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Inklusion, Diversität und das Lehren und Lernen fremder Sprachen

2017
978-3-8233-9149-4
Gunter Narr Verlag 
Eva Burwitz-Melzer
Frank G. Königs
Claudia Riemer
Lars Schmelter

Während sich z.B. die (Schul-) Pädagogik seit längerer Zeit intensiv mit Fragen der Diversität und der Inklusion beschäftigt und dabei u.a. auch der Frage nachgeht, wie sich die deutsche Schule verändern muss, damit sie den Bedürfnissen aller Lernenden soweit wie möglich gerecht wird, finden sich vergleichbare Arbeiten für die Fremdsprachenforschung erst in jüngerer und jüngster Zeit. Dabei betrifft dieses Thema den Fremd- und Zweitsprachenunterricht mindestens so sehr wie die meisten anderen Schulfächer. Anhand von Leitfragen gehen knapp 30 Fremdsprachendidaktikerinnen und Fremdsprachendidaktiker der Frage nach, wie es um Inklusion, Diversität und Fremdsprachen lernen und lehren bestellt ist, welche Fortschritte zu verzeichnen sind, aber auch welche Lücken sich noch auftun und welche Desiderate daraus abzuleiten sind.

Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik Eva Burwitz-Melzer/ Frank G. Königs/ Claudia Riemer/ Lars Schmelter (Hrsg.) Inklusion, Diversität und das Lehren und Lernen fremder Sprachen Arbeitspapiere der 37. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts Inklusion, Diversität und das Lehren und Lernen fremder Sprachen GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho Eva Burwitz-Melzer/ Frank G. Königs/ Claudia Riemer/ Lars Schmelter (Hrsg.) Inklusion, Diversität und das Lehren und Lernen fremder Sprachen Arbeitspapiere der 37. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8149-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Inhaltsverzeichnis 8 10 21 31 43 54 66 76 88 102 113 Vorwort Marcus Bär: Auf dem Weg zur inklusiven Schule - Mögliche Implikationen aus fremdsprachendidaktischer Perspektive Gabriele Blell: Heterogenität, Diversität und Inklusion im Kontext des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen Eva Burwitz-Melzer: ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität im Englischunterricht Daniela Caspari: Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle Bärbel Diehr: Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions- Diskurs Daniela Elsner: Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen im inklusiven Fremdsprachenunterricht Andreas Grünewald: Heterogenität, Diversität, Inklusion - Implikationen eines Systemwandels für die 2. und 3. Fremdsprache Wolfgang Hallet: Fremdsprachenunterricht und inclusive education Britta Hufeisen: Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts - Erste Überlegungen zur Brauchbarkeit eines Gesamtsprachencurriculums für die sprachlichen Dimensionen von Inklusion, Heterogenität und Diversität Friederike Klippel: Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen für Schule und Fremdsprachenunterricht Frank G. Königs: Wie exklusiv ist Inklusion im Fremdsprachenunterricht? Wie homogen ist Heterogenität? Wie weit darf Diversität im Fremdsprachenunterricht gehen? Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung 125 Inhaltsverzeichnis 6 Uwe Koreik: Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache 136 Hans-Jürgen Krumm: Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 145 Jürgen Kurtz: Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 158 Lutz Küster: Die Implementierung von Inklusion in schulischem Fremdsprachenunterricht - ein fragwürdiges Unternehmen 168 Michael K. Legutke: Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ aus der Sicht der Fremdsprachendidaktik 178 Christiane Lütge: „... und jetzt auch noch Inklusion“ oder: „Embracing everyone ...“? Herausforderungen für eine diversitätssensible Fremdsprachendidaktik 188 Hélène Martinez: Fremdsprachenlernen, -lehren und darüber forschen: alles inklusiv? 197 Grit Mehlhorn: Inklusion von Herkunftssprachenlernenden in den Fremdsprachenunterricht Russisch 210 Franz-Joseph Meißner: Apropos Inklusion, Heterogenität, Diversität im Unterricht fremder Sprachen 221 Claudia Riemer: Zur Berücksichtigung der Heterogenitätsdimension Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 230 Jörg Roche: Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen 242 Dietmar Rösler: Das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität auf der Ebene der Gegenstände 254 Jutta Rymarczyk: ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen 263 Inhaltsverzeichnis 7 Lars Schmelter: Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen - Schulisches Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen im Spannungsfeld von Diversität, Inklusion und Heterogenität Torben Schmidt: Inklusiven Fremdsprachenunterricht gestalten - Von Theorie-Praxis-Netzwerken, multiprofessionellen Teams und interdisziplinärer Forschung Karen Schramm: Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung für Praxis und Forschung Julia Settinieri: Aus Deutsch für Ausländer wird Deutsch als Fremdsprache wird Deutsch als Zweitsprache wird Durchgängige Sprachbildung… wird Inklusion? Carola Surkamp: Inklusiver Fremdsprachenunterricht: Zum Potential von Literatur und handlungsorientierten Zugängen Karin Vogt: Inklusion und Heterogenität im Englischunterricht der Sekundarstufe Helmut Johannes Vollmer: Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? Nicola Würffel: Individualisiertes, differenziertes und barrierefreies Fremdsprachenlernen - Digitalisierung als Chance eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts? Adressen der Beiträger und Herausgeber 274 285 296 306 314 326 337 351 36 Bisher erschienene Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz 369 3 Vorwort Unser Blick auf Gesellschaften und die ihnen innewohnenden Systeme und Institutionen ist differenzierter geworden. An die Stelle monolithisch anmutender Sichtweisen ist eine differenzierende Blickvielfalt getreten, die es noch unmöglicher als früher erscheinen lässt, von der Gesellschaft, der Schule, dem Unterricht oder der Lerngruppe zu sprechen. Wir haben unseren Blick für die Vielfalt des Lebens und der gesellschaftlichen Gruppen geschärft und versuchen, Menschen mit ihren je spezifischen psychischen und physischen Voraussetzungen, Begabungen und sozialer Herkunft solche Bildungs- und Unterrichtsangebote zu machen, die auf gleichberechtigte Bildungs- und damit gesellschaftliche Teilhabe zielen. Nicht zuletzt ablesbar ist dies an einem wissenschaftlichen Diskurs, in dem Heterogenität, Diversität und Inklusion als Taktgeber einer veränderten Gesellschaft und insbesondere einer veränderten Sicht auf Gesellschaft zeigen, vor welchen Herausforderungen Bildungsinstitutionen heute stehen. So ist u.a. durchaus umstritten, inwiefern zur Umsetzung von Ansprüchen auf ein inklusives Bildungssystem auf gemeinsames Lernen und binnendifferenzierende Ansätze oder auf spezifische Angebote, auch in spezifischen Institutionen, zu setzen ist - bzw. wo die Grenzen der Bewältigung für Lehrende und Lernende liegen. Auch vor dem Fremdsprachenunterricht und seiner Erforschung haben diese Entwicklungen - natürlich - nicht Halt gemacht. Die genannten Begriffe und vor allem die damit verbundenen konzeptuellen Überlegungen regen dazu an, sich noch intensiver als bisher mit der angemessenen Teilhabe unterschiedlicher Personengruppen an fremdsprachlichen Bildungs- und Unterrichtsangeboten zu befassen. Vor diesem Hintergrund hatte sich die 37. Frühjahrkonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts die Aufgabe gestellt, Positionen und Konzepte zum großen Thema Inklusion und Heterogenität im Fremdsprachenunterricht zu diskutieren und auch zu hinterfragen. Einem bewährten Muster folgend tat sie dies anhand von Leitfragen, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorab zugestellt worden waren und zu denen sie sich in einem Statement im Umfang von 8-10 Seiten schriftlich äußern sollten. Diese Statements bildeten die Grundlage der Diskussion auf der Konferenz, die vom 16.-18.2.2017 im Schloss Rauischholzhausen, einer Tagungsstätte der Justus-Liebig-Universität Gießen, stattfand. Die Leitfragen lauteten: 1. In der aktuellen und kontrovers geführten bildungspolitischen Diskussion spielen Begriffe wie ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ eine wichtige Rolle. Welche begriffliche Füllung verbinden Sie im Hin- Vorwort 9 blick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen mit diesen Begriffen? 2. Was können bestehende Ansätze der Fremdsprachendidaktik in Bezug auf welche Heterogenitätsdimensionen für einen inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterricht leisten und welche methodisch-didaktischen Veränderungen muss der Fremdsprachenunterricht als Konsequenz der steigenden Heterogenität leisten? Welche Formen von Differenzierung sind nötig und möglich? 3. Eine Konsequenz größerer Heterogenität kann der verstärkte Einbezug von Unterstützungssystemen sein, die aus Sonderpädagogen/ -innen, pädagogischen Fachkräften sowie weiteren Fachkräften bestehen. Inwiefern muss sich vor dem Hintergrund des inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterrichtens in Teams auch die Fremdsprachenlehrerausbildung verändern? 4. Die Sprachlehrforschung und die Fremdsprachendidaktiken stehen erst am Anfang, sich konzeptuell dem Themenkomplex Inklusion zu nähern. Hinsichtlich welcher Fragestellungen sehen Sie einen prioritären Entwicklungs- und Forschungsbedarf? Die in diesem Band abgedruckten Statements stellen die nach der Konferenz überarbeiteten Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dar. Sie zeigen den Forschungsbedarf ebenso auf wie die Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen darüber, welche Differenzierungsmöglichkeiten sich angesichts heterogener Lernerpopulationen anbieten und in welche Richtung Veränderungen des Fremdsprachenunterrichts und der ihn anbietenden Institutionen gehen könnten oder müssten. VeranstalterInnen und TeilnehmerInnen der Frühjahrskonferenz danken dem Präsidenten der Justus-Liebig-Universität sowie den Verantwortlichen vor Ort für die abermals gewährte Gastfreundschaft, die als Rahmenbedingung für das Gelingen der Konferenz von erheblichem Wert war. Großer Dank gilt ferner Dr. David Gerlach und Dr. Viktoria Storozenko vom Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg für die sorgfältige Einrichtung des Manuskripts. Gießen, Marburg, Bielefeld und Wuppertal, im Sommer 2017 Eva Burwitz-Melzer Frank G. Königs Claudia Riemer Lars Schmelter Auf dem Weg zur inklusiven Schule - Mögliche Implikationen aus fremdsprachendidaktischer Perspektive Marcus Bär 1 Heterogenität, Diversität und Inklusion als zentrale Begriffe der bildungspolitischen Diskussion Auch wenn Lerngruppen bzw. Schulklassen schon immer heterogen waren und für immer bleiben werden und zudem Einigkeit darüber herrscht, dass es sich beim Lernen (von Sprachen) um einen aktiven und konstruktiven, vor allem aber individuellen Prozess handelt, haben die Debatten um eine differenzierende und individualisierende Unterrichtsgestaltung in den vergangenen fünf bis zehn Jahren noch einmal deutlich an Dynamik hinzugewonnen. Als Auslöser für die seither in Teilen kontrovers geführten Diskussionen gilt gemeinhin die Verabschiedung der so genannten Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 durch die Vereinten Nationen, die nach der Ratifizierung in Deutschland am 29.03.2009 in Kraft trat. In Artikel 24, der den Bildungsbereich betrifft, heißt es: States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels […] (UN 2006, Art. 24). 1 Hieraus ableitend wurde bspw. in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2013 das 9. Schulrechtsänderungsgesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen verabschiedet; das Schulgesetz wurde u.a. um folgenden Absatz erweitert: „Die Schule fördert die vorurteilsfreie Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung. In der Schule werden sie in der Regel gemeinsam unterrichtet und erzogen (inklusive Bildung)“ (MSW NRW 2016, §2 Abs. 5). Die sich aus dieser gesetzlichen Vorgabe ergebenden Konsequenzen im Hinblick auf das Lehren und Lernen von Sprachen im schulischen Kontext sollen in Kapitel 2 erörtert werden. Vorab ist es aller- 1 In der nicht offiziellen Übersetzung ins Deutsche heißt es, dass die Vertragsstaaten ein „integratives Bildungssystem“ gewährleisten. Auf dem Weg zur inklusiven Schule … 11 dings erforderlich, die in der Kapitelüberschrift genannten Begriffe zu erläutern und voneinander abzugrenzen. Wie oben bereits angedeutet, ist Heterogenität kein neues Phänomen (vgl. u.a. Arnold 2010). Seit jeher sind Lerngruppen an unseren Schulen heterogen. Mit dem Begriff der Heterogenität wird grundsätzlich die Verschiedenheit bzw. die Ungleichartigkeit von Dingen oder Merkmalen bezeichnet. Im pädagogischen und fachdidaktischen Diskurs verweist Heterogenität „auf die Unterschiedlichkeit der Schüler hinsichtlich lernrelevanter Merkmale“ (Müller-Oppliger 2011, 78). Es geht somit zunächst einmal lediglich um die Feststellung von Differenz und die Beschreibung derselben in Form von (sozialen) Differenzbzw. Heterogenitätskategorien sowie einer Akzeptanz, dass Unterschiedlichkeit vorhanden ist. Während sich Menschen theoretisch in unendlich vielen Merkmalen voneinander unterscheiden, von denen die meisten allerdings hinsichtlich des Lernens von Sprachen als unerheblich angesehen werden (z.B. Haar- oder Augenfarbe), können gemeinhin folgende Schülermerkmale als lernrelevant eingestuft werden: bildungsnaher vs. bildungsferner Erziehungshintergrund, herkunftsbedingt unterschiedliches (enzyklopädisches, sprachliches, kulturelles, …) Vorwissen, Geschlecht, Alter, physische und kognitive Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen, ethnische, religiöse sowie soziale und sozioökonomische Unterschiede usw. (vgl. u.a. ebda, 79 oder Stöger/ Ziegler 2013, 2). Informationen über diese und weitere Merkmale dienen dazu, die Unterschiedlichkeit einer Lerngruppe oder einer Klasse zu beschreiben, ohne dass hieraus umgehend Konsequenzen für unterrichtliches Handeln erwachsen. Eine hieran gerichtete Erwartung, die festgestellte Ungleichheit überwinden zu wollen, ist m.E. dem Begriff der Heterogenität nicht inhärent. Heterogenität ist somit „ein Sammelbegriff ohne konkreten Inhalt, Prozeduren, Ressourcen und Verfahren“ und kann im Sinne einer Gesellschaftsdiagnose „als ein abgeleitetes Resultat politischer Entscheidungen (z.B. Migrationspolitik, Stadtentwicklung, Bildungspolitik) verstanden werden“ (Budde 2015, 125). Es bleibt festzuhalten, dass der Begriff Heterogenität somit die Unterschiedlichkeit(en) in den Fokus rückt und Lerngruppen entlang hieraus abgeleiteter Differenzkategorien bzw. Lernervariablen bewertungsfrei beschreibt, wenngleich nicht übersehen werden sollte, dass im alltäglichen Sprachgebrauch Heterogenität oftmals auch mit Inkompatibilität, Unvereinbarkeit oder Unverträglichkeit assoziiert wird. Der Begriff der Diversität (engl. diversity) beschreibt - wie Heterogenität auch - zunächst die Verschiedenartigkeit entlang der oben genannten Kategorien bzw. Merkmale, führt aber entscheidend darüber hinaus, indem er die sich hieraus ergebende Vielfalt und Mannigfaltigkeit fokussiert und somit die festgestellte Heterogenität positiv aufgreift und die hierdurch mögli- Marcus Bär 12 chen (zusätzlichen) Chancen in den Mittelpunkt des Interesses bzw. des Konzeptes rückt: Aufgrund der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kategorien entstehen neue Verbindungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, die nicht im Sinne des Heterogenitätsbegriffs unvereinbar bzw. inkompatibel sind, sondern im Gegenteil neue (bessere) Wertschöpfungen zulassen: „Der Diversity-Begriff ist […] positiv konnotiert: Er transportiert die Wertschätzung der Pluralität von Lebensentwürfen und hebt Vielfalt als gesellschaftliche Ressource hervor“ (Georgi 2015, 26). In Bezug auf das Lehren und Lernen von Sprachen bedeutet Diversität die Erkenntnis, dass die Verschiedenartigkeit im Sinne einer Vielfalt bereichernd ist und neue Möglichkeiten schafft (z.B. im Sinne der Förderung einer Mehrsprachenkompetenz) sowie Horizonte erweitert (z.B. im Sinne der Förderung interkultureller Kompetenz). Im Unterschied zu den Begriffen Heterogenität und Diversität handelt es sich beim Begriff Inklusion nicht um die Feststellung und Beschreibung von Differenzmerkmalen, sondern um ein allgemeines Bildungs- und Gesellschaftsziel, das wiederum Diversität impliziert. Das Inklusionskonzept geht grundsätzlich von heterogenen Lerngruppen aus, setzt aber - anders als der Begriff Integration - nicht auf die Anpassung einer vermeintlichen Minderheit an eine vermeintliche Mehrheit, zumal es in einer inklusiven Gesellschaft oder auch Schulklasse „keine dominierende Gruppe“ gibt (Schlaak 2016, 84), sondern nimmt „Unterschiedlich-Sein, Vielfalt und Heterogenität als Normalfall jeder Schulklasse und […] als Ausgangslage jedes Lernens“ an (Müller-Oppliger 2011, 84). Inklusion ist somit „Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes“ (ebda), hat aber zudem aufgrund der o.g. gesetzlichen Verankerungen normative Kraft erlangt, d.h. der Inklusionsbegriff ermöglicht es, die als positiv erachtete Diversität von Schülermerkmalen auch als solche juristisch einzufordern und somit „strukturelle (rechtliche) Rahmenbedingungen zu schaffen, die benachteiligende Ausgangslagen ausgleichen können und Partizipation ermöglichen“ (Georgi 2015, 26). Die „politische Schlagkraft“ (ebda, 27), die sich aus dieser rechtlichen Dimension ergibt, wird allerdings dahingehend abgemildert, dass der Inklusionsbegriff von den verschiedenen Akteuren bzw. Beteiligten unterschiedlich interpretiert wird: Während einerseits bspw. die UNESCO (2005, 13) Inklusion in einem weiten Sinne als „a process of addressing and responding to the diversity of needs of all learners“ definiert und somit alle denkbaren Dimensionen von Heterogenität in den Blick nimmt mit dem Ziel, Diskriminierungen jeglicher Art abzubauen (vgl. hierzu u.a. Amrhein 2011, 4), wird andererseits inklusive Bildung im o.g. Schulgesetz ausschließlich als „vorurteilsfreie Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung“ verstanden und somit deutlich eingeengt. Die Fokussierung auf den Aspekt Behinderung ergibt Auf dem Weg zur inklusiven Schule … 13 sich durch den Bezug zur UN-Behindertenrechtskonvention. Eine solche Priorisierung allerdings steht im Widerspruch zu einem weiten Begriffsverständnis, welches jeden Einzelnen - unabhängig von einem diagnostizierten Förderbedarf - als wertvoll erachtet und die unterschiedlichen Begabungen als förderlich und gewinnbringend ansieht: Der permanente Bezug auf die UN-Konvention erklärt die bereitwillige, wenngleich erstaunliche und aus didaktischer Sicht unzulässige Einengung der Inklusionsdebatte auf den Aspekt ‚Behinderung‘ (Küchler/ Roters 2014, 234). Inklusion bedeutet die Akzeptanz jeglicher Unterschiedlichkeit, verbunden mit dem Ziel, diese Vielfältigkeit im Sinne eines Lernzuwachses zu nutzen. 2 Didaktisch-methodische Konsequenzen im Rahmen bestehender fremdsprachendidaktischer Ansätze Wie soeben bereits angedeutet, spielt die Institution Schule „bei diesem Umbruch eine entscheidende Rolle, da Veränderungen im Schulsystem oft auch Veränderungen in der Gesellschaft nach sich ziehen“ (Schlaak 2016, 84). Hierdurch wird deutlich, dass die im Unterricht zugrunde gelegten Ansätze maßgeblich dazu beitragen, inklusiven Unterricht real werden zu lassen. Inklusion als Bildungsziel verdeutlicht einmal mehr die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Diversität einer Lerngruppe und einer hiermit verbundenen Diagnostik. Wenn Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihrer individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten unterrichtet werden sollen, dann ist zunächst von den Lehrkräften eine grundsätzliche differenzbejahende Perspektive einzunehmen, die wiederum in individualisierenden Unterrichtskonzepten und Lernzielen mündet (vgl. hierzu u.a. GFD 2015, 3). Wird „menschliche Differenz als Bereicherung und positive Ausgangslage für alle didaktischen Entscheidungen“ anerkannt (Küchler/ Roters 2014, 238), so ergibt sich quasi zwangsweise, Lerngegenstände und Lernziele ebenfalls zu differenzieren: „Individualisierung bedeutet auch Individualisierung der Lernziele“ (Hengst 2012, 107), d.h. unterschiedliche Schüler haben unterschiedliche Lernziele, auch wenn sie gemeinsam in einer Lerngruppe oder einem Klassenverband lernen. Inklusiver Unterricht bedeutet, dass nicht alle Schüler eines Klassenverbands letzten Endes die gleichen Ziele erreichen müssen, sondern dass der Unterricht viel grundsätzlicher vom Lernenden selbst aus gedacht werden muss (vgl. u.a. Hallet in diesem Band). Welchen Sinn das Lernen in einem ganz bestimmten Klassenverband hat oder auch nach welchen Kriterien (Geburtsjahr, Leistung, ...) eine Lerngruppe zusammengesetzt ist und inwiefern dies mit standardisier- Marcus Bär 14 ten Kompetenzzielen sowie Zugangsvoraussetzungen (Studium, Beruf) kompatibel ist, kann an dieser Stelle allerdings nicht erörtert werden (vgl. hierzu u.a. Kurtz in diesem Band). Unter Beibehaltung des jetzigen Schulsystems bedeutet inklusiver Fremdsprachenunterricht zunächst einmal „die Weiterführung einer konsequenten Individualisierung“ (Küchler/ Poters 2014, 244). Hierzu zählen insbesondere Formen des kooperativen Lernens, die vor allem dem Kriterium der positiven Abhängigkeit gerecht werden. Offene Lernarrangements wie bspw. Freiarbeit, Projekte oder auch (komplexe) Lernaufgaben können methodisch durch Stationenlernen, Lerntheken, Tandemlernen, Think-Paire- Share, Lernpatenschaften, placemats usw. umgesetzt werden (vgl. u.a. Küchler/ Roters 2014, 241; Stöger/ Ziegler 2013, 25). 2 Die Lehrkräfte müssen sich zudem bewusst machen, dass insbesondere bei inklusiven Lerngruppen (im engen Begriffsverständnis) zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, um alle Schüler - je nach Beeinträchtigungsgrad - am Unterricht partizipieren zu lassen. 3 Verbleibt man in diesem engen Begriffsverständnis, so erscheint neben dem bisher Gesagten auch eine zusätzliche Lehrperson mit sonderpädagogischen Kenntnissen für die Unterrichtsdurchführung unerlässlich. Hiermit ist allerdings nicht gemeint, dass „der Sonderpädagoge bzw. die Sonderpädagogin nach Absprache die Förderkinder übernimmt“ (Greiten 2014, 116), sodass die so genannte Regelschullehrkraft in der Folge mit den anderen Schülerinnen und Schülern den regulären Unterricht fortführen kann. Vielmehr bedeutet eine solche Zusammenarbeit die gemeinsame Planung des Unterrichts, die gemeinsame Entscheidung über Förderschwerpunkte und das Treffen von weiteren Absprachen für den gemeinsamen Unterricht (vgl. ebda). Letztendlich ist aber jeglicher Unterricht inklusiv (im weiten Sinne), sodass es grundsätzlich einer differenzierten Vorgehensweise bedarf. Trautmann (2010, 56-61) unterscheidet hierbei eine „Differenzierung von oben“ und eine „Differenzierung von unten“: Während Differenzierung von oben bedeutet, dass die Lehrkraft bzw. die Lehrkräfte ihre Unterrichtsmaterialien auf verschiedenen (Leistungs-)Niveaus vorbereiten und bereitstellen, meint 2 Ein Beispiel für projektorientierte Freiarbeit im Spanischunterricht beschreibt Hinz (2010). 3 So erscheint es bspw. bei legasthenen Schülern notwendig, dass die Lehrperson klar und deutlich spricht, Blickkontakt hält, diverse Informationen schriftlich vorhält, für die Materialien eine ausreichend große Schrift wählt, Aufgabenstellungen selbst vorliest usw. (vgl. weiterführend Mendez 2012, 8 und speziell in Bezug auf Legastheniker u.a. Reimann 2014; Engelen 2016; Siemann 2016). Auf dem Weg zur inklusiven Schule … 15 Differenzierung von unten, dass sich die Schülerinnen und Schüler „selbst passende Materialien, Themen, Methoden usw. auswählen und selbstständig bearbeiten“ (ebda, 57), d.h. „die Aufgabe der Passung [geht] auf die SchülerInnen über und die Lehrenden werden zu deren ‚Beratern‘“ (ebda, 59). Ein solches Vorgehen wird in mehreren Ansätzen der Fremdsprachendidaktik deutlich, so z.B. beim aufgabenorientierten Lernen (problemlösendes Lernen), bei der Mehrsprachigkeitsdidaktik (hypothesengenerierendes Lernen) oder bei der Lernerautonomie (selbstentdeckendes Lernen). Grundlegend ist die Tatsache, dass Sprachenlernende selbstständig ein Bedürfnis haben bzw. erkennen sollen, bestimmte sprachliche Strukturen zur Lösung einer Aufgabe oder eines Problems zu benötigen und diese im Sinne der eigenen Vorkenntnisse individuell einzuüben und anzuwenden. Dies impliziert in letzter Konsequenz, dass „Schülerinnen und Schüler sowohl zielgleich als auch zieldifferent unterrichtet werden“ (Küchler/ Roters 2014, 243). 4 Aus einer stärker inhaltlichen Perspektive erscheinen in einem inklusiven Fremdsprachenunterricht die Auseinandersetzung vor allem mit „Themen der Behinderung“ (Mendez 2012, 8) sowie die „Beschäftigung mit anderen Individuen und Gesellschaften“ (Schlaak 2016, 85) sinnvoll und gewinnbringend, zumal sich Fremdsprachenunterricht immer und unweigerlich mit Fremdheit und Andersartigkeit auseinandersetzt und sich hieraus im Sinne einer Förderung interkultureller Kompetenz ein Potenzial ergibt, „Toleranz, Akzeptanz und Offenheit sowie Rücksicht und Achtsamkeit zu schulen“ (ebda, vgl. auch Küchler/ Roters 2014, 240). Eine noch offene und letzten Endes sehr tiefgreifende Frage betrifft die Leistungsanforderungen sowie die Leistungsmessung bzw. -bewertung in einem inklusiven Fremdsprachenunterricht. Aufgrund eines sowohl zielgleichen als auch zieldifferenten Unterrichtens kann es bei der Leistungsmessung nicht ausschließlich um einen kognitiven Leistungszuwachs gehen, der sich an den standardisierten Zieldeskriptoren der Bildungsstandards orientiert. Um auch „soziale, kreative und affektive Elemente“ zu berücksichtigen, werden „offenere Formen der Leistungsmessung wie z.B. Portfolios“ vorgeschlagen (ebda, 244). Solche formativen Evaluationsformen, die auch von vielen anderen Autorinnen und Autoren (u.a. Trautmann 2010, 59; Schlaak 2016, 87) angepriesen werden und bspw. auch im Rahmen der weiter oben genannten Ansätze Verwendung finden, sind dahingehend zu hinterfragen, inwieweit sie nicht auch wie traditionelle Tests „Leistung als zentrales Diffe- 4 „Dort, wo für einzelne Schüler inhaltlich und sprachlich phasenweise kein gemeinsames Lernen mehr sinnvoll ist, kann auch in äußerer Differenzierung unterrichtet werden. Die äußere Differenzierung darf auch im inklusiven Unterricht kein Tabu sein“ (Hengst 2012, 106). Marcus Bär 16 renzkriterium […] etablieren“ (Budde 2015, 121), denn Leistungsunterschiede sind das zentrale Klassifikationsmerkmal im (noch nicht inklusiven) System Schule, durch das sich die Selektionsfunktion von Schule (heutzutage) zementiert (vgl. u.a. Mendez 2012, 5). Aber: Die Erzeugung, Dokumentation und Vermessung von Leistungsunterschieden manifestiert sich ebenso […] in Dokumenten der Leistungsbewertung wie Klausuren oder Portfolios (Budde 2015, 121). Um in einem inklusiven Unterricht letzten Endes dem individuellen Leistungsvermögen jedes einzelnen Schülers gerecht zu werden und ihn in diesem Sinne bestmöglich zu fördern, bedeutet „in der letzten Konsequenz eben auch eine Abkehr vom gemeinsamen [Lern-]Gegenstand“ und von gemeinsamen Lernzielen (ebda). Aber bedeutet gemeinsames Lernen am Ende ‚nur noch‘, dass sich die Lernenden gemeinsam in einem Raum befinden, die Schüler aber an verschiedenen Lerngegenständen mit unterschiedlichen Lernzielen arbeiten? Kann dieses System in der vorliegenden Form noch aufrechterhalten werden, wenn Inklusion ernst genommen wird, oder ist genau jetzt der richtige Moment gekommen, Neues zu wagen und das gesamte System neu aufzubauen (vgl. auch Hallet in diesem Band)? Letzten Endes kann es nur ein in- oder exklusives Schulsystem geben, aber niemals Schüler, die in ein (existierendes, nicht inklusives) System inkludiert werden (siehe hierzu mein Begriffsverständnis in Kapitel 1). 3 Veränderungen in der Lehrer(aus)bildung Die Gesellschaft für Fachdidaktik formuliert in ihrem Positionspapier, „dass (angehende) Lehrkräfte mit den entsprechenden Einsichten und den theoretischen Konzepten sowie mit praktischen Umsetzungen inklusiven Unterrichts vertraut gemacht werden müssen“ (GFD 2015, 3). Diese allgemeine Zielformulierung impliziert für die (fachdidaktische) Lehrerausbildung an Universitäten dreierlei: Es geht erstens um die Vermittlung einer positiven Grundhaltung und der grundsätzlichen Bereitschaft, sich auf neue Herausforderungen einzulassen, zweitens um die Kenntnis von und über fachwissenschaftliche, (fach-)didaktische und (sonder-)pädagogische Theorien bzw. ein entsprechendes diagnostisches Wissen und drittens um eine passende Methodik in Abhängigkeit der unterschiedlichen Differenzkategorien. In Anlehnung an Seitz (2011, 1) sei festgehalten, dass es bei der Lehrerausbildung nicht um die Frage nach Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf im Sinne einer bestimmten, vermeintlich feststehenden Eigenschaft von Kindern und deren fachgerechter ‚Behandlung‘ [geht], sondern [um die] Analyse von Si- Auf dem Weg zur inklusiven Schule … 17 tuationen, in denen Partizipation und/ oder Lern- und Entwicklungsprozesse der einzelnen Kinder durch bestimmte Barrieren bzw. deren Zusammenwirken behindert werden. Es sind alle an der Ausbildung beteiligten Fächer gefragt, für die Konzeption von Unterricht und für das Handeln im Unterricht das übliche „Wahrnehmungsraster“ zu verändern, nämlich von ‚Klasse‘ zu ‚Individuum‘ (vgl. Greiten 2014, 108 und weiterführend ebda, 116). In einem zweiten Schritt ist es auch vonnöten, dass alle zukünftigen Lehrkräfte im Rahmen eines Seminars oder Basismoduls grundlegende (sonderpädagogische) Kenntnisse im Sinne eines engen Inklusionsbegriffs erlangen, d.h. über ein (basales) Fachwissen an Behinderungsformen und Beeinträchtigungen verfügen. Und in einem dritten Schritt schließlich sind vorrangig die Fachdidaktiken gefragt, die - einen ausreichenden workload vorausgesetzt - bspw. im Rahmen der Vorbereitung und Begleitung des Praxissemesters Thematiken wie Differenzierung und Individualisierung didaktisch und methodisch aufbereiten müss(t)en, sodass die Studierenden mit konkreten Fragestellungen in und aus der Praxis konfrontiert würden, die wiederum in universitären Seminaren hinsichtlich einer vertieften Planungskompetenz kritisch reflektiert werden müssten, zumal (angehende) Lehrkräfte vor der Aufgabe stehen, „ihren Unterricht komplexer zu planen, um gemeinsames, zieldifferentes und zielgleiches Lernen zu ermöglichen“ (ebda, 107). Ziel ist es, „im Unterricht ko-konstruktive Prozesse unter Schüler_innen zu stärken“ (Seitz 2011, 2). 5 Schließlich sei angemerkt, dass für eine gelungene Unterrichtsvorbereitung auch die Fähigkeit zur Teamarbeit eine zentrale Rolle spielt (vgl. auch Kapitel 2). Das Sammeln von Erfahrungen im team-teaching sollte zum üblichen Repertoire der ersten und zweiten Ausbildungsphase gehören; einbinden ließe sich dies bspw. im Rahmen des Praxissemesters. Hierfür sind Kenntnisse auf allen drei genannten Ebenen erforderlich; sie sollten daher zum Standard einer inklusiven Lehramtsausbildung gehören. 4 Prioritäre Entwicklungs-/ Forschungsfelder der Fachdidaktiken Die Fachdidaktiken sind aufgerufen, „Rahmenbedingungen für gemeinsames Lernen im Fachunterricht zu entwickeln und entsprechende Konzepte praxisnah zu evaluieren“ (GFD 2015, 4, Hervorhebung i.O.). Hieraus ergibt sich die Aufgabe, einerseits bisherige fremdsprachendidaktische Ansätze (s.o.) 5 In diesem Zusammenhang sei auf das Potenzial komplexer Lernaufgaben im Hinblick auf Individualisierung hingewiesen (vgl. hierzu u.a. Bär 2013). Marcus Bär 18 dahingehend zu überprüfen, inwiefern sie sich konzeptuell auf einen inklusiven Fremdsprachenunterricht übertragen lassen bzw. inwieweit sie modelliert werden müssen, und andererseits Materialien zu entwickeln, die sich an den entsprechenden Prinzipien und Zielen ausrichten und hiernach in empirischen Studien auf ihre Wirksamkeit hin analysiert werden müssen. 6 Erste Ergebnisse einer Studie zu Einstellungen und Erfahrungen von Lehrkräften zeigen u.a., dass Inklusion mehrheitlich als gemeinsamer Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung angesehen, also im engen Sinne verstanden und somit eher als klassische Integration betrachtet wird (vgl. Greiten 2014, 108). Die Crux besteht für Lehrkräfte darin, dass sie Unterricht planen müssen, Wichtige Fragen in diesem Zusammenhang sind u.a.: Lassen die entwickelten Materialien ein Lernen in unterschiedlicher Tiefe zu (vgl. GFD 2015, 4)? Welche Rolle(n) nehmen hierbei die Lehrkräfte ein (vgl. ebda, 6)? Wie nehmen Fremdsprachenlehrkräfte einen als inklusiv bezeichneten Fremdsprachenunterricht wahr (vgl. Küchler/ Roters 2014, 245)? Über welche Planungskompetenzen verfügen Regelschul- und Förderschullehrkräfte im Hinblick auf die Gestaltung eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts (vgl. Greiten 2014, 109)? Welchen Schwierigkeiten (und ggf. Widerständen) begegnen Lehrkräfte, die differenzierend und individualisierend planen und unterrichten möchten, und welche Unterstützungsmaßnahmen wären hierfür hilfreich (vgl. Trautmann 2010, 62)? Und schließlich: „Wie verhält sich diese pädagogische Utopie zu Standardisierung, Vergleichsarbeiten und Output-Steuerung“ (ebda)? der sich für die meisten SchülerInnen an fachspezifischen kompetenzorientierten Kernlehrplänen und definierten Schulabschlüssen ausrichtet, für einige SchülerInnen an individuellen Förderzielen orientiert und zugleich gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung ermöglichen soll (ebda, 119). Um der Lösung dieses gordischen Knotens näher zu kommen, muss sich die Forschung m.E. vorrangig auf die Entwicklung und Analyse von inklusiven Lernarrangements sowie auf das individuelle Erleben von Schülern und Lehrkräften konzentrieren. 6 Eine erste Materialsammlung für den Spanischunterricht ist kürzlich bei Cornelsen erschienen (siehe Plötner/ Schlaak 2017). Auf dem Weg zur inklusiven Schule … 19 Literatur Amrhein, Bettina (2011): „Inklusive LehrerInnenbildung - Chancen universitärer Praxisphasen nutzen“. In: Zeitschrift für Inklusion (3). http: / / www. inklusion-online.net/ index.php/ inklusion-online/ article/ view/ 84. Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Arnold, Karl-Heinz (2010): „Heterogenität von Schulklassen: was ist das Neue am Altbekannten, dass es jeden Schüler nur einmal gibt? “. 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Auf der Mikro-Ebene gestalteter Bildungswirklichkeiten bedeutet das momentan, dass FremdsprachenlehrerInnen (teilweise durch SonderpädagogenInnen und SozialarbeiterInnen unterstützt) zusätzlich auch für SchülerInnen mit Lernbehinderungen verantwortlich sind. Darüber hinaus wird von vielen von ihnen eine große Zahl an geflüchteten Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer und sprachlicher Herkunft 1 1 Laut dem Deutschen Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben allein im letzten Jahr 476.649 Personen einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Darunter befinden sich ungefähr 1/ 3 Kinder und Jugendliche im schulfähigen Alter (vgl. BAMF 2016). in Sprachlernklassen unterrichtet, die früher oder später in Regelklassen ,inkludiert‘ werden (müssen). Das Engagement der LehrerInnen ist groß, stößt aber vielerorts - erklärlicherweise - an konzeptionelle Grenzen. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die quasi Ad-hoc-Implementierung des Inklusionsgedankens von außen (Makro-Ebene) vorschnell auf die Mikro-Ebene verlagert wurde, ohne Konzepte entwickelt zu haben, die ein Gleichgewicht von inklusiver Bildung und Bildungsqualität für alle sichern können (z.B. durch entsprechende Lehr- und Lernmaterialien, Lehreraus- und -fortbildung, entsprechende Curriculumentwicklung oder Qualitätsmanagement). Für inklusive Bildung sind mehr als Reformanstrengungen notwendig! Bildungspolitik und -management sind zuallererst gefragt, materielle Gabriele Blell 22 Gelingensbedingungen für alle Teilhaber zu sichern. Inklusion droht dann zur Exklusion zu werden, wenn die notwendige ökonomische Grundlegung vorenthalten wird! 1 Zur Begrifflichkeit Bezogen auf Diversität (Vielfalt) und Heterogenität 2 Eine solche Pädagogk der Vielfalt weist damit auf Inklusion. Sie zielt auf den grundsätzlich gemeinsamen Unterricht aller, der demzufolge alle SchülerInnen, einschließlich solche mit Migrationshintergrund, Geflüchtetenkinder und solche mit Behinderungen einschließt. Auch hochintelligente Kinder sollen gefördert werden (vgl. Leibniz Universität Hannover LUH 2014, 9). Was die Differenzlinie Behinderung betrifft, stellt inklusiver Unterricht ganz besondere, möglicherweise auch ungewohnt phantasiereiche und unkonventionelle, Anforderungen an alle Beteiligten, vor allem dann, wenn auch Menschen mit geistiger und mehrfacher schwerer Behinderung nicht isoliert werden sollen; Anforderungen, die im Fremdsprachenunterricht zumindest zur Zeit kaum eingelöst werden können. Wird maximale Teilhabe aller jedoch zum Sofort-Programm, dürfen gerade diesen Kindern (und damit natürlich auch allen anderen) Alternativoptionen als Parallelangebote möchte ich eine analytische und eine normative Ebene unterscheiden. Analytisch meint dabei individuelle und gruppenbezogene, angeborene, erworbene oder auch durch Gesetze und institutionelle Praxis entstehende Differenzkategorien, wie z.B. Gender, Alter, soziokultureller Hintergrund, Behinderung, Hochbegabung oder auch Sprachen, deren Überschneidungen als zugrundeliegende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse auch sichtbar werden. Diversität auf normativer Ebene hingegen ist eng verbunden mit der Wertschätzung von Vielfalt und der individuellen Einzigartigkeit und wendet sich gegen Diskriminierung (vgl. Blell 2013, 231). Eine Pädagogik der Vielfalt (Diversity Education) ist dann zu begreifen als ein pädagogisch-didaktisches Konzept entlang sich wandelnder und auch immer wieder überlappender Differenzlinien („one person inhabits many lifeworlds“; Cope/ Kalantzis 2009, 16-17), das es sich zum Ziel setzt, alle Lerner zur bestmöglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu befähigen. (Appelbaum 2002, 12) („empowerment of the learner“; Johnson 2006). 2 Meine Ausführungen basieren auf einem Verständnis von Diversität unld Inkusion, das an der Leibniz Universität Hannover eine gemeinsame Arbeitsgrundlage im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung bildet. Beide Konzepte sind weit genug, um auch (fremd-)sprachliches Lernen und Lehren auf schulischer Ebene zu denken (LUH 2016). Heterogenität, Diversität und Inklusion … 23 ((Sonder-)einrichtungen) nicht vorenthalten werden. „Wo die Gesellschaft (noch) nicht bereit und fähig ist, alle Menschen zu ‚inkludieren‘, müssen wir eigene Bereiche schaffen, die eine Teilhabe ermöglichen.“ (Klauß 2009, 14). 2 Ansätze der Fremdsprachendidaktik mit Blick auf Inklusion Revisited Nimmt man Inklusion und auch den Weg dorthin ernst, wird man zuallererst an bestehende Ansätze der Fremdsprachendidaktik andocken müssen und Adaptionen vornehmen, ohne jedoch die Notwendigkeit der Erforschung bisher nicht bzw. kaum beachteter Fragestellungen nachzugehen. (vgl. Frage 4). Momentan sehe ich zwei größere Bereiche, die - neben allen Anstrengungen, bestehende Methoden zu adaptieren (vgl. z.B. Haß/ Kieweg 2012; Blell/ Ruhm 2013; Dam/ Legenhausen 2013) - mittelfristig Lösungsansätze bieten können: 1. Differenzierung 2. Aspekte einer Transformativen Pädagogik 1. Bezogen auf den Fremdsprachenunterricht (FSU) stellt die Differenzierung ein fachdidaktisch besonders relevantes Konzept dar, das aus meiner Sicht vielfältige Anschlussstellen bietet. Differenzierungsbestrebungen gab es im Fremdsprachenunterricht (FSU) schon immer, jedoch wurden sie in der Vergangenheit durch verschiedene Umstände verstellt. Durch das durchgängige Selektionsprinzip des dreigliedrigen deutschen Schulsystems (äußere Differenzierung nach Leistung, Alter und ggf. Interesse) sind bis heute Unterricht, Kerncurricula und Kursbücher meist (immer noch) auf Homogenität ausgerichtet (vgl. Grimm/ Meyer/ Volkmann 2015, 81), obwohl die dem zugrunde liegende „Homogenitätshypothese“ heute weitgehend widerlegt sein dürfte (vgl. Hallet 2011, 58). Auch die Spracherwerbsforschung hat lange Zeit ihren Fokus auf universale Eigenschaften des Spracherwerbs gelegt. Erst in jüngerer Zeit sind dann auch individuelle Unterschiede und autonome Lernanstrengungen berücksichtigt worden, die den Heterogenitätsgedanken in Lerngruppen mitentwickelt haben (z.B. Riemer 2006). Mit dem Heterogenitätsgedanken gehen vielfältige differenzierende Überlegungen zu organisatorischen und didaktischen Maßnahmen zu einer flexibleren und offeneren Unterrichtsgestaltung (Zuschnitt auf kleinere Gruppen oder Einzelschüler) einher, die SchülerInnen möglichst optimal fördern/ fordern sollten. (vgl. Niggli 2013, 12). Viele der Ansätze für Binnendifferenzierung (BD) verorten sich in ähnlichen theoretischen Konzepten, Gabriele Blell 24 die dann wiederum auch zu ähnlichen Kriterien für BD führen. Zu nennen sind so z.B. a) die „Schwellenhypothese“ (Snow 1989 in Niggli 2013, 37), d.h., nicht alle SchülerInnen lernen Dinge gleichzeitig (Komplexität, Anforderung etc.); b) Carrols „Modell schulischen Lernens“ (Carroll 1963 in Niggli 2013, 38), d.h., alle können nicht alles in derselben Zeit lernen (aufgewendete vs. zugestandene Lernzeit) und c) das „Aptitude-Treatment-Interaction“-Modell (Cronbach/ Snow 1977 in Niggli 2013, 41), d.h., die Unterrichtsmethodik ist ausschlaggegbend, da nicht alle auf die gleiche Weise lernen (Aufgabenauswahl, geschlossene  offenere Aufgabenstellung). d) Schließlich darf nicht der Umstand außer Acht gelassen werden, dass schulischer Unterricht auch immer ein soziales Verhältnis darstellt, das immer auf eine Kooperation zwischen Lehrenden und Lernenden und auch Lernenden untereinander angewiesen ist. D.h., sowohl gemeinsamer als auch differenzierender Unterricht ist notwendig in heterogenen Gruppen: Einheitlichkeit und Differenzierung (u.a. Bönsch 2014, 63). Ein Unterricht, der eine „vorgeschaltete äußere Differenzierung als Gelingensbedingung ansieht“ für BD (Strohn 2015, 488), zielt m.E. nicht ausreichend auf das gemeinsame Lernen aller SchülerInnen. Gemeinsames kollektives Lernen ermöglicht es, die Stärken einzelner Lerner zum Ausgleich der schwächeren Lerner einzusetzen. Einzelne Lerner übernehmen z.B. partielle Lehrfunktion (Lernen durch Lehren/ Helfersystem). Interessant und erprobenswert erachte ich in diesem Zusammenhang Bönschs ganz praktische Realisierungsansätze für BD im Unterricht (Bönsch 2014, 80-86): Nachgehende Differenzierung (Vertiefung und weitere Übung durch unterschiedliche Aufgaben, variierende Bearbeitungszeiten, organsiert durch Wochenplanarbeit etc.); zieldifferente Differenzierung (Erarbeitung eines grundlegenden Niveaus (für alle) und von zwei Erweiterungsniveaus); Bearbeitungsdifferenzierung (individuelle Wege der Bearbeitung einbeziehen, vgl auch. 2.2); Wahldifferenzierung (Selbstdifferenzierung für stärkere Lerner - jeder lernt eigenverantwortlich); Intensivdifferenzierung (kooperativer Unterricht mit zwei Lehrkräften) sowie die Freigebende Differenzierung (eine Fachlehrerkette unterrichtet jahrgangsoffen und ermöglicht individuelle Lernfortschritte). Letztere Form wird z.B. in Finnland im Rahmen einer Schulreform als sogenannte Phenomenon-Based Learning (PEDANOW 2016) erprobt. Heterogenität, Diversität und Inklusion … 25 2. Mögliche neue Lösungsansätze könnten sich weiter ergeben aus dem Konzept der von der New London Group entwickelten Transformative Pedagogy (Cope/ Kalantzis 2009), das auf die Erzielung bestmöglicher Lerneffekte für alle SchülerInnen zielt „in terms of material rewards and socially ascribed status“ (20) und gleichzeitig eine Weiterentwicklung ihres Literacy- Ansatzes darstellt. Die von Cope/ Kalantzis entwickelten Prinzipien sind diversitätsorientiert und emanzipieren ganz unterschiedliche Lernzugänge und modifizierte Lernzielsetzungen (auch i.S von Nachteilsausgleich). Ihre Prinzipien umfassen z.B. die Akzeptanz ganz individueller und alternativer Startpunkte für Lernprozesse; die Akzeptanz unterschiedlicher Lernengagements und Lernformen; die Akzeptanz unterschiedlicher Lernziele und Orientierungen; die Akzeptanz unterschiedlicher Modalitäten zur Bedeutungskonstruktion sowie die Förderung von „Synästhesie“ als Lernstrategie. (ebda). Auch Bönsch greift mit seiner Forderung der Anerkennung und Förderung „variabler Bearbeitungs- und Verarbeitungsmodi“ individuelle Lernpräferenzen auf. Jedoch bedarf es dazu weiterer Überlegungen zur Umsetzung (Bönsch 2014, 80, 82). 3 Der Lehrer als Einzelkämpfer von gestern und Teamplayer von morgen... Wie oben skizziert, haben FremdsprachenlehrerInnen eine ganz zentrale Schlüsselrolle inne und bestimmen - gemeinsam mit sogenannte „Stützlehrkräften“ (vgl. Intensivdifferenzierung 2.2) maßgeblich die Bildungsqualität in ihren Lerngruppen. Neben der Erprobung und Einübung veränderter didaktischer methodischer Verfahren, also des „Wie“ inklusiver Praktiken, benötigen LehrerInnen eine hohe Diagnosekompetenz, eine breit gefächerte Lernberatungskompetenz oder auch Kompetenzen zur Gestaltung von medialen Lernumgebungen. „Ein Wandel der Professionalität (...) ist notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Verwirklichung auf das Recht auf Inklusion.“ (Pfahl 2014, 272). Die Qualifikation der Lehrkräfte für die inklusive Bildung stellt damit eine zentrale Herausforderung dar, europa- und deutschlandweit (KMK 2011, 2014). Ein solcher Wandel bedeutet m.E. ein völliges Neudenken für die Lehrerbildung und alle Fachdisziplinen. Im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ haben sich verschiedene Universitäten auf den Weg gemacht, Ausbildungsinhalte neu zu definieren und fachlich zu verschränken. Die Leibniz Universität Hannnover zielt z.B. auf die Entwicklungen im Bereich Diversität und Inklusion als „profilbildende Querschnittsaufgabe“ (LUH 2014, 10) in der Kooperation von Sonderpädagogik, den Fachbereichen und den Fachdidaktiken. Ziel ist dabei die Gabriele Blell 26 verpflichtende Verankerung von Inklusionsanteilen im Studium. Gearbeitet wird bis 2018 an fünf Teilprojekten (vgl. LUH 2014, 9-10): a) Entwicklung einer verpflichtenden Grundlagenvorlesung zu Diversität und Inklusion im Bachelor. b) Entwicklung von vertiefenden Wahlpflichtseminaren zu spezifischen Themenbereichen im Bachelor: Mehrsprachigkeit/ Bildungssprache/ - Deutsch als Zweitsprache; Inter-/ Transkulturalität und Internationalisierung; Behinderung und Benachteiligung und Gender. c) Pilotierung von Reflexionsseminaren zum Thema „Diversität und Inklusion“ im Master. d) Pilotierung systematischer Tandems zwischen Masterstudierenden der verschiedenen Lehramtsstudiengänge: Tandems zwischen Studierenden befördern die Entwicklung eines reflexiven Umgangs mit heterogenen Lernvoraussetzungen in Unterrichtssettings. e) Aufbau eines Supportsystems für Hochschullehrende der lehramtsbezogenen Studiengänge im Bereich Diversität und Inklusion. 4 Ungelöste Forschungsfragen zum Themenkomplex Inklusion... Der notwendige pädagogische und fachdidaktische Reformierungsprozess zu Themen eines ‚heterogenitätssensiblen Fremdsprachenunterrichts‘ (insbesondere in mixed ability groups) steht noch ziemlich am Anfang, was erste empirische Untersuchungen betrifft. Hervorheben möchte ich hier den Band von Sabine Doff (2016), der einen durchgängig interdiziplinären Ansatz aufgreift und zielgenau fragt: Welche erziehungswissenschaftlichen Impulse müssen berücksichtigt werden? Welche internationalen Perspektiven sind für den deutschen Schulkontext dienlich? Wie können andere Fachdidaktiken zur Lösung fachdidaktischer Kernfragen im FSU beitragen? (vgl. Doff 2016, 1-5). Teamarbeit, wie in diesem Band konzipiert, wird stärker als bisher die Forschungen zu diesem Thema begleiten müssen. Offene und drängende Fragestellungen sind z.B. Welche fachspezifischen Konzepte zur Förderung von Lernvoraussetzungen und -prozessen gibt es und wie kann inklusiver Unterricht in Bezug auf fachspezifische Dimensionen analysiert werden (z.B. Aufgreifen von Präkonzepten)? Welche multiplen, individuell adäquaten Repräsentations- und Erklärmöglichkeiten gibt es (z.B. Weiterentwicklung des literacy Ansatzes)? Welche Individualisierung und Differenzierung mit Hilfe von Bildungsmedien sind denkbar in inklusiven Klassen? oder: Welches bildungs- und fachsprachliche Wissen ist notwendig für einen differenzierenden FSU? Heterogenität, Diversität und Inklusion … 27 Angebunden an ein Seminar zum Thema „Heterogeneity and Inclusion in the EFL Classroom“ und in partieller Zusammenarbeit mit der Sonderpädagogik an der LUH gehen meine Studierenden momentan ins Feld, d.h. in ausgesprochen heterogene Lerngruppen (mit I-Kindern), um unterschiedliche Präkonzepte (Erklärungsmuster) von SchülerInnen im Englischunterricht zu erfassen. Sie nutzen dafür sogenannte Concept Cartoons, „a strategy to elicit learners’ ideas, challenge their thinking and support learners in developing their understanding.“ (Keogh/ Naylor 1993 in Naylor/ Keogh 2012, 1). Concept Cartoons folgen dem Konzept problembasierter Lernaufgaben und dem der didaktischen Rekonstruktion und sind für jüngere wie ältere Lerner langjährig positiv getestet. (Keogh/ Naylor 2012, 3). Lernaufgaben, in Form von kopierfähigen Cartoons, sind dabei generell offen, zielbezogen, stark visualisiert, minimal textlastig, ermöglichen verschiedene Lernwege, aktivieren Vorwissen und unterschiedliche Perspektiven und sind adaptiv einsetzbar. Concept Cartoons werden seit ca. 25 Jahren eingesetzt, vorrangig in Sachfächern (Sachkunde, Geographie, Mathematik etc.), in Englisch (im Kontext zunehmender Migration nach Großbritannien) erst seit 2014. In einem mehrschrittigen Prozess ist es Ziel des Seminars, nach adaptiven Methoden für einen heterogenitätssensiblen FSU zu suchen, der zuallererst möglichst alle Lerner einbezieht. Am Beispiel des Themas „Understanding unfamiliar words“ durchlaufen die Studierenden einen dreischrittigen Forschungsprozess: 1. Inhaltliche Entwicklung (Adaption) der Cartoons (Cartoons aus Turner et al. (2014), 2. Einsatz der Concept Cartoons im Unterricht (als Konzeptdialoge) und Datenerhebung (mündlich/ audio/ schriftlich) sowie 3. Analyse der Daten bezogen auf beobachtbare kognitive, metakognitive, kommunikative sowie kooperative Lernprozesse. Bezogen auf Ansätze in der Literatur, die zuallererst Indiviudalisierung in den Mittelpunkt stellen, setzen Concept Cartoons beim gemeinsamen Lernen in der Lerngruppe an, also an den eigentlichen inklusiven Lernprozessen: „They (Concept Cartoons, G.B.) help teachers to make sense of how to work with a whole class“ (vgl. Keogh/ Naylor 2012, 6). EPILOG Der Diversitäts- und Inklusionsansatz, Einheit in der Differenz sowie Differenz in der Einheit zu denken, ist eine große Idee: philosophisch, bildungspolitisch, allgemeinpädagogisch und didaktisch. Inklusion kann jedoch nicht Gabriele Blell 28 „über’s Knie gebrochen“ werden. Rothe et al., die inklusive Bildung aus globaler (insbesondere von Entwicklungsländern) Perspektive betrachtet haben, schlussfolgern aus ihren Analysen: Finally, inclusive education must be implemented in a context-sensitive manner, i.e., by following an approach that is sensitive to the existing cultures, traditions, practices and structures of the specific setting (Rothe et al. 2016, 177). Inklusive Bildung erfordert einen langen Atem! Literatur Appelbaum, Peter (2002): Multicultural and Diversity Education. A Reference Handbook. Oxford: ABC-CLIO. BAMF (2016): http: / / www.bamf.de/ DE/ Startseite/ startseite-node.html (07.12.2016). Blell, Gabriele (2013): „Diversity Education im Fremdsprachenunterricht“. 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Kempten: Klinkhardt. ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität im Englischunterricht Eva Burwitz-Melzer 1 Die Begriffe ‚Inklusion‘, Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im heutigen Fremd- und Zweitsprachenunterricht Während die Begriffe ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ schon lange im Kontext der Diskussion um Lernermerkmale und einer daran angepassten binnendifferenzierenden Fremd- und Zweitsprachendidaktik gebraucht werden (vgl. z.B. Hu 2016, 13; Hallet 2016, 40; Rymarczyk/ Vogt 2016, 68-69), ist der Begriff der ‚Inklusion‘ erst seit relativ kurzer Zeit in der Fremdsprachendidaktik anzutreffen. Auslöser für das verstärkte Interesse war die Ratifizierung der UN-Konvention im Jahr 2009 durch die Bundesregierung, die nach vielen anderen Nationen auch in Deutschland allen Kindern das Recht auf den Besuch der Regelschule einräumt. Der Prozess der Inklusion ist durch die UN-Behindertenrechtskonvention angestoßen worden, der Begriff der Inklusion stammt allerdings aus der US-Menschenrechtsbewegung. Der zentrale Fokus der Inklusion besteht darin, allen Menschen eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und dieses Recht beginnt für Lernende bereits in einer inklusiven Lernumgebung. Inklusion soll, im Gegensatz zur Separation und zur Integration, auf Unterscheidungen der Menschen anhand willkürlich gewählter Faktoren verzichten (vgl. von Saldern 2013, 9) und je nach Heterogenität der Lerngruppe entweder ein zielgleiches, aber lernprozessdifferentes oder auch ein zieldifferentes Lernen ohne äußere schulische Differenzierung umsetzen. Inklusion ist also eine konsequente Weiterführung des Heterogenitäts- und Diversitätsbestrebens im fremdsprachigen Klassenzimmer, das in vielen Schulformen schon seit Jahrzehnten erfolgreich umgesetzt wird. Wirklich neu ist der Begriff einer konsequent individuellen Beschulung wohl vor allem noch in den gymnasialen Oberstufen, die länger als andere Schulstufen und -formen an der Illusion der homogenen Lerngruppen festgehalten haben (vgl. Hallet 2016, 40; Rymarczyk/ Vogt 2016, 68). Eva Burwitz-Melzer 32 Während europaweit die Inklusionsquote bei 80 % liegt, ist sie in Deutschland bei ca. 25 % anzusiedeln (vgl. von Saldern 2013, 8). 1 Heute existieren zwei unterschiedliche Definitionen von ‚Inklusion‘ nebeneinander: In Gesetzestexten und Verordnungen trifft man in der Regel auf den eingeengten, negativ geprägten Begriff der Inklusion, der mit ‚Behinderungen‘ oder defizitären Merkmalen konnotiert wird. Hierzu gehören vor allem: AD(H)S, Sehbehinderungen, Lernschwierigkeiten, sprachliche Der internationale Rechtsanspruch hat sich inzwischen zu einer nationalen Aufgabe entwickelt, der nachgekommen werden muss, auch wenn dies für ein Land mit einer traditionell starken äußeren Differenzierung ungewohnt ist und die Bildungspolitik bisher nur wenig getan hat, um diesen Prozess nachhaltig zu unterstützen. Deutsche Regelschulen sind mittlerweile dabei, sich mit ersten Konzepten zu inklusiven Bildungseinrichtungen zu entwickeln. Der gesetzliche Rahmen dafür wurde länderübergreifend von der KMK mit dem Beschluss „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ (KMK 2011) geschaffen. Dass in diesem Gesetzespapier ein negativ geprägter Inklusionsbegriff gebraucht wird, der Inklusion nicht auf alle Lernenden, sondern nur auf Lernende mit „Behinderungen“ bezieht, hatte Auswirkungen auf die Gesetzes- und Verordnungslage in den Ländern. Auch hier wird meist - wie etwa im Land Hessen - Inklusion mit Merkmalen der Behinderung konnotiert; entsprechend zurückhaltend werden die KMK-Beschlüsse auch umgesetzt. Im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik haben die einzelnen Länder deshalb verschiedene Formen und unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Umsetzung. In manchen Bundesländern, wie etwa in Schleswig-Holstein, werden bereits so gut wie alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet. In Hessen dagegen ist man bei der inklusiven Beschulung zurückhaltender; das Hessische Schulgesetz, das sich an der negativ ausgeprägten Definition von Kinder und Jugendlichen „mit Beeinträchtigungen und Behinderungen“ orientiert, sieht vor, dass diese Lernenden „sowohl im inklusiven Unterricht an der allgemeinen Schule, als auch an der Förderschule unterrichtet und gefördert werden“ (Hessisches Kultusministerum 2015) Eine solche Formulierung suggeriert, dass sich Regelschulen dem Bundesbeschluss und den föderalen Ländergesetzen und Verordnungen recht einfach entziehen können. 1 Allerdings sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen: Im internationalen Kontext werden Inklusionsquoten anders ermittelt als in Deutschland; in den deutschen Bundesländern wiederum gelten unterschiedliche Regeln für die Definition der Inklusion, da einige Bundesländer bereits Kooperationsklassen als inklusive Beschulung ansehen, andere keine Förderschulen kennen (vgl. auch hierzu von Saldern 2013, 8-9). ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität … 33 Behinderungen, geistige Entwicklung, körperliche Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Hörbehinderungen, Armut (vgl. z.B. KMK 2011, Hessisches Kultusministerum 2015). Spricht man allerdings in pädagogischen oder fachdidaktischen Kontexten von Inklusion, so werden inzwischen alle Schülerinnen und Schüler als Gesamtheit gemeint, denn alle sollen im Sinne einer konsequent angewandten Diversifizierung nach ihren individuellen Bedürfnissen optimal gefördert werden (von Saldern 2013, 8- 9). Insbesondere die Geflüchtetenproblematik der Jahre 2015/ 16 hat die Sensibilität für die Dringlichkeit eines sehr breiten Inklusionsbegriffs weiter vorangetrieben, sodass heute berechtigterweise auch die Faktoren Mehrkulturalität oder kulturelle Diversität in die Diskussionen einbezogen werden (vgl. Kniffka 2016, 431-432). Nach Erschließung des Themas durch fachdidaktische Vertreter (für die Englischdidaktik z.B. Bongartz 2006; Amrhein/ Bongartz 2014; Rymarczyk/ Bongartz 2010; Schäfer 2014; Nieragden 2014) wurde der Begriff der Inklusion inzwischen weiter ausgeschärft. Erste Publikationen betrachten das Thema unter dem Blickwinkel einzelner Fachdidaktiken, um den didaktisch-methodischen Beitrag, den das jeweilige Fach bei der inklusiven Beschulung leisten kann, zu untersuchen. Das große bildungspolitische Projekt der inklusiven Beschulung zielt heute also auf einen ganzheitlichen Ansatz in der Bildung, der „Chancengleichheit, Teilhabe, Entwicklung und Bewahrung von Gemeinschaften und Achtung der Diversität“ umfasst (Booth 2008 zitiert bei Amrhein und Bongartz 2014, 25). Diese Tendenz zur Öffnung des Begriffs ist international bereits länger etabliert. So fassen Lazarus, Daniels und Engelbrecht bereits 1999 für den südafrikanischen Kontext zusammen: There is a tendency in education circles to equate the international inclusive education movement with disability and other ,special needs‘. … It is important to address the challenges of inclusion in the context of addressing all forms of discrimination. This means that discrimination and exclusion relating to social class, race, gender and disability and other less obvious areas (such as different leaning styles and paces) should be addressed in a holistic and comprehensive manner. (Lazarus/ Daniels/ Engelbrecht 1999, 47-48, Hervorhebung d.A.) Während in Deutschland zunächst nur die Schulen bzw. die Ausbildung der Migrantinnen und Migranten im Fokus der Aufmerksamkeit für einen inklusiven Fremdsprachen- und Zeitsprachenunterricht standen, wurde das Interesse bald auch auf alle Institutionen der Lehreraus- und -weiterbildung ausgeweitet (vgl. Rymarzyk/ Vogt 2016, 69; Amrhein/ Bongartz 2014, 25-44). Auch hier, so lautet die berechtigte Forderung von Ausbildungsverantwort- Eva Burwitz-Melzer 34 lichen, muss auf eine inklusive Schule möglichst rasch und umfassend vorbereitet werden, um eine „Schieflage“ zu korrigieren: Die momentane Ausbildung nimmt Lehramtsstudierenden trotz dieser Entwicklungen häufig noch die Möglichkeiten, über die engen Lehramtsgrenzen hinweg Schule und ihre zukünftige LehrerInnenrolle in inklusiven Settings zu reflektieren. Nach wie vor gibt es in vielen Bundesländern im Rahmen der Erstausbildung an Universitäten nur wenig Gelegenheiten, sich für die anstehenden inklusiven Bildungsreformen im Land zu professionalisieren. (Amrhein/ Bongartz 2014, 25) Noch sind es nur vereinzelte Konzepte wie die an eine inklusive Beschulung angepasste Lehramtsausbildung an der Universität zu Köln, die versuchen, die Inklusion in die Lehramtsausbildung zu integrieren. Von einem stringenten Entwurf, der Schule ganzheitlich denkt, d.h. zum Beispiel ohne die enge Bindung an Schulformen eine inklusive Strategie vorstellt und diese auch in Praktika ausprobieren lässt, sind die meisten Universitäten noch weit entfernt. 2 Bewährte Ansätze der Fremdsprachendidaktik und inklusive Beschulung Lernende unterscheiden sich voneinander, deshalb können ihre Lernwege und -prozesse sehr unterschiedlich sein. Binnendifferenzierende Modelle, die bereits in überzeugender Form bei Schwerdtfeger ( 2 2002) zu finden sind, bieten eine Fülle von bewährten methodischen Umsetzungsmöglichkeiten an, die auch für eine Förderung bei konsequenter Individualisierung im Fremd- und Zweitsprachenunterricht genutzt werden können. Es gibt nicht das eine didaktische und methodische Modell für den inklusiven Fremdsprachenunterricht. Aber zahlreiche bewährte Ansätze der Fremdsprachendidaktik können einen wertvollen Beitrag leisten zum diversitätssensiblen Unterricht, wie ihn inklusive Modelle einfordern. Als besonders wichtig sind diagnostische Ansätze zu nennen, die durch eine Standard- und Kompetenzorientierung ermöglicht werden; sie können helfen, individuelle Leistungsprofile mit besonderen Stärken und Schwächen in Bezug auf einzelne Kompetenzbereiche zu erstellen. Wenn heute weltweit die Forderung nach Inklusion besteht und man von einer großen Heterogenität der Lernenden ausgehen muss, steigt die Bedeutung binnendifferenzierender Maßnahmen auf der Basis von sorgfältiger Diagnose individueller Lernvoraussetzungen und Lernstände. (Klippel 2016, 320) ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität … 35 Nur nach einer gründlichen und individuellen Diagnose ist es überhaupt möglich, die Schülerinnen und Schüler angemessen und ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend zu fördern. Die Heterogenität einer Lerngruppe lässt sich erst genau bestimmen, wenn festgestellt wird, welche Leistungen von welchem Schüler erbracht werden können und welche noch nicht erreicht werden. Gerade die Orientierung an Kompetenzbereichen und die Operationalisierung durch Standards können Lehrkräften helfen, Klarheit über die individuellen Leistungsprofile zu erlangen. Zu Beginn einer Unterrichtseinheit - hierbei ist es ganz egal, ob es sich um einen literaturdidaktischen oder sprachdidaktischen Lernprozess handelt - sollte möglichst eine Diagnose durch Evaluation der Lehrkraft oder auch durch Selbstevaluation der Lernenden erfolgen, um die Ausgangssituation zu erfassen. Erst danach kann für den individualisierenden Unterricht ein genauer methodischer Plan erstellt werden. Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass differenzierender und inkludierender Unterricht nicht im Gleichschritt erfolgen darf und dass Strategien notwendig sind, mit denen in differenzierender Weise an die individuellen Ausgangslagen der Lernenden angeknüpft werden kann. (Eisenmann 2016, 359) Nach der Unterrichtseinheit empfiehlt sich ebenfalls eine Diagnose, um den Kompetenzzugewinn der einzelnen Lernenden festzustellen und ihn zu besprechen. Mit Hilfe von Reflexionsgesprächen und individueller Lernverträge können die Schülerinnen und Schüler, ähnlich wie beim Einsatz eines Portfolios, auch lernen, eigenständig ihre Lernprozesse zu planen bzw. selbst zu überprüfen, ob sie in einem inhaltlichen Bereich oder einer bestimmten Kompetenz ihr Lernprofil verbessert haben. Neben der Arbeit mit dem Lehrwerk, die in stark heterogenen Klassen am besten mit einem binnendifferenzierenden Lehrwerk erfolgt, sollten Material- und Methodenvarianz den Unterricht bestimmen. Dazu gehört vor allem auch das Angebot abwechslungsreicher Aufgaben mit Freiarbeit, Stationenarbeit, Szenarien und Projekten, das es erlaubt, dass Lernende ihre Lernprozesse wenigstens zum Teil selbst gestalten (vgl. auch Eisenmann 2016, 359-360). Lernaufgaben (tasks) umfassen kleinschrittiges Vorgehen bis zu komplexen Lernaufgaben und verlangen lebensweltlich sinnvolle Sprachhandlungen. Besonders die Arbeit in Kleingruppen garantiert, dass viel individuelle Sprachzeit eingebracht wird. Eine sinnvolle, den Lernenden angemessene Pflichtenteilung in den Kleingruppen kann dafür Sorge tragen, dass alle Lernenden bestimmte Aufgaben erfüllen, Lerninhalte aber ausgewählt und Lernwege im Prinzip von der Gruppe selbst organisiert werden können. Am Ende der Gruppenphasen kann eine Reflexion der Arbeitsprozesse den Eva Burwitz-Melzer 36 Lernenden helfen, sich über ihr Lernverhalten bewusst zu werden und ihre Selbsteffektivität zu stärken. Die ausgewählten Projekte und Szenarien sollten im Fremdsprachenunterricht stets eine interkulturelle Dimension beinhalten, die neben der Sprachaneignung auch Wissen und Bewusstsein über andere Kulturen in der Welt und die verschiedenen Kulturen im Klassenzimmer fördert. Es ist selbstverständlich, dass die im Klassenzimmer vertretenen Kulturen sowohl bei sprach- und mediendidaktischen wie literatur- und kulturdidaktischen Lerninhalten in die Aufgabenstellung sinnvoll einbezogen werden, indem die Lernenden z.B. über ihre Herkunftskulturen, ihre Herkunftssprachen oder erlernten Fremdsprachen sprechen sowie einer Vielzahl von Texten und Medien begegnen. Dabei wenden sich Fremd- und Zweitsprachendidaktik gegen eine allzu geschlossene, nationalkulturell ausgerichtete Darstellung von Kulturkonzepten. Die heterogenisierenden, komplexen kulturellen Zirkulations- und Aushandlungsprozesse der Gegenwartsgesellschaften lassen sich im Fremdsprachenunterricht nur durch eine entsprechende Vielfalt und Heterogenität der symbolischen und diskursiven Repräsentation der Vermittlungsmaterialien modellieren. (Hallet 2016, 40-41) Ganzheitliches Lernen kann helfen, den inklusiven Unterricht für Lernende attraktiver zu machen. Obwohl es oft mit dem Methodenangebot für jüngere Lernende assoziiert wird, entspricht es durchaus dem Lernansatz von offenen Aufgabenszenarios und Projekten, die eine Vielzahl von Kompetenzen schulen wollen. Neben sprachlichen und (inter-)kulturellen Kompetenzen ist es unabdingbar, emotionale, kreative und soziale Ziele anzustreben, die das inklusive Miteinander sinnvoll unterstützen und für alle Lernenden erfahrbar machen. Kooperative Lernformen, die Kommunikation zwischen den Lernenden fördern und Interaktion fordern, erhöhen Redezeit und Schüleraktivierung. Die Liste der bereits bekannten und auch für eine inklusive Beschulung vielversprechenden Ansätze ist lang und kann hier nicht in Gänze aufgeführt werden. Diese Ansätze sind in allen Schulformen bereits lange erprobt und werden bei jungen Lernenden bereits ganz selbstverständlich, in leistungsschwächeren Klassenzimmern ebenfalls sehr oft mit Erfolg eingesetzt. Ein inklusiver Fremd- und Zweitsprachenunterricht macht es allen Lehrenden zur Auflage, methodisch und didaktisch den individuellen Lernerfolg in den Blick zu nehmen und deshalb individualisierende und gleichzeitig auch diversitätssensible Verfahren einzusetzen. ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität … 37 3 Veränderungen im System Schule und bei der Ausbildung von Lehrkräften Von Saldern (2013) weist darauf hin, dass sich bereits jetzt viele Lehrkräfte in Deutschland von der Diskussion über inklusive Beschulung überfordert fühlen und führt dies auf eine „falsche Perspektive“ zurück. Er verweist darauf, dass das Thema eigentlich eher zum Bereich der Schulentwicklung gehöre: „Tatsächlich ist es so, dass die Schule als System für die Förderung des einzelnen Schülers verantwortlich ist“ (2013, 15, Hervorhebung d.A.). Diese Aussage, die eigentlich zu entlasten sucht, greift etwas kurz, denn wie die obigen Ausführungen bereits gezeigt haben, muss sich das Professionsbewusstsein und das Lehrerhandeln auf eine inklusive Beschulung einrichten und einlassen. Dennoch ist es richtig, dass bei der Inklusionsdiskussion deutlich gesagt wird, dass mit der Berücksichtigung aller Schülerinnen und Schüler in der Regelschule auch systemische Strukturen betroffen sind, die mittel- und langfristig verändert werden müssen. Auf der schulischen Ebene betrifft dies vor allem Steuerungsinstrumente wie eine professionelle Anerkennung und auskömmliche Finanzierung der benötigten Mehrleistungen, eine Deputatsreduktion jener Lehrkräfte, die als Inklusionsbeauftragte oder in inklusiven Klassen arbeiten, den Aufbau eines Kooperationssystems zwischen Stamm- Lehrkräften und Förderlehrkräften oder anderem pädagogischen Personal sowie eine Supervision, die auftretende Probleme im Gespräch mit dem Schulpersonal rechtzeitig auffangen kann. Darüber hinaus ist bei einer inklusiven Beschulung der Faktor der Elternberatung besser zu berücksichtigen als bisher. Heute haben Regelschulen meist einen Inklusionsbeauftragten, der alle „Fälle“ von inklusiv beschulten Kindern im Blick haben muss, die Gesetzes- und Verordnungslage kennt, mit allen betroffenen Eltern verhandelt und evtl. Kontakte zu anderen Institutionen herstellt. Diese Maßnahme greift aber zu kurz, wenn man Inklusion als umfassende Maßnahme denkt, die alle Schülerinnen und Schüler betrifft. Dann nämlich muss jede Lehrkraft ausreichend geschult sein, um Elternberatungen allein oder im Team durchführen zu können. Auch diese sehr arbeitsaufwändigen Gespräche benötigen ein professionelles Wissen und Bewusstsein, das besonders geschult werden muss. Kooperations- und Unterstützungssysteme sind heute bereits in zahlreichen Grundschulen und in Förderschulen gut etabliert und werden erfolgreich eingesetzt. Dies geschieht jedoch an staatlichen Regelschulen meist noch auf einer spontanen Basis, die von Stunde zu Stunde variieren kann, da Förderschullehrkräfte oder anderes pädagogisches Personal häufig als „Springer“ arbeiten, nur stundenweise und punktuell eingesetzt werden und Eva Burwitz-Melzer 38 deshalb nicht immer dieselben Kinder bzw. Klassen betreuen können. Dieser Reibungsverlust macht sich direkt im Unterricht durch eine schlechte Planbarkeit und daraus folgende methodische Unsicherheiten bemerkbar. Jene Kinder, die wegen kognitiver oder sozial-emotionaler Merkmale eine Einzelbetreuung und eine gesicherte, ruhige Lernatmosphäre dringend benötigen, um Lernerfolge zu erzielen, leiden unter dem Phänomen der Betreuungsunsicherheit. Eine ausreichende Ausstattung mit Planstellen für Lehrkräfte und Förderlehrkräfte oder anderem pädagogisches Personal ist also eine Grundvoraussetzung für einen gelingenden Unterricht. Das allein ist aber noch nicht ausreichend: Wenn man ein gut funktionierendes, synergetisches Arbeitsumfeld an inklusiven Regelschulen anstrebt, sollte der Mehraufwand, der durch Kooperationen zwischen dem Schulpersonal anfällt, erst einmal genau benannt und operationalisiert werden. Dazu gehören gemeinsame Planungen, Unterrichtsvorbereitungen und Konferenzen, die bei der Arbeitsbelastung entsprechend honoriert und berechnet werden. Dazu gehört aber auch gegenseitiger Respekt und eine Teamfähigkeit, die Voraussetzung dafür sind, das Miteinander im Klassenzimmer in gemeinsamer Verantwortung zu tragen und für die Lernenden durch geeignete Lernprozesse fruchtbar zu machen. Eine systematische Professionalisierung in den Bereichen Kooperations- und Teamfähigkeit wird aber bislang in der Lehramtsausbildung und -weiterbildung kaum gefördert. 4 Entwicklungs- und Forschungsbedarf in der Sprachlehrforschung und den Fremdsprachendidaktiken Man kann bei der Erforschung der Gelingensbedingungen inklusiver Beschulung eine Makroebene der systemischen Bedingungen, eine Mesoebene des gesamten pädagogischen Personals, ihrer Aus- und Weiterbildung und ihrer Kooperationen untereinander sowie eine Mikroebene der Unterrichts- und Lernprozesse in der Schule unterscheiden. Während Studien zu der Makroebene m.W. bisher nicht vorliegen, gibt es zur Mesoebene bereits erste Forschungstätigkeiten, z.B. das dreijährige Projekt ‚TE 41- Teacher Education for Inclusion‘ der European Agency for Special Educational Needs (2009-2012), welche Kompetenzen inklusive Lehrkräfte benötigen und wie aus Lehrkräften der Regelschulen Inklusionslehrkräfte werden können. 55 Expertinnen und Experten aus 25 Mitgliedsländern haben an dem Projekt teilgenommen und schlussendlich ein Profil für inklusive Lehrerinnen und Lehrer erstellt. Es umfasst vier Werte, die in der Lehrkraftausbildung besonders gefördert werden müssen: die Wertschätzung der Vielfalt der Lernenden, die Unterstützung eines jeden Einzelnen, den Willen und die Kompetenz zu Teamarbeit und Kooperation sowie den Willen zur persönlichen ‚Same same but different‘: Inklusion, Heterogenität und Diversität … 39 beruflichen Weiterbildung (vgl. European Agency for Special Educational Needs 2012 und Amrhein/ Bongartz 2014, 25-6). Dieses Profil stellt, verglichen mit der herkömmlichen pädagogischen, fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Ausbildung, einen Paradigmenwechsel dar, der sich wohl erst ganz allmählich in der Lehreraus- und Weiterbildung abbilden lassen wird. Zum Thema der Kooperation zwischen Lehrkräften und pädagogischem Personal liegen einige nationale und internationale quantifizierende Studien vor, die sich jedoch nicht auf inklusive Beschulung beziehen, sondern auf eine grundsätzliche Zusammenarbeit zwischen beiden Klientelen, wie sie z.B. im Ganztagsschulkontext stattfinden sollte (vgl. Olk, Speck/ Stimpel 2011; Bandura 1993 und 1997). Eine Erforschung der Mesoebene aus fachdidaktischer Sicht, in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften sowie ihre Kooperation mit pädagogischem Personal nach fachdidaktischen Kriterien der Professionalisierung genauer betrachtet werden, fehlt m.W. bisher. Auf der Mikroebene, der Ebene der Unterrichtsforschung mit der Beobachtung von Lernprozessen, findet bisher ebenfalls keine Forschung statt. Vorstellbar wären in diesem Kontext Studien, die ein Angebot-Nutzungs- Modell zugrunde legen, in dem sich der Unterricht aus einem Lehrangebot und aus der Nutzung des Angebots durch die Lernenden darstellt. Während im Modell von Helmke (2009) eine lineare Abfolge von Angebot, Wahrnehmung und Nutzung beschrieben wird, gehen z.B. Reusser/ Pauli (2003) explizit von einer wechselseitigen Interdependenz aus. Studien zu Lernprozessen in der inklusiven Schule müssen sich besonders mit den Kriterien zur Prozessqualität des Lernens beschäftigen, damit sie Qualitätsfaktoren beschreiben können, die ein optimales Lernen in der inklusiven Klasse erleichtern. In bisherigen pädagogischen Forschungen zeichnen sich dabei drei Qualitätsfelder ab (vgl. Fend 1998; Helmke 2009; Lotz/ Lipowsky/ Faust 2013; Pianta/ Hamre 2009): 1. Auf Inhalte bezogene Qualitätsmerkmale, wie kognitive Aktivierung, inhaltsbezogenes Feedback und konstruktiver Umgang mit Fehlern und Verständnisproblemen, 2. auf Emotionen und Motivation bezogene Qualitätsmerkmale, wie z.B. wechselseitige Anerkennung, Vermeidung von zu starkem Leistungsdruck und 3. Qualitätsmerkmale, die auf die Organisation der Lehr-/ Lernsituation gerichtet sind, wie z.B. Umgang mit Unterrichtsstörungen, Aufmerksamkeit der Lehrperson, vorbereitete Lernumgebung. Eva Burwitz-Melzer 40 Fachdidaktische Studien zur inklusiven Beschulung mit dem Fokus auf Lernprozessen müssten mithilfe von Videostudien und Interviews versuchen, diese Gütekriterien aus Sicht von Lehrkräften, pädagogischem Personal und Lernenden genauer zu beschreiben und zu bewerten. Literatur Amrhein, Bettina/ Bongartz, Christiane (2014): „,Diversity and Inclusion in Second and Foreign Language Learning‘ - Chancen für die LehrerInnenbildung“. In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 25-44. 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Saldern von, Matthias (Hrsg.) (2013): Inklusion II: Umgang mit besonderen Merkmalen. Norderstedt: Books on Demand. Saldern von, Matthias (2013): „Inklusion ist auf dem Weg“. In: ders. (Hrsg.), 7- 20. Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle Daniela Caspari 1 Auf dem Weg zu einem differenzierenden Fremdsprachenunterricht Obwohl „Heterogenität“ und „Differenzierung“ bereits seit den 1970er Jahren auch in der Fremdsprachendidaktik thematisiert werden (vgl. den Rückblick in Trautmann 2010, als ein Beispiel für eine programmatische Schrift Göbel 1981), nimmt das Interesse an dieser Thematik erst seit gut zehn Jahren deutlich zu. Arnold (2010) führt das gewachsene Interesse auf das Ergebnis der ersten PISA-Studie zurück, in der Deutschland einen Spitzenplatz bezüglich des Indikators für soziale Ungleichheit einnahm (vgl. Arnold 2010, 11). Er stellt fest, dass es vielen Autor/ innen bei der Diskussion um Heterogenität vor allem um die Problematik von Vorurteilen im Bildungssystem, insbesondere um deren Reduzierung auf der Individualebene im Klassenzimmer [ginge]: LehrerInnen sollen alle SchülerInnen in gleicher Weise wertschätzen. Dies [aber] wussten schon Tausch und Tausch, als sie 1970 das Konzept des sozialintegrativen Unterrichtsstils operationalisierten. (ebda) Wie sieht es über 40 Jahre später aus? Welches sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen für einen differenzierenden, bzw. in der aktuellen Terminologie, differenzsensiblen Fremdsprachenunterricht? Ich konzentriere mich dabei auf die didaktisch-methodische Dimension, auf die Faktoren „Lehrpersonen“ und „Lehrwerk“ und die curricularen Rahmenbedingungen. Die „Wiederentdeckung“ von Heterogenität in Form einer bewussten Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit von Schüler/ innen und die daraus erwachsende zentrale Forderung, sie als Individuen wahrzunehmen und in ihrem Lernen individuell zu unterstützen, sieht sich im Fremdsprachenunterricht im Vergleich zu anderen Schulfächern vor zwei Besonderheiten gestellt: Der Unterrichtsgegenstand „Fremdsprache“ ist zugleich das Kommunikationsmittel, und der Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I orientiert sich normalerweise an einem vornehmlich an einer linguisti- Daniela Caspari 44 schen Progression entlang gestalteten Lehrwerk. Diese beiden „limitierenden“ Faktoren dürften mit dazu beigetragen haben, dass die in den 1990er Jahren entwickelten fremdsprachendidaktischen Ansätze wie „Öffnung von Unterricht“, „kreative Arbeitsformen“, „Einsatz sog. neuer Medien“ und selbst „Autonomieförderung“ damals nur ansatzweise bzw. eher pauschal unter dem Aspekt der Heterogeniät betrachtet worden sind. In den bildungspolitischen Vorgaben der Länder wie in den aktuellen Lehrwerken beschränken sich differenzierende Maßnahmen bislang nahezu ausschließlich auf das „Niveau“, d.h. die aktuelle bzw. angestrebte Performanz der Lerner/ innen. Und dies, obwohl sich Schüler/ innen in einer Reihe von Eigenschaften unterscheiden, die auch das Fremdsprachenlernen beeinflussen. Alfred Holzbrecher und ich unterscheiden folgende Heterogenitätsdimensionen bzw. Differenzlinien (vgl. 2016, 10-13): 1. Leistungsfähigkeit (in Bezug auf das Lernen im Allgemeinen sowie hinsichtlich unterschiedlicher Domänen bzw. Lernfelder des Fremdsprachenlernens, Fremdsprachenlerneignung), 2. Motivation, Interesse, Lern- und Leistungsbereitschaft, 3. Vorwissen, Sprachkenntnisse, Lernvoraussetzungen (u.a. domänenspezifisches Vorwissen, lernstrategisches Vorwissen, soziale Lernvoraussetzungen, Sprachenfolge, Lernstand in und Vernetzungsgrad zwischen den bereits erworbenen Sprachen), 4. Lernstil, 5. Lerntempo, 6. Lebenswelt, soziokulturelle Herkunft, 7. durch Zuwanderung geprägte Sprachlernerfahrungen und erworbene Sprachregister. Bislang fehlt jedoch noch eine systematische Zuordnung unterschiedlicher Differenzierungsmöglichkeiten (z.B. die Differenzierungsfelder von Kuty 2009) zu den identifizierten Differenzlinien. Die Analyse und Planung von entsprechenden Lehr-/ Lernsituationen kann jedoch durch die von Caspari/ Holzbrecher (2016, 20) entwickelte Tabelle, in der die gängigsten Formen der Differenzierung zusammen mit den genannten Differenzlinien aufgeführt sind, erleichtert werden. In jüngster Zeit kommt vor allem für den Unterricht in der ersten Fremdsprache die Inklusion hinzu, d.h. die Integration von Schüler/ innen in den Unterricht der Regelschule, die bislang zumeist in spezialisierten Förderschulen beschult worden sind (enger Inklusionsbegriff, vgl. Schöler 2012). Inklusion verlangt über die bereits im Zusammenhang mit Differen- Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle 45 zierung bzw. Individualisierung 1 diskutierten Veränderungen in Bezug auf Unterrichtsinhalte, -materialien und -verfahren hinaus Überlegungen hinsichtlich eines zielgleichen und zieldifferenten Unterrichts und entsprechenden Leistungsüberprüfungen. Dies stellt nicht nur neue Anforderungen an die Lehrkräfte, sondern verlangt auch eine neue curriculare Rahmung. 2 Herausforderungen für einen diversitätssensiblen Unterricht In der Fremdsprachendidaktik wurde im Zuge der Diskussion um Differenzierung und Individualisierung bereits eine Reihe von Ansätzen entwickelt, auf die für die Entwicklung eines diversitätssensiblen Unterrichts zurückgegriffen werden kann. Dabei stellt die sorgfältige Diagnostik der individuellen Lernvoraussetzungen die Grundlage für zielführende differenzierende Maßnahmen dar (vgl. auch Hallet 2011, 71-86; Tesch/ Strathmann 2014), ebenso wie das in der Hattie-Studie als besonders wirksame Maßnahme festgestellte individuelle Feedback (vgl. Siebold 2014). In der Praxis stellt eine Diagnose, die über die Ergebnisse herkömmlicher Klassenarbeiten und Tests sowie einer holistischen Einschätzung durch die Lehrperson hinausgeht, meiner Beobachtung trotzdem nach wie vor die Ausnahme dar. Die - wenigen - vorgeschriebenen standardisierten Tests wie VERA 6/ 8 oder eine verbindliche Eingangsdiagnostik (in Berlin und Brandenburg z.B. durch die sog. Lernausgangslage (LAL) vgl. Junghanns/ - Schinschke 2009) werden von vielen Lehrpersonen noch immer als unnötige Zusatzbelastung wahrgenommen und abgelehnt. In einer Expertenbefragung (vgl. Caspari 2012) wurden als Hauptgründe für diesen Umstand eine „gewisse schizophrene Selbstwahrnehmung der Lehrkräfte“ vermutet: Die Lehrkräfte dächten, dass sie die Schülerleistung auch ohne LAL und andere Diagnoseinstrumente schnell feststellen könnten. Sie fühlten sich aber gleichzeitig überfordert, dies tatsächlich zu tun und im Anschluss daran - wie von der LAL vorgesehen - auch noch individuell zu beraten. Der andere Hauptgrund für die Ablehnung resultiere daraus, dass Differenzierung vom aktuellen Schulsystem nicht wirklich unterstützt werde: Nach wie vor fehlten personelle, räumliche, finanzielle und zeitliche Ressourcen, um als Antwort auf die Ergebnisse der LAL systematisch differenzierten Unterricht planen und durchführen zu können. Ein weiteres Problem stellen die Lehrwerke dar. Denn der Rückgriff auf das in den neueren Lehrwerksgenerationen enthaltene Differenzierungsmaterial reicht quantitativ wie qualitativ meist nicht aus, um Unterricht syste- 1 Mit Schittko (vgl. 1984, 23) verstehe ich unter „Differenzierung“ unterrichtliche Maßnahmen, die das Prinzip der Individualisierung zu verwirklichen helfen. Daniela Caspari 46 matisch zu differenzieren. Zum einen handelt es sich, wie bereits erwähnt, zumeist oder sogar ausschließlich um leistungsdifferenzierende Angebote, zum anderen werden in den Angeboten für leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler/ innen längst nicht immer die gleichen Kompetenzbereiche bearbeitet (vgl. die Beispiele in Caspari/ Holzbrecher 2016, 21-23, Hinweise und Beispiele für eine systematische Differenzierung mit dem Lehrwerk vgl. Abendroth-Timmer et al. 2014). Junghanns/ Schinschke (2015) stellen aufgrund ihrer Analyse aktueller Englisch- und Französischlehrwerke zudem fest, dass das vorliegende Differenzierungsangebot lernschwächere Schüler/ innen sogar benachteiligen kann, weil es vor allem reproduktive und geschlossene Aufgabenformate, selten aber kognitiv herausfordernde und offene Aufgabenformate enthält. Daher erscheint es notwendig, auf der inhaltlichen und methodischen Ebene alternative Angebote zu entwickeln. Als Ansätze und Formen für die Umsetzung differenzsensiblen Unterrichts eignen sich m.E. insbesondere − die systematische Förderung von Lernerautonomie (vgl. z.B. Bönsch 2015; Eisenmann/ Kuty/ Wolff 2012), − Formen geöffneten Unterrichts, wie z.B. Projektarbeit, simulation globale, Stationenlernen (vgl. z.B. Henseler/ Möller 2008; Kuty 2008); allerdings scheint dieses Potenzial bislang noch nicht systematisch ausgelotet worden zu sein, − differenzierte Aufgaben zur Förderung des gleichen Kompetenzbereiches (vgl. z.B. Bensch/ Vorbeck-Heyn 2009; Neumann 2009; Steffen 2013), − komplexe Lernaufgaben (vgl. z.B. Adler 2013; Bär 2013; Braun 2013; Hallet 2013), − Aufgaben, die einen ganzheitlichen oder kreativen Zugang ermöglichen, z.B. dramenpädagogische Ansätze, kreative Aufgabenformate, − computergestütztes Fremdsprachenlernen. 3 Curriculare Rahmungen für einen differenzsensiblen Fremdsprachenunterricht 3.1 Der inklusive Rahmenlehrplan von Berlin-Brandenburg (2015) Als Beispiel für die oben angesprochene notwendige curriculare Rahmung sei der zum Schuljahr 2017/ 2018 in Berlin und Brandenburg in Kraft tretende erste schulformübergreifende Rahmenlehrplan (RLP) für alle Klassen 1 - 10 vorgestellt (Senatsverwaltung 2015). Er wird durch eine Broschüre des Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle 47 Landesinstitutes Berlin-Brandenburg (LISUM 2016) erläutert und durch das Portal RLP-online ergänzt. Zu den Grundsätzen des Rahmenlehrplans gehört Inklusion: Alle Schülerinnen und Schüler haben gemäß der landesspezifischen Regelungen ein Recht auf eine gemeinsame und bestmögliche Bildung. Dieser Anspruch besteht unabhängig von z. B. körperlichen und geistigen Potenzialen, Herkunft, sozioökonomischem Status, Kultur, Sprache, Religion, Weltanschauung sowie sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Die dadurch gegebene Vielfalt stellt eine Bereicherung und Ressource dar. Die Schule bezieht diese Vielfalt gezielt und konstruktiv in den Unterricht und das Schulleben ein. (Senatsverwaltung 2015, Teil A, 3) Der grundlegende Widerspruch eines vom Grundsatz hier inklusiv gedachten Schulwesens, das jedoch weiterhin in unterschiedliche Schulstufen und formen aufgeteilt ist, wurde in der Form zu lösen versucht, dass ein Niveaustufenmodell eingeführt wurde. Die als A bis H definierten Niveaustufen werden mit unterschiedlicher zeitlicher Schwerpunktsetzung den unterschiedlichen Bildungsgängen und Jahrgangsstufen zugeordnet. Durch diese Darstellung, so erwartet man (vgl. Landesinstitut 2016, 12), sollen Ansatzpunkte für eine individuelle Förderung der Schüler/ innen ableitbar sein, da die jeweils darüber- und darunterliegenden Anforderungen transparent würden. Gleichzeitig sei erkennbar, welche Kompetenzen für den Übergang in eine bestimmte Schulform oder für einen bestimmten Abschluss erforderlich seien. Je nach Schulform bzw. nach angestrebtem Schulabschluss und Zeitpunkt des Einsatzes der jeweiligen Fremdsprache müssen die Kompetenzniveaus unterschiedlich schnell durchlaufen werden. Die Zuordnung zu den jeweiligen Schulformen bzw. Abschlüssen wird für die 1. Fremdsprache (nicht aber für die 2. und 3.) in einzelnen Tabellen dargestellt (vgl. ebda, 14- 15). Den Kompetenzniveaus sind Regelstandards zugeordnet, die beschreiben, „welche Voraussetzungen die Lernenden in den Jahrgangsstufen 1 bis 10 erfüllen müssen, um Übergänge erfolgreich zu bewältigen bzw. Abschlüsse zu erreichen“ (ebda, 13). Für Schüler/ innen mit einem festgestellten Förderbedarf wird zusätzlich eine Reduzierung der Lernanforderungen festgelegt: Schülerinnen und Schüler, die […] sonderpädagogische Förderung erhalten[…], konzentrieren sich im Fremdsprachenunterricht auf das Hör-/ Hörsehverstehen, Leseverstehen und das Sprechen. Die Anforderungen im Erstellen von Texten berücksichtigen die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. Der Fremdsprachenerwerb unterstützt die Daniela Caspari 48 interkulturelle Kompetenz der Schülerinnen und Schüler. (Senatsverwaltung 2015, Teil C Moderne Fremdsprachen, 20) Sieht man sich die Standards zu den einzelnen Kompetenzbereichen genauer an, so fällt die große Spreizung im unteren Bereich auf: Erst das Niveau D ist an A1 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen (GeR) angelehnt, die darunterliegenden Niveaus A-C sind darunter angesiedelt. Für den Kompetenzbereich Hör-/ Hörsehverstehen z.B. werden sie wie folgt ausdifferenziert (Senatsverwaltung 2015, Teil C Moderne Fremdsprachen, 22): A die Fremdsprache von ihrer Muttersprache unterscheiden und einzelne Wörter der Zielsprache wiedererkennen B sehr kurze einfache Hör-/ Hörsehtexte mit bekannten Wörtern und Wendungen verstehen, wenn der Text sehr langsam und deutlich und mit Pausen oder Wiederholungen in Standardsprache gesprochen und visuelle Unterstützung gegeben wird angeleitet durch visuelle Impulse eine Hörerwartung aufbauen C kurzen einfachen - ggf. auch authentischen - Hör-/ Hörsehtexten mit bekannten sprachlichen Mitteln das Thema (global) und gezielt Einzelinformationen (selektiv) entnehmen, wenn diese sich auf vertraute Alltagsthemen beziehen und wenn langsam, deutlich und mit Pausen oder Wiederholungen in Standardsprache gesprochen und visuelle Unterstützung gegeben wird angeleitet Vorerfahrungen, visuelle Hilfen und Geräusche zum Aufbau einer Hörerwartung sowie zum Verstehen nutzen D einfachen - ggf. auch authentischen - Hör-/ Hörsehtexten mit weitgehend bekannten sprachlichen Mitteln das Thema (global) und gezielt Einzelinformationen (selektiv) entnehmen, wenn langsam, deutlich und mit Pausen oder Wiederholungen in Standardsprache zu vertrauten Alltagsthemen gesprochen wird angeleitet visuelle Elemente, den Kontext und Hörerwartungen zum Verstehen nutzen sowie einfache Hörtechniken anwenden und bei Verständnisschwierigkeiten weiterhin folgen [orientiert an A1/ GeR] Mir erscheinen bei dieser Differenzierung sowohl der zugrunde gelegte Ansatz für eine Progression als auch die konkrete Realisierung incl. der Zuordnung der Strategien problematisch. So wird nicht deutlich, welches Modell von Hörverstehen bzw. welche empirischen Untersuchungen der Ausdifferenzierung zugrunde liegen und nach welchen Prinzipien sie vorgenommen wurde. Außerdem legt die Skalierung nahe, aus diesen Beschreibungen eine unterrichtliche Progression abzuleiten, was jedoch dazu führen könnte, dass von Schüler/ innen bereits mitgebrachte Strategien oder ganzheitlichere Zu- Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle 49 gänge zum Hörverstehen nicht identifiziert und somit nicht genutzt werden. Angesichts der Individualität fremdsprachlicher Lernprozesse und der großen Bandbreite an möglichen individuellen Einschränkungen von Schüler/ innen erscheint es mir darüber hinaus auch grundsätzlich problematisch, eine solch kleinschrittige Differenzierung in Form von als Progression angelegten Niveaus vorzunehmen. Für die höheren Niveaustufen werden im Rahmenlehrplan Berlin und Brandenburg allerdings auch weiterhin nur die üblichen GeR-Stufen angegeben: F orientiert an Niveau A2/ GeR, G orientiert an Niveau B1/ GeR, F orientiert an Niveau B1+/ GeR. Der Grundsatz der Inklusion soll im Unterricht durch differenzierende Maßnahmen sichergestellt werden: Ein differenziertes Unterrichtsangebot stellt sicher, dass die Schülerinnen und Schüler ihren individuellen Voraussetzungen entsprechend lernen können. Das Unterrichtsangebot berücksichtigt in den verschiedenen Jahrgangsstufen die jeweils gesetzten Anforderungen. Es ist Aufgabe der Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, die in den Standards formulierten Anforderungen zu verstehen, damit sie sich unter Anleitung und mit steigendem Alter zunehmend selbstständig auf das Erreichen des jeweils nächsthöheren Niveaus vorbereiten können. (Senatsverwaltung 2015, Teil C Moderne Fremdsprachen, 13) Angesichts der oben genannten Wahrnehmungen der Lehrpersonen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Differenzierung erscheint diese Darstellung sehr optimistisch. Selbst an dieser knappen Darstellung werden zentrale Schwierigkeiten bei der Konstruktion und der Umsetzung eines inklusiven Rahmenlehrplans deutlich. Und es wird erkennbar, dass bei einem konsequent differenzsensibel angelegten Unterricht die Gefahr besteht, dass die Fachlichkeit leidet und Standards eines modernen Fremdsprachenunterrichts, wie z.B. die weitgehende Einsprachigkeit, nicht umgesetzt werden können. 3.2 Das Positionspapier zu Mindeststandards der DGFF (2012) Angesichts des vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gewählten Weges, Mindeststandards für die Fremdsprache Englisch durch cut scores auf der Punkteskala eines Kompetenzstufenmodells für die Kompetenzbereiche Lese- und Hörverstehen zu bestimmen (zum Vorgehen vgl. IQB 2014), hatte sich eine Arbeitsgruppe der DGFF die Aufgabe gestellt, eine theoretische Rahmung für eine umfassendere Konzeption von Mindeststandards vorzulegen (vgl. Caspari et al. 2012). Ausgangspunkt der Überlegungen war „die Bedeutung, die der Förderung sprachlich-kognitiver Kompetenzen des Einzelnen im Hinblick auf fachliche Leistungen und Daniela Caspari 50 Schulerfolg, auf Kommunikationsfähigkeit und Literalität sowie im Hinblick auf die nachschulische Teilhabe der Heranwachsenden an der Arbeits- und Lebenswelt in einem zunehmend globalisierten Kontext zukommt“ (ebda, 244). Mindeststandards müssten daher von einem Bildungsbegriff ausgehen, der auf die „Befähigung zur aktiven Beteiligung am beruflichen und öffentlichen Leben sowie zur Gestaltung des privaten Lebens“ abzielt (Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) 2009, 2). In Anlehnung an das Positionspapier der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) zu Mindeststandards am Ende der Pflichtschulzeit wird vorgeschlagen, bei der Bestimmung von Mindeststandards nicht von den „tradierten Strukturen eines Schulfaches oder einer wissenschaftlichen Disziplin“ auszugehen (Caspari et al. 2012, 257), sondern von vier Bildungsdimensionen, die im Kern menschlichen Selbstverständnisses, privater Erfüllung und öffentlichen Handelns anzusiedeln sind: (1) Identitätsfindung, (2) Alltagsbewältigung, (3) Ausbildungsreife, (4) Partizipation. (ebda, 257) Diese sollten mit den vier zentralen Dimensionen fremdsprachlicher Kompetenz verbunden werden: (1) der kognitiven Funktion, (2) der kommunikativen Funktion, (3) der metakognitiven Funktion und der (4) kulturellen Funktion (vgl. ebda, 259-262). Durch solche Zuordnungen wird nicht nur die wesentlich umfassendere Vorstellung von Mindeststandards konkretisiert, sondern es wird auch ein neuer Blick auf die Funktionen der tradierten fremdsprachlichen Kompetenzbereiche und Teilkompetenzen erreicht. Bspw. werden in dem Positionspapier die sprachlich-funktionalen Kompetenzbereiche in der Dimension „Identität“ u.a. in Form von Standards zur Rezeption und Reaktion auf ausländische Medien oder zur Fähigkeit zum fremdsprachigen Austausch mithilfe von E-Mail und Skype formuliert, in der Bildungsdimension „Alltagsbewältigung“ auf Standards zur Gestaltung der Grundformen menschlicher Interaktion wie Small talk, Reisen, Dank/ Lob/ Beschwerde oder zur Formulierung persönlicher Interessen (vgl. ebda, 260). Fazit Insgesamt mahnt diese theoretische Rahmung im Vergleich zum Berlin- Brandenburger Rahmenlehrplan an, dass auch und gerade Mindeststandards bzw. Standards auf den niedrigen Niveaustufen einer sorgfältigen bildungstheoretischen Fundierung und einer empirischen Validierung bedürfen, um den Bedarfen und Bedürfnissen der Schüler/ innen gerecht zu werden. Trotz der Tatsache, dass eine entsprechende Formulierung von Standards für Differenzsensibler Fremdsprachenunterricht - eine Großbaustelle 51 Schüler/ innen mit Förderstatus aufgrund ihrer divergenten Lernvoraussetzungen und Förderbedarfe noch komplexer und komplizierter werden dürfte, sollte auch hierbei der Grundgedanke eines Rechts auf Bildung zur Leitschnur von Standardformulierungen werden. Und dies ist nun einmal deutlich mehr als „das Verständnis weniger Vokabeln und Redewendungen, die im Alltag in einem fremden Land nützlich sind“ - wie es ausgerechnet eine Spezialistin für Inkulsion formulierte (Schöler 2012, 15). Diese Äußerung zeigt, wie notwendig es ist, für differenzsensiblen Fremdsprachenunterricht in Zusammenarbeit von Erziehungswissenschaftler/ innen, Fachdidaktiker/ innen und Praktiker/ innen möglichst schnell funktionsfähige Gesamtpläne auf der curricularen Ebene zu erstellen; sonst besteht die Gefahr, dass - wie bei einem anderen bekannten Bauvorhaben in Berlin- Brandenburg - zwar viele Einzelaktivitäten entfaltet werden, die Erreichung des Gesamtziels aber nach wie vor in weiter Ferne liegt. Literatur Adler, Marina (2013): „Kompetenzorientierte Lernaufgaben: Ein Instrument zur Differenzierung im Unterricht“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht Englisch 10 (4), 4-8. Abendroth-Timmer, Dagmar/ Frevel, Claudia/ Lüning, Marita/ Vázquez, Graciela (2014): „Ansätze zur differenzierenden Arbeit mit dem Lehrwerk“. In: Grünewald, Andreas/ Krämer, Ulrich (Hrsg.), 43-76. 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Andererseits wird bisweilen die Ablösung von Fächerstrukturen gefordert (Idel/ Rabenstein 2016, 11) und Kritik an einer vermeintlich inklusionshemmenden Fächerdominanz der Bildungsstandards und Curricula geübt (Booth 2014, 58; Lohmann 2015, 46, 48). Inklusion ist jedoch zuallererst ein bildungspolitisches Programm von weitreichendem Ausmaß und wird als Querschnittsaufgabe der Schule verstanden (HRK/ KMK 2015, 3). Deshalb ist es notwendig, dass sich auch die Vertreterinnen und Vertreter der Fremdsprachendidaktiken zu der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN 2006) in der Lehrerbildung positionieren. 1 Zentrale Begriffe der Inklusions-Debatte und ihre Relevanz für die Fremdsprachendidaktik Während Inklusion und Heterogenität Begriffe mit einem schwachen Bezug zur Fremdsprachendidaktik sind, weist der Begriff Diversität einen stärkeren Zusammenhang mit fremdsprachendidaktischen, kultur- und sprachwissenschaftlichen Konzeptionen auf. 1.1 Diversität Grundsätzlich steht der Begriff Diversität für Vielfalt, die sich je nach Betrachtungswinkel z.B. auf die biologische Vielfalt der Natur, die soziale Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens, die kulturelle Verschiedenheit innerhalb von Gesellschaften oder die Unterschiedlichkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Unternehmen beziehen kann. Im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Sprachen verweist der Begriff der Diversität auf sprachliche und kulturelle Vielfalt, die in modernen Gesellschaften anzutref- Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions-Diskurs 55 fen ist. Von diesem eher neutral-deskriptiven Verständnis gilt es den wertenden Begriff zu unterscheiden, mit dem zum Ausdruck gebracht wird, dass sprachliche und kulturelle Diversität schützens- und erhaltenswert ist. Im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GeR) wird allerdings explizit darauf verwiesen, dass dafür ein Transformationsprozess vonnöten ist, der den vorgefundenen Zustand der sprachlichen und kulturellen Vielfalt von einem Hindernis für die Verständigung in eine Ressource wandelt (vgl. Council of Europe 2001, 2). Beides, Diversität als Ausgangszustand wie Diversität als Ziel, findet seinen Niederschlag in Curricula und Lehr-Lern-Materialien, die beispielsweise das Spektrum der Varietäten des Englischen oder die Vielfalt des kulturellen Lebens in englischsprachigen Ländern thematisieren (vgl. Kroschewski 2015). Für die fremdsprachendidaktische Diskussion erscheint es zweckmäßig, zwei weitere Konkretisierungen vorzunehmen: Zum einen kann Unterricht durch inhaltlich-thematische Diversität gekennzeichnet sein, zum anderen kann sich methodisch-didaktische Diversität in einer Unterrichtsgestaltung niederschlagen, mit der man versucht, den diversen Bedürfnissen der Lernenden gerecht zu werden. 1.2 Heterogenität Der Begriff der Heterogenität wird unabhängig vom jeweiligen Unterrichtsfach auf die Beschaffenheit von Lerngruppen hinsichtlich der Lernvoraussetzungen und zahlreicher anderer Variablen bezogen (für eine Auflistung verschiedener Variablen vgl. z.B. Haß 2010, 35). Hallet (2011, 59-60) bezeichnet die Homogenität von Lerngruppen zu Recht als Fiktion und Heterogenität als den Normalfall. Hermes (2016) weist in einem Beitrag zur historischen Entwicklung des Englischunterrichts darauf hin, dass bereits aus den 70er und 80er Jahren Forschungsergebnisse zu heterogenen Lerngruppen, insbesondere an Hauptschulen, vorliegen. Sie regt eine „Rückbesinnung auf ältere Konzeptionen von Individualisierung und Differenzierung“ (ebda, 47) an. Der mit dem Begriff superdiversity (vgl. Vertovec 2007) bezeichnete gesellschaftliche und demographische Wandel hat allerdings zu einer Zunahme an Heterogenität geführt, die nun auch diejenigen Schulformen betrifft, die bis ins 21. Jahrhundert hinein durch leistungsorientierte Selektion eher von homogenen Lerngruppen gekennzeichnet waren, insbesondere an den Gymnasien. Es entbehrt in der aktuellen Diskussion nicht einer gewissen Ironie, dass die homogenitätsorientierte Schulform Gymnasium an Popularität und Aufmerksamkeit gewonnen hat, während die heterogenitätsorientierte Schulform Hauptschule zum „Auffangbecken für Schulversager“ wurde und vor der flächendeckenden Abschaffung steht. Zudem ist zu be- Bärbel Diehr 56 rücksichtigen, dass Heterogenität sich heute nicht nur auf Leistungsschwächen, Lernschwierigkeiten und Behinderungen, sondern ausdrücklich auch auf religiöse, ethische, sexuelle Orientierungen sowie kognitive, affektive und physische Lernvoraussetzungen bezieht (vgl. GFD 2015, 4). 1.3 Inklusion Im Mittelpunkt der politischen Entscheidung für eine inklusive Bildung stehen allerdings nicht die oben genannten Heterogenitätsdimensionen, obwohl diese eingeschlossen sind und mitbedacht werden. Vielmehr ergeben sich die weitreichendsten Veränderungen aus der Forderung nach einem gemeinsamen Unterricht für Menschen mit und ohne Behinderung. Die inklusive Schule ist dem gemeinsamen, allerdings altersdifferenzierenden, Unterricht verpflichtet und geht mit dem Abbau der Förderschulen und Hauptschulen Hand in Hand. Bezogen auf inklusiven Fremdsprachenunterricht sollte die Auffassung, dass „die Fremdsprachendidaktik eine inhärente inhaltliche Nähe zu den Aspekten Heterogenität und Inklusion [besitzt], da die didaktische Auseinandersetzung mit Fremdheit, kultureller Pluralität und Perspektivenübernahme grundlegend für das interkulturelle Lernen ist“ (Bitmann 2016, 135), sorgfältig geprüft werden. Denn die Realität des Schulalltags relativiert diese Auffassung: Analysen aus dem Projekt „Komm mit! - Fördern statt Sitzenbleiben“ des nordrhein-westfälischen Schulministeriums (MSW NRW o.J.) weisen dem Fach Englisch in der Liste der Fächer mit den höchsten prozentualen Anteilen der Noten 5 und 6 - nach Mathematik - den zweiten Rang zu (vgl. auch Helmke 2010, 62). Selektion und Inklusion stehen also gerade im Englischunterricht in einem Spannungsverhältnis. 2 Ebenen der Reform für ein inklusives Bildungswesen In jüngster Zeit setzen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstärkt mit der Frage auseinander, mit welchen fremdsprachendidaktischen Konzepten die Realisierung der Inklusion im Fremdsprachenunterricht gelingen kann (z.B. Börner/ Lohmann 2015; Doff 2016; Haß/ Kieweg 2012). Dabei sind unterrichtsmethodologische Fragestellungen zwar nicht unerheblich, angesichts des Ausmaßes der bildungspolitischen Reform jedoch nicht vorrangig. Ähnlich wie im Fall der Sprachmittlung, die politisch gesetzt wurde, bevor die Theoriebildung hinreichend vorangeschritten war (vgl. Kolb 2016), erscheint mir die theoretische Fundierung von inklusivem Fremdsprachenunterricht auf der Grundlage einer umfassenden Dokumentenanalyse und einer Erfassung der Veränderungen, die die Inklusion im Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions-Diskurs 57 Schulalltag hervorbringt, vorrangig. Für die Realisierung des inklusiven Fremdsprachenunterrichts sind daher zunächst sowohl systemtheoretische Überlegungen anzustellen als auch Fragen zu den curricularen Zielsetzungen und Standards sowie zu den Gegenständen inklusiven Fremdsprachenlernens zu erarbeiten und zu erforschen. Des Weiteren ist zu diskutieren, ob die Hervorhebung der persönlichen Verantwortung des Lehrpersonals an Schulen und Universitäten dem Anspruch der weitreichenden Umgestaltung des Bildungswesens gerecht wird. Die Argumentation „Inklusion beginnt im Kopf“ (Lohmann 2015, 45) betont die Verantwortung der einzelnen Lehrerin und des einzelnen Lehrers für das Gelingen des inklusiven Fachunterrichts und suggeriert zudem, dass die Inklusion mit engagierten Idealisten gelingen kann. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Inklusion an einer mangelnden Bereitschaft umzudenken in der Lehrerschaft scheitern kann. Tatsächlich erfordert inklusiver Fremdsprachenunterricht vorrangig Ressourcen und Spezialwissen. „[N]icht ohne Grund gibt es höchst spezialisierte sonderpädagogische Studiengänge, deren Wissen und Kenntnisse nicht plötzlich obsolet werden, weil eine bestimmte Schulform [hier: Förderschule, B.D.] in Frage gestellt wird“ (Bartosch/ Rohde 2014, 1). 2.1 Brennpunkte der Umgestaltung einer inklusiven Schule Mit abnehmendem Abstraktionsgrad werden im Folgenden sechs Brennpunkte skizziert, deren fremdsprachenspezifische Implikationen zu bedenken sind. Auf der Ebene der Schulstruktur scheint die Funktion der Förderschule noch nicht hinreichend geklärt zu sein. Ob es aus fremdsprachendidaktischer Sicht Gründe gibt, sich der Forderung der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule nach einer schrittweisen Aufhebung von „Sonderschulen“ anzuschließen, wie es z.B. Lohmann (2015, 41) tut, ist meines Wissens noch nicht diskutiert worden. Dagegen spricht, dass selbst in Ländern wie z.B. Großbritannien, in denen Inklusion im Schulwesen schon deutlich weiter vorangeschritten ist als in Deutschland, an sogenannten special schools festgehalten wird, die Lernende mit spezifischen Lernbedürfnissen und Behinderungen aufnehmen. Specks (2015) Kritik, dass Inklusion in Deutschland verabsolutiert würde, dass jegliche Form von exkludierender Beschulung als unerwünscht betrachtet würde und dass diese Interpretation wahrscheinlich auf einer Fehlinterpretation der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Deutschen Bundestag beruhe, bedarf gründlicher Recherchen, auch der systemischen Veränderungen und ihrer Auswirkungen. Die (partielle) Auflösung von Förderschulen und somit die Verlagerung der Verantwortung für Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Bärbel Diehr 58 Regelschule hat weitreichende Konsequenzen, die jedoch kaum durch fremdsprachendidaktische Konzepte aufgefangen werden können. Auf der Ebene der Fächer sollte die Fremdsprachendidaktik den Forderungen nach der bisweilen geforderten „Ablösung von der Fächerstruktur“ (Idel/ Rabenstein 2016, 11) als Voraussetzung für die Neugestaltung von Schule und Unterricht entgegentreten. Unter Verweis auf Reich (2012) behauptet beispielsweise Lohmann, dass „die Dominanz der Fächer alle Bemühungen um Partizipation in der Schul- und Unterrichtsplanung vor Ort konterkariert“ (Lohmann 2015, 46). Geklärt werden sollte in diesem Zusammenhang, ob die Forderung nach Eliminierung der Fächerdominanz (vgl. ebda, 48) nur die schulischen Fächer oder auch ihre universitären Korrespondenz-Disziplinen in den Lehramtsstudiengängen betrifft. Die Empfehlung, als Alternative zu „fächerdominanten Lehrplänen und Schulbüchern“ (ebda, 47) stärker themen- und projektorientiert zu arbeiten, zeigt nämlich, dass fachliche Expertise benötigt wird, um Themen lernergerecht und fachlich angemessen konturieren und strukturieren zu können. Gleichzeitig wird für die professionelle Gestaltung des Fremdsprachenlernens in den sechs Förderschwerpunkten sonderpädagogische Expertise benötigt. Daraus folgt die Notwendigkeit der Verzahnung von Fächern (vgl. Rohde 2014, 11), nicht aber ihre Auflösung. Die Frage der Fächerstruktur berührt unmittelbar die curriculumstheoretische Ebene. Gemäß den Empfehlungen der KMK (2011, 8, 19) haben die Lehrpläne weiterhin Geltung als Richtschnur des Unterrichts. Die HRK/ KMK (2015, 3-4) sehen den Bedarf für entscheidende Veränderungen lediglich in den Bereichen der Diagnostik und der methodisch-didaktischen Unterrichtsgestaltung. Tatsächlich sind jedoch Fragen, die die Lehrpläne betreffen, von hoher Brisanz gekennzeichnet, da Schulabschlüsse mit Berechtigungen verbunden sind und in den letzten Jahren ein gesteigertes Streben nach höheren Schulabschlüssen zu verzeichnen ist (vgl. auch Müller-Hartmann/ Schocker 2015, 5; Trautmann 2016, 22). Vor diesem Hintergrund sind mit Blick auf die Verbindung zwischen den Lehrplänen der Fächer und den Richtlinien für Förderschwerpunkte, die in inklusiven Schulen gelten (vgl. z.B. Bezirksregierung Düsseldorf 2015), grundlegende Diskussionen über die fachdidaktischen Zielbestimmungen zu führen. Unverzichtbar ist jedoch die fachliche Ausrichtung der Lehrpläne, die den Kompetenzerwerb im Fremdsprachenunterricht in unterschiedlichen Abstufungen strukturieren. Die Festlegung von multiplen Standards für das Fremdsprachenlernen in einer Jahrgangsstufe kann - sofern die Schulformstandards aufgegeben werden sollen - weder aus den Erziehungswissenschaften heraus noch aus der Sonderpädagogik geleistet werden, sondern nur von fachwissenschaftlich und fachdidaktisch qualifizierten Fremdsprachendidaktikern. Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions-Diskurs 59 Auf der Ebene der Personalplanung und -entwicklung erfordert die inklusive Schule Reformen, die in Ländern wie Großbritannien z.B. mithilfe der Einstellung von learning support assistants (LSA) schon seit vielen Jahren umgesetzt werden (vgl. z.B. Farrell/ Balshaw/ Polat 1999). Alle inklusiv Unterrichtenden sollen „allgemeinpädagogische und sonderpädagogische Basiskompetenzen für den professionellen Umgang mit Vielfalt in der Schule, vor allem im Bereich der pädagogischen Diagnostik und der speziellen Förder- und Unterstützungsangebote entwickeln können“ (HRK/ KMK 2015, 3). Für den Umgang z.B. mit Sprachentwicklungsstörungen ist ein umfangreiches linguistisches und sprachtherapeutisches Wissen und Können Voraussetzung (vgl. Ruberg/ Rothweiler 2016), das vermutlich nicht durch das reguläre fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studienangebot abgedeckt werden kann. Eine Studienzeitverlängerung wäre die logische Folge. Die Kooperation in multiprofessionellen Teams bleibt derzeit noch eine vage Empfehlung der Politik (vgl. HRK/ KMK 2015, 3) und der Schulverwaltung (z.B. Bezirksregierung Düsseldorf 2015, 27, 71). Vogt/ Börner/ Phlippen halten z.B. eine „Tandemlösung, bei der eine Regelschullehrkraft mit einer sonderpädagogischen Lehrkraft im Team unterrichtet“ (2015, 63) für ideal. Auch Neuberechnungen der Lehrdeputate gehören m.E. zur Personalplanung hinzu, da der Aufwand für die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung für inklusive Klassen wächst. Auf der Ebene der räumlichen und sächlichen Ausstattung kommt der Etat des jeweiligen Schulträgers ins Spiel. Mit der pauschalen Feststellung „[e]in permanent zur Verfügung stehender Raum ist in der Regel nicht erforderlich! “ (Bezirksregierung Düsseldorf 2015, 24) macht es sich die Schulverwaltung zu leicht, denn gerade die räumliche Ausstattung dürfte einen großen Einfluss auf den Umgang mit den verschiedenen Bedürfnissen in einer heterogenen Lerngruppe haben. Worin jedoch die spezifischen Anforderungen an die Raum- und Materialausstattung liegen - von Audioschleifen und Großleinwänden bis zu Rückzugsbereichen mit geringem Verletzungsrisiko und speziellen PCs - hängt in hohem Maße davon ab, ob z.B. hörgeschädigte, leistungsschwache oder autistische Lernende Teil der jeweiligen Inklusionsklasse sind. Die Ausführungen zu Räumen und Materialien treffen mutatis mutandis auch auf die Unterrichtsgestaltung zu, denn die Frage nach methodischdidaktischen Veränderungen des Fremdsprachenunterrichts kann pauschal nicht beantwortet werden, da die Antwort zum einen von der Zielstellung des Unterrichts und zum anderen den besonderen Lernvoraussetzungen und Heterogenitätsdimensionen der jeweiligen Lerngruppe abhängt. Trautmann (2016) weist in einem Überblicksartikel auf die uneinheitliche Befundlage in den erziehungswissenschaftlichen Studien zur Leistungsgruppierung Bärbel Diehr 60 hin. Zwar hält er es für erwiesen, dass homogene Gruppierungen den leistungsschwächeren Lernenden nicht zugutekommen, er gibt aber auch zu bedenken, dass „bisher nicht hinreichend klar [ist], welches Ausmaß an Leistungsheterogenität optimal ist, d.h. ob es eine Grenze gibt, ab der Leistungsunterschiede zwischen Schüler/ -innen einer Lerngruppe nicht mehr aufgefangen werden oder positiv genutzt werden können“ (Trautmann 2016, 26). Mit Bezug auf das Fach Englisch stellt er zudem die Frage, ob die Spezifik des Fremdsprachenlernens „eher für eine zeitweise oder gar dauerhafte Leistungshomogenisierung spricht“ (2016, 29). 2.2 Perspektiven der methodisch-didaktischen Weiterentwicklung: Von der Individualisierung zur Differenzierung Gemäß dem Primat der Didaktik sind vorrangig Überlegungen zu den Zielen des inklusiven Fremdsprachenunterrichts anzustellen. Die Thematisierung von Vielfalt, von Menschenrechten und der Würde des Menschen sollte auf allen Klassenstufen praktiziert werden. Die Möglichkeiten, dieselben Themen und Inhalte auf unterschiedlich anspruchsvollen Niveaus darzustellen, sind in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt worden. Mit Differenzierungsmöglichkeiten durch den Einsatz von Multi-Level-Texten im inklusiven Fremdsprachenunterricht setzen sich z.B. Küchler/ Roters (2014) auseinander: „Multi-Level-Texte werden in verschiedenen Versionen und Anspruchsniveaus angeboten, sind inhaltlich vielschichtig und adressieren sprachlich verschiedene Kompetenzniveaus“ (ebda, 241). Auf verschiedenen Internetseiten, z.B. News in Levels oder News in easy English, werden inhaltsgleiche Texte auf unterschiedlichen Sprachverarbeitungsniveaus angeboten, so dass beispielsweise eine tagespolitische Meldung zum Gegenstand des gemeinsamen Unterrichts gemacht werden kann, die jedoch von verschiedenen Lernenden in inhaltlich unterschiedlich komplexen und sprachlich unterschiedlich anspruchsvollen Varianten bearbeitet werden können. Die Vorstellung von Lernangeboten auf mehreren Ebenen wird in der gegenwärtigen Diskussion insbesondere auf Lernaufgaben, auf den methodischen Umgang mit Heterogenität (vgl. z.B. Grimm/ Meyer/ Volkmann 2015, 143) und auf Individualisierung bezogen. Die Verabsolutierung des Individualisierungsprinzips würde jedoch einer Rückkehr zum Hauslehrerprinzip gleichkommen, die einem zeitgemäßen und öffentlich finanzierbaren Schulwesen nicht entspricht. Zudem ist zu bedenken, dass Hattie (2009, 198- 199) auf der Grundlage seiner Meta-Analysen der Individualisierung insgesamt nur eine niedrige Effektstärke zuspricht. Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive weisen Hallet (2011, 87) und Müller-Hartmann/ Schocker Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions-Diskurs 61 (2015, 7) überzeugend darauf hin, dass der Anspruch, jeden Lerner individuell zu instruieren, unrealistisch und genau genommen auch nicht notwendig ist. Der institutionalisierte Fremdsprachenunterricht würde m.E. unter einer radikalen Individualisierung kollabieren. In der Folge wären Lehrpersonen fachunspezifische Lernbegleiterinnen und -begleiter; Individualisierung würde dann nicht zur Weiterentwicklung von Differenzierung führen, sondern zu ihrer Auflösung. Für einen stärker von der Lehrperson vorstrukturierten inklusiven Fremdsprachenunterricht sprechen hingegen die folgenden beiden Studien. Giesler/ Schuett/ Wolter (2016, 68) untersuchen das Englischlernen in Bremer Oberschulen und stellen u.a. einen eklatanten Unterschied im Gebrauch der Zielsprache im regulären Englischunterricht im Vergleich zum offenen Lernbüro fest. Im Lernbüro, das einem eher autonomen Lernen entspricht, verwenden die Lernenden die Zielsprache deutlich weniger als im lehrergesteuerten Englischunterricht. Giesler et al. vermuten, dass offene Unterrichtsarrangements den fremdsprachlichen Zielsetzungen nicht zuträglich sind (ebda, 61). Ruberg/ Rothweiler (2016) berichten dementsprechend von positiven Erfahrungen mit kleinschrittigen Lehrverfahren unter Einbezug der verpönten pattern practise in einer Studie mit sprachentwicklungsgestörten Lernenden. Sie gehen davon aus, dass drei Anpassungen das Sprachangebot optimieren können: Explizitheit der Vermittlung sprachlicher Strukturen, Verlangsamung des Unterrichtstempos und Wiederholungen sowie die hochfrequente Präsentation und Umwälzung von Zielwörtern (vgl. Ruberg/ Rothweiler 2016, 87). Sprachliche Zielstrukturen müssen für Lernende leicht wahrnehmbar sein, im Unterricht häufig auftauchen und eingefordert werden und mit Rückmeldungen zu den Lerneräußerungen versehen werden (ebda, 86). Ruberg/ Rothweiler mahnen allerdings selbst zur Vorsicht bei der Übertragung dieser Erkenntnisse aus einer Sprachheilschule auf andere Unterrichtsformen (ebda, 87). Insbesondere im gemeinsamen Unterricht besteht durchaus auch die Gefahr der zu starken Vereinfachung und Kleinschrittigkeit für Lernende ohne sprachtherapeutischen Bedarf. 3 Geänderte Ansprüche an die Fremdsprachenlehrerausbildung Die Befähigung zukünftiger Lehrkräfte zu einer professionellen Gestaltung des inklusiven Fremdsprachenunterrichts erfordert von Seiten der Fachdidaktik eine eindeutige Positionierung für eine wissenschaftliche Fremdsprachenlehrerbildung. Das Studium der fremdsprachendidaktischen Anteile lässt sich nicht auf allgemeinpädagogische Inhalte oder unterrichtsmethodische Fragen (z.B. Visualisierung, Einbezug verschiedener Sinne, kooperative Bärbel Diehr 62 Gruppenarbeit) reduzieren, sondern muss sich auf das Wissen über Sprache als System, Sprache im Erwerbsprozess und Sprachgebrauch in sozialer Konstruktion konzentrieren. Eine Marginalisierung der Spracharbeit in innovativen Unterrichtskonzepten muss daher grundsätzlich als bedenklich eingeschätzt werden, auch in inklusiven Settings. Es ist die vordringliche Aufgabe der universitären Fremdsprachendidaktik, Unterrichtskonzepte und Ansätze in Forschung und Lehre zu erarbeiten, in denen sprachliches und kulturelles Lernen im Mittelpunkt stehen und in denen der Hauptlerngegenstand nicht auf ein Unterstützungsmittel reduziert wird, das auf fakultativ nutzbaren Vokabellisten in Vergessenheit gerät. Je heterogener Lerngruppen zusammengesetzt sind und je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass einzelne Lernende Schwierigkeiten beim Erwerb einer fremden Sprache haben, umso mehr sind Lehrkräfte gefordert, die Aneignung sprachlicher Mittel zu steuern. Auf den funktionalen Einsatz unterschiedlicher Herangehensweisen sollte daher schon im Studium eingegangen werden. 4 Forschungsbedarf Aus den vorangehenden Ausführungen folgt, dass Grundlagenforschung, auch interdisziplinäre, auf verschiedenen Ebenen der Inklusion dringend notwendig erscheint. Um die Lücken in der wissenschaftlichen Bearbeitung der Themenbereiche rund um die Inklusion schließen zu können, bedarf es verstärkter Bemühungen in allen drei Bereichen: der historischen, der theoretischen und der empirischen Forschung. Explorative Studien zu den schlaglichtartig genannten Entwicklungsbereichen können zur Gewinnung forschungswürdiger Hypothesen beitragen. Hier sind z.B. systematische Untersuchungen zu den oben genannten Multi-Level-Texten sinnvoll, um zu erkunden, inwieweit sie die Realisierung eines fachlich fundierten inklusiven Fremdsprachenunterrichts erleichtern, für welche Lernvoraussetzungen sie geeignet sind und wo aus fachlich-diskursanalytischer Sicht die Grenzen der Vereinfachung liegen. Da Hattie dem Peer Tutoring starke Effekte auf die Lernleistung zuschreibt (2009, 186-187), halte ich zudem die Entwicklung von Forschungsvorhaben, die diese Form des „Lernens durch Lehren“ auf den inklusiven Fremdsprachenunterricht übertragen, für lohnend und richtungweisend. Die Bedeutung der Fachlichkeit im Inklusions-Diskurs 63 Literatur Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (2014): Im Dialog der Disziplinen. Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. 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Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen im inklusiven Fremdsprachenunterricht Daniela Elsner 1 Begriffliches: Heterogenität, Integration und Inklusion im Kontext des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts Die von der KMK erarbeiteten Bildungsstandards für die erste und zweite Fremdsprache bilden die verbindliche Grundlage für die curricularen Richtlinien des fremdsprachlichen Unterrichts der Länder. Bildungsstandards definieren, über welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Zeitpunkten ihrer schulischen Entwicklung verfügen sollen. Die zentrale Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts ist es diesen Vorgaben zufolge, Schülerinnen und Schüler mit kommunikativen, interkulturellen und methodischen Kompetenzen auszustatten, die es ihnen ermöglichen, in mehrsprachigen Handlungssituationen zu agieren (KMK 2004, 7). Um sicherzustellen, dass dieses Ziel erreicht wird, beinhalten die Bildungsstandards abschlussbezogene Regelstandards, welche die zu erwartenden Leistungen in den verschiedenen Anforderungsbereichen beschreiben. Zur Überprüfung der erreichten Leistungen werden bundesweit einheitliche Vergleichsarbeiten geschrieben sowie nationale und internationale Schulleistungsstudien durchgeführt. Dabei zeigen Large Scale Assessments wie PISA (Prenzel et al. 2013) oder DESI (DESI Konsortium 2008), dass familiäre, kulturelle und sozioökonomische Hintergrundvariablen die schulische Leistung substanziell prägen und in Deutschland zu einer starken Leistungsheterogenität führen. Dies gilt auch für die Leistungen in den fremdsprachlichen Fächern (vgl. Goebel et al. 2011). Neben diesen lernerexternen Faktoren wirken sich darüberhinaus lernerinterne Faktoren wie z.B. Geschlecht, Alter, Erstsprache, Intelligenz, Motivation, Einstellungen, Begabung, Konzentrationsfähigkeit sowie biologisch-organische Voraussetzungen in unterschiedlichem Maße auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern in der Fremdsprache aus (vgl. Lightbown/ Spada 2013, 77-79 sowie Haß 2013). Leistung bezieht sich dabei nicht nur auf das Ergebnis kognitiver, verbale, rezeptiver oder reproduktiver Tätigkeiten, sondern schließt Aspekte wie Kreativität, Problemlösungskompetenz, Kooperation, Sozialverhalten, prak- Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen … 67 tische oder technische Fähigkeiten, Produktivität und Engagement mit ein. Darüber hinaus berücksichtigt ein moderner Leistungsbegriff neben den von den Lernenden erbrachten Ergebnissen auch die Anstrengung und das Verhalten im Arbeitsprozess selbst (vgl. Mayer 2017). Lehrerinnen und Lehrer stehen somit vor der Herausforderung, Lehr- und Lernformen zu arrangieren, die alle Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer individuellen Leistungsdispositionen in den verbindlich festgelegten Kompetenzbereichen fördern. Der Umgang mit heterogenen Lerngruppen ist dabei kein gänzlich neues Phänomen, denn immer schon gab es Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten im Bildungssystem, wenngleich das dreigliedrige deutsche Schulwesen bislang die Konstruktion (vermeintlich) homogener Schülerklassen avisiert. Allerdings hat sich das Konstrukt der schulischen Heterogenität im Kontext einer offensiven Flüchtlingspolitik einerseits, sowie mit dem Beitritt Deutschlands zur UN-Behindertenrechtskonvention andererseits, um diverse Aspekte erweitert, auf die es nun auf verschiedenen Ebenen zu reagieren gilt.Während man der sprachlichen und kulturellen Heterogenität von Lernenden mit Fluchterfahrung kurzfristig durch besondere Fördermaßnahmen im Rahmen von Integrationsklassen begegnet, mit dem Ziel, die Lernenden so schnell wie möglich in die „Regelklasse“ zu integrieren, hat der Schritt zur gemeinsameren Beschulung von Kindern mit und ohne diagnostiziertem Förderbedarf sichtbar langfristige Konsequenzen. So hat sich Deutschland offiziell dazu bekannt, dass behinderte Menschen „nicht […] vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und „gleichberechtigt [sind] mit anderen“ (Behindertenrechtskonvention 2006/ 2008, Artikel 24), und damit allen Kindern und Jugendlichen im Schulsystem das Recht eingeräumt, an einer Regelschule zu lernen. Während es bei der Integration also darum geht, dass Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf (wie z.B. sprachliche Defizite) durch besondere Maßnahmen unterstützt werden, um sie (möglichst schnell) an die „Norm“ (Schülerinnen und Schüler ohne spezifische Bedarfe) anzupassen, zielt Inklusion darauf ab, dass alle Schülerinnen und Schüler von Anfang an zusammen lernen. So erklärt Schlaak (2014, 1) den Unterschied zwischen Integration und Inklusion wie folgt: Der gravierende Unterschied zwischen Integration und Inklusion ist, dass es bei der letzteren keine ‚dominierenden‘ Gruppen gibt; kein Schüler wird in die Kategorien ‚spezifischer Förderbedarf‘ oder ‚kein spezifischer Förderbe- Daniela Elsner 68 darf‘ einsortiert. Jeder Schüler ist gleichberechtigter Teil des ganzen Klassenverbands und jeder gestaltet die Gemeinschaft mit. Wenngleich das initiale, politische Verständnis von Inklusion auf die Gleichberechtigung körperlich und/ oder geistig behinderter Menschen gerichtet war, so sollte aus Sicht des Fremdsprachenunterrichts Inklusion deutlich weiter gefasst werden. Ein inklusiver Fremdsprachenunterricht geht meiner Ansicht nach auf die Bedürfnisse und Lern- und Leistungsdispositionen von allen SchülerInnen mit und ohne geistiger/ körperlicher Behinderung, mit und ohne Zuwanderungshintergrund sowie mit und ohne diagnostizierten Förderbedarf ein. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet jedoch: Wie kann dies funktionieren? 2 Zur Notwendigkeit einer erweiterten Fremdsprachendidaktik In den letzten Jahren rieten FremdsprachendidaktikerInnen und SchulbuchautorInnen verstärkt dazu, der Heterogenität von Lerngruppen im Fremdsprachenunterricht durch differenzierende Maßnahmen zu begegnen. Die Differenzierungsempfehlungen bezogen sich dabei auf den Stoff-/ Aufgabenumfang (einige machen mehr, andere weniger), auf den Schwierigkeitsgrad/ die Komplexität von Texten und Aufgaben, den zeitlichen Rahmen für die Bewältigung von Aufgaben, aber auch auf Darstellungsweisen, Sozialformen oder Themen (vgl. Elsner 2015, 34-37). Bislang ist ein in dieser Art gestalteter, heterogenitäts-sensitiver Schulunterricht aber nur bedingt erfolgreich (z.B. Klieme et al., 2010). Tatsächlich belegt der „Chancenspiegel 2017“ (Bertelsmann Stiftung), dass nur jede/ r achte Schüler/ in mit Migrationshintergrund den Abschluss schafft. Dies mag zum einen daran liegen, dass differenzierende Lernarrangements noch nicht in ausreichendem Umfang angeboten werden, da ihre Planung und Durchführung ein hohes Maß an professionellen Kompetenzen erfordert (vgl. hierzu Holzbrecher, 2011), zum anderen - und dies kann ebenfalls als eine Erklärung für fehlende Unterrichtsangebote herangezogen werden - ist eine innere Differenzierung auf den o.g. Ebenen für den Umgang mit jeglicher Art von Heterogenität im inkludierenden Unterricht nicht ausreichend. So konstatiert Andreas Rohde: Die Anforderungen an einen inklusiven Englischunterricht sind […] qualitativ mit den bisherigen Herausforderungen der Grund- und weiterführenden Schulen überhaupt nicht zu vergleichen. Wir brauchen folglich eine erweiterte Didaktik, die es uns ermöglicht, stärker als bisher zu differenzieren, gleichzeitig jedoch bisher scheinbar disparate oder inkompatible Lernvoraussetzungen unter einen Hut zu bringen. (ebda 2014, 9) Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen … 69 Eine erweiterte Fremdsprachendidaktik umfasst Rohde zufolge neben der methodischen Ebene, welche (wieder) stärker die Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung miteinbezieht, sowohl die Ausbildungsebene als auch die curriculare Ebene (vgl. ebda). Dieser Struktur schließe ich mich an, fülle sie an dieser Stelle jedoch weiterführend aus. Zudem erweitere ich Rohdes Ebenen - wie nachfolgend dargelegt wird - um die der Einstellung von Lehrkräften. 2.1 Erweiterte Einstellungen Um heterogenen Lernvoraussetzungen im Unterricht gerecht zu werden, ist auf Seiten der Lehrkraft einerseits der Aufbau von Wissen zum Umgang mit Heterogenität notwendig, andererseits ist der Erwerb bestimmter Einstellungen erforderlich (vgl. z.B. Hachfeld et al. 2012; Kessels et al. 2014). Dies bedeutet, dass (angehende) Fremdsprachenlehrkräfte erkennen und akzeptieren müssen, dass das Thema Inklusion: a. auch für den Fremdsprachenunterricht von Bedeutung ist, b. nicht allein auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschränkt ist, sondern Heterogenität all die unter 1. benannten Dimensionen mit einschließt, c. Lernende als Individuen anerkannt werden müssen, die unterschiedliche Kompetenzen, Lernentwicklungspotenziale und -bedürfnisse mit in den Unterricht bringen und fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse deshalb nicht an einem künstlich konstruierten, quasi nicht existenten „Durchschnittsschüler“ ausgerichtet werden können, und d. Inklusion nicht nur pädagogische Herausforderungen mit sich bringt, sondern auch eine große Chance der Weiterentwicklung von fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozessen ist. 2.2 Erweiterte Aus- und Weiterbildung zum Lernen und Arbeiten in heterogenen Lerngruppen und in multiprofessionellen Teams Der Grundstein für die Arbeit im inklusiven Fremdsprachenunterrichts muss bereits in der ersten Lehrerbildungsphase gelegt werden. Da davon auszugehen ist, dass die wenigsten DozentInnen der Fremdsprachendidaktik ExpertInnen im Umgang mit Kindern mit diagnostiziertem Förderbedarf sind, ExpertInnen auf diesem Gebiet auf der anderen Seite jedoch wahrscheinlich ebensowenig Wissen um fremdsprachliche Lernprozesse haben, ist eine Kooperation verschiedener Disziplinen im universitären Kontext (und danach) unumgänglich. Dasselbe gilt für den Bereich unterrichtlicher Daniela Elsner 70 Umgang mit Mehrsprachigkeit und Migration. Auch hier ist es sinnvoll, dass Experten der Erst-, Zweit- und Fremdsprachendidaktik kooperieren und gemeinsame Veranstaltungen anbieten. Die derzeit im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ aktuell vom Bund geförderten Projekte (https: / / www.qualitaetsoffensive-lehrerbildung.de) versprechen hier, durch vermehrt fach- und disziplinübergreifende Seminarstrukturen, teifgreifende Veränderungen. Die enge Verzahnung verschiedener Disziplinen im universitären Ausbildungskontext ermöglicht nicht nur ein erstes bildendes Angebot zum Umgang mit Heterogenität in verschiedenen Fächern, sondern erlaubt es angehenden Lehrkräften auch, zu einem frühen Zeitpunkt die Arbeit in multiprofessionellen Teams zu erproben. Eine Vielfalt an verschiedenen Professionen ist an vielen Schulen mittlerweile weit verbreitet (vgl. Erdsiek-Rave/ John-Ohnesorg 2014, 14). Eine strukturierte und eng abgestimmte Kooperation zwischen Fachlehrkräften, SozialarbeiterInnen, ErzieherInnen, SonderpädagogInnen, PsychologInnen etc., im Sinne multiprofessioneller Teams, ist jedoch bislang noch nicht so etabliert, wie dies im Kontext heterogener Lernsysteme wünschenswert wäre. In diesem Zusammenhang sollte auch die Möglichkeit diskutiert werden, universitäre FremdsprachendidaktikerInnen in die multiprofessionellen Teams an Schulen aufzunehmen. Bislang werden ForscherInnen nur gelegentlich für Fortbildungen an Schulen eingeladen, bzw. sie selbst laden sich zu kurzen Unterrichtsbesuchen im Rahmen von Praktika oder zu Forschungszwecken für einen Kurzbesuch an Schulen ein. Innovativ wäre jedoch z.B. eine Art wissenschaftliches Coaching an Schulen, bei dem WissenschaftlerInnen der Universität Lehrkräfte zu bestimmten Themen über einen längeren Zeitraum an der Schule begleiten und beraten. Das Ziel einer solchen Maßnahme wäre dabei vielschichtig: erstens könnten Forschende gemeinsam mit den Lehrkräften vor Ort Lösungen für schwierige Lehr- und Lernsituationen finden und die Schulen so direkt unterstützen, zweitens die im Rahmen praktischer Unterrichtsfälle entstandenen Lösungen könnten von Forschenden in neue didaktische Konzepte zum Umgang mit Heterogenität im Fremdsprachenunterricht überführt werden, welche dann andernorts weiter erprobt und auf Effektivität hin überprüft werden könnten. Die längerfristige Inklusion von ForscherInnen in multiprofessionelle Schulteams könnte vielleicht sogar dazu führen, dass sich der lang währende Vorwurf an WissenschaftlerInnen, den Unterrichtsalltag nicht wirklich zu kennen, irgendwann auflöst. Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen … 71 2.3 Erweiterung der Unterrichtspraxis durch Adaptive Verfahren Differenzierungs- und Individualisierungangebote haben im Fremdsprachenunterricht bereits seit längerem Eingang gefunden. Diese allerdings waren bislang nicht unbedingt spezifisch auf einzelne Lernende zugeschnitten, sondern einerseits eher vom konstruktivistischen Gedanken getrieben, dass Lernende ihren Lernprozess selbst organisieren müssen, um etwas zu lernen, andererseits sollte der Vielfalt der Lernenden durch eine große Vielfalt an Angeboten Rechnung getragen werden. Viele differenzierende Maßnahmen haben jedoch den Nachteil, dass sie zwar die Leistungsschwachen stärken, die Leistungsstarken aber so fördern, dass die Schere zwischen „gut“ und „schlecht“ u. U. noch größer wird. In bildungswissenschaftlichen Debatten rund um Inklusion werden deshalb verstärkt adaptive Unterrichtsverfahren diskutiert, die auch für den Fremdsprachenunterricht durchaus sinnvoll sind. Adaptivität kann dabei als produktiver Umgang mit zunehmender SchülerInnenheterogenität bezeichnet werden, mit dem Ziel, Leistungsunterschiede durch gezielte (Hervorh. DE) Fördermaßnahmen zu verringern, ohne die (besonders) Leistungsfähigen zu beeinträchtigen (vgl. Hardy et al. 2011). Adaptive Unterrichtssysteme sammeln zunächst Informationen über die individuellen Merkmale eines Schülers/ einer Schülerin (Diagnose von Lernstand, Sprachkenntnissen, kognitiven Fähigkeiten, physiologischen Voraussetzungen etc.). Auf dieser Grundlage werden dann die Quantität und die Art der Lernangebote, deren Darbietungsform sowie die Leistungskontrollen für jede/ n Schüler/ in bzw. für bestimmte Schülergruppen zusammengestellt. Computerbasierte Lernumgebungen vereinfachen mittlerweile eine solche adaptive Unterrichtsgestaltung, die gerade auch für den Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Fremdsprachenunterricht von besonderem Interesse ist. So können adaptive Computerlernprogramme z.B. auf der Grundlage einer computerbasierten Sprachstandsdiagnostik dem/ der Lernenden die Lernwege vorgeben (aktive Adaptivität) und je nach Erfolg bzw. Entwicklungsverlauf wiederkehrend anpassen (intelligente Adaptivität), oder sie können den Lernenden lediglich die Lerninhalte vorgeben, während die Lernwege von den Lernenden selbst gewählt werden können (passive Adaptivität) (vgl. hierzu Fischer 2013). Vor allem für Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Muttersprache, aber auch für monolinguale Kinder mit unterschiedlichen Teilleistungsschwächen, können solche adaptiven und computerbasierten Lernumgebungen im Zweit- und Fremdsprachenunterricht besonders hilfreich sein, da diese ihnen z.B. ein Nachschlagen von Wörtern in ihrer Erstsprache ermöglichen oder auditive und/ oder visuelle Unterstützung zu schriftsprachli- Daniela Elsner 72 chen Texten sowie Übersetzungshilfen für die eigene Textproduktion anbieten. Insbesondere für die Nutzung im Unterricht in der Fremdsprache Englisch gibt es mittlerweile komplexe Datenbanken (wie z.B. Britannica School oder Ebsco), die umfassenden Angebote an mehrsprachigen und multimodalen Texten sowie differenzierten Aufgaben für den Unterricht anbieten. 2.4 Änderungen von Curricula „Ist es möglich, die Qualität von Schule und Unterricht standard- und kompetenzbasiert weiterzuentwickeln und gleichzeitig ein Schulsystem zu errichten, das inklusiven Ansprüchen gerecht wird? “, fragt Eversheim (215, 207) im Kontext des Sportunterrichts - dieselbe Frage lässt sich für den Fremdsprachenunterricht übernehmen. So wird das hörgeschädigte Kind im Englischunterricht z.B. niemals Einzelheiten aus themenbezogenen Hörtexten heraushören, wenn nicht bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Andererseits werden im kompetenzorientierten Unterricht zunehmend kooperative Lernverfahren eingesetzt, die aber u.U. für einen Schüler/ eine Schülerin mit Konzentrationsschwäche zur Erreichung von Kompetenzen nicht geeignet sind. In den folgenden Jahren werden sich die zuständigen Bildungsministerien zunehmend Gedanken über die Frage machen müssen, ob Kompetenzorientierung/ Standardisierung und Inklusion miteinander einhergehen. Fest steht jedenfalls, dass ein Festhalten an beiden Ansätzen nur mit einer Erhöhung und Veränderung des Lehrpersonals, z.B. durch ständige Anwesenheit einer Förderschullehrkraft im Fachunterricht, sowie durch andere Räumlichkeiten und bessere Ausstattungen der Schulen mit digitalen Medien funktionieren wird. 3 Forschungsbedarfe Forschungsergebnisse aus bilingualen Unterrichtskontexten und dem Fremdsprachenunterricht zeigen, dass, unter bestimmten Bedingungen, mehrsprachige Lernende von ihren bereits gemachten Sprachlernerfahrungen beim Erlernen einer Fremdsprache profitieren können (vgl. Elsner 2015). In diesem Zusammenhang sollte der Frage nachgegangen werden, inwiefern die von vielen Lehrkräften derzeit geäußerten Schwierigkeiten mit der Beschulung von Kindern mit Flucht- und Migrationshintergrund gleichermaßen im Fremdsprachenunterricht wahrgenommen werden. Mit ähnlichem Fokus können bilinguale Unterrichtsangebote erforscht werden. Bislang ist nicht erforscht, wie sich z.B. bilinguale (englisch-deutsche oder französisch-deutsche) Unterrichtsangebote in Klassen mit hohem Flüchtlingsanteil auswirken. Hier könnte z.B. angenommen werden, dass Lernende Didaktische Überlegungen zum Lehren und Lernen … 73 mit niedrigen deutschsprachigen Kompetenzen vom bilingualen Sachfachunterricht in der Fremdsprache Englisch profitieren. Dies begründet sich zum einen darin, dass sie ggf. bereits über Kenntnisse in der englischen (oder auch französischen) Sprache verfügen und an diese anknüpfen können, zum anderen könnte sich die dem bilingualen Unterricht zu eigene Didaktik, wie z.B. ausdifferenziertes Scaffolding (hohe Anschaulichkeit, Visualisierung, comprehensible input, mehrsprachige Wörterlisten etc.), besonders förderlich für Kinder mit mehrsprachigem Hintergrund auswirken, sowohl im Hinblick auf deren sprachliche Entwicklung als auch in Bezug auf ihre Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Akzeptanz. Einen weiteren großen Forschungsbereich sehe ich im Forschungsfeld „Multilingual CALL“ (Buendgens-Kosten/ Elsner 2017). Das Potenzial von Computer Assisted Language Learning zur Initiation mehrsprachiger Lehr- und Lernumgebungen und der Effekt computer-/ technologiebasierter mehrsprachiger Lernumgebungen auf die Entwicklung sprach-licher und interkultureller Kompetenzen sind bislang weitgehend unerforscht. Von besonderem Interesse ist hier aus Sicht der Fremdsprachendidaktik die Effektforschung in Bezug auf den Einsatz von mehrsprachigen Computerlernspielen, mehrsprachiger E-Literatur, elektronischen Wörterbüchern, reading pens oder komplexen Datenbanken im Fremdsprachenunterricht oder im bilingualen Unterricht. Neben der empirischen Betrachtung zum Umgang mit Heterogenität im Unterricht sollte die Fremd- und Zweitsprachendidaktik meiner Meinung nach die konzeptionelle Arbeit wieder verstärkt aufnehmen. So wurden in den letzten Jahren zunehmend Dissertationen und Habilitationen mit empirischem Schwerpunkt in der Fremdsprachendidaktik geschrieben. Die Ergebnisse dieser Arbeiten erscheinen in Publikationsorganen, die von Lehrkräften kaum rezipiert werden. Neben Veröffentlichungen im eigenen Kreis brauchen wir meiner Ansicht nach wesentlich mehr konzeptionelle Handreichungen, die von ausgewiesenen FremdsprachendidaktikerInnen erstellt, von Lehrkräften im Unterricht direkt umgesetzt und gemeinsam wissenschaftlich erprobt werden. In diesem Zusammenhang muss sich die Fremd- und Zweitsprachendidaktik sicherlich fragen, ob sie ihre Seele weiterhin an die Bildungswissenschaften verkaufen möchte oder ob sie sich wieder stärker von der Forschungstradition anderer Disziplinen abzugrenzen traut, um sich vermehrt in konzeptioneller Hinsicht einzubringen. Daniela Elsner 74 Literatur Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2014): Im Dialog der Disziplinen: Englischdidaktik, Förderpädagogik, Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 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Heterogenität, Diversität, Inklusion - Implikationen eines Systemwandels für die 2. und 3. Fremdsprache Andreas Grünewald Der Lehrer muss es in allen Stücken halten wie ein Offizier, der seine Übungen nicht mit jedem Rekruten einzeln durchnimmt, sondern alle zugleich auf einen Exerzierplatz führt, ihnen gemeinsam den Gebrauch und die Handhabung von Waffen zeigt [...]. Damit der Lehrer dies kann, dürfen 1. die Schulen nur einmal im Jahr beginnen [...] muss 2. alles, was getan werden soll, so geordnet sein, dass jedes Jahr, jeder Monat, jede Woche, jeder Tag und sogar jede Stunde ein eigenes Pensum hat, wodurch alle gleichzeitig zum Ziel geführt werden, ohne zu straucheln. (Comenius‘ Didacta Magna, zit. nach Hass 2016, 306) 1 Grundbegriffe der aktuellen bildungspolitischen Diskussion 1.1 Inklusion im Schulsystem: Ein Blick auf den deutschen Inklusionsmeister Durch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention 2009) hat sich Deutschland dazu verpflichtet, Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. Da in Bremen die weitreichendsten Erfahrungen mit inklusivem Unterricht vorliegen, sei zunächst ein Blick auf das kleinste Bundesland erlaubt: Bremen hat als erstes Land 2009 einen Inklusionsanspruch in sein Schulgesetz aufgenommen und fortan konsequent versucht, gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle Schülerinnen und Schüler zu schaffen (vgl. Senatorin für Kinder und Bildung Bremen (SfKB) 2016). Begleitet wurden diese Maßnahmen mit der Auflösung der meisten Sonderschulen und der Einrichtung von Zentren für unterstützende Pädagogik, die integraler Bestandteil von Schulen geworden sind. Diese haben die Aufgabe, eine auf die individuellen Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtete Betreuung und Unterstützung im Unterricht anzubieten. Bremen hat bundesweit die höchste Inklusionsquote mit 68,5 % im Jahr Heterogenität, Diversität, Inklusion … 77 2015 (vgl. SfKB 2016), d.h., dass über zwei Drittel der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv unterrichtet werden. Schaut man auf die daraus resultierenden Probleme, die sich zumeist auch auf andere Regionen übertragen lassen, werden folgende Aspekte am häufigsten von den Akteuren genannt: 1. Die Einführung eines inklusiven Schulsystems fand nicht nur in Bremen ohne eine gesellschaftliche Debatte statt. Dieser politische top-down- Prozess hat daher weder alle Lehrkräfte noch alle Eltern „mitgenommen“. 2. Die Umsetzung der Inklusion musste aufgrund der bekannten Haushaltslage in Bremen kostenneutral gestaltet werden, mit dem Ergebnis, dass Gymnasien, die als Schulform weniger mit Inklusion in Berührung kommen als Oberschulen, diese mittragen. Das führte bei vielen Eltern gymnasialer Schülerinnen und Schüler zu der Einschätzung, Inklusion würde auf Kosten ihrer Kinder „durchgesetzt“. 3. Die sogenannten „Zentren“ für unterstützende Pädagogik sind häufig unzureichend ausgestattet. Insbesondere fehlt es an Personal. Die Bildungsbehörde räumt ein, dass es nicht genügend qualifizierte Pädagogen auf dem Arbeitsmarkt gebe. 4. Zahlreiche Lehrkräfte haben große Anpassungsschwierigkeiten und fühlen sich für die neue Situation weder ausreichend ausnoch fortgebildet. So wird insbesondere mit fehlenden Kenntnissen zu Diagnostik und Förderung sowie zum Umgang mit Förderbedarfen und mit Unterausstattung, also mangelnden Ressourcen, argumentiert. 5. Einige vertreten den Standpunkt, dass der Verschiedenheit bzw. Besonderheit mancher Kinder und Jugendlicher unter inklusiven Prämissen gar nicht angemessen begegnet werde. Mehr oder weniger eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten bräuchten auch mehr oder weniger unterschiedliche Lernumgebungen. Die Grundbegriffe der aktuellen bildungspolitischen Diskussion sollen im Folgenden auf das Handlungsfeld der 2. und 3. Fremdsprachen bezogen werden. 1.2 Heterogenität, Diversität, Inklusion: drei Buzz-Wörter der (fachbezogenen) Bildungswissenschaft Die bildungspolitischen und gesellschaftlichen Forderungen nach der Beschäftigung mit Heterogenität, Diversität und Inklusion sind unüberhörbar. Die Beschäftigung mit dem Thema Heterogenität hat eine lange erzie- Andreas Grünewald 78 hungswissenschaftliche und eine kürzere fremdsprachendidaktische Tradition. Inklusion ist für Englisch als 1. Fremdsprache ein relevanteres Thema als für Französisch und Spanisch, die als 2. oder 3. Fremdsprache tendenziell wenig mit Inklusion in Berührung kommen. Das liegt zumeist daran, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufig keine 2. bzw. 3. Fremdsprache belegen. Nichtsdestotrotz sind heterogene Lerngruppen der Normalzustand, und daher ist die Auseinandersetzung mit den heterogenen Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler auch für die 2. und 3. Fremdsprache wichtig. Während der Begriff der Heterogenität im pädagogischen Feld die Uneinheitlichkeit von Elementen einer Gruppe hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale beschreibt, beziehe ich den Begriff der Diversität eher auf einen (bildungs-)politischen Diskurs, der aus dem englischsprachigen Raum (Diversity) zwar ähnlich wie der Begriff der Heterogenität auf die Uneinheitlichkeit von Merkmalen von Elementen einer Gruppe rekurriert, aber diese im Gegensatz zum Konzept der Heterogenität mit teils politischen bzw. ideologischen Forderungen nach Gleichbehandlung, Chancengleichheit, sozialer Anerkennung und Antidiskriminierung verbindet. Die Diversitätsperspektive geht aus meiner Sicht anders als die der Heterogenität mit einer kritischen Auseinandersetzung der gegebenen Verhältnisse einher und wendet sich gegen jene gesellschaftlichen Strukturen, die Klassifizierung konstruieren. Die Diversity-Debatte inkludiert daher auch in Abgrenzung zum Inklusionsbegriff nicht nur die Dimension mehr oder weniger eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten, sondern auch Dimensionen wie gender, ethnicity, nationality, first language, races, classes, religions, sexual orientation, physical conditions usw. (vgl. Meister 2007, 21). Für den Kontext der 2. und 3. Fremdsprache ist also eher das Konzept zum Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen entscheidend. Es ist sicher unbestritten, dass Kinder bei Einschulung mit unterschiedlichen Voraussetzungen für das Lernen an die Schule kommen. Manche brauchen mehr Zeit zur Bearbeitung gleicher Aufgaben, andere bringen weniger Vorkenntnisse mit, brauchen anderen Input oder andere Methoden, um zum Ziel zu kommen. Aus der Perspektive des Fremdsprachenlernens stellt das prinzipiell gar kein Problem dar, denn es besteht international Einigkeit darüber, dass Lernen kein Prozess ist, der spiegelsymmetrisch zum Lehren verläuft (vgl. Krings 2016, 16). Sprachenlernen ist im Kern ein aktiver Aneignungsprozess, der nach individuellen Regeln, nach individuellen Lernvoraussetzungen und Lernweisen abläuft (vgl. ebda). Das Problem liegt vielmehr in dem, was als für alle als verbindliche Bildungsinhalte definiert wird und wie das System Schule angelegt ist (vgl. das vorangestellte Zitat nach Comenius). Viele Schulsysteme, darunter auch das deutsche, haben Heterogenität, Diversität, Inklusion … 79 aufgrund der Tendenz, durch Segregation und äußere Differenzierung, die zur Einschulung vorgefundene soziale Ungleichheit der Schülerinnen und Schüler zu manifestieren, traurige Berühmtheit erlangt (vgl. Meister 2007, 19).Die Herangehensweise, gleiche Inhalte in gleicher Zeit und im gleichen Umfang zu lehren, führt nicht zu dem Ergebnis, dass alle Schülerinnen und Schüler auch annäherungsweise das Gleiche können. Was wir lehren, entspricht nicht dem, was Schülerinnen und Schüler lernen. Die aktuellen Versuche, das bestehende Schulsystem zu ändern, zielen darauf ab, das System so auszurichten, dass es auf individuelle Lernausgangslagen besser eingehen kann. Auf einen Widerspruch ist jedoch hinzuweisen: Das inklusive Schulsystem fokussiert auf das soziale Miteinander, das Voneinanderlernen und die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sollen. Fachliche Lerninhalte geraten dabei schnell aus dem Blick. Das wird aber nicht offen durch Bildungsbehörden kommuniziert, und auch die Schulleistungsstudien sind nach wie vor ausschließlich auf das Erreichen bestimmter Kompetenzstandards ausgerichtet und erheben damit nicht das, was zum eigentlichen Ziel von „Gemeinschaftsschulen“ erklärt worden ist. Wer davon ausgeht, dass in den neuen inklusiven Schulformen die gleichen Kompetenzziele verfolgt werden wie an Gymnasien, der verkennt die neue schulische Realität an zahlreichen Standorten. 2 Fremdsprachendidaktische Implikationen für Schulpraxis und Lehrerbildung 2.1 Differenzierenden Fremdsprachenunterricht planen und durchführen Im Folgenden werden zunächst zentrale Begriffe erläutert und dann mögliche Implikationen des Systemwandels für die 2./ 3. Fremdsprache skizziert. Im differenzierenden Fremdsprachenunterricht sind die Begriffe innere (= Binnendifferenzierung) und äußere Differenzierung zu unterscheiden. Das dreigliedrige Schulsystem versucht, Lernenden nach Leistungsvermögen einzuteilen, und nimmt auf diese Weise eine „äußere Differenzierung“ vor. Es werden also nach dem Prinzip der Selektion durch unterschiedliche Auswahlverfahren möglichst homogene Lerngruppen gebildet, die dann über einen langen Zeitraum getrennt voneinander unterrichtet werden. Innere Differenzierung beruht darauf, dass eine Vielfalt von Lernangeboten, Lernwegen, Lernorten, Lerntempi und Lernmethoden für eine Lerngruppe entwickelt wird. Das zugrundeliegende theoretische Prinzip ist das der optima- Andreas Grünewald 80 len Passung (Vygotsky‘s Zone of Proximal Development), d. h. die Organisation der Lernarrangements in der Form, dass Lernende weder unternoch überfordert werden. Nun wird auch deutlich, warum der Handlungsdruck, binnendifferenziert zu unterrichten, immer größer wird, da in wesentlichen Teilen die äußere Differenzierung weggefallen ist. Heterogene Lerngruppen sind trotz äußerer Differenzierung der Normalfall. Lehrergesteuerte Individualisierung soll die Lösung für den großen Bedarf an Differenzierungsangeboten darstellen. Individualisierung als Unterrichtsprinzip ermöglicht die Förderung von Lernenden mit unterschiedlichen Lernständen und unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Hattie weist in seiner Metastudie (2009) sogar einen allgemeinen lern- und leistungsfördernden Effekt von Individualisierung nach. Haß (2016, 308-309) benennt folgende „Lernervariablen“, in denen sich Heterogenität manifestiert: Alter und individueller Entwicklungsstand, Leistungsvermögen (Fähigkeiten/ Begabungen, Lerntempo, Lernmodi), Erfahrungen und Vorkenntnisse (z.B. Englisch und Latein als vorgelernte Fremdsprachen), soziale und kulturelle Hintergründe, (erst-)sprachliche Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse, Arbeitshaltung und Selbstkonzept (Motivation, Ausdauer, Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit), soziale Fähigkeiten usw. Neben diesen interindividuellen Differenzen gibt es auch intraindividuelle Unterschiede. So hat ein Fremdsprachenlerner z.B. hervorragende Grammatikkenntnisse, das Kommunizieren in der Fremdsprache fällt ihm hingegen sehr schwer. Der Fremdsprachenunterricht kann nach den oben genannten Lernervariablen differenziert werden, was beispielsweise so aussehen könnte: Lernervariable Mögliche Umsetzung Lerntempo • unterschiedliche Bearbeitungszeiten für die gleiche Aufgabenstellung • differenzierende Unterrichtsformen (Stationenlernen, Freiarbeit, Projektunterricht) Lerntyp und Interessen • Aufgabenpool unter Berücksichtigung unterschiedlicher Medien, Textsorten usw. • Verwendung unterschiedlicher Sozialformen und Arbeitsweisen (Methoden) bei der Durchführung von Aufgaben • Angebot besonderer Profile (Instrumentalklassen, Sportklassen etc.) zur Einrichtung neigungshomogener Lerngruppen Heterogenität, Diversität, Inklusion … 81 Leistungsvermögen • Einteilung der Schülerinnen und Schüler in ein Grund- und Erweiterungsniveau • Scaffolding-Angebote für leistungsschwächere und leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler • Unterschiedliche Schwierigkeitsgrade bei Aufgabenstellungen • Unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung von Aufgaben Vorerfahrungen • Lernstrategisches Wissen aus dem Englischund/ oder Lateinunterricht nutzen Differenzierung ist prinzipiell bei der Planung von Fremdsprachenunterricht mitzudenken. Am Anfang steht die Festlegung der durch die Lerner zu erwerbenden Kompetenzen, dann erst erfolgt die Planung des Unterrichtsverlaufes. Auch ohne eine Diagnostik der Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler kann ein Standardrepertoire von Differenzierungsangeboten zusammengestellt werden. Wer differenziert unterrichten möchte und dabei Unter- oder Überforderung vermeiden will, kann dies nur tun, wenn er/ sie bei jeder Planung die Heterogenität der Lerngruppe als gegeben anerkennt. Die Lehrkräfte sind sich der großen Vielfalt in der Regel durchaus bewusst, was ein Blick in zahlreiche Unterrichtsentwürfe von Studierenden und Referendarinnen unterstreicht, in denen die Lerngruppe und deren Lernvoraussetzungen meist sehr detailliert beschrieben werden. Haß (2016, 312) schlägt die folgenden Planungsschritte für einen binnendifferenzierten und kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht vor: 1. Unterricht kompetenzorientiert für alle planen 2. Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler reflektieren 3. Feststellen, welche Lerner unter- oder überfordert sein könnten 4. differenzierende Angebote planen 5. Unterrichtsplanung anpassen. Im weiteren Verlauf kann die Differenzierung verbessert werden, wenn die Lehrkraft die jeweiligen Entwicklungs- und Leistungsstände, Lernpotentiale und eventuellen Lernhindernisse der Schülerinnen und Schüler ermittelt. Differenzieren wird also durch Diagnose qualitativ verbessert (vgl. Grünewald/ Krämer 2014, 7). Andreas Grünewald 82 2.2 Differenzieren und standardorientiert evaluieren - ein Paradoxon? Differenzierende Lernarrangements tragen den individuellen Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler Rechnung. Doch die Leistungsbeurteilung hat mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten. Häufig erschöpft sie sich in einer Ziffernote, die aufgrund eines für alle Mitglieder einer Lerngruppe verbindlichen Maßstabs (Standard) zustande kommt. Nur selten sind die Lerner auf der Grundlage einer derartigen Leistungsrückmeldung in der Lage, zu erkennen, was sie können bzw. nicht können und wie es ihnen in Zukunft gelingt, sich in der Fremdsprache weiterzuentwickeln. Wie vertragen sich aber nun Differenzierung und Individualisierung mit den Anforderungen der Evaluation bzw. Bewertung, die auf Gleichbehandlung, Gleichberechtigung, Standardisierung und gleiche Bewertung aller zielen? Beide Ansprüche sind legitim und nachvollziehbar, schließen sich jedoch scheinbar gegenseitig aus. Wie kann also eine Lernzieldifferenzierung vertreten werden, wenn am Ende alle die gleichen Standards erfüllen müssen? Ist eine Differenzierung der Inhalte, der Methoden und der differenzierten Unterstützung der Lernprozesse (differenziertes scaffolding) in einem Schulsystem, welches standardorientiert evaluiert, angemessener? Unter Evaluation ist im Folgenden jede Form der Leistungsfeststellung oder Leistungsermittlung mit dem Ziel der Leistungsbewertung oder - beurteilung (Notengebung) zu verstehen. Die deskriptive, diagnostische Aussage über den Kompetenzstand wird nun also explizit im Hinblick auf die Selektions- und Allokationsfunktion von Schule (vgl. Grotjahn 2008, 182) getroffen und bekommt dadurch für Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern erhebliche Relevanz. In den englischsprachigen Diskursen ist in diesem Zusammenhang von consequential validity oder impact die Rede - Begriffe, welche die sozialen Konsequenzen von Evaluationen in Form eines Testgütekriteriums in den Blick nehmen. In der deutschsprachigen Literatur findet sich das Kriterium Auswirkungen (vgl. Dlaska/ Krekeler 2009, 66 -70). Das Dilemma „Gerechtigkeit durch einheitliche Norm für alle“ vs. „Gerechtigkeit durch Berücksichtigung des individuellen Kompetenzzuwachses“ existiert als Grundwiderspruch, seitdem Bildungssysteme nicht nur der Entfaltung der Persönlichkeit dienen, sondern auch den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen regeln. Einer binnendifferenzierenden Unterrichtseinheit muss eine differenzierende Evaluation folgen. Diese bewegt sich im Spannungsfeld der Berücksichtigung der Interessen, Stärken und Schwächen einzelner Schülerinnen und Schüler und der möglichst gerechten Gleichbehandlung aller (vgl. Fäcke/ Grünewald/ Plikat 2014, 78-79). Heterogenität, Diversität, Inklusion … 83 Die Evaluation nach standardorientierter Bezugsnorm richtet sich nach den für die jeweilige Stufe geltenden Bildungsstandards und deren Adaptionen in den Bundesländern. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler werden in diesem Fall anhand von gruppenübergreifenden Maßstäben ermittelt. Die Problematik um die Evaluation von Bildungsinhalten wie ästhetischliterarischer oder interkultureller Kompetenzen soll hier nicht diskutiert werden. Neben der standardtorientierten Bezugsnorm werden auch die soziale und individuelle Norm unterschieden: Die soziale Norm folgt der Idee, dass die Leistungen einzelner Schülerinnen und Schüler an denen der gesamten Lerngruppe gemessen werden. In Deutschland ist die soziale Norm schulrechtlich seit 1968 abgeschafft, da sie insbesondere im unteren Leistungssegment folgenreiche Auswirkungen hat (ebda, 88). Dennoch hat die soziale Norm bis heute Einfluss auf die Notengebung, man denke beispielsweise an einen ausgeglichenen Notenspiegel unter einer Klassenarbeit, der einer „Normalverteilung“ folgt. In manchen Bundesländern sind Klassenarbeiten, in denen 1/ 3 der Schülerinnen und Schüler schlechter als ausreichend abgeschlossen haben, noch immer von der Schulleitung zu genehmigen. Die individuelle Norm folgt der Idee, die Leistungen einer Schülerin / eines Schülers auf seine/ ihre vorhergehenden zu beziehen, und zwar unabhängig davon, welche Rangfolge sich daraus im Vergleich mit der Lerngruppe ergibt oder wie das Ergebnis im Vergleich zu den Vorgaben einer standardisierten Norm ausfällt (ebda, 89). Eine binnendifferenzierende Evaluation führt darüber hinaus auch zu einer grundsätzlichen Ungerechtigkeit der Bewertung. Die Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe werden nicht mit dem gleichen Maßstab gemessen, sondern nach ihrem individuellen Leistungsstand unterschiedlich bewertet. Je nach Konstellation wäre es daher denkbar, dass beispielsweise ein eher schwacher Schüler infolge seines individuellen Lernfortschritts besser bewertet wird als eine leistungsstärkere Schülerin, deren Fehler infolge der höheren Anforderungen, die an sie gestellt wurden, eine vergleichsweise härtere Bewertung erfährt. Angesichts der aktuellen Diskurse in Fremdsprachendidaktik und Bildungspolitik im Kontext von Standardisierung erscheint diese binnendifferenzierte Evaluation nicht angemessen. Im Vordergrund und als Maß aller Dinge steht die für alle gleiche Leistung, gemessen an Standards, die unabhängig von individuellen Zuschnitten und Rahmenbedingungen für alle in gleichem Maße gelten (ebda). Es ist unbestritten, dass es Prüfungsformate gibt, in denen die individuelle Norm außen vor bleiben muss, man denke z.B. an das Abitur oder den mittleren Schulabschluss. Das liegt insbesondere daran, dass diese Abschlussprüfungen den Zugang zu weiteren Bildungseinrichtungen regeln und daher einer standardisierten Norm unterliegen. Es gibt allerdings kei- Andreas Grünewald 84 nen Grund, alle vorhergehenden Lernentwicklungen ausschließlich im Lichte der standardisierten Norm zu evaluieren. Grundlage einer differenzierenden Evaluation könnte die formative bzw. prozessorientierte Leistungsmessung sein, die darauf abzielt, den individuellen Lernprozess zu fördern und individualisierte Rückmeldungen an die Lernenden zu geben. Diese „pädagogische Note“ muss dann zwangsläufig auf Objektivität und Vergleichbarkeit verzichten und widerspricht damit aktuellen Überlegungen im Kontext der Standardisierung. Andererseits impliziert eine solche „pädagogische Note“ die individuelle Berücksichtigung und Würdigung des Einzelnen, die konkrete Förderung individueller Lernbedürfnisse sowie die Stärkung der Motivation (vgl. Fäcke/ Grünewald/ Plikat 2014, 93-94). Das Dilemma zwischen Individualisierung und Normierung scheint letztlich nicht auflösbar zu sein. Es liegt schließlich im Ermessungsspielraum der Lehrkraft, binnendifferenziertes Unterrichten und standardorientiertes Testen miteinander zu vereinbaren. Diverse Möglichkeiten der Gestaltung von binnendifferenzierender Lehrwerksarbeit und binnendifferenzierender Evaluationen im Rahmen einer schriftlichen Klassenarbeit (z.B. mit Aufgabendifferenzierung, unterschiedliche Inhalte, differenzierendes scaffolding) finden sich bei Grünewald/ Krämer (2014, 97-120). 3 Fremdsprachenlehrerbildung und Fremdsprachenforschung Einige Universitäten haben zunächst studiengangübergreifende Ansätze entwickelt, um inklusive Inhalte in den Lehramtsstudiengängen zu etablieren und damit Lehramtsstudierende auf die Schulrealität im Kontext von Inklusion, Heterogenität und Diversität vorzubereiten. Seit dem WS 2011/ 2012 existiert beispielsweise an der Universität Bremen das Studienfach Inklusive Pädagogik, welches neben zwei Fächern und der Erziehungswissenschaft in allen Bachelorstudiengängen für den Primar- und Elementarbereich belegt werden muss. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten zählen inklusionspädagogische Grundlagen, inklusive Didaktik, Kooperation und Beratung sowie das Studium von zwei Förderschwerpunkten. Für alle anderen Lehramtsstudiengänge wurde ein Schwerpunkt „Umgang mit heterogenen Lerngruppen“ im Bachelor wie im Master eingerichtet, in dem die Studierenden im Rahmen einer Ringvorlesung und eines Vertiefungsseminars im Bachelor und im Master Grundlagen zur Heterogenität und zur inklusiven Pädagogik erarbeiten. Das Problem an dieser Konzeption ist die fehlende Fachperspektive, da die Ringvorlesungen, die zwar unter Beteiligung einiger Fachdidaktiken stattfinden, mehrere hundert Studierende versammeln, von denen lediglich einige wenige das Fach studieren, das aktuell eine Vorlesung gestaltet. Um möglichst alle Studierende zu erreichen, muss die Heterogenität, Diversität, Inklusion … 85 Fachperspektive in den Hintergrund treten. Die Auseinandersetzung mit Heterogenität und dem Umgang mit sonderpädagogischen Förderbedarfen muss aber gerade auch in den Fachdidaktiken stattfinden, weil nur die Fachdidaktiken exemplarisch an Inhalten das Lehrerhandeln in heterogenen oder inklusiven Kontexten explizieren können. Binnendifferenzierung ist darauf angewiesen, dass Lerngegenstände spezifiziert und strukturiert werden und dass gegenstandsspezifische Lernbzw. Kompetenzziele für unterschiedliche Anforderungsniveaus formuliert werden. Es ist offensichtlich, dass das die Erziehungswissenschaft nicht leisten kann. Hier sind die Fachwissenschaften und insbesondere die Fachdidaktiken gefragt. In der Fremdsprachendidaktik deutscher Universitäten gibt es meines Wissens allerdings wenig Angebote zum Umgang mit sonderpädagogischen Förderbedarfen in den Fremdsprachendidaktiken, u. a. auch deshalb, weil die Kompetenz zur Durchführung solcher Lehrveranstaltungen nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist. Anders sieht es mit der Berücksichtigung individueller Lernausgangslagen aus. Hier zeichnet sich ein breites Angebot zum Umgang mit Heterogenität ab. Helmke (2003) und Scholz (2010) verweisen allerdings auf Studien, welche die mangelnde diagnostische Kompetenz von Lehrkräften nachweisen. In Bremen wird in der Fremdsprachendidaktik der romanischen Sprachen ein Pflichtmodul zur Diagnose und Förderung angeboten, welches die zukünftigen Lehrkräfte dazu befähigen soll, differenzierenden Unterricht vorzubereiten und durchzuführen. Inhalte des Moduls sind u.a.: − Möglichkeiten und Formen der Diagnose und individuellen Förderung im Spanisch- und Französischunterricht − Gestaltung unterschiedlicher Lernsettings in heterogenen Gruppen − Umgang mit Lernschwierigkeiten und Bildungsbenachteiligungen − Arbeit mit Kompetenzrastern − Prinzipien der Rückmeldung von Leistungsbeurteilung − Gütekriterien für schulische Testverfahren − Weiterentwicklung diagnostischer Instrumente für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht − Weiterentwicklung von Instrumenten der Selbsteinschätzung durch die Lerner. Der Bremer interdisziplinäre Verbund „Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation“ (FaBiT) erforscht Möglichkeiten, im Fachunterricht mit der zunehmenden Heterogenität von Schülerinnen und Schülern adäquat umzugehen, d.h. Lehr- und Lernprozesse zu transformieren und damit Andreas Grünewald 86 Wandel in Bildungskontexten erfolgreich zu gestalten. In diesem Rahmen werden fremdsprachenbezogen folgende Themen in heterogenen Schülergruppen beforscht: − Entwicklung differenzierender Lernsettings zur Umsetzung von komplexen Sprachmittlungsaufgaben (Spanisch), − Scaffolding als Instrument des differenzierenden Fremdsprachenunterrichts zur Anbahnung literarisch-ästhetischer Kompetenzen (Französisch), − Einbezug diskursiver Aushandlungsprozesse in den differenzierenden Fremdsprachenunterricht mit dem Ziel, kulturelles Lernen anzubahnen (Englisch), − Nutzung von Gamification-Elementen zur differenzierenden Lehrwerksarbeit (Spanisch). Im Bereich der Fremdsprachenforschung gibt es aber nach wie vor einen großen Bedarf bei der Entwicklung und Evaluation valider diagnostischer Instrumente für den Fremdsprachenunterricht. Dissertationsvorhaben - die wohl verbreitetste Forschungsaktivität in der Fremdsprachendidaktik sind häufig aus forschungspragmatischen Gründen auf die Überprüfung von Teilaspekten beschränkt und erfüllen dieses Desiderat nicht. 4 Fazit Der Themenbereich, dem sich dieser Beitrag widmet, ist gekennzeichnet von scheinbar nicht zu lösenden Widersprüchen und offenen Fragen. Die Bilanz für den Fremdsprachenunterricht in der 2. und 3. Fremdsprache fällt daher auch ambivalent aus: Einerseits gilt eine grundlegende Heterogenität innerhalb der Lerngruppe als gesetzt und ist nicht mehr Gegenstand des Fachdiskurses. Positiv zu bewerten ist zudem die weite Verbreitung von differenzierenden Lernarrangements für einen individualisierten Unterricht. Aber während die Implementierung auf Unterrichtsebene durch die Lehrkräfte scheinbar gelingt, bleiben andererseits zwei Aspekte problematisch: Die diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte und die Anwendung differenzierender Evaluationsverfahren. Genau an dieser Stelle sollte sowohl in der Forschung wie auch an der Aus- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrkräften mit vereinten Kräften gearbeitet werden. Heterogenität, Diversität, Inklusion … 87 Literatur Dlaska, Andrea/ Krekeler, Christian (2009): Sprachtests. Leistungsbeurteilungen im Fremdsprachenunterricht evaluieren und verbessern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Fäcke, Christiane/ Grünewald, Andreas/ Plikat, Jochen (2014): „Evaluation“. In: Grünewald, Andreas/ Krämer, Ulrich (Hrsg.), 77-120. Grotjahn, Rüdiger (2008): „Funktionen von Leistungsbeurteilungen“. In: Tesch, Bernd/ Leupold, Eynar/ Köller, Olaf (Hrsg.), 182-186. Grünewald, Andreas/ Krämer, Ulrich (Hrsg.) (2014): Vielfalt gestalten: Differenzierung im Spanischunterricht. Eine Selbststudieneinheit. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. Haß, Frank (Hrsg.) (2016): Fachdidaktik Englisch. Stuttgart: Klett. Hattie, John (2009): Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-analyses Relating to Achievement. London u.a.: Routledge. Helmke, Andreas (2003): Unterrichtsqualität - erfassen, bewerten, verbessern. Seelze: Friedrich. Katzenbach, Dieter (Hrsg.) (2007): Heterogenität als Herausforderung für die Unterrichts- und Schulentwicklung. Frankfurt a.M.: Goethe-Universität. Krings, Hans (2016): Fremdsprachenlernen mit System. Hamburg: Buske. Meister, Ulrike (2007): „Vielfalt braucht Struktur“. In: Katzenbach, Dieter (Hrsg.), 15-32. Scholz, Ingvelde (2010): Pädagogische Differenzierung. Göttingen: VundR. SfKB (Senatorin für Kinder und Bildung Bremen) (2016): Bremer Portal zur Inklusion. https: / / www.bildung.bremen.de/ inklusion-4417 (15.04.2017). Surkamp, Carola (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: Metzler. Tesch, Bernd/ Leupold, Eynar/ Köller, Olaf (Hrsg.): Bildungsstandards Französisch: konkret. Berlin: Cornelsen Scriptor. Fremdsprachenunterricht und inclusive education Wolfgang Hallet 1 Die politische Dimension der Inklusionsdebatte Es liegt eine besondere - mittlerweile historische, vor allem aber politische - Ironie in der Tatsache, dass die politische Entscheidung zur Umsetzung der allgemeinen Maßgabe der Inklusion im (gesamten! ) Bildungswesen ein sehr exklusiver Prozess war. Er war und ist exklusiv auf der Ebene der politischen Entscheidungsträger gefällt worden, ohne Partizipation der Betroffenen, ohne ihre Perspektiven, ihre Bedürfnisse und vor allem ihre Expertise. Verallgemeinerungen sind natürlich in einem föderalen System nur bedingt zulässig, aber nach allem, was man weiß, wird die Praxis der Inklusion bis heute weitgehend auf der Ebene der Verwaltungsvorschriften und -Verordnungen verhandelt, und es hat den starken Anschein, dass den Erfahrungen der Lehrer/ innen und der Schulen selbst kein Gehör geschenkt wird. Über viele der politischen Implikationen muss man spekulieren, etwa über das Motiv der Einsparungen, die sich (vermutlich oder vermeintlich) auf bequeme Weise durch die flächendeckende Schließung des Schultyps Förderschule ergeben können. Aber gerade im Fall der Inklusion hätte es in der Vergangenheit einer besonders sensiblen, gründlichen Debatte, eines ‚inklusiven’ Entscheidungsfindungsprozesses und des Prinzips der Partizipation bedurft, um zu bestmöglichen Lösungen zu kommen und, nicht zuletzt, um im Detail herauszufinden, was Lernbeeinträchtigte (und ihre Eltern), je nach ihren spezifischen Lern- und Lebensbedürfnissen, für sich selbst als beste Lösung ansehen. Diese Partizipation muss in der Bildungspolitik als Diskurs, Debatte und Implementierungsprozess dringend nachgeholt werden, weil sie alle Ebenen des Bildungssystems - von der Lehrerbildung bis zu den Schulbaurichtlinien - betrifft. Dies impliziert, dass die Fremdsprachendidaktik zentrale Fragen der Inklusion gar nicht aus dem vergleichsweise engen Blickwinkel ihrer fachdidaktischen Expertise lösen oder gar mit einfachen ‚Rezepten’ zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts mit einiger Aussicht auf Erfolg bearbeiten kann. Daher muss auch die Fremdsprachendidaktik sich aktiv in der allgemeinen Inklusionsdebatte Gehör verschaffen mit Blick auf notwendige Schlussfolgerungen für die Strukturen und Prinzipien des Fremdsprachenlernens in Fremdsprachenunterricht und inclusive education 89 einem inklusiven System. Der vorliegende Beitrag versucht daher, den Blick zu weiten und allgemeine, auch schulstrukturelle Aspekte der Inklusion zu thematisieren - die freilich allesamt Rückwirkungen darauf haben, wie das Fremdsprachenlernen zukünftig aussehen kann oder muss. Die Grundsatzdebatte betrifft zuallererst die Frage, was Inklusion bedeutet. Es drängt sich daher auf, Rat im Ursprungsdokument zu suchen, der UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities (United Nations 2006), um den programmatischen Willen zu identifizieren, dem diese Vereinbarung Ausdruck verleiht. Die Konvention hebt zum einen auf das Ziel ab, alle Menschen, auch solche mit Beeinträchtigungen, in vollem Umfang als citizens und Persönlichkeiten zu behandeln, die die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben wie alle anderen auch, insbesondere auch das Recht auf Bildung („the right of people with disabilities to education“; Artikel 24.1). Sie müssen daher ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial voll entwickeln können und Zugang zu allen gesellschaftlichen Institutionen, Angeboten und Möglichkeiten haben wie alle anderen Menschen auch. Es sollen sichergestellt werden: The full development of human potential and sense of dignity and selfworth, and the strengthening of respect for human rights, fundamental freedoms and human diversity; The development by persons with disabilities of their personality, talents and creativity, as well as their mental and physical abilities, to their fullest potential; Enabling persons with disabilities to participate effectively in a free society. (Art. 24.1) Die oberste Entscheidungsfrage, die sich daraus ableitet, lautet demzufolge, auf welche Weise eine solche volle und vollstmögliche gesellschaftliche und kulturelle Partizipation - im Übrigen das Leitziel aller schulischen Bildung - am besten hergestellt werden kann. Alle anderen Entscheidungen und Prozesse sind dazu funktional, auch die Frage, auf welchen Wegen Menschen mit Beeinträchtigungen am besten und am ehesten die Fähigkeiten und Qualifikationen erwerben können, die mit Schulabschlüssen verbunden sind. Man muss dabei im Sinn behalten, dass ein Grundzug und der primäre Fokus der UN- Konvention ein systemischer Ansatz ist (‚the general education system‘), in dem es um den Zugang zum regulären Schulbildungssystem in der Primar- und Sekundarstufe geht: States Parties shall ensure that: Wolfgang Hallet 90 Persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disability, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary education, or from secondary education, on the basis of disability; Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live; Reasonable accommodation of the individual’s requirements is provided; Persons with disabilities receive the support required, within the general education system, to facilitate their effective education; Effective individualized support measures are provided in environments that maximize academic and social development, consistent with the goal of full inclusion. Die UN-Konvention regelt nicht, auf welche Weise der Zugang zum allgemeinen Schulsystem strukturell gestaltet wird. Insbesondere ist nicht geregelt, dass und in welcher Weise sich Inklusion auf der Ebene der einzelnen Lerngruppe und in der Zeitachse vollziehen kann und soll. Es liegt auf der Hand, dass hier grundlegende pädagogische Entscheidungen gefragt sind und nicht politische Entscheidungen, die pädagogisch nicht sinnvoll oder nur schwer begründbar oder nicht praktikabel sind. 2 Volle Diversität als Folge der Inklusion Es ist ein grundlegendes Versäumnis in der Inklusions-Debatte, neben der in der UN-Konvention adressierten Zielgruppe der Menschen mit Beeinträchtigungen nicht die ganze Bandbreite der Diversität in den Klassenzimmern und Lerngruppen der Gegenwart zu thematisieren. Denn natürlich stellt sich die Frage, wie angesichts eines besonderen Förderbedarfs für Lernende mit Beeinträchtigungen mit dem mehr oder weniger offensichtlichen Förderbedarf anderer Lernender, ja aller Lernenden umgegangen wird. Dies ist eine unumgängliche Frage, damit nicht neue Ungleichheiten und Benachteiligungen produziert werden und um Kulminationseffekten innerhalb einzelner Lerngruppen zu begegnen. Soweit erkennbar, handelt es sich dabei (generell, nicht nur im Fremdsprachenunterricht) um die folgenden Lernenden: − Lernende mit besonderen (auch einseitigen) Begabungen und Hochbegabung. Es kann als gesichert gelten, dass auch sie einen besonderen Förder- und Betreuungsbedarf haben. Disziplinär ist die Begabten- und Fremdsprachenunterricht und inclusive education 91 Hochbegabtenförderung markanter- und zutreffenderweise in der Förderpädagogik angesiedelt. − Lernende ohne Kenntnis der Bildungssprache Deutsch oder als Lernende mit Deutsch als Zweitsprache, vor allem Migrant/ innen mit anderskulturellen Erfahrungen und anderen Bildungssozialisationen (inklusive funktionalem Analphabetismus in ihrer Muttersprache). − Lernende mit Minderbegabungen, Teilschwächen (Lese-/ Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie) oder mit einer ausgeprägten Lern- und Leistungsschwäche in einzelnen Fächern, z.B. mit mangelhaften oder ungenügenden Leistungen in Mathematik oder in einer Fremdsprache. − Lernende mit sozialen, kommunikativen oder personalen Beeinträchtigungen oder Defiziten jenseits klinischer Befunde. − Lern- und Schulverweigerer und Schulversager oder Schüler/ innen, bei denen sich eine solche Gefahr abzeichnet. Diese Liste ist kein Schreckensszenario, sondern eine Bandbreite an Diversität, die sich in einer vollends inklusiven Lerngruppe jederzeit einstellen kann, ja eine Unterrichtsrealität, mit der Lehrer/ innen hier und heute sehr praktisch konfrontiert werden. Es muss auch unter diesem Gesichtspunkt dringend gefragt werden, was Inklusion bedeutet. Offensichtlich ist, dass es für alle diese Gruppen seit Langem Konzepte der temporären besonderen Förderung außerhalb des Regelunterrichts gibt, z.B. Programme für Schulverweigerer, sprachlichen Vorlaufunterricht für Migrant/ innen mit einer schrittweisen, zeitlich oft über Jahre gestreckten Integration in den Regelunterricht, oder schulischen Förderunterricht für Schüler/ innen mit einer ausgeprägten Leistungsschwäche in einem bestimmten Fach. Wie muss man sich also mit Blick auf diese anderen benachteiligten, zu integrierenden Lernenden und die gleichzeitigen berechtigten Förderinteressen aller anderen Lernenden das Verhältnis von Fördermaßnahmen und voller Inklusion in den Regelunterricht vorstellen? Und wie können Lehrer/ innen diese große Bandbreite an Diversität innerhalb einer einzigen Lerngruppe bewältigen? Ein Leitgedanke muss jedenfalls sein, dass alle Lernenden - vor allem auch die ‚unauffälligen‘ und ‚durchschnittlichen‘ - Anspruch auf individuelle Förderung haben, um ihr Potenzial und ihre Fähigkeiten möglichst optimal zu entwickeln. Anders ausgedrückt: Inklusion bedeutet, dass jede/ r einzelne Lernende Anspruch auf individuelle Förderung je nach ihren oder seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten hat. Wolfgang Hallet 92 3 Strukturelle Implikationen der Inklusion Auf der Ebene der vorhandenen und der zu entwickelnden Strukturen sind (bildungs- und finanzpolitische) Grundsatzentscheidungen zu fällen, ohne die Inklusion nicht gelingen kann. Diese stellen sich m.E. als einzelne Faktoren wie folgt dar: Personale Ressourcen Mit Blick auf die im vorigen Abschnitt beschriebene Diversität von Lerngruppen sowie der Bandbreite der Begabungen und Beeinträchtigungen innerhalb einer jeden Lerngruppe ist es absolut unumgänglich, alle Schulen mit der notwendigen Zahl an förderpädagogischen Lehrkräften auszustatten. Nur diese verfügen über das für einzelne Beeinträchtigungen und Förderbedarfe notwendige professionelle spezialisierte Können und Wissen. Gegen alle Tendenzen der Marginalisierung oder gar Abschaffung von förderpädagogischer Professionalität muss man daran erinnern, dass auch diese Vorgabe Teil der UN-Konvention ist (vgl. Artikel 24, 3). Es ist offensichtlich, dass Regel-Lehrer/ innen nicht in der ganzen Bandbreite oft sehr spezifischer, mit Spezialkenntnissen verbundener förderpädagogischer Kompetenzen ausgebildet werden können. Förderpädagogisch spezialisierten Lehrkräften kommt auch gemäß UN-Konvention eine besondere Bedeutung zu. Kurzschulungen in Förderpädagogik oder Behelfsmaßnahmen sind keine adäquate Antwort auf diese Vorgabe. Erst recht ist die gelegentliche, zeitlich auf einzelne Stunden begrenzte Entsendung von Förderlehrkräften an Regelschulen als Berater/ innen oder als ‚Aushilfen‘ eine völlig unangemessene Maßnahme und eigentlich eine skandalöse Kapitulation. Vor allem ist auch zu prüfen, welche Schüler/ innen nur mit intensiver, spezialisierter förderpädagogischer Betreuung (auch als Einzelbetreuung) überhaupt Schulbildung zuteil werden kann. Lehrerbildung Aus dem Gebot der spezifischen, individualisierten Förderung aller Lernenden folgt zweierlei: Zum einen müssen alle Lehrer/ innen auf den Unterricht in diversifizierten Lerngruppen vorbereitet werden. Dies betrifft vor allem auch diagnostische Fähigkeiten, die geeignet sind, Lernausgangslagen, Beeinträchtigungen oder besonderen und spezialisierten Förderbedarf in einer Lerngruppe zu identifizieren. Auch müssen Regel-Lehrer/ innen über ein förderpädagogisches Basiswissen verfügen sowie über die fachliche und pädagogische Kompetenz der interdisziplinären und kollegialen Zusam- Fremdsprachenunterricht und inclusive education 93 menarbeit mit förderpädagogischen Spezialkräften. Ferner muss in der allgemeinen Lehrerbildung die Fähigkeit zum Umgang mit diversifizierten Lerngruppen und deren wechselnder, temporärer oder flexibler Zusammensetzung ausgebildet werden. Zum anderen müssen spezialisierte Förderlehrer/ innen in der benötigten Zahl ausgebildet und auf ihre Arbeit im Kontext von Regelschulen und im Regelunterricht sowie für die Zusammenarbeit mit Fachlehrer/ innen vorbereitet werden. Eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit auf der Ebene des Fachunterrichts verlangt die Fähigkeit, Konzepte für flexible Zeit-, Raum- und Unterrichtsformen zu entwickeln, die auf Re-Integration und Re-Inklusion zielen, und diese je nach Schüler/ in und den Gegebenheiten ständig weiterzuentwickeln. Die Bereitschaft, gegenseitig voneinander zu lernen, ist daher essenziell (Lehrer/ innen als professional learning community; vgl. Hallet 2011, 190ff.). Zudem müssen Förderlehrer/ innen, komplementär zur allgemeinen Lehrerbildung, als Berater/ innen der nicht-spezialisierten Lehrkräfte tätig werden können. Materiale und räumliche Ressourcen Regelschulen sind gegenwärtig im wörtlichen Sinne so gut wie gar nicht auf die Förderung von Lernenden mit Beeinträchtigungen und besonderem Förderbedarf ‚eingerichtet’. Sie verfügen nicht über die bauliche Infrastruktur und über die räumliche Ausstattung (Sonderräume, Trainingsräume, Sporträume mit spezialisierter Ausstattung usw.); darunter fällt alles, was an Förderschulen an Architektur, baulicher Infrastruktur und Raumausstattung entwickelt und etabliert wurde. Zur Infrastruktur gehört auch eine volle materiale Ausstattung mit auf den besonderen Förderbedarf abgestimmten Unterstützungsmitteln, besonderen Lernmaterialien, Geräten, Computern und Software. Auch all diese Ressourcen repräsentieren förderpädagogische Expertise. Man muss befürchten, dass diese Dimension der Förderung an Regelschulen nicht nur nicht vorhanden ist, sondern dass auch die gesamte damit verbundene Expertise und bedarfsorientierte strukturelle Unterstützung vollends verloren geht und abgeschafft wird. 4 Schulstruktur und Unterrichtsorganisation Wenn die einzig erlaubte Schlussfolgerung aus der UN-Konvention die nach Auflösung jeder äußeren, strukturellen Differenzierung wäre, dann dürfte und würde es weltweit nur noch eine Schulart geben, in deren einzelnen Klassen alle Schüler/ innen eines Jahrgangs zusammen lernen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Beeinträchtigungen, temporären Handicaps wie z.B. Wolfgang Hallet 94 der fehlenden Beherrschung der Bildungssprache und vielen Faktoren mehr. Wenn aber tatsächlich alle Schüler/ innen in einer einzigen Schulart zusammen lernen sollen, zeichnen sich zwei Strategien ab (oder eine Kombination aus beiden), mittels derer man dem Prinzip der Inklusion Rechnung tragen kann. Die erste ist die Aufgabe des Prinzips des curricularen Fortschreitens in Klassenstufen. Denn man muss fragen: Worin liegt im Fall der vollständigen Inklusion die Logik der Jahrgangsklassen und der Alterskohorten? Offensichtlich führt dieses Prinzip dazu, dass im Fall der konsequent gehandhabten Inklusion, als Folge der Logik der Alterskohorten, Schüler/ innen, die in der Schul- und Bildungssprache weniger alphabetisiert sind als Kinder im ersten Grundschuljahr, zusammen mit Altersgenossinnen in einer höheren Klasse, etwa der 8. oder 9. Jahrgangsstufe, unterrichtet werden. Die Inklusion stellt dieses Prinzip der curricularen Jahrgangsstruktur (die Homogenitäts-Hypothese, dass Gleichaltrige bezüglich ihres curricularen Lernstandes ungefähr gleich weit fortgeschritten sind; vgl. Hallet 2011, 58ff.) vollständig in Frage. Denn es ist nur bedingt sinnvoll, Schüler/ innen extrem divergierender Leistungsfähigkeiten und Könnensstufen in einer Lerngruppe zusammenzufassen, nur weil sie gleich alt sind (vgl. dazu auch den Beitrag von Marcus Bär in diesem Band). Diese Überlegung befindet sich in vollem Einklang mit dem Prinzip der Kompetenzstufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Dessen Logik ist ja gerade, Sprachniveaus nicht nach Alter oder Schulerfolg zu beurteilen, sondern die sprachlichen Fähigkeiten unabhängig von Erwerbswegen, Alter oder Schulerfolg und entlang einzelner skills zu diagnostizieren (sodass jemand in einer Sprache mündlich alles verstehen, aber z.B. nichts schreiben kann). Dieser Logik zufolge können Lernende im zweiten Jahr Grundschulenglisch im Gleichklang mit jungen Lernenden im Teen-Alter lernen, die gerade erst begonnen haben, eine Fremdsprache zu erlernen. Eine sinnvolle Schlussfolgerung aus dem Inklusionsprinzip ist daher die Bildung von fähigkeitsbasierten Lerngruppen. Dazu werden diagnostische Verfahren benötigt, die in der Lage sind zu entscheiden, dass, am Beispiel der fremdsprachlichen Fähigkeiten, alle Schüler/ innen der gleichen Könnensstufe in einer bestimmten Fremdsprache (oder der Bildungssprache Deutsch), unabhängig von ihrem Alter, der Art der Beeinträchtigung oder den Gründen für diesen Lernstand (z.B. Zuwanderung), in einer Lerngruppe zusammengefasst werden. Im Falle des Fremdsprachenunterrichts würde das z.B. bedeuten, dass ein/ e Schüler/ in der Könnensstufe A1 in einer Lerngruppe mit anderen Schüler/ innen der gleichen Kompetenzstufe zusammen lernt, während sie/ er im Fach Geschichte oder Deutsch mit anderen Schü- Fremdsprachenunterricht und inclusive education 95 ler/ innen einer jeweils gleichen Könnensstufe zusammengefasst würde. Nur in diesem Fall kann Assistenz (durch spezialisierte Lehrkräfte, technische Unterstützung und auf individuelle Lernende abgestimmte Lernmaterialien) hinreichend individualisiert werden. Regelmäßig müssten in jedem Fach der Lernstand und das Können neu ermittelt werden, um im Halbjahr oder am Schuljahresende (sofern das Schuljahresprinzip dann noch sinnvoll ist) Lerngruppen, ggf. je nach Kompetenzfortschritt und Fach, neu zusammenzusetzen. Dieses Verfahren bietet den Vorteil, dass der Bildungsgang inklusiv und zugleich auf die jeweils individuellen Begabungen und Lernfähigkeiten ausgerichtet sein kann. Ein solches Verfahren stellt das Prinzip des Fachunterrichts in fixen Jahrgangsstufen und des curricularen Aufsteigens in Kohorten grundlegend in Frage. Die zweite Strategie, die mit der zuerst beschriebenen gekoppelt sein kann und sollte, ist das der vollständigen Individualisierung allen Lernens. Im System der norwegischen ‚Volksschule‘ (felleskole), so berichtet es Gerard Doetjes (2017), ist diese als Leitidee festgeschrieben. Der Auftrag lautet, „den Unterricht an die Möglichkeiten (norw. Evner) und Voraussetzungen (norw. føresetnader) der/ des einzelnen Schüler_in anzupassen.“ (Doetjes 2017, 43). Die Optionen für diese Art Individualisierung reichen auch im norwegischen System vom flexiblen Zeitrahmen für das Lernen „durch die Verwendung unterschiedlicher Aufgabentypen, Arbeitsmethoden, Organisationsformen“ (Doetjes 2017, 44) bis zum Einzelunterricht. Eine der strukturellen Implikationen der Individualisierung wäre, dass es keine generell vorgeschriebene Verweildauer auf einer bestimmten Könnensstufe mehr gäbe, sondern das Voranschreiten im Bildungsgang wäre mit der entsprechenden Anleitung, Lernunterstützung und Unterrichtung weitestgehend individualisiert und nach Fächern - auch nach Sprachen - differenziert. Dieses Prinzip des individuellen curricularen Aufsteigens antwortet auf die Notwendigkeit, auch schnellen und superschnellen Lernenden, aber auch der größeren Zahl der Lernenden in der Mitte des Leistungsspektrums Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihrem Lernwillen und curricularem Fortschreiten Rechnung zu tragen. Da Individualisierung das Strukturprinzip ist, stellen sich die Fragen von Inklusion und Exklusion nicht mehr im herkömmlichen Sinne; denn die Individualisierung betrifft ja alle Lernenden und trägt ihren je spezifischen Lernbedürfnissen und ihrem individuellen Vorankommen Rechnung, dem der Mainstream-Lernenden genauso wie dem von Hochbegabten oder von in irgendeiner Art Lernbeeinträchtigten. Die eigentliche politische Dimension besteht also darin, dass Fragen der Lerngruppenstruktur, der Gestaltung der zeitlichen Dimension von Bildungsgängen, der Individualisierung des schulischen Lernens sowie der Flexibilisierung der gesamten Lehrer/ in-Schüler/ innen-Relation gar nicht Wolfgang Hallet 96 erst gestellt wurden. Sachlich und pädagogisch ist es daher ratsam, nach Ansätzen und Erfahrungen Ausschau zu halten, die das Prinzip der curricularen Kohorte in Frage stell(t)en. Historisch ist die Jahrgangskohorte ohnehin eine vergleichsweise späte Erfindung des ausgehenden Mittelalters und der Frühmoderne (Ariès 1998, 269-284). Nichts spricht dagegen, in der Spätmoderne eine Errungenschaft der Moderne auf den Prüfstand zu stellen und neue Strukturen von Bildung und Erziehung zu denken. 5 Pilotierung Es ist kaum zu glauben, dass für den Prozess der Implementierung der inklusiven Bildung m.W. nicht in allen Bundesländern Schulversuche initiiert wurden, um herauszufinden, wie Inklusion auf der Ebene der Schule und des Unterrichts mit bestmöglichem Ertrag und ohne Qualitätsverlust für den Regelunterricht erreicht werden kann. Pilotierungsprogramme mit begleitender Forschung sollten - in föderal koordinierter Form - die wichtigsten Fragen der Inklusion beantworten, insbesondere alle Fragen, die das Verhältnis von spezialisierter, individualisierter Förderung und Regelunterricht (und des entsprechenden Ausstattungsbedarfs der Schulen), Fragen des Verhältnisses von individualisiertem Unterricht und Gruppenunterricht sowie temporärer Fördermaßnahmen außerhalb der Regelgruppe, Fragen der Standardisierung, der Bildungsabschlüsse und der Leistungsbeurteilung sowie alle Fragen der professionellen Ausbildung von Regel- und Förderlehrkräften und deren Kooperation betreffen. Nur in Pilotprojekten und -Schulen können Erfahrungen und Expertise zur inklusiven Bildung gewonnen werden, die notwendig sind, um Fehlentwicklungen, gegenläufige Resultate und Beeinträchtigungen der Unterrichtsqualität zu verhindern. Eine solche Pilotierung kann nicht einzelnen schulischen oder wissenschaftlichen Initiativen überlassen bleiben, sondern sie muss landesweit und flächendeckend, auch mit Blick auf die Verschiedenheit lokaler und regionaler Gegebenheiten, organisiert werden - und bildungspolitisch gewollt sein. 6 Prinzipien der Differenzierung in der inklusiven Schulbildung Es ist unvermeidlich, an dieser Stelle noch einmal fremdsprachendidaktische Konzepte der Differenzierung aufzurufen. Allerdings bleibt es beim gegenwärtigen Stand der Debatte bei dem Allgemeinplatz, dass das Potenzial der Differenzierungsmethoden in inklusiven Kontexten vollends und in seiner ganzen Breite ausgeschöpft werden muss. Weil die Instrumente bekannt sind, genügen kurze Skizzen mit Bezugnahme auf die besondere Herausforderung der inklusiven Schulbildung. Im Grunde handelt es sich um eine Re- Fremdsprachenunterricht und inclusive education 97 Perspektivierung etablierter Ansätze im Lichte des inklusiven Prinzips (vgl. auch Cummins 2015, 107ff.; Rossa 2015, 175ff.; Schäfer 2015; Steudle 2015, 192). Aufgabenbasierung Komplexe Aufgaben wirken wegen der Offenheit des Arbeitsresultats, der individuellen Problemlösungs- und Bearbeitungswege, der Kombination von individuellen und kooperativen Arbeitsweisen sowie der in komplexe Aufgabenarrangements integrierten Unterstützungsangebote und Lernschleifen stets differenzierend, durchaus auch in sehr extremer, ausgedehnter Weise. Die Differenzierungsoptionen reichen von der Ebene der differenzierten Zielformulierung bis zu Optionen und Wahlmöglichkeiten bei der Gestaltung des Arbeitsprodukts. Dies ermöglicht es Lernenden mit besonderen Beeinträchtigungen, zusammen mit anderen an der Bearbeitung einer Aufgabe teilzunehmen und zugleich ein Produkt gemäß ihren individuellen Fähigkeiten zu kreieren, das sich in die Bandbreite ähnlicher Produkte in einer Lerngruppe einreihen kann. Individualisierung, spezialisierte Förderung und kooperatives Lernen Eine besondere Herausforderung besteht, wie oben bereits dargelegt, darin zu erkennen, wann Phasen der Individualisierung und besondere, spezialisierte Fördermaßnahmen angezeigt sind. Inklusion kann dann auch bedeuten, dass die Individualisierung und besondere Förderung nicht nur Schüler/ innen mit besonderen Beeinträchtigungen betrifft, sondern alle Schüler/ innen in der Lerngruppe. Die größte Herausforderung besteht für die Lehrer/ innen im flexiblen und situationsadäquaten Wechsel zwischen individualisiertem und kooperativ-interaktionalem Lernen und in der Schaffung von Lernarrangements, die auch Phasen des individuellen oder des spezialgeförderten Lernens zeitlich und hinsichtlich ihres Ortes im Lernprozess flexibilisieren. Unterstützungsangebote Die in das Aufgabenarrangement integrierten Unterstützungsangebote müssen die gesamte Bandbreite der Fähigkeiten und Beeinträchtigungen in einer Lerngruppe abbilden und ggf. auch, bei besonderem Förderbedarf, individualisiert gedacht werden. Wolfgang Hallet 98 Die Vielfalt der ‚Sprachen‘, Zeichen und Lernwege (multiliteracies) Menschen benutzen die Sprachen, die ihren jeweiligen Zwecken am jeweils besten dienen oder die den jeweiligen Kommunikationskontexten am angemessensten sind (oder so erscheinen). So oder so muss diese Einsicht im Fremdsprachenunterricht, der sich ja zunächst nur einer einzelnen Wortsprache widmet und insofern monolingual ist, dazu führen, dass andere Sprachen, auch die in Anführungszeichen (also die nonverbalen semiotischen Modi wie das Foto, die kartographische Karte oder die Handzeichnung), ihren festen Platz erhalten. Für Schüler/ innen mit Beeinträchtigungen im fremdsprachlichen Lernen kommt diesen anderen semiotischen Modi möglicherweise eine zentrale Rolle zu: Wo die menschliche Sprache versagt oder nicht ausreicht, können andere Modi der Kommunikation oder des Ausdrucks einspringen und Informationen, Gefühle und Kommentare übermitteln (vgl. das Beispiel in Abschnitt 7). Zu den hinzukommenden neuen Sprachen gehören im inklusiven Kontext auch die Körper- und die Gebärdensprache oder die Blindenschrift (vgl. Kläser/ Rohde 2015). Da die o.a. Spezialsprachen nicht an alle Lernenden vermittelt werden können und sollen, muss diese Erweiterung des ‚Sprachenkanons’ fremdsprachendidaktisch dazu führen, dass die Konzepte der Mediation (oder der Sprachmittlung) erweitert werden hin zu semiotic translation (vgl. Hallet 2017). In Bildern dargestellte Sachverhalte müssen in die Fremdsprache übertragen werden und umgekehrt. Auf diese Weise kommt der Mediation auch eine Aufgabe in Konzepten der Inklusion zu; ‚Übersetzungsaufgaben’, wie sie Gebärdendolmetscher übernehmen, müssen in basaler Form auch in inklusiven Lerngruppen geübt werden, damit alle miteinander kommunizieren können. Eine Übersetzungsaufgabe ist es aber auch, Bilder und Skizzen, die Lernende mit Schwächen in der Fremdsprache gemalt haben, durch andere Lernende in der Fremdsprache zu beschreiben und zu interpretieren. So kann das Prinzip der Inklusion paradigmatisch zeigen, dass Menschen im Alltag auch jenseits möglicher Beeinträchtigungen eine Vielzahl semiotischer Modi und symbolischer Darstellungsformen benutzen können und müssen, um an Diskursen zu partizipieren und ihren Wünschen, Vorstellungen und Meinungen Ausdruck zu verleihen. 7 Aufgaben- und Unterrichtsbeispiel: Beloved Objects Um etwas optimistischer zu enden, als es der kritische Ton der vorangegangenen Ausführungen vielleicht erwarten lässt und damit die bisherigen Ausführungen nicht abstrakt bleiben, möchte ich ein konkretes Aufgabenbeispiel anfügen. Daran kann kenntlich werden, dass es etablierte Ansätze gibt, Fremdsprachenunterricht und inclusive education 99 an die sich anknüpfen lässt, dass diese aber hinsichtlich ihres Potenzials zur Individualisierung und Inklusion neu gedacht werden müssen (zum Modell der komplexen Aufgabe vgl. Hallet 2011, Kap. 5; zum Differenzierungspotenzial vgl. Hallet 2013). Wie kann eine inklusive, komplexe Aufgabe aussehen, die sich - sehr wörtlich - auf einen ‚gemeinsamen Gegenstand‘ richtet (vgl. Feuser 1998; Bartosch/ Köpfer 2015; Chilla/ Vogt 2017, 67-69), im hier vorgeschlagenen Fall sogar auf zahlreiche (beloved) objects? Dies ist die Aufgabe: My beloved object Everybody has an object or two that they love most, a toy pet, a beautiful stone, a small bag and many other things one can imagine. Do you have such a thing? Take a photo (or two or three) of your beloved object and bring it to class. Sometimes there may be a story to it, or a situation or other people with whom the object is connected. Or it is simply beautiful. Create a poster on which you explain what it is, why you love it or where you found or got it. In a gallery walk you can study the others’ beloved objects and ask them questions about it. Also, be prepared to talk to others about your own beloved object. You can practice what you want to say in small groups before the gallery walk begins. Die Differenzierungsstrategie hinter dieser (komplexen) Aufgabe lässt sich in kürzestmöglicher Form wie folgt beschreiben: − Die Aufgabe ist autobiographisch, erfahrungs- und lebensweltbezogen und zugleich reflexiv, regt also zum Nachdenken über eigene Erfahrungen oder Vorlieben (oder deren Entdeckung) an. Sie nimmt alle Lernenden als Persönlichkeiten mit ihren je eigenen Erfahrungen und Gefühlen ernst und trägt einem kommunikativen Grundbedürfnis, dem „quest to connect with another’s thoughts“ (Cameron 2001, 38), auf vielfältige Weise Rechnung. − Sie hat außer diesem Erfahrungsbezug einen klaren materialen und kommunikativen Fokus („Lernen am Gemeinsamen Gegenstand“; vgl. Feuser 1998; Chilla/ Vogt 2017, 67), der von Lernenden aller Fähigkeitsstufen nachvollzogen werden kann. − Der Kern der Aufgabe ist erfüllt, wenn das Objekt gezeigt oder (auf dem Foto) visuell repräsentiert und auf dem Poster mit einer fremdsprachlichen Erläuterung versehen wird (Outcome, Arbeitsprodukt). Auch ein Poster mit einem Bild und einem Satz in der Fremdsprache stellten eine erfolgreiche Lösung der Aufgabe dar. Zugleich ist die Aufgabe komplex Wolfgang Hallet 100 genug, um Schüler/ innen mit sehr entwickelten sprachlichen Fähigkeiten die Möglichkeit zu eröffnen, sehr elaborierte narrative oder reflexive Texte (die Geschichte des Objekts, ihre Erfahrungen damit, ihre Gefühle und Reflexionen) zusammen mit Fotos auf dem Poster auszustellen. − Der klare Fokus ermöglicht ein gestuftes Scaffolding in voller Bandbreite, von der Anregung zu komplexen Textformen (und Modelltexten dazu) bis hin zu einfachen phrases oder Satzanfängen wie This is ... It was given to me ... I always keep it in .../ carry it .../ use it when ... usw. − Der Arbeitsprozess ermöglicht außer der individuellen Beschäftigung auch interaktive und kooperative Phasen, in denen sich alle gegenseitig bei der Erstellung der Poster helfen und beraten, sprachlich, aber auch in Fragen der Gestaltung und der Sachverhalte, die kommuniziert werden sollen, sowie in rehearsals des gallery walk in Kleingruppen. Ich stelle mir vor, dass auf diese Weise alle Lernenden einer Gruppe in vollem Umfang am gleichen Aufgaben- und Arbeitsprozess teilhaben, dass alle nach ihren Möglichkeiten und Vorstellungen lernen, über sich in der Fremdsprache zu schreiben und zu sprechen, und dass das Poster viele Möglichkeiten bietet, Sachverhalte außer in der Wortsprache in vielen anderen semiotischen Modi zu kommunizieren (Multimodalität) - in den Sprachen und den semiotischen Modi, die jeder und jedem Einzelnen zur Verfügung stehen und die man am besten beherrscht. Literatur Ariès, Philippe ( 12 1998): Geschichte der Kindheit. München: DTV. Bartosch, Roman/ Köpfer, Andreas (2015): „Stadtnatur als Gemeinsamer Gegenstand im inklusiven Englischunterricht. - Spannungsfelder und Möglichkeiten in der didaktischen Fachdiskussion.“ In: Bongartz, Ulrike/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 195-208. Bongartz, Christiane/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2015): Inklusion im Englischunterricht, Frankfurt a.M.: Lang. Bündgens-Kosten, Judith/ Elsner, Daniela (Hrsg.) (2017): CALL in Multilingual Settings. Bristol: Multilingual Matters. Cameron, Lynne (2001): Teaching Languages to Young Learners. Cambridge: Cambridge University Press. Chilla, Solveig/ Vogt, Karin (2017): „Englischunterricht mit heterogenen Lerngruppen: eine interdisziplinäre Perspektive.“ In: Chilla, Solveig/ Vogt, Karin (Hrsg.), 55-81. Chilla, Solveig/ Vogt, Karin (Hrsg.) (2017): Heterogenität und Diversität im Englischunterricht. Fachdidaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Lang. Fremdsprachenunterricht und inclusive education 101 Cummins, Jim (2015): „Inclusion and Language Learning: Pedagogical Principles for Integrating Students from Marginalized Groups in the Mainstream Classroom.“ In: Bongartz, Christiane/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 95-116. Doetjes, Gerard (2017): „Englisch und weitere Fremdsprachen in der norwegischen felleskole - Erfahrungen und Herausforderungen.“ In: Chilla, Solveig/ Vogt, Karin (Hrsg.), 33-53. Eberwein, Hans (Hrsg.): Didaktik und Unterricht. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Feuser, Georg (1998): „Aspekte einer Didaktik unter Berücksichtigung tätigkeitstheoretischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse.“ In: Eberwein, Hans (Hrsg.), 70-79. Hallet, Wolfgang (2011): Lernen fördern: Englisch. Kompetenzorientierter Unterricht in der Sekundarstufe I. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. 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Steudle, Ines (2015): „Auf dem Weg zu einer inklusiven Englischdidaktik - Erkenntnisse zu Potenzialen und Herausforderungen aus dem (Englisch-) Lernen von Schülerinnen und Schülern im Bereich der geistigen Entwicklung.“ In: Bongartz, Christiane/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 185-193. United Nations (2006): Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Optional Protocol. http: / / www.un.org/ disabilities/ documents/ convention convoptprot-e.pdf (14.04.2017). Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts - Erste Überlegungen zur Brauchbarkeit eines Gesamtsprachencurriculums für die sprachlichen Dimensionen von Inklusion, Heterogenität und Diversität Britta Hufeisen 1 Einleitende Überlegungen Wie üblich schreibe ich meinen Beitrag entlang der Leitfragen, so dass ich sowohl meine Überlegungen aus meinem Statement von vor der Frühjahrskonferenz als auch Debatten während der Konferenz zu den entsprechenden Themenkomplexen mit aufnehmen kann. Ich werde im folgenden Beitrag wie auch bereits im Statement nicht fortwährend die Dreiheit Inklusion, Heterogenität und Diversität nennen, sondern mich an dem Konzept der sprachlichen Heterogenität orientieren, dem die anderen folgen. Indem diese sprachliche Heterogenität der Lernenden in ihrer Diversität wahr- und ernstgenommen wird, kann eine inklusive Haltung entwickelt werden, die entsprechende Unterrichtskonzepte ermöglicht bzw. auch erfordert. Dazu bedarf es deutlich mehr spezifischer Spracherwerbs- und Mehrsprachenlernforschung sowie Sprachenlehrlernforschung, weil wir über die meisten Zielgruppen, die inkludiert werden sollen, viel zu wenig wissen. Bei den genannten Stichworten fallen mir zum einen die zu integrierenden geflüchteten Schulpflichtigen ein, zum anderen die zu Inkludierenden, die ihren Lernweg bisher in eigenen Schulformen innerhalb Deutschlands gegangen sind. Das sind durchaus völlig unterschiedliche Lerngruppen, die ihrerseits jeweils extrem heterogen sind, und es braucht vermutlich neue Arten des Lehrens und Lernens, um diese Herausforderungen zu meistern. Im Rahmen unseres PlurCur®-Projektes haben wir damit bereits experimentiert. Im Folgenden debattiere ich daher erstmals, wie meine bisherigen Überlegungen zu Gesamtsprachencurricula (z.B. Hufeisen 2005 und 2011a), die wir im Rahmen von PlurCur® genauer zu erforschen begonnen haben (vgl. Allgäuer-Hackl et al. 2015), um spezifische Fragen zur Inklusion erweitert werden können. Didaktische oder gar methodische Entscheidungen können erst danach und im Lichte dieser Forschung fallen. Erstmals werde ich zwei Fragen (nämlich 2 und 3, hier als Teil 3) zusammen beantworten, weil die einzelne Beantwor- Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts 103 tung zu unnötigen Doppelungen meiner Überlegungen geführt hätte. Mangels Forschung werde ich darüber hinaus mehr Fragen stellen als beantworten. 2 Was verbinden Sie im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen mit den bildungspolitisch geprägten Begriffen ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘? Zunächst gilt es, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit von Lernenden und Lehrenden bzw. die Vielsprachigkeit einer jeweiligen Lerngruppe nicht nur wahrzunehmen und zu akzeptieren, sondern sie tatsächlich auch aktiv und vor allem konstruktiv mit in den Unterrichtsalltag zu integrieren. Das damit einher gehende Potenzial ist freizulegen und nicht vorschnell als nutzlos, störend oder interferenzbildend abzutun. Dabei sind alle Sprachen, egal ob Herkunftssprachen, Erstsprachen oder Fremdsprachen, gleich viel wert, und es gibt keine Hitparade der besseren oder schlechteren, nützlicheren oder hässlicheren, einfacheren oder schwierigeren Sprachen. Dann müssten wir klären, was die Ziele der inklusiven Behandlung von Heterogenität sind (wenn sie nicht nur politisch motiviert sind, vgl. Roches Beitrag in diesem Band); m.E. ist wenigstens eines davon die bildungs- und gesellschaftspolitische Teilhabe. Diese funktioniert nicht ohne Sprache (vgl. hier auch z.B. Terrasi-Haufe/ Roche 2016). Das bedeutet, Zugewanderte müssen auf dem schnellsten Wege die Möglichkeit erhalten, Deutsch (= DaZ) zu lernen, um zum einen kommunikations- und diskursfähig zu werden und zum anderen eine Textkompetenz zu entwickeln, die sie bildungspolitisch in die Lage versetzt, gesellschaftlich teilzuhaben. Analphabetische Zugewanderte brauchen entsprechende Vorkurse, um alphabetisiert zu werden. Meist sind diese Zugewanderten durchaus mehrsprachig, können aber oft eben nur wenige oder keine ihrer Sprachen lesen und/ oder schreiben. Dieses wertvolle Potenzial ist durch die Alphabetisierung und Literalisierung freizulegen. Alphabetisierte und literalisierte Lernende sollen lernen, auf ihre zuhause erworbenen Bildungsressourcen zurückzugreifen, oder dazu in die Lage versetzt werden, um zu eruieren, ob bzw. wie sie diese in der neuen Umgebung transferieren und von ihr profitieren können (vgl. z.B. Ezhova-Heer 2011). Vorgängige, im europäischen Sinne traditionelle, Fremdsprachen wie Französisch oder Englisch sind auf ihr Potenzial abzuklopfen, ob sie als vorübergehende Verständigungs- und Brückensprache dienen können. In diesen Sprachen erworbene Kompetenzen können für andere Fächer und für Britta Hufeisen 104 Deutsch genutzt werden (vgl. Fischer/ Hufeisen 2010 und 2012, vgl. auch Bartelheimer 2016 und Bartelheimer et al. 2017). Jedes Fach ist sprachlich gefasst, auch die Nichtsprachenfächer. Das bedeutet, dass auch jedes Fach sprachensensibel unterrichtet werden sollte. Lehrkräfte aller Fächer sollten entsprechend ausbzw. fortgebildet sein und Kenntnisse zu den Sprachen ihres Faches bzw. ihrer Fächer haben. Lehramtsstudierende aller Fächer erhalten im Rahmen ihres Studiums Einblicke in eben diese sprachliche Gefasstheit und lernen, wie sie sprachensensibel damit im zukünftigen Unterricht umgehen können. Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst erhalten, wenn sie diese Einblicke noch nicht im Studium nehmen konnten, entsprechende Module im Rahmen der Arbeit am Studienseminar. Mit unserem mit einem Preis für gute Lehre versehenen Konzept AllFaSprInt (Alle Fächer - Sprache - Interkulturalität), welches sich besonders auf die MINT-Fächer konzentriert, konnten wir zeigen, dass Studierende, die im Rahmen ihres Studiums kein obligatorisches DaZ-Modul belegen müssen, hieran ein hohes Interesse zeigen und sich weit über ihre Studienverpflichtungen hinaus an der Beantwortung inklusiver Fragestellungen zu (Fach)Sprache, DaZ in ihren Fächern, Interkulturalität und Heterogenität beteiligen. So gab es eine hohe Bereitschaft, sich nach Absolvieren der AllFaSprInt-Fortbildung (universitätsweit vom Fachgebiet Sprachwissenschaft - Mehrsprachigkeit angeboten) auch besonders an der Förderschule des Landkreises, bei der Inklusion plus DaZ der Fokus der schulischen Ausbildung ist, zu engagieren: Die Goetheschule ist eine Angebotsschule des Kreises Groß-Gerau für Schülerinnen und Schüler mit einem Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen. Schülerinnen und Schüler im Alter von 6 bis 16 Jahren können unsere Schule besuchen. Zugleich ist die Goetheschule ein regionales sonderpädagogisches Beratungs- und Förderzentrum (BFZ) für die Bereiche Lernen und Sprache. Als Teil der ‚Modellregion Inklusion‘ des Kreises Groß-Gerau unterstützen wir mit unseren Lehrkräften den Aufbau der inklusiven Beschulung. (Goethe Schule Groß Gerau 2017) Die Bildungspartnerschaft zwischen dieser Schule und dem Fachgebiet Germanistische Sprachwissenschaft - Mehrsprachigkeit an der Technischen Universität ermöglicht auch besondere Forschungszugänge in Form von Studienabschlussarbeiten und Dissertationen zu Inklusion und Heterogenität und Sprache (Bildungspartnerschaft 2016). Sicher kann man sich auch noch in den DaZ-Intensivklassen (Bezeichnung des Bundeslandes Hessen für die Klassen, die SeiteneinsteigerInnen unmittelbar nach ihrer Ankunft aufnehmen; internationale Vorbereitungs- Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts 105 klassen, wie sie in NRW genannt werden) ansehen, wie teilweise schon viele Jahre jahrgangs- und fächerübergreifend gelehrt und gelernt wird (vgl. z.B. die aufschlussreiche Analyse einer Schule mit Intensivklassen von Woydt 2017, vgl. z.B. den Bericht Fasses 2014 zu Theaterprojekten im Rahmen von Wahlpflichtkursen). Zu Inklusionskindern, die in sich eine weitere, äußerst heterogene Gruppe darstellen, kann ich erst dann einen qualifizierten Kommentar abgeben, wenn ich deutlich mehr über ihre vermutlich sehr diversen Sprachenerwerbs- und -lernverläufe weiß. 3 Ein Gesamtsprachencurriculum als Grundlage für didaktische und methodische Arbeit? Unsere üblichen Allzweckwaffen Binnendifferenzierung, Handlungsorientierung, Lernendenorientierung und natürlich auch Lehrendenorientierung sind sicher gute Anfangspunkte, die jeweils vor dem Hintergrund der jetzt eingenommenen inklusiven Perspektive weiter spezifiziert und justiert werden müssen. Eine mögliche Lösung in Richtung inklusiven Fremdsprachenunterrichts ist eine echte curricular verankerte Mehrsprachendidaktik im Sinne eines Gesamtsprachencurriculums, das sich nicht nur darauf beschränkt, bestimmte Sprachen in den Fokus zu nehmen (vgl. Hufeisen 2015), sondern alle potenziell vorhandenen Sprachen systematisch einbindet und auch die Nichtsprachenfächer mit den Sprachenfächern verknüpft. Das erfordert ein hohes Maß an didaktisch-methodischer Flexibilität von Seiten der Lehrkräfte; aber das hohe Maß allein sollte uns nicht davon abhalten, diese Flexibilität dennoch einzuladen, einzufordern und in der Ausbildung mit zu verankern. Das läuft auf viel mehr fächerübergreifende Unterrichtskonzepte hinaus, wie sie im Darmstädter Projekt MINT+ im Rahmen der Qualitätsoffensive in der Lehramtsausbildung in Ansätzen angelegt war (vgl. MINT+- Homepage 2015). Die weiter gehende ursprüngliche Idee der stärkeren Vernetzung der Schulfächer ist allerdings am Widerstand ausschließlich der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer gescheitert. Daher verfolge ich diesen Gedanken nicht weiter, sondern überlege, wie das bereits eingesetzte und in Ansätzen erforschte Gesamtsprachencurriculum im Sinne der Ergebnisse der PlurCur®-Forschung fortentwickelt werden kann. Getreu den Losungen DaZ ist DaZ in allen Fächern und Sprache in meinem Fach sind einerseits zunächst fächerspezifische Konzepte zu sprachensensiblem Unterricht zu entwickeln. Hier können neben der hier bereits erfolgten Forschung Erfahrungen aus dem bilingualen Sachfachunterricht sowie seiner durchaus umfangreichen Forschung auch hilfreich sein. Dann Britta Hufeisen 106 sind mehr Anstrengungen zu unternehmen, fächer- und auch jahrgangsübergreifend zu arbeiten. Dies geschieht, wie oben ausgeführt, derzeit am besten im Rahmen von Projektarbeit, weil in Projekten alle Lernenden entlang ihrer jeweiligen Kompetenzen Teilaufgaben übernehmen können. Während der Frühjahrskonferenz haben wir das als „Lernen am gemeinsamen Gegenstand“ bezeichnet. Hier sind alle Unterstützungssysteme, die eben zur Erreichung der Projektziele notwendig sind, einzubeziehen. Dass diese möglicherweise Geld kosten, welches dann doch nicht dafür ausgegeben werden soll, weil es vermeintlich billigere Lösungen gibt, wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Das Gesamtsprachencurriculum, wie ich es erstmals 2005 und dann ausführlicher 2011a und 2011b vorgestellt habe und wie es in zahlreichen europäischen Teilprojekten des Gesamtprojektes PlurCur® pilotiert worden ist (vgl. Allgäuer-Hackl et al. 2015), stellt ein Konzept von Unterrichtsorganisation vor, bei der die Fächer- und Jahrgangsgrenzen für die Bearbeitung von Projekten immer wieder aufgehoben werden, um komplexere Fragestellungen bearbeiten zu können, als dies im Ein-Fach-Unterricht möglich ist (vgl. den Prototyp eines Gesamtsprachencurriculums in Hufeisen 2011a, 272). Diese thematisch orientierten Projekte haben ihrerseits dann sowohl Fächerals auch Sprachenorientierungen und werden von Lernenden unterschiedlichen Alters jahrgangsübergreifend gemeinsam bearbeitet. Hier die Dimensionen verschiedener physischer, psychischer und mentaler Verfasstheiten mit einzuziehen, scheint eine logische Fortführung aller gesamtsprachencurricularer Konzeptionierung von Unterricht zu sein. Das schließt auch das kooperative und komplementäre lehrseitige Begleiten der Arbeits- und Projektgruppen ein. Schließlich brauchen wir, und das hat überhaupt nichts mit Forschung oder Fremdsprachendidaktik zu tun, viel mehr Gelassenheit auf allen Seiten, um neue Ideen wirklich auszuprobieren, und das auch längerfristig. Was wir nicht brauchen, ist weiteres hektisches Springen von einer Reformidee zu nächsten. 4 Hinsichtlich welcher Fragestellungen sehen Sie einen prioritären Entwicklungs- und Forschungsbedarf? 4.1 Zuallererst: viel mehr Spracherwerbs- und Mehrsprachenlernforschung Zunächst müssen wir deutlich mehr über die Spracherwerbs- und Sprachenlernprozesse der zu Inkludierenden wissen, brauchen also noch viel mehr Forschung zu den Personen, die bisher nicht im Mittelpunkt von Studien Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts 107 standen. Dazu gehören sowohl Geflüchtete mit ihren vielgestaltigen Sprachenhintergründen und den unterschiedlichsten Erfahrungen als auch Lernende, die bisher in eigenen Schulformen gelernt haben. Fragen, die ich hier für relevant halte, sind beispielsweise: − Verlaufen Spracherwerbsverläufe motorisch Eingeschränkter genauso wie die motorisch autonomer bzw. regulär entwickelter Kinder und Jugendlicher? − Gibt es prototypische Erwerbsverläufe bei geistig Lernbehinderten? Wie wirkt sich eine bestimmte Art geistiger Lernbehinderung oder Lernschwierigkeit auf Spracherwerbprozesse aus? − Gibt es dabei überindividuelle Gemeinsamkeiten? − Gibt es dafür spezifische sprachliche Fördermöglichkeiten? − Wenn nein, können solche trotz möglicher starker Individualität entwickelt werden? Unabhängig davon sind die Spracherwerbsverläufe bei zugewanderten Kindern und Jugendlichen mit ihren teils chaotischen Bildungsbiografien zu untersuchen, deren Erstsprache(n) nicht Deutsch ist (sind). Es gilt hier insbesondere zu berücksichtigen, dass nicht alle Gruppen mit Leichter Sprache oder Einfacher Sprache zu bedienen sind, weil ihre Defizite unterschiedlich begründet sind. Leichte bzw. Einfache Sprache sind systematischer auseinander zu halten und ihre Unterschiede offensiver zu verdeutlichen. DaZ- Lernende sind bis zum Beweis des Gegenteils nicht geistig lernbehindert und sprachlich (und auch sonst) anders zu behandeln als die Gruppen, deren geistigen Vermögen - aus unterschiedlichen Gründen - nicht bzw. nicht mehr in ausreichendem Maße vorliegt (vgl. Homepages Leichte Sprache bzw. Einfache Sprache). Wie unterscheiden sich Deutschlernverläufe bei nichtalphabethisierten/ nichtliteralisierten Lernenden von denen, die zwar alphabetisiert sind, aber aufgrund äußerer Einflüsse lange keine Schule besucht haben, und von denen, die durchgängig Schulbildung erfahren haben? Welchen Einfluss haben Sprachenzugehörigkeiten? Welchen Einfluss haben vorgängige Textkompetenzen (vgl. Bartelheimer 2016)? Fragen zu grundsätzlichen Bestandsaufnahmen: Wie sehen überhaupt die diversen individuellen Sprachenrepertoires aus? Was sind ihre kulturellen und sozialen Rahmungen (vgl. z.B. das jüngste Darmstädter Forschungskolloquium zu Raum und Fremdsprachenunterricht 2016)? Kommen wir mittels Spracherwerbs- und Mehrsprachenlernforschung Alltagserfahrungen von Lehrkräften auf die Spur, nach denen es beispiels- Britta Hufeisen 108 weise den meisten Menschen aus Afghanistan sehr leicht zu fallen scheint, Deutsch zu lernen, denen aus bestmmten anderen Ländern aber gar nicht, selbst wenn sie einen ausgeprägten Bildungshintergrund mitbringen (vgl. Braunagel 2017)? Welche Faktoren sind es, die diese von den Lernenden gefühlte, von den Lehrenden erlebte und in Noten dokumentierte Unterschiedlichkeit ausmachen? Gibt es weitere Sprachen-, Kulturen-, Bildungshintergründe, die ähnliche Folgen haben (hier sei auch an Brizićs relevante Forschung z.B. 2011 erinnert)? 4.2 Dann fremdsprachendidaktische Forschung und Sprachenlehrlernforschung: Erst nach Zurkenntnisnahme einschlägiger Spracherwerbs- und Mehrsprachenlernforschung kann fremdsprachendidaktische Forschung folgen bzw. im Verbund mit ihr erfolgen. Auch hier gibt es zahlreiche Folgefragen zu beantworten: • Reichen unsere Instrumente zur Binnendifferenzierung zur Behandlung inklusiver Gruppen aus, oder brauchen wir weitere Möglichkeiten der Fokussierung auf einzelne Lernende? • Welchen Einfluss haben Lehrwerke sowie ihre Gestaltung und ihre Inhalte auf das Mehrsprachenlernen? • Welchen Einfluss haben die so genannten ehrenamtlichen Deutschlehrkräfte auf Spachenlernverläufe (vgl. Sulzer in Vorbereitung)? Wenn wir fächer- und jahrgangsübergreifende Konzepte wie ein Gesamtsprachencurriculum ernstnehmen, brauchen wir Forschung zu vorgelagerten Bedingungen wie der Ausgestaltung von Lehramtsstudiengängen, die beispielsweise weiterhin ihre Fächer in den Vordergrund stellen und alle projektübergreifende, jahrgangsübergreifende, inkludierende Erfordernisse in die Bildungswissenschaften oder die Fachdidaktiken einordnen. Hinweise könnte Forschung zu bereits bestehenden Studiengängen geben, wie es vielfach im beruflichen Lehramt inzwischen geschieht, die in Felder oder Sachgebiete gegliedert sind. Hierzu gehört auch die Überprüfung von späteren Schnittmengen im beruflichen, d.h. schulischen Alltag von Begleitpersonen und traditionellen Lehrkräften im Hinblick auf Erweiterungen der jeweiligen Ausbildungen. Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles andere nichts 109 5 Abschließende Überlegungen Mein Plädoyer für wesentlich mehr Spracherwerbs- und Mehrsprachenlernforschung sowie mehr Sprachenlehrlernforschung ist vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und sozialen Ereignisse vermutlich einigermaßen theoretisch, weil mit dem Migrationsstrom der jüngeren Vergangenheit bereits jetzt Situationen bestehen, in denen wenigstens ansatzweise begründet sowohl fach- und fremdsprachendidaktisch als auch unterrichtsmethodisch gehandelt werden muss. Das kann vielfach zunächst ausschließlich von Unterrichts- und Aktionsforschung begleitet werden. Dies wiederum sollte, wo immer möglich, auch geschehen, damit Unterricht nicht - wie so oft gezwungenermaßen - von Versuch und Irrtum lebt und von Reform zu Reform irrlichtert. Das entbindet uns trotzdem nicht davon, einschlägige Forschung an den Gegenständen wie auch Grundlagenforschung in den genannten Bereichen der Heterogität, Diversität und Inklusion sprachlicher als auch übersprachlicher Art anzugehen. Immer restriktivere Vergabepraktiken von Forschungsgemeinschaften und Stiftungen, die immer noch (zu) wenig mit fächerübergreifender Forschung außerhalb von SFBen anfangen können, sind hier zwar nicht hilfreich, aber sollten uns nicht davon abhalten zu forschen, damit wir später begründete akademische Meinungen abgeben können, die nicht von lauten, rein politisch motivierten Meinungen übertönt werden. Meine zweite Annahme zeigt in die Richtung komplett neuer Unterrichtsverfahren, die stark von einem Projektcharakter getragen werden und jahrgangs- und fächerübergreifendes Arbeiten am gemeinsamen Gegenstand, aber in individueller Geschwindigkeit, eine thematischen Durchdringung mit individualisierten Aufgaben- und Handlungsanweisungen erfordern, wie ich sie im Gesamtsprachencurriculum vorschlage und wie sie auch von Martinez und Krumm in diesem Band angedacht werden. Damit verbundene Umstrukturierungen müssen nicht notwendigerweise viel Geld kosten, sondern brauchen in erster Linie die Bereitschaft auf allen Seiten, sich auf Neues einzulassen. Was auf jeden Fall Geld kostet, ist die individuelle Betreuung derer, die vorher in eigenen Gruppen und Institutionen gelernt haben. Man kann weder den Lehrkräften der aufnehmenden Schulen die Betreuung Betreuungsbedüftiger nebenbei aufbürden noch die Lehrkräfte und Betreuenden der Spezialschulen ihrer Aufgaben berauben. Britta Hufeisen 110 Literatur Allgäuer-Hackl, Elisabeth/ Brogan, Kristin/ Henning, Ute/ Hufeisen, Britta/ Schlabach, Joachim (Hrsg.) (2015): Mehr Sprachen? - PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula. Baltmansweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Bartelheimer, Lennart (2016): „Zum Einfluss der Vor-Fremdsprachen Französisch oder Englisch auf die Textproduktion in der folgenden Fremdsprache Deutsch - DaFnE/ F“. In: Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (Hrsg.), 111. Bartelheimer, Lennart/ Hufeisen, Britta/ Janich, Nina (2017): „Do L2 French or L2 English learners write better L3 German texts? The influence of prior foreign language study on L3 German writing skills: the GaE/ F Project“. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 17 (1), 208-216 http: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/ zif/ article/ view/ 846/ 847 (18.04.2017). Baur, Rupprecht/ Hufeisen, Britta (Hrsg.) 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Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen für Schule und Fremdsprachenunterricht Friederike Klippel In der Bildungsgeschichte hat es in der Politik, in Theorie und Praxis für das allgemeine Schulwesen in unterschiedlichen Ländern und so auch in Deutschland immer wieder gegenläufige Entwicklungen und Entscheidungen im Hinblick auf die Berücksichtigung von Heterogenität oder das Anstreben von Homogenität in der Schülerschaft gegeben: Zum ersten ist dies die grundsätzliche Entscheidung für ein gegliedertes oder ungegliedertes Schulsystem, das entweder auf die klare Trennung in unterschiedliche Schulformen und die damit verbundenen Normen und Berechtigungen ausgerichtet (z.B. Preußen im 19. Jahrhundert oder BRD) oder stärker am Gesamtschulgedanken und ggf. innerer Differenzierung orientiert ist (z.B. Skandinavien, DDR). Eine zweite Entwicklung betrifft die Frage nach der inneren Gliederung des Schulwesens. Hier liegt die Entscheidung zwischen fächerübergreifenden Alterskohorten (Jahrgangsklassen) oder fächerspezifischen Lernstandskohorten (Leistungskursen), wobei auch Zwischenmodelle denkbar sind und realisiert wurden. Beeinflusst werden solche Entscheidungen etwa von wechselnden Einschätzungen der Lernwirksamkeit heterogener oder homogener Lerngruppen oder der pädagogischen Bedeutung, die man dem Lernen in festen sozialen Verbänden wie der alle Fächer betreffenden Jahrgangsklasse zuschreibt, die eine Schulzeit hindurch zusammen bleibt und dauerhafte Beziehungen schafft. Jedes System bringt zwangsläufig Vor- und Nachteile mit sich, die an dieser Stelle zwar nicht erörtert werden können, die jedoch die bekannte Einsicht bekräftigen, dass es ein ideales Schulwesen, das allen Bildungserwartungen gerecht wird, nicht gibt. Solchen systemischen Entscheidungen liegen immer bildungspolitische oder pädagogische Schwerpunktsetzungen zugrunde, die auf ein jeweils aktuelles Menschenbild verweisen und auf gesellschaftliche Zielvorstellungen zu Funktion und Aufgabe des Schulwesens. Rein theoretisch sind natürlich auch weitere Modelle staatlichen Schulwesens denkbar: etwa eine auf individuellen Stärken bzw. Neigungen aufbauende Kohortenbildung. Sind jedoch bestimmte (Leistungs-)Standards und regelhafte Abläufe (z.B. Versetzungsvoraussetzungen, Dauer von Bildungsgängen, Abschlüsse) sowie grob leistungs- und altershomogene Klassenverbände die Regel, wie es in der Friederike Klippel 114 heutigen Bundesrepublik der Fall ist, dann sind der breiten und gezielten individuellen Förderung bestimmte Grenzen gesetzt. Dennoch heißt das nicht, dass das generell akzeptierte Ziel, in einem Bildungssystem allen Kindern und Heranwachsenden gleichermaßen gerecht werden zu wollen, gar nicht erst angestrebt werden sollte. Insofern ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die im Jahr 2008 durch Bundestag und Bundesrat bekräftigt wurde, ein Auftrag, über Inklusion im Fremdsprachenunterricht nachzudenken. 1 Begrifflichkeiten Wendet man die Begriffe Heterogenität und Diversität auf Schülerinnen und Schüler und auf alle diejenigen an, die Sprachen lernen möchten oder müssen, so wird damit ausgedrückt, dass diese Menschen in ihren Anlagen und ihrem Vorwissen, ihren Motiven, Lernfähigkeiten und Lerninteressen, ihren Persönlichkeiten und Lernstrategien, den sozialen und emotionalen Verankerungen, ihrem Selbstbild, ihrem Alter, ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung, um nur einige Aspekte zu nennen, in denen sich Menschen unterscheiden können, kurzum, dass diese Menschen in sehr vielen Facetten unterschiedlich sind. Dennoch sind ihnen allen viele menschliche Grundbedürfnisse und -ziele gemeinsam, etwa das Ziel eines erfüllten Lebens unter Wahrung der individuellen Lern- und Entwicklungschancen. Diese Heterogenität gilt es zu akzeptieren und im real existierenden Schulwesen zur Grundlage didaktisch-methodischer Planungen zu machen. Annedore Prengel hat dafür den Begriff „Pädagogik der Vielfalt“ geprägt (Prengel 2006). Für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen implizieren Heterogenität und Diversität, dass die Passung von Unterricht und dessen Adressaten ein wichtiges Ziel darstellt. Dazu existieren in der Fremdsprachendidaktik für eine Reihe von individuellen Voraussetzungen bereits zahlreiche Überlegungen. Inklusion bedeutet in der Definition der UN-Behindertenrechtskonvention, dass niemand aufgrund einer Behinderung von gesellschaftlicher Teilhabe und damit auch vom Besuch der Regelschule ausgeschlossen werden darf. Während die Begriffe Diversität und Heterogenität soziale Tatsachen beschreiben, die nicht automatisch zu einer bestimmten Gestaltung von Schule und Unterricht führen müssen, zielt das Konzept der Inklusion auf die Veränderung sozialer und pädagogischer Praxis. Diese Veränderungen führen für den Fremdsprachenunterricht zu einer Erweiterung insofern, als solche didaktisch-methodische Überlegungen, die bislang vor allem in Hinblick auf Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Sonderschulen angestellt wurden (etwa Tentrup/ Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen … 115 Ortner 1976, Kubanek-German 1991, Kutscher 2003 und 2005), nun auf den Unterricht in Regelschulen ausgedehnt und dafür modifiziert werden müssen. Durch die Forderung nach Inklusion erweitert sich das in den Fremdsprachendidaktiken vorherrschende Konzept von Heterogenität, das insbesondere auf unterschiedliche individuelle Voraussetzungen, d.h. individual differences wie Lernstil, Alter, Geschlecht, Persönlichkeit, Motivation etc. fokussiert war (z.B. Dörnyei 2009; Robinson 2002), um diejenigen individuell gegebenen körperlichen, kognitiven oder sozial-affektiven Einschränkungen, die bislang in Deutschland ausschlaggebend für den Besuch einer Förderschule waren. Der Gedanke der Partizipation aller Kinder und Jugendlichen am Unterricht der Regelschule erfährt fast überall spontan viel Zustimmung und Unterstützung. Ebenso wie der Begriff der Inklusion ist Partizipation positiv konnotiert, ganz im Gegensatz zu Exklusion oder Separation. Zentral und jenseits bestimmter Konnotationen ist meiner Meinung nach allerdings die Frage nach der optimalen Förderung aller Schülerinnen und Schüler im Regelschulsystem. Dabei ist es unbenommen, dass Eltern und Lehrpersonen das erwünschte Optimum auf durchaus unterschiedlichen Gebieten sehen können - etwa in der psychosozialen Entwicklung oder dem kognitiven Leistungszuwachs. In jedem Einzelfall müsste demnach geprüft werden, inwieweit inklusiver oder getrennter Unterricht das bessere Modell darstellt, und zwar für alle Schülerinnen und Schüler, sowohl diejenigen mit bestimmtem Förderbedarf als auch diejenigen mit Hochbegabung oder anderen individuellen Leistungsstärken. Wenn es uns darum gehen muss, die individuell am besten passenden Bildungsgänge zu finden, dann müssen wir alle Kinder und Jugendlichen im Blick behalten. Wenn man die Aufmerksamkeit zu sehr auf diejenigen fokussiert, die aus den Förderschulen in die Regelschule wechseln, dann könnte sich in der Regelschule Unzufriedenheit bei denjenigen herausbilden, die sich nun im Unterricht und in der Zuteilung von angemessenen Lernchancen benachteiligt fühlen. Das daraus ggf. resultierende Aufwachsen eines wie immer gearteten privaten Schulwesens für die, die es sich leisten können, wäre ein herber Verlust für das gesamte Regelschulwesen. In der öffentlichen Debatte steht unter dem Begriff der Partizipation für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf oft (zu Recht) der Gewinn an Lernchancen im psycho-sozialen Bereich im Vordergrund. Man hält sie durch inklusiven Unterricht für besser vorbereitet auf das Leben jenseits der Schulzeit. Weniger häufig werden in diesen Diskussionen Aspekte von Schul- oder Lernleistung thematisiert. Das Jahrgangsprinzip der deutschen Schule verlangt die vergleichende Leistungsbewertung einer Klasse in Tests, Klassenarbeiten und Zeugnisnoten. Es ist nicht immer davon auszugehen, Friederike Klippel 116 dass Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf sich innerhalb des in einer Klassenstufe erwartbaren Leistungsrahmens befinden werden. Daher wäre zu fragen, welche Auswirkungen ständige Misserfolgserlebnisse oder das Gefühl, mit anderen Maßstäben beurteilt zu werden als andere Klassenmitglieder, auf die Betroffenen haben könnten; dies gilt auch für die Regelschüler. Wie sollen Lehrkräfte mit Feedback und Leistungsbewertung umgehen, wenn sie einerseits in inklusiven Klassen noch viel stärker als bisher mit unterschiedlichen Leistungskriterien operieren müssen, um individuell gerecht zu sein und persönliche Leistungsfortschritte anzuerkennen, andererseits aber durch das Schulsystem gezwungen werden, für die Notengebung einheitliche und nachvollziehbare Messlatten anzulegen? Diese Fragen sind nicht fachintern lösbar. Ehe wir uns in der Fremdsprachendidaktik allzu schnell darauf einstellen, Inklusion als gut und gegeben zu akzeptieren und sofort die praktischen Fragen der Gestaltung inklusiven Fremdsprachenunterrichts zu bearbeiten, bedarf es einer nüchternen Erörterung der bestehenden grundsätzlichen Widersprüche. Denn diese Widersprüche, etwa bei der individuellen Förderung aller, bei der Leistungsfeststellung, bei den Zielen schulischen Lernens in psycho-sozialer und kognitiver Hinsicht bestimmen letztlich das praktische Unterrichtshandeln der Lehrkräfte. In der Lehrerbildung muss man Antworten auf die aufgeworfenen Fragen parat haben, wenn man Lehrkräften dabei helfen will, die nun noch komplexer gewordene Unterrichtssituation gut zu bewältigen. 2 Englischunterricht für alle und individuelle Förderung Seit es „Englischunterricht für alle“ gibt, nämlich seit der Umsetzung des Hamburger Abkommens von 1964, hat sich die Englischdidaktik mit der Frage der Differenzierung im Englischunterricht befassen müssen, da in den Hauptschulen der 1960er bis 1990er Jahre ein erheblicher Anteil eines Schüler-Jahrgangs zu finden war, wodurch zwangsläufig große Heterogenität in der Schülerschaft jeder Klasse herrschte: Im Jahr 1965 besuchten 66% aller Schüler eines Jahrgangs die Hauptschule, 1975 waren es 47% und 1985 noch 38% - in jedem Fall waren dies mehr Kinder und Jugendliche als diejenigen, die an Realschulen oder Gymnasien waren. Erst im Jahr 1995 übertraf der Anteil der Gymnasiasten in der Bundesrepublik mit 31% den der Hauptschüler (25%), wobei die Situation in einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich war. Folglich findet man in den englischdidaktischen Veröffentlichungen der drei Jahrzehnte nach dem Hamburger Abkommen durchaus Ausführungen etwa zu Fragen der Differenzierung, der Variation von Übungen und Ermöglichung von Zugängen zu fremdsprachigen Texten. Seit gut zwanzig Jahren hat die englischdidaktische Forschung jedoch die Ziel- Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen … 117 gruppe der Hauptschüler_innen fast völlig aus dem Blick verloren. Dabei ist gerade heute durch Zuwanderung und Flüchtlingsbewegung die Heterogenität dieser Schülerschaft noch wesentlich größer als in den 1980er Jahren; der Ausländeranteil an den Hauptschulen liegt heute bei 21%, was den höchsten Satz für alle Regelschulen darstellt. Wenn man die Einführungs- und Handbuchliteratur konsultiert, so spielen die Stichworte Inklusion, Diversität oder Heterogenität in den älteren Werken kaum eine Rolle; oftmals sind sie nicht als separate Einträge vertreten, sondern werden nur beiläufig in anderen Kontexten erwähnt (Ausnahme: Hoffmann 2010). Erst neuere Publikationen greifen die Thematik auf, so die Einführung in die Englischdidaktik von Grimm/ Meyer/ Volkmann (2015), der Band zur Inklusion von Bongartz/ Rohde (2015) oder internationale Veröffentlichungen (Kormos/ Kontra 2008; Kormos/ Smith 2012). Als relevante Aspekte für die Unterrichtsgestaltung im inklusiven Fremdsprachenunterricht werden übereinstimmend individualisierte Lernzugänge, holistische Lernverfahren, differenzierte Arbeitsaufträge und -materialien sowie unterschiedliche Arten von Hilfestellungen (scaffolding) genannt. Diese allgemeinen Hinweise können jedoch nur eine erste Orientierung bieten. Bereits die Schaffung individualisierter Lernzugänge gelingt nur auf der Basis eines detaillierten Wissens zu den individuellen Voraussetzungen und Förderbedarfen sowie breiter unterrichtsmethodischer Kenntnisse. Wenn man sieht, welches Detailwissen man bereits haben muss, um Lernende mit Legasthenie im Fremdsprachenunterricht angemessen zu fördern (vgl. Engelen 2016, 243-249), dann wird deutlich, welche großen Anforderungen auf Lehrkräfte zukommen, die Schülerinnen oder Schüler mit unterschiedlichem individuellem Förderbedarf in ihrer Klasse haben. So mag eine Englischlehrerin in ihrer Klasse von 25 Schülern vielleicht einen Legastheniker, zwei verhaltensauffällige Schülerinnen, drei ADHS-Kinder, vier Kinder mit noch schwachen Deutschkenntnissen und einen hochbegabten Schüler vorfinden. Und auch die übrigen Schülerinnen und Schüler haben jeweils durchaus eigene Lernzugänge, weil sie unterschiedliche Lernstile besitzen, unterschiedlich stark motiviert und durch den familiären Hintergrund unterschiedlich stark gefördert oder belastet sind. Angesichts der von jeder Lehrkraft zu unterrichtenden Wochenstunden im Fach, der Zahl der jeweils betreuten Klassen und der Tatsache, dass Fremdsprachenlehrer ja auch noch mindestens ein weiteres Fach unterrichten (in der Mittelschule und Grundschule sogar mehrere), erscheint bereits die Forderung, dass Lehrkräfte allen Lernenden den ihnen angemessenen individuellen Lernzugang zu jedem neuen Thema des Fremdsprachenunterrichts eröffnen sollen, nicht realisierbar. Für jede der anderen im vorigen Abschnitt genannten allgemeinen Empfehlungen gilt dies ähnlich. Friederike Klippel 118 Ich halte es daher für wichtig, dass die Fremdsprachendidaktik die Realität und das Realisierbare nicht aus dem Blick verliert. Unterricht muss zuerst einmal so organisiert werden, dass Lernen überhaupt stattfinden kann. Ein gutes classroom management ist dazu unabdingbare Voraussetzung. Unter den Bedingungen der Inklusion wird es jedoch noch schwieriger, eine ruhige Arbeitsatmosphäre zu etablieren, in der alle möglichst intensiv und lange an fachbezogenen Lernaufgaben arbeiten. Auf diese Herausforderungen müssen Sprachlehrkräfte im Studium und in Fortbildungen so gut wie möglich vorbereitet werden. 3 Lehrerqualifikationen und Lehrerbildung Es ist offensichtlich, dass Lehrkräfte über eine ausgeprägte Diagnosefähigkeit auf der Basis von sonderpädagogischem und psychologischem Spezialwissen, ein breites unterrichtsmethodisches Repertoire und differenzierte Kenntnisse zu Lehr-/ Lernmedien und Übungsmaterialien in ihrem Sprachenfach verfügen müssen, um gut differenzieren und alle Lernenden gezielt unterstützen zu können. Diese zusätzlichen Herausforderungen, die auf Sprachenlehrkräfte im Zuge der Inklusion in allen Schularten zukommen, sind im Einzelnen noch längst nicht konkret umrissen, geschweige denn in Ausbildungsgänge und Fortbildungskurse integriert. Insbesondere die breite unterrichtsmethodische Ausbildung und die theoretisch fundierte Analyse von Lehr-/ Lernmaterialien scheinen mir gegenwärtig keine Schwerpunkte in der Fremdsprachenlehrerausbildung darzustellen. Erstere ist kein Thema aktueller Forschung man überlässt sie in der Lehrerbildung oft den Zufällen der unterrichtspraktischen Studienanteile und somit den meist nicht dafür ausgebildeten Mentor_innen oder Betreuungslehrkräften sowie wenigen (oft für den internationalen Markt produzierten) Handbüchern; letztere ist im wissenschaftlichen Schrifttum ebenfalls fast völlig verschwunden, während die Verlage mit großem Aufwand ihre Produkte bei nationalen, regionalen und örtlichen Veranstaltungen affirmativ vermarkten. Was das sonderpädagogische Wissen betrifft, so spielen diese Inhalte bislang in der Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften (fast) gar keine Rolle, wenngleich an einzelnen Standorten dementsprechende Initiativen durchaus gegeben sein können. Wenn Konsens darüber besteht, dass die individuelle Förderung ein wichtiges Ziel der schulischen Bildung ist, dann muss sie alle Schülerinnen und Schüler betreffen, die leistungsschwachen ebenso wie die hochbegabten, die angepassten wie die verhaltensauffälligen, die langsamen wie die fixen Lerner. Dazu benötigt man Rahmenbedingungen, die eine individuelle Förderung ermöglichen. Das heißt: zum ersten braucht es Lehrkräfte, die diese Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen … 119 Aufgaben professionell meistern können (Lehrerqualifikation), zum zweiten - und das scheint mir genauso wichtig - braucht man dafür Zeit: • Zeit für eine breite Lehrerbildung und Lehrerfortbildung, die Aspekte wie Heterogenität und Inklusion breit berücksichtigt  Verlängerung des Studiums durch inklusionsaffine Anteile und verpflichtende Lehrerfortbildungen • Zeit für eine sinnvolle Vorbereitung im Referendariat (ohne Zeitkürzung durch Praxissemester) unter gezielter Weiterbildung der Ausbilder und Betreuungslehrkräfte  besonderer Schwerpunkt im weiterhin zweijährigen zweiten Ausbildungsabschnitt • Zeit im Unterricht für differenzierendes Arbeiten und ausgiebiges Üben  also mehr Wochenstunden für die Sprachen als die drei oder bestenfalls vier, die heute in der Sekundarstufe üblich sind • Zeit für die gesamte Schullaufbahn der Schülerinnen und Schüler  demnach doch insgesamt 13 Jahre bis zum Abitur oder fünf Jahre in der Grundschule • Zeit für einzelne Schüler_innen im Unterricht  also Team-Teaching und Schulassistenten in jeder Klasse • Zeit für die Erstellung der differenzierenden Materialien und Aufgaben im Team oder für jede/ n Einzelne/ n  Anrechnung solcher Arbeiten auf die Unterrichtszeit der Lehrkräfte. Zeit muss auch dadurch geschaffen werden, dass man Klassengrößen wieder reduziert (sie waren ja schon mal viel niedriger) und einen gewissen Anteil der Lehrerarbeitsstunden als Vorbereitungsstunden deklariert. Zum dritten braucht es ein Umdenken im Bildungswesen generell: Wenn wir Einzelne optimal fördern wollen, dann sind allgemein anzuwendende und zu testende Normen oder Standards in den Unterrichtsfächern, die auf die Noten durchschlagen, bestenfalls als Mindestanforderungen zu rechtfertigen. Vielmehr ist mehr Vertrauen in und Freiheit für einzelne Schulen und Kollegien und deren lokal entwickelte Konzepte nötig, um tatsächlich den besten Unterricht für die jeweilige örtliche Situation zu schaffen. Alles das ist nicht zum Nulltarif zu haben. Inklusion, die das Wohl aller Kinder und Jugendlichen im Blick hat, erfordert erhebliche Investitionen. Davon betroffen sind auch die Unterstützungssysteme. 4 Teacher‘s little helpers Die Erfahrungen mit sonderpädagogischen Fachkräften im Unterricht der Regelschule, von denen etwa Grundschullehrkräfte berichten, für die Inklu- Friederike Klippel 120 sion bereits Alltag darstellt, sind sehr unterschiedlich. Die vielfach anzutreffende wöchentliche Unterstützung im Umfang von sehr wenigen Unterrichtsstunden bei gleichzeitiger Beibehaltung der hohen Klassenfrequenzen und Lehrerarbeitsstunden kann nicht mehr sein als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Diese Unterstützung realisiert sich zumeist in der punktuellen Betreuung derjenigen Schüler_innen mit Förderbedarf, die Schwierigkeiten haben, dem Unterrichtstempo zu folgen oder besonderer Darbietungsformen bedürfen, etwa bei Hör- oder Sehbehinderung. In der Regel sind Sonderpädagog_innen auf einen ganz bestimmten Bereich spezialisiert. Eine zunehmende Inklusion führt jedoch Kinder und Jugendlich mit ganz speziellen und möglicherweise auch sehr unterschiedlichen Förderbedürfnissen in einer Schulklasse zusammen, die in individuellen körperlichen (z.B. Hörschädigung), kognitiven (z.B. Dyslexia) oder sozialen (z.B. Verhaltensauffälligkeit) Voraussetzungen begründet sein können. Zudem haben Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Qualifikation nur in seltenen Fällen eine (Zusatz-) Ausbildung in einem Fremdsprachenfach. Daher ist es sicherlich in der Regel Aufgabe der Fremdsprachenlehrkraft, die entsprechenden Übungsmaterialien für die Einzelförderung zu entwickeln, deren Einsatz zu erklären und die Zusatzlehrkraft einzuweisen. Dazu bedarf es aber spezieller Kenntnisse zu den jeweils erforderlichen Unterstützungsformen. Zugleich muss die Englischlehrkraft solche individuellen Übungsphasen mit externer Unterstützung für einzelne in den Gesamtplan der Stunde oder Unterrichtseinheit integrieren, damit die Einzelförderung nicht zu Lernausfällen bei den Geförderten führt. Wer jemals Fremdsprachenunterricht in Primar- oder Sekundarstufenklassen mit mehr als 25 Schülerinnen und Schülern erteilt hat, weiß, wie schwer es ohnehin schon ist, binnendifferenzierende Maßnahmen sinnvoll durchzuführen. Denn selbst wenn man seine Lerngruppe genau kennt und individuelle Lernhemmnisse oder Lernstärken in die Planung von Aufgaben einbeziehen kann, ist jede Vorbereitung einer Differenzierung von Aufgaben für den Unterricht etwa in der Breite des Aufgabenziels, in der Festlegung unterschiedlicher Bearbeitungszeiten, in der Bereitstellung angepasster Unterstützungen durch mehr oder andersartigen Input und die Planung eventueller Zusatzaufgaben bereits ein erheblicher Mehraufwand gegenüber der Planung einer nicht binnendifferenzierten Stunde. Doch damit ist es ja nicht getan. Im Unterricht selbst muss die Lehrkraft quasi parallel individuell differenzierend erklären, helfen, Feedback geben, bewerten - und dabei den Überblick behalten. Sicherlich sind in einer heterogenen Klasse auch Mitschüler_innen in der Lage, schwächeren Lernenden zu helfen im Sinne von peer teaching. Es erscheint mir jedoch gerade den schnelleren Lernern gegenüber ungerecht, wenn man sie von Anfang an als „Hilfslehrer“ einpla- Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen … 121 nen muss, denn auch sie haben ja individuelle Förderung gemäß ihrer Stärken und Interessen verdient. Für die Lehrkräfte steigen Aufgabenspektrum und Anforderungen mit fortschreitender Heterogenität der Schülerschaft an einzelnen Schulformen. Das muss sich in der Fremdsprachenlehrerbildung niederschlagen. Schon lange wird gefordert, dass man der Ausbildung einer Diagnosefähigkeit auf Seiten der Lehrkräfte mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Das scheint mir allerdings eher eine wichtige Aufgabe für die Fortbildung zu sein, da eine gewisse Praxiserfahrung als Grundlage wünschenswert ist. Im Studium sollte wieder mehr Augenmerk auf die Breite des methodischen Rüstzeugs der Lehrkräfte gelegt werden. Nur wer viele Verfahren in ihren methodischdidaktischen Einsatzmöglichkeiten kennt, um unterschiedliche Lernziele zu erreichen, kann vernünftig differenzieren. Auch scheint es mir erforderlich, sich bereits im Studium mit Medien- und Materialanalyse zu beschäftigen, um den Blick dafür zu öffnen, welche Ziele man womit am besten fördern kann. Diese Hinwendung zur Methodik sollte nicht als Plädoyer für eine imitative, rein handwerkliche Einübung in Verfahren verstanden werden, sondern vielmehr als eine Hinführung zu method awareness, d.h. zum theoretisch fundierten, bewussten und kritisch-analytischen Verständnis dessen, wie im Unterricht die ohnehin knappe Zeit in individueller Passung am sinnvollsten zu nutzen ist. Liest man die Fachliteratur zum Englischunterricht aus dem Bereich der Sonderpädagogik (z.B. Kutscher 2003 zum Förderschwerpunkt Lernen) oder der Dyslexie (z.B. Engelen 2016), dann ergibt sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten zu aktuellen unterrichtspraktischen Leitlinien, etwa im Hinblick auf Handlungsorientierung, Primat des Mündlichen, Stärkung der Motivation etc. Jedoch scheint es notwendig, je nach individuellem Förderbedarf, so etwa im Hinblick auf Legasthenie oder Lernschwäche, kleinschrittigeres Darbieten, systematisches und häufiges Üben oder individuelle Rückmeldungen und ggf. Anpassungen bei der Leistungsmessung in Betracht zu ziehen. Inwieweit letzteres in einem immer stärker standardbasiertem Schulsystem möglich sein wird, bleibt jedoch unklar. 5 Forschungs- und Entwicklungsbedarf Wenn wir Inklusion realisieren und die individuelle Förderung einer heterogenen Schülerschaft im Sprachenunterricht ernst nehmen wollen, dann müssen wir verstärkt mit den Sonderpädagogen und Bildungswissenschaftlern zusammenarbeiten, denn bei ihnen liegt das pädagogische Fachwissen zur Gestaltung guter Lernumgebungen für Lernende mit Förderbedarf, das mit den Erkenntnissen der Fachdidaktiken der Sprachen verknüpft werden Friederike Klippel 122 muss. Der Fremdsprachenunterricht an Sonderschulen ist eigentlich schon immer ein Stiefkind der Fremdsprachendidaktik gewesen, und es gibt nur wenig ältere Literatur zum Thema (z.B. Tentrup/ Ortner 1976, Kubanek- German 1991). Ebenso wichtig erscheint es mir, bildungspolitische Aktivitäten zu entwickeln, die darauf dringen, dass die Rahmenbedingungen in der Schule so gestaltet werden, dass Lernerfolge für alle Schülerinnen und Schüler realisierbar werden. Dass man dafür viel Zeit und viel Geld benötigt, wurde schon dargelegt. Politisch muss dann auch argumentiert werden, dass die allgemein praktizierte Leistungsmessung, die auf Selektion und Berechtigung gerichtet ist, viele Bemühungen um eine individuelle Förderung konterkariert. Diese Einsicht ist nicht neu. Nicht umsonst gibt es Reformschulen, etwa die Waldorf- oder die Montessorischulen, die sich diesem Prozess weitgehend entziehen. Eine inklusive Schulbildung sinnvoll und allen gegenüber gerecht zu gestalten, ist eine große Aufgabe. Es sollte in jedem Fall um das Wohl des Individuums gehen, um dessen bestmögliche kognitive, soziale und affektive Förderung; zuweilen mag der Besuch einer Förderschule die bessere Option sein, denn auch Inklusion sollte man nicht als Dogma ansehen. Als Ergebnis der Recherchen und Gespräche scheint es mir noch so viele offene Fragen zu geben, dass man die Sorge haben muss, schon wieder einmal steige man in einen breit angelegten Feldversuch in der Praxis ein, ehe wesentliche Grundlagen erforscht und zentrale praktische Voraussetzungen gegeben sind. Nur einiges davon kann abschließend erwähnt werden: • In den Empfehlungen zur inklusiven Bildung geht man oft davon aus, dass alle Beteiligten von dieser Art des Unterrichts profitieren. Aber ist es tatsächlich so, dass das gemeinsame Lernen in stark heterogenen Gruppen im Fremdsprachenunterricht für alle beteiligten Lernenden erfolgreicher ist als das Lernen in leistungshomogeneren Gruppen? Gibt es empirische Belege für diesen Glauben? • Sind potentielle Lerngewinne im sozial-psychologischen Bereich gegenüber eventuellen Lernverlusten im Fachlichen aufzurechnen? Wer darf solche Fragen entscheiden? • Wie verhält es sich mit den langfristigen Effekten inklusiver Bildung für alle Beteiligten? • Ab welchem Grad an Heterogenität in einer Lerngruppe wird ein gemeinsamer Unterricht wenig effektiv? • Welche Unterstützungssysteme sind für Lehrkräfte zwingend notwendig? Wie muss die Lehrerbildung strukturell, inhaltlich und zeitlich umgestaltet werden, um den neuen Anforderungen zu entsprechen? Inklusion, Heterogenität und Diversität: Herausforderungen … 123 • Wie müssen Lehrmaterialien, die ja im Fremdsprachenunterricht in den ersten Lernjahren das heimliche Curriculum und die implizite Methodik verkörpern, weiter entwickelt werden? • Wie können Lehrkräfte, Bildungswissenschaftler und Fachdidaktiker zusammenarbeiten, um gemeinsam die Herausforderungen der inklusiven Bildung in den Fächern in die Hand zu nehmen? Literatur Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2015): Inklusion im Englischunterricht. Frankfurt a.M.: Lang. Dörnyei, Zoltan (2009): The Psychology of Second Language Acquisition. Oxford: OUP. Engelen, Sophie (2016): „Zum Umgang mit Legasthenie im Fremdsprachenunterricht - Forschungsstand, theoretische Konzepte und Leitlinien für den Unterricht“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27 (2), 227-254. Grimm, Nancy/ Meyer, Michael/ Volkmann, Laurenz (2015): Teaching English. Tübingen: Narr. Hallet, Wolfgang/ Königs, Frank G. (Hrsg.) 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Grundsätzliche Überlegungen zur curricularen Situation und Plädoyer für einen fremdsprachlichen Unterrichtsversuch“. In: Sonderpädagogik 6, 49-65. Wie exklusiv ist Inklusion im Fremdsprachenunterricht? Wie homogen ist Heterogenität? Wie weit darf Diversität im Fremdsprachenunterricht gehen? Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung Frank G. Königs 1 Die Relevanzfrage Ich beginne mit einer Anekdote, die sich an einer deutschen Schule tatsächlich so zugetragen hat: Ein junger Lehrer erhält nach erfolgreichem Zweiten Staatsexamen seine erste Festanstellung. Wenige Tage nach Dienstantritt wird er zum Schulleiter gerufen: „Wir machen jetzt Inklusion. Sie sind der jüngste Lehrer hier. Gucken Sie mal, wie das geht und wie wir das umsetzen können.“ Der junge Kollege fühlt sich völlig unvorbereitet und beginnt einen Streifzug durch unterschiedliche Schulen, auf dem ihm Inklusion in den unterschiedlichsten Varianten begegnet - angefangen von Unterricht wie bisher bis zu Klassenraumgestaltungen mit Trennwänden ist so ziemlich alles vertreten. Erst im Laufe der Zeit geht seinem Schulleiter auf, dass man die Frage der Umsetzung von Inklusion wohl anders angehen muss. Soweit die Anekdote. Wer sie für erfunden oder aber übetrieben hält, sei auf den Artikel von Silke Fokken (2015) in Spiegel Online verwiesen. Die Autorin berichtet darin von einer nicht unbeträchtlichen Diskrepanz zwischen politischen Zielen und Maßgaben auf der einen Seite und der schulischen bzw. unterrichtlichen Realität auf der anderen Seite. Dabei betrifft die Skepsis gegenüber der Realisierung von Inklusion sowohl die Schulseite als auch die Schülerinnen und Schüler als auch die Elternseite, und bei den Eltern sind Vorbehalte gegenüber einer allzu pauschalen Inklusion sowohl auf Seiten derjenigen zu finden, deren Kinder keinen Förderbedarf haben, als auch auf der Seite derjenigen, deren Kinder eigentlich einen großen Förderbedarf haben (müssten). Wie es scheint, steht dem einmütig klingenden bildungs- und gesellschaftspolitischen Ruf nach Inklusion eine Wirklichkeit gegenüber, die bei weitem differenzierter und komplexer ist, als es die häufig moralisch aufgeladene Verkündigung bildungspolitischer Zielsetzungen vermuten lässt. Es scheint also geboten, etwas genauer hinzusehen, wenn es Frank G. Königs 126 um Fragen der Inklusion, der Heterogenität und der Diversität geht. Und dieses genauere Hinsehen beginnt - wie so oft - bei den Begriffen. Was ist eigentlich mit ‚Inklusion‘, mit ‚Heterogenität‘ und mit ‚Diversität‘ gemeint? Auf den ersten Blick scheint es sich um Konzepte zu handeln, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Während ‚Inklusion’ darauf abzielte, Lernergruppen in den schulischen Unterricht zu inkludieren, die traditionell diesem Unterricht nicht zugeführt wurden, weil ihre körperlichen oder geistigen Entwicklungen dem entgegenstanden, kehrt der Begriff der Heterogenität die Beweiskette sozusagen um: Es gilt als der Normalfall, dass Lernende nicht dieselben Grundlagen und Voraussetzungen zum erfolgreichen Durchlaufen der Schule mitbringen, und das System ‚Schule‘ muss es hinbekommen, auf diese unterschiedlichen Voraussetzungen einzugehen, Rücksicht zu nehmen und die betreffenden Schüler(gruppen) gleichwohl möglichst weitgehend fördern und ihnen die höchstmöglichen Abschlüsse grundsätzlich in Aussicht stellen. Dabei bedingt Heterogenität gleichzeitig Diversität und Differenzierung, denn die breit gestreute Vielfalt an Schülerprofilen erfordert bedarfs- und bedürfnisgerechte Alternativen und Unterrichtszuweisungen. Damit wird der Begriff der ‚Differenzierung‘ ein Stück weit von seinem ursprünglich stärker auf Sozialformen zielenden Organisationszusammenhang herausgelöst und führt damit eher als bisher zu Konzepten, in denen der traditionelle Klassenverband als weniger starr und bindend angesehen wird. Heterogenität wird hierbei als der Normalfall in schulischen Populationen angesehen (vgl. Altrichter/ Hauser 2007, 6), die sich stärker dadurch auszeichnen, dass eine breite Palette unterschiedlicher individueller (Lern-)Voraussetzungen nicht durch starre Gruppenzuweisungen vermeintlich homogenisiert werden darf. Die möglicherweise größte konzeptuelle Ausweitung hat der Begriff der Inklusion erfahren. Galt er zunächst der Integration von behinderten Personen z.B. in den Schulunterricht, so traten mit der Zeit andere Abweichungen von der Normalverteilung als Inklusionskriterium hinzu, wie z.B. psychische Störungen bei verhaltensauffälligen Schülern (wie z.B. AD[H]S) oder aber auch das Vorhandensein anderer Muttersprachen und die Zugehörigkeit zu anderen Lernkulturen und Wertegemeinschaften. Die Schaffung eines solchermaßen weiten Inklusionsbegriffs, der über die kategoriale Betonung von Differenz und Förderbedarf hinausgeht, hat aus meiner Sicht zwei Konseqenzen gehabt, die wahrscheinlich nicht gleichermaßen beabsichtigt gewesen sind: Zum einen ist Inklusion damit in aller Munde und von der Schul- und Bildungspolitik als selbstverständliches gesellschaftlich ebenso notwendiges wie anerkanntes Ziel propagiert worden. Inklusion wird folglich als Vorgabe betrachtet, die nicht weiter hinterfragt wird. Böse Zungen behaupten, dass wir so etwas Ähnliches gerade erst bei der Kompetenzorien- Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung 127 tierung erlebt haben. Zum zweiten verliert der Inklusionsbegriff die bislang klare(re)n Konturen, weil der Eindruck entsteht (zumindest entstehen kann), dass alle Abweichungen vom angenommenen Normalfall eine Inklusion notwendig machen. Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, dann wird die Debatte über Inklusion, Heterogenität und Diversität vor allem aus erziehungswissenschaftlicher bzw. schulpädagogischer Sicht geführt; Gerlach (2015, 126) verortet sie insbesondere in den „(kritisch-)konstruktivistischen Konzeptionen“, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Diskussion etliche fachdidaktische Prinzipien aufnimmt bzw. aufweist. Mir scheinen die Berührungspunkte mit der Fremdsprachendidaktik besonders im Zusammenhang mit dem Heterogenitätsgedanken nachvollziehbar. Erinnert sei an die fremdsprachendidaktische Lernerorientierung, die sich um den Nachweis bemüht, dass fremdsprachliche Lernvorgänge - zumindest nicht in toto - nicht wirklich generalisierbar sind und daher unterrichtliche Konzepte nötig machen, die auf die Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse des Einzelnen eingehen. Bedenken sollte man dabei allerdings, dass diese Position ihr Entstehen der Annahme verdankt, dass die Mitglieder einer Lerngruppe über vergleichbare Merkmale verfügen, aus denen die Zuweisung zu dieser Lerngruppe resultiert: Lernerorientierung geht damit also von einer gewissen Homogenität aus, die für die Lerngruppe konstitutiv war oder ist. Gleichsam vom entgegengesetzten Ende her betrachtet die erziehungswissenschaftliche bzw. schulpädagogische Diskussion Heterogenität als das mögliche Zusammentreffen größtmöglicher Unterschiede bei den Lernvoraussetzungen und -bedingungen innerhalb einer Lerngruppe und sucht vor diesem Hintergrund nach den Gemeinsamkeiten, die einen erfolgreichen unterrichtlich gesteuerten oder begleiteten Lernprozess möglich machen. 2 Aktuelle Tendenzen Es ist unzweifelhaft, dass die Diskussion um Inklusion, Heterogenität und Diversität die Fremdsprachendidaktik deutlich später erreicht hat als die genannten erziehungswissenschaftlichen Forschungsrichtungen. Gleichwohl ist festzustellen, dass die Zahl der Publikationen, die sich mit diesen Konzepten aus der Sicht des fremdsprachenunterrichtlichen Lernens und der Fremdsprachendidaktik befassen, ebenfalls deutlich gestiegen ist. Ablesbar ist dies an Sammelbänden jüngeren Datums (z.B. Bartosch/ Rohde 2014; Michalak/ Rybarczyk 2015; Bongartz/ Rohde 2015), an vereinzelten Monographien wie z.B. Schlaak (2015) oder Brize (2016) oder an zahlreichen Aufsätzen, die - das sei hier nicht als Kritik verstanden - häufig aus der Schilderung erlebter Praxis bestehen (vgl. z.B. Frank 2016; Frigerio Sayilir 2011; Frank G. Königs 128 Mendez 2012 oder Schneider 2013). Gleichwohl wird durchaus kritisch eingeschätzt, dass sich die Fremdsprachendidaktik konzeptuell und systematisch nicht intensiver mit Fragen der Inklusion und der Heterogenität auseinandergesetzt hat: Die politische Brisanz von Heterogenität und Inklusion, die zwingende und dringliche Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung in der Lehrerbildung und zahlreiche, vor allem erziehungswissenschaftliche Publikationen [...] lassen es jedoch erforderlich erscheinen, dass auch die Fremdsprachendidaktik hierzu klarer Stellung bezieht und die Themen Heterogenität und Inklusion offensiver im fremdsprachendidaktischen Kontext diskutiert werden. (Küchler/ Roters 2014, 236) Der Appell scheint gerechtfertigt und ist durchaus nachvollziehbar, fordert er doch ein, dass sich auch die Fremdsprachendidaktik der allgemeinen und in erheblichem Umfang auch öffentlich geführten Diskussion nicht entzieht. Allerdings verzichtet er auf die im schulischen Alltag notwendige Präzisierung. Es dürfte nicht nur schwierig, sondern auch unangemessen sein, alle Adressaten von Inklusionsmaßnahmen über einen Kamm zu scheren und damit einer allgemeinen, unbestimmten Heterogenität und Diversität das Wort zu reden. Sehen wir uns dazu konkrete Beispiele an: In dem oben zitierten - und aus meiner Sicht sehr lesenwerten - Beitrag von Küchler/ Roters findet sich u.a. die ausdrücklich als nicht vollständig deklarierte Liste von Empfehlungen für eine Lehrkraft in einem inklusiven Fremdsprachenunterricht (2014, 241): Sie sollte u.a. • zusammen mit den Schülerinnen und Schülern Rituale entwickeln (am Stundenbeginn, vereinbarte Handzeichen, emotion cards, Figuren etc.) • sprachliche Warm-Ups ritualisieren (...) • sinnvolle Methodenwechsel einbauen • kooperative Lernformate einsetzen (...) • besonders deutlich sprechen, so dass Lippenlesen möglich ist • eine expressive Körpersprache zeigen • das Tafelbild in Kopie und ggf. in größerer Schrift bereithalten • differenzierende und in ihrem Anforderungsgrad alternierende Aufgaben bereithalten; zusätzlich Hilfekärtchen, Helfersystem, Lernpatenschaften, Fördermaterial und Lösungen zur Selbstkontrolle Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung 129 • möglichst häufig Visualisierungen einsetzen, wenn möglich auch akustisches Arbeitsmaterial (zur Transparenz von Abläufen oder sprachlichen Mitteln) Diese Liste offenbart aus meiner Sicht das Dilemma, in dem sich - auch - die Diskussion um eine inklusive Fremdsprachendidaktik befindet: Auf der einen Seite wird man diesen Maßnahmen nur zustimmen können, sind sie doch ‚typisch‘ für einen guten Unterricht; man wird an diesen Maßnahmen - zumindest an einigen von ihnen - wenig Spezifisches für einen inklusiven (Fremdsprachen-)Unterricht finden. Auf der anderen Seite wird an dieser Liste aber auch deutlich, dass durch das hier als wünschenswert beschriebene Lehr(er)verhalten nicht alle Adressaten eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts gleichermaßen erreicht werden. Gerade in einem weiten Inklusionsbegriff finden sich z.B. blinde sowie sehbehinderte und damit eingeschränkt sehfähige Lerner ebenso wieder wie verhaltensauffällige Schüler oder solche mit einer anderen Muttersprache als der Bildungs- und Umgebungssprache, Lerner mit Hörproblemen oder solche, die in ihrer Bewegung eingeschränkt sind oder ... oder ... Es dürfte also schwer bis unmöglich sein, von dem inklusiven Fremdsprachenunterricht zu sprechen. Vielmehr scheint es mir notwendig zu sein, genau zu benennen, um welche Adressatengruppe es sich handelt. Dies vereindeutigt nicht nur die inhaltlichen Begründungen und Zusammenhänge der Argumentation, sondern löst angestrebte oder beschriebene Fördermaßnahmen auch aus der Gefahr, durch mangelnde Präzision und fehlende inhaltliche Verbindlichkeit diffus zu erscheinen. So wichtig allgemeine Voten für Inklusion aus (bildungs-) politischer Sicht sein mögen: Von präzisen Arbeiten zu einem spezifischen Inklusionsgegenstand würde die Fremdsprachendidaktik mehr profitieren. Einige dieser Arbeiten gibt es ja, und sie haben sich als durchaus anregend und für die Gesamtproblematik sensibilisierend erwiesen (vgl. z.B. Gerlach 2013; Barańska 2014). Ich sehe ansonsten die Gefahr, dass sich Diversitäts- und Heterogenitätsüberlegungen in einer allgemeinen Unverbindlichkeit verlieren - zuviel Diversität auf einmal und vor allem zu viel pauschale Diversität auf einmal schadet der Sache, schadet aber vor allem den Betroffenen. 3 Der Forschungsaspekt Die empirische Forschung zum inklusiven Fremdsprachenunterricht hat zweifelsfrei einen großen Nachholbedarf. Anders als bei den meisten Themen der Fremdsprachendidaktik haben Forschungen und empirische Belege zum inklusiven Fremdsprachenunterricht beinahe immer auch eine Implikation für die Schulentwicklung und die Bildungs- und Schulpolitik, und sie Frank G. Königs 130 sind noch enger als sonst üblich auch an Erkenntnisse der Schulpädagogik, der Erziehungswissenschaft und der Psychologie angelehnt bzw. für die dortigen Forschungen von Belang. Die Forderung nach einem Mehr an empirischer Forschung zum inklusiven Fremdsprachenunterricht beinhaltet mehrere Desiderate, die es zu bedenken gilt: Zum einen müssen derartige Forschungen - durchaus im Sinne einer lernerorientierten Fremdsprachendidaktik - das lernende Subjekt im Mittelpunkt haben. Sie müssen also Antwort auf die Frage geben können, ob und wie sich fremdsprachliches Lernen in einem inklusiven Fremdsprachenunterricht vollzieht und welche methodischen und didaktischen Schritte dieses Lernen fördern oder ggf. auch beeinträchtigen. Gleichzeitig aber müssen diese Forschungen auch besondere forschungsethische Standards wahren; Untersuchungspopulationen, in denen Lerner, die in irgendeiner Form beeinträchtigt sind, mit solchen verglichen werden, die nicht beeinträchtigt sind, unterliegen stärker der Gefahr der Stigmatisierung einer Lernergruppe. Folglich sollte Forschung auch immer zu erheben bemüht sein, welchen Gewinn Lerner ohne Beeinträchtigung aus dem gemeinsamen Lernen mit Lernern, die einer Beeinträchtigung unterliegen, ziehen können. Von daher ist in Zweifel zu ziehen, ob empirische Untersuchungen, in denen inklusiver Fremdsprachenunterricht mit ‚normalem‘ Fremdsprachenunterricht verglichen wird, dem Ziel einer allgemeinen Bewusstseinsbildung für das Miteinander und dem Abbau von Stigmatisierungen bestimmter Lernergruppen Rechnung tragen können. Es müsste vielmehr darauf ankommen, Lernende dafür zu interessieren, was andere mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und unter den für sie geltenden persönlichen Lern- und Lebensbedingungen beim Lernen leisten. Und dies müsste geschehen, ohne dass gegenseitiger Konkurrenzdruck den Blick für den anderen verstellt. Dies würde meiner Ansicht spezifische Interaktionsprozesse nötig machen, über deren Zustandekommen und Wirkung wir bisher wahrscheinlich zu wenig nachgedacht haben. Folglich sollten empirische Untersuchungen auch das Ziel verfolgen, einerseits allen beteiligten Personengruppen vor Augen zu führen, welchen Nutzen sie aus dem gemeinsamen Lernen, aber auch aus der Anerkennung der Differenzen ziehen können. Andererseits sollte aus ihnen auch der Mut erwachsen, Grenzen der Inklusion zu erkennen, zu benennen und den bestmöglichen Nutzen für alle daraus abzuleiten. Wahrlich kein geringer Anspruch an die Forschung! Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung 131 4 Die Herausforderungen Überhaupt stellt die Forderung nach Inklusion beträchtliche Herausforderungen an viele Akteure dar. Es scheint mir angemessen und notwendig, diese Herausforderungen zu benennen, um ihnen dann angemessen(er) zu begegnen. Dabei gilt, dass sich diese Herausforderungen gegenseitig bedingen bzw. beeinflussen. Wenn sie im Folgenden in einer Abfolge dargestellt werden, so dient das lediglich der besseren Lesbarkeit; es sollte im Blick behalten werden, dass sie miteinander eng verwoben sind. Wer Inklusion in der Schule allgemein und im Fremdsprachenunterricht im Besonderen fördern will, muss bei der Lehrerbildung ansetzen, und zwar sowohl in der grundständigen Ausbildung als auch in der institutionalisierten Fort- und Weiterbildung. Die curriculare Einbindung von Inklusionsmodulen in die Lehrerbildung wäre überfordert, wollte sie alle Gruppen von benachteiligten Schülerinnen und Schülern gleichermaßen in die Tiefe gehend erfassen und zum Gegenstand der Ausbildung machen. Hier scheint es mir angemessen, auf der Grundlage allgemeiner inklusionsbezogener Inhalte über anschließende Spezialisierungen in den einzelnen Ausbildungsstandorten nachzudenken. Auf den ersten Blick mag es ideal erscheinen, wenn jeder Ausbildungsstandort Angebote für die Förderung aller Gruppen von beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern vorhalten könnte. Realistisch ist dies indes nicht; es wäre schon viel gewonnen, wenn sich benachbarte Standorte in ihrem Angebot absprechen könnten, und dies auch unter ausdrücklicher Einbeziehung sonderpädagogischer Fachkräfte. Hier wäre es auch Aufgabe der Ersten Phase der Lehrerbildung, mögliche Vorbehalte auf seiten der angehenden Lehrpersonen aufzuarbeiten. Erinnert sei z.B. an die Ergebnisse der kleinen, nicht repräsentativen, aber gleichwohl aufschlussreichen Studie von Gerlach (2015), derzufolge Gymnasiallehrkräfte sich in besonderem Maße durch Inklusionsmaßnahmen überfordert fühlen. Hier müsste in besonderem Maße erreicht werden, dass seitens der Lehrkräfte eine Offenheit gegenüber anderen Förderspezialisten und Sonderpädagogen entsteht. Man kann aus dem genannten Befund den Schluss ziehen, dass Gymnasien mehr als andere Schulformen als inklusionsfreier Raum angesehen werden - fast möchte man sagen: PISA lässt grüßen! Dem gilt es entgegenzuwirken. Sollen Inklusionsbemühungen erfolgreich sein, müssen alle Lernenden von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt sein. Das wird vor allem dann zu erreichen sein, wenn allen Lerngruppen vermittelt wird, welche Werte, Kompetenzen und Zielsetzungen sich mit dem inklusiven Fremdsprachenunterricht verbinden. Gleichzeitig sollten Lerner mit Beeinträchtigungen zu schätzen lernen, wenn sich die Gesamtheit einer Lerngruppe dem gemeinsamen Lernen verpflichtet fühlt und inhaltliches Lernen dem sozialen Lernen nach- Frank G. Königs 132 ordnet. Hier gilt für alle Lernenden, dass sie lernen müssen, das Streben nach maximalem Erkenntnisgewinn und die Rücksicht auf die gesamte Lerngruppe für sich persönlich zu koordinieren. Es bedeutet also z.B. nicht automatisch Ausgrenzung, wenn nichtsehbehinderte Fremdsprachenlerner anlässlich eines Auslandsbesuchs für eine kleine Weile besonders visuellen Eindrücken (künstlerischer oder architektonischer Art) folgen, während die sehbehinderten oder gar blinden Mitglieder der Lerngruppe diesen Zugang nicht zur Verfügung haben. Inklusiver (Fremdsprachen-)Unterricht bedeutet von daher auch immer, die Beschränkung des eigenen Zugangs zum Lerngegenstand, aber auch die Beschränkung des Zugangs der anderen dazu wahrzunehmen und anzuerkennen. Dass Lernende diese Form der Toleranz entwickeln, setzt geduldiges und beständiges Vorleben dieser unterschiedlichen Sichtweisen voraus. Zweifelsfrei notwendig ist dazu auch die Unterstützung der Eltern. Gerade im Zeitalter der Helikopter-Eltern setzt Inklusion den elternseitigen Abschied von der Konzentration auf reine Wissens- und quantitativ erfassbare Faktenvermittlung als alleinigem Gradmesser für schulischen Erfolg voraus. Wenn die oben geschilderten lernerseitigen Bewusstseinsbildungen intendiert sind, werden diese nicht ohne Unterstützung durch die Eltern zu erreichen sein. Wenn ich das recht überblicke, sind Schulen bislang nicht so sehr durch differenzierte Inklusionsbemühungen für eine bestimmte Gruppe hervorgetreten, sondern häufiger durch ‚Alles-oder-nichts-Positionen‘. Wäre es nicht denkbar, dass Schulen sich je nach eigenen Profil und eigenen Möglichkeiten, aber auch nach Absprache mit benachbarten Schulen der Umgebung darauf verständigen, welche Inklusionsbemühungen sie für welche Adressatengruppe besonders in den Blick nehmen wollen? Schulentwicklung bedeutet auch, durch schulspezifische Profilierungen zu erkennen zu geben, auf welchem Sektor Inklusionsbemühungen sehr weit gediehen sind und auf welchem Sektor sie weniger weit entwickelt worden sind. Mir sind systematische und personell wie curricular gut ausgestattete Inklusionsprogramme auf wenigen Gebieten lieber als pauschalisierte und pauschalisierende Inklusionspakete, die mit ein und demselben (methodischen bzw. funktionalen) Vorgehen alles inkludieren wollen. Von der Bildungspolitik ist hierbei zu erwarten, dass sie durch die entsprechenden Weichenstellungen beim Personal und bei den Lerngruppengrößen die Voraussetzungen schafft, um Inklusion überhaupt zu ermöglichen. Der flächendeckende Ruf nach Inklusion ist zum Nulltarif nicht zu haben - und er ist vielleicht auch gar nicht wünschenswert. Nun kann man mit Fug und Recht einwenden, dass die genannten Herausforderungen nicht spezifisch für inklusiven Fremdsprachenunterricht Subjektive Überlegungen zu objektiv wichtigen Fragen der Fremdsprachenforschung 133 sind. Der Einwand ist richtig. Aber die genannten Herausforderungen müssen bewältigt sein, damit inklusiver Fremdsprachenunterricht eine nachhaltige Wirkung für alle Beteiligten entfalten kann. Sind sie bewältigt, kann ich mir einen inklusiven Fremdsprachenunterricht vorstellen, der • durch entsprechende visuelle Unterstützungen sehbehinderte Lernende unterstützt, • durch entsprechende räumliche Gestaltung auch für bewegungseingeschränkte Lerner lernfördernde Bewegungsaktivitäten ermöglicht, • durch geschultes und diagnosefähiges Lehrpersonal verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler in differenzierende, aber auch gemeinschaftsfördernde fremdsprachliche Lernaktivitäten einbindet, • mit besonderes akustisch stimulierenden Aufgaben arbeitet und so auch Lernende mit Hörproblemen erreicht, • die Erfahrungen mit der Muttersprache, sofern diese eine andere ist als die Bildungssprache, aufarbeitet, in den Fremdsprachenunterricht integriert und die kontinuierliche Förderung dieser Muttersprache durch die Schule mit begleitet und unterstützt, u.a. dadurch, dass auf diese Erfahrungen immer wieder mal zurückgegriffen wird, • fremdkulturelle Erfahrungen mit der Kultur der Zielsprache auch in Beziehung setzt zu eigenen fremd- und eigenkulturellen Erfahrungen, • auch offen benennt, welche Inklusionsgruppen er im jeweiligen Schulprofil nicht bedienen kann. 5 Ein Antwortversuch auf die im Titel gestellten Fragen Ich glaube in der Tat, dass inklusiver Fremdsprachenunterricht etwas Exklusives ist, und das in zweierlei Hinsicht: Er macht höhere finanzielle Aufwendungen erforderlich (kleinere Lerngruppen, besser ausgebildetes Lehrpersonal, entsprechende räumliche Ausstattungen, systematische und kontinuierliche Kooperationen mit förderpädagogischem Lehrpersonal etc.); er sollte sich aber auch dazu bekennen, dass er nicht alle und jede Gruppe von beeinträchtigten Lernern auf einmal gleichermaßen inkludieren kann. Es scheint mir vielversprechender, sich bei den Inklusionsbemühungen zu konzentrieren und damit die Chance zur Entwicklung eines regional koordinierten Inklusionskonzeptes zu nutzen. Das heißt gleichermaßen, dass Heterogenität und Diversität auch im Fremdsprachenunterricht notwendige Prinzipien darstellen, aber gleichzeitig ihre Grenzen haben. Auch der Fremdsprachenunterricht verträgt nur ein bestimmtes Maß an Heterogenität und Diversität. Das bedeutet kein Zurück zur Annahme einer überzogenen Homogenität - sondern ein Bekenntnis dazu, dass auch Heterogenität im Unterrichtsalltag Frank G. Königs 134 zwangsläufig ihre Grenzen hat oder haben muss. Es wäre aus meiner Sicht fatal, würden Inklusionsidee und -konzept an ebenso pauschalen wie überzogenen Vorstellungen scheitern. Literatur Altrichter, Herbert/ Hauser, Bernhard. (2007): „Umgang mit Heterogenität lernen“. In: Journal für Lehrer/ innenbildung 7 (1), 4-11. 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Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache Uwe Koreik 1 Vorbemerkungen Wenn man die Fachbezeichnung „Deutsch als Fremdsprache“ eng auslegt und damit traditionell das Lehren und Lernen der deutschen Sprache im Ausland bezeichnet, kommt man angesichts des weiten thematischen Feldes „Inklusion, Heterogenität und Diversität“ und der gleichzeitig gegebenen Ländervielfalt in die Schwierigkeit, kaum konkrete und erst recht keine generellen Aussagen machen zu können. Im Datenreport „Deutsch als Fremdsprache weltweit“ (Auswärtiges Amt 2015) werden einhundertzehn Länder aufgeführt, in denen Deutsch gelernt und unterrichtet wird. Zwar lässt sich im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache eine Grenzziehung zwischen beiden Bereichen schon lange nicht mehr so einfach vornehmen, wie es idealtypisch oft gesehen wurde und teilweise auch noch wird, weil die „Globalisierung, die elektronischen Medien und die Mobilität der Menschen […] viele der klassischen Unterscheidungen ihre Eindeutigkeit verlieren [lassen]“ (Fandrych et al. 2010, 4). Auch im Ausland ist man inzwischen gelegentlich mit national und kulturell heterogenen Deutschklassen konfrontiert; an der Türkisch-Deutschen Universität“ in Istanbul werden inzwischen syrische Flüchtlinge zur Vorbereitung auf das Studium an der TDU unterrichtet. Diese „Syrer-Klassen“ sollen nach frühestens einem halben Jahr individuell je nach erreichtem Leistungsstand mit bisher rein „türkischen“ Klassen gemischt werden. An der staatlichen linguistischen Universität in Minsk gibt es einen Jahr für Jahr erhöhten Anteil an ausländischen Studierenden, die potentiell auch das Recht haben, an den erst vor wenigen Jahren eingerichteten Anfängerklassen für Deutsch teilzunehmen. Die Globalisierung bringt es mit sich, dass idealtypische (und auch bisher schon nicht immer ganz), einfache Kategorisierungen in Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache schwieriger geworden sind. Konnte Deutsch als Fremdsprache im nichtdeutschsprachigen Raum in der Vergangenheit im Gegensatz zu Deutsch als Zweitsprache von sprachlich und kulturell homogenen Lerngruppen ausgehen, so ist es auch hier inzwischen schwierig, scharfe Grenzen zu ziehen. Mehrsprachige und sprachlich Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache 137 heterogene Lerngruppen finden sich außerhalb des deutschen Sprachraums ebenso wie im deutschsprachigen Raum. (Fandrych et al. 2010, 4) Gleichwohl soll hier aber der Blick - trotz der gegebenen Problematik - auf den Bereich des Deutschen als Fremdsprache gerichtet werden, weil dieser mein vorrangiger Arbeits- und Forschungsbereich ist. Insbesondere werde ich mich dabei auf Beispiele und Erfahrungen an der Staatlichen Universität Minsk und der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul beziehen, weil ich mit der ersten eine langjährige Germanistische Institutspartnerschaft leite und bei der zweiten seit vielen Jahren am Aufbau beteiligt bin. Und bei allen darauf bezogenen Beispielen sowie Beispielen aus deutschen Auslandsschulen dürfte klar sein, dass die Welt des Deutschen als Fremdsprache erheblich vielfältiger und komplexer ist, zumal der Umgang mit Inklusion, Heterogenität und Diversität durch eine jeweils nationale Gesetzgebung und unterschiedliche Traditionen bestimmt und geprägt ist. 2 Inklusion Rudolf Stichweh hat in mehreren Publikationen seit 1998 (hier 2013) deutlich gemacht, dass das Thema „Inklusion“ und „Exklusion“ die Sozialwissenschaften schon Jahrzehnte beschäftigt. Wenn er als eine Quelle die Systemtheorie und die Namen Talcott Parons und Niklas Luhmann nennt, geht es dabei um eine Betrachtung von Inklusion und Exklusion, bei der die Form der Beteiligung und der Berücksichtigung von Personen in Sozialsystemen analysiert wird. Als „Startpunkt der expliziten Entwicklung einer Theorie der Inklusion und Exklusion“ benennt er „Talcott Parsons’ zuerst 1965 im ,Daedalus‘ erschienenen Aufsatz ,Full Citizenship for the Negro American? ‘“ womit die weitreichende politische Dimension des theoretischen Ansatzes verdeutlicht wird. Ziel, so Stichweh, war „eine analytische Perspektive […], die die Inklusion größerer Bevölkerungskreise als einen Schlüsselprozess in der Ausdifferenzierung der die Moderne prägenden Funktionssysteme auffaßte“ (Stichweh 2013, 1). Als zweite Quelle der immer noch aktuellen Diskussion führt Stichweh die Diskussion in der französischen Sozialtheorie an, die „bereits seit Durkheim den Begriff der Gesellschaft mit dem der Solidarität nahezu ineinsgesetzt“ (ebda) habe. Die Entwicklung setze sich fort durch Michel Foucault, bei dem Inklusion wie Exklusion als ein Fall sozialer Disziplinierung gesehen werde, und reiche bis zu der Ungleichheitstheorie von Pierre Bourdieu. Als dritte Quelle sieht Stichweh die britische Wohlfahrtstheorie seit Thomas Humphrey Marshall, in der „die kommunikative Berücksichtigung Uwe Koreik 138 von Personen in Sozialsystemen als Mitgliedschaft nach dem Paradigma von ,citizenship‘“ (ebda) vorgesehen sei. Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einen viel weit gefassteren Begriff von Ausgrenzung haben, als er durch die UN-Menschenrechtskonvention zu Rechten von Menschen mit Behinderungen im Dezember 2006 gegeben ist. Während in der Präambel zur „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ noch auf die „equal and inalienable rights of all members of the human family as the foundation of freedom, justice and peace in the world“ (Annex 1, Preamble, a) hingewiesen und im Folgenden in Absatz (d) auf die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte sowie auf rassische Diskrimination, die Diskrimination gegen Frauen, die Konvention gegen Folter, inhumane Behandlungen, Kinderrechte und die Konvention auf Migranten und ihre Familien eingegangen wird, verengt der Text vom 13.12.2006 logischerweise den Fokus auf Behinderte jedweder Art. Insofern ist es nur folgerichtig, dass sich die politischen Umsetzungen bei den Unterzeichnern von Afghanistan bis Zimbabwe auch ausschließlich auf mehr oder weniger geeignete oder auch mehr oder weniger intensiv betriebene Förderungen für die Situation von Behinderten beschränken. Das ist aber schon sehr viel! Das allgemeine Recht auf Bildung, welche angesichts einer eklatanten ökonomischen Ungleichheit auf der Welt dazu führt, dass große Teile der Menschheit überhaupt keinen Zugang zur Bildung haben, wird davon allerdings nicht berührt. 3 Umsetzung von Inklusionsmaßnahmen durch deutsche Mittlerorganisationen Im Zuge der Diskussion um Inklusion nach der Ratifizierung der UN-Resolution zu Behinderten haben deutsche Mittlerorganisationen Vorgaben entwickelt, die die Benachteiligung Beeinträchtigter thematisieren und für Abhilfe sorgen sollen. Auf der Homepage der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) lautet es unter dem Titel „Inklusion an deutschen Auslandsschulen“ ikonographisch verstärkt: An Deutschen Auslandsschulen (DAS) lernen seit jeher Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem kulturellem und sozialem Hintergrund. Sie sind Schulen der Vielfalt. Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache 139 Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen fordert einen barrierefreien Zugang zur Bildung für alle in einem inklusiven Schulsystem. Die DAS sind aufgefordert, einen Beitrag zur Entwicklung inklusiver Lernarrangements zu leisten, Inklusionskonzepte zu erarbeiten und Überlegungen anzustellen, wie sie mit der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler umgehen und ein entsprechendes Bildungsangebot bereitstellen können. (ZfA, Inklusion an deutschen Auslandsschulen, o.J.) Näheres hierzu wird durch das am 1.1.2014 in Kraft getretene Auslandsschulgesetz geregelt. Eine im August 2014 eingerichtete Initiative „Mitmachen: Wettbewerb Inklusion an deutschen Auslandsschulen“ soll das Bewusstsein schärfen und zu Modellprojekten führen. „Inklusiver Unterricht bedeutet: jedem Kind die individuell passende Förderung zu bieten, die es benötigt“ so Ulla Schmidt, MdB, und Schirmherrin des Wettbewerbs. „Mit dem Preis wollen wir die Bedeutung dieses politisch prioritären Themas bei den Deutschen Auslandsschulen und in der Öffentlichkeit betonen und die Umsetzung vor Ort weiter stärken“, betonte der Leiter der ZfA, Joachim Lauer. Entsprechend beeindruckend und medienwirksam sind dann auch die auf der Homepage der ZfA abgedruckten Schüleräußerungen einer Projektschule in Chile: Catalina Muñoz, Schülerin der 10. Klasse, zeigte sich von dem Projektunterricht überzeugt: „Ich denke, dass Inklusion ein wichtiges Thema ist, weil es uns daran erinnert, dass wir vor allem Menschen sind, die die gleichen Rechte haben, und Teil einer Gesellschaft sind, wo man zusammen mit den ande- Uwe Koreik 140 ren lebt.“ Elftklässler Tomás Moya ergänzt zum Projekt: „Es hat uns erlaubt, uns mit so einem wichtigen Thema auseinanderzusetzen, welches nicht nur im Erziehungssystem Deutschlands von großer Bedeutung ist, sondern seit einigen Jahren auch in Chile. Man muss aber auch erwähnen, dass man nur angefangen hat, dieses Thema wirklich zu verstehen.“ (ZfA 2016) Hierbei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei den deutschen Auslandsschulen in den meisten Fällen um Schulen handelt, die aufgrund ihrer Ausstattung und auch personellen Ressourcen, nicht zuletzt auch durch die deutsche Unterstützung, um zumeist privilegierte Schulen im jeweiligen Land handelt. Das Goethe-Institut (GI) teilt auf seiner Homepage mit, dass seine Prüfungszentren bemüht sind, „auf die besonderen Bedürfnisse von behinderten Prüfungsteilnehmenden und deren spezifischen Bedarf individuell einzugehen. Dabei kann sich der spezifische Bedarf aus einer Seh- oder Hörbehinderung ergeben oder auch motorisch bedingt sein.“ Hierfür werden unter dem Titel „Barrierefrei üben“ interaktive „für jedes Prüfungsniveau zertifizierte barrierefreie Übungssätze zur Verfügung“ gestellt und mit einer Broschüre über Hilfen informiert (Goethe Instititut 2016). Eine Recherche auf der Homepage des Goethe-Instituts unter relevanten Stichworten zeugt von einzelnen weltweiten Aktivitäten an einzelnen Standorten. In Polen war z.B. für März 2017 eine Fortbildung angekündigt, die folgende Bausteine enthält: „Möglichkeiten zur Sensibilisierung für das Thema Inklusion, Einblicke in verschiedene Förderschwerpunkte, methodisch-didaktische Umsetzung im Unterricht.“ Zudem wird in Ausstellungen das Thema politisch korrekt aufgegriffen wie in der 2016 an verschiedenen Orten Lateinamerikas gezeigten „Partys als Orte der Akzeptanz und der Inklusion, in der eine „Kultur der Toleranz“ betont wird Diskotheken als „wichtige Orte im Kampf gegen gesellschaftliche Ausgrenzung und Vorurteile gegenüber Menschen mit bestimmten sexuellen Orientierungen“ dargestellt werden (Goethe-Institut 2017). Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) sticht mit seiner Selbstdarstellung zum Thema „Inklusion, Heterogenität und Diversität“ durch die verschiedenen auf der Homepage abrufbaren Beiträge hervor. Es finden sich Beiträge wie der, in der über eine Kooperation der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und der irakischen Universität Dohuk berichtet wird, bei der es das Ziel ist, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen innerhalb des irakischen Bildungssystems umzusetzen. Die Umsetzung hat zum Ziel, dass in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen sowie in den Bildungsinstitutionen jeglicher Art die Partizipation von Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache 141 Menschen aller Altersstufen mit Behinderungen gewährleistet werden soll. Das Projekt setzt hierbei konkret bei der Verbesserung und Erweiterung der Lehrerausbildung an der Partneruniversität Dohuk an (DAAD 2016). Zunächst fällt bei einer Stichwortrecherche jedoch auf, dass der Begriff „Inklusion“ deutlich weiter gefasst ist. Zu einem Bericht über Flüchtlinge an deutschen Hochschulen heißt es: „Inklusion statt Integration ist die wichtigste Zielsetzung“ und unter dem Titel „Jeder muss Zugang zur Bildung haben“ erklärte die Generalsekretärin Rüland in einem Interview 2014, dass man beim Thema Bildungsgerechtigkeit neben „[…] Frauenförderung auch an Inklusion, lebenslanges Lernen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und so weiter denken [müsse]“ (DAAD 2014). Erst recht wird das Spektrum der Thematik deutlich, wenn man beispielsweise den Beitrag von Katrin Kempiners und Nina Lemmens zum Hochschulwesen der USA zur Kenntnis nimmt, in dem ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde gelegt wird: Die Bandbreite der Themenfelder verdeutlicht den Kern des Begriffs „Diversity“ - die Vielfalt. Dies zeigt sich an den verschiedenen Merkmalsdimensionen, die der Begriff „Diversity“ beinhaltet: So werden Gruppen und Personen nach Kultur (Ethnie/ Rasse), Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung und Religion (Weltanschauung) unterschieden. (Kempiners/ Lemmens 2016, 2) Das TestDaF-Institut als reine Prüfungseinrichtung mit seiner Zentrale in Bochum trägt seiner Verantwortung gegenüber potentiellen Testteilnehmer- Innen mit Behinderungen Rechnung, in dem recht versteckt unter der Rubrik (FAQ) unter Punkt sieben folgende Frage gestellt wird: „Ich habe eine Behinderung. Kann ich den TestDaF ablegen? “ Die Antwort ist umfassend: Ja. Informieren Sie bitte zwei Monate vor dem Prüfungstermin, spätestens bei Ihrer Anmeldung, das Testzentrum, in dem Sie den TestDaF ablegen möchten. Bei Blindheit informieren Sie das Testzentrum bitte mindestens 3 Monate vor dem Prüfungstermin. Nennen Sie Art und Grad Ihrer Behinderung und legen Sie im Testzentrum ein ärztliches Attest vor, das möglichst in deutscher oder englischer Sprache abgefasst ist. Bei einer rechtzeitigen Information des TestDaF-Instituts durch das Testzentrum kann die Prüfungsdurchführung an Ihre besonderen Bedürfnisse angepasst werden. Dies gilt zum Beispiel für Behinderungen oder Lernschwierigkeiten wie Legasthenie, Konzentrationsschwäche (ADS/ ADHS), Stottern, Dyslalie, Schwerhörigkeit, Sehbehinderung. Für blinde Teilnehmende besteht die Möglichkeit, den TestDaF in Braille (d.h. Punktschrift) oder in elektronischer Form mithilfe eines „Screenreaders“, also eines Sprachprogrammes (z.B. Jaws), zu absolvieren. Gehörlose Teilnehmende können die Prüfungsteile Mündlicher Aus- Uwe Koreik 142 druck und Hörverstehen mithilfe einer vorlesenden Person ablegen, d. h. die Hörtexte werden durch Lippenlesen erfasst. In einem Artikel von Ulrike Arras und Anika Müller vom TestDaF-Institut zu „Fairness bei der Leistungsmessung: Der TestDaF für Menschen mit Behinderung“ wird in Anlehnung an den Code of Practice der ALTE (1994, Association of Language Testers in Europe) allerdings einleitend formuliert, dass die darin enthaltenen Grundsätze der Fairness sich u.a. darauf beziehen, „dass allen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder einer Behinderung die gleichen Chancen eingeräumt werden“ (Arras/ Müller 2012, 70). Wie sollte jedoch ein zentral aus Deutschland geleitetes Testinstitut mit auswärtigen Lizenznehmern einen Einfluss darauf haben können, wenn Menschen z.B. aus religiösen Gründen unterdrückt werden und sich gar nicht erst zum Test anmelden können? 4 Inklusion, Heterogenität und Diversität und die Rolle deutscher Hochschullehrkräfte im Ausland Mit dem Blick auf das Ausland lässt sich feststellen, dass bemerkenswert viele Länder sehr schnell und nicht wenige im Anschluss die „15. Convention on the Rights of Persons with Disabilities“ unterzeichnet haben; Belarus erst am 28. September 2015 (ratifiziert am 29. November 2016), die Türkei bereits am 30. März 2007 (ratifiziert am 28. September 2009). An der staatlichen linguistischen Universität in Minsk (MGLU) lässt sich feststellen, dass trotz eines relativ modernen Gebäudes mit einem äußeren Erscheinungsbild, das sauberer und ansprechender als das mancher deutschen Universität wirkt, es dennoch mangels eines Aufzuges für eine gehbehinderte Person nahezu unmöglich ist, zu den germanistischen Veranstaltungen in den vierten Stock zu gelangen. Es gibt gelegentlich psychische Beeinträchtigungen bei Studierenden und DoktorandInnen, von denen im engeren Kreis zwar hinter vorgehaltener Hand berichtet wird, für die es aber kaum institutionelle Hilfe gibt. An der Aufbau befindlichen Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul gibt es zwar bei jedem im Bau befindlichen Gebäude behindertengerechte Zugänge und Aufzüge in den Gebäuden (wie man bis dahin behindertengerecht kommt ist eine andere Frage), werden auch Lösungen bei Prüfungen mit Studierende mit körperlichen Beeinträchtigungen gefunden, aber für die offensichtlich zunehmende Zahl an Studierenden mit psychischen Problemen gibt es keine dafür ausgebildeten Ansprechpartner. Das eigentliche Problem in beiden Ländern - und das ist jetzt wirklich keine repräsentative Auswahl - ist ein anderes: den Problemen der Inklusion Inklusion, Heterogenität und Diversität - und Deutsch als Fremdsprache 143 von Behinderten mag man sich dort ja vielleicht noch stellen wollen, das Thema „Diversität“ stellt sich dann schon anders dar. Weder gleichgeschlechtliche Beziehungen sind akzeptiert, noch werden politisch von der staatlich vorgegebenen Linie abweichende Meinungen toleriert. Zu Belarus schrieb der belarussische Sozialwissenschaftler und Philosoph Akudowitsch (2013, 171-172): Wenn Nachrichten aus Belarus zu uns gelangen, dann in der Regel betrübliche. In diesem europäischen Land werden Oppositionelle unterdrückt und drangsaliert, werden Demonstranten von der Polizei verprügelt, ihre Anführer ins Gefängnis und ins Straflager gesteckt. Dasselbe geschieht mit Politikern, die es wagen, den Alleinherrscher bei Wahlen, die es immerhin gibt, herauszufordern. Unabhängige Institutionen und Medien, Publizisten und Intellektuelle, die abweichende Meinungen äußern, werden eingeschüchtert, kriminalisiert, in den Untergrund oder ins Ausland gedrängt. Alles dies hat Auswirkungen auf die Arbeit in einer Germanistischen Institutspartnerschaft, auch wenn die Erfolge der gemeinsamen Arbeit sich sehen lassen können und durch eine dreijährige Verlängerung der finanzierten Partnerschaft durch den DAAD gewürdigt wurden. Es sind aber zaghafte Erfolge bei einer Ausweitung der thematisch akzeptierten Vermittlungs- und Forschungsansätze und bei der Besetzung neuer Leitungsstellen, was aber nichts mit einer Förderung von Behinderten zu tun hat (wenn man diesen Begriff auf Körperliches oder Psychisches reduziert). Zur Türkei lassen sich seit einiger Zeit fast täglich neue Schreckensmeldungen über die Unterdrückung akademischer Eliten anführen, und das wird voraussichtlich auf längere Sicht auch so bleiben. Auch wenn die Türkisch-Deutsche Universität (TDU) bisher von Unterdrückungsmaßnahmen verschont blieb und von beiden Regierungen sehr vorsichtig als Sonderfall behandelt wurde, lässt sich nicht verleugnen, dass die allgemeine politische Entwicklung in der Türkei nichts Gutes erahnen lässt. Deutschen HochschullehrerInnen, die in diesem Umfeld tätig sind, wird vermutlich auch die Situation von Behinderten am Herzen liegen und sie werden im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch Gespräche sicherlich darauf hinwirken, dass ihre Rechte gewahrt werden. Das wird aber überschattet durch die Notwendigkeit, auf Heterogenität und Diversität einzuwirken, wobei die politische Realisierungsmöglichkeit hier eine ganz andere ist. Und da sind unsere Möglichkeiten leider sehr eingeschränkt. Uwe Koreik 144 Literatur Akudowitsch, Valentin (2013): Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. Berlin: Suhrkamp. Arras, Ulrike/ Müller, Anika (2012): „Fairness bei der Leistungsmessung: Der TestDaF für Menschen mit Behinderung“. In: Babylonia 12 (3), 70-74. https: / / www.testdaf.de/ fileadmin/ Redakteur/ PDF/ Forschung-Publikationen / Arras_Mueller_2013.pdf (10.02.2017). Auswärtiges Amt (2015): Deutsch als Fremdsprache weltweit. 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Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (o.J.): Inklusion an deutschen Auslandsschulen. http: / / www.bva.bund.de/ DE/ Organisation/ Abteilungen/ Abteilung_ZfA/ Auslandsschularbeit/ Inklusion/ inhalt.html (05.06.2017). Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (2016): Stufenübergreifendes Projekt zur Inklusion. http: / / www.bva.bund.de/ SharedDocs/ Kurzmeldungen/ DE/ ZfA/ Aktuelles/ 2016/ Inklusionswettbewerb_Concepcion.html (04.06.2017). Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 1 Hans-Jürgen Krumm Eine Gesellschaft, die auf dem Herkommen beruht, wird individuelle Unterschiede nur dann nutzbar machen, wenn sie sich vom Herkömmlichen nicht zu weit entfernen, weil Einheitlichkeit innerhalb jeder Klasse ihr wichtigstes Ideal ist. Für eine fortschrittliche Gesellschaft aber sind individuelle Verschiedenheiten von unschätzbarem Werte, da sie in ihnen die Werkzeuge ihres eigenen Wachstums findet. Eine demokratische Gesellschaft muß daher in Übereinstimmung mit ihrem Ideal in ihren Erziehungsmaßnahmen dem Spiele verschiedenster Gaben und Interessen im Sinne geistiger Freiheit Raum gewähren. (Dewey 2000, 396) 1 Bildungsgerechtigkeit Im Hinblick auf die Begrifflichkeit sind zwei Verständnisse von „Inklusion“ im Bildungsbereich zu beobachten: Als zentraler Begriff hat sich für den Begriff Inklusion im Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (2007) 2 1 Vgl. zu dieser Formulierung Göbel (1981).Was einige Beispiele betrifft, so wähle ich diese vorrangig aus Österreich aus, da ich hier eine Reihe von Projekten mitinitiiert und begleitet habe - ich denke, dass alle KollegInnen problemlos entsprechende Entwicklungen in Deutschland hinzudenken können. zum einen ein engeres Begriffsverständnis entwickelt, das auf die Integration von Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen in die Regelschule zielt, zum anderen ein weiteres Begriffsverständnis, das die menschenrechtliche Grundlage auch der Behindertenkonvention 2 Die UN_Behindertenrechtskonvention wurde 2006 von der Generalversammlung der UN beschlossen und ist zum 03.05.2008 in Kraft getreten. Ich wähle das Jahr 2007 als Grundlagendatum weil der Rat der Europäischen Union die Konvention 2007 unterzeichnet hat - die nationalen Ratifizierungen erfolgten anschließend (Österreich 2008; vgl. Monitoring-Ausschuß); zur deutschen Situation (einschließlich der Frage der deutschen Textfassungen) vgl. den Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2017). Hans-Jürgen Krumm 146 betont und auf das gesamte Spektrum an Merkmalen für Heterogenität unter Lernenden, Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Persönlichkeit, Kultur, Religion, Muttersprache(n), physische und psychische Konstitution, Vorkenntnisse in der Unterrichtssprache, vorangehende Lernerfahrungen, Lerndispositionen und Motivation und andere abhebt. In diesem weiteren, politischen Verständnis des Inklusionsbegriffs geht es um die Zielsetzung von Bildungsgerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von den genannten Merkmalen. Hier hat sich der Begrifft der „Integration“ als ungeeignet erwiesen, denn dieser impliziert, auch wenn immer wieder die „Zweiseitigkeit der Integration“ betont wird, dass es die existierenden gültigen Normen und Strukturen einer Gesellschaft sind, in die sich „Andere“ auf die ein oder andere Weise einpassen müssen (vgl. Garcia 2017). Inklusion im weiteren menschenrechtlichen Verständnis dagegen zielt im Sinne des Eingangszitats von Dewey auf die Verfasstheit einer Gesellschaft, die sich grundsätzlich auf Verschiedenheit (der Menschen, der Lernenden) als konstitutives Merkmal einlässt und gewährleistet, dass Unterschiedlichkeit nicht zu Diskriminierung und unterschiedlichen Bildungschancen führt, sondern im Gegenteil erst jene Grundlage bildet, die für jeden Einzelnen eine gleichrangige Existenz begründet. Ich beschränke mich in meinem Beitrag auf die im engeren Sinne sprachlichen Aspekte einer so verstandenen Inklusion im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, weil sie in unserem Fach bereits seit einigen Jahren Gegenstand fachlicher und unterrichtspraktischer Kontroversen und methodischer Entwicklungen sind, wobei hier die sprachliche (und die immer mitgemeinte kulturelle) Heterogenität und das gemeinsame Lernen in heterogenen Lerngruppen im Zentrum stehen. Auch in dieser Diskussion ging es von Anfang an keinesfalls nur um Unterricht(smethodik), sondern vielmehr darum, wie die herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen von der sprachlichen Verfasstheit von Gesellschaft und Schule, im Konkreten in unserem Fach der Umgang mit MigrantInnen und deren Kindern, auf die Schule durchschlagen. Seitdem die französische Revolution die zunächst in den Bürgerrechten verankerten sprachlichen Freiheitsrechte auf die Vorstellung ‚eine Nation - eine Sprache‘ verengte, hat sich diese Vorstellung in den entstehenden europäischen Nationalstaaten und ihren Bildungseinrichtungen durchgesetzt und - allen Grenzöffnungen und Globalisierungstendenzen zum Trotz - erhalten. Diese gesellschaftliche Vorstellung von der „nationalen Einheit“ im Sinne einsprachiger Nationalstaaten schlägt nach wie vor auch auf die Schule durch. Und das trotz der längst gesicherten Erkenntnis, dass es ein Trugschluss ist, durch Einheitlichkeit so etwas wie Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 147 Auch wenn sich in der Bildungspolitik eine Diversitätsrhetorik ausbreitet und ungeachtet der Debatte um „Inklusion“ ist das Bildungssystem in vielen Ländern Europas so wie in Deutschland und Österreich nach wie vor auf homogene Lerngruppen hin orientiert und verfügt über ein großes Instrumentarium, um diese Homogenität zu sichern bzw. herzustellen, von der Jahrgangsklasse, den Einschulungs- und Versetzungsbestimmungen über die Notengebung und Leistungsbeurteilung bis hin zu Bildungsstandards und Vergleichsstudien - hier herrscht eine Einheits- und Normalitätserwartung, der sich Lernende zu unterwerfen haben. Nur unter der Voraussetzung der Homogenität könne es nämlich, so glaubte man lange und glaubt es vielfach immer noch, gelingen, 20 bis 30 Kinder in der gleichen Klasse, in der gleichen Lernzeit und nach den gleichen Unterrichtsmethoden erfolgreich zu unterrichten. Besonders wichtig und zugleich kritisch war und ist diese Homogenitätsanforderung im Bildungssystem hinsichtlich der sprachlichen Homogenität - und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen kann man hinsichtlich der Sprache den Unterricht nur schwer an einem Mittelmaß ausrichten, wie das in anderen Unterrichtsfächern vielleicht gelingen mag und Voraussetzung für den Unterricht in homogenen Gruppen ist - für Verstehen oder Nichtverstehen gibt es ein solches Mittelmaß nicht wirklich. Das erklärt die vielen Formen von „Zusatzmaßnahmen“ für Kinder, deren sprachliche Voraussetzungen nicht zur Standarderwartung passen, von segregierten Modellen für Kinder aus nichtdeutschsprachigen Familien bis zu einer breiten Palette an Förderprogrammen. Zum zweiten ist Sprachentwicklung ein langfristiger Prozess - es kann gar nicht gelingen, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlicher sprachlicher Sozialisation und erst recht solche mit unterschiedlichen Familiensprachen innerhalb von kurzer Zeit auf den gleichen Sprachentwicklungsstand in einer bestimmten Sprache, der Unterrichtssprache Deutsch, zu bringen - das ist ein Prozess über die gesamte Schulzeit. Hier liegt auch der große Irrtum derjenigen, die glauben, mit vorgeschalteter Sprachförderung im Kindergarten das Problem aus der Welt zu schaffen und zu Schulbeginn dann von einer bei allen Kindern gleichartigen Beherrschung der einen Unterrichtssprache auszugehen. Zum dritten spielt Sprache in allen Unterrichtsfächern eine entscheidende Rolle für den Lehr- und Lernerfolg: Nicht nur im Muttersprachen- und Fremdsprachenunterricht, auch in den sogenannten nichtsprachlichen Sachfächern von der Verkehrserziehung bis zum Singen und Musizieren, von der Mathematik bis zum Sport wird Sprache zum einen vorausgesetzt, sie muss mitgebracht werden, damit Unterricht stattfinden kann, und zum andern wird auch in den Sachfächern Sprache gelernt. D.h. sprachliche Heterogeni- Hans-Jürgen Krumm 148 tät stellt nicht nur eine Herausforderung für die sprachlichen Fächer, sondern für Schule insgesamt dar. Nicht zuletzt unterscheiden sich Sprachbedarf und Sprachbedürfnisse zwischen Menschen je nach Lebenssituation, aber auch je nach Region erheblich. Ein Beispiel dafür bietet die Diskussion um die sog. Nachbarschaftssprachen. So naheliegend es wäre, dass Kinder als (Fremd-)Sprachen in der Schule zunächst die Sprachen erlernten, die in ihrem Lebensumfeld eine Rolle spielen, die sie also auch außerhalb des Unterrichtsraumes erleben und verwenden können, so wenig ist es bisher - von Ausnahmen abgesehen gelungen, diesen Grundsatz in der Schulsprachenpolitik zu verankern, wie z.B. die Debatten um die Rolle des Französischen in Baden-Württemberg belegen 3 3 Mir ist ein einziges großflächiges Beispiel aus Österreich bekannt, die sog. „Niederösterreichische Sprachoffensive“, mit der im Bundesland Niederösterreich seit 2011 an über 100 Kindergärten und 133 Schulen Unterricht in den Nachbarsprachen dieses Bundeslandes (Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch) sowie zweisprachiger Sachfachunterricht erteilt und dafür auch mehrsprachige Lehrkräfte und Kindergartenpädagoginnen eingestellt und ausbzw. fortgebildet werden. . Erst recht gilt dies für die Sprachen der Zuwanderer: Vielen Mehrsprachigkeitsprojekten und Beteuerungen der Förderung sprachlicher Vielfalt zum Trotz wird im Umgang mit MigrantInnen und Kindern aus mehrsprachigen Familien immer wieder deutlich, dass diese nur in wenigen Fällen ihre mitgebrachten Sprachen kapitalisieren können, in der Regel werden sie Einsprachigkeitsforderungen unterworfen, die sich in zahlreichen sog. Integrationsgesetzen und -verordnungen, in Sprachprüfungen und aufenthaltsrechtlichen Sanktionen bis hin zu Pausensprachverboten manifestieren. Auch 40 Jahre Argumentation (vgl. u.a. die Beiträge von Gogolin, Christ, Bialystok, Brisic, Tracy, Krumm u.a. in dem Konferenzband Gogolin/ Neumann 2009) haben es nicht vermocht, die bildungspolitische Haltung und vielfache Praxis zu verändern, nach der Kinder, deren Beherrschung der Unterrichtssprache möglicherweise nicht ausreicht, ggf. wegen unzureichender Beherrschung der Unterrichtssprache von der Einschulung zurückgestellt werden und überdurchschnittlich oft in der Sonderschule landen, unabhängig davon, wie ihre sprachlichen Fähigkeiten in anderen Sprachen aussehen: Während der Anteil von Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch in Österreich im Schuljahr 2013/ 14 bei 21,1% lag, lag er in den Sonderschulen bei 32,1% - die Verhältnisse sind in Deutschland ähnlich. Auch wenn die gesetzlichen Regelungen explizit verhindern wollen, dass allein sprachliche Probleme zur Sonderschulzuweisung führen, ist anders der unverhältnismäßig hohe Anteil von Kindern mit einer anderen Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 149 Muttersprache als Deutsch in der Sonderschule kaum erklärbar. Und dort, wo Angebote in den sog. Herkunftssprachen von Kindern mit Migrationshintergrund bestehen, ist der Zugang zu diesen Sprachangeboten meist auf diese Gruppe beschränkt und kein offenes Angebot für alle interessierten Kinder 4 . Bei der Aufnahme von Flüchtlingskindern wiederholt sich die Debatte und die entsprechende Bildungspraxis - zwar gibt es hier den Wunsch, insbesondere den Seiteneinsteigern einen raschen Zugang zu schulischen Angeboten zu öffnen, zugleich aber wächst die Tendenz, sie nach vorgegebenen, aus Sicht der Einsprachigkeit definierte, Schemata einzuordnen oder zu segregieren. 2 Sprachensensible Schulentwicklung In der aktuellen Inklusionsdebatte lese ich Äußerungen zum Thema Mehrsprachigkeit als einen Versuch, die einsprachigen Normalitätsannahmen zu überwinden, zugleich aber scheint immer wieder die Vorstellung von der einsprachigen Norm durch, die zu erreichen Kinder gefördert werden müssen, wobei dann als eine Art Zusatzargument konzediert wird, dass Mehrsprachigkeit „auch“ eine Bereicherung darstelle. So betonen Avci, Holland und Linden zwar ausdrücklich - und in der Debatte keineswegs selbstverständlich -, dass in einem inklusiven Bildungswesen „lernende unabhängig von ihrem Sprachstand [gemeint ist wohl der in der dominanten Unterrichtssprache] in der Regelschule beschult werden“ (Avci/ Holland/ Linden 2013, 217), „ein mehrsprachiges Selbstkonzept (sei) als legitim und wertvoll einzuschätzen“ (ebda, 219), zugleich aber wird diese Mehrsprachigkeit doch lediglich als „Bereicherung“ gesehen, die im Unterricht zwar thematisiert werden soll, aber keineswegs zu einer Grundlage für ein mehrsprachiges Bildungswesen wird; auch hier läuft es neben der Wertschätzung der Mehrsprachigkeit, die ich keineswegs geringschätzen möchte, doch auf die Behebung des Defizits der mangelnden Deutschkenntnisse hinaus. Ganz anders hat Göbel unter dem Titel „Verschiedenheit und gemeinsames Lernen“ bereits 1981 ein Konzept für den Sprachunterrichts mit heterogenen Lerngruppen entwickelt - Kern dieses Konzepts ist für Göbel , „den Lernenden die Verantwortung für ihre Lerntätigkeit zurückzugeben“ (Göbel 1986, 13-14). Es geht in seinem Unterrichtskonzept nicht in erster Linie um unterrichtsmethodische Maßnahmen, auch wenn diese durchaus dargestellt werden, sondern um einen Beitrag zur Schulentwicklung, den man auf den 4 In Österreich wird dieser „Muttersprachliche Unterricht“ durchweg als „unverbindliche Übung“, d.h. als unbenotetes Angebot außerhalb der regulären Unterrichtszeit angeboten. Hans-Jürgen Krumm 150 Nenner bringen könnte, dass Schule nur dann den gleichrangigen, wenn auch unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnissen gerecht werden kann, wenn sie Unterricht grundsätzlich unter die Perspektive der Lernendenautonomie stellt. Die vorrangige Aufgabe für unsere Fächer (entsprechend Leitfrage 2) sehe ich darin, Fragen der Inklusion nicht ausschließlich und vielleicht auch nicht vorrangig auf der Ebene der fachinternen methodischen Diskussionen zu bearbeiten. Auch wenn mit Sicherheit Fragen der Differenzierung immer im Spiel sein werden: Was Inklusion für den Unterricht bedeutet, ist zunächst eine Dimension der Schulentwicklung, das gilt insbesondere für das Merkmal „Sprachen“. Es wäre bereits viel gewonnen, wenn es gelänge, die bisher unter dem Etikett „Integration“ geführte Debatte um die Beschulung von Migranten- und Flüchtlingskindern in der Perspektive eines erweiterten Verständnisses von Inklusion neu zu sehen. Sprache, so Reich und Krumm (2013, 11-12), ist im Bildungswesen heute weniger denn je als eine einheitliche Sprache zu verstehen. Die Einwanderung aus vielen verschiedenen Sprachgebieten (Arbeits- und Flüchtlingsmigration), die Internationalisierung des Arbeits- und Privatlebens, das neue Selbstbewusstsein der Sprachminderheiten, der massenhafte Tourismus, der globale Siegeszug des Englischen, das Wiedererstarken regionaler Identifizierungen und Sprachvarietäten und die neuen medialen Möglichkeiten haben die sprachlichen Voraussetzungen von Bildung grundsätzlich verändert. Schülerinnen und Schüler, die eine andere Erstsprache als Deutsch haben, die sich in längeren Auslandsaufenthalten eine zusätzliche Sprache angeeignet haben, deren Eltern mehr als eine Sprache mit ihnen sprechen, die bewusst bilingual erzogen werden, die neue Sprachenkenntnisse in den Ferien aufschnappen oder im Internet mehrsprachige Welten erkunden - sie sind alle längst normale Teilhaber des Bildungswesens. In allen mit Sprache verbundenen Bildungsprozessen ist also Mehrsprachigkeit im Spiel - und zwar nicht nur als Zielsetzung des Bildungssystems in einer globalisierten Welt, sondern entscheidend auch als Rahmenbedingung für das Lernen. Schule, die Bildungsgerechtigkeit verwirklichen will, muss also grundsätzlich eine mehrsprachige Schule sein, in der niemand an monolingualen Maßstäben gemessen werden darf - eine Forderung, die insbesondere Konsequenzen für alle Formen der ‚Sprachstandsdiagnosen‘ hat. Unterricht kann so lange nicht erfolgreich sein, wie die Gesellschaft sprachliche Heterogenität der Lernenden als Störung sieht. Bildungsgerechtigkeit erfordert, dass der Unterricht das, was die Lernenden mitbringen, Spracherfahrungen und Sprachkontakte zum Beispiel, früher gelernte Sprachen, eine oder mehrere Familiensprachen, nicht nur wertschätzt, sondern als Grundlage für schulisches Lernen in der Schullaufbahn verankert. Viele Kinder finden sich mit Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 151 ihren mehrsprachigen Identitäten in der Schule nicht wieder - mit Honneth (1992, 190-193) ließe sich hier von einer fehlenden Anerkennungsgerechtigkeit sprechen, die die Entwicklung von Selbstachtung als einer wesentlichen Voraussetzung der Identitätsentwicklung und des Lernerfolgs verhindert. Die aus einer monolingualen Sicht erfolgende Behandlung anderssprachiger als defizitärer Menschen verhindert Bildungsgerechtigkeit. Hufeisen hat mit ihrem Konzept eines Gesamtsprachencurriculums ein Modell für eine solche sprachensensible Schulentwicklung entwickelt (vgl. insbesondere Hufeisen 2011), welches einen zentralen Aspekt einer sprachensensiblen Schulentwicklung aufgreift, die Überwindung der Fächertrennung und Isolierung von Sprachen. Dies ist ein entscheidender Schritt, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit ebenso wie die in der Schule isoliert und additiv organisierten Sprachen für die Lernenden wie für die Lehrenden als vernetzt erfahrbar zu machen - auch im Kopf der Kinder existieren Sprachen ja nicht getrennt. Mit dem Curriculum Mehrsprachigkeit (Krumm/ Reich 2011) versuchen wir, einen Schritt weiterzugehen und die sprachlichen Implikationen alles Lernens (und Lehrens) in jeder Schulstufe und in allen Lerndimensionen mitzudenken; das Curriculum Mehrsprachigkeit versucht, die Lern-Lehr- Prozesse der verschiedenen Unterrichtsangeboite zu bündeln und das Gemeinsame und Übergreifende zu betonen. Dabei bezieht es sich auf die sprachlichen Ressourcen der Lernenden insgesamt, d.h. es kommen auch die Sprachen zur Geltung, die nicht zum Kanon der Schulsprachen gehören, aber für viele Lernende biographisch bedeutsam sind (vgl. genauer Reich/ Krumm 2013, 10-13). Dazu heißt es in den didaktischen Grundsätzen für die Schulstufen 1 und 2: Die Lehrkraft trägt Sorge dafür, dass die sprachlichen und im weiteren Sinne alle kommunikativen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, die dabei zu Tage treten, als Kompetenzen verstanden werden und jede Diskriminierung, aber auch jede besondere Heraushebung individueller Sprachenprofile vermieden wird. Gefragt wird nach den Sprachen, die den Schülerinnen und Schülern unmittelbar zugänglich sind. Angeleitet wird die Begegnung mit diesen Sprachen im sprachpraktischen Handeln und der kreative Umgang mit ihnen in Tätigkeiten des Sammelns, Ordnens und Präsentierens. (Reich/ Krumm 2013, Schulstufen 1 und 2, Seite 1) Bei einer die sprachliche Heterogenität und die Autonomie der Lernenden zum Ausgangspunkt nehmenden Schulentwicklung zeichnen sich schulorganisatorische ebenso wie unterrichtsmethodische Konsequenzen ab, die ich hier nur kurz andeuten will: Hans-Jürgen Krumm 152 Im Sportverein, beim Spielen im Park und in der Nachbarschaft gibt es keine Homogenität, oft auch keine Altershomogenität: Klein und Groß, klug und weniger aufgeweckt, alle wollen dabei sein und mitmachen - dabei lernen Kinder ganz nebenher, dass man mit Kleineren, mit Jüngeren anders spielen muss, als man das mit Gleichaltrigen oder Älteren kann - diesen Effekt nutzen auch klassenübergreifende Schulprojekte. Man kann ihn auch unter dem Gesichtspunkt ‚Sprache‘ nutzen: Welche Lernenden können den anderen helfen, mit Urdu oder Farsi oder Deutsch oder Italienisch zum Beispiel. Heterogene Lerngruppen brauchen differenzierte Aufgaben, um den unterschiedlichen Ausgangssituationen und Sprachförderbedürfnissen gerecht zu werden. Schulorganisatorisch gibt es hierfür Modelle: die Zusammenfassung sprachlicher Fächer im Sinne eines „Flächenfachs“, Mehrstufenklassen, alle Formen der inneren Differenzierung, bei denen die Lernenden unterschiedliche Aufgaben übernehmen und sich gegenseitig als Tutoren, als DolmetscherInnen u.ä. unterstützen. Es geht darum, die sprachlichen Potenziale der Lernenden gezielt einzusetzen - dass diese damit auch aufgewertet und wertgeschätzt werden, ist ein wichtiger Nebeneffekt 5 Sprachliche Heterogenität positiv nutzen fordert in der Konsequenz auch eine differenzierte Leistungsbeurteilung: Bewertet man sprachliche Leistungen von zwei- oder mehrsprachigen Kindern nach den gleichen Maßstäben wie die einsprachigen, so bleiben die meisten mehrsprachigen Kinder chancenlos - so sehr sie sich auch anstrengen, so große Lernfortschritte sie auch machen, sie werden gegenüber den einsprachig deutschsprachigen Kindern durch die gesamte Schulzeit schlechter abschneiden, sie werden trotz Anstrengungen quasi bestraft und damit dauerhaft demotiviert. . Und schließlich sind für die Schule neue Formen der Diversifizierung der Sprachlernangebote zu entwickeln: Das beginnt mit der Gruppengröße: Wenn Lerngruppen für einzelne Sprachen bereits ab 5 Lernenden gebildet werden können, wie dies in einzelnen Schulmodellen durchaus der Fall ist, wenn Lehrkräfte mit verschiedenen Erstsprachen und mehrsprachige AssistenzmitarbeiterInnen (vgl. Leitfrage 3) in zunehmendem Maße eingestellt würden, ließe sich eine mehrsprachige Schule verwirklichen. Ich verweise als Beispiel auf eine Volksschule in Wiener Neustadt 6 5 Ich verweise beispielhaft auf das Projekt „kleine Bücher“ in einer Wiener Mehrstufenklasse, in der die Kinder ‚Bücher‘ in selbstgewählten Sprachen bzw. mehrsprachig entwickeln und ‚veröffentlichen‘ (vgl. Projekt „Kleine Bücher“). : Deutsch, Englisch und Türkisch oder Ungarisch ab der 1. Klasse, Französisch oder Italienisch dann in Klasse 2 oder 3. Hier hat jedes der Kinder die Muttersprache als Sicherheitssprache, es gibt eine Sprache, nämlich Englisch, in der Kinder unab- 6 http: / / www.vs-josefstadt.schulweb.at/ Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 153 hängig von der Familiensprache gemeinsam als Nullanfänger beginnen, und es gibt jeweils eine peer-Sprache, auf die man neugierig werden kann, weil ein Teil der Kinder sie schon mitbringt, Deutsch im einen, Türkisch oder Ungarisch im anderen Fall. Inklusive Schule bedeutet nicht, auf Individualisierung und innere Differenzierung zu verzichten, bedeutet aber wohl, Inklusion nicht als eine Angelegenheit nur eines durch sprachliche oder andere Merkmale definierten Teils der Lernenden zu sehen, sondern als eine Entwicklungsaufgabe, die alle Lernenden betrifft. 3 Sprachliche (und kulturelle) Heterogenität des pädagogischen Teams Zwar wurde für den Umgang mit Lernenden unterschiedlicher sprachlicher Voraussetzungen eine Vielzahl an Fördermaßnahmen entwickelt, wobei jedoch kritisch anzumerken ist, dass diese Maßnahmen als Förderangebote nur für bestimmte Gruppen vorsehen, die damit zugleich als „förderbedürftig“ stigmatisiert werden, und dass sie überwiegend zu den Aufgaben der ‚normalen‘ Lehrkräfte gehören, die nur zum Teil für diese Aufgaben qualifiziert wurden. Eine der Grundvoraussetzungen für das Gelingen von Inklusion im Bereich der Sprachen ist demgegenüber der Verzicht auf segregierende und einzelne Schülerinnen und Schüler stigmatisierende Maßnahmen sowie ein pädagogisches Schulteam, welches die sprachliche (und kulturelle) Heterogenität der Gesellschaft widerspiegelt und aufgabenteilig arbeitet (genauer zu einem entsprechend veränderten Verständnis der LehrerInnenrolle vgl. Garcia 2017, 22-24). Die gezielte Ausbildung von Menschen mit eigener Migrationsgeschichte für den Lehrberuf ist ein erster Schritt, die stärkere Aufgabendifferenzierung in pädagogischen Teams einer Schule wäre ein zweiter, ebenso sinnvoller Schritt. Im Zusammenhang mit sprachlicher Heterogenität geht es nicht um SonderpädagogInnen, sondern um Personen, die sprachliche und interkulturelle Erfahrungen einbringen und deshalb z.B. Aufgaben der Elternberatung oder etwa spezieller mehrsprachiger Projekte mit spezifischer Kompetenz wahrnehmen können. Ein Projekt in Österreich, das seit ca. 20 Jahren sog. „interkulturelle MitarbeiterInnen“ in den Kindergärten einsetzt 7 7 Vgl. , zeigt den Sinn solcher das pädagogische Fachpersonal ergänzenden Assistenz: Diese interkulturellen MitarbeiterInnen, die alle selbst mehrsprachig sind und Migrationserfahrung mitbringen, werden in einem http: / / integrationsservice.noe-lak.at/ 20-jahre-interkulturelle-paedagogik-no es-kindergaerten Hans-Jürgen Krumm 154 zweijährigen, teilweise berufsbegleitenden Lehrgang ausgebildet; sie unterstützen die Kindergärten bei der Förderung der Familiensprachen der Kinder und interkulturellen Projekten sowie bei der Elternarbeit. Der Effekt für die Kinder liegt vor allem darin, dass sie sich in der fremden, anderssprachigen Welt des Kindergartens leichter als zugehörig empfinden können, weil sie Dimensionen der eigenen Lebenswelt dort bereits verankert vorfinden. Es hat immer wieder erfolgreiche Versuche gegeben, ein solches Konzept auch für die Schulen zu realisieren - bislang wurden entsprechende Modellversuche für die Schule jedoch aus finanziellen Gründen nicht fortgeführt. Wenn sich die Schule für Menschen öffnet - Lesepaten, MitarbeiterInnen von NGOs, die Bezüge zu anderen Sprachwelten herstellen können, so wird sie damit zugleich zu einem Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche zuhause fühlen und selbständig handeln können. Für diese Öffnung bedarf es aber auch einer anderen Einstellung und Qualifizierung aller in der Schule arbeitenden Personen zu Heterogenität, zu sprachlicher und kultureller Vielfalt. Dabei geht es nicht um eine Spezialisierung, sondern um eine Grundqualifikation, die mit der Einsicht in die Sprachlichkeit von Lernen und die Mehrsprachigkeit aller Lernenden einsetzt und bis hin zu Kompetenzen im Umgang mit Mehrsprachigkeit reicht - gerade Lehrende aus eher einsprachigen Lebenswelten müssen früh in ihrer Ausbildung lernen, sich in die mehrsprachigen Lebenswelten ihrer Lernenden hineinzudenken (vgl. die Beiträge in Wegner/ Vetter 2014). 4 Offene Fragen Aufgaben für die Wissenschaft, die Schulentwicklungsforschung, die Lehrer- Innenausbildung ebenso wie die konkrete Untersuchung spezifischer Phänomene auf der Mikroebene, stellen sich vielfältig - ich greife wenige, mir zentral erscheinende Fragen heraus, zu denen es erste Praxisentwicklungen gibt: a) Inzwischen laufen erste Versuche an, eine sprachensensible Schulentwicklung, d.h. die Umsetzung von Gesamtsprachencurricula bzw. einem Mehrsprachigkeitscurriculum systematisch zu erproben. Beispielhaft verweise ich auf das Mehrsprachencurriculum in Südtirol (Schwienbacher/ Quartapelle/ Patscheider 2017), das derzeit an mehreren Südtiroler Schulen implantiert und erprobt wird. Auch in dem vom Europäischen Fremdsprachenzentrum getragenen Projekt „Plurilingual Whole School Curricula“ (PlurCur) geht es um die Entwicklung und Evaluierung von Konzepten und Materialien eines Gesamtsprachencurriculums. Sprachliche Heterogenität - Verschiedenheit und gemeinsames Lernen 155 b) Auf der Ebene der PädagogInnenausbildung nehmen die Versuche zu, Studierende mit mehrsprachigen Biographien für ein Lehramtsstudium zu gewinnen und spezifische Ausbildungen für die Bereiche der Mehrsprachigkeit und Interkulturalität zu entwickeln. Das österreichische Bildungsministerium hat eine Arbeitsgruppe „Diversität und Mehrsprachigkeit in pädagogischen Berufen“ eingesetzt und ein „Bundeszentrum für Interkulturalität, Migration und Mehrsprachigkeit“ eingerichtet. Seit Mitte 2014 steht allen österreichischen Hochschulen ein auf der Basis des Curriculums Mehrsprachigkeit entwickeltes „Rahmenmodell Basiskompetenzen Sprachliche Bildung für alle Lehrenden“ (2 Semester, 6 ECTS) zur Verfügung, das als Wahlpflicht-Modul in die neuen Curricula der Hochschulen integriert werden soll. c) Garcia und andere (Garcia 2017, 12-14) stellen darüber hinaus die grundsätzliche Frage, ob es nicht für sprachlich heterogene Schulen auch eines anderen Verständnisses von Sprachen bedarf, in dem Sprachen nicht mehr in isolierter Form als „named languages“ durch die Native Speaker definiert werden. Wenn man, wie das schon Kramsch (1993) deutlich gemacht hat, Sprache als „Eigentum“ der Sprecher bzw. Lernenden betrachtet, dann verlieren die mit den Nationalsprachen verbundene „coloniality of power (Garcia 2017, 14) ihre Macht. Was aber bedeutet das für die „Sprachenreinheit“ (Gogolin 1998), für die Phänomene von „translanguaging“, kurz für eine Sprachvermittlung, die die Grenzen zwischen den Sprachen nicht mehr durch entsprechende Unterrichtsfächer definiert, sondern am Gebrauch der SprecherInnen festmacht? Diese Auflistung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz einer langen Geschichte von „Integration“ im Bereich Deutsch als Zweitsprache noch keineswegs über verlässliche Daten verfügen und eine systematisch begleitete und evaluierte Schulentwicklungsforschung im Bereich der sprachlichen Heterogenität erst am Anfang steht. 5 Schlussbemerkung Ein bewusster Umgang mit der Ressource Sprache ist meines Erachtens ein vorrangiges Ziel von Inklusion. Das bedeutet konkret für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, dass das Thema „Sprache(n)“ nicht nur für die Ausbildung der Lehrkräfte sprachlicher Fächer von Bedeutung ist, sondern, vom Kindergarten bis in die Oberstufe und in das Studium hinein, eine zentrale Dimension aller Lehr- und Lerntätigkeiten und aller Lernbereiche und Unterrichtsfächer darstellt. Hans-Jürgen Krumm 156 Für Schule und Unterricht bedeutet dies, dass sie sich auf sehr unterschiedliche Verläufe sprachlicher Primärsozialisation einstellen und dass sie die Rolle des Deutschunterrichts neu definieren müssen, weil er nicht mehr Muttersprachunterricht im klassischen Sinne sein kann, und dass zwischen Mehrheitssprache, Minderheitensprachen, MigrantInnen- und Flüchtlingssprachen und Fremdsprachen nicht von vornherein unausgleichbare qualitative Unterschiede gesetzt und schulorganisatorisch festgeschrieben werden dürfen. Es bedeutet, dass die strikte Aufteilung der schulischen Sprachenbildung auf je für sich bearbeitete einzelne Sprachen den tatsächlichen Sprachensituationen der Schülerinnen und Schüler nicht mehr gerecht wird. Es war und es ist meines Erachtens immer noch geradezu eine kopernikanische Wende, dass wir begonnen haben, Schule und Unterricht nicht mehr nur von abstrakten Prinzipien der Schulorganisation her, sondern vor allem von den Lernenden und ihren Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen her zu denken, also nicht zu versuchen, die Lernenden dem System, sondern die Schule stärker den Lernenden anzupassen und das heißt, Heterogenität nicht nur zu dulden, sondern als Rahmenbedingung für Lernen zu akzeptieren und auch zu nutzen. Literatur Avci, Özlem/ Holland, Olga/ Linden, Dörte (2013): „Merkmal Mehrsprachigkeit“. In: Saldern, Matthias von (Hrsg.): Inklusion II. Umgang mit besonderen Merkmalen. Norderstedt: Books on Demand, 217-234. Baur, Rupprecht S./ Hufeisen, Britta (Hrsg.) (2011): ‚Vieles ist sehr ähnlich‘ - Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Beacco, Jean-Claude/ Krumm, Hans-Jürgen/ Little, David/ Thalgott, Philia, (Hrsg.) (2017): The Linguistic Integration of Adult Migrants/ L’intégration linguistique des migrants adultes. Berlin: De Gruyter Mouton. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (o.J.): https: / / www.behindertenbeauftragte.de/ DE/ Wissenswertes/ Publikationen/ p ublikationan_node.html (12.07.2017). Dewey, John (2000 [1916]): „Democracy and Education“. Weinheim: Beltz. Garcia, Ofelia (2017): „Problematizing linguistic integration of migrants: the role of translanguaging and language teachers“. In: Beacco, Jean-Claude/ Krumm, Hans-Jürgen/ Little, David/ Thalgott, Philia (Hrsg.), 11-24. Göbel, Richard (1981): Verschiedenheit und gemeinsames Lernen. Kronberg: Scriptor. 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(Ainscow/ Miles 2009, 2) Einleitung und Problemaufriss Der Sozialethiker und Diakoniewissenschaftler Uwe Becker stellt in seinem viel beachteten, in kurzer Zeit bereits in zweiter Auflage erschienen Buch „Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus“ ( 2 2016) die provokante These auf, Inklusion sei gegenwärtig kaum mehr als eine moralisch überhöhte, fast schon metaphysisch verklärte Utopie. Diese stehe in krassem Widerspruch zur aktuellen Bildungs- und Finanzpolitik, die im Großen und Ganzen einer kompetitiven, ökonomisch gesteuerten und vorwiegend erwerbsarbeitszentrier-ten Gesellschaftslogik folge (vgl. ebda, 8-12, 145, 172-173). Im Kern gehe es der Bildungspolitik - jenseits aller Inklusionsrhetorik - nach wie vor um die möglichst bereits frühkindlich einsetzende Ausbildung zur kompetenten Arbeitskraft bzw. um die präventive Präparation der heutigen Kinder und Jugendlichen für die Funktionalität am Arbeitsmarkt, die die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie und Wirtschaft in globaler Dimensionierung sichern solle (vgl. ebda, 142-143). Dies spiegele sich in einem hochgradig normativen bildungspolitischen Denken wider, das von den vermeintlich wünschenswerten Endpunkten des Bildungsprozesses ausgehe, d.h. von der vorrangig ökonomisch motivierten, kompetenzorientiert-zertifizierten Funktionstüchtigkeit der zukünftigen Erwachsenen (vgl. ebda, 145-146). Der Inklusionsgedanke verkomme so allerdings zu einem bloßen Appell an Menschenwürde, Respekt, Gerechtigkeit und Solidarität, dem man sich im öffentlich geführten bildungspolitischen Diskurs im Grundsatz zwar verpflichtet fühle (und kaum entziehen könne), der letztlich aber nicht viel mehr als eine Legitimationsübung politischer Praxis sei, die unter dem Vorbehalt der derzeitigen finanz- und bildungspolitischen Doktrin stehe, d.h. dem Sachzwang des finanziell bzw. finanzpolitisch (vermeintlich) Gebotenen. Die Inklusionsdebatte, wie sie in der Bildungspolitik derzeit geführt werde, stelle sich so gesehen als eine Augenwischerei dar, denn Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 159 Inklusion sei unter den Prämissen einer vorrangig marktwirtschaftlich ausgerichteten (bildungs-)politischen Grundorientierung nur insofern denkbar und wünschenswert, als sie den Leitgedanken der leistungsorientierten Wettbewerbsfähigkeit nicht störe (vgl. ebda, 15-16, 145-146). Dies allerdings könne (weitere) Ausgrenzungsprozesse begünstigen. Im Rahmen des Deutschen Lehrertags 2016 in Dortmund, der dem Oberthema ‚Baustelle Inklusion/ Integration - Herausforderung oder Zumutung? ‘ gewidmet war, konzedierte Becker zwar in einem hoch interessanten, überaus kontrovers geführten Podiumsgespräch, u.a. mit der seinerzeitigen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz (KMK), dass in den einzelnen Bundesländern durchaus einige finanzielle Anstrengungen unternommen würden, um das Inklusionsprojekt an den Schulen (bzw. an allen Bildungsinstitutionen in Deutschland) voranzubringen. Jedoch verdeutlichte er auch, dass ein Vielfaches an Finanzmitteln und darüber hinaus an weiteren, nicht vor allem der Kostenlogik folgenden und auf ‚Beschulung‘ ausgerichteten Überlegungen, Anstrengungen und Maßnahmen nötig seien, um Lern- und Entwicklungsprozesse inklusiv zu gestalten bzw. insgesamt sinnvoll realisieren zu können. Das Gelingen des Inklusionsprojekts in der Schule sei heute vor allem an das persönliche Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer gebunden. Sie seien es, die sich derzeit in allererster Linie darum bemühten bzw. bis zur Erschöpfung daran abarbeiteten, dass der gegenwärtige bildungspolitische, hochgradig technokratische Inklusionsformalismus, der die Einbindung möglichst vieler Kinder und Jugendlichen in das Regelschulsystem einfordere, nicht zu einer inhaltsleeren Metapher bzw. zu einer politisch inszenierten Semantik für Zugehörigkeit und Teilhabe verkomme. Beckers grimmige Kritik an der deutschen Bildungspolitik und der KMK mag man, vielleicht auch nur in Teilen, begrüßen, als überzogen beurteilen, oder ablehnen. Die gegenwärtigen finanziellen, strukturellen und personellen Probleme der Inklusion sind jedoch nicht von der Hand zu weisen. Sie mögen sich bildungspolitisch, vor allem unter dem wahlstrategischen Gesichtspunkt des Machterhalts, zwar relativieren oder tendenziell klein reden lassen, jedoch kann dies der Sache selbst nicht dienlich sein. Auch darf nicht aus den Augen verloren werden, dass sich die Probleme und Herausforderungen der Inklusion nicht allein in der Schule bzw. in den diversen Bildungsinstitutionen bewältigen lassen. Es bedarf vielmehr einer weiter gefassten Perspektivierung, die der individuellen Bedeutung von und der gesamtgesellschaftlichen Verantwortlichkeit für Inklusion im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948) und der davon ausgehenden, bis heute in vielerlei Hinsicht richtungsweisenden Salamanca- Jürgen Kurtz 160 Resolution der UNESCO (1994) Rechnung trägt. Das nachfolgende Statement ist als ein Schritt in diese Richtung gedacht. 1 Inklusion aus Sicht der Gesellschaft für Fachdidaktik Die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD), die sich - aus welchen Gründen auch immer - den international unverständlichen Begleitnamen „Association for Fachdidaktik - Fachverband der Fachdidaktischen Fachgesellschaften“ gegeben hat (vgl. GFD 2015, 1; Herv. des Verf.), legt ihrem Positionspapier zum inklusiven Unterricht unter fachdidaktischer Perspektive einen weit aufgefächerten Inklusionsbegriff zugrunde. Dieser ist nicht lediglich oder vornehmlich auf die Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN 2008) durch Deutschland im Jahre 2009 beschränkt. Anvisiert wird vielmehr ein Verständnis von Inklusion, das der Diversität der fachunterrichtlichen Verwirklichungsbedingungen sowie der lerner- und lehrerseitigen Voraussetzungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts insgesamt, auch unter den Bedingungen von Migration (inklusive Krieg, Vertreibung und Flucht), zu entsprechen sucht (vgl. ebda, in diesem Sinne vgl. auch HRK/ KMK 2015, 1). Dieser Konzeptualisierung von Inklusion mag man sich spontan vielleicht ebenso anschließen wollen wie der Feststellung, dass die erforderlichen finanziellen, strukturellen und personellen Rahmenbedingungen als Voraussetzungen für das potentielle Gelingen inklusiven Unterrichts und darauf ausgerichteter Lehrerbildung teilweise erst noch herzustellen seien (vgl. ebda, 1, 6). Keineswegs unproblematisch ist jedoch, dass die GFD die gesellschaftlichen und schulischen Bemühungen um inklusiven Unterricht vorbehaltlos (! ) unterstützen möchte (vgl. ebda, 1), und dass sie im Grundsatz davon ausgeht, dass gelingende schulische Inklusion einen gelingenden inklusiven Fachunterricht zur Voraussetzung (! ) habe (vgl. ebda, 1). Aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Dachverbands, der darum bemüht ist, die wichtige, in der Bildungs- und Finanzpolitik längst noch nicht hinreichend gewürdigte Bedeutung der Fachdidaktiken für die Weiterentwicklung des Unterrichts in den diversen Schulfächern zu verdeutlichen, mag eine derartig unterrichtsfachbezogene Akzentuierung des Inklusionsproblems angebracht und notwendig erscheinen. Begrüßenswert mag auch der Hinweis sein, dass es den Fachdidaktiken derzeit kurzsichtig und verfrüht erscheine, bahnbrechende Neuerungen im Schulsystem einzuführen, ohne dass wenigstens ansatzweise entsprechende empirische Forschungen vor allem auch aus fachdidaktischer Perspektive dazu durchgeführt und hinreichend finanziert würden (vgl. ebda, 6). Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 161 Gleichwohl greift das Positionspapier der GFD viel zu kurz, weil Inklusion hier tendenziell in Opposition zu Exklusion gesetzt, verabsolutiert und uneingeschränkt positiv konnotiert wird (vgl. hierzu auch HRK/ KMK 2015). Im (bildungs-)politischen Diskurs mag es sinnvoll und vertretbar erscheinen, eine Differenzlinie zwischen Inklusion und Exklusion zu ziehen und Exklusion unterschwellig mit Stigmatisierung in Verbindung zu bringen. Derart dichotome Denkmuster sind fachdidaktisch jedoch nicht angemessen. So darf im wissenschaftlichen Diskurs nicht außer Acht gelassen werden, dass der Grundgedanke der Exklusion nicht die Ausgrenzung, sondern die Schaffung geeigneter Schonräume ist, die dazu dienen sollen, die Inklusion nach und nach erst zu ermöglichen bzw. zu befördern. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich die Frage der Stigmatisierung - vielleicht sogar in verschärfter Form - in einem inklusiv angedachten bzw. dahingehend ‚verordneten‘, nach wie vor aber hochgradig ausdifferenzierten Regelschulsystem stellt (vgl. Becker 2 2016, 35). Dem GFD-Positionspapier (2015) ist darüber hinaus zu entnehmen, dass es im Kontext einer dringend notwendigen, unterrichtsfachbezogenen Forschung auch einer grundlegenden, auf Inklusion ausgerichteten schulsystemischen Veränderung bedürfe, ohne die die Umsetzung inklusiven Fachunterrichts eine Vision, wenn nicht gar eine Illusion bleibe. Die fachbezogene Unterrichtsentwicklung müsse daher „mit einer entsprechenden Schul(system-)entwicklung (vgl. Index für Inklusion, 2003) einhergehen“ (ebda, 2, Herv. des Verf.), d.h. neben der Entwicklung von Schule als Gesamtsystem (vgl. ebda, Herv. des Verf.). Interessanterweise wird hier, in allerdings fragwürdiger Zitation, auf die deutschsprachige Übersetzung des ersten, mittlerweile mehrfach überarbeiteten und erweiterten englischen Index for Inclusion (Boban/ Hinz 2003; in der Fassung von Booth/ Ainscow 2002) verwiesen. Dass diesem Index eine ganzheitliche, interdisziplinäre Schulentwicklungsphilosophie bzw. ein holistischer Forschungsansatz zu Grunde liegt, der darauf abhebt, über vornehmlich kollaborativ-partizipative Aktions- und formative Evaluationsbzw. Interventionsforschung im jeweiligen institutionellen Kontext (Kindergarten, Kindertagesstätte, Schule, Universität) zu einem praxisfähigen, fächerübergreifenden wie auch fachspezifischen Gesamtkonzept von inklusiver Bildung zu gelangen, wird im GFD-Positionspapier vorrangig dahingehend interpretiert, dass es kurzfristig verstärkter fachdidaktischer Bemühungen in Richtung von Praxisforschungsprojekten sowie mittel- und längerfristig im Sinne von qualitativ und quantitativ angelegter, fachbezogener Interventionsforschung bedürfe (vgl. ebda, 5). Im Sinne des Index for Inclusion hat gelingende schulische Inklusion aber eben nicht nur oder in erster Linie einen gelingenden inklusiven Fachunter- Jürgen Kurtz 162 richt zur Voraussetzung, wie von der GFD postuliert (vgl. ebda 1). Auch kann und darf fachdidaktische Forschung in Bezug auf die Frage der Inklusion nicht lediglich mit entsprechender Schulsystementwicklung einhergehen. Sie sollte sich vielmehr als integraler Bestandteil davon begreifen und interdisziplinär entsprechend aufstellen. In der aktuellen Version des Index ist diesbezüglich von forming alliances for inclusive educational development die Rede (vgl. Booth/ Ainscow 3 2011, 29). Es erscheint vor diesem Hintergrund, auch im fremdsprachendidaktischen Diskurs, nicht sinnvoll und zielführend zu sein, generell und differenzlinienartig zwischen Inklusion und Exklusion zu unterschieden, sondern lediglich graduell. Der vielschichtige Raum, in den hinein Inklusion erfolgen soll, muss zudem vor allem dahingehend untersucht werden, inwiefern er diese (unter den gegebenen bzw. politisch angedachten schulischen Rahmenbedingungen und Orientierungen) überhaupt erst eröffnen kann. 2 Der Index for Inclusion - fach- und fremdsprachendidaktisch betrachtet Der aktuelle Index for Inclusion (Booth/ Ainscow 3 2011) geht von zwei Leitgedanken aus. So wird Inklusion einerseits als ein erstrebenswertes Ideal, andererseits als ein nie endender, also prinzipiell unabschließbarer Prozess angesehen. Der Index versteht sich in diesem Sinne als ein wissenschaftlich fundiertes, fortlaufend weiterzuentwickelndes Instrumentarium, das der inklusiven Bildung und Schulentwicklung (hin zu dieser Idealvorstellung) zuträglich sein soll. Schule und Unterricht werden dabei - im Gegensatz zum GFD-Positionspapier (2015) - nicht isoliert bzw. partiell betrachtet, sondern in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedingtheit und Verortung: Inclusion is about increasing participation for all children and adults. It is about supporting schools to become more responsive to the diversity of children’s backgrounds, interests, experience, knowledge and skills. […] The ,Index for inclusion: developing learning and participation in schools‘ is a set of materials to support the self-review of all aspects of a school, including activities in playgrounds, staff rooms and classrooms and in the communities and environment around the school. It encourages all staff, parents/ carers and children to contribute to an inclusive development plan and put it into practice. (Booth/ Ainscow 3 2011, 9) Demgemäß nimmt der Index for Inclusion drei voneinander untrennbare Dimensionen der Inklusionsentwicklung in den Blick, nämlich a) creating inclusive cultures (building community, establishing inclusive values), b) producing inclusive policies (developing the school for all, organizing support for Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 163 diversity) sowie c) evolving inclusive practices (constructing curricula for all, orchestrating learning) (vgl. Booth/ Ainscow 3 2011, 13; Herv. des Verf.). Der Abbau von Inklusionsbarrieren kann aus dieser Perspektive nur dann gelingen, wenn alle drei Dimensionen bei den Bemühungen um Inklusion in Schule und Unterricht gleichermaßen Berücksichtigung finden, und zwar in der bildungspolitischen Diskussion, in der Forschung sowie auch in der universitären und post-universitären Lehrerbildung. Es ist in Anbetracht dessen kaum nachvollziehbar, warum im GFD-Positionspapier (2015) auf eine in Teilen überholte Version des Index for Inclusion (in der deutschsprachigen Fassung von 2003) verwiesen wird, ohne die Dreidimensionalität des dort bereits zugrunde gelegten Forschungsansatzes hinreichend zu würdigen. Von herausragender Bedeutung für das Gelingen des Inklusionsprojekts ist im Sinne des Index for Inclusion (Booth/ Ainscow 3 2011) eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den übergreifenden Wertvorstellungen, auf denen der Inklusionsgedanke basiert (im Sinne von „establishing inclusive values“ (ebda, 13)). Sie ist unumgänglich und gehört zwingend zu einer tragfähigen und nachhaltigen, auf inklusive Bildung ausgerichteten Schul- und Unterrichtsentwicklung. Dabei werden die Zielsetzungen von Inklusion im Index (Booth/ Ainscow 3 2011) klar und deutlich ausgewiesen. So soll und muss es letzten Endes - in einem zunehmend von Heterogenität, Diversität und Divergenz geprägten gesellschaftlichen Umfeld - um die Gewährleistung und Sicherung der universal human rights und, damit zusammenhängend und weitergehend, um democratic participation, environmental sustainability, global citizenship, health promotion sowie auch non-violence and anti-discrimination gehen (vgl. ebda, 18). Inklusion wird hier also in erster Linie als ein Zweckbegriff (vgl. Luhmann 2 1973, 59) bzw. als eine Handlungskategorie angesehen, mit dem/ der sich eine stark wertgeprägte, aber keineswegs unumstrittene Vorstellung von Zweckdienlichkeit (und zugleich auch ein hohes Maß an Überzeugungsarbeit) verbindet. Dies wirft eine Reihe von Fragen nach a) dem Umgang mit Werten und Wertvorstellungen in der fachbzw. fremdsprachendidaktischen Diskussion und b) der Wertigkeit und Zweckdienlichkeit bestimmter Bildungsziele, -inhalte und -zugänge im schulischen Fremdsprachenunterricht auf (vgl. hierzu weitergehend unter der Denkfigur von life skills-based education in the foreign language classroom Kurtz 2008). Jürgen Kurtz 164 3 Wertvorstellungen in der fremdsprachendidaktischen Diskussion und Forschung Was ist wertvoll, was zweckdienlich? Ist dies überhaupt eine der wissenschaftlichen Untersuchung zugängliche Frage? Ist sie ‘zulässig‘? Lässt sich die Frage nach der Werthaltigkeit und Zweckdienlichkeit bestimmter fachdidaktischer Fragestellungen und Herangehensweisen an ein Problem nicht erst nachträglich, womöglich erst nach vielen Jahren, beurteilen? Im GFD- Positionspapier (2015) wird die Frage nach dem Wert und den damit verbundenen Zielsetzungen von Inklusion jedenfalls sehr oberflächlich - und in Teilen überaus fragwürdig - behandelt. So wird festgehalten, dass es das Prinzip der „Gleichheit und Gerechtigkeit“ (ebda, 1) gebiete, sich mit Fragen der Inklusion im Fachunterricht (und damit auch mit der Frage der Inklusion im schulischen Fremdsprachenunterricht) zu befassen. Da Bildung ein „grundlegendes Menschenrecht“ (ebda) sei, müsse es im Fachunterricht um die Ermöglichung der „Partizipation an Lernprozessen“ (ebda) und die „Reduktion von Exklusionsprozessen“ (ebda) gehen, und zwar um „damit Lernerfolg und schulische[n] Erfolg insgesamt (mit den entsprechenden Abschlüssen)“ sicherzustellen (ebda). Dass es Gleichheit gar nicht gibt, wird dabei gänzlich außer Acht gelassen. Ist Gleichheit ein Wert, den es anzustreben gilt? Was könnte mit Gleichheit gemeint sein? Gleichbehandlung doch wohl nicht, denn dies würde dem Kerngedanken und den Ansprüchen einer auf Differenzierung und individuelle Förderung abhebenden Fachdidaktik diametral entgegenlaufen. Chancengleichheit und -gerechtigkeit mag im GFD-Positionspapier (2015) vielleicht eher angedacht sein, aber ist dies in Anbetracht der derzeitigen Verfassung des deutschen Bildungssystems eine realistische Denkfigur, ein Ansatzpunkt, von dem es auszugehen lohnt? Dass das Gelingen des Inklusionsprojekts im Positionspapier der GFD (2015) an zertifizierte Bildungsabschlüsse, und damit an das von Becker ( 2 2016) so vehement kritisierte, hochgradig kompetitive und komparative bildungspolitische Denken der heutigen Zeit geknüpft wird, wirft weitere grundsätzliche Fragen auf: Ist Inklusion im Gesamtzusammenhang der heutigen Kompetenzorientierung im Bildungswesen wertvoll und zweckdienlich? (Oder umgekehrt: Wie wertvoll und zweckdienlich ist die fachunterrichtliche Kompetenzorientierung im Kontext von Inklusion? ). Kann Inklusion in einem leistungszentrierten und auf nationale und internationale Vergleichbarkeit angelegten Bildungssystem gelingen? Wer und was soll wozu verglichen werden? Welche Sinngebungen des Lernens und der Bildung müssten jenseits der Leistungszentrierung in den Blick genommen werden, um die Widersprüche kompetitiven und inklusiven Bildungsdenkens aufzulösen? Im GFD-Papier werden Fragen wie diese vollkommen Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 165 ausgeklammert, und so bleiben die Imperative der Leistungs-, Test- und Wettbewerbszentrierung (und der damit verbundenen Messbarkeitsorientierung), die in der bildungspolitischen Interpretation von Kompetenzorientierung nisten, weitestgehend unangetastet. Die (zumeist impliziten) wissenschaftlichen und bildungspolitischen Werteinventare, die der Inklusion und der Kompetenzorientierung jeweils zugrunde liegen, sollten in der fremdsprachendidaktischen Diskussion und Forschung auf jeden Fall hinterfragt und im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit und Zweckdienlichkeit sorgfältig geprüft werden. 4 Die Gefahr der Trivialisierung von Inklusion in der fachbzw. fremdsprachendidaktischen Diskussion Zu den zentralen unterrichtlichen Herausforderungen und Möglichkeiten von Inklusion ist im GFD-Positionspapier (2015, 4) zu lesen: Inklusive Fachdidaktik meint die Gestaltung von fachbezogenen Lehr- und Lernarrangements, in denen alle Schülerinnen und Schüler unter Berücksichtigung von Diversität unterrichtet werden. Diversität zeigt sich vereinfacht gesagt in den Dimensionen Alter, Gender, ethnische Herkunft, sozioökonomischer Hintergrund, kulturelle und religiöse Orientierungen, sexuelle Orientierungen sowie physische und kognitive Fähigkeiten, besondere Begabungen und Talente […]. Die Unterschiedlichkeit in den Dimensionen kann sich auswirken auf fachbezogene Motivation und Interessen, sprachliche Fähigkeiten, gewohnte Lernstile, Leistungen und Vorwissen […], also auf fachbezogene Kompetenzen (Fachwissen, Erkenntnisgewinnung/ Fachmethoden, Kommunikation und Bewertung). Vereinfachte Zuweisungen auf der Basis einzelner Diversitätsdimensionen würden dabei den Blick auf die Vielfalt in Personen unangemessen einschränken. Inklusion stellt sich so gesehen als ein Problem des Umgangs mit Verschiedenheit und Vielfalt dar. Letztendlich geht es um die Bewältigung von Komplexität im Fachunterricht, etwa im Sinne von Binnendifferenzierung, Individualisierung und Personalisierung. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern die abstrakten Diversitätsdimensionen, die im GFD-Papier in den Blick genommen werden, geeignet sind, um die mitunter große Förderungsbedürftigkeit derjenigen Kinder und Jugendlichen zu fassen, die es in der Unterrichtspraxis zu inkludieren gilt. Persönliche Gespräche mit Englischlehrerinnen und -lehrern geben zu erkennen, dass es im Kontext von Inklusion nicht lediglich um den Umgang mit Verschiedenheit und Vielfalt an sich, sondern um den Umgang mit Extremen geht. Gemeint sind einerseits schwer und zum Teil mehrfach beeinträchtigte bzw. tiefgreifend entwick- Jürgen Kurtz 166 lungsbzw. verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche. Andererseits wird auf geflüchtete Kinder und Heranwachsende verwiesen, deren Sozialisierung durch maskulin geprägte Gesellschaftsstrukturen und hierarchischautokratische Schulsysteme geprägt ist, die zum Teil kriegsbedingt traumatisiert sind, die zudem distante Sprachen sprechen und der deutschen Sprache (noch) nicht mächtig sind. Es sind diese, hier nur angerissenen Extremformen von Diversität, die als höchst anspruchsvoll wahrgenommen und in der schulischen und unterrichtlichen Alltagspraxis offenbar als überfordernd erlebt werden. Dies findet im GFD-Positionspapier nur am Rande, allenfalls perspektivisch Berücksichtigung (vgl. GFD 2015, 5). Zusammenfassung und Ausblick Dass die GFD die gesellschaftlichen und schulischen Bemühungen um inklusiven Unterricht vorbehaltlos unterstützen möchte, gibt einigen Anlass zur Sorge, weil das im Positionspapier zum Ausdruck gebrachte, von mir so nicht geteilte Selbstverständnis der Fachdidaktiken stark an das von Basaglio/ Basaglio-Ongara (1980) gezeichnete Bild des dienstbaren Intellektuellen erinnert. Die Fachdidaktiken sollten sich nicht als wissenschaftliche ‚Zustimmungs-, Rechtfertigungs- oder Umsetzungsagenturen‘ begreifen, die sich a) der Bildungspolitik im Großen und Ganzen ‚andienen‘, sich dabei b) in ihr Wertesystem verstricken lassen und sich c) in der Folge lediglich noch um fachunterrichtliche Akzentuierungen kümmern. Auch und gerade in Bezug auf die Frage der Inklusion bedarf es einer deutlich kritischeren Haltung, die die Grenzen der Inklusion unter den gegebenen schulischen Rahmenbedingungen und bildungspolitischen Orientierungen - nicht nur im Fachunterricht, der immer nur ein pars pro toto sein kann - klar und deutlich benennt. Die (einigermaßen naive) Vorstellung, dass schulische Inklusion einen gelingenden inklusiven Fachunterricht zur Voraussetzung habe, muss - gerade im heutigen Zeitalter der Kompetenz-, Standard- und Testorientierung - unbedingt revidiert werden. Literatur Ainscow, Mel/ Miles, Julie (2009): Developing Inclusive Education Systems: How can we move policies forward? https: / / www.researchgate.net/ publication/ 266179349_Developing_inclusive_education_systems_how_can_we_move_ policies_forward (10.07.2017). Basaglio, Franco/ Basaglio-Ongaro, Franca (Hrsg.) (1980): Basaglio, Foucault, Castel, Wulff, Chomsky, Laing, Goffman u.a. Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Fremdsprachendidaktik im Kontext von Inklusion 167 Basaglio, Franco/ Basaglio-Ongaro, Franca (1980): „Befriedungsverbrechen“. In: dies. (Hrsg.), 11-61. Becker, Uwe ( 2 2016): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript. Boban, Ines/ Hinz, Andreas (Hrsg.) (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle: Martin-Luther-Universität. http: / / www.eenet.org.uk/ resources/ docs/ Index%20German.pdf (26.03.2017). Booth, Tony/ Ainscow, Mel ( 2 2002; 3 2011): Index for Inklusion: Developing Learning and Participation in Schools. Bristol: Centre for Studies on Inclusive Education (CSIE). Doff, Sabine/ Hüllen, Werner/ Klippel, Friederike (Hrsg.) (2008): Visions of Languages in Education. München: Langenscheidt. Gesellschaft für Fachdidaktik e.V. (GFD) (2015): Position der Gesellschaft für Fachdidaktik zum inklusiven Unterricht unter fachdidaktischer Perspektive. http: / / www.fachdidaktik.org/ wp-content/ uploads/ 2015/ 09/ GFD-Positions papier-19-Stellungnahme-zum-inklusiven-Unterricht.pdf. (06.07.2017). Hochschulrektorenkonferenz (HRK)/ Kultusministerkonferenz (KMK) (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2015/ 201 5_03_12-Schule-der-Vielfalt.pdf (26.03.2017). Kurtz, Jürgen (2008): „Life Skills-based Education in Secondary School Foreign Language Classrooms - Cornerstone of a Challenging Vision.“ In: Doff, Sabine/ Hüllen, Werner/ Klippel, Friederike (Hrsg.) (2008), 87-100. Luhmann, Niklas ( 2 1973): Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. UN (1948): Universal Declaration of Human Rights. http: / / www.ohchr.org/ EN/ UDHR/ Documents/ UDHR_Translations/ eng.pdf (26.03.2017). UN (2008): Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Optional Protocol. http: / / www.un.org/ disabilities/ documents/ convention/ convopt-pro t-e.pdf (26.03.2017). UNESCO (1994): The Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education. Online: http: / / www.unesco.org/ education/ pdf/ SALA MA_E.PDF (26.03.2017). Die Implementierung von Inklusion in schulischem Fremdsprachenunterricht - ein fragwürdiges Unternehmen Lutz Küster Inklusion betrifft Schule und Unterricht insgesamt, damit selbstverständlich auch den Fremdsprachenunterricht. Im Folgenden soll der Fokus der Betrachtung zunächst auf die allgemeinpädagogischen Aspekte, erst danach und nachrangig auf fachdidaktisch Relevantes gerichtet sein. In übergreifender Perspektive wird am Anfang jedoch der Versuch stehen, das Verständnis der zentralen Begriffe zu klären, um auf diesem Wege zugleich in die Problematik einzuführen. 1 Was ist neu an Inklusion? Einige begriffliche Abgrenzungen Gängig und einleuchtend ist eine Differenzierung zwischen ‚Inklusion‘ im engeren und im weiteren Sinne. Eng gefasst ist eine Verwendung, die sich auf den Umgang mit Schülerinnen und Schülern beschränkt, die bislang Sonderschulen besuchten und nun Regelschulen zugewiesen werden. Mit dem Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland gemäß § 24 (2)a der Vereinbarung dazu verpflichtet, dass „Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ (Bundesgesetzblatt 2008). Erst im Zuge dieser Entwicklung haben sich hierzulande die Begriffe ‚Inklusion‘ bzw. ‚inklusive Schule‘ in erziehungswissenschaftlichen, bildungs- und gesellschaftspolitischen Diskursen etabliert. In einer weiten Fassung wird demgegenüber das Kriterium körperlicher, psychischer oder kognitiver Einschränkungen als nur eines unter vielen Differenzkriterien wie Gender/ Geschlecht, soziale und sprachliche Prägungen, kognitive Stile, emotionalmotivationale Dispositionen etc. verstanden (so u.a. in Reich 2012, 2014 und Hinz 2013). ‚Inklusion‘ wird gemeinhin von ‚Integration‘ unterschieden (vgl. z.B. Gerlach 2015, 124). Während der letztgenannte Begriff insofern Ausdruck einer gesellschaftlichen Dominanz ist, als er die Anpassung einer Minderheit an die herrschenden Normen vorsieht, unterstreicht der erstgenannte die Rechtsansprüche der Einzelnen auf gleichberechtigte soziale Teilhabe, ausgehend von der Erkenntnis, dass alle in irgendeiner Weise „anders“ als an- Die Implementierung von Inklusion … - ein fragwürdiges Unternehmen 169 dere sind. In dem Begriff manifestiert sich somit ein pluralistischer, grundlegend demokratisch orientierter Denkansatz. Gleichwohl ist eine klare Abgrenzung der Begriffe Inklusion und Integration aufgrund zahlreicher Überlappungen nicht möglich (vgl. Doert/ Nold 2015, 25). Strukturtheoretisch gesehen bildet ‚Inklusion‘ mit ‚Exklusion‘ ein Gegensatzpaar. Das Antonym verdeutlicht die mit der pädagogischen Inklusion verbundene gesellschaftspolitische Dimension, die weit über die gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen hinausgeht. Vielmehr erfordert ein demokratisches Gemeinwesen im staatlichen Schul- und Bildungswesen Strukturen, die eine soziale Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger uneingeschränkt ermöglichen. 2 Inklusion - breit und kontrovers diskutiert Die generellen Ziele von Inklusion sind vor dem Hintergrund demokratisch geprägter Werte ethisch unangreifbar und können sich folglich auf einen allgemeinen Konsens stützen - anders die konkreten Maßnahmen, die zur Realisierung dieser Ziele vorgeschlagen bzw. verordnet werden. Zu ihnen lassen sich vielerlei Einwände geltend machen. Eine besonders weitreichende Kritik wird von dem Linguisten und Kommunikationswissenschaftler Clemens Knobloch (2015) in dem Internet-Forum Nachdenkseiten geäußert. In seiner Sicht stellt das Projekt einer inklusiven Schule unter den derzeitigen Bedingungen den Versuch einer neoliberalen Bildungspolitik dar, das staatliche Schulwesen durch eine Belastung mit letztlich nicht lösbaren Aufgaben so entscheidend zu schwächen, dass der Weg für die Gründung privater, kostenpflichtiger Bildungseinrichtungen, die de facto sozial Benachteiligte weitestgehend ausschließen, weiter geebnet wird. Er kann sich hierzu auf den OECD-Policy Brief Nr. 13 (Morrisson 1996) berufen, der „eine wahre Fundgrube nützlicher Ratschläge für Staatsakteure [sei], die das öffentliche Bildungswesen gesund- oder besser kranksparen wollen, ohne dafür politische Rechnungen serviert zu bekommen“ (Knobloch 2015; vgl. auch die diesbezüglichen Darstellungen in Küster 2015, 121-123). In einer Replik lehnt hingegen Daniel Kreutz (2015) jegliche Fundamentalkritik am Inklusionsprojekt ab, wendet sich allerdings klar gegen die „Weigerung der Politik, die personellen und sächlichen Ressourcen systematisch zu mobilisieren, die zugleich für eine Instandsetzung der Regelschule und für ihren Umbau zu einem attraktiven und leistungsfähigen Inklusivsystem erforderlich“ seien (ebda). Uwe Becker (2015) spricht gar von einer „Inklusionslüge“. Nun ist die völlige Auflösung sonderpädagogischer Einrichtungen keineswegs eine Notwendigkeit, die sich aus der UN-Konvention zwingend ableiten ließe. Diese Ansicht vertritt insbesondere Bernd Ahrbeck, Berliner Lutz Küster 170 Erziehungswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Verhaltensgestörtenpädagogik. Aus seiner Sicht ist vorrangig zu fragen, „was das einzelne Kind in Unterrichtung und Erziehung für eine möglichst optimale Entwicklung benötigt“ (2014, 15). Er spricht sich daher dafür aus, in Einzelfällen zu prüfen, ob Schülerinnen und Schüler in einer Regel- oder einer Sonderschule besser gefördert werden können (vgl. ebda, 12). Im letzteren Fall wäre allerdings sicherzustellen, dass sonderpädagogische Einrichtungen ihrem Förderauftrag gerecht werden. Dies scheint, folgt man Kreutz (2015), vielfach nicht der Fall zu sein. Budde/ Hummrich (2013) verweisen zudem zu Recht darauf, dass mit der Zusammenlegung der Förderorte eine Ausgrenzungslogik lediglich mit anderen Etiketten fortgeführt werde. Mit dem o.g. Argument rücken diskursanalytische Kriterien in den Blick, die auf ein grundsätzliches Dilemma aller Rede über eine im engeren Sinne verstandene Inklusion verweisen. Denn auch eine in bester Förderabsicht getroffene Unterscheidung nach dem Differenzkriterium Behinderung/ Nicht-Behinderung stellt letztlich eine performative Verfestigung von Ungleichheit dar, die Hinz treffend als „doing Disability“ (Hinz 2013) bezeichnet. Um die hiermit implizierte Stigmatisierung zu umgehen, wird z.T. auf Bezeichnungen wie „Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf“ ausgewichen, was jedoch das Differenzkriterium „behindert/ nicht behindert“ lediglich unter einer politisch korrekter erscheinenden Diktion beibehält. Wie sich in der begrifflichen Unsicherheit zeigt, fällt es schwer, sich sprachlich im vorliegenden Kontext auf eine nicht-diskriminierende, nicht-stigmatisierende, nicht-ausgrenzende Weise zu verhalten. Eine generelle Dekategorisierung von Behinderung lehnt Bernd Ahrbeck (2014, 12- 13) mit einsichtiger Begründung andererseits ab. Er macht geltend, dass auf dieser Basis ein individueller Rechtsanspruch auf sonderpädagogische Förderung negiert werde und letztlich „die (sonder)pädagogische Praxis zu verkümmern“ (ebda, 13) drohe. Dass Schule sich in einem nur schwer zu überbrückenden Spannungsfeld von Qualifikations- und Selektionsfunktion bewegt, ist hinreichend bekannt. Im Kontext der Sonderpädagogik ist dieser Gegensatz besonders groß. Viele Schülerinnen und Schüler, die besonderer Förderbedarf bedürfen, werden die für die Abschlussprüfungen der Regelschule gesteckten Kompetenzziele kaum erreichen. Daher ist fraglich, ob bzw. inwieweit der Inklusionsgedanke mit dem Prinzip der Kompetenz- und Outputorientierung überhaupt vereinbar ist. Dies wird die zukünftige Praxis gewiss zeigen. Kritikwürdig ist nicht zuletzt die Eile, mit der die politisch Verantwortlichen das Vorhaben zu implementieren versuchen. Denn derzeit kann das Vorhaben weder auf einer soliden Grundlagenforschung noch auf empirischen Studien aufbauen. Inklusion lässt sich zudem nicht punktuell verordnen, Die Implementierung von Inklusion … - ein fragwürdiges Unternehmen 171 sondern nur als ein langwieriger Prozess hin zu größerer Chancengerechtigkeit aller Schülerinnen und Schüler realisieren, in dem Raum ist für Begleitforschung, Revisionen und Neuorientierungen (vgl. Schuppener 2014). Erforderlich wäre ferner die Einbeziehung der unmittelbar mit den konkonkreten Herausforderungen inklusiver Didaktik und Methodik konfrontierten Akteure, mithin den schulischen Lehrkräften, aber auch der Elternschaft. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass beide Personenkreise nicht in den Entscheidungsprozess ‚inkludiert‘ wurden. Wie deutlich wird, ist das zur Rede stehende Handlungsfeld nicht nur höchst komplex, sondern zudem von Dilemma-Strukturen gekennzeichnet. Dem müssen Prinzipien einer dem Aufgabenbereich angemessenen Pädagogik und Didaktik Rechnung tragen. 3 Prinzipien inklusiver Pädagogik und Didaktik Die o.g. Anforderung erfüllt m.E. am besten das von verschiedenen Seiten postulierte Prinzip der Reflexivität. Ausgehend von der Tatsache, dass „Inklusion notwendigerweise Differenzierung mit sich [führt], die durch die Idee von Leistungs- und Begabungsdifferenzierung legitimiert und durch Funktionen von Schule wie Selektion, Qualifikation und Allokation abgesichert wird“, plädieren auch Budde/ Hummrich (2013) für eine „reflexive Inklusion“, die „sowohl auf das Wahrnehmen und Ernstnehmen von Differenzen und die Sichtbarmachen [sic.] von darin eingeschriebener Benachteiligung, als auch auf den Verzicht auf Festschreibung und Verlängerung impliziter Normen durch deren Dekonstruktion“ zielt (ebda, Kap. 4; ähnlich Hinz 2013, Kap. 6). In ähnlicher Weise leitet Böing (2015, 282) aus der Feststellung, dass Inklusion unter aktuellen Rahmenbedingungen von Dilemma- Strukturen geprägt ist, die Notwendigkeit eines reflexiven Lehrerhandels ab (vgl. zudem Ziemen 2015, 31-35 und Wittek 2015, 174-175). Allerdings bleiben diese aus meiner Sicht überzeugenden Grundideen bislang noch wenig konkret und sind daher inhaltlich näher auszuformulieren und zu konturieren. Als weiterführend kann sich hierbei das im Rahmen der Bildungsgangdidaktik weiterentwickelte Konzept der Entwicklungsaufgabe von Lehrkräften erweisen (vgl. u.a. Wittek 2015, 166ff). Weniger dem Prinzip der Reflexivität von Lehrkräften als dem einer Chancengerechtigkeit der Lernenden verpflichtet sind demgegenüber die „Standards der Inklusion“, die Reich (2012) formuliert und in ihren Implikationen beleuchtet sowie in „Bausteine einer inklusiven Didaktik“ (Reich 2014) überführt. Sie lauten (2012, 54-90): Lutz Küster 172 • Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus ausschließen • Diversität in den sozialen Lebensformen zulassen und Diskriminierungen in den sexuellen Orientierungen verhindern • sozio-ökonomische Chancengerechtigkeit erweitern • Chancengerechtigkeit von Menschen mit Behinderungen herstellen Diese Standards machen nicht nur die Reichweite des Gegenstandsfeldes inklusiver Pädagogik gut deutlich, sie geben auch Normen vor, die allesamt im Postulat einer Nicht-Diskriminierung Einzelner und einzelner Schülergruppen konvergieren. Aus meiner Sicht gehen diese Standards jedoch von einem Machbarkeitsoptimismus aus, der mir angesichts der angesprochenen Dilemma-Strukturen unrealistisch zu sein scheint. Reich legt die Verantwortung für das Gelingen der inklusiven Schule im Wesentlichen in die Hände der Lehrenden, welche eine von Empathie und von einem Sinn für soziale Gerechtigkeit geprägte Haltung entwickeln sollen. Dies ist indes keine leichte Aufgabe, steht ihr doch entgegen, dass viele Menschen unbewusst mit psychischer Abwehr auf Erscheinungsformen alles Unliebsamen reagieren, unabhängig davon, ob es sich dabei um körperliche, geistige oder psychische Einschränkungen handelt (vgl. hierzu die persönlichen Anmerkungen von Rossa 2015, 178-179). Häufig zu finden ist ferner die Einschätzung, dass allein ein zieldifferentes Lernen den Bedingungen eines inklusiven Unterrichts gerecht werden könne (vgl. u.a. Köpfer 2014, 162). Dem stimme ich grundsätzlich zu, sehe aber auch mit Ahrbeck (2014, 14-15), dass die Lösungsformel „starke Individualisierung des Unterrichts bei zieldifferentem Lernen“ insofern nicht alltagstauglich ist, als sie die einzelnen Lehrkräfte und das gesamte System Schule überfordert. Ferner lässt das Prinzip bundesbzw. landesweit vereinheitlichter Abschlussqualifikationen nur sehr wenig Spielraum für Lernzieldifferenz. Eine Schlussfolgerung der obigen Überlegungen könnte sein, dass zunächst die schulstrukturellen Rahmenbedingungen zu verändern seien, bevor überhaupt sinnvoll über methodisch didaktische Konsequenzen zu reden wäre. Doch angesichts der sich aktuell rasch vollziehenden Umsetzung der ‚inklusiven Schule‘ ist ein solches Vorgehen nicht hilfreich. Denn schulische Lehrkräfte stehen schon jetzt konkret vor der Frage, wie sie sich in ihrem Fachunterricht auf die veränderte Zusammensetzung ihrer Lerngruppen einstellen sollen. Daher erscheint derzeit beides notwendig: eine breite und offen geführte öffentliche Diskussion zu den angesprochenen bildungspolitischen Fragen, zugleich aber auch konzeptionelle Überlegungen und empirische Forschung auf fachdidaktischer Ebene. Deshalb sollen im Fol- • Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus stärken Die Implementierung von Inklusion … - ein fragwürdiges Unternehmen 173 genden einige für fremdsprachliches Lernen und Lehren relevante Aspekte kurz beleuchtet werden. 4 Inklusion in fremdsprachendidaktischer Perspektive Die Forschung zu Fragen eines im engeren Sinne inklusiven Fremdsprachenunterrichts steckt noch sehr in den Anfängen (vgl. u.a. Doert/ Nold (2015, 26). Die bislang erschienenen fremdsprachendidaktischen Publikationen zum Thema sind überwiegend auf den Englischunterricht bezogen (z.B. Bartosch/ Rohde 2014; Bongartz/ Rohde 2015; für die romanischen Sprachen demgegenüber z.B. Schlaak 2015). In ihnen dominieren konzeptuelle und praxisorientierte Fokussierungen (so z.B. Mendez 2012 1 Es liegen laut Gerlach (2015, 125-126) zwar Untersuchungen vor, die den Erfolg inklusiver Settings für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Unterscheidung Behinderter und Nicht-Behinderter belegen ). 2 Anders als auf der Grundlage eines eng gefassten Inklusionsverständnisses kann die Fremdsprachendidaktik im Hinblick auf eine weite Begriffsfassung auf vergleichsweise lange und umfassende Forschungstraditionen zurückblicken bzw. zurückgreifen. So zeichnen aus einer kombiniert allgemein- und fremdsprachendidaktischen Perspektive Caspari/ Holzbrecher (2016, 8-9) die Entwicklungen nach, welche die Initiativen zur Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts im deutschen Schulwesen , sie beziehen sich jedoch in erster Linie auf den Primarschulbereich (vgl. ebda). Wie Gerlach (ebda) anmerkt, geht die Schere zwischen Könnenserwartungen und Qualifikationshürden einerseits und den Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung andererseits in der Sek. I allerdings deutlich auseinander. Er weist daher auf die Notwendigkeit hin, zwischen Arten und Graden der Behinderung zu unterscheiden. Es liegt auf der Hand, dass sich körperliche Behinderungen vergleichsweise leicht durch technische Hilfsmittel wie Geh-, Seh- und Hörhilfen, Braille-Schrift etc. soweit ausgleichen lassen, dass eine Teilnahme an bisher üblichen unterrichtlichen Aktivitäten des fremdsprachlichen Klassenraums gewährleistet ist. Besondere Herausforderungen erwachsen hingegen aus Lernbehinderungen, sozioaffektiven Einschränkungen und Verhaltensstörungen. Gerade in Bezug auf diese Gruppe setzt sich Ahrbeck für eine Betreuung in sonderpädagogischen Schulen ein (vgl. 2014, 9-10). 1 Mendez 2012 zeichnet fallbasiert ein optimistisches Bild bestehender Möglichkeiten, einen inklusiven schulichen Fremdsprachenunterricht zu gestalten. 2 Ahrbeck (2014, 9-10) zitiert demgegenüber andere empirische Studien, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. Lutz Küster 174 kennzeichnen. Sie verweisen einerseits auf ideengeschichtliche Wurzeln bei Rousseau und in der Reformpädagogik und andererseits auf das gegenläufige Prinzip der von Ernst Christian Trapp propagierten Orientierung an den „Mittelköpfen“ (vgl. ebda, 12). Im Einzelnen untergliedern sie die „Bandbreite individueller Unterschiede im Fremdsprachenunterricht“ (vgl. ebda, 10-13) nach den Kriterien • Leistungsfähigkeit • Motivation, Interesse, Lern- und Leistungsbereitschaft • Vorwissen, Sprachkenntnisse, Lernvoraussetzungen • Lerntempo • Lebenswelt, soziokulturelle Herkunft • Zuwanderungsgeschichte: Sprachlernerfahrungen, Sprachregister Diese Systematisierung macht deutlich, wie vielseitig die Differenzmerkmale sind, welche Einfluss auf individuelles Sprachlernverhalten nehmen. Im Hinblick auf die Möglichkeiten eines differenzsensiblen und binnendifferenzierenden Fremdsprachenunterrichts liefert Trautmann (2010, 56-60) mit seiner Unterscheidung in eine Differenzierung von oben (durch die Lehrkraft) und eine Differenzierung von unten (seitens der Lernenden in konstruktivistisch bzw. reformpädagogisch orientierten Settings ‚offenen Unterrichts‘) einen hilfreichen Orientierungsrahmen. Zwar konzentrieren sich viele Überlegungen zur Implementierung eines im weitgefassten Sinne inklusiven Fremdsprachenunterrichts auf die Ebene der Methodik (vgl. Köpfer 2014, 159), doch kommen auch inhaltliche, didaktische Perspektivierungen zum Tragen. Schwerpunkte bilden hier mehrsprachigkeitsdidaktische (vgl. u.a. Elsner 2015; Schnuch 2015) sowie literadurdidaktische Ansätze (z.B. Albers 2014 und Nieragden 2014). Von besonderer Wichtigkeit erscheint mir das Anliegen, anhand fiktionaler Texte, in denen Marginalisierungen thematisiert werden, bei den Lernenden ein Verständnis für einen nicht-diskriminierenden, sondern im Gegenteil von wechselseitigem Verständnis geprägten Umgang mit anderen Menschen innerhalb und außerhalb des Klassenraums zu wecken bzw. zu vertiefen und sie zur Annahme einer solchen Grundhaltung zu animieren (vgl. z.B. Küchler/ Roters 2014). Denn ohne ein solidarisches oder zumindest tolerantes Klassenklima ist es grundsätzlich schwer, einen interaktiven und kommunikativen Fremdsprachenunterricht durchzuführen, in dem erst methodische Maßnahmen der inneren Differenzierung und Individualisierung greifen können. Es wäre andererseits völlig unangemessen, den Blick ausschließlich auf Problemzonen zu richten. Vielmehr bietet die gewachsene ethnische Die Implementierung von Inklusion … - ein fragwürdiges Unternehmen 175 Vielfalt und lebensweltlich erworbene Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler zugleich die Chance, das kulturelle Kapital sprachlicher Vorkenntnisse im Sinne mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze für das Erlernen der neuen Sprache/ n zu nutzen (vgl. u.a. Trautmann 2010, 56). 5 Fazit Der oben wiedergegebene Einblick in einschlägige wissenschaftliche und öffentliche Diskussionen der Gegenwart macht deutlich, dass die Implementierung der Inklusion unter den aktuellen Bedingungen sehr kontrovers beurteilt wird. Auch aus meiner Sicht ist aus den genannten Gründen in erster Linie die Umsetzung, nicht so sehr das Prinzip der Inklusion selbst höchst problematisch. Hierin vor allem liegt die im Titel angesprochene Ambivalenz des Vorhabens. Was die Konsequenzen für das Lehrerhandeln im Klassenraum angeht, scheint mir ein bewusstes Wahrnehmen der angesprochenen Dilemmata eine wichtige Grundlage zu bieten, auf der die etablierten Verfahren von Individualisierung und Binnendifferenzierung eingesetzt und weiterentwickelt werden sollten. Gleichzeitig ist auf einer politischen Ebene darauf hinzuwirken, dass der Staat seinen Bildungsauftrag ernst nimmt, indem er eine hinreichende personelle und sachliche Ausstattung des öffentlichen Schulwesens gewährleistet und ein tragfähiges System spezialisierter Fördereinrichtungen für eine reduzierte Zahl von Schülerinnen und Schülern bereitstellt, die auf diese Weise besser als im Regelschulwesen zu einer Partizipation am gesellschaftlichen Ganzen befähigt werden können. Literatur Ahrbeck, Bernd (2014): „Schulische Inklusion - Möglichkeiten, Dilemmata und Widersprüche“. In: Soziale Passagen 6, 5-19. Albers, Carsten (2014): „Englisch an der Förderschule: Literaturdidaktische Perspektiven“. In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 147-156. Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) 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In: Siedenbiedel, Catrin/ Theurer, Caroline (Hrsg.), 29-39. Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ aus der Sicht der Fremdsprachendidaktik Michael K. Legutke 1 Vielfalt: Herausforderungen und Zumutungen Die bildungspolitische Diskussion um Konzepte von Inklusion, Heterogenität und Diversität hat ein altes pädagogisches Schlüsselkonzept wiederbelebt, nämlich das einer „Schule für alle“. Im Gefolge des „Sputnik-Schocks“ war in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts eine heftige Debatte um das Bildungssystem der Bundesrepublik entbrannt; es sei, so die Kritiker, in seiner exkludierenden Form zutiefst undemokratisch und nicht in der Lage, die Bildungsressourcen weiter Bevölkerungsteile zu mobilisieren. Damit würden nicht nur die Möglichkeiten der Bundesrepublik, international mitzuhalten, gefährdet, sondern auch demokratische Partizipationsprozesse erschwert oder gar verunmöglicht. Als Lösung der Bildungsmisere und Bedingung für eine Weiterentwicklung einer demokratischeren Gesellschaft avancierte die Gesamtschule für zwei Dekaden ins Zentrum sehr kontroverser Auseinandersetzungen, als „Schule für alle“ setzte sie sich allerdings nicht durch. Die hierarchische Dreibzw. Viergliedrigkeit des deutschen Bildungssystems hat sich bis in die jüngste Vergangenheit als weitgehend unerschütterlich erwiesen. Drei Entwicklungen verleihen der alten Debatte um eine „Schule für alle“ nun neue Nahrung: (1) Die wachsende Zahl integrierter Schulformen (Gemeinschaftsschulen, Gesamtschulen, Oberschulen, Stadtteilschulen) macht es immer schwerer, an Homogenitätsvorstellungen alter Prägung festzuhalten, die die Dreigliedrigkeit vortäuschte, denn diese neuen Schulen zwingen Lehrkräfte dazu, mit einer größeren Bandbreite diverser Schülerschaften umzugehen. Selbst die Gymnasien, die nach wie vor ihr Selbstverständnis aus der Vorstellung herleiten, sie seien ausschließlich für eine ausgewählte, besonders geeignete Schülerschaft zuständig, geraten zunehmend angesichts der wachsenden Vielfalt unter Druck, neue Wege im Unterricht zu beschreiten (vgl. Lohmann 2015, 42). (2) Migration als Folge von Globalisierung, Vertreibung und Krieg hat die Diversität der Schülerschaften in bisher nicht gekannter Weise vorangetrieben. Sie zeigt sich besonders in den urbanen Zentren; schulisches Leben, Lernen und Lehren muss mit sprachlicher und Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ … 179 kultureller Vielfalt fertig werden, eine Herausforderung, der sich das an der Leitvorstellung sprachlich-kultureller Homogenität orientierte deutsche Bildungswesen nur zögerlich gestellt hat. (3) Schließlich hat die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) durch die Bundesrepublik im Jahre 2007 die Länder verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung ungehinderte und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, was u.a. den ungehinderten Zugang von Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zum Regelschulsystem einschließt. Auf den gesamten Bildungsbereich kommt damit ein gewaltiges Entwicklungsvorhaben zu, nämlich die konkrete Ermöglichung inklusiver Bildung. Vielfältige Aktionspläne und konkrete Maßnahmen, begleitet und gerahmt von einer höchst kontroversen Debatte um Inklusion (vgl. Becker 2015) werfen die Frage auf, ob das, was der Begriff Inklusion suggeriert, nämlich die Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestehende Systeme und Strukturen, überhaupt zu haben ist, ohne dass sich die Strukturen grundlegend ändern und ohne dass erhebliche Mittel in entsprechende Reformen fließen Es geht, wie Uwe Becker treffend formuliert, nicht um den „,Einschluss‘ in Bestehendes, sondern den Zusammenschluss von Vielfalt“ (Becker 2015, 17), der nicht umsonst zu haben ist. Alle drei Entwicklungen fordern Antworten von der Bildungspolitik, wie eine Schule der Zukunft mit der neuen Vielfalt umgehen soll. Sie muss sich mit Konzepten einer perspektivisch veränderten Regelschule als Schule für alle auseinandersetzen, wie sie anderenorts längst erörtert und praktiziert wird (vgl. Booth/ Ainscow 2011). Zugleich bzw. kurzfristiger sind praktische Antworten gefordert, denn Schulen und Lehrkräfte sind unter großem Druck, Lösungen im Alltag zu finden. Die Herausforderungen im Alltag zu stemmen, mutet vielen Lehrkräften wie die Quadratur des Kreises an in einem System, das spätestens mit der Sekundarstufe I Vielfalt mit Selektionsmechanismen einzuebnen sucht, in dem die meisten Aktionspläne der Länder unter Finanzierungsvorbehalt und Kostenneutralität stehen und in dem Strategien und Lösungen durchgesetzt werden, ohne dass die Lehrkräfte, gehört, eingebunden und mitgenommen werden. Sowohl kurzfristige Lösungen zum Umgang mit Besonderheit und Vielfältigkeit wie langfristige Reformbestrebungen bedürfen der professionellen Mitwirkung der Fächer. Deren möglicher Beitrag soll im folgenden Abschnitt durch die Nennung einiger Ansätze der Fremdsprachendidaktik skizziert werden, die die Ausgestaltung eines diversitätssensiblen Unterrichts unterstützen könnten. Michael K. Legutke 180 2 Fremdsprachendidaktische Konzepte und Empfehlungen In ihrem Positionspapier zum inklusiven Unterricht unter fachdidaktischer Perspektive versteht die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD 2015) Inklusion unter Bezugnahme auf die UNESCO nicht ausschließlich im Sinnen der BRK als die Integration von Menschen mit Behinderung, sondern vielmehr in einem weiten und umfassenden Sinn als Würdigung von und Umgehen mit der Vielfältigkeit und Besonderheit aller Schülerinnen und Schüler. Auch bei einem engeren Verständnis von Inklusion stellt die programmatische Aussage der Präambel des Papiers „[…] gelingende schulische Inklusion hat gelingenden inklusiven Fachunterricht zur Voraussetzung“ (1) eine deutliche Überschätzung des Faches dar. Selbst wenn diese im Folgesatz und auch später im Papier unter Verweis auf Rahmenbedingungen modifiziert wird, wird dem Fach etwas zugemutet, was es nicht leisten kann. Ohne Frage kann und muss das Fach einen entscheidenden Beitrag zu einer Schule der Zukunft leisten, aber nicht das Fach, sondern das Fach im Verbund mit anderen Fächern, mit der Schule als in sich differenzierter Institution, mit den dort arbeitenden und lernenden Menschen. Ein von Anfang an auf Partnerschaftlichkeit gerichtetes Fachverständnis, das sich auch auf systemische Fragen einlässt und die Schule als ganze mitdenkt, scheint mir eher den Belangen aller Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Ein solches Fachverständnis ist umso mehr gefordert, als sich die Fachdidaktiken aus institutionellen und systemischen Fragen entweder herausgehalten haben oder dem Status Quo dienen, indem sie beispielsweise schulformbezogene Ausbildungsgänge akzeptieren und ideologisch stützen: Englischlehrer für das Gymnasium getrennt von denen für Haupt-, Real-, und Gesamtschulen. Strategien und Wege für die Realisierung von inklusivem Fachunterricht als Gesamtaufgabe einer Schule bietet beispielhaft der Index for Inclusion (Booth/ Ainscow 2011). Welche Konzepte und Ansätze kann die Englischdidaktik, auf die ich mich im Folgenden beschränken will, in einen partnerschaftlichen Prozess zur Entwicklung diversitätssensiblen Unterrichts einbringen? Ich werde mich auf einige wenige konzentrieren. Seit der Debatte um die Gesamtschule als Regelschule haben Vertreter der Fremdsprachendidaktik und Lehrkräfte Wege zur Differenzierung von Unterricht erörtert, wie die Protokolle und Veröffentlichungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Englisch an Gesamtschulen (BAG) beredt belegen. Auch wenn unter dem Druck der politischen Verhältnisse vielfach in der Praxis eine äußere Differenzierung der Jahrgangsgruppen nach Kursen vorgenommen wurde, galt das besondere Interesse der Binnendifferenzierung. Schließlich war es Ziel, mit der Reform den Lernraum Schule so zu gestalten, dass die Förderung jedes Einzelnen möglich wurde, ohne dass nach Leis- Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ … 181 tungsgruppen selektiert werde musste. Es lohnt sich m.E. auch und gerade aus heutiger Perspektive, die frühen Versuche zur Kenntnis zu nehmen (BAG 1986). Vor allem die vielfältigen Lehr- und Lernmaterialien, die im Umfeld der BAG entwickelt und implementiert wurden, dokumentieren ein Bemühen um ein breit gefächertes Lernangebot, das den Raum für individuelles Sprachwachstum schafft (vgl. Börner 2003). Differenzierungsansätze wurden in den Folgejahren kontinuierlich, oft im Zusammenhang mit Vorstellungen von Individualisierung und Lernerorientierung, erörtert (vgl. Wolff 2010), gewinnen jedoch angesichts der o. g. Entwicklungen an Brisanz. Der Druck auf Lehrkräfte und Schulen ist enorm gewachsen, Lösungen für den Umgang mit Vielfalt zu finden, zumal die Lehrkräfte den Spagat zwischen zentralisierten Leistungsanforderungen und Individualisierung meistern müssen (Haß 2008; Börner et al. 2010; Trautmann 2010; Strohn 2015; Thurn 2011). Eng verknüpft mit der frühen Beschäftigung mit Differenzierung waren Vorstellungen selbstgesteuerten Lernens, häufig als autonomes Lernen bezeichnet, das als Möglichkeit einer Differenzierung von unten, also nicht durch die Lehrkraft gesteuert, sondern von den Lernenden durch Wahl eigener Lernwege realisiert, verstanden wurde. Als besonders produktiv erwies sich die Zusammenarbeit der BAG mit der dänischen Gesamtschullehrerin und Fortbilderin Leni Dam, deren vielfach erprobte Unterrichtsskizzen und Fortbildungsszenarien deutlich machten, dass Differenzierung, Schulentwicklung und Fortbildung zusammen wirken müssen, wenn es darum geht, den Beitrag des Englischunterrichts zu einer Schule für alle zu bestimmen. Geht es doch darum, geschützte Lernräume zu gestalten, die zugleich Spielräume bieten, damit Lernende ihre eigenen Wege entdecken und verfolgen können (vgl. Dam 1995; Dam 1999; Edelhoff/ Weskamp 1999). Ferner ist das Lernen in Projekten als ein Ansatz zu nennen, dessen Entdeckung für den Englischunterricht ebenfalls in die Reformphase der frühen 1980er Jahre fällt und in der BAG als sehr anspruchsvolle, aber höchst produktive, weil „offene“ Unterrichtsform verstanden wurde, die auch unter den Bedingungen des Fremdsprachenunterrichts Selbst- und Mitbestimmung ermöglichte und Handlungsräume bereitstellte, um kommunikativen Sprachgebrauch unter konsequenter Nutzung unterschiedlicher Sozialformen (Gruppen-, Partner und Einzelarbeit) zu fördern (vgl. Legutke 1988). In das Umfeld offener Lernformen, die immer wieder in der Differenzierungsdebatte als vielversprechende Instrumente der Reformpädagogik für den Umgang mit Vielfalt genannt werden, sind das Lernen an Stationen, der Werkstattunterricht, die Wochenplan- und Freiarbeit (vgl. Wolff 2010; Lohmann 2015). Michael K. Legutke 182 Schließlich möchte ich den Lernaufgabenansatz besonders hervorheben. Die systematische Beschäftigung mit kommunikativen Aufgaben und Übungen beginnt ebenfalls in der Reformphase des letzten Jahrhunderts (BAG 1978; 1995; Klippel 1980, 1984; Legutke 1988) und hat die Fremdsprachendidaktik seitdem kontinuierlich beschäftigt. Dies gilt vor allem für die Diskussion um den Umgang mit Vielfalt: Andreas Müller-Hartmann und Marita Schocker argumentieren, dass angemessen inszenierte Lernaufgaben Lernende in die Lage versetzen, „ihre Potenziale individuell zu entfalten und die geforderten Kompetenzen auf eigenen Lernwegen zu entwickeln“ (Müller-Hartmann/ Schocker 2015, 7). Der Lernaufgabenansatz gestatte es demnach „den Englischunterricht von den Schülerinnen und Schülern zu denken“ (ebda, Schocker 2016; ählich argumenitert auch Hallet 2011). 1 Was alle hier genannten Ansätze auszeichnet, ist der Umstand, dass für sie nicht nur differenzierte theoretische Begründungen (pädagogische und fremdsprachendidaktische) über Jahre erarbeitet wurden, sondern dass, basierend auf dokumentierten Erfahrungen von Lehrkräften, viele, auf eine veränderte Praxis zielende Instrumente, Unterrichtsmodelle, Handreichungen, Empfehlungen und Materialsammlungen, entstanden, die die Konkretisierung eines diversitätssensiblen Unterrichts bereichern dürften und die für Fortbildungen zur Verfügung stehen. Gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit dieser Instrumente sowie exemplarischen Einsichten in die Dynamik heterogener Klassenzimmer hat die englischdidaktische Forschung bis heute kaum zu bieten, wie Meike Strohm stellvertretend für den Komplex Binnendifferenzierung im Englischunterricht darlegt (Strohn 2015, vgl. auch Trautmann 2010, 2016). Während die Fremdsprachendidaktik über etablierte und differenzierte Anknüpfungspunkte für die Entwicklung eines diversitätssensiblen Klassenzimmers verfügt, hat sie andererseits erheblichen Nachholbedarf, was die Einbeziehung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf betrifft, also auf dem Feld der Inklusion im engeren Sinne. Hier muss sie Expertise in Kooperation mit anderen Fachdisziplinen entwickeln und dadurch ihr Fachverständnis erweitern und zugleich aber auch ihre Begrenztheit akzeptieren (vgl. Gerlach 2015). 1 Auf die Anknüpfungspunkte, die die Mehrsprachigkeitsdidaktik für die Entwicklung einer Schule für alle bietet, gehe ich hier nicht ein. Siehe dazu die Beiträge von Krumm und Schramm in diesem Band sowie Schwienbacher/ Quartapelle/ Patscheider (2017). Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ … 183 3 Kooperation, Vernetzung und die Lehrerbildung Selbst wenn man zurecht konzediert, dass das Gelingen einer diversitätssensiblen und inklusiven Schule von vielen Faktoren bestimmt wird, die allesamt ernst genommen werden müssen, so wird es auf jeden Fall auf die Lehrkräfte ankommen, auf ihre Haltung und ihre Kompetenzen. Es verwundert deshalb nicht, dass der Heterogenitätsdiskurs auch die Lehrerbildung erfasst. Gefordert wird ein Dialog der Disziplinen, der sich vor allem den Fragen der Inklusion im engeren Sinne annehmen möge (z.B. Amrhein/ Bongartz 2014; Gerlach 2015). In einer „Gemeinsamen Empfehlung“ haben sich die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und die Kultusministerkonferenz (KMK) zu einer zu verändernden Lehrerbildung geäußert (2015). In verschiedenen Variationen wird in dieser Empfehlung die „multiprofessionelle Kooperation“ als der bevorzugte Arbeitsmodus bezeichnet, der angehende wie praktizierende Lehrkräfte mit anschlussfähigen allgemeinpädagogischen und sonderpädagogischen „Basiskompetenzen für den professionellen Umgang mit Vielfalt in der Schule“ (ebda, 3) ausstatten soll: „Kooperation“, „Vernetzung“ und „Abstimmung“ werden beschworen. Sie soll stattfinden zwischen den Studiengängen für alle Schularten und Schulstufen, den Fachdidaktiken, den verschiedenen Lehrämtern. Hochschulen, Studienseminare, Schulen, Fortbildungsinstitute und außerschulische Kooperationspartner sollen sich vernetzen. Für die universitäre Lehrerbildung wird insgesamt empfohlen, „additive durch integrierte Konzepte zu ergänzen und eine inklusive Gesamtkonzeption umzusetzen. Von besonderer Bedeutung sei „die curriculare Abstimmung und Vernetzung zwischen den beteiligten Bildungswissenschaften, Fachdidaktiken, Fachwissenschaften und schulpraktischen Studien“ (ebda, 4). Schließlich werden veränderte Inhalte und veränderte Formen des Lehrens und Lernens empfohlen. Ob es sich angesichts des Status Quo deutscher Lehrerbildung um Wunschdenken handelt, ob die „Empfehlungen“ das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, lässt sich in den nächsten Jahren, so ist zumindest zu hoffen, an den Ergebnissen ablesen, die die im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ für die erste Förderphase ausgewählten Forschungs- und Entwicklungsprojekte vorlegen werden. Alle Projekte sind interdisziplinär und kooperativ angelegt. Von den insgesamt 49 bewilligten Projekten haben 11 den Umgang mit Vielfalt und Inklusion ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt, für 20 Projekte ist er einer von mehreren Schwerpunkten und 6 weitere nehmen explizit auf diesen Brennpunktbereich Bezug (vgl. Bund- Länder-Programm). Die Kurzbeschreibungen der Projekte bieten ein vielversprechendes Ensemble von Initiativen, welches die Hoffnung stärkt, in die Lehrerbildung sei endlich neues Leben gekommen, das vor allem auch Michael K. Legutke 184 Forschungen auf einem lange vernachlässigten Feld beflügeln dürfte (ein konkretes Beispiel liefert der Beitrag von Schmidt im vorliegenden Band). 4 Aufgaben für die Forschung Der Umgang mit Schülerheterogenität ist eine zentrale Forschungs- und Gestaltungsaufgabe, zu der die Fremdsprachendidaktik eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten liefert, die sie im Verbund mit anderen Disziplinen selbstbewusst in diese Aufgabe einbringen kann. Sie muss sich allerdings fragen lassen, ob sie an Vorstellungen der Leistungshomogenisierung, wie sie das gegliederte Schulsystem vornimmt, festhalten oder ob sie sich dezidierter für eine „Schule für alle“ aus fachlich begründeter Perspektive einsetzen will. Die vielen Empfehlungen und Handreichungen zum Umgang mit leistungsheterogenen Gruppen sprechen eher für die zweite Option. Allerdings fehlen, worauf Trautmann zu Recht hinweist (2016, 31), bisher Untersuchungen, die den komplexen Zusammenhang sozialer, kultureller und schulischer Umwelten von Schülergruppen und Fremdsprachenlernen fokussieren und dabei vor allem die Interaktionsprozesse im Klassenzimmer explorieren, in denen mit Heterogenität umgegangen wird. Drei Arbeitsbereiche zeichnen sich m.E. für die fremdsprachendidaktische Forschung ab. Theoretische-konzeptuelle Forschungsarbeiten müssten dazu beitragen, die Leitprinzipien einer inklusiven bzw. diversitätssensiblen Fachdidaktik zu bestimmen, wobei die historischen Traditionslinien nachgezeichnet und aus heutiger Perspektive kritisch zu bewerten wären (vgl. dazu den Beitrag von Diehr im vorliegenden Band sowie Amrhein/ Dziak-Mahler 2014). Das zweite Arbeitsfeld umfasst empirische Arbeiten auf dem Feld der Lehrerbildung, die dank der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ der Fremdsprachenforschung erstmals die Chance eröffnen in interdisziplinären Verbundprojekten mitzuarbeiten. Hier besteht die Herausforderung ohne Frage darin, ob und wenn ja in welcher Weise sich die Fremdsprachendidaktiken in die jeweiligen Projekte einbringen können, und ob sie die Chancen, die die Initiative bietet, nutzen werden, d.h. die Zusammenarbeit mit den Projekten aktiv suchen. Drittens schließlich müssten sich Fremdsprachendidaktiker_innen in Schulentwicklungsprozesse einschalten und diese begleiten, die nicht, wie in der Vergangenheit, mit Hilfe von top-down-Strategien versuchen, Schule zu verändern, sondern in denen Forschende und Lehrkräfte auf Augenhöhe, im Dialog, praktische Schritte zu einer „Schule für alle“ erkunden. Viele Schulen haben sich mittlerweile auf den Weg gemacht. Die große Herausforderung besteht allerdings darin, die institutionellen und personellen Bedingungen dafür herzustellen, dass solche kollaborativen „Forschungs- Zum Umgang mit Vielfalt und „die Schule für alle“ … 185 gemeinschaften“ entstehen und produktiv über einen längeren Zeitpunkt arbeiten können. 2 Es bleibt zu hoffen, dass im Kontext der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ auch nachhaltige Modelle für solche Forschung erprobt werden. 5 Literatur Amrhein, Bettina/ Bongartz, Christiane (2014): „,Diversity and inclusion in second and foreign language learning‘ - Chancen für die Lehrerbildung“. In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 25-44. Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv. Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft Englisch an Gesamtschulen) (Hrsg.) (1978): Kommunikativer Englischunterricht. Prinzipien und Übungstypologie. 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(2011): Individualisierung ernst genommen. Englisch lernen in jahrgangsübergreifenden Gruppen (3/ 4/ 5). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Trautmann, Matthias (2010): „Heterogenität - (k)ein Thema der Fremdsprachendidaktik? “ In: Börner, Otfried/ Edelhoff, Christoph/ Lohmann, Christa (Hrsg.) (2010), 6-16. Trautmann, Matthias (2016): „Ability grouping in (language) teaching - Wie soll Schule mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen und - fähigkeiten umgehen? “ In: Doff, Sabine (Hrsg.), 20-31. Wolff, Dieter (2010): „Differenzierung - Individualisierung - Förderung. Überlegungen zu einem integrierten Differenzierungskonzept für den Fremdsprachenunterricht“. In: Babylonia 10 (4), 51-56. „... und jetzt auch noch Inklusion“ oder: „Embracing everyone ...“? Herausforderungen für eine diversitätssensible Fremdsprachendidaktik Christiane Lütge 1 In der aktuellen und kontrovers geführten bildungspolitischen Diskussion spielen Begriffe wie ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ eine wichtige Rolle. Welche begriffliche Füllung verbinden Sie im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen mit diesen Begriffen? Das öffentliche Echo, die institutionellen Reaktionen und die unterrichtspraktischen Konsequenzen, die aus dem aktuellen Inklusionsdiskurs resultieren, sind selbst von einer so großen Heterogenität und Diversität geprägt, dass sie populär-politisch aufgeladen als Folie ganz unterschiedlicher Diskurse dienen können - und dies auch mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen je nach enger und weiter Auslegung des Begriffs. Um es gleich vorwegzunehmen: Falveys und Givners Argumentation erscheint mir besonders einleuchtend: Inclusive education is about embracing everyone and making a commitment to provide each student in the community, each citizen in a democracy, with the inalienable right to belong. Inclusion assumes that living and learning together benefits everypne, not just children who are labeled as having a difference (e.g. those who are gifted, are non-English proficient, or have a disability. (Falvey/ Givner 2005, 5) Tatsächlich wird Inklusion oft verengt auf die Dimension „Befähigung - Behinderung“. Dies ist natürlich im Kontext der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung der United Nations (UN 2006, 2008) zu sehen. Es ist nun genau dieser überall in der Literatur genannte Bezug auf die UN-Konvention, der seinerseits die Inklusionsdebatte auf den Aspekt der „Behinderung“ eingeengt hat. Paradoxerweise - so möchte man sagen - führt diese scheinbare Konkretisierung eines fluiden Großkonzepts damit auch zu seiner Kritik: additiv zu all dem, was in der Schule ohnehin schon geleistet wird, sollen nun - so die häufige Klage - Herausforderungen für eine diversitätssensible Fremdsprachendidaktik 189 Beeinträchtigungen aller Art im „normalen“ (Englisch-)Unterricht Berücksichtigung finden. Eine Reihe von konkreten Unterrichtsvorschlägen nimmt diese Verunsicherung auch auf und bietet gute Anknüpfungspunkte (Stoppok 2014 für Kinder mit einer Hörschädigung, Schäfer 2014 für Kinder mit Lernschwierigkeiten, Heßmann 2014 zur britischen Gebärdensprache). Nach einem weiteren Verständnis - und keineswegs den Aspekt von „Beeinträchtigung oder Behinderung“ exkludierend geht es bei Inklusion um die Verabschiedung von der Illusion, homogene Lerngruppen herstellen zu wollen oder zu können (Küchler/ Roters 2014, 234). Diversität, Heterogenität oder auch Differenz sind somit Zustandsbeschreibungen, die nicht negativ konnotiert und überwunden werden müssen, sondern als komplexe Situationen ganzheitlich begriffen und dynamisch modelliert werden müssen. Nach Hinz wendet sich Inklusion der Heterogenität und der Vielfalt von Personen positiv zu, (...) dabei kann es um unterschiedliche Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Nationalitäten, Erstsprachen, Rassen, soziale Milieus, Religionen und weltanschauliche Orientierungen, körperliche Behinderungen oder anderes mehr gehen. Charakteristisch ist dabei, dass Inklusion sich gegen dichotome Vorstellungen wendet, die jeweils zwei Kategorien konstruieren, bspw. Behinderte und Nichtbehinderte.“ (Hinz 2009, 171) Insbesondere der letztgenannte Punkt erscheint mir dabei von besonderer Bedeutung zu sein. Das Überwinden dichotomer Vorstellungen als Wesensmerkmal inlusiver Ansätze wird gerade dann konterkariert, wenn eine Verengung auf Beeinträchtigung/ Behinderung den Diskurs dominiert. Andererseits wäre die Vorstellung naiv - und dies nicht nur mit Blick auf die Unterrichtspraxis - , dass im Rahmen notwendiger didaktischer Reduzierungen keine Fokussierung auf bestimmte Differenzmarker erfolgen kann, ohne damit automatisch den Inklusionsgedanken zu verraten. Die Kehrseite eines weiten Inklusionsbegriffs macht aber auch auf das Dilemma aufmerksam, das vielen Begriffen im Rahmen inflationären Gebrauchs zu schaffen macht. Wenn Inklusion alles umfasst, was im Rahmen diversitätssensiblen Umgangs mit Heterogenität denkbar ist, werden konkrete Forderungen und auch Förderungen immer schwieriger greifbar. Eine solche weite Sicht auf Inklusion, wie sie etwa in Korffs Definition von inklusivem Unterricht (2012, 138) angelegt ist, der generell „für das gemeinsame Lernen in heterogenen Gruppen geeignet ist“, gehört für viele Lehrkräfte ohnehin zum Alltag. Somit wird - etwas zugespitzt formuliert - ein weiter Inklusionsbegriff häufig als „tägliches Pädagogenbrot“ empfunden, während ein enger, auf Beeinträchtigungen bezogener Begriff gelegentlich mit dem Stoßseufzer der Christiane Lütge 190 Überforderung in Verbindung gebracht wird. Es dürfte sich lohnen, beiderlei Reaktionen ernst zu nehmen. 2 Was können bestehende Ansätze der Fremdsprachendidaktik in Bezug auf welche Heterogenitätsdimensionen für einen inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterricht leisten und welche methodisch-didaktischen Veränderungen muss der Fremdsprachenunterricht als Konsequenz der steigenden Heterogenität leisten? Welche Formen von Differenzierung sind nötig (und möglich)? Mit der Formulierung des Ziels inklusiven Fremdsprachenunterrichts kommt all jenen Ansätzen besondere Bedeutung zu, die im Kontext differenz- oder diversitätssensibler Konzepte anzutreffen sind. Traditionell wird dies natürlich mit dem Inter- und Transkulturellen Lernen verbunden, das rund um das Thema „otherness“ und seine verschiedenen Facetten kreist. Neuere Ansätze, die globale Aspekte des Fremdsprachenlernens bedenken, erscheinen prädestiniert, um der Diversität der transkulturellen Bezüge als einende Klammer den gemeinsamen Nenner des „Globalen“ an die Seite zu stellen (Byram 2008; Lütge 2015). Die (Über-)Betonung von otherness im Sinne des Trennenden, von Differenzmarkern, die häufig genug entlang ethnisch-kultureller Demarkationslinien verläuft, hat lange den Blick verstellt für andere Aspekte von Diversität, sei dies in den Bereichen „gender, class and creed“ oder auch mit Blick auf LGBTQ-Themen oder eben auch für die Thematik der Beeinträchtigung bzw. Behinderung. Diverse Dimensionen von Heterogenität betreffen u.a. die Heterogenität der Geschlechterrollen, der unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Herkunft, der unterschiedlichen sozialen Umfelder, aber auch die Heterogenität weltanschaulicher Orientierungen sowie verschiedenster Lebensentwürfe oder sexueller Orientierungen. Dass das faktorielle „Auffächern“ des Andersseins, wie es sich in ebensolchen Aufzählungen zeigt, häufig nur einen identitären Teilaspekt fokussiert, ist bereits Teil des Problems. Denn: Bei Inklusion geht es nicht um simple Addition und auch nicht um Integration (obgleich die Begriffe Integration und Inklusion teilweise synonym benutzt werden, vgl. Hinz 2002). Eine inklusive Didaktik wird nach diesem Verständnis zu einem Paradigmenwechsel bei Lehr-Lern-Arrangements führen, die im Rahmen des neuen Hetereogenitätsdiskurses einen anderen Umgang mit unterschiedlichen Lernbedürfnissen und -voraussetzungen als bisher fordert. Folgt man Trautmanns Ausführungen (2010), so wird als Ursache von Differenz zu Herausforderungen für eine diversitätssensible Fremdsprachendidaktik 191 sehr bei individuellen Lernern angesetzt, während sich dagegen kaum Erklärungen finden, die Zusammenhänge zwischen sozialen Umwelten von Schülergrupeen und Fremdsprachenkompetenz(en) herstellen und die Interaktionsprozesse im Unterricht im Blick auf die Entstehung von Differenzen untersuchen. (Trautmann 2010, 4) Von dieser Überlegung aus ist der Schritt nicht groß, um das Potential literarischer, filmischer, akustischer Texte für das „Erfahren sprachlicher und literarischer Ausdrucksformen anderer Kulturen“ zum Ausgangspunkt zu machen, um die „transitorische, plurale Verfasstheit der eigenen Kultur und damit die Bedingtheit zu erkennen, denen ästhetisch-expressive Ausdrucksformen und kulturelle Prägungen unterliegen“ (Hallet/ Königs 2010, 14). Mit Blick auf methodisch-didaktische Entscheidungen sind für inklusive Ansätze viele alte Bekannte aus dem didaktischen „Fundus“ einsetzbar, wie etwa Rituale, sprachliche warm-ups, kooperative Lernformate, expressive Körpersprache, häufige Visualisierungen. Literaturdidaktisch kann der Einsatz von Multi-Level-Texten auf verschiedenen Kompetenzniveaus eine Rolle spielen, wie Catherine Cornford skizziert: Multilevel texts are distinct from ,levelled‘ texts in that they are written at two or more levels of complexity and are suitable for two or more levels of reading. (...) Also, multilevel texts often contain multiple points of view or types of information and use different formatting to emphasize `voice´or information type. (Cornford 2012, 1) Handlungs- und produktionsorientierte Ansätze der Literaturdidaktik bieten dabei ein großes didaktisch-methodisches Repertoire. Aber literarische Texte und Filme könnten der Inklusionsthematik noch viel mehr Impulse verleihen. Über die inhaltliche Adressierung inklusionsrelevanter Aspekte wird eine unmittelbare Auseinandersetzung mit Themen möglich, die im Sinne eines „embracing everyone“ auch ungewöhnliche Perspektiven auf Heterogenität und Diversität ermöglichen. So kann mit dem Jugendroman The Curious Incident of a Dog in the Night Time von Mark Haddon ein Protagonist mit Asperger-Syndrom diskutiert werden, der mit mathematischer Hochbegabung und Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung komplexer Gefühle anderer Menschen ein Charakter mit Stärken und Schwächen ist, der in einer Special Needs Class konkrete Strategien für den Umgang mit sich selbst und seinem sozialen Umfeld lernt. Christiane Lütge 192 Mit dem picturebook Susan laughs von Jean Willis wird ein Mädchen im Rollstuhl vorgestellt, dessen Lebensfreude und Aktivitäten eben keinerlei Einschränkungen zu unterliegen scheint. Im preisgekrönten Kurzfilm „The Present“ von Jacob Frey wird in Animationstechnik ein beinamuptierter Junge durch ein ungewöhnliches Geschenk aus Lethargie und Traurigkeit gerissen. „Literaturdidaktik war eigentlich immer schon inklusiv“ konstatiert Nieragden in seinem gleichnamigen Artikel (2014) und bringt damit einen wichtigen Punkt in alle diversitätsorientierten Diskurse ein, die das Potential von Texten und Medien noch lange nicht ausgeschöpft haben. 3 Eine Konsequenz größerer Heterogenität kann der verstärkte Einbezug von Unterstützungssystemen sein, die aus Sonderpädagogen/ -innen, pädagogischen Fachkräften sowie weiteren Fachkräften bestehen. Inwiefern muss sich vor dem Hintergrund des inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterrichtens in Teams auch die Fremdsprachenlehrerausbildung verändern? Beim Überwinden von Barrieren, einem zentralen Ziel jeglicher inklusionsdidaktischer Maßnahmen sind einerseits (bildungs-)politische Barrieren (z.B. widersprüchliche Bestimmungen), kulturelle Barrieren (z.B. Einstellungen) und didaktische Barrieren zu überwinden, wie Ziemen (2014, 45) skizziert. Hier steht als größte Herausforderung sicher im Raum, dass Heterogenität als Ressource betrachtet werden kann, um Lehr- und Lernprozesse gemeinschaftlich zu organisieren. Mittlerweile gibt es Konzepte für eine inklusionsorientierte Lehrerbildung (Booth 2008). Im Rahmen des Projekts der European Agency for special Educational needs entwickelten Teilnehmerinnen aus 25 Mitgliedsländern das Profile of Inclusive Teachers (vgl. Booth/ Amrhein 2014, 26), das vier zentrale Punkte für die Lehrerbildung enthält: • Wertschätzung, • Unterstützung aller Lernenden, • Zusammenarbeit mit anderen, • persönliche berufliche Weiterentwicklung. Im Rahmen fächerübergreifender Vorlesungen gibt es an vielen Universitäten bereits Querverbindungen, die zu gemeinsamen Projekten verschiedener Fächer führen. Herausforderungen für eine diversitätssensible Fremdsprachendidaktik 193 Fünf Thesen zur Didaktik des inklusiven Englischunterrichts werden von Amrhein und Bongartz zur Diskussion gestellt (Amrhein/ Bongartz 2014, 33): • Inklusion im Englischunterricht inkludiert und differenziert, • Inklusiver Englischunterricht ist mehrsprachiger Unterricht, • Inklusiver Englischunterricht ist Überzeugungssache, • Inklusiver Englischunterricht schadet niemandem - until otherwise proven, • Inklusiver Englischunterricht ist eine neue Herausforderung für Studierende des Lehramts. 4 Die Sprachlehrforschung und die Fremdsprachendidaktiken stehen erst am Anfang, sich konzeptuell dem Themenkomplex Inklusion zu nähern. Hinsichtlich welcher Fragestellungen sehen Sie einen prioritären Entwicklungs- und Forschungsbedarf? Während bisher vor allem Strukturmerkmale für das Gelingen integrativen Unterrichts beschrieben worden sind, sind mit Blick auf einzelne Fachdidaktiken eine Reihe von Forschungsdesiderata abzuleiten (vgl. Moser/ Kipf 2015). Diese berühren insbesondere die folgenden Bereiche mit großen Forschungsbedarfen: 1. Kompetenzmodelle 2. Unterrichtsentwicklung und Gestaltung 3. Diagnostik und Leistungsbewertung 4. Schulentwicklung und Steuerungsmodelle Die (fach-)didaktische Diskussion geht dabei momentan offenbar in zwei Richtungen und fragt nach: a) den Bestandteilen einer inklusiven Didaktik, die die Bedürfnisse der Heterogenitätsaspekte aller Schüler abdeckt sowie b) den Fragestellungen von Fächern und Fachdidaktiken, die im Diskurs inklusiver Didaktik fachbezogene Dimensionen etablieren kann. Mit Blick auf fremdsprachendidaktische Fragestellungen scheinen folgende Bereiche besonders fruchtbar: Christiane Lütge 194 • Aspekte des gestörten Spracherwerbs aufgrund spezifisch sprachlicher Entwicklungsstörungen, • Mehrsprachigkeit und Inklusion insbesondere mit Blick auf Sprachkenntnisse und Kognition, • die Einstellungen der Lehrenden innerhalb des Inklusionsdiskurses, • Modelle und Konzepte der Lehrerbildung in Anlehnung an das Profile of Inclusive Teachers, • literaturdidaktische Fragestellungen mit Blick auf thematische Erweiterungen und Literaturkanones, • das Potenzial mediendidaktischer Ansätze. Die beiden letztgenannten Bereiche vermögen dabei vermutlich eine recht hohe Anschlussfähigkeit an bereits bestehende Diskurse zu ermöglichen, die z.B. die Betonung der Individualität des Lese- und Verstehensprozesses oder die Förderung emotionaler und empathischer Leserreaktionen sowieso schon anstreben. Mediendidaktische Konzepte, die auch für Bereiche eingeschränkter Hör- oder Sehfähigkeiten bereits jetzt eine wichtge Rolle spielen, werden für fremdsprachendidaktisch relevante Inklusionsforschung besonders relevant sein. Hier sei nur exemplarisch der Ansatz der kanadischen Forscherin Heather Lotherington (2011) erwähnt, die den Zusammenhang von digital narratives und Inlusion vor dem Hintergrund eines multiliteracies-Ansatzes neu und originell denkt. Es sind solche Ansätze, die inklusionsdidaktische Konzepte nicht statisch-additiv modellieren, sondern als dynamische und potentiell integrale Facetten des Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachenforschung ansehen, sodass „embracing everyone“ nicht nur mit dem Blick auf das Klassenzimmer, sondern auch auf die Lehrerbildung mit seinen verschiedenen Phasen noch eine wichtige Rolle spielen wird. Literatur Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) 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Fächerkulturen und Disziplinen unterschiedliche begriffliche Füllungen bestehen. Während in den Erziehungswissenschaften ein enger Begriff von Inklusion zu dominieren scheint, ist Inklusion im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen nicht ausschließlich im angesprochenen Sinne als die Integration von Menschen mit Behinderung, sondern in einem weiteren Sinne als „l’acceptation consentie de toutes les diversités“ zu verstehen (Cherqui/ Peutot 2015, 67). Dabei umfasst Diversität unterschiedliche Dimensionen: „Alter, Gender, ethnische Herkunft, sozioökonomischer Hintergrund, kulturelle und religiöse Orientierung, sexuelle Orientierung sowie physische und kognitive Fähigkeiten, besondere Begabungen und Talente“ (Gläser et al. 2015, 4). Im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht wird genauer unterschieden zwischen Leistungsfähigkeit, Motivation, Interesse, Lern- und Leistungsbereitschaft, Vorwissen, Sprachkenntnissen, Lernvoraussetzung, Lernstil, Lerntempo, Lebenswelt, soziokultureller Herkunft, Zuwanderungsgeschichte, Sprachlerngeschichte, Sprachregister (Caspari/ Holzbrecher 2016, 10-13). Ziel von Inklusion im Fremd- und Zweitsprachenunterricht bzw. inklusivem Fremd- und Zweitsprachenunterricht ist es, mit und durch Sprachen „den bestmöglichen Bildungserfolg für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, die soziale Zugehörigkeit und Teilhabe zu fördern und jedwede Diskriminierung zu vermeiden“ (HRK/ HKM 2015, 2). Im Einzelnen kann es zum Beispiel um die Integration von Kindern mit Migrationshintergründen in den Regelunterricht (Deutsch als Zweitsprache bzw. Französisch als Zweitsprache) gehen, um die Berücksichtigung migrationsbedingter/ herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen aber auch um die Förderung sowohl der Mädchen als auch der Jungen im Französischbzw. Spanischunterricht und nicht zuletzt um Fragen der In- Hélène Martinez 198 klusion von Schülern 1 So verstanden setzt Inklusion bzw. der inklusive Fremdsprachenunterricht die Anerkennung und die Wertschätzung von Diversität voraus. Das Konzept entspricht einer konsequenten Gleichstellung aller Menschen und ein Neuverständnis von (Menschen mit) Beeinträchtigungen, welches Vielfalt nicht (mehr) defizitär, sondern als Reichtum betrachtet. In Bezug auf die Inklusion allophoner Lerner in Frankreich sprechen Cherqui/ Peutot (2015, 30) von einem Paradigmenwechsel: „[D’]une homogénisation imposée, on passe à une hétérogénéité acceptée, source de richesse et de potentialités.“ mit geistigen und körperlichen Behinderungen (vgl. dazu Mendez 2012). Mit der Forderung nach Inklusion bzw. Gleichstellung von Schülern mit oder ohne Behinderung in der Regelschule geht eine Verschiebung der Fokussierung einher, welche Cherqui/ Peutot (2015, 48) folgendermaßen zusammenfassen: „Ne plus centrer sur le dispositif: Penser en terme de réussite de l’élève“. Trautmann (2010, 2) hat diese treffend formuliert: „[s]tatt eine Anpassung der Schüler an den Unterricht wird umgekehrt eine Anpassung von Schule und Lehrerhandeln an die unterschiedlichen Schülerinnen und Schüler [angestrebt].“ Ein solches Verständnis von Inklusion knüpft in der Sprachlehr- und -lernforschung an den in den 70er Jahren angesetzten Diskurs zu Lernerorientierung und die Erforschung individueller Unterschiede an, welcher nach Erklärungen für die individuellen Variationen bezüglich des Lernerfolgs sucht. Paradigmatisch dafür ist die Einzelgänger-Hypothese, die jeden Einzelfall als einen singulären und äußerst individuellen Faktorenkomplex konzeptualisiert, welchen es im Fremdsprachenunterricht zu berücksichtigen gilt (vgl. Riemer 1997). Allerdings steht dabei überwiegend die Lern(er)perspektive im Blick (vgl. Martinez 2016, 244) und weniger das ganzheitliche Individuum im Sinne der im Rahmen der Inklusion geforderten Personalisierung, in Anlehnung an reformpädagogisches Gedankengut. 2 Der Beitrag des Unterrichts romanischer Sprachen zur inklusiven Beschulung Ein Literaturüberblick zu inklusivem Fremdsprachenunterricht deutet daraufhin, dass unterschiedliche bestehende Ansätze einen Beitrag zum diversitätssensiblen Fremdsprachenunterricht leisten können. Diese reichen von der Thematisierung von Behinderung in literarischen Werken (u.a. 1 Maskuline Bezeichnungen wie „Schüler“ werden im generischen Sinne verwendet. Fremdsprachenlernen, -lehren und darüber forschen: alles inklusiv? 199 Caspari 2012) über aufgabenorientierten Fremdsprachenunterricht (u.a. Caspari/ Holzbrecher 2016; Doert/ Nold 2015; Müller-Hartmann/ Schocker 2015; für einen Überblick im Bereich des Englischunterrichts vgl. Bongartz/ Rohde 2015) bis hin zu curricularen Vorschlägen (Allgäuer-Hackl 2015; Hufeisen 2011; Reich/ Krumm 2013). Im Folgenden gehe ich detailliert auf Ansätze im Rahmen der (romanischen) Mehrsprachigkeitsdidaktik und der Tertiärsprachendidaktik ein, welche die sprachliche und kulturelle Heterogenität fokussieren. Mehrsprachigkeitsdidaktik als Transferbzw. Inferenzielle Didaktik beruht auf dem gewinnbringenden Einsatz von positivem Transfer (Inferenzen) für das Erlernen von (Fremd-)sprachen: [ c ] e qui caractérise comme telle(s) la/ les didactiques du plurilinguisme, c’est la volonté de favoriser par l’intervention didactique, des démarches d’apprentissage des langues dans lesquelles l’apprenant peut s’appuyer sur ses connaissances linguistiques préalables, dans quelque langue que ce soit. (Candelier/ Castellotti 2013, 182) Die systematische Erforschung des Transfers hat gezeigt (zur Transfertypologie vgl. Meißner 2004), dass [W]er Französisch lernt, lernt [...] nicht nur Französisch, sondern (retroaktiv und proaktiv) mehr als das. Er lernt auch seine anderen vorher und gleichzeitig gelernten Sprachen besser kennen und baut seine methodischen und (inter)kulturellen Kompetenzen aus. (vgl. Christ 2008, 57) Ein aus meiner Sicht wichtiger Beitrag dieser Forschung ist der Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachlernbewusstsein bzw. Sprachlernkompetenz mit dem empirischen Beleg, dass mehrsprachige Personen über eine sogenannte „compétence d’appropriation plurilingue“ (Castellotti/ Moore 2005, 130) verfügen, die ihnen erlaubt, bereits erworbene Sprachenkenntnisse, Sprachlernerfahrungen und -strategien durch Transfer für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzen (vgl. Christ 2006, 60; für ein Modell des multiplen Sprachenerwerbs vgl. Hufeisen 2003). Mittlerweile steht unter der Bezeichnung Plurale Ansätze (Candelier 2009) eine Reihe von Ansätzen zur Verfügung mit dem Ziel, das mehrsprachige - und mehrkulturelle - Repertoire der jeweiligen Lernenden aufzubauen und auszuweiten bzw. ihre multi language (learning) awareness zu schulen (vgl. auch Martinez 2015a). Gefordert wird die Berücksichtigung und der Einbezug der vorhandenen individuellen Mehrsprachigkeit der Lernenden in den schulischen Alltag, die Wertschätzung der bereits vorhandenen individuellen Mehrsprachigkeit der Lernenden, die Förderung der schulischen Mehrsprachigkeit, die Sensibili- Hélène Martinez 200 sierung der Lehrenden für Fragen rund um die Mehrsprachigkeit, die Ausbildung und Förderung von sprachübergreifender Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit, das Trainieren von (Fremd-)Sprachenlernstrategien, die Förderung interkulturellen Lernens, die Ausnutzung von Synergieeffekten und der Lernökonomie sowie die systematische Integration individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in alle Unterrichtsfächer (z.B. durch bilingualen Sachfachunterricht) (vgl. u.a. Hufeisen 2011). Aktuelle Überlegungen zur Integration herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit in den Unterricht romanischer Sprachen (zuletzt Fernández Ammann/ Kropp/ Müller-Lancé 2015) knüpfen an diese Überlegungen und an Vorarbeiten zur lebensweltlichen Mehrsprachigkeit an (Hu 2003; Reich/ Krumm 2013; Volgger 2012) 2 Die Berücksichtigung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt im fremdsprachlichen Klassenzimmer stellt des Weiteren eine Chance dar, interkulturelle Kompetenz (vgl. KMK 2012) nicht nur zu fördern, aber auch zu erleben. Entscheidend ist dabei, dass die Schüler ihre individuelle Mehrsprachigkeit als Ressource erleben und dass diese Vielfalt wertgeschätzt und sichtbar wird - und nicht verdrängt wird (vgl. De Cilia 2008, 81). . Einerseits sind sie mit ihrem Innovationspotenzial wegweisend, andererseits zeigen sie, dass „auch heute - über 20 Jahre nach dem Aufkommen von Mehrsprachigkeitsdidaktik und Tertiärsprachenforschung - immer noch große Defizite im Fremdsprachenunterricht bestehen, was die Integration weiterer Sprachen, insbesondere typischer Herkunftssprachen, betrifft“ (Fernández Ammann/ Kropp/ Müller- Lancé 2015, 19). Defizite zeigen sich vor allem in der ungenügenden Wahrnehmung der Sprachlichkeit von Schülern mit Migrationshintergrund und dass diese nicht die Möglichkeit erhalten, ihr vorhandenes Potenzial auszuschöpfen. Empirische Forschungsarbeiten belegen leider, dass eine positive Grundhaltung gegenüber mehrsprachigkeitsorientierten Verfahren nicht unbedingt mit einer Anwendung dieser Verfahren durch die Fremdsprachenlehrkräfte einhergeht (Heyder/ Schädlich 2014, 2015; Mehlhorn/ Neveling 2012; Hu 2003). Darüber hinaus wird zunehmend deutlich, dass der Erhalt und die Förderung der vorhandenen Sprachen migrationsbedingt mehrsprachiger Lerner Grundvoraussetzung ist für deren erfolgreichen Einsatz im Zusammenhang mit dem Erlernen weiterer Sprachen (vgl. Schöpp 2015, 164; Elsner 2015; Reissner 2015), was die Forderung nach einem Gesamtcurriculum aufwirft (Allgäuer-Hackl et al. 2015). 3 2 Es scheint sich hierzu eine neue Begrifflichkeit zu etablieren. An der Stelle wird deutlich, dass die Integration der herkunftsbedingten Mehrsprachigkeit nicht nur eine Frage der (Mehrsprachigkeits-)Didaktik ist, sie stellt 3 Zur Gefahr der Aussonderung von Schülern vgl. u.a. Reich/ Krumm 2013. Fremdsprachenlernen, -lehren und darüber forschen: alles inklusiv? 201 eine Infragestellung der herrschenden Sprachenpolitik eines Landes dar (zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Sprachenpolitik Frankreichs s. Cherqui/ Peutot 2015). Methodisch-didaktisch muss sich der Unterricht sowohl in Richtung Differenzierung als auch in Richtung Individualisierung/ Autonomisierung weiterentwickeln. Trautmann (2010, 6) spricht zu Recht von einer „Differenzierung von oben“ und einer „Differenzierung oder Individualisierung von unten“. Erstere ist lehrerseitig und zielt auf die Passung zwischen Unterricht und Lernern als Aufgabe des Lehrers. Letztere ist lernerseitig und zielt darauf, dass die Lerner selbst passende Materialien, Themen, Lernwege usw. auswählen und selbstständig bearbeiten. Der Lehrer wird zum Lernberater. Diese Differenzierung findet sich in der Literatur zu individualisation/ individualization aus den 70er und 80er Jahren. So unterscheidet Allwright (1982, 24) zwischen einer Vermittlungs- und einer Aneignungsperspektive von Individualisierung: One way of looking at individualisation is to see it as something teachers do to make sure each learner gets his or her needs. Another way of looking at it, (...), is to see it as something learners may do, given the opportunity, to get whatever they want from a learning situation. Die Vermittlungsperspektive hat zu der Erstellung unterschiedlicher pädagogischer Arrangements und Ansätze geführt, wie z.B. dem Erstellen von Lernverträgen oder dem Stationenlernen (open lab), welche dem Lerner eine aktivere Rolle zuschreiben (vgl. Geddes/ Sturtridge 1982). Convey/ Coyle (1999 zitiert nach Jiménez Raya/ Lamb 2003, 18) haben unterschiedliche Wege der Differenzierung im Fremdsprachenunterricht identifiziert: • Asking students to work on the same topic area but using different texts (which may be listening as well as reading texts), • grading tasks whilst using the same text, • having learners work on the same task but they produce different outcome, • providing different kinds of support to individual learners, • grouping students in different ways for different purposes, • providing a variety of approaches, teaching styles and activities (range), • allowing students to pursue something that it is of their own interest. Hélène Martinez 202 In der Aneignungsperspektive verschmelzen Individualisierung und (Lerner-)Autonomie 4 Inklusionsfördernde Ansätze und diversitätssensible pädagogischmethodische Maßnahmen - wie sie hier exemplarisch erörtert werden - implizieren hohe Anforderungen sowohl an die Lernenden als auch an die Lehrkraft - und bergen die Gefahr der Überforderung. Unerlässlich ist strukturelle und personale Unterstützung, ohne die Inklusion ein Sparmodell mit fatalen Konsequenzen bleibt (vgl. die öffentliche Debatte in der aktuellen Presse). Nach Cherqui/ Peutot (2015, 50-51) geht es um die Einrichtung von: im Sinne der Bereitschaft und Fähigkeit des Lerners, Kontrolle über den Fremdsprachenlernprozess auszuüben (z.B. Kontrolle über kognitive Prozesse einschließlich Kontrolle über sprachlichen und didaktischen Transfer (s.o.)). Eine neue Lehrer- und Lernerrolle ist gefordert (der Lehrer wird zum learning facilitator) und fokussiert auf die Notwendigkeit des Lernen Lernens bzw. der Autonomisierung. Damit verbinden sich Ansätze zu (Sprach-) Lernberatung bzw. -coaching. • dispositifs supplémentaires, en plus des enseignements ordinaires, lorsque l’aide s’ajoute au travail en classe ordinaire; • dispositifs substitutifs, qui remplacent d’autres enseignements de la classe ordinaire; • la prise en compte dans le collectif, dans la classe ordinaire, de la spécificité, par individualisation ou différenciation, éventuellement par la présence en classe d’un personnel d’accompagnement. Darüber hinaus müssen diese Maßnahmen durch entsprechende Entwicklungen in der Lehrer(aus)bildung flankiert werden. 3 Inklusive Lehrer(aus)bildung und Entwicklung von diversitätssensiblen Lehrerkompetenzen Erste Konzepte für eine inklusionsorientierte Lehrerbildung sowie ein Profil inklusiver Lehrkräfte liegen bereits vor. Letzteres ist das Ergebnis eines Projekts der European Agency for Special Educational Needs und umfasst nach Amrhein/ Bongartz (2014, 26) folgende vier Werte: • Wertschätzung der Vielfalt der Lernenden - Differenz der Lernenden wird als Ressource und Bereicherung für die Bildung wahrgenommen 4 An der Stelle sei daran erinnert, dass Partizipation des (lernenden) Individuums an seiner (Sprach-)Bildung - im Sinne der heutigen Inklusionsdebatte - dem Konzept der Lernerautonomie zugrunde liegt. Fremdsprachenlernen, -lehren und darüber forschen: alles inklusiv? 203 • Unterstützung aller Lernenden - die Lehrkräfte haben hohe Erwartungen an die Leistungen aller Lernenden • Zusammenarbeit mit anderen - Kooperation und Teamarbeit sind von zentraler Bedeutung für alle LehrerInnen • Persönliche berufliche Weiterentwicklung - Unterrichten ist eine Lerntätigkeit, und Lehrkräfte übernehmen Verantwortung für ihr lebenslanges Lernen. Die Setzungen korrelieren mit den Anforderungen der gemeinsamen Empfehlung der Hochschulkonferenz und Lehrerbildung zu Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt (HRK/ KMK 2015) und verdeutlichen, dass kompetente (inklusive) Lehrerhandlung die Mobilisierung von unterschiedlichen Kompetenzen und Ressourcen zur Lösung differenz-spezifischer Aufgaben oder Problemen erfordert (vgl. zum Konzept der Lehrerkompetenz als Mobilisierungskompetenz Martinez 2015b) und dass eine noch zu entwickelnde inklusive Lehrerbildung sowohl auf der Förderung von Wissen 5 als Grundlage professionellen Lehrerhandelns (Wissen um Inklusion, Diversität, Umgang mit Diversität, Fördermaßnahmen etc.) als auch auf der Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Einstellungen und Haltungen gegenüber Vielfalt gründen muss 6 Zum Erwerb dieser Kompetenzen im Rahmen der Fremdsprachenlehrerausbildung sollten reflexive Lerngelegenheiten und Szenarien entwickelt werden, in denen diese Ressourcen in der Auseinandersetzung mit konkreten zu lösenden Aufgaben systematisch aufgebaut werden (vgl. Mar- . Darüber hinaus setzt die kompetente (inklusive) Lehrerhandlung savoir-apprendre voraus, welches ermöglicht, dass (angehende) Lehrkräfte über das eigene Handeln reflektieren und es entsprechend regulieren (können), also sich ihrer Ressourcen bewusst sind und ggf. weitere suchen und transferieren und je nach Anforderung aktivieren - im Sinne lebenslangen Lernens. 5 In dem Fall wird eine engere Zusammenarbeit mit den Nachbardisziplinen erforderlich sein. 6 Für die Konzeptualisierung letzterer Ressource kann der Referenzrahmen für plurale Ansätze (REPA) (Candelier 2009) eine gute Grundlage bilden: Sprachaufmerksamkeit, Sensibilität für und Neugier/ Interesse an fremden Sprachen und Kulturen, Akzeptanz und Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Sprachen und Kulturen, Respekt und Achtung gegenüber anderen Sprachen und Kulturen, Bereitschaft zur Annäherung an andere Sprachen und Kulturen, Wille und Bereitschaft zur Revision von (Vor-)Urteilen und erworbenen Vorstellungen sowie kritische Haltung gegenüber Sprache/ Kultur und Bereitschaft zum Perspektivenwechsel. Hélène Martinez 204 tinez 2015b). Im Einzelnen wären im Rahmen von fremdsprachendidaktischen Seminaren folgende Lernaufgaben denkbar: • Arbeiten an Fallbeispielen bezogen auf eine unterrichtliche Heterogenitätsdimension (mit Hilfe von Videographie); • Erproben von durch Studierende selbsterstellte diversitätssensible Aufgaben in Schulen, inklusive studentischer Begleitforschung; • Durchführung (begrenzter) empirischer Projekte an Schulen in Bezug auf inklusives Fremdsprachenlernen; • Microteaching (evtl. mit team-teaching-Ansätzen) im Rahmen von Seminaren; • Durchführung von Handlungsforschungsprojekten/ Entwicklung von Aktionsforschungskompetenzen. Wichtig wäre dabei, dass die Bedürfnisse der heterogenen Praxis deutlich sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Die notwendigen Änderungen in der Lehrerbildung liegen m.E. nicht nur auf der strukturellen und inhaltlichen Ebene (Zusammenarbeit zwischen Allgemein- und Sonderpädagogik sowie Fremdsprachendidaktik und Integration inklusiver Inhalte/ Schwerpunkte in die Curricula), sondern in der hochschul- und fremdsprachendidaktischen Konzeption von Lehrerausbildung. 4 Forschungsbedarf: Möglichkeiten und Grenzen inklusiven Fremdsprachenunterrichts Die Auseinandersetzung mit der Inklusionsthematik hat deutlich gemacht, dass der Fremdsprachenunterricht in romanischen Sprachen und deren Erforschung - anders als der Englischunterricht (u.a. Bongartz/ Rohde 2015) - bisher den Aspekt der Diversität eher vernachlässigt hat. Für mich wären die Grenzen der Machbarkeit inklusiven Fremdsprachenunterrichts grundsätzlich zu erörtern. Diese Frage lässt sich allerdings nicht pauschal beantworten und müsste im Hinblick auf spezifische Diversitätsdimensionen angegangen werden. In Einklang mit den Erläuterungen im 2. Kapitel sind Forschungen notwendig, die die sprachliche und kulturelle Heterogenität fokussieren und ihre Chancen aber auch Grenzen zeigen. Diese sind aus dreierlei Perspektiven zu leisten: die Perspektive der Lerner selbst, der Lehrkräfte und der Lehrer(aus)bildung. Es wäre z.B. interessant herauszufinden, wie die Schüler die Integration herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit in den Unterricht romanischer Sprachen erleben, welche Einstellungen Schüler zu ihrer eigenen Fremdsprachenlernen, -lehren und darüber forschen: alles inklusiv? 205 Mehrsprachigkeit haben, inwieweit sie diese als Potenzial wahrnehmen und einsetzen können, wie ‚einsprachige‘ Schüler die Integration der herkunftsbedingten Mehrsprachigkeit ihrer Schulkameraden in den Einzelsprachenunterricht beurteilen und wie sich eine Kultur der Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer etablieren kann. Seitens der Lehrkräfte wäre es zwingend zu untersuchen, ob im Rahmen von Handlungsforschungsprojekten die Mehrsprachigkeitskompetenz von Lehrern gesteigert werden kann (zu Fragen von Einstellungen von (angehenden) Lehrern vgl. Schlaak 2015; Gerlach 2015). Lehrerausbildungsprojekte - wie ich sie im 3. Teil beschrieben habe - könnten ebenfalls im Hinblick auf ihre Wirkung untersucht werden. In Bezug auf die Inklusion lernbeeinträchtigter Schüler wird Grundlagenforschung benötigt, die z.B. Auskunft über das Erlernen des Französischen durch Schüler mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten liefert (vgl. Engelen 2016). Im Rahmen einer von mir betreuten Qualifikationsarbeit wird dabei deutlich, dass eine weitere Herausforderung in der reflektierten Auswahl „differenzsensibler“ Forschungsmethoden liegt. Studien zu Gender Awareness sind ebenso von Nöten: angesichts der Tatsache, dass der Französischunterricht Schwierigkeiten hat, männliche Jugendliche zu motivieren, könnten Studien über Einstellungen von Französischlehrkräften zu der Kategorie Geschlecht und der Auswirkung auf unterrichtliche Lehr- und Lernprozesse von großer Bedeutung sein. Und last but not least: Wenn Inklusion mit der Stärkung jedes Einzelnen einhergeht, wäre grundsätzlich zu erforschen, wie (Sprach-)Lernberatung das erhoffte Empowerment der Lernenden unterstützen und sich im Hinblick auf einen diversitätssensiblen Fremdsprachenunterricht weiterentwickeln kann (zur Rolle von Sprachberatung und Sprachdiagnose im Rahmen der Mehrsprachigkeitsdidaktik vgl. Reich/ Krumm 2013, 188). Literatur Allgäuer-Hackl, Elisabeth/ Brogan, Kristin/ Henning, Ute/ Hufeisen, Britta/ Schlabach, Joachim (Hrsg.) (2015): MehrSprachen? - PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula. 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Inklusion von Herkunftssprachenlernenden in den Fremdsprachenunterricht Russisch Grit Mehlhorn Dieser Beitrag nimmt eine konkrete Zielgruppe - Herkunftssprachenlernende im Fremdsprachenunterricht - in den Blick, um gezielt Aussagen zu einem spezifischen Inklusionsgegenstand (vgl. Königs in diesem Band) treffen zu können. Ich konzentriere mich im Folgenden auf den Fremdsprachenunterricht Russisch, den besonders viele Schülerinnen und Schüler (SuS) mit Russisch als Familiensprache besuchen. Einige Aspekte sind jedoch auch auf Unterricht in anderen Schulfremdsprachen (Französisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch, Tschechisch) sowie auf SuS, die von einem längeren Aufenthalt im Zielsprachenland zurückgekehrt sind (vgl. Schmelter in diesem Band), übertragbar. 1 Begriffe ‚Heterogenität‘ und ‚Inklusion‘ Schülerinnen und Schüler (SuS) einer Klasse unterscheiden sich u.a. in Bezug auf Geschlecht, sozialen Status, Herkunft, Motivation, Gedächtnisleistung, Konzentrationsfähigkeit, Lernstile, verschiedene Begabungen und Beeinträchtigungen. Im Fremdsprachenunterricht spielen des Weiteren Sprachlerneignung, interkulturelle und kommunikative Kompetenzen eine wichtige Rolle. Zudem differieren die sprachlichen Vorkenntnisse bei Herkunftssprechern wesentlich stärker als bei Fremdsprachenlernenden. Diese Vielfalt wurde und wird meist als Dilemma wahrgenommen: Lernende mit so unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernbedürfnissen gemeinsam zu unterrichten, stellt Lehrpersonen vor immense Herausforderungen, zumal wenn für alle in der Lerngruppe dieselben Lernziele gelten. Durch die Selektion auf der Sekundarstufe 1 (Gymnasium vs. andere Schulformen) im deutschen Schulsystem werden Bildungschancen und gesellschaftliche Teilhabe sehr ungleichmäßig verteilt, wobei bestimmte Gruppen, z.B. SuS mit Migrationshintergrund und SuS aus sozial schwachen Familien, besonders benachteiligt sind. Die Häufung abgeschobener, frustrierter, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammender Kinder führt zu ungünstigen Lernmilieus, zu abnehmender Lernmotivation und oft auch zu Aggression (Jantowski 2014a, 100). Dem will man mit Inklusion Inklusion von Herkunftssprachenlernenden … 211 begegnen, d.h. der Akzeptanz von Heterogenität, verbunden mit dem Ziel, diese Vielfältigkeit, z.B. in Bezug auf (herkunftsbedingt) unterschiedliche sprachliche und kulturelle Vorwissensbestände, im Sinne eines Lernzuwachses zu nutzen. Bisher wird Inklusion oft auf SuS mit verschiedenen Beeinträchtigungen (z.B. Hör-, Seh-, körperliche und seelische Behinderungen, Autismus und Teilleistungsstörungen wie Legasthenie) beschränkt, die statt in Sonderschulen gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen ohne speziellen Förderbedarf lernen sollten. Diese Definition verstehe ich als Inklusion im engeren Sinne (vgl. Abb. 1). Gemeint ist eigentlich eher eine Integration von beeinträchtigten SuS in eine Lerngruppe von SuS ohne Beeinträchtigungen. In einem weiter gefassten Inklusionsverständnis werden nicht nur Behinderungen, sondern alle denkbaren Differenzkategorien, z.B. auch der Faktor Migration, eingeschlossen. Abb. 1: Lernende im Fremdsprachenunterricht Russisch. Lernende mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit machen einen großen Teil der Schülerschaft aus. Diese SuS können nur dann eine positive Einstellung zu ihrer eigenen Mehrsprachigkeit gewinnen, „wenn ihr tägliches Umfeld diese würdigt und ihnen zeigt, wie sie diese insbesondere beim Lernen weiterer Sprachen konstruktiv nutzen können“ (Elsner 2010, zit. n. Karakaşoğlu 2016, 42). Grit Mehlhorn 212 Am schulischen Russischunterricht nehmen viele Herkunftssprecher/ innen teil, für die Russisch gleichzeitig Familiensprache ist (vgl. Abb. 1). Schon aufgrund der sehr unterschiedlichen Russischvorkenntnisse können in einem solchen Unterricht nicht für alle SuS dieselben Ziele gelten. Vielmehr sollten die Verschiedenheiten der Lernenden akzeptiert und als Ressource genutzt werden, indem alle SuS Lernangebote erhalten, die ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechen. Die Heterogenitätsdimensionen in Abb. 1 betreffen nicht nur den schulischen Fremdsprachenunterricht Russisch, sondern bilden auch die derzeitigen Verhältnisse in der universitären Russischlehrerausbildung ab - mit einem zurzeit immer noch steigenden Anteil von Studierenden mit Russisch als Herkunftssprache. Hinzu kommen russische Muttersprachler/ innen - Studierende, die in einem russischsprachigen Land aufgewachsen und erst im Erwachsenenalter nach Deutschland zugewandert sind. Die Beschulung von SuS im nicht abschlussrelevanten herkunftssprachlichen Unterricht - meist an einer anderen Schule nach dem eigentlichen Schultag - stellt nicht nur eine Form der äußeren Differenzierung dar, sondern wird im Inklusionsdiskurs aufgrund der Marginalität dieser Unterrichtsform (vgl. Mehlhorn 2017) auch als Exklusion wahrgenommen - sowohl von den separat unterrichteten SuS als auch auch von ihren Lehrkräften, die zum Teil unter prekären Bedingungen und ohne Kontakt zum Lehrendenteam der betreffenden Schule als pädagogische ‚Einzelkämpfer/ innen‘ Unterricht durchführen, von dem in der Gesellschaft kaum Notiz genommen wird. 2 Umgang mit Heterogenität in der Fremdsprachendidaktik / Differenzierungsformen Innere Differenzierung ist prinzipiell in allen Dimensionen des Unterrichts möglich: z.B. in den Aufgaben, Themen, Texten und Materialien, Methoden und Medien (vgl. u.a. Mehlhorn 2011). Zentrale Komponenten der Lernförderung sind 1) Kommunikation der Unterrichtsziele und Erfolgskriterien, 2) Zerlegung der Aufgaben in Teilschritte, 3) Anpassung der Schwierigkeit von Aufgaben an die Schülerfähigkeit, so dass Bearbeitung und Lösung kognitiv herausfordernd sind, aber im Bereich der proximalen Entwicklung liegen, 4) Arbeiten mit strukturiertem Material und ausgearbeiteten Lösungsbeispielen, 5) regelmäßige Leistungskontrolle, Inklusion von Herkunftssprachenlernenden … 213 6) häufiges informationshaltiges Feedback, 7) Hinweise auf Strategieverwendung, 8) verteiltes Üben und Wiederholen, 9) interaktive Arbeitsformen in kleinen Gruppen und 10) Vergabe von Zusatzaufgaben (Werning 2014, 614). Insbesondere kooperative Lernformen wie Projektarbeit und die Arbeit an Stationen sowie Sozialformen (Gruppen-, Partner- und Einzelarbeit) haben Potenzial für Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts. Gleichzeitig illustrieren Fallbeispiele wie bei Idel/ Rabenstein (2016) sowie Sell (2016), dass auch ein heterogenitätssensibler individualisierender Unterricht nicht nur positive Effekte für alle erzielt und ebenfalls anfällig für Exklusionsmechanismen ist. Auf den seit Jahren zunehmenden Anteil von SuS mit russischsprachigem Hintergrund im schulischen Russischunterricht reagieren inzwischen auch die Schulbuchverlage. In die neue Lehrwerkgeneration Dialog (Adler et al. 2016) für Russisch als zweite Fremdprache wurden - mehr als jemals zuvor - zusätzliche Differenzierungsangebote integriert, die sich an drei unterschiedliche Lerngruppen wenden: 1. SuS, die zusätzliche Hilfe benötigen, 2. leistungsstarke SuS und 3. Herkunftssprecher/ innen. Die „Hilfen zur Bewältigung der Aufgaben“ für die erste Gruppe umfassen Formulierungshilfen (Satzanfänge, Satzteile), Transkripte zu Hörtexten, Zwischenschritte (z.B. das Vorgeben eines Beispiels), Hinweise auf Hilfen im Lehrbuchanhang sowie Lerntipps. Die „anspruchsvollen Übungen“ für die zweite Gruppe bestehen aus Zusatztexten (z.B. Gedichten, Sprichwörtern, Schnellsprechversen), zusätzlichen Aufgabenstellungen (z.B. „Setze die Aussagen ins Präteritum“), Aufforderungen zur Erstellung von Postern, Präsentationen und Spielen sowie weiteren Aufgaben zur Wortbildung und formfokussierenden Aktivitäten. Für die Herkunftssprecher/ innen (Gruppe 3) sind zusätzliche orthografische Übungen, Grammatikübungen, die schriftliche Beantwortung von Fragen, das Ausschreiben von Zahlen, anspruchsvollere Sprechaufgaben, u.a. auch zur Sprachmittlung, und eine Aufgabe mit Bezug zur Lebenswelt von SuS mit Migrationshintergrund (ebda, 115/ 10) vorgesehen. Das Material von Denisova-Schmidt/ Walach (2014) beschäftigt sich explizit mit Differenzierung im Russischunterricht, wobei u.a. die alternative Methode LdL (Lernden durch Lehren) für Herkunftssprecher/ innen vorgeschlagen wird. Eine differenzierende Maßnahme mit großem Potenzial sehe ich im Einsatz von individuellen Lernverträgen. Am Landesgymnasium St. Afra in Meißen werden mit russischsprachigen SuS, die ihre Herkunftssprache als Fremdsprache lernen, nach individueller Sprachlernberatung Lernverträge Grit Mehlhorn 214 abgeschlossen, die vom Lernenden, der Lehrperson und der Schulleitung unterzeichnet werden und Festlegungen zu folgenden Punkten enthalten: ein bestimmtes Thema und Lernziel, eine Vereinbarung zu einem Produkt, die Festlegung eines Zeitrahmens und Beratungstermins, Art und Zeitpunkt der Präsentation sowie die Art der Produktdokumentation. Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, dass sich einzelne Lernende während des Russischunterrichts außerhalb des Klassenzimmers, z.B. in der Schulbibliothek, für sie geeigneten Lernstoff aneignen, bspw. durch die Lektüre russischer Literatur, die für die Mitschüler/ innen zu anspruchsvoll wäre. Konsequente Binnendifferenzierung muss schließlich mit einer leistungsdifferenzierten Bewertung einhergehen, die neben der kriterialen (Lehrplan) auch eine individuelle Bezugsnorm zugrundelegt und Aufgaben nach Schwierigkeitsgraden differenziert (vgl. Lütgert 2012). Realisierbare Möglichkeiten für schrifliche und mündliche Leistungsüberprüfungen mit differenzierenden Anforderungen im Russischunterricht schlagen Behr (2016) und Wapenhans (2016) vor. Für gezielte Differenzierung in Bezug auf Herkunftssprecher/ innen sind auch die Mehrheitsverhältnisse im Klassenraum ausschlaggebend; oft ist gerade die jeweilige Minderheit schützenswert. Genauso ärgerlich wie eine dauerhafte Unterforderung von Herkunftssprechern im Fremdsprachenunterricht wäre eine ausschließliche Orientierung an den (leistungsstärkeren) Herkunftssprechern im Russischunterricht - z.B. in Großstädten wie Berlin und Hamburg, wo letztere die Mehrheit darstellen. Es wäre eine fatale Entwicklung für den schulischen Russischunterricht, würde man die eigentliche Zielgruppe - die Fremdsprachenlernenden - vernachlässigen. Gleichzeitig sollten Lehrkräfte, die Russischunterricht ausschließlich für Fremdsprachenlernende fordern, sich bewusst machen, dass vielerorts gerade die Herkunftssprecher/ innen dazu beigetragen haben, dass das Russischangebot an der Schule trotz geringer Nachfrage von Fremdsprachenlernenden beibehalten werden konnte. Stigmatisierung von Herkunftssprechern geht nicht selten - wenn auch meist unbeabsichtigt - von Lehrenden aus (vgl. Mehlhorn 2013). So ist z.B. für den Einsatz von SuS als Experten sehr viel Sensibilität notwendig, auch im Hinblick auf gruppendynamische Prozesse. 3 Unterstützungssysteme und Fremdsprachenlehrerausbildung Wenn Lehrende Heterogenität als Chance und Bereicherung begreifen und im Sinne der Förderung des Lernens nutzen sollen, müssen sie hierfür entsprechend ausgebildet und mit den erforderlichen Wissensbeständen und Handlungskompetenzen ausgestattet sein (Jantowski 2014a, 99). Notwendig Inklusion von Herkunftssprachenlernenden … 215 sind Fortbildungen zur Differenzierung, zum pädagogischen Handeln bei Unterrichtsstörungen und im weitesten Sinne zu Classroom-Management. Gleichzeitig bedarf es „der Vermittlung und des Trainings von Verfahren der Arbeit im Team und der Zusammenarbeit sowie deren praktischer Einübung“ (ebda, 102). Bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung können Studierende z.B. kooperative Lernformen üben, schrittweise Diagnosekompetenzen erwerben und lernen, differenziertes Feedback zu geben. Mehlhorn/ Waschik (2015) stellen ein Modul zu russischen Fachtexten für Lehramtsstudierende in einem Blended Learning-Szenario vor, in dem bewusst zwischen Fremdsprachenlernenden, Herkunftssprechern und russischen Muttersprachlern differenziert wurde. Neben fachlichen Inhalten haben die Studierenden in diesem Modul gelernt, sich während der gemeinsamen Partner- und Gruppenarbeit im Präsenzunterricht gegenseitig zu unterstützen, kontinuierliches Feedback zu den schriftlichen Sprachproduktionen und mündlichen Kurzpräsentationen der Kommilitoninnen zu geben und Beratungselemente einzuüben. Die gezielte Differenzierung der Aufgaben und Anforderungen für die verschiedenen Lerngruppen, die in diesem Modul jeweils unterschiedliche Dinge gelernt haben, wurde im Präsenzseminar bewusst thematisiert und kann von den Lehramtsstudierenden als eine Möglichkeit gesehen werden, mit heterogenen Lerngruppen umzugehen. Ihre Diagnosekompetenzen konnten sie durch die intensive Beschäftigung mit den Sprachproduktionen der Kommilitoninnen, das Formulieren von informativem Feedback und kontinuierliche Rückmeldungen zu ihrem Feedback durch die Seminarleitung schulen. Im Rahmen der Schulpraktika können Unterrichtsstunden gemeinsam vorbereitet und Teamteaching im Russischunterricht ausprobiert werden. Gerade im schulischen Russischunterricht, wo derzeit russischsprachige Lehramtsstudierende und Referendarinnen auf ältere deutsche Russischlehrende treffen, von denen manche viele Jahre lang kein Russisch mehr unterrichtet haben und dementsprechend unsicher im Gebrauch des Russischen sind, können beide Seiten von Teamteaching profitieren - nicht nur in Bezug auf ihre Sprachkompetenzen. Schließlich bietet sich gemeinsames Unterrichten, aber auch phasenweise äußere Differenzierung bei der Unterstützung durch russische Fremdsprachenassistentinnen an (vgl. Deutschmann 2011). Lehrpersonen benötigen darüber hinaus „Wissen über Mechanismen und Auswirkungen gesellschaftlicher Exklusion, über soziale, kulturelle und materielle Armut, über Effekte schulischer Selektion und Separation und über die Auswirkungen von Stigmatisierung und Etikettierung“ (Jantowski 2014a, 113). Dafür scheinen mir Fallanalysen audio-, videographierter oder transkribierter unterrichtlicher Mikrosequenzen geeignet, in denen Fallstri- Grit Mehlhorn 216 cke der Inklusion deutlich werden (z.B. Idel/ Rabenstein 2016, 18; Sell 2016, 410; Zielinski/ Ritter 2016, 420-422). Dadurch können angehende Lehrende für Ausgrenzungsmechanismen in pädagogischen Situationen sensibilisiert und befähigt werden, Handlungsalternativen zu entwickeln. Da die Vielfalt des multilingualen Klassenzimmers bisher noch keine Entsprechung im Lehrerzimmer hat, wird der Ruf nach Lehrkräften mit Migrationshintergrund immer lauter. So gibt es in einigen Großstädten seit mehreren Jahren „Multikulti-Quoten“ für Referendariatsplätze (vgl. Schellhammer 2012). Die zugewanderten Lehrpersonen könnten als Beispiel einer gelungenen Integration für die multikulturelle Schülerschaft dienen. Georgi/ Ackermann/ Karakaş (2011), die die erste umfangreiche Forschungsarbeit zu Lehrenden mit Zuwanderungsgeschichte vorgelegt haben, verweisen jedoch darauf, dass interkulturelle Kompetenz nicht angeboren sei. Auch Knappik/ Dirim (2012, 93) plädieren dafür, zwischen Ressourcen und Qualifikationen zu unterscheiden, wobei sie unter Qualifikationen „verschiedene linguistische und migrationspädagogische Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote“ für Lehrkräfte mit und ohne Zuwanderungsgeschichte verstehen, durch die für die Problematik der sprachlich-ethischen Heterogenität der Schülerschaft sensibilisiert und auf den Umgang angemessen vorbereitet wird. 4 Forschungs- und Entwicklungsbedarf Es müsste untersucht werden, für welche SuS mit welchem spezifischen Förderbedarf welche Unterstützungsangebote sinnvoll sind: Wie werden Differenzierungsangebote aus Fremdsprachenlehrwerken im Unterricht umgesetzt? Inwieweit sind binnendifferenzierende Maßnahmen zielführend, d.h., kommt es zu einer Passung von zugewiesenen individuellen Aufgaben und entsprechendem Kompetenzzuwachs bei den SuS? Erste Antworten auf diese Fragen liefert die Studie von Reich (2016) zu den Auswirkungen unterschiedlicher Sprachförderkonzepte auf die Fähigkeiten des Schreibens im Deutschen und Türkischen. Er konnte in einer Langzeitstudie mit bilingualen SuS der Grundschule (Klasse 1 bis 4) nachweisen, dass das Förderkonzept der „Koordinierten Alphabetisierung“ (KOALA) dem Konzept der Deutschförderung mit herkunftssprachlichem Unterricht Türkisch sowie einem Konzept der bloßen Deutschförderung überlegen war und eine ausgewogene Biliteralität der untersuchten Schülergruppe begünstigte. Dazu trugen offensichtlich sowohl die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und die erlebbare institutionelle Anerkennung der Herkunftssprache als auch die Stimulierung des Sprachenbewusstseins durch unmittelbare Konfrontation der Sprachen und kontrastives Arbeiten bei. Inklusion von Herkunftssprachenlernenden … 217 Da Überzeugungen und Haltungen konstitutiv für das Gelingen von Inklusion sind, ist die aus meiner Sicht wichtigste Frage, wie angehenden Lehrenden, aber auch SuS Einstellungen in Bezug auf Inklusion vermittelt werden können. Ein weiteres wichtiges Erkenntnisinteresse betrifft die Frage nach der konkreten didaktisch-methodischen Umsetzung von inklusivem Fremdsprachenunterricht. Bei der Lektüre von entsprechender Fachliteratur finden sich v.a. Beispiele für Exklusion bzw. misslungene Inklusion (u.a. Idel/ - Rabenstein 2016; Sell 2016; Zielinski/ Ritter 2016). Schlaak (2015) hat Wissen und Einstellungen von Studierenden und Lehrkräften in Fragebögen und Interviews untersucht und herausgefunden, dass sich die meisten Befragten wenig auf die Anforderungen von Inklusion vorbereitet fühlen. Kurz (2015, 278) formuliert Forschungsfragen, die sich auf die positiven Zuschreibungen an die Lehrenden mit Migrationserfahrungen beziehen, u.a.: • Reicht eine eigene Zuwanderungsgeschichte aus, um die Probleme und Bedürfnisse der Schüler mit Migrationshintergrund besser als Kollegen ohne Migrationshintergrund zu verstehen? • Nehmen die Lehrenden mit russischsprachigem Hintergrund die Heterogenität der Schülerschaft positiver als ihre Kollegen wahr? • Inwieweit zeigen diejenigen Lehrpersonen, die sich völlig an die einheimische Bevölkerung angepasst haben, weniger bildungserfolgreichen Schülern mit Migrationshintergrund ohne stark ausgeprägten Integrationsbzw. Assimilationswillen gegenüber Verständnis? • Wie bewerten sie die Mehrsprachigkeit von Schülern, wenn es um Herkunftssprachen geht, die verglichen mit westeuropäischen Sprachen ein eher geringes Prestige genießen? Bisher fehlen wissenschaftlich begleitete Entwicklungsprojekte, die Lehrpersonen beim Unterrichten verstärkt leistungsheterogener Gruppen unterstützen (Trautmann 2016, 31). In Bezug auf das Forschungsfeld ,Migration und Fremdsprachenunterricht‘ ist für mich von Interesse, wie die Herkunftssprachen von SuS gewinnbringend in den Fremdsprachenunterricht einbezogen werden können (vgl. erste Überlegungen dazu bei Kagan/ Dillon 2001 sowie Mehlhorn 2016) und wie - im Sinne einer noch zu entwickelnden Herkunftssprachendidaktik - Unterricht lernzieldifferent gestaltet werden kann. In methodischer Hinsicht scheint mir hierfür Aktionsforschung in heterogenen Unterrichtssettings geeignet, wie sie in einem gerade begonnenen BMBF-Projekt (2017-2019) geplant ist. In einem Aktions-Reflexions- Kreislauf sollen Forschungspartner/ innen unterrichtspraktische Interventi- Grit Mehlhorn 218 onen (z.B. konkrete Differenzierungsmaßnahmen zwischen Herkunftssprechern und Fremdsprachenlernenden, ein neues Aufgabenformat wie Sprachmittlung im herkunftssprachlichen Unterricht) planen, durchführen und gemeinsam reflektieren, wobei Bewährtes beibehalten wird und Verbesserungsideen in einer neuen Intervention umgesetzt werden. Im Zuge dessen werden Materialien mit erprobten Unterrichtsszenarien für den Einsatz im Herkunfts- und lernzieldifferenten Fremdsprachenunterricht entwickelt, die in der Lehreraus- und -fortbildung zum Einsatz kommen sollen. Literatur Adler, Iris/ Boiselle, Thomas/ Breitsprecher, Rima/ Chwoika, Ariana/ Heller, Maria/ Müller, Jana/ Nadchuk, Elena/ Seidel, Astrid/ Semashkina,Lidiya/ Steinbach, Andrea (2016): Dialog 1. Lehrwerk für den Russischunterricht. Berlin: Cor nelsen. Behr, Ursula (2016): „Eine Klassenarbeit mit Wahlmöglichkeiten. 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(Thomas Hahn, 24.10.2016 in Süddeutsche Zeitung, S. 13) 1 Inklusion - ein bildungspolitischer Leitbegriff in einem heterogenen Praxisfeld Inklusion, Heterogenität und Diversität fassen - semantisch zum Teil überlappend - Ziele der aktuellen Schul- und Gesellschaftspolitik. Die Begriffe sind Ausdruck des Wunsches, Benachteiligungen der betroffenen Menschen klein zu halten und ihnen bessere Chancen im Leben zu eröffnen. Dem Wunsch - schon von Thomas Jeffersons Formel des „pursuit of happiness“ als Menschenrecht abgedeckt - will die aktuelle Bildungspolitik entsprechen: Inklusion ist ethisch sehr stark motiviert. In der Vergangenheit setzte allerdings das Antonym Exklusion weitgehend verbreiteten Fakt, oft gar als Ausdruck eines Denkens, das sich normativ am statistischen Durchschnitt des vermeintlich ‚Gesunden‘ orientierte (bis hin zu eugenisch gefärbten nationalsozialistischen Verbrechen). Auch der schulische Fremdsprachenunterricht galt - in gänzlich anderem Rahmen - lange Zeit als Mittel der Selektion. Als Orientierungsbegriffe sind Inklusion und Synonyme heutzutage offen: Ihre Referenzen greifen weit und in verschiedene Richtungen. Nicht nur körperlich oder geistig Benachteiligte sind betroffen, sondern potentiell alle, die als ‚draußen vor‘ identifiziert werden (können); auch etwa Flüchtlinge, Einwanderer und generell Lernschwache. Dies bedeutet: Die Leitfragen bedürfen der Präzisierung, um operable Antworten zu ermöglichen. Es muss klar sein, über wen man spricht. Sodann geht es um Deutsch als Zweitsprache sowie um den schulischen Fremdsprachenunterricht; nicht nur um Englisch, Französisch, Latein, son- Franz-Joseph Meißner 222 dern auch um weitere Sprachen, denn längst können prinzipiell die Herkunftssprachen der Migranten eine schulische Fremdsprache ersetzen, um der Forderung des gymnasialen Bildungsgangs nach mindestens zwei Fremdsprachen nachzukommen. Doch damit ist der Heterogenität und der Polyreferenzialität noch nicht Genüge getan: Denn jeder einzelne Lerner lernt bekanntlich als Individuum individuell. Gilt dies schon im Grundsätzlichen, so erst recht mit Blick auf die durch Inklusion Betroffenen. Welche Art von Nachteil soll kompensiert werden? Für welchen Erst-, Zweit- oder Fremdsprachenunterricht? Welches können jeweils sinnfällige Lernziele sein? Wie können diese erreicht werden? Fragen über Fragen. Allesamt eher unbeantwortet. 2 Eigene Erfahrungen aus der Lehrperspektive Inklusion deutet eine Richtung an, und zwar von Draußen (Außen vor) nach Drinnen. Dass dem nicht immer so ist, zeigt der Fall meiner ehemaligen Schülerin Bettina, die ich zwischen 1981 und 1986 von der Jahrgangsstufe 8 bis zum Abitur als Klassenlehrer in den Fächern Französisch und Geschichte begleitet habe. Gegen Ende der Klasse 8 erfuhr ich von den Eltern, dass Bettina erblinden würde 1 Ein Beispiel für ‚Draußen nach Drinnen‘: Um 1985 herum wanderte Timurs Familie aus der Türkei nach Deutschland ein. Timur war damals ca. 16 Jahre alt und kam in meinen Grundkurs Geschichte (11.2). Seine Deutschkenntnisse waren erwartungsgemäß unzureichend, was sich insbesondere in den Geschichtsklausuren zeigte. Ich korrigierte und bewertete seine Arbeiten nach ihrer historisch-analytischen Qualität einerseits und ihrer sprachlichen Richtigkeit (wie eine DaZ-Lehrkraft; formativ) andererseits. Inhaltlich trug Timur zur Bereicherung des Kursunterrichts bei, u.a. indem er mehrfach eine Ausweitung des Unterrichtsstoffes veranlasste, z.B. bei der Behandlung des französischen Absolutismus auf das osmanische . Als Schülerin meines Leistungskurses Französisch hatte Bettina dann ihre Sehkraft weitgehend eingebüßt. Mit Hilfe eines Lesegerätes sah sie nur noch jedes Wort einzeln (dekotextualisiert). Weil dem so war, hat die Schulaufsicht für Bettina die Anzahl der Wörter der in der Abiturprüfung vorgesehenen Textvorlage heruntergesetzt. Da Bettina eine vorzügliche Schülerin war, hat sie ihr Abitur mit besten Noten bestanden. Grund hierfür waren ihre Arbeitsweise und ihre Begabtheit; wobei hinzuzufügen ist, dass für Bettina die Beeinträchtigung die Rolle unterrichtlicher Inhalte veränderte und ihnen eine besondere Wichtigkeit zu verleihen schien. Bettina war von Anfang an ‚inkludiert‘. 1 Alle Namen von Lernern geändert. Apropos Inklusion, Heterogenität, Diversität im Unterricht fremder Sprachen 223 Sultanat usw. Timur bekämpfte seine deutsche Sprachnot sehr erfolgreich, was er letztlich durch den erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe II bewies. Er liefert ein Beispiel für gelungene Inklusion (und Integration; wobei ihm neben der Schule die Unterstützung der Eltern half) im Sinne ‚von Draußen nach Drinnen‘. Schwierigkeiten mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern gab es nicht. Timur war einfach einer von uns. Als Student gab ich Nachhilfeunterricht in deutscher Rechtschreibung an einen zehnjährigen legasthenischen Jungen. Ich wusste von den Ursachen für die Lese-Schreib-Schwäche so gut wie nichts. Ralfs Eltern (und ich) versprachen sich Besserung durch Erhöhung des Inputs vorwiegend über kurze Diktate und durch die Bildung von Wortreihen mit analogen Phonem- Graphem-Relationen (langes / i/ = -ieusw.). Auf dem Programm stand Üben, Üben und nochmals Üben. Kurzfristig messbarer Erfolg wurde nicht kontrolliert, eine notwendige Koordination zwischen Nachhilfe- und Schulunterricht erfolgte nicht. Wie Ralfs weitere Schulkarriere verlief, ist mir nicht bekannt. 3 Jede Art der Behinderung erfordert eine eigene pädagogische Passung Englischunterricht an Gehörlose erfordert einen anderen methodischen Zugriff als an Lernern mit Dyslexie oder gar Alexie. Dies versteht sich von selbst. Zu berücksichtigen ist selbstredend der Nachteil, der aus der Spezifität der jeweiligen Benachteiligung für das Erlernen einer Fremdsprache entsteht. Um die Folgen einer solchen zu mildern, gibt es nie nur einen einzigen, sondern verschiedene Wege. Auch hier gilt das Ineinanderwirken unterschiedlicher Variablen (Faktorenkomplexion). Ein grundlegender Faktor betrifft die psycholinguistische Passung. Hierzu ein Beispiel zur Lese- Rechtschreib-Schwäche. Die Leseschwäche ist laut einschlägiger Forschung im geringen Tempo der (Diskriminierung und) Identifikation von Phonemen begründet. Während allgemein Phoneme innerhalb von nur 20 Millisekunden identifiziert werden, benötigen Menschen mit Dyslexie für die entsprechende Aktivität im Durchschnitt 300 Millisekunden (Wettstein-Badour 2000, 19). Die vor allem an muttersprachlicher Sprachverarbeitung entwickelte Legasthenie- Forschung misst Dyslexie überwiegend an der schriftlichen Produktion oder Reproduktion (Diktat) der Betroffenen. Man zählt Rechtschreibfehler und kategorisiert sie: Laut-Wort-Zuordnungen (F in Affe), Wort-zu-Wort- Zuordnungen (Buch und Bauch), Erkennen von Reimen (Sand/ Wand), Isolieren von Lauten (R in Rose) usw. (eng nach Klicpera et al. 2007, 21ff.). Franz-Joseph Meißner 224 Was heißt dies z.B. im Kontext von Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit? Als Beispiel sei das deutsche Phon / o/ (in Ton) genannt, das nach phonometrischen Studien nicht immer nach den Kriterien lang und kurz realisiert wird (Ton, Hohn, Mohn, klonen, froh). Im Französischen erscheint der Laut als [au] (au palais), [aux] (aux filles), [eau] (beau), [o] (sot), [ô] (tôt), [ault] (Renault), [aulx] (Plural von Knoblauch), [eaux] (bateaux). Im Spanischen ist die Relation / o/ Phonem-Graphem nur zweideutig und oft graphisch markiert, nämlich betont und unbetont: reo, feo, áloe, ocho und [kódo] (codo), [dón] (don) gegenüber pantalón, nipón. Fast alle Lerner romanischer Sprachen haben Englischkenntnisse. Der Archigraph en. [o] kennt folgende Varianten: (too, to) [u], (got) [? ], (go, snow, bow) [? ? ], (now, how) [a? ]. Die kurze Auflistung der Realisierung von / o/ [o und Varianten] in den drei häufigsten Fremdsprachen (ohne Diphthonge) zeigt mindestens 15 Varianten; hinzu kämen nun Regeln zu Phonem- und Graphemkombinationen (Positionen und Positionsbeschränkungen). Das Französische fällt bekanntlich besonders durch seinen Reichtum an Homophonen auf und versucht daher, Mehrdeutigkeiten durch graphische Differenzierung aufzulösen. Keine der Sprachen ist übrigens phonographisch konsequent; alle folgen in unterschiedlicher Weise auch etymologischen Prinzipien (/ f/ in en. elephant, dt. Elefant/ Elephant, sp. elefante, fr. éléphant). Hinzu kommen diachronische Instabilitäten der Lexikographie (vgl. fr. vraiment, vraiement, vraîment in den Wörterbüchern der letzten zweihundert Jahren; von der staatlich organisierten Konfusion durch die Einführung von Koexistenz von alter und neuer deutscher Orthographie [Orthografie, sic] nicht zu reden). Soweit ein nur kleiner Ausschnitt dessen, womit es die Legasthenie aus Sicht der Mehrsprachigkeit zu tun 2 Es geht des Weiteren um Wortbewusstheit, syntaktische, pragmatische, phonologische Bewusstheit, Erkennen von Sprachsegmenten, und - angesichts der verbreitet eingesetzten Test- und Übungsform Diktat - um Graphem-Phonem-Relationen und phonologische Codierung. Weniger diskutiert wird die Frage um Menge und Art der lernerseitig vorhandenen, verschiedene Teilfertigkeiten umfassenden sprachlichen Kompetenz und der hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das mentale Lexikon der Lerner mehrsprachig komponiert ist und mehrsprachig funktioniert; der auf Englisch folgende Französischunterricht hat es daher immer auch ein wenig mit Englisch zu tun. 2 Die Text- und Medienkompetenz sowie die Sprachmittlungskompetenz - beides Begriffe der Bildungsstandards - greifen weitestgehend auf die vier Grundfertigkeiten von Lesen und Schreiben, Hörverstehen (auch Hörsehverstehen) zu und spielen im vorliegenden Zusammenhang eine nachgeordnete Rolle. Apropos Inklusion, Heterogenität, Diversität im Unterricht fremder Sprachen 225 Leseerfahrung. Wirft schon das Messen von Lesekompetenz über das (Recht-) Schreiben psycholinguistisch und testtheoretisch heikle Fragen auf, so ist hier in Erinnerung zu rufen: Sprachkompetenz und Fremdsprachenkompetenz sind immer viel mehr als Lese- und Rechtschreibkompetenz! Beschränkt sich der Fremdsprachenunterricht also auf mehr als auf die Vermittlung einer einzigen Teilkompetenz, so hat er es fast immer mit mindestens vier Teilkompetenzen zu tun. Hierin liegt eine Chance zur Adaptation des Inputs an die (relativen) Stärken von Beeinträchtigten. Trotz der nun seit Jahrzehnten bekannten Präsenz von Legasthenie im öffentlichen Diskurs ist diese - zumindest für die Theorie des Französisch- oder Spanischunterrichts (als Fremdsprachen) - erst in allerjüngster Zeit ein Thema geworden. Wie rasch in dieser Situation indes ein solches eine fragwürdige Richtung nehmen kann. zeigt m.E. ein Beitrag in Hispanorama (Siemann 2016, 76-77). In ihm orientiert sich die Autorin analog zu den auf die Muttersprache Deutsch bezogenen Publikationen an den Schreibleistungen von Legasthenikern. Demgemäß sucht sie in Analogie zur Analyse typischer deutscher Rechtschreibfehler in der Zielsprache Spanisch nach Beispielen für a) die Verdrehung von Buchstaben, b) für Reihenfolgefehler im Wort, c) Auslassung von Buchstaben (eine statt deine), d) Einfügung von falschen Buchstaben (*Artzt), e) Wahrnehmungsfehler (sic! ) u.a. Sodann bildet sie eine legasthenische Probanden- und zum Vergleich eine unauffällige Kontrollgruppe. Schließlich erfolgt die Erhebung von Fehlerdaten vermittels des Übungs- und Testformats Diktat. Erwartungsgemäß wird sie fündig: Die Anzahl der Rechtschreibefehler von Lernern mit Lese- und Rechtschreibschwäche ist im Schnitt deutlich höher als die unauffälliger Lerner. Wen überrascht’s? Drei befragte Lehrpersonen bestätigen dann - erwartungsgemäß - das Ergebnis, ohne jedoch die Fehler selbst explizit als „typisch legasthenisch“ (ebda, 79) kategorisieren zu wollen (eine Triangulation der Aussagen erfolgte nicht). Welche belastbare Forschungshypothese rechtfertigt die Studie? Forschungsmethodologisch fällt negativ ins Gewicht, dass der kurze Beitrag nichts zum zielsprachlichen Kompetenzprofil der Probanden sagt, nichts zu ihrer Motivation, nichts zu den Prozessen des Intake (Ellis 2011), nichts zu den Möglichkeiten des „input enhancement“ (Sharwood Smith 1993) aufgrund vorhandener Mehrsprachigkeit, nichts zu den Unterrichtserlebnissen. Welchen Sinn macht es, die Identifikation von Phonem-Graphem-Relationen qua Schreiben im Sinne der (muttersprachlichen) Legasthenie-Förderung in einer Fremdsprache zu erheben, in der Lerner über kaum 1000 oder 2000 Vokabeln aktiv verfügen, in der ihnen Phraseme weitestgehend unbekannt und textliche Rekonstruktionen unmöglich sind, usw.? Reicht es, Lehrwerkinventare des ersten und zweiten Franz-Joseph Meißner 226 Lernjahres zum Gegenstand von Rechtschreibprüfungen zu machen? Können die am Beispiel von Mutter- und Umgebungssprachen entwickelten Strategien bei einer so geringen zielsprachlichen Ressourcen-Grundlage den Zielsprachenerwerb befördern? Inwieweit wurden ‚normale‘ Hörfehler, die sich aus der phonologischen und phonischen Divergenz zwischen einer L1 und einer Lx ergeben, überhaupt geklärt (deutsche Ohren hören bekanntlich anders als spanische)? Inwieweit kann das für das Hörverstehen in fremden Sprachen vorhandene Methodenrepertoire seinerseits bereits Strategien liefern, die auch legasthenischen Lernern und dem spezifischen Rechtschreibe-Unterricht in der Muttersprache nützen können (zu denken ist vor allem an das sprachformbezogene Hörverstehen (vgl. Vences/ Meißner 2010, 176)? Der Beitrag deutet darauf hin: Die Konstruktion einer die Beeinträchtigung kompensierenden pädagogischen Passung verlangt zwingend erstens die Berücksichtigung der Beeinträchtigung in ihren psycholinguistischen Ursachen, zweitens die methodische Neujustierung der schwerpunktmäig im Fremdsprachenunterricht angesteuerten Kompetenzen sowie drittens eine spezifische Definition von erreichbaren „Lernerfolgen“ mit unterschiedlichen Etappenzielen. Um eine solche Ausrichtung zu konzipieren, fehlen derzeit im fremdsprachendidaktischen Feld - soweit ich sehe - belastbare empirische Daten. Eine entsprechende Forschung ist überfällig. 3.1 Das Potential der Kompetenzorientierung für die Beeinträchtigtenpädagogik Welche groben Orientierungen sich für die Konstruktion einer solchen Passung ergeben könnten, sei im Folgenden stichwortartig erwähnt. Im fremdsprachendidaktischen Diskurs um Kompetenz und Kompetenzen spielt die Unterscheidung zwischen focus on form und focus on communication eine zentrale Rolle. Mit Blick auf die Legasthenie ist dazu zu raten: Da die Identifikation und die Wiedergabe von Laut-Schrift-Relationen schwerfällt, stärker auf mündliche Leistungen fokussieren, diese kommunikativ ausrichten und auch höher bewerten als das richtige Schreiben; beim Schreiben auch die Rolle der syntaktischen und lexikalischen Richtigkeit gewichten und nicht nur die Orthographie (man denke an das Thema Konkordanzfehler etwa im Französischen). Nicht die Lerner können an eine Norm angepasst werden (der sie eventuell gar nicht entsprechen können) (auch Engelen 2016, 246-247). Apropos Inklusion, Heterogenität, Diversität im Unterricht fremder Sprachen 227 3.2 Das Desiderat der Kooperation von Sonderpädagogik und Fremdsprachendidaktik Offensichtlich haben die fremdsprachendidaktische Kompetenzdiskussion und die weiter zu entwickelnde Kompetenzerwerbsforschung in Teilen das Potenzial, die Beeinträchtigtenpädagogik zu verbessern. Der Wunsch und die Notwendigkeit hierzu sind längst vorhanden: Wie in den 1980er Jahren die nordrhein-westfälische Schulaufsicht Bettinas Prüfungskonditionen abmilderte, so beschreibt eine Handreichung des Hessischen Kultusministeriums im Jahr 2006 die Möglichkeit der völligen Aufhebung der „Benotung der Rechtschreibung in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch“ in der Abiturprüfung: Es hat dann im Abiturzeugnis die Bemerkung zu erfolgen: „Die Noten in den Fächern [...] beinhalten keine/ nur eine eingeschränkte Bewertung der Rechtschreibleistung.“ (HKM 2006, 39) Dies bedeutet bereits de facto eine Aufwertung der mündlichen Leistungsanteile in der Gesamtnote. Aus Sicht der heutigen Kompetenzforschung sind Aussagen wie die des HKM neu zu justieren und unterrichtsmethodisch zu erweitern. Vorhandene Materialien sind auf ihre Eignung aus Sicht der Fremdsprachendidaktik zu überprüfen. Da die aus Beeinträchtigungen rührende Heterogenität in ihren Ausmaßen und pädagogischen Konsequenzen im vorliegenden Rahmen allenfalls im Anriss behandelbar sind, beschränkten sich die bisherigen Ausführungen vor allem auf Beispiele zur Legasthenie. Doch wie steht es um schwerere Beeinträchtigten, etwa um das Fremdsprachenlernen von Gehörlosen? Kann die Fremdsprachendidaktik die „Hörbeeinträchtigtenpädagogik“ potentiell ergänzen? Immerhin weist schon jetzt das Internet mit Lehrplänen für Sonderschulen und „integrativen Klassen“ Wege aus 3 3 Vgl. https: / / lukhub.wordpress.com/ 2012/ 11/ 24/ zur-schulischen-integrationvon-gehorlosen-und-schwerhorigen-kindern-in-wien-zusammenfassung-voninformationen/ (10.07.2017). . Doch um hier belastbare Aussagen zu treffen, ist zuvor die Zusammenarbeit von Experten der Sonderpädagogik und der Fremdsprachendidaktik erforderlich. Wie viel die Fremdsprachendidaktik „für einen inklusiven und diversitätssensiblen“ (Leitfrage) zu leisten vermag, wird letztlich davon abhängen, wie weit sie mit den verschiedenen Feldern der Beeinträchtigungspädagogik vertraut ist. Sie steht erst am Anfang einer möglichen Entwicklung. Franz-Joseph Meißner 228 4 Blended Learning in Architekturen für Beeinträchtigte und die Rolle der Lehrkräfte Vorab eine Trivialität: Input wird nicht einfach zu Intake, Intake nicht einfach zu Output. Aber: Kein Intake, kaum Output ohne lehrer- oder lernerinduzierten Input. Input gerät gemeinhin umso erfolgversprechender, desto genauer er den Spezifika des einzelnen Lerners und seiner Art zu lernen entspricht. Was die Passung an konkrete Lernbeeinträchtigungen angeht, so können IT-Lernarchitekturen oder Lernapps m.E. beachtliche Hilfe leisten. Um - über die lernerseitige Bestimmung der eingesetzten Lernzeit und des Lernorts hinaus - mögliche Vorteile wirkungsvoll zu entfalten, müssen die Apps allerdings, wie bereits betont, möglichst genau auf die Spezifität der jeweiligen Beeinträchtigung passen. Dies zeigt einmal mehr, dass zur Entwicklung einer Beeinträchtigtendidaktik die konkrete Kenntnis der verschiedenen Beeinträchtigungen in ihren Ursprüngen und Folgen für das Sprachenlernen auf unterschiedlichen Lernstrecken unverzichtbar ist. Erst wenn diese Kenntnis vorhanden und gesichert ist, kann die Lern- und Lehrmittelentwicklung beginnen. Offensichtlich liegt hier ein weites Feld für fremdsprachendidaktische, auf Beeinträchtigtenförderung bezogene Grundlagen- und usability-Forschung von Lernsoftware. Vorab ist zu untersuchen, ob es spezifische Lernziele geben sollte, die in die Sprachcurricula einzubauen wären. Auch hier wiederum setzen die Beschreibung des eventuellen Was, Wann und Wie die konkrete Kenntnis der Beeinträchtigung voraus. Die Produktion und Verwendung von spezieller Lernsoftware betrifft auch ihre Einsetzbarkeit im Klassenraum, wo Apps den regulären Unterricht flankieren können. Natürlich müssen Lehrerinnen und Lehrer auch über den selbst vermittelten Input hinaus wissen und verstehen, was ihre Schüler wie lernen. Daher benötigen sie u.a. gute Angebote, erfolgversprechende Lernsoftware kennenzulernen und zu handhaben. Im Falle der integrativen Klassen erscheint mir dies umso wichtiger, als solche Software - immer im Sinne der pädagogischen Vernunft eingesetzt - Entlastungen der Lehrkraft ermöglicht (vgl. Hahn 2016 bzw. das vorangestellte Zitat). Entsprechende Portale finden hier - neben den Lehrmaterialproduzenten - ein Aufgabenfeld, auf dem wiederum Beeinträchtigtenpädagogen und Fachleute für das Sprachenlernen in Forschung und Unterricht sowie Softwareentwickler zusammenarbeiten müssen. Jeder Unterricht steht und fällt mit der Qualität der Lehrkräfte, und mehr als jeder andere Unterricht verlangt der an Beeinträchtigte Professionalität. Angesichts der Überlastung der Lehramtsstudiengänge im Zuge ihrer Straffung (Verkürzung) sehe ich keine Möglichkeit der Integration entsprechen- Apropos Inklusion, Heterogenität, Diversität im Unterricht fremder Sprachen 229 der Module zur Beeinträchtigungspädagogik innerhalb der Ersten Phase der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer fremder Sprachen. Geeigneter erscheinen mir stattdessen spezifische Weiterbildungsmodule, die in der Dritten Phase anzusiedeln wären. Die diese Module belegenden Lehrkräfte verfügen bereits über das notwendige handwerkliche Wissen und Können, Fremdsprachen zu unterrichten, so dass sie dieses im Sinne der Beeinträchtigtenpädagogik erweitern können. Mir scheint es zu früh, zum jetzigen Zeitpunkt und in diesem Rahmen weitere Vorstellungen oder gar Konzepte zu entwickeln, ehe die deutschlandweit bereits vorhandenen Initiativen überhaupt systematisch gesichtet sind. Literatur Bleyhl, Werner (2009): „The Hidden Paradox of Foreign Language Instruction Or: Which are the real Foreign Language Learning Processes? “ In: Piske, Thorsten/ Young-Scholten, Martha (Hrsg.), 137-158. Ellis, Nick (2011): „Optimizing the Input: Frequency and Sampling in Usage- Based and Form-Based Focused Learning“. In: Long, Michael H./ Doughty, Catherine J. (Hrsg.), 139-158. Engelen, Sophie (2016): „Zum Umgang mit Legasthenie im Fremdsprachenunterricht - Forschungsstand, theoretische Konzepte und Leitlinien für den Unterricht“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27 (2), 227-253. Hahn, Thomas (24.10.2016): „Kollegium KO“. In: Süddeutsche Zeitung, 13. HKM = Hessisches Kultusministerium (2006): Handreichung zur Umsetzung der Verordnung VOLRR vom 18.05.2006. Klicpera, Christian/ Schabmann, Alfred/ Gasteiger-Klicpera, Barbara ( 2 2007): Legasthenie. Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. München u.a: UTB. Long, Michael/ Doughty, Catherine (Hrsg.) ( 2 2011): The Handbook of Language Teaching. Sussex: Blackwell. Meißner, Franz-Joseph/ Tesch, Bernd (Hrsg.): Spanisch kompetenzorientiert unterrichten. Stuttgart: Klett. Piske, Thorsten/ Young-Scholten, Martha (Hrsg.): Input Matters in Second Language Acquisition. Bristol u.a.: Multilingual Matters. Sharwood-Smith, Michael (1993): „Input enhancement in instructed SLA: Theoretical Bases“. In: Studies in Second Language Acquisition 15 (2), 165-179. Siemann, Kathrin (2016): „Legasthenie im Spanischunterricht“. In: Hispanorama 154, 76-80. Vences, Ursula/ Meißner, Franz-Joseph (2010): „Kompetenzaufgabe zum Thema Hörverstehen: El mundo de los alumnos ayer y hoy en día“. In: Meißner, Franz-Joseph/ Tesch, Bernd (Hrsg.), 172-183. Wettstein-Badour, Ghislaine (2000): „Conséquences des choix pédagogiques sur la structuration du cerveau“. In: Nouveaux Cahiers d'Allemand 18, 193-208. Zur Berücksichtigung der Heterogenitätsdimension Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte Claudia Riemer 1 Ausgangslage Ansätze zur „Inklusion“ gewinnen in den Studiencurricula sowie in den Lehr- und Forschungsprofilen in vielen Fachdidaktiken, so auch in den Fremdsprachendidaktiken, erst in jüngerer Zeit an Bedeutung. Diskussionen innerhalb der deutschen Fremdsprachendidaktik rund um Diversität und Inklusion stecken bis auf wenige Ausnahmen sowohl zu konzeptuellen Entwicklungen als auch zu Forschungsbemühungen noch in den Anfängen (vgl. aber Beiträge der Englischdidaktik in Bongartz/ Rohde 2015; Bartosch/ Rohde 2014; Börner/ Lohmann 2015; Chilla/ Vogt 2017; Doff 2016). Die vorhandenen fremdsprachendidaktischen Arbeiten finden Anschlussstellen oftmals in Konzepten zur Heterogenität im Fremdsprachenunterricht bzw. zur Binnendifferenzierung/ Individualisierung sowie im Prinzip der Aufgaben- und Handlungsorientierung und auch in allgemeinen Unterrichtsprinzipien (z.B. Leistungsgruppierung, klare Unterrichtsstrukturierung und Transparenz). Einige dieser ersten Beiträge zeigen: Mehrsprachigkeit wird in den fremdsprachenwissenschaftlichen Disziplinen bei Inklusion mitgedacht bzw. Schüler*innen mit Migrationsgeschichte werden als Zielgruppe für die inklusive Schule besonders berücksichtigt (vgl. exemplarisch Elsner 2015). Das Themenfeld der Inklusion bedeutet für die fremdsprachendidaktischen Disziplinen und für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache z.T. ähnliche, aber z.T. auch ganz unterschiedliche Herausforderungen im Zusammenhang mit fachpolitischen und konzeptionellen Fragen, die sich infolge der politisch gewollten Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in Deutschland (und in der Welt) stellen. Im folgenden Statement wird v.a. aus der DaZ-Perspektive argumentiert werden (vgl. dazu auch Riemer 2017). 2 Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Folgen Mit der zu Jahresbeginn 2009 erfolgten Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland sowie in Kraft Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 231 gesetzten bundesweiten und länderspezifischen Aktionsplänen zur Umsetzung der Konvention ist auch hierzulande Inklusion als Menschenrecht und als Leitbild anerkannt worden. Die Behindertenrechtskonvention zielt gemäß Art. 1 auf „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Beauftragte der Bundesregierung 2014, 12). Damit ist die Diskussion (zunächst) stark auf die Heterogenitätsdimension „Behinderung“ beschränkt worden (enger Inklusionsbegriff). Art. 24 der Konvention umfasst das Recht auf Bildung und die Verpflichtung der Vertragsstaaten, ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten. Ein solches Schulsystem zielt im Kern auf den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schüler*innen in gemischten Klassen auf der gleichen Schule, wobei allen Schüler*innen die Unterstützung gewährt werden soll, die sie benötigen. Mit der Ratifizierung ist also u.a. das deutsche Bildungssystem eine Reihe von Verpflichtungen eingegangen, die z.B. in Beschlüssen von Kultusministerkonferenz (KMK) und Hochschulrektorenkonferenz (HRK) (KMK 2010, 2011; KMK/ HRK 2015) umgesetzt wurden, aber bis zum heutigen Zeitpunkt in keiner Weise hinreichend eingehalten werden. Die Umsetzung ist auf sämtlichen Ebenen einschließlich der Lehrer*innenaus- und -fortbildung erst im Prozess. Inklusion ist in der Normalität des schulischen Alltags und Fachunterrichts, in den Universitäten und Studienseminaren sowie „in den Köpfen“ noch lange nicht angekommen. Kaum ein anderes Thema löst so viel Reaktanz aus, was auch darin begründet sein dürfte, dass sich zwischen politischer, bildungspolitischer und Schulrealität erhebliche Abgründe auftun. Während Bildungsministerien (wie etwa in NRW, Stand Frühjahr 2017) sich Inklusion auf die Fahne schreiben, ringt die universitäre Lehrer*innenausbildung bei der Implementation von Inklusion in die Studiencurricula mit dem Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaft. Aus Kreisen der Lehrer*innen und der Schulentwicklung werden v.a. Gefahren der Überlastung der Lehrer*innen und Überbürdung des Fachunterrichts sowie nicht hinreichende räumliche und personelle Ressourcen berichtet. Den gewachsenen Aufgaben der schulischen Bildung stehen nicht in gleicher Weise gewachsene Budgets und qualifiziertes Personal gegenüber. Auf Anforderungen wie etwa die Zusammenarbeit im Team- Teaching und in multiprofessionellen Teams sind Lehrer*innen in der Regel schlecht vorbereitet. Nebenbemerkung: Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben alle Länder der Welt die Behindertenrechtskonvention unterschrieben, 253 Länder ha- Claudia Riemer 232 ben sie ratifiziert (Stand 2016) - (nicht nur) deshalb ist inklusive Bildung auch ein DaF-Thema. 3 Annäherung an eine Begriffsbestimmung: Inklusion, Heterogenität, Diversität Es gibt in den Wissenschaften und auch in den nationalen politischen Gremien und zwischenstaatlichen Organisationen keine allgemein gültigen und abgestimmten Begriffsdefinitionen, was zu Unsicherheiten und Vagheit im Umgang mit den Begrifflichkeiten führt. „Inklusion“, „Heterogenität“ und „Diversität“ sind Begriffe, die miteinander in einem engen Überlappungsfeld stehen, aber unterschiedliche Konnotationen und Handlungsfelder implizieren können. Die Begriffsgruppe „Diversität“, diversity oder auch „Vielfalt“, „Vielfältigkeit“ ist stärker soziologisch konnotiert und berücksichtigt sämtliche Heterogenitätsdimensionen, wie u.a. Alter, Gender, ökonomische Benachteiligung, Hautfarbe, Migrationsgeschichte, Herkunfts- und Familiensprachen, sexuelle Orientierung, körperliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen, Religion. „Heterogenität“ wird in der DaF-/ DaZ-Didaktik und Fremdsprachendidaktik traditionell v.a. für die Bezeichnung von Lerngruppen herangezogen, die sich aus Lerner*innen zusammensetzen, die sich individuell durch viele unterschiedliche Variablen unterscheiden, wie etwa Alter, Erstsprache, Kompetenzen, sozioökonomischer Hintergrund und Bildungserfahrungen, aber auch kognitive (z.B. Sprachlerneignung, Konzentrationsfähigkeit) und affektive Variablen (z.B. Ambitionen, Motivation, Angst). In der Fremdsprachendidaktik gibt es also eine Begriffshistorie, bei der Heterogenität - anders als Diversität und Inklusion - nicht per se im Themenfeld von Chancenungleichheit und Bildungsungerechtigkeit verortet wird. In den Bildungswissenschaften hingegen wird die Verwendung der Begriffe „Heterogenität“ und „Diversität“ auch als Anzeichen dafür gesehen, inwieweit ein Paradigmenwechsel - weg von der vorrangigen Wahrnehmung von pädagogischen Herausforderungen aufgrund von Verschiedenheit (→ Heterogenität) und hin zur Wahrnehmung von mit Vielfalt verbundenen Chancen für individuelles und gegenseitiges Lernen (→ Diversität) - vollzogen wurde (vgl. Sliwka 2010). „Inklusion“ hingegen zielt auf die Überwindung diversitätsbedingter Barrieren und Nachteile und ist stark bildungspolitisch und auch ethisch konnotiert. Inklusion zielt auf die selbstverständliche Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, also auch auf die gleichberechtigte Teilhabe Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 233 im Bildungsbereich. 1 Der weite Inklusionsbegriff erfährt derzeit eine Neugewichtung, die sich auf alle Schüler*innen, dabei aber besonders auf vulnerable und/ oder marginalisierte Gruppen sowie deren Nachteilsausgleich, bezieht (Kiuppis 2014, 33-34; Lindmeier/ Lütje-Klose 2015, 8-9). Diesen spezifizierten weiten Inklusionsbegriff erachte ich als den (auch) für die Fremdsprachenwissenschaften geeigneten Begriff, an ihm knüpft meine weitere Argumentation an. Hier kommt ein klares Bekenntnis für einen weiten Inklusionsbegriff zum Ausdruck. Der weite Inklusionsbegriff bezieht sich also nicht nur auf Menschen mit speziellen Beeinträchtigungen. Jedwede Form der Kategorisierung, die zur „Etikettierung“ von Personen führt, soll vermieden werden, da sie allzu leicht zur Definition von Personengruppen anhand umstrittener Kategorien (z.B. der Kategorie einer „Lernbehinderung“, die aus einer spezifischen sonderpädagogischen Diagnostik resultiert) führt, die sich durch Defizite auszeichnen, die es zu kompensieren gilt. Dagegen steht die Vision einer „Schule der Vielfalt“ (vgl. KMK und HRK 2015), die alle Schüler*innen mit ihren mitgebrachten Kompetenzen und Ressourcen sowie unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen akzeptiert und mit Blick auf die vorliegenden Bedarfe hin individuell abgestimmte Unterstützung bietet - und zwar innerhalb des Regelsystems, ohne dass dabei Kategorisierung und Ausschluss auftreten (vgl. exemplarisch Hinz 2013). Der Inklusionsgedanke verlangt neben Entwicklungsprozessen auf der Ebene des Schulsystems v.a. umfangreiche Veränderungen auf der Ebene des schulischen Unterrichts. Lehrer*innen sind aufgefordert, „den Unterricht didaktisch-methodisch so zu verändern, dass individualisiertes Lernen in der Gemeinschaft mit allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht wird“ (Amrhein/ Dziak-Mahler 2014, 11). Individualisierung und Binnendifferenzierung sowie die Herstellung von Gemeinsamkeit bei gleichzeitiger Berücksichtigung der spezifischen Förderbedürfnisse von Schüler*innen mit speziellen Bedürfnissen gelten als die zentralen didaktischen Prinzipien (vgl. zusammenfassend Lütje-Klose 2012). 1 Der enge Zusammenhang zwischen Diversität und Inklusion wird im Ende 2016 von der UN veröffentlichten Kommentar zu Art. 24 (Right to inclusive education) der Behindertenrechtskonvention in Absatz 12e besonders hervorgehoben: „Respect for and value of diversity: all members of the learning community are equally welcome and must be shown respect for diversity irrespective of disability, race, colour, sex, language, linguistic culture, religion, political or other opinion, national, ethnic, indigenous or social origin, property, birth, age or other status. All students must feel valued, respected, included and listened to. Effective measures to prevent abuse and bullying are in place. Inclusion takes an individual approach to students.“ (UN 2016, 4) Claudia Riemer 234 In Deutschland wird noch oft recht verkürzt vom engen Inklusionsbegriff ausgegangen. Die UN-Konvention wird vorrangig so interpretiert, dass Eltern eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer Regelschule und gemeinsamen Unterricht haben. Prozesse rund um den Begriff und das Aufgabenpaket der „Inklusion“ sind zudem von einer Reihe von Missinterpretationen begleitet, die im deutschen Sonderweg der Beschulung von „behinderten“ Schüler*innen - nach ihrer Etikettierung als Schüler*innen mit sog. sonderpädagogischem Förderbedarf - ihre Ursache haben. Was als sonderpädagogischer Förderbedarf gilt, ist in Deutschland geregelt und im Rahmen sog. sonderpädagogischer Fachrichtungen festgelegt, als da wären: „emotionale und soziale Entwicklung“, „geistige Entwicklung“, „körperliche und motorische Entwicklung“, „Lernen“ und „Sprache“ (Sprachentwicklungsstörungen); hinzu kommen die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik sowie die Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik. Mittels sonderpädagogischer Diagnostik (die insbesondere für die Förderschwerpunkte „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ höchst umstritten ist) wurden/ werden Beeinträchtigungen bzgl. einer dieser Ausprägungen festgestellt und führ(t)en im Regelfall zur Beschulung außerhalb des Regelsystems, nämlich an hinsichtlich der Fachrichtungen spezialisierten Schulen, euphemistisch „Förderschule“ mit dem Förderschwerpunkt X genannt. Insbesondere die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte „Lernen“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ (fast 2/ 3 aller SchülerInnen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf entfallen auf diese beiden Schwerpunkte, vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014) sind am stärksten mit sozialer Ungleichheit assoziiert und stehen daher seit Jahren besonders in der Kritik. „Inklusion“ verlangt, dass diese Sonderbeschulung zurückgefahren wird und Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Schulplatz an einer Regelschule erhalten. Das Schulsystem hat darauf mit der Einrichtung einzelner „inklusiver Klassen“ an Regelschulen bzw. der Weiterentwicklung von möglichst vielen Regelschulen zu „inklusiven Schulen“ reagiert. Zunächst ist auf den aktuellen Bildungsbericht 2016 zu verweisen, nach dem (trotz sinkender Schüler*innenzahlen) die Zahl der sonderpädagogisch geförderten Schüler*innen gestiegen ist; derzeit beträgt die Förderquote 7 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, 81). Zwar steigt der Anteil der inklusiv beschulten Schüler*innen mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf (insgesamt ca. 1/ 3), die Schüler*innenzahl an Förderschulen außerhalb des Regelsystems ist aber nahezu konstant geblieben (ebda). Dies kann als Beleg für eine erhebliche Zunahme des Einsatzes sonderpädagogischer Diagnostik interpretiert werden, aufgrund welcher Schüler*innen „etikettiert“ werden und ihnen ein besonderer Förderbedarf Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 235 zuerkannt wird. Hier muss angemerkt werden, dass in der Regel erst auf der Basis solcher Etikettierungen inklusiven Schulen zusätzliche Ressourcen zugewiesen werden, die zum Einsatz von Sonderpädagog*innen und anderen Spezialist*innen genutzt werden können - ein Komplex, der auch als „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ bezeichnet wird und der für präventive und lernbegleitende Diagnose und Förderung wenig Anreize setzt. 4 Zur Sonderbeschulung von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte Nicht der aktuelle 2016er (der diesen Analyseschwerpunkt nicht aufnimmt), sondern bereits der 2014er Bildungsbericht lieferte zudem einen genaueren Blick auf Schüler*innen, die sowohl einen sonderpädagogischen Förderbedarf als auch eine Migrationsgeschichte aufweisen. Der Bericht bestätigte frühere Aussagen, dass diese Schüler*innen im Vergleich zu Schüler*innen ohne Migrationsgeschichte deutlich überproportional an Förderschulen sonderbeschult sind. An Förderschulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Lernen“ sind Schüler*innen mit Migrationsgeschichte sogar mehr als doppelt überrepräsentiert - es sei angemerkt, dass in mehreren Bundesländern an diesem Typ von Förderschule kein Hauptschulabschluss vorgesehen ist. Auf das Problem der nicht für mehrsprachige Schüler*innen passgenauen sonderpädagogischen Diagnostik soll hier zumindest verwiesen werden. Der 2014er Bildungsbericht ermittelte außerdem die bedenkliche Tendenz, dass diese Schüler*innengruppe vom Trend zur zunehmenden inklusiven Beschulung nicht (! ) profitiert (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 179). In sonderpädagogischen Kreisen wird seit langer Zeit vermutet, dass insbesondere für das Entstehen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich „Lernen“ bei Schüler*innen mit Migrationsgeschichte die mangelnde zweitsprachliche Kompetenz verantwortlich ist. Würden Schüler*innen mit Rückständen in der Zweitsprache Deutsch in die Grundschule eingeschult, führe dieses im Verlauf der Primarstufe zu immer größeren Lernschwierigkeiten und Lernrückständen, die dann irgendwann Anlass für eine sonderpädagogische Diagnostik im Bereich „Lernen“ geben würden - mit der Konsequenz der Abschulung auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen (vgl. Lütje-Klose 2009; Grosche/ Fleischhauer 2017, 157f.). Solche Hinweise deuten auf eine starke Konfundierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Lernen durch die Heterogenitätsdimension Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf hin. Claudia Riemer 236 5 Zur Inklusion von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte und DaZ-Förderbedarf Derzeit werden in Deutschland die Diskurse rund um „Inklusion“ und „Integration“ von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte weitgehend getrennt voneinander geführt. Beide werden als zwei zentrale, parallel zu bewältigende Herausforderungen für das Bildungssystem betrachtet. (Nicht nur) mit Blick auf das Schulsystem, das alle Schüler*innen zu berücksichtigen hat, sind diese beiden Diskurse dringend zusammenzuführen. Die Inklusionsdebatte muss die spezifische Heterogenitätsdimension der Bildungsbenachteiligung von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen einschließen, die aufgrund sozioökonomischer Benachteiligung, Migrationsgeschichte und Flucht nicht die zweitsprachliche Kompetenz in der deutschen Sprache aufweisen, die für sprachlich barrierefreien Bildungszugang und erfolgreiche Bildungskarrieren erforderlich ist. Auch der Bereich DaZ tut sich durchaus schwer mit dem Inklusionsbegriff. „Inklusion“ liegt in Deutschland noch zu nahe am semantischen Feld der Sonderpädagogik. Jeglicher Interpretation, Migrationsgeschichte und Sprachförderbedarf in der Zweitsprache Deutsch zu pathologisieren, ist daher energisch zu widersprechen. Eine inklusive Schule, die sämtliche Heterogenitätsdimensionen einschließlich Migrationsgeschichte und Förderbedarf in der Zweitsprache Deutsch verwirklicht, darf m.E. nicht auf den gemeinsamen Unterricht enggeführt werden und jegliche Form äußerer Differenzierung tabuisieren. Eine Kombination von vorbereitender bzw. additiver Sprachförderung mit im Fachunterricht geleisteter integrativer Sprachförderung („sprachsensibler Fachunterricht“) kann dem Kerngedanken der Inklusion besser gerecht werden. Dies würde umgesetzt bedeuten, dass alle Schüler*innen und insbesondere solche, die einer vulnerablen „high risk“-Gruppe zuzurechnen sind, die Förderung erhalten, die - salopp gesagt - notwendig ist, um die zweitsprachliche Kompetenz und literacy zu erreichen, die Grundlagen für erfolgreiche Bildungsteilhabe sind. Wir wissen aus der Zweitsprachenerwerbsforschung und aus der Erfahrung aus vielen Sprachförderprojekten, dass solche literalen Kompetenzen nicht in kurzer Zeit erworben werden können, sondern mehrere Jahre umfassen, also zwingend schullaufbahnbegleitend gefördert werden müssen. Dass z.B. in letzter Zeit von Bildungspolitiker*innen dafür geworben wird, neu eingewanderte Schüler*innen „so schnell wie möglich“ - das heißt übersetzt in der heutigen Schulrealität: ohne bzw. mit nicht hinreichend literat ausgebauten Deutschkenntnissen - in Regelklassen zu beschulen, ohne ihnen substantielle und auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete, in den Regelbetrieb der Schule integrierte, ggf. auch additive Sprachför- Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 237 derung zu ermöglichen, darf nicht unwidersprochen bleiben. Durchgängig gemeinsamer Unterricht kann nicht die individuelle Unterstützung leisten, die gerade für den Erwerb ausgebauter literaler Kompetenzen in der Zweitsprache Deutsch notwendig ist. Aber auch „Willkommensklassen“ oder „internationale Klassen“ (oder wie diese Klassen auch immer euphemistisch bezeichnet werden) realisieren in der Regel keine durchdachten, auf durchgängige Sprachförderung zielenden Konzeptionen und stellen häufig eher ein durch extreme Heterogenität gekennzeichnetes Auffangbecken dar, das in der Regel nicht Teil eines schulischen Gesamtkonzepts ist und eher mit Exklusion einhergeht. Bildungspolitische Ambitionen dürfen sich mit Blick auf die Lehrer*innenbildung nicht in der Implementierung (zu) kleiner DaZ-Module in den Lehramtsstudiengängen und kleinen Fortbildungsformaten begnügen (auch wenn diese Entwicklungen aus fachlicher Sicht durchaus überfällig waren und zunächst zu begrüßen sind! ). Deutschland ist gerade wieder dabei, eine neue Generation von mehrsprachigen Schüler*innen für gehobene Bildungskarrieren zu verlieren, obwohl diese angesichts demographischen Wandels und Fachkräftemangels von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist. Schulen und in der Folge den Fachlehrer*innen werden Aufgaben der „Integration“ von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchtgeschichte zugewiesen, ohne hinreichend bzw. gezielt Ressourcen für systematische, auch additive Sprachförderung nach der Zuweisung in Regelklassen durch qualifizierte Spezialist*innen und für die Zusammenarbeit von Fachlehrer*innen und professionellen DaZ- Lehrkräften (z.B. in Lehr-Tandems) zur Verfügung zu stellen und konzeptionelle Fragen der Schulentwicklung zu klären. Hiermit zu verbinden sind Fragen nach einem Unterrichtsfach DaZ und der Ausbildung von DaZ- Lehrer*innen in Lehramtsstudiengängen, zumindest im Drittfach, sowie der Integration von qualifizierten DaZ-Lehrkräften in den Regelschulbetrieb, z.B. an Ganztagsschulen (vgl. ausführlichere Ausführungen in Riemer 2017). Der Glaube, man könne ohne solche Spezialist*innen eine inklusive Schule verwirklichen, ist gemessen am heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht nachvollziehbar. Das Leitbild Inklusion kann nur dann als Vision ernst genommen werden, wenn sämtliche Heterogenitätsdimensionen strukturell und konzeptionell ernst genommen werden. Als Vergleichsmaßstab für notwendige Entwicklungen in der Lehrer*innenbildung mit Blick auf DaZ können internationale Entwicklungen herangezogen werden (vgl. die Beiträge in Winters-Ohle/ Seipp/ Ralle 2012). So ist z.B. in Schweden seit 1995 ein Unterrichtsfach Schwedisch als Zweitsprache gesetzlich verankert (vgl. Otterup 2012a), auch wenn es mit der Umsetzung hapert (vgl. Otterup 2012b). Ein Vorbild für echte inklusive Schulen liefert insbesondere Kanada und dort Claudia Riemer 238 besonders die Provinz Alberta. Dort wird Zweitspracherwerb gefördert in Form der Kombination von integrativer und additiver Sprachförderung sowie konzeptionell und methodisch ausgearbeiteter Zusammenarbeit von Fach- und Sprachlehrer*innen innerhalb eines Ganztagskonzepts ohne stigmatisierende Nebeneffekte für die Schüler*innen - und die Provinz Alberta ist dabei höchst erfolgreich (vgl. Schuett 2016). 6 Die Kernaufgaben der Wissenschaft auf dem Weg zu einer inklusiven Schule Neben der implizit im Statement angesprochenen Aufgabe der Politikberatung bzgl. einer inklusiven Schulentwicklung und inklusionssensiblen Lehrer*innenausbildung obliegt dem Fach DaF/ DaZ und den Fremdsprachendidaktiken die Überarbeitung vorhandener Studiencurricula sowie die Entwicklung neuer Studiengänge, z.B. für ein Lehramt für ein einzurichtendes Unterrichtsfach DaZ, das den Anforderungen der länderspezifischen Lehrerausbildungsgesetze entspricht (vgl. exemplarisch das Drittfach DaF/ DaZ an der Universität Jena). Die Konzeption von Modulen und Lehrveranstaltungen zur Inklusion in den Fremdsprachendidaktiken kann zwar an vorhandenen Arbeiten anknüpfen (s. Abschnitt zur Ausgangslage). In vielerlei Hinsicht ist jedoch noch Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu leisten. Prioritären Bedarf sehe ich mit Blick auf die Lehramtsstudierenden in folgenden Bereichen: sprach-/ kulturdidaktisch begründete Vermittlung von diagnostischen und förderdidaktischen Kompetenzen, fachdidaktischer Beitrag zur Entwicklung von Einstellungen, Haltungen und Werten bzgl. der Vision einer inklusiven, mehrsprachigen Schule sowie die Befähigung zur Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams und im Team-Teaching von Fachlehrer*innen, Sprachlehrer*innen und Sonderpädagog*innen. Gerade der förderpädagogische und sprachdiagnostische Bereich scheint mir eine Aufgabe zu sein, die von den Fremd-/ Zweitsprachendidaktiken zu leisten ist, die aufgefordert sind, u.a. adaptive, lernbegleitende Diagnoseverfahren für die unterschiedlichen fremd-/ zweitsprachlichen Lernbereiche zu entwickeln und zu evaluieren, die imstande sind, individuelle Lernfortschritte zu erfassen und die als Grundlage weiterer, individuell abgestimmter Förderung nutzbar sind. Viele der Projekte „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ nehmen sich des Inklusionsthemas an, so dass hier substantielle Fortschritte zu erwarten sind. Im Rahmen des Bielefelder Projekts „BiProfessional“ 2 2 Das Projekt „BiProfessional“ der Universität Bielefeld wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffenive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Migrationsgeschichte/ DaZ-Förderbedarf in der deutschen Inklusionsdebatte 239 werden unterschiedliche Forschungsprojekte durchgeführt, darunter das Projekt „BiPro_DaZ_FörBi“ zur Diagnose- und Förderkompetenz für sprachsensiblen Fachunterricht in der Sekundarstufe (Riemer/ Lütje- Klose/ Wahbe; Laufzeit 2016-2019). In diesem Forschungsprojekt wird mittels einer Längsschnittstudie mit mixed methods-Design untersucht, inwieweit ein studienbegleitendes Praktikum in einem außerschulischen Sprachförderformat (universitärer Förderunterricht für Schüler*innen mit Migrationsgeschichte) zur sprachdiagnostischen und sprachförderdidaktischen Kompetenzentwicklung sowie zur Entwicklung der Einstellungen und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Studierenden in Bezug auf das Themenfeld Inklusion beitragen kann. Hierdurch soll ein Beitrag für ein Professionsmodell für sprachsensibles Lehrer*innenhandeln als Teil eines inklusionssensiblen Fachunterrichts entwickelt werden. Literatur Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland. 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Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen Jörg Roche 1 Einleitung Wenn in bildungpolitischen Diskursen von ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ die Rede ist, dann konzentrieren sich diese Diskurse primär auf gesellschaftspolitische und infrastrukturelle Aspekte. Bezeichnet wird die (in Umfang und Grad zunehmende) Vielfalt von Schule und Gesellschaft und der Umgang damit in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Luhmann 1997, 756-760). Diese Teilhabe umfasst „die Einbeziehung von Gesellschaftsangehörigen in soziale Gebilde, in gesellschaftliche Funktionsbereiche und in die jeweils umfassende Gesamtgesellschaft“ (Hillmann 2007, 377). Bildung und Arbeit gehören selbstverständlich zu diesen Bereichen. Dabei scheint der Begriff „Inklusion“, das zeigten auch diverse Beiträge der FJK 2017, alles andere als klar umrissen. Die in den Beiträgen deutlich gewordene Irritation bezüglich staatlich verordneter Inklusionsprogramme (etwa in Form verpflichtender Ausbildungsmodule in Lehramtsstudiengängen in manchen Bundesländern) zeigt darüber hinaus die potentiell fatalen Folgen eines aktionistischen und reduktionistischen Fehlverständnisses von Inklusion und Integration auf. Die Zustandsbezeichnungen Heterogenität/ Diversität und ihre Managementkorrespondenzen Integration/ Inklusion sind Ausdruck von Aufgaben eines Bildungssystems, das mehr oder weniger klare Vorstellungen von Zielnormen entwickelt und daraus resultierend kompensatorische Maßnahmen zu entwickeln hat. Ob die daraus abgeleiteten Maßnahmen den „Zu Integrierenden“ und den „Zu Inkludierenden“ immer gerecht werden, ist damit zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht gesagt. In diesem Beitrag soll es nicht um die Managementperspektive der Bildungsinstitutionen (und ihrer Terminologie) gehen, also die Außenperspektive in Bezug auf Integration und Inklusion, sondern um eine anthropologische, bildungssoziologische, pädagogische und didaktische Perspektive auf Differenz und Talent (Innenperspektive), am Beispiel des Inklusionssegmentes der kulturellen Diversität. Das hat zwei Gründe: Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen 243 Folgt man weiter dem weiten Paradigma der Inklusion, so müsste das deutsche Bildungssystem dahingehend verändert werden, dass allen Menschen - auch den Menschen mit Fluchterleben - die Teilhabe an (beruf-)schulischer Bildung und Arbeit ermöglicht wird. (Ebert/ Eck 2017) Zudem lässt sich in diesem Bereich gut erläutern, dass erst das Wissen um die Fähigkeiten, Talente und Ziele der Lerner und ein post-hermeneutisches Konzept von Differenz einen sinnvollen Zugang zu deren Management und zu Bildungsgerechtigkeit ermöglicht. Mit der Erweiterung der Perspektive auf Differenz gelingt dann vielleicht auch eine glaubwürdige Übertragung von Heterogenitätsaspekten auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, des wissenschaftlichen Austausches und der fachdidaktischen Diskurse. Schließlich geht es überall um den Umgang mit differenten Perspektiven und Talenten und schließlich geht es auch überall darum, die Relativität der eigenen Perspektivik mitzureflektieren. Einen vielversprechenden Ansatz für die Perspektive der Differenz- und Talentförderung stellt der in den Sprachlehr- und -lernforschung bisher wenig bekannte Capabilities-Ansatz dar. Dieser Ansatz soll hier beispielhaft für einen Wechsel von der Defizitverwaltung zur Talentförderung behandelt werden. Er unterstützt zahlreiche andere Talent-Ansätze, die in verschiedenen Beiträgen der Frühjahrskonferenz 2017 genannt wurden (etwa bei Hallet und Hufeisen), und ist kompatibel mit den guten Erfahrungen, die in verschiedenen Projekten wie der Kinderakademie (Roche et al. 2012) oder den literaturdidaktischen Veranstaltungen der Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger im Rahmen von Lesefesten und der Begleitförderung der Robert Bosch Stiftung im ganzen Bundesgebiet gesammelt wurden 1 1 Vgl. die Chamisso-Seiten der Robert Bosch Stiftung (http: / / www.bosch-stif tung.de/ content/ language1/ html/ 14169.asp) und des Internationalen Forschungszentrums Chamisso (www.chamisso.daf.lmu.de). . Der Ansatz unterscheidet sich mutig von einer verbreiteten Fokussierung auf logistische Aspekte von fachdidaktischen Ansätzen, bei denen die externe Steuerung im Vordergrund steht. Allerdings ist dieser Ansatz nicht unbedingt leichter operationalisierbar als andere Inklusionsmaßnahmen. Er nimmt die Talente und Verwirklichungschancen der Lerner in den Fokus und fordert damit entsprechende Verwirklichungsmöglichkeiten von Politik, Bildung, Didaktik und Wirtschaft. Im Mittelpunkt der derzeitigen Inklusions- und Integrationsdebatte stehen dagegen allzu oft Aspekte der Ausbildungsreife und der Bildungsvoraussetzungen, bzw. des Mangels an beidem, vor allem im Kontext der beruflichen Ausbildung. Man könnte also meinen, dass sich bei dieser Thematik zwei eigentlich unvereinbare Gegensätze begegnen: auf der einen Seite ein idealisiertes, anthropologisches Bild von Jörg Roche 244 Bildung, Gesellschaft und Individuum, auf der anderen ein zweckrationales Bild von beruflicher Leistungsfähigkeit. Tatsächlich aber versucht das hier skizzierte Modellprojekt, einen operationalisierbaren Mittelweg zwischen bildungstheoretischen und Machbarkeits-Überlegungen zu beschreiten. Dabei ist nicht zu übersehen, dass viele der nach Mitteleuropa kommenden Flüchtlinge Erwartungen und Motive haben, die nicht unmittelbar mit den hier geltenden Parametern von Bildung korrespondieren und vom Ausbildungssystem oft nicht erfüllt werden können. So werden in den Bildungs- und Ausbildungssystemen gute Sprachkenntnisse und Grundkenntnisse in allgemeinbildenden Fächern vorausgesetzt, die nur in einer mehrjährigen Beschulung erworben werden können. Diese Anforderungen erscheinen den Flüchtlingen oft unerreichbar entfernt (vgl. Nieke 2010). Schließlich zeigt eine explorative Studie aus dem Umfeld des Münchner Mercator-Projektes (Roche/ Riedl/ Riehl 2017), dass weniger als die Hälfte der neu ankommenden Flüchtlinge eine mehr als 8-jährige Schulausbildung in ihren Heimatländern hatten (Baumann/ Riedl 2016, 90). Durch die vielfältigen Möglichkeiten eines aktiven Kennenlernens und Ausprobierens verschiedener beruflicher Orientierungen, vielleicht auch in Bezug auf die Erfüllung lang gehegter Träume, verbunden mit einem interessegeleiteten, relevanten Spracherwerb könnten jedoch Möglichkeiten der Identifikation möglicher Lebensentwürfe und -karrieren gegeben werden. Selbstverständlich kann ein solches Vorhaben nur dann gelingen, wenn es verschiedene Integrationsangebote der Firmen, der Bildungsinstitutionen, der Gesellschaft gibt und wenn die Sprachvermittlung auf gesellschaftliche Teilhabe, also handlungsorientiert, ausge-richtet ist. Das heißt, berufliche Ausbildungsangebote und Sprachvermittlung müssen aufeinander abgestimmt werden (z.B. sprachsensibler Fachunterricht, fachsensibler Sprachunterricht) sein und es muss Angebote für gesellschaftliche Integrationsmöglichkeiten geben. Dafür bedarf es nicht nur geeigneter Lehrmaterialien, sondern auch eines entsprechenden didaktischen Konzepts von Sprach- und Fachunterricht. Die Grundlagen eines solchen Ansatzes und seine Umsetzung sollen in diesem Beitrag exemplarisch dargestellt werden. Zielgruppe sind in diesem Fall die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Konkret wird dieser Ansatz in einem Projekt, das zusammen mit der Vermittlungsagentur Joblinge derzeit in München pilotiert und unter 3. vorgestellt wird. Der Ansatz basiert auf einem bereits früher in Zusammenarbeit mit BMW entwickelten und von BMW geförderten Modellprojekt zur talentfördernden, rapiden und berufsqualifizierenden Integration von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (TRIUMF), dessen Ziele in Roche/ Baros (2017) genauer dargestellt sind. Zunächst aber sollen die bil- Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen 245 dungstheoretischen Grundlagen und die darin verorteten kommunikativen Kompetenzen skizziert werden 2 . 2 Bildungstheoretische Grundlagen: Der Capability Approach 3 Bis in die späten 1980er Jahre wurde unter dem programmatischen Titel der „Ausländerpädagogik“ (vgl. Czock 1993) aus eher objektwissenschaftlicher Perspektive schwerpunktmäßig der Frage nachgegangen, wie Bildungseinrichtungen und -prozesse zu einer unproblematischeren gesellschaftlichen Integration von „Gastarbeiterkindern“ (Birkenfeld 1982) beitragen können. Ähnliche Programmatiken lassen sich auch heute durchaus noch in Beiträgen der empirischen Bildungsforschung erkennen. Sie gehen in ihrem Verständnis von Bildungsgerechtigkeit davon aus, dass es vordergründig die Entwicklung bestimmter Kompetenzen sei, die den Individuen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (vgl. OECD 2014). Zwar konnten Untersuchungen dieser Art in den letzten Jahrzehnten aufschlussreiche Erkenntnisse über die Bedingungen des Kompetenzerwerbs bestimmter sozialer Gruppen gewinnen, dennoch lassen sich darin Verkürzungen des Gegenstandsbereichs feststellen: denn die Situation von Migrantinnen und Migranten wird stets aus einer Außenperspektive beschrieben, während deren subjektive Befindlichkeiten, Motivationen und Wertvorstellungen vernachlässigt bleiben. Vor diesem Hintergrund scheint ein subjektwissenschaftlicher Forschungszugang eher ertragreich, der Menschen die Fähigkeit zuspricht, sich ihre Ziele selbst zu stecken und ihre Handlungen danach auszurichten („human agency“, vgl. Alkire 2005). Eine gerechtigkeitstheoretische Fundierung für dieses Unterfangen liefert der Capability Approach in seiner ursprünglichen Konzeption nach Amartya Sen (vgl. Sen 1980, 1995, 1999, 2000) und seiner Erweiterung durch Martha Nussbaum (vgl. Nussbaum 1999, 2000). Dieser Ansatz sieht soziale Gerechtigkeit nicht allein durch die freie Zugänglichkeit und faire Verteilung von Kapitalien hinreichend verwirklicht, sondern schließt die individuellen Handlungsziele und Befähigungen mit ein: Nicht von der Aufnahmegesellschaft vorgegebene Werte, sondern die „größere Freiheit zu haben, um die Dinge zu tun, die zu schätzen man Gründe hat“ (Sen 2000, 30) ist von entscheidender Bedeutung für ein erfüllendes Leben. Innerhalb des hier zitierten Halbsatzes finden sich zwei wichtige Elemente des Denkens Sens, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. 2 Vgl. hierzu auch die Grundlagen und Ziele des talentfördernden Projekts Start Up Lions im Bereich IT in Kenia: http: / / www.startuplions.org (23.4.2017). 3 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf den Beitrag von Roche/ Baros (2017). Jörg Roche 246 Was bedeutet dabei „größere Freiheit“? Diese eröffnet sich nicht allein aus bestimmten Kompetenzen, die Individuen vermeintlich situations- und kontextunabhängig erwerben und abrufen können, sondern entwickelt sich „als Vermögen im Sinne von kombinierten Fähigkeiten (combined capabilities)“ (Baros/ Otto 2010, 256) und kann als Passungsverhältnis zwischen individuellen Dispositionen (i-Capabilities) und externalen Bedingungen (e-Capabilities) verstanden werden. Capabilities lassen sich somit als „Wahlmöglichkeiten bzw. Wahlfreiheiten“ (Gold 2012, 255) definieren, deren Verwirklichung sich nicht ausschließlich objektseitig voraussagen lässt. Ob beispielsweise ein (als solches deklariertes) Bildungsangebot wahrgenommen wird, kann weder allein durch internale noch durch externale Faktoren bestimmt werden. Zentral bleibt die Frage, unter welchen „personalen und sozialen Bedingungen“ (Baros 2014, 333) die Aneignung von Gütern gelingt oder misslingt („Capability-Deprivation“, Baros 2014, 333). Dies kann auf vier Analyseebenen untersucht werden (vgl. Baros 2014, 333- 335): (1) Knowledge/ Awareness: Für die Teilhabe ist Informiertheit von ausschlaggebender Bedeutung. Im Feld der migrationsgesellschaftlichen Bildungsarbeit impliziert dies beispielsweise, dass Bildungsmaßnahmen adäquat kommuniziert und wahrgenommen werden. Weiterhin ist entscheidend, inwieweit mögliche Adressaten jenseits ihres Wissens über die Verfügbarkeit der Maßnahme diese auch mit ihren persönlichen Wünschen und Zielen identifizieren. (2) Means: Aus der Perspektive des Befähigungsansatzes sind auf dieser Ebene sowohl personale Ressourcen, auch im Sinne von Fähigkeiten, als auch extrapersonale Verwirklichungsbedingungen wie beispielsweise die benötigten finanziellen Mittel relevant. Gold (2012) weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Bedingungen für das tatsächliche Ergreifen von Möglichkeiten (engl.: functionings: „all das, was eine Person sich entscheidet zu tun“ (Sen 2000, 75) sich keinesfalls in den materiellen Gütern, über die eine Person verfügt, erschöpfen (Gold 2012, 255-259). (3) External Factors: Hiermit sind die Faktoren gemeint, die unabhängig von der konkreten Einzelperson bestehen, aber „die Verwirklichungschancen von Individuen maßgeblich beeinflussen können“ (Baros 2014, 334). Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang auf das (oftmals unbemerkte) Wirken von Mechanismen institutioneller Diskriminierung und Alltagsrassismen hinzuweisen. Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen 247 (4) Personal Aims: Weder sind alle Menschen hinsichtlich ihrer Lebensziele identisch, noch lassen sich Ziele bzw. Strategien zur Verfolgung dieser Ziele monokausal aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen oder kulturellen Gruppe ableiten. Beobachtet man die Handlungen einer Person, so zeigt sich, dass diese nicht im Sinne einer klassischen Rational-Choice- Theorie auf die Verwirklichung ihrer Ziele ausgerichtet sein müssen. Beispielhaft ist denkbar, dass ein/ e Jugendliche/ r zwar Interesse an einer Hochschulkarriere äußert, aber dennoch (aus unklaren Beweggründen) von Studiums-Bewerbungen absieht. Daher kommt folgender Frage eine zentrale Bedeutung zu: „Inwieweit handelt es sich bei subjektiven Entscheidungsprozessen um das Ausschlagen einer Wahlmöglichkeit als Ausdruck der Freiheit dieser Person, ihre Lebensweise selbst wählen zu können? “. 2.1 Zur Rolle der kommunikativen Kompetenz im Capability Approach Es wird deutlich, dass ein derart weitreichender bildungstheoretischer Ansatz ohne ‚kommunikative Kompetenz‘ der Betroffenen im Sinne gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit nicht auskommt. Die nötigen sprachlichen Kompetenzen müssen also vorhanden sein oder erworben werden, wenn gesellschaftliche Verwirklichungschancen wahrgenommen und interkulturell angemessen kommuniziert werden sollen. Das betrifft nicht nur die zielsprachlichen Kompetenzen, sondern schließt Aspekte der Mehrsprachigkeit mit ein, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass Mehrsprachigkeit (im Gegensatz zu der zweifelhaften Metastudie von Esser 2009) das gesellschaftliche und berufliche Aktionspotential erhöhen kann. Die traditionelle Sprachförderung, die oft auf die Vermittlung struktureller Elemente der Zielsprache ausgerichtet ist und Handlungsaspekte gar nicht oder nachgeordnet behandelt, kann diesen Zielsetzungen bekanntlich kaum gerecht werden. Im günstigsten Fall schafft sie strukturelle Grundlagen für den Spracherwerb, aber allzu oft baut sie Hürden auf, die gerade einen solchen Erwerb verhindern, nicht zuletzt wegen zu hoher und zu unrealistischer Normen, wegen mangelnder Rücksichtnahme auf Erwerbsprinzipien, wegen hoher sozialer Segregation und weil sie die Interessen, Bedürfnisse und Talente der Lerner nicht oder zu wenig berücksichtigt. Gefordert ist also ein konsequenter handlungsorientierter Ansatz der Vermittlung sprachlicher und kommunikativer Kompetenzen, wie er sich im Prinzip der vollständigen Handlung manifestiert. Nur ein solcher Ansatz kann die Binnendifferenzierung ermöglichen, die für den Umgang mit Differenz und die Förderung von individuellen Interessen, Bedürfnissen und Talenten zwingend notwendig ist. Mittels sinnvoller kommunikativer Aufgaben lässt sich zudem der Jörg Roche 248 Druck auf Betreuerinnen und Lehrkräfte minimieren, stets strukturelle Feindiagnosen vom Sprachstand der Lerner zu ermitteln. Hier bedarf es pragmatischer Diagnosekriterien und -kompetenzen, wie sie etwa Neugebauer/ Becker-Mrotzek (2013) oder Apeltauer (2007) für den Bereich Deutsch als Zweitsprache vehement fordern. 3 Ziele und Grundlagen des Pilotprojektes Zu den Zielen des Pilotprojektes, das die genannten Aspekte in der Praxis angehen will, gehört vor dem oben skizzierten Hintergrund, dass 1. die überwiegende Mehrzahl der beteiligten Jugendlichen in ihren Wahlmöglichkeiten gut gefördert auf eine Ausbildung eigener Wahl vorbereitet werden kann 2. eine noch bestehende, neuralgische Lücke in den vom etablierten Bildungssystem gestellten Angeboten in Bezug auf das Potential der Jugendlichen geschlossen wird 3. ein auch in der Breite funktionierendes praktikables Konzept entwickelt werden kann und 4. durch die wissenschaftliche Begleitung Erkenntnisse gewonnen werden können, die sich für den Transfer in andere Lern- und Ausbildungskonzepte eignen. Die Konzeption des Projektes deckt sich weitgehend mit den auf Integration und Inklusion ausgerichteten Konzepten der Jugendwerkstätten und der Joblinge-Initiative (https: / / joblinge.de). Das Projekt wird vom Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst unterstützt und begleitet, wodurch am besten die spätere Rückkoppelung zum Regelbetrieb der Schulen, die Weiterbildung der Lehrkräfte und damit die Nachhaltigkeit gewährleistet werden kann. Es orientiert sich, wie alle Komponenten der beruflichen und berufssprachlichen Ausbildung in Bayern, an den handlungsorientierten Lehrplänen für Berufsschulen und Berufsintegrationsklassen (BIK). 4 Sprachdidaktische und pädagogische Förderung 4.1 Sprachunterricht Zu Beginn des Projekts werden zunächst die Sprachkenntnisse der 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 18-25 Jahren festgestellt. Danach erfolgt an zwei Tagen pro Woche über eine zehnwöchige Berufs- und Differenz und Talent im Kontext der beruflichen Ausbildung von Flüchtlingen 249 Arbeitsmarkt-Phase von Joblinge (Februar bis Juli 2017) in jeweils vier Unterrichtseinheiten Präsenzunterricht im Joblinge-Standort München. Der handlungsorientierte Unterricht behandelt vor allem Themen, die für den Alltag der Jugendlichen und die beruflichen Kontexte relevant sind, und erlaubt eine Anpassung an individuelle Interessen und Anliegen der Teilnehmer. Er stützt sich dabei auf verschiedenes Lehrmaterial aus den beteiligten Betrieben und auf allgemeine Lehrwerke, als Schnittstelle für die Selbstlernphasen, aber teilweise auch auf die entsprechenden Basis-Deutsch- Module der Deutsch-Uni Online (www.deutsch-uni.com). Dabei sollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Formen des E-Learning vertraut gemacht werden, die sie zu einem selbständigen Weiterlernen motivieren sollen. Die relevanten Inhalte der Basis-Deutsch-Module werden dazu mit den Inhalten der Materialien von Joblinge verzahnt, die direkt in den beteiligten Betrieben mithilfe eines Leitfadens von einem Mitarbeiter des Betriebs unterrichtet werden. In der darauffolgenden zehnwöchigen Praktikumsphase, in der die Schülerinnen und Schüler an vier Tagen in der Woche ein Praktikum in einem Betrieb in der Branche ihres Interesses absolvieren, sind sie auf ein selbständiges, berufsbegleitendes Online-Lernen angewiesen. Die Jugendlichen erhalten so die Möglichkeit, Gelerntes in für Alltag und spätere Berufe relevanten Aufgaben anzuwenden und in Forumsbeiträgen mit den anderen Teilnehmern des Projektes zu kommunizieren. Dabei können auch Themen aus dem Unterricht selbständig weiter erarbeitet werden. Die Aufgaben und Forumsbeiträge werden von ausgebildeten DUO-Onlinetutoren betreut, kommentiert und nötigenfalls korrigiert. Es werden dabei vor allem kommunikative Kompetenzen vermittelt, die für die Bewältigung des privaten, schulischen und beruflichen Alltags (hier in verschiedenen beruflichen Ausrichtungen) notwendig sind, unter anderem die Kommunikation im Betrieb, mit Kolleginnen/ Kollegen, mit Kunden, die Informationsbeschaffung, die Präsentation von Arbeitsergebnissen, die Vorbereitung auf Prüfungen. Dabei dienen die sechs Phasen des Prinzips der vollständigen Handlung als Organisationsprinzip für die Arbeit mit beruflichen Szenarien (Roche/ Terrasi-Haufe 2017; Terrasi-Haufe/ Roche/ Sogl 2017; Riedl/ Simml 2016; Streinz 2015; Roche 2013, 2015, 2016; Roche/ Reher/ Simic 2012; Riedl/ Schelten 2010). Die Szenarien sind jeweils eingebunden in relevante und nachvollziehbare Ausgangshandlungen mit beruflich relevanten Inhalten und Aufgaben (wie im fallbasierten Lernen). Sender, Gegenstand/ Zweck und Adressat sind authentisch, wenn auch in Rollenspielen realisiert. Aber der Lerner ist mit seiner Person Teil des Szenarios, auch wenn er dabei verschiedene Rollen übernimmt. So können auch das interkulturelle Potenzial und die Differenz genutzt werden, die mit den Biographien der Schülerinnen und Schüler im Jörg Roche 250 Unterricht und in der Ausbildung vorhanden sind. Verwendet wird motivierende, authentische Sprache, keine Lehrerinnensprache. Ebenso entsprechen die Materialien, ihre Visualisierung und der Rahmen den Anforderungen der Alltagssituation und des Ausbildungsberufes. Der handlungsorientierte Ansatz eignet sich bekanntlich auch für andere Zielgruppen und Lernformate. Im Rahmen ihrer Arbeiten zu einem europäischen Gesamtsprachencurriculum verfolgt Hufeisen (2011) im Forschungs- und Entwicklungsprojekt PlurCur® etwa einen verwandten Ansatz der Handlungsorientierung und schlägt dabei eine regelmäßig wiederkehrende fächer- und jahrgangsübergreifende Projektorientierung vor. 4.2 Forschungsaspekte Das Projekt produziert unterschiedliche Ergebnisse, die in verschiedener Form validiert werden können und sollen. Erstens wird beobachtet, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die für die Teilhabe nötigen sprachlichen Kompetenzen erwerben und welche Elemente des Verfahrens besonders effizient sind. Zweitens wird ermittelt, wie sich dieser Kompetenzerwerb auf die Entwicklung der individuellen Biographien auswirkt, in Bezug auf ihre Partizipation am gesellschaftlichen und beruflichen Leben, in Bezug auf die Entwicklung ihrer Interessen, Talente und Kompetenzen, in Bezug auf die Nutzung von Bildungsmöglichkeiten und in Bezug auf ihre subjektive Befindlichkeit im Umgang mit der zunächst fremden Umgebung. Drittens kann die Interaktion der Teilnehmerinnen und Teilnehmer untereinander, in Unterricht und Betrieb beobachtet und in Bezug auf die Entwicklung kommunikativer und interkultureller Kompetenzen ausgewertet werden. Viertens lässt sich der Erfolg des Projektes auch anhand der Vermittelbarkeit der Jugendlichen in das Bildungs- und Ausbildungssystem evaluieren. Hiervon sind schließlich strukturelle und curriculare Empfehlungen für die schulische und betriebliche Bildung und Ausbildung in Bezug auf Maßnahmen der Inklusion und Integration abzuleiten. 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Neben der Akzeptanz von Heterogenität bezogen auf die Lehrenden und Lernenden gibt es auch noch eine Favorisierung von Heterogenität verbunden mit einer Negativbewertung von Homogenität auf der Ebene der Gegenstände, seien es sprachliche oder kulturelle. Die Implikationen dieser Bewertungen werden meines Erachtens zu selten diskutiert. Der folgende Beitrag versucht dies. Ich möchte dabei nicht aus einer Perspektive, wie sie im Englisch- oder Französischunterricht an deutschen Schulen vorhanden ist, aus der Nahfremde gegenüber Zielsprache und -kultur, argumentieren, sondern aus der Perspektive der Fernfremde: Was bedeutet es, wenn jemand eine fremde Sprache wie Deutsch lernt, der sprachlich, räumlich und kulturell weit von Europa entfernt ist und für den der deutschsprachige Raum entweder mit einem freiwillig angetretenen langen, aber komfortablen Flug oder mit einer lebensbedrohlichen Reise, die nicht mit dem Ziel des Spracherwerbs, sondern des Überlebens angetreten wurde, erreichbar ist. 1 Die Erweiterung der Gegenstände Seit der Gründung der Sprachlehrforschung in den 1970er Jahren (vgl. Koordinierungsgremium im DFG-Projekt Sprachlehrforschung 1977) haben sich mit dem Fremdsprachenlernen beschäftigende Wissenschaftler und Unterrichtsplaner ihre Gegenstandsbereiche kontinuierlich erweitert. In der Forschung sind auf die Lehrenden und Lernenden bezogene Fragestellungen, die traditionell von Psychologen und Pädagogen behandelt wurden, auf das Spezifische des Fremdsprachenlernens bezogen worden. Die Tendenz zur empirischen Forschung mit immer aufwendigeren und differenzierteren Methoden hat zu einer großen Menge von Einblicken in die Komplexität von Unterrichtswirklichkeit geführt. Kommunikative Grundorientierung Das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität … 255 und das Aufkommen neuer linguistischer Teildisziplinen wie Psycholinguistik und Pragmatik haben dazu geführt, dass die traditionell eher auf den Satz bezogene Fremdsprachendidaktik sich in Gespräche, Texte und die komplexe zielkulturelle Welt hinausgetraut hat. Allein die Erkenntnisse der kontrastiven linguistischen Pragmatik haben in Verbindung mit der interkulturellen Orientierung der 1980er Jahre dazu geführt, dass eine Vielzahl von sprachlichen und kulturellen Phänomenen in den Vordergrund gerückt ist, die zeigt, wie viel schwerwiegender z.B. Verstöße gegen Höflichkeitskonventionen 1 Diese Expansion hat nicht automatisch dazu geführt, dass neue Erkenntnisse auch in fremdsprachendidaktisches oder institutionelles Handeln wiegen können als die Verwendung eines falschen Genus oder die Missachtung der Stärke oder Schwäche eines Verbs. 2 umgesetzt wurde. Dennoch ist die Ausdifferenzierung der Fremdsprachenforschung im Hinblick auf unterschiedliche Lehrerrollen (vgl. Schart/ Legutke 2012), Vielfalt der Arbeits- und Sozialformen (vgl. z.B. Legutke 2006), Vielfalt der Lernenden (vgl. Riemer 1997) und Erweiterung der Gegenstände zunächst einmal als Fortschritt zu betrachten gegenüber • einer meist nicht explizit gemachten, jedoch implizit vorhandenen Annahme einer gesellschaftlich homogenen Lernergruppe, • einer hauptsächlich auf korrekten Wortschatz und Syntax bezogenen Sprachvermittlung und gegenüber • einer an den Elementen der zielkulturellen Hochkultur (der die jeweilige Fremdsprache dominierenden Kultur) orientierten Kulturvermittlung. Aus dem Blick geraten bei dieser Fokussierung auf Vielfalt der Lernenden, Lehrerrollen und möglicher Gegenstände ist m.E. jedoch, dass zumindest auf der Ebene der Gegenstände diese Ausdifferenzierung nicht ohne Probleme ist. Das mag weniger auffallen im Fremdsprachenunterricht in nahfremden Kontexten wie z.B. den meisten Schulfremdsprachen innerhalb Europas, es ist jedoch m.E. ein bedenkenswertes Problem, wenn man, wie 1 Vor allem durch die italienischen germanistischen DaFler und Linguisten vorangetrieben erschien eine Reihe von interessanten Beiträgen im Grenzgebiet von Linguistik und Didaktik (vgl. z.B. die Beiträge in Ehrhardt/ Neuland 2009 und Ehrhardt/ Neuland/ Yamashita 2011). 2 Wenn man sich anschaut, mit welcher ‚Begeisterung‘ einige Bildungspolitiker seit dem Ansteigen der Flüchtlingszahlen auf Deutsch als Zweitsprache an Schulen drängen, kann man sich nur wundern, wie unverständlich sie darauf reagieren, wenn man ihnen sagt, dass das zwar sehr schön sei, aber leider vierzig Jahre zu spät komme - die Mehrsprachigkeit deutscher Schulpopulationen sei kein Phänomen des Jahres 2015. Dietmar Rösler 256 das Fach Deutsch als Fremdsprache, es nicht nur mit innereuropäischen Sprachbegegnungen, sondern auch, wenn auch nicht überwiegend 3 , mit Lernenden in einer fernfremden Situation zu tun hat. 2 Vielfalt und Fernfremde Für Lernende in der Fernfremde ist die Ausgangsvoraussetzung eine, bei der der deutschsprachige Raum und Europa weit weg sind, nicht (nur) räumlich, sondern vor allen Dingen im Hinblick auf die konstruierten Fremdbilder und in ihrer Funktion als Projektionsfläche. Durch Deutsch nach Englisch ist in den meisten Fällen zumindest eine germanische Sprache in das Blickfeld dieser Lernenden gerückt, so dass einige lexikalische Elemente erkennbar und vor allen Dingen das für das Schriftsystem des Deutschen notwendige Arsenal von Zeichen bereits überwiegend vorhanden sind. Dennoch kann die neue Fremdsprache in der Anfangsphase ein großes Rätsel sein, bezogen auf kulturelle Aspekte, die aus der Perspektive der Lernenden absonderlich erscheinen mögen, ebenso wie im Hinblick auf sprachliche Phänomene wie Satzklammer, trennbare Verben, Komposita, Modalpartikel usw. Während man hoffen kann, dass auf den höheren Sprachniveaus eine Ausdifferenzierung im Hinblick auf Aspekte von Zielsprache und Zielkultur erfolgt, muss man sich auf der Ebene der unteren Niveaustufen fragen, ob es hier eine Kollision von fremdsprachendidaktischen Setzungen, maximale Vielfalt zu vermitteln, und Interessen der Lernenden geben kann. Etwas überspitzt formuliert: Gibt es ein Recht von Lernenden auf eine didaktisch kontrollierte zielsprachliche und -kulturelle Homogenität, durch die sie zunächst einmal überhaupt die Chance erhalten, den für sie relevanten kommunikativen Alltag 4 3 Nach der aktuellsten Erhebung des Auswärtigen Amts aus dem Jahre 2015 sind 61% der weltweit Deutsch Lernenden in Europa angesiedelt (9,4 Millionen), 5% der Deutschlernenden befinden sich in Asien (790000), 5,5% (850000) in Afrika und 2% (350000) in Lateinamerika. Quelle: Auswärtiges Amt: Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2015. in der Fremdsprache zu bewältigen? Diese Frage hat Auswirkungen auf zwei Ebenen, zum einen auf der Ebene des Umgangs mit sprachlicher Vielfalt, zum anderen auf der Ebene des Umgangs mit kulturellen Phänomenen. http: / / www.auswaertiges-amt.de/ cae/ servlet/ contentblob/ 364458/ publicationFile/ 204427/ PublStatistik.pdf (zuletzt abgerufen 26.6.2017) 4 Wobei klar ist, dass der kommunikative Alltag an einem zwölf Flugstunden vom deutschsprachigen Raum entfernten Ort nicht der Alltag des Gemüsekaufens und Arztbesuchs auf Deutsch in Deutschland ist, wie uns die banalisierten Spielarten des kommunikativen Ansatzes glauben machen. Das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität … 257 3 Sprachliche Vielfalt und Homogenität Zu den Errungenschaften des fremdsprachendidaktischen Diskurses gehört es darauf hinzuweisen, dass die sogenannte Lehrbuchsprache für die Förderung der mündlichen Kommunikationsfähigkeit im zielsprachlichen Alltag nicht besonders gut geeignet sei. Es gibt Anekdoten zuhauf, die zeigen, wie schockiert und hilflos Deutschlerner, die lange Deutsch gelernt und gute Noten erhalten hatten, waren, als sie zum ersten Mal in Deutschland mit muttersprachlichen Sprechern kommunizierten. Was fehlte, waren Dialekte, war die sogenannte Umgangssprache (vgl. Durrell 2004) und in manchen Kontexten auch die für den jeweiligen Arbeitsbereich relevante Fachsprache. Entsprechend haben fremdsprachendidaktische Forschungen auf verschiedenen Ebenen immer wieder auf die Notwendigkeit eines Eingehens auf berufliche Kommunikation 5 und vor allem auf eine differenziertere Befassung mit dem Bereich ‚schriftsprachliche Norm - Varietät‘ hingewiesen, so zum Thema Jugendsprache 6 Eine interessante Nebenwirkung dieses Fokus ist eine potentielle zusätzliche ‚Belastung‘ der Lernenden dadurch, dass mit der Forderung nach Beachtung konzeptioneller Mündlichkeit auch der Vorschlag die fremdsprachendidaktische Diskussion betritt, Transkripte von gesprochener Sprache in den Unterricht einzuführen (vgl. z.B. Liedke 2013), um eine Reflexion dieser Phänomene zu ermöglichen. Damit wird das Problem einer möglichen Überlastung der Lernenden durch die Explizitheit von Vermittlung aufgenommen, wie man es schon in einem lang etablierten Bereich wie der Ausspracheschulung diskutieren konnte. Dort kann ja mit dem IPA ein zusätzliches Notationssystem eingeführt werden. IPA-Notierungen sind für unterschiedliche Lernende unterschiedlich hilfreich, für Studierende einer . Ein Schwerpunkt war dabei die Befassung mit regionalen Varianten, im letzten Jahrzehnt hat darüber hinaus vor allen Dingen die Frage, inwieweit der Fremdsprachenunterricht sich auf gesprochene Sprache einlassen soll, an Bedeutung gewonnen. Dabei wird gesprochene Sprache nicht nur verstanden als medial gesprochene Sprache - die hat sich in der Fremdsprachendidaktik natürlich massiv durchgesetzt -, sondern als Beachtung der konzeptionellen Mündlichkeit (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994) mit all ihren Besonderheiten, die dann eben nicht mehr als fehlerhafte Abweichungen von der ‚richtigen‘ Schriftsprache, sondern als genuine Elemente der gesprochenen Sprache gesehen wurden (vgl. als frühe Forderung Günthner 2000, die Beiträge in Reeg/ Gallo/ Moraldo 2012 und als systematisierende Zusammenfassung Rösler 2016). 5 Vgl. die Beiträge in Kiefer/ Efing/ Jung/ Middeke (2014). 6 Vgl. dazu z.B. die Bestandsaufnahme von Wichmann (2016). Dietmar Rösler 258 Fremdsprachenphilologie sind sie kein Problem (oder sollten es zumindest nicht sein), für andere Lernende können sie eine störende und potentiell lernbehindernde Herausforderung darstellen. Ähnliches wird man auch zur Einführung von Transkripten sagen müssen. Die sinnvolle Befassung mit einer für mündliches Kommunizieren in der Fremdsprache wichtigen Dimension der Zielsprache könnte also durch eine bestimmte Vermittlungsart, die mit ihr eng verbunden wird, beeinträchtigt werden. Bei der Einschätzung der Angemessenheit der Einführung eines zusätzlichen Notationssystems für eine konkrete Lernergruppe muss man bei einer aus linguistisch-sprachsystematischen Gründen sinnvollen Einführung eines sprachlichen Gegenstandes didaktisch auf unterschiedlichen Ebenen diskutieren und Fragen stellen wie: Wie notwendig ist die Verbindung von Arbeit mit Transkripten und Fokus auf gesprochene Sprache? Ist dieser nicht auch ohne das Lernen zusätzlicher Zeichen möglich? Und vor allen Dingen: Wie sinnvoll ist die Befassung mit der Vielfalt von Sprache auf unteren Niveaustufen? Wird durch sie das Bedürfnis von Lernenden, sich überhaupt irgendwie zu möglichst vielen Themen auf deutsch äußern zu können, dadurch behindert, dass die Vielfalt der behandelten Ausdrucksmöglichkeiten zu einem Thema/ einer Sprechintention usw. im Unterricht und im Lehrwerk Raum und Zeit beanspruchen, die sonst mehrere unterschiedliche Intentionen, die nur in der Standardvariante behandelt werden, einnehmen könnten? Und umgekehrt: Wo behindert der Fokus auf medial mündliche Realisierungen von schriftsprachlichen Standards die Möglichkeit, auf deutsch sinnvoll an realer Kommunikation zu partizipieren? Diese Fragen werden für einen nach Deutschland Geflüchteten, der so schnell wie möglich einen Ausbildungsplatz haben möchte, sicher anders beantwortet werden als für einen schulischen Lernenden an einem Lernort weit entfernt von deutschsprachiger Alltagskommunikation. Die Frage, wie sinnvoll ein frühes Eingehen auf sprachliche und kulturelle Vielfalt im Gegensatz zur möglichst schnellen Bereitstellung einer möglichst großen Menge nur standardsprachlich eingeführter Versprachlichungen von Redeabsichten und Themen ist, wird also nur mit Bezug zu den Lernenden mit ihren Zielen beantwortet werden können. Diese Fragen sind echte Fragen zur Verteilung der knappen Ressourcen Zeit und Raum in Lehrwerken und im Klassenzimmer. Zu glauben, man könnte sie dadurch beantworten, dass in einer Alibi-Lektion ein paar regionale Grußvarianten auftauchen, mit denen man angeblich exemplarisch die Vielfalt des deutschsprachigen Raums thematisieren kann, halte ich für naiv. Der Erwerb regionaler, sozialer oder altersbezogener Varianten beim Deutschlernen innerhalb des deutschsprachigen Raums erfolgt automatisch durch die Interaktion am Wohnort (so sie denn stattfindet), so dass es keine Das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität … 259 Auswahlentscheidung zwischen dem Hessischen oder dem Plattdeutschen geben muss. Wenn es an einem ausgangssprachlichen Lernort Lehrende mit einer regional geprägten Variante des Deutschen gibt, können diese natürlich als authentische Sprachvorbilder vermitteln, dass etwas so und so auf Sächsisch klingt oder heißt, das ist dann aber ein konkreter Lebensweltbezug, der sich auf die jeweilige Lernsituation bezieht, und nichts, was systematisch in Curriculum oder Lehrwerk angelegt sein kann oder gar muss. Hingegen produziert der Versuch, die Vielfalt des deutschsprachigen Raums außerhalb des zielkulturellen Raums in Lehrwerken und Curricula aufzunehmen, das Problem, dass Auswahlen getroffen werden müssen, für die es eigentlich erst dann Kriterien geben kann, wenn klar definierte Lernziele bezogen auf Aufenthalte oder mediale Kontakte mit dem zielsprachigen Raum vorhanden sind. Das ist jedoch bei vielen DaF-Lernsituationen auf A1 oder A2 nicht der Fall. Es bleibt also nur, was sich dann häufig in den Alibi- Lektionen zur Vielfalt von Begrüßungen und Verabschiedungen niederschlägt, exemplarisch die Tatsache zu vermitteln, dass es innerhalb der Zielsprache und Zielkultur unterschiedliche Varianten gibt, begründet mit dem Argument, so sei zumindest ansatzweise die Vielfalt thematisiert worden. Für mich ist jedoch fraglich, ob derartige exemplarische Lehrwerkelemente zu einem sinnvollen Lernerfolg auf der Metaebene führen: Wenn Lernende in ihren Ausgangssprachen oder bereits gelernten Sprachen das Phänomen von Standard und Varietät und von regionaler Vielfalt kennen, ist der Transfer dieses Sachverhalts unproblematisch, er müsste also nicht unbedingt auch noch an Beispielen des Deutschen geübt werden, vor allem nicht zu einem Zeitpunkt, zu dem Lernende mit elementaren Ausspracheproblemen kämpfen, auf der Suche nach Lexik und Strukturen sind, mit denen sie sich zumindest teilweise verständlich machen können und zu dem ihnen sehr vieles an der Welt, der sie neu begegnen, verwunderlich/ faszinierend/ schockierend vorkommt, mit dem sie sich gern beschäftigen möchten. 4 Landes-/ kulturkundlicher Umgang mit Vielfalt und Homogenität Auch der Umgang mit Vielfalt im landeskundlichen/ kulturkundlichen Bereich im Unterricht in der Fernfremde muss sich der Frage stellen, wie schnell er wie intensiv auf Vielfalt fokussiert. Auch hier klingt natürlich zunächst der allgemeine Satz überzeugend, dass Lernende so schnell wie möglich mit Vielfalt in Verbindung gebracht werden, und zumindest seit den Lehrwerken mit interkulturellem Ansatz in den 1980er Jahren sind Vorgehensweisen wie die Präsentation eines Phänomens aus verschiedenen Perspektiven, seien dies literarische Texte oder Sachtexte, eine etablierte Option der Fremdsprachenvermittlung. Aber auch hier stellt sich die Frage, Dietmar Rösler 260 wie weitgehend die Beschäftigung mit einem Phänomen ‚in der Breite‘ sinnvoll ist verglichen mit der Beschäftigung mit mehr Phänomenen zur gleichen Zeit, bei denen es dann als Nebenwirkung allerdings zu einer ‚weniger differenzierenden‘ Beschäftigung kommt. Im Bereich des Anredeverhaltens z.B. wird man evtl. neben die klaren Fälle des Duzens bei Anfängern zunächst die Vermittlung der defensiveren, weil bei Fehlverhalten sozial meist weniger ‚schädlichen‘ Variante des Siezens in den Vordergrund stellen, auch wenn dadurch in bestimmten kommunikativen Grenzsituationen eine Ausdifferenzierung im Hinblick auf die verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen hin zum Duzen fehlen wird. Dies mag für einige Anfänger aber sehr hilfreich sein, weil es ihnen ein relatives klares Konzept zum ‚Festhalten‘ gibt. Bei anderen Lernenden wird hingegen eine Ausdifferenzierung des Themas Anredeverhalten und Ausdruck von Respekt schon früh erfolgen müssen, allein schon, um zu vermeiden, dass ein Transport von lexikalischen Tanten, Onkeln und älteren Geschwistern ins Deutsche als Respektmarker erfolgt. Wenn man sich Arbeiten wie Purnomowulan 2002 anschaut, sieht man schnell, vor welchen Herausforderungen eine fernfremde Kultur-/ Landeskunde steht: Aus der Perspektive der Lernenden unverständliche (im doppelten Sinne) Phänomene wie die Auslagerung der Generation der Älteren in Altersheime und die damit verbundene Trennung von der Familie werden parallel zum Anfangsunterricht in einer ausgangssprachlichen Begleitvorlesung mit Unterstützung deutscher Bilderbücher eingeführt. Basisannahmen des nordwesteuropäisch-nordamerikanischen kulturellen Kontexts, sofern man von diesen und diesem noch sprechen kann 7 , müssen auf sehr elementarer Ebene thematisiert werden: Das Argument dagegen zu setzen, dies werde doch durch das globale mediale Dorf übernommen, scheint mir zu optimistisch zu sein. Ein langsames Ausbuchstabieren kultureller Gegenstände und das Reduzieren ihrer Komplexität führen bei gleichbleibender Vermittlungszeit zu Verzicht auf Vielfalt, und dieser wird besonders dort zu einer Herausforderung, wo er aus der Sicht der Lehrmaterialmacher und Curriculumsexperten Stereotype begünstigt. Dies habe ich ausführlicher behandelt (Rösler 2013). 8 7 Wie weit man im Februar 2017 diese Nordwesteuropa und die USA zusammenfassende Attribuierung noch vornehmen kann, sei hier mal nicht diskutiert. Und natürlich ist auch klar, dass Globalisierung usw. diese Idee der Basisannahmen brüchig werden lässt, trotzdem ist es m.E. immer noch ein brauchbares Konstrukt zur Verdeutlichung von Unterschieden im Kontext Nahfremde - Fernfremde. 8 „Eine Möglichkeit, mit dieser Ausgangslage umzugehen, ist es, im Unterricht zunächst nicht mit Bildern über das Zielland, sondern mit zielsprachlichen Tex- Das Spannungsfeld von Homogenität und Heterogenität … 261 Literatur Bredella, Lothar/ Delanoy, Werner (Hrsg.) (1999): Interkultureller Fremdsprachenunterricht: Das Verhältnis von Fremdem und Eigenem. Tübingen: Narr Durrell, Martin (2004): „Variation im Deutschen aus der Sicht von Deutsch als Fremdsprache“. In: Der Deutschunterricht 20 (1), 69-77. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva (Hrsg.) (2009): Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt a.M.: Lang. Ehrhardt, Claus/ Neuland, Eva/ Yamashita, Hitoshi (Hrsg.) 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Denn beim eigenen kulturellen Kontext kann ein Lernender im Gegensatz zum zielkulturellen Kontext Verbindungen herstellen zwischen den ihm zugeschriebenen Stereotypen, seinen Autostereotypen und der alltäglich erlebten Heterogenität. In O’Sullivan & Rösler (1999) haben wir dieses Vorgehen vorgeschlagen und ‚Stereotype im Rückwärtsgang‘ genannt“ (Rösler 2013, 157). Dietmar Rösler 262 Purnomowulan, N. Rinaju (2002): „‚Mein Papa hat was verloren‘. Bilderbücher im Landeskundeunterricht“. In: Fremdsprache Deutsch 27, 24-33. Reeg, Ulrike/ Gallo, Pasquale/ Moraldo, Sandro M. (Hrsg.) (2012): Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht. Zur Theorie und Praxis eines Lerngegenstandes. Münster: Waxmann. Riemer, Claudia (1997): Individuelle Unterschiede im Fremdsprachenerwerb: Eine Longitudinalstudie über die Wechselwirksamkeit ausgewählter Einflussfaktoren. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Rösler, Dietmar (2013): „Sprachnotstandsgebiet A - Herausforderungen an die Fremdsprachenforschung“. 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(Lindberg 2015, 184) 1 Zur Begriffsklärung: ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen 1.1 Anstelle einer Definition des Begriffs „Inklusion“ Gruppenzugehörigkeit ist relativ wie das Zitat aus „Birdie“, einem Roman über eine junge First Nations Kanadierin, zeigt. Offenbar variiert die Wahrnehmung der Kriterien, die unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedingen, und stimmt daher längst nicht immer mit der Anderer überein. Weitere Unterschiede erwachsen aus der Relevanz, die man der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beimisst. In der hier zitierten Passage aus „Birdie“ fällt der Geschäftsinhaberin noch nicht einmal auf, dass sie ihre sonstige Kategorisierung von we und they anhand der Merkmale ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ aufgegeben hat zugunsten der offensichtlich gewichtigeren Aufteilung in „Indians“ und „whites“ (Lindberg 2015, 184). Betrachtet man die Anstrengungen, die zurzeit in die Bestrebungen zur Inklusion investiert werden, so scheint auch hier eine Sichtweise klar zu dominieren. Kinder und Jugendliche mit Inklusionsbedarf sollen in Regelklassen bzw. -schulen integriert werden. Ihnen soll die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen und die Teilhabe an deren Erziehung und Ausbildung bzw. letztlich deren Kulturen ermöglicht werden. So bezeichnen etwa Bongartz und Rohde (2015) in der Einführung ihres Bandes zur Inklusion im Eng- Jutta Rymarczyk 264 lischunterricht das „Prinzip der Öffnung“ (a.a.O., 11) als den eigentlichen Kern der Inklusion. Aber ist diese Bezeichnung wirklich zutreffend? Suggeriert „Öffnung“ nicht eine Freiwilligkeit der Partizipation? Falls meine Sicht zutrifft, so kann Inklusion nicht mit Öffnung verbunden werden, denn die Hauptakteure, die betroffenen Schülerinnen und Schüler, werden nicht gefragt, ob sie an dem neuen didaktischen Prinzip überhaupt teilnehmen wollen. Was ist, wenn ihre individuellen Sichtweisen von der die Inklusion in den Vordergrund stellenden abweichen? Wenn die von ihnen angestrebte Gruppe zum Beispiel die der leistungsstarken, klassenbesten Lernenden ist, der sie unter Umständen in ihrer bisherigen vergleichsweise homogenen Klassengemeinschaft kontinuierlich angehört haben? In einer heterogenen Lerngruppe dürfte Schülern mit ‚vermeintlichem‘ Inklusionsbedarf die Zugehörigkeit zu der Leistungsspitze wohl zumeist verwehrt bleiben. Fraglich ist auch, ob diese Lernenden sich wirklich integriert fühlen können, wenn sie als einzige in der Klasse einen Lernbegleiter oder bestimmte Hilfsmittel benötigen, um dem Unterricht (gegebenenfalls selbst dann noch nur eingeschränkt) folgen zu können. Es erscheint mir folglich dringend notwendig, sehr genau zu überdenken, ob die aktuellen Inklusionsbestrebungen wirklich in jedem Fall den optimalen Weg zur Unterstützung der Identitätsbildung eines Kindes oder Jugendlichen darstellen. Die folgenden Ausführungen, die zum Zweck des fremdsprachendidaktischen Diskurses trotzdem notwendigerweise auf die zentralen gesellschaftlichen Dimensionen ‚Identitätsbildung‘, ‚Zugehörigkeit‘ und ‚gesellschaftliche Teilhabe‘ des von Tony Booth und Mel Ainscow zusammengestellten Index for Inclusion (Booth/ Ainscow 2002) abzielen, können daher nicht absolut gesetzt werden, sondern sind im Einzelnen stets kritisch zu hinterfragen. Unsere zukünftige Schullandschaft sollte dafür die entsprechenden Vorkehrungen in Form eines nach wie vor weit gefächerten Schulangebots treffen. 1.2 Heterogenität und Diversität Die meisten Versuche die unterschiedlichen Lerndispositionen von Schülerinnen und Schüler bzw. die Heterogenität einer Lerngruppe aufzuzeigen ähneln sich in der Form ihrer Ergebnisse: Es entstehen lange Aufzählungen in dem Bestreben, möglichst viele Facetten zu identifizieren. Ein Beispiel hierfür findet sich bei Trautmann (2010, 2): „In der Heterogenitätsdebatte wird besonders betont, dass sich Schülerinnen und Schüler hinsichtlich zahlreicher - unbestimmt vieler - Merkmale unterscheiden, z.B. Migrationserfahrungen, Vorwissen, Geschlecht, Behinderung, Interessen, Alter, sozioökonomischer Hintergrund, Lerntempo, Motivation usw.“ Während hier positiv auffällt, dass der Autor die Zahl der unterscheidenden Merkmale als ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren … 265 hoch und unbestimmt einstuft, so ist jedoch nicht zu übersehen, dass die genannten Merkmale nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern sich teils bedingen. So können etwa Migrationserfahrungen, sozioökonomischer Hintergrund und Alter Lernerinteressen bestimmen oder eine Behinderung Vorwissen sowie Lerntempo. Selbst in unterteilten Aufzählungen wie die der „Ursachen von Lernschwierigkeiten“ von Haß und Kieweg (2012, 13-30), die unterscheidet zwischen dem biologisch-organischen, dem psychologischen und dem soziokulturellen Bereich, sind die Kausalzusammenhänge zwischen den einzelnen Variablen offenbar nicht zu vermeiden. So kann die Lernschwierigkeit „Beeinträchtigungen des Hörvermögens“ (a.a.O., 17) zu der einer „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ (a.a.O., 20) führen oder die psychologische Variable der Intelligenz (a.a.O., 21ff.) die der Selbststeuerungsfähigkeit (a.a.O., 25) beeinflussen. Während die Auflistungen also die Möglichkeit eines gezielten fremdsprachendidaktischen bzw. methodischen Zugriffs suggerieren, so stellt sich bei näherer Betrachtung der Verknüpfungen der einzelnen Punkte eine höhere Komplexität des Settings dar, die ein inklusives Lehren von Fremd- und Zweitsprachen entschieden verkompliziert. Weitere Aspekte, die alle Akteure zu berücksichtigen haben, sind der dynamische Charakter der Variablen, sowie ihre soziale Konstruiertheit, die nichtsdestotrotz von den Betroffenen sehr subjektiv gesehen und empfunden werden: „Heterogenität erzeugende Differenzlinien wie soziale Lage, Behinderung, Kultur usw. sind keine festen Eigenschaften, sondern historische wie soziale dynamische Konstrukte, mit denen wir in unseren klassifikatorischen Rationalen arbeiten, die aber häufig nicht unbedingt die Selbstdefinition der Betroffenen treffen“ (Roth 2014, 8). Roths Schlussfolgerung zeigt dann auch auf, dass Diversität, die Anerkennung der durch Heterogenität bedingten Vielfalt, eine bewusst zu wählende politische Handlung ist: „Inklusion trifft im Bildungssystem nicht auf ein flächiges Feld, sondern auf einen über Machtverhältnisse strukturierten hierarchischen Raum mit gesellschaftlichen Teilsystemen, die ihrerseits nach unterschiedlichen Bedingungen gestaltet sind“ (ebda). Um in dem komplexen Gefüge Ansatzpunkte für fremdsprachendidaktisch-methodisches Handeln zu finden, sind daher u.U. Fokussierungen vorteilhaft, wie z.B. die auf die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden, selbst wenn auch diese noch differenziert gesehen und behandelt werden müssen: „There is no one size fits all answer to language diversity in classrooms“ (Bourne 2013, 44). Bournes nachfolgende Erläuterung einiger Lernerdispositionen bezieht sich zwar auf mehrsprachige Lernende, ist aber dennoch in mehreren Aspekten auf die gesamte Schülerschaft anwendbar: Jutta Rymarczyk 266 Some may be equally at home in the school language and other languages; others may be fluent speakers of the national standard language, but still catching up with their peers in developing the academic genres necessary for school success. Still others may never have learnt to read and write, and will need significant support in catching up with their peers in reading and writing skills. Some may be making the first tentative steps in using the school language, but be well educated and fluent in their home language. (ebda) 2 Ansätze der Fremdsprachendidaktik für einen zunehmend inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterricht In der einschlägigen Literatur finden sich wiederholt Verweise darauf, dass zeitgemäßer Englischunterricht bereits die Qualitäten des geforderten inklusiven Unterrichts aufweist: „Inklusiver Englischunterricht ist also im Grunde nichts anderes als die Einlösung kompetenzorientierten und differenzierten Englischunterrichts, der die gesamte Bandbreite unterschiedlicher Lernvoraussetzungen (Lerndispositionen) wirklich ernst nimmt“ (Haß 2013, 5) oder zumindest eine hervorragende Basis an Grundvoraussetzungen dafür liefert: „Der Umgang mit Vielfalt, Andersheit und Fremdheit ist ein genuin wichtiges Element eines modernen sprachhandlungsorientierten und interkulturell ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts“ (Blell/ Ruhm 2013, 40). „Die starke fremdsprachendidaktische Auseinandersetzung mit Fremdheit, kultureller Pluralität und Perspektivenübernahme“ und der „Hintergrund des kommunikativen, interkulturellen, sprachbewussten und sozial sensiblen Fremdsprachenunterrichts“ werden als Faktoren genannt, die die hohe Affinität von Inklusion und Fremdsprachenunterricht begründen (Küchler/ Roters 2014, 240). Während diese Affinität sicherlich für viele zu berücksichtigende Heterogenitätsdimensionen gilt und bei einzelnen wie z.B. der Mehrsprachigkeit von Lernenden häufig sogar zu Vorteilen beim Fremdsprachenlernen führt (für Englisch vgl. DESI-Konsortium 2008, 229), darf nicht ausgeblendet werden, dass die Lerndispositionen der Schüler und Schülerinnen extrem disparat sind und daher äußerst genau zwischen einzelnen Heterogenitätsdimensionen zu unterscheiden ist. Gemein dürfte jedoch allen Heterogenitätsdimensionen sein, dass ihre Häufigkeit ansteigt. Die (didaktisch-methodischen) Veränderungen, die Schulen als Konsequenz dieser steigenden Heterogenität durchlaufen müssen, gelten zunächst einmal nicht nur für den Fremdsprachenunterricht, sondern für alle Fächer bzw. die gesamte Schullandschaft. Die Tatsache, dass bislang nur ein vergleichsweise niedriger Prozentsatz an Jugendlichen auf ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren … 267 der Sekundarstufe inklusiv beschult wurde (vgl. hierzu Klemms Daten von 2011/ 12 (2013, 6-7): 21,9% der Schülerschaft besuchte im Schuljahr 2011/ 12 eine Inklusionsschule, 9,8 % davon eine inklusiv arbeitende Realschule oder ein Gymnasium) mag zweierlei Gründe haben: eine Inklusion nur zögerlich befürwortende Gesellschaft und dass es institutionell noch ein weiter Weg ist bis zu einer inklusiven Schullandschaft. Das Fachlehrersystem erschwert zwar zeitlich umfassendere und fächerübergreifende Lehr- und Lernformen, die von vielen als der Inklusion zuträglich angesehen werden (Frigerio Sayilir 2012, 15), allerdings ist die Aufteilung der Schülerschaft auf verschiedene Anforderungsniveaus rückläufig zugunsten eines zweigliedrigen Schulsystems. Diese Zweigliedrigkeit bzw. die Beschränkung auf das Gymnasium und eine Schule, die zu niedrigeren Bildungsabschlüssen führt, erfordert eine Adaption der didaktisch-methodischen Zugänge zum Fremdsprachenlernen (Rymarczyk/ Vogt 2016). Mit diesem Abbau der äußeren Differenzierung ist ein erster Schritt in Richtung Inklusion getan, während als ein zweiter Schritt oftmals die Konzentration auf innere Differenzierung genannt wird. Schäfer zeigt sechs mögliche Formen der Differenzierung auf: qualitative, quantitativ, temporäre, soziale, Differenzierung nach Interessen und methodische Differenzierung, warnt allerdings davor, dass alle diese Maßnahmen von den Lehrenden ausgehen und daher nicht unbedingt zu der gewünschten Individualisierung führen (Schäfer 2014, 50). Auch Wolff mahnt zur Vorsicht, wenn er darlegt, dass Lehrkräfte es schlicht nicht leisten können, jedem einzelnen Schüler individuell ausgerichtete Aufgaben zukommen zu lassen (2010, 52). Schließlich mag man sich Eckart anschließen, der 2010 nach einer Sichtung von Forschungsergebnissen zu der Aussage gelangt, dass es für heterogene Lerngruppen „keine allgemeingültige Rezeptur“ gäbe und daher eher verschiedene Ansätze miteinander zu verknüpfen seien (Eckart 2010, 133). Diese Verknüpfung könne, so der Autor, durch eine systematische Reflexion von Lehr- und Lernprozessen mithilfe des von ihm entwickelten Würfelmodells (vgl. Abb. 1) erfolgen, das in dreidimensionaler Form die Spannungsfelder von Unterricht in heterogenen Lerngruppen visualisiert: Schüler- - Lehrerorientierung, Individuums- - Gemeinsamkeitsorientierung und Entwicklungs- - Sachorientierung (a.a.O., 145). Es gilt ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Vielzahl der zusammenwirkenden Faktoren, die den Unterricht beeinflussen, um so zu inklusiven Praktiken zu gelangen. Jutta Rymarczyk 268 Abb. 1. Dimensionen für den Unterricht in einer heterogenen Schulklasse (Eckhart 2010, 145) 3 Inwiefern muss sich vor dem Hintergrund des inklusiven bzw. diversitätssensiblen Unterrichtens in Teams auch die Fremdsprachenlehrerausbildung verändern? Statt einer weitreichenden Veränderung der grundständigen Fremdsprachenlehrerausbildung wird hier eher für Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams plädiert. Eine auf Inklusion abgestimmte grundständige Fremdsprachenlehrerausbildung kann m.E. nicht alle notwendigen Kenntnisse vermitteln, ohne zu große Abstriche bei den bislang als wichtig erachteten Inhalten zu machen. Wenn wir weder die heilbzw. sonderpädagogischen Lerninhalte verwässern, noch den universitären Lehrplan überfrachten wollen, so bietet sich eine interdisziplinäre Kooperation an. Zu dieser Alternative gibt es erste empirische Untersuchungen sowie Beispiele aus dem Ausland. So kommt beispielsweise Jan Springob (2017) in seiner Studie zu inklusivem Englischunterricht am Gymnasium zu dem Schluss, dass selbst bei einer fachlichen Doppelbesetzung die Unterstützung durch eine Integrationshilfe von Vorteil ist, was bei der von ihm vorgestellten Klasse zu einem Schlüssel von 1: 7 führt: drei PädagogInnen und 21 Lernende. Dass der Kreis der involvierten Personengruppen noch größer sein kann, zeigen Berichte aus der Schweiz und Kanada. Unter der Überschrift „Mise ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren … 269 en oeuvre des aménagements pour élèves porteurs d‘un trouble dys-“ 1 zeigt von Davier (2012, 56) in einem Organogramm die Zusammenarbeit aller Akteure im Kanton Genf auf: Lehrer, Eltern, Schulverwaltung, medizinische Experten und Heilbzw. Sonderpädagogen stehen in direkter Verbindung zu den Lernenden. In New Brunswick, Kanada, gibt es sog. Students Services Teams, die die gesamte Schulleitung, die zuständigen KlassenlehrerInnen, SozialarbeiterInnen, VertreterInnen aus dem Bereich der Schulpsychologie, ein Mitglied des Schulamtes, häufig SprachtherapeutInnen sowie alle sog. Methods and Ressource Teachers einschließen. Letztere sind keine eigene Berufsgruppe mit eigener grundständiger Ausbildung, sondern erfahrene Classroom Teachers, die eine Zusatzqualifizierung erworben haben (Hinz 2007, 93). Hierin scheint mir auch ein gangbarer Weg für die hiesige Fremdsprachenlehrerausbildung zu liegen. Über Zusatzqualifizierungen (von Zertifikaten bis zum Masterabschluss) können heilbzw. sonderpädagogische Lerninhalte sowie didaktisch-methodisches Unterrichtswissen erworben werden. Für unseren Kontext wäre es ferner denkbar, Kenntnisse und Kompetenzen zu einzelnen Herkunftssprachen unserer Schülerschaft zu berücksichtigen. 4 Zu welchen Fragestellungen im Themenkomplex Inklusion gibt es für die Sprachlehrforschung und die Fremdsprachendidaktiken einen prioritären Entwicklungs- und Forschungsbedarf? Der vorrangige Forschungsbedarf besteht m.E. darin, dass es gründlich zu überprüfen gilt, ob tatsächlich alle Förderschulen zugunsten des inklusiven Ansatzes abgeschafft werden sollen. Mit diesem Punkt greife ich auf meine anfängliche Diskussion zu der für alle Schülerinnen und Schüler obligatorischen Inklusion zurück, möchte aber auch noch einen weiteren Aspekt hinzufügen, und zwar den der Problematik einer optimalen Förderung aller Lernenden. Es scheint mir eine immense Herausforderung zu sein, sowohl den mit „Hindernissen für Lernen und Teilhabe“ konfrontierten Lernenden 2 1 „Die Implementierung von Hilfestellungen (Erleichterungen) für Schüler mit Lese-Rechtschreibschwächen“. - und hier insbesondere denjenigen mit Sinnesbeeinträchtigungen - als auch den leistungsstarken Lernenden in einem inklusiven Setting gerecht zu werden. Sehbehinderte bzw. blinde Lernende beispielsweise - um nur eine Gruppe zu nennen -brauchen nicht nur teure und zusätzlich zu ihrem eigentlichen Sitzplatz raumfordernde PC-Arbeitsplätze, die es ihnen ermögli- 2 Für die Diskussion zur Ablösung des Begriffes „sonderpädagogischer Förderbedarf“ durch „Hindernisse für Lernen und Teilhabe“ siehe Boban/ Hinz (2003, 13). Jutta Rymarczyk 270 chen mit stark vergrößerten Texten bzw. Braille-Software zu lesen und zu schreiben. Sie benötigen darüber hinaus regelmäßig didaktisch-methodische Maßnahmen, die dem zeitgemäßen Verständnis von gutem Fremdsprachenunterricht zuwider laufen. Hierzu zählen etwa Hilfestellungen in der Schulsprache, z.B. bei der Einführung neuer Lexik über Bilder oder Realia. Die Lernenden brauchen die deutschen Bezeichnungen der Gegenstände, denn sie können sie weder sehen noch alle gleichzeitig ertasten und so nicht wissen, mit welchem Gegenstand der neue englische Begriff zu verknüpfen ist. Es bleibt also erstens zu fragen, ob es finanziell und räumlich wirklich möglich ist, alle Schulen mit dem notwendigen technischen Equipment auszustatten, und zweitens, wie der weitaus häufigere Rückgriff auf das Deutsche 3 Ein weiterer dringender Forschungsbedarf liegt zweifelsfrei im methodischen Bereich inklusiven Fremdsprachenunterrichts. Prinzipiell zeichnen sich nämlich zwei sich diametral gegenüberstehende Richtungen ab: einerseits die vorwiegend aus der Erziehungswissenschaft stammende Präferenz offenen Unterrichts mit dem ihm eigenen Fokus auf Lernerautonomie, um gemeinsames Lernen zu ermöglichen (z.B. Trautmann 2010, 9; Feuser 1994) und die eher aus sprachdidaktischer Sicht als notwendig erachteten Ansätze expliziter und eng gesteuerter Vermittlung phonologischer wie syntaktischer Strukturen und sprachlicher Handlungsmuster, um Lernende in ihrem Bemühen um fremdsprachliches Handeln bestmöglich zu unterstützen (z.B. Downey/ Snyder 2001; Leons et al. 2009; Eckhardt 2010, 133). Die Diametralität der propagierten Ansätze gebietet entsprechende Forschung, denn es gilt intuitive Entscheidungen oder gar vorschnelle Empfehlungen der einen oder anderen Richtung zu vermeiden. Lesenswert ist in diesem Kontext Springobs „Realitätscheck“, den er auf „Theoretische Erkenntnisse im Klassenzimmer“ bezieht (2017, 324). Offene Ansätze und Prinzipien, zu denen , der für sehbehinderte und blinde Lernende unabdingbar erscheint, mit aktuellen Ansätzen der Fremdsprachendidaktik zu Verbindung zu bringen ist. Ein Verzicht oder auch nur eine eingeschränkte Nutzung aktueller fremdsprachendidaktischer Erkenntnisse im Unterricht hieße jedoch, sowohl den Lernenden mit einem Inklusionsbedarf, der sich nicht auf einer Sehbehinderung begründet, als auch denen ohne jeden Inklusionsbedarf nicht gerecht zu werden. 3 Übersetzungen ins Deutsche werden ferner häufig von (zu gering ausgebildeten? ) Lernbegleitern genutzt, um den Lernenden mit Inklusionsbedarf das Verfolgen des Fremdsprachenunterrichts zu ermöglichen. In Hörweite sitzenden Mitschülern wird so die Möglichkeit der von der Lehrkraft intendierten Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Gegenstand genommen. Anekdotische Anmerkung: „Der Lernbegleiter macht mir den Unterricht kaputt.“ ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ im Hinblick auf das Lernen und Lehren … 271 hier auch Task-based Language Teaching gezählt wird, sollten - so Springobs empirisch fundiertes Fazit - „eher als Ziel sowie methodischer Weg gesehen werden, dem sich die LehrerInnen und SchülerInnen mit vielen Übungsphasen nähern“ (2017, 331). Letztlich sei daran erinnert, dass eine kritische Sicht auf Inklusion nicht bedeutet, dass mit Hindernissen für Lernen und Teilhabe konfrontierte Lernende das Erlernen fremder Sprachen vorenthalten werden soll. Es geht vielmehr darum, bildungspolitischen Aktionismus zu vermeiden und tatsächlich das Beste für jede Schülerin und jeden Schüler erreichen zu können - auf welchem Weg und mit welchem Ziel auch immer. […] we have to acknowledge that not all language learners will become ,competent and proficient users‘. […] For some pupils, the linguistic and cultural outcomes will be significant in terms of their future career; for others, not. But for all pupils the experiences can be life changing and life enhancing, if not always predictable (McColl 2000 in McColl 2005, 106). Literatur Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2014): Im Dialog der Disziplinen. Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Blell, Gabriele/ Ruhm, Hannah (2013): „Heterogenität und Englisch lernen“. In: Fremdsprachenunterricht inklusiv. Lernchancen 93/ 94, 40-44. Boban, Ines/ Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teil habe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.) 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Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen - Schulisches Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen im Spannungsfeld von Diversität, Inklusion und Heterogenität Lars Schmelter 1 „[...] im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Fremd- und Zweitsprachen“ Um die drei zentralen Begriffe der diesjährigen Frühjahrskonferenz konzeptuell aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik zu füllen, liegen bislang nur wenige disziplinbzw. bereichsspezifische diskursive Anknüpfungspunkte vor (Bartosch/ Rohde 2014; Chilla/ Vogt 2017; Doff 2016). Doch diese spiegeln bereits die divergierenden Begriffsverständnisse in anderen Disziplinen wider. Insbesondere der Begriff ‚Inklusion‘ wird vielfältig gefüllt, und zwar nicht nur zwischen den unterschied-lichen Disziplinen und Diskussionskontexten, sondern auch innerhalb der Disziplinen. In der Folge sind die in den Konzepten vorgestellten Positionen teilweise unvereinbar oder widersprechen sich sogar. Bei einem werteorientierten Verständnis des Inklusionsbegriffs lassen sich zudem Widersprüche zu anderen Werten und Prinzipien herausarbeiten, die zu Dilemmata oder inhärenten, unauflösbaren Paradoxien führen (vgl. Dederich 2013). Darüber hinaus sehe ich - gerade auch in fachdidaktischen Publikationen - die Gefahr, „in das ‚große Ganze‘ - in weit reichende gesellschaftliche Fragen oder Visionen - abzudriften und Szenarien zu entwerfen, die schon im Ansatz an den dafür eigentlich notwendigen Voraussetzungen zu scheitern drohen“ (Trautmann/ Wischer 2011, 35). Vor diesem Hintergrund gehe ich in meinen Überlegungen zunächst von einem sehr weiten Inklusionsbegriff aus, um mich dann unter Berücksichtigung von vorliegenden Begriffsverständnissen aus anderen Bereichen tentativ einem stärker fremdsprachendidaktischen Konzept von Diversität, Heterogenität und Inklusion anzunähern. Aufgrund zum Teil fehlender Vorarbeiten und der skizzierten widersprüchlichen Positionen, sind dabei Brüche und Lücken vermutlich (noch) unvermeidbar. Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen … 275 Der Begriff ‚Diversität‘ wurde mit dem Ziel in die Diskussion eingeführt, wertneutral die Vielfalt der Menschen und ihrer individuellen Qualitäten beschreiben zu können. Er bezieht sich auf den Vergleich von Individuen, ohne dass diese dabei durch Kategorien zugleich wieder und evtl. dichotom in Gruppen eingeteilt werden: behindert - nicht-behindert, Mann - Frau, jung - alt, guter Schüler 1 Der Fremdsprachenerwerb ist ein hochgradig individuell ablaufender Prozess, der unterschiedlichen außersprachlichen (affektiven, sozialen und kognitiven) Voraussetzungen unterliegt. Jeder Lerner ist in unterschiedlichem Maße imstande, Input wahrzunehmen, interaktiv auszuhandeln und zu verarbeiten. (Riemer 2006, 231) - schwacher Schüler, begabter Lerner - unbegabter Lerner usw. Die Vielfalt der Menschen und die Vielfalt ihrer Zugänge, Ziele, Vorgehensweisen und Ergebnisse beim Fremdsprachenlernen hat Claudia Riemer (1997) zur Formulierung der Einzelgänger-Hypothese veranlasst. Die Einzelgänger-Hypothese liefert einen theoretischen Rahmen, der für die Beschreibung und Analyse von Lernwegen, Lernerfolgen und -hindernissen genutzt werden kann. Dieses analytische Potenzial gewinnt an Bedeutung, wenn wir Fremdsprachenunterricht in den Blick nehmen. In ihm kommen, wenn es sich nicht um Einzelunterricht handelt, Lerner mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten, zugleich aber mit gemeinsamen Merkmalen zusammen. Die Einzelgänger-Hypothese erlaubt es uns, diejenigen Faktoren herauszuarbeiten, die für das individuelle Lernen relevant sind und die durch das fremdsprachenunterrichtliche Angebot sowie seine institutionell-strukturelle, organisatorische, curriculare und didaktisch-methodische Gestaltung sinnvoll berücksichtigt werden können. Anders formuliert: Die Einzelgänger-Hypothese - und Forschung, die auf ihrer Grundlage betrieben wird (siehe unten) - kann helfen, fremdsprachendidaktische Formen des Umgangs mit der aus der Diversität der Lerner erwachsenden Heterogenität im Fremdsprachenunterricht zu finden, zu entwickeln und evtl. als unbrauchbar zu verwerfen. Aus dem bislang Gesagten ist deutlich geworden, dass ich Heterogenität und den Gegenbegriff ‚Homogenität‘ auf Gruppen beziehe (vgl. hier und im Folgenden Trautmann/ Wischer 2011, 39-40). Beide Begriffe betonen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Da das Vergleichskriterium (z.B. Alter, Geschlecht, sozio-ökonomischer Hintergrund, Erstsprache(n), Sprachlernbiographie, Sprachlerneignung, erreichter Kompetenzstand) willkürlich ist, stellt Heterogenität kein Faktum dar, sondern ist ein von außen 1 „Verbum hoc si quis tam masculos quam feminas complectitur.“ (Corpus Iuris Civilis Dig. L, 16,1; zitiert nach Krüger/ Mommsen 1973) Lars Schmelter 276 angelegtes Konstrukt, das - anders als der Diversitätsbegriff - zumindest in Teilen von spezifischen und kontextuell geprägten Normalitätsvorstellungen, d.h. legitimen Homogenitätserfordernissen (Trautmann/ Wischer 2011, 34) ausgeht; die Feststellung von Heterogenität setzt also in gewisser Weise zumindest eine potenziell problematische Gruppenzusammensetzung voraus. Zugleich wird deutlich, dass Heterogenität sich auf zeitlich und räumlich begrenzte Zustände bezieht; sie ist z.B. durch innere und äußere Differenzierung, individuelle Entwicklungs- und Lernprozesse usw. veränderbar. Da Menschen sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, ist auch die Zahl möglicher Heterogenitätsdimensionen, also derjenigen Bereiche, in denen individuelle Merkmale bei aller Gemeinsamkeit zu Unterschieden führen können, letztlich unendlich. Insofern kommt es darauf an, die für die jeweilige Betrachtung relevanten Dimensionen der Unterschiedlichkeit herauszuarbeiten und dabei evtl. auch die relevante Graduierung der Merkmalsausprägung zu berücksichtigen. Der Begriff ‚Inklusion‘ wird in der Folge der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Nations Unies 2006) im deutschsprachigen Raum zumeist als positiv konnotierter Wertbegriff - und zumeist reduziert auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung in das allgemeine Schulsystem - genutzt, obwohl das UN-Papier selbst und Publikationen in seinem Umfeld viel weiter reichen und grundsätzlicher den Abbau von diversitätsbedingten Barrieren beim Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe fordern. Es wird ein gesamtgesellschaftlicher Prozess angestrebt, der auf eine fortzuschreibende, positive Transformation der Gesellschaft abzielt. Vielfalt bzw. Diversität wird in diesem Begriffsverständnis durchweg positiv betrachtet, man „orientiert sich an der Bürgerrechtsbewegung und wendet sich gegen jede Tendenz zur Marginalisierung [...] und vertritt die Vision einer inklusiven Gesellschaft“ (Hinz 2015, 104). Der Begriff bezeichnet in diesen Konzepten häufig sowohl das Ziel als auch den Weg hin zu diesem Ziel. Durch Inklusion sollen die Partizipationschancen erhöht und Diskriminierungen und Ausgrenzungen vermieden werden. Nicht immer geklärt ist in diesen Konzepten der Partizipationsbegriff, d.h. wer warum zu welchem Zweck in welchem Maß Teilhabe an welcher Macht bzw. Ressource und deren Verteilungsregeln haben soll (Hedtke 2016). Demgegenüber stehen Inklusionsbegriffe, die stärker analytisch, deskriptiv bzw. explikativ genutzt werden (z.B. Kronauer 2013; Schäffter 2013). So weist beispielsweise Kronauer (2013) unter Bezug auf die von Max Weber in die Soziologie eingeführte Kategorie der sozialen Schließung darauf hin, dass alle sozialen Beziehungen mehr oder weniger durch Ausschließlichkeit charakterisiert sind. Insofern muss im Zusammenhang mit Forderungen nach Inklusion gefragt werden, welche sozialen Schließungen berechtigt und wel- Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen … 277 che diskriminierend und deshalb unzulässig sind. Dabei gilt es die Durchlässigkeit sozialer Grenzen, die Zugangsvoraussetzungen zu Gruppen, den Formalisierungsgrad der Gruppe und der Zugangsvoraussetzungen, ihre Zeitstruktur und Legitimation sowie die Aufnahmerituale und evtl. Sanktionen in den Blick zu nehmen. Zentral für die Bewertung der Legitimität sind die Konsequenzen für die Lebensqualität und den Lebensverlauf der einzelnen Person, die mit dem Einbzw. Ausschluss von sozialen Gruppen, der Teilhabe an Macht und Ressourcen sowie deren Verteilung hervorgehen. Wichtig ist dabei auch die Zielperspektive: Es geht gerade nicht um die Inklusion Einzelner in sozial illegitime, weil ausgrenzende Verhältnisse, sondern um die Überwindung solcher Verhältnisse (soweit Kronauer 2013). 2 Hier liegt vermutlich auch das Kernproblem der aktuellen Debatte über die Gestaltung von Inklusion und den Umgang mit Heterogenität in Schulen. Zugleich wird deutlich, dass die Frage nach akzeptablen und inakzeptablen Schließungen die Fremdsprachendidaktik überfordert und aufgrund ihrer normativen und sozialmoralischen Dimension eher in den Bereich der Ethik, Politologie oder (Sozial-)Philosophie gehört. Die Fremdsprachendidaktik wird jedoch auf der Grundlage analytischer Zugriffe auf Diversität, Heterogenität und Inklusion wissenschaftliche Grundlagen liefern können, die bei der Beantwortung der Berechtigungsfragen von Schließungen und inkludierenden Öffnungen helfen können. 2 Unter fremdsprachendidaktischen Gesichtspunkten für schulischen Fremdsprachenunterricht relevante Heterogenitätsdimensionen Im Folgenden beschränke ich mich vor dem Hintergrund der Forschung zu individuellen Unterschieden und der oben angeführten Einzelgänger- Hypothese (Riemer 2006) auf die Heterogenitätsdimensionen, die für den Fremdsprachenunterricht und das dort erfolgende Lehren und Lernen von Sprachen spezifisch sind, d.h. ich konzentriere mich auf diejenigen Dimensionen, die über die zwar auch im Fremdsprachenunterricht relevanten, aber für schulisches Lernen grundsätzlich geltenden Dimensionen hinausgehen. Dies sind m.E. die Sprachenbzw. Sprachlernbiographie sowie die daraus erwachsenden Sprachhandlungs- und Sprachlernkompetenzen und Trans- 2 Claudia Riemer (in diesem Band) verweist beispielsweise auf die sog. „Willkommensklassen“, die Inklusion letztlich vorgaukeln, weil ohne die für schulischen Erfolg notwendigen schulsprachlichen Kenntnisse, deren Auf- und Ausbau Jahre und nicht bloß Wochen oder Monate in Anspruch nehmen kann, die bekannten sozialselektiven Mechanismen des deutschen Schulsystems greifen können. Lars Schmelter 278 ferpotenziale 3 Die individuelle Merkmalsausprägung schlägt sich schon zu Beginn des Unterrichts der 1. Fremdsprache, stärker jedoch im Unterricht der 2. und 3. Schulfremdsprachen in den unterschiedlichen sprachlernspezifischen Lernausgangslagen nieder. Sie setzt ihre Wirkung in unterschiedlichen Lernstilen und -wegen sowie in unterschiedlichen Lernergebnissen fort. sowie die (Sprachlern-)Motivation und die Sprachlerneignung. Am zahlreichsten sind in der Fremdsprachendidaktik die Vorschläge, den verschiedenen Lernstilen und -wegen bei weitgehender Zielgleichheit zu begegnen. Hierzu werden zum Teil aus der allgemeinen Didaktik übernommene, nur in Teilen fremdsprachendidaktisch spezifizierte Maßnahmen der Binnendifferenzierung vorgeschlagen, die auf einer Skala vom völligen Fehlen der Differenzierung bis hin zur völligen Individualisierung des Lernens als sog. selbstgesteuertes bzw. autonomes Lernen reichen. Dazwischen finden sich verschiedene Formen der Differenzierung, die z.B. über verschiedene Darbietungsformen des sprachlichen und metasprachlichen Inputs sowie der Kognitivierung, über Variationen bzw. Alternativen der Sozialformen, der angebotenen Inhalte, Texte und dazu genutzten Medien, die eingeforderten sprachlichen Produkte sowie die dafür zur Verfügung gestellten Unterstützungsmaßnahmen und die zeitlichen Vorgaben bis hin zu verschiedenen Formen der Rückmeldung reichen. 4 3 Auf den Ebenen der sprachliche Strukturen, der sprachlichen Teilfertigkeiten bzw. -kompetenzen und der „motivationalen Inferenz“ (Düwell 1976). All diese Maßnahmen können helfen, die je individuellen Lernstile und -wege innerhalb der Klassen gezielter anzusprechen, produktiver zu nutzen und so die individuellen Leistungspotenziale auszureizen. Allerdings führt dies vermutlich zu einem fortschreitenden Auseinanderdriften der Lernstände sowie des gemeinsamen Wissens und Könnens und damit zu der Frage, wie groß die Unterschiede in den Leistungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Schüler auseinanderliegen dürfen, ohne dass z.B. durch die dadurch notwendigen Diagnose- und Differenzierungsmaßnahmen die zeitlichen Ressourcen der Lehrperson überlastet und ohne dass z.B. durch Unterbzw. Überforderungen in Plenumsphasen die gemeinsame Arbeit an und in der Fremdsprache gefährdet wird oder zu Motivationsverlusten bis hin zum Lernabbruch führt. Dass es ein solches Mindestmaß an Gemeinsamkeiten - soweit nicht andere Gründe dagegensprechen - geben sollte, wird ersichtlich, wenn man sich Extremsituationen vor Augen führt: Man wird Anfänger nicht ungezwungen zusammen mit weit fortgeschrittenen Lernern in einer Gruppe zusammen unter- 4 Die hier unvollständig aufgeführten Maßnahmen zur Binnendifferenzierung ergeben sich u.a. aus Bartosch/ Rohde (2014); Chilla/ Vogt (2017); Doff (2016). Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen … 279 richten, wenn es Alternativen gibt. Bei allen Versuchen einer legitimen, weil lern- und inklusionsförderlichen Homogenisierung muss jedoch fortwährend kritisch reflektiert werden, inwiefern dadurch im Laufe der Zeit nicht exkludierende Verhältnisse (z.B. durch Herunterschulen) geschaffen werden. Ungeklärt bleibt bei allen Differenzierungsmaßnahmen m.E. zumeist die grundsätzliche Frage, die sich aus einer Leistungsdifferenzierung, aber auch aus einer Differenzierung der zur Verfügung gestellten zeitlichen Ressourcen ergeben. Während die administrativen Vorgaben zur Aufrechterhaltung der Allokationsvorgaben hier eindeutig sind, bleiben viele (fremdsprachen-)didaktische Texte zur Binnendifferenzierung hier m.E. oft im Vagen. Die Frage, inwieweit es Lehrpersonen überhaupt gelingen kann, die hier nur angedeuteten systemimmanenten Widersprüche 5 auszuhalten, also trotz widriger Umstände individualisierten Unterricht zu gestalten, der die Heterogenität der Schüler produktiv nutzt und der so zur Gestaltung inkludierender Verhältnisse beiträgt (vgl. auch Terhart 2015, 22), wird vielerorts ausgeblendet. 6 Mit Blick auf die sprachlernbiographischen Unterschiede und den daraus erwachsenen unterschiedlichen Lernausgangslagen wurden in der Tertiär- und Mehrsprachigkeitsdidaktik zunächst die schulfremdsprachlichen Abfolgen und die damit möglichen bzw. notwendigen methodisch-didaktischen Veränderungen aus einer additiven Perspektive in den Blick genommen. Hier liegen methodisch-didaktische Vorschläge vor, die aber noch immer von den relativ homogenen schulischen Sprachenfolgen ausgehen. Schul- und sprachenbiographische Besonderheiten 7 Neben diesen im jeweiligen Klassenzimmer/ Fremdsprachenunterricht angesiedelten Maßnahmen zum Umgang mit fremdsprachendidaktisch relevanten Unterschieden finden sich in der Fremdsprachendidaktik auch weiter- und darüber hinausgehende Konzepte und Anregungen, wie zum Beispiel die Überlegungen zu einem Gesamtsprachencurriculum (Hufeisen bleiben darin noch weitgehend unberücksichtigt. Erst später sind im Sinne einer integrativen Mehrsprachigkeitsdidaktik Konzepte und Forschungen hinzugekommen, die stärker individuelle, auch lebensweltliche Sprachlernbiographien berücksichtigten und sprachenübergreifende Vorschläge gemacht haben (siehe zur integrativen Mehrsprachigkeitsdidaktik u.a. Hallet/ Königs 2010). 5 Dazu gehört z.B. auch der in den Sekundarstufen I und II unterschiedlich gehandhabte Nachteilsausgleich bei Autismusspektrumstörungen. 6 Vgl. hingegen Heinrich/ Urban/ Werning (2013). 7 Beispielweise mit der Schulfremdsprache oder anderen Sprachen monobzw. bilingual sozialisierte Schüler, längere Aufenthalte im Land der Zielsprache usw. Lars Schmelter 280 in diesem Band), zur Sprachbewusstheit (Gnutzmann 2010), zum sprachlichen Lernen in allen Fächern oder zur integrativen Mehrsprachigkeitsdidaktik (Hallet/ Königs 2010). Ihnen ist die Vorstellung gemeinsam, dass Lehrer über Fachgrenzen hinweg miteinander kooperieren sollten, um die angestrebten Ziele schulischer und fremdsprachlicher Bildungsangebote erreichen zu können. 3 Vom Einzelkämpfer zum Mannschaftsspieler - Comment former une bonne équipe ? Inklusion im weitesten Sinne wird nur gelingen können, wenn zum einen die in den Leitfragen skizzierten Unterstützungssysteme nach und nach in allen Schulen zugänglich sind und wenn zum anderen die Lehrer in und mit diesen Unterstützungssystemen sinnvoll umgehen können. Daraus ergibt sich, dass - wie schon bei den Konzepten der integrativen Mehrsprachigkeitsdidaktik - (Fremdsprachen-)Lehrerbildung Mannschaftsspieler und nicht Einzelkämpfer zum Ziel haben sollte. Daher sollten in die Lehrerbildung Elemente eingebaut werden, die eine Kooperation in den zum Teil noch einzurichtenden Unterstützungssystemen erleichtert, weil man die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen besser kennt und daher abschätzen kann, wer wann welche Unterstützung anbieten kann bzw. nötig hat. Diese Forderung gilt im Übrigen auch für die (förderbzw. sonder-)pädagogischen Fachkräfte: Sonderpädagog/ inn/ en benötigen mehr Fachlichkeit bezogen auf die Unterrichtsfächer, Lehrkräfte der allgemeinen Schule mehr sonderpädagogisches Wissen! (Heinrich/ Urban/ Werning 2013, 77) Allerdings wird nicht nur in der 1. Phase der Lehrerbildung noch zu klären sein, wo und wie entsprechende Kompetenzen und Inhalte vermittelt werden können. Derzeit bleibt die notwendige Verzahnung der verschiedenen Studieninhalte aus den verschiedenen Fächern 8 noch die Aufgabe des einzelnen Studenten. Dies ist unbefriedigend und gilt es zu überwinden. 4 Prioritäre Fragestellungen für Forschung und Entwicklung Im Mittelpunkt steht für mich folgende Frage: Wie kann ein schulisches Gesamtsprachencurriculum und wie kann der (Fremd-)Sprachenunterricht so gestaltet werden, dass sie den bildungspolitischen Forderungen nach 8 Einschließlich der bildungswissenschaftlichen Anteile und den verschiedenen Elementen des Praxissemesters. Bedingungen, Wertvorgaben, Widersprüche, Herausforderungen … 281 Mehrsprachigkeit und der Heterogenität der Schüler in einer Weise gerecht werden, die zum Abbau von Barrieren und zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe führt? Wie können die entsprechenden (fremdsprachen-)didaktischen Ideen zur Inklusion in den Schulen und in der Praxis des schulischen Unterrichts unter den gegebenen Bedingungen umgesetzt werden? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, kann die Frage sinnvoll beantwortet werden, welche Bedingungen sich - unter Beibehaltung einer realistisch-pragmatischen Position (siehe oben) - ändern sollten. Bislang liegen nur wenige Studien vor, die konkreten Fremdsprachenunterricht in den Blick nehmen und dabei untersuchen, ob schulischer Fremdsprachenunterricht der Diversität der Schüler gerecht wird, welche Formen des Umgangs mit Heterogenität dort zum Tragen kommen, ob und wie sie praktikabel sind und wie diese von den beteiligten Personen bewertet werden. Dies betrifft nicht nur die Lehrer-, sondern auch die Schülerperspektive. Hilfreich scheint es mir, wenn Beispiele guter Praxis näher betrachtet und auf ihre Gelingensbedingungen hin untersucht würden. In einem zweiten Schritt könnte dann überlegt werden, ob sich diese Beispiele in andere Kontexte übertragen lassen. Dabei kann neben designbasierter Forschung Aktionsforschung gute Dienste leisten, denn die institutionalisierte Fremdsprachendidaktik allein wird diese Baustelle neben vielen anderen realistisch nicht auch noch im gewünschten und notwendigen Maße erforschen können. Die Fremdsprachendidaktik hat sicherlich auch die Aufgabe, Visionen einer anderen Welt des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen zu skizzieren. Sie sollte dabei aber ihre Konzepte sowohl theoretisch als auch empirisch hinreichend absichern und vor allem mit und an der Praxis erproben. Im Bereich der Herkunftssprache werden z.B. solche Versuche unternommen: Göbel und Schmelter setzen sich in ihrem Projekt zu Faktoren multiplen Sprachen- und interkulturellen Lernens unter anderem zum Ziel, die Wirkung eines Trainings zum Einbezug vorhandener Sprachen nicht nur auf das Sprachenlernen selbst, sondern auch für die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit auf Lehrer- und Schülerseite zu erfassen (Göbel/ Schmelter 2016; Schmelter 2015). Die Arbeiten von Brehmer und Mehlhorn (u.a. Brehmer/ Mehlhorn 2015; Mehlhorn 2015) gehen in eine ähnliche Richtung. Interessant ist dabei auch die Frage, wie die Kompetenzen von Herkunftssprachensprechern, aber auch von Rückkehrern längerer Auslandsaufenthalte usw. in den Fremdsprachenunterricht produktiv genutzt werden, damit diese nicht das Gefühl haben, persona non grata zu sein (Alix 2003). Lars Schmelter 282 Literatur Alix, Christian (2003): „Der bilinguale Schüler: Potentielle Stütze für den fremdsprachlichen Unterricht und Beispiel für sprachliche Kompetenz oder persona non grata? “. In: Legutke, Michael/ Schocker-v. Ditfurth, Marita (Hrsg.), 89-97. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2014): Im Dialog der Disziplinen: Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Brehmer, Bernhard/ Mehlhorn, Grit (2015): „Russisch als Herkunftssprache in Deutschland. Ein holistischer Ansatz zur Erforschung des Potenzials von Herkunftssprachen“. 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Sowohl Inklusion als auch Integration werden als Stufen auf dem Weg zu einer Pädagogik der Vielfalt verstanden, deren Ziel es ist, eine „Schule für alle“ zu schaffen (vgl. Sander 2008). Eine klare Trennung beider Begriffe erfolgt im wissenschaftlichen Diskurs jedoch keineswegs immer, was mitunter ein einheitliches Verständnis des heutigen Konzepts von Inklusion und dessen Umsetzung erschwert. Beide Begriffe können jedoch wie folgt voneinander abgegrenzt werden: Integration beschreibt ein zielgleiches Lernen oder ein zieldifferentes Lernen mit einer äußeren Differenzierung zwischen Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf. Dabei werden die Kinder bei zielgleichem Lernen entsprechend ihres Förderbedarfs so gefördert, dass sie sich dem Lernniveau der anderen Kinder annähern können. Bei zieldifferentem Lernen arbeiten diese Kinder mit einem individuellen Plan, der sich von dem der Kinder ohne diagnostizierten Förderbedarf unterscheidet. In beiden Organisationsformen stehen die Andersartigkeit und die Defizite des Kindes mit Förderbedarf im Mittelpunkt der Förderung. Das Konzept der Inklusion hingegen beschreibt zieldifferentes Lernen ohne äußere Differenzierung. Die Individualität und Unterschiedlichkeit jedes einzelnen Kindes - mit Blick auf Diversitätsdimensionen wie z.B. ethnische Herkunft, kulturelle und religiöse Orientierung, Gender, physische und kognitive Fähigkeiten, besondere Begabungen und Talente (vgl. Gesellschaft für Fachdidaktik 2015, 4) - soll Torben Schmidt 286 anerkannt und wertgeschätzt werden: eine Etikettierung einzelner Kinder mit Förderbedarf wird abgelehnt. Es steht die individuelle Förderung entsprechend der jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten des einzelnen Kindes im Vordergrund (vgl. von Saldern 2012). Trotz solcher begrifflicher Abgrenzungsversuche besteht im theoretischen Diskurs zum Verständnis von Inklusion weiterhin kein begrifflicher Konsens. Generell lassen sich hier zwei Ansätze unterscheiden: • Vertreter eines weiten Inklusionsverständnisses stellen infrage, dass es einen substanziellen Unterschied zwischen integrativen und inklusiven Konzepten gibt. In diesem Verständnis besteht eine deutliche begriffliche Nähe von Inklusion und Integration, beides verstanden als eine besondere Qualität von Unterricht und Erziehung. Zentrale Elemente bei der Umsetzung von Unterricht sind hier soziale Integration, das Lernen am gemeinsamen Gegenstand, das Lernen auf verschiedenen Leistungsniveaus und die Unterstützung durch kooperierende Pädagog*innenteams (vgl. Köpfer 2014). • Vertreter eines engen Inklusionsverständnisses verstehen unter der Idee einer inklusiven Schule mehr als das „gemeinsame und subjektzentrierte Unterrichten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischer Förderbedarfe“ (Wocken 2009, 56). Vielmehr wird mit der Umsetzung von Inklusion die „Systemfrage“ (ebda) gestellt und damit eine weitreichende Kritik an gegliederten Schulsystemen formuliert. Gleichzeitig wird eine grundsätzliche Veränderung der innerschulischen Logik gefordert. Zentrale Leistungsvorgaben und Maßstäbe, wie Schulnoten oder Sitzenbleiben, sowie Lernstandards werden abgelehnt. Im internationalen Vergleich wurde vielerorts (z.B. USA, Großbritannien, skandinavische Länder) der schulischen Umsetzung von Inklusion schon deutliche früher Bedeutung beigemessen als im deutschsprachigen Raum. Dass die Implementierung in Deutschland vergleichsweise schleppend voranschreitet, ist wissenschaftlichen Studien zu Folge vorwiegend dem dreigliedrigen Schulsystem sowie unterschiedlicher länderspezifischer Umsetzungsbedingungen geschuldet (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015; Mißlin/ Ückert 2014). So wurden im Schuljahr 2013/ 14 von insgesamt 500.544 Schülern mit ausgewiesenem Förderbedarf der Jahrgänge 1-10 68,8% nicht inklusiv unterrichtet. Mit einer Inklusionsquote von gerade einmal 2,1% wurden durchschnittlich zwei von 100 SchülerInnen mit Förderbedarf in Regelklassen unterrichtet (vgl. Bertelsmann Stiftung 2014). Hinsichtlich der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik lässt sich feststellen, dass das Thema „Inklusion“ erst in jüngster Vergangenheit in Inklusiven Fremdsprachenunterricht gestalten … 287 den Fokus rückt. Das übergeordnete Thema „Umgang mit Heterogenität“ hat dabei zwar eine lange Tradition, wurde bisher aber überwiegend in Bezug auf Unterschiede zwischen den Lernenden hinsichtlich fremdsprachlicher Leistungsunterschiede sowie z.B. bezüglich der Heterogenitätsdimension Zwei- oder Mehrsprachigkeit diskutiert (vgl. Trautmann 2011). Arbeiten zu besonderen Förderschwerpunkten (vor allem Lernen, geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache, Hören, Sehen) und inklusivem Englischunterricht sind ein dringendes Desiderat. Dennoch steht die fremdsprachliche Unterrichtspraxis im Vergleich zu anderen Fächern auf einer günstigen Basis: Prägende Elemente des modernen Englischunterrichts wie kulturelle Teilhabe, Kommunikation, Interaktion oder auch Mehrsprachigkeit scheinen wie geschaffen für inklusiven Unterricht (vgl. Hengst 2012), und etablierte didaktische Ansätze und Konzepte zur Diagnose, Differenzierung und kompetenzorientierten Förderung können generell auf einen inklusiven Fremdsprachenunterricht übertragen werden (vgl. Bartosch/ Rohde 2014). Prinzipiell sollte darüber hinaus auch ein inklusiver Englischunterricht schülerorientiert und motivierend sein, mit der Festlegung realistischer Lernziele arbeiten und eine differenzierte Arbeit am gemeinsamen Lerngegenstand ermöglichen. In der Praxis haben sich im inklusiven Fremdsprachenunterricht somit bestimmte Methoden bereits etabliert, müssen jedoch dringend durch begleitende Forschung weiterentwickelt werden (vgl. Kap. 3). Im vorliegenden Beitrag soll der Fokus auf die Frage gelegt werden, wie sich einerseits die Lehrer*innenbildung verändern muss, um angehende Lehrkräfte auf das Arbeiten in inklusiven Lehr-/ Lernkontexten vorzubereiten. Außerdem sollen im letzten Teil des Beitrags prioritäre Entwicklungs- und Forschungsbereiche bezüglich des inklusiven Fremdsprachenlernens diskutiert werden. 2 Third Spaces und Communities of Practice in der Lehrerbildung - Hineinwachsen in multiprofessionelle Teamarbeit Zur Vorbereitung auf berufliche Aufgaben wird in letzter Zeit wieder verstärkt für die universitäre Ausbildung von Lehrkräften eine verbesserte Verbindung von Theorie und Praxis - oder auch anders formuliert: von Wissenschaft und Praxis, Wissen und Können (Villiger/ Trautwein 2015), Reflexion und Aktion, Denken und Handeln (Bertschy 2015), Zuschauen/ Betrachten und Tun (Bertschy 2015) - gefordert, um die Handlungsfähigkeit zur Bewältigung des späteren Berufsalltags zu verbessern sowie Wege zur Professionalisierung zu ebnen. Unterschiedliche Organisationslogiken und Zielsetzungen der an der Lehrerbildung beteiligten Institutio- Torben Schmidt 288 nen wie Schule, Studienseminar und Hochschule, aber auch eine häufig fehlende, systematische Zusammenarbeit der an der Lehrerbildung beteiligten Fächer begünstigen die vorherrschende Ausbildungskultur des Nebeneinanders (Blömeke 2006). So wird aufgrund der zumeist mangelhaften Theorie-Praxis-Verbindung der Transfer von Forschungserkenntnissen in die Schulpraxis wenig unterstützt. Kooperationen und Austausch zwischen den pädagogischen Akteuren und ein phasenübergreifendes Denken und Abstimmen von curricularen Inhalten, Zielsetzungen und zu vermittelnden Kompetenzen werden bis dato nur vereinzelt realisiert. Diese zentrale Problematik wird derzeit im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (QOLB) von Bund und Ländern adressiert. Eine stärkere Verbindung der Ausbildungsphasen bis in den Beruf hinein ist daher eine zentrale Herausforderung, um ganzheitliche didaktischmethodische Konzepte für die Aus-, Fort- und Weiterbildung zu entwickeln. Das gilt insbesondere mit Bezug auf das Arbeiten in der inklusiven Schule, die gut vernetzte und in enger Abstimmung arbeitende Teamplayer in multiprofessionellen Arbeitskontexten braucht. Die Studierenden müssen bereits frühzeitig auf die Herausforderungen und Chancen, methodischdidaktische Besonderheiten und insgesamt Formen der effektiven, multiprofessionellen Zusammenarbeit mit z.B. Sonderpädagog*innen, Sozial- und Heilpädagog*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Schulbegleiter*innen in inklusiven Lehr-/ Lernsettings des schulischen Fremdsprachenunterrichts vorbereitet werden. Hierzu bedarf die universitäre Lehramtsausbildung zunächst selbst der Etablierung neuartiger Formen der institutions- und phasenübergreifenden, theorie-praxis-verzahnenden Zusammenarbeit, die die Akteure auf Augenhöhe zusammenbringen und für Studierende als Novizen in diesen Netzwerken reiche Lern- und Erfahrungsräume bieten. Ziel sollte es folglich sein, die Lehrer*innenbildung holistischer als Kooperationsaufgabe zu sehen und dabei hybride Erfahrungs- und Diskursräume oder ‚third spaces‘ zu schaffen, in denen die beteiligten Personen im Sinne einer Community of Practice „durch die sachlichen Erfordernisse und Standards ihrer Praxis, durch ihre einschlägige Kompetenz, durch wechselseitige Anerkennung und durch zugehörige moralische Standards der Reziprozität […] verbunden sind […]“ (Ortmann 2009, 211). Damit ist die Schaffung eines gemeinsamen Denk- und Arbeitsraums gemeint, um Ausbildungssituationen und Unterricht gemeinsam mit Akteur*innen verschiedener Einrichtungen der Lehrer*innenbildung weiterzuentwickeln. Im Rahmen der QOLB wurde an der Leuphana Universität Lüneburg im Projektbereich „Inklusion und Heterogenität“ für das Pilotfach Englisch ein solches Theorie-Praxis-Netzwerk gebildet. Es besteht aus Wissenschaft- Inklusiven Fremdsprachenunterricht gestalten … 289 ler*innen (aus der Englischdidaktik und der Pädagogik), Fachseminarleitungen (für das Fach Englisch sowie für den Bereich Sonderpädagogik), Englischlehrkräften der assoziierten Campusschulen mit Erfahrung im Bereich inklusives Unterrichten, einer Schulleiterin, einer Fachmoderatorin Englisch (als Vertreterin der Lehrerfortbildung), Lehrwerkautor*innen und Studierenden der Leuphana Universität. Das Netzwerk trifft sich ca. alle 6 Wochen für einen Nachmittag und tauscht sich über Fälle aus der Praxis, neue Forschungsergebnisse, Methoden und Materialien (z.B. authentische Förderpläne, Arbeitsblätter etc.) aus. Ein Hauptbestandteil der Zusammenarbeit liegt auf der gemeinsamen Entwicklung eines Universitätsseminars (sowie im zweiten Schritt Fortbildungen) zum Thema „Inclusion in the EFL Classroom“, das unter anderem übergeordnete Themenbereiche wie „Inklusive Unterrichtsentwicklung“, „Diagnose und sonderpädagogische Förderung im Englischunterricht“, „multiprofessionelle Teamarbeit“, „Aufgaben- und Übungen in heterogenen Lerngruppen“ beinhaltet. Unterthemen sind hierbei z.B. der Umgang mit Hör- und Sehbehinderungen im Englischunterricht, aber auch Themen wie (migrationsbedingte) Mehrsprachigkeit im EU sowie LGBTQ-sensibler Englischunterricht. Ein methodischer Hauptbestandteil der Zusammenarbeit ist die gemeinsame Analyse von videografiertem, inklusivem Englischunterricht und damit verbunden die Auswahl und didaktische Aufbereitung der Themen und Schwerpunkte. Hinzu kommt die gemeinsame Entwicklung von geeigneten Lernaufgaben und Übungen für die Unterrichtspraxis, die dann von den Praxispartner*innen im eigenen Unterricht erprobt und als Erfahrungen in die Gruppe zurückgespielt werden. Als Teil der Community of Practice erleben die in dieses Netzwerk integrierten Studierenden durch den regelmäßigen Austausch von Ideen, Einsichten und Erkenntnissen das gemeinsame Lernen sowie die gegenseitige Hilfe und Unterstützung in einer phasen- und institutionenübergreifenden Gemeinschaft kennen. Diese Gemeinschaft ermöglicht und systematisiert die multidirektionale Kommunikation ebenso wie rasche Feedbackschleifen in der Erprobung praxistauglicher Forschungsergebnisse. Die individuelle professionelle Entwicklung für alle Beteiligten durch den wechselseitigen Austausch von Expertise steht hierbei folglich im Mittelpunkt. 3 Großbaustelle Inklusiver Fremdsprachenunterricht - Prioritäre Entwicklungs- und Forschungsbedarfe in drei Handlungsfeldern Die Umstellung auf ein inklusives Bildungs- und Erziehungssystem bringt für die fremdsprachendidaktische Forschung prioritäre Entwicklungsbedarfe mit sich. Nachfolgend soll mit 1. der fremdsprachendidaktischen Lehrer- Torben Schmidt 290 aus- und -weiterbildungsforschung, 2. der fremdsprachendidaktischen Unterrichtsforschung und 3. der Lehrwerk- und Lehr-/ Lernmaterialforschung auf drei Handlungsfelder eingegangenen werden, die es im Sinne des Positionspapiers zum inklusiven Fachunterricht der Gesellschaft für Fachdidaktik (2015) zu bearbeiten gilt. 3.1 Bereich fremdsprachendidaktische Lehreraus- und -weiterbildungsforschung Aktuelle Studien zeigen, dass sowohl in der Schulpraxis als auch in der universitären Lehrerbildung bisher nur unzureichende Expertise zur erfolgreichen Umsetzung inklusiver Bildung vorhanden ist und dass Lehrkräfte sich nicht ausreichend auf die Anforderungen inklusiver Schule vorbereitet fühlen (Monitor Lehrerbildung 2015; Amrhein 2015; Boer/ Pijl/ Minnaert 2011). Die Anpassung der universitären Lehramtsstudiengänge, der Referendar*innenausbildung und der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften an die entstandenen Anforderungen inklusiver Bildung ist für die Universitäten, Studienseminare und Fortbildungsinstitute eine große Herausforderung. Heinrich, Urban/ Werning (2013, 83) fassen in ihren Untersuchungen zu „den Grundlagen, Handlungsstrategien und Forschungsperspektiven für die (…) Professionalisierung von Fachkräften für inklusive Schulen“ die veränderten Anforderungen folgendermaßen zusammen: Lehrkräfte benötigen „diagnostische Fähigkeiten, um Lernausgangslagen sowie individuelle Lernprozesse analysieren, Fachwissen und fachdidaktisches Wissen, um vielfältige Vermittlungswege realisieren zu können, Klassenführungskompetenzen, sowie Beratungskompetenzen für individuelle Fördermaßnahmen und Elternpartizipation“. Zusätzlich wird in der aktuellen Literatur auf die Bedeutung einer positiven Einstellung gegenüber Inklusion eingegangen (Schwab/ Seifert 2014). Zusammenfassend weisen Sawalies et al. (2013) darauf hin, dass es in einem inklusionsanregenden Professionalisierungsprozess (angehender) Lehrkräfte „einer Orientierung auf spezialisierte Generalisten“ bedarf, indem Aspekte wie Wissen über Kooperationen, individuelle Förderung, pädagogische Diagnostik und Einstellung zur schulischen Heterogenität einbezogen werden müssen. Die an der fremdsprachendidaktischen Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften beteiligten Institutionen sind hier nun aufgefordert, in enger Abstimmung mit anderen Fachdidaktiken, der (Sonder-)Pädagogik und Psychologie, fachspezifische Formate, Methoden und Werkzeuge zu entwickeln, um Einstellungen zu verändern, entsprechendes Wissen und nötige Kompetenzen zu vermitteln und somit (angehende) Lehrkräfte aller Schulformen in Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen angemessen auf Inklusiven Fremdsprachenunterricht gestalten … 291 einen inklusiven Unterricht vorzubereiten. Die Begleitforschung zur Implementierung dieser Maßnahmen (z.B. wie die in Kap. 3 beschriebene) sowie zur Messung von Effekten auf Einstellungen, subjektive Theorien, das Professionswissen und die Handlungskompetenzen von Lehrkräften für den inklusiven Fremdsprachenunterricht stellen hier zentrale Forschungsbereiche dar. Dabei sollte sich die fächerübergreifende, allgemein-pädagogische Forschung zu einer inklusiven Bildung angelehnt an Amrhein (2015) und Heinrich, Urban/ Werning (2013) folgenden Bereichen widmen und diese dann auch im Studium abdecken: − Grundlagen inklusiver Bildung: Grundlegende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Inklusion, Wertschätzung von Diversität, Unterschiede der Lernenden als Chance und Herausforderung; Reflexion der eigenen Haltung/ Einstellung zu Kindern mit Förderbedarf und anderen Heterogenitätsdimensionen − Inklusive Schulentwicklung: Aufgaben bzw. Rolle der Schule im Wandel des Bildungssystems, Förderung von Partizipation und Demokratieentwicklung − Sonderpädagogische Förderung: Diagnostische Basiskenntnisse, Förderplanung Im Fokus der fremdsprachendidaktischen Forschung sollte dann mit Blick auf die Lehrer*innenaus- und -weiterbildung eine Spezialisierung in folgenden Bereichen vorgenommen werden: − Inklusive Unterrichtsentwicklung: Vermittlung spezifischer, heterogenitätssensibler didaktischer und fachdidaktischer Fähigkeiten, Sensibilisierung für das Spannungsfeld von Individualisierung und Leistungsdifferenzierung im Fremdsprachenunterricht, Aufgaben- und Übungskonzeption und Fähigkeit zur Entwicklung von Hilfs- und Unterstützungsangeboten, Formen der Leistungsbewertung, Classroom-Management zur Vermeidung von Unterrichtsstörungen − Multiprofessionelle Teamarbeit: Aspekte der fachspezifischen Kooperation und Teamarbeit, gemeinsamer Unterricht, Beratungs- und Kommunikationsstrukturen − Sonderpädagogische Förderung: Fachspezifische Diagnostik und Förderplanung Die Entwicklung und Implementierung interdisziplinär gut abgestimmter, sinnvoll sequenzierter, effektiver Ausbildungscurricula, die diese Themenbe- Torben Schmidt 292 reiche berücksichtigen und entsprechende Kompetenzen mit geeigneten Methoden ausbilden, sollten in den nächsten Jahren schwerpunktmäßig behandelt werden. 3.2 Bereich fremdsprachendidaktische Unterrichtsforschung Bisher gibt es wenig Wissen darüber, wie der inklusive Fremdsprachenunterricht derzeit gestaltet wird, welche Alltagspraktiken die an der Gestaltung des inklusiven Unterrichts beteiligten Akteure (Fremdsprachenlehrkräfte, Förderlehrkräfte, Schulbegleiter*innen etc.) hierbei entwickeln und wie sich diese veränderten Arbeitsbedingungen und Unterrichtsrealitäten auf das fachliche und praxisorientierte Inklusions- und Professionsverständnis, die Motivation und die Selbstwirksamkeit der Akteure auswirken. Es ist erforderlich, durch qualitative Zugänge den Blick auf Alltagspraktiken und Deutungen der Akteure bei der Gestaltung inklusiven Unterrichts zu richten und ihnen Erkenntnis- und Handlungshilfen zur Verfügung zu stellen. So können etwa mittels ethnographischer sowie rekonstruktiv-praxeologischer Verfahren eine empirische Annäherung und Rekonstruktion eines sozialwissenschaftlich fundierten Verständnisses unterrichtlicher Inklusion im Fremdsprachenunterricht dargelegt werden. Durch vergleichende Analysen und Interpretationen können den Studierenden Merkmale, Möglichkeiten und Grenzen des derzeit realisierten inklusiven Fremdsprachenunterrichts verstärkt aus fachdidaktischer Perspektive aufgezeigt werden. Inhaltlich und bezogen auf Unterrichtspraktiken sollten im Zentrum einer solchen Forschung z.B. folgende Fragen stehen (vgl. Gesellschaft für Fachdidaktik 2015, 4-5): Wie sind mit Blick auf das fachbezogene Lernen individuelle Lernvoraussetzungen bei Lernenden mit sonderpädagogischen Förderbedarfen zu diagnostizieren? Welche Formen der inneren Differenzierung (Ziel-, Methoden- und Inhaltsdifferenzierung) werden wie angewendet? Wie können individuelle Förderung (sonderpädagogische Förderpläne, individuelle Festlegung von fremdsprachlichen Zielkompetenzen) und gemeinsames Lernen Hand in Hand gehen? Welche inklusiven Ansätze werden für welche fachlichen Lerngegenstände eingesetzt? Welche Formen des Team-Teachings finden im Unterricht Anwendung? Wie wirkt sich insgesamt die Berücksichtigung von Vielfalt auf die Kooperation und soziale Interaktion im Unterrichtsprozess aus? Wichtig ist bei dieser Unterrichtsforschung einerseits der Anschluss an den jeweiligen fremdsprachendidaktischen Forschungsstand (z.B. zu den Themen Diagnostik, Heterogenität, Differenzierung, Übungen und Aufgaben, Classroom Management). Andererseits sollten aber auch durch die Auswahl geeigneter Forschungsmethoden die komplexen unter- Inklusiven Fremdsprachenunterricht gestalten … 293 richtlichen Prozesse sowie die Diversität speziell im inklusiven Klassenzimmer angemessen erfasst werden. 3.3 Bereich Lehrwerk- und Lernmaterialforschung Ein Bereich, in dem die Forschung und Entwicklung bisher ebenfalls noch am Anfang stehen, ist die Gestaltung und der Einsatz von diversitätssensiblen, auf die Anforderungen eines Fremdsprachenunterrichts in heterogenen, inklusiven Settings exakt abgestimmten Unterrichtsmaterialien und -medien. Zwar haben Schulbuchverlage zentrale Forderungen und Bedürfnisse aus der inklusiven Unterrichtspraxis längst zum Anlass genommen, ihre Lehrwerke und Begleitmaterialien den besonderen Bedarfen eines gemeinsamen Lernens in hochgradig heterogenen Umgebungen besser anzupassen. So werden z.B. mehrfach differenzierende Übungen und Aufgaben angeboten; es werden Wahlmöglichkeiten bzgl. Lernwegen eröffnet, die dann durch verschiedene Hilfs- und Unterstützungsangebote unterschiedlich begleitet werden; oder es werden zusätzliche Arbeitshefte zum Lehrwerk zur Verfügung gestellt, die parallel zu den Schulbuchseiten auf einfacherem Niveau und in kleinen Schritten die Inhalte vermitteln. Eine Wirkungsforschung zu diesen verschiedenen Maßnahmen und der tatsächlichen Nutzung dieser Angebote sowohl im inklusiven Klassenverband als auch durch den individuellen Lernenden steht bisher jedoch noch aus. Außerdem fehlen - von ersten Empfehlungen für die Materialgestaltungen (z.B. Gerlach 2015, 162 für den Bereich LRS) abgesehen - noch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu geeigneten Designs und Layouts von Fremdsprachenlehrwerken für inklusive Lernsettings für gedruckte Lehrwerke und eine verstärkte Kooperation mit der Medienpsychologie und der Sonderpädagogik (z.B. mit Blick auf die Verwendung von Schriftarten, Schriftgröße, Textlänge, Einbindung von Bildern und Erklärungen etc.). Dabei sind zugleich das Nutzungsverhalten und die Wirkungen verschiedener Gestaltungsvarianten auf Lernende mit unterschiedlichen Förderbedarfen wie Legasthenie, ADHS oder dem Förderschwerpunkt Lernen zu untersuchen. Ein besonders bedeutsames Forschungsfeld dürfte auch die auf inklusives Fremdsprachenlernen ausgerichtete Entwicklung von Lernsoftware und E-Books sein. Sie eröffnen durch die digitale Technik, ihre Multimedialität, Interaktivität und Adaptivität besondere Möglichkeiten, Lerninhalte vielfältiger anzubieten, Lernwege und Übungsphasen stärker zu individualisieren, Unterstützungsangebote und Lernziele basierend auf einer Nutzungsanalyse bedarfsgerecht zu offerieren und insgesamt barrierefreie Zugänge zu eröffnen. Torben Schmidt 294 Literatur Amrhein, Bettina (2015): „Professionalisierung für Inklusion gestalten. Stand und Perspektiven der Lehrerfortbildung in Deutschland“. In: Fischer, Christian/ Veber, Marcel/ Fischer-Ontrup, Christiane/ Buschmann, Rafael (Hrsg.), 130-156. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2014): Im Dialog der Disziplinen. Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 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Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung für Praxis und Forschung Karen Schramm 1 Begriffsklärung ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ Von den drei Begriffen ‚Inklusion‘, ‚Heterogenität‘ und ‚Diversität‘ hat der Begriff der ‚Heterogenität‘ in der fremdsprachendidaktischen Diskussion die längste Tradition. Ein besonders wichtiger theoretischer Bezugspunkt war dabei die Zweitspracherwerbsforschung zu individuellen Unterschieden; sie ging Faktoren wie Alter, Geschlecht/ Gender, Motivation, Sprachlerneignung, Lernstilen, Lernstrategien/ Metakognition, Mehrsprachigkeit und anderen nach. Der Begriff der ‚Diversität‘ ist dagegen deutlich stärker positiv konnotiert und verweist auf das Potenzial, das Vielfalt für ein Klassenzimmer bzw. eine Gesellschaft bietet. Folgt man der Definition der UNESCO (2005, 13), so zielt Inklusion auf das gemeinsame Lernen aller Kinder einer Altersgruppe, wobei den unterschiedlichen Bedürfnissen der einzelnen durch die Steigerung ihrer Teilhabe Rechnung getragen wird. Inclusion is seen as a process of addressing and responding to the diversity of needs of all learners through increasing participation in learning, cultures and communities, and reducing exclusion within and from education. It involves changes and modifications in content, approaches, structures and strategies, with a common vision which covers all children of the appropriate age range and a conviction that it is the responsibility of the regular system to educate all children. (UNESCO 2005, 13, Hervorhebung im Original) Der Teilhabebzw. Partizipationsgedanke ist auch zentrales Konstrukt einer soziokulturellen Theoriebildung zum Zweitspracherwerb und knüpft u.a. an die Vorstellungen zum situierten Lernen an. Die entsprechenden fremd- und insb. zweitsprachdidaktischen Forschungen haben nach den L2- Identitäten und Selbstentwürfen von MigrantInnen/ FremdsprachenlernerInnen, ihren Gruppenzugehörigkeiten und ihrer legitimen peripheren Partizipation an zielsprachlichen Gruppen gefragt (im Fach DaF/ DaZ z.B. Ohm 2008; Pietzuch 2015). Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung … 297 In Bezug auf einen spezifischen Aspekt eines weiten Inklusionsbegriffs - die Partizipation mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher (s. bspw. Cummins 2015; Elsner 2015; Schlaak 2015; Wildemann 2015) - hat insbesondere die Zweitsprachendidaktik zur Inklusionsdebatte somit sehr viel beizutragen. Dringend notwendig erscheinen jedoch fremdsprachendidaktische Forschungsanstrengungen mit Blick auf einen engen Inklusionsbegriff, der insbesondere nach den Partizipationsmöglichkeiten fragt, die der Fremdsprachenunterricht Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen bietet und eröffnet. Die inklusive - also wertschätzende, nicht-ausgrenzende, individuell bestmöglich fördernde - gemeinsame Beschulung aller Kinder einer Altersgruppe stellt eine immense Herausforderung dar, zu der die Fremdsprachendidaktik im Allgemeinen und die Deutsch-als-Fremdsprache- Didaktik im Besonderen grundlegende Forschung erst noch leisten muss. 2 Methodische und curriculare Ansätze eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts Der Inklusionsgedanke bedeutet ein Festhalten an gemeinsamen Inhalten bei gleichzeitig - bisher unbekannt radikaler - Binnendifferenzierung der Leistungsanforderungen (einschließlich der Leistungsbewertung) und der Aneignungswege, die nach individuellen Lernstilpräferenzen und ggf. Beeinträchtigungen in Bezug auf die Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung, Persönlichkeit etc. zu gestalten sind. Hoch gehandelt werden in Beiträgen zur Inklusion folglich Lernstrategien und Metakognition, Handlungsorientierung und Projektarbeit, Binnendifferenzierung und individualisierte Lernpläne oder Wahlmöglichkeiten auf der Grundlage eines verbindenden Curriculums sowie auch der Verzicht auf eine normorientierte Benotung zugunsten der Feststellung von Kompetenzstufen (z.B. auf der Grundlage von Portfolios). Letztlich ist damit ein Ideal von Fremdsprachenunterricht angesprochen, dem sich die bisher nicht-inklusive Praxis nur mehr oder weniger erfolgreich annähern konnte: ein offener, autonomiefördernder, handlungsorientierter, sprach(-lern-)reflexiver Unterricht bzw. eine (im Team-Teaching) begleitete und durch professionelle Sprachlernberatung unterstützte Selbsttätigkeit von Schülerinnen und Schülern in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit, deren motivierte Handlungszündung und deren gefeierter Handlungsabschluss jeweils in einem für die Lernenden (im Sinne von agency) bedeutsamen Zusammenwirken des gesamten Lernverbunds bzw. der Schulklasse geschieht. Auf diese Weise könnte der Fremdsprachenunterricht dem von Rossa (2015, 179) zum Ausdruck gebrachten Wunsch nach einer menschenfreundlicheren Gesellschaft besser entsprechen und dabei indivi- Karen Schramm 298 duelle Leistungspotenziale nicht auf der Grundlage von Konkurrenzdenken oder Leistungsdruck, sondern aus gemeinsam getragenen Handlungszielen und individuell bedeutsamer Gestaltungsfreude freisetzen. In Bezug auf eine solche Idealvorstellung ist zu fragen, inwieweit sie realistischerweise umsetzbar sein wird. Immer wieder wird beschworen, „inclusion“ sei „no illusion“, aber angesichts der Tatsache, dass Bildungsgerechtigkeit für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler in jahrzehntelangen Anstrengungen bisher nicht erreicht werden konnte, ist nicht leicht vorstellbar, dass dies im Fall der hier gemeinten Gruppen besser oder schneller gelingen wird. Auch deuten viele Berichte aus der Praxis darauf hin, dass Lehrpersonen mit den Herausforderungen allein gelassen werden (ermutigend aber: Mendez 2012). Im Folgenden soll das Beispiel Hörbeeinträchtigungen herausgegriffen werden, um die Herausforderungen exemplarisch zu beleuchten. Am Beispiel des Englischunterrichts verdeutlichen Kläser/ Rohde (2015) curriculare Fragen in Bezug auf die Komplexität des Zusammenspiels einer erstsprachlichen Gebärdensprache (z.B. Deutsche Gebärdensprache), einer weiteren fremdsprachlichen Gebärdensprache (z.B. American Sign Language oder British Sign Language), einer in der Umgebung des Kindes üblichen Laut- und Schriftsprache, die für das gehörlose Kind als L2 zu betrachten ist (z.B. deutsche Laut- und Schriftsprache) und die fremdsprachliche (z.B. englische) Schriftsprache. Stoppok (2014, 117) macht darauf aufmerksam, dass darüber hinaus Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) und Lautsprachunterstützende Gebärden (LUG) zum Einsatz kommen: Bei LBG wird die Lautsprache wörtlich durch Gebärden wiedergegeben, inklusive ihrer grammatikalischen Bestandteile wie z.B. Endungen von Verben. Bei der Kommunikation mit LUG werden dagegen einzelne, als wichtig erachtete Begriffe zur Unterstützung des Verständnisses in Gebärden dargestellt. Die Grammatik entspricht bei beiden Formen der Grammatik der deutschen Lautsprache. (Stoppok 2014, 117) Niggebaum (2013) hat diese Komplexität am Beispiel von Integrationskursen für erwachsene hörgeschädigte und gehörlose MigrantInnen in eindrucksvoller Weise am Beispiel vielschichtiger Transkripte und äußerst komplexer Kommunikationsprozesse über verschiedene Laut- und Gebärdensprachen auch empirisch dokumentiert. Eine herkömmlich ausgebildete Fremdsprachenlehrperson wird in der Regel in der Lage sein, sich auf unterschiedlich ausgeprägte Lese- und Schreibkompetenzen einzustellen und bspw. im Rahmen extensiver Leseprogramme oder mittels schriftlichen Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung … 299 Feedbacks individuell zu fördern 1 ; für die Unterrichtsinteraktion in (und ggf. die Förderung von) 2 Gebärdensprachen, lautsprachbegleitenden Gebärden und lautsprachunterstützenden Gebärden werden jedoch in der Regel nur DolmetscherInnen bzw. SpezialistInnen in Frage kommen. 3 An den Deskriptoren des Europäischen Sprachenportfolio für gehörlose und schwerhörige Menschen wird nicht nur deutlich, dass der Erfahrungsstand und die Vorarbeiten für einen inklusiven Fremdsprachenunterricht in diesem Bereich recht weit fortgeschritten sind, sondern auch, dass ein inklusiver Unterricht mittels Kommunikations- und Ermächtigungsprozessen auch hörende Menschen auf besser gelingende Kommunikation mit hörgeschädigten und gehörlosen Menschen vorbereiten wird (Deaf Port Project Partner 2008-2010). Ansagen machen und Ansprachen halten: Alle Lernenden haben Probleme mit der Aussprache, wenn sie eine Sprache lernen. Wenn ich zusätzliche Probleme dadurch habe, dass ich schwerhörig oder gehörlos bin, benutze ich eine Reihe von Strategien, z.B. informiere ich den Sprecher über mein Ausspracheproblem, biete Wiederholungen an und benutze zusätzliche Gesten oder weitere Hilfsmitten wie Karten, Symbole, Zeichnungen oder geschriebene Wörter. Wenn diese Techniken eine Ergänzung zu meiner Sprechfähigkeit sind, und kein Ersatz dafür, dann halte ich die beschriebene Stufe für angemessen. Verstehen, was Leute sagen: Wenn ich Probleme habe zu verstehen, was in dieser Sprache gesprochen wurde, benutze ich eine Reihe von Strategien, um mir selbst zu helfen. Zum Beispiel weise ich die Sprecher darauf hin, dass ich schwerhörig oder gehörlos bin. Ich könnte um Wiederholung bitten, darum bitten, die Lippen der Sprecher zu sehen oder ihre Gesichter, wenn sie sprechen, oder könnte öffentliche oder persönliche Hör-Hilfen nutzen. Tageslärm kann das Verstehen manchmal sehr erschweren. Die Schwierigkeit bei 1 Speziell zum Schreiben hörgeschädigter Kinder im Deutschunterricht der Grundschule, s. Wildemann/ Wiechel (2015). 2 Nach Hausen (2014, 104-105) „wird in Deutschland Englischunterricht kombiniert mit einer Fremdgebärdensprache trotz seiner angenommenen positiven Auswirkungen selten durchgeführt, da es nicht verbindlich im Lehrplan vorgesehen ist und die Lehrkräfte in der Regel nicht über die entsprechenden Gebärdensprachenkenntnisse verfügen.“ Unter Verweis auf eine Studie, die Pritchard in Norwegen durchführte, weisen verschiedene AutorInnen darauf hin, dass das Angebot zum Erlernen einer Fremdgebärdensprache jedoch besonders vielversprechend erscheint. 3 Unhaltbar ist die Tatsache, dass unbezahlte Eltern sich angesichts unbefriedigender Konstellationen gezwungen sehen, kompensatorisch einzugreifen (vgl. Becker 2015). Karen Schramm 300 manchen Gelegenheiten nicht verstehen zu können liegt nicht an mangelnder Fähigkeit, sondern an den gegebenen Umständen, die mich davon abhalten meine Fähigkeiten zu nutzen. (Deaf Port Projekt Partner 2009, 10) Der Beitrag von Heßmann (2014) illustriert darüber hinaus am Beispiel eines online-Sprachkurses zum Erlernen der British Sign Language, wie professionelle Selbstlernangebote einen inklusiven Fremdsprachenunterricht unterstützen können. Auch zu anderen Förderschwerpunkten liegen erste fremdsprachendidaktisch ausgerichtete Beiträge vor, die Pioniercharakter haben und als solche in ihrem Innovationscharakter zu würdigen sind (exemplarisch sei nur Kormos/ Smith 2012 angeführt). Trotz dieser ermutigenden Explorationen und der ansteigenden Forschungsaktivität ist festzustellen, dass bisher nur allererste Schritte getan wurden und dass weitere Praxisanstrengungen und deren Erforschung selbstverständlich auch von den Rahmenbedingungen abhängen: Curricula für einen inklusiven Fachunterricht müssen erst noch unter Beteiligung von Fachdidaktiker/ innen geschrieben werden. Lerngelegenheiten sowie die räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten eines Schulalltags, die Selbstbestimmung und Teilhabe aller Schüler/ innen ermöglichen würden, sehen ganz anders aus, als traditioneller Fachuntericht derzeit ermöglichen könnte. Fächerübergreifende Projekte, kontextorientiertes Lernen, Forschendes Lernen sind hierbei nur einige Ansätze, die selbstverständlich im System verankert sein könnten, wenn die Rahmenbedingungen dafür gegeben würden. (Abels 2015, 146) 3 LehrerInnenbildung für inklusives Unterrichten in Teams Ebenso großer Handlungsbedarf besteht im Bereich der LehrerInnenaus-, fort- und weiterbildung. Die bisher vorliegenden Untersuchungen deuten darauf hin, dass viele angehende und erfahrene Lehrpersonen den durch Inklusion entstehenden neuen Aufgaben mit der Besorgnis vor Überforderung und dem Gefühl unzureichender Vorbereitung gegenüberstehen. Hellmich/ Görel/ Schwab (2016, 81) kommen in einer ländervergleichenden Studie Deutschland-Österreich und mit Bezug auf die Ausbildung von Grundschullehrpersonen zu dem Fazit, dass auch Erfahrungen aus Schulpraktika sowie damit verbundene Entwicklungen in den leistungsbezogenen Persönlichkeitsentwicklungen der Studierenden wie beispielsweise Selbstwirksamkeitsüberzeugungen offensichtlich eine nicht unwesentliche Rolle spielen, um der Inklusion in Schule und Unterricht gegenüber positiv eingestellt zu sein. (ebda) Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung … 301 Kiel/ Weiß (2015) fragen nach Aspekten, die die Anerkennung einer inklusiven Schulreform für Sekundarstufenlehrpersonen erschweren oder ermöglichen. Erschwernisse sind ihnen zufolge die Umwertung vieler bisher geltender professioneller Werte wie bspw. Leistungsorientierung, Homogenisierung und Selektion, der Widerstand gegen einen wissenschaftlichpolitischen Machtanspruch, die wissenschaftstheoretische Wertorientierung der Dekategorisierung, nach der Diversität beliebig und wertfrei ist und die im Gegensatz zum Konzept differenzierter Kategorisierungen zu stehen scheint (sowie ihre teils starke Ideologisierung), die Aufgaben und Selbstverständnisse von SekundarstufenlehrerInnen (z.B. als wissensvermittelnde FachvertreterInnen) und die defizitäre Legitimierung durch empirische Studien. Als ermöglichende Faktoren nennen sie Überzeugungsarbeit bei Lehrkräften, die sich auf die Beliefs/ Einstellungen richtet, Überzeugungsarbeit bezüglich Ängsten und Widersprüchen von Lehrenden (z.B. graduelles Vorgehen, Supervision, Beratung), Überzeugungsarbeit im Kontext von Gerechtigkeitskonzepten, Theorie, Empirie und Entideologisierung, Zusammenarbeit von Fachwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Sonderpädagogiken und Fachdidaktiken sowie auch die Bereitstellung von Ressourcen. Wolfswinkler/ Fritz-Stratmann/ Scherer (2014) skizzieren die Aufgaben und Verantwortlichkeiten für eine Weiterentwicklung der Lehramtsausbildung an Universitäten ohne Sonderpädagogik und dementsprechend auch ohne Fusionsmöglichkeiten. Sie differenzieren dabei zwischen Aufgaben der Bildungswissenschaften und solchen der Fachdidaktiken; als Aufgabe der Fachdidaktiken nennen sie die folgenden zwei Punkte: • Reflexion der eigenen Einstellung zur Inklusion und Erweiterung des methodisch-didaktischen Repertoires zum Umgang mit Heterogenität (dies schließt die Gestaltung von Lernumgebungen sowie Methoden zum Classroom-Management ein) (Bildungswissenschaften - im Folgenden: BiWi - und Fachdidaktiken); […] • vertiefende diagnostische Kenntnisse zu den spezifischen Förderbereichen „Lernen“ (BiWi und Fachdidaktik), „Emotionale und Soziale Entwicklung“ (BiWi) und „Sprache“ (Sprachforschung, insbesondere DaZ/ DaF). (Wolfswinkler/ Fritz-Stratmann/ Scherer 2014, 381-382) In diesen beiden Bereichen - Heterogenität und Förderdiagnostik - ist die Fremdsprachendidaktik gut aufgestellt; sie kann darüber hinaus auch zu Fragen der Kooperationsmethoden und -fähigkeit, die die AutorInnen der Verantwortung der Bildungswissenschaften zuordnen, substanzielle Forschungsergebnisse aufweisen. Karen Schramm 302 Auch in hochschuldidaktischer Hinsicht ist die Fremdsprachendidaktik mit Vorgehensweisen, wie sie bspw. Häcker/ Walm (2015) für eine inklusive LehrerInnenbildung vorschlagen, bestens vertraut: Bei der Anbahnung der so konzipierten künftig multiprofessionellen Arbeit geht es darum, die Akteurinnen und Akteuren in den Stand zu versetzen, eigene und fremde soziale Praktiken in pädagogischen Kontexten sowie Strukturen und deren benachteiligendes bzw. lernbehinderndes Potenzial zu verstehen und kooperativ zu bearbeiten. Auf Reflexion orientierte Studienformate und -instrumente wie Fallarbeit, projektorientiertes Studium, Praxisforschung, forschendes Lernen und Portfolioarbeit entlang eigener Praxiserfahrungen bzw. transkribierter oder videographierter, ethnographisch gewonnener Protokolle der Wirklichkeit bieten sich dabei an. Hierzu bedarf es verstärkt ethnographischer Forschungen über Schule und Unterricht sowie eines systematischen Ausbaus kasuistischer Archive. Gleichzeitig erscheint es notwendig, künftig noch stärker die Wirkungen solcher und weiterer Formate zu erforschen. (Häcker/ Walm 2015, 85) Einer der wenigen fremdsprachdidaktisch ausgerichteten Forschungsbeiträge zur inklusionsadäquaten LehrerInnenbildung ist die von Gerlach (2015) und seinen Studierenden durchgeführte Interviewstudie mit sieben Fremdsprachenlehrkräften mit Inklusionserfahrung und fünf SonderpädagogInnen mit fremdsprachenunterrichtlicher Erfahrung. Sie erbringt das überraschende Ergebnis, dass die sonderpädagogischen Lehrpersonen „den Inklusionsbegriff negativer bewerten, zumindest der Umsetzung skeptischer gegenüberstehen“ (Gerlach 2015, 132) und deutet damit auf die Notwendigkeit hin, die Kenntnisse dieser Personengruppe in weiteren fremdsprachendidaktisch orientierten Studien genauer auszuleuchten. 4 Entwicklungs- und Forschungsbedarf Die Entwicklungs- und Forschungsbedarfe für die Fremdsprachendidaktik in Bezug auf das Thema Inklusion sind vielfältig. Beispielhaft seien hier einige besonders dringliche Desiderata aufgelistet: • Wie kann der Inklusionsgedanke in den verschiedenen Stufen der Curriculumentwicklung umgesetzt werden? • Wie bewähren sich die europäischen Sprachenportfolios im inklusiven Fremdsprachenunterricht als Alternative zu bisherigen Formen der Leistungsbewertung? • Welche Organisationsformen sind für die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams praxistauglich? Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung … 303 • Welche Diagnose- und Fördermaterialien sind für das breite Spektrum eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts praxistauglich? • Welche Supervisions- und Beratungsangebote für FremdsprachenlehrerInnen werden nachgefragt und welche kooperativen Reflexionsangebote erweisen sich als zielführend? • Inwieweit sind die vorliegenden Ergebnisse der Sprachlernstrategie- und Metakognitionsforschung für den Förderschwerpunkt Lernen von Relevanz? • Inwieweit bieten die theoretischen Autonomiekonzeptionen aus soziokultureller und politisch-kritischer Perspektive bereits Orientierungspunkte für fremdsprachendidaktische Inklusionsfragen? • Welche Beispiele für inklusiven Projektunterricht bieten Orientierung und Anregung für den Fremdsprachenunterricht? Gleichzeitig machen diese Desiderata deutlich, dass angesichts des derzeitigen Entwicklungs- und Forschungsstands die Umsetzung von Inklusion im aktuellen Fremdsprachenunterricht als nicht forschungsbasiert zu bezeichnen ist. Literatur Abels, Simone (2015): „Der Entwicklungsbedarf der Fachdidaktiken für einen inklusiven Unterricht in der Sekundarstufe“. In: Biewer, Gottfried/ Böhm, Eva Theresa/ Schütz, Sandra (Hrsg.), 135-148. Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2014): Im Dialog der Disziplinen. Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Becker, Claudia (2015): „Bilingualer Unterricht als Chance für die gemeinsame Beschulung hörender und hörgeschädigter Schülerinnen und Schüler“. In: Biewer, Gottfried/ Böhm, Eva Theresa/ Schütz, Sandra (Hrsg.), 94-112. Biewer, Gottfried/ Böhm, Eva Theresa/ Schütz, Sandra (Hrsg.) (2015): Inklusive Pädagogik in der Sekundarstufe. Stuttgart: Kohlhammer. Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.) (2015): Inklusion im Englischunterricht. Frankfurt a.M.: Lang. Cummins, Jim (2015): „Inclusion and language learning: Pedagogical principles for integrating students from marginalized groups in the mainstream classroom“. In: Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.), 95-116. Deaf Port Project Partner (2008-2010): Europäisches Sprachenportfolio für gehörlose und schwerhörige Menschen. http: / / www.deafport.eu/ DE (23.06.2017). Elsner, Daniela (2015): „Inklusion von Herkunftssprachen. Mehrsprachigkeit als Herausforderung und Chance“. In: Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.), 71-94. Karen Schramm 304 Gerlach, David (2015): „Inklusion im Fremdsprachenunterricht. Zwischen Ansprüchen und Grenzen von Heterogenität, Fachdidaktik und Unterricht(srealität)“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 44 (1), 123-137. Häcker, Thomas/ Walm, Maik (2015): „Inklusion als Herausforderung an eine reflexive Erziehungswissenschaft. Anmerkungen zur Professionalisierung von Lehrpersonen in ‚inklusiven‘ Zeiten“. In: Erziehungswissenschaft 26 (51), 81-89. Hausen, Amelie (2014): „Englisch an der Schule für Hörgeschädigte - Chance oder Überforderung? “ In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 95-114. Hellmich, Frank/ Görel, Gamze/ Schwab, Susanne (2016): „Einstellungen und Motivation von Lehramtsstudentinnen und -studenten in Bezug auf den inklusiven Unterricht in der Grundschule. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Österreich“. In: Empirische Sonderpädagogik 1, 67-85. Heßmann, Jens (2014): „Britische Gebärdensprache als Fremdsprache für Gehörlose: Der Online-Sprachkurse Sign2Go.“ In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 131-146. Kiel, Ewald/ Weiß, Sabine (2015): „Inklusion als Herausforderung für Lehrkräfte höherer Schulformen“. In: Biewer, Gottfried/ Böhm, Eva Theresa/ Schütz, Sandra (Hrsg.), 164-178. Kläser, Lena/ Rohde, Andreas (2015): „Fremdsprachenunterricht für gehörlose Schülerinnen und Schüler am Beispiel des Unterrichtsfaches Englisch“. In: Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.), 209-235. Kormos, Judit/ Smith, Anne Margaret (2012): Teaching Languages to Students with Specific Learning Differences. Bristol: Multilingual Matters. Mendez, Carmen (2012): „Inklusion im Fremdsprachenunterricht. Herausforderung und Chance“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht Basisheft 1, 5-9. Michalak, Magdalena/ Rybarczyk, Renata (Hrsg.) (2015): Wenn Schüler mit besonderen Bedürfnissen Fremdsprachen lernen. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. Niggebaum, Britta (2013): Die Verwendung von Laut- und Gebärdensprache in Integrationskursen für gehörlose MigrantInnen - exemplarische Detailanalysen. Unveröffentlichte Masterarbeit im Fach Deutsch als Fremdsprache. Leipzig, Herder-Institut. Ohm, Udo (2008): Zweitsprachenerwerb als Erfahrung. Eine qualitativexplorative Untersuchung auf der Basis narrativer Interviews. Jena: Friedrich- Schiller-Universität, Habilitationsschrift. Pietzuch, Anja (2015): Hochqualifizierte in Integrationskursen - eine fallstudienorientierte Analyse zu Zweitspracherwerb, Identität und Partizipation. München: iudicium. Rossa, Henning (2015): „Lerngelegenheiten im inklusiven Englischunterricht für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung“. In: Bongartz, Christiane M./ Rohde, Andreas (Hrsg.), 169-184. Inklusion im Fremdsprachenunterricht als Herausforderung … 305 Schlaak, Claudia (2015): Fremdsprachendidaktik und Inklusionspädagogik: Herausforderungen im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit. Stuttgart: ibidem. Stoppok, Anne (2014): „Didaktisch-methodische Überlegungen zum Englischunterricht für Schüler mit einer Hörschädigung in der Grundschule“. In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 115-130. UNESCO (2005): Guidelines for inclusion: Ensuring access to education for all. http: / / unesdoc.unesco.org/ images/ 0014/ 001402/ 140224e.pdf (23.06.2017). Wildemann, Anja (2015): Heterogenität im Sprachlichen Anfangsunterricht. Von der Diagnose bis zur Unterrichtsgestaltung. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. Wildemann, Anja/ Wiechel, Angelika (2015): „Schreiben in der Zweitsprache. Zur textuellen Entwicklung hörgeschädigter Kinder“. In: Michalak, Magdalena/ Rybarczyk, Renata (Hrsg.), 88-111. Wolfswinkler, Günther/ Fritz-Stratmann, Annemarie/ Scherer, Petra (2014): „Perspektiven für ein Lehrerausbildungsmodell ‚Inklusion‘“. In: Die Deutsche Schule 106 (4), 373-385. Aus Deutsch für Ausländer wird Deutsch als Fremdsprache wird Deutsch als Zweitsprache wird Durchgängige Sprachbildung… wird Inklusion? Julia Settinieri 1 Einleitung Das Themenfeld „Inklusion, Heterogenität und Diversität“ verhält sich zur Fachdisziplin Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/ DaZ) insgesamt anders als zu den Schulfremdsprachen. Während sich aus anglistischer, romanistischer oder slawistischer Sicht die Frage stellt, wie schulischer Fremdsprachenunterricht in inklusiven Settings gestaltet werden könnte, ist das Deutsche im Schulsystem primär als Zweit- und weniger als Fremdsprache präsent, von Internationalen Vorbereitungsklassen, die man in die Nähe des Fremdsprachenunterrichts rücken könnte, einmal abgesehen. Das Fach Deutsch als Zweitsprache hat somit nicht den fremdsprachlichen Unterricht im Blick, sondern vielmehr die Gruppe mehrsprachig aufwachsender Schüler*innen im gesamten Schulsystem. Gleichwohl lassen sich zahlreiche Zusammenhänge zwischen dem Deutschen als Zweitsprache bzw. der Mehrsprachigkeitsforschung und der Inklusionspädagogik herstellen, zwei Fachbereichen, die Riemer (o.J.) sehr treffend als „natürliche Verbündete“ bezeichnet. Auch Grosche/ Fleischhauer (2017, 155) gehen davon aus, dass sich schulische Inklusion und die Förderung des Deutschen als Zweitsprache „zumindest teilweise theoretisch überschneiden“. Auf einige dieser Parallelen bzw. Anknüpfungspunkte soll im Folgenden genauer eingegangen werden. 2 Inklusion, Heterogenität und Diversität Der Begriff der (sprachlichen) „Heterogenität“ ist ein Konzept, mit dem im Deutschen als Zweitsprache schon lange argumentiert wird. 1 1 „Diversität“ hingegen wird meiner Einschätzung nach trotz seiner positiveren Konnotation im Fachdiskurs kaum genutzt. Es wird zum Beispiel zum Ausgangspunkt des didaktischen Konzepts der „Durchgängigen Sprachbildung“ genommen (Lange/ Gogolin 2010), das angesichts unter- Aus Deutsch für Ausländer wird Deutsch als Fremdsprache wird … 307 schiedlicher Lernausgangslagen von Schüler*innen, die aus spracharmen oder sprachreichen, von dialektaler oder sozialer Variation geprägten vs. standardsprachlich orientierten, einsprachigen oder mehrsprachigen Elternhäusern stammen, Sprachbildung für alle als eine der Kernaufgaben der Institution Schule festschreibt: Sprachliche Heterogenität gehört heute zu den Grundbedingungen pädagogischen Handelns. Es ist die Aufgabe der Bildungseinrichtungen […], diese Ausgangslage bestmöglich zu nutzen und alle Kinder und Jugendliche, unabhängig von den Zufällen ihrer Herkunft und Lebenslage, so gut wie möglich mit den sprachlichen Fähigkeiten vertraut zu machen, die nötig sind, um bildungserfolgreich zu sein. (Lange/ Gogolin 2010, 5) Aber auch der Begriff der „Inklusion“ wird im Fachdiskurs in jüngerer Zeit immer präsenter. Dabei werden sowohl durchgängige Sprachbildung als auch Inklusion als schulische Querschnittsaufgaben modelliert, die teilweise ähnliche Zielsetzungen verfolgen, so dass sich die Frage nach dem Verhältnis beider Konzepte zueinander stellt. Die UNESCO umreißt die Grundidee der „inklusiven Bildung“ wie folgt: Inklusive Bildung bedeutet, dass allen Menschen - unabhängig von Geschlecht, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, besonderen Lernbedürfnissen, sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen - die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu entwickeln. (Deutsche UNESCO-Kommission 2012, 10) Ähnlich äußert sich die Kultusministerkonferenz (KMK 2011, 4): „Inklusion in diesem Sinne bedeutet für den Bereich der Schule einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle und das Erkennen sowie Überwinden von Barrieren.“ Analog zu diesen Forderungen rückt das Fach Deutsch als Zweitsprache immer wieder die Bildungsbenachteiligung mehrsprachig aufwachsender Schüler*innen, statistisch meist über die Kategorie des Migrationshintergrunds operationalisiert, in den Blickpunkt. Deutlich wird dabei, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund bei den höheren Schulabschlüssen unterrepräsentiert sind, was ein klarer Indikator für die Wirksamkeit diskriminierender Prozesse im Bildungssystem ist (vgl. exemplarisch Chlosta/ Ostermann 2014 oder zur Untermauerung auch die Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Die Rede ist in diesem Zusammenhang (nicht nur, aber auch) von einer „Sprachbarriere“, die es zu überwinden gilt. 2 2 Vgl. analog auch die Forderung nach „Barrierefreiheit“ im Inklusionszusammenhang, die sich nicht auf den sprachlichen Zugang zu Fachinhalten, sondern Julia Settinieri 308 Neben dieser kognitiven Facette hat der weite Inklusionsbegriff (vgl. Grosche/ Fleischhauer 2017 zum engen vs. breiten Inklusionsbegriff) aber auch eine sozio-affektive Dimension. Mecheril (2014, 204-205) verweist hier auf Hinz/ Boban (2008, 213), die Inklusion charakterisieren als „gesellschaftliche und pädagogische Vision […], die Heterogenität in all ihren Facetten wahrnimmt, wertschätzt und produktiv nutzt und dabei pädagogisch stigmatisierende Kategorisierungen vermeidet“. Im Fach Deutsch Zweitsprache ist dieser Gedanke unter anderem im Konzept der Language Awareness aufgegriffen worden, das den bewussten Umgang mit Sprache fordert. Didaktisch ausdifferenziert wurde der Ansatz auf u.a. kognitiver, affektiver, sozialer und strategischer Ebene (vgl. bspw. Luchtenberg 2014; Gürsoy 2010). Eine sprachenfreundliche Atmosphäre und die Berücksichtigung und Wertschätzung von Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer sind Grundvoraussetzungen für effektive Sprachförderung. Verbote und Herabsetzungen der Herkunftssprachen sowie eine ausschließliche Konzentration auf das Deutsche sind dagegen hinderlich für die erfolgreiche Sprachförderung und positive Entwicklung gesamtsprachlicher Kompetenzen. (Gürsoy 2010, 4) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Deutsch als Zweitsprache und Inklusionspädagogik (zumindest mit Blick auf den weiten Inklusionsbegriff) grundsätzlich sehr ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Während sich Inklusion dabei jedoch auf Heterogenität im Allgemeinen bezieht, engt das Deutsche als Zweitsprache den Fokus auf die Heterogenitätsdimension der Einbzw. Mehrsprachigkeit ein. Es stellt sich also die Frage, inwiefern sich die fachspezifischen Herangehensweisen angesichts einander überlappender Forschungsgegenstände gegenseitig befruchten könnten. 3 Potentiale In Bezug auf migrationspädagogische Grundpositionen stellt das Konzept der Inklusion für das Fach Deutsch als Zweitsprache mit Sicherheit einen Gewinn dar, da es den lange Zeit in Politik und Medien dominanten Begriff der „Integration“ ablöst. Problematisch am Begriff „Integration“ erscheint, dass man nur „etwas in etwas hinein“ integrieren, also ‚einbauen‘ kann, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass es eine aufnehmende Mehrheitsgesellschaft gibt, in die sich Migranten einzugliedern hätten. Auch wenn gleichwohl immer wieder betont wurde, dass Integration „keine Einbahnstraße“ sei, bleibt die (tendenziell eben doch einseitige) Appellfunktion des vielmehr auf den freien Zugang zu Medien, Gebäuden, Transportmitteln usw. bezieht. Aus Deutsch für Ausländer wird Deutsch als Fremdsprache wird … 309 Begriffs erhalten. Es werden also von vornherein verschiedene Gruppen aufgemacht, wie auch Jeuk (2013, 104; vgl. analog Mecheril 2014, 200-201) zurecht kritisiert: […] Integration bedeutet, dass zwei eigentlich fremde Kulturen aufeinander zugehen und miteinander interagieren bzw. kooperieren. Letztlich muss jedoch das Ziel moderner, heterogener Gesellschaften sein, Inklusion zu erreichen. Das bedeutet, dass von vornherein kein Mitglied der Gesellschaft ausgeschlossen wird oder eine ausschließende Behandlung erfährt, sondern dass alle Beteiligten von Anfang an als integrale Bestandteile der Gesellschaft gesehen werden und gleiche Möglichkeiten und Chancen zugestanden bekommen. Dass alle Sprachen, die Menschen sprechen, als gleichwertig anzusehen sind, regelt bereits das Grundgesetz. So hält Art. 3 GG nicht nur fest: „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, sondern auch: (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. In enger Auslegung könnte man sagen, die Sprache/ n, die jemand spricht, dürfen ihr oder ihm nicht zum Nachteil gereichen. Weiter ausgelegt könnte man aus diesem Artikel aber auch ein Recht auf seine Sprache/ n in allen lebensweltlichen Kontexten ableiten. So könnte man z.B. fragen, ob es nicht gegen das Grundgesetz verstößt, wenn andere Sprachen als Deutsch im Unterricht oder auf dem Schulhof verboten werden. In der engen Auslegung lässt sich das Grundgesetz unmittelbar auf die weiter oben bereits angesprochene Unterrepräsentation Mehrsprachiger bei höheren Bildungsabschlüssen beziehen. 4 Herausforderungen Die Aufgabe der Schule besteht nun allerdings darin, mehrsprachig aufwachsende Schüler*innen einerseits nicht per se als eine Gruppe mit sprachlichem Förderbedarf zu konstruieren und damit Zuschreibungen vorzunehmen, möglicherweise gegebene spezifische Lernvoraussetzungen, wie z.B. das Aufwachsen mit mehreren Sprachen, aber auch nicht zu ignorieren, eine Gefahr, die auch im Titel dieses Beitrags anklingt. Entsprechend empfiehlt das Mercator-Institut […] eine Einengung auf Fragestellungen des Deutschen als Zweitsprache bzw. der Mehrsprachigkeit zu vermeiden und stattdessen die sprachliche Julia Settinieri 310 Bildung und Förderung aller Schülerinnen und Schüler in den Blick zu nehmen - unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft. Nichtsdestotrotz müssen Lehrkräfte auch auf den je spezifischen Förderbedarf vorbereitet sein, der beispielsweise mit dem Erwerb einer Zweitsprache einhergehen kann. Eine generelle Sensibilisierung der Lehrkräfte für die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler kann gemeinsam mit inklusionspädagogischen Überlegungen erfolgen. (Baumann/ Becker-Mrotzek 2014, 8) Andererseits warnt Dirim (https: / / germanistik.univie.ac.at/ personen/ diriminci/ ) in diesem Zusammenhang zu Recht: Da der Begriff „Deutsch als Zweitsprache“ als Bezeichnung für den persönlichen Sprachbesitz inferiorisierende Effekte für als DaZ-SprecherInnen geltende Personen nach sich ziehen kann, ist er mit Bedacht zu verwenden. Jenseits didaktischer und methodischer Notwendigkeiten der Verwendung des Begriffs „Deutsch als Zweitsprache“ ist Deutsch Deutsch, unabhängig davon, ob jemand diese Sprache als Erst- oder Zweitsprache verwendet und in jeglicher Perspektive gleichermaßen wertvoll. Eine weitere praxisrelevante Frage, die sich ähnlich wie in Inklusionszusammenhängen auch in Bezug auf Deutsch als Zweitsprache stellt, ist die nach immersiver, submersiver oder gestützt-submersiver Beschulung von Seiteneinsteiger*innen (vgl. Avci/ Holland/ Linden 2013; Grosche/ Fleischhauer 2017, 156-158, zu „Inklusion als Platzierung“). Die Argumentationslinien für oder gegen beide Grundformen verlaufen ähnlich wie auch in Bezug auf andere Schulfächer bzw. in Bezug auf die Inklusionsdebatte, so z.B. in der Diskussion um die Rolle der Förderschulen. Für die „inklusive“ Beschulung von Seiteneinsteiger*innen in der Regelklasse spricht, dass sie so eben von Anfang an vollwertiger Teil der Klassengemeinschaft sind, mithin keine Segregation stattfindet. Gleichzeitig entsteht in inklusiven Settings ein Problem der Zielgruppenpassung, welchem in Internationalen Vorbereitungsklassen viel unaufwändiger und wahrscheinlich auch lernförderlicher begegnet werden kann. Die Vorteile interner vs. externer Differenzierung liegen somit klar auf der Hand. Vermittelnd können im Anschluss an einen Intensivsprachkurs weniger sprachintensive Fächer bereits im Klassenverbund besucht werden, woran sich der Übergang in die Regelklasse und die dortige weiterführende Durchgängige Sprachbildung anschließen (vgl. auch Grosche/ Fleischhauer 2017, 166). Aus Deutsch für Ausländer wird Deutsch als Fremdsprache wird … 311 5 Schlussfolgerungen und Ausblick Letztlich lässt sich der angesprochene Widerspruch zwischen Inklusion und Zielgruppenpassung nicht vollständig auflösen, wenn einerseits alle gemeinsam leben und lernen, andererseits aber auch jede*r optimal auf sie/ ihn zugeschnittenen Unterricht erhalten soll, da die Möglichkeiten der Binnendifferenzierung immer irgendwann an Aufwands- oder sogar Machbarkeitsgrenzen stoßen (vgl. Grosche/ Fleischhauer 2017: 160). Erforderlich sind in jedem Fall erweiterte Ressourcen, um den komplexeren didaktischen Anforderungen gerecht werden zu können. Zum einen benötigen alle Fachlehrenden grundlegende Kenntnisse im Bereich der Durchgängigen Sprachbildung, wie sie etwa im Kontext der sog. „DaZ-Module“ in den Lehramtsstudiengängen in ersten Ansätzen vermittelt werden. Zum anderen werden DaZ-Expert*innen an den Schulen benötigt, die Sprachdiagnostik und -förderung planen, koordinieren und additiv durchführen. Idealerweise sollten diese im Rahmen einer bundesweit neu zu treffenden Drittfachregelung ausgebildet werden (vgl. auch Riemer 2017, 182-183). Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass • niemand „DaZ hat“, sondern es sich bei „Deutsch als Zweitsprache“ um eine bildungspolitisch relevante Variable handelt, nicht jedoch um eine auf ein Individuum zu beziehende Größe, • Sprachengebrauch (als Grundrecht) maximal freigestellt sein sollte und alle Sprachen in der Schule ihren gleichberechtigten Raum haben sollten, • Binnendifferenzierung lernförderlich und grundsätzlich zu begrüßen ist (vgl. z.B. die Hinweise von Mehlhorn in diesem Band), aber durchaus an Machbarkeitsgrenzen stoßen kann und darf und dass im Sinne einer optimalen individuellen Förderung bspw. internationale Vorbereitungsklassen durchaus sinnvoll sein können, es aber erfordern, mögliche segregierende Effekte kritisch in den Blick zu nehmen und weitmöglichst abzufedern, • eine kontinuierliche und differenzierte Sprachdiagnostik in Zeiten zunehmender Heterogenität an Schulen noch wichtiger wird, als sie es ohnehin schon war. Gerade der letzte Punkt verweist auf Forschungsdesiderata im Zusammenhang mit Deutsch als Zweitsprache in inklusiven Settings. Zum einen müssen individualnormbezogene Diagnoseverfahren weiterentwickelt und ausdifferenziert werden. Bezugsgruppennormierungen hingegen rücken weiter in den Hintergrund. Darüber hinaus sind Verfahren weiterzuentwickeln, die unter Einbezug aller Sprachen der Schüler*innen eine möglichst frühe Ab- Julia Settinieri 312 grenzung zwischen Spracherwerbsverzögerung und Spracherwerbsstörung erlauben. Im Bereich der Schulentwicklung können unterschiedliche Formen der Partizipation, in didaktischer Hinsicht optimale Lerngelegenheiten sowie Formate zieldifferenten Lernens am gemeinsamen Gegenstand (vgl. z.B. Hallet; Vogt in diesem Band) weiter erforscht werden, um das Potential der Inklusionsidee nicht in reiner Platzierung (vgl. Grosche/ Fleischhauer 2017, 156-158) versanden zu lassen. Darüber hinaus wird empirisch zu überprüfen sein, inwiefern der im Titel dieses Aufsatzes angesprochene Wandel der fachkonstituierenden Konzepte vom „Migrationsanderen“ (Dirim/ Mecheril 2010) hin zu einer Gemeinschaft Gleichwertgeschätzter und maximal Chancengleicher, der ultimativ sicherlich eine Utopie darstellt (vgl. Bär in diesem Band), sich tatsächlich auch in gesellschaftlichen Praxen niederschlägt. Dies betrifft sowohl die Ebenen der Schulorganisation und Unterrichtsinteraktion als auch die einschlägigen Bildungsstatistiken. Literatur Ahrenholz, Bernt/ Oomen-Welke, Ingelore (Hrsg.) (2014): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. 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Inklusiver Fremdsprachenunterricht: Zum Potential von Literatur und handlungsorientierten Zugängen Carola Surkamp 1 Zum Konzept der Inklusion Das Konzept der Inklusion zielt auf eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Partizipation aller Menschen an der Gesellschaft ab, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung, ihrem ethnischen, sozialen, nationalen, kulturellen und sprachlichen Hintergrund, ihren physischen und kognitiven Fähigkeiten, ihrer politischen Einstellung und ihrer religiösen Zugehörigkeit (vgl., auch zum Folgenden, Delius/ Surkamp 2017). Zentraler Gedanke sind die Anerkennung und Wertschätzung von Individualität und Vielfalt aller Menschen (vgl. Küchler/ Roters 2014, 238). Im Hinblick auf Schule und Bildungsprozesse bedeutet dies die Ausrichtung allen didaktischen Handelns an einer heterogenen Schülerschaft und die Ermöglichung der gleichberechtigten und gleichwertigen Teilhabe aller Lernenden an einer Lerngemeinschaft (vgl. Börner et al. 2013, 1). Neben den genannten unterschiedlichen Ausgangspositionen spielen noch weitere persönliche Lernvoraussetzungen eine Rolle, z.B. unterschiedliche Vorerfahrungen, Vorkenntnisse, Arbeitshaltungen, Interessen, Bedürfnisse und Begabungen der Lernenden. Es geht also bei Inklusion nicht allein um die Differenzkonstruktion der ‚Behinderung‘ (vgl. auch Küchler/ Roters 2014, 234). Inklusion bezieht vielmehr jegliche Vielfalt aller Beteiligten mit ein, ohne dabei in Defizitkategorien zu denken. Mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht ist Inklusion kein grundsätzlich neues Leitkonzept. Sie kann vielmehr als konsequente Weiterentwicklung der bereits gewonnenen Erkenntnis gesehen werden, dass es die homogene Lernendengruppe nicht gibt (vgl. Kraus/ Nieweler 2014, 2). Jede*r Lernende bringt unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit in den Unterricht und hat daher einen unterschiedlichen Bedarf an Förder- und Fordermaßnahmen. Diese Betrachtungsweise zukünftig noch positiver auszurichten und nicht nur Heterogenität, also ‚Uneinheitlichkeit‘, anzuerkennen und Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen, sondern darüber hinausgehend Vielfalt, also ‚Diversität‘, als expliziten Zugewinn beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen zu betrachten, stellt eine wichtige Aufgabe der Literatur und handlungsorientierte Zugänge 315 Fremdsprachendidaktik dar (vgl. Küchler/ Roters 2014, 237; vgl. auch Gerlach 2015, 135) Dass damit auch die (inter-)kulturelle und soziale Kompetenzentwicklung im Fremdsprachenunterricht gemeint sein und dass nicht nur die Verschiedenartigkeit der Lernenden, sondern auch die der Lehrenden wertgeschätzt werden sollte, heben Küchler/ Roters (2014, 238 bzw. 234) eigens hervor. Auch Sambanis (2014) begreift die Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Inklusion‘ als Chance für die Fremdsprachendidaktik, da dadurch neue Sichtweisen eröffnet werden könnten. Es geht beim Thema ‚Inklusion‘ also nicht allein um die Umsetzung struktureller Maßnahmen und die Anwendung einzelner didaktischer Strategien, sondern ganz grundlegend um eine Änderung unseres „belief systems“ (Falvey/ Givner 2005, 5 in Küchler/ Roters 2014, 238). 2 Inklusion und/ im Fremdsprachenunterricht Zunächst kann Fremdsprachenunterricht schon allein deshalb einen wichtigen Beitrag zur inklusiven Schule leisten, weil eine seiner wesentlichen Zielsetzungen die Ermöglichung kultureller Teilhabe ist (vgl. Hengst 2012, 104; vgl. auch Küchler/ Roters 2014, 235). Durch die Befähigung der Lernenden, sich über eine Fremdsprache neue Welten zu erschließen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, birgt der Fremdsprachenunterricht eine besondere Chance für alle Lernenden. Zudem trägt er auf inhaltlicher Ebene durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen (auch im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik) nicht nur zu einem diversitätssensiblen Unterricht bei, sondern kann darüber hinaus diversitätssensibilisierend auf die Lernenden wirken. Über die Begegnung mit verschiedenen Perspektiven in Texten lernen Schüler*innen Verschiedenartigkeit und Vielfalt kennen und setzen sich mit Diversität auseinander. Damit dies alles mit einer Schülerschaft möglich ist, die aufgrund ganz unterschiedlicher Variablen heterogen sein kann, müssen auf verschiedenen Ebenen entsprechende Rahmenbedingungen vorliegen (vgl. auch Delius/ Surkamp 2017). Ziegenfuß (2014, 7) nennt in diesem Zusammenhang inklusive Schulstrukturen (wie barrierefreie Lernorte, kleine Klassengrößen und Doppelbesetzungen durch Fachlehrkräfte und Sonderpädagog*innen), inklusive Schulkulturen sowie inklusive Methoden. Letztere liegen für den Fremdsprachenunterricht schon in vielfältigen Konzepten für Differenzierungs- und Individualisierungsmaßnahmen sowie für verschiedene Formen des kooperativen Lernens vor, auch im Ansatz des aufgabenorientierten Lernens. Diese Maßnahmen müssen zukünftig entsprechend weitergeführt und intensiviert werden (vgl. Küchler/ Roters 2014, 244; Doert/ Nold 2016, 28ff.). Carola Surkamp 316 Spezifische Lernendendispositionen können die Veränderung bzw. Anpassung von Rahmenbedingungen für den Fremdsprachenunterricht erfordern. Stehen z.B. Beeinträchtigungen des Hör- oder Sehvermögens gewohnten Lehr- und Lernverfahren entgegen, können technische Hilfen und praktische Maßnahmen wie die Verwendung eines Lehrermikrofons, eine deutliche Aussprache, Blickkontakt, größere Schrift oder der verstärkte Einsatz von Visualisierungen, z.B. auch über eine expressive Körpersprache, zum Lernerfolg beitragen (vgl. Müller-Hartmann/ Schocker 2015, 6; vgl. auch Haß 2013, 31 sowie Küchler/ Roters 2014, 241). Mit Blick auf unterschiedliche kognitive Lernvoraussetzungen werden eine klare Unterrichtsstruktur (auch in Verbindung mit Ritualen), eine entspannte Atmosphäre, ein häufiger Wechsel der Sozial- und Unterrichtsformen sowie motivierende und für die Schüler*innen interessante Themen als Gelingensbedingungen im heterogenen Klassenzimmer genannt (vgl. z.B. Mendez 2012). Bei vielen Maßnahmen, die in der Sekundärliteratur zum Thema „Inklusion im Fremdsprachenunterricht“ vorgeschlagen werden, wird allerdings das Augenmerk vor allem auf Lernende mit sog. ‚besonderem Förderbedarf‘ gerichtet. Wenn man den Inklusionsgedanken jedoch ernst nimmt, dann bedarf es über diese grundlegenden Maßnahmen hinaus spezifisch fachdidaktischer Konzepte für einen inklusiven Unterricht. Außerdem wird der Bedeutung der affektiven Dimension des Lernens nicht genügend Rechnung getragen. Dass diese Dimension gerade im Kontext eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts essentiell für gelingende Lehr-/ Lernprozesse ist, hebt Sambanis (2014) aus Sicht der Neurodidaktik hervor. So würde das Gehirn in Abhängigkeit von den zu lernenden Inhalten und deren Darstellung sowie von angebotenen Materialien und Arbeitsweisen ständig prüfen, ob sich das Lernen überhaupt lohne. Mit den Lerninhalten würden zudem die dabei durchlebten Emotionen gespeichert, was wiederum folgende Lernprozesse beeinflussen könne. Lehrende sollten daher darauf achten, dass Aufgaben zwar fordernd, aber bewältigbar sind, dass eine Balance zwischen individualisiertem und kooperativem Lernen geschaffen wird und dass Erfolge im Sinne einer guten Feedbackkultur sichtbar gemacht und anerkannt werden. Ein fremdsprachendidaktischer Ansatz, der die affektive Dimension des Lernens besonders berücksichtigt, ist der der Handlungsorientierung. Das Konzept begründet sich aus der Kritik an einem fast ausschließlich auf kognitives und begriffliches Lernen ausgerichteten Unterricht. Handlungsorientierung soll ein subjektiv relevantes Lernen mit möglichst vielen Sinnen und im praktischen Tun ermöglichen; Elemente von entdeckendem Lernen und die Herstellung konkreter Lernprodukte sind zentral. Anhand eines reichhaltigen, für die Lernenden thematisch bedeutsamen Materialangebots sol- Literatur und handlungsorientierte Zugänge 317 len diese beispielsweise dazu angeregt werden, mit den Inhalten „emotionalengagiert und nicht nur kognitiv-wissensbereichernd umzugehen“ (Bach/ Timm 2003, 20). Durch Verfahren wie Inszenierungen, Visualisierungen oder das Transformieren von Texten können die Schüler*innen sich sowohl über das Material als auch über sich selbst, ihre Einstellungen, Gefühle und Erfahrungen austauschen. Ausgegangen wird von einem weiten Textbegriff, der auch auditive und visuelle Materialien einschließt, sowie von einem Konzept des ‚Austausches‘, das Kommunikation nicht nur über Sprache, sondern auch über Körpersprache, Bilder und Musik ermöglicht. Dabei kann auch an Vorschläge aus dem spielerisch ausgerichteten inklusiven Fremdsprachenunterricht der Grundschule angeknüpft werden (vgl. Kirchhoff 2012). Körperlichkeit, ganzheitlichem Lernen und dem visuellen Charakter von Kommunikation wird insbesondere im dramapädagogisch orientierten Fremdsprachenunterricht Rechnung getragen. Dessen Grundidee ist es, Formen szenisch-dramatischer Unterrichtsgestaltung für fremdsprachliche Lehr-Lern-Prozesse zu nutzen. Durch den Einsatz von Körper-, Stimm- und Sprechübungen sowie durch das Spiel in unterschiedlichen Rollen soll ein Fremdsprachenlernen mit allen Sinnen möglich werden. Auf der Basis von verschiedenen Materialien wird ein fiktiver Handlungskontext geschaffen, innerhalb dessen sich die dramatische Handlung entfaltet, z.B. in Form von Pantomimen, akustischen Collagen, Standbildern oder Improvisationen (vgl. Schewe 2017, 51). Nonverbale Elemente, die stimmliche und nichtstimmliche Phänomene (also Intonation ebenso wie Gestik und Mimik) umfassen, fungieren neben verbalen Mitteln als Bedeutungsträger. Sie helfen sowohl bei der Erschließung als auch der Produktion von sprachlichen Mitteilungen (vgl. Surkamp 2014). Dramapädagogische Verfahren versprechen aber auch noch in anderer Hinsicht Potential für den inklusiven Fremdsprachenunterricht. Da sie kooperativ ausgerichtet sind, fördern sie auch das soziale Lernen. Die Schüler*innen müssen miteinander zu agieren lernen, sich aufeinander einstellen, sich abstimmen, einander vertrauen und die Scheu vor Körperkontakt ablegen. Das Spiel fördert die Achtung voreinander und die Sensibilität im Umgang miteinander. Dadurch kann es zur Schaffung einer dem Lernen förderlichen Gruppenatmosphäre beitragen. All dies ist laut Mendez (2012, 5) Voraussetzung für das Gelingen von Inklusion. Haß (2013, 29) fordert daher ebenfalls, dass zukünftig „auch im Fachunterricht wesentlich mehr Augenmerk und Zeit auf die Gestaltung eines förderlichen Lernklimas gelegt werden [müsse]“. Carola Surkamp 318 3 Inklusion durch handlungsorientierten Literaturunterricht Ein motivierender und produktiver Umgang mit der Fremdsprache kann im inklusiven Fremdsprachenunterricht auch durch die Beschäftigung mit literarischen Texten gelingen (vgl. Albers 2014, 155). Thäle/ Riegert (2014, 196) stellen für den inklusiven Deutschunterricht die für den Fremdsprachenunterricht ebenfalls relevante Frage, was „den Kern literarischen Lernens aus[macht], der für alle Kinder und Jugendlichen von Bedeutung ist“. Ihre Antwort ist ähnlich der von Hengst (2012, 104) für den Fremdsprachenunterricht, dass die Beschäftigung mit Literatur kulturelle Teilhabe ermögliche und persönlichkeitsbildend wirke (vgl. Thäle/ Riegert 2014, 195). Neben der Förderung der kognitiven und emotionalen Entwicklung kann Literatur Freude an Sprache und spezifisch literarischen Sprachverwendungen hervorrufen (vgl. Albers 2014, 148). Wie die unten stehende Abbildung veranschaulicht, kann der Einsatz literarischer Texte auf ganz unterschiedlichen Ebenen Potentiale für einen inklusiven Fremdsprachenunterricht bieten. 1 1 Zu einer inklusiven Literaturdidaktik vgl. auch die Beiträge im Sammelband von Frickel/ Kagelmann (2016) aus der Deutschdidaktik. Erstens können verschiedene Erscheinungsformen von Literatur (von Bilderbüchern, Reimen, Liedern, Gedichten und Kurzerzählungen über Comics, Hörspiele und szenische Texte bis hin zu Filmen) genutzt werden, so dass literarische Begegnungen für alle Lernenden möglich werden. Je nach Vermögen und Interesse können die Schüler*innen beispielsweise einen (unterschiedlich medial vermittelten) Text zu einem gemeinsamen, übergeordneten Thema wählen, mit dem sich alle auseinandersetzen. Es können aber auch unterschiedliche Versionen von einem Text verwendet werden, z.B. sog. multilevel texts, die verschiedene sprachliche und inhaltliche Anspruchsniveaus anbieten (vgl. Cornford 2012). Auch kleinere Textzusammenfassungen oder Bebilderungen können den Rezeptions- und Verstehensprozess individuell unterstützen. Literatur und handlungsorientierte Zugänge 319 Abb. 1: Potentiale des Literaturunterrichts für Inklusion Zweitens kann der inklusive Literaturunterricht sich die grundsätzliche Bedeutungsoffenheit literarischer Texte zunutze machen. Durch ihre poetische Unbestimmtheit und Mehrdimensionalität regen literarische Texte zur kreativen Mitwirkung an der Sinnkonstitution an. Der Vorgang des Verstehens von Literatur beruht auf einer Interaktion zwischen Text und Leser*in, bei der der/ die Leser*in als tätiges, denkendes und fühlendes Subjekt angesprochen wird (vgl. Bredella 1987, 237). Die rezeptionsorientierte Literaturdidaktik fordert daher, den Lernenden zu ermöglichen, im Unterricht ihr Wissen und ihre Erfahrungen, ihre Einstellungen und Gefühle sowie Eindrücke von der Rezeption anderer Texte an einen Text heranzutragen. Da beim Lesen, Hören, Sehen und Verstehen von Texten also nicht nur kognitive Fähigkeiten eine Rolle spielen, sondern der Rezeptionsvorgang auch von imaginativen, affektiven und ethischen Momenten gekennzeichnet ist, eröffnet dies vielfältige Möglichkeiten des fremdsprachigen Reagierens auf Texte. Gleichzeitig erlaubt die Einbeziehung der Meinungen und Gefühle aller Individuen ganz unterschiedliche Perspektiven auf einen Text, wodurch Aushandlungsprozesse besonders fruchtbar werden können und alle eine Wertschätzung ihrer Beiträge erfahren. Differenzierende Maßnahmen im inklusiven Literaturunterricht ergeben sich daher drittens nicht primär über die Bearbeitungsgeschwindigkeit ein Carola Surkamp 320 und derselben Aufgabe, sondern durch die Möglichkeit der Eröffnung unterschiedlicher Zugänge zu einem Text. Auch Nieragden (2014, 167) ist der Auffassung, dass eine konsequent weitergeführte rezeptionsästhetische Literaturdidaktik einen inklusiven Literaturunterricht ermöglicht. Dies bedeutet, dass Lernenden für die Nutzung „individuelle[r] Textaneignungspfade und Lernwege“ (Dannecker 2014, 211) ein reichhaltiges Methodenangebot gemacht werden sollte, z.B. über die schon erwähnten handlungsorientierten Verfahren. Mittels akustischer, bildlicher oder szenischer Reaktionen auf einen Text kann dieser ganzheitlich erfasst und das individuelle Verstehen auch auf andere Weise als (rein) sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Thäle/ Riegert (2014, 204) stellen fest, dass „VertreterInnen der inklusiven Schulpraxis [...] immer wieder auf das besondere Potential solcher Lernformate und methodischen Verfahren für literarisches Lernen in heterogenen Lerngruppen [verweisen], weil sie einen Zugang zum literarischen Text und seiner Bedeutung durch das eigene Handeln ermöglichen“. Auch das Führen eines Lesetagebuchs kann über das Festhalten persönlicher und kreativer Reaktionen auf einen Text individuelle Zugänge ermöglichen, dadurch verschiedenen Lernvoraussetzungen Rechnung tragen und in der Erweiterung als Leseportfolio den eigenen Verstehens- und damit auch Lernprozess begleiten (vgl. ebda, 212; zum Einsatz von Portfolios im inklusiven Fremdsprachenunterricht generell vgl. auch Küchler/ Roters 2014, 244; Doert/ Nold 2016, 33). Viertens kann im inklusiven Literaturunterricht nach unterschiedlichen Kompetenzdimensionen differenziert werden. Wie verschiedene, in den letzten Jahren entwickelte Modelle literaturbezogener Kompetenzen veranschaulichen, geht es beim Verstehen literarischer Texte um mehr als das Erfassen und die Bewertung ästhetischer Darstellungsverfahren (vgl. z.B. Diehr/ Surkamp 2015). Fremdsprachenlernende müssen zunächst einen Zugang zu fremdsprachiger Literatur finden, sich für deren Rezeption motivieren, sprachliche, inhaltliche und kulturelle Verständnisbarrieren überwinden und die eigene Vorstellungskraft entfalten. Zudem müssen sie die Bereitschaft entwickeln, sich in fremde Lebens- und Denkweisen einzufühlen. Das heißt, dass im inklusiven Fremdsprachenunterricht im Hinblick auf literarische Texte nicht zielgleich unterrichtet werden muss. Stattdessen besteht die Möglichkeit, individuelle Schwerpunkte zu setzen und z.B. entweder die Entwicklung von motivationalen und attitudinalen Teilkompetenzen oder aber die Förderung von ästhetischen und kognitiven Teilkompetenzen stärker in den Blick zu nehmen. Der Text ist dabei als zu bearbeitender Gegenstand der gemeinsame Bezugspunkt für alle Lernenden. Durch eine entsprechende Themenwahl ermöglicht der inklusive Literaturunterricht fünftens zugleich die inhaltliche Beschäftigung mit dem The- Literatur und handlungsorientierte Zugänge 321 ma ‚Inklusion‘ (vgl. auch Küchler/ Roters 2014, 237). Neben der Erschließung multikultureller Vielfalt über literarische Texte, wie sie zur interkulturellen Kompetenzförderung schon seit vielen Jahren durchgeführt wird (vgl. speziell für den inklusiven Fremdsprachenunterricht Dreyer 2013), können die Schüler*innen sich im Literaturunterricht auch bewusst mit dem Thema ,Behinderung‘ oder mit Diversität im Hinblick auf Gender und sexuelle Orientierung beschäftigen (vgl. Thaler 2012 und Caspari 2012 bzw. König 2015). Schon für den Englischunterricht erschlossene Erzählungen wie The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (2003) und The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian (2007) oder ganz aktuell El Deafo (2014) und Tomboy (2014), graphic narratives über ein hörbeeinträchtigtes Kind bzw. ein Kind, das mit gesellschaftlichen Gendervorstellungen kämpft, können verdeutlichen, dass es beim Thema Diversität „eben nicht darum geht, einem normativen Erwartungssystem zu entsprechen“ (Küchler/ Roters 2014, 243). Über das Einfühlen in literarische Figuren, Aushandlungsprozesse über den literarischen Text sowie das Aushalten anderer Lesarten und Einstellungen werden interkulturelle sowie soziale und personale Kompetenzen entwickelt, die für alle unterrichtlichen Lernprozesse im inklusiven Klassenzimmer von Relevanz sind. Stereotype von ‚Anderssein‘ sollten bei der Beschäftigung mit literarischen Texten jedoch nicht verstärkt oder individuelle Darstellungen etwa als Ausdruck allgemeingültiger Wahrheiten betrachtet werden. Wie auch Kumashiro (2000, 34) fordert, müssen Lernende im Unterricht für die Perspektivengebundenheit jedes literarischen Textes sensibilisiert werden: „Students need to learn that what is being learned can never tell the whole story, that there is always more to be sought out, and in particular, that there is always diversity in a group, and that one story, lesson, or voice can never be representative at all.“ (ebda) Ein weiteres bereits etabliertes Verfahren, das einen inklusiven Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen und den Literaturunterricht im Speziellen methodisch unterstützen kann, ist die Projektarbeit. Während ein adaptiver Unterricht durch die Diagnose von Differenzen und die Entwicklung entsprechender Aufgaben, Materialien und individueller Hilfen nach Trautmann (2010, 4f.) eine „Differenzierung von oben“ darstellt, ermöglicht die Projektarbeit ebenso wie andere offenere Methodenkonzepte durch das eigenverantwortliche Arbeiten der Schüler*innen und die vorrangig moderierende Rolle der Lehrkraft eine „Differenzierung von unten“ (ebda). Grundidee der Projektmethode im inklusiven Unterricht ist, dass arbeitsteilig und gemeinsam an einem Gegenstand auf ein bedeutsames Ziel und/ oder die Erstellung eines Produkts hingearbeitet wird (vgl. Feuser 2013), jeder gemäß den eigenen Interessen und dem eigenen Können etwas zum Gelin- Carola Surkamp 322 gen der gemeinsamen Aufgabe beiträgt und auf diese Weise alle Lernenden involviert sind (vgl. auch Schneider 2013, 44). Projektarbeit kann fruchtbar mit dem aufgabenorientierten Lernen verbunden werden. Doert/ Nold (2016, 30) skizzieren als praktisches Beispiel für den inklusiven Literaturunterricht die Produktion eines Hörspiels zu einer Kurzgeschichte. Während Einstieg und Abschluss der Projektarbeit in Form einer prebzw. post-task gemeinsam erfolgen, handeln die Lernenden die Aufgabenverteilung für die eigentliche task, also die Produktion des Hörspiels, für die es Sprecher*innen, Verantwortliche für das Einspielen von Musik und Geräuschen sowie Regisseure für die Tonaufnahme insgesamt bedarf, gemäß ihren individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten und Interessen eigenständig aus. So tragen alle zur Produktentstehung bei und lernen auf unterschiedliche Weise am selben Gegenstand. Ähnliche Formen der Projektarbeit sind für die gemeinsame Inszenierung eines Theaterstückes oder für das Drehen eines Films zu einer literarischen Vorlage denkbar. Ziegenfuß (2014, 8) fasst das Potential einer inklusiven Filmbildung, das analog für den fremdsprachlichen Literaturunterricht formuliert werden kann, folgendermaßen zusammen: Inklusive Filmbildung bietet jedem/ r Schüler/ in einer heterogenen Lerngruppe Raum, eigene Fähigkeiten sowie Fertigkeiten zu erkennen und zu entwickeln. [...] Die Heranwachsenden entdecken im Lernen mit und über Film neue Ausdrucksformen, ihr Selbstbewusstsein wird durch kreatives Filmschaffen gestärkt, Erfolgserlebnisse werden initiiert. Ebenso werden Zuversicht in das eigene Handeln vermittelt und die soziale Kommunikation sowie die Interaktion innerhalb der Gruppe qualitativ gestärkt. Literatur Albers, Carsten (2014): „Englisch an der Förderschule. Literaturdidaktische Perspektiven“. In: Bartosch, Roman/ Rohde, Andreas (Hrsg.), 147-156. Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. 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Das Gymnasium lehnte ab - man konnte sich nicht vorstellen, ein geistig behindertes Kind zu unterrichten. Die Eltern wiederum bestanden auf der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland bereits 2009 unterschrieben hatte und nach der u.a. kein Kind vom Unterricht einer Regelschule ausgeschlossen werden sollte (Unesco 2005). Die daraus entstandene öffentliche Diskussion stand unter dem Begriff „Inklusion“ und zeigte deutlich, dass der Begriff im öffentlichen Diskurs eher problembehaftet ist. Außerdem ist Henri ein typisches Beispiel dafür, wie der Begriff der Inklusion häufig auf die Einbeziehung von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf fokussiert und andere Aspekte von Heterogenität unbeachtet lässt. Im Folgenden sollen zunächst die Begriffe „Heterogenität“ und „Inklusion“ aus bildungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Sicht beleuchtet werden. Beide Begriffe sind präsent sowohl im öffentlichen als auch im bildungswissenschaftlichen bzw. fremdsprachendidaktischen Diskurs, wobei sich anmerken lässt, dass im öffentlichen Diskurs der Terminus „Heterogenität“ tendenziell eine negative Konnotation hat. Auch in fachlichen Diskussionen ist dies bisweilen der Fall, in jedem Fall scheinen interindividuell unterschiedliche Assoziationen damit verbunden zu sein. Der Begriff der Diversität scheint eher positiv konnotiert zu sein und meint das Nutzen des Potenzials an vorhandener Vielfalt (Mahadevan 2015). An dieser Stelle sollen jedoch die Begriffe „Heterogenität“ und „Inklusion“ im Vordergrund stehen. Inklusion und Heterogenität im Englischunterricht der Sekundarstufe 327 Der Begriff „Inklusion“ bzw. das englische Pendant „inclusive education“ ist selbst in Fachkreisen nicht eindeutig, denn der Adressatenkreis von inklusiver Bildung ist umstritten (Kiuppis 2014, Lindmeier/ Lütje-Klose 2015), was sich auch in der öffentlichen Diskussion widerspiegelt. Entweder wird Inklusion ausschließlich bezogen auf die Kategorie „Behinderung“, und entsprechend wird die Aufgabe inklusiver Bildung bezogen auf die Zielgruppe der Behinderten interpretiert. Dem entgegengesetzt ist die Lesart von Behinderung als einem Merkmal von vielen bezogen auf die Personengruppe bzw. deren Merkmalen, auf die sich der Begriff bezieht. Als Folge wird inklusive Bildung als allgemeine pädagogisch-didaktische und nicht nur sonderpädagogische Aufgabe verstanden. Entsprechend der zweiten Lesart, der ich mich anschließen möchte, wendet sich Inklusion laut Hinz (2009, 171) der Heterogenität und der Vielfalt von Personen positiv zu, (…) dabei kann es um unterschiedliche Fähigkeiten, Geschlechterrollen, ethnische Herkünfte, Nationalitäten, Erstsprachen, Rassen, soziale Milieus, Religionen und weltanschauliche Orientierungen, körperliche Bedingungen oder anderes mehr gehen. Charakteristisch ist dabei, dass Inklusion sich gegen dichotome Vorstellungen wendet, die jeweils zwei Kategorien konstruieren, bspw. Behinderte und Nichtbehinderte. Ziel eines inklusiven Bildungssystems aus bildungswissenschaftlicher Sicht ist demnach die Maximierung der Partizipation und die Minimierung von Ausgrenzung sowie konkret die Berücksichtigung unterschiedlicher Bildungsbedürfnisse einer Lerngruppe (z.B. Sturm 2013, Werning/ Lütje-Klose 2012). Dies deckt sich mit der fremdsprachendidaktischen Sichtweise, die den Begriff als über den der Behinderung hinausgehend versteht. Rohde (2014, 9) definiert inklusives Englischlernen demnach als „nicht auf Schülerinnen und mit sonderpädagogischem Förderbedarf [reduziert], sondern [es] schließt Heterogenität in jeder Hinsicht ein“. In diesem Beitrag soll es vornehmlich um Heterogenität im Fremdsprachenunterricht gehen. Neben der Alltagsdefinition von Heterogenität als der Unterschiedlichkeit von Elementen, im schulischen Kontext von Mitgliedern einer Lerngruppe, gibt es keine umfassende oder konsensuelle Definition des Begriffs. Im allgemeinpädagogischen Kontext wird häufig mit Merkmalslisten gearbeitet, was jedoch den Nachteil hat, dass diese unvollständig sind oder im anderen Falle unübersichtlich werden. Trautmann und Wischer (2011, 39) bestimmen die Charakteristika des Begriffes bezogen auf den schulischen Kontext. Demnach ist Heterogenität immer gruppenbezogen, z.B. in Bezug auf eine Schulklasse. Es wird unter diesem Begriff eine Bündelung von gemeinsamen Merkmalen mit unterschiedlichen Ausprägungen (z.B. muslimisch) gefasst und darüber hinaus sind diese Merkmale von außen, etwa Karin Vogt 328 durch Beobachtung, attribuierte Konstrukte, die zudem nicht zeitlich und räumlich überdauernd sind. Trautmann und Wischer (2011, 40) beschreiben Heterogenität zusammenfassend als „ein in historischer, theoretischer und empirischer Hinsicht relatives Konstrukt, das in engem Zusammenhang zu weiteren Begriffen wie Homogenität, Einheit und Differenz/ Unterschiedlichkeit, Vielfalt, Ungleichkeit steht“. Meist sind diese Begriffszusammenhänge tendenziell Begriffspaare wie Einheit/ Vielfalt, was eine Begriffsdefinition nicht einfacher macht. Daher wird häufig auf Dimensionen von Heterogenität als Beschreibungselemente zurückgegriffen. Dimensionen von Heterogenität können eine hilfreiche Kategorie für die Analyse der unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen sein, die innerhalb einer bestimmten Lerngruppe vorherrschen und bei der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden sollten. Typischerweise genannte Dimensionen von Heterogenität z.B. nach Ainscow (2008) umfassen Geschlecht, Ethnizität, Ability, soziales Milieu. Nicht alle sind dabei relevant für die Schule und den Fremdsprachenunterricht. Sowohl in der allgemeindidaktischen als auch in der fachdidaktischen Diskussion ist jedoch eine Verengung auf Leistung als dominante Heterogenitätsdimension zu verzeichnen (Benkmann/ Chilla 2013, Schäfer/ Thompson 2015, Strohn 2015, Trautmann 2010). In dieser Kategorie werden jedoch häufig verschiedene Faktoren wie etwa Motivation, soziales Milieu oder kognitive Leistungsfähigkeit unspezifisch zusammengefasst (Baumert et al. 2001). Zur Erklärung dieses Phänomens aus fremdsprachendidaktischer Sicht könnte mit Trautmann (2010) angeführt werden, dass der Fokus in der Fremdsprachendidaktik eher auf dem Lernen (bzw. den allgemeinen Spracherwerbsprozessen) lag und weniger auf dem Lernenden als Individuum. Mit dem Hinweis auf die vielfältigen Bereiche der Fremdsprachendidaktik, die individuelle Merkmale sehr wohl in den Blick nehmen, erscheint mir Doerts und Nolds (2015) Erklärung plausibler, die das Konstrukt der Lernschwäche, das in den 1970er und 1980er Jahren eine Rolle in der Fremdsprachendidatik spielte (Krohn 1981, Rautenhaus 1978, Schmid-Schönbein 1983), mit dem Begriff der Heterogenität verbinden. Für die fremdsprachendidaktische Diskussion merken Küchler und Roters (2014) an, dass zwar sprachbezogene Herausforderungen individueller Förderung wie z.B. Lese-Rechtschreibschwäche dominieren. Sie vermissen allerdings ein verbindendes didaktisches Prinzip zwischen den Heterogenitätsdimensionen. Dies ist übrigens auch für die allgemeindidaktische Diskussion zu verzeichnen. Für die konkret drängenden Fragen der Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts in heterogenen Lerngruppen, zu deren Bewältigung es u.a. notwendig ist, dass sich Lehrkräfte darin kompetent fühlen (Strohn 2015, Räder 2017), ist ein zweischrittiges Verfahren hilfeich. Zunächst muss eine Analyse Inklusion und Heterogenität im Englischunterricht der Sekundarstufe 329 der heterogenen Lernausgangslagen erfolgen. Ausgehend von den Lernenden sollte ein diagnostischer Blick auf die eigene Lerngruppe entwickelt werden, der nicht dazu dienen soll, mittels Heterogenitätsdimensionen eine illusorische Homogenität in der Lerngruppe herstellen zu wollen. Vielmehr soll nachvollzogen werden, welche Informationen für die konkrete Unterrichtsgestaltung in dieser konkreten Lerngruppe tatsächlich relevant sind. Im zweiten Schritt sollen ganz konkret die Möglichkeiten des individualisierenden und differenzierenden Unterrichtens auf der Grundlage der Lernergruppenanalyse für den speziellen Unterrichtskontext ausgeschöpft werden. Hierfür scheint die Synthese des fremdsprachendidaktischen Tasksupported language learning-Ansatzes (Müller-Hartmann/ Schocker-von Ditfurth 2011) und dem aus der inklusiven Didaktik stammenden Ansatz des Lernens am Gemeinsamen Gegenstand (Feuser 1998, 2011), der bereits von Bartosch und Köpfer 2015 aufgegriffen und von Chilla und Vogt (2017) weiterentwickelt wurde, ein vielversprechender theoretischer Ansatz. 2 Ein theoretischer Ansatz für inklusiven Fremdsprachenunterricht Manche Lehrkräfte empfinden den Englischuntericht in heterogenen Lerngruppen als Belastung bis Zumutung. Sie fühlen sich überfordert, weil sie meinen, sie müssten für völlig individualisierte Unterrichtsarrangements für jede/ n einzelne/ n Lerner/ in sorgen (mehr zur Terminologie von Individualisierung und Differenzierung in Chilla und Vogt 2017). Dabei können bestehende fremdsprachendidaktische Ansätze positiv genutzt und weiterentwickelt werden. Der kommunikative Ansatz der Aufgabenorientierung (Taskbased Language Learning) eignet sich hierzu. Van den Branden (2006, 1) definiert Task-based Language Learning als „[a]n approach to language education in which students are given functional tasks that invite them to focus primarily on meaning exchange and to use language for real-world, nonlinguistic purposes”. Müller-Hartmann, Schocker und Pant (2013) definieren für den deutschsprachigen Kontext Aufgaben als „zunächst ganz allgemein Arbeitspläne (task as workplan), von denen erwartet wird, dass Schüler/ innen durch deren Bearbeitung die angestrebte fremdsprachige Diskursfähigkeit entwickeln, die sie zur mündigen Teilhabe an der Gesellschaft als übergeordnetem Bildungsziel befähigt“. Task-supported language learning (Müller-Hartmann/ Schocker-von Ditfurth 2011) basiert auf dem Einbezug eines Lehrwerks, was insbesondere im Kontext der Sekundarstufe I wichtig ist, um die es hier vornehmlich gehen soll. Aufgaben sind charakteristischerweise offen, was Flexibilität für die Unterrichtsplanung erfordert, aber auch Freiräume schafft. Sie sind holistisch, was die Fokussierung auf unterschiedliche Aspekte innerhalb einer Aufgabe Karin Vogt 330 ermöglicht und somit die Möglichkeit der Adaptierung für unterschiedliche Lerner(gruppen). Die Betonung eines non-linguistic outcome setzt ebenfalls Möglichkeiten frei für die flexible Planung von Unteraufgaben, die für die Lernergruppe adaptiert werden können. Das differenzierende Potenzial von TSLL liegt also in der task as workplan, die unterschiedliche Lernwege, Ergebnisse, Sozialformen und Bearbeitungswege ermöglicht. Feusers allgemeindidaktischer Ansatz des Lernens am Gemeinsamen Gegenstand (GG) geht in eine ähnliche Richtung. Der Gemeinsame Gegenstand steht im Vordergrund, an dem alle Lernenden in Kooperation miteinander arbeiten, und zwar auf der Grundlage ihrer derzeitigen Kompetenzen und auf der Basis ihres momentanen Entwicklungsniveaus. Der Gemeinsame Gegenstand muss die Möglichkeiten zur Entwicklung für alle Lernenden bieten und sowohl sinnlich-konkrete Erfahrungen als auch abstrakt-logiche Operationen einschließen (Feuser 2011, 95). Wenn Lernende im Fremdsprachenunterricht an einer Aufgabe als Gemeinsamem Gegenstand arbeiten, bedeutet das, dass die Gestaltung der Aufgabe seitens der Lehrkraft, also zum Beispiel an einer Vorstellung des Lieblingsorts, möglichst vielen Lernenden ermöglichen muss, ihre fremdsprachlichen Kompetenzen auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau einzubringen und die Aufgabe damit helfen zu erfüllen. Der Vorteil des Ansatzes für den Fremdsprachenunterricht besteht darin, dass durch die Aufgabe als Gemeinsamer Gegenstand zwar differenziert gearbeitet werden kann, aber dennoch die Lehrkraft den Überblick über den Unterichtsfortgang behalten kann, weil der Unterricht nicht in unterschiedliche Handlungsstränge zerfasert. Die Wichtigkeit der Kooperation an einem Unterrichtsgegenstand mit ihrer integrierenden und gemeinschaftsstiftenden Wirkung wird in der allgemeindidaktischen Diskussion über inklusive Lernarrangements betont (bspw. Feuser 1995, Wocken 1998). Der Aufwand für die Lehrkraft hält sich trotz der differenzierenden Vorgehensweise in vertretbaren Grenzen. Inklusion und Heterogenität im Englischunterricht der Sekundarstufe 331 Abb. 1: Zusammenführung von Task-supported language learning und Lernen am Gemeinsamen Gegenstand (Chilla und Vogt, 2017) In dieser Darstellung wird der gemeinsame Gegenstand als Ausgangs- und Endpunkt der Unterrichtsplanung gefasst. Auf der linken Seite der Grafik befinden sich beispielhaft die Dimensionen Entwicklungsniveau, Sprach(en)erfahrungen, individueller Lernweg, (Vor-)Erfahrungen des Lernens durch Kooperation, die für die konkrete Unterrichtsplanung in dieser Lerngruppe relevant sind. Diese werden für die Unterrichtsplanung als „Analysekategorien“, d.h. als wichtige für die Entwicklung des aufgabenorientierten Unterrichts relevante Einflussfaktoren formuliert, die es bei der Unterrichtsplanung systematisch zu erheben gilt. Weitere Dimensionen können je nach Lerngruppe, Situation etc. hinzukommen. Mögliche operationalisierbare Dimensionen dieser Analysekategorien finden sich in der Grafik auf der rechten Seite der Pfeile. Sie stellen keine ausschließliche Liste dar, sondern können je nach Lerngruppe individuell angepasst, reduziert oder erweitert werden. Auf der Basis dieser Überlegungen kann dann eine Lehrkraft im nächsten Schritt die Unterrichtsentscheidungen zum individualisierenden und differenzierenden Fremdsprachenunterricht treffen. Die Aufgabe zu „My Karin Vogt 332 favourite place“ wäre, den eigenen Lieblingsort zu präsentieren. Dies kann auf unterschiedlichen Bearbeitungswegen, z.B. in Form einer Präsentation, der Aufnahme einer Audiodatei, der Gestaltung eines Posters für einen gallery walk oder der Anfertigung eines Comics schriftlich, mündlich, visuell oder multimodal erfolgen, allein, in der Gruppe oder im Zweierteam (Sozialformen) und mit unterschiedlichen Ergebnissen (Powerpoint, Film, Audiodatei, Poster). Sinnlich-konkrete Entwicklungsnivaustufen können z.B. mittels einer feely bag von haptischen Eindrücken des Lieblingsplatzes als Teil der (Gruppen-)Präsentation ebenso berücksichtigt werden wie die formallogische Stufe etwa in Form einer linearen Powerpoint-Präsentation. Eine empirische Überprüfung des Modells steht zu diesem Zeitpunkt noch aus und stellt gemeinsam mit anderen Punkten ein Forschungsdesiderat dar. Im Folgenden soll es um die Identifizierung von Forschungsbedarfen im Bereich Heterogenität und Inklusion gehen. 3 Forschungsdesiderate für einen inklusiven Fremdsprachenunterricht Es gibt, was die fremdsprachendidaktische Perspektive von Inklusion angeht, noch erheblichen Forschungsbedarf. Neben einer gründlichen Konzeptualisierung der Begriffe bezogen auf den Fremdsprachenunterricht sind Einblicke nötig in die Kognitionen von Lehrkräften zu Inklusion im Fremdsprachenunterricht, da die Lehrkräfte die Arbeit umsetzen und ein positiver bzw. zuversichtlicher Blick auf den Themenkomplex eine Gelingensbedingung von Inklusion zu sein scheint (Strohn 2015). Weitere Forschungsbereiche, über die wir noch zu wenige empirisch gesicherte Daten haben, umfassen die Diagnosekompetenz von Lehrkräften im Fremdsprachenunterricht, die wiederum die Basis sind für notwendige effiziente Unterstützungssysteme sowohl für die Lernenden als auch auf der Seite der Lehrenden. Über deren Wirksamkeit ist auf beiden Seiten bezogen auf den Fremdsprachenunterricht noch zu wenig bekannt. Als ein Unterstützungssystem für die Seite der Lehrenden wird u.a. die Arbeit in multiprofessionellen Teams gesehen. Wie kann die Rolle von medizinischem Personal, Sozialarbeiter/ innen oder Lernbegleiter/ innen beschrieben und im Zusammenspiel mit den Fachlehrkräften analysiert werden? Werden diese Personen als Entlastung oder zusätzliche Belastung seitens der Fremdsprachenlehrkraft gesehen? Wie gestaltet sich die Kommunikation bzw. wie sind die Kommunikationswege insbesondere bei stundenweiser Zuweisung etwa von Sonderpädagog/ innen? Wenn Lehrkräfte sich allein heterogenen Lerngruppen gegenüber sehen, welche Strategien verwenden erfolgreiche Lehrkräfte im Umgang mit Hete- Inklusion und Heterogenität im Englischunterricht der Sekundarstufe 333 rogenität, welche funktionieren besonders gut im Fremdsprachenunterricht? Daraus entwickelnd sollten für den Theorie-Praxis-Transfer, der hier dringend benötigt wird, best practice Beispiele abgeleitet werden, insbesondere für den oben erwähnten Ansatz. Auch notwendige Veränderungen in der Lehrerausbildung sind zu thematisieren. Die Themen fokussieren bisher nur Lehrkräfte. Die Perspektive der Lernenden ist von immenser Bedeutung, kann hier jedoch nicht im Detail angesprochen werden. Schließlich müssen nicht nur Lehr- Lernprozesse in heterogenen Gruppen im Fremdsprachenunterricht in den Blick genommen werden, sondern auch die Beurteilung der Lernprozesse sowie der Ergebnisse muss insbesondere im zieldifferenten Fremdsprachenunterricht anders gestaltet werden (Biederstädt 2016). Hierfür sind Einblicke notwendig in den Bereich differenzierte Leistungsbeurteilung, der einhergeht mit dem Spannungsfeld von Individualisierung als didaktisches Prinzip und Standardorientierung. Für die fremdsprachendidaktische Forschung besteht die Notwendigkeit, sich deutlicher als bisher im Themenbereich zu positionieren. Doch bei allen Einblicken theoretischer und empirischer Natur sind für die erfolgreiche und konstruktive Berücksichtigung von Heterogenitätsdimensionen im Fremdsprachenunterricht auf unterschiedlichen Ebenen Voraussetzungen zu erfüllen. Der Wille und die Bereitschaft, sich auf heterogene Lerngruppen im Fremdsprachenunterricht einzulassen und sie als bereichernd bzw. nicht per se als belastend zu empfinden, ist eine Voraussetzung eher ideeller Art, die jedoch sehr bedeutsam ist, nicht nur seitens der Lehrkräfte. Die notwendige Expertise z.B. in Form von multiprofessionellen Teams muss in der Schule vor Ort sein, und zwar in der Fläche, so dass die inhaltlichen Voraussetzungen erfüllt sind. In Hinblick auf organisatorische Voraussetzungen muss dafür die Infrastruktur, ebenfalls in der Fläche, vorhanden sein. Dies betrifft u.a. die räumliche und personelle Ausstattung. Und schließlich müssen Voraussetzungen auf systemischer Ebene angegangen werden, was etwa die Frage der Schularten in einem gegliederten Schulsystem anbelangt. Für viele dieser Voraussetzungen reicht fremdsprachendidaktische Forschung bei weitem nicht aus, sondern hier sind bildungspolitische Entscheidungen zugunsten von Heterogenität, Inklusion und Diversität im Fremdsprachenunterricht für alle gefragt. Literatur Ainscow, Mel (2008): „Teaching for diversity. The next big challenge“. In: Connelly, F. Michael/ Fang He, Ming/ Phillion, JoAnn (Hrsg.), 240-258. Karin Vogt 334 Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrle (Hrsg.) (2014): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Bartosch, Roman/ Köpfer, Andreas (2015): „Stadtnatur als Gemeinsamer Gegenstand im inklusiven Englischunterricht - Spannungsfelder und Möglichkeiten in der didaktischen Fachdiskussion“. 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Die mit den obigen Begriffen indizierten Unterschiede in den Voraussetzungen oder Ausstattungen von Schülerinnen und Schülern, in ihren Wissens- und Könnensbedingungen, die sich auf ihre persönliche und schulische Biographie sowie auf ihre psychischen wie kognitiven Entwicklung beziehen, greifen im Laufe der schulischen Laufbahn zunehmend mehr. Dies ist vor allem der Fall, wenn inhaltlich-fachlicher Anspruch, Lerntempo, Komplexität von Aufgabenstellung und Anforderungen an deren Verarbeitung sich steigern, so dass der Zusammenhalt einer Lerngruppe oder eines Klassenverbands im Sinne einer gleichberechtigten Förderung der verschiedenen Lernausprägungen bzw. deren „Integration“ ansteht und ein entsprechend didaktisch-methodisches Repertoire an Maßnahmen erfordert. Interessant ist, dass Benachteiligungen im Hinblick auf das Merkmal Herkunftssprache/ Deutsch als Zweitsprache für das Fremdsprachenlernen offenbar weniger relevant ist: so konnten bei Schülerinnen und Schülern mit deutlich diversifizierten migrationsbedingten Lernvoraussetzungen bis in die Klassen 9 und 10 hinein vergleichbare Englischleistungen festgestellt werden, in manchen Teilbereichen zeigte sich sogar eine leicht überlegene Performanz dieser Lernenden gegenüber den „Regel“schülern (siehe Auszüge aus den Forschungsergebnissen des DESI-Projekts 2008) 1 1 Diese Befunde sind allerdings in neueren Studien wieder relativiert worden: vgl. Wilden/ Porsch 2015; Hopp et al. 2017. . Vielleicht ist dieser Befund einer der Gründe dafür, warum sich viele fremdsprachlich Lehrende, besondere Lehrende für Englisch als „erster“ Schulfremdsprache, zumindest subjektiv weniger betroffen fühlen von den vielfältigen Unter- Helmut Johannes Vollmer 338 schieden in ihrer heterogenen Klientel. Denn diese Unterschiede schlagen offenbar nicht so stark oder so schnell durch - im Gegenteil könnten sie zur Entwicklung oder Bestärkung von Mehrsprachigkeit genutzt werden, obwohl dies realiter viel zu selten geschieht und kaum produktiv genutzt wird. Hier muss noch einmal genauer auf die Bedeutungsunterschiede zwischen den genannten Begriffen eingegangen werden; sie nähern sich auf unterschiedliche Weise der Subjektivität der Lernenden und der unterrichtlichen Lehr-/ Lern-Realität an: Während ‚Heterogenität‘ stärker auf mehr oder minder oberflächliche oder allgemeine Weise Unterschiede in den Schülermerkmalen anspricht, spiegelt der Begriff ‚Diversität‘ eher grundlegendere Differenzen in den Lernvoraussetzungen oder den Lernprozessen der betroffenen Schüler und Schülerinnen wider, die zwingend ein differenziertes Vorgehen und Eingehen auf die so identifizierten Lerngruppen erfordern, um jeweils für sie zu bestmöglichen Leistungen und Abschlüssen zu kommen. Häufig aber werden beide Begriffe als weitgehend synonym verwendet oder gar betrachtet, was nicht als gerechtfertigt erscheint. Der Diversitätsbegriff ist dem der Heterogenität deutlich vorzuziehen, denn er umschließt die ganze Bandbreite der Unterschiede zwischen Menschen: Diversität zeigt sich z.B. in den Dimensionen Alter, Gender, ethnische Herkunft, sozioökonomischer Hintergrund, kulturelle und religiöse Orientierungen, sexuelle Orientierungen sowie physische und kognitive Fähigkeiten unter Einschluss besonderer Begabungen und Talente (vgl. dazu Krell/ - Riedmüller/ Sieben/ Vinz, 2007; auch HRK/ KMK, 2015). Die Unterschiedlichkeit in diesen Dimensionen wiederum kann sich auswirken auf fachbezogene Dispositionen, Einstellungen, Interessen, Fähigkeiten, Lernstile und damit nicht zuletzt auf die Qualität von Vorwissen, auf die Interaktion miteinander sowie auf die Entwicklung fachbezogener Kompetenzen und Performanzen (s. Bohl/ Bönsch/ Trautmann/ Wischer, 2012). Vereinfachte Zuweisungen auf der Basis einzelner, isoliert betrachteter Diversitätsdimensionen verbieten sich von selbst, sie würden zu erheblichen Verzerrungen in der Wahrnehmung führen und didaktisch nicht angemessen sein. In diesem Zusammenhang kann das Konzept der ‚Integration‘ dann helfen, und zwar im Hinblick auf einen allgemein differenzierenden ‚integrativen‘ Fachunterricht, der sich weitgehend auf die pragmatische, bestmögliche Berücksichtigung verschiedener Diversitätsdimensionen in Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung bezieht - diese haben jedoch mit der Präsenz dramatischer Unterschiede wie körperlichen Einschränkungen oder gar Behinderung bzw. mit geistiger Retardierung oder mit Entwicklungsstörungen einzelner Schüler und Schülerinnen innerhalb ein- und desselben Klassenraums noch nichts zu tun. Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? 339 In dem Moment aber, wo solche Differenzdimensionen, bedingt durch eine inklusive Bildungspolitik, leibhaftig im Klassenzimmer auftauchen und von Lehrerseite bewusst gemanagt werden müssen, sprechen wir zu Recht von „Inklusion“ bzw. von inklusivem (Fremdsprachen-)Unterricht, wobei die integrativen Problemstellungen und Ansätze weiter fortbestehen. Inklusion aber stellt qualitativ andersartige, je besondere Herausforderungen bisher nicht gekannter Art: es erfordert auf Lehrerseite den Aufbau von erweitertem Wissen, das es in den eigenen Planungen und Handlungen zu antizipieren gilt. Inklusion erfordert also den Blick von den lernenden Subjekten (in ihren jeweiligen Voraussetzungen wie Stärken/ Schwächen/ Nachholbedarfen usw.) hin zu den Anforderungen an das Lehren: dieses sollte so beschaffen sein, dass sich keine Schülerin/ kein Schüler (gleich welcher Disposition) als benachteiligt, als diskriminiert oder gar als exkludiert fühlt bzw. erlebt, sondern vielmehr als gleichermaßen angesprochen und unterrichtlich herausgefordert (eben inkludiert) sieht und auf diese Weise zu ihren/ seinen möglichst besten, optimalen Leistungen gelangen kann. Beides lässt sich nach subjektiven wie objektiven Kriterien überprüfen. Insofern ist der Inklusionsbegriff stärker handlungsbezogen als die reine Konstatierung von Heterogenität oder Diversität. Tatsächlich spiegelt er zugleich ein philosophisches wie soziales Grundprinzip wider, das die Würde und die Gleichheit von Menschen betrifft und das Recht bzw. den moralischen Anspruch aller auf eine qualitativ hochwertige, effektive Grundbildung zum Ausdruck bringt. Darüber lässt sich innerhalb einer Gesellschaft, die sich als demokratisch versteht, kaum streiten. Strittig ist nur, wie dieses Menschenrecht am besten eingelöst werden kann, wie die gesellschaftlich gesetzten fachlichen und erzieherischen Ziele, zu denen unabdingbar Fachwissen und fachliche Diskursbefähigung gehören, für alle zu erreichen sind. Damit sind also nicht nur pädagogisch-psychologische Problemstellungen angesprochen, sondern immer auch Fragen der Relevanz des fachlichen Lernens oder fachübergreifender Bildungsaspekte: Was kann und sollte von allen unabdingbar gelernt und verstanden werden, wie bringe ich einzelne Schüler(gruppen) ans Ziel? Wie kann ich die eigene didaktische Praxis selbstkritisch reflektieren und diese sukzessive verbessern (im Sinne des Experimentierens, der Erprobung neuer Lehr-/ Lernverfahren, der Ausweitung eines angemessenen Scaffolding und der immer wieder neuen Annäherung an gelingendes schulisches Lernen für alle Beteiligten)? Der gesamtgesellschaftliche bzw. bildungspolitische Wunsch nach Einbeziehung aller Diversitätsdimensionen bis hin zur Entwicklung von inklusiven didaktischen Gesamtperspektiven ist die neue Bedingung, der sich alle Fächer und somit auch die Fremdsprachendidaktik stellen müssen (der man sich aber auch - unter Verzicht auf eigene Einflussnahme kritisch verweigern kann). Helmut Johannes Vollmer 340 Im letzteren Fall würde man allerdings als Fach auf Verantwortungsübernahme verzichten - ganz zu schweigen von der Möglichkeit einer (auch finanziell geförderten) Mitgestaltung zukünftiger, eben ‚inklusiver‘ unterrichtlicher Realität. Die Entwicklung einer solchen inklusiven didaktischen (Gesamt-)Perspektive in Schule wie innerhalb einzelner Fächer erfordert viel Zeit und Anstrengungen sowie die Entwicklung weiterer Kompetenzen sowohl in der Grundlagenforschung wie in der begleitenden (Handlungs-)Forschung als auch in der unterrichtlichen Praxis selbst. Darauf ist zu insistieren gegenüber der Zumutung schneller Entwürfe und Veränderungen, gegenüber der Bildungsadministrationund insbesondere gegenüber dem Wahnwitz kostenneutraler ‚Reformerwartungen‘. Ohne Zweifel hat sich mit der Forderung nach Inklusion eine erhebliche Dynamisierung, ja Radikalisierung in der Erörterung didaktischer, ethischer wie rechtlicher Zielsetzungen ergeben, in der öffentlichen Diskussion ebenso wie in den fachdidaktischen Auseinandersetzungen. Denn es geht nicht nur, wie angedeutet, um eine besondere Erweiterung der Diversitätsdimensionen, sondern um eine neuartige qualitative Gestaltung des fachlichen Lehrens und Lernens und um unser Verständnis davon, wie wir mit solchen Herausforderungen fundamentaler Art für das Zusammenleben und das gemeinsame Lernen aller unter einem Dach umgehen können. 2 Inklusive, diversitätssensible Fremdsprachendidaktik? Es dürfte deutlich geworden sein, dass wir Inklusion nicht ausschließlich als die formale Integration von Menschen mit Behinderung aller Art begreifen dürfen (wie es der Titel der UN Konvention von 2006 suggeriert), sondern als Prozess „of addressing and responding to the diversity of needs of all learners through increasing participation in learning, cultures and communities, and reducing exclusion within and from education. It involves changes and modifications in content, approaches, structures and strategies, with a common vision which covers all children of the appropriate age range and a conviction that it is the responsibility of the regular system to educate all children” (so die UNESCO bereits 2005, 13). Für die im Zitat angesprochenen Veränderungen bezüglich der Inhalte, Ansätze, Strukturierungen und Strategien ist zum einen die Schule als Gesamtsystem verantwortlich, andererseits aber vor allem die Fachdidaktiken. Als Mitautor des GFD- Positionspapiers „zum inklusiven Unterricht unter fachdidaktischer Perspektive“ (2015) ist es meine feste Überzeugung, dass wir uns als zuständiger Ansprechpartner sowie als Koordinationsinstanz (etwa gegenüber Sonderpädagogik oder Erziehungswissenschaft allgemein, aber auch gegenüber Eltern) profilieren und der bundesrepublikanischen Bildungswie For- Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? 341 schungspolitik unsere Expertise anbieten müssen. Unsere Aufgabe besteht in nichts Weniger als darin, „fachspezifische Lehr- und Lernprozesse zu erforschen und zu gestalten, die die Vielfalt der Lernenden anerkennt und konstruktiv nutzt“ (GFD 2015, 2) - und das wie bisher und dennoch verstärkt wie qualitativ auch anders. Dabei gibt es schon eine Vielzahl fremdsprachendidaktischer Forschungen, die Differenzen zwischen Schülerinnen und Schülern auf unterschiedliche Weise in den Blick genommen haben, die Lernvoraussetzungen diagnostiziert, fachbezogenes Lernen differentiell beschrieben und individuelle fachbezogene Fördermaßnahmen entwickelt sowie umgesetzt haben (Beispiele z.B. in Bongartz/ Rohde 2015). Ausgehend von solchen bislang vorliegenden Erkenntnissen zu Heterogenität und zu Ansätzen der Integration haben neuere fachdidaktische Forschungen zu inklusiver Praxis daran angeknüpft; sie sind dabei, die Ansprüche inklusiver Bildung in Bezug auf fachliches Lernen etwas mehr zu konkretisieren bzw. auszudifferenzieren (vgl. z.B. Kim/ Hinchey 2013 sowie wiederum Bongartz/ Rohde 2015). Wir befinden uns aber doch noch ziemlich am Anfang. Immerhin wird in Grundzügen erkennbar, wie man auf der Grundlage individueller Fähigkeiten „diversitätssensibel“ unterrichten kann, wie einzelne weiterführende Schritte für das fremdsprachliche Lernen aussehen und wie Formen der Differenzierung (für alle! ) angebahnt werden könn(t)en. 2 Ich selbst bin mit meinen Forschungen im Bereich der sprachlichen Bildung und der Bildungssprache als Aufgabe aller Fächer tätig (vgl. z.B. Vollmer 2013, Vollmer/ Thürmann 2013, Thürmann/ Vollmer 2017). Dazu gehört die Identifizierung von Lernbarrieren für Minderheitenkinder sowie die Förderung von mehrsprachiger Bildung, der Abbau von Benachteiligungen und Misserfolgen sowie die Durchsetzung eines gleichen Rechts auf eine qualitativ hochwertige Ausbildung, was die sprachliche Konsolidierung und Entfaltung in allen Fächern, in jedem Fachunterricht und somit auch beim Fremdsprachenlernen einschließt (Thürmann/ Vollmer/ Pieper 2010; Beacco Als begleitender Forschungstyp bietet sich vor allem fachdidaktische Entwicklungsforschung (Design-Based Research) an, bei der Fachdidaktiker und Praktiker in Bezug auf Fragestellung und Projektdurchführung intensiv miteinander kooperieren und in einer Art iterativem Prozess zur Erprobung und abschließenden Evaluation von unterrichtstauglichen Lehr-/ Lernsequenzen gelangen. 2 Vgl. allgemein dazu Bohl/ Bönsch/ Trautmann/ Wischer 2012. Auch die GFD- Fachtagung zum Thema „Befähigung zu gesellschaftlicher Teilhabe“ und der anschließende Workshoptag zum Thema „Inklusion im Fachunterricht“ machten deutlich, dass der Weg hin zu inklusiven Fachdidaktiken bereits begangen wird (Menthe/ Hötticke/ Zabka/ Hammann/ Rothgangel 2016). Helmut Johannes Vollmer 342 et al. 2015). Dazu gehören aber auch neuere Studien zur Herausarbeitung von Bildungspotentialen, die im Fremdsprachenlernen selbst angelegt sind, aber weit über das Fach hinausweisen (z.B. Vollmer 2017a, 2017b) - bislang ohne engen Bezug auf Inklusion. Ist es also möglich, inklusiven Fachunterricht in der Breite überhaupt zu meistern? Sicherlich nicht ohne die massive Einführung und Aktivierung einer ganzen Anzahl von neuen, zusätzlichen Unterstützungssystemen und Kooperationen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Dies betrifft nicht nur die Qualifizierung und Einstellung von pädagogischem wie fachdidaktischem Hilfspersonal, also Fachkräften zur Unterstützung und Förderung einzelner Lernergruppen, sondern ebenso deren Zusammenarbeit mit den hauptverantwortlich tätigen Fremdsprachenlehrenden. Dies betrifft auch die Entwicklung einer gesamtschulischen Strategie, die von vielen Betroffenen mitgetragen und die (zumindest im Laufe der Zeit) nicht nur als Belastung, sondern auch als Gewinn angesehen und erfahren wird, wenn nicht sogar langfristig als Fortschritt. 3 Doch das mag manch eine/ r bei all den neuen Belastungen sowie den nicht erfolgten Entlastungen z.Z. nur als idealistisch oder gar als zynisch ansehen. 3 Unterstützungssysteme - notwendige Kooperationen Wie bereits angedeutet, müssen die Fachdidaktiken als Wissenschaft, aber auch die Fachlehrenden in der Schule selbst notwendige Kooperationen aufbauen und diese mit neuen (ungewohnten) Partnern eingehen: dazu sind die Problemstellungen zu komplex und bedürfen der kooperativen Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Experten sowie gezielt ausgebildeter Fachleute. Nur so kann das Planen oder das Unterrichten im Team, können Arbeitsteilung und - soweit nötig - das Evaluieren der verschiedenen Maßnahmen als Teamwork ermöglicht werden. Dies sollte behutsam und in kleinen Schritten geschehen, damit sich die Beteiligten dies auch zutrauen, damit niemand überfordert und frühzeitig entmutigt wird: dies sollte zunächst innerhalb eines einzelnen Faches beginnen wie etwa dem Muttersprachen-bzw. dem Schulsprachenunterricht oder aber dem Fremdsprachenunterricht, später auch darüber hinaus, erstreckt auf andere Fächer sowie auf die Schulebene insgesamt. Nur wenn alle an einem Strang ziehen und persönlich wie professionell „mitgenommen“ werden, besteht ange- 3 „Eine potenzialorientierte Zugangsweise verhilft dazu, die Anstrengungen um eine angemessene Gestaltung inklusiver Lehr-Lernarrangements als gemeinsames Ziel aller an schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen Beteiligten zu verstehen“ (GFD 2015, 4). Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? 343 sichts der vielen ungelösten Probleme überhaupt eine Chance auf kleine Erfolge. Eine solche inklusive Unterrichtsentwicklung muss also mit einer entsprechenden Langfristigkeit und Schulsystementwicklung einhergehen (vgl. dazu Index für Inklusion 2003). Ohne die Schaffung förderlicher institutioneller Rahmenbedingungen sowie gewaltiger Neuinvestitionen bleibt Inklusion eine Illusion (Werning 2014). Es geht um nichts weniger als um die fundamentale Erweiterung des Konzepts der Integration in Richtung auf Inklusion (Sliwka 2010), wenn sie denn wirklich (vom Elementarbereich bis zur Sekundarstufe II) gewollt ist. Solcherart Veränderungen in der Schule betreffen ganz zentral die Fachdidaktiken in Forschung und Lehre. Denn sie können annäherungsweise nur gelingen, wenn die zukünftigen Lehrpersonen sowie unterstützendes Hilfspersonal angemessen darauf vorbereitet werden. Deshalb ist auch in der Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenlehrern angesichts der Erfordernisse von Inklusion eine neue Qualität von Austausch zwischen verschiedenen Fächern und Fachgebieten absolut nötig ebenso wie die Erfahrung eines exemplarischen Lernens am eigenen Leibe, schon innerhalb der Hochschule: Inklusives Fremdsprachenlehren erlernen die Studierenden am besten durch eine inklusive Praxis in der Hochschulausbildung selbst. Angehende ebenso wie bereits praktizierende Lehrkräfte müssen dementsprechend mit den entsprechenden Einsichten und theoretischen Konzepten sowie mit konkreten Problemen inklusiven Unterrichts vertraut gemacht werden. Sie sollten innerhalb der beiden Ausbildungsphasen, besonders aber im Referendariat, sensibilisiert werden für inklusive Lerngelegenheiten, die an den Potenzialen der Schülerinnen ansetzen. Aber bereits im Rahmen der universitären Lehre geht es stärker als bisher um eine ausdifferenzierte Darlegung förderlicher wie behindernder schulischer Lehr-/ Lernstrukturen, um das Kennenlernen und die Erörterung geeigneter Lernarrangements in Verbindung mit wichtigen, erreichbaren Lernzielen (Standards) und Lerninhalten. Generell müssen Studierende also lernen, Fachunterricht wirklich adressatenorientiert zu planen und zu gestalten und gemeinsam entsprechende Kriterien für guten, inklusiven Unterricht zu entwickeln. Die Gesellschaft für Fachdidaktik hat in ihrem Positionspapier bereits eine Reihe von Grundannahmen hinsichtlich ihres eigenen Beitrags festgehalten, die auch für die Fremdsprachendidaktik gelten (z.B. Verzicht auf einfache Zuweisungen, stattdessen genaue Beobachtung und Analyse, Erhebung empirischer Daten mit dem Ziel, daraus geeignete Lehr- und Lernarrangements herzuleiten und sie zu erproben). Darüber hinaus hat sie einschlägige Fragen formuliert, die in der Hochschulausbildung zu thematisieren wären, beispielsweise: Helmut Johannes Vollmer 344 Welche Verständnisse grundlegender Fachkonzepte lassen sich bei Schülerinnen und Schülern auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen erreichen? Wie können fachliche Lerninhalte mit ihren jeweils zugrundeliegenden Konzepten so modelliert werden, dass sie ihre Aneignung in unterschiedlicher Tiefe zulassen und dadurch für Lernende mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -fähigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen zugänglich werden? Welche inklusiven Ansätze eignen sich für welche fachlichen Lerngegenstände, um allen Schüler/ -innen erfolgreiche Partizipation (Booth 2002) zu ermöglichen? … Wie müssen Schulen sowie deren Fachräume baulich, sächlich und medial ausgestattet werden, um die Qualität fachlicher Lehr-Lernprozesse zu unterstützen? Wie können Schülerinnen und Schüler mit Sinnesund/ oder körperlichen Beeinträchtigungen in handlungsorientierten Unterrichtsphasen (z. B. Schülerexperimente, Technische Analysen, Konstruktions- oder Fertigungsaufgaben, etc.) aktiv einbezogen werden? Welche individuellen fachlichen Kompetenzen können sie dabei erwerben? Welche Maßnahmen müssen bei der sach- und sicherheitsgerechten Durchführung von fachpraktischen Lernsequenzen berücksichtigt werden? … Welche Grenzen des Inklusionskonzepts werden im Fachunterricht aus fachdidaktischer Perspektive sichtbar? (2015, 4-5) Für das institutionelle Fremdsprachenlernen unter inklusiven Ansprüchen ist die Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Fragen absolut nötig, bevor man sich ein Urteil über die Machbarkeit von Inklusion erlauben kann. Insgesamt wissen wir bezogen auf die Gestaltung inklusiven Fachunterrichts unter Einbeziehung von körperlich und geistig „Behinderten“ dennoch recht wenig. Es wird deutlich, dass angesichts der bildungspolitisch gewollten (z.T. aber zu unreflektierten, vorschnellen) Umsetzung von Inklusion bisher nicht genügend Forschungsressourcen für die Erarbeitung eines tragfähigen Erkenntnisstandes zum fachlichen Lehren und Lernen unter den anstehenden Bedingungen zur Verfügung gestellt werden (z.B. in Form eines gezielten Förderprogramms des BMBF). Ohne solche strukturellen Investitionen ist das Ganze aber schon von vornherein zum Scheitern verurteilt, bevor es überhaupt greift bzw. praktisch erprobt werden kann. Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? 345 4 Ausdifferenzierung vorhandener Erkenntnisse Die Fremdsprachendidaktik hat in den vergangenen Jahrzehnten zwar wesentliche Grundlagen gelegt für ein vertieftes Verständnis von Subjektivität als zentrale Variable im Zweitsprachenerwerbsprozess sowie des fremdsprachlichen Unterrichtens. Dieser Fokus ist in einzelnen Studien mal mehr, mal weniger berücksichtigt worden. Die systematische Beachtung von Diversitätsmerkmalen auf Schülerseite steht auf jeden Fall in keinem Widerspruch zur Notwendigkeit, klare und erreichbare Ziele bzw. Kompetenzen für alle zu formulieren und diese auch unterrichtlich zu verfolgen, damit sie zu bestimmten Zeitpunkten in der Schullaufbahn von (fast) allen erreicht werden können - quasi als gesellschaftliche „Verpflichtung“ des Faches bzw. als Beitrag des Faches zu einer fachbasierten Bildung, aber auch zur eigenen Rechenschaftslegung. Ohne ein solches Kriterium könnte man m.E. Diversität nicht zielorientiert handhaben oder inklusives Fremdsprachenlernen nicht verantworten. Wegen der Neuartigkeit der Anforderungen im Umgang mit z.T. extrem differenten Lernenden und ihrer Förderung innerhalb des regulären Klassengeschehens besteht die Gefahr, dass sich die (immer auch) begrenzten Aufmerksamkeiten und Energien auf die Bearbeitung eben dieser Problemstellungen richten und dabei das Ensemble anderer Bedingungen in der Verursachung von Benachteiligung, von Ungleichheit und mangelnder Gerechtigkeit beim Fachlernen aus den Augen gerät. Es ist nicht zu übersehen, dass das integrative Unterrichten von Kindern und Jugendlichen mit spezifischen Behinderungen im Rahmen des regulären Klassenverbands wohl doch fast die volle Aufmerksamkeit von Lehrpersonen bindet, eben weil die Fragestellungen so neuartig sind und die richtigen Schritte und Lösungen noch so unerprobt. Im Rahmen der Fremdsprachendidaktik scheint mir deshalb eine gewisse Arbeitsteilung dringend vonnöten: es sollte einzelne Personengruppen/ Forschungszentren geben, die sich gezielt mit den Bedingungen für und den Folgen von Inklusion befassen (Vollmer 2013). Möglicherweise sind auch die Grenzen von schulischer Inklusion dabei empirisch auszuloten - und dies im bestverstandenen Interesse aller Betroffenen. 4 4 Z.B. wenn es sich um Gehörlose handelt, die natürlich weiterhin getrennt in geschützter (exklusiver) Weise unterrichtet werden. Aber bevor man über Grenzen spricht, bedarf es erst einmal ausreichender Erfahrungen mit integrativen Unterrichtsansätzen und Schulversuchen samt belastbarer Befunde. Und dies auf der Subjektebenso wie auf der Objektebene (also etwa mit der empirischen Erfassung von Auswirkungen integrativen Unterrichtens auf die Selbst- und Weltwahrnehmung der Betroffenen wie objektiv auf Helmut Johannes Vollmer 346 Prozesse und Ergebnisse der Wissensaneignung, des Könnens, der Kompetenzentwicklung, der personalen wie funktionalen Bildung, auf faktische Interaktionsabläufe usw.). In diesem Zusammenhang müsste auch die Ebene der Zumutbarkeiten und Belastbarkeiten gezielt angesprochen werden sowie die Frage der Lernbereitschaft und der Lernfähigkeiten derer, die als Lehrende tagtäglich mit der anstrengenden Gestaltung eines solchen inklusiven Unterrichts befasst sind. Dieser neuartigen, weitgehend von außen oktroyierten Situation sollte sich die Fremdsprachendidaktik und Einzelne ihrer Vertreter stellen - oder eben begründet auch nicht. Als Mitautor des „Positionspapiers der Gesellschaft für Fachdidaktik zum inklusiven Unterricht unter fachdidaktischer Perspektive“ (GFD 2015) habe ich dafür plädiert, dass sich die Fachdidaktiken diesen drängenden Problemen hier und jetzt unabdingbar öffnen und deren Bearbeitung in Forschung wie Lehre nicht allein den Sonderpädagogen oder den Erziehungswissenschaftlern überlassen sollten - denn wir sind es, die die zuständige Wissenschaft vom fachspezifischen Lehren und Lernen vertreten, nunmehr auch unter den Bedingungen einer erweiterten Perspektive von Inklusion; wir sind es, die als FachdidaktikerInnen die fachliche Koordinierungsstelle sowie die kompetente Kooperationsagentur für die Organisation personaler und disziplinärer Zusammenarbeit darstellen. Für die Fremdsprachenforschung unter Einschluss der Sprachlehrforschung sehe ich es deshalb als prioritär an, Modelle der Grundbildung für die jeweiligen Fremdsprachen zu entwickeln; dies schließt die Identifizierung z.B. von Kernvokabular, von zentralen Diskursfunktionen und Diskursfähigkeiten sowie von wichtigen Genre-Kompetenzen ein (Vollmer 2011, in Arbeit; Hallet 2015) - und zwar ohne Preisgabe gemeinsamer, basaler Zielsetzungen für alle (! ) Lernenden. Damit einhergehend benötigen wir auch Modelle der positiven Reduktion bzw. der differentiellen Rekonstruktion in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht und möglicherweise ebenso Modelle der Vereinfachung, der Verlangsamung oder der Herunterbrechung von komplexen Themen und Prozessen in erfolgreiche Lehr-/ Lern-Sequenzen und Arrangements (gruppenspezifische Differenzierungen, Aufgabenbezogenes Lernen, Projektunterricht, Lernen mit allen Sinnen unter Einbeziehung vielfältig multimedialer, musikalisch-ästhetischer, theaterpädagogischer Zugänge u.a.m. bieten sich hier an). All dies braucht Zeit, gediegene Forschung und argumentative Absicherung, vor allem aber erfordert es vielfältige Einigungsprozesse. Deshalb ist trotz erster vorliegender konzeptueller Ansätze und dokumentierter Unterrichtserfahrungen (z.B. bei Bongartz/ Rohde 2015) nicht davon auszugehen, dass schon bald eine inklusive fachdidaktische Gesamtperspektive für das Fremdsprachenlernen in seinen verschiedenen Kontexten und Schulstufen vorgelegt werden kann. Die offene Situation Von der Integration zur Inklusion: Was ist im Fremdsprachenunterricht machbar? 347 erfordert die Entwicklung weiterer Expertise und fachdidaktischer Kompetenz, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis und deren Anleitung. Dies betrifft zumindest in der Lehre dann doch alle fremdsprachendidaktischen Professuren, denn die Ausgliederung an einige wenige Experten oder Spezialisten wird den erweiterten Ausbildungsanforderungen nicht gerecht. Für den Fremdsprachenunterricht an der Hochschule bzw. mit differenten Erwachsenen sowie für die Ausbildung zukünftiger Fremdsprachenlehrpersonen folgt daraus, dass ein breites Wissen und ein Bewusstsein der Schwierigkeiten und Möglichkeiten sowie der (momentanen) Grenzen bei allen Studierenden ausgebildet werden muss (vgl. hierzu auch „Umbrüche gestalten“). Gleichzeitig müssen relevante/ geeignete/ vertretbare Zielsetzungen für inklusiven Fachunterricht konsensuell erarbeitet werden, unter Federführung unserer Fachdidaktik, in interdisziplinärer Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften und ihren Einsichten und Ergebnissen, damit sich die Fremdsprachendidaktik i.e.S. dann prioritär auf methodische Umsetzungsmodelle konzentrieren kann. Das Thema „Inklusion, Heterogenität und Diversität“ übt also einen heilsamen Zwang aus, sich in Praxis wie Theoriebildung auf Wesentliches zu besinnen und dabei ein Konzept fachlicher Grundbildung neu zu denken bzw. weiterzuentwickeln, das viel prägnanter und radikaler ausfallen muss, als es damals bei der Einführung von Hauptschulenglisch oder bei der Förderung von Schulabbrechern der Fall war bzw. ist (siehe das GRIPS-Projekt des Bayrischen Rundfunks und die Entwürfe zur Formulierung von fremdsprachlicher Grundbildung sowie eines Rahmencurriculums für alle; u.a. Vollmer 2010, Nold/ Schröder 2014). Literatur Abels, Sybille (2015): „Der Entwicklungsbedarf der Fachdidaktiken für einen inklusiven Unterricht in der Sekundarstufe“. In: Biewer, Gottfried/ Böhm, Eva-Theresa/ Schütz, Sandra (Hrsg.): Inklusive Pädagogik in der Sekundarstufe. Stuttgart: Kohlhammer, 135-148. 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Der Anspruch an einen inklusiven Unterricht aber, wie ihn Schulen und Hochschulen in Deutschland seit der seit 2009 verbindlich geltenden UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (die u.a. in Art. 24 das Recht auf „full inclusion“ für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen festlegt, BMAS 2011) umsetzen sollen oder müssen, eröffnet eindeutig noch einmal eine neue Dimension: Man muss sich fragen, ob bisherige Ansätze für einen binnendifferenzierenden, individualisierenden Unterricht Lehrenden tatsächlich (bzw. in welchem Maße) helfen können, mit einer massiven Heterogenität von Lernenden umzugehen und den vielfach doch neuen Herausforderungen einer inklusiven Lernergruppe im Fremdsprachenunterricht gerecht zu werden, oder inwiefern diese Ansätze noch besser erforscht, besser ausgearbeitet und durch andere Ansätze oder Maßnahmen erweitert werden müssen. Ein, vor allem im Rahmen schulischen Lernens, häufig unzureichend verfolgter Ansatz ist der der Digitalisierung des Fremdsprachenlernens und -lehrens, der gerade für Fremdsprachenlernende mit Einschränkungen große Vorteile bieten kann, wenn er gut durchdacht umgesetzt wird; gleichzeitig können für Menschen mit Einschränkungen auch kleine Barrieren im digitalen Lehr- und Lernmaterial dazu führen, dass diese vielleicht gut gemeinten Materialien überhaupt nicht genutzt werden können. Neben allgemeinen Überlegungen zum individualisierten und differenzierten Fremdsprachenunterricht wird diesem Bereich deshalb im vorliegenden Artikel besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Nicola Würffel 352 2 Integration, Inklusion, Heterogenität und Diversität In pädagogischen wie auch in fachdidaktischen Diskursen hat seit Mitte der 2000er Jahre der Begriff der Inklusion an Bedeutung gewonnen, während man vorher mit Blick auf Kinder mit Förderbedarf vor allem von Integration gesprochen hatte. Auch mit dem Begriff Integration war zwar das gemeinsame Unterrichten und Erziehen von Kindern ohne und mit Förderbedarf in einem Klassenzimmer gemeint (und waren Konzepte dafür entwickelt worden, vgl. Preuss-Lausitz 2011, 169-170) - durch den Begriff wurde aber suggeriert, dass eine spezifische Gruppe (nämlich die der Kinder mit Förderbedarf) in eine andere spezifische Gruppe (nämlich die der Kinder ohne Förderbedarf) integriert werden sollte bzw. müsste. Durch die zunehmende Verwendung des Begriffs der Inklusion versuchte man zu verdeutlichen, dass es in neueren Konzepten nicht mehr um eine Integration der Kinder mit Förderbedarf geht, sondern dass aufgrund der Tatsache, dass alle Kinder in Kindergärten und Schulen von Beginn an - je nach spezifischem Bedürfnis bzw. Bedarf - eine eventuell nötige Förderung erhalten, gar nicht mehr zwischen ‚Förderkindern‘ und ‚Nicht-Förderkindern‘ unterschieden werden muss (vgl. ebda, 170). Grundlage jedes inklusiven Konzepts ist, von der Verschiedenheit aller Menschen auszugehen, wobei die Dimensionen wahrgenommener Verschiedenheit wie kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Alter, Gender und Befähigung bzw. Behinderung auf der Basis einer anerkennenden Haltung als perspektivengebundene Konstrukte und nicht als feststehende Eigenschaften einzelner Kinder oder Gruppen von Kindern betrachtet wird. (Seitz 2011, 1; zitiert in Küchler/ Roters 2014, 237) Von einer solchen Unterschiedlichkeit der Menschen auszugehen, liegt auch den Konzepten der Heterogenität und Diversität zugrunde. Während der Begriff der Heterogenität aber häufig mehr auf die (sozialen wie kulturellen, aber auch leistungsbezogenen) Unterschiede fokussiert (vgl. Gröhlich, Scharenberg/ Bos 2009, 87; zitiert in Streber 2015, 20), bezieht sich der Begriff der Diversität sowohl auf Unterschiede wie auch auf Gemeinsamkeiten von Menschen, wobei sowohl sichtbare als auch wenig oder gar nicht wahrnehmbare Dimensionen genauso einbezogen werden wie statische und sich dynamisch entwickelnde Unterschiedskategorien (vgl. Thomas 1996, zitiert in Spelsberg 2013, 53). Allen Konzepten gemein ist der Anspruch, dass jeder Mensch als Teil des diversen oder heterogenen Ganzen unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, körperlichen oder psychischen Einschränkungen, Alter, sexueller Orientierung, Identität etc. dieselbe Wertschätzung erfährt wie alle anderen Digitalisierung als Chance eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts? 353 auch und dass der Gewinn, den Heterogenität oder Diversität für eine Gesellschaft oder Gruppe bedeutet, gesehen und genutzt werden sollte. So zumindest die Theorie. Gerade die praktische Umsetzung der Inklusion an Schulen und Hochschulen zeigt, wie schwierig Anspruch und Wirklichkeit zusammenzubringen sind, vor allem, wenn politisch-gesellschaftliche Absichtserklärungen und politisch-gesellschaftlicher Gestaltungswille, wie er sich in letzter Konsequenz in der monetären Ausstattung von Unterstützungssystemen ausdrückt, meilenweit voneinander entfernt liegen. So werden in der Praxis der Schulen und Hochschulen (weiterhin) verschiedene Förderbedarfe eingegrenzt, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene aufweisen müssen, damit für sie spezifische Nachteilsausgleiche Anwendung finden oder damit bestimmte Unterstützungssysteme greifen (bzw. vor allem finanziert werden) können. Die absoluten Zahlen an zu fördernden Kindern in den verschiedenen Förderschwerpunkten unterscheiden sich zudem gravierend zwischen den einzelnen Bundesländern, was wahrscheinlich vor allem auf eine stark divergierende Zuschreibungspraxis der unterschiedlichen Akteure (Lehrkräfte, Sonderpädagogen, Schulaufsichtsbeamte) zurückzuführen ist (vgl. Preuss-Lausitz 2011, 169). 3 Differenzierung und Individualisierung Um auf Heterogenität oder Diversität zu reagieren, gab es schon zu Zeiten der Reformpädagogik Ansätze der (inneren) Differenzierung oder Individualisierung beim Lehren; spätestens seit Beginn der stärkeren Orientierung auf den Lernenden wurde darauf auch im Fremdsprachenunterricht stärker geachtet, und es wurden entsprechende didaktisch-methodische Vorschläge entwickelt. Individualisierung wird dabei als ausgeprägteste Form der Differenzierung angesehen: Wenn die Heterogenität in einer Gruppe so groß ist, dass eine Gruppierung von Lernenden nicht mehr möglich ist, muss eine individuelle Förderung erfolgen (vgl. Wiater 2011, 105; zitiert in Streber 2015, 16). Methodisch bedeutet das [die Individualisierung, nw] für den Fremdsprachenunterricht das Arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben- und Themenstellungen, Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und Leistungsvermögen, unterschiedliche Lehrmaterialien und Arbeitshilfen, aber auch zusätzliche Hilfen, Lernstandsdiagnostik und Lernstandserhebungen, Förderpläne für schwache Schülerinnen und Schüler, passende Diagnose des Ist- Standes der Individuen, Reflexion des Lernfortschritts seitens der Lernenden und evtl. additive Unterrichtsangebote. (Eisenmann 2016a, 358) Nicola Würffel 354 Einen Vorschlag für einen strukturierten, proaktiven und reflektierten Umgang mit Heterogenität (die als gegeben angesehen und auf alle Lernercharakteristika bezogen wird), liefert Tomlinson (2012) mit ihrem Ansatz der Differentiated Instruction. So interessant mir dieser Versuch eines strukturierten Überblicks über Entscheidungsfelder und zu berücksichtigende Rahmenbedingungen auch erscheint 1 Die Vorteile (aber auch Schwierigkeiten) einer Digitalisierung des Fremdsprachenunterrichts, die eine Zugänglichkeit zu Lehr-Lernmaterialien oder die Teilhabe an Lehr-Lerninteraktionen überhaupt erst ermöglicht, werden dabei häufig gar nicht erwähnt - was auch zur Folge hat, dass nicht nur Potenziale, sondern auch mögliche Barrieren nicht wahrgenommen werden. Gerade im Rahmen eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts kommt diesen aber eine besondere Bedeutung zu. Dies wird aktuell stärker im Hochschulkontext wahrgenommen; in der schulischen Diskussion um Inklusion finden sich Überlegungen dazu eher in spezialisierten sonderpädagogischen Diskursen und kaum in allgemeinpädagogischen oder fachdidaktischen. , so fehlt doch ein entscheidender Aspekt: die Medien. Dieses Manko teilt der Ansatz der Differentiated Instruction mit einigen Übersichten zu didaktisch-methodischen Ansätzen zur Umsetzung der Prinzipien eines differenzierenden bzw. individualisierenden Unterrichts. Andere weisen zwar auf eine notwendige bzw. sinnvolle Material- und Medienvarianz hin (vgl. z.B. Eisenmann 2016a, 360); dabei wird aber eher auf die Wahlfreiheit der Lernenden abgehoben, die zu einer Stärkung der Selbstkompetenz führen soll. 4 Digitalisierung In der Beschäftigung mit dem E-Learning haben die Möglichkeiten zur Differenzierung und Individualisierung von Beginn an eine sehr große Rolle gespielt. Das lässt sich anhand von vier Bereichen exemplarisch verdeutlichen: • Es wurde betont, dass man (auf den ersten Blick leicht und preisgünstig) große Mengen an Übungen mit direktem Feedback erstellen und bereit- 1 Interessant auch deshalb, weil Tomlinson betont, dass es zur Umsetzung der Unterrichtsprinzipien der Differenzierung und Individualisierung nicht nur bestimmter Methoden bedarf, sondern vor allem einer „Geisteshaltung“ (vgl. ebd.: ohne Seite); diese, so möchte man gern hinzufügen, muss sich nicht nur der bzw. die Lehrende zu eigen machen, sondern auch alle anderen Akteure, wie Lernende, Angehörige, Schulorganisatoren etc. (vgl. hierzu auch Bär oder kritischer Diehr, beide in diesem Band). Digitalisierung als Chance eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts? 355 stellen kann; der Computer kann dadurch zum geduldigen Lernpartner des Fremdsprachelernenden werden, und es können durch passgenaue Aufgaben und Übungen individuelle Lernbedürfnisse oder Lerninteressen viel besser befriedigt werden, als das einem Lehrenden in einer großen Gruppe von Lernenden gelingen kann. • In Ansätzen zur Umsetzung einer inneren Differenzierung wird im Sinne einer „Differenzierung von unten“ die Bedeutung einer Selbstlernkompetenz des Lernenden bei der Differenzierung betont (vgl. Trautmann 2010, 7, 10ff; zitiert in Küchler und Roters 2014, 239). Im Bereich des E- Learning wurde schon früh auf das Potenzial digitaler Lernumgebungen für eine Förderung der Selbststeuerungs-kompetenz von Lernenden hingewiesen, da diese dem Lernenden vielfältige Kontrollmöglichkeiten in Bezug auf seinen Lernprozess bieten können (Entscheidungen über Lernwege, das eigene Lerntempo, die Anzahl der Wiederholungen, die Auswahl von Themen, den Zeitpunkt der Bearbeitung, die Sozialform etc.; vgl. auch Eisenmann 2016b, 157-158). • Die Kommunikationsmöglichkeiten des Internet wurden in zahlreichen Telekollaborationsprojekten schon zu einer Zeit genutzt, als insgesamt vom Mitmachnetz noch lange nicht die Rede war; die Nutzung des Internet als Interaktionsraum wiederum erlaubt den Lernenden einen individuell gestalteten und interessensgeleiteten Austausch mit Peers in aller Welt, der viel Spielraum für Differenzierung und Individualisierung lässt. • Modelle des Blended-Learning erlauben auch im Schulbereich eine extreme Form der Individualisierung und des Angebots unterschiedlicher Lehr- und Lernformen. Das zeigt eindrücklich eine K12-Studie von Staker/ Horn von 2012, in der die Autoren auf der Grundlage der Erhebung von Schulszenarien in den USA eine Systematik von Blended- Learing-Szenarien vorstellen, die vom „Rotation-Model“ über das „Flex- Model“ bis hin zum „Self-Blend-Model“ und dem „Enriched-Virtual- Model“ reichen (Staker/ Horn 2012, 2) und die verdeutlicht, wie unterschiedlich Schulunterricht organisiert sein kann, wenn man es wagt, vertraute Wege der Unterrichtsorganisation zu verlassen (vgl. Hallet in diesem Band). Was eher weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass digitale Medien im Fremdsprachenunterricht schon seit den 1960er Jahren auch dezidiert dafür eingesetzt wurden, Lernenden mit Lernschwierigkeiten eine breitere Partizipation im fremdsprachlichen Klassenzimmer zu erlauben - leider häufig mit zu niedrigen Erwartungen an die Lernenden mit Lernschwierigkeiten und mit zu hohen Erwartungen an die Technik (vgl. Wilson 2013, 45). Während es zuerst vor allem um die Entwicklung von geeigneten Lehr- und Lernmaterialien und um die Interaktion zwischen Lernenden und Nicola Würffel 356 Computer ging, gab es ab 2000 erste (größer angelegte und im Rahmen der EU geförderte) interkulturelle, kooperative Projekte, in denen z.B. sehbehinderte Schülerinnen und Schüler mithilfe der computergestützten Kommunikation an Austauschprojekten mit Lernenden in anderen Ländern teilnehmen konnten: Computer-mediated communication (CMC), still relatively novel back then, proved to be a versatile digital solution to the problem of social exclusion for visually impaired Polish learners of English. Syncronous (chat) and asynchronous (electroic mail) communication tools in particular empowered these students to launch an exchange of messages and documents with individuals and schools abroad and to engage them in a collaborative enterprise centering on the construction of an ‚online multilingual dictionary of sounds and noises‘. (ebda, 47) Seitdem ist selbstverständlich viel passiert, und die Möglichkeiten, wie digitale Medien das (Fremdsprachen)Lernen von Lernenden mit Förderbedarf unterstützen können, sind noch vielfältiger geworden. Dazu gehören z.B. die ‚assistiven Technologien‘, die wiederum nicht nur für Lernende mit Lernschwierigkeiten eine große Hilfe darstellen können, sondern von denen einige für alle Lernende spannende Lerngelegenheiten für das Fremdsprachenlernen eröffnen können: • Bei den assistiven Technologien gibt es einige, die zum Ausgleich spezifischer Einschränkungen entwickelt worden sind; dazu gehören z.B. Screen-Reader, Braillezeile, Leselupe, Mund-Maus, VOCS (voice out communication aids) oder auch Anwendungen wie MyStudyBar, mit der man Office-Dokumente anpassbar machen kann. • Andere Anwendungen sind vielleicht nicht unbedingt mit Blick auf spezifische Lernschwächen konzipiert worden, können hier aber gute Dienste leisten, wie Spracherkennungsoftware, Vorleseanwendungen (text to speech-Software), Scan-Stifte, Schreibhilfe-Software wie Penfriend oder auch die Rechtschreibhilfe einer Textverarbeitungs-software etc. (vgl. Crombie 2013, 131ff.). • In einem weiten Sinne können zu den assistiven Technologien ebenfalls virtuelle Welten oder auch nur Handys mit Textnachrichtenfunktion gezählt werden, die es z.B. gehörlosen oder schwerhörigen Lernenden im Unterricht ermöglicht, an Interaktionen gleichberechtigt teilzunehmen, u.a. indem sie ihre Peers spontan in Diskussionen per Textnachrichten kontaktieren (vgl. Domagata-Zysk 2013, 87). • Schließlich kann man auch multimediales Material, das ein multisensorisches Lernen ermöglicht, hinzuzählen. Das gibt es natürlich schon lange, Digitalisierung als Chance eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts? 357 aber die multimediale Qualität und die Verfügbarkeit von Quellen in den verschiedensten Modi sind dabei immer besser geworden. 4.1 Barrierefreiheit Inklusion soll dazu führen, dass jeder Lernende sein motorisches, intellektuelles, emotionales und soziales Potenzial umfassend entwickeln kann (vgl. Streber 2015, 22). Inklusive Didaktik verfolgt deshalb nicht den Ansatz, nach Lernschwierigkeiten zu fragen, sondern versucht, Barrieren zu entfernen, die dem Lernen oder der Partizipation des Lernenden im Wege stehen. Will man ein inklusives Lernen ermöglichen, bedarf es deshalb einer Analyse von Situationen, in denen bestimmte Barrieren oder ihr Zusammenwirken Partizipation und/ oder Lern- und Entwicklungsprozesse behindern (vgl. Seitz/ Scheidt 2012, 4; zitiert in Küchler/ Roters 2014, 237). In vielen Bereichen kann Barrierefreiheit als übergeordnetes Prinzip allerdings nur als Richtwert verstanden werden, der den heterogenen Bedarfen von möglichst vielen Menschen gerecht zu werden versucht; im Einzelfall werden dann noch darüber hinausgehende individuelle Anpassungen erfolgen müssen, die zusätzlich zur Barrierefreiheit tatsächlich die individuelle Nutzbarkeit für alle und damit die Inklusion sicherstellen (vgl. Drolshagen/ Klein 2014, 29). Barrierefreiheit kann man sowohl auf der Mikroebene anstreben (im Bereich der Materialien und Ressourcen) als auch auf der Makroebene (Klassenzimmer und Schule/ Hochschule als Lehr-/ Lernraum insgesamt; vgl. Beltrán/ Ciges 2013, 78). Für die Fremdsprachendidaktik von Bedeutung ist das Schaffen von Barrierefreiheit (oder wohl realistischerweise von Barrierearmut) auf der Mikroebene, um auf diese Weise den Zugang zu den Lehr- und Lernmaterialien für alle zu gewährleisten. Zu dieser Barrierefreiheit gehört, dass alle Inhalte für alle Nutzenden wahrnehmbar, benutzbar und verständlich sowie robust (d.h. mit einer maximalen Kompatibilität zu anderen Programmen bzw. Browsern) gestaltet werden müssen. Das kann u.a. dadurch erreicht werden, dass Materialien auf einer Webseite auch ohne Maus, d.h. nur über die Tastatur bedienbar sind, dass auf gute Kontraste und eine veränderbare Schriftgröße geachtet sowie auf Bilder als Informationsträger eher verzichtet wird (z.B. Tabellen nicht als jpeg), da diese durch Screenreader nicht wiedergegeben werden können. Für alle Bildelemente sollte auf jeden Fall ein Alternativtext angegeben werden, für Audio- und Videodateien Untertitel. Überhaupt ist darauf zu achten, dass alle Texte sich an das Zwei-Sinne- Prinzip (Ansprache von mindestens zwei der drei Sinne Hören, Sehen und Tasten) halten (vgl. Degenhardt/ Gattermann-Kasper 2014, 22). Da viele Web 2.0 Tools nicht barrierefrei gestaltet sind, kann der gut gemeinte Ein- Nicola Würffel 358 satz solcher Tools für bestimmte Lernende die Lernmöglichkeiten nicht erweitern, sondern im Gegenteil einschränken. In Hinblick auf die Verständlichkeit von Texten wird gefordert, dass diese in leichter Sprache verfasst werden sollen; nach welchen Regeln solche leichte Sprache bzw. Übersetzungen in leichte Sprache funktionieren können, thematisiert Maaß 2015 in ihrem Buch „Leichte Sprache. Ein Regelbuch“ (vgl. auch Diehr in diesem Band). Die dort gegebenen Anregungen erscheinen z.B. für Autoren und Autorinnen von Webseiten auf jeden Fall hiflreich. Mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht sollten sie sicherlich nicht einfach 1: 1 übernommen werden; stattdessen sollten die angegebenen Charakteristika der leichten Sprache mit der fremdsprachendidaktischen Diskussion zur Didaktisierung von Texten (im Sinne einer Vereinfachung) und mit dem Wissen um Leseprozesse (und ihrer Förderung) in der Fremdsprache in Verbindung gebracht werden. Ein solches Zusammendenken bzw. Konfrontieren könnte sicherlich zu spannenden Ergebnissen führen; es erscheint aber vor allem unabdingbar, wenn man Texte für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht mit Blick auf kontextspezifische Lernziele schreiben bzw. vereinfachen will. Dabei wiederum wird man spezifische Lernkontexte berücksichtigen und Prioritäten setzen müssen, wie man das beim Didaktisieren von Texten im Fremdsprachenunterricht immer schon gemacht hat. Insgesamt kann im Bildungsbereich festgestellt werden, dass barrierefreie Materialien nicht automatisch, sondern meist erst auf Anfrage erstellt werden. IT-Abteilungen an Hochschulen oder IT-Verantwortliche an Schulen warten auf Beschwerden und reagieren erst dann. Wenn keine Beschwerden kommen, wird das wiederum zum Teil als Hinweis darauf gedeutet, dass das eigene Angebot barrierefrei ist; was aber häufig gar nicht der Fall ist. Hier ist dringend ein proaktiveres Handeln nötig - und dies wiederum nicht nur von IT-Verantwortlichen, sondern von uns allen (vgl. Fisseler 2014, 30). Dieses Vorgehen erspart Lernenden mit Einschränkungen das Nachfragen oder Nachfordern und kann für alle Nutzenden mit Vorteilen verbunden sein (vgl. Degenhardt/ Gattermann-Kasper 2014, 22). Gleichzeitig bedarf ein solches proaktiveres Handeln natürlich einer Sensibilisierung und des Erwerbs der nötigen Kompetenzen. Auch wenn Anforderungen manchmal viel niedrigschwelliger sind, als man das auf den ersten Blick denkt (so lassen sich z.B. mit aktuellen Versionen von Office oder auch OpenOffice barrierearme Dokumente erstellen; beide Anwendungen haben zudem auch Prüfwerkzeuge zur Barrierefreiheit integriert), bedarf es aber dringend einer ausreichenden Finanzierung von Stützsystemen auch für diesen Bereich, damit die Potenziale einer Digitalisierung des Fremdsprachenlernens auch Digitalisierung als Chance eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts? 359 in inklusiven Lehr-Lernsettings von allen gleichermaßen (und für manche vielleicht besonders) wirksam werden können. Literatur Amrhein, Bettina/ Dziak-Mahler, Myrte (Hrsg.): Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster: Waxmann. Barnat, Miriam/ Hofhues, Sandra/ Kenneweg, Anne Cornelia/ Merkt, Marianne/ Salden, Peter/ Urban, Diana (Hrsg.) (2013): Junge Hochschul- und Mediendidaktik. 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Adressen der Beiträger und Herausgeber Prof. Dr. Marcus Bär Bergische Universität Wuppertal Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften Fachgruppe Romanistik: Didaktik des Spanischen Gaußstr. 20 42119 Wuppertal Prof. Dr. Gabriele Blell Leibniz Universität Hannover Englisches Seminar Königsworther Platz 1 30167 Hannover Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Anglistik/ Didaktik des Englischen Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Prof. Dr. Daniela Caspari Freie Universität Berlin Institut für Romanische Philologie Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin Prof. Dr. Bärbel Diehr Bergische Universität Wuppertal Anglistik/ Amerikanistik Gaußstraße 20 42119 Wuppertal Prof. Dr. Daniela Elsner Goethe-Universität Frankfurt Institut für England- und Amerikastudien Sprachlehrforschung und Didaktik Campus Westend/ Hauptgebäude Norbert-Wollheim-Platz 1 60323 Frankfurt am Main Adressen der Beiträger und Herausgeber 364 Prof. Dr. Andreas Grünewald Universität Bremen/ Fachbereich 10 Didaktik der romanischen Sprachen Postfach 33 04 40 28334 Bremen Prof. Dr. Wolfgang Hallet Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Anglistik/ Didaktik des Englischen Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Prof. Dr. Britta Hufeisen Technische Universität Darmstadt Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Hochschulstr. 1 64289 Darmstadt Prof. em. Dr. Dr. h.c. Friederike Klippel Lehrstuhl für Didaktik der englischen Sprache und Literatur Department für Anglistik und Amerikanistik Ludwig-Maximilians-Universität München Schellingstr. 3 80799 München Prof. Dr. Frank G. Königs Philipps-Universität Marburg Informationszentrum für Fremdsprachenforschung (IFS) Hans-Meerwein-Straße 35032 Marburg Prof. Dr. Uwe Koreik Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Fachbereich Deutsch als Fremdsprache Universitätsstr. 25 33501 Bielefeld Adressen der Beiträger und Herausgeber 365 Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Krumm Institut für Germanistik der Universität Wien Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Porzellangasse 4/ 4 1090 Wien, Österreich Prof. Dr. Jürgen Kurtz Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Anglistik/ Didaktik des Englischen Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Prof. Dr. Lutz Küster Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät II Institut für Romanistik Unter den Linden 6 10099 Berlin Prof. Dr. Michael Legutke Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Anglistik/ Didaktik des Englischen Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Prof. Dr. Christiane Lütge Lehrstuhl für Didaktik der englischen Sprache und Literatur Department für Anglistik und Amerikanistik Ludwig-Maximilians-Universität München Schellingstr. 3 VG 80799 München Prof. Dr. Hélène Martinez Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Romanistik Karl-Glöckner-Straße 21 G 35394 Gießen Adressen der Beiträger und Herausgeber 366 Prof. Dr. Grit Mehlhorn Universität Leipzig Institut für Slavistik Beethovenstr. 15 04107 Leipzig Prof. Dr. Franz-Joseph Meißner Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Romanistik Karl-Glöckner-Straße 21 G 35394 Gießen Prof. Dr. Claudia Riemer Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Postfach 10 01 31 33501 Bielefeld Prof. Dr. Jörg Roche Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Deutsch als Fremdsprache Schönfeldstraße 13a 80539 München Prof. Dr. Dietmar Rösler Justus-Liebig-Universität Gießen Institut für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur Otto-Behaghel-Straße 10 B 35394 Gießen Prof. Dr. Jutta Rymarczyk Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Fremdsprachen - Englisch Keplerstraße 87 69120 Heidelberg Adressen der Beiträger und Herausgeber 367 Prof. Dr. Lars Schmelter Bergische Universität Wuppertal Geistes- und Kulturwissenschaften/ Romanistik Gaußstraße 20 42119 Wuppertal Prof. Dr. Torben Schmidt Leuphana Universität Lüneburg Fakultät Bildung: Institute of English Studies Scharnhorststr. 1, C5.135 21335 Lüneburg Prof. Dr. Karen Schramm Institut für Germanistik der Universität Wien Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Porzellangasse 4/ 4 1090 Wien, Österreich Prof. Dr. Julia Settinieri Deutsch als Zweitsprache/ Deutsch als Fremdsprache Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Fakultät für Kulturwissenschaften Universität Paderborn Warburgerstraße 100 33100 Paderborn Prof. Dr. Carola Surkamp Universität Göttingen Seminar für Englische Philologie Käte-Hamburger-Weg 3 37073 Göttingen Carola Surkamp Prof. Dr. Karin Vogt Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Fremdsprachen und ihre Didaktiken Im Neuenheimer Feld 581 69120 Heidelberg Adressen der Beiträger und Herausgeber 368 Prof. i.R. Dr. Helmut Johannes Vollmer Rüsternkamp 43 22607 Hamburg Prof. Dr. Nicola Würffel Universität Leipzig Herder-Institut Deutsch als Fremdsprache Beethovenstraße 15 04107 Leipzig Bisher erschienene Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz 369 Bisher erschienene Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz K.-R. Bausch/ H. Christ/ W. Hüllen/ H.-J. Krumm (Hrsg.): Arbeitspapiere der 1. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Heidelberg: J. Groos 1981. K.-R. Bausch/ H. Christ/ W. Hüllen/ H.-J. Krumm (Hrsg.): Das Postulat der Lernerzentriertheit: Rückwirkungen auf die Theorie des Fremdsprachenunterrichts. Arbeitspapiere der 2. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Heidelberg: J. Groos 1982. K.-R. Bausch/ H. Christ/ W. Hüllen/ H.-J. Krumm (Hrsg.): Inhalte im Fremdsprachenunterricht oder Fremdsprachenunterricht als Inhalt? Arbeitspapiere der 3. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Heidelberg: J. Groos 1983. K.-R. Bausch/ H. 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Krumm (Hrsg.): Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen: Forschungsethik, Forschungsmethodik und Politik. Arbeitspapiere der 31. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2011. E. Burwitz-Melzer/ F. G. Königs/ H.-J. Krumm (Hrsg.): Sprachenbewusstheit im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 32. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2012. E. Burwitz-Melzer/ F. G. Königs/ C. Riemer (Hrsg.): Identität und Fremdsprachenlernen. Arbeitspapiere der 33. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2013. Bisher erschienene Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz 373 E. Burwitz-Melzer/ F. G. Königs/ C. Riemer (Hrsg.): Perspektiven der Mündlichkeit. Arbeitspapiere der 34. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2014. E. Burwitz-Melzer/ F. G. Königs/ C. Riemer (Hrsg.): Lernen an allen Orten? Die Rolle der Lernorte beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Arbeitspapiere der 35. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2015. E. Burwitz-Melzer/ F. G. Königs/ C. Riemer/ L. Schmelter (Hrsg.): Üben und Übungen beim Fremdsprachenlernen. Arbeitspapiere der 36. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2016. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik ISBN 978-3-8233-8149-5 Während sich z.B. die (Schul-) Pädagogik seit längerer Zeit intensiv mit Fragen der Diversität und der Inklusion beschäftigt und dabei u.a. auch der Frage nachgeht, wie sich die deutsche Schule verändern muss, damit sie den Bedürfnissen aller Lernenden so weit wie möglich gerecht wird, finden sich vergleichbare Arbeiten für die Fremdsprachenforschung erst in jüngerer und jüngster Zeit. Dabei betrifft dieses Thema den Fremd- und Zweitsprachenunterricht mindestens so sehr wie die meisten anderen Schulfächer. Anhand von Leitfragen gehen knapp 30 Fremdsprachendidaktikerinnen und Fremdsprachendidaktiker der Frage nach, wie es um Inklusion, Diversität und das Lehren und Lernen fremder Sprachen bestellt ist, welche Fortschritte zu verzeichnen sind, aber auch welche Lücken sich noch auftun und welche Desiderate daraus abzuleiten sind.