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Literaturwissenschaften in der Krise

2018
978-3-8233-9148-7
Gunter Narr Verlag 
Anya Heise-von der Lippe
Russell West-Pavlov

In einem Zeitalter zahlreicher globaler Umbrüche destabilisieren klimatische, politische und finanzielle Krisen und die daraus resultierenden Kriege und Konflikte gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Wertemuster weltweit. Unter diesen Umständen müssen sich die Literaturwissenschaften kritischen Fragen stellen: Welche Relevanz haben philologische, historische und kontextuelle Forschungsprojekte im Licht einer krisengeschüttelten Gegenwart und einer unsicheren Zukunft? Welche Rolle kann Literatur, kann die Vermittlung literaturwissenschaftlicher Techniken im Rahmen bildungspolitischer Systeme spielen, die ökonomisch nutzbare Ergebnisse als Hauptlegitimationskriterium von Bildung betrachten? Welche ethischen und politischen Imperative müssen zwingend neu formuliert werden und welche Rolle spielen die Literaturwissenschaften dabei? In ihren Beiträgen setzen sich Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler mit ihrer eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis und der Bedeutung ihres Faches in den und für die aktuellen Krisensituationen auseinander und versuchen eine Neueinordnung der gesellschaftlichen Rolle und Relevanz der Literaturwissenschaften über Fach- und Landesgrenzen hinaus.

ISBN 978-3-8233-8148-8 C H A L L E N G E S Challenges for the Humanities / Herausforderungen für die Geisteswissenschaften In einem Zeitalter zahlreicher globaler Umbrüche destabilisieren klimatische, politische und finanzielle Krisen und die daraus resultierenden Kriege und Konflikte gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Wertemuster weltweit. Unter diesen Umständen müssen sich die Literaturwissenschaften kritischen Fragen stellen: Welche Relevanz haben philologische, historische und kontextuelle Forschungsprojekte im Licht einer krisengeschüttelten Gegenwart und einer unsicheren Zukunft? Welche Rolle kann Literatur, kann die Vermittlung literaturwissenschaftlicher Techniken im Rahmen bildungspolitischer Systeme spielen, die ökonomisch nutzbare Ergebnisse als Hauptlegitimationskriterium von Bildung betrachten? Welche ethischen und politischen Imperative müssen zwingend neu formuliert werden und welche Rolle spielen die Literaturwissenschaften dabei? In ihren Beiträgen setzen sich Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler mit ihrer eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis und der Bedeutung ihres Faches in den und für die aktuellen Krisensituationen auseinander und versuchen eine Neueinordnung der gesellschaftlichen Rolle und Relevanz der Literaturwissenschaften über Fach- und Landesgrenzen hinaus. www.narr.de Heise-von der Lippe West-Pavlov (Hrsg.) Literaturwissenschaften in der Krise Literaturwissenschaften in der Krise Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten C H A L L E N G E S # 1 Anya Heise-von der Lippe · Russell West-Pavlov (Hrsg.) # 1 Literaturwissenschaften in der Krise herausgegeben von Gabriele Alex, Anya Heise-von der Lippe, Ingrid Hotz-Davies, Dorothee Kimmich, Russell West-Pavlov Band 1 Challenges for the Humanities Herausforderungen für die Geisteswissenschaften Anya Heise-von der Lippe Russell West-Pavlov (Hrsg.) Literaturwissenschaften in der Krise Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 2568-4019 ISBN 978-3-8233-8148-8 Umschlagabbildung: »Made in Crisis«. Graffiti in Budapest, Foto: kristofarndt, www.flickr.com. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 9 I 29 41 49 59 75 II 93 109 Inhalt Danke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov Literaturwissenschaften in der Krise. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestandsaufnahmen Dorothee Kimmich »Nach der Krise ist vor der Krise«. Vom Überleben in, mit und durch die Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John K. Noyes Literatur, Wahrheit, Menschsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I-Tsun Wan Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise. Ein Versuch . . . . . . . . . Christoph Reinfandt Literaturgeschichte und Konstruktivismus. Die Wahrheiten der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Kater Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen. Literaturwissenschaft im ›postfaktischen Zeitalter‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lektüren Raphael Zähringer Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ . . . . . . . . . . . . . . . Robert Leucht / Carl Niekerk Erzählungen vom ›wahren‹ Volk. Überlegungen zu einer Narratologie des Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 147 III 161 177 193 213 IV 231 247 261 275 291 Sascha Seiler Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nele Guinand Wie wollen wir in Zukunft leben? . Friedrich von Borries Klimakapseln als literarische Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungen Stefan Hofer-Krucker Valderrama Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung. Schlaglichter auf eine ›krisenbewusste‹ Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens F. Heiderich »Ich konsumiere, also bin ich? ! «. Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Dinger / Julian Ingelmann Broadcast Philology. Plädoyer für eine populäre Literaturwissenschaft . . . Daniela Roth Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen und innergesellschaftlichen Krisenzeiten am Beispiel von Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionen Tom Reiss Globale Flucht und die Literaturwissenschaften. Über die Krise eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulte Eickholt Make complexity great again. Für eine interkulturelle Hermeneutik . . . . . . John Kinsella Dem konformistischen Text widerstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias N. Lorenz Literaturwissenschaften in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russell West-Pavlov Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft. Schlusswort . . . . . . Inhalt 6 Beiträger*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Danke Anya Heise-von der Lippe möchte sich bei ihren krisenfesten Eltern Burghard und Elke Heise bedanken und ihnen dieses Buch widmen. Russell West-Pavlov möchte sich bei Tatjana Pavlov-West und bei Joshua, Iva und Niklas bedanken. Unser gemeinsamer Dank gilt den Beiträger*innen dieses Bandes für ihre vielen spannenden Ideen sowie Valeska Lembke und Vanessa Weihgold vom Narr Verlag für ihre Geduld und ihre Unterstützung bei der Manuskripterstellung und - last but not least - Lukas Müsel für seine Übersetzungen und seine uner‐ müdliche Arbeit am Manuskript. Literaturwissenschaften in der Krise Einleitung Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov Krise? Welche Krise? Krisen sind allgegenwärtig. Zwischen Eurokrise, Griechenlandkrise, Bildungs‐ krise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise und Klimakrise stellt sich leicht der Eindruck einer begrifflichen Überstrapazierung ein. Rainer Leschke attestiert der Krise in diesem Sinne eine »hohe Affinität zu narrativen Formen« (Leschke 2013: 10). Selbst wenn Ereignisse als problematisch, gefährlich oder tragisch wahrge‐ nommen werden, ist die Bezeichnung »Krise« eine Art narrative Zuspitzung, die häufig erst durch ihre Medialisierung erfolgt. Durch die Verwandlung in ein Narrativ rückt die Krise damit paradoxerweise in einen Interpretationszusam‐ menhang, der es minder betroffenen Zuschauer*innen oder Leser*innen ermög‐ licht, die Krise komplett zu ignorieren. Diese Distanz ist jedoch, mehr noch als die Krise selbst, ein Narrativ, das lediglich von bestimmten privilegierten Posi‐ tionen aus aufrechterhalten werden kann. Nur wer nicht unmittelbar von ihren Auswirkungen betroffen ist, kann die Krise ignorieren. Dies ist jedoch ein rück‐ wärtsgewandtes Spiel auf Zeit. Längst schon leben wir in einem von mensch‐ lichem Handeln beeinflussten Erdzeitalter, dem Anthropozän, dessen Auswir‐ kungen und Anzeichen immer deutlicher werden. Während wir diese Einleitung schreiben, hat Hurrikan Harvey, allen US -amerikanischen Klimawandelleugnern zum Trotz, gerade die Großstadt Houston, Texas, mit noch nie dagewesenen Wassermengen überflutet (und damit die Auswirkungen des katastrophalen Hurrikan Katrina bereits um ein Vielfaches übertroffen), während eine ähnlich gravierende Flutkatastrophe auf dem indischen Subkontinent bereits über 1000 Todesopfer gefordert hat und in Ostafrika weiterhin die schlimmste Dürrekatastrophe seit 50 Jahren wütet. Die mediale Aufmerksamkeit für diese krisenhaften Ereignisse könnte unterschied‐ licher nicht sein, bleibt unsere Aufmerksamkeit doch weitgehend auf den glo‐ balen Norden konzentriert. Die Stärke und Häufung dieser Klimaereignisse ver‐ deutlichen jedoch eines: Die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts ist die Klimakrise, deren Anzeichen (extreme Wetterphänomene, Dürreperioden, Was‐ serknappheit, Hungersnöte und der aufgrund des Abschmelzens der Polkappen steigende Meeresspiegel) in den letzten Jahren so massiv zugenommen haben, dass sie nun auch für Laien erkennbar sind (Friedrich et al. 2016; Lenton et al. 2008; Scheffers et al. 2016). Zum Teil mag dies am gewachsenen Medieninteresse zu diesem Thema liegen. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die erhöhte Wahrnehmbarkeit dieser Phänomene auch mit der rasanten Entwick‐ lung des Klimawandels zusammenhängt, die durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren noch beschleunigt wird (Friedman 2016). Während Kli‐ maforscherinnen die Wechselwirkungen und Reversibilität klimatischer ›Kipp-Punkte‹ (›Tipping Points‹) in verschiedenen Bereichen des Klimawandels ( CO 2-Ausstoß, Abschmelzen von Gletschern und Eiskappen, Ansteigen der Meeresspiegel, Rückgang borealer Wälder und Absterben von Korallenriffen etc.) durchaus kontrovers diskutieren, besteht dennoch ein weitgehender Kon‐ sens, dass wir es, wenn wir nicht schnell etwas ändern, sehr bald mit nicht-re‐ versiblen Veränderungen zu tun haben werden. Als unmittelbare Auswirkung der Klimakrise wird sich in den nächsten Jahren die aktuelle Flüchtlingskrise noch verschlimmern. Bereits jetzt sind auf der ganzen Welt 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 40 Millionen im eigenen Land und 3 Millionen als Asylsuchende ( UNHCR 2016). Dabei liegen die größten Migrationskorridore im globalen Süden ( UNDESA 2013: 7) und Mi‐ grationsbewegungen vom Süden in den Süden kommen etwa gleich häufig vor wie Süd-Nord Bewegungen. Sie machen etwa ein Drittel des globalen Migrati‐ onsvolumens aus. Tatsächlich fand im Zeitraum von 1990 bis 2013 der größte Teil der weltweiten Migrationsbewegungen vom Süden in den Süden statt ‐ (Wickramasekera 2011: 79; UNDESA 2013: 2). Bei diesen Werten handelt es sich um eher konservative Schätzungen, die eine Dunkelziffer an nicht dokumen‐ tierten Migrationsbewegungen außer Acht lassen und die Dramatik der Situa‐ tion wahrscheinlich unterschätzen. Dies wird umso deutlicher, zieht man in Be‐ tracht, dass der Klimawandel und seine Folgen (Landverluste durch steigende Meeresspiegel, Ernteausfälle aufgrund steigender Temperaturen, Wasserknapp‐ heit und Dürren) bis zum Ende des 21. Jahrhunderts nach aller Voraussicht ein Viertel der Weltbevölkerung aus ihren jetzigen Gebieten vertreiben wird (Ne‐ alon 2016: 121; Wennersten und Robinson 2017). Ein zusätzlicher Grund für weltweit zunehmende Migrationsbewegungen ist die weiter aufklaffende Schere zwischen arm und reich - und zwar immer we‐ niger zwischen reichen und armen Ländern, sondern zunehmend zwischen Rei‐ Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 10 chen und Armen in allen Ländern (Piketty 2014; Milanovic 2016). Der wachsende Abstand zwischen reich und arm erzeugt eine weltweit zunehmende Verdrän‐ gung, die sich in reicheren Ländern im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008 entwickelte und sich in ärmeren Gegenden in Form von (illegaler) Landnahme (›Land Grabbing‹) und Zwangsräumungen fortgesetzt hat (Sassen 2014). Diese führen zu einem Zusammenbruch sozialstaatlicher Unterstützungssysteme und einer Zunahme des Prekariats (Streeck 2017). Globale Veränderungen von Ar‐ beitsmärkten und -Bedingungen beschleunigen diese Veränderungen (Avent 2017; Cameron 2017; Frey und Osborne 2013); viele Menschen werden nie eine formale Anstellung finden, sondern dauerhaft in äußerst prekären Situationen leben (Mbembe 2012b). Schon jetzt arbeiten mehr Menschen unter Sklavenbe‐ dingungen als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Weltgeschichte (Bales 2012). Der Abstand zwischen Reichen und Armen wird sich aller Voraussicht nach in der nächsten weltweiten Finanzkrise, die zahlreiche Experten für die nähere Zukunft voraussagen, nur noch vergrößern (Richards 2017). Unter diesen Bedingungen steigt weltweit die Bedrohung durch Kriege. Die Website »Wars in the World« (http: / / www.warsintheworld.com) listet zum ge‐ genwärtigen Zeitpunkt 230 Kriegsparteien in 29 afrikanischen Ländern, 170 Kriegsparteien in 16 Ländern Asiens und 81 Kriegsparteien in 10 europä‐ ischen Ländern sowie 253 Kriegsparteien in 7 Ländern des Mittleren Ostens und 27 Kriegsparteien in 6 Ländern auf dem amerikanischen Kontinent. Ein ato‐ marer Konflikt zwischen Nordkorea und den USA oder Indien und Pakistan würde signifikante Klimakonsequenzen für den gesamten Planeten nach sich ziehen (Toon, Robock und Turco 2008). Hunger wird schon jetzt zunehmend als Waffe eingesetzt (Waal 2017) und es ist generell wahrscheinlich, dass Kriege um Ressourcen - vor allem Wasser - in den nächsten Jahren weiter zunehmen werden. Global ist ein dramatischer Rückgang demokratischer Strukturen festzu‐ stellen (Kurlantzick 2013). Selbst im demokratischen Kerngebiet des alten Wes‐ tens wird die Demokratie zunehmend durch finanzielle Institutionen ausgehöhlt (Streeck 2014); autoritäre Politik und politisch rechtsstehende Bewegungen nehmen zu. In einer wachsenden Anzahl an Ländern ist die ›Rule of Law‹ (das angelsächsische Äquivalent zur Rechtsstaatlichkeit) z. B. durch Notfallgesetz‐ gebung außer Kraft gesetzt, darunter auch traditionell demokratische Staaten wie die USA und Frankreich (Alford 2017; Fassin 2016). Diese Mittel werden häufig, wenn auch häufig grundlos, als Antwort auf Terrorismus gerechtfertigt; sehr zum Nutzen von Terroristen, da sie den Terror weiter schüren und ver‐ stärken. Folter und Missachtung von Menschenrechten haben Hochkonjunktur rund um den Globus (Amnesty 2017). Literaturwissenschaften in der Krise 11 Zu diesen Kernpunkten der Krise(n) ließen sich weitere hinzufügen: die zu‐ nehmende Digitalisierung der Menschheit, die wachsende Kontrolle über bio‐ logische Ressourcen (einschließlich der bio- oder nekropolitischen Instrumen‐ talisierung menschlicher Ressourcen in Kriegen, z. B. in Palästina, oder der biopolitischen Ausbeutung von Körpern im internationalen Organhandel), die sowohl aus ökonomischen wie aus militärisch-industriellen Gründen zuneh‐ mend engmaschiger werdende weltweite Überwachung, die florierende Militär- und Waffenindustrie und so weiter und so fort (Mbembe 2012a; Mbembe 2016). Unser notorisches kollektives Nichthandeln im Angesicht dieser Zusammen‐ hänge, so argumentiert Claire Colebrook, liegt in unserer Akzeptanz der »ca‐ tastrophe of human existence as natural and irredeemable« begründet (Cole‐ brook 2014: 11). Im Angesicht komplexer Krisenszenarien wie des globalen Klimawandels fühlen wir uns, so Colebrook, überfordert und reagieren mit Trägheit und Nichtstun - und zwar so regelmäßig, dass unser Leugnen einen wesentlichen Bestandteil der Krise ausmacht, wie z. B. auch Jeffrey Mantz im Zusammenhang der katastrophalen Produktions- und entfremdenden Konsum‐ prozesse digitaler Kommunikationsgeräte argumentiert (Mantz 2013). Im me‐ dien-überschwemmten 21. Jahrhundert steht unser Nichtstun, so scheint es, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu unserer Überinformation. Mehr noch, die Angst vor radikalen Umwälzungen scheint vielerorts zu panikartigen Klam‐ merreaktionen und einem Wiedererstarken autoritärer politischer Strukturen zu führen. Krise als Chance(? ) Was tun wir also, in Zeiten der Krise? Nichts, argumentiert Jonas Lüscher in seiner als »Abrechnung mit dem Neoliberalismus« gefeierten Novelle Frühling der Barbaren (2013). Lüschers Protagonist, der Schweizer Fabrikerbe Preising, ist ein Mensch, der keine Entscheidungen trifft, und sein Nichthandeln hat im Laufe der Zeit eine Reihe problematischer Konsequenzen - für andere. Dies zeigt sich vor allem in seiner Haltung gegenüber Hilfsbedürftigen und Abhängigen, die im Kontext der Novelle nicht ohne argumentativen Grund alle im Globalen Süden angesiedelt sind. So deutet der Titel der Novelle zwar auf den »arabischen Frühling« hin, die titelgebenden »Barbaren« sind jedoch die von einer imagi‐ nären Finanzkrise überraschten Europäer in einem Ferienresort in der tunesi‐ schen Wüste. Die Hotelanlage fungiert dabei als eine Art Foucault’sche Hete‐ rotopie der Krise - ein Ort außerhalb der normalen Raum-Zeit, an dem Handlungen scheinbar ohne Konsequenzen für das ›reale‹ Leben der Charaktere in Europa bleiben. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt der Text anhand der wirt‐ Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 12 schaftlichen Verbindungen und Verstrickungen von Europa und Nordafrika. Preising reist zum Ausbau seiner Geschäftsbeziehungen mit nordafrikanischen Zulieferbetrieben nach Tunesien, fürchtet jedoch jegliches Handeln seinerseits könnte dort als »unangemessene Einmischung« (Lüscher 2015: 27) empfunden werden. Die moralische Schieflage dieser Ansicht wird nicht nur durch Preisings Reichtum unterstrichen - sein Tagesverdienst an den Firmenanteilen entspricht der »Existenz einer ganzen Familie« (Lüscher 2015: 26) -, sondern wird vor allem durch die Weigerung seines Prokuristen deutlich, »auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen«, mit der Begründung, »[d]ieser Konti‐ nent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhacken aus dem Sumpf ziehen.« (Lüscher 2015: 27) Dass diese Weigerung und Preisings Untätigkeit keine neutrale Haltung, sondern ganz im Gegenteil ein grundlegender Faktor der Krise sind, wird im Zusammenhang der Kinderarbeit in einer Zulieferfabrik seines Unternehmens deutlich. Preising begründet seine Nichteinmischung mit der mehrfach wiederholten Überlegung, »wie schwierig das mit der Kinderar‐ beit sei« (Lüscher 2015: 12-13). Die Aussage bleibt jedoch unbegründet und wird nicht nur durch ihre Wiederholung, sondern auch durch Preisings Quelle in ihrer Aussagekraft in Frage gestellt, handelt es sich doch um ein Mitglied eines »liberale[n] Unternehmerclub[s]« (Lüscher 2015: 12), einen »Jungunternehmer, der [ihm] einstmals bei Zürcher Geschnetzeltem und Rösti wortreich erklärt hatte, dass, mit etwas gesundem Abstand betrachtet, die Sache mit der Kinder‐ arbeit nicht so einfach sei.« (Lüscher 2015: 123) Direkt mit den gebeugten Kin‐ derrücken und »blutverkrusteten Fingernägeln« (Lüscher 2015: 122) der afri‐ kanischen Kinder konfrontiert, die unverkennbar seine Produkte fertigen, zieht Preising sich auf diese geografisch im globalen Norden verortbare Position des »Abstands« zurück, die vom Fabrikleiter, der Preising aufgrund seines Schwei‐ gens für »einen ganz harten Hund« (Lüscher 2015: 124) hält, als Aufforderung zu neuen Preisverhandlungen interpretiert wird. Preisings Untätigkeit hält somit nicht nur der sprichwörtlich neutralen Schweiz, sondern gleich einer ganzen neoliberal-finanzkräftigen Schicht des globalen Nordens den Spiegel vor: Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, die damit verbundene Verantwor‐ tung auf sich zu nehmen und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürgers führte, mit Ausnahme der Haushäl‐ Literaturwissenschaften in der Krise 13 terin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm. (Lü‐ scher 2015: 66) Den Reichtum Preisings, seines Prokuristen und der »Masse seiner Mitleis‐ tungsträger, Großentscheider und Vielverdiener« (Lüscher 2015: 67) identifiziert der Erzähler als wesentlichen Faktor der Krise, indem er ihre Argumente in einem moralisierenden Kommentar als fadenscheinige Ausreden entlarvt: Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder besten‐ falls im Zukauf noch einer BH-Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld ab‐ warf, mit dem man ›Dinge in Bewegung setzen konnte‹, wie sie sich gerne aus‐ drückten. Dass Geld nicht für sich selbst steht, lag in der Natur der Sache, das war die Idee dahinter. Warum nur versuchen sie, uns das als ihre eigene Entdeckung zu ver‐ kaufen, und warum glaubten sie, würde das irgendetwas besser machen? (Lüscher 2015: 67) In diesen Überlegungen zeigt sich die Funktion des namenlosen extradiegeti‐ schen Erzählers, der sowohl als Adressat für Preisings Narrativ als auch als mo‐ ralischer Kommentator der von Preising beschriebenen Ereignisse fungiert. Dabei stellt der Erzähler nicht nur Preisings Untätigkeit an den Pranger, sondern hinterfragt exemplarisch gleich das gesamt globale kapitalistische Wirtschafts‐ system. Dies wird vor allem durch Preisings die Novelle gleichsam umrahmende Kritik deutlich: Der Erzähler, so argumentiert der Fabrikerbe, »stell[e] die fal‐ schen Fragen« (Lüscher 2015: 7). Preisings Unglaubwürdigkeit wird dabei durch die meta-narrativen Überle‐ gungen des Erzählers unterstrichen, der sich der narrativen Qualitäten von Preisings Erzählung durchaus bewusst ist: »Was mir Preising hier also präsen‐ tierte, war eine Variante der Erzählung ›Wo ich gerade war, als England den Staatsbankrott erklärte‹, ein Genre, welches die Erzählung ›Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war‹ abgelöst hatte […]« (Lüscher 2015: 96). Diese Kontextualisierung der Krise im Alltäglichen mag auf den ersten Blick wie ein Versuch ihrer Verarbeitung erscheinen, ersetzt die notwendige Ausei‐ nandersetzung mit dem Schrecklichen und Unfassbaren aber meist nur durch die Erzählung persönlicher Banalitäten. Im Text steht hierfür bildhaft die mi‐ nutiöse Kritik der »babyblauen Seidenkrawatte« des britischen Premierminis‐ ters, die dem Erzähler »auch heute noch als unangemessen optimistisch und frivol in Erinnerung ist.« (Lüscher 2015: 96) Darüber hinaus wird diese Lesart der Krise als Sensationsnarrativ durch Preisings Beschreibung der medialen Re‐ aktionen auf die Krise getragen, die sich einer für Krisensituationen typischen Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 14 Sprache bedienen: »Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sonder‐ meldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kom‐ mentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede.« (Lüscher 2015: 97) Die verwendete Metaphorik (Flä‐ chenbrand / Epidemie) unterstreicht die unvorhersehbaren Auswirkungen und wahrscheinliche Ausweitung der Katastrophe und ist so dazu angetan, zusätz‐ liche Ängste im Zuschauer zu schüren. Diese sprachliche Hysterie wird in Preis‐ ings Erzählung direkt als solche entlarvt: »Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maße eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fern‐ sehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.« (Lüscher 2015: 97) Was wäre aber nun der richtige Umgang mit der Krise? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Panik setzt die Novelle sich in diesem Zusammenhang auch mit möglichen Reaktionen verschiedener Schlüsselfiguren auseinander, die stellvertretend für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen stehen. Die text‐ basierten Geisteswissenschaften - in diesem Szenario vertreten durch die Eng‐ lischlehrerin Pippa Greyling - präsentiert sie dabei als entrückt und von den Ereignissen einigermaßen unbeeindruckt: »Pippa nahm die schlechte Nachricht resigniert zur Kenntnis und bemerkte, dass sie das habe kommen sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sich deswegen die Welt auf eine bedeutsame Art und Weise ändern würde, ob deswegen Dinge wie zum Beispiel das Rezitieren eines Ge‐ dichtes wieder an Bedeutung gewinnen würden […]« (Lüscher 2015: 93). Der Kommentar zur Gedichtrezitation, obschon im Kontext der Novelle auf ihren misslungenen Vortrag auf der Hochzeit ihres Sohnes bezogen, unterstreicht dennoch einen aktuellen Kritikpunkt an der Distanzierung der textbasierten Geisteswissenschaften vom aktuellen Weltgeschehen, suchen sie ihre For‐ schungsthemen doch häufig gerade nicht in der Gegenwart, sondern in eta‐ blierten historischen Kanons. Auch die Soziologie, vertreten durch Pippas Mann, kommt in diesem Kontext nicht besser weg. Seine Vorstellungen von einem gesellschaftlichen »Neuanfang, der ohne Männer wie ihn, die ein Leben lang auf der richtigen Seite gestanden hatten und ihre besten Jahre damit verbraucht hatten, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft eigentlich einzurichten sei, kaum zu bewerkstelligen war« (Lüscher 2015: 105), werden zugleich durch die selbsteingestandene »Lächerlichkeit« seiner spontanen Affäre mit der Trau‐ zeugin seines Sohnes untergraben (Lüscher 2015: 105). Die Geistes- und Sozial‐ wissenschaften, so wie sie im Text präsentiert werden, haben keine Handhabe gegen die Barbarei der Finanzwirtschaft, mehr noch, sie haben kein Interesse an ihr. Lüschers Novelle reflektiert somit, jenseits der eindeutigen Parallele von neoliberalen Finanzmärkten und Barbarei, auch eine aktuelle Kritik an der Po‐ Literaturwissenschaften in der Krise 15 sition der Geisteswissenschaften in der Krise. Auch sie stellen, so argumentiert der Text, »die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7). Lüschers Novelle ist ein Zitat von Franz Borkenau vorangestellt, das Barbarei als »schöpferische[n] Prozess« und die Krise damit als Chance interpretiert - auch wenn dieser »Barbarei« und »Jahrhunderte spiritueller und materieller Verarmung und […] schreckliche Leiden« vorangehen könnten (Borkenau in Lüscher 2017). Das Zitat spiegelt sich auch in einer umstrittenen Äußerung Slavoj Žižeks, in der er sich positiv zur Wahl Donald Trumps äußerte, die not‐ wendig sei, um die »inertia of the status quo« (Žižek 2016) aufzubrechen. Dieser accelerationistisch geprägten Liebäugelei mit den »reinigenden« (in ihrer se‐ lektiven Bevorzugung einer finanziell und körperlich überlebensfähigen Bevöl‐ kerungsgruppe extrem problematischen) Kräften der Apokalypse steht auf der anderen Seite eine kollektive Apathie im Angesicht der Krise gegenüber, die im globalen Norden vor allem der wahrgenommenen Komplexität geschuldet zu sein scheint. Dabei würde es doch zur ureigenen Rolle der textbasierten Geis‐ teswissenschaften gehören, Interpretationsansätze zu finden und Strategien im Umgang mit komplexen Szenarien zu entwickeln. Dazu bedarf es allerdings neuer Ansätze jenseits verängstigter Kopf-in-den-Sand Politik und apokalypti‐ scher Begeisterung für die reinigende Wirkung von Katastrophen. Doch wie könnten solche Ansätze aussehen und befinden die Geisteswissenschaften sich nicht aktuell selbst in der Krise? Geisteswissenschaften in der Krise Die Krise der Geisteswissenschaften ist sicher kein neues Thema (Martus 2017). Es ist also nicht sonderlich überraschend, dass ein im Februar 2017 veröffent‐ lichter Artikel von Spiegel-Autor Martin Doerry die aktuelle Relevanz der Ger‐ manistik als Studienfach in Frage stellt. Die Germanistik, so Doerry, sei gesell‐ schaftlich zum Schweigen verurteilt, denn »[w]er aus der akademischen Nische heraustritt, muss um sein Ansehen fürchten.« (Doerry 2017) Die Germa‐ nist*innen Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke - Letzteren zitiert Doerry mit den Worten, »[d]as Fach habe ›keinen Biss‹ und ›keine Identität‹ mehr« (Doerry 2017) - kritisierten Doerrys Aussagen in der FAZ . Die Germanistik vermittle, so die AutorInnen, »ein spezifisches Wissen in Fragen der Form«, das »den Blick für Fiktionalisierungen und ihre strategischen Einsätze öffnen [könne], auf die wir nicht nur in der Kunst, sondern vielleicht verstärkt auch in der politischen Wirklichkeit treffen.« (Drügh, Komfort-Hein und Koschorke 2017) Und auch andere Vertreter des Fachs engagierten sich für die Relevanz der germanistischen Literaturwissenschaft (zum Beispiel Steffen Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 16 Martus, ebenfalls in der FAZ , und Klaus Kastberger in der ZEIT ). Die Kritik an Doerrys Artikel ist jedoch mehrheitlich darauf ausgerichtet, die Relevanz und gesellschaftliche Nützlichkeit des Fachs Germanistik zu verteidigen und über‐ sieht damit, wie Doerrys Artikel selbst, die wesentlich weitreichendere Frage nach der Position der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten. Hierzu müssen in der Tat nicht nur die Germanisten, wie von Doerry gefordert, »Stellung be‐ ziehen« (Doerry 2017), gerade weil sie einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit diesen Krisen leisten können. Die mangelnde gesellschaftliche Wirkung geisteswissenschaftlicher For‐ schung ist jedoch nicht allein auf das zu geringe Selbstbewusstsein der Geistes‐ wissenschaften oder die gesamtgesellschaftliche Irrelevanz ihrer Forschungs‐ gegenstände zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein systematisches, kulturelles Problem, das Achille Mbembe im Rahmen eines Kommentars zu einem aktuellen Forschungsprogramm der südafrikanischen Regierung folgen‐ dermaßen beschreibt: »The assumption is that coupled with science and tech‐ nology, market capitalism will sort out most of our problems. Not once does it mention the humanities.« (Mbembe 2012a: 8) Mbembe führt dies vor allem auf die Dominanz neoliberaler Wirtschaftsmodelle zurück, die auch die Gewichtung natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung an Universitäten beeinflusst. Dabei bezieht er sich zwar vor allem auf Südafrika; dass es sich aber nicht um ein genuin südafrikanisches, sondern ein globales Problem handelt, wird vor allem beim Blick in die USA und nach Großbritannien deutlich, wo neoliberale Wirtschaftsüberlegungen noch mehr als im deutschsprachigen Raum die Struktur der universitären Landschaft verändert haben. Gerade hier, im indust‐ rialisierten, kapitalistischen Norden liegt ein großer Teil des Problems, wie Philipp Blom argumentiert: Die reichen demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reak‐ tionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtklubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massen‐ haftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bür‐ gerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet. (Blom 2017: 16) Gerade deshalb kann der krisengeplagte globale Süden, in dem die Menschen auf kreative Eigenlösungen angewiesen sind, einen besonderen Modellcha‐ rakter für die Lösung dieser Probleme einnehmen, wie auch Mbembe argumen‐ Literaturwissenschaften in der Krise 17 tiert. Jenseits euro-amerikanischer Theoriemodelle und altbekannter Narrative könnten kreative Fragestellungen eine Schlüsselrolle in der Neubewertung der Geisteswissenschaften (und Universitäten insgesamt) jenseits ihrer neoli‐ beral-kapitalistischen Nützlichkeit einnehmen. Dies kann und muss im Anth‐ ropozän auch eine Neubewertung der Rolle des Menschen (im Englischen durch das »Human« im Begriff »Humanities« repräsentiert) und seiner Auswirkungen auf diesen Planeten beinhalten. Denn nur wenn Geistes- und Naturwissen‐ schaften zusammenarbeiten und neue Fragestellungen und Problemlösestrate‐ gien entwickeln, werden wir der Klimakrise überhaupt etwas entgegenzuhalten haben. Die siebzehn Kapitel des vorliegenden Bandes setzen sich in diesem Sinne kritisch mit der Rolle der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten auseinander. In vier Teilen bieten sie Bestandsaufnahmen, Lektüren, Anwendungen und Interventionen. Ausgehend von Rita Felskis Überlegungen zu den Aufgaben der Geisteswissen‐ schaften - einerseits konservativ-konservatorisches »curating« bzw. »con‐ veying«, andererseits tendenziell innovatives »criticizing« bzw. »composing« - konstatiert Dorothee Kimmich in einer ersten Bestandsaufnahme zwei Ten‐ denzen in der Literaturwissenschaft. Die konservativ-konservatorische Rich‐ tung der Germanistik wird zwangsläufig in kommenden Jahrzehnten schrumpfen, so Kimmich. Dagegen wird (und sollte) das innovative Potential des Faches einen Zuwachs erleben. In diesem Sinne entwirft Kimmich ein Pro‐ gramm für solche Fächer bzw. Studiengebiete, die auf die Arbeit des Urteilens und die Erläuterung des Urteils fokussiert sind. In dieser Grauzone des impli‐ ziten Wissens, der Ambiguität, der Diffusitätskompetenz - also in Bereichen des Denkens / Handelns, die für unsere heutige Gesellschaft in Zeiten multipler Krisen höchst relevant sind - liegt der eigentliche Kernkompetenzbereich der Geisteswissenschaften. Das Urteilen zu untersuchen ist wichtig, da, so Kimmich, »Literatur- und Kulturwissenschaften gerade das kompliziert machen, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt«. John K. Noyes etabliert im zweiten Kapitel ein konzeptuelles Dreieck aus den Eckpfeilern Philosophie, Naturwissenschaften bzw. Technologie und Lite‐ ratur(wissenschaft). Da wo sich die Philosophie im Zuge ihrer zunehmend sichtbar werdenden Irrelevanz für die Welt der Technologie gänzlich von der Realität abgewandt hat, und wo die naturwissenschaftliche Fetischisierung des Fortschritts als ihre eigene Bankrotterklärung fungiert, kommt der Lite‐ ratur(wissenschaft) eine wichtige Rolle zu: und zwar die des Möglichmachens einer Rückkehr zu einer scheinbar von der Technologie überholten Vergangen‐ Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 18 heit, so dass die Literatur(wissenschaft) als ein Locus der Infragestellung des Fortschrittsglaubens hervorzutreten vermag. Literatur(wissenschaft) über‐ nimmt so eine Wächterrolle für das Unbewusste des naturwissenschaftlich mo‐ dellierten Menschen. Viele Fragen der Technologie, z. B. die ihrer Gewinne und Verluste, können nicht von ihr selbst beantwortet werden, sondern müssen aus ihrem Unbewussten, d. h. aus dem Bereich der Literatur(wissenschaft) beant‐ wortet werden - und zwar im Dialog mit einer neu konzipierten Version der Philosophie, der (kritischen) Theorie. I-Tsun Wan stellt im dritten Kapitel aktuelle Krisennarrative in den histori‐ schen Zusammenhang der krisenhaften Welt um 1800. Seine beispielhafte Lek‐ türe zeitgenössischer literarischer (Kleist) und philosophischer (Schlegel) Posi‐ tionen zielt dabei auf die Beschreibung einer transzendentalen Geschichtsschreibung, die schließlich eine Überwindung der gravierenden - d. h. ausweglos erscheinenden - Krise ermöglicht. Im Spannungsfeld von Lite‐ ratur und Wissenschaft, Kommerzialisierung und Religion argumentiert Wan für eine Rückbesinnung auf eine ethisch-religiöse Transzendentalität der Lite‐ ratur. Vor dem Hintergrund ›postfaktischer‹ politischer Diskurse (Trump et al.) und solcher Kommentare, die die Schuld für die Untergrabung objektiver Wahr‐ heitsmaßstäbe vor allem bei den linksradikalen Theoretikern der Postmoderne suchen, stellt Christoph Reinfandt in Kapitel vier eine Typologie der gegenwär‐ tigen Wahrheitsbegriffe auf. Anhand von Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als ein sich ausdifferenzierender Zusammenhang au‐ topoietischer, d. h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommu‐ nikationen, schlägt Reinfandt vor, dass literatur- und kulturgeschichtliche Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Ver‐ ständnis der gegenwärtigen Situation bieten können. In Kapitel fünf geht es Thomas Kater um die Ausdifferenzierung aktueller Krisenzusammenhänge für die Literaturwissenschaft, die sich - möglicherweise zu Recht - genötigt sieht ihre Relevanz in Krisenzeiten zu rechtfertigen. Kater attestiert der Literaturwissenschaft weniger ein Relevanzdenn ein Kommuni‐ kationsproblem, lägen ihre Kernkompetenzen doch gerade im schmalen opera‐ tiven Bereich an der Grenze von Fakt und Fiktion, also im »Modalitätsmanage‐ ment« von Texten, das er konkret am Beispiel postfaktischer Auseinandersetzungen in den Social Media (zwischen dem AfD Landtagsabge‐ ordneten Björn Höcke und dem ARD faktenfinder der Tagesschau) aufzeigt. Statt einer Krise attestiert Kater der Literaturwissenschaft die »Notwendigkeit zur Selbstreflexion im Hinblick auf ihre eigene Relevanz« - sind ihre Kompetenzen doch heute gefragt wie selten zuvor. Literaturwissenschaften in der Krise 19 Raphael Zähringers Kapitel sechs beginnt die Reihe der Lektüren mit einem Plädoyer für die narratologische Auseinandersetzung mit postfaktischer Politik, die, genau wie Literatur, als »fiktionale Projektionsfläche von Wirklichkeit« gelesen werden kann. Ausgehend von Monika Fluderniks Typenmodell münd‐ licher Erzählformen und Juri Lotmans Plot-Typologie setzt sich Zähringer mit der »Literaturhaftigkeit« postfaktischer Medientechniken auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sich die multimedialen Strukturen postfaktischer Politik mittels literaturtheoretischer Werkzeuge nicht nur beschreiben lassen, sondern dass dies eine sonst kaum führbare Debatte über solche Narrative erst ermöglicht. In Kapitel sieben setzen sich Robert Leucht und Carl Niekerk anhand kon‐ kreter Redebeispiele mit den narrativen Strategien populistischer Politiker (Trump, Blocher, Wilders) auseinander - darunter die Etablierung simplifizie‐ render narrativer Konzepte, z. B. eines »wir«-Gefühls über die Evozierung eines »Volksbegriffs«, dem eine Gruppe von »Feinden« gegenübergestellt wird, oder die Erzeugung von Feindbildern über das Umdefinieren der »Rede des Feindes« für die eigenen Zwecke. Leucht und Niekerk entwickeln so eine Narratologie populistischer Rhetorik, die neue Fragen für die Auseinandersetzung mit der‐ artigen politischen Strategien aufwirft und auch die unausweichliche Frage stellt, was wir als Gesellschaft - und ganz konkret auch die Literaturwissen‐ schaften - diesen Narrativen entgegensetzen können. Eine ganze Reihe aktueller literarischer Krisennarrative steht im Zentrum von Sascha Seilers Kapitel acht, das sich konkret mit der Frage nach der Dar‐ stellung und Untersuchung von Grenzüberschreitungen in der Literatur und durch die Literaturwissenschaft auseinandersetzt. Lähmende Globalisierungs‐ angst steht, so Seiler, im Zentrum des 2017 erschienenen Romans Die fürchter‐ lichen Tage des schrecklichen Grauens von Roman Ehrlich, ebenso wie in Simon Strauss’ ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichtem Roman Sieben Nächte. Beide Texte können damit exemplarisch für die literarische Darstellung aktueller Ängste gelesen werden. In Kapitel neun setzt sich Nele Guinand anhand einer Lektüre von Friedrich von Borries Klimakapseln mit der Frage auseinander, wie das Leben im reichen Globalen Norden in Zukunft aussehen könnte, und zeigt dabei die vielfältigen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verstrickungen von arm und reich, globalem Norden und globalem Süden, willkommenem, anerkanntem Bürger und illegalem, aus der Gesellschaft ausgestoßenem Migranten auf. Von Borries Text, so argumentiert Guinand, präsentiert ein paradoxes Zukunfts‐ system, dass sich gleichzeitig als literarische Intervention zu aktuellen wirt‐ schafts- und klimapolitischen Zusammenhängen lesen lässt. Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 20 Stefan Hofer-Krucker Valderrama eröffnet die Reihe der Anwendungen mit konkreten Überlegungen zur didaktischen Aufbereitung des genuin zur Lite‐ ratur (und damit auch zur Literaturwissenschaft) gehörenden Krisenbewusst‐ seins im Literaturunterricht. Dabei geht es ihm sowohl um literaturwissen‐ schaftliche Klimawandelforschung, die untrennbar mit der Rolle menschlichen Handelns im Anthropozän verknüpft ist und deren Aufgabe es sein sollte, das von der Literatur generierte ›hybride Wissen‹ gesellschaftlich verfügbar zu ma‐ chen, als auch um das konkrete Anwendungsbeispiel einer in die Diskussion der aktuellen ›Flüchtlingskrise‹ eingebetteten Kafka-Lektüre im Rahmen des gym‐ nasialen Literaturunterrichts. Das Kapitel beschreibt sowohl die didaktische Umsetzung als auch Reaktionen und Verstehensarbeit der Schüler und kommt zu dem Schluss, dass die von vielfältigen Formen von Krisenhaftigkeit geprägte Literatur(wissenschaft) es vermag, den Menschen in seiner Selbstzufriedenheit aufzurütteln und zum Nachdenken über sich selbst anzuregen. In Kapitel elf setzt sich Jens F. Heiderich mit den Möglichkeiten dramatischer Texte und Praktiken zur Ausprägung eines ökonomischen Bewusstseins im Deutschunterricht auseinander. Anhand des Begriffs der ›literarischen Öko‐ nomik‹ (der Verzahnung von Literatur- und Wirtschaftswissenschaft) analysiert Heiderich verschiedene, vor allem zeitgenössische Theaterstücke im Hinblick auf ihre Darstellung der Finanzwelt, von Arbeit, Geld und Börsenhandel und stellt Überlegungen zur bisher eher zögerlichen didaktischen Auseinanderset‐ zung und Aufbereitung solcher Diskurse für die Anwendung im Literaturun‐ terricht an. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für eine ›ökonomie-sen‐ sible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Unterricht, die Schüler*innen für die vielfältigen wirtschaftlichen Diskurse, in die sie in ihrem alltäglichen und zu‐ künftigen Leben eingebunden sind und sein werden, sensibilisieren (und auch wappnen) könnte. In Kapitel zwölf setzen sich Julian Ingelmann und Christian Dinger kritisch mit der Frage auseinander, warum die Literaturwissenschaft scheinbar in einer Sinnkrise bezüglich der allgemeinkulturellen Vermittelbarkeit ihrer eigenen Re‐ levanz zu stecken scheint, und zeigen Parallelen und Anknüpfungspunkte der Literaturwissenschaft zu den Vermittlungsformen neuer Medien - vor allem zum auf Youtube verbreiteten Format des Videoessays - auf. Der Erfolg dieser neuen Medien, gerade wenn sie sich mit literatur- und sprachwissenschaftlichen Kernthemen auseinandersetzen (wie hier am Beispiel des Videoessays How Do‐ nald Trump answers a question gezeigt wird), spricht, so Dinger und Ingelmann, für ein breites öffentliches Interesse an Themen aus dem Bereich der Sprache und Literatur, das durch eine Öffnung der Literaturwissenschaft gegenüber diesen neuen Formen der Literaturvermittlung als Argument für die Aktualität Literaturwissenschaften in der Krise 21 literaturwissenschaftlicher Themen und Methoden nutzbar gemacht werden könnte. Daniela Roth setzt sich in Kapitel dreizehn kritisch mit der Rolle der Gegen‐ wartsliteratur als Spiegel aktueller Themen und Diskurse (hier konkret der deutschen Flüchtlingspolitik und gesellschaftlicher Reaktionen auf diese) aus‐ einander und argumentiert, dass sich auch die Literaturwissenschaft fragen muss, wie sich ihre Begrifflichkeiten (hier das Stichwort Transnationalismus) auf den Umgang mit solchen Problemen und Fragestellungen auswirken. Am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen zeigt Roth, wie zeitgenössische Texte die Problematik transnationaler Mobilität in Kontexten diskutieren können, in denen selbstbestimmte grenzüberschreitende Bewe‐ gungen eben gerade nicht Teil der Erfahrungswelt der Geflüchteten sind, und argumentiert, dass in Erpenbecks kontrovers diskutiertem Text auch »bildungs‐ bürgerliche und literatursowie geisteswissenschaftliche Ansätze und Denk‐ muster (selbst-)kritisch reflektiert werden.« In Kapitel vierzehn bietet Tom Reiss eine erste kritische Intervention zum Krisenbegriff, der aktuell auf so unterschiedliche Diskussionsgegenstände wie persönliche Ausnahmezustände von Geflüchteten und die kritische Auseinan‐ dersetzung der Literaturwissenschaften mit ihrem eigenen Selbstverständnis Anwendung findet. Reiss konstatiert einen problematischen Zusammenhang zwischen beiden Anwendungsbereichen, der sich über eine ernsthafte Ausei‐ nandersetzung der Literaturwissenschaften mit Fluchtnarrativen lösen ließe. »Die Öffnung der Literaturwissenschaften für Geflüchtete ist eine Frage des Selbsterhaltes«, argumentiert Reiss, und schlägt hierfür eine Reihe von Strate‐ gien vor - eine Demokratisierung von Kanon und Diskurs, die Auseinander‐ setzung mit den Grundbedingungen von Narration, eine kritische Hinterfra‐ gung von Nationalphilologien und Öffnung von wissenschaftlichen Perspektiven für deren durch Kolonialismus erzeugte globale Verbindungen sowie eine kritische Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit dem eigenen Selbstverständnis, um die Krise weniger als Notstand und mehr als Chance zur Nutzung der eigenen Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Krisen zu begreifen. Swen Schulte Eickholt argumentiert in Kapitel fünfzehn ebenfalls für eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen und politischen Dis‐ kursen, die oft einfache Lösungen und griffige Slogans über die notwendige Auseinandersetzung mit komplexen Problemlagen stellen und so Populisten, die scheinbar einfache Lösungen anbieten, Tür und Tor öffnen. Dagegen setzt Schulte Eickholt eine Argumentation für einen dynamischen Begriff des Inter‐ kulturellen, für eine Neubewertung des Verstehensbegriffs und für eine enga‐ Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 22 gierte und standortbestimmte Literaturwissenschaft, die sich »der Komplexität einer Welt aus den Fugen« stellt und sich gegen ihre Vereinfachung einsetzt. John Kinsellas didaktische, poetische und kulturkritische Auseinanderset‐ zung mit Hölderlins Werk in Kapitel sechzehn zielt darauf ab, Literatur(wissen‐ schaft) als Strategie des Widerstands zu etablieren - gegen konformistische Textlektüren, die Argumente, wie kritisch sie auch immer sein mögen, lediglich wiederholen, anstatt sie effektiv zu nutzen. Dagegen setzt Kinsella, gleicher‐ maßen Poet und Literaturwissenschaftler, ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit Texten, der das Umschreiben, das Rekontextualisieren und auf die eigene Situation Beziehen sowie das Öffnen von Leerstellen und Abwesenheiten aus dem Text in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Ar‐ beit stellt. Kinsella zeigt dies am Beispiel seiner eigenen poetischen Auseinan‐ dersetzung mit und »Verstörung« von Hölderlins Gedichten ebenso wie in der Frage nach der Möglichkeit, Bildung zu entschulen und Wissen stärker in den Dienst der Gemeinschaft, des Schutzes der Umwelt und einer erstrebenswerten Zukunft zu stellen. Matthias N. Lorenz prangert im siebzehnten Kapitel Missstände im deutschen Hochschulsystem - wie etwa prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie feudale Hierarchien bzw. Abhängigkeitsverhältnisse von Mittelbauwissen‐ schaftler*innen - an. Er deutet solche Missstände als lokale Symptome weit‐ reichender globaler Krisen. Nur durch eine Überwindung der Kluft zwischen den laut geäußerten linksliberalen Theorien vieler Literaturwissen‐ schaftler*innen und der gleichzeitig oft ausbeuterischen Praxis im akademi‐ schen Alltag durch eine vielerorts bereits begonnene (jedoch leider häufig un‐ strukturierte und nicht zielgerichtete) Reform der hochschulinternen Strukturen können universitäre Forschung und Lehre überzeugende Antworten auf die globale Krise geben. Mögliche Interventionen im Sinne einer extrovertierten (d. h. nicht auf ihre eigene Krise, sondern nach außen gerichteten) Literaturwissenschaft stehen auch im Zentrum des Schlussworts dieses Bandes, mit dem wir einen Beitrag zu einer Neuinterpretation der Rolle der Literaturwissenschaften (und Geistes‐ wissenschaften) in globalen Krisenzeiten leisten möchten. Literatur Alford, Ryan (2017). Permanent State of Emergency: Unchecked Executive Power and the Demise of the Rule of Law. Montreal: McGill Queen’s University Press. Amnesty (2017). 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Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov 26 I Bestandsaufnahmen 1 »Nach der Krise ist vor der Krise« Vom Überleben in, mit und durch die Krise Dorothee Kimmich Eine Krise der Geisteswissenschaften an den Universitäten aber auch außerhalb von ihnen zu konstatieren, ist notorisch und verheißt im Prinzip nichts Neues. Seit Jahren und ganz abgelöst vom wie auch immer beklagenswert sich darbietenden Realzustand der humanities stößt solches Lamento auf gleichsam rhetorische, durchwegs habitu‐ elle Zustimmung. […] Es scheint, als leiden die Geisteswissenschaften und die mit ihnen epistemisch verwandten heuristisch orientierten Gesellschaftswissenschaften unter einem kaum korrigierbaren und sich praktisch auswirkenden beständigen Le‐ gitimationsdefizit. (Diner 2003: 70) Der Historiker, Publizist und Wissenschaftsmanager Dan Diner hat diese Sätze vor mehr als zehn Jahren formuliert - und es ist keineswegs der erste Kom‐ mentar zur Lage der Humanities. Schon vor ihrer eigentlichen Existenz gab es Kritik: Leonardo Bruni Aretino, Humanist und Staatskanzler im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts, bemerkt verächtlich gegenüber Philosophie-Profes‐ soren, dass er ihnen lieber beim »Schnarchen als beim Reden zuhören« würde (Bruni Aretino 1984: 93). In eine ähnliche Richtung zielt das immer wieder gern bediente Bild des »faulen Professors« (Enders und Schimank 2001: 159-178), der die Autonomie von Forschung und Lehre dazu nutzt, sich ein schönes und vor allem geruhsames Leben zu machen. Um die ganze Sache rund zu machen, gehört dazu noch eine Studentenbeschimpfung, wie sie unlängst wieder im Spiegel nachzulesen war: Germanistikstudenten - noch mehr offenbar Studen‐ tinnen - haben keine Ahnung vom Lesen, noch weniger von Literatur und schon gar nicht von Goethe, den sie nur noch als »so nen Toten« kennen (Doerry 2017: 105-109). Im Spiegel geht es nicht um eine Abrechnung mit den Humanities im Allge‐ meinen, sondern mit dem größten Fach innerhalb der Literaturwissenschaften, mit der Germanistik: Sie sei riesig, aber marginal. Sie bringe weder gute Leh‐ rende noch gute Kritiker*innen hervor, anders als dies (früher? zu Zeiten von Walter Jens? ) einmal war. Berufsfelder wie das Feuilleton und der viel beschwo‐ rene Lektoratsjob verschwinden, weil Zeitungen und Verlage keine Literatur‐ wissenschaftler*innen brauchen. Diese dagegen landen, wie uns Doerry Houl‐ lebecq zitierend belehrt, bei Hermès im Verkauf. Im Vergleich zu anderen Studienfächern scheinen die Literaturwissenschaften und dabei insbesondere die Germanistik - für die man nicht einmal Englisch können muss, geschweige denn so etwas Kompliziertes wie Rechnen - schlechte Studierende anzuziehen und aus motivierten Lehrenden frustrierte akademische Verwaltungsangestellte zu machen. Diese Kritikpunkte lassen sich noch ergänzen durch die Kritik an der Insti‐ tution Universität insgesamt, die - je nach nationaler Bildungspolitik - ent‐ weder vollkommen unterfinanziert ist, wie in Italien und Deutschland, oder große interne Qualitätsunterschiede aufweist wie etwa in Frankreich und den USA . Drittmittelpolitik in unterschiedlicher Form, der dauernde Druck, Geld einzuwerben, die deutsche Exzellenzinitiative mit ihren Tausenden von An‐ trägen, die zigtausende von Arbeitsstunden verschlingen, werden ebenso geta‐ delt wie neue Besoldungsrichtlinien für Wissenschaftler*innen, die offenbar die Vertreter der Naturwissenschaften bevorzugen. Die nicht abreißende Debatte um die Relevanz philologischer Kompetenzen gehört ebenso zum Kanon der Einwände wie die Kritik an den Schulen und dem Niveau, mit dem sie Schüler*innen an die Universität entlassen (Lehrlinge bzw. Azubis allerdings können auch nichts mehr! ). Mit dem Verschwinden des Bildungsbürgertums und seiner Wertvorstel‐ lungen, seinem Bildungskanon und seinen Ausbildungspraktiken ver‐ schwanden auch die Sicherheit und Selbstverständlichkeit der zu vermittelnden Inhalte in Literatur, Kunst und Musik (vgl. Erhart 2003a: 108-125). Die damit verbundene Warnung vor dem Untergang der Bildung im Internetzeitalter ist zum Gemeinplatz geworden: Das »Ende der Gutenberg-Galaxis« (Bolz 1995) war erst nur ein schönes Bonmot - und heute haben wir dieses Ende so weit hinter uns gelassen, dass es selbst schon Geschichte geworden ist. In all dem ist nichts Positives zu erkennen; außer vielleicht der Tatsache, dass Bildung offen‐ sichtlich zu allen Zeiten wenn nicht alle, so doch viele anzugehen scheint, und dass man Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, ja, dass man be‐ stimmten Fächern und Disziplinen offenbar viel zutraut - oder eben auch viel zumutet. Die Kritikpunkte sind fast alle berechtigt - und genau dies mag einen skep‐ tisch stimmen. Sie zielen auf die Universitäten ganz allgemein, besonders aber auf die Literatur- und Kulturwissenschaften und im Speziellen häufig auf die Dorothee Kimmich 30 Germanistik. Selten wird so viel Häme über die juristischen Fakultäten, die the‐ ologischen Seminare, die Archäologie oder auch die Geschichte ausgeschüttet wie über die Literaturwissenschaften. Man fragt sich manchmal, warum. So viel Kritik, und aus so unterschiedlichen Perspektiven? So viele implizite und ex‐ plizite Forderungen und Erwartungen, die, würde man versuchen, sie alle zu erfüllen, sicherlich kein konsistentes Bild ergeben würden. Vielleicht muss man sich also zunächst einmal fragen, was eigentlich solche Empörung auslöst. Wie sieht der Katalog der Wünsche aus? Woher kommt die krasse Kritik? Geisteswissenschaften - oder, um den irreführenden Begriff des »Geistes« zu vermeiden, besser: Humanities - sollen historisches und zeitgenössisches Wissen bewahren, es pflegen, sie sollen es erhalten, zugänglich und brauchbar machen oder sogar oft die Zugänglichkeit erhalten, indem sie etwa die Kenntnis fast vergessener Sprachen und Schriften, Zeichensysteme und Bilder konser‐ vieren und ihre Funktionen trainieren. Die einen loben dabei, dass dies ohne Ansehen von direkter Verwertbarkeit, mit langem Atem und ohne tägliche Überprüfung von aktueller Relevanz geschehen soll und kann. Tagesaktuelle Verwertbarkeit soll und darf dann gerade kein Kriterium sein. Andere reden genau hier vom Elfenbeinturm. Die Kritiker des Elfenbeinturms nämlich verlangen, dass zeitgenössische De‐ batten aufgegriffen, überalterte Themen und Thesen verworfen und dezidiert verabschiedet werden. Und nicht nur dies: Zu aktuellen Themen soll es auch noch kompetente und ethisch vertretbare Kommentare, Urteile, politisch und sozial relevante, wirksame Beiträge geben. Universitäten sollen Forschung - nicht nur in den Humanities - garantieren, die nicht von Politik und Lobbyismus beeinflusst ist (dies ist - leider zu selten betont - im Übrigen auch für die Lehre relevant! ). Sie müssen mit ihren Ressourcen ökonomisch umgehen und die Aus‐ gabenverteilung an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichten. Sie sollen ei‐ nerseits auf Distanz gehen zu den gesellschaftlichen Akteur*innen und Interes‐ sent*innen, andererseits nicht im Abseits stehen: Keine leichte Übung! Universitäten sind - wie fast alle Institutionen - träge, und genau dies ist auch ein nicht zu unterschätzender Vorteil von Institutionen. Anders als wirt‐ schaftlich arbeitende Unternehmen, die auf ökonomische Veränderungen mög‐ lichst schnell und flexibel reagieren sollen und müssen, sollten das weder Bil‐ dungseinrichtungen noch Gerichte tun: Die notwendige Autonomie, eine gewisse Freiheit von Marktimperativen und die Distanz zu unternehmerischer Kultur können sich die Geisteswissenschaften nur dann verschaffen, wenn sie bereit sind für diese (notwendige) Sonderstellung auch bestimmte Reformen nicht nur in Kauf, sondern selbst in Angriff zu nehmen. Gelingt »Nach der Krise ist vor der Krise« 31 dies nicht, leiden darunter nicht nur die Geisteswissenschaften selbst, sondern das gesamte System Universität. (Kimmich und Thumfart 2003: 30) Die Anpassung von Universitäten an Vorbilder aus Wirtschaft und Industrie ist nicht in jeder Hinsicht unsinnig, eine Vorbildfunktion ökonomischer Strukturen für die Universität kann es aber nicht geben. Moden und Konjunkturen be‐ stimmen nicht den Pulsschlag von Universitäten. Das mag man bedauern. Tat‐ sächlich sammelt sich daher eine Menge Muff - auch unter den z. T. wieder eingeführten Talaren - in Bürokratien, Studienplänen, Prüfungsordnungen, Le‐ selisten und Forschungsprojekten. Autonomie von wirtschaftlichem Effektivi‐ tätsdruck und gesellschaftlicher Relevanz führt nicht per se zu wissenschaftli‐ chen Hochleistungen. Aber umgekehrt gilt dies eben genauso: Ständiger Effektivitätsdruck und Relevanzforderungen garantieren eben leider auch keine gute Forschung! Erreichen lässt sich in einer Institution nur dann etwas, wenn man grund‐ sätzlich deren Charakter, also auch denjenigen einer oft langsamen, ja eben ›bedächtigen‹ Arbeitsweise akzeptiert, ihre Vorteile anerkennt und erst dann die daraus entstehenden Nachteile korrigiert. Universitäten sind konservativ: im Wortsinn und als Funktionsbeschreibung gemeint. Es sind besonders die Humanities, die diese konservativ-konservierende Seite vertreten. Das sieht man den Vertreter*innen der Fächer an, ihrem Habitus und ihren Tätigkeiten. Ihr Denkstil ist in vieler Hinsicht auf konservative Praktiken hin ausgelegt. Al‐ lerdings sind diese Fächer damit nur zur Hälfte beschrieben. Weder die Universität selbst noch die Humanities sind nur konservativ. Ganz im Gegenteil: Schließlich wird das Wissen von morgen in den Forschungsla‐ boren, Universitätskrankenhäusern, aber auch an Schreibtischen und in Semi‐ narräumen entwickelt. Dabei geht es nicht nur um technischen, technologi‐ schen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, sondern ganz zentral auch um das Wissen, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und verständigt, mit dem sie Arbeitsleben und Familie, Geschlechterverhältnisse und Kindererziehung, kulturelle Vielfalt und Innovation, Tradition und Erin‐ nerung, Gesundheit und Religiosität neu konzipiert, verwandelt, kommuniziert und kritisiert. Insbesondere die Literaturwissenschaften zeichnen sich also durch die Span‐ nung zwischen einer konservativen Seite ihrer Praktiken und Aufgaben und zugleich einer Seite innovativer, oft sehr experimentierfreudiger, meist theore‐ tisch versierter Ansätze aus. Das passt nicht gut zusammen und erzeugt Kon‐ flikte. Obwohl die Kombination fast unmöglich erscheint, kann auf keine der beiden Seiten verzichtet werden: Betrachtet man eine Seite isoliert, wirkt es entweder dröge oder schrill. Dorothee Kimmich 32 Rita Felski nennt in ihren viel beachteten Publikationen vier verschiedene Praktiken, die Humanities zu kombinieren haben: »curating, conveying, criti‐ zing, composing« (Felski 2016: 216). Die ersten beiden, ›curating‹ und ›con‐ veying‹ möchte ich zusammenfassen in dem, was ich als ›konservativ‹ be‐ zeichne. Critizing und composing werde ich ihnen gegenüberstellen und im Sinne von Kritik und - statt ›composing‹ - Urteil also auf der Seite des Experi‐ mentellen und Innovativen verorten. Die Unterteilung in die beiden Kompo‐ nenten ist vielleicht meinem besonderen Fokus auf die Germanistik geschuldet, da hier die Debatten um die Einführung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, Themen und Methoden bzw. auf der anderen Seite um eine »Rephilologisie‐ rung« (vgl. Erhart 2003b) des Faches besonders heftig geführt wurden, also die Polarisierung von konservativ-kurativ und kritisch-innovativ kontrovers dis‐ kutiert wurde. Interessant sind die Spannungen innerhalb der Germanistik auch, weil sie als Nationalphilologie im Rahmen der deutschen Kultur- und Wissens‐ geschichte - mehr noch und anders als etwa die Romanistik oder die Amerika‐ nistik / Anglistik - gewissermaßen intrinsisch eine Art Umbau oder sogar eine Form der Selbstauflösung betreibt. Warum? Die konservativ-konservierenden Praktiken Felskis, ›curating‹ und ›con‐ veying‹ fallen zusammen mit dem, was man als philologische Praktiken im besten Sinne bezeichnen kann. Sie gehören zum Kernbestand der Literaturwis‐ senschaften und ihre Berechtigung und ihr Wert sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings: Philologen - insbesondere auf dem Gebiet der Germa‐ nistik - braucht man nicht viele und man wird in Zukunft immer weniger von ihnen brauchen. Hier ist Albrecht Koschorke zuzustimmen, der darauf hinweist, dass diese Art von Germanistik schrumpfen wird - und zu Recht (vgl. Koschorke 2015: 587-594). Die deutschsprachige Literaturgeschichte ist vergleichsweise kurz, sehr prominent und entsprechend gut erforscht. Es gibt noch viel zu for‐ schen, aber die Menge an Dissertationen und Publikationen steht in keinem Verhältnis zum Material, das erforscht wird. Nicht selten sind es zudem Main‐ stream-Gebiete, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen, Redundanzen lassen sich daher nicht vermeiden. Dazu gehören allerdings nicht nur die ›großen‹ kanonischen Autoren, sondern bedauerlicherweise auch viele theoretische Texte aus den letzten Jahrzehnten, die weit mehr Aufmerksamkeit erfahren haben, als notwendig gewesen wäre, um sie angemessen zu rezipieren. Das dient dem Renommee eines Faches nicht. Weniger Quantität und höhere Qualitäts‐ standards wären oft angebracht. Schließlich ist nicht jeder, der schnell lesen kann, ein guter Philologe. Dazu bedarf es spezifischer und seltener Begabungen, eines hohen sprachlichen Feingefühls, einer langen Ausbildung und komplexer Kompetenzen. »Nach der Krise ist vor der Krise« 33 Die Lage auf der anderen Seite der Literaturwissenschaften, also auf der kri‐ tisch-innovativen, ist womöglich noch schwieriger zu beschreiben, denn sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Veränderungen aus, die sowohl den Be‐ reich der zu erforschenden Gegenstände - also eigentlich Texte und Bücher - als auch Methoden und Theorien und so letztlich immer das Selbstverständnis des Faches betreffen. Die Germanistik hat sich - und das gilt in etwas anderer Weise auch für andere Nationalphilologien - mit der Geschichte der jeweiligen Nationalstaaten im Rahmen einer Globalgeschichte der letzten 200 Jahre voll‐ kommen gewandelt. Und dies ist selbstverständlich nur zu begrüßen: Als Selbst‐ versicherung einer nationalen, bürgerlichen Identität ist das Fach obsolet ge‐ worden, ja, es wäre eine politische Provokation. Die entscheidenden Impulse kamen dabei aus verschiedenen Literaturwis‐ senschaften und aus den neu entstehenden Kulturwissenschaften, die zu‐ sammen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Herausforde‐ rungen einer sich selbst suspekt werdenden Moderne begegneten und sie auf kreative und einflussreiche Weise aufarbeiteten. Das Fach Germanistik bzw. die Literaturwissenschaften haben sich durch diese Einflüsse fundamental verän‐ dert: Manche Gebiete, die zuvor als kleine Unterabteilungen fungierten - wie die Medienwissenschaften -, haben eine spektakuläre Konjunktur erlebt und sind zu eigenen Fächern, ja Fachbereichen geworden. An anderen Stellen haben sich Querverbindungen und Vernetzungen gebildet - etwa in allen Bereichen des ›Transkulturellen‹, des ›Postkolonialen‹ -, die dafür sorgen, dass die Grenzen des Faches diffus - noch diffuser - wurden. Im Grunde sind Fächer‐ grenzen immer diffus, das zu ignorieren, lässt ideologische Interessen vermuten. Man könnte hier verschiedene Beispiele für die Art und Weise der Wirkung und Bedeutsamkeit kulturwissenschaftlicher Forschung anführen; ich wähle die lange und hochinteressante Debatte über ›Erinnerung‹ und Gedächtnis, die heute in vielen Sparten geläufig ist. Sie angestoßen zu haben, ist u. a. ein Ver‐ dienst von Aleida und Jan Assmann, die dafür 2017 berechtigterweise einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise, den Balzan-Preis, erhielten. Wenn heute Begriff und Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ viel geläufiger sind als der Name der beiden ›Erfinder‹, so ist das eine ähnliche Leistung wie diejenige, das ›Unbewusste‹ entdeckt oder erfunden zu haben. Die Problematisierung von ›Erinnerung‹, die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses und deren Theorie verhalfen gerade zur kritischen Revision nationalistischer Selbstkonstruktion, und diese Kritik diente nicht nur der Dekonstruktion nationaler Mythen, son‐ dern eben auch der Dekomposition von Disziplinen, die ursprünglich solche nationalen Selbstfindungsfunktionen erfüllten. Solche Themenfelder weiterhin zu identifizieren und zu bearbeiten, ist heute dringender denn je. Ohne kultur‐ Dorothee Kimmich 34 wissenschaftliche Expertise wird man dem verheerenden Trend zum Vergessen nicht beikommen. Die Geisteswissenschaften können nicht mit den gleichen Kriterien der Re‐ levanz, der Effektivität und der Produktivität evaluiert werden wie technische oder naturwissenschaftliche Fächer. Wie wollte man den Wert der Assmann‐ schen Forschungsleistung evaluieren, die sich über Jahrzehnte entfaltet und sich über die verschiedensten Gebiete politischer Entscheidungen, disziplinärer For‐ schung, internationaler Beachtung und kultureller Wirksamkeit, ja sprachlicher Veränderung und Innovation erstreckt? Ein Einfluss, der weit größer sein dürfte als derjenige, den einzelne Wissenschaftler*innen, wie die vom Spiegel apostro‐ phierten, je gehabt haben dürften. Vermissen wir die ›großen‹ alten Männer wirklich? Können wir an ihnen den Einfluss eines Faches bemessen? Es dürfte doch vielleicht den ebenfalls viel geschmähten Gender Studies zu verdanken sein, dass wir darüber heute differenzierter urteilen können. Im Grunde können wir festhalten, dass gerade die Literaturwissenschaften diejenigen Stimmen hervorbringen, die im richtigen Moment darauf hinweisen, dass sie sich - in bestimmter Hinsicht - überlebt haben. (Das gilt übrigens auch für den Verfasser des kritischen Spiegel-Artikels, der - natürlich - u. a. Germa‐ nistik studiert hat.) Aber was - bitteschön - will man denn sonst? Das genau ist doch die viel beschworene kritische Haltung, die man sich von Akade‐ miker*innen wünscht. Oft geht es um sehr komplexe und ernsthafte Auseinandersetzungen mit hoch komplizierten Entwicklungen. Wir werden z. B. zweifellos in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vollkommen neue Konzepte von Weltgeschichte und Weltliteratur brauchen. Leider wird uns Goethe - auch wenn er den Begriff populär gemacht hat - nicht viel weiterhelfen können. Allein die Daten- und Textmengen werden sich nur mit Hilfe von Digitalisierungsmethoden verwalten lassen, denn Weltliteratur ist eben nicht die Kombination von Schiller, Mon‐ taigne, Shakespeare und Cervantes, sondern umfasst Mythen und Lieder, Ro‐ mane und Geschichten, Anekdoten und Märchen der ganzen Welt und aller Sprachen. Im Moment kann sich - trotz gegenteiliger Behauptungen - niemand vorstellen, wie eine Literaturwissenschaft aussehen soll, die mit solchen Mengen umgehen kann, und in der Zwischenzeit behelfen wir uns mit meist eurozent‐ rischen Hilfskonstruktionen, die methodisch unseriös sind, da sie ungerecht‐ fertigterweise - oft leider nur implizit - Repräsentativität postulieren. Eine ganze Reihe anderer Entwicklungen - etwa im Bereich der Digital Humanities oder der Neuroästhetik - könnte hier ebenfalls und mit gleichem Recht genannt werden. »Nach der Krise ist vor der Krise« 35 Es mag für manche ›irrelevant‹ klingen, sich mit der Frage nach Weltliteratur zu beschäftigen, angesichts von Dieselskandal und Flüchtlingskatastrophen. Tatsächlich werden die Auswirkungen eines Umbaus literaturwissenschaftli‐ cher Fächer und Konzepte erst in vielen Jahren wirklich zu spüren sein. Es han‐ delt sich dabei um Entwürfe für einen Umgang von Ethnien, Nationen und Kul‐ turen in postkolonialen Kontexten, für die es sich lohnt, lange Zeit zu investieren. Dieser Umbau von Disziplinen und Fächern wird nicht nur univer‐ sitäre Forschung, sondern eben auch Lehrpläne und Kulturprogramme, die Po‐ litik und den alltäglichen Umgang miteinander prägen. Dies allerdings nur, wenn man diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, auch anerkennt; und dies bedeutet: sie für ihre Arbeit entlohnt und ihnen zuhört. Hier mit Umsicht vorzugehen, wird gut sein. Man wird dabei auf alte Wissensbestände zurück‐ zugreifen haben: Und da werden die Kritischen und die Kurator*innen im Be‐ reich der Humanities kooperieren müssen. Wohlfeil ist es auch, über ›Gender-Studies‹ zu spotten (vgl. Handelsblatt 2013; Emma 2017): Wer aber hätte es noch in den 80er Jahren für möglich ge‐ halten, dass sich in unseren Gesellschaften homosexuelle und transsexuelle Le‐ bensentwürfe innerhalb von drei Jahrzehnten durchsetzen lassen? Begriffe, Konzepte, ethische Forderungen und normative Umbesetzungen wurden in der Politik konkret, aber sie wurden erst einmal in der Theorie vorgedacht und de‐ battiert. Wo hätten sie denn entwickelt werden sollen, wenn nicht an den Uni‐ versitäten? Heute, wo das alles selbstverständlicher geworden ist, lässt sich gut spotten. Die ersten Seminare zu Gender Studies anzubieten, war eine Leistung - und sie hat sich gelohnt. Allerdings lässt sie sich eben schlecht messen. Dazu muss man schon etwas genauer hinsehen, etwas mehr Ahnung von Kulturge‐ schichte haben und einen etwas längeren Atem mitbringen … Alles so genannte ›soft skills‹, die man sich etwa in einem historischen oder kulturwissenschaft‐ lichen Studium aneignen kann. Kaum ein Artikel zur Lage der Literatur- und Kulturwissenschaften kommt ohne einen Verweis auf die besondere Bedeutung von ›Kritik‹ oder ohne das Lob des kritischen Geistes aus, den man in diesen Fächern erlernen oder er‐ werben kann. Felski weist darauf hin, dass viele »critique« als eine Art »guiding ethos« der Humanities verstehen (Felski 2016: 216). Das ist sicherlich nicht falsch, bleibt aber oft unkonkret. Was soll man sich genau unter dieser Kritik oder dem kritischen Geist vorstellen? Ist Kritik nicht oft auch zu wenig (vgl. Felski 2017: 344-51)? Statt nur auf die kritische Komponente der Humanities möchte ich daher hier auf einen anderen Aspekt hinweisen, der sicherlich Teil von kritischen Reflexionen ist, aber nicht darin aufgeht: Die Fähigkeit, zu ur‐ teilen. Dorothee Kimmich 36 Urteilen ist eine komplexe Praxis und beginnt bereits mit der Auswahl von Adjektiven, wenn man einen Sachverhalt beschreibt, mit dem Einsatz be‐ stimmter Metaphern, wenn man eine Handlung, einen Gegenstand oder auch eine Person nachzeichnet. Jeder kennt das aus Bewerbungsgesprächen: Die er‐ folgreiche Frau ist ›ehrgeizig‹, der Mann ›durchsetzungsfähig‹. Der ›kleine Un‐ terschied‹ kostet vielleicht den Job. Die Art und Weise, wie Eigenschaften at‐ tribuiert werden, macht Handlungen und Menschen vergleichbar mit anderen Menschen, mit anderen Erfahrungen, stellt sie jeweils in den einen oder den anderen Kontext. Diesen Verfahren liegen meist implizite Entscheidungen und - meist wenig bewusste - Urteile zugrunde. Sie basieren auf Vergleichen und Ähnlichkeitsbeziehungen und sind in den allermeisten Fällen weder messbar noch falsifizierbar oder beweisbar. Sie sind nicht transparent und schon gar nicht objektiv. Wir befinden uns auf einem Terrain, das vage, diffus, komplex und unübersichtlich ist. Es ist das Feld, in dem Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen zuhause sind; gewissermaßen der Urwald, in dem sie sich auskennen, hier können sie ihre Diagnosen stellen, ihre Expertise formulieren und ihre Techniken der Er‐ kenntnis zur Anwendung bringen. Es ist das Feld der symbolischen Kommuni‐ kation, die vom Einkaufszettel bis zu Zettel’s Traum reicht. Die größte Menge an Weltwissen findet sich ja gerade nicht dort, wo Exaktheit und Klarheit herr‐ schen, sondern dort, wo im Ambivalenten formuliert werden muss, wo Aus‐ sagen Urteile implizieren und damit Handlungen generieren (können). Man könnte so etwas die Ambiguitätstoleranz der Literaturwissenschaften nennen. Ich würde gerne weitergehen und es die Diffusitätskompetenz nennen, also die Fähigkeit, gerade nicht ›schwarz und weiß‹ zu denken, ›hüh oder hott‹ zu sagen, ›entweder oder‹ zu handeln, sondern ›sowohl als auch‹, und im Graubereich zu urteilen, abzuwägen, auszutarieren, fein abzustimmen, auszubalancieren. Es handelt sich um die Fähigkeit, begründet zu urteilen. Die meisten - poli‐ tischen, privaten oder beruflichen - Entscheidungen beruhen nicht auf objek‐ tivem Zahlenmaterial, sondern auf einem komplexen Ineinander von Erfahrung und Information. Differenziert und begründet urteilen zu können, ist eine Kunst. Oder anders: Es ist eher eine Praxis als eine Theorie, die sich durch Einübung und Lektüre erlernen lässt. Diese Praxis, die durchaus auch zur ›Kritik‹ gehört, ist eine der größten Stärken der Literaturwissenschaften. Sie zu so genannten ›exakten‹ Wissenschaften machen zu wollen - was immer das letztlich sein soll -, führt dagegen unweigerlich zu Banalitäten, redundanten Aussagen und zur Selbstabschaffung. Literatur- und Kulturwissenschaften machen das kompliziert, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext »Nach der Krise ist vor der Krise« 37 und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt: Manchmal eine Fratze, manchmal ein Schatz. Dem Normalen die Stirn zu bieten, heißt aber nicht not‐ wendig immer, auf den Putz zu hauen und mit dem großen Thesenbesen einen Kehraus zu veranstalten. Manchmal sitzt man eben monate-, ja jahrelang am Schreibtisch, im Archiv oder in der Bibliothek, bis man die Stellschraube ge‐ funden hat, die am Ende eine wacklig gewordene Konstruktion zum Einsturz bringt. Manchmal findet man diese Schraube nie. Die ›Erfindungen‹ von Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen werden oft gar nicht mit ihnen in Verbindung gebracht. Es sind meist keine spektaku‐ lären, aber entscheidende Veränderungen von sprachlichen Gewohnheiten, langsam sich entwickelnde Verschiebungen von normativen Vorstellungen, die nicht nur angestoßen, sondern auch formuliert und vorangetrieben werden. Es sind Konzepte von Vergangenheit und Zukunft, von fremd und eigen, die hier entworfen werden. Sie werden nicht als Innovationen verkauft, sondern finden Resonanzen, verbreiten sich und werden zum Common Sense (vgl. Rosa 2016). Wer das unterschätzt, ist schwer vom Wert des Nachdenkens zu überzeugen. Literatur Bolz, Norbert (1995). Am Ende der Gutenberg-Galaxis. München: Fink. Bruni Aretino, Leonardo (1984). ›Dialogi ad Petrum Paulum Istrum‹, in: Stephan Otto (Hrsg.). Renaissance und frühe Neuzeit. Stuttgart: Reclam, 91-95. 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Noyes (übersetzt von Lukas Müsel) Die Literatur ist ein Laboratorium, das die Idee eines gemeinsamen Menschseins entwickeln und in Beziehung zu Vielfalt und Differenz setzen soll. In beiden Fällen handelt es sich um nicht ganz klar umrissene, veränderbare Konzepte. ›Menschsein‹ ist eine Abstraktion, die auf unterschiedlichste Art und Weise erreicht werden kann (meistens dadurch, dass jegliche Vielfalt negiert wird); Vielfalt selbst ist eine scheinbar unendliche Spezifizierung bestimmter Erschei‐ nungen. Die Dialektik von Gleichheit und Unterschiedlichkeit, die das literari‐ sche Labor antreibt, wohnt der literarischen Form strukturell inne. Die lyrische Stimme ist gänzlich erfüllt vom Reiz des Klanges, der beständig zwischen einem Bereich innerhalb der Bildlichkeit und einem Ort jenseits ihrer Grenzen hin und her pendelt. Die dramatische Aufführung funktioniert über ein Momentum der Identifikation, durch das spezifische Gesten und Äußerungen der Schauspieler erst Bedeutung erlangen. Der Roman, in seiner klassischen Form, lebt von den Spannungen zwischen verschiedenen universalen narrativen Strukturen (wie beispielsweise dem allwissenden Erzähler) und den Stimmen oder berichteten Gedanken der individuellen Figuren. All diese narratologischen und poetischen Mittel erlauben es uns, von einer ästhetischen Erscheinung zu sprechen, die sich durch die fundamentale Unsicherheit eines gemeinsamen Menschseins in der Moderne auszeichnet. Vielleicht entstand und besteht Literatur aufgrund genau dieser Ungewissheit. Im Westen sind ›gemeinsame Menschlichkeit‹ und ›Vielfalt‹ Konzepte, die sich - wie auch immer sie verstanden werden mögen - durch die langzeitige Parallelentwicklung von säkularem Weltbürgertum und christlicher Mythologie entwickelten. Das heutige Problem von Menschlichkeit und Vielfalt entstand aus einer kürzeren (aber dennoch jahrhundertelangen) Geschichte, die zunächst von Europa und später von den Vereinigten Staaten dominiert wurde - eine Geschichte der Säkularisierung, der Technologie und der Expansion des Kapi‐ tals. Literatur wie wir sie heute verstehen - mit all ihren Wachstumsschüben, Verzögerungen; mit ihrer Selbstbezüglichkeit, ihren Kontextualisierungen und historischen Schwachpunkten - entwickelte sich parallel zu dieser langen Ge‐ schichte. Da das Konzept eines gemeinsamen Menschseins zunehmend in den Einflussbereich der Weltwirtschaft und der Finanzialisierung des Lebens rückte, gerieten Konzeptualisierungsversuche von Gleichheit und Ungleichheit in Wi‐ derstreit mit der Homogenisierung des Lebens, die dieses globale System her‐ vorruft. Die immer wieder hart geführten Kämpfe um die Relevanz und das Fortbestehen der Literatur (und die institutionellen Strukturen, die sie unterhält) sind in sich selbst Ausdruck eines formalen Auswegs; einer Flucht vor dem, was wechselweise das verwaltete Leben, die Systematisierung des Lebens, die In‐ strumentalisierung des Lebens, etc. genannt worden ist. Dass die Formen einer solchen Flucht vielleicht mit einem fortwährenden Wettrennen um nicht bör‐ senfähige Innovationen einhergehen, ist nicht überraschend; genauso wenig ist es überraschend, dass dies ein Rennen ist, dessen Sieger nur rundenweise be‐ stimmt werden können - denn der Wettbewerb selbst kann nicht gewonnen werden. Aus diesem Blickwinkel gesehen, verbindet die offizielle Institution der Li‐ teratur und ihre institutionalisierte Analyse eine interessante Beziehung. Wäh‐ rend Beobachtung, Interpretation und Kommentar methodologische Grund‐ pfeiler einer Vielzahl an Disziplinen sind (sowohl in den Geisteswissenschaften wie auch in den Naturwissenschaften), ist die sture Verweigerung, Erkenntnis als finanzfähig zu erweisen, genau das, was die ›eigentliche Literaturwissen‐ schaft‹ bestens beschreibt. Ich sage ›eigentliche Literaturwissenschaft‹, weil es durchaus auch einige institutionelle Formen der Literaturanalyse gibt, die so hart wie möglich darum kämpfen, ihren eigenen Wert auf eben der Skala der Naturwissenschaftler zu messen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderwürdig‐ keit der ›Digital Humanities‹. Die ›eigentliche Literaturwissenschaft‹ ist, sollte sie mit den Naturwissenschaften verglichen werden, eine Art Grundlagenfor‐ schung. Sie schlägt Modelle und Methoden vor, deren Ergebnisse ungewiss, un‐ vorhersagbar und in den meisten Fällen finanziell wertlos sind. Die institutio‐ nalisierten Modelle und Mechanismen, die der Literaturanalyse geldwirtschaftlichen oder (eher) finanziellen Wert zuweisen, werden immer ausgeklügelter - und die Lebensdauer dieser Disziplin ist immer mehr abhängig von der Ausgeklügeltheit dieser Modelle und Mechanismen. Es mag sein, dass die Anzahl an Studierenden gering ist und es gemessen daran verhältnismäßig viele Dozenten gibt. Wenn es aber irgendetwas an dieser Struktur, an dem Status oder dem Betrieb literaturwissenschaftlicher Institute gibt, was die Wahrneh‐ mung der gesamten Institution in den Augen ihrer Geldgeber oder bezahlender Studierender verbessert, wird das natürlich den finanziellen Wert des Litera‐ turunterrichts fundamental verändern. Wenn auf eine ähnliche Weise Verlage John K. Noyes 42 und Verwalter den Wert von zuvor nicht marktfähigen theoretischen und the‐ matischen Trends sehen, verändert sich die interne Konfiguration literarischer Spezialisierung (siehe zum Beispiel das Wachstum der Postcolonial Studies); auch wenn im Vergleich zu den Naturwissenschaften - und ungeachtet der zu‐ nehmenden Verschmelzung nationaler literaturwissenschaftlicher Seminare zu literaturwissenschaftlichen Seminaren, Fakultäten für Europastudien und der‐ gleichen mehr - die fachliche Struktur von literaturwissenschaftlichen Fakul‐ täten bemerkenswert schwer zu ändern ist. Es lohnt sich jedoch, über die in einem solchen Prozess entstehende Dynamik der Differenzierung nachzu‐ denken. Wie sollte Literatur im Vergleich zu anderen ›Diskursen der Wahrheit‹ platziert werden, die scheinbar mit mehr Berechtigung in Hochschulen einge‐ bettet sind, da die Wahrheiten, mit denen sie sich beschäftigen, offenbar eine offensichtlichere, effektivere und profitablere Beziehung zur Welt als ganzer haben? Um uns einer Antwort auf diese Frage zu nähern, müssen wir schauen, was mit der Wahrheit über die vergangenen Jahrhunderte geschehen ist. Es gab eine Zeit - und so lang ist das noch gar nicht her - zu der es schien als wäre der Streit über die Wahrheit gewonnen: als europäische Akademiker sie den Händen der Kirche entrissen - und das obwohl ihre Philosophie noch nicht die Kontrolle über die Theologie erlangt hatte. Während dieses Kampfes dachte man einige Zeit, dass die Frage ›Was ist menschlich? ‹ gleichermaßen von der Philosophie und von der Theologie beantwortet werden könne. Diese Zeit ist vorbei; die Kirche verlor die erste Runde des Kampfes und die Philosophie verlor die zweite Runde. Doch für die Philosophie, so erinnert uns Adorno zu Beginn der Nega‐ tiven Dialektik (1966), erwies sich der Verlust der Wahrheit als großer Gewinn, da er ihr das Überleben sicherte. Adorno vertritt die Ansicht, dass die Philoso‐ phie noch immer von großer Bedeutung ist; gerade weil sie ihren großen Ver‐ sprechungen nicht nachkommen konnte, die Gesamtheit des Lebens zu be‐ greifen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Verteidigung die Philosophie wieder zurück zu der konstitutiven Rolle führt, die Adorno (und Kant vor ihm) gehofft hatten, ihr darin zusprechen zu können, dass sie die Welt zu einem bes‐ seren Ort macht. Stattdessen scheint die Philosophie in der Öffentlichkeit wahr‐ genommen zu werden, als wäre sie ›fake news‹. Jeder kann Philosophie be‐ treiben, wenn er einen Verlag zum Publizieren findet. Und in der akademischen Welt wurde der feste Griff, mit dem sie die Wahrheit zu umklammern schien von der Technologie gelöst: von der Berechenbarkeit und Modellierbarkeit einer Welt, die nach den Modellen und Berechnungen der jeweiligen Wissenschaft überhaupt erst zustande kommen kann. Infolgedessen wendet sich die Philoso‐ phie auf sich selbst; wie ein schmollendes Kind erzählt sie sich selbst Ge‐ Literatur, Wahrheit, Menschsein 43 schichten über die Spielzeuge, mit denen sie nicht spielen darf. Was ist also der Sinn von Philosophie, die wieder und wieder die Geschichte ihres Versagens erzählt, die Gesamtheit des Lebens zu erfassen? Und was hat das mit Literatur zu tun? Diese Frage kann am besten mit zwei Behauptungen angegangen werden: 1. Es ist richtig zu sagen, dass die Welt, in der wir leben, durch die Technik, die in den letzten paar Jahrhunderten entwickelt wurde, geprägt ist. Aber es ist genauso richtig zu sagen, dass dieser Strukturierungsprozess erst durch die Geschichten über die Natur und den Menschen ermöglicht wird, die wir uns kollektiv und individuell, bewusst und unbewusst, erzählen. Literatur ist der Diskurs dessen, was man vielleicht das historische oder das politische Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen nennen könnte: die Geschichten, die versuchen den Menschen als Ganzes zu verstehen und die all die Handlungen, Erscheinungen und Gedanken erforschen, bei denen der Mensch an seine Grenzen stößt. 2. In den unterschiedlichen Disziplinen leben wir mit unterschiedlichen Vergangenheiten. Aus der Perspektive der Philosophie ist die Vergangen‐ heit nicht auf die gleiche Weise Vergangenheit, wie sie es für die Ge‐ schichte der Naturwissenschaft oder der Technologie ist. Technologie macht vergangene Träume wahr. Sie tut dies dadurch, dass sie vergangene Einsichten in sich aufnimmt, um dadurch zu verbessern was zweckmäßig ist und um zu verwerfen, was nicht länger nützlich ist. Literatur funkti‐ oniert anders - sie hinterfragt die Idee von Fortschritt als unverkennbares Kennzeichen menschlicher Geschichte. Sie tut dies dadurch, dass sie eine im Fortschrittsdenken der Technologie nicht mehr relevante Vergangen‐ heit neu belebt. Sie tut dies durch Strategien der Darstellung, die histori‐ sche Zeit negieren, zum Beispiel dadurch, dass die Zukunft beschrieben wird, als wäre sie schon da, oder die Vergangenheit, als wäre sie noch nicht vergangen; dadurch, dass sie Stimmen hervorruft, die weder ver‐ gangen noch zukünftig sind, sondern einer ständigen Gegenwart inne‐ wohnen. Die so außer Kraft gesetzte wissenschaftliche Zeit ist ein kriti‐ sches Momentum - sowohl im positiven als auch im negativen Sinne des Wortes. Es nähert sich den Naturwissenschaften mit einer gewissen Ab‐ neigung - aber es zieht den diskursiv angelegten wissenschaftlichen Wahrheitsbehauptungen gleichzeitig die Maske vom Gesicht und zeigt durch die in der Literatur aufgerufenen alternativen Realitäten, dass wis‐ senschaftliche Zeit nicht die einzige Form von Zeitlichkeit ist. John K. Noyes 44 Wenn Literatur das Unbewusste des wissenschaftlich modellierten Menschen ist, dann ist es möglich, über die Verwirklichung und Verdrängung ihrer Träume durch die Wissenschaft und die Technologie zu sprechen. Seit Ikarus hat der Mensch davon geträumt zu fliegen. Wir sind mittlerweile seit ungefähr 100 Jahren in der Lage das zu tun - und wir werden immer besser darin. Vögel können uns nicht mehr das Wasser reichen. Wir können uns selbst darin be‐ glückwünschen und behaupten, dass wir einen beinahe vorzeitlichen Traum wahrgemacht haben. Aber damit nicht genug - inwiefern beeinflusst die Rea‐ lisierung dieses Traums andere Träume? Fliegen wäre unmöglich ohne revolu‐ tionäre Erfindungen und Weiterentwicklungen von Materialien wie beispiels‐ weise Metall und Plastik. Welche sozialen, politischen und ideellen Umstände haben diese Revolutionen ermöglicht? Was haben wir gewonnen und verloren, wenn wir die technologischen Fortschrittsträume mit den Momenten verglei‐ chen, in denen dieser Fortschritt tatsächlich Wirklichkeit wird? Und wie beför‐ dert die Verwirklichung dieser Träume die Produktion anderer Träume, die wiederrum realisiert werden wollen? Telekommunikation ist ein weiteres Bei‐ spiel - was bedeutet die Verwirklichung des Sechzigerjahre-Traums, mit einem Abbild des Gesichts einer anderen Person auf der entgegengesetzten Seite des Globus sprechen zu können? Zwei Dinge werden offenbar, wenn wir versuchen diese Fragen zu beantworten: Erstens erinnert die Literatur die Wissenschaften und die Technologien daran, dass wir beide nicht fragen können, wenn wir wissen wollen, ob die Erfindungen, die sie hervorgebracht haben, die Vergangenheit verbessert haben. Die Gewinne und die Verluste können nicht einfach nur in der Technologie aufgewogen werden. In der konzeptuellen Sprache der Technologie - und ich wage zu behaupten, dass das ein Axiom der Technologie ist - gibt es eine Art darwinistischer Ausgrenzung ineffektiver Veränderungen, so dass Veränderung immer positiv ist. Sobald ein Traum wahr geworden ist, kann damit abge‐ schlossen werden. Die Literatur dagegen wälzt sich weiterhin jede Nacht schlaflos im Bett; wollüstig in ihren feuchten Träumen oder gequält in ihren Alpträumen. Zweitens können die Gewinne und Verluste nicht auf der Skala einer ge‐ meinsamen Menschheit abgemessen werden, da die wissenschaftliche oder technologische Idee eines solchen universalen Menschseins davon abhängt, die Differenzen, die durch Wissenschaft oder Technologie herbeigeführt wurden, zu verwischen. Die Menschheit, die von wissenschaftlichem oder technologi‐ schem Fortschritt profitiert, ist nicht die gleiche, die von der Literatur abstrahiert werden kann. Die literarische Menschheit negiert die individuelle Stimme, die individuelle Geste, während die wissenschaftliche Menschheit die Geographie Literatur, Wahrheit, Menschsein 45 der Produktion negiert. Die Menschheit sieht für den Besitzer eines IP hones 7 bedeutend anders aus als für die Person, die in der Demokratischen Republik Kongo unter der strengen Kontrolle bewaffneter Aufseher mit nackten Händen Coltan abbaut. Genau dieser Kampf zwischen dem wissenschaftlich geformten Menschen und dem literarischen Menschen trifft den Kern der europäischen Aufklärung. Intellektuelle Aufklärer hatten den Traum, dass alle Menschen Wohlstand und Fortschritt in einem gerechten Weltsystem teilen, in dem alle Individuen ihr gesamtes Potential frei entfalten können. Die Literatur unterstützte die Über‐ zeugung einer solchen Gleichheit indem sie die gemeinsame Menschheit als das Fundament aller menschlichen Vielfalt zeigte. Sie meinte das wirklich ernst! Während wir die technologischen Träume der Vergangenheit überaus erfolg‐ reich verwirklichen konnten, haben wir abgrundtief darin versagt, diesen Traum von Gleichheit zu realisieren. Warum? Es war nicht unvermeidlich, dass wir das eine schaffen und das andere nicht. Dafür gibt es, so glaube ich, drei Gründe: 1. Die Aufklärung knüpfte die Frage nach Menschlichkeit unabdingbar an die Säkularisierung der Wahrheit. Das ermöglichte der Philosophie, ihre holistischen Perspektive auf die Menschheit zu verwerfen. Die Säkulari‐ sierung der Wahrheit bedeutete, dass der Mensch zunehmend weniger durch die Augen Gottes gesehen wurde und stattdessen mehr und mehr durch Modelle, die eine solche göttliche Einsicht ersetzten. Der Blick Gottes wurde nicht nur getrübt, sondern seine Augen zerfielen in tau‐ sende kleiner Augen, wie die Facettenaugen der Insekten, aber ohne das Nervensystem, das es ihnen ermöglicht hätte, ein einheitliches Bild zu kreieren oder einen Reiz zu senden, der einheitliche Handlungen hervor‐ ruft. 2. Die Modernisierungen in den sozialen, politischen und ökonomischen Bereichen bewirkten einen solch rapiden Umbruch, dass Fragen der Gleichheit von der Unfähigkeit politischer Systeme, Änderungen in an‐ deren Bereichen zu koordinieren, unterminiert wurden. 3. Die entstehende Weltwirtschaft zwang Philosophen dazu, jegliche Fragen bezüglich Menschheit in den Kontext kultureller Differenz zu setzen und Austauschpraktiken jeglicher Form zu homogenisieren. Die Homogeni‐ sierung des Handels verbreitete Theorien darüber, wie der Handelsver‐ kehr kulturelle Ungleichheiten ausgleichen und damit den Menschen als das Wesen hervorbringen könnte, dessen Wünsche und Bedürfnisse überall gleich sind. John K. Noyes 46 Wenn wissenschaftliche Wahrheitsdiskurse beständig in der teleologischen Pro‐ duktion von den Wahrheiten gefangen sind, die sie selbst formen, und die Phi‐ losophie immer einen Schritt hinter dem zurück ist, was die Wissenschaft kreiert hat, was ist dann mit der Literatur? Bei jedem Schritt schaute die Literatur über‐ rascht, fasziniert und bestürzt zu, wie der Versuch den Menschen zu verstehen nach und nach in den Händen zerrann. Eine Geschichte der Literatur, die diesen Prozess verfolgt und die kontinuierliche Destabilisierung des Menschen als das, was aus ihm geworden ist, festhält, muss erst noch geschrieben werden Literatur hebt den teleologischen Pakt wissenschaftlicher Wissensdiskurse mit der Technologie auf, indem sie mit der Philosophie kommuniziert. Wenn Philosophie mit der Literatur spricht, nennt man das Theorie; den Metadiskurs über literarische Texte. Es gibt einen Grund dafür warum dieser Dialog in Deutschland Literaturwissenschaft genannt wird. Gleich der Wissenschaft legt sie ein Wahrheitsgelübde ab - aber ungleich der Wissenschaft ergeht sich dieses Gelübde nicht in technologischen Veränderungen der Welt. Stattdessen hält sie die Wahrheit auf Distanz; destabilisiert sie durch die inhärenten Spannungen zwischen der Allgemeingültigkeit ihrer einen menschlichen Stimme und der Partikularität ihrer vielen menschlichen Stimmen. Man kann sich Literatur nicht ohne diese Destabilisierung der Wahrheit vorstellen. Bei Literatur und Literaturwissenschaft aktiviert die Frage nach einer ge‐ meinsamen Menschlichkeit und menschlicher Vielfalt einen wechselseitigen Dialog zwischen Philosophie und Ästhetik (die Lehre der Ausdrucksform). Die philosophische Frage ›was ist menschlich? ‹ kann nicht adäquat beantwortet werden - nicht nur, weil die Antwort bereits de facto in den technologischen Veränderungen des Menschen und der Welt vorliegt, sondern auch weil es so‐ wohl eine allgemeingültige wie auch eine partikulare Antwort gibt, die sich (zumindest teilweise) gegenseitig ausschließen. Eine solche Ausschließung be‐ fördert die ästhetische Experimentierfreude mit Ausdrucksformen des Men‐ schen und ihrem Spiel mit den Grenzen menschlicher Erscheinung - oder mit der Partikularität menschlicher Erscheinung. Dieses Spiel mit Grenzen und Par‐ tikularitäten ist jedoch noch solange nicht gänzlich entfaltet, bis es in einen analytischen Metadiskurs mündet. Ästhetische Repräsentationen von Mensch‐ lichkeit, von Unmenschlichkeit und menschlicher Differenz und Vielfalt müssen notwendig offen bleiben, damit sie analysiert werden können um so zurück auf die Theorie, auf den Metadiskurs, auf die Philosophie zu verweisen. Und so schließt sich der Kreis. Sowohl Literatur und Metadiskurs wie auch Ästhetik und Philosophie sind eng verbunden mit Diskursen und Institutionen, die auf Verhandlung und In‐ terpretation basieren. Diese Interaktion generiert und unterhält mein For‐ Literatur, Wahrheit, Menschsein 47 schungsfeld. Die Bezeichnung meines Jobs ist zwar ›Literaturprofessor‹, aber ich untersuche eben diese sich gegenseitig konstituierende Beziehung, in der die Literatur der Philosophie Bilder bereitstellt, um Licht und Form in die un‐ klaren, schattigen Konzepte zu bringen, wenn die philosophische Sprache die Welt nicht länger erklären kann; und die Philosophie stellt der Kunst im Ge‐ genzug eine analytische Sprache bereit, um ihre Bilder zu konzeptualisieren, um zu sagen, was die Kunst unfähig war zu äußern. Die Romantiker nannten das Poiesis. Wir mühen uns seit einiger Zeit ab, den institutionellen Raum und Rahmen zu finden, in den diese Beziehung wirklich gehört. Manchmal nennt man ihn Vergleichende Literaturwissenschaften, manchmal Literaturtheorie, Literaturwissenschaft, oder einfach nur Theorie. Bemerkenswerterweise hat dieses zentrale Forschungsfeld an Universitäten größtenteils noch immer kein Obdach gefunden. John K. Noyes 48 3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise Ein Versuch I-Tsun Wan Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben. Heinrich von Kleist an Rühle von Lilienstern, November 1805 (Kleist 9 2001: II , 761) Krise und Literatur Zweifelsohne befinden wir uns in einer krisenbehafteten Welt / Epoche - wenn nicht gar mitten drin in einer Krise. Gegen diese totalitäre Wir-Aussage hätte sich früher wohl einwenden lassen, dass man sie nur aus einer ***-zentralisti‐ schen Perspektive konstatiert und die Heterogenität der Welt willkürlich-wis‐ send ignoriert. Infolge der Globalisierung hat die Welt allerdings eine gewisse Homogenität erlangt, die diese totalitäre Aussage, wenn auch nicht ermöglicht, so doch voraussetzt. Je stärker die Welt globalisiert wird, desto weniger utopi‐ sche Enbzw. Exklaven bleiben als ›Nicht-Ort‹ übrig. Folglich geht es, wenn heutzutage die Welt als in einer Krise befindlich beschrieben wird, um eine to‐ talitäre Krisensituation, sei es eine Militär-, eine Klima-, eine Infektionskrise oder eine Krise durch einen Computervirus usw. Im etymologischen Sinne be‐ deutet die Krise eine »entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u. ä. mit einander streiten« ( DWB , Bd. 11, Sp. 2333). Gerade in solch einem Zustand ist jede Entscheidung bzw. Orientierung fragil: Während man um Fassung ringt, bleibt man fassungslos, indem jede Fassung im nächsten Augenblick von einer neuen Situation bestritten werden kann. Diesbezüglich dient uns das Europa um 1800, als sich die Europäer in einer ›europäisierten‹ Krise infolge von Napoleons Politik sahen, als Miniatur einer krisenhaften Welt. Im Hinblick auf Napoleons unaufhaltsamen Siegeszug schrieb Heinrich von Kleist im November 1805 an seinen Freund Rühle von Lilienstern: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben« (Kleist 9 2001: II , 760 f.). Und am 12. November 1805 schrieb Johann Friedrich Cotta an Goethe: »Das HauptGewitter wäre in gegenwärtigem Augenblik gewiß beschworen, wenn aber die Besorgung mancher, daß Preußen noch gegen Frankreich sich erklären werde - welches ich der Inconsequenz des bisher con‐ sequent gehandelten Ministeriums wegen nicht glauben kann - wirklich ein‐ träffe, dann fürchtete ich eine totale Umkehrung der Welt« (Kuhn 1977: I, 131). Es scheint, als wäre niemand in der Lage gewesen, dem Gravitationsfeld dieser »totalen Umkehrung« der Welt respektive Europas zu entfliehen. In diesem Ausnahmezustand wagte auch Cotta, »Bonaparte unter den Buchhändlern« (Fehling 1925: 488), keine souveräne Entscheidung zu treffen, sondern hielt sich allenfalls an seine resignative Maxime: »Hoffen wir das Beste und seyen wir für das Schlimste gefaßt! Diß in der That darf in diesem Augenblick nicht blosser Wahlspruch für mich seyn, sondern Norm meines Handelns« (Kuhn 1977: I, 131). Es ist nicht verwunderlich, dass Kleist, der sich zeit seines Lebens wieder und wieder in einer Krise befand und sich damit abfinden musste, die »Einrich‐ tung der Welt« in seiner Erzählung als »gebrechlich« darstellte (Kleist 9 2001: II , 15 u. 143), in der jede Krise zur Maßnahme und jede Maßnahme wiederum zur Krise führt - ein Teufelskreis, der Kleists literarische Welt prägt. Insbesondere der Fall Kleist zeigt eines: So schwierig die Zeit und somit der Buchmarkt auch waren (vgl. Fischer 2014: 290), so wenig ließen sich die litera‐ rischen Praktiken beschränken. Dies lässt sich wohl auf ein fundamentales Be‐ dürfnis des Menschen zurückführen, nämlich das Bedürfnis zum Erzählen. Man versucht die Situation durch die narrative Praktik zu begreifen, um zuerst einen Begriff und dann eine Orientierung und Konzeption zu bekommen. Ohne diesen ›Standpunkt‹ würde man sich nicht nur in der Verwirrung verlieren, sondern sich vielmehr in der Verwirrung auflösen. Den roten Faden in der Hand zu halten, ist also die Aufgabe und zugleich der Zweck der Geschichtsschreibung, und zwar der Geschichtsschreibung im doppelten Sinne. Es geht zunächst um die Geschichtsschreibung im Sinne der Historie, die sachlichen Bericht mithilfe von (signifikanten) Zahlen und (prominenten) Namen erstattet und somit die historischen Geschehnisse zu rekonstruieren versucht. Aus diesem Versuch entsteht nicht nur eine Rekonstruktion, sondern zugleich auch die Legitimation einer Orientierung stiftenden Konzeption, einer programmierten Macht über die Verwirrung und der Macht per se. Diese Ge‐ schichte dient also vor allem demjenigen, der über die Macht verfügt. Aber alle anderen, die die historischen Geschehnisse erleben, miterleben oder überleben, I-Tsun Wan 50 werden hingegen dieser einen Geschichtsschreibung respektive der Macht un‐ terworfen und geraten in Vergessenheit - wie namenlose Versatzstücke. Au‐ ßerdem leiden Zahlen und Namen nicht, haben deshalb auch kein Mitleid. Zwar vermögen diese Daten etwas dem Anspruch dieser Geschichtsschreibung: »Zur Sache! « entsprechend darzustellen, dies ist jedoch nicht hinreichend, um eine Geschichte mit Blut und Fleisch zu schreiben. Für die leidenden anderen ist die Historie, die sich auf die objektive Zweckmäßigkeit richtet, keine befriedigende. Man muss in der Geschichte auch schreien, weinen, heulen, lachen, sich totla‐ chen und weglachen können. Man braucht also eine andere Geschichtsschreibung, die die historischen Ge‐ schehnisse auf intuitive Weise umgekehrt als Versatzstück benutzt, damit man in diesem Spiel der Macht auch eine autonome Rolle übernehmen kann / darf und nach der Ohnmacht wieder zu sich selbst findet. Es ist die aus der Historie ausdifferenzierte Historia, die die historischen Geschehnisse allein der subjek‐ tiven Zweckmäßigkeit gemäß behandelt und die Phantasie zulässt, um die Leer‐ stellen zwischen den Zeilen und den Zahlen und den Namen mit Blut und Fleisch zu füllen. Nicht (nur), dass die Historia in Anlehnung an die Historie ihre Legi‐ timation und notwendige Authentizität gewinnt, sondern (auch) dass die His‐ toria der Historie Leben einhaucht: Sie beschwört die leidenden, vergessenen Seelen herauf und bietet eine andere, menschlichere Konzeption, die das Leiden und das Leben erkennt und anerkennt. Sie eröffnet einen utopischen Raum, einen Nicht-Ort an dem Ort, damit das menschliche Leben mehr ist als bloß ein Name und ein paar Zahlen auf dem Grabstein, nämlich eine Erzählung mit einem mit Leben bestückten Inhalt. Indem diese Geschichtsschreibung nicht nur das Leben erzählt, sondern auch zugleich das Leben erzählend erschafft, ist sie im Wesentlichen eine Geschichts‐ schreibung a posteriori und zugleich eine a priori. Um uns der Worte Friedrich Schlegels zu bedienen: »Sie [die Transzendentalpoesie] beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider« (Schlegel 1967: 204). Kraft ihrer Duplizität vermag sie, gegebene Phänomene aufzulösen und feste Gesetze aufzuheben. Sie enthält eine Transzendentalität, die die sinnlichen Phänomene dekonstruiert, und führt somit zur Kern-Struktur der Geschichte und führt die gegebene Geschichte bzw. die Gegebenheit zu ihrem Ur-Keim bzw. Urknall zurück. In diesem Augenblick eines erneuten Entstehens (Status Nas‐ cendi) kann / darf man etwas beliebig in die Geschichte geben. Aus dem hetero‐ nomen Geschöpf wird also ein autonomer Schöpfer. Ein literarisches Werk ist damit jeweils eine (Wieder-)Genesis, die die Geschichte erneut codiert. Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise 51 Sofern ein literarisches Werk transzendental ist, vermag es die Krise zu über‐ winden. Denn ein Werk als solches besitzt die Kraft, mit der Krise zu spielen. Die gravierende Krise zeichnet sich dadurch aus, dass man, steckt man in ihr, keinen Ausweg finden kann und stets von ihr zerdrückt, gepresst und zermalmt wird - eine Sumpfsituation. Man wird zum Spielball der Krise. Indem man sich nun durch die Literatur über diese gravierende Krise erhebt und sich damit geistig außerhalb ihrer Gravitation befindet, ist man umgekehrt in der erhabenen Lage, mit ihr und dem leidenden Ich in ihr zu spielen. Dieses transzendentale Spiel ist also antigravitativ oder, wie Nietzsche es nennt, dionysisch: Es ist »ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins ge‐ worden ist« (Nietzsche 1999: 64). Hierdurch wird die subjektive Zweckmäßig‐ keit gleichsam anerkannt und mit einer gleichsam allgemeinen Gültigkeit ver‐ sehen. Hierdurch erhalten die Leiden Mitleid und man bleibt standhaft in der zerstörenden Krise. Es ist allerdings gleichgültig, ob es ein Lust-Spiel oder ein Trauer-Spiel ist, denn die Hauptsache ist, dass man in dem Spiel bzw. in dem Augenblick des Spiels seine Autonomie zurückgewinnt und sich von der Gege‐ benheit befreit. Eben dies ist es, was Novalis meint, wenn er schreibt: »Das Leben soll kein uns gegebener [! ], sondern ein von uns gemachter Roman sein« (No‐ valis 1960ff: I, 563). Um es salopp zu sagen, er macht sich Luft - durch die Anti-Kraft der Literatur. Literatur und Literaturwissenschaft Der transzendentalen Literatur wohnt die Religiosität inne, weil es um das Transzendieren und die Erlösung geht. Und der Gott heißt nicht unbedingt Di‐ onysus. In der spielerischen Anbetung der Poesie wird die Tagesordnung in das Chaos des Status Nascendi zurückversetzt und die alltägliche Logik wird ent‐ blößt und bleibt dahingestellt. Hieraus entsteht eine neue Ordnung, eine neue Mythologie wie ein neues Jerusalem, die zugleich eine Heimkehr bedeutet. Denn es sind »Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann« (Schlegel 1967: 370). Im Gegensatz dazu hat die neue Mythologie Vorzug: »Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht« (Schlegel 1967: 318). Und dieser Prozess beschränkt sich in der Tat nicht nur auf die Romantik. Denn auch im Programm des Realismus steht z. B. die sogenannte »Verklärung« der Wirk‐ lichkeit (vgl. Plumpe 1996: 50-57). Obwohl sich das Programm der deutschen I-Tsun Wan 52 Romantik von dem des deutschen Realismus unterscheidet - ohne Frage -, lässt sich doch auch ein gemeinsamer Nenner finden: Eine abklärende Potenzierung der Welt. Somit eröffnet sich ein neuer Horizont, von dem her etwas Neues, etwas Ganzes scheint, das (noch) nicht von der venunftzentrischen Kultur kas‐ triert ist. Und dieses Neue, dieses Ganze ist doch das Ursprüngliche. Hierdurch ist die Natur von ihrer Impotenz genesen. Denn »Poesie ist«, so Novalis, »die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt« (Novalis 1960ff: I, 535). Wenn man die Potenz und die Potenzierung durch ihren etymologischen Sinn miteinander verbindet, so liegt hierin auch der Kern des Appells von Novalis: »Die Welt muß roman‐ tisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung« (Novalis 1960 ff.: I, 545). Die Lite‐ ratur ist also ein Analogon zu dem Schamanismus im weiten Sinne oder dem Urchristen. Oder die transzendentale Literatur ist vielmehr schon eine neue Re‐ ligion. Friedrich Schlegel fasst die Religiosität der Literatur folgendermaßen zu‐ sammen: »Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Pro‐ phet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch sein, und hat auch Anlage, es zu werden« (Schlegel 1967: 207). Dementsprechend soll die Literaturwissen‐ schaft die Rolle des gläubigen Apostels übernehmen, der die Idee der Literatur ausbreitet, als ob man auf den kategorischen Imperativ hörte: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur« (Markus 16: 15). Dabei soll die Literaturwissenschaft kein naiver Gläubiger sein, weil die transzendentale Li‐ teratur auch keine naive Literatur ist, sondern sie soll den Schatz der Literatur auf tiefgründige Weise zutage fördern, so wie die Literatur die neue Mythologie »aus der tiefsten Tiefe des Geistes« (Schlegel 1967: 312) herausbildet. Also ver‐ hält sich die Literaturwissenschaft zu ihrem Gegenstand Literatur wie die Lite‐ ratur zur gegebenen Geschichte. Die Kombination der Literatur und der Wissenschaft könnte auf Schwierig‐ keiten stoßen, wenn die Wissenschaft die Literatur tot schreibt oder wenn die Literatur die Wissenschaft scheinbar degradiert. Auf diesen prekären Sachver‐ halt geht Roland Barthes ein. Er spricht weiterhin für die Literaturwissenschaft, indem er ihr ein höheres Ziel setzt: »Schreiben allein hat die Chance, die Un‐ aufrichtigkeit aufzuheben, die jeder Sprache, die sich ihrer nicht bewußt ist, anhaftet« (Barthes 4 2015: 14). Die Literaturwissenschaft soll als sekundäre trans‐ zendentale Literatur dienen, die die primäre potenzierte Welt nochmals poten‐ ziert und somit eine Dimension der tiefen Struktur hervorhebt. Und die Poten‐ zierung bedeutet manchmal auch eine Zerstörung, wie Barthes deutlich macht: Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise 53 [D]as Schreiben will ein totaler Code mitsamt seinen eigenen Zerstörungskräften sein. Daraus folgt, daß nur das Schreiben das von der Wissenschaft aufgezwungene theo‐ logische Bild zertrümmern, den von der mißbräuchlichen »Wahrheit« der Inhalte und Argumentationen verbreiteten väterlichen Schrecken zurückweisen und der For‐ schung den vollständigen Raum der Sprache erschließen kann mitsamt seinen Sub‐ versionen der Logik, der Durchmischung seiner Codes, mit seinen Verlagerungen, seinen Dialogen, seinen Parodien (Barthes 4 2015: 15). Ja, es gibt Trivialliteraturwissenschaft, wie es Trivialliteratur gibt, indem diese beiden sich bloß auf die sinnlichen Phänomene oder die buchmarktlichen bzw. akademischen Phänomene richten, ohne die Struktur zu berücksichtigen, und sich somit von der Wahrheit immer weiter entfernen, wie es Tzvetan Todorov in Hinsicht auf die literarischen Praktiken formuliert: »Wer Strukturen auf der Ebene der beobachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller si‐ cheren Erkenntnis ab« (Todorov 1972: 20). Die wahre Literaturwissenschaft soll dagegen als Apostelbrief dienen, der nicht nur die Wahrheit in den Fokus rückt, sondern sich ihr jeweils auf eigene Weise annähert oder zumindest anzunähern versucht. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Literatur kann sich die Literaturwissenschaft in der Krise auch ihre graziöse Beweglichkeit gegen die Gravitation der Krise erhalten. Deshalb ist sie ebenso in der Lage, einen höheren, makroskopischen Standpunkt zu bieten, so wie die Literatur auf einem erhabenen Standpunkt steht. Es gibt allerdings einen Unterschied: Während die Literatur sich mit der subjektiven Zweckmäßigkeit begnügt und vergnügt, muss die Literaturwissen‐ schaft nicht nur der subjektiven, sondern auch der objektiven Zweckmäßigkeit entsprechen, weil sie, wie die apollinische Kraft bei Nietzsche, angesichts ihrer vermittelnden Rolle ein Bild, einen Begriff, eine Lehre oder eine sympathische Erregung aus der scheinbar chaotischen Literatur liefern muss: So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen ent‐ haltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethi‐ schen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle (Nietzsche 1999: 137). I-Tsun Wan 54 Die Literaturwissenschaft ist demnach eine progressive apollinische Wissen‐ schaft, die in der chaotischen Literaturwelt eine belehrende Orientierung bietet, damit man sich auch diesseits, nämlich jenseits der Literatur, mit sich selbst als Individuum nicht nur abfinden, sondern vielmehr begnügen kann und auf das nächste dionysische Erlebnis wartet - eine Erbauung durch Ventilfunktion. So ersetzt die Literaturwissenschaft die ausweglose Dialektik im ewigen Kampf zwischen der subjektiven Zweckmäßigkeit der Phantasie und der objektiven Zweckmäßigkeit der Vernunft durch eine progressive Dialektik zwischen der Historie und der Historia resp. zwischen der Weltgeschichte und der Heilsge‐ schichte. Literatur(-Wissenschaft) und Krise Die Literaturwissenschaft gerät selbst in eine Krise, wenn sie es nicht vermag, mit der krisenhaften Welt umzugehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie ihre Grazie der Seele (vis motrix) verliert. Das heißt, dass die Literaturwissen‐ schaft über eigene Autonomie verfügen soll, die ihr selbst dient und ihr selbst eine antigravitative Beweglichkeit innerhalb der gravitativen Weltordnung ge‐ währt. Anders gesagt: Sie muss frei sein - vor allem von Interessen. Sie ist ein ästhetischer Ausspruch, ein geistreicher Witz, ein »intellektuelles vermögen« ( DWB , Bd. 30, Sp. 862), welches eben dem »wesen der dichtung« (Sp. 863) gleichkommt. Das ist die Voraussetzung für jene Literaturwissenschaft, die die Transzendentalität der Literatur mitbekommt. Daher entspricht sie nicht zuletzt dem Said’schen Postulat des Intellektuellen: »exile and marginal, as amateur, and as the author of a language that tries to speak the truth to power« (Said 1994: xvi). Wenn man die Literaturwissenschaft zur Anwendung bringt, um einerseits Geld aus ihr zu generieren und um sie andererseits durch Geld zu retten, läuft man Gefahr, sie ihrer Autonomie zu berauben. Hierfür ist ein Zitat aus Kleists berühmtem Aufsatz aufschlussreich: »Sehen Sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht; die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen« (Kleist 9 2001: II , 342). Entscheidet sich die Literaturwissenschaft für ein äußeres Ziel, dann ent-zweit sie sich mit sich selbst, zerreißt sich und verliert ihren inneren Schwerpunkt. »Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Matthäus 6: 24). Möge Gott verhüten, dass die Literaturwissenschaft dem Geld zum Opfer fällt (sondern umgekehrt). Eine angewandte Literaturwissenschaft, die sich das An‐ Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise 55 gewandt-Sein zum Ziel setzt, ist eine herumdilettierende Wissenschaft, die sich selbst zerstört. Was Kleist in Hinsicht auf die Naturwissenschaften sagt, gilt hier ebenfalls: »Ohne Wissenschaft zittern wir vor jeder Lufterscheinung, unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten - und so‐ bald wir in das Reich des Wissens treten, sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern u. zu schützen, gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan« (Kleist 9 2001: II , 682). Unter dem Joch der ökonomischen Nutzbarkeit darf man keine transzendentale, kritische Literaturwissenschaft schreiben, die die Sinnlichkeit in Zweifel zieht, und man bedarf auch keiner. Denn es gibt schon genug utilitaristische Gesinnungen im Umgang mit Krisen, indem jede sich praktischerweise auf eine Lösung richtet. Es ist aber fast unwiderlegbar, dass diese diesseitigen Lösungen über kurz oder lang zu einer neuen Krise führen könnten. Was soll die Literaturwissenschaft in der Krise leisten? Die Literatur bietet eine Zuflucht, in der sich wohl nichts auflöst, doch jeder sich erlöst. Sie bietet einen Witz, eine Anekdote, ein Fastnachtsspiel im größeren Sinne, ein Sanato‐ rium im Zauberberg. Anders gesagt: Sie eröffnet einen Vakuumraum in der aus‐ weglosen Realität, damit man sich erholen oder vielmehr rehabilitieren kann. Dementsprechend ist die Literaturwissenschaft ein Peter Pan, The Boy Who Wouldn’t Grow Up, der den Leser vom Alltag zum literarischen Neverland und zugleich durch Abenteuer zu sich selbst führt: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmel‐ reich kommen« (Matthäus 18: 3). Aus der irdischen Perspektive seien wir Au‐ ßenseiter, Sonderling, Zyniker oder weltfremde Spinner - seien es im ursprüng‐ lichen Sinne oder auch nicht - und auf das Peter-Pan-Syndrom könne auch hingewiesen sein. Aber gerade die Literaturwissenschaft, die so exzentrisch ist, dient der Welt als Instanz der Reflexion - vor allem für denjenigen, der seiner zentralistischen Überzeugung zuliebe keine Gefahr der Dissoziation verträgt und deshalb keinen Gegenstand zur Reflexion hat. So formuliert Bernhard Wal‐ denfels in Hinsicht auf das platonische Höhlengleichnis: »Die Wende kommt nicht dadurch zustande, daß Sehende den Schauplatz wechseln, so daß sie Hö‐ heres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, daß der Schau‐ platz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden« (Waldenfels 2017: 85). Die Literaturwissenschaft kann auf den Wandel des Schauplatzes auswirken, indem sie dem Sehenden die Literatur als Schauspiel vermittelt, einen Gegen‐ stand, sein verlorenes Ebenbild, obwohl das Ebenbild keineswegs auf naive Weise darzustellen ist. »Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht« (Matthäus 13: 13). Der Satz wurde uns gegeben und wir I-Tsun Wan 56 geben ihn weiter. Literaturwissenschaftler*innen sollen sich als Adressaten des Briefes von Novalis an Julius verstehen: »Wenn irgend jemand zum Apostel in unserer Zeit sich schickt, und geboren ist, so bist du es. Du wirst der Paulus der neuen Religion seyn, die überall anbricht - einer der Erstlinge des neuen Zeit‐ alters - des Religiösen« (Novalis 1960ff: III , 493). Gegen die globalen Krisenzeiten vermag die Literaturwissenschaft wohl nicht unmittelbar zu wirken. Den globalen Krisenzeiten gegenüber kann sie allerdings einen universalen konstanten Standpunkt bieten, indem sie Phänomene durch‐ leuchtet und bis zu deren Struktur gelangt. Die Idee, die nur mittelbar - z. B. durch Gleichnisse - zu erkennen ist, bringt sie mithilfe ihres transzendentalen ›Schau-Spiels‹ zur intellektuellen Anschauung und lässt ihren Leser bzw. Zu‐ schauer selbst zur Erkenntnis kommen. Aus dieser literarischen Offenbarung kann ein ***-Mittel gegen die Krisen entstehen, das womöglich Anwendung findet. Was aber das *** ist, geht die Literaturwissenschaft bereits nichts mehr an. Dies klingt resignativ. Es ist allerdings eine progressiv-resignative Verfah‐ rensweise. Denn jedes Sternchen ist wiederum ein Phänomen. Und trotzdem schimmert die Idee im Finstern unverändert, solange wir schreiben. Literatur Barthes, Roland ( 4 2015). Das Rauschen der Sprache. Übers. Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Fehling, Maria (Hrsg.) (1925). Briefe an Cotta. Das Zeitalter Goethes und Napoleons 1794-1815. Stuttgart, Berlin: Cotta. Fischer, Bernhard (2014). Johann Friedrich Cotta. Verleger - Entrepreneur - Politiker. Göt‐ tingen: Wallenstein. Kleist, Heinrich von ( 9 2001). Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Kuhn, Dorothea (Hrsg.) (1977). Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797-1832. 3 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta. Nietzsche, Friedrich (1999). Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Kriti‐ sche Studienausgabe, Bd. 1. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Novalis (1960 ff.). Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Aus‐ gabe. Hrsg. v. Richard Samuel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Plumpe, Gerhard (1996). ›Einleitung‹, in: Gerhard Plumpe (Hrsg.). Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6). München u. Wien: Carl Hanser. Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden Krise 57 Said, Edward W. (1996). Representations of the Intellectual. New York: Vintage Books. Schlegel, Friedrich (1979). Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 22 Bde. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn, München u. Wien: Ferdinand Schöningh. Todorov, Tzvetan (1972). Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten, Senta Metz u. Caroline Neubaur. München: Ullstein. Waldenfels, Bernhard (2017). Platon. Zwischen Logos und Pathos. Berlin: Suhrkamp. I-Tsun Wan 58 4 Literaturgeschichte und Konstruktivismus Die Wahrheiten der Postmoderne Christoph Reinfandt Wer ist schuld am weltweiten Aufstieg der Rechtspopulisten und dem mit ihm offenkundig werdenden ›postfaktischen Zeitalter‹? Etwas differenzierter sollte man wahrscheinlich fragen, was denn die vermutlich durchaus vielfältigen Ur‐ sachen für diese Entwicklung sind, doch im massenmedialen Betrieb des Feuil‐ letons und des Kulturjournalismus gibt es bereits pointierte Antworten: Die Schuldigen sind allesamt auf der linken Seite des politischen Spektrums zu ver‐ orten. »Die Hippies sind schuld«, konstatiert etwa die Überschrift von Thomas Assheuers (2017) letztlich doch abgewogeneren Überlegungen im Anschluss an den amerikanischen Kulturwissenschaftler Fred Turner (2006 und 2016). Ass‐ heuer bezieht immerhin noch Rahmenbedingungen wie etwa die fortschrei‐ tende Digitalisierung mit ein und verweist auf verkomplizierende Faktoren wie die Spaltung der Linken. Wesentlich einfacher macht es sich hier der Züricher Philosoph Michael Hampe (2016). Hampe erklärt, »pubertäre Theoretiker« der »kulturwissenschaftlichen Linken« (» KWL «) hätten mit ihrem dekonstruktiven Insistieren auf der medialen, diskursiven und damit letztlich sozialen und poli‐ tischen Konstruiertheit aller Dinge den Aufstieg der »lügenden grobianischen Rechten« (» LGR «) herbeigeführt. In der Beliebigkeit der Postmoderne sei nun‐ mehr die Gültigkeit objektiver Fakten derart unterminiert, dass die Populisten freie Bahn hätten. Obwohl der Befund eines gegenwärtig geschwächten Evidenz- und Refe‐ renzprinzips für Aussagen über die Wirklichkeit natürlich nicht von der Hand zu weisen ist, greift diese Schuldzuweisung doch zu kurz und ist damit ebenso populistisch wie der kritisierte postfaktische Diskurs. Zum einen sollte man die Wirkmächtigkeit geistes- und kulturwissenschaftlicher Seminare und Publika‐ tionen nicht überschätzen, wie etwa Bernhard Pörksen in seiner Replik (2017) hervorhebt. Zum anderen haben sich die pauschal als ›pubertär‹ verunglimpften Theoretiker ihre durchaus komplexen Theorien nicht aus einer Laune heraus ausgedacht, sondern, das sollte man ihnen zugestehen, in Fortsetzung einer langen und durchaus ehrwürdigen Tradition skeptischen und kritischen Nach‐ denkens und in Reaktion auf eine sich ausdifferenzierende, immer komplexer werdende moderne Wirklichkeit. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Tradition und ihre jüngeren Erscheinungsformen in eine Per‐ spektive ihrer medialen und technologischen Bedingtheit einzurücken, so dass klar wird, dass schlichte Schuldzuweisungen à la Hampe nicht zielführend sein können. Dabei wird es auch darum gehen, deutlich zu machen, was denn die Literaturwissenschaften zur Klärung dieses Sachverhalts beitragen können. Wahrheit und Wahrheiten Der des linken Pubertierens völlig unverdächtige Soziologe und Systemtheore‐ tiker Niklas Luhmann wies schon 1990 darauf hin, dass die »Umstellung des Wissenschaftssystems von einem ontologischen auf ein konstruktivisti‐ sches […] Selbstverständnis, wie sie in den zweihundert Jahren seit Kant zu beobachten ist, […] in sehr tiefgreifender Weise das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft [berührt]« (627). Und auch die weiter ausgreifenden, die west‐ liche Tradition seit der Antike einbeziehenden Überlegungen des ebenfalls der postmodernen Schaumschlägerei unverdächtigen Physikers, theoretischen Bi‐ ologen und Naturphilosophen Bernd-Olaf Küppers machen deutlich, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist: Schließlich hat doch »die Diskussion um das Wahrheitsproblem […] im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue Varianten des Wahrheitsbegriffs hervorgebracht […]: [d]ie ontologische, die logische, die empirische, die kontingente oder die pragmatische Wahrheit, die zugleich die fortschreitende Differenzierung unseres Weltverständnisses widerspiegeln.« (2008: 177) Wahrheit, so zeigt sich hier, war zumindest im westlichen Kulturkreis schon immer Verhandlungssache. Die Kriterien für ihre Akzeptanz haben sich im Laufe der Jahrhunderte langsam aber unaufhaltsam von ›absolut‹ Richtung ›hypothetisch‹ bewegt. Selbst im Rahmen der auf Aristoteles zurückgehenden und von Thomas von Aquin wiederaufgenommenen Korrespondenztheorien der Wahrheit wurde zunehmend nicht nur die abbildende, sondern auch die sprachlich-symbolische Darstellungsfunktion anerkannt. Dies geschah zu‐ nächst noch abgefedert in Annahmen der Strukturgleichheit von (sprachlicher) Darstellung und Welt, dann aber mit zunehmender Akzentverschiebung hin zu Kohärenztheorien der Wahrheit, deren Angemessenheit sich in der Wider‐ spruchsfreiheit auf der Ebene der (sprachlichen) Repräsentation insgesamt er‐ weist und dann letztlich nur noch im Handeln an der Wirklichkeit selbst be‐ währen kann. Erfolgreiche Bewährung wiederum muss auch mitgeteilt werden, Christoph Reinfandt 60 und so verschiebt sich der Akzent erneut, hin zu Konsens- und Diskurstheorien einer Wahrheit, die sich intersubjektiv in kommunikativen Verhandlungsproz‐ essen bewähren muss. Diese allerdings, dies sei betont, werden stets dadurch destabilisiert, dass der modernen Wissenschaft mit ihrer auf die Produktion neuen Wissens und die Falsifikation etablierten Wissens ausgerichteten Praxis immer auch eine Dissenstheorie der Wahrheit eingeschrieben ist. Die volle Komplexität dieses am Ende eines langen Evolutionsprozesses ste‐ henden Zustands ist erst in jüngeren Jahren erfasst worden. Sie wird häufig unter dem bei Luhmann genannten Stichwort des Konstruktivismus verhandelt, der ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Im rückblickend von Ri‐ chard Rorty (1967) für den Anfang des 20. Jahrhunderts angesetzten Linguistic Turn der Philosophie geht es im Kern darum, dass (und wie) die Sprache das Denken formt, und diese Grundfrage ist seither auch in anderen Disziplinen intensiv weiterverfolgt worden (vgl. Boroditzki 2012). Da Sprache zudem nie‐ mals pur auftritt, sondern stets an gesellschaftliche Praktiken und verfügbare Medientechnologien gebunden ist, schließen hier im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere Cultural Turns an und verheißen Neuorientierung in den Kul‐ turwissenschaften (Bachmann-Medick 2006). Zuvor schon war auch in der So‐ ziologie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt worden (Berger und Luckmann 1966). Erkenntnistheoretisch auf den Punkt gebracht werden die mit dieser Entwicklung verbundenen Einsichten von den sogenannten ›radikalen Konstruktivisten‹ wie etwa Ernst von Glasersfeld (vgl. etwa 1996). Im Kern geht es dabei darum, »dass vom Beobachter und seinen Methoden des Beobachtens und deren Wirkung auf den beobachteten Gegen‐ stand nicht (! ) abstrahiert werden darf, wenn Aussagen über die Welt und deren Beschaffenheit gemacht werden« (Simon 2017). Da sich die Angemessenheit derartiger Aussagen wie oben erwähnt nur noch im Handeln, d. h. im Umgang mit der Wirklichkeit bewähren kann, verschiebt sich das Kriterium geglückter Erkenntnis »[v]on der Wahrheit zur Viabilität« (Köck 2011). Man kann somit, fasst Fritz B. Simon (2017) zusammen, »aus konstruktivistischer Sicht zwar nicht sagen, welche Aussagen eine ewige Wahrheit beschreiben, aber man kann durchaus sagen, was Quatsch und unwahr ist.« Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass es Aussagen über die Wirk‐ lichkeit gibt, deren Angemessenheit sich eben nicht (oder zumindest nicht so‐ fort) im Handeln bewähren kann: Wie sollte sich Donald Trumps Behauptung, seine Inaugurationsfeier sei die von der Zuschauerzahl her größte der ameri‐ kanischen Geschichte gewesen, im Handeln bewähren? Zwar scheint seine Be‐ hauptung angesichts des existierenden Bildmaterials offensichtlich falsch, aber letztlich handelt es sich ja nur um Bildmaterial, das ein Ereignis nie vollständig Literaturgeschichte und Konstruktivismus 61 und in allen seinen Dimensionen erfassen kann. Eine unmittelbare Handlungs‐ option, in der sich die auf diesem Bildmaterial beruhende gegenteilige Behaup‐ tung an der Wirklichkeit bewähren kann, steht ja leider ebenfalls nicht zur Ver‐ fügung. Simon (2017) verweist nun darauf, dass aus konstruktivistischer Sicht die Möglichkeit der Objektvierung darin [besteht], dass unterschiedliche Beobachter sich über die Fokussierung der Aufmerksamkeit (= Se‐ lektion der Phänomene), die Selektion der Beobachtungsmethode, die Kriterien der Bewertung (z. B. Messmethoden) und die Selektion der Erklärungsansätze (= Theo‐ riearchitektur) für die beobachteten Phänomene einigen - aber während dies innerhalb eines normativ-prozedural gerahmten Kommu‐ nikationszusammenhangs wie der modernen Wissenschaft gelingen mag, fehlt im durch Digitalisierung zunehmend beschleunigten und dezentrierten öffent‐ lichen Diskurs unserer Zeit doch genau dieser Rahmen. Auch andere regulative Rahmungen institutioneller oder kultureller Art sind nach Jahrhunderten der Ausdifferenzierung in Modernisierungsprozessen erodiert. Zu denken wäre hier einerseits insbesondere an die Gatekeeping-Funktionen der Welt des Buchdrucks und andererseits an die normative Dimension von Gefühlsstrukturen (vgl. Wil‐ liams 1977), wie sie sich etwa in Koordinaten von Moral, Scham und Anstand manifestieren. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass es sich bei dem Angriff auf die ›pubertären linken Konstruktivisten‹ der ›Postmoderne‹, wie er am pointier‐ testen in dem bei konservativ-rechten Stimmen populären Manifest des Neuen Realismus des italienischen Philosophen Maurizio Ferrari (2014) vorgetragen wird, um ein »strategische[s] misreading« handelt, das »eine Umkehrung von Vorher und Nachher, eine Vertauschung von Ursache und Wirkung« vornimmt und so die ›Postmoderne‹ als linken »Pappkamerad« aufbaut (Sasse und Zanetti 2017). In der Tat gibt es gute Gründe dafür, die Rede von der ›Postmoderne‹ angesichts des Fortbestehens vieler seit dem 18. Jahrhundert etablierter Struk‐ turen eher als typisch modern(istisch)e Semantik zu betrachten, der es um Dis‐ tinktionsgewinn durch die Behauptung von Innovation und Originalität geht. Akademisch präziser hätte man wohl besser von ›Spätmoderne‹ sprechen sollen, deren Kennzeichen wiederum in Anlehnung an die englischsprachige Diskussion als ›postmodernistisch‹ oder, wie von Hans Robert Jauss (1983) weit‐ gehend ungehört vorgeschlagen, als ›postistisch‹ zu bezeichnen wären. Erst in jüngster Zeit mehren sich demgegenüber die Anzeichen dafür, und hier ist der spezifische Charakter des jüngsten Aufstiegs der Populisten in der Tat signifi‐ kant, dass sich die seit dem 18. Jahrhundert etablierten Strukturen der modernen Gesellschaft und die damit verbundenen Koordinaten der modernen Kultur Christoph Reinfandt 62 endgültig in etwas transformieren, das dann tatsächlich als ›Postmoderne‹ be‐ zeichnet werden könnte (vgl. dazu Beck 2016). Literaturgeschichte als Kulturgeschichte Was kann nun die Literaturwissenschaft zur weiteren Klärung und Plausibili‐ sierung der bisher skizzierten Sicht der Dinge beitragen? Der entscheidende Schritt hierzu ist ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Literaturge‐ schichte, das insbesondere mediengeschichtlichen Aspekten besondere Auf‐ merksamkeit widmet. Die moderne Literatur, so zeigt sich aus diesem Blick‐ winkel, konnte ihre tragende Funktion bei der Herausbildung eines modernen bürgerlichen Subjekts mit universalen Ansprüchen nur mit Hilfe der sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden neuen Medientechnologie des Buchdrucks erfüllen. Im 18. Jahrhundert war die moderne Gesellschaft dann vor dem Hintergrund sich ausbreitender Schreib- und Lesefähigkeit in der Be‐ völkerung derart mit Druckerzeugnissen gesättigt, dass es Sinn macht, die mo‐ dernen Leitdiskurse Aufklärung und Romantik als ›events in the history of me‐ diation‹ aufzufassen (Siskin und Warner 2010; Siskin 2016). Der Buchdruck ermöglicht dabei erstmals in großer Zahl Kommunikationsprozesse, in denen durch die abstrakte Präsenz von Wörtern auf dem Papier ohne die kontrollie‐ rende Anwesenheit eines Senders dem Autor die Autorität über die Bedeutung entzogen wird. Diese liegt nunmehr scheinbar im Text selbst, geht aber de facto auf den Leser über, wie etwa Thomas Docherty (1987) in seinen Überlegungen zu ›moderner Autorität‹ eindringlich herausarbeitet. Sowohl die Aufklärung als auch die Romantik können vor diesem Hintergrund als Diskursformationen zur Kompensation dieses kommunikativen Kontrollverlusts gelesen werden: Auf‐ klärerische Kommunikation hält am Ideal der Transparenz des Mediums fest, um den Ursprung und Maßstab der Bedeutung eines Textes weiterhin in der Referenz verorten zu können. Romantische Kommunikation hingegen erkennt die konstitutiven Mittlerinstanzen der subjektiven Erfahrung und der Medialität (des Schreibens, des Buchdrucks) an und verortet die Bedeutung somit im Sub‐ jekt und / oder im Text. Während Erstere sich beispielsweise im sich ausdiffe‐ renzierenden modernen Wissenschaftssystem um eine weitgehende Ausblen‐ dung des Faktors Subjektivität bemüht, um zu gültigen Aussagen über die Welt zu kommen, findet Letztere ihren kulturellen Ort im modernen Literatursystem, in dem sich insbesondere die Lyrik in und nach der Romantik durch ein hohes Maß an Selbstreferentialität auszeichnet, die sich vom ›Sprecher‹-Subjekt zum ›Schreiber‹-Subjekt und schließlich auf den Akt des Schreibens und die Bedin‐ gungen des Schreibens ausweitet. Der Roman hingegen bleibt im lange vor‐ Literaturgeschichte und Konstruktivismus 63 herrschenden realistischen Paradigma der scheinbar transparenten und primär visuell orientierten Simulation von mündlichen Erzählakten verhaftet, deren unhintergehbare Subjektivität zudem hinter den Plausibilisierungsstrategien des Erzählvorgangs verschwindet. Mit der Wende hin zum nunmehr als litera‐ risch im emphatischen Sinne anerkannten Roman des Modernismus allerdings setzt sich auch hier eine erhöhte Selbstreferentialität durch, die sich sowohl auf die Dimension der Subjektivität (Bewusstseinsstrom, innerer Monolog) als auch auf die Vermittlungsformen des Narrativen selbst bezieht. Gerade der Roman stand dabei von Beginn an in enger Beziehung zur mo‐ dernen Wahrheitsproblematik. Für eine Gattung, die sich der Darstellung einer fiktionalen Version der zeitgenössischen Wirklichkeit verschrieben hat, stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen Lüge und Konstruktion mit be‐ sonderer Heftigkeit, bieten doch die neuartigen gedruckten Erzählungen, wie Elena Esposito herausarbeitet, eine »fiktive Realität, die nicht mit der realen Realität konkurriert, sondern eine alternative Beschreibung darstellt, die die verfügbare Komplexität weiter erhöht« (2007: 31). Die hier identifizierte, auf »Realitätsverdoppelung« (31) basierende neue kulturelle Funktion teilt der Roman mit der zur gleichen Zeit entstehenden Wahrscheinlichkeitsrechnung: Beide bieten »jene Orientierungsmöglichkeiten,« die nach allgemeinem Emp‐ finden der damaligen Zeit »die ›reale Realität‹ nicht [mehr] zu bieten hat« (55), beide »stellen […] eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf eine Weise durchschaubar machen, die die reale Welt nie zulassen würde« (57). Esposito erblickt in Roman und Wahrscheinlichkeits‐ rechnung programmatische kulturelle Praktiken, die »die Modernität der Kon‐ struktion« in einer »Gleichzeitigkeit von Kontingenz und […] Abwesenheit von Willkür« verankert (68). Der Roman bindet dabei kontingente, vom Leser im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung wahrgenommene Erzähler- und Fi‐ gurenperspektiven in eine sich stringent entfaltende Weltkonstruktion derart ein, dass »eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die keineswegs notwendig ist, die sich aber dennoch nicht willkürlich entwickelt.« (70) Die Wahrscheinlich‐ keitsrechnung hingegen sieht vom Visuell-Lebensweltlichen ab und transfor‐ miert stattdessen kontingente Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit in eine abstrakt-mathematische Projektion der Zukunft, die den Eindruck er‐ weckt, sie könne »reale Realitäten integrieren und […] in die komplexe und gegliederte Ontologie der modernen Gesellschaft umwandeln.« (70) Damit sind zwei verschiedene Formen der Fiktion markiert, die sich einerseits auf die Leitdiskurse Aufklärung (Wahrscheinlichkeitsrechnung) und Romantik (Roman) beziehen lassen und andererseits bis heute auf unterschiedliche Weise die Funktion der Realitätsverdoppelung erfüllen. Esposito verweist hier auf den Christoph Reinfandt 64 paradoxe[n] Zustand einer Gesellschaft, die die Realität der Fiktion bestreitet, die aber zugleich Umfragen und Statistiken die zweifelhafte Rolle eines ›Realitätsersatzes‹ zu‐ weist. […] Während im Bereich der fiction das Bewußtsein für die Unwirklichkeit der fiktiven Realität […] weit verbreitet ist, scheint dieses Bewußtsein in bezug auf die Wahrscheinlichkeit viel weniger stark ausgeprägt zu sein. (70-71) Auf der einen Seite also steht eine »eigenartige quantitative Blendung« (72), die als »funktionierende Simplifikation« bis heute Empirie und damit die exklusive Berechtigung zu Aussagen über die Wirklichkeit für sich beansprucht (73). Auf der anderen Seite steht ein erfahrungsgesättigter Weltzugang qualitativer oder hermeneutischer Art, dem aufgrund seiner subjektiven Anteile Objektivität ab‐ gesprochen wird, obwohl ihm doch im Gegensatz zur Formalisierung quantita‐ tiver Studien ein größeres Potential zur Berücksichtigung von »Wechselwir‐ kungen, Rückbezüglichkeiten und Kontingenz« zur Verfügung steht (73). Die eingangs beschriebene Kritik am Konstruktivismus, so zeigt sich hier, beruht darauf, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist.« Dabei werden doch »alle theoretisch anspruchsvollen Va‐ rianten des Konstruktivismus« (71) angesichts der Komplexität der Welt nicht müde darauf hinzuweisen, dass es nötig wäre, »Kontrollformen zu denken, die auch funktionieren, wenn man nicht die Welt, sondern die Beobachter zum Be‐ zugspunkt macht.« (73) In anderer Worten: Was real ist, ist die Operation der Beobachtung, nicht ihr Inhalt, der immer Re-Präsentation der Wirklichkeit bleibt und niemals zur Re‐ alität selbst in Kontakt steht. Der Roman hat diese Einsicht, nicht zufällig parallel zum Linguistic Turn der Philosophie, im Modernismus in gesteigerte Selbstre‐ ferentialität linguisitischer, narrativer und diskursiver Art umgesetzt, womit sein Akzent sich von Repräsentation auf Performativität verlagerte, ohne dass deshalb die Repräsentation völlig aufgegeben wurde, was ja angesichts der Zei‐ chenhaftigkeit von Sprache auch nur schwer zu erreichen ist. Der Roman erfüllt zudem bis heute seine im 18. Jahrhundert angelegte Funktion einer Überführung von privater individueller Erfahrung in den Bereich der Öffentlichkeit, auch wenn er angesichts der Verlagerung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von der Welt des Buchdrucks in eine Welt der elektronischen und digitalen Medien zunehmend marginalisiert erscheint. Er ist damit das früheste und bis zum jet‐ zigen Zeitpunkt wahrscheinlich komplexeste Medium für den Umgang mit dem, was Fritz B. Simon ›weiche Realitäten‹ nennt, »bei denen die Beobachtung zu‐ mindest das Potential hat, den beobachteten Gegenstand zu verändern«: »Wer gesellschaftliche Verhältnisse […] in einer bestimmten Weise beschreibt, ver‐ ändert sie (zumal diese Beschreibung, wenn sie kommuniziert wird, Element dessen ist, was beschrieben wird)« (Simon 2017; ›harte Realitäten‹ sind demge‐ Literaturgeschichte und Konstruktivismus 65 genüber »Gegenstände […], die sich durch die Tatsache des Beobachtetwerdens wenig beeindrucken lassen«, wie z. B. Sonne und Sterne). Als reale Operationen sind also Konstruktionen insbesondere ›weicher Realitäten‹ »nicht nur selbst real, sondern haben auch reale Auswirkungen, sie sind […] ›performativ‹« (Sasse und Zanetti 2017). Und dasselbe gilt, womöglich in etwas geringerem Ausmaß, auch für Konstruktionen ›harter Realitäten‹, die im Kontext der Na‐ turwissenschaften als ›Wirklichkeitserzählungen‹ kommuniziert werden (vgl. z. B. Harré 1990, Brandt 2009), so dass auch eine großangelegte Geschichte der Objektivität in ihrem letzten Kapitel letztlich eine Akzentverschiebung von der Repräsentation zur Präsentation konstatiert (Daston und Galison 2007: 385) Mittelbare Wahrheiten Mit all dem zeigt sich, dass Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Ge‐ sellschaft als sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d. h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen in Kom‐ bination mit den skizzierten literatur- und kulturgeschichtlichen Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Stichwort von der ›Realitätsverdoppelung‹ (vgl. dazu auch Luhmann 2000: 58-64), das wiederum im Zusammenhang mit dem systemtheoretischen Ver‐ ständnis von ›Sinn‹ zu sehen ist: Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung ver‐ dankt. (Luhmann 1997: 44) Ganz im Sinne der ›Realitätsverdoppelung‹ existiert ›Sinn‹ nun aber in zwei Dimensionen: Obwohl es nicht (immer) notwendig wäre, wird der der Welt im systemtheoretischen Verständnis innewohnende operativ-prozesshafte Sinn von Menschen unablässig mit ›Welt‹ (Repräsentationen, Zeichen, Bildern, Sprache) gefüllt. Für die ›Welt‹ ergibt sich durch die in dieser Dimension gege‐ benen Speicherfunktion bei gleichzeitiger Simulation von Weltreferenz eine Suggestion von Bedeutung, die häufig für wahr im Sinne der Korrespondenz‐ theorien genommen wird, obwohl sie doch bestenfalls wahr im Sinne der Ko‐ härenz-, Konsens- oder Diskurstheorien der Wahrheit ist. Auch über Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung hinaus liegt somit in der modernen Kultur eine Realitätsverdoppelung vor, die es schwer macht, jenseits einer Anerkennung Christoph Reinfandt 66 dieser konstitutiven Differenz zwischen Welt und ›Welt‹ von der Wahrheit zu sprechen. Aus dieser Perspektive gibt es immer mindestens zwei Wahrheiten, nämlich einerseits die operative Sinnhaftigkeit des (evolutionären) Vollzugs der Welt, wie sie sich in den fortlaufenden Systemoperationen auf organischer, psy‐ chischer und sozialer Ebene manifestiert, und andererseits den Reim, den sich Menschen in Form von Sinn (normale Sprachverwendung) und Bedeutung da‐ rauf zu machen vermögen. In jüngerer Zeit scheint zudem die Kluft zwischen operativem Sinn und menschlichem (Be-)Deutungsvermögen größer zu werden, wobei Letzteres ge‐ genüber Ersterem in die Defensive gerät. So nennt etwa Armin Nassehi die beiden Dimensionen in seinem bezeichnenderweise Die letzte Stunde der Wahr‐ heit betitelten Versuch, systemtheoretisch geschultes komplexes Denken in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, »Zwei Welten« und fragt provokativ: »Gibt es analoges Leben in digitalisierten Welten? « (2015: 159) In der Tat lassen sich die spezifischen Varianten der Realitätsverdoppelung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart verfolgen, wobei wiederum der Mediengeschichte eine zent‐ rale Rolle zukommt. Aus der Linie Aufklärung - ›harte Realitäten‹ - Wissen‐ schaft - Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen dann die digitalisierten Welten der Gegenwart hervor, die erahnen lassen, dass die moderne Welt des Buchdrucks und die damit einhergehende Buchkultur nunmehr in der Tat durch eine post‐ moderne Algorithmuskultur (Striphas 2015) abgelöst wird (oder wurde), in der ›die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit‹ (Seyfert und Roberge 2017) dominiert. Die Linie Romantik - ›weiche Realitäten‹ - Literatur - Roman hin‐ gegen bleibt dem analogen Leben verpflichtet, das zunehmend in die Defensive gerät, und neben der Literatur und der Literaturwissenschaft trifft dies auch die Geisteswissenschaften insgesamt. Was bleibt ist ein Dilemma: Elena Esposito bemerkt trocken, dass »die Rea‐ lität […], wie wir inzwischen wissen, in der Regel wenig realistisch« ist (2007: 76), und dennoch sind, wenn man so will, ›realistische‹, d. h. komplexitätsredu‐ zierende und an menschliche Erfahrungshorizonte angepasste Zugänge der ein‐ zige der breiteren Öffentlichkeit kommunizierbare Weg, sich der Wirklichkeit über ›wahre‹ Aussagen anzunähern. Das moderne Wissenschaftssystem ver‐ suchte hier im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesell‐ schaft Abhilfe zu schaffen, indem es ›Objektivität‹ operativ-prozessual absi‐ cherte, damit die moderne Gesellschaft weiterhin mit ›ontologischen‹ Gewissheiten versorgt werden konnte. Gleichzeitig aber vollzog das moderne Wissenschaftssystem selbst die von Luhmann konstatierte Umstellung auf ein konstruktivistisches Selbstverständnis. Darüber hinaus generierten andere sich ausdifferenzierende Kommunikationssysteme ihre eigenen Rationalitäten und Literaturgeschichte und Konstruktivismus 67 Wahrheiten, die jeweils auf der systemisch operativen Ebene sinnhaft sind und systemspezifische Anschlussfähigkeit gewährleisten, während sich der seman‐ tische und weltanschauliche Horizont der modernen Gesamtgesellschaft durch diese Spezialisierungen jedoch zunehmend differenzierte und fragmentierte. Dabei ist die jeweils systemspezifische Kommunikation in unterschiedlichem Maße sprachgebunden und damit bedeutungsgeladen: Wissenschaftliche Kom‐ munikation generiert ›objektive‹ Wirklichkeitserzählungen, literarische Kom‐ munikation eher subjektive, und die Massenmedien schließen sich scheinbar an erstere an, bedienen dabei aber immer auch subjektive Sinndimensionen. In an‐ deren Kommunikationssystemen ist demgegenüber die repräsentative Dimen‐ sion eher sekundär und operative Faktoren rücken in den Vordergrund, wie die Verhandlung von Macht und Eigentum und Recht im Politik-, Wirtschafts- und Rechtssystem (Haben oder Nicht-Haben, das ist dort die Frage). Alle diese Sys‐ teme generieren darüber hinaus ihre eigenen Inklusions- und Exklusionsme‐ chanismen, die den Zugang zur öffentlichen Kommunikation durch Gatekee‐ ping-Funktionen regulieren und verknappen. Was gegenüber dieser Beschreibung der buchdruckbasierten modernen Ge‐ sellschaft gegenwärtig wirklich neu zu sein scheint, ist die mit der durchgreif‐ enden Digitalisierung einsetzende De-Differenzierung: Jedermann hat heutzu‐ tage über die sogenannten sozialen Medien Zugang zum öffentlichen Raum des Internets, der sich aber entgegen aufklärerischer Ideale und früher Interneteu‐ phorie nicht zu einem basisdemokratisch vernunftgeleiteten Verhandlungsfeld entwickelt hat, sondern vielmehr in einem neuartigen Differenzierungsprozess Filterblasen (Pariser 2012) mit ihren jeweils eigenen Wirklichkeitserzählungen (Tophinke 2009) generiert, in denen sich Meinungen nahezu in Echtzeit und unterstützt von algorithmischen Steuerungsprozessen stets bestätigen und mit‐ unter ins Hysterische aufheizen können. An die Stelle der Wahrheiten der Funktionssysteme tritt dann die aufgeblasene gefühlte Wahrheit jedes einzelnen in digitalen Kommunikationsprozessen involvierten psychischen Systems, der innerhalb der Blase auch kein Außen anderer Meinungen mehr entgegentritt. Das Internet und die sozialen Medien übernehmen dabei mit zunehmender Do‐ minanz eines nicht mehr funktionssystemsondern nunmehr filterblasenspe‐ zifischen operativen Sinns die Konstruktion der gesellschaftlich wahrgenom‐ menen (und wahrnehmbaren) Wirklichkeit und intensivieren dabei Luhmanns prominent zu Beginn und Ende seines Buches über Die Realität der Massenme‐ dien platzierte skeptische Diagnose: »Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] [W]ie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Infor‐ Christoph Reinfandt 68 mationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden? « (1996: 9 und 215) Die Antwort ist: schwer. Allerdings gibt es, wie geschildert, keine Alternative zu diesen prinzipiell defizitären Informationen über die Realität. Es muss also darum gehen, die Mittelbarkeit aller ›Wahrheiten‹ anzuerkennen im Sinne einer Kalkulation der für Informationen konstitutiven Einheit der Differenz von ope‐ rativem Sinn im jeweils gegebenen Kommunikationszusammenhang einerseits und ihrer Bedeutungsebene andererseits. Damit verschiebt sich der Interpreta‐ tionsprozess von seinem traditionellen Fokus auf Repräsentation / Bedeutung hin zur Performativität. Gefordert ist hier, und dies gilt sowohl für die (Geistes-)Wissenschaften als auch für die (kritische) Öffentlichkeit, ein neues Verständnis von Interpretation, das sich an der durchaus vorhandenen Wort‐ bedeutung im künstlerischen Bereich orientiert (die Interpretation eines Dramas im Theater etwa im Gegensatz zu der eines Lesers). Steven Connor hat dies in einem bemerkenswerten Aufsatz auf den Punkt gebracht: Now interpretation is part of a general practice of putting-into-practice […] This new, expanded form of interpretation does not say what things say, but shows how they work, which is to say, how they might be worked out. […] The purpose of playing the game is not to show what the game means […], but to explore what it makes pos‐ sible. […] Interpretation has been drawn into a general performativity, in which in‐ forming interacts with performing […] Interpretation is no longer to be thought of as the solving of a riddle, or the cracking of a code […], but rather the playing out of a game, the running of a programme, the perfecting of a routine, the exploiting of a potential. […] The pursuit of interpretation now asks, not what does an object mean, but what are the implications of what it might mean - what does what it means mean? (Connor 2014: 184-186) Im Lichte eines solchen Verständnisses von Interpretation wird deutlich, dass der von den Kritikern des Konstruktivismus aufgemachte Gegensatz von ›Kon‐ struktion‹ und ›Realität‹ nicht haltbar ist, weil eben nur die Operation der Kon‐ struktion real ist, ihr Ergebnis aber immer Fiktion im Sinne einer Realitätsver‐ doppelung. Der Gegensatz wird damit performativ, er hat das Ziel, die eigene Konstruktion »als ›natürlich‹, als ›gegeben‹, als ›Tatsache‹« auszugeben (Sasse und Zanetti 2017) und sich damit vor dem Hintergrund, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist« (Esposito 2007: 71), scheinbar unwiderlegbar ins Recht zu setzen. Die Literaturwissenschaft ist angesichts ihrer langen Erfahrung mit Phäno‐ menen der Realitätsverdoppelung bestens platziert, um im Verbund mit anderen Geisteswissenschaften der Komplexität der Dinge im Lichte dessen, was über Literaturgeschichte und Konstruktivismus 69 sie behauptet wird, auf der Spur zu bleiben. Es ist allerdings eben diese Kom‐ plexität und (mindestens) Doppelbödigkeit der Phänomene zwischen opera‐ tivem Sinn und den mit ihm verwobenen Bedeutungen, die eine Einspeisung derartiger Analysen in den breiteren öffentlichen Diskurs so schwierig macht, einen Diskurs, in dem es, wenn überhaupt, nur unter anderem um Wahrheiten geht. Stattdessen ist dieser Diskurs immer überformt von Machtansprüchen und / oder Befindlichkeiten, denen die Wissenschaft jenseits von technologi‐ schen Verwertbarkeiten wenig zu bieten hat, zumal ihre Einsichten sowohl in den Naturals auch in den Geisteswissenschaften immer abstrakter werden und sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit von Nicht-Wissenschaftlern ent‐ fernen. Die Rückkehr in den öffentlichen Raum führt dann häufig in die Bana‐ lisierung und Trivialisierung. Auf seinem soeben erschienenen Album Dark Matter erfasst der amerikanische Satiriker Randy Newman diese Entfremdung sehr schön in seinem einer Art Mini-Oper gleichenden achtminütigem Eröff‐ nungstitel ›The Great Debate‹, in dem ein Conferencier Wissenschaftler in einem (sehr amerikanischen) Unterhaltungssetting dazu anhält, die Welt zu er‐ klären: NARRATOR: Dark matter, go ahead SCIENTIST: Dark matter is out in space It’s 75 % of everything NARRATOR: Just a moment, sir Do yourself a favor Use our music People like it And your music is making people sick No? Allright, it’s a free country, go ahead Dark matter What is it? SCIENTIST: We don’t know what it is But we think it’s everywhere NARRATOR: I’d like to take a look at it Can we get some down here? SCIENTIST: Ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha Of course not! NARRATOR: Let me get this straight You don’t know what it is You don’t know where it is And we can’t get any Put that to the one side Christoph Reinfandt 70 Let’s put the Lord, faith, eternity, whatever on the other side A show of hands? [CHORUS]: I’ll take Jesus I’ll take Jesus I’ll take Jesus everytime […] (Newman 2017) Angesichts dieser Entfremdung wird es in Zukunft darum gehen, die für die moderne Kultur konstitutiven Legitimationsmechanismen für Aussagen über die Wirklichkeit (Wissenschaft, Literatur, Massenmedien) aus der Welt des Buchdrucks in die digitalisierte Welt zu überführen. Dafür gibt es angesichts des selbstorganisierenden Charakters der (post-)modernen Kommunikation keine Patentrezepte, aber es gilt, eine kritische Beobachtungsperspektive zu wahren, von der aus sich abzeichnende Ordnungsmechanismen frühzeitig identifiziert und womöglich in ihrer Funktionalität unterstützt werden können. Eine me‐ dien- und kulturwissenschaftlich informierte Literaturwissenschaft erscheint dabei als Beobachtungs- und Reflexionsinstanz unverzichtbar. Literatur Assheuer, Thomas (2017). ›Die Hippies sind schuld.‹ DIE ZEIT, 13 (23. März), 37. Bachmann-Medick, Doris (2006). Cultural Turns: Neuorientierung in den Kulturwissen‐ schaften. Reinbek: Rowohlt. Beck, Ulrich (2016). Die Metamorphose der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (1966). The Social Construction of Reality: A Trea‐ tise in the Sociology of Knowledge. Garden City, NY: Anchor Books. Dt. Ausgabe: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer, 1969. Boroditzki, Lera (2012). ›Wie die Sprache das Denken formt.‹ Spektrum der Wissenschaft (15. März). http: / / www.spektrum.de/ news/ wie-die-sprache-das-denken-formt/ 1145804 (31. 07. 2017). 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Literaturgeschichte und Konstruktivismus 73 5 Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen Literaturwissenschaft im ›postfaktischen Zeitalter‹ Thomas Kater Die Literaturwissenschaft war möglicherweise nie weniger in der Krise als heute. Vielleicht ist sie überhaupt nicht in der Krise. Wenn Letzteres der Fall wäre, dann müsste der erste Satz allerdings umformuliert und positiv gefasst werden: Der Bedarf an literaturwissenschaftlichen Methoden, Theorien, Be‐ griffen, Analysen, kurz: der Bedarf an einem literaturwissenschaftlichen Instru‐ mentarium war möglicherweise nie so hoch wie heute. Und das ist auch schon die These, für die ich im Folgenden argumentieren werde. Ihre Krise ist ein Dauerthema der Literaturwissenschaft. Im Krisendiskurs kristallisieren sich indes zwei Probleme heraus, die sich Literaturwissenschaft‐ lerinnen und Literaturwissenschaftlern ganz unabhängig von äußeren Krisen stellen und durch diese allenfalls schärfer hervortreten: zum einen das Rele‐ vanzproblem, das die Fragen betrifft, was Literatur und was davon ausgehend Literaturwissenschaft leisten kann. Zum anderen das Kommunikationsproblem, welches die Frage betrifft, wie die Literaturwissenschaft ihre Relevanz und die der Literatur nach außen hin, das heißt fachextern, kommunizieren und ver‐ ständlich machen kann. Diese ›Probleme‹ sind jedoch keine Symptome einer Krise oder sogar einer Dauerkrise, vielmehr sind sie das Resultat einer demo‐ kratischen Wissenschaftspolitik. Wem sich die Relevanz der Literaturwissenschaft zunächst einmal nicht er‐ schließt, die oder der hat das Recht danach zu fragen. Diesbezüglich können äußere Krisen in der Tat verschärfend wirken: Sie oder er könnte zum Beispiel fragen, warum etwa die Summe, die jährlich allein für literaturwissenschaftliche Forschung ausgegeben wird, nicht besser in das Fach Deutsch als Fremdsprache investiert wird oder denjenigen zugutekommt, die Deutschkurse unterrichten und notorisch unterbezahlt sind. Ob solche Vergleiche sinnvoll sind oder nicht, es empfiehlt sich trotzdem eine überzeugende Antwort zu geben. Da Gesell‐ schaften und wissenschaftliche Disziplinen darüber hinaus stets einem Wandel unterworfen sind, wird die Frage nach der Relevanz immer wieder neu zu be‐ antworten sein. Die Literaturwissenschaft kann sich ihr nicht ein für alle Mal entledigen. Das heißt aber nicht, dass die Literaturwissenschaft sofort in die Krise geraten muss, wenn nach ihrer Relevanz gefragt wird. Denn wenn es tat‐ sächlich gute Gründe für die Literaturwissenschaft gibt, dann dürfte es nicht schwerfallen, eine überzeugende Antwort zu formulieren. Hier stellt sich nun allerdings das Kommunikationsproblem. Dabei liegt die Schwierigkeit unter anderem in der »Lücke« zwischen Literatur und Gesell‐ schaft (Wagner-Egelhaaf 2015: 20). Die Literaturwissenschaft hat es offensicht‐ lich schwerer als andere Disziplinen, fachexternen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeit zu erklären. Nun gibt es vielfältige Möglichkeiten zu begründen, warum literaturwissenschaft‐ liche Forschung gesellschaftlich relevant ist (und diese Vielfalt mag bereits als ein Indiz für ihre Relevanz gelten). Eine Antwortmöglichkeit besteht darin, die Relevanz im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Probleme zu verdeutlichen und so die ›Lücke‹ zu überbrücken. Warum also nicht von einem offensichtli‐ chen Ansatzpunkt ausgehen? In Zeiten von Trump, Erdoğan, Le Pen und Brexit, in denen die öffentliche Meinung zugleich in hohem Maße durch die sozialen Medien mitgeprägt wird, kann man zunehmend den Eindruck gewinnen, in einer Welt der pluralen Wirk‐ lichkeiten zu leben, in welcher Fakt, Fiktion und Lüge kaum mehr zu unter‐ scheiden sind. Gerade an dieser (vermeintlichen? ) Grenze zwischen Fakt und Fiktion entstehen politische und gesellschaftliche Dynamiken, deren Symptome in neuen Begriffsbildungen wie ›postfaktisch‹, ›alternative Fakten‹, ›Fake-News‹ oder ›Lügenpresse‹ lesbar werden und die sich nicht zuletzt in Form von dynamischen Texten in Medien wie Twitter oder Facebook verbreiten. Im Rückgriff auf derartige Begriffe werden verschiedene, konkurrierende, teils konträre Wirklichkeitsmodelle verhandelt, die Politik, Gesellschaft und Wis‐ senschaft (man denke an die Debatte um den Klimawandel) gleichermaßen be‐ treffen. Kurzum: Die Unterscheidung von Fakt und Fiktion, Wahrheit und Lüge scheint an ihr Ende gekommen zu sein. Wenn der Begriff des ›Postfaktischen‹ auch umstritten ist, so ist er jedoch bereits jetzt zu einem Signum von gesell‐ schaftlichen, politischen und medialen Entwicklungen avanciert, die in ihrer Tragweite noch kaum zu überblicken sind. Hier besteht doch ein beträchtlicher Bedarf, all diese Phänomene und ihre Funktionsweisen zu beschreiben, zu ana‐ lysieren und zu hinterfragen. Und besitzt nicht gerade die Literaturwissenschaft das entsprechende Instrumentarium dazu? Thomas Kater 76 Literarisches Management an der Grenze von Fakt und Fiktion Literatur operiert seit jeher im Grenzbereich von Fakt und Fiktion, weshalb ihr Modus, das heißt die Art und Weise ihrer ›Aussagen‹, stets zur Debatte stand. Bereits Platon hat in seiner Politeia Teilen der Literatur den Vorwurf der Lüge eingebracht (Platon 2000: 152 f.). Schon kurz darauf betont Aristoteles dagegen, was Robert Musil später als ›Möglichkeitssinn‹ dem ›Wirklichkeitssinn‹ entge‐ genstellt: Der Dichtung gehe es nicht um das, was wirklich geschehen sei, son‐ dern um das, was möglich ist, was geschehen könnte. Im Gegensatz zur Ge‐ schichtsschreibung teile sie nicht das Besondere, sondern das Allgemeine mit und sei daher sogar philosophischer und ernsthafter als jene (Aristoteles 1994: 29, 31). Auch Goethe ist es in seiner Autobiographie mit dem sprechenden Titel Dichtung und Wahrheit darum zu tun, das »Grundwahre« darzustellen, und zwar gerade mit Hilfe der Fiktion (Goethe 1993: 209). Peter Handke spricht darüber hinaus sogar von der Literatur als einem Zugang zur »wirklichen Wirklichkeit« (Handke 2007: 37). Die strikte Trennung von Fakt und Fiktion steht in der Literatur also immer schon in Frage: Wirklichkeit geht - etwa in Form von Orten, Personen, Ereig‐ nissen oder Wissen - immer auch in fiktionale Texte ein und andersherum wirken fiktionale Texte auf die Wirklichkeit zurück, indem sie neben ästheti‐ schen Erfahrungen auch epistemische, moralische oder politische Funktionen übernehmen können. Literatur besitzt eine Lizenz zum Spiel mit Fakten und Fiktionen. Die dennoch vorhandenen Grenzen dieses Spiels zeigen besonders anschaulich sogenannte ›Literaturskandale‹, in denen es die Literatur (oder ihre Autorinnen und Autoren) für einige Rezipienten zu weit getrieben hat: So kann es einerseits wie im Fall von Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers dazu kommen, dass als fiktional ausgezeichnete Literatur als faktual aufgefasst und sanktioniert wird. Andererseits kann ein Skandal entstehen, wenn sich Literatur, die als faktual inszeniert wird, schließlich als fiktional oder als Lüge erweist, wie es zum Beispiel im Fall von Binjamin Wilkomirskis (i.e. Kurt Dössekker) Bruch‐ stücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 geschehen ist. In beiden Fällen gab es indes weitere Gründe für den jeweiligen Skandal: Im Hinblick auf Tod eines Kritikers ging es um den Vorwurf des Antisemitismus, bei Bruchstücke um den Umgang mit dem Holocaust. Doch nicht nur anhand von einzelnen literarischen Werken wird die in der Literatur immer vorhandene und verhandelte Hybridität von Realität und Fiktion ersichtlich. In Gattungen wie dem ›realistischen Roman‹, der ›Autofiktion‹ oder der ›Dokufiktion‹ wird diese Hybridität von Realität und Fiktion sogar explizit und zum Thema gemacht. Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 77 Aufgrund ihrer Fähigkeit an der Grenze zwischen Fiktion und Fakt zu ope‐ rieren und zwischen freiem Spiel und ernster Botschaft zu wechseln, ist Literatur in der Lage, Wirklichkeitsmodelle nicht nur abzubilden und zu hinterfragen, sondern sie zu transformieren, mit ihnen zu experimentieren und mögliche Welten zu entwerfen. In Utopien und Dystopien wird diese Fähigkeit der Lite‐ ratur besonders deutlich. Erwähnenswert (und sicherlich kein Zufall) ist in diesem Zusammenhang der Verkaufsschub von George Orwells 1949 erschie‐ nenem Roman 1984, der nach dem Amtsantritt von Donald Trump verzeichnet wurde. Die im Roman vorkommenden Wortneuschöpfungen ›Neusprech‹ und ›Doppeldenk‹ wurden zudem mit dem Begriff der ›alternativen Fakten‹ in Zu‐ sammenhang gebracht, der durch Trumps Sprecherin Kellyanne Conway ge‐ prägt wurde und entsprechende dystopische Szenarien aufgerufen hat (Lindner 2017). Insofern die Spannung zwischen Fakt und Fiktion sowie das Spiel mit Wirk‐ lichkeitsmodellen ein Charakteristikum und Potential von Literatur darstellt, ist diese Spannung natürlich auch seit jeher ein zentraler Gegenstand der Litera‐ turwissenschaft: Literaturtheorie setzt sich mit der Art und Weise auseinander, wie Literatur auf die außerliterarische Wirklichkeit und damit auch und insbesondere auf die Gesellschaft Bezug nimmt und wie ihre spezifisch sprachlich-ästhetische Verfasstheit dazu beiträgt Weltwissen und Wirklichkeitserkenntnis zu schaffen und zu kommunizieren. (Wagner-Egelhaaf 2015: 19) In Bezug auf literarische Texte, die als extrem verdichtete ästhetische Artefakte im Grenzbereich von Fakt und Fiktion verfahren, schärft die Literaturwissen‐ schaft ihre Begriffe, formuliert ihre Thesen und erprobt ihre Methoden. Mit ihrem Instrumentarium ist sie dementsprechend in der Lage, das Spannungsfeld von Fakt und Fiktion, den Zusammenhang von literarischer Form und Wirk‐ lichkeit zu beschreiben, zu analysieren und transparent zu machen. Ihr geht es mit anderen Worten um das »Modalitätsmanagement« (Erdbeer 2015: 32, 7, 10, 19, 28) von Texten, also um die Steuerung der Modi ›Fakt‹ und ›Fiktion‹. Das Modalitätsmanagement von Texten wird momentan am Gradu‐ iertenkolleg Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung der Universität Münster untersucht. Diese Forschung kann als ein Beispiel für die aktuelle Relevanz literaturwissenschaftlicher Analysen gelten, denn hier wird explizit adressiert und systematisch zu erfassen versucht, woran sich die Literaturwissenschaft auf vielfältige Weise schon immer abgearbeitet hat und was im sogenannten ›postfaktischen Zeitalter‹ in Bezug auf Fake-News und ähnliche Phänomene extrem virulent wird. Dabei wird die Dichotomie von Thomas Kater 78 ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ weder im Sinne des ›Postfaktischen‹ aufgehoben noch wird zu bestimmen versucht, was im jeweiligen Fall Fakt und Fiktion ist. Vielmehr geht es darum zu analysieren, wie Texte ihren Modus, also ihre Fiktionalität und / oder ihre Faktualität, inszenieren und zu steuern versuchen. Auch wenn die Erforschung dessen, was mit dem Begriff des Modalitätsmanagements zu begreifen versucht wird, noch an ihrem Anfang steht, lassen sich Bezüge zu vielfältigen Themen, Begriffen und Methoden der Literaturwissenschaft her‐ stellen. Dass literarische Texte etwa nicht selbstständig operieren, vielmehr immer in einen Kontext eingebettet sind und in Relation zu vielfältigen Akteuren (Autor*innen, Leser*innen, Herausgeber*innen, Kritiker*innen etc.) mit unter‐ schiedlichen Interessen und Machtpositionen stehen, das haben zum Beispiel Rezeptionstheorie und Literatursoziologie aufgezeigt. Der Modus eines Textes wird also auch von außen gesteuert: Nicht allein der Autor oder die Autorin bestimmt über die Fiktionalität oder Faktualität des Textes, auch das Publikum kann wie im Fall von Walsers Tod eines Kritikers den (hier fiktionalen) Modus des Textes in Frage stellen. Aufschlüsse über die Verfahren, mit denen die Seinsverhältnisse von und in Texten gesteuert werden, gibt etwa die Narratologie. Mit dem Konzept der Me‐ tafiktion versucht sie zum Beispiel zu erfassen, wie Moduswechsel im Text voll‐ zogen werden, indem sich der Erzähler in das Erzählte einschaltet und dieses als fiktiv ausstellt. Überdies werden in der Literaturtheorie Fiktionalitäts- und Faktualitätssignale differenziert, die von dem von Roland Barthes beschriebenen »Wirklichkeitseffekt« (Barthes 2006) bis hin zum Paratext reichen (z. B. der Gat‐ tungsbezeichnung ›Roman‹ oder dem typischen Disclaimer, der darauf hinweist, dass alle Figuren und Handlungen erfunden sind). Dass derartige Verfahren wiederum literarisch unterlaufen werden können, versteht sich von selbst. Ein‐ drückliches Beispiel: Heinrich Bölls Disclaimer in Die verlorene Ehre der Katha‐ rina Blum, der im Übrigen darauf verweist, dass die Problematik von Fake-News keineswegs ein neues Phänomen darstellt: Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der »Bild«-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich. (Böll 2003: 322) Dass der faktuale oder fiktionale Modus eines Textes überhaupt zustande kommt, dafür ist vor allem der Vollzug des Textes, das Schreiben und Lesen ausschlaggebend. Im Anschluss an die Sprechakttheorie hat hier die Perfor‐ manztheorie gezeigt, wie Texte durch ihren Vollzug ihre Wirklichkeit dekla‐ Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 79 rieren. Das ist wiederum die Bedingung dafür, dass sie tatsächlich eine (episte‐ mische, moralische oder politische) Funktion übernehmen können und auf die Wirklichkeit, etwa die Leserinnen und Leser wirken können. Um also dem Modalitätsmanagement von Texten auf die Spur zu kommen, ist nicht nur ein ganzer Werkzeugkasten von derartigen literaturwissenschaft‐ lichen Instrumenten nötig, er ist bereits hervorragend ausgestattet. Deshalb vermag die Literaturwissenschaft transparent zu machen, wie die Wirklichkeit auf fiktionale Texte einwirkt, wer in Texten oder in Bezug auf Texte über ihren Modus entscheidet, wie dieser zustande kommt und wie fiktionale Texte wieder auf die Wirklichkeit zurückwirken. Die Leistung der Literaturwissenschaft besteht nach Stefan Matuschek darin, etwas verständlich zu machen (Matuschek 2015: 504). Und neben zahlreichen anderen Dingen kann die Literaturwissenschaft also auch das Modalitätsma‐ nagement von literarischen Texten verständlich machen. Als verdichtete und übercodierte Gegenstände stellen diese den höchsten Anspruch an ihre Analy‐ sewerkzeuge. Daher hat sich das literaturwissenschaftliche Instrumentarium immer wieder als hervorragender Ausgangspunkt erwiesen, um auch nicht-li‐ terarische Phänomene zu lesen (Baßler 2015: 507). Die Literaturwissenschaft ist daher tatsächlich dazu prädestiniert, den ›postfaktischen‹ Wust aus Fakt und Fake mit ihrem Instrumentarium durchschaubar und verständlich zu machen. »ACHTUNG SATIRE! « - Literaturwissenschaft und politische Öffentlichkeit Betrachtet man allein die Anzahl an Berichten über Fake-News, so ist der Bedarf an einer Reflexion des Modus von Texten jedenfalls groß. Nur so lassen sich neue journalistische Konzepte wie ›Faktenchecks‹ in politischen Talkshows oder entsprechende Projekte wie der faktenfinder der Tagesschau erklären, die den Fake-News entgegengestellt werden. Diese Instrumente dienen allerdings dazu, eine klare Antwort auf die Frage zu finden, was wirklich ist; sie zielen auf eine Antwort nach dem Schema ›wahr‹/ ›falsch‹. Der literaturwissenschaftli‐ chen Analyse ist es hingegen nicht allein um das Was, den Inhalt und Modus von Texten, sondern auch um das Wie, die Form des Inhalts und die Steuerung des Modus zu tun. Ihr geht es darum, transparent zu machen, wie Texte als faktual oder fiktional inszeniert und dadurch von Leserinnen und Lesern als Fakt oder Fiktion behandelt werden. Und dies ist eine genuine Fähigkeit der Literaturwissenschaft. Zwar wird im Bereich des Politischen, in welchem Fake-News besonders virulent sind, nicht ›Fiktionalität‹ im literaturwissen‐ schaftlichen Sinne verhandelt, das heißt es geht nicht um Texte, die von fiktiven Gegenständen und Ereignissen erzählen und sich als fiktional zu erkennen geben. Vielmehr geht es im politischen Diskurs um Kategorien wie ›Wahrheit‹ Thomas Kater 80 und ›Lüge‹ oder ›Fakt‹ und ›Fake‹. Gleichwohl werden auch hier Wirklich‐ keitsmodelle erzeugt und verhandelt - und darüber hinaus auch instrumenta‐ lisiert. Das Analysewerkzeug, das die Literaturwissenschaft im Hinblick auf li‐ terarische Texte entwickelt hat, lässt sich deshalb auf Fake-News und andere Phänomene des sogenannten ›postfaktischen Zeitalters‹ anwenden. Denn auch hier geht es darum, wie diese Modi gesteuert und zu welchem Zweck sie funkti‐ onalisiert werden. Wie eine solche Anwendung des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums auf den politischen Diskurs aussehen kann, möchte ich im Folgenden an einem Beispiel verdeutlichen. Einige mediale Aufmerksamkeit hat der Fall des sogenannten ›Fake-Covers‹ von Heiko Maas’ im Mai 2017 erschienenen Buch Aufstehen statt Wegducken. Eine Strategie gegen Rechts erhalten. Das ›Fake-Cover‹ wurde am 30. Mai 2017 vom thüringischen Landtagsabgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD), Björn Höcke, in einem mittlerweile gelöschten Beitrag auf dessen Face‐ book-Seite veröffentlicht. In Anspielung auf den von Justizminister Maas ein‐ gebrachten Gesetzentwurf zu Hass-Kommentaren im Internet spricht er von Amtsmissbrauch, der Privatisierung von Zensur und Überwachung, Beschnei‐ dung der freien Meinungsäußerung sowie dem Verstoß gegen rechtsstaatliche Standards (Höcke 2017a). Neben einem abschätzigen Verweis auf die Autoren‐ tätigkeit von Maas fügt Höcke dem Beitrag ein Bild an. Auf diesem ist das Buch von Maas zu sehen, das (leicht verschwommen, aber erkenn- und lesbar) im Hintergrund neben einer Brille auf einem Tisch liegt. Während der Haupttitel korrekt wiedergegeben ist, zeigt das Cover jedoch einen anderen Untertitel: Statt »Eine Strategie gegen Rechts« liest man »Eine Strategie gegen das Recht« (Höcke 2017a). Was in diesem Fall Fake und was Fakt ist, scheint klar zu sein. Doch geht es hier nicht ›nur‹ um ein manipuliertes Bild. Der Fall kann vielmehr als exemp‐ larisch für das Modalitätsmanagement von Texten, dessen Konsequenzen und dessen politische Brisanz gelten. Es ist geradezu der erste Akt eines Dramas in fünf Akten, das sich zwischen Höcke und dem faktenfinder der Tagesschau ent‐ wickelt und in dem das Modalitätsmanagement und seine Funktionen eine zent‐ rale Rolle spielen. Allein die Tatsache, dass das Bild ohne weiteren Kommentar dazu veröffent‐ licht wird, deklariert zunächst einmal performativ den Realitätsstatus des Dar‐ gestellten, das heißt seinen faktualen Modus. Natürlich werden nicht alle Re‐ zipienten diese vermeintliche Faktualität des Dargestellten sofort akzeptieren, vor allem diejenigen nicht, die in Demokratie und Gewaltenteilung vertrauen. Dass der Fake aber keinesfalls offensichtlich ist, macht die richterliche Ein‐ schätzung des Falls deutlich, von der noch zu sprechen sein wird. Die Realität Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 81 des Bildes wird jedenfalls darüber hinaus auch durch den Bezug zur vorangeh‐ enden Behauptung betont, dass Maas gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoße und Zensur wie Überwachung forciere. Verstärkt wird diese Inszenierung über‐ dies durch die Brille, die in der Abbildung neben dem Buch liegt und durchaus als Wirklichkeitseffekt im Sinne von Barthes fungiert. Es gibt also, sofern man das Buch nicht kennt, keinen klaren Anhaltspunkt, der hier eine Manipulation des Covers erwarten lässt. Stattdessen verstärkt das Cover die Funktionen des Beitrags: Die Kritik am politischen Gegner sowie die Emotionalisierung der De‐ batte. Zweiter Akt: Wie viele andere Medien machte der faktenfinder in einem Ar‐ tikel auf besagten Post aufmerksam. Höckes Eintrag wird nun explizit als »Fake«, »Fake-Cover« und »gefälschtes Bild« bezeichnet (Gensing 2017a). Es wird also der gegenteilige Modus von Höckes Text deklariert, indem der Beitrag als Lüge dargestellt wird (Gensing 2017a). Um diese Auffassung zu bekräftigen, werden Höckes Aussagen sowie das Bild mit dem Fake-Cover in dem Artikel des faktenfinders kontextualisiert. Darüber hinaus werden weitere Akteure zi‐ tiert, die den Modus des Facebook-Posts von Höcke zu steuern versuchen: zum einen Kommentatoren des Eintrags, die Höcke mit Hass-Kommentaren unter‐ stützen und die Wahrheit seiner Aussagen bekräftigen - ironischerweise also solche Kommentare, gegen die der Gesetzentwurf von Maas gerichtet ist. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass der Piper Verlag, in welchem das Buch von Maas erschienen ist, rechtliche Schritte gegen die Verbreitung des Bildes plane und dieses damit ebenso als Fake auffasse. Auf diesen Artikel des faktenfinders reagiert wiederum Höcke mit einem weiteren Beitrag auf seinem Facebook-Profil (dritter Akt des Dramas). Er nimmt nun - nachträglich - einen Moduswechsel vor, indem er seinen ersten Beitrag als »hintersinnige[n] Scherz[]« bezeichnet (Höcke 2017b). Wie in metafiktio‐ nalen Verfahren der Literatur, in denen ein Erzähler aus seiner Erzählrolle tritt und das zuvor als wirklich präsentierte Geschehen als fiktiv markiert, stellt Höcke den ersten Post nun als fiktional dar. Dies geschieht unter direkter Be‐ zugnahme auf den Artikel des faktenfinders, der satirisch kommentiert wird. Auch hier fügt Höcke ein bearbeitetes Bild an, das betitelt ist mit: »Höcke gra‐ tuliert der Tagesschau: WORTSPIEL GEFUNDEN ! GANZ OHNE PROFESSIO‐ NELLE HILFE ! « (Höcke 2017b). Im Hintergrund ist dabei ein Screenshot des faktenfinder-Artikels zu sehen sowie ein Comic-Detektiv mit Lupe, auf dessen Kragen › ARD ‹ zu lesen ist. Der übertrieben-satirische Duktus sowie die Groß‐ schreibung stellen den ersten Beitrag mit dem Fake-Cover als völlig offensicht‐ lichen Scherz dar, den man gar nicht hätte falsch verstehen können - es sei denn, Thomas Kater 82 man sei ein »humorstutzige[r] Wahrheitssucher« wie der Redakteur des fak‐ tenfinders (Höcke 2017b). Hier zeigen sich allerdings Ungereimtheiten im Modalitätsmanagement von Höcke. Einerseits widerspricht der behaupteten Offensichtlichkeit des Scherzes seine ebenso behauptete Hintersinnigkeit. Andererseits bezeichnet Höcke den Redakteur des faktenfinders als »›Fun-Fact‹-Redakteur« (Höcke 2017b). Fun facts sind nun zwar vor allem lustig, aber gelten eben auch als ›wahr‹. Ob das Höcke klar ist, scheint fraglich, denn es würde in diesem Fall bedeuten, dass sein erster Post eben doch nicht als Scherz, sondern als Fakt aufzufassen wäre. Es wird jedenfalls kompliziert - und genau das ist offenbar das Ziel: Das Modali‐ tätsmanagement wird hier so gestaltet, dass immer undurchsichtiger wird, was nun ernst oder scherzhaft gemeint ist, was als Fakt oder Satire dargestellt wird. Auch die Stoßrichtung der Beiträge hat sich geändert: Nicht mehr Maas ist das Feindbild, sondern der Tagesschauredakteur. Ebenso geht es nicht mehr um Po‐ litik, sondern um die Deutungshoheit in Bezug auf den ersten Beitrag sowie die Rolle der Medien in diesem ›Spiel‹. Seinem zweiten Beitrag lässt Höcke eine halbe Stunde später - vierter Akt - noch einen weiteren folgen. Wieder ist der Post eine Kombination aus Bild und Text: Es ist eine Smartphone-Tastatur zu sehen, in die der - diesmal korrekt wiedergegebene - Untertitel von Maas’ Buch eingetippt ist: »Eine Strategie gegen Rechts« (Höcke 2017c). Dabei ist jedoch ›gegen Rechts‹ rot unterschlän‐ gelt, also als Fehler markiert. Stattdessen schlägt die Auto-Korrektur »gegen das Recht« vor (womit der ursprüngliche Fake-Titel ›Eine Strategie gegen das Recht‹ wiederhergestellt wäre). Zudem sieht man weitere ›automatische‹ Wortvor‐ schläge, nämlich »Heiko«, »Maas« und »Inquisitor« (Höcke 2017c). Begleitet wird das Bild von dem Text: » ACHTUNG SATIRE ! Leider hat unser Recht‐ schreibprogramm den Untertitel des Maas-Buchs als völligen Unsinn erkannt und den vermeintlichen Fehler automatisch korrigiert…« (Höcke 2017c). Einmal mehr wird also das Satirische, der nicht-faktuale Modus der Beiträge und dessen Offensichtlichkeit betont. Und wiederum geschieht das sowohl durch Übertreibung als auch durch Großschrift. Der Ausdruck: › ACHTUNG SATIRE ! ‹ fungiert hier scheinbar wie ein typisches Fiktionssignal, und doch wird man den Eindruck nicht los, dass der Verfasser hier mehr im Sinne von Heinrich Bölls subversivem Disclaimer agiert. Denn auch hier finden sich zu‐ gleich Widersprüche, die das Modalitätsmanagement Höckes undurchsichtig und fragwürdig erscheinen lassen. Es wird noch komplizierter: Wieder wird ein Bezug zum ersten Beitrag aufgemacht und nun wird bewusst mit dem Modus der Beiträge gespielt, indem der erste Post jetzt, das heißt im dritten Beitrag, im Modus der Satire als faktual ausgestellt wird. Zuvor, im zweiten Post, wurde er Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 83 noch - im faktualen Modus - als Satire inszeniert. Mit diesem Spiel geht eine weitere widersprüchliche Aussage einher, denn der Fehler (der korrekte Unter‐ titel »gegen Rechts«) wird als »vermeintliche[r] Fehler« (Höcke 2017c) be‐ zeichnet. Ein vermeintlicher Fehler ist jedoch kein Fehler, mithin müsste der Un‐ tertitel also doch richtig sein. Plausibilisiert wird diese Lesart durch den Verweis von dem durch die Rechtschreibhilfe ›vorgeschlagenen‹ Wort ›Inquisitor‹ auf den im ersten Post gegenüber Maas vorgebrachten Vorwurf der Zensur. Was ist nun Scherz? Was ist ernst gemeint? Es ist keine Schande hier den Durchblick zu verlieren. Vielmehr ist dies offenbar das Ziel des Verwirrspiels. Hinzu kommt, dass sich mit diesem verdunkelnden Modalitätsmanagement keine klare Dis‐ tanzierung vom Fake-Cover und den herabwürdigenden Aussagen gegenüber Maas erkennen lässt. Im Gegenteil: Es wird bewusst mit den Grenzen von Fakt, Fake und Satire gespielt, um am Ende die beiden Gegner - Maas als Vertreter der Politik, den faktenfinder als Vertreter der Medien - zu diskreditieren und die eigene Botschaft aufrecht zu erhalten. Fünfter und letzter Akt: Die beiden Folgeposts von Höcke haben schließlich einen weiteren Artikel vom faktenfinder provoziert (Gensing 2017b). In diesem wird von Höckes satirischer Antwortstrategie berichtet und zugleich erneut auf die Anwälte des Piper Verlags verwiesen. Nun wird aus ihrem Schreiben zitiert, in dem Höcke aufgefordert wird, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Der faktenfinder bleibt also seiner Strategie treu: Es wird stoisch der vorgegebene faktuale Modus des ersten Beitrags von Höcke und damit sein Fake-Status be‐ tont. Ziel bleibt es, die Leserinnen und Leser darüber aufzuklären, was Fakt ist und was nicht. Nachdem sich Höcke geweigert hatte, eine entsprechende Un‐ terlassungserklärung abzugeben, hat schließlich das Landgericht München I als buchstäblich ›letzte Instanz‹ am 9. Juni 2017 eine einstweilige Verfügung gegen Höcke erlassen und ihm untersagt, das Fake-Cover öffentlich zu präsentieren. Das Gericht hat den Beitrag demnach nicht als Satire, sondern als Fake gewertet, als Beitrag also, der den Anschein der Realität erwecken wollte. Damit ist das Gericht zu einem weiteren - und mächtigen - Akteur geworden, der sich an der Steuerung des Modus von Höckes Post beteiligt. Wie bei Walsers Roman Tod eines Kritikers verweigert hier folglich das Publikum (faktenfinder, Verlagsan‐ wälte, Gericht) den Satire-Status des Textes. Entsprechend der einstweiligen Verfügung ist der Beitrag mittlerweile nicht mehr auf dem Facebook-Profil von Höcke zu finden. Ob dieses kleine Drama nun eine Komödie oder vielmehr eine Tragödie dar‐ stellt, mag unterschiedlich beantwortet werden. Das Beispiel macht indes deut‐ lich, dass der Grenzbereich von Fakt, Fake und Satire hier zum Schauplatz von Politik und dem Umgang von Politik mit Medien wird. Höcke nutzt die Offenheit Thomas Kater 84 dieser Grenze, indem seine Texte ein wechselhaftes, zunehmend undurchsich‐ tiges und zum Teil widersprüchliches Modalitätsmanagement verfolgen, das dem literarischen Spiel mit Dichtung und Wahrheit, Fakt und Fiktion in nichts nachsteht. Trotz der Widerstände des faktenfinders, der sich an das Schema ›wahr‹/ ›falsch‹ hält und auf dieser Dichotomie beharrt, schafft es Höcke seine Botschaften durch Variationen des jeweiligen Textmodus beizubehalten, anstatt sie explizit zu widerrufen oder zurückzunehmen. Und das tut er auf eine solche Weise, dass dieser Umstand kaum auffällt. Offenbar reicht es nicht aus, zu be‐ nennen, was Fakt und was Fake ist, um derartige ›postfaktische‹ Phänomene vollständig zu erfassen. Denn es geht hier fast weniger um die Frage, was Fakt ist und was nicht, als vielmehr um die Deutungshoheit darüber und vor allem um die Steuerung der Anschlusskommunikation. Bei Höcke ist Letztere auf die Mobilisierung seiner Anhängerinnen und Anhänger sowie auf die Diskreditie‐ rung seiner Gegner ausgerichtet. Der faktenfinder versucht hingegen die un‐ aufrichtige Kommunikation Höckes aufzudecken und seine Leserinnen und Leser entsprechend aufzuklären und zu informieren. Es geht hier also um das erfolgreichere Modalitätsmanagement. Und wie das funktioniert, wie Fakes als Fakten und Fakten als Scherze inszeniert und präsentiert werden, das kann mit Hilfe des skizzierten literaturwissenschaftlichen Instrumentariums transparent gemacht werden. In der Literatur gehört das Operieren an der Grenze von Fakt und Fiktion zu ihrem Spiel dazu und mag ihr darüber hinaus ihre außerästhetische Kraft ver‐ bürgen. Im Hinblick auf den politischen Diskurs erlangt die Transparenz des Modus von Texten indes einen ganz anderen Stellenwert. Denn in der politi‐ schen Öffentlichkeit »riskiert« ein Diskurs, der durch eine »Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion« geprägt ist, »den Bezug zum Politischen zu verlieren.« (Diehl 2012: 21) Und das ist fatal, denn die politische Öffentlichkeit lebt davon, dass in ihr ernsthafte, wahrhaftige Anliegen verhan‐ delt werden. Grundlegend dafür ist es, »eine Debattenkultur zu etablieren, in der alle Herausforderungen und Probleme in einer Gesellschaft zwar benannt werden können, dies aber unaufgeregt und differenziert statt diffamierend und verkürzt. Die Grenzen des Diskurses liegen in der Würde des Anderen.« (Öztürk 2012: 2) Das untersuchte Beispiel des von Höcke veröffentlichten Fake-Covers ist nur eines von vielen, die als Fake-News, alternative Fakten, kurzum als ›postfakti‐ sche‹ Strategien den ernsthaften, aufrichtigen Diskurs der politischen Öffent‐ lichkeit untergraben und zu Medien des Populismus werden. Die Analyse des Modalitätsmanagements von Texten, der Fokus auf die Inszenierung und Steu‐ erung von Seinsverhältnissen, ist nun keineswegs ein Zugeständnis an das - Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 85 wie auch immer geartete - ›Postfaktische‹. Im Gegenteil: Die Analyse ermög‐ licht es, derartige Phänomene, ja den Begriff des ›Postfaktischen‹ selbst, theo‐ retisch zu durchdringen und in Frage zu stellen (allerdings ebenso ein unref‐ lektiertes Beharren auf einer klaren, nicht-diskursiven Fakt-Fiktions-Grenze). Das Konzept des Modalitätsmanagements bietet sich als eine Möglichkeit an, die oberhalb der Fakt-Fiktions-Dichotomie ansetzt und transparent macht, wie Fakt, Fake und Fiktion in Texten verhandelt, wie und auf welches Ziel hin der ontologische Status des Textes zu steuern versucht wird. Besonders wichtig ist dies in einer Zeit, in der auch in der politischen Öffentlichkeit und vor allem mit Hilfe von digitalen Medien an der Grenze von Fakt, Fiktion und Fake operiert wird und ernsthafte Diskurse zugunsten populistischer Meinungsäußerungen subvertiert oder manipuliert werden. Sofern das literaturwissenschaftliche In‐ strumentarium, wie ich am Beispiel des Fake-Covers gezeigt habe, auch an dieser Stelle angewendet wird oder zumindest für derartige Strategien sensibel macht, kann es durchaus als ein kritisches Reflexionsinstrument der politischen Öffent‐ lichkeit fungieren - und zwar als ein Reflexionsinstrument, das im Angesicht von Fakes, Fake-News und ihren Folgen nötiger ist denn je. Wo ist die Krise? Zugegeben: Das literaturwissenschaftliche Instrumentarium als ein kritisches Reflexionsinstrument der politischen Öffentlichkeit zu bezeichnen, mag pathe‐ tisch klingen. Aber vielleicht ist gerade eine derartige Einschätzung Teil des Problems: Der Literaturwissenschaft mangelt es an Selbstbewusstsein. Warum eigentlich? Wenn sich Teile des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums zum Beispiel hervorragend dazu eigenen, die Inszenierung von Fakt, Fiktion und Fake in Texten transparent zu machen, und zugleich - wie all die Fakes und Fake-News zeigen - ein hoher Bedarf an eben dieser Transparentmachung be‐ steht und wenn überdies diese Transparenz Bedingung für eine funktionierende politische Öffentlichkeit ist, dann kann die Literaturwissenschaft eben als kri‐ tisches Reflexionsinstrument dieser politischen Öffentlichkeit fungieren. Unter dem literaturwissenschaftlichen Blick, das hat sich bereits in der kurzen Analyse des Höcke-Beispiels gezeigt, erscheint das vermeintliche ›postfaktische Zeit‐ alter‹ jedenfalls keineswegs als post-faktisch, sondern als eine Inszenierung von und elaboriertes Spiel mit Fakt und Fake. Die Unterscheidung von Fakt und Fiktion, Wahrheit und Lüge ist eben doch nur scheinbar an ihr Ende gekommen. Es wird allerdings, und zwar nicht zuletzt aufgrund von digitalen Medien, zu‐ nehmend schwieriger, die verschiedenen Modi zu unterscheiden und ihre Kon‐ sequenzen zu überblicken. Die Literaturwissenschaft stellt immerhin ein ana‐ Thomas Kater 86 lytisches Instrumentarium bereit wie diesen Schwierigkeiten begegnet werden kann. Natürlich ist die Literaturwissenschaft und ihr Instrumentarium nicht allein deshalb relevant, weil sie auf nicht-literarische Texte angewendet werden kann. Wenn es sich aber als brauchbar erweist, warum sollte man es nicht auf andere Gegenstände anwenden? Und zwar insbesondere dann, wenn man es immer wieder mit einem Kommunikationsproblem zu tun hat? Voraussetzung dafür ist allerdings ein Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten. Ebenfalls Anteil am Relevanz- und Kommunikationsproblem, mithin der ver‐ meintlichen ›Krise‹ der Literaturwissenschaft, hat wohl die Tatsache, dass die Literaturwissenschaft bisher die theoretische Reflexion ihrer Praxis vernach‐ lässigt hat (Spoerhase 2015: 645 f.). Wer aber nach eigener Aussage mit wissen‐ schaftlichen Methoden literarische Texte oder andere kulturelle Phänomene analysiert, der oder die muss sich über seine oder ihre Praxis im Klaren sein. Neuere praxeologische Ansätze ergänzen dabei eine bloße Methodenreflexion indem sie gerade jene Routinen und Praktiken in den Blick nehmen, die impli‐ ziten Normen folgen und in der Regel unreflektiert bleiben (Martus und Spoer‐ hase 2009). Ein derartiges Bewusstsein über die eigenen Fähigkeiten und davon ausgehend das Selbstbewusstsein zu ihrer Anwendung sind beste Bedingungen dem Relevanz- und Kommunikationsproblem zu begegnen. Die vermeintliche ›Krise‹ der Literaturwissenschaft erweist sich am Ende jedenfalls eher als die in einem demokratischen Wissenschaftssystem normale Notwendigkeit zur Selbst‐ reflexion im Hinblick auf die eigene Relevanz. Da sich die Notwendigkeit in stets anderen historischen Situationen und wechselnden gesellschaftlichen Formati‐ onen stellt, muss sich die Literaturwissenschaft neben ihrer Forschung weitaus mehr in außerfachlicher Adressierung üben und Strategien entwickeln, wie sie Antworten auf die Frage nach ihrer Relevanz an fachexterne Gesprächspartne‐ rinnen und -partner kommuniziert (Matuschek 2015: 504). Ob ihre Antworten dann überzeugen, müssen allerdings andere entscheiden. Auch das ist politische Öffentlichkeit. Es gibt also keine ›Krise‹ der Literaturwissenschaft. Es gibt überdies gegen‐ wärtig ein besonders großes Bedürfnis, Inszenierungen von Fakt und Fake sowie ihre Folgen transparent zu machen. Und schließlich gibt es die Literaturwis‐ senschaft, die mit ihrem Instrumentarium - neben vielem anderen - ebendies leisten kann. Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen Alternativen 87 Literatur Aristoteles (1994). Poetik. Übers. & hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam. Barthes, Roland (2006). ›Der Wirklichkeitseffekt.‹, in: Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 164-172. Baßler, Moritz (2015). ›Literaturwissenschaft als Kulturpoetik der Literatur und Medien.‹ Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 89.4, 505-509. Böll, Heinrich (2003). Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann, in: Viktor Böll und Ralf Schnell (Hrsg.). Werke. Kölner Ausgabe Bd. 18 1971-1974. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 322-417. Diehl, Paula (2012). ›Populismus und Massenmedien.‹ Aus Politik und Zeitgeschichte, 62.5-6, 16-22. 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In den Naturwissenschaften scheint sich der Weg anzubieten, den auch der Journalismus vielerorts eingeschlagen hat: die Konzentration auf Fakten, auf genaue Beobachtung und Aufbereitung von politischer Meinungs- und Fakten‐ mache, bei sich selbst sowie (vor allem, aber nicht ausschließlich) bei populis‐ tisch agierenden Politiker*innen, Parteien und Personen des öffentlichen Le‐ bens. Die Washington Post etwa erstellte eine Website namens 100 Days of Trump Claims, auf der haarklein die Äußerungen des US -Präsidenten dokumentiert werden. Ein sogenanntes ›Fact Checker Team‹ hat für die ersten 100 Tage nach Trumps Amtsantritt am 20. Januar ganze 492 Unwahrheiten oder Ungenauig‐ keiten verzeichnet, geordnet nach Datum, Thema und Ursprung der Äußerung (Tweet, Interview…), jeweils versehen mit einer kurzen Erläuterung. Ein ähnlich ausführliches ›Fact-Checking‹ in Form eines langen Artikels hat auch die New York Times formuliert (Qiu 2017). Zu den wichtigsten Werkzeugen dieser Stoß‐ richtung zählen dementsprechend möglichst seriöse Statistiken und Zahlen, dazu Querverweise zu früheren oder in anderen Medien getätigten Aussagen und Gegendarstellungen. So sehr man die Gründlichkeit und Aktualität solcher Bemühungen bewundern mag - sie helfen nur bedingt weiter. Wie von Sam Kriss bemerkt besteht Politik nicht ausschließlich aus Fakten (Kriss 2016). Politik lebt davon, Tatsachen mit Meinungen zu vermischen - und damit kommen rein zahlenbasierte Lösungs- oder Leseansätze nicht zurecht. Speziell im Falle einer Politik, die Fakten gerne einmal schlichtweg ignoriert oder direkt selbst erfindet ist es unzureichend, sich allein auf die Richtigstellung von Fakten zu konzen‐ trieren. Dann also die Geisteswissenschaften, die mit Fakten vergleichsweise wenig am Hut zu haben scheinen? Auch hier stellt sich die Frage, wie die einzelnen Disziplinen mit der politischen Vermischung von Tatsache und Meinung um‐ gehen können. Die Philosophie etwa, als Bastion von moralischen und ethischen Grundsätzen, scheint zu sehr auf fachinterne Diskurse konzentriert zu sein, als sich um die ›Welt da draußen‹ kümmern zu können oder zu wollen - so ist zumindest laut Christoph Behrens das Schweigen der großen Philosophen un‐ serer Zeit zu postfaktischer Politik und digitaler Weltformung zu deuten. »An‐ gesichts des Missbrauchs von Wissenssystemen wie dem Internet müssten Phi‐ losophen schäumen. Stattdessen schweigen sie« (Behrens 2017). Was ist geschehen? Ironischerweise ist es oftmals die Professionalisierung einer Dis‐ ziplin, die ihre mühsam erarbeitete Relevanz wieder untergräbt (vgl. Behrens 2017). Dies scheint besonders für die Geisteswissenschaften zu gelten, ist aber im Grunde charakteristisch für jede Art von Expertendiskurs. Wie etwa von Armin Nassehi beschrieben unterliegt die Wissenschaft als (soziologisches) System einem Prozess der Ausdifferenzierung: sobald die Wissenschaft sich als solche begreift und beginnt, eigene Parameter und Beschreibungsstrategien zu entwickeln, formt sie einen mehr oder weniger von anderen Diskursen abge‐ koppelten Expertendiskurs, der einerseits bestens dafür geeignet ist, Ergebnisse und Erkenntnisse zu produzieren; durch die hohe Spezialisierung büßt eben dieses System aber an gesellschaftlicher Relevanz ein, weil es seine Anschluss‐ fähigkeit zu verlieren droht (Nassehi 2015: 159 f.). Diesem Problem sieht sich auch die Literaturwissenschaft ausgesetzt: welcher ›normale‹ Mensch kann etwas mit den von unserer Disziplin produzierten Ergebnissen anfangen? Wo und wie kann ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz für Menschen, die selbst keine Literaturwissenschaftler*innen sind, unmittelbar relevant sein? Und wie kann Literaturwissenschaft relevant sein in einer sich digitalisierenden Gesell‐ schaft, in der Schnelligkeit vor close reading und Re-Tweet vor Reflexion kommen? Verblüffenderweise werden zumindest Literatur und Politik immer wieder miteinander assoziiert - und das noch ganz unabhängig davon, dass literarische Texte politische Themen aufgreifen können. Zwei Beispiele haben im Zuge der Präsidentschaft Donald Trumps gewisse Bekanntheit erlangt, und beide kreisen um den Begriff der ›alternativen Fakten‹. Der durch Präsidentenberaterin Kelly‐ anne Conway zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Begriff hat vielfach Leute dazu Raphael Zähringer 94 gebracht, Trumps gesamte politische Rhetorik als ›orwellian‹, also in der Tra‐ dition von George Orwells düsteren Zukunftsvisionen stehend, zu bezeichnen (Seaton, Crook und Taylor 2017) - mit dem Effekt, dass 1984, Orwells bekannt‐ ester Roman, auf Platz eins der Amazon-Verkaufscharts kletterte und an vielen Orten restlos ausverkauft war. Fast zeitgleich wurden fragwürdige Versuche unternommen, alternative Fakten als politische Tendenzen zum Verdrehen / Ig‐ norieren / Relativieren von Wahrheit(en) in die Nähe von z. B. Science Fiction zu rücken und damit die Grenzen zwischen den Geltungsansprüchen dieser beiden Bereiche zu verwischen (eine Nähe, von der sich etwa SF -Autorin Ursula K. Le Guin in einem Leserbrief energisch distanzierte; vgl. Le Guin 2017). Der Punkt, an dem die Literaturwissenschaft ansetzen kann, scheint demnach folgender: Politik im Allgemeinen ist nicht reduzierbar auf reine Tatsachen; vielmehr rührt die Macht von Politik daher, dass sie es ermöglicht, sich Dinge vorzustellen, die irreal sind (Kriss 2016). Und natürlich kann man sich diese Dinge nicht nur selbst vorstellen - man kann sie, rhetorisch aufbereitet, einem Publikum näherbringen durch Erzählen im weitesten Sinne. Politikgeschichtlich gesehen ist es demnach auch falsch oder zumindest zu kurz gedacht, genau ›jetzt‹ den Eintritt der westlichen Kultur in ein ›postfaktisches Zeitalter‹ zu proklamieren. Politik ist und war, in beträchtlichem Maße, schon immer post‐ faktisch (Kriss 2016; Pazzanese 2016). So kann man, heute wie in der Antike, vom Ende eines Krieges oder von militärischer Vormachtstellung träumen, von einem flächendeckenden oder einem exklusiven Gesundheitssystem, von of‐ fenen Grenzen oder einer das Land umspannenden Mauer, kurz: von Dingen, die nicht sind, die aber (wortwörtlich) denkbar und kommunizierbar sind. Von Fiktionen. Und wer, wenn nicht die Literaturwissenschaft, könnte und sollte sich damit beschäftigen? Dieser Beitrag regt daher an, gegenwärtige postfaktische Politik und die da‐ raus entstehenden ›alternativen Fakten‹ als narrative Textur zu verstehen, die sich der Literaturwissenschaft als Betätigungsfeld anbietet. Ausgehend von der obigen Grundprämisse, dass Politik und Literatur fiktionale Projektionsflächen von Wirklichkeit sind, diskutiert der Beitrag den Tweet und andere politisch genutzt Medienformate vor dem Hintergrund der Konzepte der Erzählbarkeit (tellability im englischen Original) und Erfahrbarkeit (experientiality) als Texte, die im weitesten Sinne als Erzählungen aufgefasst werden können. Basierend auf Monika Fluderniks Typenmodell mündlicher Erzählformen und Juri Lot‐ mans Plot-Typologie wird weiterführend ein mehrstufiger Vorschlag für eine dezentrale, multimediale Erzählstruktur formuliert. Der Beitrag bezieht sich hierbei nicht ausschließlich auf populistische Strömungen von Politik, bespricht aber viele Beispiele aus diesem Feld. Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 95 Politische Tweets und andere Erzählungen Ein erster Schritt zur ›Literaturhaftigkeit‹ von Politik wurde kürzlich von Ottmar Ette unternommen, der zu medial verknappter Kommunikation forscht. Tweets aus literaturwissenschaftlicher Sicht, sozusagen. Auf den ersten Blick scheinen hier aber andere Kategorien als ›hohe Literatur‹ im Spiel zu sein: Tweets und ähnliche Kommunikationsmittel, so Ette in einem Interview im National Geographic, begünstigen sogenanntes »dummes Denken« und eignen sich dadurch zur Massenmanipulation, »[w]eil sie komplexe Sachverhalte re‐ duzier[en], zuspitz[en] und polarisier[en]« (Wenderoth 2017: 86). Kurznach‐ richten an sich sind also nicht dumm, können aber eingesetzt werden, um ihre Leser*innen dumm zu halten, weil sie das Nachdenken ausschalten, indem sie schnell geschrieben, schnell gelesen, schnell vergessen sind, sich zudem ständig wiederholen und weil sie die Komplexität der Realität herunterbrechen. Ganz so einfach geht die Idee des reduktionsbedingten dummen Denkens aber nicht auf, denn Literatur bedient sich im Grunde derselben Operation. Von soge‐ nannten ›short shorts‹, Minifiktionen oder lyrischen Kurzformen einmal abge‐ sehen mag ein literarischer Text länger sein als ein Tweet, aber das Grundprinzip ist dasselbe: von allen möglichen Worten, die eine Sprache bereithält, landen vergleichsweise wenige ausgewählte in einer bewusst gewählten Anordnung in einer bewusst gewählten Textform, wodurch sich eine semantisch dichte, mit Bedeutung aufgeladene Struktur ergibt. Und ganz zwangsläufig reduziert dieser Text Komplexität: so versucht ein Haiku, einen kurzen Moment einzufangen; eine Kurzgeschichte erzählt in aller Regel anhand eines Erzählstranges einen Ausschnitt aus dem Leben einer Figur; und auch im Roman wird reduziert; so erfahren wir nur, was ›wichtig‹ für die Geschichte ist, weswegen wir zum Bei‐ spiel vergleichsweise wenige Romane zu lesen bekommen, in denen für jeden innerhalb der Geschichte vergehenden Tag minutiös aufgeführt ist, wie sich eine Nebenfigur morgens und abends die Zähne putzt. Die Welt des Romans ist »ge‐ schlossen, in sich zusammenhängend und bedeutungsgeladen« (Esposito 2007: 17) - und kann dadurch, wie der Tweet, Einfluss nehmen auf Realität und Ge‐ sellschaft. Sind also Tweets Literatur oder zumindest wie Literatur? Auf jeden Fall deutet einiges darauf hin, dass es äußerst produktiv für die Literaturwissenschaft sein könnte, sich auf diese Weise mit postfaktischer Politik auseinanderzusetzen. Strukturelle Ähnlichkeiten sollen natürlich nicht über intentionale Unter‐ schiede hinwegtäuschen. Im Zusammenhang mit dummem Denken etwa un‐ terscheidet Ette (Mario Vargas Llosa folgend) etwas plakativ zwischen guten und schlechten Fiktionen: »Gut sind Fiktionen, die sich als solche zu erkennen Raphael Zähringer 96 geben, etwa ein Roman. Die schlechten versuchen ihre fiktive Natur zu ver‐ bergen« (Wenderoth 2017: 87). Hier liegt also ein gewichtiger Unterschied: im Falle der Literatur wissen alle Beteiligten, dass sich um eine Fiktion handelt, die auch nichts anderes sein will (Esposito 2017: 17), während die politisch moti‐ vierte Kurznachricht die von ihr geschaffene Fiktion als Realität zu etablieren versucht. Ein weiterer Unterschied liegt laut Ette in der Erzählhaftigkeit von Roman und Tweet, beziehungsweise in der Abwesenheit von Erzählhaftigkeit in Letzterem, begründet: »Wenn ich sage ›Die anderen sind gefährlich‹, habe ich damit ja nichts erzählt, sondern lediglich behauptet. Wir sprechen von einer Entnarrativierung. Das heißt: ich erzähle nicht mehr, sondern ich lege fest« (Wenderoth 2017: 87). Tatsächlich haben Tweets eine eher kommentierende Funktion, wodurch »auf das erzählerische Element völlig verzichtet« werden kann (Wenderoth 2017: 88). Doch es gibt durchaus viele Tweets, die nach einer Art Minimalerzählung klingen, etwa dieser von der damaligen AfD-Politikerin Frauke Petry vom 25. Januar 2017: »Behörde wollte #Sozialbetrug vertuschen - exemplarisch für Chaos und Überforderung der Behörden. #Asyl #AfD #btw17 *« (Petry 2017). Ein Ereignis (Sozialbetrug) und eine damit verbundene Aktivität. Einer solchen Kurznachricht wohnt demnach, in Ettes Worten, ein »kleine[r] narrative[r] Kern« inne: »Da ist irgendetwas passiert, und deshalb […]« (Wen‐ deroth 2017: 88) - damit erfüllt der Tweet genau die Grundanforderung, die Genette klassischerweise an eine Erzählung stellt. »Für mich liegt, sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Veränderung, einen Übergang vom Vorher zum Nachher« (Genette 2010: 183). Die Menschlichkeit des Erzählens Freilich ist die Erzähltheorie des 20./ 21. Jahrhunderts nicht auf Genette zu re‐ duzieren, und wenn man sich nicht zu sehr versteift, so können überraschend viele (fiktionale und nicht-fiktionale) Textarten als Erzählungen verstanden werden (Fludernik 1996: 38; Fludernik 2012: 226). Tatsächlich hat sich die (Post-Genette-)Narratologie vom klassischen Ereignis- oder Handlungsmodell wegbewegt oder alternative Pfade eingeschlagen. Jonathan Culler etwa hebt hervor, dass Erzählungen nicht auf bloßer Bereitstellung von Information über ein Ereignis basieren, sondern auf »tellability« (Culler 2011: 27) - also auf der Frage, was eine Erzählung spannend und bedeutsam macht. Andreas Mahler unterschied vor diesem Hintergrund kürzlich zwischen thematischer und struk‐ tureller Erzählbarkeit (Mahler 2017: 358), und beide Kategorien versprechen produktiven Umgang mit Tweets und anderen medialen Strukturen. Themati‐ Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 97 sche Erzählbarkeit bezieht sich laut Mahler auf ein alltägliches Verständnis davon, welche Erzählungen (oder welche Teile von Erzählungen) in einem kul‐ turellen Kontext überhaupt erzählbar sind und welche nicht, etwa aufgrund re‐ ligiöser, politischer oder anderer Tabus einer Gesellschaft. Postfaktische Politik lotet genau diese Grenzen dessen, was erzählt werden kann, aus: ein Satz wie ›Das wird man doch wohl noch sagen dürfen! ‹, der die eigene Erzählung ver‐ teidigt, steht dabei in Kontrast zu Versuchen, die Erzählungen anderer zu dis‐ kreditieren, etwa indem Sprecher*innen anderer Gesinnung vom Publikum nie‐ dergebrüllt werden, oder indem Präsident Trump in einer TV -Debatte mit beharrlichen ›Falsch! ‹-Rufen seine Rivalin unterbricht. Strukturelle Erzählbar‐ keit hingegen beschreibt Mahler als ein bewusstes, diskursives ins-Bild-rücken von etwas (Charakter, Affekt, Ereignis), das als besonders erwähnenswert oder kommentarbedürftig empfunden wird und dementsprechend erzählt werden soll. Und auch diese Tendenz findet sich in postfaktischen Erzählungen wieder, denen oft vorgeworfen wird, vor allem die Emotionen der Zuhörerschaft zu bedienen (Affekt) und dabei Einzelfälle (Charakter, Ereignis) zu betonen statt Konzepte oder Lösungsansätze für komplexe Probleme, die nicht an Einzelfällen festzumachen sind (vgl. Nassehi 2015). Erzählbarkeit ist auch Teil von Monika Fluderniks ›natürlicher‹ Narratologie, die sich auf »experientiality« (Fludernik 1996: 29) stützt: diese Erfahrbarkeit wird begriffen als die Präsenz eines menschlichen Protagonisten und dessen Erfahrung von Ereignissen. Statt einer handlungsbasierten Kette von Ereig‐ nissen steht also die emotionale und physische Reaktion im Vordergrund. Erst dadurch werden Ereignisse erzählenswert - und dies ist möglich, weil Erzählen als grundlegende Kulturtechnik zu verstehen ist, und zwar als Antwort auf die Frage, wie menschliche Erfahrung und menschliches Wissen in Bedeutungs‐ strukturen umgewandelt werden können, die ganz grundsätzlich menschlich sind (White 1981: 1). Und gerade im oft beschworenen ›postfaktischen Zeitalter‹, in das ›wir‹ angeblich erst jetzt eingetreten sind und in dem sich die Menschheit der Überkomplexität ihrer Welt bewusst wird, scheint das Erzählen als weltbe‐ greifende Kulturtechnik Teile seiner urtümlichen Macht wiederzugewinnen - auf Kosten wissenschaftlicher Methoden. Erfahrbarkeit kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: aus einer Situation ergibt sich ein Vorfall oder Ereignis, auf welches ein Mensch dann reagiert - doch erst eine im Nachhinein stattfindende Auswertung dieser menschlichen Erfahrung von Handeln ist ausschlaggebend, um das Ganze relevant, also erzählwürdig, zu machen (Fludernik 1996: 29). Kaum relevant für Erzählungen sind hingegen klare Abgrenzungen von Tat‐ sache und Meinung, also wie es ›wirklich‹ war und wie sich der Erzähler oder die Erzählerin dazu verhält. Und auch hier geben sich postfaktische Politik und Raphael Zähringer 98 Erzählung wieder die Klinke in die Hand, wenn die gezielte Vermischung von Tatsache und Meinung einen dichten, aber vagen Text voller Andeutungen er‐ gibt, mit dem man gezielt Grenzen thematischer Erzählbarkeit in Frage stellen (etwa, indem man eine Demonstration, die den 2017 in Hamburg stattfindenden G20-Gipfel ablehnt, ›Welcome to Hell‹ nennt, oder indem man, in einem anderen politischen Lager, die Stärkung des Begriffes ›Volk‹ propagiert), aber sich um‐ gekehrt auch jederzeit wieder auf eine unbestimmte Position zurückziehen kann (›Das habe ich so nie gesagt! ‹ oder ›Das ist doch völlig aus dem Kontext ge‐ rissen! ‹). Dieser Strategie weiterhin zuträglich ist die Entkoppelung und Erwei‐ terung von Raum und Zeit massenmedialer Botschaften (Reinfandt 2015: 122). So kann man, wie AfD-Politikerin Beatrix von Storch, in sozialen Netzwerken zunächst den »Waffengebrauch [an Grenzübergängen] auch gegenüber Kin‐ dern« bejahen, um später Stück für Stück zurück zu rudern und stattdessen zu erklären, man sei beim Verfassen des Kommentars mit der Computermaus aus‐ gerutscht (Welt 2016). Es zeichnet sich mit obigen Ausführungen aber bereits ab, dass es mehr bedarf als der oben skizzierten ›Literaturhaftigkeit‹, Erzählbarkeit oder Erfahrbarkeit von postfaktischer Medientechnik und-rhetorik, um postfaktische Politik als Narrativ zu begreifen. Auch wenn ein Tweet unter bestimmten Umständen als Mini-Erzählung durchgehen mag - deutlich interessanter erscheint das große Ganze, von dem jeder Text nur ein Teil ist: die gesamte postfaktische Maschi‐ nerie, von Interviews über Wahlkampfreden bis zu Pressekonferenzen. Diese lässt sich durchaus als dezentrale und multimediale Erzählung beschreiben. Im Folgenden skizziert der Beitrag hierzu ein paar erste Vorschläge. Ausgangs‐ punkte dieser Impulse sind Fluderniks Modell mündlicher Erzähltypen, Juri Lotmans Plot-Typologie (1979) und Mahlers weiterführende Gedanken zu Lotman. Postfaktische Erzählungen I: Typenmodelle und mediale Strukturen Fluderniks Modell einer auf Erfahrbarkeit beruhenden ›natürlichen‹ Narrato‐ logie stützt sich wie beschrieben nicht auf Plotstrukturen und auch nicht auf den Roman als modern-prototypische erzählende Textform. Stattdessen rekur‐ riert die ›natürliche‹ Erzählung auf die wesentlich ältere Tradition mündlichen Erzählens. Vor diesem Hintergrund skizziert Fludernik sechs verschiedene Er‐ zähltypen: drei davon ergeben sich spontan aus Gesprächssituationen, drei an‐ dere werden in einem nicht-spontanen Setting verortet und sind in der Regel eingebettet in eine kulturell oder anderweitig ritualisierte Tradition oder Per‐ formanz. Als absoluten Prototypen ›natürlichen‹ Erzählens identifiziert sie »ex‐ Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 99 periential conversational storytelling«, also eine Form des Erzählens, in der man spontan in Gesprächsform entweder eine auf eigenen Erfahrungen basierende Geschichte erzählt oder die einer anderen Person (Fludernik 1996: 57). Typ 2 ist der erzählerische Bericht, dem es zwar üblicherweise an Erfahrbarkeit mangelt, der aber strukturell gesehen durchaus erzählerische Elemente beinhaltet. Den dritten spontanen Erzähltypen bilden Witz und Anekdote; beide weisen starke Ähnlichkeit zu Typ 1 auf, gehen aber mit dem ›Clou‹ der Erzählung anders um. Beide spielen sozusagen mit der allgemeinen Erwartungshaltung, die ein Pub‐ likum an den Tag legt, das Typ 1 als grundlegende Erzählform kennt (Fludernik 1996: 58). Fluderniks erster nicht-spontaner Erzähltyp bezeichnet folkloristi‐ sches mündliches Erzählen in Prosa, das die kulturelle Position von Erzählin‐ stanz und Publikum verhandelt, zum Beispiel anhand der Frage nach erzähler‐ ischer Professionalität, anhand thematischer Einschränkungen von Erzählungen durch Tabus, oder anhand struktureller Merkmale wie rituali‐ sierten Gegenreden seitens des Publikums. Epische Lyrik bildet Fluderniks zweiten nicht-spontanen Erzähltypen, welcher im gleichen kulturellen Setting wie Typ 1 verankert ist, thematisch aber oft auf Heldentaten ferner Vergangen‐ heit und sprachlich auf Versform beschränkt ist. Die (längere) Lebensgeschichte umschreibt Fluderniks letzten Erzähltypen; es handelt sich hierbei weniger um vollständige Autobiographien, sondern um der konkreten Situation angepasste thematische Ausschnitte, etwa wenn eine Autorin in einem Interview berichten soll, wie sie ›damals‹ ihr erstes Buch verfasste (Fludernik 1996: 59). Die Be‐ obachtung, dass sich postfaktische Politik der meisten dieser Typen bedient, ist recht offensichtlich. Beispielsweise können Politiker selbstverständlich Anek‐ doten, Witze, oder persönliche Ereignisse in eine Wahlkampfrede einbauen; Pressemitteilungen lassen sich als erzählerische Berichte bestimmen; Debatten im altrömischen Senat, im deutschen Bundestag oder die im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf üblichen TV -Duelle sind detailliert untersuchte und streng ritualisierte Erzählwettkämpfe (oftmals inklusive Zeitlimit, Schiedsge‐ richt und anschließender Analyse durch ausgesuchte Experten); und Interviews oder Einspieler in TV -Dokumentationen geben Anlass, aus dem eigenen Leben zu erzählen. Wie das Beispiel der Anekdote innerhalb einer Wahlkampfrede zeigt, mischen einzelne Medienformate diese Typen (Fludernik 1996: 60). Was sich hier schon andeutet sind die multimedialen Eigenschaften postfaktischer Politik, die sich verschiedenster Medien bedient und die verschiedene Erzähltypen kombiniert. Der Tweet ist nutzbar als jederzeit und überall verfügbare Mini-Erzählung, um möglichst schnell auf Ereignisse reagieren zu können und die Illusion einer un‐ mittelbaren, direkten Kommunikation zu erzeugen, und funktioniert dement‐ Raphael Zähringer 100 sprechend ganz anders als eine vorformulierte Pressemitteilung, die eine nur mittelbar verantwortliche Pressesprecherin in eine Fernsehkamera spricht. Be‐ merkenswert ist hierbei das Wechselspiel von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Koch und Österreicher 1985), sprich: die wechselseitigen Operationen zwischen tra‐ ditionell mündlichen und schriftlichen Medien angesichts unzähliger Nutzungs‐ kombinationen (z. B. Videos / Tweets, die in Online-Artikel eingebunden werden, oder eine per Livestream übertragene TV -Debatte mit Direktkommen‐ taren) angesichts einer überwältigenden Bandbreite verschiedener Texte und Textformen (Fludernik 1996: 54). So lassen sich mündliche Strukturen in schrift‐ liche Formate einbauen und umgekehrt. All dies findet statt vor dem Hinter‐ grund der Medienkonvergenz unserer Konvergenzkultur, die es erst ermöglicht, die Autorität und das kulturelle Kapital eines Sprechers (lies: Erzählers) von einer kulturellen Sphäre zu einer anderen hin zu verlagern oder auszuweiten (Reinfandt 2015: 121). Und man kann dies entweder nutzen, um seine politische Fiktion als Fiktion auszuweisen oder - wie es im Populismus geschieht - um jedwede Alternativen zu überlagern, sodass die eigene Fiktion eine Realität er‐ zeugt, die keine andere neben sich gelten lässt und dementsprechend volle Au‐ torität beansprucht. Während also fake news, politische Fiktionen und deren Machtansprüche nicht neu sind, so erhalten sie in der durch die Massenmedien erzeugten Realität der Moderne neue, machtvolle Werkzeuge, um ihre Fiktion der Realität allgegenwärtig zu machen. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien« (Luhmann 1996: 9), die nun mehr denn je vor den Karren einer postfaktischen Erzählung gespannt werden können. Postfaktische Erzählungen II: Mythos, Linearität, Komplexität Nach den auf den vorigen Seiten formulierten Gedanken zu Einzeltexten post‐ faktischer Politik und der Kombinatorik verschiedener Medien- und Erzählfor‐ mate ist es nun an der Zeit, das größere Ganze zu betrachten. Hierfür bieten sich Lotmans Ausführungen zu »The Origin of Plot in the Light of Typology« an, denn auch er versteht plotting, das zu-einer-Erzählung-machen von Ereignissen und Erfahrungen, als mächtiges Werkzeug, um menschliches Leben und Ge‐ sellschaft verständlich und zugänglich zu machen (Lotman 1979: 182). Lotman unterscheidet dabei zwei Texttypen oder Textmechanismen: einen Prozess der Mythenbildung anhand von zyklisch-temporalen Texten einerseits und einen linear-temporalen Texttypen andererseits. Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 101 Mythische Texte einer Kultur sind zyklisch organisiert (etwa orientiert an den Jahreszeiten) und haben, weil sie sich ständig wiederholen, keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende (Lotman 1979: 161). Die beständige Wiederho‐ lung der mythologischen Struktur zielt dementsprechend auf zeitlose Ereignisse ab, was zusammengenommen einer der Welt inhärenten Gesetzesbildung gleichkommt (›so ist es! ‹). Dabei geht es nicht darum, das Publikum über etwas zu informieren, dessen es sich nicht bewusst ist, sondern um das Aufrechter‐ halten eines zyklischen Flusses (Lotman 1979: 162). Und auch die Politik scheint ihren Mythos zyklisch zu organisieren; so werden nicht nur populistische Schlagworte beständig wiederholt - das gesamte Spektrum politischer Rich‐ tungen richtet sich nach dem Zyklus der Legislaturperioden, dem Hin und Her zwischen Landes- und Bundesebene, zwischen Regierung und Opposition. Nach der Wahl ist stets vor der Wahl. Und wie bei Lotman sind neue Informationen vergleichsweise rar: stattdessen zeigt man sich angesichts politischer Vergehen anderer Parteien oder Nationen stets ›erschüttert‹, verurteilt dieses oder jenes Vorgehen ›aufs schärfste‹, oder ›fühlt mit den Opfern‹ einer humanitären Krise, während sich Wahlkämpfe abwechselnd um Arbeits-, Wirtschafts-, Bildungs- oder Umweltpolitik drehen. Eine weitere Eigenschaft der Mythenbildung ist laut Lotman die Gleichmachung von Dingen, die man sonst kaum vergleichen könnte (Lotman 1979: 162). Ähnlich reduziert der Mythos der Politik die Kom‐ plexität einer modernen Welt und ihrer Probleme auf augenscheinlich einfache Lösungen (zu viele Einwanderer = Mauerbau; zu wenig junge Menschen = El‐ terngeld; oder, ganz einfach: America first! ). Einerseits ist eine solche Komple‐ xitätsreduktion nötig, um Politik, Gesellschaft, die Welt an sich beschreibbar zu machen. Damit stellt die politische Mythenbildung eine Art Metaebene dar, die alles zusammenhält; andererseits laufen solche Beschreibungsstrategien aber ständig Gefahr, auf Stigmatisierung, Stereotypisierung und binäre Grüppchen‐ bildung (›wir‹ und ›die anderen‹ oder ›gut‹ und ›böse‹) zurückzufallen (vgl. Nassehi 2015: 179). Lotmans zweiter, linear-temporaler Textmechanismus, bezieht sich auf ein‐ zigartige Ereignisse, Anomalien und Zufälle, die übergeordnet in Historien, Chroniken oder Annalen zusammengefasst werden (Lotman 1979: 163). Hier klingt die von Ette beobachtete Erzählhaftigkeit politischer Tweets wieder an - ich wiederhole das Zitat: »Da ist irgendetwas passiert, und deshalb […]« (Wen‐ deroth 2017: 88). Ein außergewöhnliches Ereignis - ein medienwirksames Ver‐ brechen, ein rhetorischer Fauxpas, ein aufgedeckter Skandal - wird als Teil einer ganzen Kette von Ereignissen festgehalten. Dieser Mechanismus, von Mahler als narrative Säkularisierung (»narrative secularization«; Mahler 2017: 368) be‐ zeichnet, ist charakteristisch für eine generelle Verschiebung westlicher Er‐ Raphael Zähringer 102 zähltradition um das Jahr 1600 herum (Mahler 2017: 367), welche die mythische Erzählweise um einen linearen Plotmechanismus ergänzt. Gemeinsam erzeugen diese beiden Texttypen den modernen Plot-Text, und auch ihr Zusammenspiel lässt sich auf postfaktische Politik übertragen. Im Mythos, so Lotman, geht es immer ›um mich‹, die eigene Gruppe, sozusagen. Die ich-bezogene Reduktion des eigenen Mikrokosmos und der Makrokosmos des umgebenden Universums erzeugen persönliche Relevanz (Lotman 1979: 163): ›America first‹ subsumiert die ›guten Amerikaner‹ unter einem Schlagwort und stellt diesen die Neuig‐ keiten und Ereignisse gegenüber, die sich stets auf ›die anderen‹ beziehen, also auf von ›anderen‹ begangene Vorfälle, die die mythische Ordnung stören. Der Plot-Text postfaktischer Politik bewegt sich damit zwischen tragischer Span‐ nung in Form schockierender Neuigkeiten und dem Versprechen eines finalen Eintretens von Ruhe (Lotman 1979: 173) - nämlich dann, wenn der Politiker oder die Politikerin endlich das erreicht, wovon er oder sie ständig spricht: von der eigenen politischen Fiktion als ultimative Antwort auf die Probleme der Gesellschaft. Somit handelt es sich bei dem garantierten Versprechen von Auf‐ lösung und wiederhergestellter Ordnung, das auf der mythischen Ebene ge‐ macht wird (Mahler 2017: 367), um eine Projektion jenseits der politischen Er‐ zählung - um einen Traum, der im Heute immer erst morgen wahr wird. Mahler geht nach der oben angesprochenen narrativen Säkularisierung aber noch einen Schritt weiter, indem er sich dem literaturhistorischen Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert zuwendet, welcher eine bedeutende weltanschauliche Verschiebung markiert. Vor dem Hintergrund des ›linguistic turn‹ wird mit dem Übergang des Realismus zum Modernismus das Verhältnis zwischen Sprache und Welt mehr und mehr problematisiert (Reinfandt 2015: 76), was sich ent‐ sprechend in den Themen und Strategien des modernen Romans niederschlägt. Umgekehrt wird, so Mahler, den linearen Techniken des realistischen Romans zunehmend ihre Relevanz als sozialkritisches Werkzeug abgesprochen (Mahler 2017: 369). Kontingenz (als Offenheit und Ungewissheit) und Widerstand sind die aufkommenden Kernmerkmale des modernen Romans, welche sich ent‐ sprechend auf dessen Erzählbarkeit auswirken: Wenn es nicht mehr primär darum geht, realistisch anmutende Beziehungen zu dem herzustellen, was wir Realität nennen, so rücken stattdessen ungewöhnliche und problematische Er‐ fahrungen von Realität in den Vordergrund, die einräumen, dass weder Mensch noch Roman ›die Realität‹ adäquat beschreiben können (Mahler 2017: 369). Auch die Politik sieht sich mit dieser Problemstellung konfrontiert - speziell, wenn man die bereits angesprochene Medienkonvergenz und die Digitalisie‐ rung von Welt und Weltbeschreibungen berücksichtigt. Einerseits haben Poli‐ tiker*innen mit Konvergenz und Widerstand zu kämpfen: in einer Welt, in der Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 103 man online in wenigen Minuten Dinge recherchieren kann, muss man mit einer deutlich kritischeren Zuhörerschaft rechnen als noch vor einigen Jahren. Infol‐ gedessen ist dieses Publikum nicht nur fähig, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen - es kann auch dank der sozialen Medien unmittelbar reagieren und die politische Erzählung kommentieren. Fluderniks Erzähltypen verändern sich oder mischen sich in diesem Sinne neu, wenn zum Beispiel CDU -Generalsek‐ retär Peter Tauber in Bedrängnis gerät aufgrund seiner Tweets zur Frage der Vollbeschäftigung (»Wenn Sie was ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs«; FAZ / dpa 2017). Der digitale Shitstorm fungiert gewis‐ sermaßen als kollektives digitales Ausbuhen, das dem Erzähler entgegenschlägt. Und plötzlich sehen sich Autor und Autorin ihrer einstmals kaum beschränkten Autorität beraubt. Populistische Strömungen der Politik hingegen neigen dazu, die postfaktischen Medienstrukturen für ihre Zwecke zu nutzen. Donald Trump, der es zum Zeitpunkt dieses Artikels auf über 35.000 Tweets und über 34 Milli‐ onen Follower bringt, wirft selbst immer wieder den Begriff der fake news in den digitalen Ring, wenn Presseberichte nicht seinen Wünschen entsprechen. Der Vorwurf der fake news innerhalb der eigenen Erzählung entwertet somit andere Sprecherpositionen durch aktiven digitalen Widerstand, oftmals sogar im Voraus: so warnte Trump beispielsweise seine Follower vor, die Presse würde seine Erfolge der ersten 100 Tage im Präsidentenamt verreißen - unabhängig davon, wie viel oder wenig er vorzuweisen haben werde (Doemens 2017). Gleichzeitig ist es verblüffend einfach, die Kontingenz der modernen politischen Erzählung auszunutzen, wie die Leugnung des Klimawandels oder das Hin und Her von Trumps Beraterin Kellyane Conway und seines ehemaligen Presse‐ sprechers Sean Spicer rund um die Besucherzahlen bei Trumps Ernennungsze‐ remonie und das schon erwähnte Schlagwort der ›alternativen Fakten‹ de‐ monstrierten. Auf die Metaebene postfaktischer Politik zurückkommend lässt sich festhalten, dass deren Erzählung - dank der Konvergenzkultur des 21. Jahrhunderts und der von Mahler identifizierten weltanschaulichen Ver‐ schiebung - den linear-realistischen Textmechanismus im Vergleich mit ›mo‐ dernen‹ Strategien eher selten nutzt. Beide Modi sind aber rückgebunden an die alles zusammenhaltende mythologische Struktur, in die die Gesamtheit politi‐ scher Texte eingebettet ist, wodurch diese (allen medialen, formalen und in‐ haltlichen Unterschieden zum Trotz) eine gemeinsame Welt erzeugen, in der auch auf den ersten Blick weit voneinander entfernt scheinende Elemente als komplexes Netz zusammenhängen (Lotman 1979: 162). Raphael Zähringer 104 Zusammenfassung und Ausblick Postfaktische Politik erzeugt und nutzt eine dezentrale, multimediale Struktur, die man mittels literaturtheoretischer Werkzeuge als Erzählung begreifen und beschreiben kann. Zwar ist Politik keine Literatur, doch beiden Sphären liegt die grundmenschliche Tendenz zum Erzählen und zur Fiktionalität zugrunde. Aus‐ schlaggebend für diesen Vorschlag sind (thematische und strukturelle) Erzähl‐ barkeit und Erfahrbarkeit, zwei Konzepte also, die sich vom Erzählbegriff als bloße Informationsweitergabe oder Ereigniskette lösen und stattdessen Erzähl‐ barkeit, Erzählwürdigkeit und das Kodieren menschlicher Erfahrung stark ma‐ chen. Eine Schlüsselrolle kommt hierbei der modernen Konvergenzkultur zu, die es mehr denn je ermöglicht, verschiedene (schriftliche und mündliche) Er‐ zähltypen und Medienformate zu kombinieren. Diese übergeordnete Makroer‐ zählung postfaktischer Politik vollzieht sich vor dem Hintergrund von Lotmans Plot-Typologie auf mehreren Ebenen: Tweets, Wahlkampfreden, TV -Interviews und weitere Einzeltexte sind teilweise noch an linear-temporale (›realistische‹) Textmechanismen gebunden, zeigen aber starke Tendenzen zu problematisier‐ enden (›modernen‹) Textmechanismen, die sich durch Offenheit, Ungewissheit und Widerstand auszeichnen. Zu einem übergeordneten Gebilde werden diese Texte und Mechanismen durch eine mythologisch-zyklische Struktur, die die einzelnen Elemente zusammenhält als Teile einer großen politischen Fiktion, die von dem erzählen kann, was nicht ist, aber was sein könnte. Politiker*innen und ihre Institutionen generell nutzen diese ›Großerzählung‹ als Projektions‐ fläche für die eigene Agenda, deren Träume sich in einer unbestimmten Zukunft erfüllen - und populistische Strömungen gehen einen Schritt weiter mit dem Versuch, die eigene Fiktion bereits der Gegenwart überzustülpen. Wie eingangs erwähnt stützt sich diese populistische Fiktion der Realität auf die Vermischung von Meinung und Tatsache und das Herunterbrechen der Komplexität der Welt auf einfache Beschreibungen und Lösungen. Diese Stra‐ tegie ermöglicht es, an der einen Stelle Tabus zu brechen und an der anderen vage genug zu bleiben, um das eigene Vorpreschen später zu relativieren. Damit ist der Bogen gespannt zwischen der Grundtechnik des Tweets und der groß angelegten Fiktion, die ihre ganz eigene Version der Realität erzeugt. »Kurz‐ nachrichten« und der postfaktische Mythos »schaffen Spielräume für Interpre‐ tation, in die hineinprojiziert werden kann« (Wenderoth 2017: 87), und beide interpretieren die Welt durch ihre ganz eigene Erzählung. Damit ist, nach der Fiktion oder Erzählung als Gegenstand der Literaturwissenschaft, auch das wichtigste Werkzeug der Disziplin im Spiel: Interpretation. Dieses Kerngeschäft der Literaturwissenschaft, so demonstrierte dieser Beitrag anhand der Interpre‐ Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 105 tation postfaktischer Politik als narratives Geflecht, scheint bestens geeignet, politische Vermischungen von Meinung und Tatsache zu untersuchen, weil es sich genau dieses Spannungsfeld zu nutzen macht und ebenfalls zwischen Tat‐ sache (etwa als konkrete Arbeit an und mit Primärtexten) und Meinung (was oder wie diese Texte, im weitesten Sinne, ›bedeuten‹) rangiert. Die Interpreta‐ tion, und damit die Literaturwissenschaft, ermöglicht auf diese Weise eine De‐ batte, die sonst nicht führbar erscheint. Literatur Behrens, Christoph (2017). ›Denker in der Krise.‹ Süddeutsche Zeitung. (22. 01. 2017), http: / / www.sueddeutsche.de/ wissen/ philosophie-denker-in-der-krise-1.3338164 (03. 07. 2017). Culler, Jonathan (2011). Literary Theory: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford Uni‐ versity Press. 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Wenderoth, Andreas (2017). ›Die gefährliche Macht der Kurznachrichten.‹ Interview. National Geographic, 2017.4 (April), 86-89. Alternative Fakten und postfaktische Politik als Narrativ 107 7 Erzählungen vom ›wahren‹ Volk Überlegungen zu einer Narratologie des Populismus Robert Leucht / Carl Niekerk Hinführung: die Worte der Populisten In seinem 2016 publizierten Essay Was ist Populismus? schlägt Jan-Werner Müller eine sprachlich-orientierte Annäherung an das Phänomen des Popu‐ lismus vor: »Nicht an ihren vermeintlich ressentimentgeladenen Wählern sollt ihr Populisten erkennen - sondern an ihren eigenen Worten.« (Müller 2016: 65) Die Stärke von Müllers Vorschlag besteht darin, nicht irgendwelche ano‐ nymen (und als ›naiv‹ stigmatisierten) Wähler für den aktuellen populistischen Trend verantwortlich zu machen, sondern die Verantwortung bei jenen Politi‐ kern zu suchen, die, indem sie vorgeben, sich auf ihre Wähler zu beziehen, diese rhetorisch und machtpolitisch auszunutzen versuchen. Müllers Ansatz, das Phä‐ nomen des Populismus sprachlich zu fassen, ist allerdings nicht ganz neu - vor ihm hat zum Beispiel schon Rancière vorgeschlagen, den Populismus als »Sprechstil, der sich direkt an das Volk wendet« (»style of speech that addresses itself directly to the people«), zu verstehen (Rancière 2016 / 2013: 101) -, ergänzt aber auf produktive Weise frühere Ansätze, die ihn entweder als ein loses Kon‐ glomerat ideologischer Positionen konzipieren (vgl. hierzu Priester 2012), oder aber als eine schichtenspezifische Erscheinung. Müllers Vorschlag, den Popu‐ lismus anhand der Worte der Populisten zu fassen, hat jedenfalls den Vorteil, Konsistenz zu schaffen, wo sonst die mit dem Populismus oft assoziierte ideo‐ logische Unklarheit herrscht. Müllers Vorschlag lautet konkret: Wer von sich selber sage, »Wir - und nur wir - repräsentieren das (wahre) Volk« (Müller 2016: 18 f.), sei Populist. Nun ist eine solche Behauptung allerdings nicht ganz unproblematisch, zumal Ansprüche, das Volk zu vertreten, eine lange politische Tradition haben, die keineswegs nur populistische Elemente umfasst. »Wir das Volk« / »We, the people« lautet zum Beispiel der Anfang der Einleitung (›Preamble‹) der Ame‐ rikanischen Verfassung vom 17. September 1787 (vgl. Butler 2016 / 2013: 53). Die Worte ›Wir sind das Volk‹ werden von vielen Deutschen auch heute noch mit dem spontan und friedlich erreichten Mauerfall vom 9. November 1989 assozi‐ iert. Bei keinem dieser Beispiele handelt es sich um Exempel populistischer Po‐ litik, sondern eher um Äußerungen eines spontan erwachenden demokratischen Bewusstseins, dessen Legitimität wir nicht geneigt sind, in Frage zu stellen. Vielleicht ist es ja genau die historisch unanfechtbare Legitimität solcher Er‐ klärungen, die es für den Populisten attraktiv macht, sich in ähnlicher Weise zu äußern? Um als populistisch zu gelten, brauchen wir also etwas mehr als nur den Anspruch des Populisten, das Volk zu vertreten. Karin Priester hat argumentiert, dass die Behauptung eines Alleinvertretungsanspruchs des ›wahren‹ Volkes mit anderen ideologischen Haltungen, wie »Anti-Elitarismus«, »Antipolitik«, »In‐ stitutionenfeindlichkeit« sowie einer »Polarisierung und Personalisierung der Politik« (Priester 2012) einhergehen muss, um als populistisch zu gelten. Ganz ähnlich versteht auch Rancière, zusätzlich zu der Bezugnahme auf das Volk, die Kritik an Regierung und herrschenden Eliten sowie eine Betonung der Identi‐ tätsproblematik, die sich vor allem gegen Fremde richtet, als entscheidende Charakterzüge des Populismus (Rancière 2016 / 2013: 101). Im Bewusstsein, dass ›Populismus‹ ein umstrittener Begriff ist, der vielfache, unterschiedliche Per‐ spektiven erlaubt, identifizieren Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser ›Volk‹, ›Elite‹ und den auf Rousseau zurückzuführenden Begriff des ›allge‐ meinen Willens‹ (›volonté générale‹) als den Populismus prägende Schlüssel‐ konzepte (Mudde und Kaltwasser 2017: 9-19). Mit dem ›allgemeinen Willen‹ ist die menschliche Fähigkeit gemeint, eine Gemeinschaft zu bilden, deren Aufgabe es ist, ihr gemeinsames Interesse zu vertreten (im Gegensatz zum ›Willen aller‹ [›volonté de tous‹], dem es nur um die Summe der Einzelinteressen gehe) (vgl. Mudde und Kaltwasser 2017: 16, vgl. Rousseau 1992 / 1762: 52 ff.). Alle hier er‐ wähnten Theoretiker sind sich jedenfalls einig, dass eine rhetorische Beschwö‐ rung des Volkes allein nicht ausreicht, um einen Politiker zum Populisten zu machen. Es handelt sich vielmehr immer um eine Kombination von Elementen, und es kommt darauf an, wie diese Elemente miteinander verknüpft werden. Immerhin setzt Müllers Zugriff auf das gegenwärtig florierende Phänomen des Populismus aber einen klaren Akzent: Sein expliziter Fokus auf die sprach‐ liche Dimension des Populismus ermöglicht der Analyse, ihr Augenmerk auf die von Populisten gewollt oder unbeabsichtigt verfolgten Darstellungsprozesse zu lenken und damit auch die verschiedenen Verknüpfungsweisen jener Elemente zu beobachten, die zusammen den Populismus ausmachen. Unserem Anspruch, den Populismus als ein narratologisches Thema zu rahmen, kommt Müllers Zu‐ Robert Leucht / Carl Niekerk 110 griff insofern entgegen, als auch wir den Blick auf die Worte der Populisten richten werden, um damit die Relevanz der im Rahmen der Literatur- und Kul‐ turwissenschaften entwickelten Narratologie für die Domäne der Politik nach‐ zuweisen. Das Ziel unseres Beitrags ist es, aktuell wirkmächtige Erzählungen vom ›wahren‹ Volk und seiner ›wahren‹ Repräsentation mit den Mitteln der Erzählanalyse zu untersuchen. Es geht uns dabei um einen disziplinär fun‐ dierten, interdisziplinären Ansatz, der Instrumente der Narratologie, eine ter‐ minologisch alles andere als einheitliche Disziplin (Wagner 2015: 7, vgl. auch Bal 2009: 47-50), zur Analyse gesellschaftlicher Erzählungen produktiv macht, und damit das Wirkungsfeld jenseits der eigenen Disziplin im traditionellen Sinne erweitert. Narrative gibt es überall in unserer Gesellschaft (Bal 2009: 473), und die Politik ist zweifelsohne eine Sphäre, in der die narrative Gestaltung wichtig und folgenreich ist. Unsere Untersuchung ist von der These geleitet, dass populistische Narrative zwar darauf abzielen, Wirklichkeit zu ent-komple‐ xifizieren, dass aber die ihnen zugrunde liegenden Erzählstrategien alles andere als einfach sind und oftmals außerhalb der Sicht der Adressaten fungieren. Pointiert gesagt, ist unser Anspruch ein doppelter: Es geht uns zum einen darum, Verfahrensweisen dieser Erzählungen genauer zu beschreiben und dadurch besser beobachtbar zu machen; sowie zum anderen darum, die soziale und kul‐ turelle Funktion dieser Erzählungen näher zu bestimmen. Schließlich möchten wir einige Vermutungen darüber anstellen, wo eine Erzählung ansetzen könnte, die sich der Wirkungsmacht populistischer Narrative entgegenstellt. Das Haupt‐ augenmerk unseres Beitrags wird insgesamt auf der Analyse von populistischen Erzählverfahren liegen. Voraussetzungen: die drei Akteure in populistischen Erzählungen Wenn Populisten vor versammelter Menge zu einer politischen Rede ansetzen, lassen sie erzählend drei verschiedene Figuren auf die Bühne treten: einen Ich‐ erzähler, der sein gesamtes Erwachsenenleben gearbeitet habe, ›das Volk‹ (bspw. ›the American people‹ oder ›das Schweizer / Deutsche / Niederländische Volk‹) sowie dessen Widersacher. Letztere gliedern sich in eine Bedrohung von Innen und von Außen: Während Akteure wie bspw. der islamische Terrorismus, die chinesische Wirtschaft, die EU -Bürokraten, der Chef der Eurogruppe oder me‐ xikanische Vergewaltiger das Volk von Außen bedrohten (vgl. Adam 2013, Blo‐ cher 2017, Trump 2016), hätten seine Feinde im Inneren das Volk und seine Interessen vergessen. In den Worten Donald Trumps heißt dieser innere Feind »the establishment«, »the powerful«, »the insiders«, »arrogant leaders« oder »Lobbyists« (Trump 2016 / 2017 »Inaugural Address«); bei Christoph Blocher Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 111 sind es »die da oben«, das »Establishment«, »die sich aufspielende Elite« oder die »Classe Politique« (Blocher 2017), und Geert Wilders argumentiert: »the elites have abandoned the people«, womit er »[a]lmost the entire Establishment, the elite universities, the media, politicians« meint (Wilders 2017). Trotz erheb‐ licher ideologischer Unterschiede zwischen diesen Rednern - die wir in unserem Aufsatz nicht in allen Einzelheiten diskutieren werden, die aber nicht übersehen werden sollten - beschwören alle das Bild eines Widersachers innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Bei diesen inneren Feinden handelt es sich für den Po‐ pulisten um eine gesellschaftliche Elite in Politik und Wirtschaft, wobei darüber hinaus behauptet wird, dass auch die Medien, Universitäten und Künste von einer Elite dominiert werden (vgl. Mudde und Kaltwasser 2017: 12). Innere und äußere Feinde gehen in der Sicht der Populisten eine - nicht sehr plausible - Allianz ein, indem sie beispielsweise der gesellschaftlichen und politischen Elite im eigenen Lande vorwerfen, Immigranten zuzulassen, dabei aber in Kauf zu nehmen, dass der eigene Wohlfahrtsstaat vernichtet werde (in Bezug auf Europa: Mudde und Kaltwasser 2017: 35). Der Kosmopolitismus der Elite, »the political correctness of the elites« (Wilders 2017), wird vom Populisten als Luxus-Er‐ scheinung einer privilegierten Gesellschaftsschicht interpretiert, die sich um die Probleme des ›wahren‹ Volkes wenig kümmere, um stattdessen den eigenen - kosmopolitischen, aus populistischer Sicht aber: weltfremden - Hobbys nach‐ zugehen. Diagnostiziert wird damit eine problematische Beziehung zwischen dem Volk und seinen offiziellen Repräsentanten: »The establishment«, so Trump 2017, »protected itself, but not the citizens of our country« (Trump 2017 »Inaugural Address«); »Our leaders have lost their ability to recognize danger and under‐ stand the truth, because they no longer value freedom« (Wilders 2017). Diese Diagnose bildet den Erzählanlass populistischer Narrative. Dass sie stets darauf abzielen, anstelle der angeblich korrumpierten eine bessere Repräsentation zu setzen, kündigt sich in Details an. Wenn bspw. die Regierung als »small group in our capital« (Trump 2017 »Inaugural Address«) bezeichnet ist, dem ein grö‐ ßeres Kollektiv, nämlich »das Volk« (Adam 2013, Blocher 2017), »everyone« (Trump 2017) oder »people«, die jetzt »Fremde im eigenen Lande« (»strangers in their own land«) sind (Wilders 2017), gegenübersteht, dann werden Kräfte‐ verhältnisse ins Werk gesetzt, die den Adressaten suggerieren, dass sich die vielen Vergessenen aus dem Volk, wenn sie sich nur organisieren und zusam‐ menschließen, gegenüber den Wenigen ›da oben‹ durchsetzen werden. Robert Leucht / Carl Niekerk 112 Grafik 1 Das Volk als affektiver Erzähleinsatz Kein anderer Akteur dieser triangulären Konstruktion wird erzählerisch mit derart viel Aufwand gestaltet wie das ›Volk‹, dem aufgrund seiner zentralen Bedeutung in populistischen Erzählungen unser Hauptaugenmerk gilt: Wie sehen nun die Erzählstrategien aus, mit denen das Volk dargestellt wird? Und wie lässt sich seine Funktion in populistischen Narrativen genauer bestimmen? Zunächst ist es auffällig, dass das Volk je nach dem aktuellen Ziel der Erzäh‐ lung unterschiedlich evoziert wird: nämlich (a) in seiner Gesamtheit, bspw. als »the people«, »all of our people« (Trump 2017 »Inaugural Address«), »the people here in this room, and also the millions throughout the country« (Wilders 2017), das »Volk« (Adam 2013), oder das »eigene Volk« oder »Schweizer Volk« (Blocher 2017); (b) anhand von (oft berufsspezifischen) Teilgruppen wie der »Verkäuferin«, »Coiffeuse«, oder dem »Mechaniker« (Blocher 2017) bzw. den »American workers«, »[S]truggling families across our land«, »great men and women of our military […]« (Trump 2017 »Inaugural Address«); oder aber (c), wodurch besonders intensive Emotionen evoziert werden, anhand von Einzel‐ schicksalen, die stellvertretend für das Leiden des Volkes stehen. Beispielhaft hierfür ist Kathryn Steinle, die von einem illegal in den USA lebenden Mexikaner ermordet wurde und die Trump verallgemeinernd als »innocent Americans like Kate Steinle« ins Spiel bringt. (Trump 2016) Diese unterschiedlichen Strategien, das Volk heraufzubeschwören, lassen vermuten, dass eine Pointe populistischer Erzählungen im Bereich des Affek‐ Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 113 tiven liegt. Das Volk in einer Rede zu evozieren, ist zuallererst ein Sprechakt, durch den im und für den Moment eine Entität gebildet wird (vgl. Butler 2016 / 2013: 53). Es geht dabei nicht um die Bezugnahme auf eine empirisch ge‐ sicherte Gesamtheit, sondern die Schaffung einer Affektgemeinschaft von kurzer Dauer. In solchen Sprechakten wird zum einen die Existenz eines Volkes, zum anderen die Zugehörigkeit des Redners zu ihm behauptet. Erst der affektive Aspekt, so unsere Annahme, vermag diese Verbindung herzustellen. Zugleich sind solche emotionalen Gemeinschaften zerbrechlich und die so erzeugten Verbindungen nicht sehr stabil (Didi-Huberman 2016 / 2013: 68). Man denke an den Versuch einiger Politiker, am 10. November 1989, dem Tage nach dem Mau‐ erfall, vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin die Nationalhymne zu singen, was vom Publikum vor allem mit lautem Pfeifen pariert wurde. (vgl. ›Die Nati‐ onalhymne am 10. November 1989‹, 1989) Es besteht also eine Spannung zwi‐ schen dem Anspruch des Populisten, eine Gemeinschaft zu gründen und dieser anzugehören, und den Reaktionen der Zuhörer, die diesen Anspruch entweder affirmieren oder auch ablehnen können. Besonders in den Reden Donald Trumps wird die Bedeutung des Volkes als affektiver Erzähleinsatz ersichtlich. Charakteristisch für Trumps narrativen Einsatz des Volkes ist, dass sein Erzähler sowohl über das Volk (3. Pers.), zum Volk (2. Pers.) als auch für das Volk (1. Pers.) spricht. Es wird innerhalb derselben Rede sowohl als »the people« (3. Pers.), »all of you« (2. Pers.) als auch »all of our people« (1. Pers.) bezeichnet. (Trump 2016) Aus dieser Beobachtung ergeben sich zwei wichtige Befunde. Erstens: Die zuvor skizzierte Triangulierung (Ich‐ erzähler, Volk, Feinde) wird um eine weitere Figur, die Adressaten der Erzählung, ergänzt. Zweitens: Die unterschiedlichen Formen, das Volk zu adressieren, führen zu einem narrativen Spiel, in dem manchmal die Adressaten, manchmal der Erzähler selbst mit der Figur des Volkes zusammenfallen. Anders gesagt: Sowohl auf der Achse Volk - Adressat als auch auf jener Volk - Erzähler (siehe Grafik 2) werden im Moment des Erzählens Verbindungen geknüpft: Robert Leucht / Carl Niekerk 114 Grafik 2 Zwei Beispiele mögen diese narrativen Verschmelzungen illustrieren: a. In einer Wahlkampfrede im August 2016 in North Carolina heißt es: »So many people suffering for so long in silence. No cameras. No coverage, no outrage from the media class that seems to get outrage over just about everything else. So, again, it’s not about me. It’s never been about me. It’s been about all the people in this country who don’t have a voice. I am running to be your voice.« (Trump 2016; Hervorhebung von uns, RL / CN ) Wir beobachten hier, wie sich die Relation Volk - Adressat innerhalb eines einzigen Satzes ändert: Wenn »the people« bis zum Ende dieser Sequenz noch von den Adressaten unterschieden sind, fallen sie mit der letzten Phrase (»your voice«) mit ihnen zusammen. Anders gesagt: Die Adres‐ saten selbst werden schlagartig zum Volk, die Zuhörer der Erzählung zu Protagonisten der Erzählung. In jenem Moment, in dem diese Identität gebildet wird, vollzieht sich ein affektiver Einschluss, durch den die An‐ wesenden direkt an der entworfenen Leidensgeschichte des Volkes par‐ tizipieren. b. Eine ähnliche Fusionierung wie hier auf der Achse Volk - Adressat be‐ obachten wir in Trumps Ankündigungsrede für die Präsidentschaft 2015 auf der Achse Volk - Erzähler. Hier bezeichnet sich der Erzähler nicht nur als Stimme des Volkes (»your voice«, siehe oben), sondern spricht in dessen Namen. Metonymisch werden das Schicksal eines Arztes, der unter Obamacare, eines Herstellers, der unter chinesischen Zöllen, und einer Frau, die unter den Immigranten leide, dargestellt. (Trump 2015) Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 115 Narratologisch betrachtet nimmt die Erzählinstanz in einer wechselnden Fokalisierung (Martinez und Scheffel 2012: 68 f., Bal 2009: 315 ff.) den Blick einzelner Menschen aus dem Volk ein, wodurch die Perspektive des Er‐ zählers und jene des evozierten Volkes ineinander übergehen. Während es zuvor um die Identifikation der Adressaten mit dem Volk ging, geht es nun um die narrativ evozierte Teilhabe des Erzählers am Leiden des Volks. In beiden Fällen geht es zum einen um die Verschmelzung der an der Erzählung beteiligten Instanzen (Volk - Erzähler - Adressat), zum an‐ deren um die Abgrenzung zum Feind, dem weder eine eigene Sicht noch eine Stimme zugestanden wird, was zur Folge hat, dass er von der Em‐ pathie der Zuhörer ausgeschlossen bleibt. Halten wir vorläufig fest: Aus narratologischer Perspektive ist also das Volk in populistischen Erzählungen keine harte, sondern vielmehr eine weiche Größe; es handelt sich um eine Erfindung, die dynamisch sein soll im Sinne einer ›ad hoc‹ aufgerufenen Kategorie, die der Redner von oben herab für sein Publikum verwendet (Mudde und Kaltwasser 2017: 55). Der populistische Erzähler schließt sowohl seine Adressaten als auch - punktuell - sich selbst in diese Größe mit ein, sodass das Volk als zentrale Figur der Erzählungen erst im Hier und Jetzt, aus den aktuellen Worten des Redners gebildet wird. Die Einsicht in das Ephe‐ mere des Volkes soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Begriffe wie ›Volk‹ oder ›the American people‹ in den Kontexten, in denen sich diese Er‐ zählungen entfalten, von vornherein emotional aufgeladene Chiffren sind. Es ist vielmehr so, dass die Temperatur, die diese Begriffe als solche bereits haben, die Voraussetzung dafür bildet, dass Populisten um diese ›heißen Zonen‹ herum ein narratives Spiel des Ein- und Ausschlusses in Gang setzen können. Es besteht darin, die Adressaten ihrer Zugehörigkeit zu diesem mächtigen Kollektiv zu versichern. Dabei ist zu vermuten, dass die Affekte der Zuhörer immer dann am stärksten sind, wenn sie vom Erzähler in die Nähe dieses Kollektivs gerückt bzw. mit ihm in Übereinstimmung gebracht werden. Eine zweite Analyse soll die bis zu diesem Punkt gewonnene Einsicht in die Weichheit und affektive Aufgela‐ denheit des von Populisten geschaffenen Kollektivs vertiefen. Bemerkenswert in der Rede der Populisten ist auch die Benutzung des Pro‐ nomens ›wir‹; im ›wir‹ verschmelzen Adressat und Erzähler, dem das Pronomen ermöglicht, gleichzeitig über, für und zu dem Volke zu sprechen. Voraussetzung ist auch hier, dass relativ unklar bleibt, wer mit diesem ›wir‹ genau bezeichnet wird und das Volk auch hier eine weiche Größe bleibt. In Trumps Antrittsrede als Präsident ist der Gebrauch des ›we‹/ ›wir‹ noch relativ unproblematisch: Gemeint sind die Bürger Amerikas, wie am Anfang explizit gesagt wird: »We, the citizens of America, are now joined in a great national effort« (Trump 2017 Robert Leucht / Carl Niekerk 116 »Inaugural Address«). Trotzdem fällt es Trump sogar während des Vortrags schwer, diese Einheit zu bewahren. Brüchig wird das ›wir‹, sobald es darum geht, die inneren Feinde zu benennen: »We’ve defended other nation[s’] borders while refusing to defend our own; […] We’ve made other countries rich while the wealth, strength, and confidence of our country has disappeared over the horizon« (Trump 2017 »Inaugural Address«). Manche Bürger der Nation hätten nicht im Interesse des ›wir‹ gehandelt und gehörten deshalb nicht wirklich dazu. Während die Rede also Einheit suggerieren soll, sind die ihr zu Grunde liegenden Ausschließungsmechanismen leicht zu erkennen. Klar werden die Spannungen, die das ›wir‹ zu vertuschen versucht, vor allem wenn der Populist nicht vor dem eigenen Volk, sondern außerhalb der eigenen Gemeinschaft spricht. In Geert Wilders’ Konstanzer Rede ist ›we‹ das bei weitem am meisten benutzte Personalpronomen, und es ist sehr effektiv, weil es eine affektive Verbindung zwischen dem Niederländer Wilders und seinem deut‐ schen Publikum herstellt. Wer mit diesem ›wir‹ gemeint ist, bleibt lange ohne Referenten, bis Wilders gegen Ende seiner Rede, etwas paradox und noch immer vage, von »our humanistic Judeo-Christian culture and civilization, our liberties, our nations« spricht (Wilders 2017), dabei humanistische und christliche Denk‐ ansätze einerseits, und jüdische und christliche Traditionen andererseits zu einer Einheit schmiedet. Wenn Trump in seiner Warschauer Rede vom 6. Juli 2017 das Pronomen ›we‹ benutzt, meint er zunächst sich selbst und seine Ehe‐ frau und dann das amerikanische Volk; allmählich umfasst dieses ›wir‹ aber immer mehr. Trump sucht die Sympathie der Polen zu erlangen, indem er ex‐ plizit die lange Geschichte militärischer und ziviler Besatzungen Polens durch seine Nachbarn anspricht. Aus diesem geschichtlichen Exkurs entsteht ein ›wir‹, das sowohl die Amerikaner als auch die Polen miteinschließt. Beide gehören jetzt zum Westen (›the West‹), deren Rolle vor allem im Widerstand gegen eine weitere repressive Ideologie (»another oppressive ideology«) besteht, die etwas später als radikaler, islamischer Terrorismus (»radical Islamic terrorism«) iden‐ tifiziert wird, und gegen die nun sozusagen die Tradition des Widerstands in Polen fortgesetzt werde (Trump 2017 »Warsaw Speech«). Auf dieser Grundlage erscheint dann noch ein weiteres ›wir‹, das sich jenseits der Geschichte befindet: »We write symphonies. We pursue innovation. We celebrate our ancient heroes, embrace our timeless traditions and customs, and always seek to explore and discover brand-new frontiers« (Trump 2017 »Warsaw Speech«). Beansprucht wird hier eine zeitlose Dimension, die sich in einer kulturellen Superiorität äußert, deren Wurzeln aber völlig undeutlich bleiben, was auch heißt, dass un‐ terschiedliche Rezipienten sie jeweils auf ihre eigene Art und Weise interpre‐ tieren können. Welche Gemeinschaft genau mit ›wir‹ gemeint ist, bleibt unklar. Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 117 Verhüllt wird damit - über eine ideologische Funktionalisierung des Prono‐ mens ›wir‹ - eine Spannung, die Trumps Text nichtsdestoweniger prägt. Be‐ unruhigend sind die fließenden Übergänge in Bezug auf das Personalpronomen ›wir‹, denn wer eine Tradition des Widerstandes im eigenen Lande unterstützt, muss darum nicht unbedingt auch die kulturelle Überlegenheit der eigenen Kultur behaupten. Das neue ›wir‹ ist flexibel genug, dass der bei Trump häufig vorzufindende extreme Nationalismus leicht gegen eine »großartige Gemein‐ schaft der Nationen« (»great community of nations«) (Trump 2017 »Warsaw Speech«), eingetauscht werden kann, für die die Beziehung zwischen den USA und Polen Pate stehen soll; und zwar, indem Polen zugestanden wird, an der Größe Amerikas teilzuhaben. Tatsache ist und bleibt, dass es zwischen Redner und Adressaten mit Blick auf ihre jeweiligen Ambitionen sehr große Interes‐ sensunterschiede gibt. Trumps Warschauer Text, so wie er auf der Website des Weißen Hauses steht, versucht aber mögliche Unsicherheiten darüber, ob der Sprechakt bei seinen Zuhörern angekommen ist, ob sie sich also der verbal ge‐ schaffenen Gemeinschaft tatsächlich zurechnen, zu tilgen, indem er zusätzlich zu Melania und Donald Trumps Worten auch die Reaktionen des Publikums (»Donald Trump! Donald Trump! «) wiedergibt (Trump 2017 »Warsaw Speech«). Im ›wir‹ verwischen sich die Unterschiede zwischen ich, du, sie und er. Entscheidend ist auch hier letztlich nicht der Bezug auf eine empirisch ge‐ gebene Gemeinschaft, sondern der Anspruch, die Anwesenden erzählend zu einer Gemeinschaft zu machen. Das ›wir‹ funktioniert dabei als eine narrativ gelenkige, emotional aufgeladene Chiffre, mit der dieses Ziel erreicht werden soll. Die Rede des Feindes Die zuvor getroffene Beobachtung, dass populistische Erzählungen dem Feind keine eigene Perspektive und Stimme zugestehen, ist insofern zu relativieren, als die Rede des Feindes in diesen Erzählungen - in vermittelter Form - eine wichtige Funktion erfüllt. Populistische Erzähler charakterisieren die Rede‐ weisen des inneren Feindes, um zwischen ihm und dem Volk eine scharfe Trennlinie zu ziehen. Konrad Adam, 2013 bis 2015 Bundessprecher der AfD, äußert in seinem Referat am Gründungsparteitag im April 2013 in Berlin: Darf man an solche Worte [die Behauptung Ralf Dahrendorfs, dass es Demokratie jenseits des Nationalstaates noch nicht gegeben habe; RL / CN] erinnern? Oder ver‐ fällt, wer so fragt, der neuen deutschen Sprachpolizei, die von uns verlangt, die Dinge beim falschen Namen zu nennen? Die denjenigen einen guten Europäer nennt, der Robert Leucht / Carl Niekerk 118 triumphierend darauf hinweist, dass Deutschland von der neuen Währung am meisten profitiert und denjenigen einen schlechten Europäer nennt, der den Griechen die Möglichkeit verschaffen will, aus eigenen Kräften wieder auf die Beine zu kommen. Diese Sprachpolizei mutet uns zu, eine Gemeinschaft, die von den einen verlangt, zwei Jahre länger zu arbeiten, damit die anderen drei Jahre früher in den Ruhestand treten können, solidarisch zu nennen. Und umgekehrt natürlich unsolidarisch diejenigen nennt, die so etwas für ungerecht halten. Abgeordnete, die das Volk bevormunden wollen, heißen in dieser falschen und verlogenen Sprache Demokraten, und Popu‐ listen diejenigen, die das Volk darüber entscheiden lassen möchten, ob die Verfassung geändert werden soll oder nicht. (Adam 2013) Zu beobachten ist zunächst eine auf divergierende Redeweisen gegründete Op‐ position entlang der Achse Wir / Sie: Während das ›Wir‹ dieser Passage sagt, wie es tatsächlich ist, würden ›sie‹ von uns verlangen, zu schweigen, die Dinge beim falschen Namen zu nennen oder gar zu lügen. Behauptet wird, dass die Sprache zum autoritären Regelmechanismus verkommen ist, der zu Gunsten derer wirkt, die die Macht innehaben (die Elite). Der Feind verstehe es, sich dieser Regeln mit Erfolg zu bedienen, was zu einer Bevormundung des Volkes führe und auf Kosten seiner Interessen geschehe. Narratologisch betrachtet wird dabei ein dialogisches Wort (Bachtin 2015) gebildet: Der Erzähler nutzt in pa‐ rodistischer Absicht die Rede des Feindes, guter / schlechter Europäer, un / soli‐ darisch, Demokrat / Populist, und versieht diese Rede mit einer neuen Intention; mit dem Effekt ihn dem Gelächter preiszugeben. Derartige kommunikative Handlungen über kommunikative Handlungen, kurz metapragmatische Prak‐ tiken (Spitzmüller 2013), werden in populistischen Erzählungen häufig dazu verwendet, den Feind zu entwerten. Dies gilt zum Beispiel für Christoph Blocher, wenn er die Akademiker attackiert: »Auch wenn etwas das Gegenteil von de‐ mokratisch ist, erklärt ein Staatsrechtsprofessor wie Daniel Thürer dies einfach kurzerhand als demokratisch« (Blocher 2017). Trump greift auf diese Weise Po‐ litiker der früheren Regierung an: »We will no longer accept politicians who are all talk and no action - constantly complaining but never doing anything about it. The time for empty talk is over.« (Trump 2017 »Inaugural Address«) Auf die andere Seite hin haben metapragmatische Praktiken die Funktion, die Verbindung Volk - Erzähler zu stärken. Man betrachte folgende Aussage Trumps: As you know, I am not a politician. I have worked in business, creating jobs and rebuilding neighborhoods my entire adult life. I’ve never wanted to use the language of the insiders, and I’ve never been politically correct - it takes far too much time, and can often make more difficult. Sometimes, in the heat of debate and speaking on a Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 119 multitude of issues, you don’t choose the right words or you say the wrong thing. I have done that, and I regret it, particularly where it may have caused personal pain. Too much is at stake for us to be consumed with these issues. But one thing I can promise you is this: I will always tell you the truth. I speak the truth for all of you, and for everyone in this country who doesn’t have a voice. I speak the truth on behalf of the factory worker who lost his or her job. I speak the truth on behalf of the Veteran who has been denied the medical care they need - and so many are not making it. They are dying. I speak the truth on behalf of the family living near the border that deserves to be safe in their own country but is instead living with no security at all. (Trump 2016) Als Feind wird hier derjenige bezeichnet, der ›politisch korrekt‹ und deshalb nicht aufrichtig redet (dieselbe Kritik ›politisch korrekter‹ Sprache findet sich auch bei Wilders in seiner Konstanzer Rede; Wilders 2017). Implizit fungiert ein als homogen und mono-ethnisch verstandenes ›Volk‹ als Kriterium, mit dessen Hilfe zwischen authentischer und nicht-authentischer Rede unterschieden wird. Der von Trump implizit benutzte Wahrheitsbegriff hat nicht primär mit einer faktisch richtigen Erfassung der Realität zu tun; er entschuldigt sich sogar dafür, dass man in einer Debatte, wenn man über vieles zugleich sprechen muss, man‐ ches sage, was nicht richtig ist. ›Wahrheit‹ wird von Trump in erster Linie kom‐ munikationsstrategisch erklärt - ›Wahrheit‹ entsteht, wenn die möglichen Er‐ fahrungen und Gefühle derjenigen, die er als seine Anhänger definiert, die mediale Öffentlichkeit erreichen. Wir beobachten auch erneut jene Verschmel‐ zung von Adressaten (»you«) und Protagonisten der Erzählung (»factory worker«, »Veteran«, »the family living near the border«), von der im vorherigen Abschnitt die Rede war. Auch hier werden die Adressaten in die Leidensge‐ schichte des Kollektivs miteinbezogen. Die der Passage zugrunde liegende Op‐ position zwischen dem politisch korrekten Sprechen der ›Insider‹ (›they‹) und dem wahren Sprechen des Quereinsteigers Trump (›I‹) wird nun so positioniert, dass das im Moment gebildete Kollektiv durch die wahre Rede des Icherzählers vertreten sei. Die Klassifizierung von Redeformen spielt also eine wichtige Rolle, um die erwünschten Verbindungen im populistischen Dreieck herzustellen. In dem Maße, in dem sie die Achse Volk - Feind schwächen, stärken sie jene zwi‐ schen Erzähler und Volk. Das Zusammenspiel Erzähler - Volk als lustvolle Befreiung Die zuletzt zitierte Passage erlaubt es schließlich, einen weiteren wichtigen Me‐ chanismus populistischer Erzählungen in den Blick zu nehmen und das Zusam‐ menspiel zwischen Volk und Erzähler genauer zu charakterisieren. Es ist be‐ Robert Leucht / Carl Niekerk 120 merkenswert, dass die Redeweise des Erzählers dort (von ihm selbst) als zuweilen rücksichtslos und schmerzhaft, zugleich aber befreiend charakterisiert wird, genauer: frei von den Zwängen (»too much time«) und Schwierigkeiten (»more difficult«) der politischen Korrektheit. Mit diesen Attributen ist ein Mo‐ ment der Entlastung angezeigt, das noch viel deutlicher in den zuvor zitierten Worten Konrad Adams hervortritt, der sein Sprechen als unbeeindruckt von den Forderungen der Sprachpolizei beschreibt. Pointiert gesagt, befreit sich der po‐ pulistische Erzähler in actu aus dem Korsett der Sprechvorschriften und ruft seine Zuhörer - mehr oder weniger direkt - dazu auf, ihm nachzufolgen: Auch sie mögen den Sprachpolizisten nicht länger gehorchen. Zugleich schafft er sich selbst eine gewisse Freiheit, indem er möglicher Kritik - Mangel an Respekt vor Minderheiten, Mangel an faktischer Richtigkeit des Dargestellten - bereits im Voraus entgegnet und sogar eigenes ethisches Versagen (Lügenhaftigkeit) in etwas Positives umdeutet (ich sage, was der gesellschaftliche Konsens mir zu sagen verbietet). Eine Konsequenz dieser performativen Befreiung ist, dass der Erzähler sich einerseits als Unterlegener und Außenseiter (als ›Underdog‹) profilieren kann, aber auch (und gerade deswegen) als ein Vorbild in Erscheinung tritt. Er nimmt sich derjenigen an, die sich von der Globalisierung und den Chancen, die sie bietet, vernachlässigt fühlen. Entscheidend ist: Er bewegt sich hier nicht wie zuvor auf das Volk zu, indem er bspw. dessen Sicht einnimmt (vorletzter Ab‐ schnitt), sondern stachelt es andersherum dazu auf, es seinem Beispiel gleich zu tun, sich in seine Richtung zu bewegen. Diese Dynamik hat Konsequenzen für das hier statuierte Repräsentationsmodell: Anders als in einer traditionellen Vorstellung politischer Repräsentation, in dem die Emotionen des Volkes zur Erreichung eines politischen Ziels besänftigt werden, ist es dem populistischen Erzähler darum zu tun, dessen Emotionen zur Entladung zu bringen. Er fungiert nicht als Mäßiger, sondern Auslöser von Emotionen. Es handelt sich auch nicht um positive Emotionen im Sinne eines Modells, das man verehrt und nach‐ zuahmen sucht, sondern eindeutig negative: die Verachtung der Eliten; Ressen‐ timents gegenüber Außenseitern und ein vages Gefühl von Aggression. Dieses Zusammenspiel zwischen dem populistischen Erzähler und dem Volk hat in einem anderen theoretischen Register auch die US -Soziologin Arlie Rus‐ sell Hochschild beschrieben, die Trump als Antwort auf die bzw. Befreiung aus der von ihr bezeichneten »deep story« der amerikanischen Rechten bezeichnet (Hochschild 2016: 207). Mit dem Begriff der ›deep story‹ weist Hochschild auf eine als solche empfundene (»feel-as-if-story«,146), kollektiv geteilte Ge‐ schichte hin, die zwar von der Soziologin selbst als Essenz der von ihr geführten Interviews mit Trump-Wählern artikuliert wurde (was wohl nicht ganz un‐ Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 121 problematisch ist - zu fragen ist, ob es nicht vielmehr viele Varianten dieser story gibt), die aber Gefühle dieser Wähler pointiert zum Ausdruck bringen soll. In der ›deep story‹ der amerikanischen Rechten, so Rothschild, sehen sich Men‐ schen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, in einer langen Schlange stehen, die zu einem Berg hinauf, dem ›American Dream‹, führt. Das Warten in dieser Schlange ist lange geworden; in letzter Zeit sind die wartenden Menschen in ihr nicht mehr vorangekommen. Plötzlich werden andere Menschen sichtbar - Schwarze, Frauen, Immigranten - welche die Schlange durchkreuzen, mehr noch von einem schwarzen Präsidenten herbeigewinkt, an ihnen vorbei in eine vordere Position eingelassen werden. Das eigene Vorankommen wäre durch die Zuwendung dieses Präsidenten zu denjenigen, die sie, die Wartenden, als Min‐ derheiten, Fremde und Außenseiter betrachten, ins Stocken geraten; der in der Schlange Wartende sei zu einem Hassobjekt geworden, das von den nun weiter vorne Stehenden beschimpft wird: als zurück geblieben, rassistisch und ›white trash‹. (Hochschild 2016: 135-140) Hochschilds Modell aufgreifend, wird man die Erzählungen von Populisten zum einen als Versuch verstehen können, diese ›deep story‹ politisch zu nutzen: Wenn sich der politische Repräsentant in der ›deep story‹ spiegelverkehrt zur populistischen Triangulierung nicht dem ›wahren‹ Volk, sondern anderen zu‐ wendet (Grafik 3), rücken Populisten diese ›falsche Achse‹ wieder zurecht (Grafik 1 und 2). Zum anderen funktioniert die populistische Erzählung als eine Entladung all jener Emotionen, die durch das gefühlte Eindringen von Minder‐ heiten und sogenannten Außenseitern in die Warteschlange ausgelöst werden. Die offen pejorative Rede populistischer Erzähler über diese Personengruppen - Immigranten, Menschen mit einer nicht-weißen Hautfarbe, Frauen, Schwule und Transsexuelle - öffnet Schneisen, um eine empfundene, jedoch nicht arti‐ kulierbare (»unsayable«, Hochschild 2016: 215) Erfahrung zu artikulieren. In diesem Sinne verdeutlicht Hochschilds Analyse, dass das Zusammenspiel Volk-Erzähler durch das Zugeständnis eines ungehinderten Sprechens und das Gefühl der lustvollen Befreiung charakterisiert ist. Robert Leucht / Carl Niekerk 122 Grafik 3 Gelegentlich entfalten Populisten aber auch ein Narrativ, nach dem es im Inte‐ resse von solchen ›Minderheiten‹ - oder zumindest: einigen unter ihnen - wäre, eine populistische Politik zu unterstützen, zumal nur sie die Sicherheit biete, die Rechte und Freiheit aller zu gewährleisten. Die vom Populismus evozierte Ge‐ meinschaft ist vage genug, um dies zu erlauben. Besonders explizit ist in dieser Hinsicht wohl Geert Wilders, der die Behandlung von Frauen, Mangel an Tole‐ ranz für Homosexuelle und, allgemeiner, Begrenzungen der Meinungs- und Re‐ defreiheit im Islam und in vom Islam geprägten westlichen Gesellschaften an‐ prangert (Wilders 2017). Ganz ähnlich bezeichnete Trump sich nach dem Attentat auf einen LGBTQ * Nachtclub in Orlando im Juni 2016 als Freund von Frauen und der homosexuellen Gemeinschaft (»friend of women and the LGBT community«; vgl. Trump 2016/ Orlando). Beachtlich ist in diesem Kontext auch sein Aufruf an schwarze Wähler während des Wahlkampfes, sie sollten ihn wählen, weil sie nichts zu verlieren hätten (Trump 2016/ Trump Pitches Black Voters). Auch hier wird eine Strategie erprobt, die Befreiung verspricht. Andere Geschichten erzählen Wirft man von hier aus einen Blick zurück auf einige der Strategien, mit denen Populisten vom ›wahren‹ Volk, von dessen Feinden und seiner ›wahren‹ Re‐ präsentation erzählen, wird man zu dem Schluss kommen können, dass durchaus komplexe Erzählverfahren dazu eingesetzt werden, um übersichtliche Verhältnisse und starke Emotionen zu evozieren. Die Strategie populistischer Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 123 Narrative ist nicht auf das bessere Argument, sondern vor allem das stärkere Gefühl gerichtet: Teil einer sich selbstbewusst formenden Gruppe, des ›wahren‹ Volkes, zu sein; Wut gegenüber den als solchen deklarierten Feinden, deren Verunglimpfung, sowie die Enthemmung von (vermeintlichen) Redeverboten. Dieser Vorzug der Affekte gegenüber den Argumenten ist beispielhaft an der populistischen Konstitution des Volkes abzulesen: Jene (Berufs-)Gruppen oder Schicksale, die Populisten auftreten lassen, um ihrem Volk Gesicht zu verleihen, entsprechen in keinster Weise der durch die Politik zu repräsentierenden Ge‐ samtheit der Gesellschaft. Obwohl diese Erzählungen vorgeben, allgemeine Er‐ fahrungen wiederzugeben, sind sie tatsächlich höchst selektiv. Anders ge‐ wendet: Mit Blick auf die empirischen Voraussetzungen politischer Repräsentation wird man zu dem Schluss kommen, dass Populisten gewisse Teile der Bevölkerung als das ›wahre‹ Volk auf die politische Bühne holen - sie vertreten Rousseaus »allgemeinen Willen« (»volonté générale«) - und andere, bspw. Immigranten, von dieser Bühne stoßen. (Müller 2016: 121) Ideologiekri‐ tisch betrachtet sind in diesen Erzählungen zwei Verschleierungen am Werk, in denen zugleich ihr Demokratie-gefährdendes Moment liegt: (1) Die empirische Heterogenität des demos wird nivelliert, und stattdessen das Volk als homogene Größe dargestellt. (Hartleb 2013: 221) (2) Der vielstimmige Wille des demos wird zu dem einen Volkswillen vereinheitlicht - dem »allgemeinen Willen« statt des »Willens aller« (Müller 2016: 77, vgl. Mudde und Kaltwasser 2017: 16). Die po‐ pulistische Erzählung zielt damit nicht auf eine rationale Verwirklichung der Interessen aller, im Sinne einer möglichst umsichtigen Definition des demos. Sie ist vielmehr darauf ausgerichtet, Affekte der Vergemeinschaftung sowie des lustvollen Ausschlusses - vor allem negative Emotionen - zu evozieren. Um nun das zweite Problem anzusprechen, um das der vorliegende Aufsatz kreist, nämlich die Frage nach der sozialen Funktion einer solchen Erzählung, ist es notwendig das Erzählen als eine Praxis zu verstehen, deren Leistung sich nicht allein in der Referentialität auf Außenwelt erschöpft. Albrecht Koschorke hat in seiner allgemeinen Erzähltheorie Wahrheit und Erfindung (2012) vorge‐ schlagen, das Erzählen als »Resultante zweier sich überlagernde Kraftfelder« (Koschorke 2012: 349) zu begreifen: nämlich der Sachdimension (oder Referenz‐ bindung) auf der einen und der Sozialdimension auf der anderen Seite. An‐ schließend an dieses Modell, das von einem Abhängigkeitsverhältnis dieser beiden Dimensionen ausgeht, wäre zu behaupten, dass populistische Erzäh‐ lungen in dem Maße, in dem sie ihre Sachdimension lockern, also auf die Evidenz des Überprüfbaren verzichten, ihre Sozialdimension stärken, das heißt in be‐ stehende Erzählungen intervenieren und auf die situativen Kontexte gerichtet Emotionen evozieren (so wie sich Trumps Wahrheitsbegriff wenig um die fak‐ Robert Leucht / Carl Niekerk 124 tische Richtigkeit kümmert, dafür aber auf als authentisch postulierte Emoti‐ onen setzt). Die Schwächung der Sachdimension wäre dieser Logik nach also eine Notwendigkeit, um die Sozialdimension der Erzählung zu stärken. Populistische Narrative aus dem Blickwinkel dieser Überlegungen zu be‐ trachten, riskiert zweifellos zu einer allzu freundlichen Lesart des Phänomens zu führen. Die anti-pluralistische Konzeption des Volkes durch den Populisten könnte in dieser Lesart als ein notwendiger Probierstein der Demokratie ver‐ standen werden; als eine Erzählung, die Gesellschaften zu einer (Weiter)Ver‐ handlung der Frage nach dem demos anstachelt, auf die es heute keine abschlie‐ ßende Antwort gibt. (Müller 2016: 93) Eine solche Sicht ist darüber hinaus auch nur so lange möglich, wie die populistische Erzählung nicht an die Macht ge‐ langt, um sich in Institutionen, Gesetzen und politischen Entscheidungen fest‐ zusetzen. Deshalb ist es zugleich notwendig die Frage zu stellen, wie der Wir‐ kungsmacht der populistischen Erzählung angemessen entgegenzutreten ist. Gegner des Populismus haben zumeist lediglich auf die fehlende empirische Basis seiner Erzählungen verwiesen; oftmals mit dem Effekt als Oberlehrer und Spielverderber der populistischen Enthemmung dagestanden zu sein. Man denke daran, wie Hillary Clinton im amerikanischen Wahlkampf von Trump-Wählern wahrgenommen wurde. Fakten sind hier an der Wucht der Emotionen zerschellt (Koschorke 2017). In letzter Zeit wurde deshalb auch die Einsicht geäußert, dass rational-moti‐ vierte Ansätze wie »fact checking« unzureichend seien, um der Wirkungsmacht dieser Erzählungen zu begegnen (vgl. Müller 2016: 90, Koschorke 2017). Diese Einsicht hat ihrerseits eine Geschichte: Sie erinnert an einen Befund von Ernst Bloch, der 1935 in einer Analyse des Faschismus kritisch äußert, dass sich die Sozialdemokratie während des Aufstiegs des Nationalsozialismus allzu sehr auf das Richtigstellen des von den Nazis Behaupteten beschränkt habe: »Deutsch‐ land hört noch, wie sich gezeigt hat, auf die alten Retter- und Reichsträume, selbst wenn sie von Betrügern vorgebracht werden, und es hörte desto verführ‐ barer drauf, als die sozialistische Propaganda vielfach kalt, schulmeisterlich, nur ökonomisch war.« (Bloch 1985: 128) Ohne die Verbindung zwischen der aktu‐ ellen Situation und der Zwischenkriegszeit überzustrapazieren, wäre bereits aus Blochs Befund der Imperativ zu gewinnen, auf populistische Erzählungen nicht (nur) mit Fakten, sondern auch mit der Wirkungsmacht von Erzählungen zu antworten - »You need a story to displace a story« (Taleb 2007: XXVII ) - und ihnen dadurch auf der Ebene ihrer eigenen Logik zu begegnen. Wo können also Erzählungen ansetzen, die sich der Wirkungsmacht populistischer Narrative entgegenstellen? Hier zeichnen sich zumindest zwei Perspektiven ab: Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 125 1. Aus narratologischer Perspektive wäre es interessant, sich eine erzähler‐ ische Modalität vorzustellen, die erlauben würde eine vielstimmigere Ver‐ sion vom Volk zu erzählen. Wenn die in Abschnitt zwei gewonnene Be‐ obachtung zutrifft, dass Populisten damit arbeiten, ihre Adressaten im Moment der Rede in das emotional aufgeladene Kollektiv des ›wahren‹ Volkes einzubeziehen, könnte hierin auch ein Ansatzpunkt für eine Re‐ aktion liegen: Gerade weil die Figur des Volkes eine erzählerisch formbare Entität bildet, scheint es möglich, eine andere, vielstimmigere, vielleicht sogar dialogische und damit wirkungsvollere Geschichte dessen zu er‐ zählen, was es heißt zum Volke zu gehören (vgl. zur Bedeutung eines ›offenen Dialogs‹ im Umgang mit dem Populismus: Mudde und Kalt‐ wasser 2017: 118). Die Unbestimmtheit und emotionale Aufgeladenheit solcher Geschichten könnten dazu verwendet werden, die Interessen der Wähler in ihrer Vielstimmigkeit sichtbar zu machen. Das würde bedeuten, den aktuell besetzten Begriff des Volkes nicht den Populisten zu über‐ lassen, sondern ihn in einer Art und Weise umzuprägen (so wie dies be‐ reits vor zwanzig Jahren von Richard Rorty gefordert wurde; vgl. Rorty 1998), die anstelle des Prinzips der Schließung jenes der Öffnung setzt. So würde der Homogenisierung, die jedem Konzept des Volkes notwendi‐ gerweise inhärent ist, zumindest einigermaßen entgegengearbeitet. Ba‐ rack Obama gelang es bspw., die eigene Lebensgeschichte neben vielem anderen auch als Geschichte eines Amerikaners zu erzählen, ohne dabei zu behaupten, dass andere Amerikaner notwendigerweise dieselben Er‐ fahrungen gemacht haben mussten. Es ginge darum, die eigenen Erleb‐ nisse als eine Geschichte aus dem Volk zu artikulieren und sie nicht als Norm, sondern als Baustein eines erweiterbaren Gebildes zu positio‐ nieren, das man sich vielleicht als ein kontinuierlich weiterzuwebendes Netz von Einzelgeschichten vorstellen könnte. 2. Eine weitere Perspektive eröffnet sich ausgehend von dem Befund, dass zwischen den Geschichten, die der Populist über das Volk - und damit über seine Wähler - erzählt, und den Geschichten, die diese Wähler selbst erzählen eine Spannung besteht - auch wenn es naiv wäre, anzunehmen, beide Kategorien von Geschichten hätten nichts mit einander zu tun. Diese Spannung sollte nicht nur den Populisten, sondern jeden Politiker aufhorchen lassen. Zu fragen ist nämlich, ob die Wähler sich tatsächlich, wie Hochschild meint, von einer ›deep story‹ leiten lassen, oder ob es nicht vielmehr, basierend auf ihren spezifischen Erfahrungen, noch an‐ dere ›deep stories‹ gibt, die auf ihre je spezifische Art und Weise das populistische Dreieck - Erzähler, Volk und Feinde - konstruieren. Wenn Robert Leucht / Carl Niekerk 126 unsere Vermutung zutrifft, dass die von Hochschild präparierte ›deep story‹ nicht die einzige ist, wäre es denkbar, andere solcher Geschichten zu formulieren. Die politische Arbeit würde darin bestehen, ein geteiltes Gefühl pointiert zum Ausdruck zu bringen und in den auf dieses Gefühl bezogenen Geschichten bestehende Polaritäten neu zu setzen. In einer solchen ›deep story‹ (siehe Grafik 4) könnte beispielsweise der globale Kapitalismus, der das Leben ganz unterschiedlicher Menschen aus aktuell entgegengesetzten politischen Lagern beeinflusst, in die Position des Wi‐ dersachers gerückt werden. Es ginge darum eine Erzählung zu gewinnen, die zum einen gemeinsame Interessen zwischen polarisierten Gruppen identifiziert und dadurch in einer neuen Art und Weise vergemeinschaf‐ tend wirkt, und zum anderen ihre Außengrenze nicht gegenüber einer Gruppe von Menschen setzt, die ihre Hautfarbe oder ihr Geschlecht nicht gewählt haben, sondern gegenüber einem von Menschen veränderbaren System. Grafik 4 Plädoyer: Narratologische Instrumente zur Analyse gesellschaftlicher Erzählungen Der Populismus verfügt über eine Rhetorik, die zur Verwirklichung seiner po‐ litischen Ziele dient, zum Beispiel in der Form eines bestimmten Vokabulars - das Volk, die Elite, das Establishment. Dieses Vokabular macht er spezifischen Erzählstrategien dienstbar, die teilweise verschleiert operieren. Hervorzuheben ist dabei, dass gerade das ›Volk‹, der Hauptakteur im Populismus, keine empi‐ Erzählungen vom ›wahren‹ Volk 127 rische Gegebenheit ist - auch wenn Populisten dies suggerieren -, sondern das Produkt einer Erzählung, deren Gestalt von den historisch-kulturellen Kriterien abhängt, die zur Bestimmung dieser Gemeinschaft verwendet werden. Gelegentlich neigt die Rede der Populisten zum Fiktionalen; ohne allerdings das eigene Sprechen - im Gegensatz zu jemandem, der einen Roman oder ein Theaterstück schreibt - explizit als ›fiktional‹ zu codieren. Dies erklärt, dass Begriffe wie ›alternative facts‹ oder ›fake news‹ in jüngster Zeit in der Debatte über den Populismus zu Schlüsselkonzepten geworden sind. Wegen des Wahr‐ heitsanspruchs jedes Politikers ist Fiktionalität in diesem Kontext wohl nicht der richtige Begriff. Darauf hinzuweisen ist aber, dass Erzählungen oft vom Leser / Zuhörer verlangen, sich auf die Konstruktion möglicher Welten einzu‐ lassen (vgl. Eco 1987: 154 ff.). Manchmal geschieht dies explizit: Wilders verlangt von seinen Zuhörern für wahr anzunehmen, dass Marine le Pen die nächste Präsidentin Frankreichs sein wird (und lässt dabei keinen Raum für Zweifel zu): »And next April, Marine, as I already said, will be the next president of France! « (Wilders 2017). Sehr viel öfter aber arbeiten Populisten implizit: Das Bild Ame‐ rikas, das Trump skizziert, ist zumindest einseitig, in vielerlei Hinsicht aber auch irreführend; trotzdem verlangt er von seinen Zuhörern, seine Sicht der Wirk‐ lichkeit als faktisch akkurat anzunehmen und lässt für Skepsis wenig Platz. Politik braucht Geschichten. Wo immer aber Geschichten erzählt werden, wird ein bestimmter Blickwinkel gewählt, es werden gewisse Akteure evoziert und positioniert, ihnen wird eine eigene Sicht und / oder Stimme verliehen oder auch nicht, und bestimmtes Material wird hervorgehoben und anderes ausge‐ lassen. Die Erzählung stellt eine Logik her, die unsere Sicht der Welt bestimmt, nicht unbedingt aber die einzigmögliche Perspektive auf die Wirklichkeit dar‐ stellt. Im Falle des Populismus führt dies manchmal zu Extremen: Der Populist verspricht einfache und radikale Lösungen als Antwort auf komplexe Probleme (Mudde und Kaltwasser 2017: 118), lässt dabei aber die Interessen größerer Gruppen in der Gesellschaft völlig außer Betracht und arbeitet mit manchmal aggressiven Feindbildern. Es ist die Taktik der Populisten, mit erzählerischen Mitteln massenpolitische Ziele zu verfolgen, die es legitimiert, eine narratologische Perspektive auf dieses Phänomen zu eröffnen, so wie wir sie hier in noch unvollständigen Überle‐ gungen vorgestellt haben. Mit Blick auf die von diesem Sammelband gestellte Frage nach der Rolle literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten, lautet un‐ sere Antwort, dass die an der Literatur geschärften Werkzeuge der Narratologie zu Instrumenten politischer Intervention werden können. Oft wurde unter dem Stichwort ›Interdisziplinarität‹ das analytische Vokabular anderer Disziplinen in die Literaturwissenschaft eingeführt. Wir haben nun diesen Prozess umge‐ Robert Leucht / Carl Niekerk 128 kehrt, um die Relevanz narratologischer Instrumente für die Analyse politischer Narrative zu demonstrieren. Entgegen einer - besonders in der deutschspra‐ chigen Germanistik gepflegten, jedoch - unproduktiven und irreführenden Op‐ positionsbildung zwischen Philologie (der Analyse von Dichtung im engeren Sinne) und Kulturwissenschaft (der Analyse kultureller Phänomene in einem weiteren Sinne), gehen wir davon aus, dass je genauer sich die philologische Analyse von Dichtung gestaltet, desto tragfähiger die Modelle sein werden, um Narrative auch außerhalb der Literatur angemessen analysieren zu können. (Koschorke 2007) Der Populismus ist nicht zuletzt deshalb eine Herausforderung für Akade‐ miker, weil er die gesellschaftliche Funktion der Universität in Frage stellt. Kaum jemand wird bestreiten, dass Universitäten eine solche Funktion haben (sollen); in der Praxis aber richten sich Akademiker in ihren Schriften vor allem an andere Akademiker (was Richard Rorty Ende der 90er Jahre bereits an der akademi‐ schen Linke kritisierte; vgl. Rorty 1998: 78 ff.). Bei einem Thema wie dem Po‐ pulismus stellt sich nicht nur die Frage, was die Literaturwissenschaft zu diesem Thema zu sagen hat, sondern auch, wie sie dies sagt und wo. Unsere Zuversicht, dass narratologische Instrumente sinnvoll eingesetzt werden können, um den Populismus genauer zu beobachten und zu beschreiben, verbindet sich deshalb mit der Einsicht, dass die angemessene Nutzbarmachung der so gewonnenen Erkenntnisse eine noch offene Frage darstellt. Literatur Adam, Konrad. ›Rede am Gründungsparteitag der AfD‹. Berlin, 14. 4. 2013. https: / / www.youtube.com/ watch? v=5FkMaCRkeCQ (18. 7. 2017). Bachtin, Michail M. (2015). ›Das Wort bei Dostoevskij‹, in: Karl Wagner (Hrsg.). Moderne Erzähltheorie. 2. erweiterte und aktualisierte Auflage. Wien: new academic press, 113-135. Badiou, Alain; Bourdieu, Pierre; Butler, Judith; Didi-Huberman, Georges; Khiari, Sadri; Rancière, Jacques (2016 / 2013). What is a People? Übers. v. Jody Gladding. New York: Columbia University Press. 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Als nach mehreren Wochen den Teilnehmern immer noch nicht klar ist, worin das Projekt tatsächlich besteht, erläutert Christoph in einem auf die Zu‐ hörer fanatisch anmutenden Monolog seine wahren Beweggründe hinter dem ›Film‹: Ich bemerkte, dass die Angst, die ich hatte, eine Angst vor meiner Angst war. Davor, dass ich am Ende einsehen würde, dass ich nie über meine Angst hinausgewachsen bin und deshalb nicht gelebt habe. Und dass ich nicht nur selbst nicht gelebt haben würde, sondern andere am Leben gehindert hätte, indem ich ihnen meine Hand auf den Oberschenkel legte, sobald sie im Begriff waren, die Grenzen, in die ich durch meine Angst verwiesen war, zu übertreten. In dem Moment wurde mir klar, sagte Christoph, dass ich einen Horrorfilm drehen muss […], bei dem es nicht nur darum geht, wovor ich mich fürchte, sondern auch darum, wovor ihr euch fürchtet. Am Ende müsst ihr ja auf euer Leben zurückschauen. (Ehrlich 2017: 310) Kurz zuvor hatte der Erzähler aufgezählt, welche diffusen und heterogenen Ängste es sind, die der versammelten Amateur-Filmcrew zu schaffen machen. Genannt werden unter anderem: Der Terror, […] das Rausschwimmen nachts im Meer […], die Folgen eines Reakto‐ runfalls […], eine ganz generelle Angst vor dem Nichts […], der Hass und die Wut der Ausgesperrten, die am Wohlstand keinen Anteil haben […], die Angst, dass es wirklich etwas Dämonisches in der Welt geben könnte, eine dunkle Macht, und dass man nie ganz sicher sein kann, ob man mit dem, was man tut, nicht doch am Ende das Dämo‐ nische unterstützt und es am Leben hält. (Ehrlich 2017: 296-300) Kurz gesagt: Jene Angst, über die Christoph mit seiner affirmativen Konfron‐ tation mit Schmerz und Leid hinauswachsen möchte, ist die omnipräsente Angst des zeitgenössischen Menschen in der westlichen Welt vor einem Leben, hinter dessen Fassade des digitalisierten, technisierten, demokratisch organisierten Wohlstands eine diffuse existentielle Unsicherheit lauert. Die stetig wachsende Rolle, die jene Angst in der Gegenwart einnimmt ist nicht zuletzt eine Folge der Globalisierung. Auch Eva Horn spricht in ihrem Buch Zukunft als Katastrophe von einer »Gegenwart, die von höchst diffusen Zukunftsszenarien und einer drohenden Katastrophe ohne Ereignis geprägt ist« und legt nahe, dass es gerade Fiktionen seien, die eine Form schüfen, »das Unvorstellbare in eine greif- und erfahrbare Gestalt zu bringen« (Horn 2016: 35). So ist es kaum überraschend, dass Versuche, diese Angst künstlerisch aufzuarbeiten in der Gegenwartsliteratur eine immer bedeutendere Rolle spielen, wobei sie meist weder benannt noch direkt thema‐ tisiert wird, und trotzdem prominent vorhanden ist. Und genau aus diesem Grund sollte es Aufgabe der Literaturwissenschaft sein, jener Globalisierungs‐ angst, die zahlreichen zeitgenössischen Texten implizit ist, nachzugehen, sie of‐ fenzulegen und über ihren Ursprung, ihre Beweggründe sowie vor allem ihre Ausprägung (und deren künstlerische Verarbeitung) nachzudenken. »Für den Komparatisten«, schreibt Dieter Lamping im Artikel über die All‐ gemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft im von ihm 2016 herausge‐ gebenen Sammelband Geisteswissenschaft heute, »ist Literatur zunächst und vor allem grenzüberschreitend: die Grenze einer Sprache, einer Nation, einer Kultur überschreitend« (Lamping 2016: 125). Für sie liege die Besonderheit der Literatur gerade in ihrer Internationalität, »eine Bezeichnung für all das, was Texte über die Zugehörigkeit zu einer einzelnen Literatur hinaus verbindet und als Lite‐ ratur, unabhängig von allen, nicht zuletzt nationalen und kulturellen Besonder‐ heiten, kennzeichnet« (Lamping 2016: 125). Und es ist gerade die Komparatistik, die, »als eine am Paradigma der Internationalität orientierte Literaturwissen‐ schaft, in der Epoche der Globalisierung sogar auf der Höhe der Zeit zu sein« (Lamping 2016: 129) scheint; obwohl die Literatur ihre Rolle als zentrales Me‐ dium der Auseinandersetzung gerade mit politischen und gesellschaftlichen Problemen mittlerweile an andere Medien wie das Fernsehen oder den Film verloren zu haben scheint. So ist die gesellschaftliche Wirkungsmacht und Reichweite einer TV -Serie wie House of Cards weitaus höher als die eines neuen Romans etwa von Don DeLillo, der sich ähnlichen Thematiken widmet. »Die Bedeutung einer Literaturwissenschaft aber gründet auf der kulturellen Rele‐ vanz der Literatur«, stellt Lamping hierzu fest, die jedoch »unabhängig von wechselnden gesellschaftlichen Zuwendungen und Abneigungen« (Lamping Sascha Seiler 134 2016: 131) sei - ein interessantes Argument, das allerdings hinterfragt werden muss, unterschätzt es doch den schleichenden Bedeutungsverlust des Mediums im Konkurrenzkampf nicht nur mit den audiovisuellen Medien, sondern auch mit dem Internet. Und doch muss mit Lamping festgehalten werden, dass es die Literatur ist, welche »die Menschheit durch ihre Geschichte vor allem deshalb begleitet, weil sie alle wichtigen - und darüber hinaus auch zahlreiche weniger wichtige - Probleme der Menschen, psychologische, soziale, existenzielle, politische, zu ihrem Thema gemacht hat« (Lamping 2016: 132). Und dies leiste sie nicht dis‐ kursiv, sondern darstellend und hierbei auch noch streng subjektiv (Lamping 2016: 132), und ist gerade deswegen so relevant und aufschlussreich für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen sozialen und politischen Problemen wie es die Globalisierungsangst ist. Denn, wie Sandra Poppe schreibt: »Durch das Medium Sprache kann prinzipiell alles beschrieben werden, sowohl Visu‐ elles als auch Haptisches, Olfaktorisches oder Auditives«, was den literarischen Text dazu verhelfe, über andere Medien zu reflektieren und hierbei auch »andere Künste mit den eigenen Mitteln zu thematisieren, darzustellen und in die er‐ zählte Handlung einzubinden« (Poppe 2008: 13). In Zeiten der Dominanz audi‐ ovisueller Medien - gerade und vor allem beim Thema ›Globalisierung‹ bzw. der in diesem Aufsatz beschriebenen Auseinandersetzung mit dem Feld der Globalisierungsangst eine durchaus interessante Prämisse. Globalisierungsangst Der wachsende Erfolg rechtspopulistischer Politik in Europa und den USA hat in den letzten Jahren in Verbund mit der zunehmenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus verstärkt den Fokus auf die Frage nach der Auswir‐ kung ökonomischer, technischer und nicht zuletzt auch kultureller Globalisie‐ rung auf den Menschen in der westlichen Welt gelegt. Dazu kommt die Frage, inwieweit die zunehmende Technisierung und Digitalisierung - die nicht nur eine direkte Folge sondern vielleicht sogar wichtigstes Symbol der Globalisie‐ rung ist - zu einer zunehmenden Entfremdung des Menschen nicht nur von seiner Umwelt, sondern auch von sich selbst, seiner Körperlichkeit und seinen Empfindungen führen kann. Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo etwa ist dieser Frage bereits in mehreren Romanen nachgegangen, so etwa in The Names (1982), The Body Artist (1999) und vor allem in Cosmopolis (2003), das sich im Schatten der Anschläge des 11. September mit der Frage beschäftigt, inwie‐ weit die archaische Gewalt, die der Terrorismus in die westliche Welt zurück‐ Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 135 bringt, den Menschen erst die Schutzmauern seiner digitalen Realität wahr‐ nehmen lässt. Heutzutage ist in westlichen Gesellschaften eine wachsende Angst vor den von nicht unbeträchtlichen Teilen derselben verstärkt als negativ bewerteten Folgen einer möglichweise nicht mehr aufzuhaltenden, die Lebensumstände ra‐ dikal verändernden globalen Vernetzung nicht zu übersehen. Hierzu ist, gemäß der Marx’schen Kernthese vom Kapitalismus als Herrschaft der Abstraktion, nicht nur die Angst vor dem Verlust der eigenen sozialen Sicherheit zu zählen, sondern auch - gerade im Zusammenhang einer immer stärker wahrgenom‐ menen terroristischen Bedrohung - eine wachsende Angst vor dem ›Anderen‹, die zu einem, wie Georg Seeßlen in seinem Buch über Donald Trump schreibt, »Aufstand der alten Werte, der alten Legitimationen« führt, sowie der damit verbundene Wunsch nach der Rückkehr zu einem als idealtypisch wahrge‐ nommen ursprünglichen Zustand, der die Sehnsucht nach einer Rückabwick‐ lung ökonomischer und sozialer Prozesse impliziert (vgl. Seeßlen 2017: 21-22). Dieser wiederum hat das Verlangen nach einer Abgrenzung von all dem zur Folge, was als fremd, bedrohlich und den eigenen sozialen und ökonomischen Status gefährdend wahrgenommen wird, was durch die wachsenden weltweiten rechtspopulistischen Bewegungen zusätzlich gefördert wird: Der Populismus, der Trump letztlich zum überraschenden Wahlsieg verhalf, konstruiert, so Slavoj Žižek, »den Feind als äußeren Eindringling und leugnet damit innere gesell‐ schaftliche Antagonismen« (Žižek 2017: 302). Nun ist der Begriff ›Globalisierungsangst‹ ein Kompositum aus zwei Termini, die vielseitig zu deuten sind: ›Globalisierung‹ und ›Angst‹. Dies evoziert si‐ cherlich terminologische Probleme, könne doch unter dem Begriff ›Globalisie‐ rung‹, wie Ulfried Reichardt darlegt, heutzutage nahezu alles erklärt werden: Ökonomische Aspekte wie die abnehmende Bindung der Produktion von Gütern an einem von Nationalgrenzen diktierten Ort, das outsourcing oder die hedge fonds, der damit einhergehende Verlust von Arbeitsplätzen in der Ersten Welt. Dazu kommen technologische Aspekte wie das Internet und die günstigen Mas‐ sentransportmittel sowie die damit zusammenhängende schwindende Bedeu‐ tung von räumlichen Entfernungen. Und nicht zuletzt vor allem auch soziale Aspekte wie Flucht, Migration und die damit zusammenhängende Vermischung einst sich als autonom wahrnehmender Kulturen (vgl. Reichardt 2008: 2; Kara‐ kayali 2011: 249-255). Reingard Nethersole unterscheidet zwischen drei Formen der Globalisierung, die jedoch aufeinander Einfluss nehmen: die technische, die wirtschaftliche sowie die die kulturelle. Gesellschaft definiert sich demnach durch »Aus‐ tauschprozesse und Vernetzungen, die quer zu Nationengrenzen stehen und Sascha Seiler 136 durch diese hindurch ›fließen‹« (Reichardt 2008: 3). Dadurch entstehen »global agierende[…] Agenturen, die überall für die Anschlussfähigkeit von Daten, Waren und Personen sorgen« (Werber 2015: 131). Dies ist beileibe kein neues Phänomen des 21. Jahrhunderts, neu daran ist jedoch, wie Niels Werber betont, »dass die weltumspannenden Prozesse und Verhältnisse heute ganz direkt auf den Alltag, die persönliche Erfahrung und vor allem auch auf die Formen und Inhalte des Wissens durchschlagen.« (Reichardt 2008: 4). Gerade im Kontext der kulturellen Globalisierung tun sich hier aber gleich‐ zeitig Problemfelder auf, denn durch das Zusammenwachsen der Welt ver‐ schwinden keinesfalls die Differenzen. Vielmehr treten mitunter durch die »ge‐ ographische Synchronisierung« (Reichardt 2008: 8) neu entstehende Differenzen noch deutlicher zutage, zumal die zentralen Behauptungen neoli‐ beraler Ideologie im Zusammenhang mit den Vorteilen der Globalisierung sich mit Manfred E. Steger nicht zwingend als zutreffend erweisen; dazu gehört die Irreversibilität der Globalisierung sowie der ihr innewohnende, ›anonyme‹ Au‐ tomatismus, der allgemeine Nutzen (für alle) sowie die Verbreitung der Demo‐ kratie. Aspekte also, die einerseits Skepsis erzeugen und andererseits, bei ihrem Nicht-Eintreffen zu einer pauschalen Ablehnung von Globalisierung führen können, deren Begrifflichkeit jedoch genau auf diesen fehlerhaften Prämissen aufgebaut ist. Aspekte wie der fundamentalistische Terrorismus, die globale Cyber-Kriminalität, die Gefahr von Pandemien, die Bedrohung durch die global wachsende soziale Ungleichheit (und die damit zusammenhängenden globalen Migrationsbewegungen), die Angst vor einem aus den Fugen geratenen Turbo‐ kapitalismus oder auch die Angst vor der Entdemokratisierung westlicher Ge‐ sellschaften rücken verstärkt in den Fokus. Aber auch abstraktere Ängste wie der seit der Moderne symptomatische Verlust von Identität, die gefühlte Bedro‐ hung durch das ›Andere‹, die Instrumentalisierung der Ängste durch den poli‐ tischen Populismus sowie die unheimliche Macht des Kapitals spielen eine ent‐ scheidende Rolle. Eva Horn unterstreicht in diesem Zusammenhang »das gegenwärtige Bewusstsein einer Zukunft als Katastrophe: das Gefühl, sich an einem solchen tipping point zu befinden, in einem Moment, wo die bloße Fort‐ setzung des Alltäglichen und Gewöhnlichen sich langsam zu einem katastro‐ phalen Bruch aufaddieren könnte« (Horn 2016: 19). Es entstehe dabei ein »dumpfe[s], untergründige[s] Gefühl, dass die Fortsetzung des Gegenwärtigen, der ›Fortschritt‹ als Fortsetzung und Eskalation des Gegenwärtigen« (Horn 2016: 20) zu einer Katastrophe hinleitet. »Das Verdrängte der globalen Ökonomie«, schreibt Slavoj Žižek, »kehrt in der Politik wieder: archaische Fixierungen, partikulare substanzielle (ethnische, religiöse, kulturelle) Identitäten« (Žižek 2017: 311), und Arjun Appadurai un‐ Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 137 termauert diese Überlegung mit ihrer These zur »Krise der Souveränität«, dass der »allgemeine Verlust der ökonomischen Souveränität […] zu einer Aufwer‐ tung der kulturellen Souveränität« (Appadurai 2017: 19-20) führe, die keines‐ falls positiv konnotiert sei, sondern sich aus xenophoben, rassistischen sowie isolationistischen Prämissen speise. Bernd Stegemann geht noch einen Schritt weiter, wenn er die Gefahren der Globalisierung gerade in Bezug auf die Verunsicherung des zeitgenössischen Menschen als untrennbare Verknüpfung ökonomischer Interessen und eines fehlgeleiteten Liberalismus sieht, dessen scheinbare Offenheit lediglich den In‐ teressen des Kapitals dient, weil er einen Diskurs über Klassenunterschiede un‐ möglich macht. Diese kontroverse, jedoch derzeit Konjunktur gewinnende These besagt, dass so lange das aufgeklärte Bürgertum mit Hilfe eines von Po‐ litical Correctness dominierten Sprachgestus Freiheit stets nur auf Fragen etwa von race und gender, niemals aber auf jene der Klasse bezieht, es sich (wie die Politik) zum Handlanger des Kapitals macht; »die Globalisierung [entsteht] als ein Projekt des grenzenlosen Kapitals.« (Stegemann 2017: 115) Dann aber sei »eine Theorie aus den Geisteswissenschaften« hinzugekommen, welche »die Globalisierung nicht als ökonomisches Projekt, sondern als willkommene De‐ konstruktion aller Bindungen - wie Identität, Nation, Geschlecht oder Ethnie« beschreibt und damit »der Deregulierung des Kapitals die höheren Weihen einer globalen Freiheitsbewegung« verleiht (Stegemann 2017: 115). Der wahre »Frontverlauf« zeichne sich also nicht mehr »zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden (ab), sondern er verläuft zwischen der globalen Macht des Kapitals und den Menschen« (Stegemann 2017: 9). Auch die linke Soziologin Nancy Fraser spricht in ihrem Essay Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus von einem ›progressiven Neolibera‐ lismus‹, mit dem sie den nur scheinbar widersprüchlichen Zuspruch Donald Trumps bei sozial äußerst schwachen Wählerschichten erklärt (Fraser 2017: 77-92). In diesem vermengen sich progressive soziale Wertvorstellungen zwangsläufig mit neoliberalen ökonomischen Prozessen und schließen damit eine traditionell links wählende Arbeiterklasse zunehmend von jenen progres‐ siven Werten aus. In Teilen wird diese radikale Sicht auf die Verknüpfung von Globalisierung und Individualität auch in Didier Eribons breit rezipierter, autobiographischer Studie Retours a Reims untermauert, die durchaus als Werk über die unmittel‐ baren Folgen von Globalisierungsangst bezeichnet werden kann. Eribon be‐ schreibt dort, wie er jahrelang Fragen der eigenen sexuellen Identität über die der Klassenzugehörigkeit gestellt hat und so unter Umständen die falschen Schlüsse aus seiner Entfremdung von der zunehmend ›globalisierungsfeindli‐ Sascha Seiler 138 chen‹ Arbeiterklasse, der er entstammt und die sich verstärkt der vom Front National geschürten Ablehnung des ›Anderen‹ zugewandt hat, zog. Die mit einer ablehnenden Haltung gegenüber den Prozessen der Globalisierung zu‐ sammenhängende Angst vor dem Verlust der Identität lenkt, wie im Falle Eri‐ bons, mitunter erst den Blick auf die Konstitution der eigenen, kulturellen Iden‐ tität und führt zu Prozessen des Zweifelns und Hinterfragens, die in der Literatur in den letzten Jahren eine immer zentralere Rolle eingenommen haben. Die Menschen erleben »Globalisierung und Diversität nicht als Befreiung und Chance zu verspielter Mehrdeutigkeit« so Stegemann, »sondern als Heimatlo‐ sigkeit, Ausbeutung und Schutzlosigkeit« (Stegemann 2017: 81). Eine entscheidende Frage jedoch, die auch in den behandelten Texten im Mittelpunkt steht ist, warum diese spezifische Form von Angst trotz des Be‐ wusstseins um ihre Gefahr lähmend wirkt, wie Eva Horn betont: »Warum geht ein intensiv und öffentlich vorgetragenes Krisenbewusstsein mit einer bemer‐ kenswerten politischen und individuellen Handlungslähmung einher? Warum lesen wir mit Interesse und Schauder Bücher über den Untergang der Mensch‐ heit, während wir politisch zugleich einigermaßen passiv bleiben, also weder auf die Straße gehen, noch unsere Autos abschaffen […]? « (Horn 2016: 21) In der Folge soll anhand zweier Deutscher Romane aus dem Jahr 2017 das Verhandeln von Globalisierungsangst und Bedeutungskrise in der neuesten Li‐ teratur exemplarisch untersucht werden. Roman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens Die Angst, welche der Regisseur Christoph in Ehrlichs bereits eingangs zitiertem Roman Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens mit seinen radikalen, gleichzeitig undurchschaubaren und scheinbar willkürlichen Methoden »über‐ kommen« möchte, speist sich aus der Unsicherheit des zeitgenössischen Men‐ schen in einer zunehmend als fragmentarisch wahrgenommenen Welt. Ehrlichs Erzähler Moritz, der auf 640 Seiten ausführlich und detailversessenen von diesem immer absurder werdenden Projekt berichtet, ist ein naiver Jedermann, der nicht in der Lage ist, das surreale Geschehen um ihn herum zu reflektieren; angelehnt ist er dabei vor allem - und nicht zuletzt auch im repetitiven wie überaffirmativen Sprachgestus - an die Ich-Erzähler aus Christian Krachts ersten beiden Romanen Faserland (1995) und 1979 (2001), auch sie Opfer einer sie überfordernden Gegenwart und des als plötzlich wahrgenommenen Zerfalls ihrer aus falschen Gewissheiten konstruierten Welt. Diese Angst, so Christoph, kenne »nur die eine unumstößliche Autorität ihres eigenen absoluten Seins«, überkomme man diese Angst jedoch, so erhalte man eine »ausgesprochene Ein‐ Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 139 ladung zum kreativen Schaffen, zur Neugründung der Welt« (Ehrlich 2017: 191). Der Weg dorthin führe über die Erfahrung des Schmerzes, die gleichzeitig im Idealfall dessen Überwindung bedeuten kann. Durch das Eindringen in genau jene Bereiche, vor denen das jeweilige Individuum am meisten Angst hat und die gleichzeitig auszuhaltende Folter zwecks Evokation eines markerschüt‐ ternden Schmerzes, setze der Mensch endlich die Kreativität frei, die in jedem einzelnen steckt und von seinen individuellen Ängsten gelähmt wird. Und er setzt der »Unterdrückung und Verdrängung« (Ehrlich 2017: 190), welche die westliche Welt auszeichnen, ein Ende. Auch diese Vorstellung der seelischen Reinigung erinnert an die Pilgerreise von Krachts Protagonisten aus 1979, einem Roman also, der die Konfrontation zwischen (bewusst überzeichneter) westlicher ›Dekadenz‹ und archaischem Ritus gegenüberstellt. Hier wird der unbedarfte, naive Erzähler von einer me‐ phistophelischen Figur namens Mavrocordato - inmitten des Chaos der Nacht, als in Teheran der Schah gestürzt wurde - dazu aufgefordert, eine reinigende Pilgerreise rund um den heiligen Berg Kailasch in Tibet zu unternehmen, wäh‐ rend derer er gefangen genommen wird und sich seine ehemals dekadenten kapitalistischen Bedürfnisse nach und nach zurückbilden bis am Ende eine ar‐ chaische Leere entsteht. Das megalomanische Projekt des Regisseurs Christoph ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wird jedoch von Menschen wie dem Erzähler getragen, denen es nicht schwerfällt, ihre von Angst geplagte Gegenwart gegen das Ver‐ sprechen nach einer archaischen Form von Erlösung einzutauschen. Nachdem im ersten Teil des Romans die Mitwirkenden auf der Bühne eines herunterge‐ kommenen Cafés jeweils eine Geschichte erzählen mussten, die ihre tiefste Angst hervorgebracht hat, um sich in der Folge ausgewählten Foltermethoden zu unterziehen, ziehen sie im zweiten Teil mit ihrem Anführer quer durch Deutschland. Die Reise endet auch nicht, als längst kein Geld mehr vorhanden, das Essen ausgegangen und die Gruppe deutlich ausgedünnt ist. Ziellos ziehen sie herum und begehen vom Erzähler nicht dekodierbare, mehr oder weniger harmlose zerstörerische Akte: eine Scheune wird angezündet, tierische Inne‐ reien werden in Briefkäsen gesteckt, Dorfbewohner werden mit Tiermasken erschreckt. Dem Leser wird im Laufe des mit Absicht ermüdend erzählten Ro‐ mans deutlich, dass das Projekt Christophs keinen logischen Überlegungen, keiner Zielführung folgt, sondern das Werk eines von seiner eigenen Angst und dem Drang, diese zu überkommen, in den Wahnsinn Getriebenen ist. Und doch ist die Reflexion der kollektiven zeitgenössischen Ängste stets vorhanden; be‐ sonders augenfällig erscheint, dass die Gruppe kurz vor Ende ihres Marschs durch deutsche Landschaften in Erfurt auf eine Demonstration von Rechtsext‐ Sascha Seiler 140 remen stößt, was Moritz zu dieser für den Roman und seiner Behandlung von Globalisierungsängsten zentralen Aussage bewegt: Es gab immer wieder Stichworte von dem Mann auf dem Rednerpult, auf die von der Menge abwechselnd gejubelt oder gepfiffen oder gebuht wurde. Der Ton der Rede war bitter und gehässig, und die Gesichter der Menschen waren wie Fäuste. In ihren Augen war etwas, das ich nicht beschreiben oder benennen konnte und deshalb unbeholfen vor mir selbst als das Andere bezeichnete. (Ehrlich 2017: 608-609) […] Mir schien mit einem Mal das ganze Land vollständig bevölkert zu sein von Men‐ schen, die nur darauf warteten und sich nichts sehnlicher wünschten, als dass jemand kommen möge, der ihnen endlich die Richtung weisen würde und ein Angebot ma‐ chen, wohin sich all diese Zeit und Energie kanalisieren ließe, anstatt sie täglich sinnlos zu vergeuden. Und dass es für diese Leute keinen besseren Köder gab als den, sie erst einmal erzählen zu lassen von ihren eigenen Verwundungen und Fehlern und Ängsten. (Ehrlich 2017: 527) Entlarvt wird Christoph vom Ich-Erzähler indes nicht, und infolgedessen bleiben auch dem Leser nicht viele Möglichkeiten, um die wirre Geschichte um Angst und ausbleibende Erlösung zu deuten. Interessant erscheint jedoch, wie Christoph die Ängste der Teilnehmer in‐ strumentalisiert, indem er sie, obwohl einige von ihnen zeitlos erscheinen, in einen zeitgenössischen Kontext setzt, um seine Theorie von der kreativen sowie sinnlichen Armut eines Lebens im Zeichen einer globalisierten Welt zu unter‐ mauern. Die Ängste der Teilnehmer sind für Christoph Symptome einer Ent‐ fremdung vom menschlichen Dasein, die sich im blinden Glauben an Fortschritt, Digitalisierung und Konsum einerseits, aber auch im Vertrauen in einen als Dauerzustand wahrgenommenen Frieden innerhalb einer scheinbar funktion‐ ierenden Demokratie artikuliert. Doch dieser Frieden ist trügerisch, schürt er doch nur die Ängste, dass einem die Lebensumstände, in denen man sich ein‐ gerichtet hat, entgleiten. Ergebnis sind dann jene »Verdrängung und Unterdrü‐ ckung« des existenziellen Schmerzes statt seiner Anerkennung, um die Verlo‐ genheit der globalisierten Welt zu durchschauen. Auch dass Christoph als - wenn auch schwache, weil scheiternde - mephis‐ tophelische Figur gezeichnet wird, die nicht von ungefähr Ähnlichkeiten mit den populistischen Verführern, von denen eingangs die Rede war, aufweist, spielt hier eine bedeutende Rolle. Tatsächlich ist es die diffuse Verunsicherung im Angesicht einer globalisierten Welt, die Moritz in die Arme des Verführers treibt. Insofern macht auch sein als Leitmotiv artikulierter symbolischer Todes‐ wunsch Sinn: »Ich stellte mir vor, als die Figur, die ich im Film spielen würde, einen aufwendig animierten, grausamen Tod zu sterben - von einem großen Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 141 Ungeheuer in zwei Hälften gebissen zu werden oder von einem elektrischen Schock so verkohlt, dass nur noch mein Skelett und eine schwarz Kruste übrig bleiben würden.« (Ehrlich 2017: 8) Und so spricht Paul Jandl in seiner Rezension in der NZZ aus, was am Ende des Romans tatsächlich bleibt: Und woher kommt die große, seelenfressende Angst, von der in diesem Buch nach Abzug aller Requisiten die Rede ist? Nicht vom Zuviel, von den blitzenden Messern und den Kübeln voll Blut, sondern vom Zuwenig. Dass man auf einem Schiff über den Ozean treibt und dass nirgends mehr Land ist. ( Jandl 2017) Simon Strauss: Sieben Nächte Mit ähnlichen Motiven spielt Simon Strauss’ im Herbst 2017 erschienener Roman Sieben Nächte, in dem ein von Angst geplagter Mittzwanziger von einem Freund die Aufgabe gestellt bekommt, über einen Zeitraum von zwei Monaten in sieben Nächten sich jeweils einer der Todsünden hinzugeben. Während er im Sündigen schwelgt, reflektiert er über seine Angst und diesen radikalen Versuch, sich dieser zu entledigen: »[Oft] bleibt mir nichts als die Angst. Die Angst zu verlieren, was ich schon habe, und nicht zu bekommen, was ich noch will« (Strauss 2017: 19). Auch die Angst dieses namenlosen Protagonisten ist diffus und scheinbar richtungslos, der Erzähler empfindet sich als passiver Gefangener der Gegenwart, der, ähnlich dem Regisseur Christoph einen radikalen Bruch mit der demokratischen Gesellschaftsordnung als einzigen Weg sieht, die Angst zu überkommen, indem er sie konfrontiert: Denn Angst ist nicht nur die hässliche Kehrseite von Glück. Sie verfügt über wun‐ dersame Kräfte, stiftet Menschen dazu an, ihre Außenwelt durch Sprache, Mythos und Wissenschaft zu bändigen. […] Die Angst gibt mir Mut, lässt mich hervortreten ans Gittergeländer und rufen und brüllen und schwören mit ausgestreckten Fingern und starker Hand: ›Ich will nicht niemand sein! ‹ (Strauss 2017: 19) So tritt hier einerseits ein Kernkonflikt der gesellschaftliche Moderne zutage, die Isolation und Selbstentfremdung des modernen Menschen im Zeitalter der Industrialisierung, andererseits aber scheint dieser Konflikt im Zeichen der Globalisierung potenziert, da er einhergeht mit dem Gefühl eines radikalen Identitätsverlustes, der sich aus einer gesellschaftlich erzwungenen Passivität speist. Durch die allgegenwärtige Digitalisierung, den Neoliberalismus und die dem Frieden zugrunde liegende demokratische Grundordnung westlicher Ge‐ sellschaften ist das Individuum zum passiven Konsumenten nicht nur von Sascha Seiler 142 Waren, sondern auch von abstrakten Empfindungen bzw. Gefühlen geworden und lebt gleichzeitig mit einer steten Grundangst, diesen bequemen Status ver‐ lieren zu können bzw. ihn von einer von außen kommenden Entität geraubt zu bekommen. Sind die Aussagen am Anfang des Romans noch allgemein gehalten, so kon‐ kretisiert sich im Laufe des Ausübens der Todsünden der Wunsch nach einem Ausbruch aus der Gesellschaftsordnung, und die mit der Globalisierungsangst zusammenhängenden Phänomene werden nach und nach benannt. Als er sich - als dritte Sünde - dem Müßiggang hingibt und dabei versucht, seine »Angst vor leeren Zimmern« (Strauss 2017: 58) zu überwinden, schaltet er gelangweilt den Fernseher an, der »verbittert darüber [ist], ein Has-been geworden zu sein, denn [h]eute trägt jeder die Weltwunder in der Jackentasche. Schaut die spannendsten Filme, die wichtigsten Endspiele auf klitzekleinen Bildschirmen. Ich halte da‐ gegen« (Strauss 2017: 60). Hierbei verfällt er einem populistischen Hassprediger, der verkündet: Fremde sind eine Gefahr. Eine Gefahr für alle, die meinen, dass ihr Leben immer so weiter gehen würde wie bisher. Die sich nicht vorstellen können, dass sich Dinge wirklich fun‐ damental ändern. Die immer noch hoffen, dass das, was in der Zeitung steht, nichts zu tun hätte mit ihren Müslibechern und Tennisstunden. Aber die Fremden gehen uns an. Sie werden uns herausfordern, einschränken, verängs‐ tigen und umstimmen. Viele von ihnen sind krank vom Erlebten, haben sich infiziert mit dem gefährlichen Virus Erinnerung. (Strauss 2017: 61) Schon in seiner ersten Nacht, als er sich dem Hochmut hingab, kam er zu dem Schluss: Überall identifizieren wir uns mit den Diskriminierten, fühlen uns aus Solidarität selbst diskriminiert und warten auf Wiedergutmachung durch ein Gesetz. Aber eine Gesellschaft, in der sich niemand zum Ganzen bekennt, ist auf Dauer nicht überle‐ bensfähig. Die liefert sich nur den Spaltungsversuchen der Ideologen und Ironiker aus. Zu viel Passivität und Rückzug bestimmen unser Leben. (Strauss 2017: 31) Am deutlichsten tritt das Gefühl der Angst und Verlorenheit in der zeitgenös‐ sischen Gesellschaft im Kapitel über den Neid zu Tage; hier hält er sich in der Universitätsbibliothek auf und lamentiert über die Allmacht der Digitalisierung und wie sie ihre ›Opfer‹ nach und nach erledigt und somit den Menschen in einen Zustand teilnahmsloser, zunehmend bildungsfeindlicher Lethargie und Meinungslosigkeit treibt: Revolutionen fressen ihre Kinder nicht immer gleich, manchmal saugen sie sie auch nur aus. Wie ein Vampir, der sein Opfer lieber genüsslich verzehrt, als es auf einmal Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 143 mit Haut und Haaren zu verschlingen. Die digitalen Kräfte schwächen ihre Opfer nach und nach, bis sie - äußerlich noch einigermaßen intakt, aber innerlich saft- und kraftlos - in sich zusammensacken. Sexkino, Reisebüro oder Postkarte sind so schon ums Leben gebracht, aber auch die Bibliothek ist in Gefahr. Mit jeder Wikipedia-Seite, jedem neuen Google-Book-Scan verliert sie ein Körnchen ihrer Aura, ein Gramm ihrer Notwendigkeit. (Strauss 2017: 89-90) Immer wenn er an »ein Früher« denke, packe ihn der Neid, weil »da so viel kaputt war, was neu aufgebaut werden konnte«. Eine Zeit »als die Blätter noch weiß und die Bildflächen schwarz, als der Gang raus auf die Straße, rein in die Kneipen und fremden Wohnzimmer noch etwas bedeutete« (Strauss 2017: 91). Heute jedoch reiche es »am Sonntagnachmittag mit Alexandra auf dem Sitz‐ kissen zu liegen und die Urlaubstage im gemeinsamen Kalender blau zu mar‐ kieren« (Strauss 2017: 93). Beide Romane wurden auch aufgrund ihrer Aktualität bewusst als Beispiele für die Darstellung von Globalisierungsangst in der zeitgenössischen Literatur ausgewählt. Auch ist beiden Texten gemein, dass sie sich recht konkret auf ge‐ genwärtige Ängste innerhalb der westlichen Gesellschaften einlassen und diese auf direkte, teils erschütternde Weise zitieren. Nun handeln jedoch beide Texte nominell von ›Angst‹, genauer, von zahlreichen Ausprägungen von Angst in unserer globalisierten, nachmodernen Welt. Doch das Thema bietet noch andere Anknüpfungspunkte, so etwa die wachsende Thematisierung des Wunsches nach der Rückkehr zu archaischen Lebenswelten - ganz in der Tradition der amerikanischen Transzendentalisten -, wie sie etwa in den Romanen Dig von Cynan Jones oder The Loney Andrew Michael Hurley, vor allem aber im Ge‐ samtwerk Cormac McCarthys zu finden sind. Oder auch das auch in der Lite‐ raturwissenschaft immer beliebtere Thema der Finanzwelt und der dunklen Be‐ drohung, die von ihr ausgeht. Neben dem bereits erwähnten Cosmopolis von Don DeLillo sei hier etwa noch Capital von John Lanchester erwähnt. Eine an‐ dere Art, die tektonischen Verschiebungen im Gefüge westlicher Gesellschaften darzustellen ist etwa auch der neue amerikanische Realismus um Autoren wie Daniel Woodrell oder Donald Ray Pollock, welche die verarmten Gegenden der sogenannten Flyover-States der USA zum Thema haben und sie in scharfem Kontrast zu den globalisierten Metropolen der Ost- und Westküste setzen. Dies sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, auf welche Weise ein bedeu‐ tendes gegenwärtiges Phänomen wie Globalisierungsangst in literarischen Texten verhandelt wird. Es werden sicher noch viele folgen. Sascha Seiler 144 Literatur Eribon, Didier (2016). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Ehrlich, Roman (2017). Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens. Frankfurt am Main: Fischer. Fraser, Nancy (2017). ›Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus‹, in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.). Die große Regression. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 77-92. Horn, Eva (2016). Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main: Fischer. Jandl, Paul (2017). ›Von einem der ausfährt, das Sterben zu erleben.‹ NZZ vom 4. 4. 2017. Karakayali, Jah (2013). ›Migration und Flucht‹, in: Andreas Niederberger (Hrsg.). Globa‐ lisierung - Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, 249-255. Kracht, Christian (2001). 1979. Köln: Kiepenheuer und Witsch. Lamping, Dieter (2016). ›Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft‹, in: Lam‐ ping, Dieter (Hrsg.), Geisteswissenschaft heute. Die Sicht der Fächer. Stuttgart: Kröner, 117-133. Poppe, Sandra (2008). ›Literarische Medienreflexionen. Eine Einführung‹, in: Sandra Poppe und Sascha Seiler (Hrsg.). Literarische Medienreflexionen. Berlin: ESV, 9-23. Strauss, Simon (2017): Sieben Nächte. Berlin: Blumenbar. Stegemann, Bernd (2017): Das Gespenst des Populismus. Berlin: Theater der Zeit. Reichardt, Ulfried (2008): ›Globalisierung, Mondialisierung und die Poetik des Globalen‹, in: Ulfried Reichardt (Hrsg.). Die Vermessung der Globalisierung. Heidelberg: Winter, 1-47. Werber, Nils (2015): ›Geopolitik und Globalisierung‹, in: Jörg Dünner und Andreas Mahler (Hrsg.). Handbuch Literatur und Raum. Berlin, Boston: DeGruyter, 126-136. Žižek, Slavoj (2017): ›Die populistische Versuchung‹, in: Heinrich Geiselberger (Hrsg.). Die große Regression. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 293-313. Globalisierungsangst in der Gegenwartsliteratur 145 9 Wie wollen wir in Zukunft leben? Friedrich von Borries Klimakapseln als literarische Intervention Nele Guinand Mit dem Ende des Feudalzeitalters, im Zuge des Fortschreitens der bürgerlichen Revolution, verbunden mit der Dynamik des industriellen Fortschritts und vo‐ ranschreitenden gesellschaftlichen Demokratisierungen entwickelte sich die Frage, wie wir leben wollen, von einer utopischen Fantasterei Einzelner zu einem Thema, das sich konkret auf gesellschaftlicher Ebene und beim Indivi‐ duum stellte und stellt. Sie eroberte in der Form einer Wertediskussion die bür‐ gerlichen Salons und fand ihren radikalsten Ausdruck in den Arbeiter- und Emanzipationsbewegungen im vorletzten und letzten Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eben diese Frage in Wohlstandsgesell‐ schaften westlicher Staaten zum expliziten Ausdruck des Lebensgefühls. Die fortschreitende Industrialisierung und Technologisierung des Alltags förderte und forderte eine Hedonisierung des Lebens. Die Studentenbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre des letzten Jahrhunderts erweiterte die sozialen sowie kulturellen Freiheitsgrade und führte zu einer Pluralisierung der Lebensent‐ würfe, -stile und -welten: Anything goes! Zugleich begannen sich am Horizont erste ökologische Veränderungen durch das ungehemmte Wirtschaftswachstum abzuzeichnen. Die tendenziell zunehmenden zerstörerischen, unüberseh- und unkontroll‐ ierbaren Katastrophen der Gegenwart wie der Anstieg des Meeresspiegels, die Ausweitung des Ozonlochs, vermehrte Hurrikans, langanhaltende Dürren, Luft- und Wasserverschmutzung etc. werden verstärkt durch den neoliberalen Umbau der spätkapitalistischen Gesellschaften im Zuge der Globalisierung. Erschei‐ nungen wie Krieg, supranationale Kriminalität, Genozide, Wirtschaftskrisen, Armut, soziale Ungleichheiten, Ressourcenknappheit bzw. -endlichkeit, klima‐ tische und ökologische Bedingungen und Veränderungen etc. sind Realität. Die resultierenden gesellschaftlichen Folgen verdeutlichen die Unausweichlichkeit und die Notwendigkeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir als Weltbevölkerung mit diesen problematischen, globalen Veränderungen um‐ gehen werden und ob es mit demokratischen Mitteln gelingt die ökologischen Katastrophen und gesellschaftlichen Krisen zu bewältigen. Um Anregungen für die Beantwortung der Frage »Wie wollen wir in Zukunft leben? « zu finden, wird im Folgenden die literarische Ausarbeitung Klimakap‐ seln herangezogen, die Friedrich von Borries zur gleichnamigen Ausstellung Klimakapseln (Mai bis September 2010 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) publizierte und die hier als literarische Intervention auf sich abzeich‐ nende globale Entwicklungen verstanden wird. Von Borries präsentiert in Klimakapseln einen möglichen Zukunftsentwurf. Im Folgenden werden die Bedingungen und Grundstrukturen dieses möglichen Zukunftsentwurfes, der das Verhältnis von Klima, Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft erörtert, befragt. Friedrich von Borries wagt eine vielleicht nicht einmal übertriebene Hochrechnung klimatischer und ökologischer Entwick‐ lungen - auch in ihren sozialen und kulturellen Folgen - um damit im Rahmen seiner Möglichkeiten als Literat auf dich sich abzeichnenden globalen Entwick‐ lungen zu reagieren. Friedrich von Borries, 1974 geboren, ist Architekt und lehrt als Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Sein interdisziplinärer Hintergrund ermöglicht es ihm, künstleri‐ sche Praktiken, Architektur und Design zusammenzuführen, Architektur und Design in künstlerische Arbeiten einzubeziehen und auf diese Weise neue Kon‐ texte zu generieren und somit eben auch gesellschaftliche Diskurse zu eröffnen. In Klimakapseln schöpft von Borries aus architektonischen und designtheore‐ tischen Kenntnissen mit Rückgriff auf kulturhistorische Erfahrungen und ent‐ wickelt aus dieser Gemengelage den literarischen Text Klimakapseln. Das Wissen über architektonische Prinzipien und Möglichkeiten bildet die Basis, das Modell einer Klimakapselstadt literarisch zu entwerfen. Von Borries führt in seinem Entwurf eine Auseinandersetzung »mit ethischen und ästhetischen Werten, mit Konzepten von Ernährung, Klimaschutz, Organisation, Manage‐ ment und Markt« (Schmidt 2008: 6) und verhandelt hierbei insbesondere den Aspekt eines möglichen moralisch-ethischen Wertewandels. Klimakapseln folgt der Annahme: »Wenn wir den Klimawandel nicht ab‐ wenden, müssen wir uns anpassen.« (von Borries 2010: 8) Von Borries schlägt als Anpassungsstrategie den Entwurf einer technologisch perfekten, militärisch und atmosphärisch geschützten Klimakapsel vor. In Klimakapseln verhandelt von Borries, wie eine verkapselte Welt aussehen könnte und rückt hierbei vor allem die Frage nach den sich aus einer Verkapselung ergebenden sozialen und gesellschaftlichen Folgen ins Zentrum seiner Überlegungen: »Was sind die Nele Guinand 148 Überlebensbedingungen im Klimawandel? Wie prägen sie unser Verhalten, Denken, Fühlen? Und: Wollen wir wirklich so leben? « (9) Seifenblasenartig ist die Klimakapselstadt von einer unsichtbaren Kapsel um‐ schlossen, die bedingt, dass nichts in die Stadt eindringen noch aus ihr entwei‐ chen kann, wodurch sie einem hermetisch geschlossenen Kreislauf gleicht. Die Klimakapselstadt gibt vor, ein autarkes sowie klimaneutralen System zu sein und sich ausschließlich durch regenerative Energien erhalten zu können. In einer Regulierungseinheit im Zentrum der Stadt werden scheinbar die kom‐ plexen energetischen Prozesse abgewickelt. Die Klimakapselstadt stellt den Bedürfnissen ihrer Bewohner entsprechend »Wohnkapseln, Busineßkapseln [sic], Shoppingkapseln, Entertainmentkapseln, Naturkapseln« (12) bereit und steht damit dem sozialen, kulturellen und öko‐ nomischen Angebot einer mitteleuropäischen Großstadt in nichts nach. Zur all‐ gemeinen Belustigung und dem Vergnügen stehen den Bewohnern »Environ‐ ment Transformer«, Helme, mit denen die eigene Umwelt neu erfahrbar wird, oder »Bio-Adapter«, die besondere körperliche Erlebnisse, wie zum Beispiel guten Sex, hervorrufen, zur Verfügung. Die »Walking City« ermöglicht ihnen die eigene Kapselstadt zeitweilig zu verlassen, um eine andere Kapselstadt zu besuchen oder auf eine Erlebnissafari in die außerhalb der Kapsel befindlichen, unwirtlichen Wüstenregionen zu gehen. Und auch das »Museum der Natur«, das den vielversprechenden Namen »Garten Eden« trägt, zählt aufgrund seines Repertoires an exotischen Pflanzen zu den Highlights der Stadt. Den Bewohnern scheint es an nichts zu fehlen. »Ob die Kapselstädte gerecht sind oder ungerecht, gut oder schlecht, diese Frage hat sich der Architekt nie gestellt. Er hat die Kap‐ selstadt gebaut, weil man sie braucht. Und er hat versucht, sie so gut zu bauen, wie möglich.« (19) Betrachtet man die Klimakapselstadt als einen realistischen Vorschlag für globale geopolitische Problematiken, wie zum Beispiel ökologische oder klima‐ tische Katastrophen, so ist ein solcher rein technokratisch orientierter Pla‐ nungsansatz und seine Umsetzung zu hinterfragen, da hierbei gesellschaftliche Aspekte keine Berücksichtigung finden. Da jedoch für das Zusammenleben in einer Klimakapsel auch Kategorien wie gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht, sowie freiheitlich oder unfreiheitlich von fundamentaler Bedeutung sind, wird im Folgenden der literarische Text Klimakapseln anhand dieser Kri‐ terien auf mehr oder weniger explizit formulierte Kritiken an dem System einer Klimakapselstadt untersucht. »Er war auf der Suche nach Freiheit […]« (57) - so heißt es in Klimakapseln. Doch wie lässt sich diese Sehnsucht nach Freiheit begründen? Wie wollen wir in Zukunft leben? 149 Bereits die architektonische Beschaffenheit einer Kapselstadt bietet Anlass, das Phänomen von Freiheit genauer zu fokussieren. Territoriale Grenzziehung existiert und existierte stets. Der Entwurf einer vollkommen verkapselten Stadt stellt eine auf die Spitze getriebene Form von Grenzziehung dar, die danach verlangt, das Verhältnis von Schutz und Kontrolle, Ausschluss- und Einschluss erneut zur Diskussion zu stellen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können achtzehneinhalb Millionen Personen in der gerade fertiggestellten Stadt leben, zehn solcher Städte gibt es bereits auf der Welt, rund hundert weitere Städte sollen in den nächsten fünfzig Jahren entstehen und rund ein Viertel der Weltbevölkerung beheimaten. (16) Zum im Text beschriebenen Zeitpunkt ist ein Leben in einer der Kapselstädte lediglich für jene wohlhabenden Menschen erschwinglich, die es sich erarbeitet und damit wohl auch verdient haben. Alldiejenigen, die nicht über die erfor‐ derlichen finanziellen Mittel verfügen, werden vom Wohlstand, von der Ge‐ meinschaft und dem Leben in der Klimakapselstadt kategorisch ausgeschlossen. Als »Papeles« (Spanisch für »Papiere«) werden die zur Ein- und Ausreise er‐ forderlichen Papiere bezeichnet. Ist man nicht im Besitz von Papeles, bleibt der Zugang zur Stadt verwehrt. Sicherheitsanlagen in der gesamten Stadt dienen der Kontrolle. Demnach ist das Modell der Klimakapselstadt als eine Zweiklas‐ sengesellschaft konzipiert: die privilegierten, wohlhabenden Kapselbewohner und die Nicht-Kapselbewohner, die die Mehrheit bilden. Wenn sogenannte Pa‐ peles als die für die Ein- und Ausreise dringend erforderlichen Dokumente vo‐ rausgesetzt werden, so kann in diesem Zusammenhang nicht von einer unein‐ geschränkten Bewegungsfreiheit gesprochen werden. Dieser Umstand lässt sich als eine erste unfreiheitliche Struktur des Systems werten, die mit den Mensch‐ rechten unvereinbar und zugleich Ausdruck vollkommener Ungerechtigkeit ist. Die Ungerechtigkeit besteht hierbei zum einen darin, Wohlstand als Maßstab beziehungsweise ausschlaggebendes Kriterium für das Leben in der Kapsel fest‐ zulegen. Zum anderen wird mit den Papeles auch eine rechtliche Zweiklassen‐ gesellschaft etabliert: Papeles-Besitzer, die ungehindert reisen können, und Nicht-Papeles-Besitzer, denen der Zutritt zu den Kapselstädten verwehrt wird. Es ist offenkundig, dass die politische Macht, auch wenn sie demokratisch or‐ ganisiert sein mag, ausschließlich von den Kapselstädten für die Kapselstädte ausgeht und damit die Menschen in politisch Teilhabende und Nichtteilhabende trennt. Durch die territoriale, die rechtliche und die politische Trennung der Erdbe‐ wohner werden entsprechende Sicherheitsvorkehrungen erforderlich. Beson‐ ders deutlich wird dies anhand der Figur des Flüchtlings / illegalen Einwande‐ Nele Guinand 150 rers. Für den angemessenen Umgang der Kapselbewohner mit diesem Personenkries existiert ein gesondertes Regelwerk, wie Maria-Daria Cojocaru argumentiert: Aus der Innenperspektive dieser Stadt erscheint es zwar misslich, dass nur diejenigen, »die sich bereits einen gewissen Wohlstand erarbeitet haben«, dort leben können. Alles in allem sind die Menschen dort jedoch zufrieden, »sie schätzen die angenehm temperierte Umgebung, die geordnete Struktur des Raumes, die allgemeinen Verhal‐ tensregeln«, zu denen auch gehört, dass man illegalen Einwanderern, denen es ge‐ lungen ist, in die Kapselstadt einzudringen, keine Zuflucht, keine Arbeit, keine Ver‐ pflegung, keine Form der Überlebenshilfe bieten darf - am besten man bemerkt sie nicht. Diese Flüchtlinge werden auch nicht in ihrer Existenz in Bezug der Kapselstadt gebracht, denn die ist ja autark. Sie müssen aus irgendwelchen Gebieten der Erde kommen, wo in Zeiten der Desertifizierung und der Umweltverschmutzung es den Politikern nicht eingefallen ist, in eine Kapsel zu investieren, sondern in Krieg. (Co‐ jocaru 2012: 221) Dass der vorgegebene Umgang mit den sogenannten illegalen Einwanderern mehr als misslich, geradezu menschenunwürdig, und die Annahme, dass diese in keinem Zusammenhang zur Klimakapselstadt stünden, fälschlich ist, lässt sich wie folgt nachvollziehen: Indem festgelegte Verhaltenskodizes den Bewoh‐ nern der Kapselstadt vorschreiben illegalen Einwanderern jegliche Hilfe und Unterstützung zu verwehren, wird den Einwanderern ein Leben oder vielmehr ein Überleben in der Kapselstadt unmöglich gemacht. »Die […] Gesetze sind der erste Schritt zum Schutze und zur Verteidigung unserer Stadt« (von Borries 2010: 16) - so wird postuliert. Die vermeintlich schutzbringenden Funktionen und die rechtliche Verankerung dieser vollkommen unmenschlichen Vorgaben (da sie den sicheren Tod oder die erneute Flucht für die Einwanderer bedeuten) ermöglichen es den Bewohnern der Kapselstadt, ihre teilnahmslose, intolerante Position gegenüber den Einwanderern zu legitimieren und zu begründen. Sie können sich mit der Berufung auf die gesetzlich festgelegten Verordnungen einer eigenen ethisch-moralischen Verantwortung entziehen, weil sie ihr Ver‐ halten allein nach dem Maßstab des strikten regelkonformen Handelns aus‐ richten. Diese Entlastung von eigener Verantwortlichkeit birgt die Gefahr, sich der politischen Macht gutgläubig bis hin zur Unmündigkeit auszuliefern. In seiner literarischen Ausarbeitung der Klimakapselstadt treibt von Borries dies gedanklich auf die Spitze, indem er darstellt, wie die politische Führung diese Haltung systematisch zu ihren Gunsten ausnutzt. Denn das System der Klimak‐ apselstadt, das von der Idee lebt, autark zu sein, basiert in Wahrheit auf einer Lüge. Tatsächlich könnte sich das vorgeblich autarke System der Klimakapsel‐ Wie wollen wir in Zukunft leben? 151 stadt ohne die Zuarbeit von außen nicht eigenständig regulieren - insbesondere in Hinblick auf die Energie-, Wasser- und Lebensmittelversorgung. Die Regie‐ rung bemüht sich mit allen Mitteln, vor allem durch Täuschung und Betrug, diese Lüge vor den Bewohnern zu vertuschen. Mit Klimakapseln wird ein paradoxes System präsentiert, in dem wohlha‐ bende Leute in Kapselstädten leben, und wiederum »andere in Slums vor diesen neuen Städten, permanent als korrumpierte Handlanger des Systems oder tem‐ porär als Flüchtling.« (Cojocaru 2012: 16) Denn die Hoffnung, die nachhaltigen Energien würden den Energiebedarf der gesamten Klimakapselstadt abdecken können, hat sich im Text nicht erfüllt. Es bedurfte also einer Lösung. Diese sollte im Idealfall die Energieversorgung der Stadt sicherstellen und gleichzeitig von den Stadtbewohnern unbemerkt bleiben (schließlich ist die Klimakapselstadt durch eine internationale Konvention zur Klimaneutralität verpflichtet). Es wurde aus diesem Grund ein Kraftwerk außerhalb der Klimakapselstadt reak‐ tiviert, dessen entstehendes Kohlenstoffdioxid in unterirdischen Lagern ent‐ sorgt, und somit unentdeckt bleiben würde. Zusätzlich entwickelten Ingenieure eine neue »Wüstentechnologie«: »Die Wüsten der Erde haben die Ingenieure der Kapselstädte mit riesigen Feldern aus beweglichen Spiegeln bedeckt« (von Borries 2010: 26), um mit ihnen und der Einstrahlung der Sonne Energie für die Kapselstädte gewinnen zu können. Diese gewinnbringenden Anlagen müssen einerseits geschützt, andererseits instand gehalten und gepflegt werden. Die Verantwortung für die Sicherheit der Anlagen trägt der sogenannte Sandmann. »[I]m Umkreis von fünf Kilometern um das Energiezentrum […] muß er Ein‐ dringlinge festnehmen, Gebrauch der Waffe nach Vorwarnung. In der roten Zone, tausend Meter um das Zentrum, darf er die Waffe sofort benutzen.« (26) Wenn das System der Klimakapselstadt einen Sandmann dazu beauftragt, Men‐ schen (Einwanderer und Flüchtlinge) zum vermeintlichen Schutz des Energie‐ zentrums im Zweifelsfall auch ohne Vorwarnung zu erschießen, wirft von Bor‐ ries die Frage auf, wie viel menschliches Leben innerhalb dieses Systems wert ist. Auch in Hinblick auf die systematische Verslumung und Ausbeutung der Menschen innerhalb des Energiezentrums und im Umkreis der Klimakapsel wird dies thematisiert. Zur Aufrechterhaltung und Pflege der in den Wüstenregionen befindlichen geheimen Energieanlagen benötigt der Sandmann Unterstützung. Zu diesem Zweck sind um die tausend Menschen engagiert: Männer, Frauen, Kinder - leben am Rande der großen Energieanlage, innerhalb des Sicherheitsbereichs, […]. Kein schöner Ort, aber einer, an dem man es aushalten kann, schließlich sollen die Hilfskräfte hier nicht nur leben, sondern auch Kinder kriegen. Kinder sind wichtig, denn die sind besonders geschickt darin, die kleinen Reflektoren Nele Guinand 152 zu putzen. Rund ein Drittel der Helfer sind Stammesangehörige, die anderen sind Flüchtlinge aus anderen Teilen der Welt. […] sie sind die Arbeitsreserve seiner Putz‐ kolonne […]. Eigentlich ist die Energiezentrale eine SlaveCity und ich arbeite ihr zu«, denkt der Sandmann. Um ihren Wohlstand aufrechtzuerhalten, exportiert die Kapsel die Ungleichheit nach außen, in die sie versorgenden Gebiete. (von Borries 2010: 30) Diese Menschen, die keine Papeles besitzen, dienen dem Klimakapselsystem als arbeitsfähige Verfügungsmasse zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur und der Versorgung der Kapseln. Von Borries spitzt in seinem Text diese Form der öko‐ nomischen Ausbeutung zu, indem er sie auf die Bewohner der Klimakapseln selbst ausweitet. Dies wird aus der Perspektive des sogenanntes Terminators ersichtlich, verdeutlicht durch einen nekropolitischen Ausblick: »Um die Über‐ bevölkerung in der Kapsel zu beenden, wird das Leben der Einwohner auf eine Initiative der Extreme Green Guerilla hin mit vierzig Jahren beendet. Und in‐ zwischen werden sogar die menschlichen Körper recycelt, und zwar zu Lebens‐ mitteln wie Soylent Green.« (54) Mit dieser Zuspitzung der Entwicklungen in der Klimakapsel zeigt von Borries auf, wie das auf dem Prinzip von Ein- und Ausschluss beruhende Gesellschaftssystem seinen totalitären Charakter auch gegenüber der eigenen Bevölkerung offenbart. Mit Klimakapseln reagiert von Borries auf sich abzeichnende ökologische und klimatische Entwicklungen. Mit der Präsentation eines geschlossenen Gesell‐ schaftssystems in Form einer Klimakapselstadt stellt der Autor einen möglichen Zukunftsentwurf vor. In seinen Ausführungen hinterfragt er vornehmlich die sozialen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die aus einer Umsetzung dieses Gesellschaftssystems resultieren könnten. Von Borries Klimakapseln bilden eine gesellschaftliche Ordnung, in der sich die meisten Bewohner einer ethischen und moralischen Reflexion ihres Verhal‐ tens enthalten und ebenso auch nicht die Handlungen und Vorgaben der poli‐ tischen und wirtschaftlichen Machthaber hinterfragen. Indem diese Menschen ihr individuelles oder gesellschaftliches Agieren bereits durch ihr mechanisch regel- und systemkonformes Verhalten als legitimiert und dadurch automatisch auch als legitim betrachten, festigen sie die Position des jeweiligen Souveräns. Sie unterziehen sich einer freiwilligen Selbstentmündigung in dem Glauben sich dadurch ihre sozialen und materiellen Besitzstände zu wahren. Ihre scheinbar gutgläubige Haltung ermöglicht es dem Souverän, die konsequente Durchset‐ zung seiner Machtbestrebungen sogar auf die Bewohner selbst auszuweiten. Als politische Teilnahmslosigkeit, soziale Passivität und Verantwortungslosigkeit der Bewohner benennt von Borries die kritischen Aspekte, welche die Durch‐ setzung eines solch totalitären Systems erleichtern und beschleunigen. Das Schockierende am dystopischen Charakter der Klimakapseln ist ihr suggestives Wie wollen wir in Zukunft leben? 153 vor Augen führen, wie schnell das Wertsystem, die sozialen, ökonomischen und kulturellen Übereinkünfte von Gesellschaften im Angesicht sich abzeichnender katastrophaler ökologischer und wahrscheinlich auch anderer Veränderungen ins Totalitäre umschlagen können und wie geringe Ab- und Gegenwehr bei der Bevölkerung vorhanden zu sein scheint. Doch wie kann es tatsächlich geschehen, dass sich in einem gesellschaftlichen System undemokratische und unfreiheitliche Strukturen (wie jene der Klimak‐ apselstadt) etablieren können, ohne dass es zu revolutionären Umstürzen und einer gerechteren Neuordnung kommt? Einen Ansatz zur Beantwortung dieser Fragestellung bietet Giorgio Agamben in seinem Homo sacer-Projekt in dem er eine grundlegende Differenzierung zwischen dem nackten Leben und der politischen Existenz vorschlägt. Agamben unterscheidet zwischen der biologischen Existenz menschlichen Lebens, dem nackten Leben, das er mit zoé bezeichnet und der politischen Existenz, dem bios. Das nackte Leben beschreibt das von jeglichen politischen und sozialen Rechten ausgeschlossene Subjekt. In seiner Differenz ist es sowohl räumlich, sozial als auch rechtlich von der politischen Gemeinschaft (cité) ausgeschlossen. Dieses nackte Leben besitzt in Folge seiner Ausgrenzung keinerlei Anspruch auf politische und soziale Rechte und dennoch muss es innerhalb der Rechts‐ ordnung gedacht werden. Es dient der cité stets als Bezugspunkt, damit sich diese ihrer eigenen rechtlichen und gesellschaftlichen Vormachtstellung selbst‐ bestätigen kann. »Politik gibt es deshalb, weil der Mensch das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschließenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält. [Dem] ›nackten Leben‹ kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Ge‐ meinwesen (cité) der Menschen gründet.« (Agamben 2002: 18) In diesem Umstand besteht nach Agamben das Paradox moderner Rechts‐ staaten auf das er in Homo sacer hinzuweisen versucht. Einerseits möchte das politische Leben unbedingt eine Distanz zum nackten Leben wahren, anderer‐ seits ist es ihrer Selbstbestätigung und -erhaltung halber unbedingt auf die Figur des nackten Leben angewiesen. Das nackte Leben ist dementsprechend nicht etwa ein rückständiger Zustand, im Sinne vorgesellschaftlicher Strukturen, son‐ dern Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. Das nackte Leben wird »mit recht‐ lich-politischen Mitteln geschaffen, um das zu personifizieren, was […] aus dem Schutz des Gesetzes ausgeschlossen wird.« (Lemke 2008: 91) Im Konzept der Klimakapsel ist es die Figur des Nicht-Papeles-Besitzers, die Figur des Flüchtlings, sowie die Figur des Sklavenarbeiters der Energieanlagen, die dem nackten Leben, dem aus der politischen Gemeinschaft (nämlich der Nele Guinand 154 Klimakapselstadt) räumlich, sozial und rechtlich ausgeschlossenen Subjekt, ent‐ spricht. Ihre prekäre gesellschaftliche und rechtliche Lage jedoch wird in Kli‐ makapseln als eine vorübergehende Situation, eine Ausnahmesituation, be‐ schrieben. Es heißt: »Und irgendwann, das ist das erklärte Ziel der globalen Klimakonvention, sollen alle Menschen in einer gigantischen Kapselstruktur leben, die sie vor schädlichen Einflüssen der Außenwelt schützt.« (von Borries 2010: 16) Aus dieser Aussage lässt sich ableiten, dass in einer nicht spezifizierten Zukunft auch denjenigen Menschen, die derzeit noch in den Aufbereitungs-, Flüchtlings- und Auffanglagern der Klimakapselstadt leben, ermöglicht werden soll, in einer der vermeintlich autarken Klimakapseln leben zu können. Dass dieses Ziel nicht realisierbar ist, wurde bereits festgestellt, da die Klimakapsel‐ stadt ohne die Zuarbeit von außen (durch die von der Klimakapsel Ausgeschlos‐ senen) nicht bestehen könnte. Entrechtete Individuen, deren Arbeitskraft sich die Machthaber der Klimakapsel bemächtigen, sind fundamental für die Funk‐ tionsfähigkeit der Kapselstadt. Sie sind konstitutioneller Bestandteil des Systems und Motor für das Funktionieren des Lebensraum der cité der Kapselstadt und die Durchsetzung der Interessen der Machthaber. Die vorgeblich zeitlich be‐ grenzte Ausnahmesituation der ausgeschlossenen Individuen in einer rechts‐ losen Sphäre scheint somit eigentlich auf Langfristigkeit ausgelegt zu sein und entpuppt sich damit als zu Regel werdender Dauerzustand. Und auch die Realität demonstriert auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene, die Tendenz, vorübergehende Notlösungen in Dauerlösungen übergehen zu lassen. Man muss dazu nur einen Blick auf die aktuelle Situation der massiven weltweiten Fluchtbewegungen (in Folge von ökologischen und gesellschaftli‐ chen Krisen) werfen. So sind zum Beispiel die ursprünglich als Notlösung an‐ gelegten Flüchtlingslager längst zu Zeltstädten gewachsen und damit zu einer Routinelösung, quasi alltäglich, geworden. Die Realität zeigt ebenso, dass Men‐ schen weltweit auch heute kategorisch ihrer politischen und sozialen Rechte entmächtigt und auf ihre Arbeitskraft als biologische Verfügungsmasse redu‐ ziert werden. Ihre Arbeitskraft wird dann (wie z. B. in den Aufbereitungslagern der Klimakapsel) für den Erhalt des Lebensraums der cité gnadenlos ausge‐ schöpft, wie auch Slavoj Žižek argumentiert: Und man kann die Hypothese wagen, dass heute, mit der neuen Epoche des weltweiten Kapitalismus, eine neue Ära der Sklaverei beginnt - selbst wenn es nicht mehr einen unmittelbaren Rechtsstatus versklavter Personen gibt, sondern die Sklaverei sich in einer Fülle neuer Formen zeigt. Die Millionen Arbeitsimmigranten auf der saudischen Halbinsel (den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar etc.) sind faktisch elementarer bürgerlicher Rechte und Freiheiten beraubt. Eine völlige Kontrolle wird über Milli‐ onen Arbeiterinnen und Arbeiter in asiatischen Ausbeutungsbetrieben ausgeübt […]. Wie wollen wir in Zukunft leben? 155 Massive Nutzung von Zwangsarbeit zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen findet in vielen zentralafrikanischen Staaten statt, beispielsweise im Kongo. (Žižek 2016: 89) Doch welche Umstände ermöglichen die Entrechtung menschlicher Subjekte und die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft? Agamben reflektiert in Homo sacer die Möglichkeit der Entrechtung menschlicher Individuen innerhalb der modernen Rechtsstaaten und argumentiert, dass die Machtbefugnis, politisches Leben auf nacktes Leben zu reduzieren, beim Souverän liegt und aus seiner Möglichkeit des Ausnahmezustands resultiert. Denn der Ausnahmezustand beschreibt jenen Zustand, in dem der Souverän durch die Berufung auf die Verfassung, diese (kurzfristig) außer Kraft setzen kann. Die Möglichkeit, über den Ausnahmezu‐ stand entscheiden zu können, befähigt ihn dazu die Verfassung verfassungs‐ mäßig aufzuheben. Der Souverän bewegt sich damit gleichermaßen innerhalb und außerhalb der Verfassung. Er kann, indem er sich auf die Verfassung beruft, die Verfassung außer Kraft setzen. In der Außerkraftsetzung der Verfassung be‐ sitzt der Souverän nun die Fähigkeit, politische Rechte kurzzeitig (nämlich für die Dauer der Ausnahme) aufzuheben, menschliche Subjekte von Rechten zu suspendieren und damit quasi politisches in nacktes Leben, das Menschen be‐ schreibt, die ihrer politischen und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit be‐ raubt wurden, zu transformieren. Das politische Leben kann im Moment der Ausnahme dem nackten Leben sehr nahe kommen (abhängig davon wie kon‐ sequent die Rechte vom Souverän aufgehoben werden). Die Entscheidungs‐ macht über die Verhängung des Ausnahmezustands liegt beim Souverän selbst. Es liegt in seinem Ermessen, wer oder was von den rechtlichen und / oder sozi‐ alen Einschränkungen betroffen, also in nacktes Leben transformiert wird. In der verfassungsmäßigen Bestimmung des Souveräns, die Verfassung verfas‐ sungsmäßig außer Kraft setzen zu können, lässt sich die Möglichkeit, demokra‐ tische Strukturen in totalitäre verkehren zu lassen, festmachen. Denn indem der Souverän mit der Berufung auf die Verfassung politisches Leben auf nacktes Leben reduzieren kann, besitzt er infolgedessen die Möglichkeit, seine Mach‐ befugnis gegenüber dem nun rechtlosen Leben auszureizen und gar ins Totali‐ täre zu steigern. Vergegenwärtigt man sich nun, dass der Ursprung zur Durch‐ setzung eines totalitären Systems in der verfassungsmäßigen Einberufung des Ausnahmezustands durch den Souverän angesiedelt ist und sich diese Macht‐ befugnis nach wie vor in der Rechtsordnung moderner Rechtsstaaten wieder‐ finden lässt, so wird die Notwendigkeit einer ständigen kritischen Reflexion gesellschaftlicher Um- und Zustände deutlich. Die Dringlichkeit der stetigen Auseinandersetzung sozialer und politischer Verhältnisse verdichtet sich mit Hinblick darauf, dass zum Beispiel nach den Terroranschlägen im November 2015 in Frankreich der Ausnahmezustand verhängt wurde und über ganze zwei Nele Guinand 156 Jahre stets bestätigt und verlängert wurde. »›Stellen Sie sich eine Stadt wie Paris vor, in der der Ausnahmezustand, der dort jetzt herrscht, über Monate, wenn nicht über Jahre einfach ein beständiges Merkmal des täglichen Lebens bildet. Das ist wovor wir fliehen.‹ Den Moment der Wahrheit in dieser Feststellung dürfen wir nicht übergehen.« (Žižek 2016: 89) Denn wenn die Möglichkeit, ein demokratisches in ein totalitäres System zu verkehren (eine Tendenz, die sich im System der Klimakapselstadt abzeichnet), innerhalb unserer modernen Rechtsstaaten im Moment des Ausnahmezustands liegt, dann muss den während der Ausnahme vorherrschenden politischen Praktiken besonders kritisch ent‐ gegen getreten werden. Das Machtpotenzial des Souveräns im Moment der Ausnahme muss erkannt werden, um jeglichen Missbrauch dieser Machtbe‐ fugnis und damit eine Beschleunigung und Durchsetzung totalitärer Strukturen zu verhindern. Das Ziel des vorliegenden Kapitels bestand darin, sich der Frage anzunähern, wie Menschen künftig individuell und in der Gesellschaft leben wollen - vor allem mit Hinblick auf die sich gegenwärtig schon abzeichnenden globalen Ent‐ wicklungen, wie zum Beispiel die Erderwärmung, den Anstieg der Meeres‐ spiegel, sowie die wohl kaum abebbenden weltweiten Fluchtbewegungen. Am Beginn der Auseinandersetzung stand die Annahme, dass das Ignorieren kli‐ matischer und ökologischer Veränderungen nicht ohne negative Folgen für die Gesellschaft bleiben wird - wie zum Beispiel der absehbare Verlust von Land‐ flächen wegen ausbleibender Niederschläge - die dazu führen werden, dass es zu vermehrten Migrationsbewegungen aufgrund dieser Verluste kommen wird. Als Ausgangspunkt der vorliegenden Auseinandersetzung diente Friedrich von Borries Text Klimakapseln, da dieser als literarische Intervention auf klimatische und ökologische Entwicklungen reagiert und aufmerksam macht. Diese sich abzeichnenden Entwicklungen werden in Klimakapseln aufgenommen, um eine entsprechende prototypische zukünftige Lebenswelt bzw. Menschheitsutopie literarisch zu entwickeln und zu konzipieren. Von Borries nutzt die Möglichkeiten, die ihm als Literaturschaffender ge‐ geben sind, um gesellschaftliche Missstände zu reflektieren, literarisch aufzu‐ arbeiten und so auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen und das Wissen darüber zugänglich zu machen. In der Fähigkeit, gesellschaftliche Zu‐ sammenhänge erfassen, kritisch hinterfragen und sprachlich zugänglich ma‐ chen zu können, kann die Verantwortung Literaturschaffender verortet werden. Von Borries hat sich mit Klimakapseln seiner Verantwortung als Literat gestellt und eine literarische Intervention auf aktuelle ökologische, soziale und ökono‐ mische Entwicklungen geschaffen. Wie wollen wir in Zukunft leben? 157 Literatur Agamben, Giorgio (2002). Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frank‐ furt am Main: Suhrkamp. Cojocaru, Mara-Daria (2012). Die Geschichte von der guten Stadt: politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie. Bielefeld: transcript. Lemke, Thomas (2008). Gouvernementalität und Biopolitik. Wiesbaden: VS. Schmidt, Sabine Maria (2008). ›Es ist Menschenfleisch! Zum filmischen und literarischen Kontext der Stadt der Sklaven‹, in: Sabine Maria Schmidt (Hrsg.). Atelier van Lieshout - Die Stadt der Sklaven / SlaveCity. Köln: DuMont. Von Borries, Friedrich (2010). Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe. Berlin: Suhrkamp. Žižek, Slavoj (2016). Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Berlin: Ullstein. Nele Guinand 158 III Anwendungen 10 Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung Schlaglichter auf eine ›krisenbewusste‹ Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft Stefan Hofer-Krucker Valderrama Für die Klasse Nd 2014-18 der Kantonsschule Enge in Zürich Im Anfang war die Krise Die erste literaturwissenschaftliche Fachpublikation, die ich 1992, im Jahr meines Studienbeginns, erwarb, war der im selben Jahr erschienene Band Lite‐ raturwissenschaft - Ein Grundkurs. Darin erörtern die Herausgeber die »Legiti‐ mationskrise der Literaturwissenschaft« und konstatieren ein »tiefgreifende[s] Krisenbewußtsein« unter Literaturwissenschaftler*innen (Brackert und Stück‐ rath 1992: 690). Und 2017, ein Vierteljahrhundert später, zeigt ein Spiegel-Artikel (vgl. Doerry 2017) und die dadurch ausgelöste Debatte in den deutschsprachigen Feuilletons (vgl. Kastberger 2017; Drügh et al. 2017; Martus 2017; Börnchen 2017), dass dieses ›Krisenbewusstsein‹ weiter anhält. Die Krise wird dabei in erster Linie darin gesehen, dass der Wert und die gesellschaftliche Relevanz des literaturwissenschaftlichen Tuns angezweifelt wird; und Erklärungsversuche zielen grosso modo immer in die folgenden Richtungen: »Schuld ist entweder die vermittlungsunfähige Literaturwissenschaft oder der Ökonomismus und die Zweckrationalität der modernen Industriegesellschaft, welche die Literatur und die Literaturwissenschaft zunehmend marginalisieren.« (Brackert und Stück‐ rath 1992: 695) Anders gesagt: Die Literaturwissenschaft verpasst es einerseits, ihre Erkenntnisse didaktisch sinnvoll aufzubereiten und auf diese Weise gesell‐ schaftlich verfügbar zu machen; und andererseits werden diese Erkenntnisse in der Gesellschaft auch gar nicht nachgefragt. Derart entsteht das desolate Bild eines Fachbereichs, der emsig an Dingen herumwerkelt, sich dabei aber im ge‐ sellschaftlichen Abseits befindet und derart überhaupt nicht wahrgenommen wird. Ich möchte mich im vorliegendem Beitrag in einem ersten Schritt vertieft auf dieses ›Krisenbewusstsein‹ einlassen und aufzeigen, dass es tatsächlich genuin und systembedingt zur Literatur und zum professionellen Umgang mit ihr ge‐ hört. Vor diesem Hintergrund werde ich darauf darlegen, wie Literaturwissen‐ schaft und Literaturdidaktik aussehen können, wenn sie diese Krise selbstbe‐ wusst zum Ausgangs- und Fluchtpunkt des eigenen Tuns machen und entsprechend ›krisenbewusst‹ agieren. Hierzu sollen Schlaglichter auf zwei Szenarien geworfen werden: Einerseits auf eine spezifische literaturwissen‐ schaftliche Forschungsrichtung, die sich als wertvoller Beitrag an die Klima‐ wandelforschung versteht; und andererseits - etwas ausführlicher - auf einen konkreten Vermittlungsprozess im gymnasialen Literaturunterricht, der einen Kafka-Text mit der gegenwärtigen Flüchtlingskrise in Bezug zu setzen versucht. Die Zusammenstellung der beiden Szenarien mag dabei zufällig anmuten, ist aber immerhin erfahrungsgesättigt, ergibt sie sich doch aus meinen eigenen Tätigkeitsbereichen. Die Krise als konstitutives Merkmal der Literatur(-wissenschaft) Der Begriff der ›Literatur‹ ist voraussetzungsreich und daher nicht einfach zu bestimmen. Ich möchte Literatur mit Luhmann im Sinne eines Teilsystems der Gesellschaft verstehen, das sich im Zuge der funktionalen Differenzierung dieser Gesellschaft herausgebildet hat, ihr gegenüber spezifische Leistungen er‐ bringt und dabei auf das Beobachten von Beobachtungen abstellt (vgl. Luhmann 1996). Oder in eigenen Worten (vgl. für das Folgende Hofer 2007: 178-221): Mit Literatur sind in diesem Beitrag Texte gemeint, die ästhetisch gestaltet sind und über die reine Informationsvermittlung hinaus auch auf diese Gestaltung und die darin gründende Eigengesetzlichkeit aufmerksam machen wollen. Literatur ist demnach als Zusammenspiel sprachlicher Formen anzusehen, die sich wech‐ selseitig kommentieren und ein Ganzes ergeben; dabei kann man als Be‐ obachter*in erkennen, dass etwas künstlich hergestellt und mit Mitteilungscha‐ rakter versehen wurde, also als kommunikatives Angebot zu sehen ist. Aber man erkennt auch, wenn man sich wirklich auf die literaturspezifische Kom‐ munikation einlässt, dass die Botschaft generell mehrdeutig und mehrdimensi‐ onal ist: Die Reduktion auf nur eine Deutung würde dem literarischen Text nicht gerecht. Literatur bietet damit keine einfache Information über die ›Welt‹, stellt eine ›Welt‹ vielmehr erst eigentlich her. Und sie sagt damit nicht: So ist es, son‐ dern: So könnte es sein - und es wäre auch ganz anders möglich, womit das Stefan Hofer-Krucker Valderrama 162 (potentielle) ›Nichtwissen‹ als Horizont immer präsent bleibt. Sie kümmert sich derart um die Herstellung von Weltkontingenz, trainiert die Leser*innen darin, mit Vorläufigkeiten und ungesichertem Wissen umzugehen. Und sie fordert einen geradezu auf, in kreativer Weise Deutungshypothesen auszuprobieren, zu verwerfen und neu zu bilden. Doch die Literatur leistet noch mehr. Denn das Lesen von Literatur erfordert, indem es zur Verlangsamung und Intensivierung des Beobachtens anhält, das Aktualisieren und Vergleichen verschiedener Sichtweisen und damit das Denken in Alternativen. Und dieses Denken führt auf die Denkenden selbst zurück, die die Alternativen setzen und gegeneinander abwägen. Daraus folgt dann: Genau so, wie ich die Literatur beobachte, beobachte ich im Prinzip auch die Welt: Auch hier setze ich Deutungshypothesen, und auch hier muss ich diese immer mal wieder verwerfen. Nur merke ich dies in der Auseinandersetzung mit der Welt - im Gegensatz zur Literatur - kaum, denn diese ist eben nicht ›zwecklos‹ wie die Kunst, bindet meine Wahrnehmung dementsprechend we‐ niger. Ich beobachte mit anderen Worten viel flüchtiger und gleichzeitig ge‐ zielter im Hinblick auf eine spezifische Information, die ich für die Bewältigung des Alltages brauche. Und ich bin also kaum zwingend dazu aufgefordert, meine eigenen Beobachtungen zu hinterfragen und Rückschlüsse zu ziehen; darauf, dass die Welt an sich unbeobachtbar ist und dass ich stattdessen nur Formen beobachte - meine eigenen Unterscheidungen -, die ich grundsätzlich selbst in diese Welt einbringe. Das ›literarische Beobachten‹ eröffnet also im Sinne einer ›epistemologischen Irritation‹ die Erkenntnis, dass ein ›unverstellter‹ und ob‐ jektiver Blick auf die Welt nicht möglich, dieser vielmehr immer durch die eigene Beobachtungsleistung ›kontaminiert‹ oder - positiv gesprochen - mitgestaltet ist. Dies wird in der Auseinandersetzung mit Literatur erfahrbar. Und die Lite‐ raturwissenschaft - verstanden als »Reflexionswissenschaft der Literatur« (Be‐ rendes 2005: 69) - kann diese spezifische Leistung der Literatur herausarbeiten und begrifflich fassbar machen. Aus dieser genuinen Leistung der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft ergibt sich nun das oben konstatierte ›Krisenbewusstsein‹, das zwei eng mitei‐ nander verbundene Konsequenzen hat. Erstens muss die Literaturwissenschaft das ›Nichtwissen als Ausgangspunkt und Horizont‹ und also die Kontingenz und Vorläufigkeit des Verstehensprozesses und damit des eigenen Tuns im For‐ schungsprozess implementieren und ganz auf das immer wieder neue Auspro‐ bieren von Deutungshypothesen abstellen, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Sie kämpft also gewissermaßen damit, dass ihr Gegenstand prin‐ zipiell nie ausbeobachtet ist und jede Erkenntnis immer das Sigel der Vorläu‐ figkeit trägt. Und daraus folgt, dass die Literaturwissenschaft keine gesellschaft‐ Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 163 lichen Probleme lösen kann, auch nicht momenthaft; ihre Erkenntnisse sind entsprechend schwieriger gesellschaftlich zu vermitteln als solche aus stärker solutionistisch orientierten Wissenschaften. Und zweitens dürfte sich die Ge‐ sellschaft im Prinzip durch die genannte epistemologische Irritation dazu ver‐ anlasst sehen, ihr Beobachten laufend zu reflektieren, zu revidieren und damit im Sinne von Kontingenz offen zu halten. Doch offenbar kann die Gesellschaft nicht allzu viel anfangen mit diesem Angebot, das sich aus der spezifischen Be‐ schaffenheit der Literatur ergibt, und bekundet wenig Interesse an dieser Er‐ kenntnis, die die Literaturwissenschaft herausarbeitet. Denn im täglichen Um‐ gang mit der Welt sind wir gewohnt, einen direkten Zugang zu ihr zu pflegen, schnell Entscheidungen zu fällen und derart Situationen zu meistern und Pro‐ bleme zu lösen. Und diesen Zugang zur Welt suchen wir daher beizubehalten - auch dann, wenn wir mit komplexen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sind, die sich einer ›einfachen Lösung‹ entziehen. Entsprechend haben Litera‐ turwissenschaftler*innen »große Schwierigkeiten, im Wettbewerb mit den na‐ turwissenschaftlich-technischen Disziplinen und ›harten‹ Humanwissen‐ schaften ihre Existenznotwendigkeit öffentlich zu legitimieren« (Brackert und Stückrath 1992: 690). Doch dem müsste nicht so sein, wie gleich aufgezeigt werden soll. Der Beitrag der Literaturwissenschaft an die Klimawandelforschung Als eine der größten Herausforderungen im Zeitalter des Anthropozän (vgl. Crutzen und Stoermer 2000) gilt die menschengemachte globale Klimaerwär‐ mung. Diese bedroht die Zukunft der Menschheit auf der Erde; dementspre‐ chend unternimmt der Mensch große Anstrengungen, um die Klimaerwärmung und ihre katastrophalen Folgen einzudämmen. Prinzipiell sind alle Wissen‐ schaftsbereiche bei der »Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft« ( WBGU 2011: 341) gefordert. Diese transformative Forschung wird zwar im Grunde interdisziplinär verstanden; de facto ist sie jedoch gegenwärtig klar von den positivistischen Disziplinen der Natur- und Technikwissenschaften geprägt, so dass die Herausforderungen des anthropogenen Klimawandels vorwiegend als Fragen technischer Innovation und politisch-ökonomischer Steuerung be‐ handelt werden. Und wenn Angebote zur Zusammenarbeit erfolgen, dann wird statt wechselseitigem interdisziplinären Austausch eher eine Integration ange‐ strebt; den Geistes- und Kulturwissenschaften kommt darin lediglich die Auf‐ gabe zu, Akzeptanz und Verständnis für das in den Natur- und Technikwissen‐ schaften generierte Wissen zu fördern und damit Vermittlungsarbeit zu leisten Stefan Hofer-Krucker Valderrama 164 (vgl. Hulme 2011; Lövbrand et al. 2015). Diese einseitige Engführung von Wis‐ senschaft auf das Lösen gesellschaftlicher Probleme und das ›Bearbeiten von Welt‹ sollte kritisch betrachtet werden, weil derart die andere Seite von Wis‐ senschaft, das ›Verstehen von Welt‹, ausgegrenzt wird. Zudem bleibt in diesem verkürzten Verständnis von Inter- und Transdisziplinarität erstens unberück‐ sichtigt, dass es neben den Natur- und Technikwissenschaften auch noch andere Wissensformen gibt, die mindestens in gleichem Maße für das Verständnis der zu lösenden Probleme und die Bereitstellung von transformationsrelevantem Wissen bedeutsam sind (vgl. Benessia et al. 2012). Und zweitens drohen rein ›technische‹ und in verkürzter Form auf ›Lösungen‹ zielende naturwissen‐ schaftliche Ansätze den Bezug zur Lebenswelt und zu den Sinnzusammen‐ hängen der Menschen zu verlieren, wenn nicht auch die Verstehensbemü‐ hungen und Sinnstiftungsprozesse der Geistes- und Kulturwissenschaften berücksichtigt werden (vgl. Jasanoff 2010). In diesen interpretativ arbeitenden Wissenschaften sind es in erster Linie die Literaturwissenschaften, die in der disziplinären Form des Ecocriticism (vgl. Bühler 2016) wesentliche Beiträge zur Beforschung des Klimawandels leisten können. Denn dieser hat als ›außersprachliche Realität‹ »keine gesellschaftliche Resonanz, solange nicht darüber kommuniziert wird« (Luhmann 1986: 63). Er kann derart als »idea that takes shape in cultures and can therefore be changed by cultures« (Hulme 2015: 9) verstanden werden. Und in diesem ›Prozess der Formgebung‹ und der gesellschaftlichen Behandlung von Klimawandel spielen literarische Texte eine herausragende Rolle. Denn sie sind erstens grundsätzlich mehrdimensional angelegt, äußerst komplex sowie geprägt von vorläufigem und unsicheren Wissen, das als revidierbar gedacht werden muss - womit As‐ pekte benannt sind, die allesamt auch auf globale ökologische Probleme wie den Klimawandel zutreffen. Literatur bietet also Möglichkeiten, Kontingenzbe‐ wusstsein zu schulen und in kreativer Weise und probehalber alternative Blicke auf ›die Welt‹ durchzuspielen. Lesen und Verstehen von Literatur spurt in diesem Sinne der Beschäftigung mit umfassenden Problemen wie dem Klima‐ wandel vor. Zweitens fordern verschiedene Akteure im Feld der Geistes- und Kulturwissenschaften eine stärkere Öffnung des Nachhaltigkeitsdiskurses auf andere Wissensformen hin - »a plurality of epistemologies, languages, styles of research, experiences, and actions« - und damit »new kinds of hybrid know‐ ledge and practice« (Benessia et al. 2012: 75). Denn einem solch ›pluralen Wissen‹ werden mehr Chancen eingeräumt, auf komplexe Herausforderungen der Gegenwart wie den globalen Klimawandel adäquat zu reagieren. Und es ist nun genau die Literatur, die - beispielsweise in Form eines Romans - unter‐ schiedliche Textformate wie etwa erzählende, argumentierende, berichtende, Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 165 darlegende, vermittelnde, beschreibende oder begründende kombinieren und derart ›miteinander ins Gespräch‹ bringen kann, womit der Text zu einem reichhaltigen intratextuellen ›Geflecht‹ wird. Literatur ist damit selbst auch be‐ reits ein Umgang mit und ein Bearbeiten von komplexen Problemen - wobei der Bezug zur Lebenswelt und zu den Sinnzusammenhängen der Menschen (im Gegensatz zu den Natur- und Technikwissenschaften) vermittels der erzählten Geschichten stets gegeben bleibt und der eigene Beitrag an die Generierung dieser Sinnzusammenhänge gleichzeitig immer mitbedacht werden kann. Und sie lässt sich in diesem Sinne als »appropriate tool […] for dealing with para‐ doxes, contradictions, and complex issues in the framework of sustainability« (Benessia et al. 2012: 79) verstehen. Literatur generiert also ein ›hybrides Wissen‹, das von der Literaturwissenschaft gesellschaftlich verfügbar gemacht werden kann - z.B. mit Blick auf das Problem des Klimawandels (vgl. Meisch und Hofer 2017). Und derart tritt diese als wichtige Partnerin an die Seite anderer Wissensformen und bringt - »modest and reflective about their own position« (Leach 2014) - in erster Linie jene Kompetenz ein, die in der Forschung grund‐ sätzlich nicht fehlen sollte: »[T]he exercise of systematic doubt as part of the process of science« (Beck 2017: 6). Damit die Literaturwissenschaft ihre grundlegenden Kompetenzen in der ge‐ schilderten Art ausspielen kann, braucht es Menschen, die sie in dieser Form betreiben wollen und betreiben können; der Hochschulgermanistik kommt ent‐ sprechend ein wichtiger Stellenwert zu. Doch literarische Bildung beginnt weit früher, und es ist vor allem der gymnasiale Literaturunterricht, der hier we‐ sentliche Weichen stellen kann. Kafka als ›Kommentator‹ der aktuellen Flüchtlingskrise Die Literatur steht gegenwärtig unter verschärfter Beobachtung. Seit PISA und den im Bereich Leseverständnis eher ernüchternden Resultaten, und seit der allenthalben grassierenden Tendenz, ›Bildung‹ als ›Ausbildung‹ zu verstehen und zu konzipieren, hat Literatur in den Bildungscurricula und im Schulalltag einen zunehmend schwer(er)en Stand. Denn Leseverständnis lässt sich gut auch an Sachtexten und ohne Rekurs auf ›schöngeistige‹ Literatur erarbeiten, so die (vordergründige) Argumentation; und was genau der Mehrwert einer Beschäf‐ tigung mit Literatur ist, was daran genau ›gelernt‹ werden kann, lässt sich oft so einfach nicht mit Hilfe von Kompetenzrastern ausdrücken oder im Sinne einer ökonomischen Nutzbarkeit fassen (vgl. Winkler et al. 2010). Doch der Druck, der auf die Literatur ausgeübt wird, erfolgt nicht nur von Seiten der Bildungspolitik und Öffentlichkeit. Auch die Voraussetzungen im Stefan Hofer-Krucker Valderrama 166 Klassenzimmer haben sich im Zeichen der neuen medialen Wirklichkeit verän‐ dert: Im Unterricht ist man als Lehrperson zunehmend mit Schüler*innen kon‐ frontiert, die nur noch wenig lesen und ihr Bedürfnis nach Geschichten ver‐ mittels anderer Medien - Filme, Serien, Computerspiele, Social Media - abdecken. Die Beschäftigung mit Literatur kann also nicht mehr unproblema‐ tisch an vorhandene Routinen und Selbstverständlichkeiten anknüpfen, wie sie früher etwa im Zeichen von »Charakterbildung [und] nationale[r] Erziehung« gelebt wurden (Brackert und Stückrath 1992: 692). Gerade ein analytischer Um‐ gang mit Literatur, der an den Hochschulen praktisch ausnahmslos im Zentrum steht und den daher in der Regel auch die Lehrpersonen internalisiert haben, stößt vor diesem Hintergrund an Grenzen. Und zwar deshalb, weil ein solcher Zugang die Schüler*innen kaum mit ihrer persönlichen Erfahrungswelt in Be‐ rührung bringt; entsprechend gering dann das Interesse für die besprochenen Texte, entsprechend oberflächlich der Austausch dazu. Es gelingt mit anderen Worten nicht, die literarischen Texte mit den Leser*innen in eine fruchtbare Verbindung treten zu lassen und damit echte Verstehensprozesse auszulösen bzw. zu ›orchestrieren‹. Ein Ansatzpunkt, der im Literaturunterricht häufig gewählt wird, um das genannte Problem zu lösen, ist der Weg über das Interesse für Fragestellungen der Aktualität. Denn über die drängenden Probleme der Gegenwart tauschen sich Schüler*innen gerne aus. Diese Probleme lassen sich im Deutschunterricht aufgreifen, indem sie mit literarischen Texten ›unterfüttert‹ werden. Doch nicht selten tappt man dabei als Lehrperson in die ›Themenfalle‹, nutzt oder ›miss‐ braucht‹ literarische Texte lediglich als Sprungbrett für thematische Diskussi‐ onen, die dem literarischen Text an sich kaum größere Beachtung schenken - und sägt damit selbst am Ast eines Literaturunterrichts, der die intensive Aus‐ einandersetzung mit dem literarischen Text qua künstlerischem Werk ins Zentrum setzen möchte (vgl. Abraham 2010). Eine wesentliche Herausforderung des Deutschunterrichts besteht also darin, literarische Texte mit Themen, die die Jugendlichen unmittelbar angehen, in fruchtbarer Weise zu verknüpfen. Es ist damit ein Literaturunterricht gefragt, der analytisch-genaues Lesen mit dem subjektiven Zugang zu literarischen Werken koppelt; denn dieser ist ja konsti‐ tutiv und ergibt sich aus der Verfasstheit der Literatur selbst, die immer einen solch ›persönlichen Zugang‹ erfordert, weil sie die Leser*innen in ganz eigener Weise im Verstehensprozess engagiert. Im Folgenden möchte ich am Beispiel einer Unterrichtseinheit aufzeigen, wie ein Literaturunterricht dieser Art aus‐ sehen und zu welchen Ergebnissen er führen kann. Ausgangspunkt dieser Einheit, die ich im August und September 2017 in einer meiner Gymnasialklassen (12. Schuljahr) an der Kantonsschule Enge in Zürich Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 167 durchgeführt habe, war das Interesse der Schüler*innen für die gegenwärtige Flüchtlingskrise und der Wunsch der Klasse, diese im Deutschunterricht zu be‐ handeln. Um diesem Wunsch nachzukommen, wählte ich verschiedene litera‐ rische Texte, die sich mal in expliziter Form mit diesem Thema auseinander‐ setzen - etwa Reinhard Kleists berührende Graphic Novel Der Traum von Olympia (Kleist 2015) -, mal implizit als zumindest indirekter ›Kommentar‹ auf die Flüchtlingskrise gelesen werden können, wie Kafkas Erzählung Ein altes Blatt. In der Umsetzung stützte ich mich auf das allgemeindidaktische Setting des ›Dialogischen Lernens‹ (vgl. Ruf und Gallin 2005). Kennzeichnend hierfür ist der Kerngedanke, dass Schüler*innen mit ihren Überlegungen in stärkerer Weise in den Unterricht mit einbezogen werden sollten, als dies in anderen di‐ daktischen Modellen vorgesehen ist. Statt dass sie von der Lehrperson Stoff ›vermittelt‹ bekommen, den sie für Prüfungen lernen (und danach gleich wieder vergessen), ist der Gedanke ausschlaggebend, dass Lernende und Lehrende zu‐ sammen ›an etwas dran‹ sind und mit je eigenen Ideen und Produkten den Lernprozess und den Verlauf der Unterrichtseinheit wesentlich mitbestimmen - was zu länger anhaltenden Erkenntnissen führen soll. Konkret erhalten die Schüler*innen im Unterricht immer wieder Schreib- und Bedenkzeit, in welcher sie in persönlichen Lernjournalen Fragestellungen und Problemfelder des im Unterricht Behandelten selbstständig bearbeiten und weiterdenken. Das Schreiben dient dabei - im Sinne des ›writing to learn‹ - als Werkzeug der Reflexion. Ergebnisse aus dieser Beschäftigung mit den Lerngegenständen werden dann einerseits im Peer-to-Peer-Verfahren kommentiert, befragt, er‐ gänzt oder kritisiert; andererseits liest auch die Lehrperson regelmäßig die Jour‐ naleinträge und spielt Auszüge daraus in sogenannten Autographensamm‐ lungen wieder in den Unterricht ein. Die Lehrperson achtet in einem dialogisch organisierten Unterricht auf ein sinnvolles Wechselspiel zwischen Instruktion und eigenem Tun der Lernenden: Sie gestaltet das Unterrichtsarrangement, un‐ terstützt bei der Rezeption von neuen Materialien, moderiert die Reflexion dazu, konfrontiert die Schüler*innen mit weiteren Wissensinhalten und bewertet ihre Entwürfe und Produkte. Kombiniert wurde das geschilderte Vorgehen in der hier vorgestellten Einheit mit Lektionen, die im Sinne des ›Literarischen Gesprächs nach dem Heidel‐ berger Modell‹ arrangiert waren (vgl. Steinbrenner et al. 2014). Die grundsätz‐ liche Idee dieser literaturdidaktischen Methode ist es, dass sich die Schüler*innen gemeinsam mit der Lehrperson in einem ›echten‹ Gespräch zu einem literarischen Text austauschen. Dabei wird durch sehr klare formale Vor‐ gaben - etwa: Stuhlkreis, Aufteilung des Gesprächs in Phasen, Beteiligung aller Teilnehmer*innen, Klärung der Rollen - ein enger Rahmen geschaffen, in dem Stefan Hofer-Krucker Valderrama 168 sich dann der inhaltliche Austausch frei entwickeln kann. Im Vergleich zum traditionellen Unterrichtsgespräch erhalten hier Redebeiträge der Schüler*innen deutlich mehr Gewicht, wobei auch der Einbezug von sich selbst als lesende Person und die Reflexion auf Verstehensprozesse explizit erwünscht sind. Und die Lehrperson übernimmt die Moderation, äußert sich aber ebenfalls als Leserin und macht ihren subjektiven Zugang zum Text als solchen erkennbar. Mit Kafka wurde bewusst ein kanonisierter Autor gewählt, der als Heraus‐ forderung für den gymnasialen Literaturunterricht gelten kann. Denn Kafka-Texte werden von Schüler*innen - aus naheliegenden Gründen - als schwierig wahrgenommen, und es fällt ihnen oft nicht leicht, einen Zugang zu seinem ganz eigenem ›Textuniversum‹ zu finden. Häufige Reaktionen auf die Hermetik dieser Texte ist eine Abwehrhaltung und die ›Flucht in einfache Er‐ klärungsmuster‹ wie etwa die Folgenden: Das, was ein Erzähler in einem Kafka-Text erzählt, gibt dessen persönlichen (Alb-)Traum wieder oder zeigt die Schizophrenie des Erzählers (oder des Autors Kafka selbst) - oder es wird als Ausdruck von Kafkas schwierigem Verhältnis zu seinem Vater verstanden. All diesen Erklärungsmustern ist gemein, dass die Schüler*innen darin einen ver‐ kürzten Umgang mit dem eigenen Befremden wählen und die Texte dabei vor‐ schnell einordnen - und damit zu sich selbst auf Distanz halten. Es ist daher gerade bei Kafka eine besondere Herausforderung, vermittels eines literaturdi‐ daktischen Settings den Rahmen zu schaffen, damit seine Texte als bedeutend, auch für das eigene Leben, wahrgenommen werden können. Dass dies durchaus möglich ist, aber einige Transferleistung erfordert, soll nun anhand einiger Aus‐ schnitte aus Texten von Schüler*innen, die in der Auseinandersetzung mit Kafkas Ein altes Blatt geschrieben wurden - Journaleinträge, die die Einheit begleiteten, sowie Essays, die am Ende der Einheit entstanden -, aufgezeigt werden. Alle folgenden Zitate, die ich zu einem Fließtext arrangiert habe, stammen also aus Texten von Schüler*innen; sie werden hier, im Originalwort‐ laut und damit unkorrigiert wiedergegeben; nur da, wo das Verständnis er‐ schwert sein könnte, sind zusätzliche Angaben eingefügt. »Die Geschichte erzählt von einem Ort, wo seit einiger Zeit Nomaden aus dem Norden heranströmen und sich in der Stadt nehmen, was sie brauchen. Sie lagern unter freiem Himmel mit ihren Pferden und bedienen sich beim Fleischer gegenüber der Schusterwerkstatt, können jedoch nicht mit den Einwohnern kommunizieren. Kafka macht in seiner Erzählung deutlich, dass sich die Men‐ schen in seiner Geschichte ernsthaft fürchten und doch nichts dagegen unter‐ nehmen. Zwar können sie mit den Nomaden nicht sprechen, aber es kommt auch niemandem in den Sinn, sich ihnen zu stellen und beispielsweise die Fleischvorräte zu verstecken, zu groß ist die Angst die Fremden könnten den Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 169 Einwohnern etwas antun.« Soweit eine erste Inhaltsangabe und Einordnung des Erzähltextes durch Laura G.. Als Kommentar dazu lässt sich folgendes Zitat von Luca P. lesen: »Beide Ethnien in diesem Dorf leben, wie es für sie selber normal ist, doch gibt es zwischen ihnen kaum ein kongruentes Merkmal.« Er folgert daraus: »Da bringt jede Erfahrung aus der eigenen Gesellschaft nur wenig.« Damit wird deutlich, dass Fremdverstehen einem nicht in den Schoß fällt und mit Aufwand und mit Lernleistung verbunden ist. Und darin lässt sich eine Pa‐ rallele zwischen realweltlichem Fremdverstehen und dem literarischen Ver‐ stehen sehen, die beide als Umgang mit Alterität gefasst werden können (vgl. Lösener 2010; Wintersteiner 2010). Dies bringt Anna D. folgendermaßen auf den Punkt: »In der Literatur wird selten das Offensichtliche genannt. Der Leser muss die Kunst beherrschen, zwischen den Zeilen zu lesen. Auch im Leben muss man hinter Fassaden sehen, was beim Lesen erlernt werden kann. Selten zeigt der / die / das Fremde sein wahres Gesicht, was nicht einmal böse Absicht sein muss. Vielleicht spricht das Fremde einfach nur eine Fremdsprache. Diese Fremdsprache muss in der Schule ebenso gelernt werden wie Englisch und Französisch. Und jeder Autor schreibt in seinem Dialekt.« Ein zentrales Element des literarischen Verstehensprozesses ist bei Erzähl‐ texten die Analyse der Erzählstimme. Wenn der Migrant im Kafka-Text nämlich als »das, vor dem sich die Menschen fürchten«, erscheint, wie Claire N. schreibt, so hat dies in erster Linie mit unserer spezifischen Lenkung durch den Erzähler zu tun: Denn es »bleibt uns nichts Anderes übrig, als [uns] von den Schild‐ erungen [des Erzählers, S. H.] beeinflussen zu lassen und die Seite der Bewohner einzunehmen«, wie Ivona M. festhält. Und sie fährt fort: »Die Sicht der Nomaden wird […] im Text nicht näher erläutert. Als Leser lernen wir die Nomaden nur aus der Sicht des Erzählers kennen und wissen nicht wirklich wer sie sind. Wir haben nicht mal die Chance, uns auf das ›Fremde‹, hier im Text die Nomaden, einzulassen, denn diese [Möglichkeit, S. H.] wird uns vom Erzähler durch diese negativen Schilderungen« vorenthalten. Das Bild der Fremden ist also entschei‐ dend durch die Darstellung durch den Erzähler geprägt, worin Sibylle V. eine Strategie erkennt: »Die Fremden in Kafkas Text werden wie Wilde beschrieben, die eine grosse Unordnung verursachen und Angst verbreiten. Sie nehmen sich alles was sie brauchen und man gibt es ihnen sogar auch halbwegs freiwillig, weil man so Angst hat vor ihnen - eine Art lähmende Angst, die es unmöglich macht, in ihr Tun einzugreifen. Man glaubt zu wissen wieso sie so sind, doch ›weil es so ihre Art ist‹ [Kafka 1983: 119], ist bloß eine Aussage, um ein schwa‐ ches Gefühl von Sicherheit vorzutäuschen«. Und Tim V. zieht eine erste Schluss‐ folgerung: »Beim Lesen dieser Erzählung muss man kritisch sein und man sollte nicht den Übertreibungen des Erzählenden verfallen. Kafka erzählt aus der Po‐ Stefan Hofer-Krucker Valderrama 170 sition eines verängstigten Mannes, der das Eigene, seine Stadt, von Fremden bedroht sieht.« Es wird damit deutlich, wie die Schüler*innen die Perspektive einer literarischen Figur nachvollziehen - nach Kaspar Spinner ein ganz we‐ sentlicher Aspekt literarischen Lernens (vgl. Spinner 2006). Doch sie vollziehen diese Perspektive nicht nur nach, sondern befragen sie auch kritisch: »In der Geschichte von Kafka bemerken die Einwohner zwar die seltsame Verhaltens‐ weise der Nomaden, fragen sich jedoch nicht, was der Grund für ihre Art oder überhaupt ihr Dasein ist. Mussten die Menschen mit ihren Pferden aus irgend‐ einem Grund aus ihrer Heimat flüchten oder ist eine traumatisierende Vergan‐ genheit der Grund für ihr barbarisches Verhalten? Wir wissen es nicht, dennoch verurteilen wir, beziehungsweise die Protagonisten der Geschichte, die Fremden als Eindringlinge und Zerstörer des Vaterlandes.« In dieser Parallelsetzung von »wir« und »Protagonisten«, die Laura G. vornimmt und auf die die Erzählung, die zwischen Ich- und Wir-Perspektive changiert und auch mal ein ›Du‹ einbaut, gleichsam hindrängt, liegt bereits der Kern, um die Erfahrung mit diesem Kafka-Text ins Heute weiterzudenken: »Genauso wie in Kafkas Ein altes Blatt empfinden wir alles Fremde als Bedrohung und jetzt, in dieser Zeit, in der ›das Fremde‹ in Bewegung ist, fühlen wir uns überfordert, ja fast schon persönlich angegriffen.« Und diese Beobachtung von Sibylle V. lässt sich gut mit den fol‐ genden allgemeingültigen Überlegungen von Michelle V. zu den Schwierig‐ keiten mit dem Fremdverstehen verknüpfen: »Schenken wir den Worten von Kafka Glauben, dann werden wir einem Nomaden nie so begegnen, wie er es verdient hätte. [Denn] wir Menschen fahren sofort unser Warnsystem hoch, wenn wir jemandem oder etwas begegnen, das uns fremd ist, und automatisch wird das Fremde als schlecht abgestempelt. Man vertraut auf das, was man kennt und misstraut dem Unbekannten.« Ein weiteres allgemeingültiges Reaktionsmuster fasst Lena F. in folgende Worte: »Die wie Barbaren dargestellten Eindringlinge haben für den Erzähler eine unverständliche Lebensweise. Selber etwas dagegen unternehmen kann oder will er nicht, vielmehr schiebt er die Verantwortung der Regierung zu, die jedoch versagt hat: ›Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben.‹ [Kafka 1983: 120] Eine ähnliche Haltung, wie sie heutzutage viele Europäer wohl auch haben.« Und sie kritisiert die Kurzsichtigkeit dieser Haltung unter Rekurs auf einen anderen Text: »Und doch: ›Je schlimmer die Ökonomie, umso grösser das Bedürfnis nach dem Einwan‐ derer‹, wie Hanif Kureishi, Romancier, Dramatiker und Drehbuchautor aus London, in seinem Essay Der Migrant in unserem Kopf schreibt [Kureishi 2014: 17]. Denn irgendwie sind wir auch abhängig von Migranten, die bereit sind, Arbeiten zu verrichten, die für Einheimische wenig attraktiv sind. Oder wer soll Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 171 sich sonst in den nächsten Jahren um die überalterte Gesellschaft in überfüllten Altenheimen kümmern und wer soll spät nachts noch in allen Büros die Klos putzen? Der wohlhabende Westeuropäer wohl kaum.« Der Kafka-Text wird in diesem Beitrag also mit der heutigen Flüchtlingskrise in eine Verbindung ge‐ bracht, so dass ein »blitzhafte[s] Zusammentreten von Gewesenem und Jetzt zu einer Konstellation« (Benjamin 1984: 147) aufscheint und »die Vergangenheit« - hier in Form des hundertjährigen literarischen Textes - »dazu führt, die Ge‐ genwart in eine kritische Lage zu bringen« (Benjamin 1984: 149). Oder in an‐ deren Worten: Im Lichte der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text wird eine aktuelle Situation verständlicher. Und konkret schafft die Literatur damit »Raum, um über die ›Menschengemeinschaft‹, wie sie einst von Aristo‐ teles bezeichnet wurde, nachzudenken«, wie es im Beitrag von Celine B. heißt. Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten kann also durchaus Er‐ kenntnisse vermitteln - was aber einige Verstehensarbeit erfordert, wie im fol‐ genden Text von Nora W. deutlich wird, die konstatiert, dass es »häufig nicht ganz einfach [ist, S. H.], einen Zugang zu literarischen Texten zu finden. Man muss bereit sein, sich über eine längere Zeit zu konzentrieren, eine Stelle zwei-, vielleicht auch dreimal zu lesen. Manchmal muss man sich den Sinn richtigge‐ hend erarbeiten.« Diese Verstehensarbeit kann dann aber auch Einsichten in unser eigenes Verhalten liefern, wie Laura G. schreibt: »Ich habe das Gefühl, dass die Literatur, insbesondere Erzähltexte, sehr oft auf eine diskrete Weise das Denken der Menschen in den Texten wiederspiegelt, um den Lesern ihr eigenes Verhalten vor Augen zu führen. Die Naivität, die teilweise unser alltägliches Denken beherrscht, ist uns oft gar nicht bewusst, bis wir selber in einer anderen Form damit konfrontiert werden.« Daher sollten wir es nicht bei einer vorder‐ gründigen Lektüre belassen, »nicht nur an der Oberfläche graben, sondern auch tiefer blicken«, wie Michelle V. bemerkt. Und Nora W. erläutert: »Während Sachtexte uns vor allem Antworten auf Fragen liefern, wirft Literatur auch neue Fragen auf. Sie regt uns an, über Dinge nachzudenken, die uns vorher nicht bewusst oder nicht bekannt waren und sie zwingt uns manchmal auch, das Ei‐ gene und das Bekannte zu hinterfragen. Wie zum Beispiel in […] Ein altes Blatt […], in dem es [mit Blick auf die Nomaden und damit die Eindringlinge, S. H.] heißt: ›Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich von gleichem Fleischstück, jeder an einem Ende.‹ [Kafka 1983: 119] Diese Stelle im Text lädt uns ein, das Bekannte zu hinterfragen. Wir alle wissen, dass Pferde keine Fleischfresser sind, sondern sich von Pflanzen ernähren. Solche Textpassagen lassen uns darüber nachdenken, was nun der Wahrheit entspricht. Fressen Pferde vielleicht doch Fleisch oder ist alles an der Geschichte frei erfunden und nicht wahrheitsgetreu? Und wenn alles erfunden Stefan Hofer-Krucker Valderrama 172 ist, was sagt uns das über den Umgang mit dem Fremden? Vielleicht regt der Text damit auch an, über den eigenen Umgang mit fremden Menschen nachzu‐ denken. Erzählen auch wir manchmal Geschichten, die an fleischfressende Pferde erinnern? « Indem diese Passage - anders als in der ersten Lektüre - hier nicht wörtlich, sondern in übertragenem Sinn gelesen wird, und indem die Schülerin dabei auch einen Bezug zu sich selbst als lesende Person herstellt, ergänzen sich genaue Textwahrnehmung mit subjektiver Involviertheit - nach Spinner ein weiteres zentrales Moment literarischen Lernens (vgl. Spinner 2006: 8). Literatur erschafft damit Konstellationen, in denen die Leser*innen »über sich selbst lesen« können, wie es Anna D. formuliert. Und letztlich können literari‐ sche Texte wie jener von Kafka damit Einfluss auf die eigene Persönlichkeit nehmen und derart auch das eigene Handeln beeinflussen; oder in den Worten von Laura G.: Sie »können auch den Ansporn geben, aus der eigenen Komfort‐ zone zu kommen und den Mut zu haben, das Unbekannte kennenzulernen. Das Fremde muss nicht immer schrecklich und grausam sein, genauso wie ein/ e Migrant/ in nicht automatisch den Terror aus ihrem Land mit in unser Land bringt. Obwohl ich selber auch ein Mensch bin, der Andere im ersten Moment oft nach dem Optischen beurteile, finde ich es unglaublich wichtig, einen Men‐ schen immer erst näher kennenzulernen und seine Geschichte zu kennen, um ihn dann einschätzen zu können. Denn wer Andere in einen Nebel von Vorur‐ teile verbannt, wird sich irgendwann selber darin verlaufen.« Schluss Literaturwissenschaft wie auch Literaturdidaktik sind Unternehmungen, die wesentlich durch ›Krisenhaftigkeit‹ geprägt sind. Diese ergibt sich aus der spe‐ zifischen Verfasstheit des Gegenstandes Literatur, wie im zweiten Kapitel dieses Beitrags ausgeführt wurde. Und Literaturwissenschaft kann - dies hat das dritte Kapitel aufzuzeigen versucht - durchaus einen gewichtigen Beitrag an das Ver‐ ständnis und die Bearbeitung von komplexen gesellschaftlichen Problemen leisten, wenn sie ihre Kompetenzen selbst- und gleichsam ›krisenbewusst‹ ein‐ zubringen versteht. Der gymnasiale Literaturunterricht ist hierbei insofern wichtig, als er entscheidend dazu beitragen kann, dass Schüler*innen literari‐ sche ›Beobachtungskompetenz‹ aufbauen können, die beim Bearbeiten der ge‐ nannten gesellschaftlichen Probleme und Krisen wichtig sind. Und es kommt ihm dann eine Schlüsselrolle zu, wenn er es schafft, Schüler*innen mit literari‐ schen Texten in eine Konstellation treten zu lassen, die es ihnen ermöglicht, sich im ›literarischen Spiel‹ zu engagieren und die konstitutive Reflexionsoffenheit Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die Klimawandelforschung 173 des literarischen Textes zum Nachdenken auch über sich selbst als Leser*innen zu nutzen; dies habe ich im vierten Kapitel dieser Arbeit dargelegt. Den Schluss‐ punkt soll ein weiteres Zitat aus dem Text einer Schülerin, Lena F., bilden, das erneut den gedanklichen Weg aufzeigt, der bei Kafka seinen Ausgangspunkt nimmt und der hinführt zur aktuellen politischen Diskussion: Wie Ein altes Blatt zeigt, ist »der Mensch ein Gewohnheitstier, das sich nach dem Grundbedürfnis einer vertrauten und stabilen Umgebung sehnt. Ist diese bedroht - durch eben dieses Fremde - reagieren viele mit Angst auf das Unbekannte. Trotzdem sollten wir uns, wenn wir das nächste Mal über die Flüchtlingspolitik debattieren, einen Punkt vor Augen führen, den Herfried Münkler, Professor für Theorie der Po‐ litik, aufgeworfen hat. Nämlich ›die innovative Rolle des Fremden, das wie ein Generator des Neuen gegen Ermüdungsprozesse und lähmende Selbstzufrie‐ denheit wirkt‹ [vgl. Münkler 2015: 47]«. Und in diesem Sinne möchte ich auch die Literatur und ihre von mannigfaltiger ›Krisenhaftigkeit‹ geprägte literatur‐ wissenschaftliche Erforschung und literaturdidaktische Vermittlung als ›Gene‐ ratoren gegen lähmende Selbstzufriedenheit‹ des Individuums und der Gesell‐ schaft verstanden wissen. Literatur Abraham, Ulf (2010). ›P/ poetisches V/ verstehen. Zur Eingemeindung einer anthropolo‐ gischen Erfahrung in den kompetenzorientierten Deutschunterricht‹, in: Iris Winkler, Nicole Masanek und Ulf Abraham (Hrsg.), Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen - empirische Forschung - Projekte aus dem Deutschunterricht. 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Der Bil‐ dungsforscher Manfred Fuhrmann etwa moniert: Der PISA-Test zielt auf den homo oeconomicus. Es geht darin um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. Das Lesen, die Mathematik und die reinen Naturwissenschaften: Sie sind instrumentalisiert für Anwendung, Praxis, für Zweckhaftigkeit um eines möglichst hohen Standards willen. (Fuhrmann 2004: 221) Der Deutschdidaktiker und Friedenspädagoge Werner Wintersteiner sieht den Bildungsbegriff unter ökonomischen Vorzeichen pervertiert - »Bildung wird als persönlicher Besitzstand und Humankapital umdefiniert, wobei nur das zählt, was dieser Kapitalakkumulation dienlich ist« - und macht dafür eine globale »Wirtschafts- und Wissenselite« verantwortlich (Wintersteiner 2011: 8). Nun mag es vor diesem hier nur holzschnittartig skizzierten Hintergrund von grundlegenden Änderungen im Bildungsbereich der letzten zehn bis 15 Jahre auf den ersten Blick einer Provokation gleichkommen, wenn man eine Zusam‐ menführung von Literatur und Theater mit ökonomischen Horizonten im Deutschunterricht anregt, zumal das Finanzthema seinerseits als prekäres, un‐ gesichertes, krisenhaftes Terrain figuriert, das häufig als unästhetisch und damit einhergehend als dem Bereich der Literatur nicht zugehörig empfunden wird. Auf den zweiten Blick jedoch lassen sich zahlreiche Gründe finden, die für eine Koinzidenz von Literatur und Ökonomie im Deutschunterricht votieren. Im Einzelnen gilt es, die Rolle und Relevanz literarischer Praktiken rund um öko‐ mische Implikationen für den Deutschunterricht und für die Entwicklung von Jugendlichen zu erhellen sowie mögliche unterrichtliche Themengegenstände zu fokussieren. Ausgehend von einigen Schlaglichtern auf das Verhältnis von literarischer Ökonomik, gegenwärtiger, ökonomisch geprägter Dramen- und Theaterpraxis sowie fachdidaktischem Forschungsstand möchte der vorlie‐ gende Beitrag (der deutlich auf Heiderich 2016a zurückgeht) ein Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Deutschunterricht lancieren. Der Diskurs des Ökonomischen im Gegenwartsdrama und -theater - ein Überblick Forschungsdimensionen der literarischen Ökonomik Als zuweilen ›feindliche Schwestern‹ (vgl. Hörisch 1996: 21) bezeichnet Jochen Hörisch Literatur und Ökonomie in seiner viel beachteten Studie Kopf oder Zahl und Franziska Schößler präzisiert: Insbesondere die Genieästhetik und das Paradigma autonomer Kunst sorgen in der bürgerlichen Moderne seit etwa 1800 dafür, dass ökonomische Vorgänge als krude Prosa, als das Andere der Kunst begriffen werden. (Schößler 2013b: 101) Damit scheint die Verbindung von Literatur und Ökonomie phasenweise einen Normbruch darzustellen. Gleichwohl sind die vermeintlich getrennten Sphären häufig eng aufeinander bezogen: Literatur- und theatergeschichtliche Wurzeln sind im sozialen Drama und im kritischen Volksstück zu finden (vgl. Bähr 2012: 71-143; Schößler 2004: 239-309; Schößler 2003). Im Rahmen dieser Überblicks‐ darstellung ist es unmöglich, auch nur die wichtigsten Werke aufzuzählen, wohl aber sollen zumindest schlaglichtartig einige zentrale Stationen aufgezählt werden: Büchners Woyzeck ( UA 1913), Hauptmanns Sozialdramen des Natura‐ lismus, die Zeit des Interbellum mit Stücken wie Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald ( UA 1931) oder Fleißers Pioniere in Ingolstadt ( UA der ersten Fas‐ sung 1928), Bauerndramen der DDR , etwa von Strittmatter und Müller, sowie die Renaissance des Volksstücks in der BRD in den 1970er Jahren u. a. durch Fassbinder, Turrini und Kroetz. Jens F. Heiderich 178 Literarische Ökonomik hat in den letzten Jahren einen deutlich erkennbaren Bedeutungszuwachs erfahren. Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: Joseph Vogl entwarf 2002 eine Poetik des ökonomischen Menschen (Vogl 2002), Franziska Schößler stellte 2011 die Frage Ökonomie als Leitdiskurs in den Kul‐ turwissenschaften? (Schößler 2011) und Iuditha Balint und Sebastian Zilles gaben 2014 den Sammelband Literarische Ökonomik (Balint und Zilles 2014) heraus, dessen Klappentext mit den Worten »Pioniere des Forschungsfeldes melden sich zu Wort - ein Sammelband blickt auf 30 Jahre Forschung zurück« wirbt. In dieser jahrzehntelangen Forschungsgeschichte haben sich fünf Dimensionen li‐ terarischer Ökonomik herausgebildet: erstens die Analyse der literarischen Darstellung der Ökonomie als gesellschaftliche Sphäre, zweitens die Interpretation der Ökonomie als Metapher, drittens die Erfor‐ schung des literarischen Wissens über Theorien und Modelle der Ökonomik, viertens die Untersuchung ökonomischer und quasi-ökonomischer Texte hinsichtlich ihrer Literarizität, und fünftens die Erweiterung und Berichtigung wirtschaftswissenschaft‐ licher Theorien und Modelle mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden und The‐ orien. (Balint 2014: 15; zu einem Überblick über die Geschichte literarischer Ökonomik sowie zu zentralen Forschungspositionen, -fragen und -arbeiten vgl. Schößler 2013b: 103-105) Der Begriff ›literarische Ökonomik‹ rekurriert folglich auf keine in sich ge‐ schlossene literatur- oder kulturwissenschaftliche Theorie oder Methode. Er ist eine Sammelbezeichnung für die Erforschung der auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Verzahnungen von Literatur(wissenschaft) und Wirtschaft(swis‐ senschaft). ›Arbeitskraftunternehmer‹ in Theatern und auf Bühnen Ökonomie hat verstärkt in den letzten etwa 20 Jahren - und damit deutlich vor der Finanzkrise von 2008 - Einzug in die Theater gehalten (vgl. Lehmann 1999: 15; Schößler 2013a: 19-20; Schößler und Bähr 2009: 9-11). Geld und Schulden, Top- und Underdogs, Überbeschäftigte und Arbeitslose sind präferierte Sujets und Figuren auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Zudem wurden nach 1989 - mit zeitlicher Verzögerung - im Zuge von als krisenhaft empfundenen Sparmaßnahmen Strukturdebatten geführt, deren Ergebnisse in der Zusam‐ menlegung von Sparten und der Schließung ganzer Häuser ihren Niederschlag fanden. Seither sind neue Produktionsformen, wie sie insbesondere von René Pollesch betrieben werden, gefragt. Team- und Projektarbeit, Ausbildung von Netzwerken, Flexibilität des ›Arbeitskraftunternehmers‹ sind einige der zent‐ ralen Schlagworte, die für Theater relevant geworden sind. Damit korrespon‐ »Ich konsumiere, also bin ich? ! « 179 diert Arbeit im Theater mit jenen Tendenzen, die im Wirtschaftssektor zu kon‐ statieren sind. Die projektorientierten Organisationsformen der Theater werden mittlerweile derart ›vorbildlich‹ betrieben, dass Betriebswirtschaft und Arbeits‐ soziologie in ihnen rentable Forschungsobjekte sehen. In der Öffentlichkeit hin‐ gegen stehen Gegenwartsdramen und -theater aufgrund der Zuwendung zur Sphäre der Ökonomie verschiedentlich in der Kritik. Ihnen wird zuweilen »eine parasitäre Attitüde attestiert« (Schößler 2013a: 19; vgl. ebd.: 20), die darin be‐ stehe, Nutzen aus den im Zeichen des Ökonomischen und Prekären stehenden Theaterstücken und deren Inszenierungen zu ziehen. Dokumentarische Theaterformen und Finanzwelt Wirft man einen Blick auf die Theaterstücke selbst, so ist zunächst Urs Widmers Top Dogs ( UA 1996) zu nennen, das verschiedentlich als »Blaupause« (Blaschke 2009: 211) deutschsprachiger Wirtschaftsdramen der Gegenwart gehandelt wird. Dieses Stück, das gekündigte Spitzenmanager als die ehemals Machthab‐ enden ins Zentrum des Interesses stellt, war insofern richtungsweisend, als Widmer die längere Zeit getrennt wahrgenommenen Sphären von Wirtschaft und Theater zusammenführte. Grundlegend für sein Stück sind der dokumen‐ tarische Ausgangspunkt sowie die Berücksichtigung von Methoden der Feld‐ forschung und Erkenntnissen der soziologischen Theoriebildung (vgl. z. B. Heimburger 2010: 299-310). Zahlreiche Theatertexte, die sich der Wirtschaft im weiteren Sinne zuwenden und vergleichbare Ansätze berücksichtigen, sollten folgen. Rolf Hochhuth etwa korreliert mit seinem »Doku-Drama« (Pewny 2011: 12) McKinsey kommt ( UA 2004) das Schicksal seiner Figuren mit Ausschnitten aus der Medienberichterstattung zu Firmenfusionen und Massenentlassungen, die das Ziel der Gewinnsteigerung in Zeiten einer florierenden Wirtschaft ver‐ folgen (vgl. Heimburger 2010: 292-299). Dokumentarisch arbeitet auch Kathrin Röggla, »die Volksbefragerin« (Thieringer 2005: 14), die für ihre Theatertexte über neoliberale Arbeitsverhältnisse, wir schlafen nicht ( UA 2004) und draußen tobt die dunkelziffer ( UA 2005), zahlreiche Interviews mit Praktikantinnen und Praktikanten, Managerinnen und Managern, Coaches und Consultants führte. Allerdings unterzieht Röggla das durch die Interviews gewonnene Sprachma‐ terial bestimmten Verfremdungstechniken (vgl. Bähr 2012: 308-311). So erklärt sie beispielsweise ausgewählte Aussagen durch Setzung von Anführungszei‐ chen zu vermeintlichen Zitaten, ohne die Quelle auszuweisen, oder lässt ihre Figuren häufig im Konjunktiv sprechen, wodurch sie die Vorstellung autonomer Sprechersubjekte unterminiert respektive die Sprechersituation als eine unge‐ klärte ausweist. Durch diesen Umgang mit dem Interviewmaterial wird einer‐ seits die Arbeitswelt zwar aufgerufen, andererseits aber auch gleichsam im Jens F. Heiderich 180 Rahmen einer spezifischen Ästhetik der Verfremdung infrage gestellt. Anders hingegen geht der Dokumentarfilmer Andres Veiel in seinem Theatertext Das Himbeerreich ( UA 2013) vor (vgl. Bloch 2014a: 50). Auch er macht Interviews zum Ausgangspunkt seines Textes. Allerdings haben jene Modifikationen, die er vornimmt - er führte mit 25 Investmentbankern Interviews, kürzte, montierte und verteilte sie auf fünf Akteure -, eine andere Stoßrichtung: Sie werden ver‐ wendet, um einen Dokumentations- und Wirklichkeitsanspruch des Stückes zu behaupten. Die Sprache des Marktes wird folglich weitgehend als solche ge‐ wahrt. Arbeit und Privatleben, Ökonomie und Gefühle Waren es zunächst vornehmlich postfordistische Arbeitsverhältnisse sowie Überforderung durch ein Zuviel an Arbeit (›Burn-out‹) und Unterforderung durch Arbeitslosigkeit (›Bore-out‹), die um die Jahrtausendwende auf die Bühnen gebracht wurden, so finden sich in der Folgezeit vermehrt Theater‐ stücke, die zudem die Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, zwischen Geschäft und Gefühlen zur Schau stellen. Blaschke stellt eine »Ent‐ gegensetzung (aber dann auch […] bedrohliche Verschlingung) von Ökonomie und Familie respektive privater Partnerschaft« fest und sieht in der »Bedrohung und Belastung von Liebes- und Familienbanden durch das Einwandern ökono‐ mischer Kategorien in intime Beziehungen« (Blaschke 2009: 212-213; vgl. für den folgenden Überblick z.T. auch Blaschke und Bloch 2014a: 47-48) ein Muster zahlreicher Gegenwartsdramen. In Falk Richters Unter Eis ( UA 2004) etwa ist für zwischenmenschliche Gefühle der Unternehmensberater kein Raum. Auch die Ehefrau des Kapitäns Feldmannsee aus Moritz Rinkes Republik Vineta ( UA 2000) fühlt sich angesichts der Arbeitswut ihres Gatten für ein (letzten Endes fiktives! ) Großprojekt zurückgesetzt und in Café Umberto ( UA 2005) des be‐ sagten Dramatikers gehen die Beziehungen gleich dreier Paare bezeichnender‐ weise im Jobcenter zu Bruch. Das 2012 am Schauspiel Frankfurt uraufgeführte Drama Wir lieben und wissen nichts, ebenfalls von Moritz Rinke, stellt in der Schwebe zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie zwei Paarbeziehungen aus, deren jeweiliger Umgang untereinander deutlich von dem Beruf geprägt ist, den die Partner ausüben: »Jedes der Paare vereint eine konservative Kraft und eine Fliehkraft, die sich dem Markt entgegenschleudert und seinen Gesetzen vieles opfert« (Boldt 2012: o.S.). Hannah etwa verdient gutes Geld, indem sie als Zen-Coach überarbeitete Banker ›richtiges Atmen‹ lehrt. Dennis Kellys Liebe und Geld (Love and Money, UA 2006) lässt eine Paarbeziehung unter dem Druck der Verschuldung zu Grunde gehen und evoziert bereits qua Titel die Verbin‐ dung von Emotionen und Mammon. Letzteres trifft auch auf René Polleschs »Ich konsumiere, also bin ich? ! « 181 Liebe ist kälter als das Kapital ( UA 2007) zu (vgl. weiterführend Bloch 2013). Felicia Zeller zeigt in Kaspar Häuser Meer ( UA 2008) die Überforderung dreier Sozialarbeiterinnen auf dem Jugendamt, die in einer schier nicht enden wol‐ lenden Flut neuer Fälle von hilfsbedürftigen Kindern zu ertrinken drohen, und Jelineks Über Tiere ( UA 2007) stellt unter postdramatischen Theaterzeichen die Beziehungen zwischen Mann und Frau durch eine von dem Diktat des Marktes markierte Sprache in den Vordergrund. Geld und Börsenhandel Geld, Finanztransaktionen und Börsenhandel bilden einen weiteren themati‐ schen Schwerpunkt, der gegenwärtig auf die Bühne gebracht wird (vgl. im Fol‐ genden vorrangig Schößler 2013a: 20 f.; Bloch 2014a: 49). Dieses Unterfangen stellt eine besondere Herausforderung für die Theaterschaffenden dar, weil das Geschehen an der Börse von Expertendiskursen durchdrungen ist und als un‐ durchsichtig gilt (vgl. Vogl 2011: 7). Die Entmaterialisierung des Geldes sowie die »Entkoppelung der Geldzirkulation von den Dimensionen Raum und Zeit« (Künzel 2011: 19; vgl. auch ebd.: 20) repräsentieren zudem Hemmnisse bei der szenischen Umsetzung. Im Zuge der Einführung moderner Börsentechnologie und den damit einhergehenden Digitalisierungsprozessen sind Finanzströme auf einer Ebene der Hyperrealität entstanden (z.T. verbunden mit Zahlungsmit‐ teln zweiter und dritter Ordnung), die, bildlich gesprochen, eine derart hohe Fließgeschwindigkeit und einen derart hohen Abstraktionsgrad erlangt haben, dass erstens der Wert eines bestimmten Finanzproduktes zu einem bestimmten Zeitpunkt kaum mehr zu bestimmen ist und zweitens ein hoch komplexes Fi‐ nanzsystem vorliegt, das auf einer Theaterbühne zu repräsentieren als Heraus‐ forderung gilt. Des Weiteren scheinen die Fachsprache der Wirtschaft, die auf Eindeutigkeit zielt, und die Sprache von Drama und Theater, die mit Mehrdeu‐ tigkeit spielt, eine weitere Hürde zu sein (vgl. Amann 2014: 8; Bloch 2014a: 49). Das Theater hat auf diese Umstände unterschiedlich reagiert. Zu beobachten ist eine Tendenz, das zunehmend ›virtuell existierende‹ Geld zu remateriali‐ sieren, um es vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer zu vernichten. Das ›Verbrennen von Geld‹ im Kontext der Finanzkrise kann so in Szene gesetzt werden; auch besteht die Möglichkeit, eigene Gier sinnlich für die Zuschau‐ enden erfahrbar zu machen. Nicolas Stemanns Inszenierung von Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns ( UA 2009) ist ein prominentes Beispiel für diese the‐ atrale Ästhetik. Andere Umsetzungen der Geldthematik bestehen in dem ›Nachbau‹ der Börse (vgl. das Festival Palast der Projekte am Hebbel Theater Berlin, 2008), der Verbildlichung der Börsencharts (vgl. die Inszenierung von Dagmar Schlingmann von Das Geld nach Émile Zola am Saarländischen Staats‐ Jens F. Heiderich 182 theater Saarbrücken, 2014), der Ausweitung des theatralen Raumes durch Of‐ fenlegung des Inszenierungscharakters realer Hauptversammlungen von Akti‐ engesellschaften (vgl. das Projekt von Rimini Protokoll, in dessen Rahmen ›Theaterzuschauerinnen‹ und ›Theaterzuschauer‹ bei der Hauptversammlung der Daimler- AG zugegen waren; vgl. Bloch 2014b) und der Einführung von Al‐ ternativwährungen (vgl. das Projekt der Performancegruppe geheimagentur am Theater Oberhausen zur Einführung einer »Schwarzbank«). Literatur, Ökonomie, Deutschdidaktik und -unterricht - fachdidaktischer Forschungsstand Die Praxis des Deutschunterrichts reagierte bisher häufig ablehnend auf den ›Ökonomie-Boom‹ der gegenwärtigen Dramen- und Theaterproduktion im Be‐ sonderen und der germanistischen und kulturwissenschaftlichen Forschung im Allgemeinen: Ungleich dem Bedeutungszuwachs, den das Thema Ökonomie in der Literaturwis‐ senschaft spätestens seit 2008 erfahren hat, fristet es im Rahmen des schulischen Deutschunterrichts neben Themen wie Liebe und Außenseitertum noch immer ein Schattendasein. (Preisinger 2014: 80) Dieser Befund korrespondiert mit dem überschaubaren Forschungsstand der Fachdidaktik, die bis dato keine umfassende und grundlegende Monographie zu dem Thema vorgelegt hat. Ältere, im Umfeld des Bremer Kollektivs respektive einer kritischen Deutschdidaktik entstandene Studien wie Wendula Dahles Deutschunterricht und Arbeitswelt (Dahle 1972) oder das von Heinz Ide und Bodo Lecke herausgegebene Lesebuch Ökonomie und Literatur (Ide und Lecke 1973) sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Neuere Arbeiten wie z. B. die von Franziska Schößler herausgegebenen Themenhefte Arm und Reich in der Literatur (Schößler 2012a) und Geld und Spekulation in der Literatur (Schößler 2014) der Zeitschrift Der Deutschunterricht bilden positive Beispiele für ein‐ schlägige, aktuelle Forschungstätigkeiten, wenngleich auch hier die unterricht‐ liche Relevanz in einzelnen Beiträgen genauer herausgearbeitet werden könnte. Deutlich praxisnäher, fachlich jedoch weniger tiefgehend ist das Themenheft Geld. Alltagstexte, Sprache, Literatur der Zeitschrift Deutschunterricht (Bekes und Wetekam 2015). Arbeiten zu Widmers Top Dogs (vgl. z. B. Wrobel 2006) - das einzige Stück der Gegenwartsdramatik, das immerhin mehrere Jahre Bestandteil der Abiturliste des Landes Niedersachen und Pflichtlektüre für den Deutsch-Leistungskurs an Wirtschaftsgymnasien des Landes Nordrhein-West‐ falen war - verbinden fachliche und schulpraktische Horizonte. In dem Bereich »Ich konsumiere, also bin ich? ! « 183 von Theatertexten für Kinder und Jugendliche findet des Öfteren Lutz Hübners Creeps, das u. a. Praktiken der Film- und Unterhaltungsindustrie am Beispiel einer fingierten Castingshow in ein kritisches Licht rückt, Beachtung (vgl. z. B. Payrhuber 2012: 39-53). Für den Kontext des Deutschunterrichts an berufsbild‐ enden Schulen scheint lediglich eine relevante Arbeit vorzuliegen (vgl. Grund‐ mann 2003). Eine Tagung, die im Juni 2018 zu dem Thema Ökonomische Bildung und ökonomisches Wissen im Literaturunterricht? in Koblenz stattfinden wird, verdient zudem Beachtung. Mit Blick auf die fremdsprachliche Fachdidaktik ist die Forschungstätigkeit für Unterricht an allgemeinbildenden Schulen ebenfalls deutlich beschränkt, wohl aber gilt der von Frings und Heiderich herausgege‐ bene Sammelband Ökonomische Bildung im Französischunterricht (2013) als ein‐ schlägig und der XXXIV . Romanistentag des DRV in Mannheim 2015 stand im Zeichen von Romanistik und Ökonomie: Struktur, Kultur, Literatur. Auch fachdi‐ daktisch ausgerichtete Sektionen waren vertreten. Gründe für diese - in Relation zur regen Produktion von Theatertexten und -inszenierungen sowie zur fachwissenschaftlichen Tätigkeit - zurückhaltenden, mittlerweile aber erkennbaren Reaktionen der Fachdidaktik mögen darin zu sehen sein, dass Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer nicht als ausgewiesene Fachkräfte auf dem Gebiet der Ökonomie agieren können. Andererseits ver‐ schließen sie sich auch psychoanalytischen Deutungshorizonten nicht, obwohl sie keine Psychologinnen und Psychologen sind. Zudem ist davon auszugehen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer im Laufe ihres Studiums und ihrer Ausbil‐ dung durch Vorstellungen des Genieparadigmas geprägt wurden. Vor diesem Hintergrund die Verbindung von Literatur und Ökonomie in den Fokus des Un‐ terrichts zu stellen, mag einem empfundenen Normbruch gleichkommen. So sieht Preisinger auch das Schattendasein ökonomischer Lektüren im Deutsch‐ unterricht […] in der klischeebesetzten Trennung von Geld und Geist begründet: Wenn schon das bildungsbürgerliche Milieu nicht mehr existiert, lassen sich doch gegen die Öko‐ nomisierung die Fahnen des klassischen Humanismus schwingen. (Preisinger 2014: 80) Gerade in Zeiten der Kompetenzorientierung, in der Kritikerinnen und Kritiker eine Ökonomisierung der Schule und der sie besuchenden Jugendlichen sehen, mag es für den einen oder die andere einer Provokation gleichkommen, Literatur und ökonomische Horizonte im Deutschunterricht zusammenzuführen. Der ökonomiekritische Impetus der meisten Stücke dürfte jedoch auch Skeptiker zu Fürsprechern dieser Theatertexte machen. Jens F. Heiderich 184 Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Unterricht Es gibt gute Gründe, die für eine Versöhnung von Literatur (und hier insbeson‐ dere Gegenwartsdramatik und -theater), Ökonomie und Deutschunterricht sprechen. Ökonomie bestimmt - überdeutlich seit der Finanzkrise - in weiten Teilen den öffentlichen Diskurs und beeinflusst in unterschiedlichen Formen unseren Alltag. Sie ist präsent im gesellschaftlichen und im privaten Leben, durchdringt Lebensbereiche von Erwachsenen sowie von Kindern und Jugend‐ lichen. Konsumieren etwa ist längst mit dem Prozess der Identitätsfindung kor‐ reliert. So hat die Kultusministerkonferenz 2013 eine Empfehlung zur Verbrau‐ cherbildung an Schulen beschlossen, die u. a. von der Überzeugung ausgeht, dass persönlicher Konsum, darunter auch jener von Kultur in einem weiteren Sinne, Fragen des Lebensstils aufruft (vgl. Kultusministerkonferenz 2013: 2), und in den 2003 veröffentlichten Richtlinien zur Ökonomischen Bildung an allgemein bild‐ enden Schulen in Rheinland-Pfalz heißt es: »Konsum hat eine identitätsstiftende Funktion und ist Ausdrucksmittel für individuelle Vorstellungen, Lebenshal‐ tungen, Gruppenzugehörigkeit und soziale Position« (Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend Rheinland-Pfalz 2003: 6). ›Ich kaufe, also bin ich‹ scheint zu einem impliziten Leitspruch nicht weniger Heranwachsender avanciert zu sein, so dass die junge Generation längst eine Zielgruppe der Inszenierungen der Werbeindustrie bildet. Verhandlungen um Taschengelderhöhungen, der Besuch von Fastfoodketten, der Kauf bestimmter Markenkleidung und das Vorzeigen neuester Telekommunikationsgeräte sind einige von zahlreichen möglichen Beispielen, die das Eingebundensein von Schülerinnen und Schülern in Wirt‐ schaftsprozesse illustrieren. Neben der hier aufgerufenen, eher unmittelbaren Ebene des meist privaten Haushalts sind Kinder und Jugendliche zudem von weiteren Momenten des Wirtschaftskreislaufes (Betriebe und Unternehmen, Staat, internationale Wirt‐ schaftsbeziehungen) tangiert. Der Arbeitsmarkt kann als Schnittstelle unter‐ schiedlicher Einflussgrößen angesehen werden (vgl. Wrobel 2006, 120), die ihren Widerhall in Schlagworten wie beispielsweise ›Kostendruck‹, ›Fachkräfte‐ mangel‹, ›Niedriglohnsektor‹ und ›Managergehälter‹, ›Zeitarbeit‹, (›Jugend-) Arbeitslosigkeit‹, ›Armuts- und Reichtumsbericht‹, ›Generation Praktikum‹ (vgl. weiterführend Heiderich 2017) finden. Häufig hat die »unternehmerische Maxime der Selbstoptimierung« (Bähr 2012: 455) wenn nicht gar Einzug in die Klassenzimmer, so zumindest doch in die Köpfe vieler Eltern gefunden. Die Ju‐ gendlichen werden dazu erzogen, sich für die Anforderungen des Arbeits‐ marktes zu wappnen. Dieser Prozess findet seinen Widerhall auch in der Ge‐ »Ich konsumiere, also bin ich? ! « 185 genwartsdramatik. Hier wie dort gilt: »Das Ökonomische geht […] weit über die traditionellen Bereiche hinaus und wird zum Habitus und einer Lebensein‐ stellung« (Preisinger 2014: 82). Und: Dies erinnert an das Konzept der Gouvernementalität von Michel Foucault, dessen ins kritische [sic] gewendete Paraphrase lautet, dass der moderne Kapitalismus subjekt‐ verändernd wirkt. Konflikte werden vom Gesellschaftlichen ins Individuum verlagert. (Preisinger 2014: 82) Relativ früh sehen sich Heranwachsende einer Wettbewerbssituation ausge‐ setzt, die sie nicht selten als feindlich erleben. Diese Wettbewerbssituation kor‐ respondiert mit der Arbeitswelt, die seit den 1990er Jahren ebenfalls nicht selten als feindlich wahrgenommen wird: [D]aß die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft zu einem gesellschaftspolitischen Kampf‐ platz geworden ist, auf dem die verfeindeten Positionen Kriegsziele definieren, Grenzen von Herrschaftsgebieten, Einflußsphären, Symbolsetzungen und Privilegien festlegen (Negt 2001: 11), ist eine Tatsache, die nicht allen Heranwachsenden gleichermaßen bewusst ist, wenngleich das bereits genannte Zur-Schau-Tragen von Markenkleidung oder von Smartphones ebenfalls als eine Symbolsetzung zu verstehen ist. Hier wie da werden In- und Exklusionsmechanismen wirksam, hier wie da sind Grup‐ penzugehörigkeiten zu verzeichnen. In Zeiten der Globalisierung werden all diese ökonomisch determinierten Prozesse komplexer. Sie werden (nicht nur) von Schülerinnen und Schülern häufig als allzu abstrakt empfunden. Literatur und im Besonderen Theatertexte und -inszenierungen, die sich mit ökonomischen Themen und mit Fragestel‐ lungen rund um das Finanzthema befassen, können den Abstraktionsgrad min‐ dern. Sie sind ein wichtiges Dokument unserer Gegenwart, verfügen »zum Teil über ein beträchtliches Maß an zeitdiagnostischem Potenzial« (Pfäfflin 2010: 9) und können Schülerinnen und Schülern »eine Reihe von problemhaltigen Situ‐ ationen, die zur Auseinandersetzung über den Zustand der aktuellen Gesell‐ schaft unter dem Primat der Ökonomie auffordern« (Wrobel 2006: 121), vor Augen führen. Das, was im Wirtschafts- und Sozialkundeunterricht oder in den Nachrichten an theoretischem Wissen vermittelt wird, kann in der ›ökonomi‐ schen Gegenwartsdramatik‹ lebendig werden, da sie sich […] in kulturelle Aushandlungsprozesse ein[schreibt], die angesichts der von Globalisierung und Individualisierung bestimmten Erfahrungs- und Wahrnehmungs‐ räume nach den sozialen und kulturellen Herausforderungen für das Individuum fragen. (Bähr 2012: 457) Jens F. Heiderich 186 Die Theatertexte schärfen den Blick für die soziokulturelle Praxis des Alltags, in der es für das Indivi‐ duum in einem permanenten Prozess der Selbstkonstitution und Selbststilisierung zwischen ideologischen Ansprüchen und Wirklichkeit zu vermitteln gilt. (Bähr 2012: 457) Auch kann diese Literatur Schülerinnen und Schülern, die etwaige berufliche Perspektiven auszuloten beginnen, Orientierung bieten und zur Ich-Entwick‐ lung beitragen. Zudem werden Jugendliche zur Teilhabe am Handlungsfeld der Gegenwartsliteratur und -theaterpraxis befähigt. Dazu zählt, dass sie sich be‐ wusst werden, dass Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur Be‐ standteil eines Literaturmarktes sind. Zudem erlernen Schülerinnen und Schüler, Literatur als Transporteur ökonomischen Wissens zu lesen und deut‐ licher noch die Poetologie dieser Wissensformen als eine zeit-, kultur- und me‐ dienspezifisch gebundene Wissensform mit diversen Symbolsetzungen und In‐ szenierungsprozessen zu erfassen, die in unserem Alltag z. B. im Bereich der Mode oder der Politik einen Widerhall finden. Eine Lektürepraxis, die sich jen‐ seits des Genieparadigmas bewegt und mit Hilfe wissenschaftlicher Sekundär‐ texte (etwa zur soziologischen Theoriebildung) die Theatertexte kontextuali‐ siert, wird Schülerinnen und Schüler zunehmend zur Partizipation an dem gegenwärtigen Ökonomiediskurs und damit einhergehend zu einem fundierten Urteilen befähigen. Durch Ansätze der Gender- und Postcolonial-Studies wird es Jugendlichen möglich sein, In- und Exklusionsmechanismen von Ökonomie etwa mit Blick auf Geschlecht und / oder Ethnizität als aktuelle und historisch gewachsene Phänomene sichtbar werden zu lassen. Individuelle, soziale und kulturelle Bedeutsamkeit der gegenwärtigen Dramen- und Theaterprodukti‐ onen werden so erfahrbar. Das Ausloten ökonomischer Dimensionen von Literatur überschneidet sich in nicht wenigen Punkten mit jenen elf Aspekten literarischen Lernens, die Kaspar Spinner (vgl. Spinner 2006: 8-13) vorgelegt hat. So ist es z. B. auch im Kontext ›ökonomischer‹ Lektüren von Belang, subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel zu bringen, die sprachliche Ge‐ staltung aufmerksam wahrzunehmen (z. B.: Was geschieht mit der Sprache der Wirtschaft im Medium der Literatur, bleibt sie als solche erhalten oder wird sie verfremdet? Ist die Sprache der Wirtschaft Bestandteil einer möglicherweise spezifischen Ästhetik dieser Stücke? ) oder metaphorische und symbolische Aus‐ drucksweise zu verstehen. Zugleich jedoch übersteigen die o. g. Teilaspekte einer ›ökonomie-sensiblen‹ Lektürepraxis jene von Spinner vorgelegten As‐ pekte literarischen Lesens. Dass es in jedem Fall nicht um eine Ökonomisierung »Ich konsumiere, also bin ich? ! « 187 des Deutschunterrichts geht, dass die Theatertexte in ihrer Literalität auch wei‐ terhin in der unterrichtlichen Besprechung zu ihrem Recht kommen sowie An‐ lass und Chance zu ästhetischer Bildung und kritischer Reflexion bieten, sollte hinreichend deutlich geworden sein. Fazit und Ausblick Die explizite Verbindung von Ökonomie und Literatur stellt im Deutschunter‐ richt (auf den ersten Blick) häufig einen Normbruch dar, der z.T. in der Ausbil‐ dung und Sozialisation der Lehrkräfte, z.T. in deren verstärkt geisteswissen‐ schaftlichen Interessen, z.T. in den Schwerpunktsetzungen von Lehrmaterialien oder z.T. in dem als undurchsichtig geltenden Diskurs des Ökonomischen, z.T. in postdramatischen Theaterformen begründet sein mag. Auch kann die Ver‐ handlung von wirtschaftsaffinen Themen im Literaturunterricht von Schüler‐ innen und Schülern als ungewöhnlich empfunden werden, da im institutionellen Kontext der Schule trotz aller (fach-)didaktischen Bemühungen nach wie vor fächerübergreifendes und -verbindendes Arbeiten die Ausnahme bilden. Dessen ungeachtet legt jedoch der diversifizierte und nicht zuletzt auf die Finanzkrise bezogene Diskurs des Ökonomischen im Gegenwartsdrama und -theater eine unterrichtliche Erschließung nahe, zumal im Hier und Jetzt die Fortschreibung von im schulischen Literaturunterricht kanonisierten Gat‐ tungen, allen voran des sozialen Dramas, erfolgt. Darüber hinaus bieten die Texte und Aufführungen zahlreiche Möglichkeiten zur Ausbildung hilfreicher Kompetenzen. Zudem sind sie Bestandteil literarischer Bildung. Damit werden Gegenwartstheatertexte und -aufführungen zu einer lohnenswerten Heraus‐ forderung, die anzunehmen die uns umgebende Realität sowie das literaturhis‐ torische und -ästhetische Bewusstsein nahelegen. Um dieser Herausforderung nachzukommen, seien als Ausblick folgende Überlegungen genannt: Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, synchron oder diachron zu arbeiten, mit Ganzschriften oder Auszügen unter Berücksichtigung eines Mediums oder mehrerer. Möchte man an bestehende curriculare Struk‐ turen anknüpfen, so ist die Auswahl nahezu grenzenlos: Georg Büchners Woy‐ zeck ( UA 1913) kann im Vergleich zu Falk Richters Büchner ( UA 2012) gelesen werden oder Goethes Faust I ( UA 1808) im Vergleich zu Elfriede Jelineks FaustIn and out ( UA 2012) oder zu Sibylle Bergs Helges Leben ( UA 2000). Wirtschafts‐ dramen aus der Zeit des Interbellum bieten Vergleichsmomente zu gegenwär‐ tigen Wirtschaftsdramen (Bertolt Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe, UA 1959, und Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns, UA 2009). Sozial‐ dramen des Naturalismus können mit sozialen Dramen der Gegenwart in Rela‐ Jens F. Heiderich 188 tion gesetzt werden. Auch eher im schulischen Kontext unbekannte Texte wie Hermann Brochs Komödie Aus der Luft gegriffen (verfasst 1934) rund um einen Hochstapler können in Verbindung zu etwa Urs Widmers Münchhausens Enkel ( UA 2012) gebracht werden. Denkbar ist bei den beiden letztgenannten Stücken zudem eine Erweiterung um die Gattung des Romans, etwa mit Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Es eröffnet sich die Möglichkeit, Figurenkonzeptionen unterschiedlicher Stücke unter besonderen Gesichts‐ punkten zu analysieren, etwa: die Figur des Bankers oder jene des Spekulanten. Die Engführung von Theatertexten, Managementtheorien, Raumtheorien und Bühnenbild (vgl. Heiderich 2016a, 85-89), motivgeschichtliche Ansätze (z. B. Motiv des Geldes, vgl. ebd.: 89-96 und mit Blick auf filmische Kontexte Heide‐ rich 2014), Sprache und weitere Dramenkonzeptionen (vgl. Heiderich 2016b) sind etwaige zusätzliche Parameter möglicher Unterrichtskonzeptionen. Des Weiteren ist die vergleichsweise neue Gattung des Theater-Trailers, die zwi‐ schen den Polen von Kunst und Kommerz oszilliert, sinnvoll im Deutschunter‐ richt einzusetzen (vgl. Heiderich 2015). Künftige fachdidaktische Arbeiten könnten sich sowohl der vertiefenden theoretischen wie auch der praktischen Erschließung der Thematik widmen. Mögliche Schwerpunkte der Forschungen ergäben sich mit Blick auf trans- und interkulturelle Zusammenhänge im Zei‐ chen der Ökonomie (vgl. Heiderich 2013; Heiderich 2017). Finden die vorge‐ nannten Ansätze und Forschungen einen Weg in die unterrichtliche Praxis, so werden ›ökonomische Lektüren‹ gerade in globalen Krisenzeiten zu einem bes‐ seren Welt- und Selbstverständnis beitragen können. Literatur Amann, Wilhelm (2014). ›Ökonomie - Narration - Kontingenz. Konstellationen‹, in: Wilhelm Amann, et al. (Hrsg.). Ökonomie - Narration - Kontingenz. Kulturelle Di‐ mensionen des Marktes. Paderborn: Fink, 7-17. Bähr, Christine (2012). Der flexible Mensch auf der Bühne. Bielefeld: transcript. Balint, Iuditha und Sebastian Zilles (Hrsg.) (2014). Literarische Ökonomik. Paderborn: Fink. Balint, Iuditha (2014). ›Einleitung I. Was ist literarische Ökonomik? 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Das ist alles gut und richtig und denen auch zu gönnen, aber wir haben es mit der Sprache und der Literatur dann doch manchmal ein bisschen schwerer.« ( SWR 2 Forum 2017, 06: 02-06: 22) Die Gesprächsrunde - und damit auch Richters Aussagen - sind im Kontext der Feuilleton-Debatte zur ›Krise der Germanistik‹ zu verstehen, die im Februar 2017 durch einen Spiegel-Artikel von Martin Doerry ausgelöst wurde. Dem po‐ lemischen Artikel, in dem Doerry der Germanistik unter anderem mangelnde öffentliche Relevanz vorwarf, folgten postwendend nicht minder polemische Antworten in den Feuilletons überregionaler Zeitungen, unter anderem von Steffen Martus (2017), Klaus Kastberger (2017), Heinz Drügh, Susanne Kom‐ fort-Hein und Albrecht Koschorke (2017). Während die meisten Diskussions‐ beiträge Doerry widersprechen, weil sie die gesellschaftliche Bedeutung der Germanistik anders bewerten oder bereits seinem Anspruch an eine öffentlich wirksamere Fachwissenschaft eine Absage erteilen, räumt Richter ein, dass ihr Fach ein Problem in der öffentlichen Breitenwirkung hat, was sie auf seine Ge‐ genstände zurückführt. Als junge Germanist*innen, die derzeit in der ›Neueren deutschen Literatur‐ wissenschaft‹ promovieren, stehen wir Richters Aussage skeptisch gegenüber. (In den meisten Beiträgen zur Debatte ist von einer »Krise der Germanistik« die Rede. Bei den oben angeführten Wissenschaftler*innen handelt es sich jedoch ausnahmslos um Vertreter*innen der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und auch die Beispiele, die sie anführen, betreffen nur selten die Fachbereiche Mediävistik und Sprachwissenschaft. Wir sind uns dieser Problematik bewusst und schlagen in diesem Beitrag ein Format vor, das sich für die Vermittlung von philologischen, linguistischen und mediävistischen Inhalten gleichermaßen eignet. Dennoch argumentieren auch wir vor allem aus literaturwissenschaft‐ licher Perspektive, was durch unsere Zugehörigkeit zu dieser Disziplin und die Ausrichtung des vorliegenden Sammelbands zu erklären ist.) Zwar nehmen auch wir wahr, dass die Akteur*innen und Ergebnisse der Literatur- und Sprachwis‐ senschaft nur selten in der Öffentlichkeit auftreten und stattfinden und dass das welterklärende Potenzial der Germanistik außerhalb akademischer Kontexte kaum genutzt wird; wir schreiben diesen Zustand jedoch nicht den Untersu‐ chungsgegenständen ›Literatur und Sprache‹ zu, sondern den spezifischen Ma‐ terialien, mit denen sich Germanist*innen beschäftigen und vor allem der Art und Weise, wie sie ihr Wissen nach außen präsentieren. Dass nicht die Gegenstände selbst für das öffentliche Desinteresse an der Germanistik verantwortlich sind, zeigt schon ein kurzer Blick auf die Verkaufs‐ zahlen des Buchhandels: Zwar lagen die Einnahmen 2015 um 1,4 % unter denen des Vorjahres, insgesamt erweist sich der Buchmarkt jedoch als langfristig ro‐ bust: »Im Vergleich der letzten zehn Jahre zeigt sich, dass die nominalen Umsätze der Branche stabil geblieben sind.« Die fallenden Umsätze aus dem stationären Buchhandel konnten durch Umsatzsteigerungen im Internetbuchhandel und dem verlegerischen Direktvertrieb teilweise ausgeglichen werden; dennoch bleibt der Sortimentsbuchhandel mit einem Anteil von 48,2 % am Gesamtumsatz deutlich »der wichtigste Vertriebsweg für Bücher«. (Börsenverein des Deut‐ schen Buchhandels 2016: n. p.) Die Zahlen zeigen: Es wird gelesen, es wird viel gelesen und es wird quer durch die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Milieus gelesen (vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2017: 293-296). Das öffentliche Interesse an ›Literatur und Sprache‹ ist ungebrochen. Und auch frühere Befürchtungen vom Ende des Buchs als schriftbasiertes Trägermedium für fiktionale Literatur und von der abnehmenden Lesekompe‐ tenz weiter Teile der Gesellschaft haben sich als unbegründet herausgestellt. Hat man vor einigen Jahren noch geglaubt, dass die extensive Lektüre umfangrei‐ cher Romane in der schnelllebigen Kommunikationsumgebung der digitalen Gegenwart zurückgehen wird, kann man sich heute vom Gegenteil überzeugen: Der Erfolg der Harry Potter-Reihe, die selbst von kulturkonservativer Seite für ihren positiven Effekt auf die Lesebereitschaft von Kindern und Jugendlichen gelobt wurde, blieb kein Einzelfall. Die zentralen massenkulturellen Phänomene unserer Zeit - von Stephenie Meyers Twilight-Saga über Suzanne Collins’ The Hunger Games-Trilogie bis zu George R. R. Martins Fantasy-Zyklus A Song of Ice and Fire / Game of Thrones - haben eines gemeinsam: Sie basieren auf Roman‐ Christian Dinger / Julian Ingelmann 194 serien und erfreuen sich auch nach der Überführung in andere Medienkanäle als Lesestoff großer Beliebtheit. Und auch im eher bildungsbürgerlich geprägten Segment haben groß angelegte Erzählungen Konjunktur, wie der weltweite Er‐ folg von Karl Ove Knausgårds sechsteiligem, autobiographisch angelegtem Ro‐ manzyklus Min Kamp und Elena Ferrantes vierteiliger neapolitanischen Saga L’amica geniale gezeigt hat. Jenseits des schriftsprachlichen Mediums hat vor allem das Aufkommen des so genannten Quality- TV mit seinen neuen Formen seriellen Erzählens für die Popularisierung künstlerisch anspruchsvoller, kom‐ plexer Geschichten gesorgt (vgl. Lillge et al. 2014: bes. 7-10). Und diese Ge‐ schichten werden nicht nur millionenfach rezipiert, sondern auch diskutiert, analysiert, dekonstruiert und kritisiert - privat, halb-öffentlich und öffentlich, in Lesegruppen, auf WG -Partys, in Internetforen und sozialen Netzwerken, auf Blogs und auf YouTube. Gerade in der öffentlichen Auseinandersetzung mit sol‐ chen Kulturphänomenen spielen ausgebildete Geisteswissenschaftler*innen je‐ doch nur selten eine Rolle. Die Akteur*innen, die den Diskurs um Fernsehserien, transmediale Welten und auch die Gegenwartsliteratur bestimmen, zeichnen sich immer seltener durch einen hohen formalen Bildungsgrad aus; vielmehr handelt es sich häufig um Privatpersonen, die sich nicht durch einen Abschluss in der Literatur- oder Medienwissenschaft qualifizieren, sondern durch ihre langjährige Treue zu einem ›Fandom‹ und ihre Erfahrung als Blogger*in, Video‐ produzent*in oder ›Content Creator‹ (vgl. Hills 2002: 46-64). Wieso aber spielt die Literatur- und Sprachwissenschaft in der Wahrnehmung der außerakademischen Öffentlichkeit eine so geringe Rolle, obwohl sich viele Menschen völlig selbstverständlich jeden Tag mit Literatur und Sprache be‐ schäftigen? Das Problem liegt darin, wie das Fach seine Inhalte auswählt und präsentiert. Die Schwierigkeit beginnt schon damit, dass in der Literaturwis‐ senschaft bereits seit längerer Zeit eine große Unsicherheit darüber herrscht, was ihre Gegenstände sind und was nicht. Die Debatten um Rephilologisierung oder kulturwissenschaftliche Erweiterung der Germanistik und um Erneuerung oder Auflösung des Kanons sind nun bereits mehrere Jahrzehnte alt (vgl. Wies‐ müller 2013). Seitdem hat sich zweifellos etwas entwickelt: Neben dem bildungsbürgerlichen Kanon findet sich mittlerweile auch ›Genre-‹ und ›Un‐ terhaltungsliteratur‹ in der Seminarlektüre, und auch die literaturwissenschaft‐ liche Forschung wendet sich vermehrt Phänomenen wie Fernsehserien, Graphic Novels, digitalen Spielen und Songtexten zu. Bei dieser Entwicklung handelt es sich aber um alles andere als einen turn. Die Beschäftigung mit populären Ge‐ genständen in Forschung und Lehre ist vorhanden, bleibt aber randständig und ist noch lange nicht unumstritten (vgl. bspw. Ladenthin 2016). Und selbst die Vertreter*innen des Fachs, die diese Entwicklung lautstark begrüßen, geben Broadcast Philology 195 damit oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zum erweiterten Literaturbegriff und zur kritischen Infragestellung des Kanons von sich. Denn auch die sich als progressiv empfindenden Professor*innen setzen am Ende lieber aufs sichere Pferd und publizieren zu Goethe, Schiller oder Kafka - ganz zu schweigen von den zahlreichen Nachwuchswissenschaftler*innen, die sich auch aus karriere‐ praktischen Gründen in diese Forschungstradition einschreiben. Was die Wahl ihrer Untersuchungsgegenstände betrifft, muss sich die ger‐ manistische Literaturwissenschaft darüber bewusst werden, warum sie sich auf die Erforschung einer überschaubaren Zahl von Autor*innen und Texten be‐ schränkt. Die Konzentration auf einen Kanon beruht schließlich nicht nur auf dessen Qualität: Wir beschäftigen uns nicht nur deswegen fast ausschließlich mit einigen ausgewählten ›Klassikern‹, weil wir glauben, dass diese uns auch nach Jahrhunderten der intensiven Erforschung immer noch mehr zu sagen haben als alle andere Autor*innen zusammen (vgl. Moretti 2016: bes. 49-50). In der Kanonforschung gilt »die Auffassung, dass literarische Texte allein wegen ihrer ›zeitlosen‹ ästhetischen Qualitäten kanonischen Status erhalten«, weit‐ gehend als widerlegt (Beilein, Stockinger und Winko 2012: 3). Auch die soziale Bestimmung des Kanons, nach der die Durchsetzung desselben hauptsächlich auf Machtstrukturen zurückzuführen ist, greift oft zu kurz (vgl. Beilein, Stock‐ inger und Winko 2012: 4). Allzu oft wird vernachlässigt, dass die Konzentration auf einen Kanon auch pragmatische, geradezu banale Gründe hat: Sie spart Zeit und Platz. Wer wiederholt über dieselben Texte spricht, kann diese als bekannt voraussetzen und muss sie nicht immer wieder von neuem vorstellen. Damit entfällt auch der mühsame Schritt, die Forschungsmotivation herzuleiten und die wissenschaftliche Relevanz einer bestimmten Fragestellung zu erläutern. Das führt zu der paradoxen Situation, dass mit neuen Methoden und Arbeits‐ weisen immer wieder solche Texte erforscht werden, die bereits bis ins letzte Detail analysiert sind. Das zeigt sich beispielsweise in vielen Projekten aus den Digital Humanities, die eigentlich versprechen, größere Textmengen abseits des Kanons in den Blick zu nehmen: Kulturelles Erbe wird […] zum einen qualitätsgeprüft digital gesichert, zum anderen jenseits archivarischer Findbücher global recherchierbar und damit überhaupt sichtbar gemacht. Das verhilft an einzelnen Stellen zu Neubewertungen von Text‐ phänomenen in bestimmten Korpora oder fördert unbekannte Dokumente zutage, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich kanonische Setzungen der Buchkultur vielfach in digitalen Umgebungen widerspiegeln. Die Omnipräsenz Jo‐ hann Wolfgang Goethes bestätigt sich so z. B. auch im Internet: von der Trefferzahl einer einfachen Suche über das Goethezeit-Portal bis zur jüngst in der Beta-Version zugänglich gemachten Faust-Edition. Goethes vielschreibender Zeitgenosse und zeit‐ Christian Dinger / Julian Ingelmann 196 weiliger Freund Friedrich Maximilian Klinger erlangt bei weitem nicht die gleiche Netzaufmerksamkeit […]. (Baum 2017: 317) Die Konzentration auf einen engen Gegenstandskanon dient in der Literatur‐ wissenschaft jedoch nicht nur der Nobilitierung neuer Methoden. Auch Nach‐ wuchswissenschaftler*innen können durch die fachgerechte Auseinanderset‐ zung mit Goethe und Co. ausstellen, dass sie die Regeln des literaturwissenschaftlichen Feldes genau genug kennen, um innerhalb der Dis‐ ziplin bestehen zu können. Dabei ignorieren sie - und viele etablierte Ver‐ treter*innen ihres Fachs -, dass die Konzentration auf einen Kanon, welche die Kommunikation innerhalb der Literaturwissenschaft erleichtern soll, die Ver‐ mittlung ihrer Ergebnisse an eine außerakademische Öffentlichkeit erschwert. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der das Insiderwissen über bestimmte ka‐ nonische Autor*innen und Texte vorausgesetzt wird, um am literaturwissen‐ schaftlichen Diskurs teilhaben zu können oder diesen auch nur ansatzweise zu verstehen, schottet das Fach nach außen ab. Die bloße Forderung nach der Abschaffung oder Erweiterung des Kanons reicht indes nicht aus, wenn wir eine Entwicklung der Literaturwissenschaft vorantreiben wollen, die den Rezeptionsgewohnheiten weiter Teile der Bevöl‐ kerung Rechnung trägt. Es braucht vielmehr ernsthafte Anstrengungen, den erweiterten Gegenstandsbereich mit den Konventionen literaturwissenschaft‐ lichen Forschens und dem tradierten Selbstverständnis der Disziplin zu ver‐ binden. Ein möglicher Ansatz wäre zum Beispiel, wie von Matthias Beilein ge‐ fordert, die implizit gefällten literarischen Werturteile der sich als weitgehend wertungsfrei gerierenden Literaturwissenschaft transparent zu machen und auch Studierenden die Kompetenz zu vermitteln, ihre eigenen Wertmaßstäbe zu reflektieren (Beilein 2012: 48 f.). Das gäbe Forschenden und Studierenden glei‐ chermaßen die Möglichkeit, die eigene Textauswahl kritisch zu hinterfragen und zu verstehen, dass eine solche niemals völlig unabhängig von Wertungs- und Kanonisierungsprozessen getroffen wird. Ein anderer Ansatzpunkt, der min‐ destens ebenso wichtig ist, besteht darin, Gegenstände, die nicht zum bildungs‐ bürgerlichen Kanon gehören, auch wirklich ernst zu nehmen und nicht als reine Kuriosa ins literaturwissenschaftliche Curriculum einzuführen. Noch immer richten viele Beiträge zur ›Unterhaltungsliteratur‹, zu Graphic Novels oder Computerspielen ihren argumentativen Aufwand auf die Frage, ob es legitim und lohnenswert ist, diese Gegenstände mit literaturwissenschaftlichen Me‐ thoden zu untersuchen, anstatt praktisch darzustellen, worin der Gewinn einer solchen Vorgehensweise liegt (vgl. Galter 2012). Die Versuche der Germanistik, eine breitere Öffentlichkeit für ihre Erkennt‐ nisse zu begeistern, kranken jedoch nicht nur an der Auswahl ihrer Untersu‐ Broadcast Philology 197 chungsgegenstände, sondern auch an der mangelnden Präsentationskompetenz ihrer Vertreter*innen. Auch dieser Umstand wurde im Zuge der jüngsten De‐ batte um die »Krise der Germanistik« diskutiert: Schon junge Literatur- und Sprachwissenschaftler würden sich, so Martin Doerry im Spiegel, »mit einem komplexen Sprachpanzer versehen«. Die »hermetische«, »hochgezüchtete[] Fachsprache« diene dabei vor allem dem »sogenannten Distinktionsgewinn, oder, um es auch hier einfacher zu sagen, […] dem Gefühl, sie seien deutlich klüger als der Rest der Menschheit.« (Doerry 2017, n. p.) Wir erkennen hingegen an, dass eine komplexe Metasprache durchaus not‐ wendig ist, um den fachwissenschaftlichen Diskurs über ein Thema möglichst präzise führen zu können, und dass es nicht das erste Ziel einer Fachsprache ist, allgemeinverständlich zu sein. Unsere Kritik an der Präsentationskompetenz vieler Germanist*innen resultiert daher auch nicht zwangsläufig darin, dass wir die Popularisierung der Wissenschaftssprache fordern. Uns geht es vielmehr um eine Öffnung der Formate, in denen literatur- und sprachwissenschaftliche Er‐ kenntnisse vermittelt werden: Der geisteswissenschaftliche Dreischritt, der vom mündlichen Vortrag über den schriftlichen Aufsatz bis zur umfassenden Mono‐ graphie führt, ist kein zeitgemäßes Mittel, um literaturinteressierte Laien für die Germanistik, ihre Fragestellungen und ihre Ergebnisse zu begeistern. Statt‐ dessen müssen neue Formate gefunden werden, die den Medienkonsumge‐ wohnheiten der digitalen Gegenwart entsprechen und trotzdem die Produktion qualitativ hochwertiger Inhalte ermöglichen. Viele Germanist*innen haben das längst erkannt und suchen bereits seit Jahren auch außerakademische Orte auf, um ihr Wissen zu vermitteln. Sie schreiben in den Feuilletons überregionaler Zeitungen, halten öffentliche Vor‐ träge und sind gern gesehene Gäste in Literaturhäusern. Gerade im Feuilleton und im Literaturhaus agieren die Absolvent*innen geisteswissenschaftlicher Disziplinen allerdings eher als Literaturvermittler*innen und nicht als Ver‐ mittler*innen von sprach- und literaturwissenschaftlichem Fachwissen. Das Einbringen von »Oberseminarwissen« ist unter diesen Akteur*innen sogar eher verpönt, da man sich bewusst von einer akademischen Beschäftigung mit dem Gegenstand Literatur abgrenzen möchte. Etwas anders verhält es sich mit ver‐ mittelnden Institutionen wie Literaturmuseen, die sich häufig geisteswissen‐ schaftlicher Methoden bedienen, um ihrem Bildungsauftrag nachzukommen. Oft genug wird aber auch hier eher auf reine Unterhaltung und affirmative Dichterverehrung gesetzt als auf eine niedrigschwellige Vermittlung literatur‐ wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Sowohl die literaturvermittelnden Instanzen als auch diejenigen, die sich tatsächlich die Vermittlung germanisti‐ scher Inhalte vorgenommen haben, leiden jedoch unter dem Problem, dass ihr Christian Dinger / Julian Ingelmann 198 Publikum vor allem aus älteren Menschen besteht, die dem universitären Leben ohnehin nahestehen - selbst dann, wenn diese nicht explizit als Zielgruppe de‐ finiert werden (vgl. Juchem 2013: 93-97). An Jugendliche und Personen, die vom Bildungswesen nicht erreicht werden, ist auf diesen Wegen kaum heranzu‐ kommen. Im Leben dieser Menschen spielen ganz andere Unterhaltungsangebote und Informationsquellen eine Rolle, wie die (wenigen) Statistiken über dieses Thema beweisen. Viele von ihnen bewegen sich regelmäßig im digitalen Raum, wo neben sozialen Netzwerken wie Facebook besonders die Videoplattform YouTube die Freizeitgestaltung bestimmt (vgl. OECD 2015: 147; O’Neil-Hart, Blumenstein 2016). Für die ›Humanities‹ ist das eine große Chance: In den letzten Jahren wurden auf YouTube zahlreiche Kanäle gegründet, die auf der Grundlage geis‐ teswissenschaftlichen Wissens und mit Bezug auf akademische Theorien, Me‐ thoden und Begriffe medienkulturelle Themen verhandeln - und damit eine riesige Zuschauerschaft erreichen. Die Bandbreite an Inhalten, die diese »Video-Essays« verhandeln, ist immens: Während Tony Zhou auf Every Frame a Painting (2014) Filme analysiert, erklärt Norman Caruso als Gaming Historian (2006) die Geschichte digitaler Spiele; die deutschsprachigen YouTuber Fynn und Paul, die ihre Nachnamen nicht öffentlich nennen, beschäftigen sich auf Ultra‐ lativ (2016) mit der Analyse und Kritik der deutschsprachigen YouTube-Szene, und Alan Melikdjanian widmet sich als CaptainDisillusion (2007) der Entlarvung viraler Videos, in denen digitale visuelle Effekte zum Einsatz kommen. Neben diesen Kanälen, die von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen betrieben werden, gibt es auch Channels, hinter denen eine ganzen Redaktion steht und die entsprechend vielfältige Themen behandeln; das Spektrum reicht allein bei Vox (2014) von der Entstehungsgeschichte einzelner Schriftarten (vgl. Vox 2017a) über die Bedeutung von weißen Handschuhen in Zeichentrickfilmen (vgl. Vox 2017b) bis zur Entwicklung des Stepptanzes als ur-amerikanische Kunstform (vgl. Vox 2017c). Die meisten dieser YouTuber*innen haben ihre Kanäle als reines Hobbyprojekt gestartet, die erfolgreichen unter ihnen verdienen mittlerweile jedoch Geld mit ihren Inhalten. Die Finanzierung erfolgt meist aus mehreren Quellen: Die Videos können monetarisiert werden, indem YouTube ihnen Wer‐ beclips voranschaltet (vgl. YouTube 2017a); einige Produzent*innen nutzen aber auch Sponsorings durch kommerzielle Firmen (vgl. bspw. Nerdwriter1 2014a: 4: 15-5: 25) oder verwenden Crowdfunding-Seiten wie Patreon, auf denen Zu‐ schauer*innen jeden Monat einen frei wählbaren Betrag bezahlen können, um die Arbeit der Essayist*innen zu unterstützen (vgl. bspw. Puschak 2014; Nerdw‐ riter1 2014b). Bezahlte Produktplatzierungen, die in anderen Themenfeldern auf Broadcast Philology 199 YouTube häufig genutzt werden (vgl. YouTube 2017b), sind in diesem Segment eher unüblich. Video-Essays sind ein audiovisuelles Format, das sich zwischen Dokumen‐ tarfilm, Rezension und Tutorial bewegt. Die Produzent*innen verhandeln darin selbstgewählte Themen innerhalb ihrer persönlichen Spezialgebiete, indem sie einen meist von ihnen selbst geschriebenen und eingesprochenen Off-Kom‐ mentar mit Musik und Tonaufnahmen unterlegen und mit Filmclips, Animati‐ onen oder Texteinblendungen bebildern. Video-Essays dauern selten länger als zehn Minuten und sind ein vergleichsweise neues Phänomen, das erst seit rund drei Jahren eigenständige Darstellungspraktiken herausbildet, Professionalisie‐ rungstendenzen aufweist und theoretisch aufgearbeitet wird (vgl. bspw. This Guy Edits 2017; Tom Kelly 2016; Bernstein 2016). Manche Video-Essayist*innen berufen sich in ihrer Arbeit auf das Genre ›Essayfilm‹ (vgl. Biemann 2003) als historischen Vorläufer (vgl. Every Frame a Painting 2015); andere grenzen ihre Arbeit explizit von Werken wie Orson Welles’ F for Fake oder Chris Markers Sans Soleil ab: Many would say that the video essay is a continuation of the essay film. And in a lot of ways it is: The narration from both those examples has proven to be wildly popular in the video essay on YouTube. […] But I think that the video essay is a slightly different beast from the essay film. With a few rare exceptions, the video essay hasn’t ventured nearly as close to the avant-garde as like Chris Markers work for example or all those who were inspired by him. It seems to me that video essays take their cues more from academia and journalism, and from their online predecessors, the educational ex‐ plainer YouTube-channels that objectively present fascinating information. (TEDx Talks 2016: 10: 04-10: 50) Im Gegensatz zu anderen Formaten auf YouTube stellen Video-Essays nicht ihre Produzent*innen in den Mittelpunkt, sondern ihr Thema; es handelt sich also nicht um »personality-driven content« (Brouwer 2016), wenngleich manche Video-Essayist*innen mittlerweile eine große Fanbasis aufgebaut haben und von ihren Zuschauer*innen auch aufgrund ihrer angenehmen Sprechstimme, ihrer Formulierungskunst oder ihrer Schnittkompetenz geschätzt werden. Einer der erfolgreichsten Video-Essayist*innen auf YouTube ist Evan Puschak, der seit September 2011 den Kanal Nerdwriter1 betreibt. Der Kanal zählt 1,9 Millionen Abonent*innen, welche die über 200 Videos fast 115 Millionen Mal aufgerufen haben (vgl. Nerdwriter1 2011a; Stand: November 2017). Der Nerdw‐ riter beschäftigt sich auf seinem Kanal mit politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Themen, vor allem aber mit Kunst und Kultur: Er spricht über Popmusik und Videospiele, analysiert Filme und Serien, ergründet Gemälde und Christian Dinger / Julian Ingelmann 200 Gebäude. Immer wieder wendet er sich auch der Literatur zu, obwohl sich dieses Thema auf den ersten Blick nur eingeschränkt für die Behandlung in einem audiovisuellen Bewegtbildformat eignet. So interpretiert er etwa die Ode to a Nightingale von John Keats auf Grundlage ihres historischen Entstehungszu‐ sammenhangs (vgl. Nerdwriter1 2012), untersucht die Form, Motivik und Wir‐ kungsweise des Gedichts Leda and the Swan aus der Feder des irischen Litera‐ turnobelpreisträgers W. B. Yeats (vgl. Nerdwriter1 2015a), erklärt den Aufbau des avantgardistischen Gedichts [i carry your heart with me(i carry it in)] von E. E. Cummings (vgl. Nerdwriter1 2016a) und rekonstruiert die Entwicklung seriellen Erzählens von Charles Dickens bis Star Wars (vgl. Nerdwriter1 2016b). Dabei fällt auf, dass sich Puschak in seinen Videos vor allem mit Schriftsteller*innen aus dem Bereich der sogenannten ›Hochliteratur‹ beschäftigt. Besonders für Wil‐ liam Shakespeare scheint er sich zu interessieren; in vier Videos widmet er sich dessen Werken, deren Rezeption und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung (vgl. Nerdwriter1 2011b; 2013a; 2013b; 2015b). Mit über 6,8 Millionen Aufrufen ist das erfolgreichste Video auf dem Kanal jedoch eines, das sich vordergründig mit einem politischen Thema beschäftigt: In How Donald Trump Answers A Question setzt sich Puschak mit der Redetaktik Donald Trumps in dessen Wahlkampf auseinander, indem er eine Interviewaus‐ sage des damaligen US -amerikanischen Präsidentschaftskandidaten aus lingu‐ istischer Perspektive analysiert (vgl. Nerdwriter1 2015c; alle folgenden Zeitan‐ gaben beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf dieses Video). Das Essay beginnt mit einem Ausschnitt aus der Tonight Show Starring Jimmy Fallon, in welchem der Moderator fragt: »But isn’t it un-American and wrong to discri‐ minate against people based on their religion? « (00: 00-00: 05) Puschak zeigt Trumps Antwort in voller Länge (vgl. 00: 05-01: 11), während er sie im unteren Bildviertel in Schriftsprache transkribiert. Dabei stützt sich Puschak nicht auf ein etabliertes System der wissenschaftlichen Gesprächsanalyse, hebt aber be‐ stimmte Worte optisch hervor. So sagt Trump beispielsweise: »We have people coming into our country that are looking to do tremendous harm.« (00: 10-00: 15) In seinem Transkript kursiviert Puschak das Wort ›tremendous‹; das Wort ›harm‹ färbt er rot ein. Ähnlich verfährt er mit Aussagen wie »Look at what happened in Paris« (00: 22-00: 23) und »Look what happened last week in California« (00: 23-00: 24), die er türkis hervorhebt. Dadurch stellt er seinen Zuschauer*innen den Untersuchungsgegenstand seines Videos vor, während er gleichzeitig auf bestimmte Begriffe, Wortwiederholungen und ausgewählte For‐ mulierungen hinweist. Erst nach über einer Minute meldet sich Puschak selbst zu Wort, wenn er in einem Off-Kommentar die zentrale These seines Videos vorstellt: »One of the Broadcast Philology 201 things I find fascinating about Donald Trump is the way he uses language dif‐ ferently than other candidates for political office, especially President of the United States.« (01: 11-01: 23) Obwohl es sich insgesamt um ein deutlich Trump-kritisches Video handelt, verwendet Puschak hier den positiv konno‐ tierten Begriff ›fascinating‹. Dadurch spricht er auch den Teil seiner Zu‐ schauer*innen an, die mit Trump sympathisieren, und begründet gleichzeitig sein Interesse am vorgestellten Untersuchungsgegenstand abseits seiner per‐ sönlichen politischen Meinung. Auch im weiteren Verlauf des Videos gesteht Puschak Trump immer wieder ein rhetorisches Talent zu, auch wenn er sich von dessen Aussagen und Gesinnung distanziert: »As a lifelong salesman, he has a huckster’s knack for selling a feeling, even if the ideas and facts that underscore it are spurious, racist or just plain incomprehensible.« (01: 33-01: 43) Anschließend erklärt Puschak seine Forschungsmotivation und die Auswahl seines Fallbeispiels: »I thought it would be illuminating to look at a Trump answer to a simple question. […] This 220 word, exactly one minute answer displays, I think, a range of the things that Trump uses all the time in his speech.« (01: 43-02: 09) Anschließend analysiert er das Transkript, indem er Silben zählt, zentrale Stichwörter benennt, Sätze dekonstruiert und rhetorische Stilmittel aufzeigt. Dabei verweist er auf eine Untersuchung des Boston Globe, in der Trump das sprachliche Niveau eines Viertklässlers attestiert wird (vgl. Viser 2015) und versucht, dieses Ergebnis anhand seines eigenen Untersuchungsma‐ terials zu rekonstruieren: »The first thing to note is how simple this language is. Of the 220 words, 172, or 78 percent, are only one syllable and often they come in a rhythmic series like a volley of jabs ending with one of his buzzwords.« (02: 09-02: 25) Das Video schließt mit einem Versuch, Trumps Beliebtheit zu erklären, und mit dem Aufruf, sie mit protolinguistischen Mitteln zu hinterfragen: Donald Trump knows when to sound incredulous or forceful. He has good comedic instinct, you can even call him witty. But you can’t call him smart or well informed. The best salesman could sell you a TV without knowing anything about it, because the TV isn’t what matters. What matters is you. And if you are an American citizen, who for years has listened to politicians sound sophisticated while accomplishing nothing, you might just be primed for something that is everything they are not. But the next time you feel like Donald Trump has a point, do yourself a favor and look at his words. (05: 25-06: 10) How Donald Trump Answers A Question kann nicht nur aufgrund seiner Auf‐ rufzahl als erfolgreichstes Video des Kanals Nerdwriter1 bezeichnet werden, sondern auch aufgrund des öffentlichen Interesses, das es hervorgerufen hat: Christian Dinger / Julian Ingelmann 202 Das Essay wurde auf zahlreichen Blogs besprochen (vgl. bspw. James 2016), auf News-Websites verlinkt (vgl. bspw. Shontell 2016), in sozialen Netzwerken ge‐ teilt (vgl. The Nerdwriter 2015) und von Aggregatoren weiterverbreitet (vgl. bspw. 9 GAG 2016). Puschak selbst wurde kurz nach der Wahl in eine Nachrich‐ tensendung der BBC World News eingeladen, wo er den Wahlausgang erklären sollte (vgl. Puschak 2016). Die Gründe für den Erfolg des Videos sind vielseitig und können hier nur knapp umrissen werden: Bis heute ist Donald Trump ein äußerst kontroverses Thema, über das gerade im Internet heftig diskutiert wird; das war auch Ende Dezember 2015 schon so, als das Video veröffentlicht wurde. Der Zeitpunkt war gut gewählt, wie ein Blick in die Timeline: Donald Trump’s journey to the White House (Mahboob 2017) beweist: Die Publikation erfolgte rund ein halbes Jahr nach Trumps Ankündigung, US -Präsident werden zu wollen und rund einen Monat vor der ersten Vorwahl in Iowa, weshalb sich zu diesem Zeitpunkt viele Menschen für die Wahl insgesamt, besonders aber für Donald Trump interes‐ sierten. Ein Blick in die Videostatistik zeigt jedoch, dass das Essay nicht nur kurz nach seinem Erscheinen die Aufmerksamkeit vieler Internetnutzer*innen weckte. Vielmehr erfreut es sich bis heute konstanter Beliebtheit, wenngleich in manchen Phasen ein höheres Klickwachstum zu erkennen ist; so etwa im März und April 2016, als Trump in rascher Folge teilweise wichtige Vorwahlen gewann und sich abzeichnete, dass er für die republikanische Partei in den US -Wahlkampf ziehen würde (vgl. Nerdwriter1 2015c). Neben diesen äußeren Umständen zeichnen aber auch andere Faktoren für den Erfolg des Essays ver‐ antwortlich: Virale Videos entwickeln häufig eine große Eigendynamik (vgl. Burgess 2014), sodass ihre Aufrufzahlen quasi ›von alleine‹ wachsen, wenn sie einmal eine kritische Masse erreicht haben. Doch ein Vergleich mit den Aufrufzahlen anderer Videos des Nerdwriter über Donald Trump (vgl. Nerdwriter1 2015d, 2016c, d, e, 2017) zeigt, dass How Donald Trump Answers a Question nicht nur deshalb so oft angesehen wurde, weil es sich mit einer kontroversen Person beschäftigt. Stattdessen lässt sich der Erfolg auch auf die vergleichsweise nüchterne und neutrale Betrachtungsweise zu‐ rückführen, die Puschak in seinem Essay an den Tag legt. Viele Zuschauer*innen äußern sich begeistert über die linguistische Aufbereitung, die ihnen ange‐ messen und innovativ erscheint, ein großes Erklärungspotenzial verspricht und mit der Sprache ein Thema verhandelt, das alle Menschen betrifft. Das zeigt sich in unzähligen Kommentaren, von denen wir nur einen exemplarisch zitieren möchten: »This is one of the most interesting video’s I have every [sic] seen, it really shows how sentences and paragraphs can be analyzed down to the littlest Broadcast Philology 203 things like word reorganization and how simple or complicated you keep it […].« ( ILLUMENTS 2017) Auch wenn Puschak von zahlreichen Kommentator*innen dafür gefeiert wird, eine »linguistic analysis« (digg 2016) geliefert zu haben, handelt es sich bei seinem Video-Essay nicht um eine wissenschaftliche Ergebnispräsentation im eigentlichen Sinne. How Donald Trump Answers a Question - und das Video-Essay generell - lässt sich eher als kulturjournalistisches Format ver‐ stehen, dessen Verfasser kleine Datenmengen analysiert, Fallbeispiele unter‐ sucht und teils gewagte Argumentationsketten verfolgt. Darüber ist sich Pu‐ schak auch völlig bewusst: [In a Video Essay, y]ou don’t have to follow the model of a court case, you don’t have to rigorously defend your thesis point by point. We have other forms of writing for that. In an essay, you’re perfectly allowed to follow a train of thought. […] Essays should be short, interesting, and they should get to the truth. And that’s actually a good three-word definition for what essays are. (TEDx Talks 2016: 03: 07-03: 32) Dennoch bemüht sich der Nerdwriter darum, gewisse Tugenden der guten wis‐ senschaftlichen Praxis so gut zu erfüllen, wie es sein Format zulässt. Er be‐ gründet seine Thesen mit möglichst dichtem Bezug zum jeweiligen Untersu‐ chungsgegenstand, verweist auf die Quellen seiner Aussagen und bemüht sich um eine gründliche Recherche, zu der explizit auch die Lektüre wissenschaftli‐ cher Texte gehört. Puschak kultiviert also Praktiken, die auch in der Literatur‐ wissenschaft wichtig sind; er verbindet sie jedoch mit Kompetenzen, die uns eher fernliegen und unter manchen Vertreter*innen unseres Fachs sogar verpönt zu sein scheinen: Er präsentiert sein Wissen in einer Weise, die auf ein be‐ stimmtes Publikum zugeschnitten ist, indem er sich vor allem aktuellen Phäno‐ menen zuwendet, seine Gegenstände grundlegend vorstellt, die Reichweite seiner Untersuchungen sowie den Umfang seiner Ergebnisdarstellungen redu‐ ziert und seine Befunde mithilfe eines narrativen Spannungsbogens vermittelt. Wir, die Autoren dieses Aufsatzes, glauben: Wenn wir mit unserer Forschung eine außerakademische Öffentlichkeit erreichen wollen und das Potenzial der Literaturwissenschaften ausschöpfen wollen, müssen wir es genauso machen - auch wenn das heißt, uns von manchen althergebrachten Praktiken der geis‐ teswissenschaftlichen Forschung zu verabschieden. Denn der Erfolg gibt Pu‐ schak recht. Während sich Germanist*innen darüber beschweren, dass sich nicht einmal ihre eigenen Student*innen »für die Forschung des eigenen Fachs« interessierten (Gelker 2015: 37), fällt seine Diagnose völlig anders aus: Der »massive success« der Video-Essays Christian Dinger / Julian Ingelmann 204 has proven that there is a real thirst for knowledge online. And more than that: There is a thirst for curated knowledge by people who are willing to put the work and do the research and show you the world, maybe something you guys never got the chance to study at school, in an engaging way. (TEDx Talks 2016: 10: 55-11: 11) Lautet das Fazit dieses Aufsatzes also: ›Die Monographie ist tot, es lebe das Video-Essay‹? Wer die Essays des Nerdwriter mit einem analytischen Auge schaut oder gar selbst versucht, ein Video in diesem Stil zu produzieren, wird schnell feststellen, wie schwierig sich dieses Unterfangen gestaltet. Als Literaturwissen‐ schaftler*innen erforschen wir Texte und präsentieren unsere Ergebnisse übli‐ cherweise in Textform; da es sich beim Video-Essay um ein audiovisuelles Format handelt, konfrontiert es uns mit einem Medienwechsel, den wir nicht gewohnt sind. Wir müssen also Aufgaben erfüllen, denen wir uns üblicherweise nicht stellen müssen: Wir müssen beispielsweise handwerklich in der Lage sein, ansprechende Video-Essays zu erstellen - mit all den kleinen Herausforde‐ rungen, die ein solches Unternehmen für Autodidakt*innen bereithält. Zwei Probleme möchten wir hier kurz ansprechen: Welche technischen Vorausset‐ zungen müssen erfüllt sein, um Video-Essays herstellen zu können? Und was muss aus juristischer Sicht beachtet werden? Die technische Frage lässt sich für die am weitesten verbreiteten Betriebs‐ systeme vergleichsweise einfach beantworten: Auf Computern und Mobilge‐ räten von Apple ist seit 2003 das Programm iMovie standardmäßig vorinstalliert; Nutzer*innen von neueren Windows-Versionen konnten sich bisher den Windows Movie Maker kostenfrei herunterladen, der ab Ende 2017 durch Windows Story Remix ersetzt wird. Beide Programme genügen zwar keinen pro‐ fessionellen Ansprüchen, bieten jedoch eine einsteiger*innen-freundliche Nut‐ zungsumgebung, die grundlegende Film- und Audiobearbeitungen ermöglicht. Erfahrene Nutzer*innen können zwar auch mit iMovie, dem Windows Movie Maker oder anderer kostenloser Videoschnittsoftware beeindruckende Ergeb‐ nisse hervorbringen, werden jedoch in der Regel irgendwann auf ein professi‐ onelles Programm umsteigen. Aus juristischer Sicht sind Video-Essays durchaus problematisch (vgl. Chris‐ tiansen 2011): Dadurch, dass Musik und Bilder in Video-Essays üblicherweise auch illustrativ eingesetzt werden, müssen wir uns als potenzielle Produ‐ zent*innen auch mit rechtlichen Fragen auseinandersetzen, mit denen uns schriftliche Publikationen eher selten konfrontieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich bereits vor einigen Jahren kritische Stimmen gegen das »Academic Publishing on YouTube« (Lemon 2013: 1194) zu Wort ge‐ meldet haben. Es ist also sinnvoll, auf gemeinfreies Material zurückzugreifen Broadcast Philology 205 oder die nötigen Lizenzen zu erwerben, auch wenn das die Auswahl an verfüg‐ baren Musik- und Bildmaterialien stark einschränkt. Video-Essays konfrontieren akademisch geschulte Produzent*innen aber auch mit inhaltlichen Herausforderungen. Das Format verlangt es, bestimmte Untersuchungsgegenstände auf eine bestimmte Art und Weise zu präsentieren. Wenn wir mit unseren Video-Essays ein breites Publikum erreichen wollen, müssen wir unsere Inhalte entsprechend anpassen. Diese Popularisierung sollte indes eher als didaktische Reduktion denn als Verfälschung oder unredliche Simplifizierung verstanden werden. Dementsprechend müssen Fachbegriffe auf ihre Notwendigkeit überprüft und gegebenenfalls erläutert werden; das Manu‐ skript muss der Präsentationsform angepasst werden und sollte sich nicht wie ein vorgelesener Schrifttext anhören. Außerdem können wir nicht davon aus‐ gehen, dass alle Nutzer*innen von YouTube die Literatur kennen, über die wir sprechen, selbst wenn diese zum engsten Kanon unserer Disziplin gehört; es müssen also auch solche Zusammenhänge erklärt werden, die uns selbstver‐ ständlich erscheinen. Diese Herausforderungen sind schwer zu bewältigen. Es wäre also utopisch zu fordern, dass die Produktion von Video-Essays in das universitäre Curri‐ culum aufgenommen wird. Wir glauben aber, dass die Tugenden, die ein gutes Video-Essay auszeichnen, problemlos auch auf andere Präsentationsformen zu übertragen sind. Auch ein mündlicher Vortrag, der von einer Beamerpräsenta‐ tion begleitet wird, sollte stringent vorgetragen werden, ein spannendes Nar‐ rativ suchen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Mehr noch: Die Ver‐ wendung von Textwüsten, die auf germanistischen Powerpoint-Folien immer noch Gang und Gäbe ist, sollte endlich der Vergangenheit angehören. Statt‐ dessen gilt es, den Inhalt des Gesagten in Schaubildern symbolisch darzustellen und komplexe Aussagen auf anschauliche Modelle zu reduzieren. Schließlich soll eine Präsentation vor allem den Zuschauer*innen beim Verständnis des Vortrags helfen - und nicht der*m Vortragenden beim Erinnern ihres*seines Textes. Und auch geschrieben Texte können sich an diesen Tugenden orien‐ tieren. Das Video-Essay ist sicherlich nicht dafür geeignet, den literaturtheoreti‐ schen Aufsatz zu ersetzen oder die fachwissenschaftliche Monographie obsolet zu machen; schließlich eignen sich längst nicht alle Inhalte unseres Faches für die Bearbeitung in diesem Format. Aber es ist ein gutes Vehikel, um das Wissen, das wir in unserer Forschung erwerben, an eine interessierte Öffentlichkeit zu transportieren. Denn das Beispiel von Nerdwriter1 zeigt, dass eine breite Öf‐ fentlichkeit für die Themen Literatur und Sprache existiert. Doch wenn wir sie erreichen wollen, hilft es nicht, auf die Unantastbarkeit des Kanons zu pochen Christian Dinger / Julian Ingelmann 206 oder auf der Notwendigkeit einer komplizierten Fachsprache zu beharren. Statt‐ dessen müssen wir uns populären Gegenständen öffnen und unser Interesse an aktuellen Themen zurückgewinnen, vor allem aber die Präsentationskompetenz als hohes Gut definieren. Dann beantwortet sich die Frage nach der gesell‐ schaftlichen Relevanz der Literaturwissenschaft nämlich ganz von allein. Literatur 9GAG (2016): ›Nerdwriter Explains How Donald Trump’s Words Works For Him And Why Is It Powerful.‹ https: / / 9gag.com/ tv/ p/ aMdxxE/ how-donald-trump-answers-a-question. (01. 11. 2017). Baum, Constanze (2017). ›Digital gap oder digital turn? Literaturwissenschaft und das digitale Zeitalter.‹ Zeitschrift für Germanistik, NF XXVII, 2 / 2017, 316-328. Beilein, Matthias (2012). ›Sehr interessant. Über einige spezifische Probleme der Be‐ schäftigung mit und Bewertung von Gegenwartsliteratur‹, in: Maik Bierwirth, Anja Johannsen und Mirna Zeman (Hrsg.). Doing Contemporary Literature. München: Wil‐ helm Fink, 41-53. Beilein, Matthias, Claudia Stockinger und Simone Winko (2012). ›Einleitung. Kanonbil‐ dung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft‹, in: Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko (Hrsg.). Kanon, Wertung und Vermittlung. 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In der Gesellschaft formt sich zunehmend eine Opposition gegen Globalisierung und Neoliberalismus aber auch gegen damit verbundene Migrationsbewegungen, die ein Gefühl von Kontrollverlust und Unsicherheit auslösen. Durch die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 / 16 haben sich auch in Deutschland Debatten über Zuwanderung noch weiter verschärft. Dabei schwankt die öffentliche Stimmung zwischen Bestürzung über das Schicksal von Menschen, die auf ihrer Flucht ihr Leben riskieren, der soge‐ nannten ›Willkommenskultur‹ und der Angst vor Kontrollverlust, Terrorismus und ›Überfremdung‹, die unter anderem von der AfD immer wieder angeheizt wird. Dazu kommt der sich zunehmend verbreitende politisch instrumentali‐ sierte Populismus, der die Grenzen zwischen Fakten und medial und emotional produzierter ›Wahrheit‹ immer weiter verschwimmen lässt. Nicht zuletzt durch den Vorwurf, dass die Postmoderne dem sogenannten postfaktischen Zeitalter den Weg bereitet hat (Perrin 2017; vgl. Breuer 2016), muss sich die Literatur- und Kulturwissenschaft der Frage stellen, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielt und was sie tun kann und will, um ein kritisches Bewusstsein im Umgang mit gesellschaftlichen und medialen Diskursen zu schaffen. Im Zeitalter sozialer Medien muss ebenfalls die Frage aufgeworfen werden, was die Literatur selbst in Krisenzeiten wie diesen noch leisten kann. David Grossman argumentiert in der ZEIT vom 9. März 2017, dass dies »sehr wenig und sehr viel« sei (Grossman 2017: 43). Also welche Rolle spielt damit Literatur und deren Analyse und Ver‐ mittlung als ein Teil des öffentlichen Diskurses? In diesen Beitrag werde ich in einem ersten Schritt erläutern, dass die Kul‐ turwissenschaften bei der Auseinandersetzung mit transnationaler Literatur und im Zusammenhang mit den Themen Migration und Flucht zunächst re‐ flektieren müssen, dass sie durch Begriffe wie Transnationalismus teilweise selbst ein Ideal oder eine Kulturnorm etablieren und dadurch Zeichen der Un‐ sicherheit und Krise nur überdecken, anstatt sich kritisch mit ihnen auseinan‐ derzusetzen. Das Konzept des Transnationalismus suggeriert eine Form von in‐ dividueller Mobilität und Handlungsfreiheit in einer globalisierten Welt, bei dem jedoch oft soziale und materielle Realitäten außer Acht gelassen und auch nor‐ mative Identitätsentwürfe generiert werden. Dies schafft ein neues Ideal, das nicht erreicht werden kann und das zudem bestimmte Gruppen weiterhin mar‐ ginalisiert und eine Hierarchisierung von Prekarisierung unterstützt (vgl. Roth 2017). Dies zeigt sich bereits, wie ich in meinem Dissertationsprojekt ausführlich darlege (vgl. Roth: 2017), in der Auseinandersetzung mit Texten, die vor der sogenannten Flüchtlingskrise erschienen sind. Nicht zuletzt durch diese Krise und die mit ihr verbundenen politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa wurde der Fokus des öffentlichen Diskurses aber noch viel stärker auf die Themen Flucht und Migration gelenkt. Es hat sich dabei nicht nur die (ge‐ fühlte und vermittelte) Dimension des Problems und die politische Situation in Europa und der Welt verändert, sondern es hat sich auch der mediale Umgang mit ihm sowie die Polarisierung von Positionen im gesellschaftlichen Diskurs weiter verschärft und zugespitzt. Somit knüpft dieser Beitrag an meine Ausei‐ nandersetzung mit Transnationalismus und Krisendiskursen in meiner Disser‐ tation an, fokussiert sich jedoch auf die gegenwärtige Situation und auf einen Roman, der sich dezidiert mit der sogenannten Flüchtlingskrise auseinander‐ setzt. Die Literatur- und Kulturwissenschaften sollten sich einerseits aufgrund aktueller Entwicklungen noch mehr in der Pflicht sehen, Position zu beziehen und auch am gesellschaftspolitischen Diskurs zu partizipieren, aber andererseits müssen die Geisteswissenschaften - mit Blick auf die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika - auch um ihre eigene Existenz und Freiheit fürchten. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Literatur- und Kulturwissenschaften sich auch kritisch mit der eigenen Rolle im Diskurs auseinandersetzen und sich mit Texten beschäftigen, die aktuelle gesellschaftliche Krisen sowie Fremdheitser‐ fahrung und Mobilität im transnationalen Zeitalter thematisieren. Dieser Bei‐ trag wird deshalb in einem zweiten Schritt am Beispiel von Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015), einem Roman, der für seine Auseinandersetzung Daniela Roth 214 mit der Flüchtlingskrise sowohl gelobt als auch stark kritisiert wurde, zeigen, wie in diesem die Unmöglichkeit transnationaler Mobilität für die Flüchtlinge dargestellt wird, aber gleichzeitig auch bildungsbürgerliche und literatursowie geisteswissenschaftliche Ansätze und Denkmuster (selbst-)kritisch reflektiert werden. Transnationalismus und transnationale Literatur - Produktive Kategorien oder Modebegriffe? In meiner Dissertation setze ich mich bereits ausführlich mit den aktuellen Ent‐ wicklungen in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung von sogenannter Migrationsliteratur auseinander - vor allem mit Genredefinitionen und theo‐ retischen Überlegungen im Zusammenhang mit dieser (vgl. Roth 2017: 20-53). Nachdem Begriffe wie interkulturelle Literatur als zu binär und statisch abge‐ lehnt wurden, erfuhr das Konzept des Transnationalismus und die Bezeichnung ›transnationale Literatur‹ viel Aufmerksamkeit und wurde neben der Genrebe‐ zeichnung ›neue Weltliteratur‹ (vgl. Sturm-Trigonakis 2013; Rösch 2004; Essel‐ born 2009, Roth: 28-31) zum neuen ›Trendbegriff‹ in den Literatur- und Kul‐ turwissenschaften (siehe z.B den Sammelband Transnationalism in German Language Literature). Dabei geht es Wissenschaftlern auch darum, einen Lite‐ raturbegriff zu finden, der offen genug ist, um Texte, die zuvor der sogenannten Migrationsliteratur zugeordnet wurden, darunter fassen zu können, aber auch Texte, in denen es um die Themen transnationale Mobilität, Globalisierung, Reisen und Fremdheitserfahrungen geht. Gleichzeitig darf ein solcher Litera‐ turbegriff nicht so allgemein sein, dass er an Definitionskraft verliert. Jedoch zeigt sich bei dem ›Forschungshype‹, der in den letzten Jahren um den Begriff Transnationalismus entstanden ist, auch, dass dieser zunehmend eine neue Norm generiert, die eine gewisse Form von Mobilität und Handlungsfreiheit suggeriert, die jedoch nicht jedem zugänglich ist. Hybridität und Fluidität werden dabei zu literaturtheoretischen Modebegriffen (vgl. u. a. Jay 2010; Schmitz 2009) und es wird ein Bild von Weltbürgertum vermittelt, das ein Gefühl von Autonomie und gleichzeitiger Freiheit suggeriert, und das, wie ich in meiner Dissertation dargelegt habe, gewissen Ängsten und dem Wunsch nach Kontrolle entgegensteht, der durch verschwimmende Grenzen, neoliberale Strukturen und die immer weiter fortschreitende Globalisierung ausgelöst wird (vgl. Roth: 7). Die zunehmende Mobilität mancher Gruppen und die damit verbundene ge‐ fühlte Freiheit entstehen auf Kosten derer, die aufgrund ihrer prekären Situation weiter eingeschränkt oder zur Flucht gezwungen werden. Politische und wirt‐ Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 215 schaftliche Strukturen vermitteln ein Gefühl von Autonomie und gleichzeitig von Sicherheit, indem bestimmte Gruppen marginalisiert oder diese - wie Judith Butler es in Frames of War (2009) darlegt und Isabell Lorey es in Die Regierung des Prekären beschreibt - »als anders und weniger schützenswert angesehen werden« (Lorey 2012: 37). Dies führt nicht nur zu einer Stärkung nationalisti‐ scher Tendenzen, sondern auch zu einem immer stärker werdenden Wunsch nach Sicherheit, Kontrolle und Isolierung, die jedoch als Freiheit oder Selbstbe‐ stimmung wahrgenommen wird (Lorey 2012: 26-27). Diese Vorgänge sind kom‐ plex und können im Rahmen dieses Artikels nicht von allen Seiten beleuchtet und auf ihre ökonomischen sozio- und geopolitischen und kulturellen Faktoren hin erläutert werden. Literarische Texte, die sich mit transnationalen Themen‐ komplexen auseinandersetzen zeigen jedoch oft, dass diese suggerierte Hand‐ lungsfreiheit ein Konstrukt ist und nicht allen gesellschaftlichen Gruppen zu‐ gänglich ist. Somit legen sie diskursive Mechanismen und die Funktion und Wirkungsweise institutioneller Machtstrukturen offen. Dies ermöglicht den Li‐ teraturwissenschaften, anhand der Texte diese Problematik zu reflektieren und sich kritisch mit gesellschaftlichen und politischen Strukturen auseinanderzu‐ setzen, aber dabei eben auch die eigene Rolle im Diskurs zu hinterfragen. Dies soll nun im Folgenden am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen exemplarisch erfolgen. Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) - Der Roman zur Flüchtlingskrise? Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen ist 2015 erschienen, also wäh‐ rend des viel diskutierten Höhepunkts der sogenannten Flüchtlingskrise in Eu‐ ropa. Der Roman wurde als »Buch der Stunde« (Schmitter 2015: 126) bezeichnet und war auf der Shortlist des deutschen Buchpreises (Sárkány 2015). Er zeigt das Schicksal einer Gruppe afrikanischer Flüchtlinge, die darum kämpfen, ge‐ sehen und geschützt zu werden und gleichzeitig ihre Würde und Identität zu bewahren. Erpenbeck selbst hat für den Roman die Rolle der Forscherin und Wissenschaftlerin eingenommen und wie die Fokalisierungsfigur im Roman af‐ rikanische Flüchtlinge interviewt und zu ihren Geschichten befragt (Granzin 2015). Das Feuilleton hat den Roman zwar gelobt (Lühmann 2015; Moritz 2015), aber auch kritisiert, dass dieser einen erzieherischen Gestus oder zumindest einen informativ-dokumentarischen Ton hat sowie »eindeutig aus sehr deut‐ scher, vielleicht … sogar … ostdeutscher Perspektive erzählt [wird]« (Granzin 2015). Dana Buchzik lobt im Spiegel vor allem die »dokumentarischen Passagen [als] einen wichtigen Beitrag zur Flüchtlingsdebatte« (Buchzik 2015) und Daniela Roth 216 Friedmar Apel von der FAZ bezeichnet Erpenbecks Text als »gründlich re‐ cherchierte[n] Tatsachenroman, … [der] an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit [erscheint]« (Apel 2015). Der Text wird aber auch als »überholt« (Schneider 2015) gesehen oder als Roman, der »ächzt und stöhnt unter so viel gutem Willen und Vorsätzlichkeit« (Magenau 2015). Im Text stehen allerdings nicht nur die Dokumentation der sogenannten Flüchtlingskrise und die Erfahrungen der Geflüchteten im Fokus, sondern vor allem der Protagonist Richard, dessen Geschichte durch einen heterodiegeti‐ schen Erzähler mit interner Fokalisierung vermittelt wird. Tatsächlich zeigt Er‐ penbecks Text also nicht nur das Schicksal der dargestellten Flüchtlinge. Der Text begleitet Richard, wie er selbst immer wieder Neues lernt und einen Ein‐ blick in die bürokratischen Hürden erhält, denen die afrikanischen Flüchtlinge ausgesetzt sind. Mit Richard stellt Erpenbeck einen weißen Mann aus einer bil‐ dungsbürgerlichen Schicht in den Vordergrund des Geschehens. Der Protagonist des Romans ist ein emeritierter Universitätsprofessor für Klassische Philologie in Berlin, der nach dem Tod seiner Frau und nach der Übergabe seiner Aufgaben im Institut an seinen Nachfolger nun nach neuen Tätigkeitsbereichen sucht. Seine Geliebte hat ihn betrogen und verlassen und Richard weiß nicht, was er mit seiner freien Zeit anfangen soll (Erpenbeck 2015: 11). Er vermisst vor allem auch den intellektuellen Austausch und seine Lehr‐ tätigkeit. Richard scheint zudem gefangen in seinen Gewohnheiten und fragt sich, wie sein Leben nun aussehen soll und wie er es mit Sinn füllen kann. Dabei stellt er sich auch die Frage, welchen Wert Bildung und Wissen haben, wenn man sie nicht teilen kann (10, 15). Als er von den afrikanischen Flüchtlingen hört, die auf dem Alexanderplatz streiken, fragt er sich, wie er diese übersehen konnte, da er doch am selben Tag in dieser Gegend war, um eine Ausgrabung am Alexanderplatz zu besuchen (19). Die Gruppe junger Männer, die sich wei‐ gern, ihre Identität preiszugeben, wecken zunächst besonders Richards wissen‐ schaftliches Interesse. Mit einem Fragenkatalog macht sich Richard auf den Weg zur Unterbringung für Asylbewerber und befragt diese zu ihrer Herkunft, ihrem Leben und ihrer Flucht (51). Dabei erfährt er nicht nur viel über deren persön‐ liche Geschichten und ihre kulturelle Herkunft, sondern lernt auch viel über sich selbst. Wie Stefan Hermes in »Grenzen der Repräsentation« (2016) anmerkt, zeigt Richard dabei aber auch paternalistische und kolonialistische Tendenzen und macht die Flüchtlinge zu einem Forschungsthema und einem Objekt des Wissens. Für ihn sind die Geflüchteten zu Beginn also vor allem ein Weg, um zu er‐ fahren, was man tun kann, wenn man zu viel Zeit hat. Richard ist »auf der Suche Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 217 [danach], was er mit seiner übermässig [sic] vorhandenen Zeit anfangen könnte - und als etwas gar tumber Schöngeist und Bildungsbürger hofft er auf Antworten bei den anderen, ihm gänzlich fremden Unbeschäftigten« (Birrer 2015). In Sibylle Birrers Rezension für die NZZ schwingt damit an dieser Stelle auch eine Kritik am bildungsbürgerlichen Gestus des Romans und am Verhalten des Protagonisten mit. Tatsächlich übersetzt Richard die Geschichten und Schicksale der Geflüchteten, um sie für sich lesbar zu machen, zunächst in seine eigene akademische Erfahrungswelt. Er versucht, ihre Schicksale durch Rück‐ bezug auf Texte und Geschichten aus der griechischen Mythologie zu verstehen und einen Zugang zur Thematik Flucht zu erhalten. Er vergleicht die Afrikaner zudem mit Figuren aus der Literatur, Mythologie oder Kunstwerken und gibt ihnen Namen wie »Der Mond von Wismar« (Erpenbeck 2015: 283), »Apoll« (84) und »Tristan« (84). Hermes sieht dies als »Akte penetranter Alterisierung« und »Nostrifizierung« (Hermes 2016: 183) und kritisiert Richards teilweise exoti‐ sierenden und romantisierenden Blick auf die Männer (Erpenbeck 2015: 191) bei gleichzeitiger Fixierung auf Hautfarbe (Hermes 2016: 183) und das Anderssein der Flüchtlinge. Besonders dieser postkoloniale Gestus des Romans und seiner Hauptfigur sind ein Thema, mit dem sich Hermes intensiv auseinandersetzt. Er stellt insgesamt fest, dass es dem Roman »an ästhetisch reizvollen wie ethisch herausfordernden Ambivalenzen … mangelt« (Hermes 2016: 186). Ich stimme Hermes’ Lesart des Romans in vielen Punkten zu, argumentiere jedoch, dass es in Erpenbecks Roman nicht nur um die Problematik von Repräsentation, son‐ dern auch um die Darstellung der Unmöglichkeit transnationaler Handlungs‐ freiheit und um eine selbstkritische Reflexion (literatur-)wissenschaftlicher Praxis geht. Dies wird vor allem später im Roman deutlich, wenn Richard be‐ ginnt, seine eigene Haltung zu reflektieren. Während Richard die Männer zunächst nur befragt und sich Notizen macht, engagiert er sich im Laufe des Romans immer mehr für die Afrikaner. Er begleitet die Flüchtlinge bei Behördengängen, lädt Osarobo zu sich nach Hause ein, damit dieser Klavier spielen lernen kann, gibt Deutschunterricht und vieles mehr. Ei‐ nige der Männer werden dadurch zu Freunden, auch wenn Richard sich immer wieder an den eigenen Vorurteilen und Erwartungshaltungen abarbeiten muss und auch hier eine erzieherische Haltung zeigt: Zum Beispiel, wenn er Raschid »deutsche Weihnachtskultur« nahebringen will (230-235) und sich auch an einer Stelle eingesteht, dass er Dankbarkeit von Karon erwartet (254) oder ent‐ täuscht und wütend ist, als Osarobo einen Termin mit ihm vergisst (145). Richard muss gerade in seiner Beziehung mit Osarobo aber auch erfahren, wie sensibel das neu geschaffene Vertrauensverhältnis zwischen ihm und den Männern ist. Als Richard bestohlen wird und nicht weiß, ob einer seiner »Schützlinge« bei Daniela Roth 218 ihm eingebrochen ist, schwankt Richard zwischen seiner Enttäuschung und gleichzeitig dem Drang, Osarobo in Schutz zu nehmen. So will Richard der Sache zeitweise gar nicht wirklich nachgehen, weil er gar nicht zu wissen wollen scheint, ob Osarobo ihn bestohlen hat. Er nimmt aber trotzdem immer wieder Kontakt zu ihm auf und hofft auf einen Hinweis, ein Eingeständnis oder eine Entschuldigung. Für Richard selbst bieten die Flüchtlinge aber nicht nur eine Möglichkeit, Wissen zu erlangen und Wissen zu teilen, sondern vor allem eine Abwechslung für seinen festgefahrenen Alltag und seine Einsamkeit sowie eine neue Aufgabe, über die er auch seine Identität neu konstruieren kann, denn sowohl die Geflüchteten als auch Richard befinden sich zu Beginn des Romans in einer emotional prekären Situation. Am Ende profitieren zwar beide Gruppen von ihrem Zusammentreffen, jedoch ist es nur Richard möglich, sich emotional zu entwickeln und mithilfe der Flüchtlinge eine neue Aufgabe zu finden, wäh‐ rend die afrikanischen Männer durch Richard und seine Freunde zwar Unter‐ stützung erfahren und in dessen sozialen Kreis eingebunden werden, jedoch nie die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten (emotional und sozial) oder die gleiche Mobilität erreichen können. Sie bekommen von Richard selbst immer wieder eine Identität zugeschrieben und erhalten nur durch ihn eine Stimme im Diskurs. Somit wird deutlich, dass transnationale Identitätskonstruktionen, Autonomie und Mobilität für die dargestellten Flüchtlinge unerreichbar bleiben. Dies zeigt sich besonders dann, wenn auf der Textebene die prekäre Situation der Geflüchteten immer wieder in Bezug zu Richards eigener Situation gesetzt wird, so zum Beispiel, wenn die Fremdheitsgefühle und Überforderung der Flüchtlinge mit Richards Unsicherheit verglichen wird. Für ihn ist es jedoch bereits das wiedervereinte Berlin, das ihn überfordert. Immer wieder wird die Stadt und Richards Unbehagen thematisiert, auch die Stadt ist für Richard manchmal nicht mehr lesbar: Seine Freunde machen sich über ihn lustig, weil er sich immer noch weigert, mit dem Auto ins Zentrum zu fahren. Aber seit die Mauer weg ist, kennt er sich dort nicht mehr aus. Seit die Mauer weg ist, ist die Stadt doppelt so groß und hat sich so sehr verändert, dass er jetzt oft nicht einmal weiß, an welcher Kreuzung er steht. (40-41) In Richards Interviews mit den Geflüchteten werden deren Geschichten und Sorgen zwar dargestellt, aber selbst diese dienen Richard immer wieder auch als Reflexionsbasis für sein eigenes Leben. Damit werden im Text Richards Ängste und seine Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Schuld in den Vorder‐ grund gerückt, so zum Beispiel die emotionalen Spuren seiner Vergangenheit und seiner Ehe, die er nie wirklich aufgearbeitet hat. Er vermisst seine Frau und seine Geliebte und auch wenn Richard selbstständig und unabhängig ist, verfällt Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 219 er ohne Kommunikation und emotionalen sowie intellektuellen Austausch in eine Routine, die ihn ein Stück weit auch lähmt, obwohl er Beständigkeit und Verlässlichkeit liebt (32). Immer wieder deutet Richard an, dass etwas zwischen ihm und einer Frau stand, dass nie ausgesprochen wurde. Sie trank und war depressiv (347) und obwohl Richard wusste, dass sie unglücklich war, hat er sich mit seiner Geliebten abgelenkt und sich nicht wirklich mit seiner Ehe ausei‐ nandergesetzt. Dennoch vermisst er seine Frau, auch wenn er dachte, dass dies nicht passieren würde (346). Die Afrikaner können nicht verstehen, dass Richard keine Familie hat. Am Ende des Romans erzählt Richard auf einer Gartenparty zu seinem Geburtstag schließlich, dass seine Frau das gemeinsame Kind illegal abgetrieben hat, da besonders Richard kein Kind wollte. Richard gesteht auch, dass er sich für seine Frau geschämt hat, als diese in der S-Bahn zu bluten begann, und gleichzeitig Angst hatte, weil er dachte, sie könnte sterben: »Warum hast du dich für deine Frau geschämt? , fragt Ali. Ich glaube, dass es mir eigentlich Angst gemacht hat… Ja, sagt Richard, ich habe sie in dem Moment dafür gehasst, dass sie vielleicht stirbt.« (348) Für Richard ermöglicht sein Aufeinandertreffen und die Arbeit mit den Flüchtlingen also eine Art Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte, seiner ei‐ genen Schuld und seiner Ängste. Hermes argumentiert, dass sich immer dann, wenn die Afrikaner Richard Fragen zu seiner Familie und seinen Lebensent‐ scheidungen stellen, die Hierarchie und Machtposition im Gespräch umkehren (185), jedoch werden auch hier die Gespräche vor allem für Richards eigenen Lernprozess funktionalisiert, die Kommunikation mit den Flüchtlingen dient also auch hier der Weiterentwicklung Richards. Der Idee der Möglichkeit einer Weiterentwicklung liegt ein gewisser Autonomiegedanke und eine Form von Handlungsfreiheit zugrunde, die Richard zugestanden wird. Für ihn ist ein Ent‐ wicklungsprozess möglich, er erhält eine neue Aufgabe und am Ende des Ro‐ mans erfährt er eine Art emotionale Reifung, da er sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen kann. Darüber hinaus ist er nicht mehr alleine in seinem Haus, sondern feiert zusammen mit seinen alten Freunden, mit denen er nun wieder mehr teilt, und mit den afrikanischen Männern, denen er geholfen hat und die nun auch Teil seines Lebens sind. Auch wenn sich durch Richards Un‐ terstützung sowie durch die seiner Freunde auch die Situation der Flüchtlinge teilweise verbessert hat, können diese jedoch nicht die gleiche Handlungsfrei‐ heit erreichen wie Richard. Diese fehlende Handlungsfreiheit zeigt sich nicht nur durch die Darstellung frustrierender Behördengänge, finanzieller Not und der Unsicherheit der Geflüchteten, sondern auch konkret anhand von drei zent‐ ralen Aspekten, die immer wieder im Roman verhandelt werden: (Reise)Freiheit, Macht durch Sprache und Zeit. Daniela Roth 220 So wird zunächst durch den Aspekt der Zeit eine Verbindung zwischen Ri‐ chard und den Männern aus Afrika aufgebaut, die aber gleichzeitig den Kontrast zwischen ihnen offenlegt. Dies wird anhand von Richards Sorgen - seiner Angst vor »zu viel Zeit« - und den Ängsten und Sorgen der Geflüchteten deutlich, die »aus [der Zeit] gefallen sind« (Buckzik 2015), weil ihnen keine Wahl bleibt. Richard fragt sich, »[w]as die Männer eigentlich … den ganzen Tag [machen], wenn sie nicht arbeiten dürfen« (Erpenbeck 2015: 48). Um die Leere in seinem Leben zu füllen, stellt Richard den Flüchtlingen also Fragen, denn er hat ebenfalls »Zeit, um alles in Ruhe zu hören. Zeit« (63). Er hofft durch die Gespräche mit den Geflüchteten zu lernen, was Zeit bedeutet und wie er sie mit Sinn füllen kann. So sagt auch Erpenbeck im Interview mit der taz über Richard: »Er will etwas darüber wissen, womit man Zeit verbringt, wenn man keinen Inhalt mehr haben darf« (Granzin 2015). Richard hat am Ende die Möglichkeit, diese Zeit wieder mit Inhalt zu füllen. Für die afrikanischen Männer wäre dieser Inhalt Familie und Arbeit, aber für sie bleibt weitestgehend nur das erzwungene Nichtstun, das zudem mit einer Objektivierung und Sprachlosigkeit einhergeht. Ohne Sprache gibt es für die Geflüchteten keinen Zugang zu institutionellem Wissen und sie werden von gesellschaftlichen Diskursen fremdbestimmt, an denen sie selbst nur bedingt partizipieren können. Deshalb spielen auch Sprache und Wissen und deren Relevanz für Identi‐ tätsdar- und Herstellung eine wichtige Rolle im Text. Richard äußert zu Beginn des Romans die Angst, dass, wenn ihm niemand mehr zuhört, sein Wissen und seine Bildung irrelevant werden (10, 15) und damit auch wichtige Eckpfeiler seiner Identitätskonstruktion. Das Interesse an den Geflüchteten wird damit nicht nur zu seiner neuen Aufgabe, in der er seine wissenschaftlichen Kenntnisse anwendet, Interviews führt, forscht und das Ganze schließlich zu einem Vortrag verarbeiten will, sondern er findet dadurch auch wieder jemanden, der ihm zu‐ hört, den er etwas lehren kann und der ihn braucht. Gerade deshalb reagiert Richard besonders dann verstimmt, wenn die Männer nicht die gewünschte Re‐ aktion und auch Dankbarkeit zeigen (255). Auf der anderen Seite gibt er natür‐ lich auch den Flüchtlingen ein Stück weit ihre Stimmen zurück, indem er sie zu ihren Geschichten befragt. Allerdings gibt auch dieser Vorgang vor allem ihm wieder eine Stimme - die des Advokaten der Männer und die des Wissenschaft‐ lers, der ihre Geschichten verarbeitet. So empfindet er Raschids Vertrauen, der ihm zu Weihnachten seine Geschichte erzählt, als »Geschenk« (237). Raschids Erzählung symbolisiert auf der einen Seite, dass er Vertrauen zu Richard hat, da er sich zuvor nicht geöffnet hat, aber die Formulierung »Geschenk« impliziert zudem, dass Raschids Geschichte nun auch im Besitz Richards ist. Selbst wenn, wie auch Hermes anmerkt, durch erlebte und zitierte Rede sowie kurze Wechsel Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 221 in der Fokalisierung (Hermes 2016: 185) die Flüchtlinge kurzzeitig eine Stimme bekommen, bleiben die Geschichten der Flüchtlinge gerade durch den doku‐ mentarischen Grundton des Romans und Richards Forschungsgestus ein Objekt des Wissens. Ein weiterer Aspekt, der im Roman thematisiert wird und die Hierarchisie‐ rung von Prekarisierung sowie den Konstruktcharakter transnationaler Mobi‐ lität offenlegt, ist die Dichotomie zwischen den Erfahrungen, die die ehemaligen DDR -Bürger, also Richard und seine Freunde gemacht haben und den Erleb‐ nissen der Geflüchteten. Richard und seine Freunde thematisieren immer wieder die Freiheit, die sie nach dem Mauerfall genießen: »Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages einfach so zu dieser Kirche hinfahren könnte, einfach so, sagt Jörg. Das ist wirklich Reisefreiheit, sagt Monika, seine Frau.« (Erpenbeck 2015: 244) Richard betrachtet Urlaubsbilder von Monika und Jörg, als die Sprache auf die Flüchtlinge aus Afrika kommt und Monika klagt: »Aber wisst ihr, in der Mitte von Nirgendwo stehen da schwarze Frauen, Afrikanerinnen! , am Straßenrand und bieten sich an … Das war irgendwie unheimlich« (243). Monika scheint die Flüchtenden als störend in der Urlaubsidylle zu empfinden und das Leid der Frauen ist ihr unheimlich. Die Bilder der Flucht und des Elends werden über‐ deckt mit Bildern von Urlaub, Kulturtourismus und Reisen. Besonders Monika und Jörg werden beide als Charaktere dargestellt, die Vorurteile gegenüber den Geflüchteten haben und die Flüchtenden nicht als schützenswert, sondern eher als Bedrohung wahrnehmen. So warnt Monika Richard vor Krankheiten, die diese einschleppen könnten (243), und Jörg macht sich über die »Neger« lustig, die seiner Meinung nach an den »Medizinmann« glauben, als Richard ihn zur Wirkung von Medikamenten befragt, die Rufu einnimmt (287). Sie reprodu‐ zieren damit Stereotypen und Klischees über die Geflüchteten, die Richard zwar ignoriert, aber oft auch nicht korrigiert (243). Es werden also zwei Konzepte von Freiheit und Mobilität kontrastierend ge‐ genübergestellt, denn auch wenn Richard immer wieder versucht, Parallelen zur eigenen Geschichte und historischen Ereignissen zu suchen, um die Empfin‐ dungen der Flüchtenden nachvollziehen zu können, legen gerade diese Ver‐ gleiche eine Hierarchisierung von Prekarisierung offen. Auch wenn die Flücht‐ linge also lange Strecken gegangen sind und somit auch eine gewisse Mobilität verkörpern, ist diese Mobilität kein Ausdruck von (Reise-)Freiheit oder trans‐ nationaler Autonomie, für sie geht es ums Überleben und sie gehen in eine un‐ gewisse Zukunft. Erpenbecks Text wird gegen Ende des Romans durch zwei fast leere Seiten unterbrochen, auf denen folgende Frage gestellt wird: »Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll? « (328-329). Die Frage nach Bewegung und Mobilität, die auch im Titel des Romans reflektiert wird, Daniela Roth 222 wird damit besonders hervorgehoben. Für Thomas Nail ist »the migrant […] the political figure of movement« (Nail 2015: 11) und Migration ist ein Aspekt der Welt, den viele Menschen in gewisser Weise teilen, jedoch sind das Element der Bewegung und die Gründe nicht für alle identisch (1-2) oder positiv konnotiert (3-4). Für Nail ist Bewegung auch nicht per se ein Ausdruck von Entschei‐ dungsfreiheit: »Some migrants may decide to move, but they do not get to decide the social conditions of their movement or the degree to which they are expelled from certain social orders as a consequence« (2-3). Die Geflüchteten gehen zwar und haben ein bestimmtes Ziel, aber sie reisen ins Ungewisse und geben dabei auch einen Teil ihrer Identität auf. Somit spielt also der Titel des Romans »Gehen, ging, gegangen« nicht nur auf deutsche Grammatik und auf das Er‐ lernen der deutschen Sprache an, sondern betont Bewegung und eine Mobilität, die jedoch zum Stillstand kommt oder ins Leere läuft. Mit dem Gehen, das zu‐ nächst wie ein Akt der Handlungsfreiheit wirkt, verlieren die Flüchtenden durch die Flucht jedoch Kontrolle über sich uns das Ziel: Die Konjugation enthält das ganze raumzeitliche Vorstellungsvermögen, und so er‐ kennen auch die afrikanischen Flüchtlinge im Verb der Bewegung bald ihr eigenes Schicksal wieder. Durch die Wüste sind sie gegangen, einen langen Weg über viele Grenzen von einem vorläufigen Ort zum anderen, und nun werden sie bald wieder gehen. (Apel 2015) Die Geflüchteten sind gegangen, weil sie keine andere Möglichkeit für sich sahen, aber mit der Flucht haben sie - auch wenn sie sich selbst zum Handeln entschieden haben - gleichzeitig auch die Kontrolle über ihre Identität aufge‐ geben: »[They] are mobile, mobilized, stumbling along [their] line of flight. But nothing flows. In moving, [their] life has come to a halt« (Young 2003: 11). Sie werden zu »Flüchtlingen«, zu einer Masse, über die Wissen generiert wird, während ihnen oft der Zugang zu institutionell und diskursiv erzeugten Wahr‐ heiten verschlossen bleibt, da sie die Sprache nicht beherrschen. Die Männer dürfen nicht arbeiten, verschlafen ihre Tage oder versuchen, sie durch planloses Umhergehen zu füllen. Ihre Untätigkeit wird ihnen von der Regierung verordnet und dieselbe ihnen dann im gesellschaftlichen Diskurs zu Lasten gelegt. Selbst ihr Protest, so stellt auch Richard fest, wird von außen interpretiert und ihnen die Deutungshoheit über ihr Anliegen entzogen. So bezeichnet eine Zeitung eine Protestaktion der Flüchtlinge als Erpressung und die Leser der Zeitung loben den Artikel und beklagen sich in ihren Kommentaren allenfalls darüber, dass nun Flüchtlinge das Privileg haben sollen, auf einem Dach stehend, mit Selbstmord zu drohen. Und zu pinkeln natürlich. Kaum in Deutschland, Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 223 pinkelt der als ALLERERSTES vom Dach! Als ALLERERSTES, denkt Richard, nunja, nach bald drei Jahren Flucht und des Wartens. (Erpenbeck 2015: 273) Auch die Untätigkeit und das Nichtstun wird den Männern vorgeworfen, eine Absurdität, die auch Richard beschäftigt: »Ihnen das Arbeiten zu verbieten und ihnen gleichzeitig Untätigkeit vorzuwerfen ist, findet Richard, rein gedanklich eine gewagte Konstruktion« (273). Auch hier werden bestimmte Diskurse und Klischees reproduziert und die Paradoxie der Situation der Flüchtlinge offen‐ gelegt. In Gehen, ging, gegangen ist es schlussendlich aber nicht nur die Bewegung und das »Gehen«, das die Figuren zugleich verbindet und kontrastiert, sondern auch Symbolik von Meer und Wasser stellt eine metaphorische Verbindung zwischen Richard und den Geflüchteten her und zeigt gleichzeitig, wie die Hie‐ rarchisierung von Prekarisierung im gesellschaftlichen Diskurs erfolgt: Der Tote im See direkt bei seinem Haus, der Richard am Schwimmen hindert, symbolisiert die vielen Menschen im Meer, die bei der Überfahrt auf dem Mittelmeer sterben. Wasser ist dabei für beide - Richard und die Afrikaner - ein Symbol für Leid, Verlust und Angst. Dies wird durch Raschids Geschichte über seine Flucht betont und auch durch den Schluss des Romans, wenn Richard über seine Frau spricht: »Damals … ist mir klar geworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte. So wie auf dem Meer? , fragt Khalil. Ja, im Prinzip wie auf dem Meer« (348). Am Ende des Romans stehen damit jedoch Richards Verlust und seine Ängste, über die er nun zu sprechen vermag. Er konnte sich weiterentwickeln und wird wieder im See schwimmen können (340), während sich die Situation für die geflüchteten Afrikaner nur vorüber‐ gehend verbessert hat. Diese kurze Interpretation des Romans hat gezeigt, wie im Text deutlich wird, dass transnationale Identitätsbildung und Mobilität nicht allen gesellschaftli‐ chen Gruppen zugänglich ist und diskursive und institutionelle Machtstruk‐ turen eine Hierarchisierung von Prekarisierung erzeugen. Für Richard ist die Begegnung mit den Flüchtlingen eine Möglichkeit, seine Zeit mit Sinn zu füllen und seine Identität über seine neue Aufgabe zu definieren, während die Afri‐ kaner zwar temporär Hilfe erhalten, jedoch in der Gesellschaft weiterhin mar‐ ginalisiert und fremdbestimmt werden. Daniela Roth 224 Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaft in Krisenzeiten - Reprise Mit Blick auf die Auseinandersetzung des Feuilletons mit Erpenbecks Roman und auf die oben dargelegte Interpretation sollte jedoch auch die Literaturwis‐ senschaft die eigene Rolle im Diskurs kritisch reflektieren. Buchzik kritisiert zum Beispiel bei Spiegel online zunächst klar den Literaturbetrieb und auch die Leser, für die Richard die ideale Identifikationsfigur darstellt: Das neue Buch der vielfach ausgezeichneten Erfolgsschriftstellerin (»Heimsuchung«) zeigt, wie schlecht es um die politische Literatur in Deutschland bestellt ist. Statt die Geschichten der Geflüchteten in den Vordergrund zu stellen, wird »Gehen, ging, ge‐ gangen« von einem Wohlstandsbürger dominiert, der sich weltoffen und aufgeklärt fühlt und die eigene, von Ressentiments durchsetzte Ignoranz nicht bemerkt. Erpen‐ becks Roman ist ein klassischer Pressetitel, auf Feuilletons und Preisjurys zuge‐ schrieben; anders gesagt: auf Leser zugeschrieben, die sich in Richard wiederfinden werden. (Buchzik 2015) Interessanterweise widerspricht Hermes dieser Kritik in seiner Analyse, da für ihn »der Roman die Perspektive seines Protagonisten … sehr wohl reflektiert und der Kritik des Publikums überantwortet« (Hermes 2016: 186). Hermes führt hier eine Passage an, in der Richard über die Arbeit des Literaturwissenschaftlers nachdenkt, der einen Text liest und sich fragt, wer »in diesen Passagen der Sprecher [ist]« (100). Jedoch ist der Auslöser für diese Gedanken, dass die Flüchtlinge an einen anderen Ort gebracht werden sollen, der für Richard schwerer erreichbar ist und seine Aufregung darüber, dass »die Leute, die solche Beschlüsse verkünden, […] wohl nicht [wissen], was es heißt, ernsthaft zu re‐ cherchieren« (Erpenbeck 2015: 99). Richard, der auf einer intellektuellen Ebene zu verstehen versucht, was die Afrikaner beschäftigt, steht damit trotzdem wei‐ terhin für eine belesene und bildungsbürgerliche Elite mit einer westlichen Per‐ spektive auf die Geschichten der Flüchtlinge. Dadurch, dass der Text als »Roman der Flüchtlingskrise« bezeichnet wird, geht der Anspruch auf eine individuelle Deutungshoheit über die sogenannte Flüchtlingskrise hier an die Literaturkritik und -wissenschaft zurück, die jedoch, so zeigen die literaturtheoretischen Ar‐ beiten zu Migrationsliteratur und Transnationalismus, zwischen literaturästhe‐ tischer Reflexion und gesellschaftspolitischem Bildungsauftrag steht und dabei Gefahr läuft, selbst kulturelle Normen zu konstituieren. Romane wie Jenny Erpenbecks können, wenn sie selbstkritisch gelesen werden, trotz ihrer Schwächen der Literaturwissenschaft auch die eigene Hal‐ tung und Position vor Augen führen, denn gerade, weil der Roman die Stimme Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen Krisenzeiten 225 seiner Hauptfigur in den Vordergrund stellt, wird dadurch diese Problematik seiner Perspektive erst deutlich. Kritisches und selbstreflexives Denken zu för‐ dern - das gilt als die Stärke der Geistes- und Kulturwissenschaften und ist auch das Potenzial literarischer Produktion. Die kritischen Analysemethoden und Ansätze der Literaturwissenschaft bleiben deshalb gerade in Krisenzeiten weiter von Bedeutung, weil sie, wenn sie ihre eigene Perspektive immer (selbst)kritisch hinterfragen, in Forschung und Lehre ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, politisches Bewusstsein zu fördern. Auch wenn Ästhetik, Sprache und Kunst natürlich ein elementarer Teil in der wissenschaftlichen Be‐ trachtung von Literatur sind und bleiben müssen, plädiert dieser Beitrag dafür, dass gerade im sogenannten postfaktischen Zeitalter politisch-ethische Frage‐ stellungen weiterhin - oder sogar verstärkt - ein wichtiger Teil der literatur- und kulturwissenschaften Arbeit sein sollten. In der literarischen Praxis selbst liegt der Wert von Literatur nicht in der Darstellung von »Wahrheiten« und »Fakten«, sondern in der speziellen Wir‐ kung von Literatur, die eben auch einen Zugang zu komplexen Themen bietet und ein Ausdruck von Krisenstimmungen sein kann. Literatur vermittelt den Lesern Erfahrungswelten, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten, und wie Grossmann es in seinem zu Beginn zitierten Kommentar treffend formuliert, »[erweckt] der im Leser ausgelöste unbedingte Wunsch, das Innenleben der einzelnen Protagonisten zu verstehen, ihre Werte, ihre Verrücktheiten, ihre Ängste und die Augenblicke ihrer Größe zu ergründen […] das politische Be‐ wusstsein« (Grossman 2017: 43). Dies gibt Literatur gerade in Krisenzeiten einen unschätzbaren Wert. Somit ist die zu Beginn genannte Kritik an Erpenbecks »Tatsachenroman« (Apel 2015) zwar auch treffend, aber vielleicht geht es in diesem Roman gerade nicht um eine Dokumentation der Schicksale der Flücht‐ linge sondern darum, wie er der Literatur- und der Kulturwissenschaft und auch dem Bildungsbürgertum den Spiegel vorhält. Literatur Apel, Friedmar (2015). ›Wir wurden, werden, sind sichtbar.‹ FAZ. http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristik/ gehenginggegangenvonjennyerpenbeck13770081.html? printPagedArticle=true#pageInd (01. 11. 2017). Birrer, Sibylle (2015). ›Gestrandet in der Warteschlaufe.‹ NZZ, 235, 25. Breuer, Ingeborg (2016). ›Die gefühlte Wahrheit: Postfaktisch: Wort des Jahres 2016.‹ Deutschlandfunk. http: / / www.deutschlandfunk.de/ die-gefuehlte-wahrheit-postfaktisch-wort-des-jahres-2016.1148.de.html? dram: article_id=373840 (01. 11. 2017). 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Zu sehen sind einerseits Benjamin, der Flüchtling - und die Frage, inwieweit Vertriebener / Migrant / Asylsuchender mehr oder weniger zutreffend wären. Andererseits die österreichische Widerstandskämpferin und Fluchthel‐ ferin Fittko - und ihrerseits die Frage, inwieweit Schlepperin / Schleuserin / Men‐ schenschmugglerin mehr oder weniger zuträfen. Ich möchte gleich die nächste Frage anschließen: Inwieweit lässt sich die Si‐ tuation Walter Benjamins, als er um sein Leben fürchtend über die Pyrenäen flieht, unter demselben Begriff (Krise) subsumieren wie die Existenz-Krise der Literaturwissenschaften in Deutschland? Es scheint bestenfalls irreführend, schlimmstenfalls zynisch, die beiden miteinander zu vergleichen, geht es doch in ersterer Situation um dringliche existentielle Not, in letzterer um spätkapi‐ talistische Sinnkrisen und Minderwertigkeitsphantasien größtenteils privile‐ gierter Akademiker*innen. Diese als tatsächlich krisengebeutelt zu verstehen, wird umso mehr dadurch erschwert, dass die deutschen Literaturwissenschaften sowie das sie beobachtende Feuilleton seit vielen Jahrzehnten den Verfall, die Redundanz oder die generelle Unzulänglichkeit der entsprechenden Disziplinen beklagen. Einige Beispiele sind der im Jahr 1989 erschienene Sammelband Wozu noch Germanistik? (Förster, Neuland und Rupp 1989), dessen Beiträger*innen die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Disziplin gegenüber be‐ klagen; der 1994 erschienene Band Germanistik in der Mediengesellschaft ( Jäger und Switalla 1994), der aufgrund des sicheren Aussterbens der Literatur die Disziplin nur per radikalem Makeover gerettet sieht; sowie Literatur und Kul‐ turwissenschaften aus dem Jahr 1996 (Böhme und Scherpe 1996), dessen Bei‐ träger*innen sich nicht sicher zu sein scheinen, was Literatur und Literaturwis‐ senschaft überhaupt noch seien, aber dennoch davon ausgehen, dass Sorge angebracht ist. Das Feuilleton agiert währenddessen als Teufelsadvokat - 1989 freut sich die Zeit über den Niedergang der Germanistik, wünscht ihr »ohne Sentimentalität eine gute Reise« (Dyck 1989), 1997 legt sie schelmisch nach, indem sie die Krise der Germanistik für beendet erklärt, weil es schlichtweg keine erwähnenswerte Germanistik mehr gäbe (Greiner 1997). Erst kürzlich er‐ innerten auch Spiegel (Doerry 2017) und Süddeutsche Zeitung (Niewel 2017) an die Krise der Germanistik, nur für den Fall, dass sie jemand vergessen hat. Gleichzeitig ist die Welt geplagt von Finanzkrisen, Sinnkrisen, Nuklearkrisen, Umweltkrisen, seit 2015 insbesondere in Deutschland auch einer vermeintlichen Flüchtlingskrise (und dieser gefährlich dumme Begriff soll in diesem Kapitel von hieran aus nicht mehr fallen). Was eine Krisensituation ist und was Krise genannt wird, umfasst kombiniert im Grunde die gesamte menschliche Existenz, was wiederum zu der Annahme verleitet, dass der Begriff der Krise entweder voll‐ kommen bedeutungslos oder radikal universell ist. Dies wiederum führt zu einer Reihe durchaus interessanter Fragen: Was kann Krise bedeuten, wenn der Be‐ griff auf gleichzeitig so viel und so wenig referiert? Was kann Krise bedeuten, wenn eine vermeintliche Krise - wie die der Literaturwissenschaft - ein derart kontinuierlicher und gleichzeitig folgenloser Dauerzustand ist? Wie kann eine Disziplin wie die Literaturwissenschaft, deren grundlegende raison d’être das Beobachten, Analysieren und Interpretieren von Narrativen und ihren Periphe‐ rien, Texten und ihren Kontexten, ist, auf eine produktive Art und Weise mit dem Konzept Krise umgehen? Wie kann sie das insbesondere dann tun, wenn sie auf gesellschaftlich relevante Art ein Thema wie globale Fluchtbewegungen thematisieren möchte, dieses aber gleichzeitig mit dem Umstand in Einklang bringen muss, dass sie sich selbst in einer Krisensituation verortet? Tom Reiss 232 Diese Fragen sind deswegen von vorneherein komplex und kontrovers, weil sowohl Fragen nach globaler Flucht, dem Selbstverständnis und Zweck der Li‐ teraturwissenschaft als auch dem Stimmungspotential des Begriffes Krise gleichzeitig immer Fragen nach begrifflicher Verhältnismäßigkeit, Inkompati‐ bilität, Ent-/ Über-/ Unterbewertung, Relativierung und Kontextualisierung sind. Dies sind allerdings tatsächlich Themenfelder, zu denen die Literaturwissen‐ schaft selbst eine gewisse Affinität hat, ebenso wie eine gewisse Erfahrung und Expertise in ihrer Behandlung. Die Frage danach zu stellen, inwiefern und in‐ wieweit die Literaturwissenschaft globale Flucht diskutieren sollte, würde ich dementsprechend gerne als Hypothese umformulieren: Die Frage nach einer Krise der Literaturwissenschaft entscheidet sich daran, ob und wie sie sich mit Flucht und Geflüchteten auseinandersetzt. Die Plausibilisierung dieser Hypothese ist die Aufgabe dieses Kapitels. Wäh‐ renddessen hilft ein weiterer Blick in Lisa Fittkos Memoiren, um die Frage zu beantworten, ob die Krisensituation Flucht und das Konzept geisteswissen‐ schaftlicher Sinnkrisen überhaupt sinnvoll in einem Atemzug genannt werden können: Heute, wo Benjamin als einer der wichtigsten Gelehrten und Kritiker des 20. Jahr‐ hunderts gilt, heute werde ich manchmal gefragt: Was hat er über das Manuskript gesagt? Hat er sich über den Inhalt ausgelassen? Hat er darin ein neues philosophi‐ sches Konzept entwickelt? Du lieber Himmel, ich hatte alle Hände voll zu tun, meine kleine Gruppe bergauf zu führen; die Philosophie musste warten, bis wir über den Berg waren. Es kam darauf an, einige Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem komi‐ schen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde. So mussten wir das Monstrum wohl oder übel über das Gebirge schleppen. (Fittko 2015: 142) Die Ästhetik der Krise Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. (Nietzsche 2005: 893) Only an expert can see there’s a problem And seeing the problem is half the problem And only an expert can deal with the problem Only an expert can deal with the problem. (Anderson 2010) Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 233 Da eingangs bereits etabliert wurde, dass Krisen in erster Linie im Auge ihrer Betrachter liegen, können Krisen in erster Linie als ästhetisches Phänomen be‐ trachtet werden. Sicherlich gibt es Mechanismen und Dynamiken, die Subjekte, Systeme oder Strukturen de facto auf kritische Arten destabilisieren, aber wie auch Jürgen Habermas feststellt, sind entsprechende Destabilisierungen nicht notwendigerweise mit Krisen deckungsgleich: Nicht alle Strukturwandlungen eines Gesellschaftssystems sind auch schon Krisen. Offenbar kann der Toleranzbereich, in dem die Sollwerte eines Gesellschaftssystems schwanken dürfen, ohne daß es bestandskritisch gefährdet wird und seine Identität verliert, nicht in einer objektivistischen Einstellung der Systemtheorie erfaßt werden. Systeme werden nicht als Subjekte vorgestellt; nur Subjekte, so lehrt der vorwissen‐ schaftliche Sprachgebrauch, können in Krisen verwickelt werden. Erst wenn die Ge‐ sellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als bestandskritisch erfahren und ihre so‐ ziale Identität bedroht fühlen, können wir von Krisen sprechen. Störungen der Systemintegration sind nur in dem Maße bestandsgefährdend, als die soziale Integra‐ tion auf dem Spiel steht, d. h. als die Konsensgrundlage der normativen Strukturen so weit beeinträchtigt wird, daß die Gesellschaft anom wird. Krisenzustände haben die Form einer Desintegration der gesellschaftlichen Institutionen. (Habermas 1973: 12) Da die Krise auf der Wahrnehmung einzelner Subjekte basiert, handelt es sich zusätzlich zu diesem ästhetischen Phänomen um ein epistemologisches Phä‐ nomen. Die Krise als empfundener, kontingenter Verlust subjektiver Autonomie ist subjektive Desintegration analog zur systemischen Desintegration der Krise selbst. Das bedeutet weiter, dass Dynamiken der (empfunden) erfolgreichen Krisenbewältigung stabilisierend, integrierend und dementsprechend subjekti‐ vierend fungieren: Mit Krisen verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück Subjektivität entzieht, die ihm normalerweise zusteht. Indem wir einen Vorgang als eine Krise begreifen, geben wir ihm unausgesprochen einen normativen Sinn: die Lösung der Krise bringt für das verstrickte Subjekt eine Befreiung. (Habermas 1973: 10) Schließlich ist die Krise, zusätzlich zu ihrer ästhetischen und epistemologischen Problematik, ein ethisches Phänomen. Dies zeigt sich zuvorderst in Fragen da‐ nach, welche Subjekte eine Krise überhaupt erst als solche identifizieren bzw. benennen können oder dürfen sowie danach, ob die jeweiligen Desintegrati‐ onsprozesse systeminhärent sind oder nicht. Zusätzlich dazu zeigt es sich aber auch auf einer metatheoretischen Ebene angesichts der Frage, ob eine Analy‐ semethode, die radikal zwischen systeminternen und -externen Räumen unter‐ Tom Reiss 234 scheidet, die Dynamiken, Ursachen und Konsequenzen einer Krise überhaupt zuverlässig identifizieren kann: Krisen entstehen, wenn die Struktur eines Gesellschaftssystems weniger Möglich‐ keiten der Problemlösung zuläßt, als zur Bestandserhaltung des Systems in Anspruch genommen werden müßten. In diesem Sinne sind Krisen anhaltende Störungen der Systemintegration. Gegen die sozialwissenschaftliche Brauchbarkeit dieses Begriffes läßt sich einwenden, daß es die internen Ursachen für eine »systematische« Überfor‐ derung von Steuerungskapazitäten (oder eine »strukturelle« Unlösbarkeit von Steu‐ erungsproblemen) nicht berücksichtigt. (Habermas 1973: 11) Ein Resultat dessen ist auch, dass die Krisensituation, sobald sie als solche iden‐ tifiziert wurde, die Externalisierung ihrer eigenen Ursachen für die betroffenen Subjekte erheblich erleichtert. Wie sich beispielsweise im Falle der Literatur‐ wissenschaft und insbesondere von Publikationen wie dem oben erwähnten Band Wozu noch Germanistik? zeigt, resultiert hieraus auch eine simultane Ten‐ denz zu Krisenwahrnehmung und der Überzeugung, für die wahrgenommene Krise selbst nicht verantwortlich zu sein (und analog hierzu nimmt sich die deutsche Gesellschaft entweder als Opfer oder zumindest patiens globaler Flucht wahr, nicht als externer, beitragender oder aktiver Faktor in Bezug auf die Krise der Situation geflohener Subjekte). In Hinsicht auf den Umstand, dass die Literaturwissenschaften sich selbst in einem permanenten Krisenzustand wähnen, lassen sich daraus folgend mehrere Aussagen machen: Erstens ist dieser Umstand nicht überraschend - eine wis‐ senschaftliche Disziplin, die sich in erster Linie durch Beobachtung auszeichnet und nichts unmittelbar Vermarktbares produziert, muss sich in einem global kapitalistischen System notwendigerweise in einer Krise sehen. Zweitens ist das allerdings auch nicht weiter problematisch, weil es im Grunde lediglich be‐ deutet, dass die Literaturwissenschaften sowohl den Diskurs des globalen Ka‐ pitalismus als auch sich selbst analytisch beobachten - wenn die Literaturwis‐ senschaften ihre eigene Krise konstatieren, machen sie also nur ihre Arbeit. Drittens allerdings muss hinzugefügt werden, dass dieses Konstatieren der ei‐ genen Krise ab einem gewissen Punkt keinerlei analytischen Mehrwert mehr hat. Stattdessen wäre die Frage angebracht, welche Krisen die Literaturwissen‐ schaft denn außer ihrer eigenen beobachtet. Und hier offenbart sich eine ver‐ steckte, tatsächliche Krise: nämlich der Umstand, dass die Literaturwissen‐ schaften in Deutschland auf allen Ebenen Probleme damit haben, die Krisen des globalen Kapitalismus, der Geo- und Biopolitiken oder postkolonialistischer Di‐ lemmata zu beobachten und zu besprechen. Dass weder globale Flucht noch die spezifische Situation Geflüchteter in Deutschland die hiesigen Literaturwissen‐ Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 235 schaften sonderlich zu interessieren scheinen, ist das beste Beispiel für eine tat‐ sächliche Existenz- und Sinnkrise der deutschen Literaturwissenschaften. Es handelt sich hier - im Gegensatz zu der Krise der Germanistik - nicht um eine Frage dessen, was beobachtet wird, sondern dessen, was nicht beobachtet wird. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene beschrieb Slavoj Žižek die Dynamik entsprechender blinder Flecke in Hinsicht auf Krisenwahrnehmung am Beispiel der internationalen Finanzkrise von 2008: Die Rettung bedrohter Tierarten, die Rettung des Planeten vor der globalen Erwär‐ mung, die Rettung von AIDS-Patienten oder von Kranken, die aufgrund des Mangels an Geld für teure Behandlungen und Operationen sterben, die Rettung verhungernder Kinder - das alles kann ein bißchen warten, aber der Ruf »Rettet die Banken! « ist ein bedingungsloser Imperativ, der nach sofortigem Eingreifen schreit, und das auch noch erfolgreich. (Žižek 2009: 11) Und hierbei ist bezeichnend, dass die Themen globaler Migration und Flucht weder in dieser Auflistung noch im zitierten Werk an sich erwähnt werden; denn während diskutabel wäre, wie problematisch, wie krisenhaft diese Themen im Vergleich zu den anderen sind, ist ihre komplette Abwesenheit ausgesprochen signifikant. Die relevante Erkenntnis ist nicht, dass diese Themen Teil der Auf‐ zählungen sein sollten oder hätten sein müssen, sondern, dass sie es nicht sind. Es trifft allerdings zu, was Žižek (an dieser Stelle Habermas nicht unähnlich) in Hinsicht auf die Symbolisierung von Krisen bemerkt, die nicht nur determi‐ niert, ob sie überhaupt als Krisen wahrgenommen werden, sondern auch, von wem sie wahrgenommen werden, wie diese Instanzen sie diskutieren und be‐ handeln, sowie welche Dynamiken, Ursprünge, Bewältigungsansätze und Be‐ wertungen hieraus resultieren: Es ist demnach keineswegs ausgemacht, daß sich die Finanzkrise des Jahres 2008 langfristig als verkappter Segen erweisen wird oder als das Erwachen aus einem bösen Traum. Alles hängt davon ab, wie sie symbolisiert wird, welche ideologische Inter‐ pretation oder Erzählung sich durchsetzt und die allgemeine Wahrnehmung der Krise bestimmt. (Žižek 2009: 22) Und schließlich entscheidet sich auch an dieser Symbolisierung, die gleichzeitig Subjektivierung ist, welche real existierenden Menschen als Subjekte anerkannt werden und an diesen Prozessen und Fragestellungen Teilhabe finden. Dass die Literaturwissenschaften all diese Dynamiken und Strukturen in Hinsicht auf ihre eigene Krise wiederholen, unermüdlich und in größtem Detail beobachten, interpretieren und kritisieren, ist weder überraschend noch prob‐ lematisch. Es ist allerdings größtenteils überflüssig, und erst recht dann, wenn Tom Reiss 236 sie über diese Beschäftigung die Fähigkeit verlieren, Krisenhaftigkeit in Dis‐ kursen außerhalb ihrer selbst zu diskutieren. Denn Fragen nach Diskursivität und Teilhabe, Symbolik und Subjektivierung, Narrativen und deren Aneignung sind eben die Fragen, die die Literaturwissenschaften mit einer außerordentli‐ chen Schärfe, Eleganz und Sorgfalt zu stellen und zu beantworten gewohnt sind. Inhalt und Thema spielen hierbei im Grunde keine Rolle; aber wenn die Litera‐ turwissenschaften das Bedürfnis nach Relevanz haben, wird es notwendig sein, dass sie ihren Krisenblick von sich selbst auf andere Objekte richten - unter anderem und insbesondere auf Flucht und Migration. Wie dies gelingen kann, sei im Folgenden anhand einiger Vorschläge skiz‐ ziert. Repräsentation und die Krise des eingeschränkten Blickes DER GROSSE: Der Tee ist kein Tee, was dadurch ausgeglichen wird, dass die Ziga‐ retten keine Zigaretten sind, aber der Pass muss ein Pass sein, damit sie einen in das Land hineinlassen. DER UNTERSETZTE: Bruder, du hast recht, der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandekommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne ge‐ scheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird. DER GROSSE: So ist also auch dein Asylantrag abgelehnt. DER UNTERSETZTE: Ja natürlich, sonst würde ich hier nicht sitzen. (Human 2017a: 16) Die Krise ist gleichzeitig die Krise einer beobachtenden Instanz (hier: der deut‐ schen Literaturwissenschaft) und einer beobachteten Instanz, beziehungsweise der Abwesenheit oder Unsichtbarkeit einer solchen (hier: den Dynamiken glo‐ baler Flucht und der Situation Geflüchteter in Deutschland). Es handelt sich um ein reziprokes, kybernetisches Verhältnis, in dem beide Instanzen sich gegen‐ seitig beeinflussen und informieren. Dementsprechend ist die Situation der Krise selbst reziprok - die Literatur‐ wissenschaft scheitert an dem Thema Flucht, weil sowohl in der Art ihrer Be‐ obachtung als auch ihrem Beobachteten blinde Flecken bestehen. Um die Krise zu bewältigen, muss jede der beiden Instanzen die andere produktiv wahr‐ nehmen - das bedeutet, die Literaturwissenschaft muss, um Flucht und Ge‐ flüchtete sinnvoll zu thematisieren, diese Themen in sich repräsentieren, wäh‐ rend sie gleichzeitig literarische Repräsentationen in diesen Themen Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 237 repräsentiert sehen muss. Hier geht es nicht lediglich um das faktische Vorhan‐ densein, die Präsentation dieser Faktoren - es geht um ihre reziproke, symbol‐ isierte und perpetuierte Re-Präsentation. Diese Unterscheidung, die ich der On‐ tologie Alain Badious entnehme, entscheidet letztendlich über Ausschluss oder Beteiligung an jeder Art von Menge, Situation oder System (vgl. Reiss 2014). In Bezug auf das Thema Flucht ist die Frage nach Präsentation und Repräsentation besonders relevant, da Badious Beispiel für eine (ontologisch wie sozial) prä‐ sentierte, aber nicht repräsentierte Instanz eine Person ist, die zwar in einem Land lebt, dort aber nicht amtlich anerkannt ist (vgl. Badiou 2005: 200). Dies ist exakt die Position des Großteils Geflüchteter in Deutschland und Geflüchteter weltweit an sich; die geläufige Bezeichnung sans-papières für entsprechende Personen ist bezeichnend. Dieses Missverhältnis - präsentiert, aber nicht repräsentiert - trifft in der Krise aufgrund ihrer Reziprozität zweifach zu: Geflüchtete sowie das Thema Flucht sind weder in der Literaturwissenschaft selbst noch in ihrem Blick re‐ präsentiert. Beides ist hochproblematisch. Auf Seite der Literaturwissenschaft selbst ist schmerzhaft deutlich, dass sie über die Situation Geflüchteter nicht nur nicht informiert ist, sondern auch keinerlei Mühen anstrebt, informiert zu werden. Dies führt ganz automatisch zu einer Abwesenheit sowohl geflüchteter Personen als auch des Themas Flucht in der Wissenschaft. So bieten zwar zahlreiche Hochschulen und Universitäten Hinführungspro‐ gramme, Beratungsstellen, Studienkollegs und dergleichen mehr an, um Ge‐ flüchteten den Zugang zum akademischen System zu erleichtern bzw. zu er‐ möglichen - diese Projekte sind allerdings ausschließlich für solche Geflüchtete geöffnet, deren Flüchtlingsstatus bereits anerkannt ist. Es handelt sich hierbei beinahe ausschließlich um Personen aus den Ländern Iran, Irak, Syrien, Eritrea und Somalia, denen die deutschen Behörden kategorisch eine gute Bleibeper‐ spektive attestieren. Es sind dies in jeder Hinsicht die repräsentierten Geflüch‐ teten. Diese sind auf entsprechende Projekte nur selten angewiesen, da das deutsche Sozialsystem sie ohnehin bereits mit entsprechenden Angeboten ver‐ sorgt. Dies ist allerdings nur ein sehr geringer Prozentsatz (15-20 %) der tat‐ sächlich in Deutschland lebenden, präsentierten Geflüchteten. Diesen wird - von individuellen Situation und Fluchtgeschichte größtenteils unabhängig - eine unsichere Bleibeperspektive attestiert, wie Personen aus Nigeria, Afghanistan, Pakistan, Sierra Leone und zahlreichen mehr. Diese Gruppe Geflüchteter sowie die, deren Herkunftsland als kategorisch sicher behandelt wird (wie Senegal, Ghana und die Balkanstaaten), beinhaltet die Gruppe Geflüchteter, die ohne Zugang zu staatlicher Unterstützung (ohne systemische Repräsentation) tat‐ Tom Reiss 238 sächlich auf die aktive Unterstützung der Universitäten angewiesen wäre, um Chancen auf akademische Betätigung zu haben. Sie - also die überwältigende Mehrheit Geflüchteter in Deutschland, die sich behördlich in Gestattung oder Duldung befinden - werden allerdings systema‐ tisch vom wissenschaftlichen System isoliert. Nicht nur erfahren sie keinerlei Unterstützung der Hochschulen selbst, zusätzlich dazu wird ihnen selbst die minimale existentielle Grundsicherung (erforderlich für Nahrung, Obdach und dergleichen) entzogen, sollten sie tatsächlich aller Widrigkeiten zum Trotz ein Studium beginnen. Gleichzeitig haben sie keine Möglichkeit, ihren Lebensun‐ terhalt zu bestreiten, da Stipendien, BAF öG-Leistungen und meistens auch Be‐ schäftigungserlaubnisse ihnen ebenfalls verweigert werden. Auch haben sie keinen Zugang zu Krankenversicherungen, die notwendig sind, um sich an deutschen Universitäten zu immatrikulieren. Auf weitere Details möchte ich aus Platzgründen verzichten, sie sind bereits an anderer Stelle diskutiert (vgl. Reiss 2017). Die Literaturwissenschaften befinden sich also aus eigenem Verschulden und eigener Passivität in einer Situation in Hinsicht auf das Thema globaler Flucht und Geflüchteter, die vergleichbar ist mit einem Feminismus ohne Frauen, Queer Studies ohne LGBTQI *-Personen oder Postkolonialismus ohne people of colour. Die Gleichzeitigkeit von Uninformiertheit, systemischer Blockade und aktivem Ausschluss mag, je nach persönlicher Perspektive, menschlich katastrophal und ethisch verwerflich sein. Soweit es allerdings die Literaturwissenschaften und die Krise betrifft, handelt es sich schlichtweg um eine lähmende Selbstbeschrän‐ kung. Die Öffnung der Literaturwissenschaften für Geflüchtete ist eine Frage des Selbsterhaltes, denn eine Disziplin, die sich in erster Linie durch Beobach‐ tung auszeichnet, kann sich diese Art von Blindheit nicht leisten, wenn sie ir‐ gendeine Art von Relevanz behaupten möchte. Die Modalitäten des Blickes der deutschen Literaturwissenschaften müssen sich fundamental verändern - sie benötigt mehr und andere Sehorgane. Darüber hinaus müssen die Literaturwissenschaften, selbst wenn sie sich im Besitz adä‐ quater Sicht befinden, diesen Blick auch auf etwas richten. Literaturwissenschaft ist keine passive, rezipierende Disziplin: wohl oder übel entscheidet sie, was ihr Thema ist. Um Krisen zu begegnen, muss sie, wie schon bei Žižek anklang, die Krisen symbolisieren. Sie muss in den Themen globaler Flucht und in Geflüch‐ teten Narrative identifizieren und dies als verantwortungsvollen, aktiven und volitiven Prozess begreifen, denn die Arbeit der Literaturwissenschaften ist die gleichzeitige Konstruktion, Lektüre und Interpretation von Narrativen, ein ethisch-ästhetischer Auftrag, dessen Komplexität Jacques Rancière ausgespro‐ chen eindrücklich beschreibt: Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 239 The real must be fictionalized in order to be thought. This proposition should be dis‐ tinguished from any discourse - positive or negative - according to which everything is »narrative«, with alternations between »grand« narratives and »minor »narra‐ tives«. The notion of »narrative« locks us into oppositions between the real and ar‐ tifice where both the positivists and the deconstructionists are lost. It is not a matter of claiming that everything is fiction. It is a matter of stating that the fiction of the aesthetic age defined models for connecting the presentation of facts and forms of intelligibility that blurred the border between the logic of facts and the logic of fiction. (Rancière 2011: 38). Auftrag, Stärke und Erfahrung der Literaturwissenschaften liegen in der Un‐ tersuchung eben dieses Wechselspiels von (sozialer, politischer, ökonomischer, psychologischer) Faktizität und der Fiktionalisierung derselben, an der sie selbst beteiligt sind. Dazu benötigen sie im Hinblick auf Geflüchtete eine Sicht, die sie derzeit nicht besitzen. Auf der anderen Seite der Gleichung befinden sich die Narrative der Flucht, deren Beobachtung die Literaturwissenschaften sich nicht entziehen dürfen. Flucht sehen, Flucht lesen I want to kill all killers. I want to be a bird and shit on all passports cause all birds are free and they don’t need passports. I want a long wood to jump in the sky and I want the sky to keep me for ever. I want to knock on my neighbor’s door and run away. I want to smooth a hard heart with sand paper. I want to tickle my partner. (Anonym 2010) Die im vorherigen Abschnitt angesprochene Problematik der systemischen Seh‐ schwäche in den deutschen Literaturwissenschaften ist eine Problematik, die sich nicht durch Lektüren, Aufsätze, Vorträge und Seminare lösen lassen wird. Sie ist metawissenschaftlich und -akademisch problematisch und wird Arbeit am System erfordern. Narrative hingegen, sowie literarische Texte, sind tatsächlich das akademi‐ sche Thema der Literaturwissenschaften und insofern auch Thema, nicht sys‐ temisches Problem in Hinsicht auf die oben beschriebene Krise. Die oben er‐ wähnten Lektüren, Aufsätze, Vorträge und Seminare erfüllen tatsächlich ihren wichtigen Zweck, sobald sie sich endlich Narrativen globaler Flucht widmen. Ein einleitendes Beispiel in diese Problematik dessen, was von der Literatur‐ wissenschaft gesehen wird, ist der Gedichtauszug, der diesem Abschnitt voran‐ Tom Reiss 240 steht. Es handelt sich hierbei um das Gedicht einer unbekannten und aus un‐ bekannter Region nach Deutschland geflohenen minderjährigen Person. Wie viele ähnliche Texte wurde es auf dem Blog Birds of Immigrants veröffentlicht - aber hierbei wird die Öffentlichkeit auch enden, denn Identität, Herkunft, Person und Muttersprache sind unbekannt. Dies ist nicht das Problem einer subalternen Stimme, die im Laufe der Zeit vergessen wird - es ist eine Stimme, die bereits in Vergessenheit beginnt. Es wäre die Aufgabe der Literaturwissen‐ schaften, eben solche Texte zu sehen und zu lesen. Diese Texte finden sich nur selten in Bibliotheken. Sie müssen erst in diese gebracht werden. Radikal verstärkte globale Migration und Flucht, so wie sie derzeit Realität ist, geht notwendigerweise mit einer Entgrenzung individueller und kollektiver Narrative einher, die in den Literaturwissenschaften im Grunde einen Gold‐ rausch hervorrufen sollten. Ein gutes Beispiel sind die Texte und Aktionen des Performance-Kollektivs Bavarian Taliban und insbesondere des aus Afghanistan geflohenen Künstlers, Essayisten und Aktivisten Human. Seine Texte, die sich performativ und narrativ ebenso über die Grenzen von Fiktionalität und Fak‐ tualität wie die zwischen Deutschland und Afghanistan erheben, heben Fragen nach individuellen und kollektiven Geschichten in Zeiten globaler Fluchtbewe‐ gungen in einen deutlichen Fokus: Der Flug von Kabul nach Masar-e-Scharif in einer Militärtransportmaschine. Die Tritte des kleinen oder großen Warlords, der die Kinder in der Kabine von den Sitzen schubste, um es sich bequem zu machen. Die Flughöhe setzte ihm zu und sein Blut‐ druck schien gegen die Decke zu knallen, als das Flugzeug auf dem Rücken der höch‐ sten Gebirge des Pamirs ritt, um nicht von einer Rakete eines anderen Warlords ge‐ troffen zu werden. Nach der Landung stellten wir fest, dass in der Außenwand des Flugzeugs ein großes Loch klaffte. Auch das folgende zermürbende Verstecken als »Illegaler« in den Transitstaaten blendete ich aus. In Dortmund spielen wir im Vorhof der Unterkunft mit einem Stoffball und müssen die Nächte zu fünft in einem Container verbringen. Ich erinnere mich nicht an die Träume während dieser Nächte. Albträume waren es nicht. Möglicherweise habe ich die Flucht doch als eine Abenteuerreise wahrgenommen? (Human 2017b: 49) In einer geopolitischen Situation, die diese Kategorien nicht mehr zulässt und ad absurdum führt, werden Fiktionalität, Kulturräume, politische Einheiten, Rechtssysteme, Sprache und narrative Konsistenz ineinander aufgelöst. Hu‐ mans Texte sind (Auto)biographien, Abenteuergeschichten, politische Streit‐ schriften, Phantasiestücke und absurdes Theater. Dies sind sie erfolgreich, weil das traumatische Chaos globaler Flucht nicht anders abgebildet werden kann als in traumatischem Chaos. Ebenso chaotisch, weil nicht selbstidentisch und Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 241 eben deswegen in einem politisch-ästhetischen Sinne wahr, ist die Identität der Stimme seiner Texte: Die folgenden Zeilen können als Fiktion oder Realität nachempfunden werden. Mein Wecker klingelt, er zeigt 3 Uhr morgens. Ich gehe mir schnell die Zähne putzen. Ich steige in mein Auto und hole drei Arbeitskollegen ab. Wir fahren zu einem Park‐ platz für LKWs, die am nächsten Tag nach Italien abreisen. Wir suchen einen nicht abgeschlossenen LKW und verstecken die Flüchtlinge zwischen den Orangenkisten. Ich sage zu ihnen, dass sie es nicht wagen sollten, eine der Früchte zu essen. Denn wird eine Kiste geöffnet, entwickeln sich Gase, die sich in der Kabine ausbreiten, woran sie ersticken können. Um 5 Uhr telefoniere ich mit Ernestos, der Polizist am Hafen ist und frage ihn, ob er sein Geld erhalten hat. Ich gebe ihm das Kennzeichen des LKWs durch und er weiß, was er zu tun hat. Um 13 Uhr werde ich aus meinem Schlaf gerissen, dieses Mal ist es nicht der Wecker, sondern die Türklingel. Ich öffne und sehe Mohammed. Er erzählt mir, dass die fünfköpfige Familie vor seiner Tür stehe und sie in dem Hafen nicht durchgekommen sind. Verflucht sei Ernestos! Wir fahren gemeinsam zu der Familie, die seit fünf Jahren auf den Straßen von Patras lebt. Ich verlange nochmal 500 Euro von ihnen und wir versuchen das Ganze in der komm‐ enden Nacht wieder. Der nächste Morgen bleibt ruhig, es scheint, als ob sie durchge‐ kommen sind. (Human 2014: 36 f.) Es sind eben diese Texte und Narrative, die sich zwischen Fiktion und Realität, dem mittleren Osten und Europa, Dari und Deutsch, Geflüchteten und Poli‐ zisten, Fluchthelfern und Schleppern bewegen, die der Literaturwissenschaft eine Aufgabe geben, um die sie dankbar sein sollte. Texte, die der Postkolonialist Maurizio Ascari als die wachsende und hochaktuelle Repräsentation von Ent‐ grenzung, von »boundaries as contact zones« (Ascari 2011: 14) betrachtet, die für ihn in ein Meta-Genre münden, das er schlicht und ausgesprochen bezeich‐ nend »life narratives« (Ascari 2011: 17) nennt. Diese individuellen und kollektiven Narrative, zu deren Untersuchung kaum eine Disziplin so gut geeignet wäre wie die Literaturwissenschaften, nehmen allerdings derzeit nur selten dir Form konkreter Texte an. Es handelt sich viel‐ mehr größtenteils um systemische Narrative bzw. Diskursformen und Disposi‐ tive. In sozialer, kultureller, juristischer und nicht zuletzt sprachlicher Hinsicht ist der gesamte Diskursraum von Migration, Flucht und Asyl von Erzähldyna‐ miken prominent geprägt. Geflüchtete und Asylsuchende müssen den Behörden und der Gesellschaft, in die sie geflohen sind, ihre Geschichte erzählen. Auf Basis dieser Geschichten entscheidet sich oft nicht weniger als die Gesamtheit ihrer Existenz - mithin alle ihre zukünftigen Geschichten. Tom Reiss 242 Das Erzählen dieser Geschichten findet allerdings derzeit in Räumen statt, in denen von Ascaris contact zones nicht die Rede sein kann. Das fundamentale Recht geflüchteter Personen, ihre Geschichte in einer Sprache ihrer Wahl und ohne zeitliche Begrenzung bzw. Druck zu erzählen, wird oft systemisch außer Kraft gesetzt, ohne dass die betroffenen Personen sich dieser Rechte überhaupt bewusst wären. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Geschichten zwar sowohl von der deutschen Gesellschaft als auch ihrer Administration a priori nach ihren eigenen Dispositiven wahrgenommen werden. Grundlegende narrative Kon‐ zepte wie Chronologie, Kausalität und Kontextualisierung sind aber keine ge‐ gebenen Faktoren. Geflüchtete Personen erzählen ihre Geschichten oft auf eine Art, die von deutschen Ohren nicht als kohärente Geschichten interpretiert werden, da die Grundlagen erzählerischer Logik völlig andere sind. Eine Frau aus Nigeria, deren Strategie in der Flucht nach Europa ihren Körper und ihre Sexualität beinhaltet, mag dies nicht als systematische Vergewaltigung ver‐ stehen, und dementsprechend wird ihre Geschichte keine Zwangsprostitution beinhalten. Ein junger Mann aus Somalia, der seit früher Kindheit rapide zwi‐ schen Familien sowie religiösen und (para-)militärischen Organisationen wech‐ selt, wird seine Geschichte nicht als Geschichte des Menschenhandels und Kin‐ dermilitärs erzählen. Ein Familienvater aus dem ländlichen Afghanistan wird in den Augen deutscher Geschichtenrezipient*innen immer lügen, wenn er auf die Frage antwortet, wie viele Mitglieder seine Familie hat, denn er wird seine wei‐ blichen Verwandten nicht nennen. Vor allem die Grundbedingungen von Narration müssen komplett neu hin‐ terfragt werden. Das Resultat wäre eine transkulturelle Demokratisierung des Diskurses. Coda / Yallah - flüstern, nur flüstern hilft gegen wölfe. seine augen waren voller zuversicht. wir starrten auf die tiere, die auf irgend etwas warteten. dann zerriß lärm die stille. nahe dem fluß stand eine alte frau und schlug mit ihrem gehstock an ein stück blech, neben ihr saß ein hund und schaute drein. - trommeln vetreibt wölfe und hilft auch gegen vergeßlichkeit. ich drehte den kopf um - kein wolf mehr in sicht. - ihr seid nicht von hier. (SAID 2014: 57) Globale Flucht und die Literaturwissenschaften 243 In Hinsicht auf eine Bestandsaufnahme des Krisenverhaltens der Literaturwis‐ senschaften bleibt insofern nicht viel zu sagen, als gleichzeitig Versagen und Gelegenheit zu konstatieren. Dies sei anhand einiger abschließender Thesen getan: 1. Es muss die Aufgabe der Literaturwissenschaften sein, eine Demokrati‐ sierung von Kanon und Diskurs zu gewährleisten, die Geflüchtete nicht ausschließt. Hierzu müssen die Literaturwissenschaften gleichzeitig si‐ cherstellen, dass sie die Perspektive dieser Geflüchteten nachvollziehen können (indem sie diesen den Zugang in die eigenen Reihen ermögli‐ chen); sowie sicherstellen, dass die Narrationen Geflüchteter von ihr selbst gesehen werden. Dies schließt eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Dispositiven von Narration an sich ein. 2. Es muss eine kritische Hinterfragung des Konzeptes von Nationalphilo‐ logien erfolgen, deren Institutionalisierung ebenfalls eher trennend denn verbindend fungiert. Alternativ müsste - beispielsweise - die Romanistik ein verstärktes Interesse auch an senegalesischen und kongolesischen Narrativen entwickeln; die Germanistik, Anglistik und Italianistik an den Narrativen nigerianischer Geflüchteter in Deutschland, die Zeit in Italien verbracht haben; die Slawistik an den Narrativen von Personen, die aus Afghanistan über den Iran nach Deutschland geflohen sind. Auch hier muss eine Erweiterung der wissenschaftlichen Perspektiven und eine Demokratisierung des Kanons erfolgen. 3. Eine verstärkte Etablierung der Übersetzungstheorie als literaturwissen‐ schaftlichem Grundlagenbereich muss vorgenommen werden. Unab‐ hängig von der Sprache eines gegebenen untersuchten Textes bzw. einer Narration müssen Literaturwissenschaftler*innen auf jeder Ebene ihrer Forschungskarriere mit den Grundlagen von Übersetzung vertraut sein, ohne die ihr wissenschaftlicher Blick immer so sehr eingeschränkt bleiben wird, dass er an sich eine Krise darstellt. 4. Die Literaturwissenschaften müssen Abstand von einer Marginalisierung ihrer selbst nehmen, innerhalb derer sie sich selbst in einem kontinuier‐ lichen Krisenzustand wahrnehmen. Stattdessen müssen sie realisieren, dass ihre Stärke und Relevanz nicht zuletzt aus Dokumenta-tion, Analyse und Interpretation von Krisen an sich resultiert. So werden die Literatur‐ wissenschaften umso relevanter, je mehr sie sich mit Geflüchteten und ihren Narrativen beschäftigen. Sie werden umso irrelevanter, je mehr sie sich mit sich selbst beschäftigen. Tom Reiss 244 Die Relevanz der Literaturwissenschaften sowie die Bewegung heraus aus ihren diversen selbstverschuldeten Krisen sind gebunden an die Beschäftigung der Literaturwissenschaften mit globaler Flucht und der Situation in Geflüchteter in Deutschland, von Benjamin über SAID und Human bis hin zu den Namen‐ losen der Gegenwart, deren Namen zu nennen das zu bewältigende Projekt ist. Yallah! Literatur Anderson, Laurie (2010). ›Only an Expert.‹ Homeland. 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Aber hier liegt eines der Hauptprobleme der gegenwärtigen Debatte und vielleicht die größte Gefahr der unglücklich mit dem Etikett ›populistisch‹ belegten Politiker weltweit - denn auch Donald Trump ist nicht durch ein überzeugendes Programm Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Die einfachen Erklärungen sind es, die gefragt sind; die großen Gesten, die lauten Worte, die zeigenden Finger, erhobene Fäuste. Die gegenwärtigen Probleme mit Flucht und Migration haben durch alle politischen Lager die binäre Logik ›wir‹ und ›die anderen‹ etabliert - nur die Strategien des Umgangs variieren (so wird es als Rettung Europas gefeiert, wenn in den Nie‐ derlanden Politiker die Wahl gewinnen, die nur latent rassistisch argumentieren und nicht unverhohlen und aggressiv). Es ist ja nicht die diffuse Gruppe der Populisten, die auf Vereinfachung setzt, sondern die Kultur der Überinformation überhaupt - in allen Lebensbereichen dominiert die quantitative Informations‐ erhebung, -verarbeitung und -verbreitung. Von den Datenbergen der seuchen‐ haft sich ausbreitenden Qualitätsmanagementsysteme, über das Internet als ge‐ waltiges Instrument der Überwachung führt ein gerader Weg zur Eindimensionalität des politischen Diskurses. Die Daten werden wichtiger als das Denken und Daten scheinen einfache Lösungen nahezulegen. Trumps »Make America great again« ist politisch ebenso inhaltsleer wie die Slogans nahezu aller Parteien - das ist im Wahlkampf nichts Neues, aber statistisch un‐ termauert (auch Thilo Sarrazin argumentiert in seinem vielkritisierten Buch Deutschland schafft sich ab hauptsächlich mit Daten und verschleiert so durch scheinbare Wissenschaftlichkeit die ideologischen Prämissen seiner Schlussfol‐ gerungen [vgl. Sarrazin 2010] - auf Statistik beruhende Argumentation durch‐ zieht das ganze Buch). Dazu kommt eine stetig wachsende Tendenz zur Mei‐ nung, zur billigsten Polemik (eigentlich oft zur Beleidigung, denn wirkliche Rhetorik findet sich selten). Absurderweise fördern gerade die so rational scheinenden Datenberge ihre meinungsbasierte Auslegung - die sich am besten in einem symbolkräftigen Bild zusammenfassen lässt. Während die Wirtschafts‐ experten das Ende des Euros beschwören, widmen sich die selbstgekürten Is‐ lamexperten dem notorischen Untergang des Abendlandes und die Demogra‐ fieexperten rechnen die gewaltlose Übernahme durch die fremden Horden aus. Das Weltbild der Flüchtlinge ist nicht kompatibel mit unseren Werten, aber sie überschwemmen uns. (»Unsere Kultur«, »Unsere Heimat«, wie die AfD stolz als diffuses Ziel einer Politik präzisiert, die sie mit Katalogfotos deutscher Land‐ schaften im Stil neoromantischer Kitsch-Idyllik unterfüttert.) Nicht nur die um Mitglieder bangenden Parteien aller Couleur, auch die alte Tagespresse und nicht zuletzt die Kirche bedienen dieses Niveau. Einfache Ursachen, einfache Wirkungen, einfache Medikation. Dass Internetriesen wie Facebook und Twitter solche Tendenzen rasant beschleunigen ist evident, ebenso aber der Hobby-Jour‐ nalismus auf neuen Formaten wie der Huffington Post. Und der Wissenschafts‐ betrieb? Schaut man sich an, wie die Universitäten sich bemühen, die potentiell neuen Studierenden zu erreichen, so regieren auch hier das Bild und der flotte Slogan. Multikulturell gemischte Gruppen dynamischer junger Menschen, die das ob‐ ligatorische Dauerlächeln im Gesicht tragen, sollen Identifikationsfläche für eine Generation bieten, die man sich offenbar so vorstellt, dass sie alles gern leicht und spaßig mag. Das alte Mantra: »Daß man sich Spaß, Genuß und Ab‐ wechslung zu verschaffen hatte, war das einzige, was gestern, heute, morgen und unwiderruflich in alle Ewigkeit feststand.« (Döblin 1959: 62) Dazu passen die neuen Marken des wissenschaftlichen Betriebes: postkolonial, hybrid, trans‐ kulturell und interkulturell (und hier bin ich nun angekommen im dezidiert geisteswissenschaftlichen und präziser noch literaturwissenschaftlich-germa‐ nistischen Diskurs). Saids Orientalism, Bhabhas Location of Culture und Spivaks Can the subaltern speak sind drei herausragende Arbeiten, die immer noch in‐ novativ auf den gegenwärtigen Diskurs ausstrahlen können. Aber immer häu‐ figer führen sie in eine Sackgasse. Als wäre es noch besonders fruchtbar, eine Situation als immer noch postkolonial zu deuten, wenn wir nicht überlegen, was daraus für Schlüsse zu ziehen sind; wenn etwas als hybrid bezeichnet wird, be‐ Swen Schulte Eickholt 248 kommt es mittlerweile so ein Air von Modernität, Flexibilität und Dynamik (ähnlich den herbeigesehnten Attributen des neuen Arbeitnehmers) und scheint per se gut. Transkulturell - Wolfgang Welsch hat hier mit langem Atem blei‐ bende Schäden angerichtet - ist zu einem Schlagwort verflacht, das immer dann herbeizitiert wird, wenn man sich den Kollateralschäden der Globalisierung nicht intellektuell stellen möchte. ›Eigentlich sind wir doch längst alle zu einem Teig verknetet‹ ist der Subtext zu einer Wohlfühlphilosophie, die den Vorteil hat, sich vehement gegen rechts positionieren zu können, ohne glaubhaft Al‐ ternativen anbieten zu müssen. Und nun also die Interkulturelle Hermeneutik. Die missratene Stiefschwester der neuen Ismen und Turns. Wahlweise wird sie auf die - natürlich längst mit Stumpf und Stiel beerdigte - Imagologie oder auf ambitionierte Projekte der Kulturvermittlung im Rahmen des Deutschen als Fremdsprache zurückgeführt und von den Wortführern des Liquiden als kulturkontrastiv abgelehnt, da alles Interkulturelle durch das verteufelte inter der binären Logik das Wort redet - und alles Binäre wollen wir nicht (Krieg, wenn man es zuspitzt, ist binär - aber freilich ist auch das eine grobe Vereinfachung). Ich möchte also im Folgenden drei Lanzen brechen: 1. für einen dynamischen Begriff des Interkulturellen; 2. für das Verstehen und 3. für eine engagierte und standortbestimmte Literatur‐ wissenschaft. Erst danach kann oder soll der hier zu Grunde liegende Kultur‐ begriff profiliert werden und der Abriss eines methodischen Zugriffs auf Lite‐ ratur im Rahmen der interkulturellen Hermeneutik geliefert werden. Dem Ort nach wird das polemisch und programmatisch ausfallen, also eher dem ent‐ sprechen, was oben kritisiert wurde, als der Art von Praxis, die eingefordert wird. Das mag man ironisch oder lächerlich finden, es ist aber bei jeder Pro‐ grammatik der Fall. Nicht der Slogan ist das Problem, sondern die völlige Fixie‐ rung auf den Slogan. Aber zur Sache, immer zur Sache: Das Feste und das Flüssige Hat Sergio Benvenuto das 20. Jahrhundert (und wohl eher die zweite Hälfte) als Jahrhundert der Öffnung (von Ecos offenem Kunstwerk über den offenen Dis‐ kurs bis zu den offenen Grenzen) bezeichnet (vgl. Benvenuto 2017: 43-45), so scheint nun, im 21. Jahrhundert, der gnadenlose Torschluss einzusetzen, die Grenze erlebt ihr großes Comeback. Wer nun den Islam aus seiner Kultur aus‐ klammert, der spart sich diese ermüdenden Diskussionen der offenen Gesell‐ schaft, die fast jeden von uns in ihren basisdemokratischen Schwundformen von Elternabenden, Vereinssitzungen und selbst familiären Streitereien über das Fernsehprogramm bisweilen auf die Nerven fallen - besonders, da schrittweise Make complexity great again 249 die Dinge, die zur Diskussion stehen, nichts mehr mit Partizipation zu tun haben, sondern mit Gestaltung im Rahmen enger Grenzen. Nachdem Huntingtons Thesen vom Clash of Cultures (vornehmlich der Zusammenstoß einer christli‐ chen mit einer islamischen Kulturregion) in der wissenschaftlichen Debatte nachdrücklich diskreditiert und mit stichhaltigen Argumenten widerlegt wurden, tut man sich offensichtlich schwer damit zu akzeptieren, dass die mei‐ nungsbildenden Hassprediger in Europa sich immer noch und mit immer wachsendem Erfolg gerade dieses Konfliktmodells bedienen. Bedient und for‐ ciert Huntington ein Kulturmodell, das monolithische Blöcke vorsieht, die wie Billardkugeln aufeinanderschlagen, so hat Wolfgang Welsch mit guten Gründen ein solches Kulturmodell attackiert - wobei er das Kind mit dem Bade ausge‐ schüttet und zuvor noch jegliche Theorien des Interkulturellen ein wenig un‐ sauber ins Badewasser hineinargumentiert hat. Es geht mir hier nicht um Vo‐ kabeln, sondern um Denkstrategien. Das ermüdende transkontra intermöchte ich hier nicht ausfechten. (Aber bitte, wer sich in diesen Ring begibt, gründlich und kritisch den Stand der Debatte rezipieren und nicht nur den alten Wolfgang, der schon bei seinen Herder-Zitaten nicht so ganz aufmerksam war [vgl. Kreutzer 2015].) Wo die Modelle gründlich und kritisch ausgearbeitet sind, äh‐ neln sie sich ohnehin zum Verwechseln. (Ein Schelm, wer hier Forschungsgelder und Deutungshoheiten hinter dem verbissenen Spiegelgefecht um unschuldige Vorsilben wähnt - dazu später noch ein wenig Goethe.) Inter hier also aus per‐ sönlichen Präferenzen und inhaltlichen Argumenten, die mir hier nicht wichtig sind (wer sich dabei wohler fühlt, kann fast gänzlich ohne Zahnschmerzen überall nach Belieben trans und inter tauschen). Folgen wir elaborierten Alteritätstheorien, ist Fremdheit einerseits relational und andererseits notwendig. Ein Bienenstaat mag eine Gesellschaft aus Gleichen sein, nicht aber jene Formen der Gruppenbildung, die wir mit dem Etikett ›menschlich‹ versehen können. Wenn mein Partner mir bisweilen fremd er‐ scheint, meine Kinder mir immer wieder fremd sind oder fremd werden und ich mir selbst oft genug ein Rätsel bin, wie kann man erwarten, dass man sich im Sinne einer transkulturellen Seligkeit überall zu Hause fühlt? Das sind Sozial‐ utopien des harmonischen und widerstandslosen In-der-Welt-Seins, die sich nicht einmal im kleinsten aller Dörfer verwirklichen lassen (aber unsere Sehn‐ sucht ist groß und mit jedem Tag größer). Drei Erwachsene in einer Wohnung und eine Woche wäre lang bis zum ersten Konflikt (von Kindern ganz zu schweigen). Da die elaborierten Alteritätstheorien einerseits Fremdheit und Al‐ terität noch differenzieren und andererseits diese in sinnvolle Stufen einteilen, scheint es verständlich, dass man sich alles vom Leibe halten möchte, was ein Swen Schulte Eickholt 250 bestimmtes Maß an Fremdheit überschreitet (und wiederum, wer sich in diesen Ring begibt, bitte zuerst die elaborierten Fremdheitstheorien lesen, bevor man pauschal alles Fremde gut findet, weil sich daran so trefflich lernen lässt - als wäre es so, dass man ständig lernen möchte. Das verfehlt ohnehin die derzeitige Rückzugsstrategie: die Flucht in die Arme des Nationalismus, und dort alles Fremde schlecht finden und auf keinen Fall etwas lernen wollen). Dann, auf der anderen Seite, die unerwarteten Übereinstimmungen, spontane Solidarität mit Wildfremden irgendwo auf der Welt, unerwartet heimische Ge‐ fühle an Orten, die man nie zuvor betreten hat - Gesten, Mimik, Blicke, Tonfall, Aufmerksamkeiten, Mitgefühl, das einen universell anspricht, ob von der ei‐ genen Mutter oder einem Obdachlosen in Peking geäußert. Das Maß an Ähn‐ lichkeiten scheint so gewaltig wie die Gräben, die uns trennen. Begeben wir uns in das Dickicht des symbolischen Deutungsgewebes, das wir hier ohne lange Herleitung Kultur nennen wollen (was weiter unten noch auszuführen ist), ver‐ hält es sich ganz ähnlich. So fremd ein Haiku sein kann, so merkwürdig eine Moschee oder ein Nikab, so vertraut mögen andere Aspekte dergleichen sym‐ bolischen Formationen erscheinen. Im Lebensverlauf werden wir unserem ver‐ gangenen Ich selbst fremd, während wir uns gleichzeitig immer vertraut bleiben - wer erfährt nicht manchmal irritiert, dass er vor nicht einmal allzu langer Zeit ganz gegenläufige Meinungen vertreten hat, ganz andere Einstel‐ lungen hatte als eben jetzt. Die Gegenwart ist stets bedeutungsvoll und all unser Trachten ist auf sie gerichtet. Und wiederum: ebenso die Kultur. Eine Pyramide ist ein Haufen toter Steine, eine Kirche ebenso. Ein Buch ist eine Ansammlung organischer Materie, mit konventionalisierten Zeichen bedeckt. Was es bedeutet erklärt sich immer im Moment - oder in der wissenschaftlichen Erschließung, was es in anderen Momenten gemeint haben könnte. So fest und unverrückbar jene Wahrnehmungsweise erscheinen mag, in die wir hineingeboren werden, sie ist es nicht. Vor dreißig Jahren hatte niemand Angst vor dem Islam (die Klischees waren vielleicht nicht weniger diskriminierend, aber im Allgemeinen von friedfertigerer Art - nicht einmal der Nah-Ost-Konflikt wurde als religiöser Konflikt wahrgenommen). Kaum vorstellbar. Es ließen sich abertausend Ge‐ schichten des fließenden Bedeutungswandels erzählen (so fließend bisweilen, dass man ihn gar nicht bemerkt) - von den zutiefst nationalen Werten ganz zu schweigen, die oft ebenso wie unsere Tradition sehr handgreiflich Erfindungen des 20. Jahrhunderts sind (greifen wir ganz beliebig den Schottenrock heraus, der so bildmächtig Tradition verbürgt und entwickelt wurde, um die eigentliche Tracht der Highlander für die Arbeit in der Fabrik tauglich zu machen [vgl. Giddens 2001: 51] - oder das Dirndl, eine städtische Erfindung, um ländliche Modevorstellungen zu bedienen: Mia san mia [vgl. Tostmann 1998: 11]). Er‐ Make complexity great again 251 staunlich, wie fest sich diese Vorstellungen kultureller Identität mit der Selbst‐ wahrnehmung verfilzen und gegen die anderen in Stellung gebracht werden - Wir sind nicht Burka (ein Kleidungsstück, das seine eigene Geschichte der Be‐ deutungszuschreibung hat [vgl. Wegener 2008: 52−56]). Interkulturell ist auf niedrigster Ebene jeder ernsthafte Kontakt mit einem Anderen, da keine zwei Weisen, die Welt wahrzunehmen, deckungsgleich sind. In je mehr Aspekten unserer Identität(en) wir uns unterscheiden, desto größer mag dieses inter werden, da zunehmend mehr, was als selbstverständlich wahr‐ genommen wird, zur Disposition steht. Nimmt man es als psychologische Tat‐ sache hin, dass Menschen sich eher als Opfer denn als Täter sehen und dass ein großes Bedürfnis herrscht, die eigene Gruppe (die Menschen, die zufällig die nähere Umgebung der Geburt ausmachen) als moralisch überlegen wahrzu‐ nehmen, so ergibt sich nahezu zwangsläufig eine Bewegung aus Faszination und Abstoßung dem Fremden gegenüber. Dass Migrationsgeschichten diese Wahr‐ nehmungsweisen verkomplizieren, dürfte auf der Hand liegen. Dass der Mensch aber immer den Wunsch verspürt, einer starken Gruppe anzugehören, darf nie vergessen werden. Was uns so fest und unumstößlich erscheint, diese Akkumulation von Ge‐ wohnheiten und Wahrnehmungsweisen, die derzeit als Identität immer wieder fixiert werden sollen, befindet sich im ständigen Fluss, bleibt Sache permanenter Aushandlung. Und das auf allen Feldern unseres gesellschaftlichen Seins. Dass die Literatur stetig wechselnden Bewertungskriterien unterliegt, kann dabei wenig überraschen. Dass die interkulturelle Literatur, die unterschiedlich sinn‐ voll definiert wird, nun Brücken bauen soll, ist eine eigenartige Vorstellung. Dadurch wird hinten wiedereingeführt, was vorne dementiert wird: festgefügte Kulturen. Das inter ist wichtiger als das kulturell. Das inter ist der Zwischen‐ raum, die Lücke, wenn es sein muss gar der third space, von dem aus verhandelt wird, was zu gelten hat - für jedes Individuum, das den Sprung aus dem eigenen Wahrnehmungskäfig wagt, nicht für Kulturen, die sind ohnehin nur fiktive Ge‐ bilde. Die Wut des Verstehens - das Verstehen der Wut In einer Zeit, in der das Ende der Geschichte in Sicht war, scheint es nur plausibel, dass eine Verstehenslehre wie die Hermeneutik, die das Versprechen der Auf‐ klärung nach stetiger Vergrößerung des Wissens einzulösen schien, hoch im Kurs stand. Eine rationale Tätigkeit, passend zu der rational bezwungenen Welt. Lässt sich die Romantik mittlerweile bei allem Widerspruch auch als Aufklärung mit anderen Mitteln begreifen, so scheint auch der (Post)Strukturalismus nicht Swen Schulte Eickholt 252 wirklich ein Widerspruch zu der Vorstellung des unaufhaltsamen Fortschritts des Verstehens zu sein (nur dass Individuen durch Strukturen ersetzt wurden und die Vokabel verstehen vermieden wurde). Haben die ökologischen Katastrophen der Gegenwart die Vorstellung der technischen Superiorität des Menschen nachhaltig widerlegt, so die Zersplitte‐ rung unseres Weltbildes die so sicher scheinende Verstehbarkeit der Welt. Wer versteht denn noch einen in Pariser Vororten blitzradikalisierten Amokläufer, der es ohne Rücksicht auf sein Leben unternimmt, wahllos so viele Menschen wie möglich zu ermorden. Ausgerechnet Paris, Ausgangspunkt von Aufklärung, Menschenrechten und Demokratie (wie besonders französische Lesarten der Geschichte es nahelegen). Wollen wir das verstehen? Können wir das verstehen? Nutzt verstehen da überhaupt noch etwas? Offensichtlich reichen rationale Erklärungsmodelle da nicht aus. In dem Maße, in dem Formen wie emotionale Intelligenz in der Psychologie verankert werden, sollte man sich auch den emotionalen Komponenten des Verstehens stellen. Jeder Wahrnehmung mag eine doppelte Struktur von Attraktion und Repulsion zu Grunde liegen - Aspekte der Sache ziehen mich an, andere stoßen mich ab. Ebenso jeder Kontakt mit einem anderen, einem Kunstwerk, einer fremden Gesellschaft, etc. Beides fordert den Wunsch heraus, zu verstehen. Diesen Wunsch, mit Blick auf die Dynamik meiner Kultur, muss ich als ort- und zeitgebunden respektieren. Auch das Verstehen ist somit grundiert in Ort, Zeit und Subjekt des Verstehens. Jochen Hörisch hat am Gipfelpunkt der hermeneutischen Verstehensschwel‐ gerei von einer Wut des Verstehens gesprochen und etwas süffisant darauf verwiesen, dass Hermes, mythologischer Urvater des Verstehens, im Grunde genommen ein ziemlicher Trickster war, der für ein solides, wissenschaft‐ lich-objektives Verstehen schlecht Pate stehen kann, der selbst die Verwirrungen erzeugt, die er dann auslegend auflöst. (vgl. Hörisch 1988: 9-16) Hermes aber, wie der Trickster überhaupt, konnte für den Moment für sein Anliegen über‐ zeugen, verstand alles, was er für die Situation brauchte. Das ist utilitaristisch! Pfui, mag man denken - Adorno und Horkheimer nicken gewichtig -, das wollen wir nicht. Aber wenn wir es recht bedenken, bleibt uns nichts anderes übrig. Es gilt kein: Der Zweck heiligt die Mittel (und auch keine forcierte Ver‐ komplizierung der Texte), wie Hermes es wohl betrieben hat, aber ein: Verstehen ist an einen Zweck gebunden. Was kann dieser Zweck sein? Lange und gegen‐ wärtig hat man sich auf abstrakte Größen wie die Reinheit der Forschung oder für die Geisteswissenschaft fragwürdige Objektivitätsideale berufen. Dadurch waren die Verstehensakte und die Forschungsergebnisse natürlich nicht ob‐ Make complexity great again 253 jektiv, aber man konnte die latenten Zwecke ausblenden, sich die sozio-histo‐ rische Bedingtheit der eigenen Erkenntnis verleugnen. Das sollten wir lassen. Kommen wir von der Wut des Verstehens zurück zum Verstehen der Wut. Welchen Zweck kann das also haben? Argumentieren wir aufklärerisch optimistisch, muss es lauten: Weltfrieden - und wieder in die Uto‐ piefalle getappt. Aber könnte man sich nicht an einem Projekt wie Hans Küngs Weltethos orientieren? Siehe da, Vertreter aller Religionen sind sich über grund‐ legende Werte des Zusammenlebens einig. Stärken wir Versuche eines inter‐ kulturellen Humanismus. Wir brauchen eine ethische Grundierung der For‐ schung. Nicht nur stillschweigend vorausgesetzt, sondern explizit. Werden wir etwas programmatisch: • Eine interkulturelle Hermeneutik versteht Kontexte. Sie maßt sich nicht an, Wahrheit zu ergründen, aber Standpunkte zu profilieren. Eine inter‐ kulturelle Hermeneutik sieht den Verstehensprozess an den eigenen Standort gekoppelt. Eine interkulturelle Hermeneutik setzt ihren Denk‐ bewegungen keine Grenzen. Als Methode wissenschaftlichen Arbeitens verstanden, verabschiedet sie den für die Philologie nie ganz passenden Anspruch, eine exakte Wissenschaft zu sein, sie lässt sich auf Ungewiss‐ heiten, Inkohärenzen, Aporien und Unabschließbarkeit ein. Im Sinne Ly‐ otards sucht sie den Widerstreit. • Inter-kulturell ist sie nicht, weil sie das noch größere Modell vereinfa‐ chender Weltorientierung unterstützt, den clash of cultures. Inter-kultu‐ rell ist sie, weil sie Unterschiede in der symbolischen Deutung von Wirk‐ lichkeit wahrnimmt und aufarbeitet. Diese Unterschiede sind nicht an Landesgrenzen gekoppelt, sehr wohl aber von nationalem Selbstver‐ ständnis in sehr unterschiedlichem Ausmaß geprägt. • Eine interkulturelle Hermeneutik ist Methode einer engagierten, einer intervenierenden Literaturwissenschaft. Empört euch! Man kann sich nicht leicht Germanisten denken, die sich empören. Allgemein denkt man sich gräuliche, alte Herren, die in staubigen Zimmern zwischen di‐ cken, in Leder eingebundenen Büchern sitzen und bisweilen amüsiert husten, wenn sie unter Rascheln die Seiten wenden (im Stillen summen sie Schillers Glocke). Aber siehe da, man hat sich getäuscht. (Aber man täuscht sich ja immer.) Auf der ganzen Welt findet man merkwürdig nervöse und agile Gestalten, die sich einer Art Gegenglobalisierung verbunden fühlen, die sich vehement und wenig gehört für einen Länderkontakt auf Augenhöhe einsetzen, die den Zweck‐ Swen Schulte Eickholt 254 rationalismus des DAAD (Wir brauchen deutschsprachige Facharbeiter) sanft bekämpfen (sanft, denn wer beißt gern die Hand, die ihn füttert? ). Es kommt selbst mir eigenartig vor, dass ausgerechnet die Germanisten, deren Verfilzung mit dem Nationalsozialismus noch zu wenig aufgearbeitet ist (Stichwort deut‐ sches Schrifttum), nun die Fahne einer gerechten Globalisierung schwenken. Aber es ist gut und richtig so. (Und natürlich sind sie nicht allein.) Aber es sollte methodisch sicherer verankert werden. Trauen wir uns, un‐ seren Anspruch auf Teilhabe zu artikulieren. Es sollte nicht immer DaF drauf‐ stehen müssen, damit Gelder fließen. Sprechen wir ruhig vom Wissen der Lite‐ ratur, wagen wir die Behauptung, dass wir Verstehenspotential haben, das ein bilateraler Handelsvertrag nie produzieren wird. Damit ist keine literaturge‐ schichtliche Option auf die Gegenwart verbunden, wie man einer Vielzahl von Untersuchungen auf dem interkulturellen Feld entnehmen kann. Öffnen wir uns der aktuellsten Gegenwartsliteratur, pflegen wir die Klassiker (ja, natürlich be‐ zieht sich cultura ursprünglich auf die Pflege des Ackers). Aber setzen wir dieses Wissen ein für Verstehens- und Verständigungsprozesse. Und schließlich: Schauen wir über den Tellerrand. Bekennt man sich zu einer interkulturellen Germanistik, bleibt es nicht aus, dass jemand im Tonfall milder Ironie hinzufügt (zumeist ein Komparatist): »Was auch immer das sein soll.« Gut, was soll das also sein? Eine Literaturwissenschaft, die sich zu ihrem Standort bekennt. Die eine Geschichte hat (eine schwere, das hat sie schon im Namen) und eine spezifische Form wissenschaftlicher Enkulturation bedingt, die allerdings mit Traditionspflege nichts mehr zu tun hat. Die oben geforderte Pflege der Klassiker meint eine Aktualisierung nicht im Sinne traditioneller Werte, sondern - und hier muss dann doch einmal differenziert werden - eine Offenlegung des transkulturellen Gehaltes der Werke durch die interkulturelle Arbeit. Klingt es zu sehr nach Walter Benjamin, wenn gleichsam eingefordert wird, den klassischen Stoff aus dem traditionellen Zusammenhang zu sprengen? Eine interkulturelle Germanistik (in diesem Sinne! ) ist eine Literaturwissen‐ schaft, die aus der intensiven Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Lite‐ ratur und der Kulturentwicklung in diesem Kulturraum auf andere Literaturen blickt und diesen Wechselblick fruchtbar gestaltet und auf aktuelle Themen anwendet. Im dann doch wieder klassischeren Sinn käme ihr auch die Aufgabe zu, ein nationales Selbstverständnis interkulturell zu formulieren und zu ver‐ mitteln. Freilich gibt es eine Geschichte der interkulturellen Germanistik und ein Fach dieses Namens. Beide bilden aber nur die Vorgeschichte der hier skiz‐ zierten Praxis, die allerdings schon geübt wird. Im Großen und Ganzen obliegt uns noch die Ausbildung der Deutschlehrer - zu unserem Leidwesen, hätte ich lange gesagt. Aber vielleicht ist das falsch, denn Make complexity great again 255 die zunehmende Didaktisierung des Studienganges tut ihm nicht gut. Die Stu‐ dierenden wissen nun sicher, dass sie Kompetenzen vermitteln sollen und was die KMK fordert, aber wie sie diese Kompetenzen inhaltlich gestalten sollen, geht ihnen schrittweise verloren. Eine interkulturelle Hermeneutik als Arbeits‐ praxis auch an den Schulen dürfte mehr bewirken als jeder noch so eloquent durchgeführte Medienwechsel im Unterrichtsgeschehen. (Derart qualifizierte Lehrer*innen begehen auch nicht mehr den Fehler, die Türken in der Klasse verstehen zu wollen und als Fremde auszustellen.) Befragen wir unsere Texte von der Gegenwart her. Im Curriculum des Deutschunterrichts ist beim Umgang mit Literatur die Wirkung auf die Identitätsbildung der Jugendlichen fest ver‐ ankert - vielleicht sollten wir das ernst nehmen und als Chance begreifen; der Mangel an gesellschaftlichen Leitbildern ist offenkundig. Die meisten Darstellungen, die sich mit inter-, trans- oder sonstwie-kultur‐ ellen Phänomenen beschäftigen, haben einen blinden Fleck: die Kultur. Alle mehr oder weniger profilierten Versuche, diese zu definieren, bleiben irgend‐ wann im Ungefähren stecken und in der literaturwissenschaftlichen Praxis findet sich bei allen mantraartigen Beschwörungen im Sinne des Zeitgeistes (Kulturen sind flüssig, gehen ineinander über, sind verflochten, nicht herme‐ tisch, nicht homogen - hauptsächlich also nicht irgendetwas bestimmtes) ganz en passant zumeist eine Gleichsetzung von Kultur und Nation oder Ethnie. Aus Verlegenheit gewissermaßen, denn es hat sich nichts angeboten, um die Lücke zu füllen, welche die Überwindung der Nation gerissen hat. Durch diesen Fi‐ xierungsnotstand schleicht die nationale Färbung der Literatur immer wieder herein. Die deutsch-türkischen Verhältnisse beziehen sich also auf eine deutsche und eine türkische Kultur? Zu Beginn einer Tagung wird programmatisch er‐ klärt, die Kultur gibt es natürlich nicht (zustimmendes Nicken), im Verlauf kann dann wieder unbedarft von deutschen und türkischen Kulturen gesprochen werden. Schuld ist der blinde Fleck. Bleiben wir also dabei: Kultur gibt es nicht. Es ist ein Hilfskonstrukt, um Wahrnehmungsmuster zu verstehen. Wenn diese dynamisch sind und unsere Handlungen bestimmen, gibt es eigentlich nur Kul‐ turhandeln. Es gibt dann auch keine Interkulturalität, sondern nur interkultu‐ relle Situationen oder Konstellationen. Wie gesagt, jede Begegnung wäre dann interkulturell und wie wir Grade der Fremdheit haben, haben wir dann auch Grade der Interkulturalität (die als Denkfigur so stehen bleiben darf). Wer möchte, kann hier auch ›transkulturell‹ einsetzen. Und was genauer ist Kultur‐ handeln? Die Produktion symbolischer Deutungsangebote, bzw. deren Varia‐ tion. Ein Kopftuch ist ja materiell nur ein Stück Stoff. Stoff zu produzieren kann man eine Kulturtechnik nennen, aber es wäre im Sinne der Klarheit, wenn man für diese Bereiche der materiellen Kultur den Begriff der Zivilisation verwendet. Swen Schulte Eickholt 256 Kultur ist das Stoffstück erst, wenn es etwas bedeutet. Was es bedeutet, liegt nicht im Stoff, sondern in unserem Blick auf ihn. Dieser Blick wird im Austausch mit der Umwelt immer wieder verändert, variiert oder gar verkehrt. Das, in aller gebotenen Kürze und begrifflichen Zurückhaltung, ist Kulturhandeln. Es dürfte offensichtlich sein, dass Literatur (aber natürlich auch Film und bildende Künste, die wir nicht so stark ausklammern dürfen, wollen wir als Kulturwissenschaft ernst genommen werden) einen machtvollen Beitrag zu diesem Kulturhandeln leistet beziehungsweise als solches zu verstehen ist. Und schließlich die Nation. Sie ist nicht passé, nicht überwunden, nicht über‐ flüssig und besonders an den Grenzen alles andere als ein Konstrukt, sondern ein handfester Rechtsraum. Der nationale Gedanke ist - und wird es für lange Zeit bleiben - der stärkste Pull- und Pushfaktor für das kulturelle Deutungsge‐ webe der meisten Menschen (neben Ethnie und Religion). Diese Realität muss man ernst nehmen und nicht durch die gut gemeinte Betonung unserer Ähn‐ lichkeiten und der transkulturellen Vernetzung (die ja existiert und eine macht‐ volle Ressource ist! ) marginalisieren. Es ist zu betonen, dass eine interkulturelle Hermeneutik, die sich in diesem Kontext einordnet, keinesfalls immer ein sinnvoller Zugriff auf Texte ist. Ich verstehe sie als eine eher angewandte Literaturwissenschaft (was der bisher eher theoretischen Auseinandersetzung mit Hermeneutik entgegen läuft). Als Me‐ thode baut sie auf den anderen Disziplinen der Literaturwissenschaft auf. Sie braucht die Narratologie als fachwissenschaftliches Rüstzeug, sie braucht die kritischen Editionen als sichere Basis, sie braucht die intensive Auseinander‐ setzung mit einzelnen Autoren und ihren Werken zur fundierten Einordnung - und immer so weiter und zunehmend interdisziplinär. Was Chance und Gefahr zugleich ist, denn bei einer Vielzahl neuerer Artikel regen sich Zweifel, ob es sich überhaupt noch um Literaturwissenschaft handelt oder nicht um eine merkwürdig unbestimmte Kulturwissenschaft, die sich sorglos und unmetho‐ disch zu allem äußert - und damit selber eine bedenkliche Nähe zum Bereich der Meinungen bekommt. Wie bringt man kulturell ferne Texte in ein Gespräch? Über ein verbindendes Thema. Die Komparatistik arbeitet schon dem Namen nach schwerpunktmäßig vergleichend (allerdings gibt es jüngst sehr spannende Arbeiten und es wäre wünschenswert, hier nicht in ein Konkurrenzverhältnis zu geraten) und sucht stärker nach nachweisbarer Beeinflussung. Vergleichend ist das Vorgehen aber nicht schwerpunktmäßig und eine Rezeptionsrichtung ist durch das verbin‐ dende Thema gar nicht wichtig. Wenn ich - einmal ganz beliebig - das entin‐ dividualisierte Schreiben von Alfred Döblin mit dem von Syl Cheney-Cocker in Verbindung bringen möchte, um den Blick auf das Verhältnis von Individuum Make complexity great again 257 und Kollektiv mit Hilfe der beiden Autoren zu schärfen, dann braucht Cheney-Cocker Döblin nicht gelesen zu haben. Der Kontext des Schreibens ist wichtig, der kulturelle Rahmen im Sinne des symbolischen Deutungsgewebes muss so gut wie möglich rekonstruiert werden. Dann kann erarbeitet werden, was Alfred Döblin zu dieser Schreibweise motivierte und was sie ihm ästhetisch einbrachte, ebenso für Syl Cheney-Cocker. Mit den Ergebnissen aus jeder Ein‐ zeluntersuchung kann die Untersuchung des anderen Autors bereichert werden. Die Verfremdung des Blicks durch die fremde Literatur ist dabei ungewöhnlich produktiv. Das bedingt automatisch einen Rückgriff auf Übersetzungen. Das ist aus of‐ fensichtlichen Gründen problematisch, aber wenn der Kanon nicht im alten Muster stecken bleiben soll, unvermeidlich. Der Abweichung vom Original sollte man bei seiner Textarbeit ebenso Rechnung tragen wie der begrenzten Möglichkeit, fremdes Kulturhandeln umfassend darzustellen (andererseits werden Fragen von Übersetzung und Übersetzbarkeit zum Thema gemacht). Im besten Falle ergibt sich durch den interkulturellen Doppelblick ein dreifacher Erkenntnisgewinn: Über den deutschsprachigen Autor und seine Kultur, über den fremdsprachigen Autor und seine Kultur, über das verbindende Thema (vgl. insbesondere Kreutzer 2009). Ein noch ungenaues Konzept wie Weltethos lässt sich über das so erarbeitete Wissen aus der Literatur interkulturell grundieren, in seiner Reichweite erhöhen und in seinem Umfang präzisieren. So verstanden ist die interkulturelle Hermeneutik ein Projekt, das durch seine Stoßrichtung, die im Grunde utopisch ist, sehr angreifbar wird von einem em‐ pirisch-rationalen Wissenschaftsbegriff. Vielleicht braucht sie die Bereitschaft zum wilden oder wenn man es gerne möchte hybriden Denken. Im Sinne Goethes gilt: Höre den Rat, den die Leier tönt; Doch er nutzet nur, wenn du fähig bist. Das glücklichste Wort, es wird verhöhnt, Wenn der Hörer ein Schiefohr ist. (Goethe 1981: 34) Und schließlich, da es hier ja auch um die Zukunft der Literaturwissenschaft geht, braucht es auch eminent politischen Willen, braucht es sichere Perspek‐ tiven in der Forschung, die sich in quantitativ weniger, qualitativ hochwerti‐ geren Publikationen äußern sollten. Es braucht Flexibilität im Unterricht an Schulen und Universitäten und einen Wissenschaftsbetrieb, der Engagement und Leistung honoriert und nicht Heerscharen motivierte Nachwuchswissen‐ schaftler wissentlich verheizt. Es reicht nicht aus, das alles irgendwie schlecht und betrüblich zu finden. Nur Kulturhandeln schafft Veränderung. Die inter‐ Swen Schulte Eickholt 258 kulturelle Hermeneutik, wie sie hier ansatzweise umrissen wurde, stellt sich der Komplexität einer Welt aus den Fugen und interveniert gegen die Vereinfachung globaler Prozesse - die nicht selten eine gewaltsame Strategie ist, alles Unbe‐ kannte dem Eigenen anzupassen oder auszugrenzen. Eine so verstandene in‐ terkulturelle Germanistik reaktiviert die gesellschaftskritische Dimension von Kunst, die durch die Vielzahl der letzten Turns zunehmend aus dem Blickfeld geriet. Literatur Benvenuto, Sergio (2017). ›Maulwurf der Differenz. Antieuropäischer Populismus, die Maschinenstürmerei der Globalisierung.‹ Lettre International, 117, 43-45. Döblin, Alfred (1959). Märchen vom Materialismus. Stuttgart: Reclam. Anthony Giddens (2001). Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goethe, Johann Wolfgang von (1981). ›Westöstlicher Divan‹, in: Johann Wolfgang von Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 2: Gedichte und Epen II. Textkritisch durch‐ gesehen und kommentiert von Erich Trunz. München: dtv. Hörisch, Jochen (1988). Die Wut des Verstehens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kreutzer, Leo (2009). Goethe in Afrika. Die interkulturelle Literaturwissenschaft der »École de Hannovre« in der afrikanischen Germanistik. Hannover: Wehrhahn. Kreutzer, Leo (2015). ›Die Herder-Legende oder: Wie Wolfgang Welsch Herder zitiert‹, in: Leo Kreutzer. Dialektischer Humanismus. Herder und Goethe und die Kultur(en) der globalisierten Welt. Hannover: Wehrhahn. Tostmann, Gexi (1998). Das alpenländische Dirndl. Tradition und Mode. Unter Mitarbeit von Karin Hausherr und Bibi Mitterbauer. München, Wien: Verlag Christian Brand‐ stätter. Sarrazin, Thilo (2010). Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. 14., durchgesehene Auflage. München: Deutsche Verlagsanstalt. Wegener, Martina (2008). »Licht über Licht« - Die Vernunfttradition des Islam. Kulturelle und religiöse Aspekte eines Dialogversuchs. Frankfurt am Main: Peter Lang. Make complexity great again 259 16 Dem konformistischen Text widerstehen John Kinsella (übersetzt von Lukas Müsel) Texte werden ›gelehrt‹, um verschiedene Formen oder Widersprüchlichkeiten menschlicher Existenz aufzuzeigen; um Dinge einzuordnen, um einen Werk‐ zeugkoffer bereitzustellen, mit dem die Welt über den Text als ›Ding an sich‹ erschlossen werden kann. Der Dozent öffnet damit oftmals die Türen in Rich‐ tung Konformität und Regeltreue, obwohl er vielleicht denkt, genau das Ge‐ genteil zu tun. Nur wenn ein Text eine gewisse (in Oppositionen ausgedrückte) Unruhe und Erschütterung bewirkt, könnten die Jahre an der Universität viel‐ leicht Jahre scheinbarer Freigeisterei sein; vielleicht sogar Jahre eines schein‐ baren Radikalismus - aber nur, solange sie es dem klassischen Studenten er‐ möglichen ›Dampf abzulassen‹, bevor er Der Bürger wird; bevor er ein Faktor in der Aufmachung von Unternehmen und Staat wird. Universitäten spielen ein doppeltes Spiel. Einerseits sind sie grundlegend konservativ (die Finanzierung hat das Sagen - Wissen ist eine Ware), anderer‐ seits fördern sie einen ›kritischen Geist‹. Universitäten und andere Bildungs‐ einrichtungen können auf vielfache Weise als Institutionen gesehen werden, die Ausbrüche ›radikaler‹ Gedanken für den Staat handhaben, anstatt als Nähr‐ boden einer Bewegung gegen ihn zu fungieren. Natürlich gab es in der Ge‐ schichte überwältigende Ausnahmen, die aus der subversiven Lektüre von Texten hervorgingen; einer Lektüre, die den Lehrer weit hinter sich lässt. Texte sind nicht, was sie uns vorgeben zu sein; sie sind das, was wir sie sein lassen wollen. Wonach also frage ich? Nach genauen Lektüren, die unseren eigenen Kon‐ servatismus und unser Versagen zu handeln entlarven - egal wie gewissenhaft wir zu sein glauben. Solange wir Teil der Universität sind, wird unser Aktivismus eingeschränkt bleiben. Das sollte so nicht sein! Wenn wir uns mit einem Text wie Montherlants Les Jeunes Filles beschäftigen, sollten wir angestachelt werden gegen Misogynie zu kämpfen, weil das Werk an sich frauenfeindlich ist. Wenn wir Wilfred Owens Anti-Kriegs-Gedichte lesen, sollten wir Widerstand gegen Krieg leisten, weil diese Gedichte die Gräuel des Krieges zeigen. Zwei Arten des Aktivismus - eine unbeabsichtigt (so denken wir) und die andere beabsichtigt? Obwohl diese Texte vielleicht zu einem ge‐ wissen Weltbild beitragen, obwohl der / die Lehrende ein solches Weltbild viel‐ leicht bestärkt, werden sie in Wirklichkeit zu Bildern in einem persönlichen Puzzle, zu einer persönlichen Dekodiermatrix der Ungerechtigkeiten der Welt. An der Universität ist es derzeit unmöglich - und ich hoffe, das kann sich noch ändern -, dass Lehrende und Studierende ihre Lektüren auf die Ebene eines geteilten, gemeinsamen Widerstandes heben. Die Erkenntnisse, die an der Uni‐ versität aus der Textarbeit gezogen werden, müssen mit einer breiteren Ge‐ meinschaft geteilt werden - es sollte keine Trennung in ›town and gown‹ geben, wie es in Cambridge heißt. Ein solch genuines Teilen textlichen Wissens würde aller Wahrscheinlichkeit nach genau die Institutionen untergraben, von denen die Leser*innen Teil sind. Gut. Als Pazifist gehe ich dieses Argument aus einem sehr bestimmten Blickwinkel an. Ich will gewaltlosen Widerstand sehen - immer. Ich will, dass die Analyse von Texten zur Artikulation des Widerstands gegen Kräfte der Exklusion und Unterdrückung führt. Die Universität mag vielleicht über ein offizielles Regel‐ werk verfügen, das kulturelle, ethnische, geschlechtliche und sogar politische Vielfalt unterstützt, aber sie wird niemals eine Position unterstützen, welche die administrative Basis angreift, auf der sie besteht. Da ich auch von einem anarchistischen Standpunkt ausgehe, glaube ich, dass Universitäten als Kumulierungen kleinerer Gemeinschaften operieren sollten, in denen Rechte - und ich schließe hier Tierrechte kategorisch mit ein - absolut sind und Meinungsverschiedenheiten zentral und gewünscht. Nichtüberein‐ stimmung ist die Essenz des Verstehens - doch funktioniert das nur innerhalb eines Diskurses, der auf gegenseitigem Respekt basiert. Auf diese Art und Weise können Geflüchtete und ›Bürger*innen‹, das Religiöse und das Säkulare, das ›Radikale‹ und das ›Konservative‹ nebeneinander bestehen und vielleicht sogar durch gegenseitigen Input aneinanderwachsen. Exklusion ist nicht Aufklärung. Wir leben in rechtsextremen Zeiten. Doch wenn wir über Nationalstaaten, Stadtstaaten und Imperien reden, sind wir mit einer Geschichte konfrontiert, die mit wenigen Ausnahmen durch Niederschläge rechtsextremer Unterdrü‐ ckung gezeichnet ist. Was weltweit für die politische Linke und die ethische Linke (das ist nicht unbedingt ein und dasselbe) als Überraschung kam, ist die Offenbarung einer dreisten Unverschämtheit, mit der die Lehren des rechten Parteitums sich als individualisierter Diskurs innerhalb der Gemeinschaft einschlichen. Im Zeitalter der sozialen Medien sollte das nicht überraschen. Die scheinbare Freiheit (›falsche‹, ›wahre‹ oder ›halb-wahre‹) Informationen zu be‐ John Kinsella 262 ziehen und zu teilen hat die Freiheit zur Folge, Meinungen auf noch nie dage‐ wesenen Wegen außerhalb des Dorfes, außerhalb der Familie zu teilen. Diese Informationsfreiheit wird jedoch oftmals dazu benutzt, die Standpunkte und Vorrechte anderer zu überwachen und zu kontrollieren. Viele von uns haben selbst ihre eigene Überwachung eingerichtet; wir haben uns den Kräften der neoliberalen Rechten auf einer persönlichen Basis zugänglich gemacht, wäh‐ rend wir uns - dadurch, dass wir uns der Informationstechnologie nicht ent‐ halten - gleichzeitig dem korporativen Staat anbieten. Wir bringen vielleicht mehr ›Wissen‹ in die Lektüre eines Textes ein, aber wir lesen diesen Text zu‐ nehmend gemeinsam mit anderen, die uns ausnutzen, manipulieren und uns über die Schulter schauen. Diese anderen sind bezüglich der Untersuchung und (Nach)prüfung des Textes auf produktive und gerechte Zwecksetzungen nicht hilfreich. Sie fungieren als eine Art Marktbefrager um ihre Verkäufe, ihre Kon‐ trolle, ihre Ausgrenzungen zu steigern. Wenn wir das erlauben - und falls wir ein Handy oder eine Kreditkarte besitzen, unterwerfen wir uns willentlich dieser Überwachung -, wird selbst der / die ›radikalste‹ Leser*in eines Textes konform. Agitation wird zu einem Emoticon und keine produktive Kraft für einen posi‐ tiven Wandel. Ich möchte daher eine etwas gewagte These aufstellen - es wird jedoch noch ein wenig brauchen dahin zu gelangen … Bevor wir im Plenum einen bestimmten Text diskutieren, haben wir ihn zu‐ hause wahrscheinlich bereits gelesen und darüber nachgedacht, die Umstände seiner Entstehung und die (wahrscheinlichen oder möglichen) Intentionen des Autors berücksichtigt. Wir können den Text komparativ diskutieren, indem wir andere Texte aus anderen Geographien, anderen Kulturen miteinbeziehen; wir können eine komplexe Matrix aus Anspielungen, Abweichungen, sogar be‐ wussten Auslassungen und Brüchen kreieren. Manche von uns werden viel‐ leicht andere aus der Gruppe mit ihrer destabilisierenden Lektüre, die ultimativ zum Zusammenfall von Ursache und Wirkung führt, zur Weißglut bringen. All das ist im Seminarraum möglich. Was ich aber behaupten würde, ist, dass wir Texte unweigerlich (und meistens unwissend) als unvermeidliche Konformitätshandlungen betrachten - egal wie radikal sie auch aussehen mögen. Nehmen wir zum Beispiel ein Gedicht von einem / einer radikalen Dichter / Dichterin, der / die bekanntermaßen gegen Ras‐ sismus, Umweltzerstörung, Kapitalismus, Militarismus und Bigotterie jedweder Form kämpft. Wir lesen es (hoffentlich …), weil wir der Unterdrückung der Staaten und den rechtsextremen Tendenzen internationaler Gemeinschaften entgegenwirken wollen - wir nutzen den Seminarraum für produktive Zwecke und unterrichten Methoden, Informationsverarbeitungsprozesse, Argumenta‐ Dem konformistischen Text widerstehen 263 tionsweisen, um sie auf das Leben innerhalb/ außerhalb der Universität anzu‐ wenden. Wir erlernen also die altbekannten Werkzeuge der klassischen Rhe‐ torik für moderne, radikal umweltbedingte Zwecke neu. Was machen wir aber wirklich? Wir identifizieren einen widerständigen Text, der wahrscheinlich bereits die Arbeit tut, die er in einer überbestimmt medien‐ fokussierten Welt tun soll. Wir stimmen ihm zu. Stattdessen sollten wir ihm - gerade da wo wir ›zustimmen‹ - eher widersprechen und ihn umschreiben. Wir sollten ihn weiterentwickeln, seinen eigenen Ausdruck, sein eigenes Engage‐ ment hinterfragen. Sobald ein Text stabil (d. h. ›lesbar‹) ist, verringert sich seine Effektivität als ›Anwalt des Widerstandes‹. Ein Text muss sich um die Analyse herumwinden; er muss ›schneller‹ sein als sie, damit er wachsen kann und nicht niedergehalten und festgenagelt wird. Indem wir ihn ›lernen‹, reduzieren wir ihn zu Anti-Aktivismus und Konformität - wir haben ihn (zumindest im Umfeld der Präsentation, nicht aber notwendigerweise überall sonst) stumm geschaltet. Was können wir also als Lehrende, als Studierende mit dem Text tun? Da ich nie zwischen Lehrenden und Studierenden unterschieden habe, müsste ich ei‐ gentlich sagen: Was können wir als Menschen in einer dialogischen (Text-)Ge‐ meinschaft mit dem Text tun? Naja … wir schreiben um, wir überarbeiten, wir rekontextualisieren und beziehen den Text darauf ›wo wir sind‹ und ›warum wir sind‹ und wie unsere Existenz andere beeinflusst und Abwesenheit oder Leerstellen erzeugt. Darum kommt kein literaturwissenschaftliches Seminar je‐ mals ohne Kreativität aus. Literarisches Schreiben ist kreatives Schreiben - und sollte das auch sein. Man kann diese beiden Arten des Schreibens schlichtweg nicht trennen. Der Text, den wir untersuchen, kann nicht nur am besten dadurch verstanden werden, dass man ihn umschreibt, verschiedene Versionen davon anfertigt, sondern auch indem man es ihm erlaubt, im ›Hier und Jetzt‹ zu leben und ihn dann weitersendet, ihn hinausschickt in die Gemeinschaft, wo er zu antikonformistischer, aufrührerischer Gestalt gelangt. Durch das Abweichen vom Bekannten, das Entfremden (Ostranenie), wird das ›dort‹ im ›hier‹ le‐ bendig. Ich möchte ein persönliches Beispiel anführen. Ich arbeite seit Jahren an Ver‐ sionen von Friedrich Hölderlins Gedichten - seitdem ich während des grauen‐ vollen Kriegs im Balkan seinen ›Turm‹ in Tübingen besucht habe. Ich habe eine Reihe von Gedichten geschrieben, die die globale Politik kritisieren und gleich‐ zeitig durch die ›Natur‹ des Ortes geprägt sind; die Natur der Lyrik, die des Dichters, dem das Denkmal errichtet wurde. Ich habe keinen Zugang zu den Feinheiten seiner deutschen Sprache und verlasse mich daher auf die Übertra‐ gungen anderer Schriftsteller ins Englische - eingeschlossen die meiner Part‐ nerin und die meiner akademischen Freunde. John Kinsella 264 Ich bleibe jedoch so nah an seinem Deutsch wie ich nur irgend kann, und vertiefe mich so sehr es geht in Dichtung, Poetik und den Dichter selbst. Ich glaube, ich verstehe diese Texte auf Wegen, die deutschen Muttersprachlern womöglich unzugänglich sind - vielleicht ist das gar nicht so, aber ich mag den Gedanken, dass es über persönliche Einbildungskraft, Motivation und sogar in‐ nere Getriebenheit möglich wird. Ich bringe in diesen Prozess tatsächlich ein Leben radikalen Aktivismus’ und radikaler Lektüren ein. Wenn ich ›Fantasias‹, ›Variationen‹ und ›Versionen‹ von Hölderlins Gedichten schreibe, ›übersetze‹ ich vielleicht nicht wortwörtlich was er schreibt, aber ich greife tief in den Verlauf der Dichtung und befördere etwas anderes, etwas Neues an die Oberfläche. Natürlich verfolge ich auch andere Agenden - anti-nationale (besonders interessant und ein wenig ironisch im Kontext von Hölderlins - durch das klassische Griechenland fokussierter - ger‐ manistischer Agenda), Umweltschutz (Hölderlins genaue und feingeschliffene Beobachtungen der Natur, die in seinen Texten Niederschlag finden) und eine pantheistische Sichtweise der Existenz (Hölderlins Synthese von Natur und Theologie ist vielleicht revolutionärer als manche Leser erlauben? ). Außerdem zähle ich die ›späten‹ Gedichte, die von Kritikern (und Übersetzern) ausschließ‐ lich seiner Hebephrenie, seiner ›Verrücktheit‹ (die ich entschieden anzweifle) zugeschlagen werden, zu seinen besten und am wenigsten konformistischen (vgl. Hodge und Mishra 1991, die auch Gregory Bateson zitieren, um zwischen paranoiden Lektüren und dem Hebephrenetischen zu unterscheiden). Als Beispiel für eine vielleicht weniger konformistische Lektüre möchte ich einen Text von Hölderlin in eine Seminarsitzung einer deutschen Universität mitnehmen (an der Studierende teilnehmen, die notwendigerweise Englisch sprechen - oder aber, wenn nicht, könnten auch andere solcher ›Übungen‹ oder ›Beispiele‹ durchgeführt werden; hier geht es schließlich nicht darum, Studie‐ rende aufgrund ihrer Sprachfertigkeiten auszuschließen! ) und ihn als ein Werk‐ zeug der Agitation, ein Werkzeug des Ungehorsams benutzen. Zuallererst möchte ich die Studierenden darum bitten, das Gedicht alleine oder in einer Gruppe umzuschreiben - und erst dann soll es im Kontext der Notlage diskutiert werden, in der wir uns alle befinden: den Kontext einer Krise der Freiheit, des Respekts und der Freigiebigkeit. Ich habe vor kurzem mit Hölderlins genialen Pindar-Übersetzungen (die sind wirklich mehr als brilliant! ) von ›Fragmenten‹ inklusive Kommentaren von 1805 gearbeitet - und in Bezug auf diese Diskussion erscheint eine ›Re-Versionie‐ rung‹ wirklich relevant (ich stelle mir vor, wie sie von Musik und Tanz, von chorischen Elementen begleitet werden). Die englischen Übersetzungen von Michael Hamburger sind für sich genommen bereits (gleichwohl recht ›direkte‹) Dem konformistischen Text widerstehen 265 Reversionierungen von Hölderlins Reversionierung - aber ich treibe diesen Prozess auf die Spitze. Versionen verwandeln sich in andere Versionen und so weiter und so fort. In seiner ganzen dionysischen Intensität erschuf Hölderlin eine pantheistische Theologie hellenistischer Präsenz in diesem ›Jetzt‹, in seiner sich radikalisierenden Dichtung als dem Ort, an dem sich das Außergewöhnliche selbst verkünden kann. Aus Hölderlins Liebe zu Susette und ihrer Unfähigkeit, zusammen zu sein, verschmelzen Natur und Erscheinung dieses dionysischen Universums mit Liebe zu einer nichtkonformistischen Theologie der Zwanglo‐ sigkeit, die unweigerlich zusammenbrechen wird, weil das Ganze unmöglich vereint bleiben kann. Doch darin findet sich die Möglichkeit einer direkteren - und sogar einer politisch und ethisch spezifischen Form von Aktivismus! Aus einem Hölderlin-Pindar Fragment und dem dazugehörigen Kommentar habe ich folgende, bewusst nicht-konformistische, agitierende Reversionierung hergestellt: After Hölderlin’s Pindar Extravaganza When He Was Supposedly Past It: ›Vom Dolphin‹ And so, the river dolphins ingest the gifts of human toxins, small whitehorses nudging their baffled corpses. When I hear a stranger - jogging along the path by the river - call out, ›See the dolphins! ‹ and later, the sun askew through musty clouds, another ask, ›Have you seen the river-dolphins today? ‹ I know the death of river-dolphins is immense to the humans who mark their lives by appearances and disappearances. Whether or not joggers connect their human-actions to the sudden decline river-dolphin numbers, I don’t know. ›Nature‹ is a health-variable in riverside café discussions of river-health, and the very smell of water on a hot day is subject for debate. Waves do occur in the river when storms clamp down on the coastal plain - darkfrothed white horses, the stained waters breeching the dolphins’ trust. So wie ich es umgeformt habe, beschäftigt sich das Gedicht mit dem Delfin‐ sterben im Swan River von Perth im Westen Australiens - diese Tiere verenden aufgrund menschlich verschuldeter Umweltverschmutzung. Das Gedicht han‐ delt von der Beziehung zwischen Mensch und Fluss, von der Fetischisierung der Natur in einer kapitalistisch geprägten Umwelt. Der Subtext verhandelt die Enteignung des Whadjuk Noongar Volkes; ihre Vertreibung vom Fluss und dem umgebenden Land, das für zehntausende Jahren ihr Heimatland war (und es natürlich auch bleibt - allerdings unter staatlicher Kontrolle). Obwohl dieser Subtext vielleicht nicht unmittelbar dargestellt wird, ist er meiner Meinung nach dennoch da und würde im Lichte einer komparativen Untersuchung sicher an die Oberfläche gelangen. An die Oberfläche zu gelangen ist allerdings nicht John Kinsella 266 genug - ich will Aktion und Reaktion, eine Umgestaltung provozieren und dementsprechend auch einen neuen, aktivistischen poetischen Text. Was sind eure Bedenken? Ihr werdet den Text selbst auseinandernehmen und in einer neuen Version zusammensetzen müssen! Um Mitleid mit Menschen zu haben, die durch Othering ausgeschlossen wurden, die ihre Heimat verloren haben, deren Heimat ihnen entrissen wurde, die ohne Heimat geboren wurden oder die in die Heimatlosigkeit gedrängt wurden, müssen wir sowohl Isolation wie auch Separation verstehen. Beide Handlungsweisen stellt Hölderlin in seinem Werk äußerst intensiv dar. Michael Hamburger bemerkt in seiner Einleitung zu Poems and Fragments by Friedrich Hölderlin: »Immer wieder trifft Hölderlins Pantheismus, sein Wunsch mit dem Kosmos zu verschmelzen, in seinen tragischen Oden, genau wie in seinem Roman, nicht nur auf seine Erkenntnis, dass menschliche und nicht-menschliche Natur grundverschieden sind, sondern vor allem auf seine Erkenntnis der Iso‐ lation, in die sich der Mensch aufgrund seines Bewusstseins hinabstürzt.« (Hamburger 2004: 28). Hölderlins wachsender Status als ›Außenseiter‹ entfremdete ihn mehr und mehr von seiner eigenen Zeit - und, zurückblickend auf die hellenistische Welt oder auf eine bessere Zukunft, distanzierte er sich von kulturellen, künstleri‐ schen und intellektuellen Diskursen, in denen er glaubte, für sich selbst (und seine Fantasterei) keinen Raum mehr zu finden (oder zumindest weniger Raum als erhofft). Für Hamburger steht die Analyse solcher Aspekte im Vordergrund; aber er liegt falsch, wenn er Gefühlsentfremdung oder gar den Verlust von Ge‐ fühlen (zusammen mit Hölderlins ›Behandlung‹ in Tübingen) für eine Art po‐ etischen Zusammenbruch verantwortlich macht. Weder innerhalb noch außer‐ halb der Gedichte denke ich, dass das ist, was passierte - und trotz der scheinbaren Sterilität Hölderlins später Gedichte, sind genau diese für mich Auf‐ fangbecken eines intensiven Gefühls von Natur und ›der Welt‹; Auffangbecken, die nicht von einer hebephrenen Schizophrenie gefüllt werden, sondern die über eine solche Oberflächenspannung verfügen, dass ihre Gebundenheit mit jeder Zeile zerspringt. Eine genaue kreative Lektüre dieser Gedichte kann durchaus aktivistische Früchte tragen. Hamburger schreibt: Die Stimme des Herzens - Worte, die auch in einer von Hölderlins Oden auftauchen - war mehr als nur ein sentimentaler Tropus eines Dichters, der glaubte, dass die Fä‐ higkeit zu fühlen eine Voraussetzung für religiöse Hingabe ist. Der Verlust dieser Fä‐ higkeit war es - nach dem Verlust der einen Frau [Susette] die er so inbrünstig geliebt hatte - der die Gedichte auszeichnet, die nicht von Hölderlin geschrieben wurden, sondern von der Person, die er wurde, nachdem seine Leiden ihn gebrochen hatten. Dem konformistischen Text widerstehen 267 Ob wir diesen Zustand ›Katatonie‹ - oder ›Schizophrenie‹, um das neuere Wort zu benutzen - nennen oder nicht, hat wenig Auswirkungen auf seine Dichtung. (Ham‐ burger 2004, 36) Eine haarsträubende Feststellung! Hölderlin war die gleiche Person und der gleiche Dichter vor und nach seinem ›Zusammenbruch‹. Es ist durchaus irre‐ levant, wie wir diesen ›Zusammenbruch‹ nennen, aber die Unterstellung, dass er ein anderer Mensch wurde, ist überaus anmaßend. Die Gedichte, die Hölderlin nach seinem Zusammenbruch schrieb, so wenig und so ›okkasionell‹ sie auch sein mögen, sind dennoch bemerkenswert und reflektieren sein ›Ideal‹ des Dichters und der Dichtung. Sie sind noch immer prophetisch - vorausgesetzt wir wissen, wie wir ihre ›Prophezeiungen‹ hören können. Es sind die Gedichte eines Dichters, der entschieden hat, dass das ›Team‹ der Dichter ihn nicht will, dass der Wettkampf der Dichtung (etwas, was sie durchaus sein kann! ) ihn nicht als einen ebenbürtigen ›Spieler‹ anerkennt - aber das bedeutet nicht, dass das Wissen, die Fähigkeiten und Visionen dieses Spielers verloren gegangen sind. Obgleich er durch ein absolutes Nichts und eine immerwährende Gegenwart schaut, so ist Hölderlins später ›Scardanelli-Zyklus‹ noch immer ein Blick ›nach vorne‹. Hamburger schreibt über eines von Hölderlins ›Sommer-Gedichten‹ (Wenn dann vorbei …), dass »das fiktive Datum und die Unterschrift ›Scarda‐ nelli‹ Ausdruck von Hölderlins Flucht vor Zeit und Identität in dieser Phase sind. Er nannte sich damals auch ›Buonarroti‹ oder ›Scaliger Rosa‹« (Hamburger 2004: 811). Hamburger hält fest, dass Hölderlin nach 1806 (und damit nach dem ›Wandel seiner Persönlichkeit‹) nur Besucher empfing, die ihn bei seinem ›wahren‹ Namen nannten; dass er nur die ›Pseudonyme‹ gelten ließ, die er für sich selbst ausgewählt hatte und die Leute nur mit ›Ihre Majestät‹ anredete und so weiter und so fort. Ich möchte hinzufügen, dass darin vielleicht weniger eine ›Flucht‹ und das Unvermögen, eine verlorene und lädierte Vergangenheit zu konfrontieren, zu erkennen ist, sondern dass es - zumindest teilweise - auch eine bewusste List des Dichters war, um die textliche Gegenwärtigkeit zu de‐ stabilisieren - eine Kritik des Diskurses von ›Zeit‹ und ›Identität‹. (Hamburger bemerkt bezüglich der Oden, dass sie sich über verschiedene Bereiche von Zeit und Raum erstrecken; es findet sich folgender Einschub zu Hölderlins bemer‐ kenswertem ›späten‹ Gedicht ›Wenn aus der Ferne‹: »Alle Berichte über seine Jahrzehnte im Turm in Tübingen bestätigen, dass ihn eine Sache immer wieder aufregte - und zwar an irgendetwas erinnert zu werden, was mit seinem vorigen Leben und seiner einstigen Identität zu tun hatte. Ganz besonders der Name Hölderlin war ihm so fremd geworden, dass er, als ihm eine Ausgabe seines Buches überreicht wurde, zwar die Gedichte als Originale erkannte, aber be‐ merkte, dass der Name falsch sei. Doch sogar hier tat sich ein Widerspruch auf, John Kinsella 268 der mit den medizinischen Diagnosen nicht vereinbart werden konnte - er war in der Lage, alle Briefe an seine Mutter mit dem verbotenen Namen ›Hölderlin‹ zu unterschreiben.« [Hamburger 2004, 808]. Man muss hier unweigerlich an den Komponisten Syd Barrett denken, der, obwohl seine Schwester vehement wi‐ dersprach - behauptete, er sei psychisch krank. Die Vergleiche zu dem glei‐ chermaßen brillanten wie ›anderen‹ Barrett sind auch in anderer Hinsicht überaus ergiebig.) Dieses Gedicht mit seiner Unterschrift bleibt visionär und das Selbst wird innerhalb der Natur ver-rückt, verschoben (es wird nicht ignoriert, es ist keine Frage der Gleichgültigkeit, weil das Gedicht geschrieben ist, um einen ›Besucher‹ zufrieden zu stellen - die ›falsche‹ Signatur ist eigentlich sogar ein Beweis der Wichtigkeit von Identität und Gleitfähigkeit). Hier ist meine Verstörung dieses Gedichts: After Hölderlin’s ›Der Sommer‹ - ›Wenn dann vorbei‹ The vanishing of back-when’s spring-flowers, Summer’s now, entwining the year. And, as through the valley, Toodyay Brook - The ranges at full stretch to hold it back. Paddocks are exhausted but glassy-bright With day, arching towards twilight; And so the year hangs ’round, a summer’s Day for men as impressions might fade with nature. May 24 th 1778. Scardanelli Das Wort ›exhausted‹, das sich um die Wesensart der kolonialisierten und ›mo‐ nokultivierten‹ Landschaft bewegt, ist der Schlüssel zum Aktivismus. Ich versuche ein sehr wichtiges Argument vorzubringen, wie und warum wir literarische Texte in (anhaltenden! ) Krisenzeiten lesen sollten. Der Vorschlag ist, dass wir lesen und umschreiben; dass wir uns weigern, in einem System zu arbeiten, dass wissenschaftliche Kritik von Kreativität trennt; dass wir Texte zerreißen und in Bewegung bringen, ihnen Leben einhauchen damit sie jede mögliche topographische und kulturelle Lesart und den gegenwärtigen Moment reflektieren. Für mich ist das Ausdruck von Respekt und Gemeinschaft. Für mich ist das Ausdruck einer Universität, die dadurch, dass sie heraustritt und mit einer breiteren Masse interagiert, zu einem Zentrum produktiven Wandels und von Inklusivität wird. All das sage ich vor dem Hintergrund, bereits seit vielen Jahren Literatur‐ wissenschaften in verschiedenen Universitäten auf der Welt zu unterrichten - und auch vor dem Hintergrund, bereits Schritte in Richtung einer alternativen Dem konformistischen Text widerstehen 269 ›Universität‹ gemacht zu haben, in der ›Noten‹, ›Prüfungen‹, ›Bewertungen‹ und Wissenshierarchien durch ein gemeinsam entwickeltes System ersetzt werden, das auf gegenseitiger Anerkennung und einer Idee von ›Fortschritt‹ basiert. Ich rede hier von der ›School of Environmental Poetics and Creativity‹ (vgl. Kinsella 2010: 176-183). Ich möchte die Diskussion auf die Art der Beziehungen lenken, die zwischen Texten, denjenigen, die sie benutzen, und denjenigen, die sie schreiben, besteht. Ein Text ist ein Lebewesen und sollte als solches behandelt werden; so als exis‐ tiere er innerhalb der Grenzen einer empfindlichen und bedrohten Umwelt, in einer Biosphäre, die nicht zuletzt aufgrund menschlichen Verhaltens in sich zu‐ sammenbricht - insbesondere durch die kommerzielle und staatliche Aus‐ schlachtung der zerbrechlichen, übrig gebliebenen ›natürlichen‹ Lebensräume. Kein Text, was auch immer er ist, kann jemals jenseits dieses zerstörerischen Kontexts gelesen werden. Ivan Illichs Vorschlag einer ›Entschulung‹ ist, so glaube ich, nur der Anfang. Wir müssen weiter gehen und danach forschen, wie wir mit der natürlichen Umgebung und dem Wissen in einer jeden Gemeinschaft interagieren; wie wir Bildung in vereinzelten, abgetrennten Räumen umverteilen können, so dass wir die Umwelt weniger beeinträchtigen. Alle Bildungseinrichtungen sollten durch erneuerbare Energien gespeist werden (sei es Solar- oder Windkraft oder die Nutzung natürlicher Lichtquellen etc.). Jede Art von Bildung sollte die Rehabi‐ litation von Flora und Fauna mit einbeziehen (kleine Campus, auf denen Rekul‐ tivierungs- und Vogelnistprogramme genauso wie Kurse zur Wiedereinführung nativer Tierspezies angeboten werden). Diese ›Bildungszonen‹ sollten über die Gemeinde verteilt werden, so dass sie Teil des generellen Diskurses werden. Am Anfang seines revolutionären Buchs Entschulung der Gesellschaft schrieb Illich: 1. Warum wir die Schule abschaffen müssen Viele Schüler, zumal wenn sie arm sind, wissen intuitiv, was die Schulen mit ihnen anstellen. Sie werden geschult, Verfahren und Inhalt miteinander zu verwechseln. Wird dieser Unterschied erst einmal verwischt, so gilt eine neue Logik: je mehr Be‐ handlung, desto besser die Ergebnisse; oder auch: Eskalation führt zum Erfolg. Der‐ gestalt wird der Schüler dazu »geschult«, Lehren und Lernen miteinander zu ver‐ wechseln, ebenso das Versetztwerden mit Bildung, ein Zeugnis mit Sachkunde und Geläufigkeit mit der Fähigkeit, etwas Neues zu sagen. Seine Vorstellung wird dazu »geschult«, eine Dienstleistung anstelle von Werten hinzunehmen. (Illich 1973: 16) Und so beginnt eines der bemerkenswertesten Dokumente, das je über die Be‐ freiung des Textes von der Bildung geschrieben wurde. Illich bemerkt auch: John Kinsella 270 Der Widersinn der Schulen ist offenkundig. Vermehrte Aufwendungen steigern ihre zerstörende Wirkung, und zwar im Inland wie im Ausland. Dieser Widersinn muss in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es gilt jetzt als sicher, dass die natürliche Umwelt bald durch biochemische Verschmutzung zerstört sein wird, wenn wir die derzeitigen Methoden der Warenerzeugung nicht ändern. Ebenso sollte man zugeben, dass das Leben der Gesellschaft und des einzelnen auf ähnliche Weise von einer Verschmut‐ zung durch Bildungsverwaltung bedroht wird, die das unvermeidliche Abfallprodukt eines pflichtmäßigen, wettbewerblichen Konsums von Fürsorge ist. Die Eskalation der Schulen ist ebenso destruktiv wie die Eskalation von Waffen, nur merkt man es weniger. (Illich 1973: 23) Er wusste es. Wir sollten es wissen. Illich klamüserte die Heucheleien und Eu‐ phemismen der erzieherischen Praxis auseinander, die jetzt ihren Höhepunkt im Studium der Ökokritik (und der Ökopoesie) erreicht, wenn der handynut‐ zende, autofahrende Dichter oder Ökologe Partei für den Planeten ergreift, zu dessen Zerstörung er aktiv und unverhohlen beiträgt. Werkzeuge für die Be‐ freiung? Wir wissen, dass das nicht der Fall sein kann. In Mexiko konnte Illich 1970 Folgendes beobachten: Vielen Menschen wird erst jetzt die gnadenlose Zerstörung bewusst, welche die Rich‐ tung der heutigen Produktion für die Umwelt bedeutet, doch haben einzelne nur sehr begrenzte Möglichkeiten, diese Richtung zu ändern. Die in den Schulen eingeleitete Manipulierung von Männern und Frauen hat ebenfalls einen Punkt erreicht, an dem es keine Umkehr mehr gibt, und die meisten haben das noch gar nicht gemerkt. Sie treten immer noch für Schulreform ein, so wie Henry Ford III. die Produktion von weniger giftigen Automobilen vorschlägt. (Illich 1973: 61) Wie in Rachel Carsons augenöffnendem Silent Spring (1962) beschweren wir uns lauthals über Pestizide, aber essen weiterhin damit behandelte Nahrungsmittel; wir laufen weiterhin durch Parks, in denen unerwünschte Gräser durch Herbi‐ zide beseitigt wurden; wir bleiben stumm wenn unsere Universitäten mehr Gifte in Gärten, Toiletten, Fluren und Büros nutzen als Illich oder Carson sich das vor gerade mal fünf oder sechs Jahrzehnten jemals hätten ausmalen können. Wir verfügen über mehr ›Wissen‹, über mehr Texte, die diesen Zustand kritisieren - und dennoch nehmen wir mehr und mehr Teil an dieser kollektiven Zerstörung. Die Autoren und Kritiker dieser Texte lehren, kritisieren und dozieren - in der Realität jedoch entledigen sie sich selbst jeglicher Beweislast. Schreibe diese Texte um, lerne, bringe dich selbst ein, verändere! Verändere, verändere, verändere! Wissen bleibt unnütz, solange es nicht von der Theorie in die Praxis überführt wird. Ein letztes Zitat von Illich: Dem konformistischen Text widerstehen 271 Ich glaube, dass eine erstrebenswerte Zukunft davon abhängt, dass wir im Leben ganz bewusst dem Tun vor dem Verbrauchen den Vorzug geben. Wir müssen einen Le‐ bensstil schaffen, der es uns ermöglicht, spontan, unabhängig und doch aufeinander bezogen zu sein. Wir sollten nicht an einem Lebensstil festhalten, der uns lediglich gestattet, zu schaffen und zu vernichten, zu produzieren und zu verbrauchen - ein Lebensstil, der lediglich eine Etappe auf dem Weg zur Erschöpfung und Verschmut‐ zung der Umwelt ist. Die Zukunft hängt mehr davon ab, dass wir uns Institutionen aussuchen, die ein Leben schöpferischen Tuns fördern, als dass wir neue Ideologien und technische Verfahren entwickeln. (Illich 1973: 62) Er hat es alles vorausgesehen. Illich machte sich jedoch, gleich einem Priester (trotz einer komplexen und widersprüchlichen Beziehung zu seiner Kirche), mitschuldig am Institutionalismus: sich einer Sache bewusst zu sein ist nicht die Antwort - aktiv dagegen vorzugehen ist es. Vielleicht ging Illichs Aktivismus soweit es irgend möglich war; vielleicht hätte er auch weitergehen können? Man muss Institutionen abschaffen und niederreißen um neue, ›organische‹ Räume zu schaffen; Räume, in denen Lehren/ Lernen ein ausgeprägtes und sensibles Bewusstsein des Ortes entwickelt, an dem es stattfindet. Wenn wir das Unterrichten, Lesen und Schreiben von Texten liberalisieren wollen; wenn wir die ›Universität‹ von den kulturellen und politisch-imperia‐ listischen Fesseln, von Geldgier, Rassismus und ökologischer Gleichgültigkeit und Umweltzerstörung befreien wollen, geht das nur mit einem holistischen Ansatz. Es geht nur mit einem Ansatz, der gänzlich auf Gewalt und Aggressivität verzichtet aber revolutionär ist, der alle Geschlechter und jedwede spirituelle, kulturelle und ethnische Diversität mit einbezieht und genauso viel Wert auf tierisches wie auf menschliches Leben legt. Denn bei der Ausbeutung von Tieren mitzumachen (vom Schlachthaus bis zum Haustier, das als Ablenkung oder emotionaler Blitzableiter dient - anstatt sich um Tiere zu kümmern, dadurch, sagen wir, dass man sie vor der Schlachtung rettet oder ihnen ein Zuhause ge‐ währt, in dem sie nicht missbraucht oder gar getötet werden, z. B. Rettungstiere) ist gleichzeitig ein Eingeständnis der institutionellen Kontrolle … geschweige denn Folter und Missbrauch von Tieren für wissenschaftliche Zwecke. Tierver‐ suche haben nichts mit Lernen oder Wissen zu tun; sie sind ein Verbrechen gegen das Leben. Ich würde an dieser Stelle gerne mit einer weiteren Version von Hölderlin, die im Kontext einer ›Kampagne‹ gegen Umweltzerstörung geschrieben wurde, schließen. (Das Wort ›Kampagne‹ ist hier eigentlich kaum angemessen. Es war tatsächlich eine kompromisslose Aktion mit dem Ziel, die - von der konserva‐ tiven Barnett Liberal-National Party und deren Partnern in der privaten In‐ dustrie geplante - durch grundlose und profitorientierte Bebauung herbeige‐ John Kinsella 272 führte, Zerstörung des seltenen Buschlands in Perth, West-Australien, zu verhindern.) Für diese Aktion wurde vor Ort ein Camp errichtet und viele Men‐ schen aus allen sozialen Schichten bemühten sich physisch, die Maschinen davon abzuhalten, das Buschland und den tierischen Lebensraum zu zerstören. Die Aktion entwickelte sich zu einer grausamen Lehrstunde über Gier und Kor‐ ruption - aber auch über die Schönheit und Unwägbarkeiten der Natur. Bemer‐ kenswert war, dass so viele Lehrende (sogar eine Anti-Bebauungs-Fraktion von Ökologie-Professor*innen war vor Ort) und Studierende involviert waren; ge‐ nauso waren allerdings alternative Lernende vertreten und Aboriginies, die Äl‐ testen der Whadjuks, die ein tiefgreifendes Verständnis über diesen Ort mit‐ brachten. Country (die Umwelt, das Land) selbst agierte hier als Universität - die wahre Universität der Welt, in der alles Wissen gespeichert ist und zur Verfü‐ gung steht, wenn wir nur bereit sind, von denen zu lernen, die über das Wissen verfügen und das Land als Text lesen. Ich schrieb viele Gedichte über diesen Widerstand; darüber, zu hegen und zu pflegen was von dem Buschland übrig ist; darüber, die ›Wunde‹, die von Bau‐ unternehmern und Regierung zugefügt wurde zu versorgen, bevor sie verjagt wurden (ein seltener ›Sieg‹ für den Umweltschutz! ). Unter anderem schrieb ich folgendes Gedicht: After Hölderlin’s ›Der Winkel von Hahrdt‹ The bush is gone, but wheelbarrows are arriving to staunch the wound - woodchips of shattered trees, verdure’s fragments of ghost, market-failure’s dissed commodity. These causes that stem out of night, canticles to dawns that are never quite the same - but out of an enclave of hope, where charismatic selves imagine a future of comforting growth, belief is marked out, communicated. Und das, so hoffe ich, untermauert meinen Vorschlag und die Argumente, die ich unbedingt vorbringen wollte. Hoch die internationale Solidarität! Dem konformistischen Text widerstehen 273 Literatur Hamburger, Michael (2004). Poems and Fragments by Friedrich Hölderlin. London: Anvil Press. Illich, Ivan (1973). Entschulung der Gesellschaft. Übers. Helmut Lindemann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kinsella, John (2010). Activist Poetics: Anarchy in the Avon Valley. Liverpool: Liverpool University Press. John Kinsella 274 17 Literaturwissenschaften in der Krise Matthias N. Lorenz Die Frage der Herausgeber*innen dieses Bandes hebt darauf ab, welchen ge‐ sellschaftlichen und politischen Beitrag die Literaturwissenschaften heute leisten können, in Zeiten vielfältiger krisenhafter Zuspitzungen in der Welt. Diese Frage impliziert zunächst einmal die Rückfrage, inwiefern wir als Wis‐ senschaftler*innen an deutschsprachigen Universitäten - das heißt, in einem durchaus privilegierten Kontext - überhaupt betroffen sind von diesen Krisen. Anders gefragt, worin besteht die Krise eigentlich? Und entzieht sie sich als globales Phänomen nicht unseren Einwirkungsmöglichkeiten? Ich werde Ant‐ worten auf diese Fragen suchen, bevor ich den Akzent auf die Krise der (Lite‐ ratur)Wissenschaft selbst verschieben werde, die mir ein bloß nach außen ge‐ richtetes Engagement oder die Beobachtung der Gesellschaft aus einer vermeintlich unabhängigen Metaperspektive problematisch erscheinen lässt. (Gemeint ist hier dezidiert nicht die ›Krise der Germanistik‹, die zyklisch be‐ schworen wird und um die im Frühjahr 2017 - ausgehend von einer Invektive des Spiegel - wieder einmal eine Kontroverse aufflammte. Dieter Heimböckel hat kürzlich in seinem Plenarvortrag auf der Tagung der Gesellschaft für inter‐ kulturelle Germanistik in Flensburg die Vermutung geäußert, dass die auf Dauer gestellte Krisenrhetorik des Fachs in eine Stillstellung weitaus wichtigerer, auch politischer Fragen mündet.) Worin die Krise besteht Die Antworten scheinen auf der Hand zu liegen. Die wichtigsten globalen Krisen sind jene, die den Frieden und damit viele Menschen bedrohen, die Gefahr laufen, in ihren Freiheiten, ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und ihren Entwick‐ lungsmöglichkeiten eingeschränkt zu werden oder sogar durch Vertreibungen, Kriege, Seuchen und Hunger an Leib und Leben bedroht sind: der Bürger- und Stellvertreterkrieg in Syrien, der informell immer noch weitergeführte soge‐ nannte Afrikanische Weltkrieg in Ost-Kongo, der Terror des Islamischen Staates - schon die Anlage einer nur ansatzweise umfassenden Liste wäre ver‐ messen. Dass diese Art von Krisen die Universitäten in den betroffenen Re‐ gionen tangiert, muss nicht weiter begründet werden: Wo Kriege wüten, Men‐ schen vertrieben und Bibliotheken zerstört werden, wo Staaten scheitern und Warlords, Fanatismus und Unrecht herrschen, kann Wissenschaft nicht statt‐ finden. Gemeint sind aber im Aufruf der Herausgeber*innen noch andere Krisen, die in der westlichen Welt derzeit als besonders drängend und alarmierend emp‐ funden werden: das drohende Auseinanderbrechen des größten und erfol‐ greichsten Friedensprojektes, das Europa jemals verfolgt hat, der Europäischen Union, die Wahl des rechten Populisten Donald Trump zum Präsidenten der USA , das aggressive Agieren Russlands unter Vladimir Putin, die antidemokra‐ tische Entwicklung in der Türkei, sowie aktuell der zweistellige Einzug der rechtspopulistischen AfD in den deutschen Bundestag und die drohende Regie‐ rungsbeteiligung der rechtsextremen Freiheitlichen (nach einem auch von den Bürgerlichen mit rassistischen Parolen geführten Wahlkampf) in Österreich. Die hiermit verbundenen Konflikte scheinen für deutschsprachige Wissen‐ schaftler*innen nicht so abgelegen wie die Arabische Halbinsel, Zentralafrika oder Süd- und Zentralasien. In allen diesen Fällen haben Formen des Populismus über eine Rhetorik der Vernunft gesiegt. Wissenschaftler*innen haben den po‐ litischen und wirtschaftlichen Schaden eines Brexit dargelegt, die britischen Wähler hat dies nicht angefochten. Wissenschaftler*innen haben die Folgen des Klimawandels errechnet und versuchen, Modelle zu seiner Beherrschung zu entwickeln, was weder Donald Trump noch dessen Basis daran hindert, den‐ selben schlicht zu leugnen. Wissenschaftler*innen haben auch Stellung zum Bau einer Mauer an der mexikanischen Grenze und zu pauschalen Einreiseverboten für Menschen aus muslimischen Ländern genommen, allein, ihre (moralische wie ökonomische) Kosten-Nutzen-Rechnung, die eine deutliche Sprache spricht, verhallt ohne Wirkung. Das Gleiche gilt für alle Warnungen von Expert*innen für Politologie und Rhetorik, die die Mechanismen des Rechtspopulismus im deutschsprachigen Raum offengelegt haben. All das aufklärerische Wissen und kritische Potential der türkischen Universitäten hat die Entgleisung des Rechts‐ staates unter Erdogan nicht verhindern können. Dass ein Argumentieren in der Sache ein Leitwert der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung sein sollte, ist im Zeitalter von fake news- und Lügenpresse-Vorwürfen sowie eines fanatischen islamistischen Terrors eine jener gesellschaftlichen Übereinkünfte, die in der Krise verloren gegangen sind. Es gilt nurmehr das Recht des Stärkeren und die Chance des Möglichen; uni‐ versale Ziele scheinen abgelöst von der Verfolgung partikularer Interessen - im Matthias N. Lorenz 276 Grunde ein neoliberales Modell, das in die Negation aller Werte mündet. Weder die Fanatiker des IS noch die vom Weißen Haus hofierte ›Alt-Right‹-Bewegung oder die Pegida-Anhänger in Dresden und anderswo wollen überhaupt noch über Inhalte sprechen, sie misstrauen dem Diskurs an sich und lehnen eine Teil‐ nahme ab. Stattdessen jubeln erschreckend viele Menschen auch in Deutschland Autokraten wie Putin oder Erdogan zu, die innenpolitisch eine aggressive Politik der Gleichschaltung durchsetzen, der nicht nur unabhängige Jurist*innen und kritische Journalist*innen zum Opfer fallen, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, indem sie entlassen, verleumdet und mundtot gemacht oder sogar verfolgt und inhaftiert werden. Es ist ein ermutigendes Signal, dass manche deutsche Universitäten bedrohte türkische Kolleg*innen aufgenommen haben. Die antieuropäischen Tendenzen in Europa untergraben den Austausch von Studierenden und Wissenschaftler*innen wie bereits in der Schweiz nach der Volksinitiative »Gegen Masseneinwanderung« (2014), die dort das Erasmus‐ programm beendet hat, was nun in Folge des Brexit auch in Bezug auf Groß‐ britannien droht. Die Wahlentscheidung in den USA , die einen frauenverach‐ tenden Rassisten in das Amt des mächtigsten Mannes der Welt befördert hat, untergräbt alle Bemühungen um eine nicht-diskriminierende Sprache, die an den US -amerikanischen Universitäten seit den 1990er Jahren verfolgt wurden. Die gefährliche Entwicklung populistischer Parteien und Machthaber in Ost‐ europa schlägt sich etwa in der Reform des ungarischen Hochschulgesetzes nieder, mit dessen Hilfe Viktor Orbán gleich eine ganze Universität, die als ›ausländisch‹ gebrandmarkte Central European University in Budapest, schließen will. In vielen Städten Ostdeutschlands können sich eingewanderte oder Gast-Wissenschaftler*innen sowie ausländische Studierende nicht sicher fühlen, weil sie als Fremde offen angefeindet werden. Von keiner dieser Ent‐ wicklungen kann sich die deutsche Wissenschaftslandschaft nicht betroffen wähnen, ist sie doch zwingend auf den freien Gedankenfluss und nicht zuletzt den personellen Austausch über alle Grenzen hinweg angewiesen. Wir erleben derzeit Rückfälle in überwunden geglaubte Zustände des kata‐ strophischen 20. Jahrhunderts, die das Leben und die Freiheit vieler Menschen tangieren und die vor wenigen Jahren zumindest aus der Perspektive des wohl‐ standsverwöhnten ›Westens‹ (beziehungsweise der reichen Länder der Nord‐ halbkugel) kaum denkbar erschienen. Die vielfältigen Krisen münden immer wieder in den Abbau von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, in eine unver‐ hohlene Abkehr von den Postulaten von Gleichheit und Rationalität. Stattdessen steigt die Affinität für populistische und menschenfeindliche Maßnahmen, die Rückkehr archaischer Abschottung, Gewalt und Abhängigkeitsverhältnisse ist Literaturwissenschaften in der Krise 277 zu beobachten und auch das bequeme wie blinde Einrichten in einer partikularen Moral, die in Kauf nimmt, dass die Anderen in prekäre Verhältnisse gestoßen werden. Insofern ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, welchen spezifischen Beitrag die Philologien leisten können, um dem fortschreitenden Zivilisations- und Kulturverfall und einer Eskalation von Gewalt in allen erdenklichen Formen in Zeiten der globalen Krisen etwas entgegenzusetzen. Wie etwa schüren wir kritisches Bewusstsein in der Lehre, wie können wir mit unserem historischen Wissen und unseren aktuellen Forschungsergebnissen in die Gesellschaft hi‐ neinwirken? Letztlich stößt das Nachdenken über die praktische Relevanz un‐ seres professionellen theoretischen Tuns immer auch die nie versiegte Debatte darüber an, welchen gesellschaftlichen ›Wert‹ die Philologien überhaupt haben und was sie in Zeiten neoliberaler Ressourcenverknappung dem Rechtferti‐ gungsdruck, dem sie auch innerhalb der Universitäten ausgesetzt sind, entge‐ gensetzen können. Literaturwissenschaften in der Krise: Was wir tun können In Deutschland sind die Universitäten traditionell staatsnahe und damit kon‐ servative Gebilde. Das schützt sie zunächst einmal vor bestimmten gesellschaft‐ lichen Fehlentwicklungen, solange der Staat selbst stabil bleibt und die Unab‐ hängigkeit der Wissenschaft respektiert. Deutsche Universitäten dienen im geisteswissenschaftlichen Bereich ganz überwiegend der Lehrerbildung, daher reguliert der Staat hier besonders stark und gibt vor, wie die künftigen Lehrer*innen zu (möglichst systemkonformen) zukünftigen Beamten*innen he‐ rangebildet werden sollen. Ein Effekt oder gar Instrument der Lenkung ist die enorme Bürokratisierung der Studienorganisation, die unter anderem in einem ziemlich festgefügten, unflexiblen und stark kanonischen Curriculum und einem sehr langen Vorlauf etwa bei der Semesterplanung resultiert. Durch die Inhalte und Methoden stark vorgebende Modularisierung der Studienangebote wird es immer schwieriger, auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie jene Krisen, die ich eingangs rekapituliert habe, zu reagieren und als Universität in den gesellschaftlichen Diskurs einzutreten und das wissenschaftliche Privileg eines freien Denkens abseits politischer oder ökonomischer Indienstnahme pro‐ duktiv für alle auszuspielen. Hier auf Landeswie fakultärer Ebene anzusetzen, wäre sicher sinnvoll. Denn politisch wirken zu wollen bedeutet für Wissenschaftler*innen eben auch, hoch‐ schulpolitisch zu wirken. Wir sollten uns ruhig einmal fragen, ob es denn wirk‐ lich immer nur an den jungen Menschen selbst liegt, denen wir seit der Bo‐ logna-Reform eine veränderte Haltung zum Studium vorwerfen, wenn sie sich Matthias N. Lorenz 278 für unsere Angebote nicht mehr im gleichen Maße begeistern wie die Kohorten davor. Eine Entschlackung der Vorgaben und Obligatorien hin zu einem wieder selbstverantwortlichen und freieren Studium wäre ja möglich, wenn wir uns dafür gemeinsam einsetzen würden. In einem solchen Rahmen ließe sich deut‐ lich direkter auf bestimmte aktuelle Phänomene reagieren und es wäre den Stu‐ dierenden eher möglich, Bezüge zwischen ihrem Fach und dessen Relevanz für die Welt außerhalb der Universität zu erkennen und auch zu verfolgen. Das Geraune um die Relevanz der Philologien sollte uns in Zeiten populistischer Symbolpolitik kaum schrecken; wann, wenn nicht jetzt, ist Expertise über die Macht von Sprache, Rhetorik, Diskursformationen und Narrativen von Nöten. Ein kritischer Zugang zur Welt wird allerdings dort im Keim erstickt, wo ein bürokratischer akademischer Apparat auf den Kanon der immer gleichen ka‐ nonisierten Inhalte setzt, die im schlimmsten Fall auch allzu oft in ebenso tra‐ ditionellen wie lerntheoretisch längst aussortierten Vermittlungsformen wie der Vorlesung monologisch von einer Lehrperson vermittelt werden. Wenn wir uns dafür stark machen, Universität als eine Gemeinschaft von Lernenden zu denken, die im Austausch entsteht und also zwingend dialogischer Formate bedarf, im‐ prägnieren wir unsere Studierenden gegen allzu simple Botschaften und Lock‐ angebote. Studien über die Wählerschaft Trumps zeigen, dass dieser keineswegs nur die formal Ungebildeten und Modernisierungsverlierer vertritt, im Gegen‐ teil. Das bedeutet, dass ein akademischer Abschluss nicht per se vor der Affinität für Populisten schützt. Dies muss uns Ansporn sein, eine Lehre zu verwirkli‐ chen, die zur Kritik befähigt. Dieser Aspekt betrifft ein strukturelles Problem der Lehre an wohl nahezu allen Universitäten in der Gegenwart: Durch den Willen oder Zwang zur Modularisierung und die kleinteilige Organisation der Studienpläne bis hin zur (zumindest in den Geisteswissenschaften absurden) Festschreibung von angestrebten sogenannten Learning outcomes sind uns Fes‐ seln auferlegt, die viel zu selten eine offene Frage zulassen, die sich gemeinsam mit den Studierenden erforschen ließe. Eine Mitgestaltung der Curricula durch die Studierenden scheint derzeit systembedingt vollkommen ausgeschlossen, zumindest unerwünscht, obwohl jedes Experiment, das ich bislang unter‐ nommen habe, um ihnen selbst Verantwortung für die Wahl von Themen und Arbeitsformaten zu übertragen, die größten Motivationsschübe und Arbeits‐ energien ausgelöst hat. Nun sind insbesondere die Universitäten im deutschsprachigen Raum als In‐ stitution nicht eben bekannt dafür, eine Haltung des Protests zu befördern. Alte Zöpfe wie die völlig sinnentleerte, wie eh und je als Initiationsritus begriffene Habilitation haben genauso wie die immer noch ganz überwiegend aus dem Kanon weißer toter Männer zusammengesetzten Curricula die letzte Heraus‐ Literaturwissenschaften in der Krise 279 forderung, die gesamtgesellschaftliche Zäsur von »1968«, schadlos überstanden. Mancherorts eingeführte Ansätze einer breiteren Mitbestimmung auch von ›Mittelbau‹ und Studierenden wurden längst wieder kassiert; die ›Reformuni‐ versität‹ ist Geschichte (und als solche bereits selbst Gegenstand historischer Forschung, vgl. etwa Moritz Mälzer 2016). Als um die Jahrtausendwende schritt‐ weise die Bologna-Reform durchgesetzt wurde, hat es mich als Doktorand sehr erstaunt, wie widerspruchslos die Funktionseliten der deutschen Universität Direktiven umgesetzt haben, die sie allesamt nach eigenem Bekunden für extrem schädlich für das Lernen, Lehren und Forschen an einer Universität hielten. Insofern ist es fraglich, wie optimistisch man sein darf hinsichtlich des Veränderungswillens in den Fakultäten. Ein solidarischer Angriff auf die Unzulänglichkeiten des Betriebes ist zumin‐ dest dann zweifelhaft, wenn wir in administrativen Aufgaben und endlosen Kommissionsscharmützeln ertrinken, die jeden Ansatz von ›guter Praxis‹ in der Ausgestaltung der Universität im Keim zu ersticken drohen. Die Freiheit der Wissenschaft ist organisationsintern längst zu einer (angeblichen) Selbstbe‐ stimmung bei der Verwaltung des Mangels verkommen, die nichts anderes ist als ein - vielleicht niemals so intendiertes, de facto aber doch sehr wirksames - Instrument zur Disziplinierung der Professor*innenschaft. Indem hoch qualifi‐ zierte (und, nebenbei bemerkt, für derartige Aufgaben viel zu hoch dotierte) Spezialistinnen und Spezialisten auch Budgets verwalten, das Lehrangebot planen, Evaluationen und Studienpläne erarbeiten sowie sämtliche Stellen be‐ setzen sollen, wird jedweder Protestwillen im Keim erstickt durch schiere Über‐ forderung einerseits und die permanente Androhung von Kürzungen anderer‐ seits, die stets von oben nach unten durchgereicht und von uns dann (zähneknirschend mit dem Verweis auf die herrschenden Zwänge) exekutiert werden. Die Folge ist die fortschreitende Verselbständigung des Verwaltungs‐ apparates, die die kuriosesten Blüten treibt, etwa, wenn die Aufforderung an ein Fakultätskollegium ergeht, doch bitte die Fragen für eine künftige Evaluation der eigenen Evaluation zu liefern. Um spannende Forschungsvorhaben und -re‐ sultate, mit denen sich dann auch die neugierigsten und wachsten Studierenden anlocken und begeistern ließen, geht es viel zu oft gar nicht mehr. (Das ist na‐ türlich kein rein deutsches Phänomen, sondern weitgehend ein globales.) Die Frage, die die Herausgeber*innen dieses Bandes gestellt haben, erscheint mir ja durchaus berechtigt. Wie Jan Philipp Reemtsma (2005: 77-101) in einem lesenswerten Essay mit dem Titel »Warum studiert, warum lehrt man Litera‐ turwissenschaften? « ausgeführt hat, ist der einzige ›vernünftige‹ Grund, Lite‐ raturwissenschaft zu betreiben, weitere Literaturwissenschaftler*innen auszu‐ bilden. Wenn die Ausbildung aufgrund landespolitischer Vorgaben und Matthias N. Lorenz 280 inneruniversitärer Fehlentwicklungen so geregelt ist, dass diese Ausbildung systemisch bedingt zunehmend gelangweilte und langweilige Absolvent*innen gebiert, dann muss entweder versucht werden, siehe oben, das System zu re‐ formieren, oder, wo dies nicht realistisch erscheint, es zu unterlaufen. In der konkreten Ausgestaltung des Lehrangebots und der Lehrinhalte, von Betreu‐ ungsverhältnissen und Prüfungsformen können wir selbst dann etwas be‐ wirken, wenn es eigentlich nicht vorgesehen ist, zu opponieren. Es ist immer möglich, Verbündete zu suchen und Überzeugungen zu vertreten, und sei es zunächst auch nur in Form einer Störung des Betriebsablaufs, im offenen Wi‐ derspruch, in der Solidarität mit den im Betrieb Machtlosen, im Unterlaufen eingefahrener Rituale und in der Ausnutzung von Optionen, die sich im Einzel‐ fall einmal auftun mögen. Es ist möglich, kritische Inhalte undercover in die viel zu fest gelegten Studienmodule zu schleusen und die Ignoranz der sich ehr‐ würdig und unpolitisch gerierenden Disziplinen gegenüber etwa den eingangs genannten Krisen zu überwinden. Um auf Reemtsma zurückzukommen: Es muss unser Ansporn und Anspruch sein, angesichts des derzeitigen Siegeszuges des so einfältigen wie gefährlichen Populismus Absolvent*innen im Laufe ihres Studiums so zu erreichen, dass sie die Vorzüge einer gegenwärtigen und prob‐ lemorientierten Wissenschaft, eines gesellschaftsrelevanten und -kritischen Denkens kennen, schätzen und auch zu nutzen lernen. Denn der Gegenstand unserer Arbeit, die Literatur als eine von bloßem Nutzenkalkül abgekoppelte Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung, hat vermutlich weitaus mehr Potential und Kraft, die gegenwärtigen Krisen zu durchleuchten und Denkwerkzeuge zu ihrer Überwindung anzubieten, als wir Akademikerinnen und Akademiker es zu leisten vermögen. Dieses Potential der Literatur zu ergründen (es gegebe‐ nenfalls auch kritisch einzufordern) und zu vermitteln bleibt eine vornehme Aufgabe der Literaturwissenschaften. Literaturwissenschaften in der Krise: Was wir auch noch tun könnten Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz - und mein zukunftsfrohes Plä‐ doyer dafür, dass die Literaturwissenschaften an deutschsprachigen Universi‐ täten durchaus eine Rolle auch in der globalen Krise zu spielen hätten, gerät gewaltig ins Wanken. Denn wir befinden uns in einer einigermaßen bigotten Situation an den Universitäten: Wir selbst prangern mittlerweile seit Jahr‐ zehnten den Siegeszug des alle Werte nivellierenden und zerstörenden Neoli‐ beralismus an, und das tun sehr viele Kolleg*innen in ihren Seminaren wie in ihren Publikationen, wir praktizieren ihn aber zugleich ohne Unterlass in un‐ Literaturwissenschaften in der Krise 281 serem Betrieb auf eine geradezu enthemmte Weise. An den Universitäten in Deutschland herrschen jedenfalls allzu oft Beschäftigungsbedingungen für den sogenannten ›Wissenschaftlichen Nachwuchs‹ (gemeint sind damit erwachsene Menschen, die nicht selten bereits in der Mitte ihres Lebens stehen) und werden (auch in der bessergestellten Schweiz) Qualifikations- und Beschäftigungs‐ hürden aufgebaut, die außerhalb des Elfenbeinturmes kaum vermittelbar wären (vgl. hierzu etwa die Ausgabe der Zeitschrift Undercurrents vom Juli 2016 mit dem Schwerpunkt »Nicht berufen. Arbeitsverhältnisse im Literaturwissen‐ schaftsbetrieb«, die online zu finden ist). Der Weg zur Promotion, der auf universitären Stellen mit einer Mehrfachbe‐ lastung als Forschende und Verwaltende und Lehrende einhergeht, die nicht nur im Ausnahme-, sondern im Regelfall zu einer 60+-Stunden-Woche der Betrof‐ fenen führt (jedoch in den seltensten Fällen bei einem Beschäftigungsgrad von 100 %), ist steinig genug. Ein Nachlassen aus Erschöpfung, ein Zögern bei der Übernahme immer neuer Aufgaben in Lehre und Verwaltung, die zunehmend auf den sogenannten ›Mittelbau‹ abgewälzt werden, oder gar eine Weigerung, auch an den Wochenenden und im Urlaub erreichbar zu sein, werden allzu oft als ein Mangel an Enthusiasmus und Belastbarkeit ausgelegt. Wer dem Druck nicht standhält - gar nicht so selten brechen junge Menschen die Universitäts‐ karriere aufgrund psychischer Erkrankungen ab -, war eben nicht stark und belastbar genug. Es ist ein eigenartiger Kodex von Härte und Leidensfähigkeit, der sich etabliert hat und der mitunter ungut an das falsche Bewusstsein der Kriegsgeneration erinnert, die ebenfalls meinte, dass die Nachkommenden ruhig aushalten müssten, was man selbst schließlich auch durchgestanden habe. Ich staune immer wieder bei dieser mehr als einmal gehörten Argumentation, wie wenig den Betroffenen bewusst zu sein scheint, was für ein schwaches und er‐ kennbar falsches Argument dies ist und wie wenig bei ihnen der Wille auf‐ scheint, an den doch offenkundig erkannten Missständen etwas ändern zu wollen. Dies gilt auch und gerade für den unausgesprochenen Zwang zur Habilitation in vielen Philologien. Dieser erweist sich als eine familien- und damit zumeist frauenfeindliche Praxis, die dem Anspruch der allermeisten Kolleginnen und Kollegen, in ihren Arbeiten kritisch und aufgeklärt mit der Kategorie Geschlecht umzugehen, Hohn spricht. Kaum vermittelbar oder zu rechtfertigen ist schließ‐ lich, dass wir die - oft stellenlosen - Privatdozierenden ohne mit der Wimper zu zucken dazu zwingen, ihre mit dem Einsatz von viel Lebenszeit teuer erkaufte Lehrbefugnis Jahr für Jahr durch die Ableistung unbezahlter Lehraufträge er‐ halten zu müssen. Insofern erweist sich die Literaturwissenschaft selbst - nicht sie allein, aber eben auch sie - für die Betroffenen nicht etwa als ein Korrektiv, Matthias N. Lorenz 282 sondern als ein Teil des von diesem Band aufgemachten Krisenszenarios. Wäh‐ rend viele Probleme der deutschen Universität sich vermutlich auch genauso in den meisten anderen europäischen und angelsächsischen Ländern auftun, stellt die rituelle Habilitation einen Sonderfall des deutschsprachigen Raumes dar. Die Krise der Literaturwissenschaften als Teil eines bigotten Wissenschafts‐ systems, das in verschiedenen Ausprägungen natürlich auch über Deutschland hinaus zu finden ist, resultiert in einer massiven Glaubwürdigkeitskrise, die durch die tiefe Kluft zwischen unserem Denken und unserem praktischen Han‐ deln verursacht wird. Eine Metaposition, aus der sich gesellschaftliche Miss‐ stände betrachten ließen, kann die Universität kaum mehr für sich beanspru‐ chen. Diese Krise beschränkt sich nicht allein auf die Situation des ›Nachwuchses‹. Auch wir Antragsberechtigten strampeln uns immer weiter ab, um uns unter größtem äußerem Druck Reste von Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten oder überhaupt erst zu erarbeiten. Diese Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich fast nur noch durch die Einwerbung von Drittmitteln, die in den geisteswissen‐ schaftlichen Fächern stets dazu eingesetzt werden, in Exzellenzclustern, Gra‐ duiertenkollegs, Sonderforschungsbereichen oder Projekten neue Qualifikati‐ onsstellen zu schaffen. So pflegen wir unser Drittmittelkonto und unser Curriculum Vitae - sehenden Auges um den Preis, dass wir andauernd immer noch mehr und noch mehr Promovierte und Habilitierte produzieren, denen keiner von uns noch ernstlich sagen kann, wie sie ihr hochgradig spezialisiertes Wissen und ihre ebensolchen Fertigkeiten einmal erfolgreich als Beruf ausüben könnten. Stefan Matuschek ruft diesbezüglich ins Bewusstsein, wie sehr am (weitaus schmaleren) Bedarf der Disziplin vorbei ausgebildet wird: »Wer am Ende seiner Dienstjahre seine Habilitationskandidatinnen zusammenrechnet und sich zugleich bewusst macht, dass er selbst nur eine Stelle frei gibt, kann seinen individuellen Beitrag zur Nachwuchs-Chancenkrise bemessen« (Matu‐ schek 2015: 495). Mit Leitwerten wie verantwortlichem Handeln oder Nachhal‐ tigkeit, die derzeit so en vogue sind, hat das nichts mehr zu tun. Die Folge ist ein abartiger Konkurrenzdruck bereits bei der Bewerbung auf W1- und W2-Stellen, der ganz planmäßig die allermeisten Bewerberinnen und Bewerber früher oder später mürbe macht und selbst die Mehrzahl der bis zur Selbstauf‐ gabe Standhaften in Deutschland spätestens nach 12 Jahren (oft prekärer) Be‐ schäftigung aus dem System ausscheidet. Durch die strikte Kopplung von Wis‐ sensproduktion und akademischer Qualifikation geht andauernd bei jedem Auslaufen von Promotions- oder Habilitationsstellen und -stipendien mit viel Einsatz erworbenes Wissen verloren. Literaturwissenschaften in der Krise 283 Alle diese Zustände, die in jedem privatwirtschaftlichen Unternehmen als Missstände identifiziert und nach Möglichkeit mit gewerkschaftlicher Hilfe be‐ kämpft werden würden, sprechen der gesellschaftskritischen Haltung Hohn, die wir in unseren Schriften für uns und unsere Disziplin in Anspruch nehmen. Konflikte am Arbeitsplatz Universität etwa können nicht nach außen getragen werden, sondern werden allein innerhalb von Loyalitätsverhältnissen - und das heißt immer: in starken Abhängigkeitsverhältnissen - ausgetragen. Da sie in der Regel über kurz oder lang mit der Entfernung der rangniederen Konflikt‐ partner aus dem Institut enden, was oft gleichbedeutend mit der Entfernung aus dem Universitätssystem insgesamt ist, werden sie gar nicht erst zur Sprache gebracht. Demokratische Teilhabe, aber auch das Lernen der Organisation Uni‐ versität selbst, bleibt so auf der Strecke. Alle diese Zustände sind - und es ist frustrierend, hier andere wiederholen zu müssen - bekannt. Allein, die Wiederholung erscheint notwendig, wenn die entsprechenden Krisenanalysen und Positionspapiere wie etwa die Empfeh‐ lungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten des Wissenschaftsrates (Wissenschaftsrat 2014) oder ein Orientierungsrahmen zur Förderung des wis‐ senschaftlichen Nachwuchses nach der Promotion und akademischer Karrierewege neben der Professur der Hochschulrektorenkonferenz (Hochschulrektorenkon‐ ferenz 2014) zwar vorliegen, aber bislang keine praktische Wirkung zeigen. Wir selbst müssen den schon oft als notwendig erachteten Kulturwandel im Wis‐ senschaftssystem auch von unten, vor Ort betreiben. Entsprechende Initiativen in anderen Disziplinen, die diesen Kampf bereits aufgenommen haben, sollten uns dazu ermutigen - etwa die von Soziolog*innen initiierte Petition Für Gute Arbeit in der Wissenschaft (Soziologie-Ini 2014), die in der Deutschen Gesell‐ schaft für Soziologie Bewusstsein für prekäre Beschäftigungsverhältnisse ge‐ schaffen und Veränderungen angestoßen hat (vgl. hierzu auch die oben ge‐ nannte Ausgabe von Undercurrents (2016). Dabei bedeuten bessere oder schlechtere Beschäftigungsbedingungen nichts Anderes als bessere oder schlechtere Lehr- und Forschungsbedingungen. Selbst‐ verständlich leidet nicht nur die persönliche biografische Entwicklung vieler ›Nachwuchs‹-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler, sondern umgekehrt proportional zum steigenden Grad der Frustration nimmt die Güte der Arbeit in der Betreuung der Studierenden wie der Innovation der Studiengänge und der Forschung ab. Die viel beschworenen besten Köpfe drohen nach der Been‐ digung ihres Studiums längst nicht mehr an den Universitäten zu bleiben (falls sie klug genug sind, die Unzumutbarkeiten unseres Betriebes rechtzeitig zu er‐ kennen). Gerhard von Graevenitz geht sogar so weit, von einer ›zweiten Exi‐ lierung‹ der jungen deutschen Wissenschaftler*innen zu sprechen und gibt zu Matthias N. Lorenz 284 bedenken, dass eine Auslese, die zum existenziellen Konkurrenzkampf ausartet, mit »echte[m] Wettbewerb« nichts mehr zu tun hat, da dieser »nur möglich ist, wenn er mit kalkulierbaren Risiken verbunden ist.« (v. Graevenitz 2015: 597-8). Ich erlebe natürlich auch viele Kolleginnen und Kollegen, die versuchen, die systembedingten Schwierigkeiten abzubauen und verantwortungsvoll ver‐ lässlichere und angemessenere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Aber dass wir alle innerhalb eines Rahmens agieren, den wir zwar hin und wieder - eher fa‐ talistisch als aufmüpfig gestimmt - beklagen, den wir aber nie ernstlich und vor allem mit praktischer Konsequenz in Frage stellen und tätig bekämpfen, tangiert zumindest unsere Berechtigung, Missstände wie Frauen- und Familienfeind‐ lichkeit, Ausbeutungsverhältnisse, Autokratismus oder Demokratiedefizite aus einer vermeintlichen Metaposition heraus zu kritisieren. Seien wir ehrlich: Nach außen wird gerade eine Disziplin wie die Literaturwissenschaft nur sehr be‐ grenzten Einfluss auf das politische Weltgeschehen geltend machen können. Gerade deshalb sollten wir nicht nachlassen - aber wir wären auf beiden Augen blind, wenn wir nicht auch endlich die Baustellen im Inneren unseres Betriebes angingen. Wenn wir in Zeiten der Krise nicht belächelt und ignoriert, sondern ernst genommen werden wollen, sollten wir damit beginnen, dass wir uns selbst - und das schließt selbstverständlich den ›Nachwuchs‹ wie die Studienbedin‐ gungen mit ein - ernst nehmen; dass wir die gleichen ausgefeilten kritischen Maßstäbe, die wir auf literarische Werke, ihre Autor*innen und die gesellschaft‐ lichen Diskurse, die wir erforschen, anwenden, nicht einfach umstandslos fahren lassen, wenn wir uns als Angehörige der Universität verhalten. Beden‐ kenswert erscheinen mir in diesem Zusammenhang die drei Thesen der Litera‐ turwissenschaftlerin Birgit Pahle (2016), die sie wie folgt einleitet: Progressive Politik bedeutet immer, die eigene Situation und Position in Frage zu stellen, sich mit Anderen zu verbinden und neue Situationen und Positionen zu schaffen. 1. Bürgerliche Privilegien verpflichten. Nämlich zu einer kollektiven Verantwor‐ tung gerade der Professor*innenschaft: zu zahlen für Prekäre und Kämpfe der Prekären, öffentlich Stellung zu beziehen für sie und verstetigte Jobs für sie zu schaffen. 2. Die prekäre Bohème ist immer noch eine vergleichsweise privilegierte Situa‐ tion, die geeignet ist, kollektivem Handeln Raum zu geben. Wer nicht völlig in den Zwängen der Akademie aufgeht, sollte ihnen auch nicht in vorauseilendem Gehorsam nachgeben - auch wenn alle und alle sie / ihn dahin drängen möchten. Sondern öffentlich ihre / seine Stimme und ihr / sein Wissen in eman‐ Literaturwissenschaften in der Krise 285 zipatorische soziale Bewegungen einbringen. Wie viele öffentliche Intellektu‐ elle waren denn je Professor*innen? 3. Umgekehrt hat das etwas privilegiertere prekäre Kollektiv der Akade‐ miker*innen die Aufgabe, die nicht-akademischen Widerstandsbewegungen zur Kenntnis zu nehmen und deren Wissen und Praxis in die eigene wissen‐ schaftliche und politische Arbeit aufzunehmen: Die Kämpfe der Prekären ins‐ gesamt und nicht nur der relativ privilegierten Akademiker*innen zu hören - nicht als Lärm und Rauschen im Hintergrund, sondern als artikulierte Praxis - und zu unterstützen. Mir fällt es jedenfalls schwer, die Vorzüge meiner philologischen Lesart unserer Gesellschaft und ihrer gegenwärtigen Krisen nach außen zu tragen, wenn sich mir die literaturwissenschaftlichen Abteilungen unserer Universitäten im In‐ neren als ein Betrieb von zur Duckmäusigkeit Verdammten auf der einen Seite und fatalistischen Stelleninhaber*innen auf der anderen Seite darstellen, die in ihrer systemisch bedingten Überforderung gleichermaßen dabei versagen, den Wissenschaftsbetrieb neu zu denken und so auszugestalten, dass er im postfak‐ tischen 21. Jahrhundert noch eine Rolle spielen kann. Denn das wäre doch eine tätige Verteidigung unserer Werte - gegen Fundamentalisten, Realitätsverwei‐ gerer, Frauenverächter, Demokratiefeinde und auch all die einfach bloß Desin‐ teressierten: den Lehrberuf, die Forschung und die akademische Ausbildung so auszugestalten, dass die Universität zu einem Ort wird, an dem Teilhabe möglich ist, wo Widerspruch geduldet wird, wo Frauen und Männer, die Beruf und Fa‐ milie zu vereinen versuchen, nicht benachteiligt werden und wo Hierarchien abgebaut werden. Und wo Neugier geweckt wird, wo gegenwärtige Probleme einen Platz haben. So könnte die Universität nicht nur zu einem besseren Aus‐ bildungsbetrieb, sondern auch zu einem anschaulichen Vorbild für eine Gesell‐ schaft in der Krise avancieren. Die Frage nach dem Wie führt meines Erachtens nicht mehr nur über eine persönliche (subversive und letztlich über den Einzelfall hinaus systemisch un‐ wirksame) Opposition, die sich etwa in kritischer Lehre, einer Entschlackung von Studienordnung und Kanon sowie der Verfolgung gesellschaftsrelevanter und politisch aufklärerischer Forschungsprojekte erschöpft. Dies alles ist sehr wichtig, aber dies allein ist nicht ausreichend, weil noch jede Initiative des oder der Einzelnen innerhalb eines Systems stattfindet, das so nicht mehr hin‐ nehmbar ist. Opposition wäre es, wenn Widerspruch zumindest auch öffentlich sicht- und hörbar würde. Ich muss nicht jede vom Wissenschaftsministerium durchgedrückte Sparrunde, Verwaltungsschikane oder curriculare Gängelung ohne jeden Widerspruch akzeptieren und exekutieren - was natürlich ganz ge‐ nauso auf inneruniversitärer Ebene etwa zwischen Präsidium und Fakultät gilt. Matthias N. Lorenz 286 Vor allem an den Universitäten selbst könnten die Fakultäten durchaus etwas tun: Wir könnten unsere Ausgestaltung der Studienangebote kritisch hinter‐ fragen und reformieren. Wir könnten über Sinn und Unsinn von Prüfungsre‐ gularien diskutieren, inklusive der mancherorts unsäglichen Ausgestaltung der Habilitation als Initiationsritus. Wir könnten Hierarchien abbauen durch eine stärkere Beteiligung der unterprivilegierten Statusgruppen. Wir könnten über‐ legen, wie wir denjenigen Zugänge zum Studium eröffnen, die bislang von dieser im deutschen Sprachraum weitgehend bildungsbürgerlichen Selbstreprodukti‐ onsveranstaltung faktisch ausgeschlossen sind. Wir könnten über andere, nach‐ haltigere Zielsetzungen und Leistungsmessungsinstrumente nachdenken als die bloße Anhäufung von Drittmitteln, Projekten und Publikationen. Wir könnten prekäre Beschäftigungsverhältnisse abbauen. Wir könnten uns schlicht wei‐ gern, die Notlage arbeitsloser Privatdozent*innen auszunutzen. Wir könnten wirksame Ebenen zur beruflichen Konfliktlösung einziehen und die starke Ab‐ hängigkeit etwa der Doktorand*innen von ihren Betreuer*innen zu beschneiden versuchen. Wir könnten bestimmte Aufgaben der Planung, Verwaltung und des Berichtswesens professionalisieren und die Professor*innenschaft davon ent‐ lasten. Wir könnten auch anfangen, all dies zu kommunizieren und so einen Kulturwandel herbeizureden, so dass - anders als in der Germanistik heute - hoffentlich in 25 Jahren nicht mehr der hochkulturelle Nimbus eines kanoni‐ sierten Dichters über das Renommee eines Forschers oder einer Forscherin ent‐ scheidet, sondern die Originalität und Relevanz von deren Arbeit, die mögli‐ cherweise, ja: hoffentlich die etablierten Fachgrenzen überschreitet. Wir könnten unsere ins Unverantwortliche ausgeartete Heranzüchtung von Heer‐ scharen junger Wissenschaftler*innen auf ein sinnvolles Maß beschränken und dafür die Betreuung intensivieren. Wir könnten schließlich eklatantes Fehlver‐ halten im Betrieb einmal problematisieren, in die Konfrontation gehen, es zur Not auch öffentlich machen, um zu zeigen und zu bewirken, dass es so nicht weitergeht. Das alles setzt viel guten Willen, etwas Mut und auch eine Vision von einer neuen Kultur des Miteinanders an der Universität voraus. Mit etwas mehr vernehmbarer Empörung über die ganz konkreten Ungerechtigkeiten, Marginalisierungen und all die anderen Missstände im Universitätsbetrieb könnte es beginnen. Wenn unbefristet beschäftigte Universitätsangestellte sich hierfür nicht einsetzen mit dem Hinweis, das könnten sie nicht machen, so ist das jedenfalls nichts als eine faule Ausrede - oder dürften ihre Kinder dann nicht studieren, würden sie selbst entlassen? Natürlich nicht. Auf dieser Baustelle die Arbeit aufzunehmen, wäre das best case-Szenario in der jetzigen Situation. Der worst case hingegen wäre, wenn morgen ein popu‐ listischer Machthaber vom Schlage eines Erdogan, Putin oder Trump auch die Literaturwissenschaften in der Krise 287 deutschen Universitäten von ›unzuverlässigen Elementen säubern‹ lassen würde. Glücklicherweise ist das eine derzeit noch unrealistische Horrorvorstel‐ lung. Aber wenn es einmal so käme, dann könnte eine solche Regierung sich darauf verlassen, dass in Deutschland nicht etwa eine sichtbare Lücke gerissen würde, sondern dass vielmehr ein ganzes Heer akademischer ›Nachwuchs‐ kräfte‹ bereitstünde, die wohlmöglich um jeden Preis die freiwerdenden Plätze einnehmen würden. Angesichts ihrer oft existenziellen Sorgen könnte man es den Betroffenen noch nicht einmal verübeln. Auch solche Potentiale, die wir durch die Fehlsteuerung unseres Betriebes in Kauf nehmen, sollten uns Sorgen bereiten. - Und was Erdogan, Trump und Co. angeht: Es gibt einfach keinen Grund, auf deren Unterdrückung von Kritik zu schimpfen, wenn wir nicht zeigen, dass wir selbst nicht nur kritisch denken, sondern auch handeln wollen. Literatur Hochschulrektorenkonferenz (2014). Orientierungsrahmen zur Förderung des wissen‐ schaftlichen Nachwuchses nach der Promotion und akademischer Karrierewege neben der Professur der Hochschulrektorenkonferenz (13. 05. 2014). https: / / www.bmbf.de/ files/ StN_HRK_1WissZeit_VGAendg-Anlage2.pdf (01. 11. 17). Mälzer, Moritz (2016). Auf der Suche nach der neuen Universität. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Matuschek, Stefan (2015). ›Welche Krise? ‹ Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwis‐ senschaft und Geistesgeschichte 89.4, 494-504. 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Graevenitz, Gerhart (2015) ›Die Zukunft des Fachs ist die Zukunft seines Nach‐ wuchses.‹ Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89.4, 595-601. Matthias N. Lorenz 288 Wissenschaftsrat (2014) Empfehlungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten des Wissenschaftsrates. (11. 07. 2014), https: / / www.wissenschaftsrat.de/ download/ archiv/ 4009-14.pdf (01. 11. 17). Literaturwissenschaften in der Krise 289 Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft Schlusswort Russell West-Pavlov Foucaults inzwischen berühmt gewordene Replik an Derrida im Zuge von dessen Interpretation eines zentralen Descartes-Textes entfachte eine langjäh‐ rige Fehde zwischen den zwei Hauptakteuren des französischen Poststruktura‐ lismus. In »Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer« wirft Foucault Derrida vor, mit seiner textimmanenten Auslegung von Descartes lediglich das System der Staatsexamina der französischen »Éducation nationale« zu reproduzieren (Fou‐ cault 2002: II , 331). Stattdessen zielt Foucaults Lektüre von Descartes darauf ab, sowohl die diskursive Einbettung des Descartes’schen Textes wie auch (aller‐ dings indirekt) die des französischen Bildungssystems und die dafür wesentliche Übung des Textkommentars (»explication de texte«) darzulegen (vgl. Foucault 1973: 14 f.). Foucaults Methode beruht auf der Annahme, man dürfe als kriti‐ sche*r Geisteswissenschaftler*in nicht weiterhin systemimmanent arbeiten (das klassische Beispiel hierfür wäre das des Marxismus, der nicht gegen seine Zeit denkt, sondern zutiefst mit ihr eins ist [Foucault 1974: 320]; im Gegenteil, man müsse das Gerüst des Systems selbst offenlegen, um überhaupt einen Rahmen für ein wirksames politisches Eingreifen, und sei es aus dem zwangsläufig be‐ grenzten Blickwinkel des »spezifischen« Intellektuellen heraus (Foucault 2002: II , 382-393), zu schaffen. Ausgehend von seiner nie niedergeschriebenen, jedoch tiefgreifenden Heidegger-Lektüre (Foucault 2002: IV , 867-868) versteht Fou‐ cault die diskursiven Bedingungen einer Epoche (das sogenannte »episteme«) als die unsichtbare Lichtung, die den Wald als solchen überhaupt fassbar mache. Der »Diskurs« stellt eine Konfiguration an Grundregeln (Sagbares bzw. Denk‐ bares vs. Unsagbares bzw. Undenkbares) dar, die sich nur durch das, was sie ermöglicht (oder stillschweigend verbietet) manifestiert (Foucault 1981). Dieses System sichtbar zu machen, ist, so Foucault, die eigentliche Aufgabe der intel‐ lektuellen Arbeit. Um dieser Aufgabe aber gerecht zu werden, müsse die / der Fragestellende aus dem Rahmen des eigenen Denkens heraustreten, die eigenen Grundannahmen von außerhalb betrachten, um das, was der Fragestellung zu‐ grunde liegt, wahrzunehmen. Mit anderen Worten, wichtig ist, je nach politi‐ scher Lage und weltgeschichtlichen Entwicklungen, den Rahmen zu identifi‐ zieren und ggf. zu verschieben, der überhaupt eine Fragestellung ermöglicht. Im vorliegenden Band schlagen die Beiträger allesamt verschiedene Strategien vor, wie diese Perspektivwechsel auf der Ebene der Gesamtoptik, d. h. der einrahm‐ enden Grundannahmen der Geisteswissenschaften und insbesondere der Lite‐ raturwissenschaften, vollzogen werden könnten. Die allgemeine heutige Situation hat wenig gemeinsam mit der der späten 60er-Jahre, dem Zeitpunkt, als Foucault sich mit Derrida auseinandersetzte. Auch Foucaults eigenes Denken durchlief danach verschiedene Etappen. Die Geste von damals kann jedoch als Denkfigur für die Aufgabe des vorliegenden Sammelbandes fungieren: Es geht hier um eine Verschiebung von Denkrahmen, und zwar buchstäblich im Sinne der Erweiterung des Horizonts, in dessen Rahmen die Geisteswissenschaften und vor allem die Literaturwissenschaften ihre wissenschaftlichen Fragestellungen formulieren. Der Horizont, um den es heutzutage geht, kann jedoch nicht mehr bloß als ein diskursiver im Sinne Fou‐ caults beschrieben werden. Lediglich im Rahmen der Diskurskritik oder der Diskursanalyse weiter eine literaturwissenschaftliche Forschung zu betreiben hieße genau in die Falle zu tappen, die Foucault Derrida vorwirft. Nein, der Rahmen selbst muss in seinem substantiellen Wesen verschoben werden: Die Analyse der Repräsentationstechniken ist seit einem guten Jahrzehnt durch eine »post-representational theory« (Thrift 2008) überholt worden. Der eigene Er‐ wartungshorizont der Geisteswissenschaften kann nicht länger nur durch die fachinterne Tradition und die fachinternen Fragestellungen, einschließlich der gesellschaftlichen Diskursanalyse, definiert werden, sondern muss erweitert werden, um einen größeren Rahmen mit einzubeziehen, und zwar den der ge‐ genwärtigen Krise. Die Geisteswissenschaften (die sogenannten »Humanities« im englischen Sprachgebrauch) haben sich durch einen langen Abspaltungsprozess herausge‐ bildet. Am Anfang war die Universität im ursprünglichen Sinne des Worts: ein Ort, wo der Universalgelehrte das Wissen des Universums als Ganzes erweiterte und verbreitete. Aber analog zum Humanen, das aus einer Ausdifferenzierung gegenüber der Natur entstanden ist (Latour 2008), sind die »Humanities« aus mehreren ähnlichen Grenzziehungen und im selben Zeitraum zustande ge‐ kommen. Die Fächer haben sich voneinander entfernt, indem sie eigene Be‐ reiche eingerichtet haben - zum selben Zeitpunkt und nach demselben Muster wie die im 19. Jahrhundert entstandenen europäischen Nationalstaaten. Dieser Russell West-Pavlov 292 Prozess der Ausdifferenzierung beruht auf einer grundlegenden Grenzziehung, die später eine Filtrierung von Methoden, Konzepten, Informationen und Mit‐ gliedern hervorbrachte. Die Grenzziehung ermöglichte die Herausbildung der eigenen Fachidentität und die Aufrechterhaltung des eigenen institutionellen Daseins, sie erschwert jedoch sowohl den Zugang zum Innern (Stichworte: Eig‐ nungstests, Aufnahmeprüfungen, Qualifikationsetappen) wie auch die Sicht nach außen (hochspezialisierte Kanaldenker sind gefragt) (vgl. Luhmann 1992). Die Tatsache, dass die geisteswissenschaftlichen Fächer weitgehend fernab der Krise geblieben sind (paradigmatisch in der Zeit nach dem Dritten Reich) und weiterhin bleiben, ist daher zum Teil strukturell bedingt. Jedoch sind alle Fächer darauf angewiesen, um sich überhaupt wissenschaftlich zu entwickeln, dass sie die eigenen Grenzen überwinden, entweder insofern sie sich in andere Ver‐ suchsgebiete wagen, oder indem sie sich Theorien und Ansätze von außen he‐ reinholen (oft ist dies buchstäblich so; siehe die Auswanderung von osteuro‐ päischen Wissenschaftlern nach Frankreich [Bourdieu 1992] oder der deutschen Wissenschaftler in die USA während des Nationalsozialismus). Die Grenze eines Faches ist also nicht dicht, sondern porös und kann und muss jederzeit bei Bedarf überwunden werden. Jetzt ist es an der Zeit, eine solche Grenzüberschreitung zu vollziehen, so dass die Geisteswissenschaften ihre Ressourcen angesichts der gegenwärtigen Krisen genuin ins Spiel bringen können. Deshalb wird hier durchgehend von den »Geisteswissenschaften« gesprochen. Die »Literaturwis‐ senschaften« sind mitgemeint, nicht um deren wissenschaftliche Spezifizität herunterzuspielen, sondern um deren Position innerhalb eines grenzüberschrei‐ tenden Gesamtgewebes von Philologien und Geschichtsbzw. Gesellschafts‐ wissenschaften aufzuzeigen. Es geht hier also um ein Plädoyer für eine »extrovertierte« Haltung unter den Geisteswissenschaften. Tim Ingold (2015: 134-135) argumentiert für ein »ex-duktives« Modell des Forschens und Lernens. Ausgehend vom etymologi‐ schen Ursprung der Worts »education« (Bildung) leitet er aus »educare« eine alternative Wortbildung ab: »ex« + »ducare« = »hinausziehen«. Die Bildung soll nicht nur eine »(Hin)einleitung« in die Kultur und ins gesellschaftliche Wissen sein, sondern ein »(Hin)ausleiten« in die Welt - und heutzutage bedeutet das, ein Hinausleiten in eine Welt der multiplen Krisen. Die Geisteswissenschaften sind mehr denn je in dieser Hinsicht gefragt - in Zeiten, in denen die Religion, die Naturwissenschaften und die Politik immer seltener in der Lage sind, Antworten, Deutungsansätze und Lösungsstrategien für die gegenwärtigen Krisen zu bieten. Beispiellos ist das Fehlen dieser Fähig‐ keiten in den obersten politischen Etagen der Bundesrepublik: Der amerikani‐ sche Politikwissenschaftler Meaney (2017: 10), der die Bundespolitik kurz vor Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft 293 der Bundestagswahl 2017 von außen betrachtete, vermochte bezüglich der Bun‐ deskanzlerin Angela Merkel zu sagen, »ihr politisches Geschick liege darin, die grundlegenden Probleme des Landes zu umgehen, während sie die oberflächli‐ chen Symptome besser behandelt als je ein konservativer Politiker zuvor es ge‐ schafft hat«. Von unten kommen, abgesehen von einer Vielzahl an lokalen Pro‐ jekten, freilich keine staatsübergreifenden Lösungsansätze. Angesichts des Versagens der Politik und anderer öffentlicher Instanzen angesichts der man‐ nigfaltigen Herausforderungen der Gegenwart liegt die Verantwortung und die Stärke der außerhalb der Zweckrationalität stehendenden Geisteswissen‐ schaften in deren Fähigkeit, mit einem etwas freieren Blick auf die vielen nati‐ onalen und internationalen, gar globalen Baustellen einerseits kritisch-fragend, andererseits kreativ-antwortend zu schauen. Was aber sind die Probleme? Hier eine - freilich unvollständige - Auflistung von der spezifischen bundesrepublikanischen Warte aus, auf die Gefahr hin, die in der Einleitung aufgeführte Liste in Teilen zu wiederholen: 1. Vor allem, auch wenn Europa weniger als viele andere Erdteile davon betroffen ist, wird auch hierzulande bemerkbar, dass das globale Klima aus den Fugen geraten ist. Immer instabilere Wettermuster mit teilweise extremen Wetterbedingungen wie z. B. Tornados und Symptome globaler Klimaänderungen sind erste Anzeichen potentiell größerer Bedrohungen für ganzen Regionen bzw. Bevölkerungsgruppen, etwa der steigende Meeresspiegel der Nordsee (Eckstein und Strunz 2017); 2. eine immer größer werdende Kluft zwischen Reichen und Armen sowie ein steigender Armutspegel (Butterwegge 2017) und die daraus resultie‐ rende wachsende Nichtbeteiligung am politischen Geschehen seitens der absteigenden Bevölkerungsschichten (Streeck 2013); 3. eine Transformation des Arbeitsmarkts, die längst die Arbeiterklasse, je‐ doch zunehmend auch die Mittelschicht betrifft (Frey and Osborne 2013; Streeck 2017) und diese in den Niedriglohnsektor fallen lässt (laut Statis‐ tischem Bundesamt sind das 2017 20 % der Arbeitnehmer, andere auf al‐ ternativen Kriterien basierende Analysen, etwa die des DGB , sehen die Zahl eher bei 40 %; Behnen 2017); 4. ein Bildungssektor, der diesen Tendenzen hinterherhinkt und kaum in der Lage ist, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken (Streeck 2017); 5. die Fragmentierung der Gesellschaft nicht nur in Nischenmärkte, sondern in immer kleinteiligere und homogenere Peer-Groups, beschleunigt durch die Auswirkungen von digitalen bzw. sozialen Medien, durch die Bildung von geschlossenen Online-Communities, die sich in Krisenzeiten immer stärker voneinander abschotten (Lanchester 2017); Russell West-Pavlov 294 6. ein zunehmender demographischer Druck aus dem Globalen Süden, der sich in Form einer von Klimaänderungen (z. B. steigende Meeresspiegel, Dürren), Kriegen, Hunger und Arbeitslosigkeit verursachten und daher anhaltenden Migrationsbewegung ausdrückt. Diese Migrationsbewe‐ gungen erzeugen erhebliche soziale Spannungen bei der sich bedroht fühlenden heimischen Bevölkerung. Die mangelnde Aufnahmefähigkeit eines großen Anteils der Bevölkerung (bis hin zu Gewaltbereitschaft) und die Unfähigkeit, sich die eigene nationale Gemeinschaft anders und of‐ fener vorzustellen und zu konzipieren, erweist sich als eine Hürde für die dringend notwendige Neugestaltung des veralteten und »skills«-armen Gesamtstaates (Münkler und Münkler 2016; Terkessidis 2016). Wenn die Migration sowohl innerhalb der Gesellschaft wie auf Staatsebene abge‐ lehnt oder blockiert wird, könnte dies das wirtschaftliche Wachstum er‐ heblich beeinträchtigen; 7. eine konstant bleibende Beteiligung an Rüstungsindustrien (auch im Rahmen des globalen »War on Terror«) und an der Ungleichheit produ‐ zierenden Wirtschaftspolitik, die solche globalen Entwicklungen be‐ schleunigt. Sämtliche hier aufgezählten Problemfelder sind zwar nationale Problemstellen, sind aber strukturell gekoppelt an globale Phänomene, deren Hauptmerkmale sie reproduzieren, weil sie Teil eines größeren Gebildes sind. Wie können wir als Geisteswissenschaftler*innen (einschließlich der Litera‐ turwissenschaftler*innen) angesichts von Problemen dieses Ausmaßes kon‐ struktiv an der Bewältigung der gegenwärtigen Gesamtkrise mitwirken? Hier einige allgemeine Leitlinien: Erstens brauchen wir eine Vision der Geisteswissenschaften, die den Wert von Traditionen nicht vernachlässigt, jedoch nicht rückwärts blickt (Verteidigung der Standards, Hort der Philologien), sondern entschei‐ dend nach vorne schaut; der »War on Terror« ist brutal zukunftsgewandt und auf die produktive »Herausforderung« von terroristischen Bedro‐ hungen ausgerichtet - auf die Gefahr hin, dass er sie geradezu produziert, wenn diese Ausrichtung nicht von vornherein eventuell darauf zielt, die Bedrohungen zu erzeugen, um sich somit zu legitimieren (Massumi 2015); wenn die Geisteswissenschaften nicht völlig irrelevant werden wollen, in einer Zeit, wo »toxic futures« von den Machthabern der Welt herbeigeführt werden, müssen sie sich genauso radikal in ihrer eigenen Temporalität neu positionieren. Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft 295 Zweitens brauchen wir eine Neuauflage der Geisteswissenschaften, die nach wie vor das kritische Denken verstärkt, gleichzeitig aber die Krea‐ tivität massiv fördert und die Geisteswissenschaften als ein seit Jahr‐ hunderten bestehendes Archiv des schöpferisch handelnden Menschen nicht nur in den Künsten, sondern in allen Bereichen des gesellschaftli‐ chen Lebens und Zusammenlebens versteht (Latour 2004); noch radikaler brauchen wir eine Version der Geisteswissenschaften, die sich als Teil eines aus menschlichen und nicht-menschlichen Ko-Akteuren beste‐ henden Netzwerks versteht, und die ihre Denkmuster in diesem Sinne von Grund auf neu ordnet (Latour 2005). Drittens benötigen wir eine Version der Geisteswissenschaften, die sich als Meta-Wissenschaft versteht, d. h. eine Wissenschaft, deren gesell‐ schaftlicher Auftrag darin besteht, über den Einsatz von anderen Wis‐ senschaften und Techniken nachzudenken und deren Beziehung zur Ge‐ sellschaft kritisch zu überprüfen, aber vor allem kreativ mitzugestalten; deren Rolle es nicht so sehr wäre, Wissen zu vermitteln, sondern zu lehren, wie man zwischen den pluralisierten Wissenszweigen (Lyotard 1994) vermitteln kann. Viertens ist eine Art von Geisteswissenschaften von Nöten, die von vorneherein über Fächergrenzen hinweg denkt; die Studierende befähigt, außerhalb der bestehenden Konzepte und über die herkömmlichen Ka‐ tegorien hinaus zu denken. Die geisteswissenschaftliche Lehre sollte vom ersten Semester an interdisziplinär gestaltet werden. Das Aneignen von fachlichem Handwerkzeug (sogenanntes »Grund-« oder »Basiswissen«) sollte nicht dem Überfachlichen vorausgehen (nach dem Konzept der »Voraussetzung« oder des hierarchischen »aufeinander Aufbauens«), sondern sollte das Außerfachliche immer und von Anfang an als konsti‐ tutive Bedingung miteinbeziehen. Das geisteswissenschaftliche Wissen muss hybrid werden - noch stärker, »bastardized« und sogar »promis‐ cuous«. Dies bedeutet fünftens, dass die Geisteswissenschaften sich ganz neue Wissenshorizonte aneignen; sie müssen ab sofort immer den Klima‐ wandel mitdenken (Siperstein, Hall und LeMenager 2016); ferner müssen sie ab jetzt den Globalen Süden immer mitdenken und immer über die epistemologischen Grenzen des eigenen Standorts nachdenken, wie z. B. Gayatri Spivak seit Jahrzenten im nordamerikanischen Kontext immer wieder anmahnt (Spivak 1993). Sechstens müssen wir die Identität der Absolvent*innen geisteswissen‐ schaftlicher Studiengänge überdenken; die Tatsache, dass Absol‐ Russell West-Pavlov 296 vent*innen unserer Fächer für alles und nichts qualifiziert sind, dass sie in allen möglichen Berufssparten landen (dafür jedoch meist relativ zügig einen Arbeitsplatz finden und meist eine hohe berufliche Zufriedenheit erreichen), muss im Voraus als wichtiges Merkmal dieser Fächer be‐ trachtet werden; geisteswissenschaftliche Absolvent*innen sind »or‐ ganic intellectuals«, die potentiell überall als fast virenartig tätige Mul‐ tiplikatoren einer Denkwende fungieren können, da sie diese Kehrtwende der Denkmuster aus ihrer künftig global-interdisziplinär, kritisch-kreativen Ausbildung mitbringen. In diesem Sinne müsste die Zielsetzung der geisteswissenschaftlichen Lehre neu gestaltetet werden. Anstatt nur »fachlich« definierter Ziele sollten auch »weltliche« bzw. »gesellschaftspolitische« Ziele am Ende jedes einzelnen Lernmoduls stehen. Dies wiederum impliziert, dass das Anwendungsobjekt von geis‐ teswissenschaftlichen Methoden auch verschoben werden müsste: Die Fokussierung von geisteswissenschaftlichen Methoden wie z. B. herme‐ neutische Textdeutung oder soziopolitische bzw. wirtschaftlich-ge‐ schichtliche Kontextualisierung von kulturellen Artefakten usw. müsste von den herkömmlichen Textsorten der Hochkultur (Kunst, Literatur, usw.) in Richtung Populärkultur bzw. Alltagspraxen (im Sinne der an‐ gelsächsischen »Cultural Studies«) verschoben werden. Damit ist jedoch nicht genug getan: Noch radikaler müssten geisteswissenschaftliche Me‐ thoden die Strukturen der Gegenwart und der Zukunft unter die Lupe nehmen: die zunehmende Fragmentierung bzw. die Polarisierung der globalen Gesellschaften; die schleichende Verbreitung wirtschaftlicher Prekarität; die zunehmend autoritäre Ausrichtung der Nationalstaaten (allein in Europa: Polen, Russland, Tschechien, Türkei, Spanien, Ungarn) und die Verstetigung der Ausnahmezustände (in Europa: Frankreich) bzw. der Militarisierung von Konfliktlösungen; und die stetige und immer rasantere Zunahme der Instabilität der globalen Klimamuster mit ihren heute kaum vorstellbaren langfristigen Ausmaßen und Auswir‐ kungen. Es geht nicht darum, die geisteswissenschaftlichen Methoden grundsätzlich zu transformieren oder das herkömmliche Instrumenta‐ rium des geisteswissenschaftlichen Arbeitens über Bord zu werfen, son‐ dern deren Rahmenbedingungen und deren Einsatzorte neu zu justieren. Erich Auerbach forderte vor siebzig Jahren eine »philologische Weltliteratur« nicht im Sinne des neu auferstandenen Fachs US -amerikanischer Provenienz, sondern im Schatten des Zweiten »Weltkriegs« (Auerbach 1992); Edward Said forderte vor dreißig Jahren eine »weltliche« (worldly) Literaturkritik (Said Manifest für eine extrovertierte Literaturwissenschaft 297 1984); Gayatri Spivak forderte vor fünfzehn Jahren eine »planetare« (planetary) Komparatistik (Spivak 2003). Heutzutage ist ein »weltliches«, gar »planetares« geisteswissenschaftliches Gesamtdenken mehr denn je von Nöten. Dies müssen wir erneut einfordern - angesichts der drohenden Katastrophen dringlicher als je zuvor. Literatur Auerbach, Erich (1992). Philologie der Weltliteratur: Sechs Versuche über Stil und Wirk‐ lichkeitswahrnehmung. Frankfurt am Main: Fischer. Behnen, Peter (2017). ›Die soziale Lage in der Bundesrepublik vor der Wahl.‹ Webseite Kreisverband Die Linke Breisgau-Hochschwarzwald. 28. August. 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Setz und Aléa Torik.‹ In: Sonja Arnold / Stephanie Catani / Chris‐ toph Jürgensen (Hrsg.): Sich selbst erzählen - Autobiographie - Autofiktion - Au‐ torschaft. Kiel: Verlag Ludwig, 2017. Nele Guinand ist nach dem abgeschlossenen Bachelorstudium in der Germa‐ nistik und Romanistik derzeit Studierende des trinationalen Masterstudien‐ gangs der Medienkulturanalyse (Düsseldorf - Wien - Nantes). Jens F. Heiderich ist Lehrer für Deutsch, Französisch und Ethik am Frau‐ enlob-Gymnasium in Mainz. Als Studiendirektor übt er die Funktion des Regi‐ onalen Fachberaters für Deutsch im Bereich Rheinhessen aus. Zudem ist er Lehrbeauftragter in der Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Weitere Informationen unter: www.jensheiderich.de. Anya Heise-von der Lippe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Englische Philologie - Lehrstuhl für Anglophone Literaturen an der Eberhard Karls Universität Tübingen und forscht zu Gothic und monströsen (Text-)Kör‐ pern. Zuletzt erschien der von ihr herausgegebene Sammelband Posthuman Go‐ thic (University of Wales Press, 2017). Stefan Hofer-Krucker Valderrama ist Lehrbeauftragter für Deutschdidaktik an der Universität Zürich und Deutsch- und Spanischlehrer an der Kantons‐ schule Enge in Zürich. Aktuelle Publikation: Extremwetter: Konstellationen des Klimawandels in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Simon Meisch und Stefan Hofer-Krucker Valderrama. Nomos: Baden-Baden, 2017. Julian Ingelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG -Graduierten‐ kolleg »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung« an der Georg-August-Universität Göttingen. Thomas Kater, MA , MA , promoviert seit 2016 am DFG -Graduiertenkolleg »Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einer Arbeit zum literarischen Werkbegriff. Seit 2015 ist er Mitglied im Zentrum für Wissenschaftstheorie der Universität Münster und seit 2017 ist er Mitherausgeber von Textpraxis. Digitales Journal für Philologie. Dorothee Kimmich studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tü‐ bingen und Paris; Promotion an der Universität Freiburg 1991, Habilitation an der Universität Gießen 1999, seit 2003 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Seit 2004 Leitung der Tübinger Poetik-Dozentur. Aktuelle Buchveröffentlichungen: Kulturtheorie (hrsg. zus. mit Thomas Hau‐ schild und Schamma Schahadat, 2010), Lebendige Dinge in der Moderne (2011), Ähnlichkeit: ein kulturtheoretisches Paradigma (zus. mit Anil Bhatti, 2015), Ins Ungefähre (2017). John Kinsella ist Professor für Literatur und Umwelt an der Curtin University, Western Australia, und Fellow am Churchill College der Universität Cambridge. Sein zuletzt erschienenes Buch zur ›place theory‹ ist Polysituatedness (Man‐ chester University Press, 2017). Derzeit arbeitet er zusammen mit Russell West-Pavlov am gemeinsamen Buch ˈtɛmp(ə)rərɪnəs, das 2018 im Narr Verlag, Tübingen, erscheinen wird. Robert Leucht, PD Dr., habilitierte sich 2014 an der Universität Zürich, aktuell Vertretung an der Université de Lausanne. Zuletzt erschien seine Monographie Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848-1930. Berlin: De Gruyter 2016. Matthias N. Lorenz lehrt - nach Stationen an den Universitäten Lüneburg und Bielefeld und Vertretungsbzw. Gastprofessuren an der TU Dortmund und an der University of Western Australia in Perth - seit 2012 als Professor für Neuere deutsche Literatur und insbesondere Gegenwartsliteratur am Institut für Ger‐ manistik in Bern. Er leitet derzeit zwei Projekte des Schweizer Nationalfonds zur Gruppe 47 und zu Christian Kracht. Aktuell erschienen ist die Monografie Distant Kinship - Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads »Heart of Darkness« in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht (Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2017). Carl Niekerk ist Professor für Germanistik, Vergleichende Literaturwissen‐ schaft und Weltliteratur und »Jewish Studies« an der University of Illinois / Urbana-Champaign. Zurzeit ist er Herausgeber der Zeitschrift German Quar‐ terly und des Lessing Jahrbuchs. Zuletzt erschien von ihm Reading Mahler: German Culture and Jewish Identity in Fin-de-Siècle Vienna (2010 / 2013). Beiträger*innen 301 John K. Noyes ist seit 2001 Professor der Germanistik an der Universität To‐ ronto und Professor Extraordinarius an der Universität Stellenbosch, Südafrika. Seine akademische Ausbildung erfolgte in Südafrika, wo er auch Germanistik und Literaturtheorie unterrichtete. Sein neuestes Buch, Herder: Aesthetics against Imperialism (2015), gewann den Jean and Aldo Scaglione Prize for Ger‐ manic Languages and Literatures (2014-2015). Christoph Reinfandt ist Professor für Neuere Englische Literatur an der Eber‐ hard Karls Unversität Tübingen. 2017 erschien das von ihm herausgegebene Handbook of the English Novel of the Twentieth and Twenty-First Centuries (Berlin, Boston: De Gruyter). Tom Reiss arbeitet als Bildungsberater für Geflüchtete sowie als Redakteur und Autor für Hinterland, das Magazin des Bayerischen Flüchtlingsrates. Er hat in München Neuere deutsche Literatur, Komparatistik und Linguistik studiert und mit einer Dissertation zur Semiotik des Phantastischen promoviert. Er ist Ko‐ ordinator der Abteilung für Visual and Performing Arts and Audiences bei der jährlich stattfindenden International Conference on the Fantastic in the Arts. Daniela Roth erhielt ihren PhD 2017 in einem Cotutelle Programm der Uni‐ versität Mannheim und der University of Waterloo, Kanada. Das Thema ihrer Dissertation ist »Migration und Adoleszenz: Die (Un-)Möglichkeit transnatio‐ naler Handlungsfreiheit in Alina Bronskys Scherbenpark (2008), Steven Uhlys Adams Fuge (2011) und Martin Horváths Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten (2012)«. Ihre Forschungsinteressen sind Migrations- und trans‐ nationale Literatur, Literatur und Krankheit sowie Deutsch als Zweit- und Fremdsprache im Kontext von Integration und Migration. Swen Schulte Eickholt ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Pa‐ derborn. Zuletzt erschienen (2017): ›Grenzgänger. Über das Verhältnis von Fremde und Heimat in Feridun Zaimoglus Roman Liebesmale, scharlachrot und Yasemin Şamderlis Film Almanya. Willkommen in Deutschland.‹ In: Olivia C. Diáz Pérez, Ortrud Gutjahr, Rolf G. Renner, Marisa Siguan (Hrsg.). Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film. Tendenzen nach 1989 in exemplari‐ schen Analysen. Tübingen: Stauffenburg. Sasche Seiler vertritt derzeit eine W2-Professur am Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. For‐ schungsschwerpunkte im Bereich der Globalisierungsdiskurse, der Popmusik‐ forschung, Literatur und Terrorismus, Ästhetik des Verschwindens. Seit 16 Jahren Musikjournalist für verschiedene Fachmagazine und Herausgeber des Beiträger*innen 302 E-Journals Komparatistik bei literaturkritik.de. Neueste Buchveröffentli‐ chungen: Bob Dylan: Sänger und Dichter (hg. mit Dieter Lamping, 2017); Zwi‐ schen Anwesenheit und Abwesenheit. Die Figur des Verschwundenen in der Lite‐ ratur der Moderne und Postmoderne (2016); Komparatistische Blicke auf Lateinamerika und Europa (hg. mit Martina Kopf, 2016). I-Tsun Wan promovierte 2017 in Bochum zum Thema »Das Phantastische im Drama Heinrich von Kleists« und lehrt zurzeit als Assistant Professor im Institut für deutsche Sprache und Kultur an der Fu-Jen Universität in Taiwan. Russell West-Pavlov ist Professor für Anglophone Literaturen an der Univer‐ sität Tübingen und Research Associate an der Universität Pretoria. Aktuelle Veröffentlichungen: Eastern African Literatures (Oxford University Press, 2018), ˈtɛmp(ə)rərɪnəs (Narr Verlag, i. Vorb., zusammen mit John Kinsella). Raphael Zähringer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Englische Litera‐ turen und Kulturen an der Universität Tübingen. Kürzlich erschien seine Dis‐ sertation mit dem Titel Hidden Topographies: Traces of Urban Reality in Dystopian Fiction (2017). Beiträger*innen 303 ISBN 978-3-8233-8148-8 C H A L L E N G E S Challenges for the Humanities / Herausforderungen für die Geisteswissenschaften In einem Zeitalter zahlreicher globaler Umbrüche destabilisieren klimatische, politische und finanzielle Krisen und die daraus resultierenden Kriege und Konflikte gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Wertemuster weltweit. Unter diesen Umständen müssen sich die Literaturwissenschaften kritischen Fragen stellen: Welche Relevanz haben philologische, historische und kontextuelle Forschungsprojekte im Licht einer krisengeschüttelten Gegenwart und einer unsicheren Zukunft? Welche Rolle kann Literatur, kann die Vermittlung literaturwissenschaftlicher Techniken im Rahmen bildungspolitischer Systeme spielen, die ökonomisch nutzbare Ergebnisse als Hauptlegitimationskriterium von Bildung betrachten? Welche ethischen und politischen Imperative müssen zwingend neu formuliert werden und welche Rolle spielen die Literaturwissenschaften dabei? In ihren Beiträgen setzen sich Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler mit ihrer eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis und der Bedeutung ihres Faches in den und für die aktuellen Krisensituationen auseinander und versuchen eine Neueinordnung der gesellschaftlichen Rolle und Relevanz der Literaturwissenschaften über Fach- und Landesgrenzen hinaus. www.narr.de Heise-von der Lippe West-Pavlov (Hrsg.) Literaturwissenschaften in der Krise Literaturwissenschaften in der Krise Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten C H A L L E N G E S # 1 Anya Heise-von der Lippe · Russell West-Pavlov (Hrsg.) # 1