem Kontext appelliert Aslam auch an die Verantwortung der vielen gemäßigten Menschen muslimischen Glaubens ihre Stimmen gegen das Unrecht zu erheben: „I asked myself whether in my personal life and as a writer I had been rigorous enough to condemn the small scale September 11s that go on every day. […] Most ordinary Muslims say. ‚We just want to get on with our lives. Don’t identify us with the fun‐ damentalists.‘ But it’s a luxury. We moderate Muslims have to stand up[“] (Brace 2004: n. p.). Literatur Ahrens, Rüdiger / Laurenz Volkmann (1996). ‚Preface‘, in Ibid. Hg., Why Literature Mat‐ ters. Theories and Functions of Literature. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1-10. Anam, Tahmima (2011). The Good Muslim. New York: Harper. Aslam, Nadeem (2004). Maps for Lost Lovers. London: Faber and Faber. Bhattacharya, Soumya (2004). ‚Goodbye young lovers‘. The Observer, 18.07.2004, www.theguardian.com/ books/ 2004/ jul/ 18/ fiction.features/ print [01.06.2017]. 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Wo früher die „Gastarbeiter“ oder „Ausländer“ aufgefordert wurden, Deutsch zu lernen oder sich die deutsche Leitkultur anzueignen, wird ihnen jetzt geraten, für Deutsche zu kochen, denn „Integration“ gehe bekannterweise „durch den Magen“. Wer an fremder Kost satt wird, kann nicht gegen das Volk hetzen, das diese Kost vorbereitet hat. Oder anders gesagt: Durch gemeinsames Essen kann interkulturelles Lernen ent‐ stehen und Vorurteile können abgebaut werden. Das ist die Annahme, die in den Medien verbreitet wird und die Initiativen zugrundeliegt, die die Esskul‐ turen von Flüchtlingen als potenzielles Medium der Integration verstehen. Doch die neueste Geschichte der deutschen Erfahrungen mit „fremdem“ Essen muss zu denken geben, inwiefern eine kulinarische Annäherung des kulturell An‐ deren zu einer wirklichen Akzeptanz, geschweige denn einer „Willkommens‐ kultur“ Flüchtlingen gegenüber führen kann. In diesem Kapitel wird die kulturelle Nahrungsforschung dargestellt, die das Essen als ein Zeichensystem versteht, das der interkulturellen Kommunikation dienen kann. Dann werden das interkulturelle Essen und sein Potenzial für in‐ terkulturelles Lernen unter die Lupe genommen. Dass ein breites kulturelles Angebot an Essen ein Indiz für eine gelungene Integration verschiedener Eth‐ nien in einer Stadt, einer Region oder einem Land ist, wird in den Medien und manchmal auch in der Nahrungsforschung angenommen. Auch für Migranten wird Essen als ein sinnvoller Weg zur ökonomischen und sozialen Integration verstanden. Viele Forscher aus verschiedenen Bereichen der Sozial- und Kulturwissen‐ schaften äußern schon seit einigen Jahren tiefe Skepsis diesem Thema gegen‐ über. Sie sehen in kulinarischen interkulturellen Begegnungen negatives Po‐ tenzial für die interkulturelle Kommunikation und verstehen diese Begegnungen in den Kontexten von Rassismus, Kolonialismus, der nicht-ge‐ lungenen Integration von Migranten oder der exotisierenden Diskurse über an‐ dere Kulturen. Neulich hat das Konzept der cultural appropriation mit Bezug auf Esskulturen sich einen Namen gemacht und zu heftigen Kontroversen in den Medien geführt (Bond 2017). Diese Kritiken werden hier zusammenfassend ge‐ schildert und auf konkrete Beispiele des interkulturellen Genießens in Deutsch‐ land zum Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ angewendet. Drei Momente des in‐ terkulturellen Essens mit Flüchtlingen in Deutschland aus dem Jahr 2016 werden betrachtet: Erstens die Eröffnung eines Imbisses in Oberbayern, der von einer syrischen Familie geleitet wird. Dieses Ereignis verläuft mehr oder weniger ty‐ pisch: Eine unternehmerische Familie von Migranten will in dem neuen Land Fuß fassen und sieht eine Chance in der Gastronomie. Die Berichterstattung darüber legt besonderen Wert auf den Status der Inhaber-Familie als syrische Flüchtlinge und zeigt, wie sich die Familie den vorhandenen Erwartungen an ethnic food (sprich: Döner) in einer kleinen oberbayrischen Stadt anpasst. Das zweite Beispiel hat explizite Ziele hinsichtlich der „Integration“: ein Foodtruck auf der Berlinale, der italienisch-syrisches fusion food gestaltet, will Flüchtlingen zur ökonomisch-sozialen Unabhängigkeit verhelfen und dabei deutsche Bürger für das Thema Flüchtlinge sensibilisieren. Zum Schluss werden Kochkurse untersucht, die die Küche der Flüchtlinge mit explizit didaktischen Intentionen kombinieren. Hier wird der Flüchtling als Akteur in den Mittelpunkt gestellt; die etablierten Hierarchien der Gastronomie sollen umgangen werden, indem die Gäste mitkochen und mitlernen. Inwiefern die bestehenden Strukturen des „fremden Essens“ in Deutschland im Kontext dieser Initiative wirklich aufge‐ hoben werden können, wird am Beispiel eines afghanischen Kochkurses unter‐ sucht. Das Essen als Kommunikation Dieses Kapitel greift Stephen Greenblatts Aufforderung an die mobility studies auf, Kontaktzonen, wo kulturelle Güter ausgetauscht werden, unter die Lupe zu nehmen (2010: 251). Das Essen ist eine kulturelle Ware mit besonderem Gewicht und Signifikanz. Anthropologen haben das Essen als Zeichensystem verstanden, das zwar universell vorhanden ist, aber unterschiedlich ausgelebt wird. Insbe‐ sondere Claude Levi-Strauss (1968) und Mary Douglas (1975) haben die Regeln und narrative Strukturen des Essens bei verschiedenen Völkern dokumentiert, und stellen das Essen als Zeichensystem dar. Wie Roland Barthes es später sagen wird: das Essen ist ein „system of communication, a body of images, a protocol of usages, situations, and behavior“ (Barthes 1979: 29). Obwohl das Essen in allen 282 Heather Merle Benbow Kulturen, Nationen und Religionen eine körperliche Notwendigkeit ist, wird es unterschiedlich innerhalb dieser Kategorien markiert und gedeutet. Welche Substanzen man essen kann, darf oder muss, wann und mit wem gegessen wird, ob das Essen roh oder gekocht, mit Händen oder Utensilien gegessen wird, wann gefastet wird, wann Essen dargebracht oder gespendet wird, all das ist kulturell bedingt und vorgeschrieben, was aber nicht bedeutet, dass Änderungen in dem Kodex nicht vorkommen. Genau wie bei Sprachen wird das Zeichensystem Essen externem und in‐ ternem Druck ausgesetzt und durch soziale und technologische Prozesse geän‐ dert, manchmal auch tiefgreifender verändert. Diese Änderungen werden (wie bei der Sprache) oft zurückgewiesen oder sind umstritten, insbesondere im Kontext der interkulturellen Begegnung, aber manchmal werden sie passiv re‐ gistriert oder sogar begeistert aufgenommen. Wie bei der Sprache täuschen wir uns, wenn wir meinen, das Essen von Prozessen des sozialen Wandels fernhalten zu können. Prozesse der Modernisierung, Industrialisierung, Säkularisierung oder Migration spiegeln sich in dem Essen wider. Manche Bedeutungen ver‐ lieren allmählich ihre Wichtigkeit, es entstehen aber auch neue Bedeutungen, vor allem seitdem sich in den letzten Jahrzehnten eine „gastronomische Revo‐ lution“ in westlichen Ländern durchgesetzt hat und das Essen als ein wichtiges Mittel sozialer (Selbst-)Identifizierung in industrialisierten Ländern überall in den Medien thematisiert wird. Selbst in Ländern, die meinen, sich weit von den archaischen alimentarischen Ritualen „traditioneller“ Kulturen bewegt zu haben, ist das Essen weiterhin sozial, emotional und kulturell beladen und be‐ setzt. Das Essen bleibt, um mit Sidney Mintz und Christine Du Bois (2002) zu sprechen, eine kulturell definierte, materielle Substanz, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen eine signifikante Rolle spielt. Kulinarische Vielfalt als „Bereicherung“ für die Mehrheitsgesellschaft: Der syrische Imbiss Die Einverleibung des „fremden Essens“ (Möhring 2012) bedarf buchstäblich einer gewissen Offenheit der fremden Kultur gegenüber. Wenn die Küche einer anderen Kultur weitgehend akzeptiert, geschätzt oder geliebt wird, wie in Deutschland der „türkische“ Döner, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um die Akzeptanz dieser Gruppe handelt, die Aufnahme des Anderen in dem Volks‐ körper. Ein breites Angebot von „ethnic food“ in einer Stadt ist ein vermeintli‐ ches Indiz der Integration; für Sneja Gunew ist das Essen schon lange das „ba‐ nale, akzeptable Angesicht des Multikulturalismus“ (1993: 13), das Essen des Anderen macht seine Präsenz „schmackhaft“ (Hoecherl-Alden / L. Lindenfeld 283 Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ 2010: 130). Wie die Briten mit ihrem chicken tikka masala (siehe: Githire 2010), haben die Deutschen mit dem Döner eine eingewanderte Speise zu ihrem De-facto-Nationalgericht gemacht (Richter 2002: 182). Wie Ayse S. Caglar iro‐ nisch bemerkt, wird die Allgegenwärtigkeit vom Döner oft als positiver Effekt der türkischen Migration invoziert (1999: 263). In der (allem Anschein nach) schmeichelnden Wahrnehmung dieses positiven Effektes der Migration steckt aber eine durchaus eigennützige Auffassung der kulturellen Vielfalt als potenzielle Bereicherung für die Mehrheitsgesellschaft; neben den wohlbekannten Defiziten der Migranten können alle von dem breiten kulinarischen Angebot profitieren! Mark Terkessidis theorisiert diese Haltung dem Anderen gegenüber als das Produkt einer beschränkten Vorstellung der Identitätsbildung innerhalb einer „Sphäre des Konsums“ (1999: 240). Deshalb wird das Essen als Erstes erwähnt, wenn es um das Positive der Migration in Deutschland geht: „Vielfach hört man […], die anderen hätten ‚uns‘ bereichert. Das kulinarische Spektrum wurde erweitert, das Grillen im Park hoffähig ge‐ macht.“ (Terkessidis 2010: 12-13) Essen ist in den Medien allgegenwärtig; Köche - seien es Profis oder Amateure - werden in allen westlichen Ländern zu TV-Stars. Auch in Deutschland gewinnt die Kochsendung in einer Vielzahl von Formaten (von Lifestylebis Wissenssendung) an Beliebtheit und Quoten, und die Kenntnis von ethnischen Küchen verschiedenster Art zeugt von sozialem Kapital (siehe: Warde, Martins and Olsen 1999). Allerdings muss der „Konnex, der zwischen ausländischer Gastronomie und Multikulturalismus hergestellt wird, […] kein affirmativer sein“, wie Maren Möhring warnt (2012: 15-16). Aus der Perspektive der migrantischen Köche ist die Frage aber oft vor allem eine des „ökonomischen Überlebens“ (Narayan 1995), und Fragen der interkul‐ turellen Kommunikation, die dabei entsteht, dürften eher zweitranging sein. Sylvia Ferrero sieht in dem Objekt ethnic food eine Substanz, die von Migranten zu ihrem Vorteil angewendet werden kann: „ethnic objects enable those who are involved in the economic transactions of these objects to state a position in a dominant social and economic environment. Ethnic food is invested with such power.“ (2001: 196) Geradezu stellvertretend für die existentielle Rolle der Gas‐ tronomie für Migranten ist die Geschichte der syrischen Albaghdadi-Familie, die 2013 nach Gars am Inn in Oberbayern zog. Ein Bericht der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2016 - als der „Willkommenskultur“ (Willkommenskultur 2016) schon das Ende prophezeit wird (vgl. auch Emnid 217) - beschreibt Gars-Bahnhof als „kein Ort des Willkommens“ (eigene Hervorhebung; Britzel‐ meier 2016). Dennoch trifft die Familie auf zwei deutsche Frauen, die ihr helfen werden, mittels der Gastronomie in Gars eine Existenz aufzubauen. Ausge‐ rechnet im Supermarkt steht Frau Albaghdadi ratlos da, weiß nicht, „was sie 284 Heather Merle Benbow kaufen soll“, und wird von einer deutschen Frau angesprochen, die schon längst „Bezug zur arabischen Welt“ - sprich, eine Immobilie in Ägypten - hat (Brit‐ zelmeier 2016). Durch diese Freundschaft kommt die Albaghdadi-Familie, die schon in Damaskus erfolgreiche Restaurant-Inhaber waren, an die Unterstüt‐ zung, die sie braucht, um in Gars ein Imbissgeschäft aufzumachen. Mit ihrem „arabischen Döner“ (wie die Schawarma auf der Speisekarte genannt wird) zeigen die Albaghdadis ihre Kompetenz und agency als „shrewd ethnic immi‐ grants“ (Narayan 1995), den Geschmack der einheimischen Kunden zu erfassen und zu adressieren. Anschließend an deutschtürkische Unternehmer, die seit den 70er Jahren mit ihrem Döner den Bedarf deutscher Arbeiter nach einem schmackhaften Gericht für unterwegs befriedigt haben, sorgen die Albaghdadis für „arabisches und türkisches Essen“ (Britzelmeier 2016) in einer kleinen Stadt, wo jahrelang ein Imbiss gefehlt hat. Ohne auf Klischees zurückzugreifen, be‐ richtet Elise Britzelmeier schlicht, dass das Essen des Habibi-Imbisses „den Gar‐ sern schmeckt“ (2016). In Facebook-Rezensionen wird die Freundlichkeit der Bedienung geradezu schwärmerisch betont und die „himmlischen“ „Köstlich‐ keiten“ wie „das erste Falafel meines Lebens“ (Facebook) gepriesen. In dem Bericht über die Albaghdadis wird von einer mehr oder weniger ty‐ pischen Erfahrung der Migration in den Westen erzählt, und von der Gastro‐ nomie als Mittel des ökonomischen Fortkommens. Wenn von der „Bereiche‐ rung“ einer Aufnahmegesellschaft die Rede ist, wird die Perspektive der migrantischen Köche und Unternehmer ausgeblendet. Wissenschaftler wie Na‐ rayan (1995), Ferrero (2001), Möhring (2012) und Ray (2016) wenden sich explizit den migrantischen Köchen zu und geben Auskunft über ihre Rolle als Akteure in der Gastronomie und ihre Fähigkeit die foodscapes des Westens zu gestalten (Ferrero 2001: 214). Wie Ray bemerkt, dominieren Migranten die Gastronomie der USA auf Produzenten-Seite, aber ihre Erfahrungen des kulinarischen Aus‐ tausches, die durch ihre Arbeit ermöglicht werden, werden kaum dokumentiert. Diese Tatsache ist für Ray auf die Auffassung zurückzuführen, dass Migranten als arme, schuftende Menschen gesehen werden, die bei den gehobenen Dis‐ kussionen des Geschmackes nichts anzubieten haben (2016). Um den fast ex‐ klusiven Fokus auf den einheimischen Konsumenten in den food studies zu er‐ gänzen, will Ray die „Materialitäten der Migranten“ in den Vordergrund rücken und damit „taste, toil and ethnicity“ vereinen (Ray 2016). Gastronomie qua Integration? Der Flüchtlingstruck Ein Projekt, das versucht eben diesen Ansatz für den Zweck der Integration anzuwenden, war der „Flüchtlingstruck“ auf der Berlinale 2016, in dem syrische 285 Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ Flüchtlinge mit einem italienischen Sternekoch „einen Mix aus italienischer und syrischer Küche“ anboten (Schneeberger 2016). Hier sollte Verständnis für die Erfahrungen und Kultur der Flüchtlinge durch Gastronomie explizit gefördert werden, da „nicht nur Liebe über den Magen geht, sondern auch Interesse und Sympathie“ (Schneeberger 2016). Ethnic food wird traditionell in westlichen Ländern unterschätzt und gilt oft als billige Massenspeise (Paradebeispiel: Döner). Die Küchen von Migranten und Flüchtlingen aus südlichen Ländern werden als das Gegenteil zur haute cuisine verstanden; deshalb wird französisches Essen nie als ethnic food bezeichnet. Wie bei dem Imbiss der Albaghdadi-Familie soll das migrantische Essen schmackhaft und billig, die Bedienung informell und herzlich sein. Die Speisen werden schnell und gerne ge- und vergessen. Bei dem Flüchtlingstruck sind zwar flei‐ ßige Migranten dabei, die einfach in der neuen Heimat fortkommen wollen, aber auch ein italienischer Sternekoch, der dabei hilft, die syrische Küche zu fusion food aufzuwerten. Hier wird also eine Tendenz deutlich, wobei billige kulinari‐ sche Formate (siehe auch den US-amerikanischen diner) an Prestige gewinnen und - natürlich verfeinert und stilisiert - zu begehrten Elementen eines urbanen Lifestyles werden. Vor allem hier sind ethnic food und street food - die sich so‐ wieso sehr häufig überlappen - betroffen. Allmählich werden die Küchen der neuesten Migranten von der Mehrheitsbevölkerung „entdeckt“ und tragen zu einer Identitätsbildung bei, die das Verschlingen des kulturell Anderen voraus‐ setzt. Vor diesem Hintergrund und mit konzeptuellen und institutionellen Ver‐ bindungen zu der modischen Bewegung des slow foods ist der Flüchtlingstruck ein Versuch, die Sympathie der Besucher der Berlinale für die syrischen Flücht‐ linge zu gewinnen. Nur - wie der Bericht von Ruth Schneeberger bemerkt - interessieren sich die wenigsten Kunden des Flüchtlingstrucks für das Schicksal der Köche: „sie wollen nur schnell ein warmes Essen“ (Schneeberger 2016). Außerdem ist das Publikum bestimmt schon für das Thema gewonnen; in diesem Jahr wird Deutschlands Aufnahme der Flüchtlinge von Film-Prominenten wie George Clooney und Michael Moore ausdrücklich gelobt. Man sieht an diesem Beispiel, wie schnell eine interkulturelle Initiative, die im Rahmen des Konsums verharrt, an ihre Grenzen stößt. Migrationsforscher, beispielsweise Manuela Bojadžijev, schätzen schon seit den 90er Jahren „die Reichweite eines […] ‚ku‐ linarischen Antirassismus‘ […] eher als begrenzt“ ein (1998: 304). Forscher aus dem Bereich der food studies äußern seit über zwanzig Jahren Zweifel, dass der Konsum fremden Essens interkulturelle Beziehungen auf po‐ sitive Weise beeinflussen kann (hooks 1992; Hage 1997; Probyn 2000). Für Mark Terkessidis ist das transkulturelle Essen eine Funktion der „Differenzkonsum‐ maschine“, wo die Maxime „Ich konsumiere, also bin ich“ den Rahmen für die 286 Heather Merle Benbow Identitätsbildung setzt (1999: 240). Es bleibt aber zu fragen - und das macht die kulturelle Nahrungsforschung - „Wer konsumiert? “ und „Wer wird konsu‐ miert? “ (Terkessidis 1999: 240) Da die Rahmen für das interkulturelle Essen von der bestehenden Ethik einer Konsumgesellschaft gesetzt werden, sehen viele Forscher die Gefahr, dass nicht ein Miteinander durch interkulturelles Essen entsteht, sondern ein bloßes Verschlingen des Anderen, ein Verbrauch seiner Kultur zum Vorteil der Mehrheitsbevölkerung. In dieser Kritik wird die kulina‐ rische Kultur der Migranten zu einer Konsumware wie jede andere, mit dem Unterschied, dass diese den Geist und den Körper des wohlhabenden Verbrau‐ chers nährt. Diese Kritik wird erstmals von bell hooks entwickelt, wenn sie Ethnizität als „Gewürz“ für die Mehrheitsgesellschaft beschreibt: „within commodity culture, ethnicity becomes spice, seasoning that can liven up the dull dish that is main‐ stream white culture“ (1992: 21). Australische Forscher sind überrepräsentiert in den Kritiken, die, auf hooks aufbauend, den food multiculturalism themati‐ sieren; ihre Perspektiven entstammen einer Gesellschaft, die den Multikultura‐ lismus erfolgreich normalisiert und in die neoliberalen Strukturen der Wirt‐ schaft aufgenommen hat. So können laut Elspeth Probyn Migranten gelangweilte Verbraucher in so einer Gesellschaft wiederbeleben: „The con‐ sumption, the ingestion and the incorporation of difference adds life to white consumer subjectivity“ (2001: 82). Der Anthropologe Ghassan Hage hat die ein‐ flussreichste Kritik des multikulturellen Essens geliefert, indem er den „cosmo-multiculturalism“ als einen „Multikulturalismus ohne Migranten“ ver‐ standen hat, der - an globalen Trends aus der Tourismus-Branche orientiert und festhaltend - wenig mit den Erfahrungen zwischen Einheimischen und Mi‐ granten, geschweige denn unter Migranten miteinander zu tun hat (Hage 1997). Das multikulturelle Essen in Australian, das seitdem Hage seinen Aufsatz ge‐ schrieben hat nur noch lauter gefeiert wird, ja quasi zum Nationalsport gediehen ist, trägt hauptsächlich zur Selbstprofilierung wohlhabender Konsumenten bei. Der weiße Rechtsanwalt, der sich in Cabramatta, Sydney (ungefähr mit Neu‐ kölln in Berlin gleichzusetzten), die bescheidensten Gaststätten aussucht, wo am liebsten kaum Englisch gesprochen wird, ist der Inbegriff dieses multikultu‐ rellen Konsums als Selbstgestaltung, als „cultural enrichment“ (Hage 1997: 137) durch die Einverleibung einer als „authentisch“ empfundenen Speise. Die US-Philosophin Lisa Heldke beschreibt diese Art interkulturellen Essens als „cultural food colonialism“ (2003: x). Wohlhabende, gelangweilte food ad‐ venturers, (überwiegend) Angehörige der Mehrheitsethnie, gehen auf die Suche nach exotischen, authentischen Speisen, nach „Gewürz“ für das Leben. Sie selber, meinen sie, haben keine (kulinarische) Kultur: „We see our culture or 287 Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ cultures reflected around us so frequently and so widely that we come to think of them as no culture at all, as a kind of default, or background against which other cultures can be displayed“ (2003: xxi). Heldke, wie viele andere, findet dieses Verhalten suspekt, will aber für ein anti-kolonialistisches Essen plädieren, dessen Zutaten „self-questioning“ und „contextualism“ sind (2003: 154). Wenn man bewusst interkulturell isst, soll man sich über die Herkunft und den Kontext der Produktion der Speise informieren, behauptet Heldke, damit man eine Hal‐ tung entwickelt, die „Offenheit“ anderen Traditionen gegenüber fördert, ohne diese zum reinen Objekt des Konsums und der Selbstbereicherung zu machen (2003: 168). Zum Schluss wird hier eine Initiative untersucht, die solche Ab‐ sichten mobilisiert, nämlich ein Berliner Kochkurs, der nicht nur über das Essen, sondern auch über die Kultur und Erfahrungen der Flüchtlinge Auskunft geben soll. Der Flüchtling als Akteur kulinarischen Lernens: Der Kochkurs Das letzte Beispiel des interkulturellen Essens, das hier besprochen werden soll, verweist am Deutlichsten auf ihre Ziele der Integration von Flüchtlingen. Ein „afghanischer Kochkurs“ der Initiative „Über den Tellerrand kochen GmbH“ wird hier anhand von der participant observation mit Hinsicht auf ihre Ziele untersucht. Zunächst werden aber die Diskurse der Initiative im Kontext der oben besprochenen interkulturellen Theorien aus der food studies analysiert. Der Gestaltung dieses Kochkurses liegt offensichtlich die populäre Annahme zugrunde, dass wenn Mitglieder der Mehrheit das Essen von „Anderen“ einver‐ leiben, dann „können wir über uns, Andere und deren Kulturen lernen“ (Flo‐ wers / Swan 2012: 1). „Über den Tellerrand“ produziert schlichten Diskurs, der den Gebrauch vom Essen als effektives Mittel zur Förderung von interkultureller Akzeptanz überzeugend begründet: Über den Tellerrand [motiviert] zu grenzübergreifenden Begegnung und Austausch auf Augenhöhe zwischen Kulturen. Dabei wird die Entstehung einer offenen und to‐ leranten Gesellschaft aktiv gefördert. Mit dem Kochen, als eines der meist akzeptierten Medien des kulturellen Austausches, gelingt es uns, das Thema Asyl aus einer neuen, positiven Perspektive zu beleuchten und Barrieren zu senken. (Über den Tellerrand 2017) Die Initiative versucht mit ihren positiven Diskursen um das Thema Flüchtlinge an Krisendiskursen vorbei zu arbeiten und interkulturellen Austausch zwischen Individuen zu gestalten. Die Kochkurse entstammten einer mehr oder weniger spontanen Initiative von Berliner Studenten, die - als Flüchtlinge in großen 288 Heather Merle Benbow Zahlen nach Berlin zogen - am Oranienburger Platz mit Kochzubehör sich mit den Flüchtlingen trafen, um mit ihnen zu kochen. Daraus entstand das erste Rezeptbuch von „Über den Tellerrand“. Eine Reihe von „Satellitenprojekten“ folgte, wie der oben besprochene Flüchtlingstruck. Im Jahr 2016 wurden neben dem afghanischen Kochkurs am häufigsten sy‐ rische, aber auch bei Gelegenheit ägyptische, pakistanische oder nigerische Kochkurse angeboten. Man kauft sich Tickets zum Kochkurs im Online-Store, wo eine gewisse Spannung zwischen der Einladung zum Genuss und der Auf‐ forderung, echte Menschen kennen zu lernen, zum Vorschein tritt: „Bei unseren Kochkursen geht es nicht nur um leckere Gerichte und ein entspanntes Dinner. Es geht um Kultur, um unsere Mitmenschen, die in Deutschland neu sind, es geht um Geschichten aus fernen Ländern und um das Kennenlernen.“ (Über den Tellerrand 2017) Hier schwankt der Diskurs zwischen Vertrautem (man wird bewirtet mit „leckerem Essen“ von einem migrantischen Koch) und Fremdem (der Koch ist ein Flüchtling und in Deutschland neu). Der konzeptuelle Kontext für die Begegnungen, die stattfinden sollen, kommt von der Gastronomie, die - wie oben beschrieben - schon seit Jahren ein Ort der interkulturellen Begeg‐ nungen „auf Augenhöhe“ ist. Man erwartet hier aber etwas explizit Didaktisches zum Essen dazu, „eine Prise [fremder] Heimat“, wie die Internet-Seite wortge‐ wandt bemerkt. Ein weiterer Kontext der Werbediskurse und der Erwartungen der Besucher des Kochkurses ist der Massentourismus. Hage macht die scharf‐ sinnige Bemerkung, dass das multikulturelle Essen (wie er es im Australien der 90er Jahre vorfindet) weniger der Migration zu verdanken sei als dem Tou‐ rismus, der den „Geschmack“ für fremdes Essen erweckt (Hage 1997: 99). Diese Tendenz spiegelt sich in der Beschreibung des afghanischen Kochkurses wider: Wer nach deutscher Küche sucht ist hier falsch! Bei uns geht es um authentische Gerichte aus aller Welt, ihr werdet mit Geschmäckern und Gerüchen in Berührung kommen, die euch neu sind […]. Unser Koch nimmt euch mit auf eine Reise in sein Heimatland […]. (Über den Tellerrand 2017) Eine reizvolle kulinarische Reise und die Berührung des Fremden werden hier angeboten, ähnlich wie von einem Reisebüro. Dadurch, dass man dazu „vieles lernen“ und der Koch „von seiner Kultur erzählen“ wird, hebt sich der Diskurs dieser Initiative aber etwas von dem der reinen Tourismus-Branche ab. Dass die Werbung genau auf einen eher kulturtouristischen Marktanteil zielt, zeigt sich bei den Teilnehmern des afghanischen Kochkurses. Zu einem Laden im Erdgeschoss eines Schöneberger Altbaus in einer Seiten‐ straße kommen an einem warmen Sonntagnachmittag im Juli 2016 vier reise‐ freudige Deutsche. Die australische Autorin ist die einzige Ausnahme in der 289 Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ 1 Nicht sein echter Name. ethnischen Konstellation der Teilnehmer am afghanischen Kochkurs. Ein großer Esstisch ist mit Kochutensilien bedeckt, was auf das aktive Mitmachen der Teil‐ nehmer von vornherein verweist. Man wird begrüßt von der deutschen Orga‐ nisatorin des Kurses. Der Koch, ein Afghane in den Dreißigern namens Karim 1 , ist schon an einem Herd beschäftigt, der an einem provisorisch aussehenden Arbeitsplatz am Ende des Zimmers aufgestellt ist. Lingua franca des Nachmit‐ tags ist Englisch; der Koch spricht besser Englisch als Deutsch, und gute Eng‐ lisch-Kenntnisse der deutschen Teilnehmer werden ohne Rückfrage ange‐ nommen, was sich bei der gebildeten Klientel als nicht verkehrt herausstellt. Als „Eisbrecher“ werden die Teilnehmer ermutigt etwas von sich zu erzählen, näm‐ lich von der Mahlzeit, die auf sie den größten Eindruck gemacht hat. Dadurch wird der Ton des food adventurers gesetzt, denn die Teilnehmer erzählen aus‐ schließlich von Erfahrungen mit fremden Speisen; die Oranisatorin nennt Ta‐ rantula in Kambodscha, eine Teilnehmerin optiert für parmigiana di melanzane in Italien, eine andere für gewürzte Eier und Eidechse in Laos, noch eine andere für das persische Auberginengericht gorme badenjan, das zufällig heute beim Kochkurs auf der Speisekarte steht. Der einzige männlicher Teilnehmer des Kurses beschreibt, dass in Maine, USA, Hummer so häufig gegessen werde wie in Berlin Currywurst. Bei so viel Exotischem ist der Koch der Einzige, der ein Gericht aus seiner eigenen Kultur nominiert (Aubergine, die er mit seiner Groß‐ mutter vorbereiten musste, die ihm aber nie geschmeckt habe). Auch die aust‐ ralische Forscherin nennt etwas (für sie) Exotisches: Leberkäse, in Deutschland heruntergewürgt. Bei diesen Anekdoten sticht ins Auge, dass die Teilnehmer des Kochkurses als food adventurer sozialisiert sind, ihre eigene Esskultur als wenig beeindruckend zu betrachten, während das Essen des Anderen - je au‐ thentischer und exotischer, desto besser, am liebsten vor Ort genossen - Stoff für Anekdoten liefert. Auf dem Menü steht heute eine Rote-Linsen-Suppe mit Linsensalat, ghormeh sabzi (ein Eintopf mit Fleisch und Bohnen), das oben erwähnte gorme badenjan und als Nachtisch afghanischer Milchreis (mit Mandelmilch vorbereitet wegen der Laktoseintoleranz einer Teilnehmerin). Beim Kochen machen die Teil‐ nehmer mit, stellen Fragen, wie dünn man das Gemüse für die Suppe und den Salat schneiden soll, wo man persische und afghanische Zutaten in Berlin be‐ kommen kann (der Koch hat persische Vorfahren). Eine Teilnehmerin - exotisch mit scharf gleichsetzend - fragt, ob afghanisches Essen scharf ist (die Antwort lautet: nein), und wo man in Berlin ein gutes persisches Restaurant findet (Ant‐ wort: sie sind alle schrecklich). Wie man den Reis dünstet, damit die begehrte 290 Heather Merle Benbow Kruste (tahdig) dabei entsteht, wird vom Koch vorsichtig erklärt, begeistert be‐ merkt. Hier steht also wirklich der migrantische Koch mit seinen kulinarischen und kulturellen Kenntnissen im Vordergrund, seine Autorität zum Thema un‐ angetastet, auch von einer Persien-Kennerin in der Gruppe. Das explizit kulturell-didaktische Element ist eine Diashow, die nach den Hauptspeisen, aber vor der Nachspeise gezeigt wird. Zuerst erzählt die Organi‐ satorin von der Initiative, deren Geschichte und Aufbau. Während des Vortrags vernehmen die Teilnehmer Geräusche aus der Küche: Karim beim Abwaschen. Wie im Restaurant wird also doch für Gäste gekocht und saubergemacht. Die Teilnehmer bleiben auf ihren Stühlen und werden in diesem Moment zu Gästen. Irgendwann wird Karim aus der Küche von der Organisatorin herausgeholt. Dann erzählt er bei touristischen Bildern Afghanistans seine verheerende per‐ sönliche Geschichte und davon, wie sie mit der schwierigen Geschichte Afgha‐ nistans verknüpft ist. Er redet von den persischen Vorfahren, von der Heirat der Eltern während des Kriegs gegen die Sowjetunion, von der Flucht in den Iran, der schwierigen Kindheit im Iran ohne Pässe, dem Rückzug nach Afghanistan, von Geldnot und erzwungener Kleinkriminalität, von der Flucht in die Türkei, dann von Stationen in vier verschiedenen europäischen Ländern und der In‐ haftierung in verschiedenen Ländern, endlich von der Ankunft in Deutschland, wo Karim immer noch auf eine Daueraufenthaltserlaubnis wartet. Er macht Einkaufstaschen und Kinderschuhe, will nicht vom Staat abhängig sein, würde sofort zurück nach Afghanistan gehen, wenn es dort sicher wäre. Er entschuldigt sich für die „terrible history“ seines Landes, die den Teilnehmern tatsächlich den Appetit verdorben hat. Betreten sitzen die Teilnehmer am Tisch, während Karim den Milchreis aus der Küche holt. Bisher war alles sehr heiter gelaufen, mit reger Unterhaltung, hauptsächlich zwischen Karim und den Kursteilnehmern. Nach dem Vortrag ist die Stimmung anders. Es kommt noch eine Frage zum afghanischen Kochen: Eine Teilneh‐ merin fragt, ob man dort in Ton- oder Metalltöpfen kocht. Karim ist etwas ver‐ blüfft: natürlich Metall, es sei schließlich ein modernes Land. Vor Hunderten von Jahren habe man vielleicht Ton gebraucht, aber jetzt nicht mehr. Die Teil‐ nehmerin stockt, scheint sich ein bisschen wegen ihrer Frage zu schämen, be‐ teuert, sie habe nur gefragt, weil man in Thüringen, wo sie her sei, ja auch für manche Gerichte Tontöpfe benutze. Die Teilnehmer wenden sich jetzt einander zu, vielleicht, weil Karim öfter in der Küche verschwindet und die Teilnehmer jetzt nichts mehr vorbereiten müssen und in eine vertraute Kundenhaltung ab‐ gleiten. Vielleicht ist es aber auch, weil durch das Erzählte eine existenzielle Kluft zwischen Flüchtling und Einheimischen entstanden ist, die kein gemein‐ sames Essen überwinden kann. 291 Integration geht durch den Magen? Interkulturelles Essen in „Krisenzeiten“ Irgendwann kommt jemand auf die Idee, das Finale der Europameisterschaft per Internet-Übertragung an die Wand zu projizieren. Portugal spielt gegen Frankreich. Draußen in Schöneberg sind die Bürgersteige vor den Shisha-Bars voll mit Kunden, die das Gleiche machen. Dort sitzen sehr viele Frauen mit Kopftuch, rauchen und trinken. Bestimmt wäre Karim lieber dort als hier bei uns, Integrationsarbeit leistend, ahnungslose Fragen beantwortend, unsere in‐ terkulturelle Beklommenheit ausstehend. Der cosmo-multiculturalism, der von Hage erfasst wird, interessiert sich nicht für die Frauen und Männer da draußen bei den Shisha-Bars, weil sie dabei nicht zur Integration mit den Eingeborenen beitragen und „nur“ unter sich sind. Die deutsche Mehrheit wird dadurch nicht „bereichert“, der Andere nicht genossen. Als „Parallelgesellschaft“ werden solche Konstellationen in den deutschen Medien abgetan, weil keine (ethnisch) Deutschen dabei sind. Hage findet aber, dass der geeignete Fokus unserer Unter‐ suchungen zum ethnic food eben solche Instanzen von „the everday reality of migrant home-building“ (1997: 99) sein müssen, wenn wir - wie Hage hofft - einen konsum-orientierten Kosmopolitanismus von Multikulturalismus trennen wollen (19917: 145). Nur dann kann man den Multikulturalismus, der ja eine lived reality ist, vor der Bedeutungslosigkeit retten. Schlussbetrachtung: (Wie) Kann Essen zur Integration beitragen? Die Frage bleibt offen, ob und inwieweit das Einverleiben des Essens des An‐ deren zu „hoffnungsvollen interkulturellen Begegnungen“ (Wise 2010) führen kann. Aus dieser Analyse von drei interkulturellen kulinarischen Momenten kann man leider nicht schließen, dass ein antikolonialistisches Essen besonders leicht gestaltet wird, auch nicht mit den besten Absichten. Über die Geschichte Afghanistans und das persönliche Schicksal Karims sind die Kursteilnehmer im afghanischen Kochkurs leider nicht allzu schlau geworden; es fehlte zu viel Hintergrundinformation seitens der Teilnehmer und die Sprachbarriere war spürbar. Die Frage stellt sich aber auch, ob ein afghanischer Schuhmacher und Koch der Richtige ist, eine Rede über die Geschichte Afghanistans zu halten. Wie Narayan bemerkt, ist es zwar durchaus sinnvoll, dass „western eaters“ sich über die Kulturen ihrer geliebten ethnic foods informieren, aber auf keinen Fall leicht: Trying to acquire such knowledge from members of a particular ethnic food culture is not an easy task. Members of ethnic food cultures are often no more knowledgeable about the cultural contexts of their food than people in general are about their own food cultures. 292 Heather Merle Benbow I want to insist that most of us are not only ignorant about the historical and cultural contexts of the food of Others, but equally ignorant about our own. (1995) Hinzu kommt, dass ein bisschen Wissen auch in diesem Kontext gefährlich sein kann, wenn es zu der gefühlten Überlegenheit eines food adventurers beiträgt (habe dieses Gericht von einem echten afghanischen Koch gelernt). Narayan warnt explizit vor dieser Gefahr: a superficial sort of intellectual curiosity about the cultural contexts of ethnic foods could, paradoxically, […] further contribute to westerners‘ prestige and sophistication because their eating was enhanced by a few sprinkles of spicy information about the „cultural context“ of the ethnic food eaten. The relationship between „knowledge“ of Others and respect for their cultural diffe‐ rences is a complicated and contingent matter. Lack of respect for Others is not always a mere function of ignorance about their cultures, but is often rooted in misinterpre‐ tations and inadequate conceptualizations of what one does know about those cul‐ tures. (1995) Es ist klar, dass der Genuss von ethnic food kein Allheilmittel für die sozialen Herausforderungen einer „Flüchtlingskrise“ ist. Ebenso deutlich ist es, dass die interkulturelle Kommunikation, die beim Essen entsteht, äußert komplex und vom Kontext abhängig ist. Dieses Kapitel hat nicht untersucht, auf welche Weise Flüchtlinge in Deutschland einen „home-building multiculturalism“ (Hage 1997) praktizieren. Hage verspricht sich viel von dem interkulturellen kulinarischen Austausch, der in der Privatsphäre, nicht in Gaststätten, stattfindet. Und durch das kurze Aufblühen der „Willkommenskultur“ sind tatsächlich in den letzten Jahren viele Flüchtlinge auf Dauer in deutsche Häuser aufgenommen worden. Dort findet bestimmt eine rege, wahrscheinlich oft schwierige, vielleicht aber auch für alle Parteien „bereichernde“ kulinarische Diskussion statt. Literatur Bojadžijev, Manuela (1998). ,Fremde Töpfe: Kulinarische Vorstellungen von Multikultu‐ ralismus‘, in Ruth Mayer / Mark Terkessidis, Hg., Globalkolorit: Multikulturalismus und Populärkultur. St. Andrä-Wörden: Hannibal Verlag, 303-311. Barthes, Roland (1979). ,Toward a Psychosociology of Food Consumption‘, in Robert Forster / Orest Ranum, Hg., Food and Drink in History. 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By ignorant little suckers that make you feel odd Think that all we do is drink grog And they say we only have ourselves to blame Those idiots should be ashamed It’s like they can’t and won’t understand Aboriginal pain I wish those haters can walk in our shoes Then they’ll know what it’s like to lose And live a life that’s been abused (Caper 2011) Einleitung: Indigene Poesie in Berliner Schulen „How would you like to be me? “ fragt der indigene Rapper Caper und fordert explizit jenen Perspektivwechsel ein, der in sämtlichen Berliner Rahmenlehr‐ plänen mittlerweile als ein transdisziplinärer Fixpunkt festgelegt worden ist und den Erwerb interkultureller Kompetenz zu einer standardisierten Handlungs‐ maxime erhebt. Der Fremdsprachenunterricht, insbesondere das Fach Englisch, soll dabei eine zentrale Rolle einnehmen. So wird in Berlin seit dem Schuljahr 2014/ 15 zum Beispiel erwartet, dass die Oberstufenschüler*innen im Englisch‐ unterricht bei der Auseinandersetzung mit den anglofonen Bezugsländern „ihre interkulturelle Kompetenz [erweitern] und sich in Dialog und in der Koopera‐ tion mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung aktiv und gestaltend [einbringen]“ (Senatsverwaltung 2014: 8). Dabei, so die Hoffnung der Senats‐ verwaltung, würden sie „fähig und bereit, fremdkulturelle Perspektiven wahr‐ zunehmen“ (2014: 16). Wenn es im Englischunterricht jedoch um das Bezugsland Australien geht und die in dem Curriculum adressierten Schüler*innen gebeten werden, ihre Lehrwerke aufzuschlagen, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich ihnen ein gängiges koloniales Paradigma aufdrängt, das Binaritäten zwischen dem „ours“ und dem „theirs“ (Said 1978: 54) konstruiert. Auf der einen Seite die gewohnt schönen Bilder des Bondi Beach, der Royal Botanic Gardens und des Circular Quay, die zum Familienurlaub oder obligatorischen work-and-travel nach dem Abitur einladen. Auf der anderen Seite die Infokästen zu dem Nomadismus der Aborigines oder die Bilder der stolen generations. Auch wenn jüngere Lehrwerke die Dreamings oder die Unterdrückung nach der vermeintlichen Entdeckung durch James Cook ausführlicher und differenzierter thematisieren, überwiegt häufig eine durch den kolonialen Diskurs geprägte Konstruktion eines über‐ wiegend weißen australischen Kontinents, die mit dem latenten othering der Aborigines einhergeht und den Erwerb interkultureller Kompetenz problema‐ tisch macht, da Schüler*innen unmittelbarer Teil oder gar aktive Täter*innen im Spiel kolonialer Machtmechanismen werden. Wenn Caper also seine Zuhörer*innen zu Recht dazu aufruft, sich nur einen Moment für die indigene Sicht der Dinge zu interessieren (vgl. Minestrelli 2017), so gilt zu beachten, dass der Englischunterricht abseits der gängigen Schulbuchlektüre indigene Texte einsetzen muss. Nur so kann Schüler*innen ermöglicht werden, das Bezugsland Australien zu thematisieren, ohne gängige koloniale Ideologie zu reproduzieren. Im Folgenden wird deshalb erklärt, wie vor allem poetische Texte indigener Dichter*innen, in erster Linie Gedichte, songs und oral stories, konkret in Ber‐ liner Schulen verwendet werden können, um interkulturelle Kompetenzen zu fördern. Ich beziehe mich dabei lediglich auf den Rahmenlehrplan Englisch für die Oberstufe Berlin, um exemplarisch die Gestaltung von Unterrichtsinhalten aus dem zweiten Kurshalbjahr (Senatsverwaltung 2014: 29) mithilfe indigener Poesie zu diskutieren. Dabei wird stets in Erwägung gezogen, dass der Einsatz von indigener Literatur im Englischunterricht auch in einem Spannungsver‐ hältnis steht und deshalb zugleich heikel sein kann, wie West-Pavlov betont: „In the light of [the] ongoing history of the displacement of Aboriginal voices by … discourse, commenting upon indigenous literature as a white teacher or aca‐ demic becomes a fraught undertaking“ (West 2002: 168). Im Schlussteil wird aber auch verdeutlicht, dass sich dieses Spannungsverhältnis als produktiv für die interkulturelle Bildung herausstellt, da es Lernenden, Lehrenden, Verlagen und anderen Beteiligten ermöglicht, über literarische Bezüge ein neues Verständnis von Interkulturalität zu gewinnen. 298 Henning Steinfeld We are as strangers here now, but the white tribe are the strangers: Interkulturelle Positionalität durch Perspektivwechsel Eine grundlegende Aufgabe des interkulturellen Fremdsprachenunterrichts sollte zunächst sein, Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, andere Stand‐ punkte im Sinne der kulturellen Positionalität zu verstehen oder gar einzu‐ nehmen. So fordert der Rahmenlehrplan Englisch in Berlin etwa, dass sich Ler‐ nende im zweiten Semester mit den kulturellen Identitäten der Bezugsländer beschäftigen und die Konstruktion von „Cultural identity in the arts“ (Senats‐ verwaltung 2014: 29) untersuchen. Dabei nehmen die Schüler*innen laut Se‐ natsverwaltung „Perspektivwechsel vor, um Verhaltensmuster der fremden Kultur zu verstehen, ggf. eigene kulturelle Konzepte zu relativieren und zwi‐ schen der eigenen und der anderen Kultur vermitteln zu können“ (2014: 29). Jene Perspektivwechsel thematisiert zum Beispiel Oodgeroo Noonuccal, die innerhalb und außerhalb Australiens populärste indigene Dichterin (Van Toorn 2001: 29), in We Are Going. Das Kulturverständnis spiegelt in diesem Gedicht die Ansätze Stuart Halls und wird als ein „set of practices“ (Hall 1997: 2) eingeordnet, das durch Diskurse produziert wird, in denen Bedeutungen durch Sprache her‐ vorgebracht werden. Identitäten sind wiederum als „points of temporary at‐ tachment to the subject positions which discursive practices construct“ (Hall 1996: 6) einzuordnen. Das Verstehen oder das Teilen einer kulturellen Identität ist dementsprechend mit dem Verstehen oder dem Teilen einer spezifischen Po‐ sition gleichzusetzen: „Cultural identities are the points of identification, the unstable points of identification or suture, which are made, within the discourses of history and culture. Not an essence but a positioning“ (Hall 1993: 226). Noonuccal verhandelt diese Positionalität im Text primär durch shiftings in der Deixis (siehe Fludernik 1991; Green 1992). Ihre Poesie erlaubt es ihr, Identi‐ täten, die im kolonialen Diskurs erzeugt und bis zum heutigen Tage reproduziert worden sind, zu dekonstruieren und neu zu verhandeln. Das distale they in den ersten Versen bezieht sich zum Beispiel auf die im Diskurs bislang marginali‐ sierten Aborigines, die als Objekte in us/ them-Dichotomien behandelt werden und sich mit einer aufgezwungenen Position konfrontiert sehen: They came into the little town A semi-naked band subdued and silent, All that remained of their tribe. They came here to the place of their old bora ground Where now the many white men hurry about like ants. (Noonuccal 1999 [1964]: 30) 299 Interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen Nach einer syntakischen Zäsur und einem antithetischen Parallelismus erfolgt jedoch ein shifting zum inklusiven we (vgl. Yule 1996: 11), das die vorherige Binarität dekonstruiert und eine indigene Subjektivität evoziert. Oodgeroo kann den Leser*innen nun in Form mehrerer Anaphern aufzählen, was Pan-Aborigi‐ nality jenseits oktroyierter kultureller Identität bedeutet: We are as strangers here now, but the white tribe are the strangers. We belong here, we are of the old ways. We are the corroboree and the bora ground, We are the old sacred ceremonies, the laws of the elders. We are the wonder tales of Dream Time, the tribal legends told. We are the past, the hunts and the laughing games, the wandering camp fires. (Noonuccal 1999 [1964]: 30) Schüler*innen können Bestandteil des we werden, da es als strategisch-essenti‐ alistisch (siehe Spivak 1994) oder gar als kosmopolitisch-resistent (siehe Castells 2010) zu betrachten ist, so dass Identität auf Augenhöhe interkulturell ausge‐ handelt wird. Ähnliche shiftings sind auch in anderen Texten zu beobachten. Mudrooroo Narogin wechselt in Lightning Travels zum Beispiel vom distalen „Dunno who he was, that brother with the hammer“ zum proximalen „Our fa‐ ther’s hammer, our grandfather’s hammer, Our children’s children’s hammer hammering out.“ (1999 [1988]: 240), so dass die Leser*innen am „our“ partizi‐ pieren können. Caper variiert in How would you like to be me? zwischen dem distalen „those haters“ und dem proximalen „our shoes“, um Hörer*innen in die neu generierte indigene Subjektivität aufzunehmen. Auf räumlich-zeitlicher Ebene werden diese Perspektivwechsel häufig ver‐ stärkt. Caper lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen bewusst von einer Situation in einer „pizza bar“ im Verlaufe des Songs zu einem Ort abseits urbaner Regionen: „What about in our own country? What about Aboriginal communi‐ ties? “ (2011). Narogin wechselt vom vergangenen „Dunno who he was“ plötzlich zum präsenten „Your hammer crashes“ (1999 [1988]: 240). Diese räumlich-zeit‐ lichen shiftings spielen auch in We Are Going eine signifikante Rolle. Die zu Beginn des Gedichtes im Präteritum stehenden Verben „came“ und „remained“ sind dem im Präsens stehenden Verb „are“ gewichen und die entfernte „little town“ in dem ersten Vers macht dem unmittelbaren „here“ Platz. Noonuccal veranschaulicht, genauso wie Caper und Narogin, dass die linear-progressive Zeitlichkeit kolonialer Ideologie in indigener Kosmologie genauso wenig exis‐ tiert wie die Vorstellung der durch die Siedler geschaffenen urbanen Zentren. Vielmehr beschreiben die Dreamings ein zeitlich-räumliches Kontinuum, dessen metaphysische Existenz die Konstruktion von kultureller Identität prekonfigu‐ 300 Henning Steinfeld riert. Mensch, Zeit und Raum müssen in der Konstruktion kultureller Identität als Einheit (Maddison 2009: 88; Shoemaker 1989: 180) verstanden werden. Das finale und in progressiver Zeitform gehaltene „We Are Going“, das zugleich Titel des Gedichts ist, löst die Leser*innen deshalb aus ihrem räumlich-zeitlichen Pa‐ radigma und nimmt sie durch die shiftings mit in die kosmologische Sphäre der Aborigines. Schüler*innen werden animiert, gemeinsam mit der indigenen Be‐ völkerung koloniale Dichotomien aufzugeben und zu einer interkulturellen Aushandlung von Identität aufzubrechen. Noonuccals textuelle Kontaktzone hat Kultur somit „permeable“ (Wulf 2010: 34) gemacht hat und eine nicht länger asymmetrische Auseinandersetzung mit „Cultural identity in the arts“ durch Lernende und Lehrende arrangiert, nach Wulf ein Grundgedanke interkultu‐ reller Pädagogik: „The mission of transcultural education is contact with the other and with alterity in a manner that is free of violence“ (2010: 33). Wiederholt wurde die Befürchtung artikuliert, dass poetische Texte wie We Are Going, Lightning Travels oder How would you like to be me? einen gemein‐ samen kontextuellen Rahmen für die Aushandlung kultureller Identität schaffen, dabei allerdings indigene Dichter*innen von ihren in der Regel kon‐ sensorientierten Communitys (vgl. Maddison 2009: 97-98; Cowan 1989: 118; Shoemaker 1989: 189) distanzieren und somit koloniale Dichotomien in nur leicht modifizierter Form aufrechterhalten. Problematisch ist ebenso, dass die zitierten Beispiele in englischer Sprache verfasst sind und somit das semiotische Repräsentationssystem der ehemaligen Kolonialmächte akzeptieren. In der Tat könnten deshalb lediglich Tonaufnahmen von Lehrenden eingesetzt werden, um den performativen Charakter der Dichtkunst hervorzuheben. YouTube bietet etwa einen Mitschnitt des von Oodgeroo eingelesenen Textes und Capers Lieder zurzeit kostenlos an. Sollen Schüler*innen jedoch reflektieren, dass das Ver‐ wenden der englischen Sprache bei der Auseinandersetzung mit indigener Dichtkunst intensiver erörtert werden muss, bieten sich andere Beispiele an, die im Folgenden illustriert werden. Words are easy, words are cheap: Das (Nicht)verstehen indigener Poesie Vor allem Yothu Yindi beschäftigen sich mit der Frage des (Nicht)verstehens indigener Dichtkunst. In dem Lied Treaty, das die australisch-indigene Band in den frühen 1990ern berühmt machte, wird der Unterrichtsinhalt „Nations bet‐ ween tradition and change“ (Senatsverwaltung 2014: 29) aufgegriffen und mit‐ hilfe einer yolngu matha die in englischer Sprache verfasste koloniale Histori‐ ographie metafiktional kommentiert. Die Dichter positionieren sich auf diese 301 Interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen Weise nicht nur in der kontroversen Frage, wie in Australien die eigene Ge‐ schichte konzeptualisiert werden soll (siehe dazu Attwood 2010; Reynolds 1987; Attwood / Magowan 2001; Gilbert 1988), sondern gehen auch dem Streitpunkt nach, ob diese Positionierung überhaupt sprachlich verständlich vermittelt werden kann. Dieses Vorgehen ist auch für Berliner Schüler*innen relevant, da eine interkulturelle Annäherung an ein Bezugsland auch immer die Herausfor‐ derung beinhaltet, sich einer adäquaten Auffassung von Geschichte zu nähern. Selbst Schüler*innen in Berliner Klassenzimmern sind im Englischunterricht an der Konstruktion mystifizierter nationaler Narrative beteiligt (siehe Hall 1992: 292-295; Urry 2000: 147-149), da jede Gedichtanalyse als textuelle Reise in ein Bezugsland auch die Anerkennung einer konstruierten Nation bedeutet und unter Umständen jene Historiographie unterstützt, die eine Genese kultureller Identität mit der vermeintlichen Nationwerdung verbindet, wie Wulf andeutet: „In all European countries, education has been related to nation building. It has contributed to the building of national identity, national consciousness, and the development of a nation state“ (2010: 33). Die in Englisch verfassten Textstellen beziehen sich zunächst auf die Zwei‐ jahrhundertfeier der australischen Nation im Jahre 1988 und das Versprechen Bob Hawkes, eine Treaty mit der indigenen Bevölkerung auszuhandeln. Yothu Yindi kritisieren an dieser Stelle, dass die Idee einer australischen Nation auf einer kolonialen Geschichtsschreibung basiert (vgl. Nicol 1998; Wenzel 2004), die 1788 jene Invasion ermöglichte, die auf der Behauptung fußte, der Kontinent sei eine terra nullius ohne eigene Geschichte. Diese Art der Geschichtsschrei‐ bung, so Yothu Yindi, würde noch zweihundert Jahre später Aborigines aus‐ schließen: Well I heard it on the radio And I saw it on the television Back in 1988, all those talking politicians Words are easy, words are cheap Much cheaper than our priceless land But promises can disappear Just like writing in the sand. (Yothu Yindi 1991) Mit den wiederholten „words“, dem vokalischen Gleichklang „easy“ und „cheap“ und dem Paradoxon „cheaper than our priceless“ wird betont, dass die koloniale Geschichtsschreibung als illegitim empfunden wird. Das wiederholte „never“ und das metaphorische „planting of the Union Jack“ in den folgenden Versen akzentuieren diese Illegitimität: 302 Henning Steinfeld This land was never given up This land was never bought and sold The planting of the Union Jack Never changed our law at all (Yothu Yindi 1991) Dass die Metapher, die das semantische Feld der britischen Besiedlung dem se‐ mantischen Feld des Kontinents oktroyieren soll, sich letztlich als ineffektiv he‐ rausstellt, wird in der Zeile „Never changed our law at all“ deutlich, da das in‐ digene Recht weder die europäische Zeitlichkeit noch die Kommodifizierung von Naturraum vorsieht (Wildburger 2003: 30-31). Doch natürlich sind auch Yothu Yindi mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Text in englischer Sprache verfasst wurde und die koloniale Geschichtsschrei‐ bung, wie in der Zeile „Back in 1988“ unschwer zu erkennen ist, weiterhin prä‐ sent ist. Dieses generelle Problem betrifft auch andere Lieder. In January 26 positioniert sich die indigene Formation A.B.Original in Versen wie „You can come and wave your flag | But it don’t mean a thing to me | No, it just don’t mean a thing“ (2016) oder „Fuck celebrating days made of misery (fuck that) | White Aus still got the black history (that’s true)“ (2016) etwa explizit gegenüber kolonialer Geschichtsschreibung, reproduziert aber zeitgleich den historiogra‐ phischen und linguistischen Rahmen. Yothu Yindi adressieren aus diesem Grunde das skizzierte Dilemma und wechseln im Refrain zu einer yolngu matha, über die in Form eines djatpangarris jene englischen Strophen metafik‐ tional (vgl. Hutcheon 1988) kommentiert werden. Djatpangarris sind von den Yirrkala eingesetzte situationsbezogene soziale Rituale, in denen zum Beispiel neu verhandelte Positionen in bestehende Kontexte eingearbeitet werden (siehe Stubington and Dunbar-Hall 1994; Hayward and Neuenfeldt 1998). Mithilfe des repetitiven Refrains wird verdeutlicht, dass die indigene Auffassung einer zir‐ kulären und rekursiven Zeitlichkeit (Attwood and Magowan 2001: xiv-xv; Carter 2005: 173; Pettit 2015: 31), die primär oral vermittelt wird, im Widerspruch zu der sequenzierenden und auf der Schriftsprache beruhenden kolonialen His‐ toriographie steht. Zugleich evoziert der Refrain ein aktives Zuhören, da Schüler*innen plötzlich auf die ihnen verständliche Textpassagen warten. Die metafiktionalen Kommentare unterbrechen also die linear-progressive Anord‐ nung kolonialen Zeitgeschehens und infiltrieren das Bezugsland mitsamt seiner vermeintlich nationalen Geschichte mit einer indigenen Subjektivität. Die yo‐ lngu matha wird zur „voice of protest“ (Heiss 2003: 35) im Diskurs und hinter‐ lässt nichtverstehende Schüler*innen. Auch einige der jüngeren Lieder haben sich diese Strategie zu eigen gemacht. Während A.B. Original in January 26 noch auf jene Protestnote verzichten, integriert der indigene Rapper Baker Boy 303 Interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen etwa unmittelbar nach dem Vers „Brother boys | Yolngu boys | All the way from Arnhem Land“ (2017) in der yolngu matha verfasste Textstellen in seine Lyrics. Amplifiziert wird dieser strategische Protest in der Aufzeichnung des oral storytelling. Mark Lang hat zum Beispiel die Geschichten von Bill Neidjie ver‐ schriftlicht und hinterfragt seine Rolle bereits im Prolog kritisch: „I set up the microphone on the quarter-light of the truck in front of Old Man. I let him gather his thoughts, and when he was ready, pressed the Record button“ (2015: xxi). Stephen Muecke hingegen hat sich dem Transkribieren von Paddy Roes münd‐ lichen Erzählungen gewidmet und reflektiert seine eigene Position noch inten‐ siver. So stellt West-Pavlov fest, dass Muecke die als unmöglich anmutende Aufgabe, eine im eigentlichen Sinne performative und rekursive Deutung von Zeitlichkeit doch in schriftlicher Form zu konservieren, löst, indem er das Ver‐ hältnis zwischen Zuhörer*in und Performer*in abseits kolonialer Paradigmen re-konstituiert und einen abhängigen „white listener“ produziert: „What is performed in these oral texts is not only the priority of indigenous culture but also the subordinate role of the white listener. Stephen as Paddy Roe’s interlocutor is the embodiment of the ‚implied reader‘ as listener and as learner. The necessity of translation underlines the dependent character of the listener’s position. Dialogue, in stories …, is never equal, but places the listener in a secondary, non-knowing situation.“ (West-Pavlov 2005: 161) Muecke interveniert in das storytelling Roes, ordnet sich aber gleichzeitig als fragender Gesprächspartner dem Vermittler von indigener Zeitlichkeit unter: Maban maban (Stephen: Ngalea belly) yeah - (Sings) mudjariii ngaleaa (Stephen: Why, why belly? ) yeah - an’ tali minma, walbaru ridjanala tali minma that’s telephone everybody bin ringin’ up to hang this man (Laughs) (Stephen: Minma) on the telephone (Stephen: Minma, man? ) eh? (Stephen: Minma is man) yeah - (Stephen: Is it? ) (zitiert in West-Pavlov 2005: 161) Da die Senatsverwaltung erwartet, dass sich die Schüler*innen „im Dialog und in Kooperation mit Menschen anderer kultureller Prägung“ (vgl. 2014: 8) bei der Aushandlung des Themenfeldes „Nations between tradition and change“ ein‐ bringen, können die Transkripte beim Erwerb interkultureller Kompetenzen verhindern, dass Interkulturalität ausschließlich auf einer machtasymmetri‐ schen kolonialen Geschichtsschreibung basiert. Bewusst erzeugtes Nichtver‐ stehen wird also als Strategie des gewaltlosen Widerstands eingesetzt. 304 Henning Steinfeld Könnte Yothu Yindi dennoch vorgeworfen werden, mit ihrem protestorien‐ tierten Refrain koloniale Historiographie und somit den kolonialen Diskurs zu reproduzieren? Könnte selbst Roe und Neidjie vorgehalten werden, zu deutlich auf nicht-verstehende „listeners“ aus der westlichen Hemisphäre eingehen zu wollen? Schließlich bleibt auch eine kommentierte Geschichte der Kolonialisie‐ rung eine Geschichte der Kolonialisierung und auch ein transkribierter Wider‐ stand bleibt eine verschriftlichte Form von Zeitlichkeit. Sehr deutlich hat Fo‐ garty einst in seinen radikalen Versen „People don’t talk! | Feel | Live | People don’t talk! “ (1999 [1982]: 270) auf den Punkt gebracht, dass das (Nicht)verstehen indigener Zeitlichkeit weiterhin im Spannungsverhältnis verharrt. Doch wird in dem Prozess des Kommentierens und des Erzählens den Aborigines eine agency übertragen, die den Berliner Schüler*innen verloren geht. Erst die nicht-verstehenden Zuhörer*innen sind dazu fähig, fremdkulturelle Perspek‐ tiven wahrzunehmen und interkulturelle Prozesse auf Augenhöhe anzunehmen. Dieser Wunsch der interkulturellen Aushandlung wird von Yuthu Yindi in der Metapher der zwei Flüsse artikuliert: Now two rivers run their course Separated for so long I’m dreaming of a brighter day When the waters will be one (Yothu Yindi 1991) Interkulturalität, so die finale Erkenntnis, muss weniger durch einen radikalen postkolonialen oder antikolonialen Widerstand, als durch Kompromisse und Mittelwege erreicht werden, vielleicht sogar durch eine „hybrid formation“ (Wulf 2010: 33) des (Nicht)verstehens. Weshalb der Naturraum, wie Yothu Yindi bereits andeuten, dabei eine so essentielle Rolle spielt, wird im Folgenden er‐ läutert. You have stood there for centuries: Nachhaltige Lebensbedingungen Geht es um das Bezugsland Australien, so kann der Erwerb interkultureller Kompetenz nicht ohne ein vertieftes Verständnis der Natur erfolgen. Zum einen verlangt das Curriculum von den Schüler*innen ohnehin, Aspekte „anderer Traditionen, Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Hintergründe für kulturell geprägte Verhaltensmuster“ (Senatsverwaltung 2014: 29) wahrzunehmen. Zum anderen stellt Australien das vielleicht geeignetste Beispiel für sehr differierende kulturell bedingte Konzeptionen der Natur an. 305 Interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen Vor allem Jack Davis ergründet in seinem Opus eindringlich, wie indigene und koloniale Zugänge zu Naturräumen kollidieren. Die Auseinandersetzung erfolgt häufig mithilfe rhetorischer Stilmittel, die Emotionen und Gefühle der Leser*innen aktivieren (vgl. Keen 2006; Jacobs 2015) und ein umweltverträg‐ licheres Verhalten erzwingen sollen (vgl. Kollmuss / Agyeman 2002). Forest Giant ist zum Beispiel eines jener Gedichte, das sich mit dem Stellenwert der Bäume beschäftigt, indem es das Schicksal eines personifizierten Baumes er‐ gründet. Es erklärt zunächst, wie Bäume in kolonialen Kontexten in erster Linie als verwertbare Ressource klassifiziert wurden. Ausgehend von der Behaup‐ tung, der Kontinent sei unbewohnt, holzten Siedler große Teile der Wälder ab und verwandelten die Flora in eine Ware (siehe Pettit 2015: 40-41; Maddison 2009: 84). Davis betont, wie rücksichtslos und verletzend diese Abholzung in indigenen Kontexten aufgenommen wurde. Das lyrische Ich adressiert bereits in dem ersten Vers in Form der Personifikation einen Baum, der menschliche Qualitäten aufweist: You have stood there for centuries arms gaunt reaching for the sky your roots in cadence with the heart beat of the soil (Davis 2010 [1992]: 4) Dieser Baum ist, wie dem weiteren Verlaufe des Gedichtes zu entnehmen ist, jedoch das alleinige Überbleibsel einer Abholzung, die als ein Massaker wahr‐ genommen wird: High on the hill, you missed the faller’s axe and saw But they destroyed the others down the slope and on the valley floor Now you and I bleed in sorrow and in silence for what once had been while the rapists still stride across and desecrate the land (Davis 2010 [1992]: 4) Leser*innen erkennen umgehend, dass die indigene Kosmologie einer meta‐ physischen und lebendigen Landmasse, diametral zu der Ausbeutungslogik der 306 Henning Steinfeld Kolonialisten, nicht zwischen menschlicher Sphäre und nicht-menschlicher Sphäre unterscheidet (siehe Ryan 2015; Hume 2000). Diesen kulturellen Stand‐ punkt kommuniziert Davis, indem er mit den Metaphern „heart beat of the soil“ und „you and I bleed in sorrow and in silence“ zwei semantische Felder ver‐ knüpft, die in kolonialen Kontexten oft separiert werden (Pettit 2015: 23-24). In dem Gedicht wird eine egalitäre Sphäre konstruiert, die aus Flora und Mensch besteht. Wenn Schüler*innen mit den blutenden Bäumen fühlen oder deren Herzschläge wahrnehmen, werden sie Teil der kulturell geprägten Lebenswelt der indigenen Bevölkerung. Die Hyperbole „rapists“ verdeutlicht, dass diese Sphäre geschützt werden muss. Die Alliteration „High on the hill“ impliziert zugleich, dass es für Natur und Mensch noch immer einen Ort des Widerstands (siehe Pettit 2015: 49-52) geben kann, von dem aus der Umweltzerstörung ent‐ gegengetreten werden kann. Gerade für Schüler*innen aus dem globalen Norden sind solche Gedichte von signifikanter Bedeutung, da ihnen ein Ausweg aus der kapitalistischen Verwer‐ tungslogik vorgezeichnet wird (vgl. Buell et al. 2011: 428-439). Auch in euro-amerikanischen Kontexten, exemplarisch genannt seien an dieser Stelle etwa die Werke William Blakes oder das Schaffen Henry Thoreaus, wurde der Unmut über die Kommodifizierung von Naturräumen literarisch kodiert. Jedoch eignen sich indigene Texte unter Umständen noch besser für den Unterricht, da das indigene Recht mitsamt seines tradierten Regelungsgefüges (ausführlich er‐ klärt von Cowan 1989 in Kapitel 5) sogleich eine Anleitung beinhaltet, wie Natur aktiv geschützt werden kann. In The Boomerang adressiert Davis zum Beispiel selbstironisch eine Waffe, mit der er umweltverträglich Nahrung jagen kann (siehe 1999 [1970]: 72). In Ecology vermittelt Fogarty Leser*innen beispielsweise, wie Mensch, Fauna und Flora sich abseits der Lebensmittelindustrie problemlos reproduzieren können: Now a dingo arrives that diet attractive a woof woof later bush tucker need a barramundi Later I am digging sticks then I am seeds winnowed for damper (Fogarty 1999 [1982]: 290) Über indigene Poesie finden Schüler*innen Zugang zu diesen Gebrauchsanlei‐ tungen. Der Schutz von Naturräumen wird dabei ein gemeinsames Anliegen, eine transgressive Schnittstelle, die laut Wulf eine interkulturell ausgehandelte 307 Interkultureller Kompetenz durch den Einsatz indigener Poesie in Berliner Schulen Nachhaltigkeit zum Ziel hat, von der Menschen und Umwelt weltweit profi‐ tieren können (2010: 42-43). Ob sich der Korpus indigener Poesie jedoch als eine Art sakrales Manual für den Umgang mit Naturräumen anbietet, lässt sich kaum feststellen. Vielleicht gehen Schüler*innen nach dem Englischunterricht doch in das Fastfood-Res‐ taurant in der Einkaufspassage um die Ecke. „[P]ro-environmental behaviour is affected by many different factors, both external (e. g. economic and social) and internal (e. g. environmental knowledge and awareness), and … being aware about negative environmental changes does not necessarily equate with wan‐ ting, or being able, to offset them“ (2018: 127), konstatieren Illingworth und Jack fast schon resignierend und betonen, dass sich selbst ein initiiertes Umdenken als umweltpolitisch wirkungslos herausstellen könnte. Auf der anderen Seite appelliert Wulf, Nachhaltigkeit als mittel- und langfristiges Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und angestrebten Lernprozessen Zeit zu geben (vgl. 2010: 42-43). Ohnehin sollten primär langfristig angelegte Zielvorstellungen einer re‐ formierten interkulturellen Bildung im Vordergrund stehen, wie in der Schluss‐ betrachtung resümiert wird. Schlussbetrachtung: Indigene Poesie als Bereicherung Sollen die im Rahmenlehrplan Englisch skizzierten Kompetenzen von Schüler*innen im Unterricht akquiriert werden, so ist ein Einsatz indigener Po‐ esie unerlässlich. Zwar wird an dieser Stelle vom Englischunterricht gesprochen, doch können literarische Werke indigener Bevölkerungen auch in den anderen Fachsprachen Verwendung finden. Lediglich die authentische literarische Ausei‐ nandersetzung der Dichter*innen mit Identität, Geschichte und Natur erlaubt es Lernenden und Lehrenden, Positionen neu zu eruieren, (Nicht)verstehen strate‐ gisch einzuordnen oder Nachhaltigkeit als Ziel festzulegen. Indigene Poesie, nicht selten auch dank ihrer performativen Kraft, erlaubt ungefilterte Einblicke in Ge‐ sellschaften, relativiert aber ebenso Standpunkte weit abseits des globalen Sü‐ dens. Darüber hinaus erzeugt der Einsatz indigener Poesie ein produktives Span‐ nungsverhältnis, das es der interkulturellen Bildung ermöglicht, Reformpro‐ zesse voranzutreiben. Kulturen indigener Menschen sind eine signifikante Res‐ source, um zum Beispiel die monokulturelle Ausrichtung von Bildungssystemen weiter aufzubrechen (vgl. Allemann-Ghionda 1997: 123) oder Reflexionsräume zu besetzen (vgl. Göhlich 2006: 7). Gerade in einer Zeit, in der sich die interkul‐ turelle Bildung darum bemühen muss, neue Impulse für die Bewältigung mi‐ 308 Henning Steinfeld grationspolitischer Herausforderungen zu liefern, hilft indigene Poesie beim Lokalisieren und Verorten zukunftsorientierter Lösungswege. Literatur Poesie A.B. Original (2016). ‚January 26‘ [online] www.youtube.com/ watch? v=tZ9qeX4gUeo [22.02.2019]. Eigene Transkription. Caper (2011). ‚How would you like to be me? ‘, [online] www.youtube.com/ watch? v=jSjq V0Hkfms [22.02.2019]. Eigene Transkription. 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Dr. Seddik Bibouche ist in der interkulturellen Jugendarbeit und Erwachsen‐ bildung in Tübingen tätig. Andrée Gerland ist Doktorand der Germanistik an der Universität Tübingen und war 2015-2018 Koordinator des BMBF/ DAAD-Projekts „Literary Cultures of the Global South“. Dr. Anya Heise-von der Lippe ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Engli‐ schen Seminar der Universität Tübingen. Luzia Köberlein ist Leiterin der Stabsstelle Gleichstellung und Integration der Stadt Tübingen. Dr. Nina Liewald ist Fraktionsreferentin für Bildung und Integration bzw. Kultur an der Geschäftsstelle des Fraktionsbüros der CDU im Frankfurter Römer. Arhea V. Marshall ist Doktorandin am Englischen Seminar der Universität Tübingen. Doro Moritz ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissen‐ schaft Baden-Württemberg. Lukas Müsel ist Doktorand im Promotionsverbund „Balance“ an der Univer‐ sität Tübingen. Hanna Schirovsky ist Koordinatorin für Forschung und Projekte am Welt‐ ethos-Institut an der Universität Tübingen. Dr. Stefan Schustereder lehrt Anglistik an der Universität Bonn und ist am Theodor-Schwann-Kolleg Neuss und im Bereich Hochschultraining in Düssel‐ dorf tätig. Dr. Klaus Seiberth ist Studiengangsmanager am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Stuttgart. Dr. Odila Triebel leitet den Bereich Dialog und Forschung, Kultur und Au‐ ßenpolitik am Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart. Prof. Dr. Markus Rieger-Ladich ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. Dr. Henning Steinfeld ist Lehrer für Englisch, Politik und Geschichte in Berlin. Prof. Dr. Dr. Russell West-Pavlov ist Professor für Anglistik an der Univer‐ sität Tübingen und Research Associate an der University of Pretoria / Südafrika. Er ist Gründungsmitglied des Tübinger Interdisciplinary Centre for Global South Studies und leitet seit 2015 die BMBF/ DAAD-Projekte „Literary Cultures of the Global South“ / „Futures under Construction in the Global South“. 314 Autor*innen Danksagung Wir möchten uns bei allen über drei Jahre an der Ringvorlesung „Interkulturelle Bildung und Migration“ teilnehmenden Studierenden und Referierenden be‐ danken. Die Beteiligung der Kolleg*innen aus Dakar, Johannesburg, Melbourne, Mexiko-Stadt, New Delhi, und Niterói bei Rio de Janeiro hat sehr viel zum ganz besonderen Charakter der Ringvorlesung beigetragen. Ohne die tatkräftige Beteiligung des Tübinger Weltethos-Instituts und vor allem dank der freundlichen Unterstützung von Bernd Villhauer wäre die Ring‐ vorlesung nie zustande gekommen. Wir möchten Alex Leonzini und Matthias Schmerold für das Lektorat bzw. die technische Unterstützung bei der Herstellung des Manuskripts danken. Vielen Dank auch dem/ der anonymen Gutachter*in für wertvolle Anregungen. Danken möchten wir dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) für die freundliche Unterstützung des Drucks im Rahmen der Projektförderung The‐ matisches Netzwerk „Literary Cultures of the Global South“ (Projekt-ID: 57373684). Russell West-Pavlov möchte sich bei Tatjana, Joshua, Iva und Niklas für das alltägliche interkulturelle Zusammenleben danken. Auch an Andrée Gerland: vielen Dank für ein halbes Jahrzehnt kollegialer und humorvoller Zusammen‐ arbeit. Andrée Gerland möchte sich ganz herzlich bei Russell West-Pavlov für das Ver‐ trauen, die Zusammenarbeit und den Willen zur Änderung akademischer Para‐ digmen bedanken. Zudem bei seiner Familie für die Unterstützung und den Rückhalt, bedonders bei seinen Eltern sowie bei Nela und Juno. Die aktuelle Flüchtlingsdebatte fordert die Wissenschaft zu einem intensiven gesellschaftlichen Dialog auf. Wie können wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis öffentlicher Räume überführt werden? Wie ist mit der veränderten Lage an Schulen umzugehen? Welche Bildungskonzepte erfordert die kulturelle Vielfalt? Und was für eine Schlüsselrolle kann hierbei der Literatur zukommen? Der vorliegende Band nimmt sich dieser und weiterer Fragen interdisziplinär an, indem er sowohl Forscher als auch Flüchtlingshelfer unterschiedlicher Kontexte zu Wort kommen lässt. www.narr.de ISBN 978-3-8233-8147-1 West-Pavlov / Gerland Interkulturelle Bildung Russell West-Pavlov / Andrée Gerland (Hrsg.) Interkulturelle Bildung, Migration und Flucht Potenziale und Beispiele der Integration in Schule, öffentlichem Raum und Literatur