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Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

2017
978-3-8233-9162-3
Gunter Narr Verlag 
Elisabeth Schulze-Witzenrath

Als Gegenstand dichterischer Begeisterung wurden die Großstadt und das Erlebnis der Menschenmenge erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt, als Charles Baudelaire ihnen seine "Tableaux parisiens" und die Prosagedichte des Spleen de Paris widmete. Ein halbes Jahrhundert später setzte sich Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die u.a. seine Pariser Erlebnisse festhalten, mit Baudelaires Bild der Großstadt und des Dichters auseinander und gab ihm die Form des "Leidens an der Stadt". An beide knüpft noch einmal Nathalie Sarraute an, deren Ich-Erzähler in Portrait d'un inconnu mit seiner Tropismensuche den Übergang zum ,nouveau roman' vollzieht.

lendemains Als Gegenstand dichterischer Begeisterung wurden die Großstadt und das Erlebnis der Menschenmenge erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt, als Charles Baudelaire ihnen seine „Tableaux parisiens“ und die Prosagedichte des Spleen de Paris widmete. Ein halbes Jahrhundert später setzte sich Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die u.a. seine Pariser Erlebnisse festhalten, mit Baudelaires Bild der Großstadt und des Dichters auseinander und gab ihm die Form des „Leidens an der Stadt“. An beide knüpft noch einmal Nathalie Sarraute an, deren Ich-Erzähler in Portrait d’un inconnu mit seiner Tropismensuche den Übergang zum ‚nouveau roman‘ vollzieht. edition lendemains 44 ISBN 978-3-8233-8162-4 Elisabeth Schulze-Witzenrath Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Elisabeth Schulze-Witzenrath Großstadt und dichterischer Enthusiasmus: Baudelaire, Rilke, Sarraute Großstadt und dichterischer Enthusiasmus edition lendemains 44 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) Elisabeth Schulze-Witzenrath Großstadt und dichterischer Enthusiasmus: Baudelaire, Rilke, Sarraute Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8162-4 Umschlagabbildung: Claude Monet, Boulevard des Capucines, Vorlage: Wikimedia Commons - The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002, ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. für Joachim I. 13 1) 13 a) 13 b) 32 c) 49 d) 66 2) 78 a) 78 b) 86 c) 103 d) 111 e) 130 f) 149 3) 171 a) 171 b) 178 c) 192 4) 215 II. 217 1. 217 2. 222 3. 239 4. 254 5. 267 6. 285 Inhalt Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses . Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt Ästhetische und anthropologische Voraussetzungen . . Baudelaires Vorstellung vom Schönen . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung des ekstatischen Erlebnisses der Großstadt (‚Journaux intimes‘. ‚Les Foules‘) . . . . . . . . . Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: ‚Le Peintre de la vie moderne‘ . . . . . . . . . . . Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Gedichten vor dem ‚Spleen de Paris‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Le Vin des chiffonniers‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚Crépuscule‘-Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Paysage‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Fantômes parisiens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Le Cygne‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Tableaux parisiens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erweiterung der poetischen Inspiration im ‚Spleen de Paris‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wende zur Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein neues Thema: „soubresauts de la conscience“ . . . . „une prose poétique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „sehen lernen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „entrer dans le personnage de chacun“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „imagination active“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ . . . Kindheit und Künstlertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. 293 8. 302 9. 316 III. 318 1. 318 2. 322 3. 330 a) 331 b) 337 4. 344 a) 345 b) 348 5. 359 6. 377 a) 384 b) 389 7. 392 8. 398 IV. 403 V. 408 1. 408 2. 414 3. 418 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rilkes „Prosabuch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichterische Selbstfindung auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Nathalie Sarraute, ‚Portrait d’un inconnu‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires ‚Les Petites Vieilles‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadterlebnis und gestörte Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚l’autre aspect‘ oder die Suche nach dem dichterischen Enthusiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begegnung mit „elle“ und das Scheitern der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires . . . . . Besuch beim „spécialiste“, ‚Genesung‘ und ‚Rückkehr in die Kindheit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Besuch im Museum und das unvollendete ‚Portrait d’un inconnu‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen . . . Stadterlebnis und entfesselte Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Tropismenrausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vater-Tochter-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rückkehr des Dichters in die Normalität . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baudelaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarraute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 1 L. S. Mercier, Tableau de Paris, hrsg. von J.-C. Bonnet, 2 Bde., Paris 1994: „J’ai fait des recherches dans toutes les classes de citoyens, et n’ai pas dédaigné les objets les plus éloignés de l’orgueilleuse opulence, afin de mieux établir par ces oppositions la physi‐ onomie de cette gigantesque capitale.“ (Bd. 1, S. 13 f.) Und: „[…] je n’ai tenu dans cet ouvrage que le pinceau du peintre, et […] n’ai presque rien donné à la réflexion du philosophe.“ (S. 17; Hervorhebung im Text.) Siehe dazu K. Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993, S. 105 ff. Vorbemerkung Das vorliegende Buch geht von einem Problem der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts aus. Genauer gesagt von einem Problem der Lyrik, nämlich der Frage, welche Haltung die lyrische Dichtung in Zeiten der nachwirkenden Ro‐ mantik und der Naturbegeisterung gegenüber dem neuen Phänomen des Lebens in der Großstadt einzunehmen habe. Diese Frage, die sich in ihrer Zuspitzung besonders in Frankreich mit seiner aufblühenden Metropole Paris stellte, ist ein Teil des großen Epochenumbruchs und der ästhetischen Wende des 19. Jahr‐ hunderts. Sie hat ihre Antwort im Zuge der allgemeinen Klärung und Heraus‐ differenzierung des Selbstverständnisses der Kunst sowie der Auflösung und Angleichung der poetischen Genera gefunden. Ende des 18. Jahrhunderts hatte, zunächst in England, die industrielle Revo‐ lution eingesetzt, die dank der Mechanisierung der Produktionsmittel den wirt‐ schaftlichen Fortschritt beschleunigte und die Bevölkerung stark anwachsen ließ. Sie führte zu verdichteten Lebensräumen und zur Entstehung von Groß‐ städten, der alsbald eine Verstädterung der Lebensformen folgte. Die erste eu‐ ropäische Großstadt internationalen Ansehens war London, das im 19. Jahr‐ hundert bald von Paris überflügelt wurde, besonders seit dessen städtebaulicher Umgestaltung unter Napoleon III . durch den Präfekten Georges-Eugène Hauss‐ mann. Schon im 18. Jahrhundert hatte der Journalist und Romancier Louis Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris (1781-1788) in mehr als 1000 Kapiteln seine Eindrücke aus dem Alltagsleben der Stadt Paris festgehalten. Im Rückgriff auf das Diderotsche Konzept des ‚tableau‘ als pathetischer Zusammenfassung eines ‚drame‘ wollte er die vielfältigen Sitten und Gebräuche der Stadt, ihre physische und moralische Physiognomie mit ihren Gegensätzen möglichst getreu auf‐ zeichnen 1 . Nach diesem überaus erfolgreichen feuilletonistischen Beginn, dem bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts zahlreiche weitere tableaux-Samm‐ 2 Stierle, Der Mythos von Paris, S. 339 ff. 3 P. Citron, La Poésie de Paris dans la littérature française de Rousseau à Baudelaire, 2 Bde., Paris 1961, Nachdruck 2006, Bd. 2, S. 7 ff. 4 Citron, Bd. 2, S. 267 ff. lungen folgten, fand die Großstadt Paris bald auch Eingang in die schöne Lite‐ ratur, allem voran in Balzacs Comédie humaine. Balzac hatte nach ersten Versuchen in unterschiedlichen Genera Anfang der 30er Jahre begonnen, Stadt‐ novellen und Stadtromane zu schreiben, in denen er die vorgefundenen Sche‐ mata des historischen, des Schauer- und Geheimnisromans und des ‚drame‘ in einer städtischen Umgebung ansiedelte. Paris wurde ihm zum zentralen Ort seiner ‚menschlichen Komödie‘, die die gegenwärtige Gesellschaft mit ihren na‐ türlichen und sozialen Arten, ihrem „Mobiliar“ und ihren Gebrauchsgegen‐ ständen, ihren Tugenden und Lastern und den in ihr gelebten ‚drames‘ wieder‐ geben und so die in der Historie fehlende Geschichte der Sitten liefern sollte 2 . In der Lyrik ließ ein Pendant von gleicher Bedeutung lange auf sich warten, obgleich die romantischen Lyriker durchaus am ‚Mythos Paris‘ und seiner po‐ etischen Sprache mitwirkten, der sich nach 1830 über mehr als ein Jahrzehnt entwickelte 3 . Nach 1850 entdeckte Victor Hugo im Exil seine Liebe zu Paris, und die „poètes noctambules“, mit denen Baudelaire sympathisierte, besangen die kleinen Leute, die Handwerker und sozialen Randerscheinungen der Haupt‐ stadt 4 . Aber erst Baudelaire ging das Thema grundsätzlich an, indem er die Frage nach dem spezifischen Schönen der modernen Großstadt stellte. Die ersten Überlegungen zum „héroїsme de la vie moderne“ und zur „modernité“ in seinen kunstkritischen Schriften stehen noch erkennbar unter dem Einfluss Balzacs. Doch der Lyriker Baudelaire besann sich bald auf die besondere Funktion der Dichtung und fand vom romantischen Konzept der Ekstase in der Natur (Mme de Staёl, Chateaubriand) über Poe zu einem lyrischen Enthusiasmus, der auch in der Großstadt wirken kann, weil er auf die inneren Phantasiebilder und auf den Menschen setzt. Das führte ihn in der Zweitauflage seiner Fleurs du mal (1861) zu der neuen Abteilung „Tableaux parisiens“ und in einem weiteren Schritt zum Spleen de Paris, einer Sammlung von Prosagedichten mit einer an‐ passungsfähigen ungebundenen Sprache, in der er bewusst auf den romanhaften „fil interminable d’une intrigue superflue“ verzichtete (À Arsène Houssaye). Damit hatte Baudelaire für die Großstadtdichtung einen Ausdruck gefunden, an dem fortan niemand mehr vorbeigehen konnte. Dies widerfuhr ein halbes Jahrhundert später auch dem jungen Rilke, der nach ersten literarischen Versuchen mittellos und hoffnungsvoll aus der deutschen Provinz nach Paris kam, um dort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Er‐ lebnis der als feindlich empfundenen fremden Großstadt und die ästhetische Vorbemerkung 10 Auseinandersetzung Baudelaires mit dieser Welt waren für ihn so tiefgreifende und widersprüchliche Erfahrungen, dass er sie in einem eigenen Werk, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, verarbeitete. Sein Stellvertreter-Ich Malte, das darin um seinen dichterischen Weg ringt, und das Bild des Dichters, das Rilke mit dieser Figur zeichnet, folgen in einem bisher unerkannt geblie‐ benen Maße Baudelaires Vorstellungen vom „homme sensible moderne“. Zudem ist wohl auch bei Rilkes Entscheidung für ein „Prosabuch“, das mit Prosage‐ dichten und erzählenden Stücken an der Grenze zwischen Lyrik und Roman angesiedelt ist, das Vorbild Baudelaires im Spiel gewesen. Der Name Nathalie Sarrautes, die zum französischen ‚nouveau roman‘ der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gezählt wird, mag in der hier genannten Reihe zunächst erstaunen. Doch war es Sarrautes erster Roman Portrait d’un inconnu mit seinen wiederholten Anspielungen auf Baudelaire und auf Rilkes Malte Laurids Brigge, der mich auf die Spur des dichterischen Enthusiasmus in der Großstadt gebracht hat. Denn bald drängte sich die Vermutung auf, dass es sich hier nicht um punktuelle Nennungen oder zufällige Lesefrüchte handelte, sondern um den maßgeblichen ästhetischen Kontext, in dem das Erzähler-Ich des Romans die Suche nach seinem neuen Erzählgegenstand der Tropismen sieht und in den Sarraute selbst ihren Erstling einordnete. Tatsächlich stehen Sarrautes Anfänge als Schriftstellerin (Tropismes, 1938) der Lyrik nahe, da die Tropismen allgemein menschliche seelische Regungen sind, freilich nicht nur solche eines Ichs, sondern ebenso die eines Anderen, eines Gegenübers und die jeweiligen Reaktionen darauf. Das Prosagedicht war daher für Sarraute eine natürliche Form, die sie aber bald überschritt. Auch war die Großstadt mit ihrer Vielfalt an Menschen, die einen reichen Nährboden für Tropismen liefert, ein selbstverständlicher Lebensraum für sie. Baudelaire und Rilke wurden ihr da zum expliziten Leitbild, wo es um den Dichter, seine Inspiration und deren Aus‐ lösemechanismen ging. Unter ihrem Einfluss gelang es Sarraute, in Portrait d’un inconnu den poetischen ‚neuen Roman‘ zu schreiben, der eine „poésie capable de s’expliciter elle-même, [de] montrer elle-même quelle est sa situation“ (Mi‐ chel Butor) ist. Meiner ersten Lektüre von Portrait d’un inconnu sind im Laufe der Jahre wei‐ tere gefolgt, von denen jede die Gestalt des Werks ein Stück klarer hat werden lassen. Ähnlich ist es mit Baudelaires und Rilkes einschlägigen Werken und Positionen gegangen, die ebenfalls dem Verständnis nicht wenige Schwierig‐ keiten bereiteten, sowie mit dem bisweilen einseitigen Bild, das man sich von ihnen in der Forschung gemacht hat, etwa Walter Benjamins Vorstellung vom „Chock“-Erlebnis der Großstadt. Schließlich hat sich herausgestellt, dass eine eingehende chronologische Darstellung den Verlauf des so ermittelten poeti‐ Vorbemerkung 11 schen ‚Staffellaufs‘ der drei Autoren und die damit verbundene Annäherung von Lyrik und Roman am besten wiedergeben würde. Vorbemerkung 12 1 „Variété. Études littéraires: Situation de Baudelaire“, in: Œuvres, Bd. 1, hrsg. von J. Hytier (Bibliothèque de la Pléiade. 127), Paris 1959, S. 598-613. Valéry verweist insbesondere auf den Essay The Poetic Principle, den Baudelaire teilweise im Wortlaut übernommen hat, weil er ihn in Inhalt wie Form „comme son propre bien“ betrachtet habe (S. 608; Hervorhebungen, wo nicht anders vermerkt, im Original). 2 Siehe A. Ferran, L’Esthétique de Baudelaire, Paris 1933, S. 158 ff. M. Gilman, Baudelaire the Critic, New York 1943, S. 58 ff. Baudelaire selbst schreibt dazu: „[…] en 1846 ou 47, j’eus connaissance de quelques fragments d’Edgar Poe; j’éprouvai une commotion sin‐ gulière; […] je trouvai […] des poèmes et des nouvelles dont j’avais eu la pensée, mais vague et confuse, mal ordonnée, et que Poe avait su combiner et mener à la perfection.“ (Correspondance, 2 Bde., hrsg. von C. Pichois / J. Ziegler [Bibliothèque de la Pléiade. 247-248], Paris 1973, Bd. 1, S. 676, 18. Februar 1860, an Armand Fraisse.) Siehe auch Bd. 2, S. 386, 20(? ). Juni 1864, an Théophile Thoré. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt a) Ästhetische und anthropologische Voraussetzungen Paul Valéry hat in seinen Überlegungen zur „Situation de Baudelaire“ auf die Bedeutung hingewiesen, die die Beschäftigung mit Edgar Allan Poe für die dichterische Selbstfindung Baudelaires hatte. Poe, der im experimentierfreu‐ digen Umfeld der Neuen Welt den dichterischen Prozess mit einer bis dahin ungewohnten Unvoreingenommenheit und Scharfsichtigkeit analysiert hatte, habe mit seinen Überlegungen zu Ziel und Methode moderner Dichtung Bau‐ delaire aus der Seele gesprochen und ihm bei der Lösung des Problems geholfen, ein großer Dichter zu werden, ohne in die Spuren Lamartines, Hugos oder Mus‐ sets zu treten 1 . Die Forschung hat Valérys Urteil über das Verhältnis Baudelaires zu Poe und die Geistesverwandtschaft beider Dichter bestätigt und im Einzelnen nachge‐ zeichnet, wie der Jüngere das Werk des Älteren kennen gelernt hat. Seit No‐ vember 1845 erschienen in Paris die ersten französischen Übersetzungen von Poes Erzählungen, die Baudelaire so tief beeindruckten, dass er zu sammeln begann, was er über ihren Autor in Erfahrung bringen konnte 2 , sowie Überset‐ zungen von ihnen anzufertigen. Zudem verfasste er mehrere Artikel, in denen er Poe dem französischen Publikum vorstellte, den ersten im Jahr 1852 (Edgar 3 Die dafür von ihm verwendeten Quellen hat William T. Bandy in seiner Edition des Artikels (Toronto 1973) aufgearbeitet. 4 Zu dieser Ausgabe und ihren Auflagen sowie zur wechselnden Einordnung des Poetic Principle darin siehe die Angaben der Edgar Allan Poe Society of Baltimore www.eapoe.org/ works/ editions/ griswold.htm, The Works of the Late Edgar Allan Poe (The Griswold Edition) (1850-1856) (15. 07. 2015). 5 Alle Artikel über Poe in Ch. Baudelaire, Œuvres complètes, hrsg. von C. Pichois, 2 Bde. (Bibliothèque de la Pléiade. 1 und 7), Paris 1975 / 1976, Bd. 2, S. 247-337; Zitat: S. 318. 6 Suggestion XXII, in: The Complete Works of Edgar Allan Poe, hrsg. von J. A. Harrison, Virginia Edition ( 1 1902), New York 1965, 17 Bde., hier: Bd. 14: Essays and Miscellanies, S. 175 f. Baudelaire zitiert die vollständige Horazische Wendung (ep. II, 2, 102), die Poe verkürzt hatte („genus irritabile“). 7 Notes nouvelles sur Edgar Poe, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 319-337, hier: S. 330 f. Allan Poe, sa vie et son ouvrage 3 ). Nachdem er zwischen 1853 und 1855 die bei Redfield, New York, seit 1850 erschienenen Bände der Ausgabe von Poes Werken 4 erworben hatte, überarbeitete er, auf die dort gefundenen neuen In‐ formationen gestützt, den früheren Artikel und stellte die neue Fassung Edgar Poe, sa vie et ses œuvres seinen unter dem Titel Histoires extraordinaires bei Lévy 1856 erscheinenden Übersetzungen voran. Die dort angekündigte Fortsetzung über Poes „opinions philosophiques et littéraires“ folgte 1857 in den Notes Nou‐ velles sur Edgar Poe, der Einleitung zu weiteren Übersetzungen (Nouvelles His‐ toires extraordinaires) 5 . Neben einer gekürzten Fassung der Biographie Poes ent‐ halten die Notes Nouvelles die Darlegung seiner politischen Überzeugungen und vor allem seiner Gedanken zur Literaturkritik, insbesondere der Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung, wie sie seinem letzten Essay The Poetic Principle zu entnehmen sind. Seine Darlegung der ästhetischen Überzeugungen Poes im vierten und letzten Teil der Notes Nouvelles beginnt Baudelaire mit einer Übersetzung der Definition des Dichters, des „genus irritabile vatum“, aus Poes Fifty Suggestions 6 . Danach ist ein Dichter das, was er ist, dank seines angeborenen „sens exquis du Beau“, der ihm rauschhafte Wonnegefühle („jouissances enivrantes“) beschere, und eines „sens également exquis de toute difformité et disproportion“, der ihn auf ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit außergewöhnlich stark reagieren lasse. Die berühmte Reizbarkeit sei eine Folge seiner Wahrnehmung von Proportionen jeder Art, mithin des Schönen. Wer sie nicht besitze, sei kein Dichter 7 . Dann geht er auf Poes methodisches Vorgehen beim dichterischen Schaffensakt ein: Non seulement il a dépensé des efforts considérables pour soumettre à sa volonté le démon fugitif des minutes heureuses, pour rappeler à son gré ces sensations exquises, ces appétitions spirituelles, ces états de santé poétique, si rares et si précieux qu’on pourrait vraiment les considérer comme des grâces extérieures à l’homme et comme I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 14 8 Marginalia, in: The Complete Works, Bd. 16: Marginalia - Eureka, S. 1-178, hier: S. 88 f. des visitations; mais aussi il a soumis l’inspiration à la méthode, à l’analyse la plus sévère. […] Il affirmait que celui qui ne sait pas saisir l’intangible n’est pas poète; que celui-là seul est poète, qui est le maître de sa mémoire, le souverain des mots, le registre de ses propres sentiments toujours prêt à se laisser feuilleter. Tout pour le dénoûment! répète-t-il souvent. Un sonnet lui-même a besoin d’un plan, et la construction, l’ar‐ mature pour ainsi dire, est la plus importante garantie de la vie mystérieuse des œuvres de l’esprit. (S. 331 f.) Planung, bewusste Konstruktion und die vollständige Beherrschung aller Mittel seien nach Poes Überzeugung für ein Kunstwerk unumgänglich, und so habe er selbst sie auch angewandt. Vor allem anderen bedarf es aber eines außerge‐ wöhnlichen Enthusiasmus beim Dichter. Dazu hat Poe sich eingehend in seinen Marginalia geäußert, wo er von den Fantasien („fancies“) spricht, die in Zeiten körperlichen und seelischen Wohlgefühls im Zustand zwischen Wachen und Träumen in ihm auftauchten und eine seelische Ekstase auslösten, die einen übernatürlichen und absolut neuen Charakter hatte: There is, however, a class of fancies, of exquisite delicacy, which are not thoughts […] They seem to me rather psychal than intellectual. They arise in the soul (alas, how rarely! ) only at its epochs of most intense tranquility - when the bodily and mental health are in perfection - and at those mere points of time where the confines of the waking world blend with those of the world of dreams. […] These „fancies“ have in them a pleasurable ecstasy […] I regard the visions, even as they arise with an awe which, in some measure, moderates or tranquilizises the ecs‐ tasy - I so regard them, through a conviction […] that this ecstasy, in itself, is of a character supernal to the Human Nature - is a glimpse of the spirit’s outer world; and I arrive at this conclusion […] by a perception that the delight experienced has, as its element, but the absoluteness of novelty. 8 Mit der Zeit sei es ihm gelungen, die Umstände zu kontrollieren und die „fancies“ willentlich herbeizuführen („now I can be sure […] of the supervention of the condition, and feel even the capacity of inducing or compelling it“) sowie ihre flüchtigen Momente im Gedächtnis zu verankern („and thus transfer the point itself into the realm of Memory“), wo er dann die empfangenen Eindrücke, wenn auch nur kurz, analysieren und in Worte fassen könne: „where, although for a very brief period, I can survey them with the eye of analysis“ (S. 90). Von diesen Aussagen zur Poeschen Inspirations-Methode hat Baudelaire in seiner Zusam‐ menfassung ausgewählt, was ihn besonders ansprach und es mit Wendungen wiedergegeben, auf die er später immer wieder zurückgegriffen hat („minutes 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 15 9 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 332. Poe: „[…] a poem deserves its title only inasmuch as it excites, by elevating the soul. The value of the poem is in the ratio of this elevating excitement.“ (The Poetic Principle, in: The Complete Works of Edgar Allan Poe, Bd. 14, S. 266-292; hier: S. 266 [Text: Sartain’s Union Magazine, October, 1850].) 10 „[…] all excitements are, through a psychal necessity, transient.“ (Ebd.) 11 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 333. Im Poeschen Original: „[…] the heresy of The Di‐ dactic. It has been assumed, tacitly and avowedly, directly and indirectly, that the ulti‐ mate object of all Poetry is Truth. Every poem, it is said, should inculcate a moral; and by this moral is the poetical merit of the work to be adjugded. […] but the simple fact is, that, would we but permit ourselves to look into our own souls, we should immedi‐ ately there discover that under the sun there neither exists nor can exist any work more thoroughly dignified - more supremely noble than this very poem - this poem per se - this poem which is a poem and nothing more - this poem written solely for the poem’s sake.“ (S. 271 f.) heureuses“, „sensations exquises“, „états de santé poétique, si rares et si pré‐ cieux“). Dann legt er dar, was Poe im Poetic Principle über die Dichtung und den zwei‐ fachen Irrglauben vom langen Gedicht und vom Nutzen der Dichtung sagt. Da ein Gedicht nach Poe nur in dem Maße von Wert ist, wie es die Seele erregt und erhebt - „un poème ne mérite son titre qu’autant qu’il excite, qu’il enlève l’âme“ 9 , alle seelischen Erregungen aber notwendigerweise flüchtig und von kurzer Dauer sind 10 , ist der Länge eines Gedichts eine natürliche Grenze gesetzt. Damit hat das Epos als unpoetisch zu gelten, wenngleich es einer gewissen Länge bedarf, um beim Leser eine Erregung zu bewirken. Zugleich weist Poe entschieden die Vorstellung zurück, dass die Dichtung der Wahrheit oder der Moral dienen müsse. Ihr Gegenstand sei vielmehr das Schöne und nur ein um seiner selbst willen geschriebenes Gedicht sei schön, wie man aus eigener Er‐ fahrung wissen könne - mit Baudelaires Worten: La poésie, pour peu qu’on veuille descendre en soi-même, interroger son âme, rappeler ses souvenirs d’enthousiasme, n’a pas d’autre but qu’elle-même; elle ne peut pas en avoir d’autre, et aucun poème ne sera si grand, si noble, si véritablement digne du nom de poème, que celui qui aura été écrit uniquement pour le plaisir d’écrire un poème. 11 Baudelaire negiert nicht die Möglichkeit, dass die Dichtung den Menschen letzt‐ lich besser machen könne, wohl aber, dass dies ihre Aufgabe sei. Ja, er stellt fest, dass ein Dichter, der solches anstrebt, seine poetische Kraft schwächt, so dass zu wetten stehe, dass sein Werk schlecht sei: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 16 12 Ebd. Baudelaire nimmt hier einen Gedanken Victor Cousins auf: „La théorie, qui ramène le beau à l’utile, peut corrompre le goût, imprimer aux artistes une tendance destructive de l’art et de l’imagination. […] On cesse d’être artiste quand on consacre son pinceau, son ciseau ou sa lyre à une autre mission qu’à la production du beau.“ (Cours de philo‐ sophie sur le fondement des idées absolues du vrai, du beau et du bien, hrsg. von A. Garnier, Paris 1836, S. 231.) 13 „Le vice porte atteinte au juste et au vrai, révolte l’intellect et la conscience; mais, comme outrage à l’harmonie, comme dissonance, il blessera plus particulièrement certains es‐ prits poétiques; et je ne crois pas qu’il soit scandalisant de considérer toute infraction à la morale, au beau moral, comme une espèce de faute contre le rhythme et la prosodie universels.“ (Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 334.) La poésie ne peut pas, sous peine de mort ou de défaillance, s’assimiler à la science ou à la morale; elle n’a pas la Vérité pour objet, elle n’a qu’elle-même. 12 Laster und Ungerechtigkeit verstoßen jedoch gegen die universale Ordnung und Harmonie und verletzen so den Schönheitssinn des Dichters 13 . Dieser Sinn für das Schöne ist es, der den Menschen die universalen Zusammenhänge begreifen und die Erde als eine Entsprechung des Himmels verstehen lässt; er ist Beweis unserer Unsterblichkeit und ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach den himm‐ lischen Freuden: C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du Ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au delà, et que révèle la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalité. C’est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l’âme entrevoit les splendeurs situées derrière le tombeau; et quand un poème exquis amène les larmes au bord des yeux, ces larmes ne sont pas la preuve d’un excès de jouissance, elles sont bien plutôt le témoignage d’une mélancholie irritée, d’une postulation des nerfs, d’une nature exilée dans l’imparfait et qui voudrait s’emparer immédiatement, sur cette terre même, d’un paradis révélé. (S. 334) Baudelaire gibt die Worte Poes hier kaum verändert wieder: An immortal instinct, deep within the spirit of man, is thus, plainly, a sense of the Beautiful. […] We have still a thirst unquenchable […] This thirst belongs to the im‐ mortality of Man. It is at once a consequence and an indication of his perennial exis‐ tence. […] It is no mere appreciation of the Beauty before us - but a wild effort to reach the Beauty above. […] And thus when by Poetry - or when by Music, the most entrancing of the Poetic moods - we find ourselves melted into tears - we weep then - not […] through excess of pleasure, but through a certain, petulant, impatient sorrow at our inability to grasp now, wholly, here on earth, at once and for ever, those divine 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 17 14 The Poetic Principle, S. 273 f. 15 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 334. 16 Dieselbe Wendung auch schon S. 332 für Poes „The value of the poem is in the ratio of this elevating excitement.“ (siehe oben, Anm. 10). 17 Théophile Gautier [I], in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 103-128, S. 112: „Il est permis quel‐ quefois, je présume, de se citer soi-même, surtout pour éviter de se paraphraser.“ Es folgt die Wiederholung der Stelle aus den Notes nouvelles sur Edgar Poe, die in das Zitat mündet (S. 114). 18 „Situation de Baudelaire“, S. 608. In derselben Art eines sich aneignenden Zitierens ist schon Poe gegenüber seinem Vorgänger Coleridge verfahren; siehe A. Schlutz, „Purloined Voices: Edgar Allan Poe Reading Samuel Taylor Coleridge“, Studies in Romanti‐ cism Bd. 47 / 2008, S. 195-224, sowie weiteres im Folgenden. and rapturous joys, of which through the poem, or through the music, we attain to but brief and indeterminate glimpses. 14 Das Ringen um einen wenn auch nur kurzen Blick auf die höhere Schönheit hat nach Poe der Welt alles das beschert, was als poetisch empfunden wird: The struggle to apprehend the supernal Loveliness […] has given to the world all that which it (the world) has ever been enabled at once to understand and to feel as poetic. (S. 274) und so stellt er schließlich fest, dass sich das Poetische stets in einer erhebenden Erregung der Seele manifestiere: It has been my surpose to suggest that, while this [Poetic] Principle itself is, strictly and simply, the Human Aspiration for Supernal Beauty, the manifestation of the Prin‐ ciple is always found in an elevating excitement of the Soul […] (S. 290) Auch diese Formulierung übernimmt Baudelaire fast wörtlich: Ainsi le principe de la poésie est, strictement et simplement, l’aspiration humaine vers une beauté supérieure, et la manifestation de ce principe est dans un enthousiasme, une excitation de l’âme […]. 15 Die Wendung „une excitation de l’âme“ wird er zwei Jahre später noch durch das eindeutigere „un enlèvement de l’âme“ 16 ersetzen, wenn er den ganzen Passus im Artikel über Théophile Gautier wiederholt und ihn dabei als Selbstzitat an‐ kündigt 17 . Valéry hat dieses „Poe-Plagiat“ Baudelaires im Sinne seiner Aneig‐ nungsthese als Beleg dafür verstanden, wie sehr sich die Positionen beider Au‐ toren deckten 18 . I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 18 19 So bewirkte die Musik Richard Wagners für Baudelaire nachweislich eine „sensation de la béatitude spirituelle et physique“ („Richard Wagner et Tannhäuser à Paris“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 779-807, hier: S. 785). In der Malerei hat er vor allem in den Bildern von Delacroix Vergleichbares beobachtet, die ihm wie eine „traduction [des] beaux jours de l’esprit“ erschienen (Exposition universelle 1855. Beaux Arts, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 575-597, hier: S. 596) und den Betrachter mit einer „volupté surna‐ turelle“ erfüllten („L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 742-770, hier: S. 753). Zu Théodore de Banville als Dichter der übernatürlichen Glückseligkeit siehe unten, S. 45. 20 Biographia literaria, Kap. XIV, in: S. T. Coleridge, Collected Works, Bd. 7: Biographia li‐ teraria, hrsg. von J. Engell und W. Jackson Bate, London 1983, hier: Bd. 7, 2, S. 15 f. Vom „pleasurable Excitement“ ist etwa in der vierten Lecture on Shakespeare die Rede (Col‐ lected Works, Bd. 5: Lectures 1808-1819: on Literature, hrsg. von R. A. Foakes, Princeton 1987, hier: Bd. 5, 1, S. 245). Poe hält diesen „excess of pleasure“ als Erklärung für nicht ausreichend. 21 The Poetic Principle, S. 274 f.: „In the contemplation of Beauty we alone find it possible to attain that pleasurable elevation, or excitement, of the soul, which we recognise at the Poetic Sentiment […].“ 22 Fusées XI, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 649-667, hier: S. 658. Die Fusées sind eine Un‐ terabteilung der Journaux intimes, deren Titel Baudelaire erstmals 1862 nennt. Jacques Crépet hat die Entstehung zwischen 1855 und 1862 angesetzt; siehe dazu Ch. B., Jour‐ naux intimes, hrsg. von J. Crépet / G. Blin, Paris 1949, „Introduction“, S. 182. Zu weiteren Datierungsfragen siehe Pichois, „Notes“, S. 1468 f. Baudelaire ist also mit Poe der Überzeugung, dass die Dichtung - und mit ihr die anderen Künste 19 - dem Menschen ekstatische Momente bescheren können, die ihm einen Blick auf höheres Glück gewähren. Mit dem Zusatz der „erhe‐ benden“ seelischen Erregung („an elevating excitement of the Soul“) geht Poe dabei über die Feststellungen seiner angelsächsischen Vorgänger wie etwa Co‐ leridges hinaus, der nur vom „(pleasurable) Excitement“ gesprochen hatte und davon, dass der Dichter die menschliche Seele ganz allgemein in Erregung ver‐ setze: „The poet […] brings the whole soul of man into activity […]“ 20 . Baudelaire folgt dagegen Poes Ansicht vom Streben nach der „Supernal Beauty“, für dessen Verwirklichung in Dichtung und Kunst er seinerseits den Begriff „surnaturel“ bzw. „surnaturalisme“ bereithält. Das „Poetic Sentiment“, wie Poe die ekstatische Erregung der Seele durch die Betrachtung der Schönheit genannt hat 21 , war für Baudelaire ein besonderer Fall des „état exceptionnel de l’esprit et des sens“, der zu seinen anthropologischen Grundüberzeugungen zählte. In den Journaux intimes charakterisiert er den au‐ ßergewöhnlichen Zustand des Geistes und der Sinne mit knappen Worten: Il y a des moments de l’existence où le temps et l’étendue sont plus profonds, et le sentiment de l’existence immensément augmenté. 22 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 19 23 Le Poème du hachisch, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 401-441, hier: S. 401. Die Vorstel‐ lung vom spontanen Auftreten eines allgemeinen „état exceptionnel“ während des morgendlichen Erwachens wirkt wie eine Ergänzung zu Poes willentlich beherrschtem Auftauchen der ekstatischen „fancies“ im Übergang zwischen Wachen und Schlafen. 24 S. 402: „[…] cet état charmant et singulier, où toutes les forces s’équilibrent, où l’ima‐ gination, quoique merveilleusement puissante, n’entraîne pas à sa suite le sens moral dans de périlleuses aventures, où une sensibilité exquise n’est plus torturée par des nerfs malades, ces conseillers ordinaires du crime ou du désespoir, cet état merveilleux, dis-je, n’a pas de symptômes avant-coureurs. Il est aussi imprévu que le fantôme.“ 25 „que je puis sans exagération appeler paradisiaque“ (S. 401). Vgl. bei Poe die Formulie‐ rung für das Erreichen des für „fancies“ günstigen Zustands: „else had I compelled, already, the Heaven into the Earth.“ (Marginalia, S. 89.) 26 Poe spricht vom „point of time“ und von der „evanescence of fancies“ (ebd.). Im ersten Kapitel des Poème du hachisch findet sich seine ausführliche Beschrei‐ bung. Der „état exceptionnel“, heißt es dort, sei eine Erfahrung, die jedermann zugänglich und vertraut ist: Il est des jours où l’homme s’éveille avec un génie jeune et vigoureux. Ses paupières à peine déchargées du sommeil qui les scellait, le monde extérieur s’offre à lui avec un relief puissant, une netteté de contours, une richesse de couleurs admirables. Le monde moral ouvre ses vastes perspectives, pleines de clartés nouvelles. L’homme gratifié de cette béatitude, malheureusement rare et passagère, se sent à la fois plus artiste et plus juste, plus noble, pour tout dire en un mot. 23 In diesem Zustand zeigt sich die Welt dem Menschen in einem neuen und kla‐ reren Licht. Zur äußeren Vielfalt der Formen und Farben gesellen sich unbe‐ grenzte innere Perspektiven und Einsichten. Die seelischen Kräfte sind im Gleichgewicht („toutes les forces s’équilibrent“), die Phantasie ist auf wunder‐ bare Weise mächtig („l’imagination […] merveilleusement puissante“), sinnliche und geistige Wahrnehmung sind geschärft („une sensibilité exquise“, „[c]ette acuité de la pensée“) 24 . Alle Fähigkeiten sind gesteigert und der Mensch ist im schönsten Einklang mit sich selbst: […] cette condition anormale de l’esprit [est] comme […] un miroir magique où l’homme est invité à se voir en beau, c’est-à-dire tel qu’il devrait et pourrait être; une espèce d’excitation angélique, un rappel à l’ordre sous forme complimenteuse. (Ebd.) Unglücklicherweise ist dieser „paradiesische“ 25 Zustand selten und von kurzer Dauer 26 ; auch lässt er sich, wie eine Gnade („comme une véritable grâce“), nicht vorhersehen und durch kein noch so wohl überlegtes Vorgehen erzwingen. Doch ist er den Menschen immer erstrebenswert erschienen, weil er sie, und sei es nur für kurze Zeit, aus ihrem „habitacle de fange“ und den „lourdes ténèbres de l’existence commune et journalière“ befreit. Daher haben sie seit jeher ihre I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 20 27 Ausführlich dazu L. J. Austin, L’Univers poétique de Baudelaire. Symbolisme et symbo‐ lique, Paris 1956, S. 177 ff. („Les beaux jours de l’esprit“). 28 Aus dem frühen Du Vin et du hachisch (1851) sind Teile in den Essay von 1858 De l’idéal artificiel - le hachisch, das spätere Poème du hachisch, eingegangen; zusammen mit Un Mangeur d’Opium, dem Referat von Thomas De Quinceys Confessions of an English Opium Eater, hat Baudelaire beide 1860 unter dem Titel Les Paradis artificiels publiziert. 29 H. R. Jauß, „Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie“ ( 1 1980), in: ders., Studien zum Epo‐ chenwandel der ästhetischen Moderne (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 864), Frank‐ furt a. M. 1989, S. 166-188, hier: S. 169. 30 A. Fairlie, „Some Remarks on Baudelaire’s Poème du hachisch“ (1952), in: dies., Imagi‐ nation and Language. Collected Essays on Constant, Baudelaire, Nerval and Flaubert, Cambridge 1981, S. 129-149. Zuflucht zu allerlei Mitteln genommen, um ihn auf künstliche Weise zu er‐ zeugen: Cette acuité de la pensée, cet enthousiasme des sens et de l’esprit, ont dû, en tout temps, apparaîre à l’homme comme le premier des biens […]; c’est pourquoi, ne con‐ sidérant que la volupté immédiate, il a, sans s’inquiéter de violer les lois de sa consti‐ tution, cherché dans la science physique, dans la pharmaceutique, dans les plus grosses liqueurs, dans les parfums les plus subtils, sous tous les climats et dans tous les temps, les moyens de fuir, ne fût-ce que pour quelques heures, son habitacle de fange et […] ‚d’emporter le paradis d’un seul coup‘. Hélas! les vices de l’homme, si pleins d’horreur qu’on les suppose, contiennent la preuve […] de son goût de l’infini; seulement, c’est un goût qui se trompe souvent de route. (Ebd.) Damit bekunden sie nach seiner Überzeugung noch in ihren Lastern ihren „goût de l’infini“. „Le Goût de l’infini“ lautet denn auch der Titel dieses ersten Kapitels des Poème du hachisch, dessen Menschenbild zutiefst von der christlichen Vor‐ stellung des Sündenfalls geprägt ist. Baudelaire hat den „état exceptionnel“ wiederholt beschrieben und unter‐ schiedlich benannt 27 . Außer den Wirkungen des Zustandes hat ihn vor allem interessiert, wodurch er ausgelöst wird. So hat er in den Paradis artificiels, den durch Wein, Haschisch oder Opium zu erlangenden „Künstlichen Paradiesen“ 28 , ausführlich erörtert, wie die Glückseligkeit ‚aus der Apotheke‘ zu erlangen ist. Dabei hat er immer wieder Parallelen zwischen den durch Drogen bewirkten Rauschzuständen und dem ekstatischen Zustand des Dichters gezogen, denn als Dichter ging es ihm „letztlich […] um die Ergründung der äußersten Möglich‐ keiten eines ‚poetischen‘ Zustands“ 29 . Daher hat man das Poème du hachisch als einen Kommentar zur dichterischen Erfahrung der Fleurs du mal lesen können 30 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 21 31 Austin, S. 177 ff. Austin betont den Unterschied zwischen Poes ästhetischer und Bau‐ delaires „psychologischer“ Auffassung des Phänomens (S. 179 ff.); tatsächlich war der Ausnahmezustand für Baudelaire eine anthropologische Konstante. 32 R. Zaiser, Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines re‐ ligiösen Erlebnismusters (Études littéraires françaises. 63), Tübingen 1995, S. 15 ff. („Präliminarien“). Zur Einführung und zum sehr speziellen Gebrauch des Begriffs bei Joyce siehe K. P. Müller, Epiphanie. Begriff und Gestaltungsprinzip im Frühwerk von James Joyce (Literaturwissenschaft. Theorie und Geschichte. 5) Frankfurt a. M. 1984. 33 M. Beja, Epiphany in the Modern Novel, London 1971, S. 17 f.; R. Langbaum, „The Epi‐ phanic Mode in Wordsworth and Modern Literature“, New Literary History Bd. 14 / 1983, S. 335-357, S. 341; Zaiser S. 24 f. 34 Beja, Epiphany in the Modern Novel; Langbaum, „The Epiphanic Mode“, untersucht die zentrale Rolle von Wordsworth und dessen Lyrical Ballads für das Phänomen. Siehe auch unten, S. 44, Anm. 105. 35 „[…] la manifestation de ce principe est dans un enthousiasme, une excitation de l’âme […].“ (Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 334; Hervorhebung von mir.) und im „état exceptionnel“ geradezu das Herzstück der Baudelaireschen Poetik gesehen 31 . In der neueren Literaturwissenschaft wird ein dem Baudelaireschen „état ex‐ ceptionnel“ verwandtes Phänomen unter dem Begriff ‚Epiphanie‘ diskutiert. Dieser Begriff geht in seiner modernen Bedeutung auf James Joyce zurück, der die alte religiöse Bedeutung von ‚Epiphanie‘ als In-Erscheinung-Treten eines Gottes psychologisch und literarisch umgedeutet hat in dem Sinne, dass in ge‐ wissen Momenten die Dinge in ihrer Wesenheit erscheinen und zu erfassen sind und dass ein Autor dies zu vermitteln habe 32 . Als wesentliche Kriterien einer Epiphanie gelten die sinnenhafte Wahrnehmung eines alltäglichen Gegenstands oder einer alltäglichen Situation, Plötzlichkeit und Kürze der Empfindung sowie die erhellende Einsicht in eine unbekannte Wirklichkeit 33 . Seit der Romantik ist die Epiphanie ein Programmpunkt der Lyrik und im modernen Roman ist sie eine Konstante geworden 34 . Der romantische Ursprung der literarischen Epi‐ phanie legt Verbindungslinien zu Baudelaire nahe, auch wenn die Hochge‐ stimmtheit und das ekstatische Hochgefühl bei diesem ausgeprägter (und näher am religiösen Erleben) sind und er ausdrücklich den schöpferischen Enthusi‐ asmus einbezieht. In der theologischen und der künstlerischen Anthropologie waren Epiphanie und Ausnahmezustand bis in die Romantik als Enthusiasmus, als Ergriffensein vom Gott oder vom Göttlichen bekannt. Mit der Umschreibung „enthousi‐ asme“ 35 schließt Baudelaire Poes „elevating excitement“ an diese ästhetische Diskussion an. In Frankreich hatte etwa Mme de Staël die Überzeugung ge‐ äußert, dass Dichtung und Kunst in der Lage seien, den flüchtigen Enthusiasmus im Menschen sowohl zu entwickeln wie auch zu bewahren: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 22 36 De l’Allemagne, 2 Bde., eingel. von S. Balayé (Garnier Flammarion. 166-167), Paris 1968; IV, 12 („Influence de l’enthousiasme sur le bonheur“), Bd. 2, S. 310. 37 De l’Allemagne II, 10 („De la poésie“), Bd. 1, S. 207. 38 S. 205. 39 S. 207. Im Zuge ihrer Definition der „poésie“ zählt Mme de Staël weitere Gegenstände auf, die Ursachen wie Bilder des Enthusiasmus sein können: „si l’on veut comprendre ce qu’elle [la poésie] est, il faut appeler à son secours les impressions qu’excitent une belle contrée, une musique harmonieuse, le regard d’un objet chéri, et par-dessus tout un sentiment religieux qui nous fait éprouver en nous-mêmes la présence de la divinité.“ (S. 205) On accuse l’enthousiasme d’être passager; l’existence serait trop heureuse si l’on pou‐ vait retenir des émotions si belles; mais c’est parce qu’elles se dissipent aisément qu’il faut s’occuper de les conserver. La poésie et les beaux-arts servent à développer dans l’homme ce bonheur d’illustre origine qui relève les cœurs abattus, et met à la place de l’inquiète satiété de la vie le sentiment habituel de l’harmonie divine dont nous et la nature faisons partie. 36 Vor allem die Lyrik kann den paradiesischen Zustand herstellen und ihm die gewünschte Dauer verleihen: La poésie lyrique […] donne de la durée à ce moment sublime pendant lequel l’homme s’élève au-dessus des peines et des plaisirs de la vie. 37 Denn der Lyriker versteht es, die tiefsten Empfindungen der Seele freizusetzen - „de dégager le sentiment prisonnier au fond de l’âme“ 38 - und sie durch Sprache auszudrücken. Die Bilder, die er zum poetischen Ausdruck oder „emblème“ dieser Empfindungen braucht, findet er in bestimmten Naturansichten, die von den Modernen dank ihrer „religion spiritualiste“ als erhaben empfunden werden: Les modernes ne peuvent se passer d’une certaine profondeur d’idées dont une reli‐ gion spiritualiste leur a donné l’habitude; et si cependant cette profondeur n’était point revêtue d’images, ce ne serait pas de la poésie: il faut donc que la nature grandisse aux yeux de l’homme pour qu’il puisse s’en servir comme de l’emblème de ses pensées. Les bosquets, les fleurs et les ruisseaux suffisaient aux poètes du paganisme; la solitude des forêts, l’Océan sans bornes, le ciel étoilé peuvent à peine exprimer l’éternel et l’infini dont l’âme des chrétiens est remplie. 39 Mme de Staël befindet sich hier im Einklang mit Chateaubriand, der im Génie du Christianisme festgestellt hatte, dass die enthusiastische Naturerfahrung eine spezifisch christliche Errungenschaft sei: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 23 40 Génie du Christianisme, in: F.-René de Chateaubriand, Essai sur les révolutions, hrsg. von M. Regard (Bibliothèque de la Pléiade. 272), Paris 1978, S. 465-1093, II, 4, 1: „Que la mythologie rapetissait la nature; que les anciens n’avaient point de poésie proprement dite descriptive“, hier: S. 721. 41 Siehe hierzu J. Schulze, „Von der erlebten zur imaginierten Landschaft. Über die Stellung von Lamartines L’Isolement in der Geschichte der poetischen Naturerfahrung“, Zeit‐ schrift für französische Sprache und Literatur Bd. 91 / 1981, S. 323-356, bes. S. 328 ff. 42 Génie du christianisme, I, 5, 12: „Deux perspectives de la nature“, S. 589-592. 43 Zur Tradition der Naturerfahrung siehe G. Hess, Die Landschaft in Baudelaires Fleurs du mal, Heidelberg 1953; dort zu Rousseau: S. 14 ff. Schulze, „Von der erlebten zur ima‐ ginierten Landschaft“, S. 324 ff. Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scènes de la nature. Eh! qui n’a pas passé des heures entières, assis sur le rivage d’un fleuve, à voir s’écouler les ondes! Qui ne s’est plu, au bord de la mer, à regarder blanchir l’écueil éloigné! Il faut plaindre les anciens, qui n’avaient trouvé dans l’Océan que le palais de Neptune et la grotte de Protée; il était dur de ne voir que les aventures des Tritons et des Néréides dans cette immensité des mers, qui semble nous donner une mesure confuse de la grandeur de notre âme, dans cette immensité qui fait naître en nous un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur. 40 An seinem Beispiel lassen sich die typischen Züge eines ekstatischen Naturer‐ lebnisses gewinnen: es geht von einer konkreten Landschaft („le rivage d’un fleuve“, „[le] bord de la mer“) aus, die von der Phantasie des Betrachters ins Unendliche („immensité“) erweitert wird und diesem eine „konfuse“ Selbster‐ fahrung („une mesure confuse de la grandeur de notre âme“) vermittelt, die in ein religiöses Vereinigungserlebnis bzw. eine Hoffnung auf ein solches mündet („un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur“) 41 . Chateaubriand hat auch die Naturschauspiele genannt, die für solche Erlebnisse in Frage kommen. Das eine ist der Anblick der „déserts de l’Océan“ unter einem nächtlichen Sternenhimmel, der den Menschen die Un‐ endlichkeit des Universums und die Allmacht Gottes erfahren lässt; das andere ist eine „perspective terrestre“, die vom Mond beschienene Savannen- und Waldlandschaft der Neuen Welt, in der die Seele in die Weite der Wälder ein‐ taucht („l’âme se plaît à s’enfoncer dans un océan de forêts“) und in der Ein‐ samkeit Gott begegnet („à méditer au bord des lacs et des fleuves, et pour ainsi dire, à se trouver seule devant Dieu“) 42 . Ekstatische Naturerlebnisse sind in der französischen Literatur seit Rous‐ seaus Rêveries du promeneur solitaire bekannt 43 . Rousseau hat in seiner „Septième Promenade“ beschrieben, wie er sich in der erzwungenen Einsamkeit beim Her‐ borisieren in die Betrachtung der „trois règnes“ der Natur versenkt und mit einer „délicieuse ivresse“ in der Unendlichkeit dieses „beau sistême“ verloren habe: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 24 44 J.-J. Rousseau, Les Rêveries du promeneur solitaire, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, hrsg. von B. Gagnebin, R. Osmont und M. Raymond, Bd. 1 (Bibliothèque de la Pléiade. 11), Paris 1962, S. 993-1099, hier: S. 1062 f. 45 „Cinquième Promenade“, S. 1043 ff. Vgl. auch Wendungen wie „jouir de ma propre exis‐ tence“, „sentir“ bzw. „doubler mon existence“ (S. 1047. 1045. 1001). Baudelaires „senti‐ ment de l’existence“ in Fusées XI knüpft offensichtlich hier an. 46 „Un silence absolu porte la tristesse. Il offre une image de la mort. Alors le secours d’une imagination riante est necessaire et se présente assez naturellement à ceux que le Ciel en a gratifiés. Le mouvement qui ne vient pas du dehors se fait alors au dedans de nous. Le repos est moindre, il est vrai, mais il est aussi plus agréable quand de légères et douces idées sans agiter le fond de l’âme ne font pour ainsi dire qu’en effleurer la surface. Il n’en faut qu’assez pour se souvenir de soi-même en oubliant tous ses maux.“ (S. 1047 f.) Plus un contemplateur a l’âme sensible plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord. Une rêverie douce et profonde s’empare alors de ses sens, et il se perd avec une délicieuse ivresse dans l’immensité de ce beau sistême avec lequel il se sent iden‐ tifié. Alors tous les objets particuliers lui échappent; il ne voit et ne sent rien que dans le tout. 44 In solchen Momenten fühlt sich der Betrachter mit dem ganzen Universum eins, und das Ich und alles Einzelne gehen im Ganzen auf. In der „Cinquième Pro‐ menade“ berichtet Rousseau von einem weiteren vollkommenen Glückszustand auf dem Bieler See. In einem Boot treibend oder am Ufer sitzend tauchte ihn die gleichförmige Bewegung des Wassers in „mille rêveries confuses mais déli‐ cieuses“ und ließ ihn das pure Gefühl seiner Existenz genießen: […] le bruit des vagues et l’agitation de l’eau […] suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser. 45 Diese Empfindung des ‚sentiment de l’existence‘ lässt den Betroffenen wie Gott sich selbst genügen: […] tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu. (S. 1047) Für solche Ekstasen bedarf es nach Rousseaus Überzeugung der persönlichen Disposition einer „âme sensible“ und der Hilfe der umgebenden Dinge durch eine maßvolle Bewegung zwischen Erregtheit und absoluter Ruhe. Ist die äußere Ruhe zu groß, muss die Phantasie zu Hilfe kommen und durch leichte und an‐ genehme Gedanken innere Bewegung schaffen 46 . „Rêveries“ dieser Art sind nach seiner Überzeugung nicht nur in der Natur, sondern überall möglich, auch unter den widrigsten Bedingungen: […] j’ai souvent pensé qu’à la Bastille et même dans un cachot où nul objet n’eut frappé ma vue, j’aurois encor pu rêver agreablement. (S. 1048) 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 25 47 So in der Untersuchung von Jean Pommier, La Mystique de Baudelaire, Paris 1932, Re‐ print: Slatkine, Genève 1967. Zu weiterem siehe E. S. Stahl, Correspondances. Ein for‐ schungsgeschichtlicher Überblick zum Bildbegriff Charles Baudelaires (Studia Ro‐ manica. 99), Heidelberg 1999. 48 Siehe Gilman, Baudelaire the Critic, S. 113 f. und passim. Wie man sieht, bieten die Rêveries du promeneur solitaire demjenigen, der an ekstatischen Zuständen interessiert ist, ein reichhaltiges Anschauungsmaterial, von dem die Romantik direkt und indirekt reichlich Gebrauch gemacht hat. Für Baudelaire gehört die „rêverie“ vor der Natur lange Zeit zu den mächtig‐ sten Stimuli ekstatischen Erlebens, wie mehrere Gedichte der Fleurs du mal bezeugen. Das bekannteste ist das Sonett Correspondances (Les Fleurs du mal IV ), das Grundgedanken seiner poetischen Theorie enthält und viele Deutungen er‐ fahren hat 47 . Es handelt von der allgemeinen Symbolhaltigkeit der Natur, in welcher der Mensch sich in einem Wald von vertrauten Symbolen bewegt und dunkle Worte hören kann und wo „[l]es parfums, les couleurs et les sons se répondent“ (V. 8). Diese Beziehungen der Dinge untereinander werden am Bei‐ spiel der Düfte beschrieben: Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, - Et d’autres, corrompus, riches et triomphants, Ayant l’expansion des choses infinies, Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens, Qui chantent les transports de l’esprit et des sens. (V. 9-14) Die im letzten Vers genannten „Verzückungen des Geistes und der Sinne“ sind erkennbar ekstatische Zustände, die durch die Synästhesien von Düften, Farben und Tönen hervorgerufen bzw. ausgedrückt werden. Der Gedichttitel spricht jedoch nicht von „synesthésies“, sondern von „correspondances“ und verwendet damit einen Begriff, der zusammen mit „analogies“ eine zentrale Rolle in Bau‐ delaires ästhetischer Theorie spielt 48 . Die von dem Illuministen Emanuel Swe‐ denborg und dem Sozialphilosophen Charles Fourier stammenden Begriffe be‐ nennen die Beziehungen zwischen den Dingen, auf denen die universale Harmonie und Einheit der Schöpfung beruht, die der Mensch im ekstatischen Zustand erfährt. Bei seiner Beschreibung des fortgeschrittenen Stadiums des Haschischrausches, wenn es zur „unio mystica“ mit allem Seienden kommt, verweist Baudelaire auf diese Lehre und ihre Begründer: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 26 49 Le Poème du hachisch, S. 430. 50 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I: Victor Hugo, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 129-141, hier: S. 133; Hervorhebungen im Text. 51 Siehe dazu P. Mansell Jones, „Swedenborg, Baudelaire and their Intermediaries“, in: ders., The Background of Modern French Poetry. Essays and Interviews, Cambridge 1968 ( 1 1951), S. 1-37, bes. S. 29 ff.; Austin, L’Univers poétique de Baudelaire, S. 162 ff. 52 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I: Victor Hugo, S. 133. Victor Hugo beweist dies mit seinem „si magnifique répertoire d’analogies humaines et divines“. Cependant se développe cet état mystérieux et temporaire de l’esprit, où la profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples, se révèle tout entière dans le spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux - où le premier objet venu devient symbole parlant. Fourier et Swedenborg, l’un avec ses analogies, l’autre avec ses cor‐ respondances, se sont incarné dans le végétal et l’animal qui tombent sous votre re‐ gard, et au lieu d’enseigner par la voix, ils vous indoctrinent par la forme et par la couleur. 49 Swedenborg und Fourier, die er hier nicht ohne gewisse Ironie poetisch ins Bild setzt, haben sich mittels ihrer Begriffe Korrespondenz und Analogie in die Tier- und Pflanzenwelt inkarniert und sprechen statt mit menschlicher Stimme durch Form und Farbe. Denn alles in der natürlichen wie geistigen Welt ist bedeu‐ tungsvoll und verweisend: „tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif, réciproque, converse, correspondant. […]tout est hiéroglyphique“ 50 , und es ist Aufgabe des Dichters, diese geheimen Übereinstimmungen des Universums zu entziffern. Daher sind Analogien und Korrespondenzen Grundmuster künstlerischen, insbesondere poetischen Denkens und Schaffens 51 und jeder gute Dichter nimmt seine Bilder aus dem unerschöpflichen Fundus der „universalen Analogie“: Chez les excellents poètes, il n’y a pas de métaphore, de comparaison ou d’épithète qui ne soit d’une adaptation mathématiquement exacte dans la circonstance actuelle, parce que ces comparaisons, ces métaphores et ces épithètes sont puisées dans l’iné‐ puisable fonds de l’universelle analogie, et qu’elles ne peuvent être puisées ailleurs. 52 Einen besonderen Fall von Analogien und Korrespondenzen stellt das im Zu‐ sammenhang mit ihnen erwähnte „symbole parlant“ dar, zu dem ein beliebiger Gegenstand - „le premier objet venu“ - werden kann, den das Individuum im ekstatischen Zustand vor Augen hat und der ihm die „profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples“ offenbart. Diese Beobachtung zur Sym‐ bolbildung war Baudelaire so wichtig, dass er sie in seinen privaten Aufzeich‐ nungen noch einmal allgemeingültiger formuliert hat: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 27 53 Fusées XI, S. 659. 54 Das zeigt die Definition des Begriffs „surnaturel“ in derselben Fusée: „Deux qualités littéraires fondamentales: surnaturalisme et ironie. […] Le surnaturel comprend la cou‐ leur générale et l’accent, c’est-à-dire intensité, sonorité, limpidité, vibrativité, profon‐ deur et retentissement dans l’espace et dans le temps.“ (S. 658) Darauf folgt die bereits zitierte Notiz über das „sentiment de l’existence immensément augmenté“. Zum Ge‐ samtzusammenhang siehe auch Austin, L’Univers poétique de Baudelaire, S. 177 ff. 55 Zu solchen Symbolen und weiteren poetischen Ausdrucksweisen für den „übernatür‐ lichen“ Zustand siehe exemplarisch unten, S. 134 ff. 56 Le Spleen de Paris III (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 273-363, hier: S. 278). Erstveröffentli‐ chung in La Presse vom 26. August 1862. Dans certains états de l’âme presque surnaturels, la profondeur de la vie se révèle tout entière dans le spectacle, si ordinaire qu’il soit, qu’on a sous les yeux. Il en devient le symbole. 53 Die „états de l’âme presque surnaturels“, von denen hier die Rede ist, sind künstlerische, um nicht zu sagen dichterische „états exceptionnels“ 54 . Die „pro‐ fondeur de la vie“, die sich dem Dichter in diesem Zustand in einem alltäglichen Schauspiel offenbart, ist die Summe der vielfältigen Analogien und Korrespon‐ denzen, die er in seinem universalen Einheits- und Harmonieerlebnis wahr‐ nimmt, und das Symbol, in dem er das Erlebnis festhält, hat die Aufgabe, als „symbole parlant“ auf eben diese universalen Beziehungen zu verweisen 55 . In dem 1862 entstandenen Prosagedicht Le Confiteor de l’artiste (Spleen de Paris III ) hat Baudelaire die Naturekstase noch einmal zu seinem Gegenstand gemacht und sie dabei problematisiert. Le Confiteor de l’artiste Que les fins de journées d’automne sont pénétrantes! Ah! pénétrantes jusqu’à la dou‐ leur! car il est de certaines sensations délicieuses dont le vague n’exclut pas l’intensité; et il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini. Grand délice que celui de noyer son regard dans l’immensité du ciel et de la mer! Solitude, silence, incomparable chasteté de l’azur! une petite voile frissonnante à l’ho‐ rizon, et qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence, mé‐ lodie monotone de la houle, toutes ces choses pensent par moi, ou je pense par elles (car dans la grandeur de la rêverie, le moi se perd vite! ); elles pensent, dis-je, mais musicalement et pittoresquement, sans arguties, sans syllogismes, sans déductions. 56 Die vorgestellte Situation ist eine „perspective marine“, ein Herbstabend am Meer, der beim Ich den Ausnahmezustand auslöst und es mit einem unbe‐ stimmten Glücksgefühl („certaines sensations délicieuses“) erfüllt. In der Weite des Himmels und der Unendlichkeit des Meeres „ertrinkt“ sein Blick. Ein kleines Segel am Horizont spiegelt ihm die Winzigkeit und Verlorenheit der eigenen I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 28 57 Kap. III: „Le Théâtre de Séraphin“, S. 419 f. 58 Vgl. hingegen die Steigerung im Poème du hachisch: „l’oiseau qui plane au fond de l’azur représente d’abord l’immortelle envie de planer au-dessus des choses humaines; mais déjà vous êtes l’oiseau lui-même.“ (Meine Hervorhebungen.) Existenz inmitten der erahnten Unendlichkeit. Einsamkeit und Stille, das tiefe Blau des Himmels und das monotone Rauschen des Meeres versetzen es in eine „rêverie“, in der es eins wird mit den Dingen, „durch sie denkt“ und die Dinge „durch es denken“. Soweit zeigt das Gedicht die bekannten Phänomene einer Ekstase von der Steigerung der Sinneswahrnehmung über die Vorstellung der Unendlichkeit bis zur Identifikation und dem Einswerden mit den wahrgenom‐ menen Dingen, wie es im Poème du hachisch beschrieben wird: Il arrive quelquefois que la personnalité disparaît et que l’objectivité, qui est le propre des poètes panthéistes, se développe en vous si anormalement, que la contemplation des objets extérieurs vous fait oublier votre propre existence, et que vous vous con‐ fondez bientôt avec eux. Votre œil se fixe sur un arbre harmonieux courbé par le vent; dans quelques secondes, ce qui ne serait dans le cerveau d’un poète qu’une comparai‐ son fort naturelle deviendra dans le vôtre une réalité. Vous prêtez d’abord à l’arbre vos passions, votre désir ou votre mélancolie; ses gémissements et ses oscillations deviennent les vôtres, et bientôt vous êtes l’arbre. De même, l’oiseau qui plane au fond de l’azur représente d’abord l’immortelle envie de planer au-dessus des choses hu‐ maines; mais déjà vous êtes l’oiseau lui-même. Je vous suppose assis et fumant. Votre attention se reposera un peu trop longtemps sur les nuages bleuâtres qui s’exhalent de votre pipe. L’idée d’une évaporation, lente, successive, éternelle, s’emparera de votre esprit, et vous appliquerez bientôt cette idée à vos propres pensées, à votre matière pensante. Par une équivoque singulière, par une espèce de transposition ou de quiproquo intellectuel, vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’é‐ trange faculté de vous fumer. 57 Bei einem poetischen Gemüt führt dieser Zustand in der Regel zur Symbolbil‐ dung. In Le Confiteor de l’artiste könnte das Segel am Horizont zum Symbol werden, in dem das dichterische Ich den flüchtigen Moment seiner „unio mys‐ tica“ mit dem Geschauten festhält. Obwohl die Schiffsmetapher ein bekanntes Bild des Menschen- und besonders des Dichterlebens ist, ist die Symbolbildung hier aber gestört, da es bei der reinen „représentation“ des Ichs und seiner Be‐ findlichkeit durch das Segel bleibt („qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence“ 58 ). Das Ich spricht im Weiteren sogar von einer unerträglichen Intensität des Erlebnisses: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 29 59 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Naturerlebnisses bei Baudelaire siehe Schulze, „Von der erlebten zur imaginierten Landschaft“, S. 343 ff. Schulze spricht im Falle des Confiteor de l’artiste vom „Scheitern des Einigungserlebnisses“ und einer „‚halbe[n]‘ Offenbarung des Unendlichen in der ‚correspondance‘ mit dem Ich“ (S. 347). 60 Zur Entwicklung von Baudelaires Verhältnis zur Natur siehe F. W. Leakey, Baudelaire and Nature, Manchester 1969. Über den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Abwen‐ dung von der Natur und den Ersatz durch das Artefakt informiert H. R. Jauß, „Kunst als Anti-Natur: Zur ästhetischen Wende nach 1789“, in: ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, S. 119-156. Toutefois, ces pensées, qu’elles sortent de moi ou s’élancent des choses, deviennent bientôt trop intenses. L’énergie dans la volupté crée un malaise et une souffrance positive. Mes nerfs trop tendus ne donnent plus que des vibrations criardes et dou‐ loureuses. Et maintenant la profondeur du ciel me consterne; sa limpidité m’exaspère. L’insen‐ sibilité de la mer, l’immuabilité du spectacle, me révoltent … Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? Nature, enchanteresse sans pitié, rivale tou‐ jours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! L’étude du beau est un duel où l’artiste crie de frayeur avant d’être vaincu. Seine übergroße Lust schlägt in Unwohlsein und Leiden um und seine Nerven vibrieren schmerzlich. Die Tiefe und Klarheit des Himmels bestürzen und er‐ schrecken es, die „insensibilité de la mer“ und die „immuabilité du spectacle“ bringen es auf und bewirken, dass es ein Ende herbeiwünscht („Nature, […] laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! “). Damit entlädt sich die eingangs festgestellte Spannung („il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini“) und die Meditation wird abgebrochen, ohne dass es zu einer umfas‐ senden, das Erlebnis als Ganzes einschließenden poetischen Symbolbildung kommt. Der Blick auf die Geschichte der neueren poetischen Naturerfahrung zeigt, dass ekstatische Naturerlebnisse problematisch verlaufen können und bei Bau‐ delaire tun sie es besonders oft 59 . Das ist die Folge einer nicht mehr fraglosen Bewunderung der Natur und des Naturschönen, die er mit namhaften Zeitge‐ nossen teilt 60 . Das Scheitern der dichterischen Ekstase in Le Confiteor de l’artiste ist dennoch nicht leicht zu verstehen. Denn die Intensität der Wahrnehmung und Empfindungen ist ja an sich ein Charakteristikum des gesuchten Ausnah‐ mezustands, und das künstlerische Genie vermag sie nach Baudelaires Über‐ zeugung auch auszuhalten. Selbst das Erschrecken über die „profondeur“ und „limpidité“ des Himmels muss einer Ekstase nicht im Wege stehen, gehört es I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 30 61 Von solchem Schrecken kündet schon ein Gedicht des siebzehnjährigen Baudelaire, der vor der schrecklichen Stille der Bergwelt fliehen möchte: „[…] / Sous mes pieds, sur ma tête et partout, le silence, / Le silence qui fait qu’on voudrait se sauver, / Le silence éternel et la montagne immense, / Car l’air est immobile et tout semble rêver.“ („Tout là-haut, tout là-haut, loin de la route sûre …“, V. 17-20, in: Poésies de jeunesse. Poésies diverses [Œuvres complètes, Bd. 1], S. 197.) 62 Das Wort „Confiteor“ im Titel ist in seiner liturgischen Bedeutung bisher kaum beachtet worden. Auch Stefan Schulze, der immerhin auf eine Parallele bei Nerval verweist, spricht nur von „religiösem Vokabular“, das „auf den Bereich der Kunst übertragen“ werde (Die Selbstreflexion der Kunst bei Baudelaire. Eine literaturgeschichtliche Unter‐ suchung [Studia romanica. 102], Heidelberg 1999, S. 195). 63 Letztere Auffassung vertritt Stefan Schulze, S. 195. Zur ersteren siehe H. Doetsch, Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust (Ro‐ manica Monacensia. 70), Tübingen 2004, S. 232 f. 64 Siehe dazu Leakey, Baudelaire and Nature, S. 103 ff. („Nature versus Man“). doch zum Erlebnis des Erhabenen 61 . Erst die „insensibilité“ des Meeres, und die „immuabilité“ des Schauspiels, die das romantische Erlebnis einer gleichge‐ stimmten Natur verhindern, lösen denn auch die „Revolte“ des Ichs aus, das sich darauf die Frage nach seinem Verhältnis zum Schönen stellt: „Ah! faut-il étern‐ ellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? “, was hier selbstverständlich das Naturschöne meint. An Stelle einer direkten Antwort wendet das Ich sich an die Natur und weist die von ihr ausgehende „Versuchung“ zurück: „Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! “ Versuchung und Zurückweisung einer Versuchung sind aber religiös konnotierte Handlungen, die in diesem Gedicht in eine weitere religiöse, genauer eine liturgische Handlung eingebaut sind, auf die der Titel Le Confiteor de l’artiste anspielt. In der katholischen Liturgie ist das Confiteor das reinigende Schuldbe‐ kenntnis, das der Priester zu Beginn der Messfeier an den Stufen des Altars ablegt 62 . Baudelaire liebt es, in seinen Gedichten religiöse Redeformen aufzu‐ greifen, etwa den Hymnus als Lob- und Preisgesang des Künstlers auf die Gott‐ heit in Hymne à la Beauté oder die Offenbarungsrede der Gottheit selbst in La Beauté (Fleurs du mal XXI bzw. XVII ). Mit dem Titel Le Confiteor de l’artiste präsentiert er sein Prosagedicht als eine Variante des liturgischen Schuldbe‐ kenntnisses, was zwangsläufig die Frage nach der Schuld aufwirft, die sein dichterisches Ich bekennen soll. Ist es das Scheitern der Ekstase oder das Schei‐ tern des künstlerischen Ausdrucks derselben, ist es ein Sich-Verlieren an die „Formlosigkeit“ des Naturschönen oder, im Gegenteil, dessen nur ästhetische Würdigung, wie man angenommen hat 63 ? Die Antwort, die der Text auf die Frage gibt, kann nur lauten, dass es die Versuchung durch die unbewegte, mit‐ leidlose Natur und ihr verführerisches Schönes ist 64 . Demnach wäre der Dienst 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 31 65 Auch wenn die Hingabe an das Schöne ein Kampf ist, der den Künstler aufschreien lässt: „L’étude du beau est un duel où l’artiste crie de frayeur avant d’être vaincu.“ Auch in Hymne à la Beauté wird der Künstler durch den „regard, infernal et divin“ der Schönheit und den „Zaubertrank“ ihrer Küsse aus der „Amphore“ ihres Mundes ‚besiegt‘, vor denen „le héros lâche et l’enfant courageux“ werden (Fleurs du mal XXI, V. 2 und 7 f.). Es handelt sich dabei nicht etwa um eine ‚Niederlage‘ des Künstlers im Ringen mit seinen Ausdrucksmitteln oder eine Kapitulation vor dem eigenen Unvermögen, sondern um das Überwältigtwerden durch die Gottheit und die völlige Selbsthingabe. 66 Siehe Leakey, Baudelaire and Nature, S. 127 ff. („Aesthetic Anti-Naturalism: Nature, Art and Artifice“); Jauß, „Kunst als Anti-Natur“, S. 133 ff. 67 Siehe A. Feuillerat, „L’Architecture des Fleurs du mal“, in: ders. (Hrsg.), Studies by Mem‐ bers of the French Department of Yale University, New Haven 1941, S. 221-330. Schon die Zeitgenossen haben die „geheime Architektur“ der Fleurs du mal erkannt (S. 222). 68 Le Confiteor de l’artiste nimmt seit seiner Erstveröffentlichung 1862 hinter L’Étranger und La Petite Vieille den dritten Platz der - damals 20 - Prosagedichte ein. Diese Situ‐ ierung korrespondiert mit derjenigen der thematisch verwandten Gedichte L’Albatros, Élévation und Correspondances in den Fleurs du mal (II-IV). 69 Le Peintre de la vie moderne, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S 683-724, Kap. I: „Le Beau, la mode et le bonheur“. am Naturschönen die Verfehlung, von der das Ich sich durch sein Schuldbe‐ kenntnis reinigen will. Der Dienst am Schönen selbst stünde außer Frage, da das Ich, der Vorgabe des liturgischen Confiteor folgend, seine weitere Bereitschaft zu diesem bekundet 65 . Tatsächlich ist das wahre Schöne für Baudelaire, wie man weiß, das artifizielle Schöne, das vom Menschen gemacht und gedacht ist 66 , wozu noch das menschliche Schöne kommt. Das wird im Gedicht zwar nicht explizit gesagt, ist aber seiner Stellung zu entnehmen. Denn wie man von den Fleurs du mal und ihrer „architecture secrète“ weiß, hat Baudelaire seine Gedichte sehr bewusst angeordnet 67 . Le Confiteor de l’artiste am Anfang des Spleen de Paris 68 , der vom Großstadtschönen handelt, ist daher eine feierliche Absage an das Na‐ turschöne und eine Einstimmung des Lesers auf die bevorstehende Feier des menschlichen Schönen in der Großstadt. Diesen programmatischen Wechsel bestätigt der Blick auf den Schönheitsbegriff Baudelaires. b) Baudelaires Vorstellung vom Schönen Im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire eine viel zitierte Definition des Schönen gegeben 69 . Seiner „théorie rationnelle et historique du beau“ zufolge hat das Schöne einen unveränderlichen ewigen und einen vergänglichen, von den Umständen abhängigen zeitgemäßen Teil. Ohne den zeitgemäßen Teil wäre der ewige Teil dem Menschen nicht zugänglich: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 32 70 S. 695 (Kap. IV: „La Modernité“). 71 Ebd. Vgl. auch S. 694 f.: „[…] il est beaucoup plus commode de déclarer que tout est absolument laid dans l’habit d’une époque, que de s’appliquer à en extraire la beauté mystérieuse qui y peut être contenue, si minime ou si légère qu’elle soit.“ 72 In: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 415-496 (Kap. XVIII: „De l’héroïsme de la vie moderne“); hier: S. 493. 73 Dolf Oehler hat die hier angesprochenen zeitgenössischen Vorfälle eruiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass Baudelaire einen „héroїsme de caricature“ propagiere („Le Caractère double de l’héroїsme et du beau modernes. À propos de deux faits divers cités par Baudelaire en 1846“, Études Baudelairiennes Bd. 8 / 1976, S. 187-214). Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élé‐ ment, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. (S. 685) Der veränderliche Teil des Schönen ist die „modernité“: La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable. 70 Die „modernité“ zu entdecken ist mühsam, aber notwendig, wenn eine Epoche zu ihrer eigenen Kunst finden will: […] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite. 71 Die Vorstellung eines zeitgemäßen ‚modernen‘ Schönen hat Baudelaire schon im Salon de 1846 vertreten. In dessen Schlusskapitel, das den Titel „De l’héroïsme de la vie moderne“ trägt, nennt er den vergänglichen Teil des Schönen die „beauté particulière“, die aus den jeweiligen „passions“ einer Epoche resultiere, und folgert: „comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“ 72 Als Beispiele für dieses Schöne der eigenen Zeit führt er dann Le‐ bensformen und -gewohnheiten der Großstadt an wie den „suicide moderne“, das uniformierende und melancholische „habit noir“ der Gegenwart sowie ge‐ nerell „[l]e spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, - criminels et filles entrete‐ nues […]“; im Besonderen hebt er den „Heroismus“ eines willensstarken Politi‐ kers und eines ebensolchen Mörders hervor 73 . Kurz, das Pariser Leben sei voller poetischer und wunderbarer Gegenstände, die freilich nicht erkannt würden: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 33 74 S. 496. Bei Balzac entspricht dem Baudelaireschen „merveilleux“ das „fantastique“; siehe Citron: „Balzac a longtemps rêvé de se faire le poète du fantastique de Paris.“ (La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 228 f.) 75 S. 495. 76 Siehe Oehler, S. 197 ff. 77 Exposition universelle (1855), in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 575-597, hier: S. 578. La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l’atmosphère; mais nous ne le voyons pas. 74 Wenngleich dieses Urteil des Kunstkritikers Baudelaire primär für die im Salon von 1846 ausgestellte Malerei gilt, wirft es doch zugleich ein Licht auf die Über‐ legungen und Fragen, die den Dichter Baudelaire beschäftigten: Was ist in der Großstadt schön und darstellenswert? Welche sind die „passions nouvelles“ ihrer Menschen, welche ist die ihnen gemäße „beauté particulière“? Und welche sind die in der Großstadt möglichen „sujets privés“, die „bien autrement héroï‐ ques“ sind als die in der Malerei bis dahin bevorzugten „sujets publics et offi‐ ciels“ 75 ? Seine Antwort, die sich in den ebenso provokativ wie ironisch vorge‐ brachten Beispielen 76 abzeichnet, ist, dass das „Schöne“ in der Großstadt ein primär menschliches Schönes ist und dass es abseits jeder traditionellen Vor‐ stellung in den vielfältigen Formen großstädtischen Lebens gesucht werden muss. Die Formel für diesen Befund lautet: Il y a donc une beauté et un héroïsme moderne! Ein knappes Jahrzehnt später geht Baudelaire das Problem des Schönen von einer anderen Seite an. Im Einleitungskapitel seines Berichts über die Pariser Weltkunstausstellung 1855 weist er darauf hin, dass das Schöne kosmopolitisch, vielfältig und vielgestaltig sei wie das Leben („multiforme et versicolore [et] se meut dans les spirales infinies de la vie“ 77 ). Wenn es sich in ein einheitliches System von Regeln fassen ließe, wie etwa der von Winckelmann begründete Neoklassizismus, so wäre es längst aus der Welt verschwunden, weil alle Ideen und Empfindungen in einer endlosen Gleichförmigkeit aufgehen würden und die Verschiedenartigkeit dahin wäre. Tatsächlich gebe es aber in allen Kunst‐ äußerungen immer etwas Neues, das sich den Schulregeln entziehe. Diese Viel‐ falt („variété“) von Typen und Empfindungen verursache Staunen, das eines der großen Vergnügen sei, die Kunst und Literatur bereiten: Tout le monde conçoit sans peine que, si les hommes chargés d’exprimer le beau se conformaient aux règles des professeurs-jurés, le beau lui-même disparaîtrait de la terre, puisque tous les types, toutes les idées, toutes les sensations se confondraient dans une vaste unité, monotone et impersonnelle, immense comme l’ennui et le néant. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 34 78 Vgl. Fusées XV, S. 663: „[…] la régularité et […] la symétrie qui sont un des besoins primordiaux de l’esprit humain […].“ 79 Edgar Poe, sa vie et ses œuvres, S. 302. La variété, condition sine qua non de la vie, serait effacée de la vie. Tant il est vrai qu’il y a dans les productions multiples de l’art quelque chose de toujours nouveau qui échappera éternellement à la règle et aux analyses de l’école! L’étonnement, qui est une des grandes jouissances causées par l’art et la littérature, tient à cette variété même des types et des sensations. (S. 578) Dann geht er noch einen Schritt weiter und erklärt, das Schöne sei immer auch „bizarr“: J’irai encore plus loin, n’en déplaise aux sophistes trop fiers qui ont pris leur science dans les livres […]. Le beau est toujours bizarre. Je ne veux pas dire qu’il soit volon‐ tairement, froidement bizarre, car dans ce cas il serait un monstre sorti des rails de la vie. Je dis qu’il contient toujours un peu de bizarrerie, de bizarrerie naïve, non voulue, inconsciente, et que c’est cette bizarrerie qui le fait être particulièrement le Beau. (Ebd.) Die „bizarrerie“ dürfe freilich nur gering sein und dazu „naïve, non voulue“, weil Regelmäßigkeit und Symmetrie Grundbedürfnisse des menschlichen Geistes seien 78 . Eine Feststellung, die dies verstehen hilft, findet sich in Fusées VIII : Ce qui n’est pas légèrement difforme a l’air insensible; - d’où il suit que l’irrégularité, c’est-à-dire l’inattendu, la surprise, l’étonnement sont une partie essentielle et la ca‐ ractéristique de la beauté. (S. 656) Demnach zieht das, was nicht „légèrement difforme“ ist, also nicht leicht von der Norm abweicht, keine Aufmerksamkeit auf sich und wird nicht wahrge‐ nommen - „(in)sensible“ ist hier Synonym von „(non) perceptible“. Um wahr‐ genommen zu werden muss das Schöne eine „irrégularité“ oder „bizarrerie“ oder, wie es an anderer Stelle unter Hinweis auf Poe heißt, eine „étrangeté“ aufweisen. […] ses […] compositions étranges qui semblent avoir été créées pour nous démontrer que l’étrangeté est une des parties intégrantes du beau. 79 Poe hatte diesen Gedanken in der - von Baudelaire übersetzten - Erzählung Ligeia geäußert: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 35 80 Ligeia, in: The Complete Works, Bd. 2 (Tales, Bd. 1,) S. 248-268, hier: S. 250 (Hinweis bei Pichois, Bd. 2, „Notes“, S. 1369). Eine ausführliche Erklärung findet sich in Poes Artikel „Anastatic Printing“ (Broadway Journal, I, 15): „‚There is no exquisite beauty‘, says Bacon, ‚whithout some strangeness in the proportions.‘ The philosopher had reference, here, to beauty in its common acceptation; but the remark is equally applicable to all forms of beauty - that is to say, to everything which arouses profound interest in the heart or intellect of man. In every such thing, strangeness - in other words novelty - will be found a principal element; and so universal is this law that it has no exception even in the case of this principal element itself. Nothing, unless it be novel - not even novelty itself - will be the source of very intense excitement among men.“ (The Complete Works, Bd. 14: Essays and Miscellanies, S. 153-159, hier: S. 153.) 81 Salon de 1859, S. 616 (Hervorhebung im Text). 82 Siehe zum Folgenden S. Matuschek, Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Ana‐ lyse, Tübingen 1991. There is no exquisite beauty […] without some strangeness in the proportion. 80 Mit dem aus seiner „strangeness“ oder „novelty“ resultierenden Überraschungs‐ element („l’inattendu, la surprise“) bewirkt das Schöne Staunen („l’étonne‐ ment“), das Baudelaire daher zu einem weiteren wesentlichen Bestandteil er‐ klärt: „une partie essentielle et la caractéristique de la beauté“. Im Salon de 1859 stellt er folgerichtig fest: „le Beau est toujours étonnant“ 81 , und in der Exposition universelle 1855 gibt er den Künstlern den Rat: Toute la question, si vous voulez que je vous confère le titre d’artiste ou d’amateur des beaux-arts, est donc de savoir par quels procédés vous voulez créer ou sentir l’étonnement. (S. 578) Der Begriff des ‚Staunens‘ („étonnement“) hat in der europäischen Ideenge‐ schichte eine lange Tradition 82 , die mit der philosophischen Erkenntnislehre beginnt, in der das Staunen Antrieb der Erkenntnis war und durch diese über‐ wunden werden musste - so Aristoteles - oder - so Platon - in der erkennenden Schau der Ideen eine Steigerung erfuhr. Bei den antiken Rhetorikern interes‐ sierte Staunen als wirkungsästhetische Größe der Publikumspsyche. In der Neuzeit ist der Begriff durch die dem nachchristlichen Rhetor Kassios Longinos zugeschriebene anonyme Schrift Peri hypsus poetologisch fruchtbar geworden, die nach ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance in der Übersetzung durch Boileau die ästhetische Diskussion im 17. und 18. Jh. mitgeprägt hat. Vom Pseudo-Longinos wird dem Menschen ein natürliches Streben nach dem Unge‐ wöhnlichen, dem Großen und Schönen zugeschrieben (35, 2 ff.) und diesem werden als Wirkung das Staunen (ékplexis) und die Ekstase (ékstasis) zuge‐ ordnet (1, 4). Edmund Burke hat in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 die Wirkung des I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 36 83 J. Ziganke, „Baudelaires Poetik des Stupors“, Poetica Bd. 38 / 2006, S. 409-436. Ziganke setzt bei Baudelaires Bemerkung von 1862 über seinen Anfall von „imbécillité“ an und unterstellt ihm das Konzept eines „poète hystérique“, der sich in eine übersteigerte Selbstdarstellung geflüchtet habe, die kaum etwas anderes als den „Blick in den eigenen Zerrspiegel“ übrig lasse (S. 436); ihre These will sie vor allem im Spätwerk (Le Spleen de Paris, Pauvre Belgique! ) bestätigt sehen. Ihre Interpretationen, etwa die von Les Yeux des pauvres, bleiben jedoch an der Textoberfläche. 84 Salon de 1859, S. 616. Das Zitat entstammt der Erzählung Morella, in: The Complete Works of Edgar Allan Poe, Bd. 2 (Tales, Bd. 1), S. 27-34, hier: S. 27. 85 Die Zusammengehörigkeit von Schönheit und Glücksempfinden konnte Baudelaire bei Stendhal finden, den er hierzu mehrfach zitiert hat, so im Choix de maximes consolantes sur l’amour: „la beauté est surtout la promesse du bonheur“ (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 548) sowie wörtlich im Peintre de la vie moderne: „le Beau n’est que la promesse du bonheur.“ (S. 686) Erhabenen („sublime“) als „delightful horror“ beschrieben, als eine Mischung aus Faszination und Schrecken, die Kant wenig später mit den menschlichen Erkenntnisvermögen der Sinne einerseits und des reinen Denkens andererseits erklärt hat. Im 19. Jahrhundert hat diese Diskussion an Bedeutung verloren, doch ist ihr Echo in Baudelaires Überlegungen zur künstlerischen Ekstase und zum ästhetischen Staunen unüberhörbar. In jüngster Zeit hat man Baudelaires Ver‐ wendung des Begriffs ‚Staunen‘ als Bestandteil einer „Poetik des Stupors“ zu deuten versucht und mit dem psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht 83 . Auch wenn Baudelaire zweifellos die einschlägigen me‐ dizinischen Diskussionen seiner Zeit kannte, ist ‚Staunen‘ für ihn aber zualler‐ erst ein ästhetischer Begriff mit positiver Bedeutung. Staunen und staunen ma‐ chen sind, wie es kurz vor der zitierten Stelle heißt, ein legitimes Bedürfnis des Menschen, weil sie einen Glückszustand („bonheur“) schaffen, wie er, wiederum unter Bezugnahme auf Poe, erklärt: Le désir d’étonner et d’être étonné est très légitime. It is a happiness to wonder, „c’est un bonheur d’être étonné“; mais aussi, it is a happiness to dream, „c’est un bonheur de rêver“. 84 Neben dem Staunen wird hier auch das „Träumen“ („rêver“) als glücklicher Zu‐ stand 85 bezeichnet. Dass die „rêverie“ für Baudelaire eine ästhetische Qualität hat, geht aus einer Bemerkung in der Exposition universelle 1855 hervor, sein Urteil über Bilder werde davon bestimmt, wie viele Vorstellungen und „Träu‐ mereien“ sie in ihm auslösten: Il m’arrivera souvent d’apprécier un tableau uniquement par la somme d’idées ou de rêveries qu’il apportera dans mon esprit. (S. 579) 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 37 86 Fusées X, S. 657 f. Die „rêverie“ ist daher auch ein wesentlicher Bestandteil seines persönlichen Schönheitsbegriffs, den er um dieselbe Zeit in einer Notiz der Journaux intimes festgehalten hat. J’ai trouvé la définition du Beau, - de mon Beau. C’est quelque chose d’ardent et de triste, quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l’on veut, appliquer mes idées à un objet, par exemple, le plus intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, - mais d’une manière confuse, - de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, - soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amer‐ tume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau. Une belle tête d’homme n’a pas besoin de comporter, excepté peut-être aux yeux d’une femme, - aux yeux d’un homme bien entendu - cette idée de volupté, qui dans un visage d’une femme est une provocation d’autant plus attirante que le visage est gé‐ néralement plus mélancolique. Mais cette tête contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, - des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées, - l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, - quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, - et c’est l’un des caractères de beauté les plus intéressants, - le mystère, et enfin (pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique), le Malheur. - Je ne prétends pas que la Joie ne puisse pas s’associer avec la Beauté, mais je dis que la Joie en est un des ornements les plus vulgaires; - tandis que la Mélancolie en est pour ainsi dire l’illustre compagne, à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur. 86 Die Notiz nennt drei Merkmale, über die der Tagebuchschreiber sich nach langem Suchen - zumindest suggeriert dies seine Formulierung - klar geworden ist. Die beiden ersten sind im weiten Sinne moralische Eigenschaften („quelque chose d’ardent et de triste“) eines menschlichen Schönen, das dritte ist eine wir‐ kungsbezogene Eigenschaft („quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“). Was sie konkret bedeuten, wird an Beispielen demonstriert, wobei zwischen weiblicher und männlicher Schönheit unterschieden wird. Dem weiblichen Schönen in Form einer „tête séduisante et belle […] de femme“ ordnet Baudelaire „volupté“ und „tristesse“ zu. Für die „tristesse“ stehen „mélancolie“, „lassitude“ und „satiété“, für die „volupté“ die Eigenschaften „ardeur“ und „désir de vivre“, die freilich durch eine „amertume refluante, comme venant de priva‐ tion ou de désespérance“ gebrochen sein müssen. Es ist ein Frauenideal, dem er I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 38 87 Siehe P. Laforgue, „Satan, ou la mélancholie de l’art à l’époque moderne“, in: ders., Ut pictura poesis. Baudelaire, la peinture et le romantisme, Lyon 2000, S. 131-139, bes. S. 132 f. Siehe auch M. Praz, Liebe, Tod und Teufel ( 1 1930), deutsche Übersetzung von L. Rüdiger, München 1963, S. 47 ff. (über die ‚getrübte‘ weibliche Schönheit bei Baude‐ laire). 88 Es sei daran erinnert, dass Leidenschaften für Baudelaire die tragenden Ursachen des zeitgemäßen Schönen sind: „L’élément particulier de chaque beauté vient des passions, et comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“ (Salon de 1846, S. 493.) 89 Fusées X, S. 658. 90 Siehe zum Baudelaireschen Satanismus im Allgemeinen M. Milner, Le Diable dans la littérature française. De Cazotte à Baudelaire (1772-1861), Paris 1960, hier besonders S. 478 ff.; Laforgue, „Satan, ou la mélancholie de l’art à l’époque moderne“, S. 134 ff. Praz, Liebe, Tod und Teufel, passim. so wiederholt Ausdruck verliehen hat 87 . Für die männliche Schönheit verlangt er ebenfalls eine „belle tête d’homme“, die glühende und zugleich gebrochene Leidenschaft 88 ausdrücke, in diesem Fall ein Streben nach Höherem sowie finster unterdrückten Ehrgeiz („des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées“), was die Vorstellung einer ziellos grollenden, bisweilen auch rach‐ süchtigen Macht hervorrufe („l’idée d’une puissance grondante, et sans em‐ ploi, - quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse“). Auch hier paart sich die „tristesse“ mit Melancholie, die er ausdrücklich der „Joie“ („un des ornements les plus vulgaires [du Beau]“) vorzieht und die bis zum Unglück gehen kann, das, wie er betont - „pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique“ -, ein notwendiger Bestandteil des modernen Schönen sei: „à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur“. Die vollkommene Verkörperung dieses männlichen Schön‐ heitsideals stellt für ihn Miltons Satan dar: Appuyé sur, - d’autres diraient: obsédé par - ces idées, on conçoit qu’il me serait difficile de ne pas conclure que le plus parfait type de Beauté virile est Satan - à la manière de Milton. 89 Damit bekennt Baudelaire sich zum dämonischen Idealbild der schwarzen Ro‐ mantik, in dem zu den allgemein romantischen Zügen der Melancholie und des „malheur“ noch die Schattenseite des Menschen, seine „part infernale“, tritt 90 . Das sind die Taten, deren das Individuum sich nur mit Schaudern erinnert, die aber zur Komplexität und Vollständigkeit der Person gehören, weil sie zum „concert, agréable ou douloureux, mais logique et sans dissonances“ derselben 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 39 91 Un Mangeur d’opium, in: Œuvres complètes, Bd 1, S. 442-517, hier: S. 506 f. Der Mangeur d’opium ist ein Resümee von De Quinceys Confessions of an English Opium Eater und Suspiria de profundis mit langen Zitaten aus dem Original und eigenen Hinzufügungen. Die hier zitierte Wendung stammt aus den Hinzufügungen. Zur anthropologischen und ästhetischen Bedeutung der „part infernale de l’homme“ siehe J. Schulze, „Einige Be‐ merkungen zur Vorgeschichte von Baudelaires ‚conscience dans le Mal‘ und ‚sang chrétien‘“, Germanisch Romanische Monatsschrift N. F. Bd. 31 / 1981, S. 365-374. 92 „ […] il semble que cette part infernale de l’homme, que l’homme prend plaisir à s’ex‐ pliquer à lui-même, augmente journellement […]." (Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. VII: Théodore de Banville, S. 168.) beitragen 91 . Die Darstellung dieses „luziferischen“ Teils des Menschen ist für ihn ein Kennzeichen der modernen Kunst mit ihrer ständig zunehmenden „tendance essentiellement démoniaque“. 92 Die vielleicht wichtigste, weil zukunftsweisende Eigenschaft des Schönen ist jedoch das Vage oder Unvollständige, das Raum für die „Vermutung“ lässt: „quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, - mais d’une manière confuse, - de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, - soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau. Une belle tête d’homme […] contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, […] l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, - quelquefois l’idée d’une insensi‐ bilité vengeresse, […] quelquefois aussi, […] le mystère […]. Von den Ausdrücken „conjecture“, „faire rêver“, „idées“, „mystère“, mit denen diese Eigenschaft umschrieben wird, bezeichnet das fünfmal wiederkehrende Wort „idées“ die Vorstellungen, die ein schöner Gegenstand beim Betrachter auszulösen vermag. Wie das vor sich geht, hat Baudelaire am Beispiel des Meeres beschrieben, dessen Anblick noch in der Begrenzung die beglückende Vorstel‐ lung sowohl von Unendlichkeit wie von Bewegung und damit von denkbar höchster Schönheit erweckt: Pourquoi le spectacle de la mer est-il si infiniment et si éternellement agréable? - Parce que la mer offre à la fois l’idée de l’immensité et du mouvement. Six ou sept lieues représentent pour l’homme le rayon de l’infini. Voilà un infini diminutif. Qu’importe s’il suffit à suggérer l’idée de l’infini total? Douze ou quatorze lieues (sur le diamètre), I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 40 93 Mon cœur mis à nu XXX, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 676-708, hier: S. 696. In der Exposition universelle 1855 waren es schöne Bilder, die „idées ou […] rêveries“ auslösen; in der Fusée XV ein Schiff in Bewegung, das die „idée poétique“ eines menschenähnli‐ chen Lebewesens auslöst. Siehe auch das Prosagedicht Le Port (Le Spleen de Paris XLI, S. 344 f.). 94 Baudelaire the Critic, S. 122: „a synthesis of all the aesthetic ideas most significant to him“. douze ou quatorze de liquide en mouvement suffisent pour donner la plus haute idée de beauté qui soit offerte à l’homme sur son habitacle transitoire. 93 Das „infini diminutif “ des Meeres wie auch das in der Definition des Schönen genannte „Geheimnis“, das „un des caractères de beauté les plus intéressants“ sei, fordern in besonderem Maße die Tätigkeit der Phantasie heraus, die am Ende der 1850er Jahre zum zentralen Begriff von Baudelaires ästhetischem Denken wird. Nach Margaret Gilman hat Baudelaire im Begriff der „imagination“ die Syn‐ these aller ästhetischen Vorstellungen gefunden, an denen ihm gelegen war 94 . Gilman zeichnet nach, wie dieser Begriff seine früheren ästhetischen Vorstel‐ lungen ablöst und unter dem Einfluss von Delacroix und Poe zunehmend an Bedeutung und Klarheit gewinnt bis zur vollen Entfaltung im Salon de 1859, den sie deshalb einen „Essay on the Imagination“ nennt. Dort sind die Kapitel III und IV der „imagination“ gewidmet, in denen diese als „reine des facultés“ ge‐ priesen wird, die dem Menschen helfe, sich auf vielfältige Weise die Welt zu erobern: Sie gleiche die Schwächen seiner anderen Fähigkeiten aus, die sie dank ihrer divinatorischen Kraft ersetzen könne. Sie habe ihn die sittliche Bedeutung von Farbe, Umriss, Klang und Düften gelehrt und am Anfang der Welt die Ana‐ logie und die Metapher erfunden, welche die geheimen Beziehungen zwischen den Dingen offenbaren. Sie erschaffe Neues, indem sie die Wirklichkeit zerlege und sie nach Regeln ordne, die aus der Tiefe der Seele stammen: Mystérieuse faculté que cette reine des facultés! Elle touche à toutes les autres; elle les excite, elle les envoie au combat. Elle leur ressemble quelquefois au point de se confondre avec elles, et cependant elle est toujours bien elle-même […] Elle est l’analyse, elle est la synthèse; et cependant des hommes habiles dans l’analyse et suffisamment aptes à faire un résumé peuvent être privés d’imagination. Elle est cela, et elle n’est pas tout à fait cela. Elle est la sensibilité, et pourtant il y a des per‐ sonnes très sensibles […] qui en sont privées. C’est l’imagination qui a enseigné à l’homme le sens moral de la couleur, du contour, du son et du parfum. Elle a crée, au commencement du monde, l’analogie et la métaphore. Elle décompose toute la créa‐ tion, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant les règles dont on ne peut 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 41 95 Salon de 1859, S. 620f.. Siehe auch die Interpretation dieser Stelle bei Austin, L’Univers poétique de Baudelaire, S. 175 f. 96 Im Abschnitt über Ingres (Œuvres complètes, Bd. 2, S. 585). 97 A Chapter of Suggestions, in: The Complete Works, Bd. 14, S. 186-192, hier: S. 187. 98 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 329. Gilman hebt diese Übereinstimmung beider Au‐ toren hervor: „This quality of the imagination - the mystic perception of correspon‐ dences - is the great meeting place of Poe and Baudelaire.“ (Baudelaire the Critic, S. 132.) trouver l’origine que dans le plus profond de l’âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf. 95 Die Bezeichnung „reine des facultés“ für die Phantasie erscheint bei Baudelaire erstmals in der Exposition universelle (1855) 96 , um dann zwei Jahre später in den Notes nouvelles sur Edgar Poe mit diesem in Verbindung gebracht zu werden („Pour lui, l’Imagination est la reine des facultés […]“, S. 328). Tatsächlich ist sie bei Poe nicht direkt nachweisbar, wo es nüchterner heißt: That the imagination has not been unjustly ranked as supreme among the mental faculties, appears from the intense consciousness, on the part of the imaginative man, that the faculty in question brings his soul often to a glimpse of things supernal and eternal - to the very verge of the great secrets. 97 Aber beide Autoren stimmen darin überein, dass die Phantasie den Menschen einen Blick auf die höheren Wahrheiten werfen lässt, „a glimpse of things su‐ pernal and eternal“ bei Poe, „les rapports intimes et secrets des choses, les cor‐ respondances et les analogies“ bei Baudelaire: L’imagination est une faculté quasi divine qui perçoit tout d’abord, en dehors des méthodes philosophiques, les rapports intimes et secrets des choses, les correspon‐ dances et les analogies. 98 Die Herrschaft der Phantasie (Kap. IV : „Le Gouvernement de l’imagination“) zeigt sich vor allem beim künstlerischen Schaffensprozeß, wo sie nicht Phantasie („fantaisie“) schlechthin, sondern schöpferische Kraft („imagination créatrice“) ist, die mit der göttlichen Schöpfungskraft verwandt ist: „Par imagination, je ne veux pas seulement exprimer l’idée commune impliquée dans ce mot dont on fait si grand abus, laquelle est simplement fantaisie, mais bien l’ima‐ gination créatrice, qui est une fonction beaucoup plus élevée, et qui, en tant que l’homme est fait à la ressemblance de Dieu, garde un rapport éloigné avec cette puis‐ sance sublime par laquelle le Créateur conçoit, crée et entretient tout son univers.“ Die Unterscheidung von alltäglicher „Phantasie“ und schöpferischer „Imagina‐ tion“ geht auf die bekannte Definition des imaginations-Begriffs durch Cole‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 42 99 „The poet, described in ideal perfection, brings the whole soul of man into activity, with the subordination of its faculties to each other, according to their relative worth and dignity. He diffuses a tone, and spirit of unity, that blends, and (as it were) fuses, each into each, by that synthetic and magical power, to which we have exclusively appro‐ priated the name of imagination.“ (Biographia literaria, Kap. XIV, S. 15 f.) Zum erkennt‐ niskritischen Hintergrund von Coleridges Unterscheidung zwischen „primary imagi‐ nation“, „secondary imagination“ und „fancy“ siehe H. W. Breunig, Verstand und Einbildungskraft in der englischen Romantik. S. T. Coleridge als Kulminationspunkt seiner Zeit (Anglistik / Amerikanistik. 11), Münster 2002, S. 200 f. 100 Das Werk ist erstmals 1848 erschienen; 1852 gab es bereits eine dritte Auflage. 101 Gilman, Baudelaire the Critic, S. 125. „creation“ ist auch das Wort, mit dem Coleridge die Tätigkeit der Phantasie beschreibt, während Poe „combination“ vorzieht (F. Stovall, „Poe’s Debt to Coleridge“, in: Edgar Poe the Poet. Essays New and Old on the Man and His Work, Charlottesville 1969, S. 126-174; hier: S. 160 f.). 102 Wenn man nach den Erscheinungsdaten seiner Werke urteilt, wie sie im Katalog der Pariser Bibliothèque Nationale verzeichnet sind. Leider ist der jeweilige Erwerbszeit‐ punkt nur vor Ort feststellbar. 103 So im Nachruf auf De Quincey, der Coleridge finanziell unterstützt habe (Un Mangeur d’opium, S. 495), und in einem Brief an Sainte-Beuve, der eher von dessen Interesse an Coleridge zeugt: „Je n’ai pas oublié votre Coleridge; mais je suis resté un mois sans recevoir mes livres, et parcourir les 2400 pages de Poe est un petit travail.“ (21. Februar 1859, in: Correspondance, Bd. 1, S. 554.) Baudelaires Kenntnis stammte demnach zu diesem Zeitpunkt aus zweiter - nämlich Poes - Hand; fragt sich allerdings, ob es dabei geblieben ist. Der Salon de 1859 wurde im Juni und Juli des Jahres publiziert. ridge (Biographia literaria, Kap. XIII ) zurück, für den die „imagination“ ebenfalls die maßgebliche Fähigkeit des Dichters war 99 . Erstaunlicherweise folgt Baude‐ laire an der hier zitierten Stelle aber nicht Coleridge, sondern übersetzt die Un‐ terscheidung „fancy“ - „constructive imagination“ aus Catherine Crowes The Night Side of Nature, or Ghosts and Ghost Seers 100 , wenn auch nicht ohne ironische Distanz gegenüber der Verfasserin und ihren mystischen und okkulten Ge‐ danken. Statt „constructive imagination“ setzt er dabei „imagination créatrice“, was eine Wendung des von ihm bewunderten Delacroix ist 101 . Die hier wie auch an anderen Stellen zu beobachtenden verblüffenden Über‐ einstimmungen mit Coleridge werfen die Frage auf, ob Baudelaire, der des Eng‐ lischen ja hinreichend mächtig war, dessen Werke aus eigener Lektüre kannte. Die Frage stellt sich umso mehr, als es in den 1840er Jahren geradezu eine Co‐ leridge-Renaissance gegeben hat 102 . Gilman hält eine Antwort auf diese „tanta‐ lizing question“ für unmöglich, meint aber, dass Baudelaire nicht Catherine Crowe zitiert hätte, wenn er Coleridge zur Hand gehabt hätte. Da er diesen außerdem nur gelegentlich erwähnt 103 , geht sie davon aus, dass seine Kenntnisse 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 43 104 Baudelaire the Critic, S. 129 f. Zu Poes gespanntem Verhältnis zu Coleridge siehe Stovall, „Poe’s Debt to Coleridge“; Schlutz, „Purloined Voices: Edgar Allan Poe Reading Samuel Taylor Coleridge“, passim. 105 Darin zitiert De Quincey z. B. Wordsworth zur Entstehung einer Ekstase in einer Weise, die an Baudelaires Feststellung zum „premier objet venu“ denken lässt: „[I]f, under any circumstances, the attention is energetically braced up to an act of steady observation, or of steady expectation, then, if this intense condition of vigilance should suddenly relax, at that moment any beautiful, any impressive visual object, or collection of ob‐ jects, falling upon the eye, is carried to the heart with a power not known under other circumstances.“ Angesichts der Tatsache, dass der Gegenstand im vorgegebenen Fall ein Stern ist, spricht Wordsworth sogar von einem „pathos and a sense of the infinite, that would not have arrested me under other circumstances“. (Th. De Quincey, Recol‐ lections of the Lakes and the Lake Poets, hrsg. von D. Wright, Harmondsworth 1970, S. 160; Hinweis bei Langbaum, „The Epiphanic Mode in Wordsworth and Modern Lite‐ rature“, S. 350.) Baudelaire erwähnt die Recollections unter dem Titel Autobiographic Sketches, unter dem die einschlägigen Stücke 1854 in Edinburgh erschienen waren (Un Mangeur d’opium, S. 495). 106 „‚La nature n’est qu’un dictionnaire‘, répétait-il fréquemment. […] Les peintres qui obéissent à l’imagination cherchent dans leur dictionnaire les éléments qui s’accordent à leur conception; encore, en les ajustant avec un certain art, leur donnent-ils une phy‐ sionomie toute nouvelle. Ceux qui n’ont pas d’imagination copient le dictionnaire. Il en résulte un très grand vice, le vice de la banalité […].“ (Salon de 1859, S. 624 f.) 107 S. 621: „Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant les règles dont on ne peut trouver l’origine que dans le plus profond de l’âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf.“ Vgl. den Passus über die „secondary imagination“ aus Coleridges Definition: „It dissolves, diffuses, dissipates, in order to re-create; or where this process is rendered impossible, yet still at all events it struggles to idealize and to unify.“ Die „primary imagination“ bestimmt er zuvor als „a repetition in the finite mind of the eternal act of creation in the infinite I AM.“ (Bio‐ graphia literaria, Kap. XIII, S. 304.) über Poe vermittelt waren 104 . Eine solche Vermittlung, wenn sie denn nötig ge‐ wesen wäre, könnte aber auch über De Quincey gegangen sein, etwa über dessen Recollections of the Lakes and the Lake Poets Coleridge, Wordsworth, and Southey (1834-1839) 105 . Aus dem, was die schöpferische Phantasie in der Wirklichkeit vorfindet, schafft sie den „rêve“, die „conception“ oder „idée génératrice“, die vom Künstler in mehreren Schritten in das konkrete Werk umgesetzt und vollendet wird. An ihr scheiden sich für Baudelaire die künstlerischen Geister. Der Künstler, der als „réaliste“ oder „positiviste“ der vorgegebenen Wirklichkeit folgt und die Dinge so darstellt, wie er sie vorfindet, kopiert - mit einem Ausspruch von Delacroix - nur das „Wörterbuch“ der Natur 106 . Anders der „imaginatif “, der mit Phantasie begabte Künstler, der die Wirklichkeit verwandelt und ihr eine neue Gestalt gibt 107 . Mit der Kraft seines Geistes will er die Dinge zum „Leuchten“ bringen und Anderen ihren Glanz vermitteln: „Je veux illuminer les choses avec mon I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 44 108 S. 627. 109 Schon Coleridge verwendet die Metapher vom „lustre“ und den „dew drops“, die die Dichtung den Dingen wiederzugeben vermag; siehe unten, S. 73. 110 „Théodore de Banville n’est pas précisément matérialiste; il est lumineux. Sa poésie représente les heures heureuses.“ (Fusées IX, S. 656) 111 „Un tableau de Delacroix […] vous pénètre […] d’une volupté surnaturelle. Il vous semble qu’une atmosphère magique a marché vers vous et vous enveloppe.“ (L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 742-770, hier: S. 753.) 112 Exposition universelle 1855, S. 596: „[…] sa splendeur est privilégiée“. 113 Der Blick aus einem Fenster über die Dächer hinweg, ist ein in der Stadtliteratur gern verwendetes Motiv, das Baudelaire hier umkehrt bzw. vervollständigt. Siehe Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 159 ff. 114 Les Fenêtres (Le Spleen de Paris XXXV, S. 339). Erstveröffentlichung in der Revue natio‐ nale et étrangère vom 10. Dezember 1863. esprit et en projeter le reflet sur les autres esprits.“ 108 „Die Dinge zum Leuchten bringen“ ist ein Bild Baudelaires für die Wiedergabe des Ausnahmezustands 109 . So bezeichnet er Théodore de Banville als „lumineux“, weil er die „heures heu‐ reuses“ wiederzugeben wisse 110 , und an der Malerei von Delacroix, die beim Betrachter eine „volupté surnaturelle“ erzeugt 111 , rühmt er ihren „außerordent‐ lichen Glanz“ 112 . Wie und mit welchem Resultat der Dichter mit Hilfe der Phan‐ tasie die Wirklichkeit gestalten kann, führt er in dem kurzen Prosagedicht Les Fenêtres vor, in dem das Ich über die Aussagekraft von Fenstern reflektiert 113 , die im geschlossenen Zustand dem Blick mehr Dinge offenbaren als im offenen. Ein geschlossenes und kaum erhelltes Fenster ist nämlich „mystérieux“ und setzt die Phantasie in Gang, wie das Beispiel zeigt: Par-delà des vagues de toits, j’aperçois une femme mûre, ridée déjà, pauvre, toujours penchée sur quelque chose, et qui ne sort jamais. Avec son visage, avec son vêtement, avec son geste, avec presque rien, j’ai refait l’histoire de cette femme, ou plutôt sa légende, et quelquefois je me la raconte à moi-même en pleurant. Si c’eût été un pauvre vieux homme, j’aurais refait la sienne tout aussi aisément. Et je me couche, fier d’avoir vécu et souffert dans d’autres que moi-même. 114 Mit dem wenigen, das durch das geschlossene Fenster von der Gestalt der Frau zu erkennen ist, erfindet das Ich deren Lebens- und Leidensgeschichte, über die es Tränen der Rührung vergießt. Anschließend ist es voller Stolz darüber, in einem Anderen gelebt und gelitten zu haben. Dieser Stolz gehört zum Lebens‐ 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 45 115 Vgl. Le Poème du hachisch, S. 434 f. (Kap. IV: „L’Homme dieu“): „Voilà donc mon homme supposé [l’homme sensible moderne] […] arrivé à ce degré de joie et de sérénité où il est contraint de s’admirer lui-même. […] La plénitude de sa vie actuelle lui inspire un orgueil démesuré. Une voix parle en lui (hélas! c’est la sienne) qui lui dit: ‚Tu as main‐ tenant le droit de te considérer comme supérieur à tous les hommes; nul ne connaît et ne pourrait comprendre tout ce que tu penses et tout ce que tu sens; ils seraient même incapables d’apprécier la bienveillance qu’ils t’inspirent.‘“ Zum Stolz ähnlich auch in Du Vin et du hachisch, S. 394. 116 Siehe unten, S. 57 f. 117 Vgl. Obsession, Fleurs du mal LXXIX, V. 9 ff.; Un Fantôme, Fleurs du mal XXXVIII, I. „Les Ténèbres“. 118 Siehe ferner Salon de 1859, S. 681: „plus de motifs d’étonnement ou d’éblouissement“. Sowie „leuchtend“ in Un Fantôme, I. „Les Ténèbres“, V. 14: „C’est Elle! noire et pourtant lumineuse.“ 119 Zur Interpretation des späten Gedichts Les Fenêtres und zum darin gewandelten Ver‐ hältnis des dichterischen Ichs zu den Anderen, siehe P. Laforgue, „La Quadrature de l’infini. Sur l’esthétique et la poétique de Baudelaire entre 1859 et 1863“, in: ders., Ut pictura poesis. Baudelaire, la peinture et le romantisme, S. 107-120, bes. S. 117 ff. gefühl im Zustand der Ekstase 115 , auf die auch die Eigenschaften hinweisen, die dem Fenster zugeschrieben werden - „plus profond, plus mystérieux, plus fé‐ cond, plus ténébreux, plus éblouissant“ - und die zum wiederkehrenden ästhe‐ tischen Kernwortschatz Baudelaires gehören. „Profond“ begegnet passim im Zusammenhang mit ekstatischen Erlebnissen; „fécond“ ist die Eigenschaft, die er in Les Foules vom Dichter und seiner Phantasie verlangt („poète [au cerveau] actif et fécond“) 116 ; Dunkelheit regt die Phantasie an 117 und „éblouissant“ ist die Wirkung des strahlenden Schönen 118 . Vollends klar wird das Gemeinte, wenn das Ich zum Schluss auf die Frage eines fingierten Lesers, ob die phantasierte Geschichte die „wahre“ sei, antwortet, nicht auf die „réalité placée hors de moi“ komme es an, sondern auf die Wirkung seiner Geschichte, die ihm helfen müsse, zu leben, sich selbst zu fühlen und zu erkennen: „(m’)aid(er) à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis.“ Mit diesem Argument setzt Baudelaire dem „vrai“ des herrschenden Realismus sein eigenes künstlerisches Credo von der schöpferi‐ schen Phantasie entgegen, mit deren Hilfe er sich in einen Anderen versetzt und in beglückender Weise sein ‚sentiment de l’existence‘ steigert 119 . Leitender Gedanke in Baudelaires Vorstellung vom Schönen ist demnach das Erreichen des „état exceptionnel“, des Ausnahmezustandes, sowohl beim Künstler wie beim Rezipienten. Auf diesen wirkungsästhetischen Aspekt des Begriffs hatte schon Poe hingewiesen: When, indeed, men speak of Beauty, they mean, precisely, not a quality, as is supposed, but an effect - they refer, in short, just to that intense and pure elevation of soul - not I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 46 120 The Philosophy of Composition, in: The Complete Works, Bd. 14, S. 193-208, hier: S. 197 f. 121 Vgl. die oben, Anm. 99, zitierte Feststellung von Coleridge: „The poet […] brings the whole soul of man into activity […]“. 122 Le Poème du hachisch, S. 431. Christina J. Bischoff deutet die Baudelairesche „imagi‐ natio“ als eine „Bewegung der Semiose“, entdeckt in einer Zeit, in der die Repräsentation der Wirklichkeit künstlerisch obsolet geworden sei (In der Zeichenwelt. Zu Baudelaires Poetik der imaginatio [Imaginatio Borealis. Bilder des Nordens. 18], Frankfurt a. M. 2009, S. 10 u. ö.). 123 Théophile Gautier (I), S. 117 f. Siehe auch Fusées XI, S. 658. 124 Die Phantasie ist für Baudelaire also kein Ersatzvehikel „angesichts der Abwesenheit des Begehrten“ oder einer „verfehlten Präsenz“, wozu Bischoff sie machen möchte (S. 221 u. ö.). Und man kann auch nicht mit ihr glauben, dass Victor Hugo und Théophile Gautier - nach Baudelaires Überzeugung immerhin (! ) - imstande gewesen seien, eine „surnaturale Einheitserfahrung von Selbst und Welt“ wiederzugeben, Baudelaire, der darüber wie kaum ein anderer reflektiert hat, aber nicht (S. 211 ff.). of intellect, or of heart - upon which I have commented, and which is experienced in consequence of contemplating ‚the beautiful‘. 120 Um den Ausnahmezustand zu erreichen, bedarf es der Phantasie. Daher muss die Darstellung des Schönen so beschaffen sein, dass sie die Phantasie in Bewe‐ gung setzt 121 , die jeden Gegenstand ergänzt und ihm seine besondere Schönheit gibt: L’œil intérieur transforme tout et donne à chaque chose le complément de beauté qui lui manque pour qu’elle soit vraiment digne de plaire. 122 Der Dichter bewirkt das mit Hilfe einer „magischen Verfahrensweise“, einer „sorcellerie évocatoire“ von Sprache und Schreibweise: Manier savamment une langue, c’est pratiquer une espèce de sorcellerie évocatoire. C’est alors que la couleur parle, comme une voix profonde et vibrante; que les mo‐ numents se dressent et font saillie sur l’espace profond; que les animaux et les plantes, représentants du laid et du mal, articulent leur grimace non équivoque; que le parfum provoque la pensée et le souvenir correspondants; que la passion murmure ou rugit son langage éternellement semblable. Mit diesen Worten beschreibt Baudelaire im Artikel über Théophile Gautier dessen „immense intelligence innée de la correspondance et du symbolisme universels“ 123 . Ein so zustandegekommenes Schönes lässt die Menschen für Au‐ genblicke die irdische Trübsal vergessen und den „rythme immortel et uni‐ versel“ begreifen 124 . Und es ist, trotz der Wendung „mon Beau“, kein individua‐ listisches Schönes, denn die Lücken, die von der Phantasie ausgefüllt werden müssen, erzeugen bei den Rezipienten durchaus ähnliche Vorstellungen - „des 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 47 125 Richard Wagner et Tannhäuser à Paris, S. 784 f. Baudelaire vergleicht die Schilderungen im Programmheft und bei Liszt sowie seine eigene Empfindung und hebt die Überein‐ stimmungen durch Kursivdruck hervor. idées analogues dans des cerveaux différents“ -, wie er in seiner Tann‐ häuser-Besprechung schreibt, in diesem Fall das Gefühl spiritueller und physi‐ scher Glückseligkeit: […] la sensation de la béatitude spirituelle et physique; de l’isolement; de la contemp‐ lation de quelque chose infiniment grand et infiniment beau; d’une lumière intense qui réjouit les yeux et l’âme jusqu’à la pâmoison; et enfin la sensation de l’espace étendu jusqu’aux dernières limites concevables. 125 Mit der Aufnahme des wirkungsästhetischen Aspekts in seinen Begriff des Schönen ergänzt Baudelaire die herkömmlichen Objekteigenschaften um un‐ gewohnte Züge wie „bizarrerie“, „irrégularité“ oder „étrangeté“. Diese Ergän‐ zung kommt der Suche nach der „modernité“ und dem Schönen in der Großstadt entgegen, auch wenn die genannten Eigenschaften sich nicht ausdrücklich auf ein solches beziehen. Zudem müssen nicht alle Eigenschaften des Schönen gleichzeitig oder in gleichem Ausmaß in einem Gegenstand versammelt sein. So verkörpern die eingangs zitierten Lebensschicksale von Verbrechern und an‐ deren Randexistenzen, die im Salon de 1846 als „sujets poétiques et merveilleux“ der großen Städte genannt werden, vor allem den dämonischen Aspekt, dem etwas Provokantes anhaftet. In dem späten Prosagedicht Les Fenêtres verkörpern dagegen ganz gewöhnliche Objekte des Alltags das Schöne, weil sie die Phan‐ tasie des Dichters in besonderem Maße anregen. Die dargestellten Lebens‐ formen sind hier großstädtisch und „modern“, aber kaum überraschend, weder die des dichtenden Ichs, das über die Dächer der Stadt blickt, noch die der ab‐ gehärmten, immerzu arbeitenden, vielleicht verzweifelten Frau, die offensicht‐ lich die zeitgemäße Variante der „tête séduisante et belle […] de femme“ aus den Journaux intimes ist. Überraschend ist allenfalls ihre Alltäglichkeit. Alle ge‐ nannten Beispiele stellen jedoch ein menschliches Schönes vor, denn dieses ist I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 48 126 Das zeigt auch seine Überlegung zu einem klassisch schönen Gegenstand, die auf die Vorstellung eines großen Lebewesens mit menschlichen Zügen hinausläuft: „Je crois que le charme infini et mystérieux qui gît dans la contemplation d’un navire, et surtout d’un navire en mouvement, tient, dans le premier cas, à la régularité et à la symétrie qui sont un des besoins primordiaux de l’esprit humain, au même degré que la compli‐ cation et l’harmonie, - et, dans le second cas, à la multiplication successive et à la génération de toutes les courbes et figures imaginaires opérées dans l’espace par les éléments réels de l’objet. - L’idée poétique qui se dégage de cette opération du mou‐ vement dans les lignes est l’hypothèse d’un être vaste, immense, compliqué, mais eu‐ rythmique, d’un animal plein de génie, souffrant et soupirant tous les soupirs et toutes les ambitions humaines.“ (Fusées XV, S. 663 f.) 127 Le Poème du hachisch, S. 429 f. 128 Siehe hierzu eingehend Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1993, S. 180 ff., sowie das Kapitel „Die tausend Augen des Argus“. Paris-Literatur 1830-1848, S. 205 ff. für Baudelaire das vorrangig Schöne 126 . Dem melancholischen, unglücklichen und infernalischen Schönen korrespondiert ein Betrachter, der ebenfalls me‐ lancholisch und unglücklich und von alter Schuld geplagt ist, dazu kultiviert und leicht erregbar - der „homme sensible moderne“: Un tempérament moitié nerveux, moitié bilieux, tel est le plus favorable aux évolutions d’une pareille ivresse; ajoutons un esprit cultivé, exercé aux études de la forme et de la couleur; un cœur tendre, fatigué par le malheur, mais encore prêt au rajeunissement; nous irons, si vous le voulez bien, jusqu’à admettre des fautes anciennes, et, ce qui doit en résulter dans une nature facilement excitable, sinon des remords positifs, au moins le regret du temps profané et mal rempli. […] Si l’on ajoute à tout cela une grande finesse de sens que j’ai omise comme condition surérogatoire, je crois que j’ai rassemblé les éléments généraux les plus communs de l’homme sensible moderne, de ce que l’on pourrait appeler la forme banale de l’originalité. 127 c) Die Entdeckung des ekstatischen Erlebnisses der Großstadt (Journaux intimes. Les Foules) Im 19. Jahrhundert war Paris neben London die bedeutendste europäische Groß‐ stadt. In den 1830er und 40er Jahren war es in Frankreich zu einem beliebten literarischen Thema geworden. Im Zentrum dieses ‚Stadtdiskurses‘ stand die im 18. Jahrhundert aufgekommene, in zahlreichen Sammlungen sich entfaltende Feuilletongattung des „tableau de Paris“, in der ein buntes Bild der Stadt, ihrer Einrichtungen und ihrer Bewohner gezeichnet wurde 128 . Zur selben Zeit wurde die Stadt zum Gegenstand der dichterischen Imagination und es entstand der „Mythos von Paris“. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte Balzac, der in seinen 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 49 129 Stierle, S. 339 ff. („Tableau de Paris und das Drama der Stadt: Balzac“). 130 Stierle, S. 520 ff. („Romantische Phantasmagorie und Stadtmythos: Victor Hugos Notre-Dame de Paris“). 131 Siehe dazu Citron, La Poésie de Paris dans la littérature française de Rousseau à Baudelaire, Bd. 1, 257 ff. 132 Citron, Bd. 2, besonders S. 270 ff. „Physiologien“ dem „tableau“ eine neue Form gab und es bald in erzählende Texte überführte, zunächst in kürzere Erzählungen, dann in Romane, die er als Paris-Dramen konzipierte und zur Comédie humaine ausweitete 129 . 1831 / 1832 veröffentlichte Victor Hugo seinen Roman Notre-Dame de Paris über das mit‐ telalterliche Paris, in dem gemäß der romantischen Forderung des Verfassers das Sublime neben dem Grotesken stand 130 . 1862 ließ er den sozialutopischen Gegenwartsroman Les Misérables folgen mit einer unverkennbaren Nähe zum feuilletonistischen Unterhaltungsroman, in dem das Paris-Thema inzwischen heimisch geworden war. Auch die Lyrik trug zum Paris-Mythos bei und entwickelte nach 1830 ein breites Themen-, Motiv- und Bildrepertoire der Stadt. In den 40er Jahren flaute das Interesse ab, um mit dem Stadtumbau durch Haussmann und der Weltaus‐ stellung 1855 von neuem zu erwachen 131 . Neben Romantikern wie Alfred de Vigny und der Nacht-Bohème um Gérard de Nerval ist hier wieder Victor Hugo zu nennen, der im Exil seine Liebe zu Paris entdeckte 132 , sowie eben Baudelaire, dessen erste Versuche mit Großstadtgedichten in die 40er Jahre zurückreichen. Mit dem erklärten Anspruch auf „modernité“ ging Baudelaire aber bald über den allgemeinen Zeittrend hinaus und nahm dabei jenseits des persönlichen Erfah‐ rungsraums Paris die Großstadt generell in den Blick. Eine zeitgemäße Großstadtlyrik verlangte nach Baudelaire Gegenstände, die seinen ästhetischen und anthropologischen Überzeugungen vom Schönen ent‐ sprachen und ihn in den poetischen Schaffensrausch versetzen konnten. Im Ringen um solche Gegenstände hat Baudelaire sich unter anderem bei den bil‐ denden Künsten umgesehen. So bewunderte er im Salon de 1859 die Wiedergabe von Paris in den Stichen Méryons: J’ai rarement vu représentée avec plus de poésie la solennité naturelle d’une ville immense. Les majestés de la pierre accumulée, les clochers montrant du doigt le ciel, les obélisques de l’industrie vomissant contre le firmament leurs coalitions de fumée, les prodigieux échafaudages des monuments en réparation, appliquant sur le corps solide de l’architecture leur architecture à jour d’une beauté si paradoxale, le ciel tu‐ multueux, chargé de colère et rancune, la profondeur des perspectives augmentée par I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 50 133 Salon de 1859, S. 666 f. 134 Siehe unten, S. 104 ff. 135 Tatsächlich hatte er zunächst eine Übersetzung der ersten Fassung begonnen, fuhr dann aber seit 1858 mit einer kommentierenden Paraphrase der von De Quincey erweiterten und ergänzten Fassung von 1856 fort. Erste Veröffentlichung im Januar 1860 in der Revue contemporaine, dann im Juni 1860 in den Paradis artificiels. Siehe dazu Pichois, „Notes“, S. 1362 ff. 136 Un Mangeur d’opium, S. 456. 137 „philosopher“, „peripatetic“ bzw. „walker of the street“ sind Ausdrücke De Quinceys, „méditant […] à travers le tourbillon de la grande cité“ ist Baudelaires Ausdrucksweise. la pensée de tous les drames qui y sont contenus, aucun des éléments complexes dont se compose le douloureux et glorieux décor de la civilisation n’était oublié. 133 Méryons Darstellungen der Stadt erschienen ihm in ihrer Majestät und Groß‐ artigkeit höchst poetisch, himmelstürmend und erdzugewandt zugleich mit ihren mächtigen Steinmassen, den Kirchtürmen und Schloten, den Wunder‐ werken der Baugerüste, deren paradoxe durchbrochene Schönheit die solide Schönheit der Architektur verdoppelte, dem dräuenden Himmel darüber und den in die Tiefe führenden gestaffelten Perspektiven, die den Betrachter zum Phantasieren der vielen in ihnen ablaufenden Dramen anregten. Eine solche „Stadtlandschaft“ hatte er selbst 1857 in dem Gedicht Paysage (parisien) darge‐ stellt, wobei er auch des allfälligen menschlichen „drame“ gedachte 134 . Literarische Stadteindrücke, bei denen der Mensch im Mittelpunkt stand und die dazu noch mit dem Drogenthema verbunden waren, fand er in den Confes‐ sions of an English Opium-Eater (1821 / 1822) von Thomas De Quincey. In diesem Werk, das Baudelaire seit 1857 teils übersetzte, teils paraphrasierte und analy‐ sierte 135 , berichtet der Ich-Erzähler, wie er sich in das „fourmillement de la grande ville regorgeante d’activité“ stürzt, um am Treiben der unüberschaubaren Viel‐ zahl und Vielfalt der Menschen teilzunehmen: De tout temps […] je m’étais fait gloire de converser familièrement, more socratico, avec tous les êtres humains, hommes, femmes et enfants, que le hasard pouvait jeter dans mon chemin; habitude favorable à la connaissance de la nature humaine, aux bons sentiments et à la franchise d’allures qui conviennent à un homme voulant mé‐ riter le titre de philosophe. 136 Solcher „méditation“ inmitten des „tourbillon de la grande cité“ geht der „phi‐ losophe de la rue“ anfangs zusammen mit Ann, einer „péripatéticienne de l’a‐ mour“, nach, mit der er sich in der großen Stadt zusammengetan hat 137 . Später, als er die Wohltaten des Opiums kennengelernt hat, sucht er samstagabends, unter dem Einfluss der Droge, nicht die ihm inzwischen ans Herz gewachsene 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 51 138 Thomas De Quincey, Confessions of an English Opium-Eater, hrsg. von M. Elwin, London 1956, S. 272. 139 Un Mangeur d’opium, S. 468. So Baudelaires Paraphrase und Bewertung des Geschehens; ähnlich schon der vorwegnehmende Hinweis: „Plus tard, parmi les jouissances oc‐ troyées par le généreux opium, nous verrons se reproduire cet esprit de charité et de fraternité universelles, mais activé et augmenté par le génie de l’ivresse.“ (S. 456) Oper auf, wo er sich an der Stimme einer bekannten Sängerin und an den fremdsprachigen Klängen des weiblichen Publikums berauschen könnte, son‐ dern wendet sich den Ärmsten der Stadt zu: These were my opera pleasures; but another pleasure I had, which, as it could be had only on a Saturday night, occasionally struggled with my love of the opera; for, in those years, Tuesday and Saturday were the regular opera nights. […] This pleasure, I have said, was to be had only on a Saturday night. What, then, was Saturday night to me more than any other night? I had no labours that I rested from; no wages to receive; what needed I to care for Saturday night, more than as it was a summons to hear Grassini? […] And yet so it was, that, whereas different men throw their feelings into different channels, and most men are apt to show their interest in the concerns of the poor chiefly by sympathy with their distresses and sorrows, I at that time was disposed to express mine by sympathising with their pleasures. 138 Bis in die entferntesten Viertel geht er ihnen nach, um ihre bescheidenen Wo‐ chenendfreuden, ihre Hoffnungen und ihre Schicksalsergebenheit mitzuerleben und zu genießen. Unter der Wirkung der Droge steigert sich seine angeborene Neigung zu „charité et […] fraternité universelles“ zu einer Haltung, die Bau‐ delaire als „dilettantisme de la charité“ bezeichnet und damit dem Liebhabertum in den Künsten gleichgesetzt: Mais quelquefois, le samedi soir, une autre tentation d’un goût plus singulier et non moins enchanteur triomphait de son amour pour l’opéra italien. La jouissance en ques‐ tion, assez alléchante pour rivaliser avec la musique, pourrait s’appeler le dilettantisme dans la charité. 139 Der durch die Droge beförderte Genuss („jouissance“) der Anteilnahme am An‐ deren konkurriert hier unmissverständlich mit dem Genuss, den die Künste ge‐ währen. Sein eigenes, ganz ähnlich geartetes Erlebnis der Großstadt hat Baudelaire in mehreren Anläufen geklärt. Ein erster theoretischer Schritt dürfte eine Notiz in einem Entwurf des Art philosophique gewesen sein, mit dem er sich etwa zu derselben Zeit beschäftigte: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 52 140 „Notes diverses sur L’Art philosophique“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 606-607, hier: S. 607. Pichois datiert den Entwurf Ende der 1850er / Anfang der 1860er Jahre („Notes“, S. 1377 f.); siehe auch S. 1381 zur verzögerten Publikation der „Notes diverses“. 141 Gilman, Baudelaire the Critic, S. 63 ff. 142 Soirées de Saint Petersbourg ou Entretiens sur le gouvernement temporel de la providence, 2 Bde., Lyon / Paris 7 1854, Bd. 2, S. 123 f. Die hier beschriebene Tätigkeit des „Auges“, ist nichts anderes als die Tätigkeit des „inneren Auges“ bzw. der Phantasie, die nach Bau‐ delaire das fehlende Schöne ergänzt. Le vertige senti dans les grandes villes est analogue au vertige éprouvé au sein de la nature. - Délices du chaos et de l’immensité. - Sensations d’un homme sensible en visitant une grande ville inconnue. 140 Die in großen Städten erfahrbare Ekstase („vertige“) ist von derselben Art wie die von einem Naturschauspiel ausgelöste, da der Anblick einer unbekannten Großstadt die gleichen Empfindungen von Chaos und Unendlichkeit wie das Naturschauspiel erzeugt und beim Besucher ein ekstatisches Entzücken bewirkt: „Délices du chaos et de l’immensité.“ Hinter der überraschenden Vorstellung von der beglückenden Wirkung des Chaos kann man eine Argumentation von Jo‐ seph de Maistre vermuten, dessen Soirées de Saint-Pétersbourg Baudelaire spä‐ testens seit 1852 bekannt waren 141 . Nach de Maistre ist Unordnung eine Abwei‐ chung von Ordnung, setzt diese also voraus, weshalb „désordre“ geradezu die Vorstellung einer ordnenden Intelligenz hervorruft: Ils parlent de désordre dans l’univers; mais qu’est-ce que le désordre? c’est une déro‐ gation à l’ordre apparemment; donc on ne peut objecter le désordre sans confesser un ordre antérieur, et par conséquent l’intelligence. On peut se former une idée parfai‐ tement juste de l’univers en le voyant sous l’aspect d’un vaste cabinet d’histoire na‐ turelle ébranlé par un tremblement de terre. La porte est ouverte et brisée; il n’y a plus de fenêtres; des armoires entières sont tombées; d’autres pendent encore à des fiches prêtes à se détacher. Des coquillages ont roulé dans la salle des minéraux, et le nid d’un colibri repose sur la tête d’un crocodile. - Cependant quel insensé pourrait douter de l’intention primitive, ou croire que l’édifice fut construit dans cet état? Toutes les grandes masses sont ensemble: dans le moindre éclat d’une vitre on la voit toute en‐ tière; le vide d’une layette la replace: l’ordre est aussi visible que le désordre; et l’œil, en se promenant dans ce vaste temple de la nature, rétablit sans peine tout ce qu’un agent funeste a brisé, ou faussé, ou souillé, ou déplacé. 142 Vom Anblick eines „Chaos“ zur Vorstellung einer durch die Vorsehung garan‐ tierten höheren Harmonie ist es also nur ein kleiner Schritt. Die Wahrnehmung von Ordnung und Harmonie führt aber zu einem ekstatischen Erlebnis, wie 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 53 143 Rêveries du promeneur solitaire, Septième Promenade, S. 1062 f. 144 Le Peintre de la vie moderne, S. 692; siehe unten, S. 75. 145 Fusées II, S. 651. 146 Vgl. die Beschreibung des Haschischrausches oben, S. 26 f. 147 Vgl. den vollständigen Titel des ersten Essays Du Vin et du hachisch, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité (Bd. 1, S. 377). Rousseau es in der „Septième Promenade“ angesichts der Erfahrung der Har‐ monie der drei Naturreiche beschrieben hatte: […] la terre offre à l’homme dans l’harmonie des trois régnes un spectacle plein de vie, d’intérest et de charme, le seul spectacle au monde dont ses yeux et son cœur ne se lassent jamais. Plus un contemplateur a l’ame sensible plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord. 143 Gleiches widerfährt Baudelaires „homme sensible“ in der Großstadt, etwa wenn Constantin Guys aus dem „tumulte de la liberté humaine“ der Großstadt die Vorstellung von Harmonie gewinnt, die ihn zur künstlerischen Ekstase führt: Il admire l’éternelle beauté et l’étonnante harmonie de la vie dans les capitales, har‐ monie si providentiellement maintenue dans le tumulte de la liberté humaine. 144 Das Erlebnis der Großstadt gleicht also grundsätzlich dem ekstatischen Erlebnis der Natur, nur dass in diesem Fall nicht die Natur, sondern eine Vielzahl und Vielfalt von Menschen die Grundlage ist. Die Menschenmenge kommt genauer in Fusées II in den Blick, wo Baudelaire das Erlebnis der Großstadt als eine Eks‐ tase religiöser Art bezeichnet und dies erklärt, indem er das pantheistische Ein‐ heitserlebnis der Natur auf das Erlebnis der Menschenmenge der Großstadt überträgt: Ivresse religieuse des grandes villes. - Panthéisme. Moi, c’est tous; tous, c’est moi. Tourbillon. 145 Das (dichterische) Ich gerät hier in der großen Stadt in einen Zustand der Selbst‐ entäußerung, wie ihn die „poètes panthéistes“ vor der Natur erleben 146 . Statt mit der Natur und ihren Geschöpfen fühlt es sich mit der Vielzahl von Menschen eins, die es umgeben: „Moi, c’est tous; tous, c’est moi.“ Das Aufgehen in den Vielen bewirkt den ekstatischen Zustand, nämlich eine „multiplication de l’in‐ dividualité“, wie sie auch die Rauschmittel Wein und Haschisch versprechen 147 . Wie man sich das im Detail vorzustellen hat, beleuchten weitere Bemerkungen zum Aufenthalt in einer Menschenmenge, die sich in der ersten Fusée finden: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 54 148 Fusées I, S. 649. 149 „Regardez bien: il [le nombre] est écrit sur toutes les parties de l’univers et surtout sur le corps humain.“ (Soirées de Saint Petersbourg, Bd. 2, S. 116.) Für de Maistre hat die Zahl eine allumfassende, fast metaphysische Bedeutung: „Le nombre, messieurs, le nombre! Ou l’ordre et sa symétrie; car l’ordre n’est que le nombre ordonné, et la symétrie n’est que l’ordre aperçu et comparé.“ (S. 111 f.) 150 Auf die Bedeutung von de Maistres Konzept der Zahl für Baudelaire weist Patrick Laude hin („L’Esthétique Baudelairienne. Entre l’un et le multiple“, Symposium Bd. 48 / 1994, S. 37-50, S. 42). Laude sieht bei Baudelaire eine „esthétique de la multiplication“ (ebd.), ohne allerdings einen Zusammenhang mit dem Erlebnis der Großstadt herzustellen. 151 Ähnlich spricht Baudelaire in der vorletzten Phase des Haschischrausches von einem „tourbillon vivant“ der Gedanken (Du Vin et du hachisch, S. 393; Le Poème du hachisch, S. 420). Im Mangeur d’opium sind die (Baudelaireschen) Wendungen „tourbillon de la grande cité“ bzw. „tourbillon d’une grande capitale“ (S. 456 und 468) zumindest offen für diese Bedeutung. 152 Erstveröffentlichung in der Revue fantaisiste vom 1. November 1861. Dans un spectacle, dans un bal, chacun jouit de tous. Le plaisir d’être dans les foules est une expression mystérieuse de la jouissance de la multiplication du nombre. Tout est nombre. Le nombre est dans tout. Le nombre est dans l’individu. L’ivresse est un nombre. 148 Die Eintragung geht von der Alltagserfahrung eines festlichen Schauspiels aus, bei dem sich das Lebens- und Hochgefühl des Einzelnen durch die Wahrneh‐ mung aller Anderen steigert: „Dans un spectacle, dans un bal, chacun jouit de tous.“ Das ist soweit leicht nachvollziehbar. Das allgemeine „plaisir d’être dans les foules“ erfährt dann jedoch noch eine Erweiterung durch die „Vervielfälti‐ gung der Zahl“. Bei diesem Gedanken steht Baudelaire wohl wieder eine Äuße‐ rung von de Maistre vor Augen, derzufolge die Zahl („le nombre“) dem ganzen Universum, besonders aber dem menschlichen Körper eingeschrieben sei 149 . Weil also alles „Zahl“ ist und „Zahl“ in allem, auch im Individuum - „Tout est nombre. Le nombre est dans tout. Le nombre est dans l’individu.“ -, multipliziert sich die Wahrnehmung der vielen Einzelnen einer Menschenmenge mit deren jeweiliger Vielfalt und es kann zu einer unübersehbaren „multiplication du nombre“ kommen, in der sich das Lebensgefühl des Wahrnehmenden bis zur Ekstase vervielfältigt: „L’ivresse est un nombre.“ 150 Dieser Zustand ekstatischen Erlebens in der Menschenmenge einer großen Stadt ist mit der Wendung „Tour‐ billon.“ in Fusées II gemeint 151 . Dem Erlebnis des Dichters in der Menschenmenge hat Baudelaire wenig später das Prosagedicht Les Foules 152 gewidmet. 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 55 153 Les Foules, Le Spleen de Paris XII, S. 291 f. Les Foules Il n’est pas donné à chacun de prendre un bain de multitude: jouir de la foule est un art; et celui-là seul peut faire, aux dépens du genre humain, une ribote de vitalité, à qui une fée a insufflé dans son berceau le goût du travestissement et du masque, la haine du domicile et la passion du voyage. Multitude, solitude: termes égaux et convertibles pour le poète actif et fécond. Qui ne sait pas peupler sa solitude, ne sait pas non plus être seul dans une foule affairée. Le poète jouit de cet incomparable privilège, qu’il peut à sa guise être lui-même et autrui. Comme ces âmes errantes qui cherchent un corps, il entre, quand il veut, dans le personnage de chacun. Pour lui seul, tout est vacant; et si de certaines places pa‐ raissent lui être fermées, c’est qu’à ses yeux elles ne valent pas la peine d’être visitées. Le promeneur solitaire et pensif tire une singulière ivresse de cette universelle com‐ munion. Celui-là qui épouse facilement la foule connaît des jouissances fiévreuses, dont seront éternellement privés l’égoïste, fermé comme un coffre, et le paresseux, interné comme un mollusque. Il adopte comme siennes toutes les professions, toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente. Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible, com‐ paré à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe. Il est bon d’apprendre quelquefois aux heureux de ce monde, ne fût-ce que pour hu‐ milier un instant leur sot orgueil, qu’il est des bonheurs supérieurs au leur, plus vastes et plus raffinés. Les fondateurs de colonies, les pasteurs de peuples, les prêtres missio‐ naires exilés au bout du monde, connaissent sans doute quelque chose de ces mysté‐ rieuses ivresses; et, au sein de la vaste famille que leur génie s’est faite, ils doivent rire quelquefois de ceux qui les plaignent pour leur fortune si agitée et pour leur vie si chaste. 153 Der Charakter des Gedichts schwankt zwischen einer Aphorismensammlung, in der Baudelaire seine Tagebuchnotizen fortgeführt hat, und einem Preisge‐ dicht auf das Erlebnis der Menschenmenge durch den Dichter. Es setzt ein mit der Feststellung, dass es nicht jedem gegeben sei, die Menge zu „genießen“ („jouir de la foule“) und ein „Bad“ in ihr zu nehmen („prendre un bain de mul‐ titude“), weil es dazu besonderer Feengaben bedürfe: „le goût du travestissement et du masque, la haine du domicile et la passion du voyage“. Das Verb „jouir“, das zum gängigen Vokabular Baudelaires für die Steigerung des ekstatischen Lebensgefühls gehört, knüpft erkennbar an die Tagebucheintragungen an („la jouissance de la multiplication du nombre“). Neu ist indessen das Bild vom kräf‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 56 154 Un Mangeur d’opium, S. 468. Sainte-Beuve scheint an der Wendung Anstoß genommen zu haben (Correspondance, Bd. 2, S. 493, Brief vom 4. Mai 1865). 155 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I: Victor Hugo, S. 132. Der Artikel erschien am 15. 6. 1861 in der Revue fantaisiste, also nur wenige Monate früher als Les Foules. tespendenden „Bad“, das eine „ribote de vitalité“ bringt. Das Bild eines „bain de multitude“ hatte Baudelaire schon im Mangeur d’opium für das Eintauchen des Erzählers in die Menschenmenge der Großstadt London verwendet und es mit dem Eintauchen eines Schwimmers ins Meer und dessen Kontakt mit der Natur verglichen: […] comme le nageur embrasse la mer et entre ainsi en contact plus direct avec la nature, il [De Quincey] aspire à prendre, pour ainsi dire, un bain de multitude. 154 Im Mangeur d’opium ging es um den emotionalen Kontakt mit der „foule de déshérités“, der der Erzähler selbst einmal angehört hatte. Die für Les Foules einschlägigere, weil das Verhalten eines Dichters betreffende Bildparallele findet sich in dem kurz zuvor verfassten Artikel über Victor Hugo, wo es von diesem heißt: Aucun artiste n’est plus universel que lui, plus apte à se mettre en contact avec les forces de la vie universelle, plus disposé à prendre sans cesse un bain de nature. 155 Die Feststellung, dass Hugo wie kein anderer Künstler fähig sei, immer von Neuem Kraft aus einem „Bad in der Natur“ zu schöpfen, beschreibt aus Baude‐ laires Sicht Hugos Fähigkeiten (und Grenzen) als Dichter: die Fähigkeit, als Ly‐ riker in Kontakt mit den „forces de la vie universelle“ zu treten, sich also in den ekstatischen Zustand des poetischen Enthusiasmus zu versetzen, einerseits und die Beschränkung auf die Natur als Inspirationsquelle, die sich im unaufhörli‐ chen „Bad in der Natur“ äußert, andererseits. Auch in Les Foules steht die Me‐ tapher des kräftespendenden Bades für den schöpferischen Inspirationsakt des Dichters, der nun aber in einer Menschenmenge angesiedelt wird und von dem ausdrücklich gesagt ist, er sei eine „Kunst“, die nicht jedermann gegeben sei. Der nächste Abschnitt des Gedichts stellt den mit dieser Kunst Begabten vor, den „poète actif et fécond“ bzw. - in der Erstfassung - den „poète au cerveau actif et fécond“, für den Menschenmenge und Einsamkeit gleichwertig und aus‐ tauschbar („égaux et convertibles“) seien. Begründet wird diese paradox anmu‐ tende Befähigung mit Rückgriff auf eine Äußerung des alternden Rousseau, der in den Rêveries du promeneur solitaire darüber geklagt hatte, dass er seine Ein‐ samkeit nicht mit vertrauten Wesen teilen könne, weil seine versiegende Phan‐ tasie ihm nicht mehr gehorche: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 57 156 Rêveries d’un promeneur solitaire, S. 1004 („Deuxième Promenade“). 157 Siehe Rousseaus Bericht über die Entstehung der Nouvelle Héloise: „L’impossibilité d’at‐ teindre aux êtres réels me jetta dans le pays des chiméres, […] dans un monde idéal que mon imagination créatrice eut bientôt peuplé d’êtres selon mon cœur. Dans mes con‐ tinuelles extases je m’enivrois à torrens des plus délicieux sentimens qui jamais soient entrés dans un cœur d’homme. Oubliant tout à fait la race humaine, je me fis des societés de créatures parfaites […].“ (Confessions IX, in: J. J. Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 401-488, hier: S. 427.) 158 Vgl. die Charakterisierung von Constantin Guys: „ce solitaire doué d’une imagination active“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 694). 159 Tatsächlich ist Baudelaires Verhältnis zur Menschenmenge ambivalent. So zwingt ihn im Prosagedicht À une heure du matin (Le Spleen de Paris X) die „tyrannie de la face humaine“ über Tag zu einer Reihe sinnloser und niederträchtiger Dinge und hält ihn vom Dichten ab. Den Gedanken der „tyrannie de la face humaine“ hat er von De Quincey übernommen, dessen Opium-Eater auf dem Höhepunkt seines Rausches die Menge als bedrückend erlebt und Einsamkeit und Stille sucht (Un Mangeur d’opium, S. 470; Con‐ fessions of an English Opium-Eater, S. 274). Seul et délaissé je sentois venir le froid des premiéres glaces, et mon imagination tarissante ne peuploit plus ma solitude d’êtres formés selon mon cœur. 156 Baudelaire folgert daraus, dass es auf die Phantasie ankomme und dass derje‐ nige, der - wie Rousseau in seinen besseren Zeiten 157 - imstande ist, mit einer „aktiven Phantasie“ 158 seine Einsamkeit zu bevölkern („peupler sa solitude“), auch inmitten einer rastlosen Menschenmenge „allein“ sein und den Vorstel‐ lungen seiner Phantasie folgen könne. Diese Einlassung nimmt den denkbaren Einwand vorweg, dichterischer Enthusiasmus in der Menschenmenge sei un‐ möglich, weil er - physische - Einsamkeit voraussetze 159 . Seiner tätigen Phantasie verdankt der Dichter das „unvergleichliche Privileg“, im Enthusiasmus aus sich herausgehen und sich in andere Menschen hinein‐ versetzen zu können, von dem der nächste Abschnitt handelt. Diese Fähigkeit, die eingangs genannte „Feen“-Gabe des „goût du travestissement et du masque“, ist seit jeher ein Kennzeichen des dichterischen Genies, wie man in der Ency‐ clopédie nachlesen kann: […] dans la chaleur de l’enthousiasme […] il est transporté dans la situation des per‐ sonnages qu’il fait agir; il a pris leur caractère: s’il éprouve dans le plus haut degré les passions héroïques, telles que la confiance d’une grande ame que le sentiment des ses forces éleve au-dessus de tout danger, telles que l’amour de la patrie porté jusqu’a l’oubli de soi-même, il produit le sublime, le moi de Médée, le qu’il mourût du vieil Horace, le je suis consul de Rome de Brutus: transporté par d’autres passions, il fait I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 58 160 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des art et des métiers, Paris 1757, Nachdruck Stuttgart / Bad Cannstatt 1966, Bd. 7, S. 582b, „Génie“; Hervorhebungen im Text. Das dichterische Genie ist hier ein Dramatiker, was nicht zuletzt der Gattungs‐ hierarchie der Zeit entspricht. 161 Correspondance, Bd. 1, S. 334 (Brief vom 9. Januar 1856). 162 „[…] le hachisch ne révèle à l’individu rien que l’individu lui-même.“ (Le Poème du ha‐ chisch, S. 440; ähnlich S. 409 sowie Du Vin et du hachisch, S. 395 f.). So haben gewöhnliche Naturen „un hachisch tout matériel“, einen Überschwang roher Ausgelassenheit. Als Beispiel wird ein „magistrat respectable“, ein gravitätischer Ehrenmann angeführt, der im Haschischrausch plötzlich begann „à sauter un cancan des plus indécents. Le monstre intérieur et véridique se révélait.“ (Du Vin et du hachisch, S. 395 f.) Siehe auch unten, S. 76, Anm. 212. 163 Eine „ardente vitalité spirituelle“ bzw. ein „état exagéré de vitalité“ sind für Baudelaire zentrale Eigenschaften des Lyrikers (Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. VII. Théodore de Banville, S. 164 bzw. 165). dire à Hermione, qui te l’a dit? à Osmane, j’étais aimé; à Thieste, je reconnois mon frere. 160 Auch Baudelaire hat sich in einem Brief an seine Mutter auf den Wesenszug berufen und ihn seinen einzigen Stolz genannt: Le propre des vrais poètes - pardonnez-moi cette petite bouffée d’orgueil, c’est le seul qui me soit permis - est de savoir sortir d’eux-mêmes, et comprendre une tout autre nature. 161 Weniger philosophische und künstlerische Naturen erfahren dagegen im Rausch nur das eigene „tempérament physique et moral“, wie er zu betonen nicht müde geworden ist 162 . Daher bringt auch die Steigerung des Lebens- und Hochgefühls während eines festlichen Schauspiels oder in einer Menschenmenge, die auf der elementaren Wahrnehmung gleichgearteten Tuns und Erlebens beruht, keine qualitative Erweiterung des Ichs mit sich. Zu dieser ist allein der Dichter fähig, der im Enthusiasmus je nach Wunsch er selbst oder ein Anderer sein kann und für den daher die Vielfalt der vielen Einzelnen, die „multiplication du nombre“, ein „Vitalität“ 163 spendendes Bad ist. Das ist der tiefere Sinn der Metapher vom Bad in der Menge und der Rede von der „Kunst“ des Mengenerlebnisses. Es wäre nun ein Irrtum, das Sich-Hineinversetzen des Dichters in Andere für einen philanthropischen oder gar sozialen Akt zu halten. Schon im Mangeur d’opium weist die Bezeichnung „dilettantisme dans la charité“ für das wieder‐ holte, genussvolle Eintauchen des Erzählers in die ihm vertraute „foule de dés‐ hérités“ in eine andere Richtung. Im Poème du hachisch, wo Baudelaire die De‐ formation und Steigerung von Gefühlen und moralischen Maßstäben unter dem Einfluss der Droge beschreibt und in der vorletzten Phase des Haschischrau‐ 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 59 164 Le Poème du hachisch, S. 433 f.: „c’est ici que se montre le premier germe de l’esprit satanique qui se développera d’une manière extraordinaire“. 165 Le Poème du hachisch, S. 437. Vor dem Hintergrund dieser Äußerung hat man auch die Wendung „aux dépens du genre humain“ des ersten Gedichtabschnitts zu verstehen. „pabulum“ als Begriff für den ästhetischen Anreiz eines Vorgangs oder Werks ver‐ wendet Baudelaire auch in Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 332. 166 Siehe Fairlie, die hierzu auf Baudelaires „hatred of any form of social sentimentality“ hinweist („Some remarks on Baudelaire’s Poème du hachisch“, S. 140). sches eine „bienveillance singulière appliquée même aux inconnus, une espèce de philanthropie plutôt faite de pitié que d’amour“ diagnostiziert, entdeckt er darin den Ansatz zum „esprit satanique“ 164 . Denn der Drogenberauschte sieht in diesem Zustand seine Person im Zentrum des Universums, er fühlt sich gott‐ gleich und bezieht alles auf sich selbst: […] toutes ces choses ont été créées pour moi, pour moi, pour moi! Pour moi, l’hu‐ manité a travaillé, a été martyrisée, immolée, - pour servir de pâture, de pabulum à mon implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté! 165 Der Dichter, der denselben „implacable appétit d’émotion, de connaissance et de beauté“ besitzt, lebt den gottgleichen Zustand - den ‚En-thusiasmus‘ - in seinem Werk aus, das, wie die Fleurs du mal beweisen, satanische Züge tragen kann. Das zugegeben komplexe Verhältnis des Dichters zum (Mit)Menschen hat somit nichts mit Sozialromantik 166 , aber viel mit Inspiration und Ästhetik zu tun. Die Gabe, er selbst oder ein Anderer zu sein, kann der Dichter nach seinem Belieben einsetzen, wann er will („quand il veut“) und wo er will („tout est va‐ cant“). So wählt er aus und übergeht, was ihm nicht der Mühe wert erscheint: „si de certaines places paraissent lui être fermées, c’est qu’à ses yeux elles ne valent pas la peine d’être visitées.“ Das Wort „places“ ist dabei nicht zufällig gewählt, denn in der Großstadt finden Begegnungen mit Menschen, wie sich zeigen wird, vorzugsweise an viel besuchten „Orten“ statt. Hier meint es jedoch zunächst die Menschen, in die der Dichter sich gleich einer irrenden Seele, die einen Körper sucht, hineinversetzt: „[c]omme ces âmes errantes qui cherchent un corps“. Diese Äußerung impliziert die Aussage, dass die Empathie des Dich‐ ters mit dem menschlichen Gegenüber, sein „entrer dans le personnage de chacun“, die ihm eigentümliche Form des Enthusiasmus und der Inspiration und somit geradezu Voraussetzung für sein Schaffen ist. Daher verwundert es nicht, wenn das im Gedicht entworfene Bild des Dichters weitgehend mit der Selbst‐ charakteristik des Erzählers in Balzacs Facino Cane übereinstimmt, dessen Lei‐ denschaft es ist, sich unerkannt unter die Bewohner des Faubourg zu mischen, ihre Sitten und Charaktere zu beobachten und sich in sie hineinzuversetzen, um ihr Leben zu leben: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 60 167 Facino Cane, hrsg. von A. Lorant, in: H. de Balzac, La Comédie humaine, hrsg. von P.-G. Castex u. a., Bd. 6 (Bibliothèque de la Pléiade. 35), Paris 1977, S. 1019-1032, hier: S. 1019 f. 168 Der Hinweis findet sich in der kritischen Ausgabe der Petits Poëmes en prose von Robert Kopp, Paris 1969, S. 224. 169 „Une seule passion m’entraînait en dehors de mes habitudes studieuses; mais n’était-ce pas encore de l’étude? j’allais observer les mœurs du faubourg, ses habitants et leurs caractères.“ (Facino Cane, S. 1019.) 170 „Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. VII. Théodore de Banville“, S. 165. Chez moi l’observation était déjà devenue intuitive, elle pénétrait l’âme sans négliger le corps; ou plutôt elle saisissait si bien les détails extérieurs, qu’elle allait sur-le-champ au-delà; elle me donnait la faculté de vivre de la vie de l’individu sur laquelle elle s’exerçait, en me permettant de me substituer à lui comme le derviche des Mille et Une nuits prenait le corps et l’âme des personnes sur lesquelles il prononçait certaines paroles. […] En entendant ces gens je pouvais épouser leur vie, je me sentais leurs guenilles sur le dos, je marchais les pieds dans leurs souliers percés; leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur. C’était le rêve d’un homme éveillé. […] Quitter ses habitudes, devenir un autre que soi par l’ivresse des facultés morales, et jouer ce jeu à volonté, telle était ma distraction. 167 Die gedanklichen und teils wörtlichen Parallelen in Balzacs Text 168 - „épouser leur vie“, „vivre la vie d[’un autre]“, „l’ivresse des facultés morales“, „leurs désirs, leurs besoins, tout passait dans mon âme, ou mon âme passait dans la leur“, „jouer ce jeu à volonté“ - sind durchaus verblüffend. Es gibt jedoch einen we‐ sentlichen Unterschied. Wenn Balzac seinen Erzähler die Leidenschaft für die „observation“ mit der Bemerkung „mais n’était-ce pas encore de l’étude? “ ein‐ ordnen lässt 169 , so meint er damit das Ziel des Epikers, wie er es versteht, und das ein anderes ist als das des lyrischen Dichters, das Baudelaire seinem „poète actif et fécond“ setzt. Denn die Lyrik betrachtet Dinge und Personen nicht unter ihrem besonderen und individuellen Aspekt, sondern in ihren grundsätzlichen und allgemeinen, ja universalen Zügen; sie vermeidet die Einzelheiten, in denen der Roman schwelgt, und strebt nicht die Analyse, sondern die Synthese an. So jedenfalls hat Baudelaire sich im Artikel über Théodore de Banville geäußert: […] tout mode lyrique de notre âme nous contraint à considérer les choses non pas sous leur aspect particulier, exceptionnel, mais dans leurs traits principaux, généraux, universels. La lyre fuit volontiers tous les détails dont le roman se régale. L’âme lyrique fait des enjambées vastes comme des synthèses; l’esprit du romancier se délecte dans l’analyse. 170 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 61 171 Citron erkennt bei Balzac einen „désir passionné de comprendre“, während Baudelaires Identifikation mit dem Anderen einen „caractère religieux“ habe und ein „exercice spi‐ rituel“ sei (La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 380). 172 Un Mangeur d’opium, S. 456; wörtlich so bei De Quincey, Confessions of an English Opium-Eater, S. 240: „a philosopher should not see with the eyes of the poor limitary creature calling himself a man of the world, filled with narrow and self-regarding pre‐ judices of birth and education, but should look upon himself as a catholic creature, and as standing in equal relation to high and low, to educated and uneducated, to the guilty and the innocent.“ Die hier vermerkten „Sprünge“ der lyrischen Seele sind nichts anderes als das Ausmessen der „profondeur de la vie“ im enthusiastischen Zustand und die „Synthese“ ist das universale Einheitserlebnis des Lyrikers. Der Romancier hin‐ gegen lebt seine Lust am Fabulieren in der „Analyse“ aus, wozu er nach Balzac der genauen und umfassenden Beobachtung der Menschen und ihrer Gewohn‐ heiten im konkreten Umfeld bedarf, die auch die Identifikation mit ihnen ein‐ schließen kann 171 . In den beiden folgenden Abschnitten von Les Foules wird die ekstatische Stei‐ gerung des dichterischen Lebensgefühls in der Menschenmenge gefeiert. Bau‐ delaire steigert dabei die gewohnten Ausdrücke durch zusätzliche Adjektive - „des jouissances fiévreuses“, „une singulière ivresse“, „mystérieuses ivresses“ - und hebt ihre Einzigartigkeit durch Vergleiche hervor („dont seront éternelle‐ ment privé l’égoïste, fermé comme un coffre, et le paresseux, interné comme un mollusque“). Die Bereitschaft und die Begeisterung, mit der sich der Dichter der Menge hingibt, und seine ekstatische Selbstentäußerung im Anderen veran‐ schaulicht er durch erotisch-sexuelle, familiäre, ja religiös konnotierte Meta‐ phern wie die einer „universelle communion“ mit der Menge, die an die Forde‐ rung des Erzählers im Mangeur d’opium erinnert, dass ein „Philosoph“ im Umgang mit den Anderen „un être vraiment catholique“ sein müsse: […] le philosophe ne doit pas voir avec les yeux de cette pauvre créature bornée qui s’intitule elle-même l’homme du monde, remplie de préjugés étroits et egoïstiques, mais doit au contraire se regarder comme un être vraiment catholique, en communion et relation égales avec tout ce qui est en haut et tout ce qui est en bas, avec les gens instruits et les gens non éduqués, avec les coupables comme avec les innocents. 172 Um die folgenden Metaphern „cette ineffable orgie“ und „cette sainte prostitu‐ tion“ zu verstehen, muss man wissen, dass für Baudelaire Liebe und Kunst glei‐ chermaßen auf der „prostitution“ gründen: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 62 173 Fusées I, S. 649. Siehe auch Mon cœur mis à nu XXV, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 676-708, S. 692: „Qu’est-ce que l’amour? - Le besoin de sortir de soi. - L’homme est un animal adorateur. - Adorer, c’est se sacrifier et se prostituer. - Aussi tout amour est-il prostitution.“ Zu Baudelaires Begriff der Prostitution siehe Crépet / Blin, Journaux intimes, „Introduction“, S. 204 ff. 174 Fusées I, S. 649. 175 Mon cœur mis à nu XXV, S. 692. 176 Mon cœur mis à nu XXXVI, S. 700. 177 Vgl. Mon cœur mis à nu I: „De la vaporisation et de la centralisation du Moi. Tout est là.“ (S. 676) Siehe auch Baudelaires Tagebuchnotizen aus The Conduct of Life von Ralph W. Emerson: „The one prudence in life is concentration; the one evil is dissipa‐ tion.“ sowie: „The hero is he who is immovably centred.“ (Hygiène VIII, in: Œuvres com‐ plètes, Bd. 1, S. 668-675, hier: S. 674.) L’amour, c’est le goût de la prostitution. Il n’est même pas de plaisir noble qui ne puisse être ramené à la Prostitution. […] Qu’est-ce que l’art? Prostitution. 173 „Prostitution“ ist als Hingabe an den Anderen sogar ein „sentiment généreux“: L’amour peut dériver d’un sentiment généreux: le goût de la prostitution; mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété. 174 Das erklärt ihre Aufwertung in dem Satz: „Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible comparé à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme […].“ Wegen seiner unerschöpflichen Liebe zu jeder Kreatur spricht Baudelaire die Prostitution sogar Gott zu: L’être le plus prostitué, c’est l’être par excellence, c’est Dieu, puisqu’il est l’ami su‐ prême pour chaque individu, puisqu’il est le réservoir commun, inépuisable de l’a‐ mour. 175 In der Kunst ist Prostitution von besonderer Art, weil der „homme de génie“ nicht sein Ich „im Fleische“ vergessen will wie der gewöhnliche Mensch: Goût invincible de la prostitution dans le cœur de l’homme, d’où naît son horreur de la solitude. - Il veut être deux. L’homme de génie veut être un, donc solitaire. La gloire, c’est rester un, et se prostituer d’une manière particulière. C’est cette horreur de la solitude, le besoin d’oublier son moi dans la chair extérieure, que l’homme appelle noblement besoin d’aimer. 176 Vielmehr geht es ihm trotz Selbstentäußerung und Hingabe an den Anderen darum, sich selbst zu bewahren: „La gloire, c’est rester un […].“ 177 Die Selbst‐ 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 63 178 Wie es bei Rilke der Fall ist. 179 Vgl. dazu Fusées I, S. 649: „Le goût de la concentration productive doit remplacer, chez un homme mûr, le goût de la déperdition.“ 180 Vgl. Correspondance, Bd. 2, S. 207, Brief an Arsène Houssaye, Noël 1861: „un titre comme: Le Promeneur solitaire, ou Le Rôdeur parisien vaudrait mieux peut-être [als der im Brief vom 20. 12. vorgeschlagene Titel La Lueur et la fumée]“. 1860 hatte er - in Anspielung auf den „péripatéticien“ und „philosophe de la rue“ des Mangeur d’opium - eine ähnliche Formulierung im Widmungsbrief zu den Paradis artificiels benutzt: „Tu verras dans ce tableau un promeneur sombre et solitaire, plongé dans le flot mouvant des multi‐ tudes […]“ (Bd. 1, S. 400). 181 Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund siehe R. Klibanski / E. Panofsky / F. Saxl, Sa‐ turn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art, Cambridge 1964, bes. S. 217 ff. (Teil III: „‚Poetic Melancholy‘ and ‚Melancholia gene‐ rosa‘“). entäußerung kann vor allem dem Dichter zum Problem werden 178 , weil sie bei ihm stärker ist als bei anderen Künstlern. In Les Foules scheint die Balance zwi‐ schen Hingabe und Selbstbewahrung aber zu gelingen, denn der Dichter kann sich frei zwischen „moi“ und „non-moi“ entscheiden: „Le poète […] peut à sa guise être lui-même et autrui“, und seine Hingabe hat den Charakter der geist‐ lich-philanthropischen caritas und der „charité“ des „mangeur d’opium“: „[…] l’âme se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’in‐ connu qui passe“. „Poésie“ dürfte dann für die „concentration productive“ des Dichters stehen 179 . Im vierten Abschnitt wird mit der Wendung „Le promeneur solitaire et pensif “ innerhalb weniger Zeilen ein zweites Mal auf Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire Bezug genommen, deren Beschreibungen ekstatischer Zu‐ stände und ihres Zustandekommens Baudelaire offensichtlich sehr beeindruckt haben. Zeitweise trug er sich sogar mit dem Gedanken, seiner Sammlung von Prosagedichten den Titel Le Promeneur solitaire zu geben 180 . In beiden Fällen hat er allerdings den Ausdruck „rêverie“ vermieden, der ihm möglicherweise zu sehr auf die Naturekstase festgelegt schien. Die Formulierung „Le promeneur soli‐ taire et pensif “ bewahrt dennoch das Wesentliche des Rousseauschen Titels durch ihren Zusatz „et pensif “, der die Rousseausche rêverie und dazu Baude‐ laires eigene Vorstellung der „imagination active“ abdeckt. Die Wendung „soli‐ taire et pensif “ zitiert zudem die Formel, mit der in der europäischen Lyrik jahr‐ hundertelang die Themen Natureinsamkeit, Liebe und Melancholie angesagt wurden. Ausgehend von Francesco Petrarcas Sonett „Solo e pensoso …“ (Rime XXXV ) bezeichnet das Adjektiv „pensoso“ bzw. „pensif “ darin die Haltung des grübelnden Melancholikers in der Natureinsamkeit, die vor allem seit dem Wiederaufleben der Säfte- und Temperamentenlehre in der Renaissance zu einem festen Bestandteil der Selbstdarstellung des Lyrikers geworden war 181 . I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 64 182 H. Mehnert, Melancholie und Inspiration. Begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Un‐ tersuchungen zur poetischen ‚Psychologie‘ Baudelaires, Flauberts und Mallarmés (Bei‐ träge zur neueren Literaturgeschichte. 3. Folge. 35), Heidelberg 1978, bes. S. 49 ff. („Me‐ lancholie als Voraussetzung der poetischen Potenz“). 183 Baudelaire hat diese Begriffe mutatis mutandis auch auf den Victor Hugo des Exils angewandt: „Quand aujourd’hui nous parcourons les poésies récentes de Victor Hugo, nous voyons que tel il était, tel il est resté: un promeneur pensif, un homme solitaire mais enthousiaste de la vie, un esprit rêveur et interrogateur. […] autrefois, il rôdait solitaire dans les lieux bouillonnant de vie humaine; aujourd’hui, il marche dans les solitudes peuplées par sa pensée. […] Les couleurs de ses rêveries se sont teintées en solennité, et sa voix s’est approfondie en rivalisant avec celle de l’Océan.“ (Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I: Victor Hugo, S. 130.) 184 Das „bonheur“ besteht dabei allerdings in der Herstellung eines Einheitserlebnisses, das die Menge selbst einschließt und gegebenenfalls auch manipuliert; von einer solchen Wirkung bleibt der Dichter als „promeneur solitaire et pensif “ bis auf Ausnahmen aus‐ geschlossen. Auch Baudelaire hat sich in dieser Tradition als Melancholiker verstanden und stilisiert, ja er hat die melancholische Seelenlage als poetische Inspirationsquelle verstanden und gegebenenfalls künstlich erzeugt 182 . Mit der Wendung vom „promeneur solitaire et pensif “ 183 propagiert er die melancholische Haltung auch für das poetische Erlebnis der großstädtischen Menschenmenge - mit Recht, da der Dichter, der alles annimmt, was ihm der Zufall beschert, in den „professions“, „joies“ und „misères“ der Großstadt zahlreiche Anlässe für eine melancholisch gegründete Inspiration findet. Damit tritt die Großstadt die Nachfolge der tra‐ ditionellen melancholischen Inspirationsquellen Liebesunglück und Naturein‐ samkeit an und die Großstadtdichtung wird in der Lyriktradition verortet. Der letzte Abschnitt von Les Foules handelt von weiteren Menschenmengen, genauer von Anderen, die ebenfalls im Umgang mit Menschenmengen ein Glück finden, von dem die „heureux de ce monde“ in ihrem törichten Stolz keine Vor‐ stellung haben: von den „fondateurs de colonies“, den „pasteurs de peuples“ und den „prêtres missionaires exilés au bout du monde“. Sie alle erleben, wenn sie Menschen in ein Land führen, ihnen einen Glauben oder eine politische Über‐ zeugung vermitteln, ähnliche Ekstasen wie der Dichter („connaissent sans doute quelque chose de ces mystérieuses ivresses“) und lachen im Glück ihrer Verei‐ nigung mit der Menge über jene, die sie wegen ihres beschwerlichen und ent‐ sagungsvollen Lebens bedauern 184 . Mit der Entdeckung der ekstatischen „multiplication de l’individualité“ in der Menschenmenge, wie sie in den Journaux intimes festgehalten ist, hatte Baude‐ laire einen wichtigen Schritt zum poetischen Großstadterlebnis getan, auch wenn der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Erlebnis der Menge und demjenigen des Dichters, wie es in Les Foules gepriesen wird, unübersehbar ist. 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 65 185 Les Fenêtres, S. 339. 186 Siehe unten, S. 176 ff. 187 Exposition universelle (1855), S. 596. 188 Vgl. Correspondance, Bd. 2, S. 185. 186. 190. 192; siehe auch Pichois in Œuvres com‐ plètes, Bd. 2, „Notes“, S. 1416. Erst im poetischen Enthusiasmus, wenn der Dichter sich die Freuden und Leiden aneignet, die ihm in der Großstadt begegnen, kommt es zur Ich-erweiternden ‚Fremderfahrung‘ und zu einem vertieften Einheitserlebnis, das sein „sentiment de l’existence“ auf beglückende Weise steigert und ihm hilft „à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis.“ 185 Tatsächlich hat Baudelaire sich in den Groß‐ stadtgedichten nur an Individuen und Menschengruppen inspiriert, die seinen persönlichen Vorstellungen vom Schönen entsprachen, an den Kranken und Sterbenden in Le Crépuscule du soir, den Petites Vieilles und den Veuves in den Gedichten dieses Namens oder den „exilés“ in Le Cygne. Einzig in Le Vieux Sal‐ timbanque ist er vom Erlebnis einer Menschenmenge in Feststimmung ausge‐ gangen und hat die Begegnung mit dem alten Gaukler im schmerzlichen Kon‐ trast zur allgemeinen Festfreude sich entwickeln lassen 186 . Im Ganzen gesehen ist es ihm aber gelungen, seinen dichterischen Enthusiasmus auch in der Groß‐ stadtmenge auszuleben und sie zu einem Ort dichterischer Erfahrung zu ma‐ chen, was er bis zur Abfassung von Les Foules schon mehrfach bewiesen hatte. d) Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: Le Peintre de la vie moderne In der Exposition universelle (1855) war Eugène Delacroix als der Maler gewür‐ digt worden, der Baudelaires Vorstellungen von Kunst verwirklichte, weil seine Bilder zu historischen, religiösen und literarischen Themen die „beaux jours de l’esprit“ spiegelten und den „surnaturalisme“ offenbarten 187 . Die Darstellung der Großstadt und des modernen Lebens sah Baudelaire wenige Jahre später bei dem Graphiker und Maler Constantin Guys verwirklicht. Seit 1859 arbeitete er an einem Essay über Constantin Guys, ausweislich seiner Korrespondenz besonders intensiv im Spätsommer und Herbst 1861 188 , als das Prosagedicht Les Foules entstand, weshalb es zahlreiche Übereinstim‐ mungen zwischen beiden Texten gibt, die sich gegenseitig erhellen. Der Essay, den er im Laufe von fast vier Jahren erfolglos verschiedenen Zeitungen anbot und wiederholt umschrieb, sollte nach seinen Plänen auch „peintres de mœurs“ des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts behandeln. Während der Umarbeitungen beschränkte er sich jedoch bald auf Guys, und als endlich Ende November / Anfang Dezember 1863 die definitive Fassung im Figaro er‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 66 189 Correspondance Bd. 2, S. 335; Baudelaires Hervorhebung. Zur Entstehungsgeschichte des Essays siehe Pichois, „Notes“, S. 1413 ff. 190 „Peintre de mœurs“ und „peintre de la vie moderne“ sind für Baudelaire deckungsgleiche Begriffe; siehe dazu Le Peintre de la vie moderne, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 683-724, hier: S. 687. 191 Le Peintre de la vie moderne, S. 687 ff. 192 Reiselust besitzt auch der Dichter (Les Foules: „la haine du domicile et la passion du voyage“), aber vornehmlich in der Phantasie; siehe dazu die Prosagedichte Anywhere out of the world und L’Invitation au voyage sowie das Versgedicht desselben Titels; beide Arten des Reisens in Le Voyage. Bei Guys ist die Reiselust dagegen durchaus eine reale Lust. 193 S. 689. schien, wo man ein „manuscrit ayant trait surtout aux mœurs parisiennes“ ge‐ wünscht hatte 189 , trug sie den Titel Le Peintre de la vie moderne 190 . In ihr weist Baudelaire im Rahmen seiner Theorie von der „modernité“ des Schönen am Beispiel von Guys nach, dass es einen modernen künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt gibt. Nach einer grundsätzlichen Einleitung mit seinen jüngsten Überlegungen zum „beau éternel“ und zur „modernité“ erörtert er zunächst die für die Genre‐ skizze („croquis de mœurs“) erforderlichen schnellen Techniken und geht dann zur Charakterisierung des dazugehörigen Künstlertyps über. Dieser „peintre de mœurs“ ist nach seiner Überzeugung ein „génie d’une nature mixte“ mit einem großen Anteil an literarischem Verstand („une bonne partie d’esprit littéraire“), der sich manchmal als Dichter („poète“) erweist, öfter aber dem Romancier oder Moralisten nahesteht, weil er ein „observateur, flâneur, philosophe“ ist, oder wie immer man ihn nennen wolle. Unter der Kapitelüberschrift „L’artiste, homme du monde, homme des foules et enfant“ folgt sodann das Idealporträt des Künst‐ lers Guys 191 . M. G., wie Baudelaire ihn auf eigenen Wunsch nennt, ist kein ausschließlich auf sein Metier ausgerichteter Künstler, sondern ein „homme du monde“, ein Vielgereister, der an allem interessiert ist, was auf der Welt geschieht, ein wahrer „citoyen spirituel de l’univers“ 192 . Seine Kunst nimmt ihren Ausgang von der Wissbegier und der Neugier auf den Menschen und die Welt: „la curiosité peut être considérée comme le point de départ de son génie“ 193 . Um seinen Wissens‐ durst und seine Aufgeschlossenheit zu illustrieren, greift Baudelaire zu Poes Erzählung The Man of the Crowd, deren Erzähler und Protagonist nach schwerer Krankheit mit neu erwachtem Interesse das Leben um sich herum wahrnimmt und schließlich einem Unbekannten folgt, dessen Gesicht ihn fasziniert hat: Derrière la vitre d’un café, un convalescent, contemplant la foule avec jouissance, se mêle, par la pensée, à toutes les pensées qui s’agitent autour de lui. Revenu récemment 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 67 194 S. 689 f. Dieser Poesche Erzähler bewegt sich nicht anders als der in Balzacs Facino Cane durch die Großstadt; beide sind Seelenverwandte des Baudelaireschen Künstler-Ichs, ohne dessen spezifisch lyrisches Temperament. 195 „Rien ne ressemble plus à ce qu’on appelle l’inspiration, que la joie avec laquelle l’enfant absorbe la forme et la couleur.“ (Ebd.) des ombres de la mort, il aspire avec délices tous les germes et tous les effluves de la vie; comme il a été sur le point de tout oublier, il se souvient et veut avec ardeur se souvenir de tout. Finalement, il se précipite à travers cette foule à la recherche d’un inconnu dont la physionomie entrevue l’a, en un clin d’œil, fasciné. La curiosité est devenue une passion fatale, irrésistible. 194 Die Rekonvaleszenz der Poeschen Figur wird zum Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe Baudelaire den Geisteszustand M. G.s und des künstlerischen Genies über‐ haupt darlegt. Rekonvaleszenz sei wie eine Rückkehr zur Kindheit, erklärt er, denn jemand, der, von schwerer Krankheit genesen, sich wieder dem Leben und der Welt zu‐ wende, empfinde wie ein Kind: […] la convalescence est comme un retour vers l’enfance. Le convalescent jouit au plus haut degré, comme l’enfant, de la faculté de s’intéresser vivement aux choses, même les plus triviales en apparence. (S. 690) Für das Kind ist alles neu, weshalb es ständig „trunken“ ist und sich von Natur aus in einem ekstatischen Zustand befindet: L’enfant voit tout en nouveauté; il est toujours ivre. […] C’est à cette curiosité profonde et joyeuse qu’il faut attribuer l’œil fixe et animalement extatique des enfants devant le nouveau, quel qu’il soit, visage ou paysage, lumière, dorure, couleurs, étoffes cha‐ toyantes, enchantements de la beauté embellie par la toilette. (Ebd.) Das Neue und Andere bewirkt nämlich ein intensives Erleben und eine ge‐ schärfte Wahrnehmung ganz wie im „état exceptionnel“. Der Freude, mit der das Kind Formen und Farben aufnimmt, gleicht aber die Inspiration des Künst‐ lers 195 , ja, die Kreativität des künstlerischen Genies ist für Baudelaire die wil‐ lentlich wiedergefundene Erlebnisfähigkeit der Kindheit: […] le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté, l’enfance douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et de l’esprit analytique qui lui permet d’ordonner la somme de matériaux involontairement ramassée. (Ebd.) Beim Künstler gesellt sich zur Intensität des Erlebens eine entwickelte und starke Vernunft und eine ebensolche Ausdrucksfähigkeit, die ihm eine geordnete I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 68 196 Biographia literaria, Kap. IV, S. 80. Wiedergabe seiner Wahrnehmungen ermöglichen. Constantin Guys ist für Bau‐ delaire in diesem Sinne ein beständiger „Rekonvaleszent“ und zugleich ein „homme-enfant“, der die Fähigkeit besitzt, das Leben jederzeit in seiner ganzen Ursprünglichkeit in sich aufzunehmen: Je vous priais tout à l’heure de considérer M. G. comme un éternel convalescent; pour compléter votre conception, prenez-le aussi pour un homme-enfant, pour un homme possédant à chaque minute le génie de l’enfance, c’est-à-dire un génie pour lequel aucun aspect de la vie n’est émoussé. (S. 691) Nach dieser viel zitierten Definition Baudelaires ist das Genie von Natur aus im höchsten Maße interessiert und offen für die Welt in allen ihren Erscheinungs‐ formen und bezieht aus der besonderen Intensität dieses Erlebens seine künst‐ lerische Kreativität. Seine Empfänglichkeit für Sinneseindrücke aller Art ist der des Rekonvaleszenten und des Kindes vergleichbar, die die Dinge mit wieder erwachter Lebensfreude und mit Neugier betrachten und aus diesem intensiven Erleben ein besonderes Glücksempfinden ziehen. Dieser Feststellung liegt die Erfahrung zugrunde, dass unsere Wahrnehmung durch Gewöhnung an Inten‐ sität verliert. Das künstlerische Genie ist aufgrund seiner Anlage davon ausge‐ nommen und es ist imstande, die ursprüngliche Lebendigkeit der Wahrnehmung auch beim Rezipienten wiederherzustellen. Diese ungewöhnliche Begriffsbe‐ stimmung, die sich perfekt in Baudelaires ästhetisches System des künstleri‐ schen „état exceptionnel“ einfügt, hat ihren Ursprung in der empiristischen englischen Literaturkritik, für die insbesondere Coleridge steht. Coleridge hat wiederholt die Fähigkeit des Dichters hervorgehoben, mit seiner Phantasie den alltäglichen, farb- und glanzlosen Anblick der Welt zu überwinden und alles in einem neuen Licht erstrahlen zu lassen. In seiner Bio‐ graphia literaria beschreibt er, auf welche Weise ihn in seiner Jugend ein Ge‐ dichtvortrag von Wordsworth beeindruckt habe: It was the union of deep feeling with profound thougt; the fine balance of truth in observing with the imaginative faculty in modifying the objects observed; and above all the original gift of spreading the tone, the atmosphere and with it the depth and height of the ideal world around forms, incidents, and situations, of which, for the common view, custom had bedimmed all the lustre, had dried up the sparkle and the dew drops. 196 Und weiter schildert er das geniale poetische Vorgehen von Wordsworth: 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 69 197 Zuvor schon in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Friend (Nr. 5 vom 14. 09. 1809), nach der er hier wörtlich zitiert. Ähnlich auch in Lectures on Shakespeare and Milton, 8 (12. 12. 1811): „[…] the Poet […] with a soul unsubdued, unshackled by custom can con‐ template all things with the freshness with the wonder of a child & connecting it with the inquisitive powers of his manhood […]“. (Lectures 1808-1819, S. 326.) Zu Coleridges und Wordsworth’ Begriff der Gewohnheit („custom“), die den Dingen ihren Glanz nimmt, den die Phantasie wiederherstellen kann, siehe A. Reed, Romantic Weather. The Climates of Coleridge and Baudelaire, Hannover / London 1983, S. 187 f. - Die Verse des Zitats entstammen einem Sonett von Milton („To Mr. Cyriack Skinner upon His Blind‐ ness“, XXII, V. 5 f.). „To find no contradiction in the union of old and new; to contemplate the Ancient of days and all his works with feelings as fresh, as if all had then sprang forth at the first creative fiat; characterizes the mind that feels the riddle of the world, and may help to unravel it. To carry on the feelings of childhood into powers of manhood; to combine the child’s sense of wonder and novelty with the appearances, which every day for perhaps forty years had rendered familiar; With sun and moon and stars throughout the year, And man and woman; This is the character and privilege of genius, and one of the marks which distinguish from talents. […]“ (S. 80 f.) Altes und Neues zu verbinden, das im Alltag Verbrauchte mit den frischen Ge‐ fühlen des ersten Tages zu betrachten, in der Stärke des Erwachsenen kindliches Fühlen wieder aufleben zu lassen, lang vertrauten Dingen mit dem Staunen und der Neugier des Kindes zu begegnen - das macht für ihn das Genie aus im Un‐ terschied zum bloßen Talent. Der Gedanke vom ‚kindlichen Blick auf die Welt‘ war eine von Coleridges Lieblingsideen, die er mehrfach geäußert hat 197 . Er fährt dann fort und erläutert die angestrebte „freshness“ der Eindrücke mit der Situ‐ ation der - geistigen wie körperlichen - Rekonvaleszenz: „And therefore is it the prime merit of genius and its most unequivocal mode of ma‐ nifestation, so to represent familiar objects as to awaken in the minds of others a kindred feeling concerning them and that freshness of sensation which is the constant accompaniment of mental, no less than of bodily, convalescence. […]“ (S. 81) Es ist kaum vorstellbar, dass Baudelaire von diesen Äußerungen Coleridges keine Kenntnis gehabt haben sollte, als er seine Beschreibung des künstlerischen Genies Guys verfasste. Rätselhaft bleibt freilich auch hier wieder der Weg, wie er an sie gelangt sein könnte. George T. Clapton hält seine Definition des Genies für nichts anderes als eine Verallgemeinerung von De Quinceys Äußerungen in I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 70 198 Ohne allerdings auf die Quelle De Quinceys einzugehen (Baudelaire et De Quincey, Paris 1931, S. 82). 199 „[…] from the fusion of the two [Delacroix und De Quincey] came [Baudelaires] own terse formula.“ (Baudelaire the critic, S. 150.) Später meldet sie jedoch Zweifel an De Quinceys Urheberschaft an: „De Quincey nowhere expresses the idea of genius being ‚l’enfance retrouvée à volonté‘, which is the crux of the matter.“ (S. 245, Anm. 40.) 200 Siehe oben, S. 16. Siehe auch Stovall, „Poe’s Debt to Coleridge“, S. 143 f. 201 Dabei beschreibt er ihren Zustand als „those happy moods which are so precisely the converse of ennui“ (The Man of the Crowd, in: The Complete Works, Bd. 4 [Tales, Bd. 3], S. 134-145, hier: S. 134). 202 Eine weitere Übereinstimmung zwischen Baudelaire und Coleridge gibt es in der Me‐ taphorik für den neuen Anblick der Dinge: „What is old and worn out, not in itself, but from the dimness of the intellectual eye brought on by worldly passions [the poet] makes new: he pours upon it the dew that glistens and blow round us the breeze which cooled us in childhood.“ (Lecture 8, S. 327.) Vgl. Baudelaires Qualifikation von Banville als „lumineux“ und die „splendeur privilégiée“ der Gemälde von Delacroix (oben, S. 47). 203 „Il possède l’art si difficile (les esprits raffinés me comprendront) d’être sincère sans ridicule.“ (Ebd.) Suspiria de profundis und Afflictions of childhood 198 . Gilman führt zusätzlich De‐ lacroix an 199 . Freilich ist an den von ihr genannten Stellen nie direkt von der Kindheit die Rede wie bei Coleridge, vom Vergleich mit der Rekonvaleszenz ganz zu schweigen. Allenfalls denkbar wäre wieder eine Vermittlung über Poe, der immerhin Coleridges „novelty“ gründlich überdacht hat 200 und in The Man of the Crowd die Rekonvaleszenz erzählerisch in Szene gesetzt hat 201 . Man bleibt aber wohl auf Vermutungen angewiesen 202 . Baudelaire setzt dann die Charakterisierung von Guys mit Hilfe zeittypischer Begriffe fort. Auch einen Dandy würde er Guys gern nennen, weil er mit diesem die tiefgründige Einsicht in den Lauf der Welt teilt. Doch der Dandy strebt nach „insensibilité“, während M. G. die Leidenschaft liebt, ja geradezu besessen ist von einem unstillbaren Drang, „de voir et de sentir“: Je le nommerais volontiers un dandy, et j’aurais pour cela quelques bonnes raisons; car le mot dandy implique une quintessence de caractère et une intelligence subtile de tout le mécanisme moral de ce monde; mais, d’un autre côté, le dandy aspire à l’insensibilité, et c’est par là que M. G., qui est dominé, lui, par une passion insatiable, celle de voir et de sentir, se détache violemment du dandysme. Amabam amare, disait saint Augustin. „J’aime passionnément la passion“, disait volontiers M. G. (S. 691) Ähnliches gilt für eine Bezeichnung als Philosoph 203 , denn Guys liebt zu sehr die „choses visibles, tangibles, condensés à l’état plastique“, um sich für das Reich der metaphysischen Dinge erwärmen zu können. Es bleibt die Charakterisie‐ rung als „moraliste pittoresque“ nach Art La Bruyères übrig. 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 71 204 Poe, The Man of the Crowd, S. 145. Mit dem der Erzählung als Motto vorangestellten Satz La Bruyères „Ce grand malheur, de ne pouvoir être seul“ und der Ambivalenz der Einsamkeit setzt Baudelaire sich in dem Prosagedicht La Solitude auseinander. Dazu siehe unten, S. 101 ff. und 212 ff. Auf diesen allgemeineren Teil folgt der spezielle, der sich mit Guys’ Verhältnis zum Leben in der Großstadt beschäftigt und in dessen Mittelpunkt - getreu dem Bild des „peintre de mœurs“ - das Verhältnis zur Menschenmenge gerückt wird. Schon in der Kapitelüberschrift war Guys in Anspielung auf den Titel der Poe‐ schen Erzählung als „homme des foules“ bezeichnet worden. Bei Poe ist der „man of the crowd“ jedoch ein alter Mann, dem der Erzähler eine Nacht und einen Tag lang auf seiner Suche nach Menschen durch die Straßen der Stadt folgt, bevor er begreift, dass der Alte „the type and the genius of deep crime“ ist, der nicht allein sein kann 204 . Indem Baudelaire die Titelbezeichnung auf den Künstler Guys anwendet, dessen Verhalten demjenigen von Poes Erzähler gleicht, spielt er - wie übrigens schon Poe - mit den beiden Erzählebenen und deutet den „homme des foules“ im Sinne der Wahrnehmungsfähigkeit und Kre‐ ativität des Künstlers um, nicht ohne die satanische Beimischung der Figur des Poeschen Alten beizubehalten. Guys’ Verhältnis zur Menschenmenge beschreibt er darauf in aller Ausführ‐ lichkeit, wobei er noch stärker auf eine poetische und bildhafte Ausdrucksweise setzt als in Les Foules. La foule est son domaine, comme l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c’est d’épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini. Être hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi; voir le monde, être au centre du monde et rester caché au monde, tels sont quelques-uns des moindres plaisirs de ces esprits indépendants, passionnés, impartiaux, que la langue ne peut que maladroite‐ ment définir. L’observateur est un prince qui jouit partout de son incognito. L’amateur de la vie fait du monde sa famille, comme l’amateur du beau sexe compose sa famille de toutes les beautés trouvées, trouvables et introuvables; comme l’amateur de ta‐ bleaux vit dans une société enchantée de rêves peints sur toile. (S. 691 f.) Die Menge ist Guys’ Lebenselement wie die Luft das des Vogels und das Wasser das des Fisches. Seine Leidenschaft und sein Bestreben ist es, in ihr aufzugehen („épouser la foule“). Als vollkommener Flaneur und leidenschaftlicher Be‐ obachter („parfait flâneur“, „observateur passionné“) sucht er sich seine Heim‐ statt in ihrer wogenden Zahl, ihrer bewegten Flüchtigkeit und ihrer Unendlich‐ keit, die er genießt. Mit „une immense jouissance“, „le nombre“, „l’infini“ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 72 205 Paris ou Le Livre des cent-et-un, Bd. 6, Paris 1832, S. 101 („Le Flâneur“). Der Verfasser des Textes, der als „Un Flâneur“ unterzeichnet, gibt eine Art Kulturgeschichte des ‚Flaneurs‘ oder Beobachters, angefangen von der Schlange im Paradies über die antiken Dichter bis zum „flâneur du dix-neuvième siècle“, der „flâneur, et rien de plus“ sei und nur in Paris leben, sich aber durch einen „séjour continu à Paris“ auch dort herausbilden könne (S. 98 f.). 206 Siehe oben, S. 60. 207 Le Peintre de la vie moderne, S. 694 (Kap. 4, „La Modernité“). 208 In Balzac selbst hat Baudelaire allerdings eher einen „visionnaire, et visionnaire passi‐ onné“ als einen „observateur“ gesehen (Théophile Gautier [I], S. 120). verwendet Baudelaire hier wieder Begriffe aus seinen Beschreibungen ekstati‐ scher Zustände, „le fugitif “ verweist dazu auf das moderne Schöne. Das macht offenkundig, dass Guys inmitten der Menschenmenge den künstlerischen En‐ thusiasmus sucht. Deshalb wird er auch ein „parfait flâneur“ genannt, womit Baudelaire ihn vom gewöhnlichen Flaneur absetzt, der, wie man im Livre des cent-et-un erfahren konnte, die Menge aufsucht, weil er sie zum Leben braucht und ohne ihre ständige Bewegung vor Langeweile vergeht: Le voyez-vous mon flâneur, le parapluie sous le bras, les mains croisées derrière le dos; comme il s’avance librement au milieu de cette foule dont il est le centre, et qui ne s’en doute pas! Tout, autour de lui, ne parait marcher, courir, se croiser, que pour occuper ses yeux, provoquer ses réflexions, animer son existence de ce mouvement loin duquel sa pensée languit. […] Entouré de gens qui ont l’air de poursuivre, pendant toute la journée, un quart d’heure qu’ils ont perdu le matin, il est maître de son temps et de lui-même; il savoure le plaisir de respirer, de regarder, d’être calme au milieu de cette agitation empressée; de vivre enfin […] 205 Guys’ Motiv ist hingegen, wie schon beim Dichter, der „implacable appétit d’é‐ motion, de connaissance et de beauté“, aus dem sich der künstlerische Enthusi‐ asmus nährt und das Werk entsteht 206 . Dieses Ziel unterscheidet ihn vom „pur flâneur“, der das bloße „plaisir fugitif de la circonstance“ sucht - ein Unterschied, der gern übersehen wird: Ainsi il va, il court, il cherche. Que cherche-t-il? À coup sûr, cet homme, tel que je l’ai dépeint, ce solitaire doué d’une imagination active, toujours voyageant à travers le grand désert d’hommes, a un but plus élevé que celui d’un pur flâneur, un but plus général, autre que le plaisir fugitif de la circonstance. 207 Der „observateur passionné“, wie Guys zusätzlich genannt wird, erinnert wieder an die Leidenschaft des Beobachtens beim Erzähler von Balzacs Facino Cane und damit an eine weitere großstädtische Leitfigur der Zeit 208 . Guys’ „passion insa‐ tiable […] de voir et de sentir“ hatte Baudelaire zuvor schon gerühmt. 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 73 209 Im Livre des cent-et-un findet sich ein ähnlicher Kaleidoskop-Vergleich für die zufalls‐ bedingten Wahrnehmungen des Flaneurs: „Les jeux du kaléidoscope ne sont pas plus indéterminés, plus capricieux, plus multipliés que ceux de son esprit.“ (Bd. 6, S. 104.) Von Balzac wird das Bild für die Vielfalt der Stadt selbst verwendet: „O Paris! admirable kaléidoscope …“ (La Caricature, in: Œuvres diverses, Bd. 2, hrsg. von M. Bouteron, Paris 1938, S. 189; 4. Nov. 1830) Ebenso von dem „noctambule“ Privat d’Anglemont; siehe Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 313. Guys’ Eintauchen in die Menschenmenge wird in weiteren Bildern und Ver‐ gleichen ausgeführt, zunächst in Reisebildern, die seine Aufgeschlossenheit für alles Neue veranschaulichen: In der Fremde zu sein und sich doch überall zu‐ hause zu fühlen, sich mitten in der Welt zu befinden und doch verborgen zu bleiben, das seien die Freuden solch unabhängiger, leidenschaftlicher Geister, die immer die Distanz des Beobachters wahren, dem Fürsten gleich, der sein Incognito genießt. Dann folgen die zum Teil schon aus Les Foules bekannten Metaphern und Vergleiche erotischer und verwandtschaftlicher Art, „l’amateur“ und „sa famille“ („L’amateur de la vie fait du monde sa famille, comme l’amateur du beau sexe compose sa famille de toutes les beautés trouvées, trouvables et introuvables“) und das bereits erwähnte „épouser“ („Sa passion et sa profession, c’est d’épouser la foule“). Sie erreichen hier jedoch nicht den Intensitätsgrad, den sie in Les Foules hatten („cette ineffable orgie“, „cette sainte prostitution de l’âme“). Stattdessen kommen moderne technische Vergleiche für das span‐ nungsvolle Verhältnis von Menge und darstellendem Künstler hinzu: Ainsi l’amoureux de la vie universelle entre dans la foule comme dans un immense réservoir d’électricité. On peut aussi le comparer, lui, à un miroir aussi immense que cette foule; à un kaléidoscope doué d’une conscience, qui à chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce de tous les éléments de la vie. (S. 692) Das „immense réservoir d’électricité“ ist die unerschöpfliche Inspirationsquelle, welche die Menge als eine den Enthusiasmus fördernde Umgebung und als Themenreservoir darstellt, während Guys selbst mit einem riesigen Spiegel und einem mit Bewusstsein versehenen Kaleidoskop verglichen wird, das mit jeder Bewegung die Vielfalt und Schönheit des Lebens wiedergibt. Die Vergleiche mit Spiegel und Kaleidoskop 209 unterstreichen, dass der Maler ein der äußeren Re‐ alität zugewandter Augenmensch ist, der die „choses visibles, tangibles, con‐ densés à l’état plastique“ liebt und sie wiedergibt, wie sie sich ihm zeigen. Der Dichter in Les Foules lebte dagegen vor allem in und von seiner Phantasie, mit deren Hilfe er den Menschen ergründete („entrer dans le personnage de chacun“). Das lässt die erotischen Metaphern in seinem Fall angebrachter er‐ scheinen. Grundsätzlich gleichen sich jedoch Maler wie Dichter in ihrer künst‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 74 210 Zum Ordnungserlebnis im Chaos siehe oben, S. 53 f. 211 Die Wahrnehmung jeder Veränderung des städtischen Lebens teilt er mit dem Flaneur: „Rien n’échappe à son regard investigateur: une nouvelle disposition dans l’étalage de ce magasin somptueux, une lithographie qui se produit pour la première fois en public, les progrès d’une construction qu’on croyait interminable, un visage inaccoutumé sur ce boulevart [sic] dont il connaît chaque habitant et chaque habitué, tout l’intéresse, tout est pour lui un texte d’observations.“ (Paris ou Le Livre des cent-et-un, Bd. 6, S. 101.) lerischen Hingabe an die Menge und im Enthusiasmus, den diese in ihnen ent‐ facht. Der Augenmensch in Guys wird auch erkennbar, wenn beschrieben wird, wie er die Schönheit der Großstadt und ihrer Menschen wahrnimmt und wie er darüber in den enthusiastischen Zustand gerät. Kaum ist er am Morgen erwacht, stürzt er sich in das taghelle Leben der Großstadt. „Quel ordre impérieux! quelle fanfare de lumière! […] Que de choses éclairées j’aurais pu voir et que je n’ai pas vues! “ Et il part! et il regarde couler le fleuve de la vitalité, si majestueux et si brillant. Il admire l’éternelle beauté et l’étonnante harmonie de la vie dans les capitales, harmonie si providentiellement maintenue dans le tumulte de la liberté humaine. Il contemple les paysages de la grande ville, paysages de pierre caressés par la brume ou frappés par les soufflets du soleil. Il jouit des beaux équipages, des fiers chevaux, de la propreté éclatante des grooms, de la dextérité des valets, de la démarche des femmes onduleuses, des beaux enfants, heureux de vivre et d’être bien habillés; en un mot de la vie universelle. Si une mode, une coupe de vêtement a été légèrement transformée, si les nœuds de rubans, les boucles ont été détrônés par les cocardes, si le bavolet s’est élargi et si le chignon est descendu d’un cran sur la nuque, si la ceinture a été exhaussée et la jupe amplifiée, croyez qu’à une distance énorme son œil d’aigle l’a déjà deviné. (S. 692 f.) Die einleitende „fanfare de lumière“ und die „choses éclairées“ kündigen die Nähe der Ekstase an. Die Wendungen „Il admire“, „Il contemple“ und „Il jouit“ benennen nacheinander das Staunen, die ebenso intensive wie präzise Wahr‐ nehmung in diesem Zustand und das Genießen der Schönheit, Vielfalt und Buntheit, die sich vor den Augen des Künstlers entfaltet. Er bewundert die „ewige Schönheit“ des großstädtischen Lebens und entdeckt im „Tumult der menschlichen Freiheit“ die von der Vorsehung garantierte „überraschende Har‐ monie“ 210 . Zugleich genießt er die sichtbare „moderne“ Schönheit der Gespanne und der stolzen Pferde, der korrekten Bediensteten, das Auftreten sich wieg‐ ender Frauen und lebensfroher schöner Kinder. Keine noch so geringe Neuerung der Mode entgeht seinem Blick 211 . Aber er betrachtet auch sinnend die „Land‐ schaften“ der Stadt, ihre „paysages de pierre caressés par la brume ou frappés 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 75 212 Besonders deutlich im Poème du hachisch, S. 429, wo er auf die Behauptung De Quinceys („He whose talk is of oxen, will probably dream of oxen […]“, Suspiria de profundis) Bezug nimmt: „[…] ainsi, pour juger les merveilles de l’opium, il serait absurde d’en référer à un marchand de bœufs; car celui-ci ne rêvera que bœufs et pâturages.“ Siehe auch oben, S. 59. par les soufflets du soleil“ - alles, was sich dem Auge bietet, nimmt er beglückt wahr. Schließlich zeigt Baudelaire an einem konkreten Geschehen, wie die Eks‐ tase in den schöpferischen Enthusiasmus umschlägt und die Wahrnehmung des Künstlers sich zur Vorstellung eines künftigen Werkes ordnet: Un régiment passe, qui va peut-être au bout du monde, jetant dans l’air des boulevards ses fanfares entraînantes et légères comme l’espérance; et voilà que l’œil de M. G. a déjà vu, inspecté, analysé les armes, l’allure et la physionomie de cette troupe. Har‐ nachements, scintillements, musique, regards décidés, moustaches lourdes et sé‐ rieuses, tout cela entre pêle-mêle en lui; et dans quelques minutes, le poème qui en résulte sera virtuellement composé. Et voilà que son âme vit avec l’âme de ce régiment qui marche comme un seul animal, fière image de la joie dans l’obéissance! (S. 693) Der Enthusiasmus entzündet sich an einem Regiment, das zufällig vorbeimar‐ schiert und sich seinerseits, wie die festliche Menschenmenge in Fusée I, in einem ekstatischen Rausch befindet, in dem aus den Vielen eine Einheit geworden ist: „ce régiment qui marche comme un seul animal, fière image de la joie dans l’obéissance! “ Alle sicht- und wahrnehmbaren Details dieses Auftritts nimmt Guys „pêle-mêle“ in sich auf, und bildet binnen weniger Minuten aus ihnen ein virtuelles „poème“. „Poème“ ist hier Metapher für die Idee des Kunstwerks, die „idée génératrice“, die im Enthusiasmus entsteht. Der Szene liegt ein doppeltes ekstatisches Erlebnis zugrunde, das des Künst‐ lers und das des Regiments. Diese Verdoppelung ist nicht zwingend, doch ist der Enthusiasmus mitsamt dem aus ihm resultierenden Kunstwerk die genuine Form, in der ein Künstler am Leben und an der Ekstase Anderer Anteil nimmt. Die Verdoppelung lässt klar den Unterschied der Ekstasen erkennen: auf der einen Seite die spirituelle Ekstase des nachempfindenden Künstlers, auf der an‐ deren der animalische Rausch des marschierenden Regiments. Entscheidend ist der Gegenstand, zu dem die Seele sich jeweils erhebt oder hinabsinkt: „Et voilà que son âme vit avec l’âme de ce régiment“, „ce régiment qui marche comme un seul animal“. Diesen Unterschied der Ekstasen hat Baudelaire immer wieder be‐ tont 212 . Am Abend dann, wenn Andere sich von der Mühsal des Tages erholen, lässt Guys in demselben Zustand der Begeisterung, in den ihn der Anblick der Dinge I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 76 213 Le Peintre de la vie moderne, S. 693 f. versetzt hat - „dardant sur une feuille de papier le même regard qu’il attachait tout à l’heure sur les choses“ - das Gesehene auf dem Papier wieder erstehen: Maintenant, à l’heure où les autres dorment, celui-ci est penché sur sa table, dardant sur une feuille de papier le même regard qu’il attachait tout à l’heure sur les choses, s’escrimant avec son crayon, sa plume, son pinceau, faisant jaillir l’eau du verre au plafond, essuyant sa plume sur sa chemise, pressé, violent, actif, comme s’il craignait que les images ne lui échappent, querelleur quoique seul, et se bousculant lui-même. Et les choses renaissent sur le papier, naturelles et plus que naturelles, belles et plus que belles, singulières et douées d’une vie enthousiaste comme l’âme de l’auteur. La fantasmagorie a été extraite de la nature. Tous les matériaux dont la mémoire s’est encombrée se classent, se rangent, s’harmonisent et subissent cette idéalisation forcée qui est le résultat d’une perception enfantine, c’est-à-dire d’une perception aiguë, magique à force d’ingénuité! 213 Das geht nicht ohne heftigen Kampf mit Bleistift, Feder und Pinsel und auch mit sich selbst ab in dem eifrigen Bemühen, die gesehenen Bilder nicht zu verlieren. Und die Dinge werden auf dem Papier schöner und natürlicher wiedergeboren, als sie in der Wirklichkeit waren, lebendig wie die enthusiastische Seele ihres Schöpfers. Schließlich ist das von der Phantasie geschaffene Bild der Wirklich‐ keit abgerungen und die Vielzahl der von einer kindlich unverbrauchten, ma‐ gischen Wahrnehmung aufgenommenen Eindrücke zu einem harmonischen und idealen Ganzen geordnet. Die Darstellung von Guys’ Inspiration und Schaffen zeigt noch einmal das Wirken der Phantasie beim Maler, wo sie, anders als beim Dichter, nicht schon in der Wahrnehmungsphase, sondern erst in der Phase der Komposition, der „idée génératrice“ bzw. der „fantasmagorie“, aktiv wird, wenn sie die Wirklich‐ keit ordnet und über sich hinauswachsen lässt. Ansonsten deckt sich das Erleben und Verhalten des Malers in der Menschenmenge mit dem des Dichters in Les Foules. Eine Darstellung des enthusiastischen Miterlebens des Künstlers, also der doppelten Ekstase wie hier, ist freilich eher im sprachlichen Medium und damit dem Dichter möglich, zumal dem Lyriker, der in der ersten Person spricht. So hat Baudelaire in Le Cygne neben den Gegenständen des melancholischen Erlebnisses auch die Entstehung des Gedichts und den Moment seines poeti‐ schen Enthusiasmus wiedergegeben. In der Abbildung eines Gegenstands durch den darstellenden Künstler hat diese Entstehung des Kunstwerks in der Regel keinen Platz. 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt 77 214 So Georges Blin in Annuaire du Collège de France, 69 e année (1969 / 1970), „Résumé des cours de 1968 / 1969“, S. 525; siehe Pichois, Bd. 2, „Notes“, S. 1418. Das zweite große „poème en prose“ ist das von Baudelaire selbst so genannte Poème du hachisch, wo die Benennung „Poème“ neben einem neuen Prosakonzept zweifellos anzeigen soll, dass Haschisch (wie in Du vin et du hachisch vom Wein gesagt) die poetische Phantasie des Menschen freisetzt. 215 So schon Valérys Urteil, „Situation de Baudelaire“, S. 612. 216 Karlheinz Stierle weist zu Recht darauf hin, dass alle Gedichte Baudelaires ihrem Wesen nach Stadtgedichte sind, auch wenn die Stadt in ihnen nicht in Erscheinung tritt (Der Mythos von Paris, S. 747). In den nachfolgend analysierten Gedichten tut sie dies jedoch, und zwar explizit. Nicht zu Unrecht hat man Le Peintre de la vie moderne, das bilder- und ge‐ dankenreiche Gegenstück zu Les Foules, als „le plus grand des poèmes en prose de Baudelaire“ bezeichnet 214 . Über Les Foules geht der Essay schon deshalb hi‐ naus, weil in den einleitenden Kapiteln in bilderreicher Sprache und doch ein‐ dringlich Baudelaires Vorstellungen von der Ästhetik der „modernité“ dargelegt werden. Seiner Bedeutung tut es dabei keinen Abbruch, dass nach verbreiteter Überzeugung Guys als Künstler überschätzt wird 215 . Für Baudelaire war Guys eine Bestätigung für den künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt und daher Ansporn zum eigenen Handeln. Sein Werk lieferte ihm den Beweis, dass die Erfahrungen und Themen des großstädtischen Lebens es mit den herkömm‐ lichen Erfahrungen und Themen der Kunst und Dichtung aufnehmen konnten. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Gedichten vor dem Spleen de Paris In Les Foules und im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire 1861 seine Vor‐ stellungen zum Thema der Großstadt in Dichtung und Kunst in mehr oder we‐ niger theoretischer Form festgehalten. Seit den 1840er Jahren hatte er sich aber immer wieder auch in regelrechten Gedichten mit dem Gegenstand befasst. An ihnen lässt sich der Prozess der dichterischen Themen- und Rollenfindung in der Großstadt nachvollziehen, der schließlich zur Erweiterung der Neuauflage seiner Fleurs du mal von 1861 um die Abteilung „Tableaux parisiens“ führen sollte 216 . a) Le Vin des chiffonniers Das erste Gedicht, in dem Baudelaire sich nachweislich an einem großstädti‐ schen Sujet versucht hat, ist das Versgedicht Le Vin des chiffonniers. Das Gewerbe I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 78 217 Etwa in der Tableau-Sammlung La Grande Ville. Nouveau Tableau de Paris comique, critique et philosophique (1842) von Ch. Paul de Kock u. a. und in der Physiologie du flâneur (1841) von Louis Huart; siehe L. Badesco, „Baudelaire et la Revue Jean Raisin. La Première Publication du Vin des chiffonniers“, Revue des Sciences humaines Bd. 22, H. 85 / 1957, S. 54-88, S. 56 ff. 218 D. Rieger, Diogenes als Lumpensammler. Materialien zu einer Gestalt der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 1982, S. 14 ff. 32 ff. Badesco, S. 56 ff. Badesco sieht als Zeit des größten Interesses am Thema die Jahre 1839-1842 an, Rieger erweitert für die karikaturistische Mode auf die Jahre zwischen 1840 und 1850 (S. 40). 219 Baudelaire, Le Peintre de la vie moderne, S. 687. 220 Badesco, S. 57, Anm. 5. 221 Badesco, S. 58. Zu weiteren Darstellungen Daumiers und anderer Karikaturisten (Ga‐ varni, Traviès) siehe Rieger, S. 40 f. 222 Badesco, S. 58; Rieger, S. 39. Vermerkt sei noch, dass in Privat d’Anglemonts Paris anec‐ dote von 1864 ein Lumpensammler mit dem Spitznamen „Général“ erwähnt ist, in dem manche das Vorbild von Baudelaires phantasierendem „chiffonnier“ sehen wollen; siehe Pichois, „Notes“, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1048, der im Übrigen von einem „océan“ möglicher Quellen spricht; ebenso Antoine Adam in seiner Ausgabe der Fleurs du mal, Paris 1959, „Notes“, S. 403. des Lumpensammelns hatte im Zuge des großstädtischen Wachstums bis zur Neuordnung der Abfallentsorgung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine be‐ trächtliche, auch ökonomische Bedeutung und der Lumpensammler war wegen seiner Zugehörigkeit zum Alltag der Großstadt in Parisschilderungen und Phy‐ siologien der Zeit ein beliebter pittoresker Gegenstand 217 . Während der Julimo‐ narchie fand er als typische Elendsgestalt zudem großes Interesse in Kunst und Literatur, wo man ihn gern zu einer antibürgerlichen Symbolfigur stilisierte und in die Nähe des Philosophen („Diogenes“) oder des Dichters rückte 218 . Allen voran schenkten ihm die zeitgenössischen Karikaturisten, die „chroniqueurs de la pauvreté et de la petite vie“ 219 , ihre Aufmerksamkeit. So hat Honoré Daumier das Kapitel „Les Débits de consolation“ der Tableau-Sammlung La Grande Ville mit der Darstellung eines Lumpensammlers illustriert, der, mit seiner typischen Kiepe am Ausschank stehend, eine Rede an die Anwesenden zu halten scheint 220 , und in der Physiologie du flâneur von Louis Huart zeigt eine weitere Illustration Daumiers einen sehr selbstbewusst auftretenden Lumpen‐ sammler 221 . Der begleitende Text spricht von „le flâneur prolétaire, le roi du pavé, le chiffonnier français“ und nennt den Lumpensammler einen „philosophe pra‐ ticien qui vit gaiement au jour le jour, sans luxe, sans gêne, sans prétentions à la fortune, dégagé de tous préjugés, s’accommodant de tout ce que rejettent les autres, mangeant peu, buvant beaucoup […]“ 222 . Als Charakteristika des Berufs‐ standes galten die nächtliche Tätigkeit und das soziale Außenseitertum, dazu 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 79 223 In de Kocks La Grande Ville werden einschlägige Ausschankstellen („Débits de conso‐ lation“) genannt, und im Prolog eines der zahlreichen zeitgenössischen Theaterstücke zum Thema (Félix Pyat, Le Chiffonnier de Paris, 1847) werden die dort genossenen Branntweine aufgezählt (Badesco, S. 56). Siehe auch Rieger, S. 36 f., mit Hinweis auf die meist genannte Ausschankstelle, der Gérard de Nerval in seinen Nuits d’octobre ein Kapitel gewidmet hat („XVI. Paul Niquet“). 224 „Notes“, S. 1047 ff. Zur Entstehung und den drei Textfamilien des Gedichts siehe ebd. 225 Les Fleurs du mal CV (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 106 f.). Armut, Bedürfnislosigkeit und Freiheitsliebe. Von Anfang an gehörte auch die Trunkenheit dazu 223 . Von Le Vin des chiffonniers gibt es neun Fassungen, so viele wie von keinem anderen Gedicht Baudelaires. Die älteste erhaltene findet sich in einem Manu‐ skript, das um 1848 entstanden ist. Pichois setzt die Erstfassung nach Aussage von Baudelaires Freund Prarond um 1843 an 224 , was zum damaligen allgemeinen Interesse am Thema passt. Veröffentlicht wurde das Gedicht zuerst 1854 in der Bohème-Zeitschrift Jean Raisin, revue joyeuse et vinicole. Seit 1857 ist es in den Fleurs du mal das zweite Stück der Abteilung Le Vin (Nr. XCIV bzw. CV in der zweiten Auflage). Trotz vieler Änderungen im Detail ist das Grundkonzept in allen Überarbeitungen dasselbe geblieben. Hier der Wortlaut der endgültigen Fassung 225 : Le Vin des chiffonniers Souvent, à la clarté rouge d’un réverbère Dont le vent bat la flamme et tourmente le verre, Au cœur d’un vieux faubourg, labyrinthe fangeux Où l’humanité grouille en ferments orageux, On voit un chiffonnier qui vient, hochant la tête, Butant, et se cognant aux murs comme un poète, Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets, Épanche tout son cœur en glorieux projets. Il prête des serments, dicte des lois sublimes, Terrasse les méchants, relève les victimes, Et sous le firmament comme un dais suspendu S’enivre des splendeurs de sa propre vertu. Oui, ces gens harcelés de chagrins de ménage, Moulus par le travail et tourmentés par l’âge, Éreintés et pliant sous un tas de débris, Vomissement confus de l’énorme Paris, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 80 226 Die „cité de fange“ ist ein gängiges romantisches Charakteristikum; siehe Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 349. Reviennent, parfumés d’une odeur de futailles, Suivis de compagnons, blanchis dans les batailles, Dont la moustache pend comme les vieux drapeaux. Les bannières, les fleurs et les arcs triomphaux Se dressent devant eux, solennelle magie! Et dans l’étourdissante et lumineuse orgie Des clairons, du soleil, des cris et du tambour, Ils apportent la gloire au peuple ivre d’amour! C’est ainsi qu’à travers l’Humanité frivole Le vin roule de l’or, éblouissant Pactole; Par le gosier de l’homme il chante ses exploits Et règne par ses dons ainsi que les vrais rois. Pour noyer la rancœur et bercer l’indolence De tous ces vieux maudits qui meurent en silence, Dieu, touché de remords, avait fait le sommeil; L’Homme ajouta le Vin, fils sacré du Soleil! Im Mittelpunkt steht die Figur des Lumpensammlers, dessen bekannte Eigen‐ schaften indirekt aufgerufen werden: die nächtliche Existenz durch das Motiv der flackernden Straßenlaterne, die Armut durch metonymischen Hinweis auf den häuslichen Ärger, das Mühselige und Erniedrigende der Arbeit durch das Bild des ekelerregenden, riesigen Abfallberges der Stadt („un tas de débris, / Vomissement confus de l’énorme Paris“, V. 16). Die städtische Umgebung ist knapp, aber auf bekannte Weise skizziert: „Au cœur d’un vieux faubourg, laby‐ rinthe fangeux 226 / Où l’humanité grouille en ferments orageux […]“. Die Beto‐ nung liegt ganz auf dem Rausch und den Phantasien der Lumpensammler. Der in der zweiten Strophe durch die Straßen torkelnde Lumpensammler hält sich im Alkoholrausch für einen König, der weise Gesetze erlässt, die Bösen niederwirft und die Unschuldigen aufrichtet (V. 7 ff.). Zu dieser Alkoholphan‐ tasie findet sich eine Parallele in de Kocks La Grande Ville: „il est très curieux d’entendre un chiffonnier à demi saoul vouloir fonder un nouveau gouverne‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 81 227 Badesco, S. 56, Anm. 6. Siehe auch Badescos - offensichtlich unter dem Einfluss von Baudelaires Gedicht stehende - Beschreibung eines Daumier-Stichs von 1841: „Le chif‐ fonnier […] a un visage épanoui, inspiré et heureux, comme s’il contemplait au loin, d’un air de triomphe et ‚l’esprit éclairé d’étranges visions‘, l’infini de son bonheur. Bien campé sur ses jambes bottées, la hotte chargée et cependant légère, il tient son crochet devant lui et s’y appuie comme un général victorieux sur son ‚sceptre de fer‘. Son allure fière, un peu provocante, est tempérée par la douceur de son sourire. Le regard domine: il paraît exprimer une sorte d’incantation magique assez proche du feu intérieur qui s’allume chez les chiffonniers de Baudelaire ‚au fond de leurs cervelles‘. Les quelques chiffonniers de Daumier que nous avons pu voir ont tous ce petit air dominateur.“ (S. 58) 228 Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1049, V. 9 ff. 229 Die in ihrer Grandiosität und als Mittel zur Bewältigung des unerträglichen Lebens durch die Phantasie ein Beispiel des „héroїsme moderne“ sind. Diese Vorstellung eher als das „Vorbild“ eines „Général“ genannten realen Lumpensammlers war der hinrei‐ chende Anlass für Baudelaires Gedicht. ment […]“ 227 . Baudelaires Beschreibung des Betrunkenen ist nicht ohne Ironie, wenn er diesen mit einem Dichter vergleicht, der sich schwankend an den Mauern festhält (V. 6), oder ihn die Polizeispitzel des Faubourg als seine Unter‐ tanen phantasieren lässt („Et, sans prendre souci des mouchards, ses sujets“, V. 7). In der Erstfassung war an dieser Stelle von stammelnden Aufrufen an ein phantasiertes Regiment die Rede, wie der sterbende Napoleon sie von sich ge‐ geben habe: Un régiment se meut à ses regards trompés, Et lui, jette aux échos des mots entrecoupés, Tels que ceux que vaincu par la mort triomphante L’Empereur exhalait de sa gorge expirante. 228 Es folgten weiterhin „illusions“ und „étranges visions“ von Armeen und ge‐ wonnenen Schlachten, von lärmenden Triumphen und Festen, die sich zu nächt‐ licher Stunde in den Köpfen von Lumpensammlern abspielen: Mais nul n’a jamais vu les hauts faits glorieux, Les triomphes bruyants, les fêtes solemnelles [sic], Qui s’allument alors au fond de leurs cervelles, Plus belles que les Rois n’en rêveront jamais. (V. 17 ff.) Auf die Ausmalung der heroischen Phantasien 229 der Lumpensammler hat Bau‐ delaire in den vielen Fassungen und Varianten große Aufmerksamkeit verwandt und sie zunehmend präzisiert. So steht in der Endfassung bruchlos die Vorstel‐ lung vom guten Herrscher neben derjenigen von Soldaten, die siegreich aus dem Feld heimkehren und im Triumph vom Volk umjubelt werden (V. 9-13 bzw. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 82 230 Du vin et du hachisch, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 381 f. Erstmals erschienen im Messager de l’Assemblée im März 1851; siehe Pichois, „Notes“, S. 1365. 231 Les Fleurs du mal CIV, S. 105 f., bzw. Du vin et du hachisch, S. 380 f. Zur Entstehung von L’Âme du vin um 1843 siehe Pichois, „Notes“, S. 1045. V. 17-24). Diese Phantasien sind in der Abhandlung Du vin et du hachisch von 1851 in einer Prosaversion zum grandiosen Auftritt eines einzigen Lumpen‐ sammlers zusammengefasst: Il parle tout seul; il verse son âme dans l’air froid et ténébreux de la nuit. C’est un monologue splendide à faire prendre en pitié les tragédies les plus lyriques. „En avant! marche! division, tête, armée! “ Exactement comme Buonaparte agonisant à Sainte-Hé‐ lène! Il paraît que le numéro sept s’est changé en sceptre de fer, et le châle d’osier en manteau impérial. Maintenant il complimente son armée. La bataille est gagnée, mais la journée a été chaude. Il passe à cheval sous des arcs de triomphe. Son cœur est heureux. Il écoute avec délices les acclamations d’un monde enthousiaste. Tout à l’heure il va dicter un code supérieur à tous les codes connus. Il jure solennellement qu’il rendra ses peuples heureux. La misère et le vice ont disparu de l’humanité. 230 Ebenda erklärt Baudelaire auch ihre kompensatorische Funktion: J’ai quelquefois pensé avec terreur qu’il y avait des métiers qui ne comportaient aucune joie, des métiers sans plaisir, des fatigues sans soulagement, des douleurs sans com‐ pensation. Je me trompais. Voici un homme chargé de ramasser les débris d’une journée de la capitale. […] (Ebd.) Der Kompensationsgedanke entspringt seiner Überzeugung, dass der Mensch darum bemüht ist, seinem irdischen „habitacle de fange“ - in diesem Fall ganz wörtlich dem „labyrinthe fangeux“ der Großstadt (V. 3 der Endfassung) - zu entfliehen, und dass ihm dazu jedes Mittel recht ist. Eines der Mittel ist der Wein, von dessen entsprechenden Leistungen Du vin et du hachisch handelt. Im zweiten Kapitel der Abhandlung ergreift der Wein selbst das Wort und stellt sich als Sorgenbrecher vor, der die graue Wirklichkeit erträglich macht, die Liebe und den Kampfesmut weckt und dem Menschen Flügel verleiht zum Dank dafür, dass dieser ihn mit seiner Hände Arbeit hervorgebracht habe. Auch dieser als „Gesang“ des Weins bezeichnete Teil des Kapitels ist die Prosaversion eines Ge‐ dichts aus der späteren Abteilung Le Vin in den Fleurs du mal, nämlich des ver‐ mutlich zur selben Zeit wie Le Vin des chiffonniers entstandenen Einleitungsge‐ dichts L’Âme du vin 231 . Unmittelbar darauf folgt die Lumpensammlerepisode, die zeigen soll, wie der Wein unzähligen Menschen, deren Leiden der Schlaf nicht ausreichend zu mildern vermag, Erleichterung verschafft, indem er ihre Phant‐ asien freisetzt: 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 83 232 S. 382. Wein und Haschisch bewirken ein „développement poétique excessif de l’homme“, stellt Baudelaire in der Zusammenfassung fest (Du vin et du hachisch, S. 397; meine Hervorhebung). Auch beim Künstler regt der Wein die Schaffenskraft an, was mit mehreren Anekdoten über Hoffmann und Paganini belegt wird (S. 378 f. und 384 ff.). 233 Du vin et du hachisch, S. 382. 234 Das sich, wie Badesco feststellt, für mancherlei Deutungen anbot: „[…] le chiffonnier se prêtait facilement au symbole“ („Baudelaire et la Revue Jean Raisin“, S. 56). 235 Außer L’Âme du vin noch Le Vin de l’assassin; siehe Pichois, S. 1053 f. Auch Le Vin du solitaire, das vorletzte Gedicht der Abteilung, dürfte zu den älteren Gedichten gehören (S. 1055). Il y a sur la boule terrestre une foule innombrable, innomée, dont le sommeil n’en‐ dormirait pas suffisamment les souffrances. Le vin compose pour eux des chants et des poèmes. (S. 382) Seine „chants“ und „poèmes“ 232 sind ein wohltätiges „intellektuelles Gold“, das er als neuer Fluss Paktolos statt des unheilvollen materiellen Goldes des Königs Midas der Menschheit bringt: […] le vin, comme un Pactole nouveau, roule à travers l’humanité languissante un or intellectuel. Comme les bons rois, il règne par ses services et chante ses exploits par le gosier de ses sujets. 233 Das Bild des Midasgoldes ist seit 1854 auch in das Versgedicht aufgenommen und in dessen vorletzter Strophe ausgeführt. Die letzte Strophe preist seit 1857 den Wein nicht mehr als Werk des Schöpfers, sondern als ein Werk des Men‐ schen: „L’Homme ajouta le Vin, fils sacré du Soleil! “ (V. 32). Baudelaire hat das populäre Motiv des Lumpensammlers 234 wohl vor allem wegen seiner Nähe zum Thema des Rausches ausgewählt. Von diesem vorran‐ gigen Interesse zeugen weitere Gedichte der Abteilung Le Vin, die um dieselbe Zeit entstanden sind 235 , und natürlich die rauschhaften Vorstellungen des Ge‐ dichts selbst, die auf ekstatische Zustände vorausweisen, die in seinen späteren Werken wiederkehren: so gehört die Herrscherphantasie der Endfassung zu den in Les Foules angesprochenen Glückszuständen („mystérieuses ivresses“) der „fondateurs de colonies“ und „pasteurs de peuples“, und die Phantasie vom heimkehrenden Heereszug nimmt das in Ekstase marschierende Regiment im Peintre de la vie moderne vorweg. Durch den Vergleich des torkelnden und sich an Häusermauern abstützenden Lumpensammlers mit einem Dichter, der Verse skandierend und Reime suchend, also in einem Zustand poetischer Entrückung, durch die Straßen irrt, kommt auch der grundsätzlich ähnliche Entrückungszu‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 84 236 In der ersten Fassung heißt es in V. 6 („Butant, et se cognant aux murs comme un poète“) noch herabsetzend: „Se cognant, se heurtant, comme un faiseur de vers“; ähnlich in Du vin et du haschich: „Il arrive hochant la tête et butant sur les pavés, comme les jeunes poètes qui passent toutes leurs journées à errer et à chercher des rimes.“ (S. 1049 bzw. S. 381.) In den Fleurs du mal (Le Soleil, Nr. LXXXVII, V. 5 ff.) wird Baudelaire dasselbe Bild für eine ernsthafte Selbstcharakterisierung benutzen: Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime, Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, Trébuchant sur les mots comme sur les pavés, Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 237 Rieger, Diogenes als Lumpensammler, S. 48 ff.; Badesco, S. 58. 238 Ein Betrunkener versucht, seinen schon am Boden liegenden Freund dazu zu bringen, den erreichten Glückszustand in der nächsten Kneipe zu vervollkommnen, zu welchem Zweck er den Freund schließlich mit Hilfe eines Seiles dorthin zieht. Das flanierende Ich, das die Szene miterlebt, kommentiert aus der Distanz des ästhetisch versierten Beobachters und schließt auch die umstehende Menge ein: „La foule reste stupéfaite; car ce qui est trop beau, ce qui dépasse les forces poétiques de l’homme cause plus d’étonnement que d’attendrissement.“ (Du vin et du hachisch, S. 384.) 239 In der ältesten um 1848 entstandenen Fassung des Gedichts heißt es in V. 32: „tous les malheureux qui meurent en silence.“, was damaligen sozialen Neigungen Baudelaires entspricht. Daraus werden nach der Zwischenstufe „innocents“ erst 1857 die zur sata‐ nischen Note der Fleurs du mal passenden „vieux maudits qui meurent en silence“ (V. 30). stand des Dichters ins Spiel 236 , der aber noch eine Randbeobachtung im Stil der gern gezogenen Parallele zwischen Lumpensammler und Dichter 237 bleibt. Für ein aktiveres Auftreten des Dichters hatte Baudelaire zu diesem Zeitpunkt noch kein zufriedenstellendes Konzept. Der sich einfühlende Beobachter aus Les Foules, der aus Hingabe an das „imprévu qui se montre“ und an „toutes les pro‐ fessions, toutes les joies et toutes les misères“ der Großstadt sich in den Lum‐ pensammler hineinversetzen und daraus eine „singulière ivresse“ hätte ziehen können, war noch in weiter Ferne, und der nur dem Augenblick hingegebene Flaneur schien ihm offensichtlich nicht angemessen, obwohl er dessen Be‐ obachterrolle im zweiten Kapitel von Du vin et du hachisch in der Erzählung von den zwei Betrunkenen selbst eingenommen hatte 238 . Grund dafür war mögli‐ cherweise, dass er im Lumpensammler von Anfang an einen „malheureux“ und damit einen Beobachtungsgegenstand für den empathischen Dichter sah 239 . So bleibt die Wahrnehmungsinstanz im Vin des chiffonniers ein zurückgenom‐ menes, verallgemeinerndes „on“: „Souvent […] / […] / On voit […]“ (V. 1 bzw. 5) und es tritt kein lyrisches Dichter-Ich auf. Die Phantasien sind die eines Lum‐ pensammlers, nicht die eines Dichters. Ursprünglich lautete der Titel des Ge‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 85 240 Ms. B, siehe Pichois, „Notes“, S. 1047. Was der Tatsache Rechnung trägt, dass in den Ausschankstellen üblicherweise nicht Wein, sondern Branntwein ausgeschenkt wurde; siehe die Aufzählung der Branntweine in Pyats Le Chiffonnier de Paris (Badesco, S. 56). 241 Pichois, „Notes“, S. 1043. Wie beim Vin des chiffonniers und vielen anderen Gedichten stützt sich diese Zeitangabe auf die Aussagen des seit 1839 mit Baudelaire befreundeten Schriftstellers Ernest Prarond. 242 Siehe Pichois, „Notes“, S. 1025. dichts denn auch ganz unverblümt L’Ivresse du chiffonnier 240 . Die spätere meto‐ nymische Titelversion ist den übrigen Gedichten der Abteilung Le Vin angepasst. Zwar ist die Evokation der Großstadt in der ersten Strophe von Le Vin des chiffonniers im Laufe der Korrekturen prägnanter und dramatischer geworden, aber da sie nur den pittoresken Hintergrund der dargestellten Phantasien abgibt und sie nicht selbst auslöst, behält das Gedicht auch in der um die Tableaux parisiens erweiterten zweiten Auflage der Fleurs du mal zu Recht seinen ur‐ sprünglichen Platz in der Abteilung Le Vin. b) Die Crépuscule-Gedichte Bei seinem nächsten Versuch greift Baudelaire ein Thema der Naturlyrik auf und überträgt es in eine städtische Umgebung. Das so entstandene Gedicht Le Crépuscule du matin soll er bereits 1843 im Freundeskreis vorgetragen haben 241 . Erstmals veröffentlicht wurde es zusammen mit seinem später entstandenen Pendant Le Crépuscule du soir in der Semaine théâtrale vom 1. Februar 1852, wo beide Gedichte unter dem gemeinsamen Obertitel Les Deux Crépuscules fir‐ mierten. In einem Manuskript, das Baudelaire kurz zuvor für eine - dann nicht zustandegekommene - Veröffentlichung in der Revue de Paris an Gautier ge‐ schickt hatte, lauteten die Titel Les Deux Crépuscules de la grande Ville / Le Matin / Le Soir, woraus die zugrundeliegende Absicht sehr deutlich zu ersehen ist 242 . Hier zunächst das ältere der beiden Gedichte: Le Crépuscule du matin La diane chantait dans les cours des casernes, Et le vent du matin soufflait sur les lanternes. C’était l’heure où l’essaim des rêves malfaisants Tord sur leurs oreillers les bruns adolescents; Où, comme un œil sanglant qui palpite et qui bouge, La lampe sur le jour fait une tache rouge; Où l’âme, sous le poids du corps revêche et lourd, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 86 243 Les Fleurs du mal CIII (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 103 f.) Imite les combats de la lampe et du jour. Comme un visage en pleurs que les brises essuient, L’air est plein du frisson des choses qui s’enfuient, Et l’homme est las d’écrire et la femme d’aimer. Les maisons çà et là commençaient à fumer. Les femmes de plaisir, la paupière livide, Bouche ouverte, dormaient de leur sommeil stupide; Les pauvresses, traînant leurs seins maigres et froids, Soufflaient sur leurs tisons et soufflaient sur leurs doigts. C’était l’heure où parmi le froid et la lésine S’aggravent les douleurs des femmes en gésine; Comme un sanglot coupé par un sang écumeux Le chant du coq au loin déchirait l’air brumeux; Une mer de brouillards baignait les édifices, Et les agonisants dans le fonds des hospices Poussaient leur dernier râle en hoquets inégaux. Les débauchés rentraient, brisés par leurs travaux. L’aurore grelottante en robe rose et verte S’avançait lentement sur la Seine déserte, Et le sombre Paris, en se frottant les yeux, Empoignait ses outils, vieillard laborieux. 243 Das Gedicht ist eine reine Beschreibung im Imperfekt, das nur an zwei Stellen von einem ebenfalls beschreibenden Präsens unterbrochen wird. Gedichte im Vergangenheitstempus sind bei Baudelaire selten. Entweder wird in diesen Fällen das Vergangenheitstempus im Verlaufe des Gedichts in ein Gegenwarts‐ tempus überführt (À une passante) oder es ist durch das sprechende Ich von Anfang an lyrisch eingeholt (Rêve parisien, Un Voyage à Cythère). Nur in Don Juan aux enfers gibt es weder den Tempuswechsel noch ein lyrisches Ich; hier handelt es sich um eine durch Bilder inspirierte Beschreibung, weniger um die Nacherzählung eines Mythos. Die Beschreibung des anbrechenden Morgens in der Stadt ist von bunter und kunstvoller Vielfalt. Sie beginnt mit einem akustischen Phänomen, dem mili‐ tärischen Morgenruf, dem bald der natürliche Morgenruf des Hahnenschreis folgt (V. 20), der im 19. Jahrhundert auch in einer großen Stadt zweifellos noch zu hören war. Dazwischen werden morgendliche Vorkommnisse ausgebreitet, die das Auge wahrnimmt, äußere sowie nicht ohne weiteres zugängliche innere. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 87 244 Hier versammelt Baudelaire oft geäußerte Vorstellungen von der dichterischen Inspi‐ ration: die ermattete Seele, den erlahmenden Enthusiasmus, die Flüchtigkeit des Ein‐ falls. 245 Gerhard Hess lässt diesen menschlichen Aspekt in seiner Interpretation außer Acht. Er konzentriert sich auf die sachlich-situativen Details der Schilderung, die er, wie die Bildlichkeit von Lampe und Hahnenschrei, „ins Gespenstisch-Grausige verzerrt“ sieht (Die Landschaft in den Fleurs du mal, S. 28). 246 Allegorisch-bildliche Vorstellungen von Paris waren weit verbreitet. Die Bilder vom „vieillard“ und Arbeiter konnte Baudelaire in Victor Hugos Les Voix intérieures finden (XIX: À un riche; IV: À l’Arc de triomphe). Hinweise bei Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 353 f.; Pichois, „Notes“, S. 1044. Bei den äußeren wechseln sich natürliche Phänomene („le vent du matin“, „Une mer de brouillards“) mit städtisch-zivilisatorischen ab („La lampe“, „Les mai‐ sons“), wobei die natürlichen Phänomene auf die städtischen bezogen sind, so der Wind, der die Laternen flackern macht, und der Nebel, der um die Häuser wabert. Die in Interieurs angesiedelten Vorkommnisse betreffen menschliche Aktivitäten auf der Grenze zwischen Nacht und Tag („l’essaim des rêves mal‐ faisants / Tord sur leurs oreillers les bruns adolescents“, „Les femmes de plaisir […] dormaient de leur sommeil stupide“, „Les pauvresses […] / Soufflaient sur leurs tisons et soufflaient sur leurs doigts“, „Les débauchés rentraient“). Auch die Nachtarbeit des Dichters, der müde auf die im aufgehenden Tageslicht ver‐ blassende Lampe blickt, kommt zu ihrem Ende, während seine Seele noch mit dem widerstrebenden Körper ringt und die Dinge, die zu schreiben er bemüht war, ihm zitternd in die kühle Morgenluft entfliehen 244 . Gedacht wird auch der Frauen, die der Liebe müde werden, anderer, die in Geburtsnöten stärkere Schmerzen leiden, und schließlich der Sterbenden, die in den Hospitälern ihren letzten Atem aushauchen. Diese Vielzahl von Vorgängen und die durch sie evo‐ zierten menschlichen Schicksale stellen einen Querschnitt durch die Tausende von Existenzen in einer großen Stadt dar, die Baudelaire im Salon de 1846 als potentiellen Gegenstand einer modernen Dichtung gepriesen hatte. Der Reiz der morgendlichen Stimmung wird von ihm also in den Menschen der Großstadt und ihrem Tun und Leiden gesucht 245 , wobei die Mühseligen und Beladenen überwiegen, was angesichts seines Schönheitsideals nicht erstaunt, aber auch wie schon die „malheureux“ der frühen Fassung des Vin des chiffonniers die soziale Tendenz der Endvierziger spiegeln mag. Am Ende des Gedichts werden Natur und Stadt ganz im Sinne dieses gebrochenen Menschenbildes personifi‐ ziert: die Natur in Gestalt der fröstelnden Morgenröte, Paris in der Allegorie eines düsteren Alten, der sich schlaftrunken für die Arbeit des neuen Tages rüstet 246 . I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 88 247 Hier durch die archaischen Wörter „lésine“ und „gésine“ (Les Fleurs du mal, S. 399). Ähnlich äußert sich Pichois, „Notes“, S. 1044 („teinte ancienne“) sowie S. 831. 248 Anthologie poétique francaise. XVII e siècle, hrsg. von M. Allem, 2 Bde., Paris 1965, Bd. 1, S. 264 ff. 249 Vgl. etwa Strophe 7 und 9: Je vois les agneaux bondissants Sur ces blés qui ne font que naître; Cloris, chantant les mène paître, Parmi ces coteaux verdissants. […] La charrue écorche la plaine; Le bouvier, qui suit les sillons, Presse de voix et d’aiguillons Le couple de bœufs qui l’entraîne. Le Crépuscule du matin ist der Versuch, ein Naturthema in der Großstadt an‐ zusiedeln. Für das dabei angewandte beschreibende Verfahren hat Antoine Adam auf den Einfluss der „poètes descriptifs de l’époque de Louis XIII “ hin‐ gewiesen, bei denen Baudelaire zur Entstehungszeit des Gedichts öfter The‐ menanleihen gemacht habe, um sie in moderner Manier zu behandeln, „mais avec quelques touches qui rappellent ces vieux poètes et donnent à sa compo‐ sition une saveur curieuse“ 247 . Tatsächlich findet sich bei Théophile de Viau eine Ode mit dem Titel Le Matin, die eine ähnliche Beschreibung morgendlicher Phänomene enthält 248 . Auf das Geschehen am Morgenhimmel folgt dort das Er‐ wachen der Natur im Wechsel mit morgendlichen Aktivitäten von Menschen, und es ist auch die Rede von einer vor dem Tageslicht verblassenden Lampe („Cette chandelle semble morte, / Le jour la fait évanouir“; V. 57 f.). Allerdings handelt es sich bei Viau um einen Morgen in ländlicher Umgebung mit bukoli‐ schem bzw. bäuerlichem Personen- und Sachinventar 249 , wo der Beginn der lärmenden Tagesaktivitäten die Ruhe und das Schweigen der Nacht ablöst. Ganz anders der Lebensrhythmus der Großstadt in Le Crépuscule du matin, der die strikte Trennung und die hergebrachte Verteilung von Arbeit und Schlaf auf Tag und Nacht nicht mehr kennt. Hier bringt der Morgen für viele Menschen das Ende ihrer nächtlichen Aktivitäten, ja die morgendliche Erschöpfung scheint für die Stadt charakteristischer zu sein als das beginnende Tagewerk des „Alten“, in dem am Ende die ganze Stadt Paris allegorisch zusammengefasst wird. In Théophile de Viaus Ode wird die Beschreibung am Ende in eine knappe Schäferszene überführt, in der der eben erwachte Beobachter und Sprecher sich an die Geliebte wendet: 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 89 250 S. 266, Str. 16. 251 Der Mythos von Paris, S. 756. 252 Baudelaire war sich der Besonderheit von Le Crépuscule du matin, wie es scheint, be‐ wusst. So hat er im Brief an Desnoyers und auch in der Erstauflage der Fleurs du mal die natürliche Abfolge Morgen - Abend umgekehrt und Le Crépuscule du matin auf Le Crépuscule du soir folgen lassen (Spleen et idéal, LXVIII bzw. LXVII). In der zweiten Auflage der Fleurs du mal hat er diese Reihenfolge beibehalten und die beiden Stücke zudem getrennt. Le Crépuscule du matin steht jetzt betont am Ende der Tableaux pari‐ siens (Nr. CIII bzw. XCV). Il est jour: levons-nous, Philis; Allons à notre jardinage, Voir s’il est, comme ton visage, Semé de roses et de lys. 250 Damit ist die Morgenbeschreibung in eine für den damaligen Leser verständliche Situation eingebettet. Baudelaire stand eine solche Lösung für seine morgen‐ dliche Stadtszene nicht mehr zur Verfügung, die im Übrigen auch nicht zu seiner Schilderung der städtischen „malheureux“ gepasst hätte. Wie im Vin des chif‐ fonniers hatte er aber noch keine andere Lösung zur Hand. Deshalb bleibt die Beobachterposition abstrakt und ist nur an der wechselnden Perspektive des bald über die Häuser hinweggleitenden, bald in deren Inneres eindringenden Blicks zu erkennen, sowie an den beiden Präsens-Einschüben („C’était l’heure où …“, V. 3 und V. 17), die den Augenblick des heraufkommenden Morgens prä‐ zisieren. Diesen Einschüben ist aber keinerlei Information zu entnehmen, die das Bewusstsein eines Ichs und seine eventuelle ‚Morgenstimmung‘ beträfe, weshalb das Bild des in der großen Stadt anbrechenden Morgens ganz emoti‐ onslos vermittelt wird. Stierle hat darauf hingewiesen, dass das Gedicht „nicht ein einfaches Innesein der Stadt, sondern die Erinnerung an ein Innesein“ zeige 251 . Doch auch die „Erinnerung“ ist nicht fruchtbar gemacht, zumal der Dichter selbst Gegenstand der Beobachtung geworden ist. Diese Abwesenheit eines emotional beteiligten Ichs könnte zu dem ungewöhnlichen Tempusge‐ brauch des Gedichts beigetragen haben, da das distanziert beschreibende Im‐ perfekt leichter auf ein lyrisches Ich verzichten konnte als ein Gegenwarts‐ tempus 252 . Insgesamt stellt das Gedicht somit einen problematischen Versuch dar, ein der Bukolik entnommenes Schema für ein Stadtbild mit ‚realistischen‘ Elementen zu übernehmen. Ganz anders präsentiert sich das jüngere Le Crépuscule du soir, in dem ein lyrisches Ich den einbrechenden Abend in der großen Stadt erlebt: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 90 Le Crépuscule du soir Voici le soir charmant, ami du criminel; Il vient comme un complice, à pas de loup; le ciel Se ferme lentement comme une grande alcôve, Et l’homme impatient se change en bête fauve. Ô soir, aimable soir, désiré par celui Dont les bras, sans mentir, peuvent dire: Aujourd’hui Nous avons travaillé! - C’est le soir qui soulage Les esprits que dévore une douleur sauvage, Le savant obstiné dont le front s’alourdit, Et l’ouvrier courbé qui regagne son lit. Cependant des démons malsains dans l’atmosphère S’éveillent lourdement, comme des gens d’affaire, Et cognent en volant les volets et l’auvent. À travers les lueurs que tourmente le vent La Prostitution s’allume dans les rues; Comme une fourmilière elle ouvre ses issues; Partout elle se fraye un occulte chemin, Ainsi que l’ennemi qui tente un coup de main; Elle remue au sein de la cité de fange Comme un ver qui dérobe à l’Homme ce qu’il mange. On entend çà et là les cuisines siffler, Les théâtres glapir, les orchestres ronfler; Les tables d’hôte, dont le jeu fait les délices, S’emplissent de catins et d’escrocs, leurs complices, Et les voleurs, qui n’ont ni trêve ni merci, Vont bientôt commencer leur travail, eux aussi, Et forcer doucement les portes et les caisses Pour vivre quelques jours et vêtir leurs maîtresses. Recueille-toi, mon âme, en ce grave moment, Et ferme ton oreille à ce rugissement. C’est l’heure où les douleurs des malades s’aigrissent! La sombre Nuit les prend à la gorge; ils finissent Leur destinée et vont vers le gouffre commun; L’hôpital se remplit de leurs soupirs. - Plus d’un Ne viendra plus chercher la soupe parfumée, Au coin du feu, le soir, auprès d’une âme aimée. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 91 253 Les Fleurs du mal XCV (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 94 f.). 254 Wie kalkuliert dieses Verfahren war, wird aus dem Brief an Desnoyers ersichtlich, in dem Baudelaire die Umkehrung als seine persönliche Erfahrung hinstellt. Siehe dazu im Folgenden. 255 Pichois, „Notes“, S. 1026. Siehe auch schon Jacques Crépet in seiner Ausgabe der Fleurs du mal (in: Œuvres complètes de Charles Baudelaire, hrsg. von J. Crépet, Paris 1930 [ 1 1922]), S. 457 f. 256 Darin fällt auch die bemerkenswerte Feststellung vom „enthousiasme du carnage“, die Baudelaire beeindruckt haben muss (De Maistre, Les Soirées de Saint-Pétersbourg ou Entretiens sur le gouvernement temporel de la Providence, 2 Bde., Lyon / Paris 7 1854, Bd. 2, S. 22). 257 Les Soirées de Saint-Pétersbourg, Bd. 2, S. 70 f. Encore la plupart n’ont-ils jamais connu La douceur du foyer et n’ont jamais vécu! 253 Im ersten Absatz wird das Naturphänomen des hereinbrechenden Abends mit der Vorstellung des sich verdunkelnden Himmels aufgerufen, der sich „langsam schließt wie ein riesiger Alkoven“ (V. 2 f.) - eine Vorstellung, die das übliche Vorgehen bei Vergleichen umkehrt, indem sie Natur durch Zivilisation veran‐ schaulicht 254 . Weitere Naturphänomene werden nicht genannt, was für den zeit‐ genössischen Leser, der an romantische Bearbeitungen des Abendthemas ge‐ wöhnt war, höchst befremdlich gewesen sein muss. Die Darstellung einer Abendsituation in der Großstadt verlangte aber an Stelle von Naturbeschrei‐ bungen in erster Linie die Beschreibung des abendlichen und nächtlichen Tuns und Treibens von Menschen. Dafür hat Baudelaire sich, wie es scheint, grund‐ sätzliche Anregung bei Joseph de Maistre geholt, insbesondere in dessen Soirées de Saint-Pétersbourg. Pichois hat aus diesem Grund die Entstehung des Gedichts um 1850 / 1851 angesetzt, als Baudelaire mit dem Werk von de Maistre näher bekannt wurde 255 . Im „Septième Entretien“ der Soirées de Saint-Pétersbourg lässt de Maistre eine Gesprächsrunde des Längeren über die Notwendigkeit des Krieges, über Angst, Gebete und ihre historischen Formen sprechen 256 , bevor schließlich die herein‐ brechende Nacht zum Anlass genommen wird, auch über diese zu reflektieren. Die Nacht, so argumentiert ein Teilnehmer, sei für den Menschen gefährlich und anziehend zugleich, weil sie eine natürliche Helfershelferin des Lasters sei und mit dieser Willfährigkeit uns alle verführen könne: […] la nuit est dangereuse pour l’homme, et sans nous en apercevoir nous l’aimons tous un peu parce qu’elle nous met à l’aise. La nuit est une complice naturelle con‐ stamment à l’ordre de tous les vices, et cette complaisance séduisante fait qu’en général nous valons tous moins la nuit que le jour. 257 I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 92 Dagegen wendet ein Anderer ein, dass die Nacht auch ihre guten Seiten habe, da sie der Meditation und der Ekstase förderlich sei: Si la nuit donne de mauvais conseils […] il faut lui rendre justice, elle en donne aussi d’excellents: c’est l’époque des profondes méditations et des sublimes ravisse‐ ments […] (S. 72) Das habe nach anderen Religionen auch das Christentum erkannt und sie für Zeremonien mit feierlicher musikalischer Begleitung genutzt. Es folgen darauf Zitate aus den Psalmen, in denen die Nacht als Zeit des Gebets, der Suche nach Gott, der Selbstbefragung, aber auch der Prüfung („Tu as éprouvé mon cœur en le visitant la nuit.“ Ps. 16, 3) charakterisiert wird, denn der physischen Natur des Menschen bekomme die Nacht nicht, wie im Übrigen das nächtliche Wüten der Krankheiten zeige: L’air de la nuit ne vaut rien pour l’homme matériel; les animaux nous l’apprennent en s’abritant tous pour dormir. Nos maladies nous l’apprennent en sévissant toutes pendant la nuit. Pourquoi envoyez-vous le matin chez votre ami malade demander comment il a passé la nuit, plutôt que vous n’envoyez demander le soir comment il a passé la journée? Il faut bien que la nuit ait quelque chose de mauvais. (S. 75) Schutz biete jedoch der Schlaf, der nach verbreitetem Glauben auch göttliche Mitteilungen im Traum begünstige. Baudelaire übernimmt in Le Crépuscule du soir die ambivalente Vorstellung de Maistres von der Nacht, wobei er Abend und Nacht fließend ineinander übergehen lässt. Er beginnt mit dem „bezaubernden Abend“, charakterisiert ihn aber unmittelbar darauf als Freund und Komplizen des Verbrechers und fügt - nach dem Alkoven-Bild - noch die Behauptung hinzu, dass der Mensch sich unter seinem Einfluss in ein wildes Tier verwandle. Das entspricht den einlei‐ tenden Feststellungen de Maistres über die Nacht und ihren Einfluss auf die menschliche Natur. In einem zweiten Anlauf wird der Abend dann als derjenige gepriesen, der Erleichterung von der Last des Tages bringt, und als Beispiele dafür werden der Gelehrte und der Arbeiter genannt („le savant obstiné“, „l’ouv‐ rier courbé“, V. 9 f.). Auch dieser positive Aspekt ist bei de Maistre vorgebildet, allerdings an anderer Stelle und in einem anderen, für de Maistre charakteris‐ tischen Zusammenhang, nämlich als Glücklichpreisung der Tugend und des Tugendhaften, der sich am Ende eines Tages keine Schuld vorzuwerfen hat: […] peut-on s’empêcher de contempler avec délice le bonheur de l’homme qui peut se dire chaque jour avant de s’endormir: Je n’ai pas perdu ma journée; qui ne voit dans son cœur aucune passion haineuse, aucun désir coupable; qui s’endort avec la certitude 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 93 258 Soirées de Saint-Pétersbourg, Bd. 1, S. 209 f., „Troisième Entretien“. 259 Bei de Maistre hieß es zusammenfassend: „Depuis le brigand des grands chemins jusqu’à celui des salons, quel homme n’a jamais dit: Flecte, precor, vultus ad mea furta tuos? “ (Bd. 2, S. 71.) 260 Adam, Les Fleurs du mal, „Notes“, S. 389, weist auf eine Parallele in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes hin, wo das nächtliche Leben in der Rue de Langlade, einem Prostituiertenviertel, geschildert wird (Kap. 4: „Un Paysage parisien“); ähnlich Pichois, „Notes“, Bd. 1, S. 1025. Auch Balzac poetisiert seine Schilderung, indem er unter anderem Gegenstände verselbständigt und personifiziert. 261 Normalerweise zieht Baudelaire dem „fantastique parisien“, das Balzac faszinierte und wohl der Schauer- und Geheimnisliteratur entstammt, das „merveilleux“ vor („sujets poétiques et merveilleux“ des modernen Lebens), das für ihn zum Ausnahmezustand, dem „état merveilleux“, gehört (siehe oben, S. 34, Anm. 75). d’avoir fait quelque bien, et qui s’éveille avec de nouvelles forces pour devenir encore meilleur? 258 Baudelaire setzt an die Stelle des Tugend-Laster-Gedankens den der voll‐ brachten Tagesarbeit - „Aujourd’hui / Nous avons travaillé! “ - und damit ein Problem, das ihn selbst umgetrieben hat. Unterdessen erwacht das nächtliche Leben der Stadt: die bösen Geister („les démons malsains“) beginnen um die Häuser zu kreisen und die Menschen zu beunruhigen; die Prostitution bahnt sich ameisengleich ihre Wege durch die Stadt und entzieht gleich einem Wurm dem Menschen seine Lebenssubstanz. Mit der Wendung „au sein de la cité de fange“ charakterisiert Baudelaire die Stadt wieder als irdisches Jammertal, dem die Menschen auf unterschiedliche Weise zu entkommen suchen. Dann folgt eine Aufzählung von Orten des Vergnügens und des nächtlichen Treibens von Spielern, Dirnen, Gaunern und Dieben 259 , die wie schon im Crépuscule du matin ein Ausschnitt des „spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flot‐ tantes“ ist, „qui circulent dans les souterrains d’une grande ville“, diesmal jedoch bei Nacht und erweitert um die „criminels et filles entretenues“. Selbst das „mer‐ veilleux“ oder hier besser das „fantastique“ fehlt in dieser Beschreibung des Pa‐ riser Lebens nicht, die sich mit den epischen Beschreibungen Balzacs 260 messen kann: Es tritt in Gestalt der unheimlichen, an Fensterläden und Vordächern ru‐ morenden Dämonen auf 261 . Die Nacht ist nach de Maistre aber auch die Zeit der „profondes méditations“ und der „sublimes ravissements“. Im Trubel der Großstadt stellen diese sich nicht so selbstverständlich ein wie in der Einsamkeit der Natur. Vielmehr bedarf es hier der Fähigkeit des „[savoir] être seul dans une foule affairée“ und eines Aktes der Sammlung, wo nicht des Gebets. Das geschieht in Le Crépuscule du soir mittels der Aufforderung des Ichs an sich selbst, dem lauten Treiben der Stadt zu entsagen und innezuhalten: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 94 262 L’Originalité de Baudelaire, Bruxelles 1965 ( 1 1927), S. 123 f. 263 Œuvres complètes, Bd. 1, S. 140. 264 Das Sonett ist erstmals im November 1861 erschienen (Revue européenne) und in der postumen Auflage von 1868 in die „Tableaux parisiens“ (CIV) aufgenommen worden (Pichois, „Notes“, S. 1108). Recueille-toi, mon âme, en ce grave moment, Et ferme ton oreille à ce rugissement. Robert Vivier hat die Wendung „Recueille-toi, mon âme …“ für rhetorisch ge‐ halten. Sie sei ursprünglich in der Klassik zuhause und als Ansprache an das eigene Herz oder die eigene Seele eine „mode de l’époque“ 262 . Das mag so sein, in Verbindung mit den Motiven Abend, Weltabkehr und Ende des Lebens sowie vor dem Hintergrund von de Maistres Darlegungen weist der Aufruf zur inneren Sammlung jedoch wieder auf einen religiösen Diskurs, in diesem Fall auf die geistliche Meditation. Unter dem Titel Recueillement hat Baudelaire denn auch später ein Sonett verfasst, in dem die Seele beim abendlichen Blick über die Stadt zur Meditation und inneren Ruhe aufgefordert wird: Recueillement Sois sage, ô ma Douleur, et tiens-toi plus tranquille. Tu réclamais le Soir; il descend; le voici: Une atmosphère obscure enveloppe la ville, Aux uns portant la paix, aux autres le souci. Pendant que des mortels la multitude vile, Sous le fouet du Plaisir, ce bourreau sans merci, Va cueillir des remords dans la fête servile, Ma Douleur, donne-moi la main; viens par ici, Loin d’eux. Vois se pencher les défuntes Années, Sur les balcons du ciel, en robes surannées; Surgir du fond des eaux le Regret souriant; Le Soleil moribond s’endormir sous une arche, Et, comme un long linceul traînant à l’Orient, Entends, ma chère, entends la douce Nuit qui marche. 263 Das Ich, das hier spricht, ist der Dichter, der seinen „Schmerz“ wie ein Kind an die Hand nimmt, um es aus der „fête servile“ der Stadt zu einem inneren Sich-Sammeln und Besänftigen zu führen, begleitet von der leise aufziehenden Nacht. In einer städtischen Umgebung führt einige Jahre später 264 und mit of‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 95 265 Siehe die Interpretation bei H. Weinrich, Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft (Sprache und Literatur.68), Stuttgart 1971, S. 98 ff. 266 Ähnlich Le Vin des chiffonniers, V. 13 (seit 1854): „Oui, ces gens harcelés de chagrins de ménage […].“ Das ursprüngliche „Oui, voilà bien le Soir“ von V. 5 war sogar noch dis‐ tanzierter als V. 1 „Voici le soir charmant“; möglicherweise war auch das ein Grund für die Änderung in den Druckfahnen. fensichtlich veränderter Intention - Baudelaire hat in seinen Gedichten Wie‐ derholungen bekanntlich peinlichst vermieden - das Motiv der abendlichen Be‐ sinnung also zu einer Meditation über die eigene „tranquillitas animi“ 265 . In Le Crépuscule du soir verläuft die Meditation anders. Das Ich wendet sich hier in Gedanken dem Leid und Unglück Anderer zu, nämlich den leidenden Kranken abseits vom Treiben der Stadt, deren Hoffnungslosigkeit wächst und von denen manch einer dem Ende entgegengeht. Das Motiv ist ein Pendant zu den Sterbenden in Le Crépuscule du matin und ihrem letzten Röcheln. Anders als dort steht das Gedenken hier aber im Kontrast zum gleichzeitigen „rugisse‐ ment“ der Stadt und ist daher ein besonderer Akt der dichterischen Phantasie, die sich inmitten der dem Glück nachjagenden Menge ein leidendes Gegenüber sucht, um sich mit ihm zu identifizieren. Damit ist ein Schritt auf dem Weg zum „poète actif et fécond“ aus Les Foules getan, der sich „toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente“ zu Eigen macht. Dass die Unglück‐ lichen und Leidenden hier die Kranken in den Hospitälern sind, mag zwar durch de Maistres Bemerkung angeregt sein, das mitleidende Gedenken ist aber Bau‐ delaires Zutat, die über das von jenem Gesagte hinausgeht. Mit der Selbstansprache im dritten Absatz hat das Gedicht endgültig ein ly‐ risches Ich bekommen. Zuvor war die Wahrnehmungs- und Redeinstanz, die das nächtliche Schauspiel der Großstadt auf sich wirken lässt, nicht personalisiert und man konnte in ihr den nonchalanten Flaneur des ‚tableau de Paris‘ oder auch einen Balzacschen „observateur“ vermuten, der bei einbrechender Nacht die Straßen der Stadt durchstreift. Schon in den Druckfahnen von 1857 hat Bau‐ delaire jedoch im fünften Vers das ursprüngliche „Oui, voilà bien le Soir, le Soir cher à celui […]“ 266 durch die pathetische Apostrophe „Ô soir, aimable soir, désiré par celui […]“ ersetzt und damit die Sprecherinstanz verdeutlicht, der die Sin‐ neswahrnehmungen des Gedichts zuzuordnen sind („Voici …“, V. 1; „On en‐ tend …“, V. 21, mit noch unpersönlichem „on“). Diese reichen jedoch noch nicht aus, um von einem Zustand ekstatisch gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit zu sprechen, und ebenso erfolgt die Beobachtung der nächtlichen Existenzen der Großstadt im zweiten Teil des Gedichts ohne merkliche innere Beteiligung des Ichs. Erst nach der Selbstansprache „Recueille-toi, mon âme …“ kommt es bei der Vergegenwärtigung der Unglücklichen in den Hospitälern zu einem empa‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 96 267 Die einzelnen Schicksale fallen gewissermaßen in die typographische Leerstelle, die Absatz und Durchschuss vor dem abschließenden Zweizeiler bilden. 268 Anders als Pichois meint („Notes“, S. 1026), dürfte zwischen den beiden Crépus‐ cule-Gedichten aber ein nicht unbeträchtlicher zeitlicher Abstand liegen; Le Crépuscule du soir macht jedenfalls den entschieden jüngeren - und gelungeneren - Eindruck. 269 Hommage à C. F. Denecourt. Fontainebleau - paysages, légendes, souvenirs, fantaisies, hrsg. von F. Desnoyers, Paris 1855. Zu Einzelheiten dieser Publikation siehe F. Leakey, „A Festschrift of 1855: Baudelaire and the Hommage à C. F. Denecourt“, in: Studies in French Literature Presented to H. W. Lawton by Colleagues, Pupils and Friends, hrsg. von D. R. Haggis u. a., London 1968, S. 93-116; sowie ders., Baudelaire and Nature, Man‐ chester 1969, S. 112 ff. thischen Mitleiden, wobei sich das Ich freilich auch hier nicht tiefer in die Schicksale der Unglücklichen versenkt 267 , sondern es bei einem allgemeinen mitfühlenden Blick auf ihr entbehrungsreiches und freudloses Leben belässt: Encore la plupart n’ont-ils jamais connu La douceur du foyer et n’ont jamais vécu! Deshalb empfindet es auch keine „singulière ivresse“ und keine „jouissances fiévreuses“ wie in den späteren Großstadtgedichten Les Petites Vieilles oder Le Cygne. Das dichterische Ich bleibt in Le Crépuscule du soir vielmehr in bloßem Mitleiden stecken und gelangt nicht zur Fülle des ekstatischen Zustands. Bau‐ delaires Konzept der Großstadtdichtung ist also, trotz ersichtlicher Fortschritte, Anfang der 1850er Jahre noch nicht endgültig geklärt 268 . 1855 übergibt Baudelaire seine beiden Crépuscule-Gedichte Fernand Des‐ noyers, dem Herausgeber der Festschrift für Claude François Denecourt 269 , zur erneuten Publikation und versieht sie mit einem Begleitbrief, der zusammen mit den Gedichten in der Festschrift abgedruckt wird: Mon cher Desnoyers, vous me demandez des vers pour votre petit volume, des vers sur la Nature, n’est-ce pas? sur les bois, les grands chênes, la verdure, les insectes, - le soleil, sans doute? Mais, vous savez bien que je suis incapable de m’attendrir sur les végétaux et que mon âme est rebelle à cette singulière religion nouvelle, qui aura toujours, ce me semble, pour tout être spirituel je ne sais quoi de shocking. Je ne croirai jamais que l’âme des Dieux habite dans les plantes, et quand même elle y habiterait, je m’en soucierais médiocrement, et considérerais la mienne comme d’un bien plus haut prix que celle des légumes sanctifiés. J’ai même toujours pensé qu’il y avait dans la Nature, florissante et rajeunie, quelque chose d’impudent et d’affligeant. Dans l’impossibilité de vous satisfaire completement, suivant les termes stricts du programme, je vous envoie deux morceaux poétiques qui représentent à peu près la somme des rêveries dont je suis assailli aux heures crépusculaires. Dans le fond des bois, enfermé sous ces voûtes semblables à celles des sacristies et des cathédrales, je 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 97 270 Es folgen die Gedichte. Text nach Correspondance, Bd. 1, S. 248; Hervorhebungen ebd. 271 Deren Geist war wohl auch den Veranstaltern der Festschrift nicht fremd, die ein Hom‐ mage an die Region um Fontainebleau und ihren Förderer Denecourt, eine recht schil‐ lernde Persönlichkeit, war; siehe die Anmerkungen von Pichois / Ziegler, Correspon‐ dance, Bd. 1, S. 843 f. Als literaturbeflissener Naturfreund benannte Denecourt in feierlichen Akten Eichen des Waldes von Fontainebleau nach bekannten Schriftstellern, und auch Baudelaire soll eine solche Widmung erhalten haben. Warum er sich an der Festschrift beteiligte, läßt sich nur vermuten; vielleicht waren es persönliche Gründe - die anderen Beiträger waren Poeten von Rang und Namen von Hugo bis Béranger sowie teilweise persönliche Freunde Baudelaires; vielleicht nahm er aber auch gern die Ge‐ legenheit zur Provokation wahr. 272 „L’esprit calme des dieux habite dans les plantes …“ (À un grand arbre, V. 1). Laprades Band Odes et poëmes (1843), aus dem das Gedicht stammt, war auch bei anderen wegen seines Pantheismus auf Widerspruch gestoßen (siehe dazu Leakey, Baudelaire and Na‐ ture, S. 122, Anm. 4). Baudelaire äußert sich kritisch über Laprade im Zusammenhang mit der von ihm bekämpften „philosophischen“ Ausrichtung der Kunst u. a. in der „école de poésie lyonnaise“ (L’Art philosophique, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 598-605, hier: S. 601). 273 Es gab in der Festschrift allerdings noch andere Stimmen gegen den herrschenden Na‐ turkult, etwa in der Erzählung Vision de la forêt von Jules Champfleury, wo sich groß‐ städtische Lebensvorstellungen gegen ein romantisches Naturempfinden durchsetzen (siehe Leakey, Baudelaire and Nature, S. 113 ff.; Jauß, „Kunst als Anti-Natur“, S. 134 f.). Das mag übrigens erklären, warum der Herausgeber außer den Crépuscule-Gedichten auch den Brief veröffentlicht hat, in dem die ‚anti-naturalistische‘ Position Baudelaires ja erst richtig erkennbar wird. pense à nos étonnantes villes, et la prodigieuse musique qui roule sur les sommets me semble la traduction des lamentations humaines. 270 Der Brief wirft ein Schlaglicht auf sein damaliges Verhältnis zu Natur und Groß‐ stadt. Zunächst rechnet er in spöttischem Ton mit der neuen Natur„religion“ ab 271 , die glaube, dass die Seele der Götter in den Pflanzen wohne, womit er leicht abgewandelt einen Gedichtanfang von Victor de Laprade zitiert 272 . Nachdem er sodann seine persönlichen Vorbehalte gegenüber der Natur - ihren Mangel an Spiritualität und das Schamlose und für den Menschen Schmerzhafte ihrer ewigen Erneuerung - vorgebracht hat, stellt er die beiden Crépuscules, die nicht zum Programm der Sammlung passten 273 , als Beispiele für seine eigenen „rêve‐ ries“ in der Dämmerung vor, die selbst in der Tiefe der Wälder und unter deren „Gewölben“ um die „étonnantes villes“ und ihre von Menschenhand erbauten erhabenen Räume kreisten; noch die wunderbare Musik der Wipfel erinnere ihn an menschliche Klagen. Der Vergleich „ces voûtes [des bois] semblables à celles des sacristies et des cathédrales“ ist eine Replik auf Chateaubriand und eine Umkehrung von dessen Äußerung über den Ursprung der gotischen Architek‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 98 274 Génie du Christianisme, III, 1, 8 (Bd. 1, S. 802); siehe Leakey, Baudelaire and Nature, S. 126, Anm. 2, und S. 202. 275 Leakey, Baudelaire and Nature, S. 161, konstatiert anlässlich der Crépuscule-Gedichte „Baudelaire’s increasing awareness oft the essentially urban quality of his poetry“ und verweist auf einen Brief an die Mutter, in dem unter anderem die beiden Crépuscules als „très spécialement parisiens“ bezeichnet werden und bezweifelt wird „qu’ils puissent être compris hors des milieux pour lesquels et sur lesquels ils ont été écrits“ (Brief vom 27. März 1852, Correspondance, Bd. 1, S. 191). 276 Ich zitiere die erste Fassung (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1327 f.), die bis 1861 mit wenigen Veränderungen Gültigkeit hatte; 1862 erfolgte eine starke Überarbeitung (Druckfahne für La Presse bzw. Druck 1864), die noch einmal zum endgültigen Text der Prosagedichte Spleen de Paris XXII und XXIII überarbeitet wurde (Pichois, „Notes“, S. 1326 f. und 1328 f.). turformen aus der Natur, die sogar den Klang ihrer musikalischen Instrumente einbezog: Les forêts des Gaules ont passé à leur tour dans les temples de nos pères […] Ces voûtes cisélées en feuillages, ces jambages qui appuient les murs, et finissent brusquement comme des troncs brisés, la fraîcheur des voûtes, les ténèbres du sanctuaire, les ailes obscures, les passages secrets, les portes abaissées, tout retrace les labyrinthes des bois dans l’église gothique; tout en fait sentir la religieuse horreur, les mystères et la Di‐ vinité. […] L’architecte chrétien, non content de bâtir des forêts, a voulu, pour ainsi dire, en imiter les murmures; et, au moyen de l’orgue et du bronze suspendu, il a attaché au temple gothique jusqu’au bruit des vents et des tonnerres, qui roule dans la profondeur des bois. 274 Damit stellt Baudelaire seine beiden in der Großstadt angesiedelten Crépus‐ cule-Gedichte als bewusste Alternative zur Natur als poetischer Inspirations‐ quelle vor 275 . Außer dem Brief mit seinem polemischen Gegenentwurf zum Programm der Festschrift hat Baudelaire den beiden „morceaux poétiques“ noch zwei bis dahin unveröffentlichte Prosatexte hinzugefügt, die in dem Brief unerwähnt bleiben. Ihre Titel - Le Crépuscule du soir und La Solitude - deuten auf dieselbe Thematik, wie sie den Versgedichten zugrundeliegt, bzw. auf eine damit verwandte The‐ matik (La Solitude). Die Stücke enthalten allgemeine Beobachtungen und Ge‐ danken zu den Wirkungen, welche die in ihren Titeln genannten Situationen auf den Menschen haben, also zu den Fragen ‚Wie wirkt die Abenddämmerung auf ihn? ‘ und ‚Wie wirkt die Einsamkeit auf ihn? ‘. Das erste beginnt beim Dichter, den der Einbruch der Nacht von den Ängsten des Tages befreit und auf ein inneres Fest des Geistes einstimmt, was ihm in Wäldern und unter Sternen‐ gefunkel ebenso wie in den Straßen der großen Stadt mit ihren Lichtern wider‐ fährt 276 : 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 99 277 In der endgültigen Fassung wird das durch die Schlusswendung noch verdeutlicht: „et les étoiles vacillantes d’or et d’argent […] représentent ces feux de la phantasie qui ne s’allument bien que sous le deuil profond de la Nuit.“ (Le Spleen de Paris XXII, S. 312.) Siehe auch den Passus über das nächtliche Schaffen von Constantin Guys in Le Peintre de la vie moderne, S. 693 f. 278 In der endgültigen Fassung findet sich neben diesen Ausnahmezuständen auch das to‐ pische Zur-Ruhekommen des normalen Sterblichen nach getaner Arbeit als Gedicht‐ anfang: „Le jour tombe. Un grand apaisement se fait dans les pauvres esprits fatigués du labeur de la journée; et leurs pensées prennent maintenant les couleurs tendres et indécises du crépuscule.“ (Le Spleen de Paris XXII, S. 311). Siehe unten, S. 235 ff.# Le Crépuscule du soir La tombée de la nuit a toujours été pour moi le signal d’une fête intérieure et comme la délivrance d’une angoisse. Dans les bois comme dans les rues d’une grande ville, l’assombrissement du jour et le pointillement des étoiles ou des lanternes éclairent mon esprit. Wie dem Ausdruck „fête intérieure“ und der Wendung „éclairent mon esprit“ zu entnehmen ist, kündigt sich beim Dichter in der Abenddämmerung der Enthu‐ siasmus an 277 , wobei ohne Bedeutung ist, ob er sich gerade in der Natur oder in einer großen Stadt befindet. Anders verhielt es sich mit der „manie crépuscu‐ laire“ zweier ehemaliger Freunde. Den einen machte der Einbruch der Dunkel‐ heit gereizt und ausfallend bis hin zur Handgreiflichkeit; er starb am Ende in geistiger Umnachtung. Der andere war tagsüber umgänglich und geduldig und wurde abends unerbittlich gegen sich selbst und seine Umgebung; eine tiefe Unzufriedenheit treibt ihn auch weiterhin um: Mais j’ai eu deux amis que le crépuscule rendait malades. L’un méconnaissait alors tous les rapports d’amitié et de politesse, et brutalisait sauvagement le premier venu. Je l’ai vu jeter un excellent poulet à la tête d’un maître d’hôtel. La venue du soir gâtait les meilleures choses. L’autre, à mesure que le jour baissait, devenait plus aigre, plus sombre, plus taquin. Indulgent pendant la journée, il était impitoyable le soir; - et ce n’était pas seulement sur autrui, mais sur lui-même que s’exerçait abondamment sa manie crépusculaire. Le premier est mort fou, incapable de reconnaître sa maîtresse et son fils; le second porte en lui l’inquiétude d’une insatisfaction perpétuelle. L’ombre qui fait la lumière dans mon esprit fait la nuit dans le leur. Die Reaktionen des verrückten und des unzufriedenen Freundes widersprechen nur vordergründig der Reaktion des Ichs auf die Abenddämmerung, denn sie sind ebenfalls Steigerungen der jeweiligen Persönlichkeit und als solche Anzei‐ chen und Bestandteil eines seelischen Ausnahmezustandes 278 . Nur beim Dichter I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 100 279 Vgl. Le Poème du hachisch, S. 402 über den „état exceptionnel“: „un miroir magiqe où l’homme est invité à se voir en beau, c’est-à-dire tel qu’il devrait et pourrait être; une espèce d’excitation angélique, un rappel à l’ordre sous une forme complimenteuse.“ 280 Siehe zur Auseinandersetzung Baudelaires mit den zeitgenössischen Schriften des Psy‐ chiaters und Neuropathologen J. Moreau de Tours die Darlegungen von R. Warning, „Baudelaire und der Wahnsinn der Dichter. Zum Prosagedicht Le Crépuscule du soir“, in: Sprachlicher Alltag. Linguistik - Rhetorik - Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel, hrsg. von A. Sabban und Ch. Schmitt, Tübingen 1994, S. 591-610. Über Baudelaires Beziehungen zu Moreau de Tours und zur ‚Drogenszene‘ siehe Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 1359 f. 281 Auch hier zitiere ich die erste Version (Pichois, „Notes“, S. 1329). ist dieser Zustand eine „excitation angélique“ 279 , in den beiden anderen Fällen ist er die Nachtseite des jeweiligen Charakters, darunter der Wahnsinn 280 . Derart unterschiedliche Wirkungen ein und derselben Ursache beschäftigen und er‐ staunen, wie es im letzten Satz heißt, das dichterische Ich immer von neuem: - Et, bien qu’il ne soit pas rare de voir la même cause engendrer deux effets contraires, cela m’intrigue et m’étonne toujours. Der zweite Prosatext, La Solitude, reflektiert über die Wirkung der Einsamkeit, wobei er sich formal als Fortsetzung des ersten gibt, denn er nimmt eine Be‐ merkung des unzufriedenen Freundes auf: La Solitude  281 Il me disait aussi, - le second, - que la solitude était mauvaise pour l’homme, et il me citait, je crois, des paroles des Pères de l’Église. Il est vrai que l’esprit de meurtre et de lubricité s’enflamme merveilleusement dans les solitudes; le démon fréquente les lieux arides. Mais cette séduisante solitude n’est dangereuse que pour ces âmes oisives et diva‐ gantes qui ne sont pas gouvernées par une importante pensée active. Elle ne fut pas mauvaise pour Robinson Crusoe; elle le rendit religieux, brave, industrieux; elle le purifia, elle lui enseigna jusqu’où peut aller la force de l’individu. N’est-ce pas La Bruyère qui a dit: „Ce grand malheur de ne pouvoir être seul? …“ Il en serait donc de la solitude comme du crépuscule; elle est bonne et elle est mauvaise, criminelle et salutaire, incendiaire et calmante, selon qu’on en use, et selon qu’on a usé de la vie. Auch hier ist der Gegenstand nach dem Kontrastschema abgehandelt. Allerdings werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Menschen in der Einsam‐ keit nicht unmittelbar einander gegenübergestellt, sondern in Form von Argu‐ menten für und wider sie, die der Dichter in einem Selbstgespräch gegenei‐ nander abwägt. Der Meinung des Freundes, der, gestützt auf die Kirchenväter, 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 101 282 Meine Hervorhebung. Zur verbreiteten „horreur de la solitude“ und Suche nach Pro‐ miskuität einerseits und der „Prostitution“ des Künstlers bzw. Dichters andererseits siehe oben, S. 62 f. behauptet, die Einsamkeit sei eine Versuchung und schlecht für den Menschen, begegnet er bald mit Ironie („Il est vrai que l’esprit de meurtre et de lubricité s’enflamme merveilleusement dans les solitudes; “ „cette séduisante solitude“), bald mit dem ernsthaften Argument, für eine „importante pensée active“ - hier ist vor allem an den Dichter zu denken - sei die Einsamkeit nicht gefährlich. Aber auch Robinson Crusoe, einem Vertreter der „vita activa“, der sich unfrei‐ willig in der Einsamkeit wiedergefunden hat, habe sie nicht geschadet, sie habe ihn vielmehr fleißig, tüchtig und gottesfürchtig gemacht. Nach einem weiteren Autoritätenzitat, diesmal dem Moralisten La Bruyère entnommen, kommt er zu dem Schluß, die Einsamkeit sei - wie die Dämmerung - ambivalent, und ihre Wirkung hänge vom Einzelnen sowie vom Gebrauch ab, den er in seinem Leben von ihr gemacht habe: „selon qu’on en use, et selon qu’on a usé de la vie“ - also vom jeweiligen Charakter und seinen Lebensumständen. Darauf folgt noch eine Anmerkung zur „jouissance“ der Einsamkeit. Die schönsten rauschhaften „agapes fraternelles“ und „magnifiques réunions d’hommes électrisés par un plaisir commun“, heißt es, reichten nicht an die „jouissance“ der Einsamkeit in einer sublimen Landschaft heran: Quant à la jouissance - les plus belles agapes fraternelles, les plus magnifiques ré‐ unions d’hommes électrisés par un plaisir commun n’en donneront jamais de com‐ parable à celle qu’éprouve le solitaire, qui, d’un coup d’œil, a embrassé et compris toute la sublimité d’un paysage. Ce coup d’œil lui a conquis une propriété individuelle inaliénable. Zwar wird hier das Erlebnis der Einsamkeit in einer sublimen Landschaft als ein unverwechselbares persönliches Erlebnis gerühmt, doch ist daraus kein Vorrang des Naturerlebnisses vor dem der Großstadt abzuleiten, denn der „poète actif et fécond“ kann, wie es wenig später in Les Foules heißen wird, auch in einer ge‐ schäftigen Menschenmenge „allein“ sein, auch dann, wenn er sich in einer „sainte prostitution de l’âme“ in Andere hineinversetzt 282 und daraus „jouis‐ sances fiévreuses“ gewinnt. Bei dem Aufenthalt in der Menge kommt es also wie bei der Einsamkeit letztlich darauf an, welchen Gebrauch man davon macht. In dem überraschenden Vergleich beider wird aber bereits Baudelaires Wissen um das ekstatische Aufgehen in den Vielen erkennbar, das beim Erlebnis der Men‐ schenmenge in Betracht gezogen werden muss. In den Prosastücken geht es also um die poetische Gleichwertigkeit von Natur und Großstadt. Le Crépuscule du soir legt nach der Erkenntnis, dass ein und I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 102 283 Leakey kommentiert das als „a brief paragraph which specifically assimilates (rather than distinguishes) sylvan and urban milieux“ (Baudelaire and Nature, S. 161; Hervor‐ hebungen im Text). 284 Zur späteren Überarbeitung der Gedichte siehe unten, S. 210 ff. 285 Salon de 1859, S. 666 (Kapitel „Le Paysage“). dieselbe Ursache zwei ganz verschiedene Wirkungen haben kann, die komple‐ mentäre Folgerung nahe, dass auch zwei ganz unterschiedliche Ursachen - Natur und Großstadt - ein und dieselbe Wirkung hervorbringen können, in diesem Fall den dichterischen Enthusiasmus, wozu sich das Ich bereits eingangs bekannt hatte: „une fête intérieure […] [d]ans les bois comme dans les rues d’une grande ville“ 283 . La Solitude widerspricht den Gefahren, die dem Einzelnen in der Einsamkeit der Natur drohen, mit dem Argument der „importante pensée ac‐ tive“, die gemäß Les Foules den Dichter und sein Verhalten in der Menschen‐ menge auszeichnet. Zudem zeigen die Prosagedichte neue thematische Mög‐ lichkeiten auf wie die verschiedenen Formen menschlichen Wahns, die in der Großstadt begegnen, oder die Implikationen der Einsamkeit. Ihr Denkansatz ist moralistischer Art und moralistisch ist auch die Darstellungsweise wie der Ge‐ sprächsmodus, das Zitieren moralistischer Autoritäten oder der Versuch, sich den Dingen auf dem Wege der Negation anzunähern. Die Gesprächssituation und die ironische, mit Zitaten durchsetzte Argumentation von La Solitude er‐ innern zudem ebenso wie die ambivalente Wertung des Gegenstands an die Soirées de Saint-Pétersbourg. Auch in den Prosagedichten ist Baudelaire also auf der Suche nach einem Konzept der Großstadtdichtung, wobei er jedoch andere Wege als in der Verslyrik geht und schließlich auch zu einem anderen Ergebnis kommt 284 . c) Paysage Im Salon de 1859 bedauert Baudelaire das Fehlen eines Genres der „paysages des grandes villes“, das die Pracht und die Schönheiten einer großen Ansammlung von Menschen und Gebäuden und den Charme einer altehrwürdigen Stadt zeige: Ce n’est pas seulement les peintures de marine qui font défaut, un genre pourtant si poétique! […] mais aussi un genre que j’appellerais volontiers le paysage des grandes villes, c’est-à-dire la collection des grandeurs et des beautés qui résultent d’une puis‐ sante agglomération d’hommes et de monuments, le charme profond et compliqué d’une capitale âgée et vieillie dans les gloires et les tribulations de la vie. 285 Solche gemalten Stadtlandschaften sollten „poetisch“ sein wie die Seestücke und wie die Landschaftsmalerei überhaupt, die diese Forderung aber leider nur selten 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 103 286 Siehe oben, S. 50 f. 287 Die Vorstellung der Stadtlandschaft begegnet in diesen Jahren mehrfach bei ihm: Cor‐ respondance, Bd. 1, S. 507 (Brief vom 14. Juni 1858: „le paysage parisien“); Le Peintre de la vie moderne, S. 692 („les paysages de la grande ville“); Peintres et aquafortistes (1862), in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 741 (Wiederholung des Méryon-Zitates). 288 Den Titel „Un Paysage parisien“ trägt das vierte Kapitel des ersten Teils von Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes, das freilich einen wesentlich erdennäheren Blick auf die „Pariser Landschaft“ wirft als Baudelaire (und Méryon). erfülle, weil sie sich auf die reine Abbildung der Natur beschränke und es an Phantasie fehlen lasse. Als vorbildlich für das fehlende Stadt-Genre empfiehlt Baudelaire die Paris-Stiche von Méryon, die mit ihren majestätischen Stein‐ massen, den in den Himmel weisenden Kirchtürmen und den rauchenden Obe‐ lisken der Industrie, mit der paradoxen Schönheit der Baugerüste und dem dräuenden Himmel darüber, dazu mit der Vielfalt und Tiefe ihrer Perspektiven, deren Eindruck durch die Vorstellung der menschlichen „drames“, die sich in ihnen abspielen, noch gesteigert werde, alles versammelten, was zum „doulou‐ reux et glorieux décor de la civilisation“ beitrage 286 . Schon zwei Jahre vor dieser Äußerung war Baudelaire selbst mit einer poe‐ tischen Stadtlandschaft hervorgetreten 287 . Am 15. November 1857 hatte er in der Zeitschrift Le Présent ein Gedicht mit dem Titel Paysage parisien 288 veröffentlicht, das 1861 in die Fleurs du mal aufgenommen wurde, wo es seither unter dem verkürzten Titel Paysage die neugeschaffene Abteilung der Tableaux parisiens eröffnet: Paysage Je veux, pour composer chastement mes églogues, Coucher auprès du ciel, comme les astrologues, Et, voisin des clochers, écouter en rêvant Leurs hymnes solennels emportés par le vent. Les deux mains au menton, du haut de ma mansarde, Je verrai l’atelier qui chante et qui bavarde; Les tuyaux, les clochers, ces mâts de la cité, Et les grands ciels qui font rêver d’éternité. Il est doux, à travers les brumes, de voir naître L’étoile dans l’azur, la lampe à la fenêtre, Les fleuves de charbon monter au firmament Et la lune verser son pâle enchantement. Je verrai les printemps, les étés, les automnes; Et quand viendra l’hiver aux neiges monotones, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 104 289 Les Fleurs du mal LXXXVI (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 82). 290 Die Mansarde und die Straße sind nach Citron die beiden bevorzugten Standorte des Dichters Baudelaire in Paris (La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 361 ff.). Für den Blick über die Dächer in Paysage siehe eine ähnliche Szene in Balzacs La Peau de chagrin (Citron, Bd. 2, S. 194). 291 Die Landschaft in den Fleurs du mal, S. 29. Je fermerai partout portières et volets Pour bâtir dans la nuit mes féeriques palais. Alors je rêverai des horizons bleuâtres, des jardins, des jets d’eau pleurant dans les albâtres, Des baisers, des oiseaux chantant soir et matin, et tout ce que l’Idylle a de plus enfantin. L’Émeute, tempêtant vainement à ma vitre, Ne fera pas lever mon front de mon pupitre; Car je serai plongé dans cette volupté, D’évoquer le Printemps avec ma volonté, De tirer un soleil de mon cœur, et de faire De mes pensers brûlants une tiède atmosphère. 289 Das Ich beginnt mit der provozierenden Ansage, es wolle Eklogen dichten („Je veux […] composer chastement mes églogues …“), die es kurz darauf wiederholt („Alors je rêverai […] / […] tout ce que l’Idylle a de plus enfantin“, V. 17. 20). Die antike Idylle oder Ekloge war die Dichtung vom Hirtenleben in einer ideali‐ sierten friedlichen Natur, das im Kontrast zum Leben in der Stadt stand und dessen imaginärer paradiesischer Ort die Landschaft Arkadien war, also der denkbar größte Widerspruch zu einer modernen Großstadt. Nach seinem vor‐ sichtigen Versuch in Le Crépuscule du matin, sich für seine Stadtdichtung die nationale bukolisch geprägte Dichtung zunutze zu machen, wagt Baudelaire hier den mutigen Schritt, sie direkt an die abendländische Tradition anzuschließen. Für diesen Zweck postiert sich das Ich hoch über der Stadt am Fenster seiner Mansarde 290 , nahe dem Himmel und dem vom Wind herbeigetragenen Klang der Glocken, von wo es einen weiten Blick über die Stadt mit ihren Türmen, Schornsteinen und der Vielfalt ihres geschäftigen Treibens hat. Es kann den aufsteigenden Abendstern sehen, Lampen, die angezündet werden, rauchende Kamine und den Mond, der alles in sein bleiches Licht taucht, kurz es sieht ein friedlich-freundliches Bild der Stadt, das es gern auf sich wirken lässt („Il est doux …“, V. 9). Gerhard Hess hat in diesem Bild „nicht die reale umgebende Welt der Groß‐ stadt“, sondern eine „Landschaft der Idylle“ erkannt 291 , was richtig und falsch zugleich ist. Richtig ist es, weil Paysage (parisien) in der Tat die Stadt nicht zeigt - 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 105 292 S. 660 ff. Oder, in einem einzigen Satz: „Oui, l’imagination fait le paysage.“ (S. 665) 293 Salon de 1859, S. 666. 294 Jede künstlerische Darstellung der Wirklichkeit verlangt eine Verwandlung, um nicht „banal“ zu sein. Hess hat diesen Gedanken Baudelaires anderweit sehr einsichtig dar‐ gelegt (Die Landschaft in Baudelaires Fleurs du mal, S. 37 ff.). 295 Ebd., S. 29. und nach Baudelaires Absicht auch nicht zeigen soll -, wie sie ist, sondern so, wie sie von einem Betrachter empfunden wird: Si tel assemblage d’arbres, de montagnes, d’eaux et de maisons, que nous appelons un paysage, est beau, ce n’est pas par lui-même, mais par moi, par ma grâce propre, par l’idée ou le sentiment que j’y attache. So hieß es zu Beginn des Kapitels „Le Paysage“ im Salon de 1859, das die „école moderne des paysagistes“ mit ihrer genauen Abbildung der Natur verurteilte 292 . Die Vorstellung, die das Ich von Paysage mit dem Anblick der Dächer von Paris verbindet bzw. verbinden will, wie es der erste Vers ankündigt, ist aber eine „idyllische“, und so stellt es die alltäglichen Vorkommnisse in und um die Stadt poetisch überhöht dar: Das Glockengeläut wird zu „Hymnen“, das Blau des Himmels zum „Azur“, die aufsteigenden schwarzen Rauchfahnen sind „fleuves de charbon“ und es fehlen weder der Abendstern noch der bleiche Mond und der wohnliche Schein einer Lampe am Fenster. Nicht alle diese Dinge sind im engeren Sinne „idyllisch“, manche sind es nur in einem übertragenen, weiteren Sinne. Die wahrgenommenen menschlichen Aktivitäten der Stadt - „l’atelier qui chante et qui bavarde“ - sind jedoch eindeutig als „bukolisch“ dargestellt, denn Singen und Schwatzen bzw. Streiten sind die vorrangigen Tätigkeiten der Hirten in Vergils Eklogen. Das Ergebnis der Verwandlung, der das Ich die reale Stadtansicht unterzieht, ist die poetische Darstellung der „solennité naturelle d’une ville immense“, die Baudelaire an den Stichen Méryons gerühmt hat 293 . Hess lässt bei seinem Urteil außer Acht, dass es die künstlerische Darstellung einer (Stadt-)Landschaft ohne eine solche oder ähnliche Verwandlung gar nicht geben kann 294 . Auch die Darstellung der vermeintlich wirklichen „erregte[n], grauenvolle[n] und verhasste[n] Umwelt“ 295 wäre eine Verwandlung, nur im entgegengesetzten Sinn. Statt einer solchen macht das Ich von Paysage der Großstadt und ihrem Anblick jedoch eine Art poetischer Liebeserklärung, die zudem verstärkt wird durch den Vergleich der Schornsteine und Kirchtürme mit Schiffsmasten (V. 7). Dieser Vergleich weist zwar in eine andere als die bukoli‐ sche Richtung, hat aber wieder mit Baudelaires kunstkritischen Beobachtungen zu tun, da er die Stadtlandschaft in die Nähe einer „marine“, des zweiten im Salon de 1859 vermissten „poetischen“ Genres, rückt. Zudem lag der Schiffsver‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 106 296 Dazu Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 995. In Les Fenêtres werden die Dächer von Paris wohl in derselben Bildvorstellung zu metaphorischen „Wogen“: „Par-delà des vagues de toits, j’aperçois […]“ (Le Spleen de Paris XXXV, S. 339). 297 Für die Ausmalung dieser Idylle zitieren Jacques Crépet und Georges Blin in ihrer kri‐ tischen Ausgabe der Fleurs du mal, Paris 1950 ( 1 1942), S. 443, als Inspirationsquelle die Églogue aus den Bergeries von Racan; gleiches tut Adam, „Notes“, S. 376, Anm. 6. Kritisch dazu Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 995 f. Zum Motiv des Winters als der glücklichen Jah‐ reszeit für einen „homme de rêverie et de méditation“ siehe Un Mangeur d’opium, S. 475, bzw. De Quincey, Confessions of an English Opium-Eater, S. 206: „This [let it be winter] is a most important point in the science of happiness.“ gleich in diesem Fall nahe, weil das Stadtwappen von Paris bekanntlich ein Schiff zeigt 296 . Dass das Ich von Paysage sich in einem enthusiastischen Zustand befindet, zeigt sich zudem daran, dass die „profondeur des perspectives“ ihm die „pro‐ fondeur du temps“ eröffnet, denn es träumt von der Ewigkeit (V. 8) und sieht gleichermaßen die hereinbrechende Nacht (V. 9 ff.) und den Wechsel der Jah‐ reszeiten vor sich (V. 13), und am Ende stellt es sich vor, wie es sich im Winter, wenn die Stadt mit ihren „neiges monotones“ dem Auge nichts mehr zu bieten hat, im warmen Zimmer einschließen wird, um verstärkt die Kraft seiner Phan‐ tasie einzusetzen und ein künstliches Paradies zu erschaffen. Die Welt, die es dann phantasieren wird, wird eine wahrhaft idyllische sein, mit feenhaften Pa‐ lästen, blauen Horizonten, Gärten und Wasserspielen, singenden Vögeln, Küssen und „tout ce que l’Idylle a de plus enfantin“ 297 . Ein ähnliches Paradies idyllischer „amours enfantines“ hatte Baudelaire schon in Moesta et errabunda entworfen: Comme vous êtes loin, paradis parfumé, Où sous un clair azur tout n’est qu’amour et joie, Où tout ce que l’on aime est digne d’être aimé, Où dans la volupté pure le cœur se noie! Comme vous êtes loin, paradis parfumé! Mais le vert paradis des amours enfantines, Les courses, les chansons, les baisers, les bouquets, Les violons vibrant derrière les collines, Avec les brocs de vin, le soir, dans les bosquets, - Mais le vert paradis des amours enfantines, 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 107 298 Les Fleurs du mal, LXII, Str. 4 ff. (Bd. 1, S. 63 f.). Moesta et errabunda wurde erstmals in der Revue des Deux Mondes vom 1. Juni 1855 veröffentlicht. Das Bild der Stadt ist darin (Str. 1) übrigens noch ein anderes als in Paysage: Dis-moi, ton cœur parfois s’envole-t-il, Agathe, Loin du noir océan de l’immonde cité, Vers un autre océan où la splendeur éclate, Bleu, clair, profond, ainsi que la virginité? Dis-moi, ton cœur parfois s’envole-t-il, Agathe? 299 Œuvres complètes, Bd. 1, S. 994. 300 Baudelaire and Nature, S. 17. 301 Text nach Pichois, „Notes“, S. 994. L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs, Est-il déjà plus loin que l’Inde et que la Chine? 298 In Paysage jedoch bringt die Phantasie durch die „idyllische“ Verwandlung eine künstliche Gegenwelt zur Monotonie der winterlichen Stadt hervor, und damit wird klar, dass „mes églogues“ im ersten Vers sich auf die poetisch notwendige Verwandlung der realen Stadt bezieht und nicht im Sinne eines kontrastiven, gegen deren „laideurs“ gerichteten Genres verstanden werden soll. Die Wen‐ dung „mes églogues“ ist vielmehr eine poetologische Metapher für den Willen des Dichters, mit diesem Gedicht - und mit denen, die ihm folgen werden - der Phantasie im Rahmen der Großstadt einen poetischen Freiraum zu schaffen. Entstehungszeit und Deutung des Gedichts sind umstritten. Pichois hat die Auffassung vertreten, die hier zum Ausdruck kommende Einstellung sei die eines „homme ‚dépolitiqué‘“ und spiegele die Enttäuschung Baudelaires nach dem Staatsstreich von 1851 wider 299 . Leakey nimmt die Wendung „mes églogues“ wörtlich und vermutet dahinter den Plan zu einer umfangreichen „series of gently idyllic ‚eclogues‘“ 300 . Der eine setzt die Entstehung des Gedichts Anfang der 50er Jahre an, der andere rückt sie in die frühen oder späten 40er. Einen weiteren Anhaltspunkt für die Datierung hat man in den abweichenden Schluss‐ versen der ersten Fassung gesucht, wo das Ich von seiner Bereitschaft spricht, Verse für einen jugendlichen Toten dichten zu wollen: Et l’émeute aura beau tempêter à ma vitre, Je ne lèverai pas le front de mon pupitre. Et ne bougerai plus de l’antique fauteuil, Où je veux composer pour un jeune cercueil (Il faut charmer nos morts dans leurs noires retraites) De doux vers tout fumants comme des cassolettes. (V. 21-26) 301 I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 108 302 Zu verschiedenen Todesfällen in Baudelaires Umfeld, die gemeint sein könnten, siehe Pichois, ebd., Anm. 1; Adam, „Notes“, S. 377. 303 Siehe in der fünften Ekloge Vergils die Klage um den toten Hirtenheros Daphnis, nach dem Vorbild der ersten Ekloge des Theokrit. 304 Das schließt zusätzliche literarische Anregungen etwa durch ein Sonett Maynards mit dem Titel Épitaphe pour un enfant, von dem Baudelaire eine Kopie angefertigt hat, oder durch das Gedicht Les Joujoux de la morte von Gautier nicht aus (Pichois, „Notes“, S. 995). Zum Gedicht Gautiers siehe auch unten, S. 137, Anm. 129.# 305 Die Empathie des Dichters mit den leidenden Menschen scheint dabei zurückge‐ nommen, dürfte für Baudelaire aber in der auffälligen Wendung „composer chaste‐ ment“ noch gegenwärtig sein. „Chaste“ ist die Hingabe des Dichters und aller, die ähn‐ liche Begegnungen wie dieser mit dem Anderen und der Menge haben: „[…] au sein de la vaste famille que leur génie s’est faite, ils doivent rire quelquefois de ceux qui les plaignent pour leur fortune si agitée et pour leur vie si chaste.“ (Les Foules, S. 292; meine Hervorhebung.) Über die Identität dieses „jeune cercueil“ ist viel spekuliert worden, allerdings mit widersprüchlichem und unsicherem Ergebnis 302 , und es muss für das Motiv auch nicht unbedingt einen Anlaß im biographischen Umfeld Baudelaires ge‐ geben haben. Im Rahmen des poetischen Großstadterlebnisses kann es sich dabei ganz allgemein um das menschliche „drame“ oder „malheur“ handeln, in dem - wie etwa in den Méryon-Stichen, in Le Crépuscule du soir und in Les Fenêtres - für Baudelaire die Schönheit der Stadt ihre Vollendung fand, und die besondere Artikulation des „malheur“ als Klage um einen teuren Toten kann aus der Idylle bzw. der Ekloge stammen, in der solche Klagen seit der Antike ihre Tradition hatten 303 . Baudelaire hätte dann im Zuge seiner Überlegungen zur Po‐ etisierung der Großstadt, in diesem Fall der Analogie von Großstadtdichtung und Idylle, die „lamentations humaines“, die sich ihm, wie im Brief an Desnoyers zu lesen ist, noch in der größten Natureinsamkeit aufdrängten, zunächst in die genretypische Form der Klage über einen „(jeune) cerceuil“ gebracht, und zwar ganz allgemein und ohne konkreten biographischen Anlass 304 . Als dann jedoch 1861 sein Konzept des Großstadterlebnisses ausgereift und bereits in mehreren Gedichten erprobt war, wobei auch der menschliche Aspekt seine Berücksich‐ tigung gefunden hatte, muss ihm das bukolische Motiv des „jeune cerceuil“ als zu literarisch erschienen sein, und er zog es nunmehr vor, stattdessen die Kraft der dichterischen Phantasie herauszustellen 305 . Deshalb lässt er das Ich in der endgültigen Fassung voller Inbrunst den Frühling heraufbeschwören und die „volupté“ dieses konstruktiven Phantasieaktes betonen: 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 109 306 Adam, „Notes“, S. 375, verweist auf einen Stich, den Meryon von dieser Figur angefertigt hat, bezweifelt aber, dass Baudelaire diesen vor Augen hatte. Pichois hält die Ähnlichkeit hingegen für zufällig („ressemblance […] sans doute fortuite“, „Notes“, S. 995). 307 Für ein solches prägnantes Verständnis von „voisin des clochers“ spricht zum einen die Tatsache, dass die Kirchtürme im Gedicht ein weiteres Mal als Bestandteil des Stadt‐ panoramas Erwähnung finden (V. 7), zum anderen, dass ihr Geläute vom Wind „davongetragen“ wird („Leurs hymnes solennels emportés par le vent“, V. 4). 308 Mehnert, Melancholie und Inspiration, S. 214 mit Anm. 60. Car je serai plongé dans cette volupté, D’évoquer le Printemps avec ma volonté, De tirer un soleil de mon cœur, et de faire De mes pensers brûlants une tiède atmosphère. (V. 23 ff.) Der Höhenflug, zu dem die poetische Phantasie sich hier aufschwingt, rückt die Entstehung von Paysage unübersehbar in die Nähe des Salon de 1859, in dem Baudelaire die Phantasie als höchste menschliche Fähigkeit gefeiert hat, und dies hat für die Datierung und Bedeutung des Gedichts mehr Aussagekraft als die biographischen Spekulationen über den „jeune cercueil“. Noch eine weitere Aussage zum Bild des phantasierenden Dichters ist in Paysage bemerkenswert. Im fünften Vers präsentiert sich das Ich mit den Händen am Kinn in einer Haltung, die an das „Stryge“ genannte geflügelte und gehörnte, teufelsähnliche Fabelwesen hat denken lassen, das mit dieser Gebärde von der Galerie des Südturms von Notre-Dame auf die Stadt Paris hinab‐ schaut 306 . Diese und die anderen Grotesken, mit denen Viollet-le-Duc seit der Mitte der 40er Jahre die Fassade der Kathedrale verziert hat, dürften Baudelaires Aufmerksamkeit kaum entgangen sein, und da sie auf der Galérie des Chimères in unmittelbarer Nachbarschaft der Türme standen, könnte die „Stryge“ durchaus sowohl die Haltung als auch die Positionierung („voisin des clochers“, V. 3) des lyrischen Ichs angeregt haben 307 . Dessen Haltung ist von Mehnert als Variante der klassischen Melancholikerhaltung - mit einer Hand am Kinn - gedeutet worden 308 , was ebenfalls eine nicht auszuschließende Konnotation ist. In jedem Fall scheint der Haltung des Ichs in Paysage eine besondere Bedeutung zuzukommen, umso mehr als Baudelaire in anderen Fällen des Blicks aus einem Mansardenfenster über die Stadt (Les Fenêtres, Recueillement) keine vergleich‐ bare Bemerkung gemacht hat. Nimmt man die beiden Hinweise zusammen - und solche Verschränkungen vielfältiger poetischer Assoziationen liebte Bau‐ delaire -, dann wird hinter der vermeintlich harmlosen Haltung und Positio‐ nierung des Ichs seine vertraute melancholisch-satanische Dichterpose er‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 110 309 Correspondance, Bd. 1, S. 582, „À Jean Morel“. 310 Correspondance, Bd. 1, S. 583. kennbar, die noch in der idyllischen Stadtverwandlung von Paysage präsent bleibt. Paysage ist, wie schon aus den Absichtserklärungen („Je veux“, „Je verrai“) zu erkennen, Baudelaires erste explizite Poetik seiner neuen Dichtung der Groß‐ stadt, in der er sich noch darauf beschränkt zu zeigen, wie mit Hilfe der schöp‐ ferischen Phantasie auch die Großstadt in einen poetischen Gegenstand ver‐ wandelt werden kann. Auffällig ist dabei sein Bestreben, der Großstadtdichtung durch Anschluss an die literarische Tradition Dignität zu verleihen, indem er sie hier als eine doppelte ‚translatio poesiae‘ aus der Antike in die Moderne und von der Natur in die Großstadt propagiert. In Les Foules wird er sie dann an Rousseau und die neuzeitliche Einsamkeitslyrik anschließen. Das neue Dich‐ tungskonzept wird mit dem Attribut „parisien“ angezeigt, das zuerst 1857 in dem ursprünglichen Titel von Paysage erscheint, bevor es gut drei Jahre später im Namen der gesamten Abteilung „Tableaux parisiens“ wiederkehrt und dafür in Paysage getilgt ist. Noch vor dieser Namensgebung findet man es in der Ver‐ bindung Fantômes parisiens als Überschrift zweier Gedichte, die sich den Men‐ schen der Großstadt und der „pensée de tous les drames“ widmen, die sich in ihr abspielen, und die eine weitere Etappe auf Baudelaires Weg zur Großstadt‐ dichtung markieren. d) Fantômes parisiens Fantômes parisiens ist, einem Brief Baudelaires von Ende Mai / Anfang Juni 1859 zufolge 309 , der Titel eines Gedichts, das seit der zweiten Auflage der Fleurs du mal als Les Sept Vieillards bekannt ist. Im September desselben Jahres wird es unter seinem neuen Titel zusammen mit Les Petites Vieilles in der Revue con‐ temporaine veröffentlicht, und Fantômes parisiens ist jetzt gemeinsamer Ober‐ titel für beide Gedichte, jeweils mit dem Zusatz I bzw. II . In dem genannten Begleitbrief an Jean Morel, den Direktor der Revue française, in welcher der Abdruck zunächst geplant war, hat Baudelaire von dem älteren Gedicht als von „le premier numéro d’une nouvelle série que je veux tenter“ gesprochen 310 . Zu dieser angekündigten „Serie“ rechnet man üblicherweise noch Les Petites Vieilles und das etwa zur gleichen Zeit entstandene Le Cygne, also insgesamt drei Ge‐ dichte, die auch in den Fleurs du mal eine Gruppe bilden (Nr. LXXXIX - XCI ), wenn auch in veränderter Reihenfolge, da Le Cygne dort den beiden Fan‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 111 tômes-Gedichten vorausgeht. Was macht diese Gedichte zu einer „Serie“ und was ist das „Neue“ an ihnen? Les Sept Vieillards Les Sept Vieillards Fourmillante cité, cité pleine de rêves, Où le spectre en plein jour raccroche le passant! Les mystères partout coulent comme des sèves Dans les canaux étroits du colosse puissant. Un matin, cependant que dans la triste rue Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur, Simulaient les deux quais d’une rivière accrue, Et que, décor semblable à l’âme de l’acteur, Un brouillard sale et jaune inondait tout l’espace, Je suivais, roidissant mes nerfs comme un héros Et discutant avec mon âme déjà lasse, Le faubourg secoué par les lourds tombereaux. Tout à coup, un vieillard dont les guenilles jaunes Imitaient la couleur de ce ciel pluvieux, Et dont l’aspect aurait fait pleuvoir les aumônes, Sans la méchanceté qui luisait dans ses yeux, M’apparut. On eût dit sa prunelle trempée Dans le fiel; son regard aiguisait les frimas, Et sa barbe à longs poils, roide comme une épée, Se projetait, pareille à celle d’un Judas. Il n’était pas voûté, mais cassé, son échine Faisant avec sa jambe un parfait angle droit, Si bien que son bâton, parachevant sa mine, Lui donnait la tournure et le pas maladroit D’un quadrupède infirme ou d’un juif à trois pattes. Dans la neige et la boue il allait s’empêtrant, Comme s’il écrasait des morts sous ses savates, Hostile à l’univers plutôt qu’indifférent. Son pareil le suivait: barbe, œil, dos, bâton, loques, Nul trait ne distinguait, du même enfer venu, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 112 311 Les Fleurs du mal XC (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 87 f.). 312 Citron erkennt in diesen Bildern „un véritable centon de Hugo“ (La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 354 f.). 313 Nach Alexandre Brierre de Boismont, einem Zeitgenossen, dessen Schriften Baudelaire geläufig gewesen sein dürften, stellen sich Halluzinationen besonders in der Dunkelheit und bei Nacht ein, können aber auch am Tag auftreten (Des hallucinations ou Histoire raisonnée des apparitions, des visions, des songes, de l’extase, du magnétisme et du som‐ nambulisme, Paris 1845, S. 458). Ce jumeau centenaire, et ces spectres baroques Marchaient du même pas vers un but inconnu. À quel complot infâme étais-je donc en butte, Ou quel méchant hasard ainsi m’humiliait? Car je comptai sept fois, de minute en minute, Ce sinistre vieillard qui se multipliait! Que celui-là qui rit de mon inquiétude, Et qui n’est pas saisi d’un frisson fraternel, Songe bien que malgré tant de décrépitude Ces sept monstres hideux avaient l’air éternel! Aurais-je, sans mourir, contemplé le huitième, Sosie inexorable, ironique et fatal, Dégoûtant Phénix, fils et père de lui-même? - Mais je tournai le dos au cortège infernal. Exaspéré comme un ivrogne qui voit double, Je rentrai, je fermai ma porte, épouvanté, Malade et morfondu, l’esprit fiévreux et trouble, Blessé par le mystère et par l’absurdité. Vainement ma raison voulait prendre la barre; La tempête en jouant déroutait ses efforts, Et mon âme dansait, dansait, vieille gabarre Sans mâts, sur une mer monstrueuse et sans bords! 311 In der riesigen Stadt, die von Menschen und ihren Träumen wimmelt und deren Lebensadern strotzen vom Saft phantasieanregender Geheimnisse 312 , erleidet das Dichter-Ich an einem neblig trüben Tag eine Halluzination 313 . In den Gassen, die es durchwandert, ragen die Häuser im Dunst riesig auf wie die gemauerten Ufer eines angeschwollenen Flusses. Die menschenleere Vorstadt wird nur vom Lärm der schweren Lastkarren erschüttert, und über allem liegt ein schmutzig gelber Nebel, der ein Abbild des inneren Zustands des Ichs ist, das unter hel‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 113 314 Siehe oben, S. 49. 315 Siehe zum Folgenden Mehnert, Melancholie und Inspiration, S. 25 ff. („Die Verkörperung dichterischer Kreativität im ‚homme sensible moderne‘“). 316 Mehnert, S. 26, zitiert hierzu die Beschreibung der Temperamente bei Brierre de Bois‐ mont, Du Suicide et de la folie-suicide, considérés dans leurs rapports avec la statistique, la médecine et la philosophie, Paris 1856, S. 10: „L’organisation, telle est, en effet, la pre‐ mière impulsion à laquelle obéit l’homme; vif, impressionable, irritable ou flegmatique, selon que le tempérament est sanguin, nerveux, bilieux ou lymphatique, il se modifie avec le mélange de ces divers éléments, ou, pour parler plus exactement, d’après la prédominance de tel ou tel système d’organe.“ Zur Temperamentenlehre und zum Be‐ griff des Melancholikers siehe W. Müri, „Melancholie und schwarze Galle“, Museum Helveticum Bd. 10 / 1953, S. 21-38; Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art. 317 Vergleichbar sind die „nerfs trop tendus“ in Le Confiteor de l’artiste. denhafter Anspannung seiner Nerven mit seiner schon ermatteten Seele ringt. Dieser Vergleich der dichterischen Stimmungslage mit den äußeren meteorolo‐ gischen Gegebenheiten wird verständlicher, wenn man Baudelaires Selbstin‐ szenierung als Dichter heranzieht, die auf einer erweiterten Lehre von den Temperamenten gründet. Wie bereits gesehen, hat der „homme sensible moderne“, Baudelaires idealer Charakter für poetische Erfahrungen, ein „tempérament moitié nerveux, moitié bilieux“ 314 . In dieser Formulierung ist der althergebrachte, der Humorallehre entstammende Begriff „mélancolique“ oder „schwarzgallig“, mit dem seit der Antike das Genie und bevorzugt der Dichter charakterisiert wurde, durch den neuen Begriff „nerveux“ ersetzt, der die Vibrationen von Nervenfibern an in‐ neren Organen bezeichnet, die über den Sympathicus auf das Gehirn ein‐ wirken 315 . Das melancholisch-nervöse Temperament gilt als leicht beein‐ druckbar („impressionable“), während das (gelb)gallige („bilieux“), das der cholerischen Gemütslage entspricht, leicht erregbar ist („irritable“) 316 . Nach Baudelaires Vorstellung macht eine Mischung aus beiden Temperamenten den idealen Dichter aus. In Les Sept Vieillards weisen die angespannten Nerven des Ichs auf eine melancholisch-nervöse Disposition, wobei es sich möglicherweise bereits um einen überreizten Zustand handelt, weil die Nerven erstarren („roi‐ dissant mes nerfs“) 317 . Auf die Mitbeteiligung des reizbaren gelbgalligen Tem‐ peraments weist hingegen der „brouillard sale et jaune“ des Vergleichs („décor semblable à l’âme de l’acteur“), zumal „jaune“ einige Verse später unter Hinweis auf die atmosphärische Farbe noch einmal wiederholt wird: Tout à coup, un vieillard dont les guenilles jaunes Imitaient la couleur de ce ciel pluvieux, […] I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 114 318 „[…] en consultant les biographies des hommes célèbres qui ont présenté ce singulier phénomène, nous avons reconnu que, dans la plupart des cas, les tempéraments bilieux étaient le type dominant. […] Chez le mélancolique […] tout, dans les actes intellectuels, se dessine et prend une forme arrêtée. Les sentiments, les idées se transforment en véritables sensations externes, aussi distinctes que les objets eux-mêmes; c’est la pensée qui semble se matérialiser, qui s’image, devient un signe représentatif, un son, une odeur, une saveur, une sensation tactile.“ (Des hallucinations, S. 360.) 319 „Les travaux de l’esprit, en surexcitant le cerveau, rendent assez fréquentes les hallu‐ cinations.“ (Des hallucinations, S. 47; weiteres S. 50.) 320 Müri, S. 27 ff. 31; Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn and Melancholy, S. 8 ff. 321 Les Fleurs du mal LXXVIII, V. 9 f. Zum Verhältnis von Temperament und der hier einsetzenden Halluzination findet man bei Brierre de Boismont die Feststellung, dass unter berühmten Männern, die Halluzinationen ausgesetzt seien, das (gelb)gallige Temperament der vorherrschende Typ sei, aber auch Melancholiker neigten dazu, ihre Vor‐ stellungen zu materialisieren und zu wahrnehmbaren Gegenständen zu trans‐ formieren 318 . Generell würden Halluzinationen bei geistig Gesunden durch in‐ tellektuelle Überanstrengung sowie durch körperliche Schwächezustände, Genesung nach einer Krankheit und Ähnliches begünstigt 319 . In Les Sept Vieil‐ lards ist nach der Aussage des Ichs die vorgegebene Neigung des Temperaments durch eine Überanstrengung der „âme déjà lasse“ verstärkt. Auch der Nebel (V. 6, V. 9) oder der Schnee (V. 26), der die Straßen der Stadt überschwemmt oder bedeckt, lässt sich im Rahmen der Humorallehre verstehen, die schon früh Grundqualitäten (warm, kalt, trocken, feucht), Jahreszeiten, Le‐ bensalter und Anderes in das System der Körperflüssigkeiten einbezogen hat 320 . Wasser und (kalte) Feuchtigkeit wurden dabei dem phlegmatischen Tempera‐ ment zugeordnet, das nach Baudelaire der Inspiration des Dichters abträglich ist. So trägt etwa im vierten Spleen-Gedicht der Regen zur depressiven und un‐ produktiven Stimmung des Dichters bei: Quand la pluie étalant ses immenses traînées D’une vaste prison imite les barreaux, […] 321 In Les Sept Vieillards hat das Gemüt des Ichs die schmutzig-gelbe Farbe des reg‐ nerischen Himmels („le ciel pluvieux“), was wohl bedeutet, dass sein eigentlich feurig-galliges Temperament abgeschwächt ist. Jedenfalls indizieren die humo‐ ralpathologischen Bilder und die direkte Aussage zum Seelenzustand des Dich‐ ters eine aus dem Gleichgewicht geratene Mischung der Körpersäfte und einen ebensolchen Gemütszustand. Damit sind die Voraussetzungen für das Scheitern der Inspiration und das Erlebnis der Halluzination gegeben. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 115 322 „Dans le premier cas […] [l]e malade voit une forme, entend des sons où il n’y en a pas.“ (Le Poème du hachisch, S. 421) Solche Halluzinationen sind nach Baudelaire dem Einfluß des Willens und der willentlich gesteuerten Vorstellungskraft entzogen, ihre Ursachen sind psychophysischer bzw. medizinischer Natur. 323 Ebd. 324 Ein Hinweis auf die frei schaltende Phantasie kann auch das Nebeneinander von „ce ciel pluvieux“ (V. 14) und „la neige et la boue“ auf der Straße (V. 26) sein. 325 „Le plaisir d’être dans les foules est une espression mystérieuse de la jouissance de la multiplication du nombre.“ Siehe dazu oben, S. 54 f. 326 Bis zur dritten Fassung einschließlich hieß es in V. 33: „Aux complots des démons étais-je donc en butte? “ Das Ich sieht plötzlich einen Greis in gelben Lumpen vor sich, armselig an‐ zuschauen, aber mit bösem, stechendem Blick, spitzbärtig und grotesk gebeugt, der voller Hass durch Schnee und Schmutz schlurft. Es bleibt unklar, ob dieses „fantôme“ oder „spectre“ (V. 2) eine „hallucination pure“ ohne Anlass in der Re‐ alität 322 oder eine durch einen „prétexte“ angeregte Halluzination ist, wie Bau‐ delaire sie für den Haschischrausch festgestellt hat: Dans le second cas l’hallucination est progressive, presque volontaire, et elle ne de‐ vient parfaite, elle ne se mûrit que par l’action de l’imagination. Enfin elle a un pré‐ texte. Le son parlera, dira des choses distinctes, mais il y avait un son […] 323 In jedem Fall ist seine Phantasie an der Erscheinung des „monstre hideux“ stark beteiligt 324 , wofür die ausführliche Beschreibung in vier Strophen spricht, die auch zeigt, dass das Ich von der Vorstellung der körperlichen und moralischen Defekte des Greises - von der Bösartigkeit über die ‚Dreibeinigkeit‘ bis zur Vor‐ stellung vom ‚ewigen Juden‘ - zunächst fasziniert ist. Seine Phantasie gibt sich jedoch mit dem einmaligen Bild nicht zufrieden, sondern arbeitet weiter, indem sie die Erscheinung erst verdoppelt und dann noch fünf weitere Male folgen lässt. Die „multiplication“ („Ce sinistre vieillard qui se multipliait! “, V. 36) war in Fusée I als Ursache des „plaisir d’être dans les foules“ erkannt worden 325 , im vorliegenden Falle bringt sie dem Ich aber keinen Zugewinn an Glück, sondern die Vervielfältigung des Schreckens und vor allem die Wiederholung des Im‐ mergleichen, die ein Zeichen für das Versagen der dichterischen Phantasie ist. Daher seine ohnmächtige Frage, wer ihm solches angetan habe (V. 33 326 ) und warum es so gedemütigt werde (V. 34) sowie die Bitte an den Leser um brüder‐ liches Mitgefühl mit seiner anwachsenden Unruhe und Angst angesichts der Möglichkeit, dass die Fantasmagorie sich unendlich fortsetzen könnte: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 116 327 Nach Brierre de Boismont kann das Andauern einer Halluzination den physischen Tod des Betroffenen bewirken: „La persistance des hallucinations […] peut déterminer les acccidents les plus graves, la mort même.“ (Des hallucinations, S. 65.) 328 Zu den erhaltenen Fassungen siehe F. W. Leakey / C. Pichois, „Les Sept Versions des Sept Vieillards“, Études Baudelairiennes Bd. 3, 1973, S. 262-289, bes. S. 273 ff. Dort auch der Hinweis darauf, dass Baudelaire die Bildmetaphorik durch eine Zeichnung unterstri‐ chen hat, die er in der vorletzten Fassung der letzten Strophe dem Text angehängt hat: „ce petit dessin, si robuste et vigoureux, d’un navire battu par les flots“ (S. 276). Ces sept monstres hideux avaient l’air éternel! Aurais-je, sans mourir, contemplé le huitième, Sosie inexorable, ironique et fatal, Dégoûtant Phénix, fils et père de lui-même? (V. 40 ff.) Diese Angst reicht bis zur Todesangst (V. 41) 327 , die hier natürlich primär die Angst vor dem Tod als Dichter ist, so wie ja auch nicht die Vorstellung des abscheulichen Greises an sich den Schrecken erzeugt, sondern erst ihre Ver‐ vielfältigung als Wiederholung des Immergleichen. Von der Bedrohung der dichterischen Phantasie zeugen im Übrigen auch die kargen zwei Strophen, die auf den zweiten Teil der Halluzination und die wiederkehrenden Greise ver‐ wendet werden (V. 29 ff.). In Panik und tief verletzt in seinem Selbstvertrauen flüchtet das Ich nach Hause, doch es kommt nicht gegen den Fiebersturm an, in dem seine Seele vernunft- und steuerlos treibt wie ein alter, abgetakelter Last‐ kahn in einem aufgewühlten Meer, wo kein Land in Sicht ist. An dem abschließ‐ enden Bild vom Fiebersturm hat Baudelaire lange gearbeitet. In der ersten Fas‐ sung war der Fieberanfall klar benannt (meine Hervorhebung): Ma raison vainement réclamait son empire; La fièvre en se jouant abattait ses efforts, […] (V. 49 f.) In der dritten Fassung ist dann aber, nach einem sogleich wieder verworfenen „Le délire“, das endgültige „La tempête“ an die Stelle von „La fièvre“ getreten, zugleich mit der Ersetzung des früheren „l’esprit hagard et trouble“ (V. 47) durch „l’esprit fiévreux et trouble“. Damit ist die medizinische Vorstellung einer Fie‐ berhalluzination zurückgedrängt worden, und mit dem Bild des Schiffes in Seenot beherrscht seitdem die seelische Verstörtheit des Ichs die ganze letzte Strophe 328 . Da aber die Schifffahrt eine bekannte Dichtungsmetapher ist, drückt 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 117 329 Auch die Aussage „Blessé par le mystère et par l’absurdité“ (V. 48) ist prägnant auf eine dichterische Phantasie zu beziehen, die aus ihrer Bahn geraten ist und anders arbeitet als von ihr erwartet wird. Rimbaud wird das Bild des steuerungslos treibenden Schiffes in seinem Bateau ivre aufnehmen und weiterentwickeln. Antoine Adam verweist au‐ ßerdem auf „certaines pages“ aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in denen er die „angoisse hallucinée de l’homme seul“ aus diesem Gedicht wiederkehren sieht („Notes“, S. 382). 330 Correspondance, Bd. 1, S. 583. Der Brief an Jean Morel ist lückenhaft überliefert. dieses Bild die spezifische Verstörtheit eines Dichters aus, der auf einer „mer monstrueuse et sans bords“ kein Land und keinen Hafen vor sich sieht 329 . In seinem Begleitbrief zur ersten Fassung hat Baudelaire einen eher skepti‐ schen Kommentar zu seinem Gedicht gegeben: … lignes soigneusement quand vous donnerez ces vers à l’impression - si vous les donnez - car tout ce que j’en pense est que la peine qu’ils m’ont coûtée ne prouve absolument rien quant à leur qualité; c’est le premier numéro d’une nouvelle série que je veux tenter, et je crains bien d’avoir simplement réussi à dépasser les limites assig‐ nées à la Poésie. 330 Die Skepsis war nicht unbegründet, da in Les Sept Vieillards ersichtlich kein enthusiastischer Aufschwung festgehalten ist, den der Dichter herbeigeführt und mit seiner Phantasie gestaltet hätte, sondern ein vergebliches Mühen und ein Scheitern in der Wiederholung der immer gleichen Wahnvorstellung. So kann das Gedicht auch dem Leser kaum eine enthusiastische Seelenerregung vermitteln, wie es für Baudelaire eigentlich Aufgabe der Dichtung war. Mit der Darstellung einer Halluzination setzt Baudelaire in Les Sept Vieillards die im Vin des chiffonniers begonnene Reihe von Rausch- und Phantasiedarstel‐ lungen in der Großstadt fort und führt alle Vorstellungen, die er bis dahin zum Großstadterlebnis des Dichters entwickelt hatte, zusammen, allerdings in ne‐ gativer Form: Er zeigt nicht den „poète actif et fécond“, sondern einen Dichter mit geschwächter Phantasie, und er lässt die beglückende „multiplication“ der Großstadt sich in eine groteske, beklemmende Vielzahl verwandeln. Das Dichter-Ich kommt nicht zur gewünschten Empathie mit dem Wahrgenom‐ menen, sondern klagt im Gegenteil das Mitgefühl des Lesers für sich selbst ein (V. 37 ff.), und das Erlebnis endet statt mit einer „ribote de vitalité“ (Les Foules) mit dem Schrecken eines verwirrten, kranken Geistes. Auf diese Weise vermit‐ telt das Gedicht ex negativo ein erstes komplettes Bild von Baudelaires poeti‐ schem Großstadtkonzept. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 118 331 Correspondance, Bd. 1, S. 598. Der Brief ist einige Tage (23.? September) nach der ersten Veröffentlichung der Gedichte in der Revue contemporaine (15. September 1859) ge‐ schrieben, bei der sie noch keine Widmung trugen. Die Widmung erschien erstmals anlässlich ihrer Veröffentlichung in L’Artiste (15. Januar 1861). 332 1. Oktober 1859, Correspondance, Bd. 1, S. 604. Les Petites Vieilles Nach der Karikatur von Les Sept Vieillards war der Augenblick für ein positives poetisches Großstadterlebnis gekommen. Ein solches ereignet sich im zweiten Fantômes-Gedicht in der Begegnung des Ichs mit einer Menschengruppe, für die Baudelaire eine besondere Sympathie empfand, nämlich den „petites vieilles“. Man sollte meinen, dass er, als er Les Petites Vieilles verfasste, keiner fremden Anregungen für seine Großstadtdichtung mehr bedurfte, aber in dem Brief, mit dem er Ende September 1859 die beiden Fantômes-Gedichte Victor Hugo widmet, heißt es, dass er diesen im zweiten Gedicht zu imitieren versucht habe: Les vers que je joins à cette lettre se jouaient depuis longtemps dans mon cerveau. Le second morceau a été fait en vue de vous imiter (riez de ma fatuité, j’en ris moi-même) après avoir relu quelques pièces de vos recueils, où une charité si magnifique se mêle à une familiarité si touchante. 331 Wenig später hat er dies in einem Brief an seinen Herausgeber Poulet-Malassis wiederholt, wobei er einen Zusammenhang zwischen seiner Widmung und der gleichzeitig an Hugo gerichteten Bitte hergestellt hat, dieser möge eine Würdi‐ gung seines - Baudelaires - Artikels über Théophile Gautier verfassen: Ce que je lui [à Victor Hugo] ai demandé est un vrai travail. - Il ne peut pas, je crois, me le refuser. Je lui dédie les deux fantômes parisiens, et la vérité est que, dans le deuxième morceau, j’ai essayé d’imiter sa manière. 332 Ob und wie weit der Behauptung einer Imitatio tatsächlich Glauben zu schenken ist, kann eine genauere Betrachtung des Gedichts zeigen. Les Petites Vieilles À Victor Hugo I Dans les plis sinueux des vieilles capitales, Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements, Je guette, obéissant à mes humeurs fatales, Des êtres singuliers, décrépits et charmants. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 119 333 Les Fleurs du mal XCI (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 89 ff.). Ces monstres disloqués furent jadis des femmes, Éponine ou Laïs! Monstres brisés, bossus Ou tordus, aimons-les! Ce sont encor des âmes. Sous des jupons troués et sous des froids tissus Ils rampent, flagellés par les bises iniques, Frémissant au fracas roulant des omnibus, Et serrant sur leur flanc, ainsi que des reliques, Un petit sac brodé de fleurs ou de rébus; Ils trottent, tout pareils à des marionnettes; Se traînent, comme font les animaux blessés, Ou dansent, sans vouloir danser, pauvres sonnettes Où se pend un Démon sans pitié! Tout cassés Qu’ils sont, ils ont des yeux perçants comme une vrille, Luisants comme ces trous où l’eau dort dans la nuit; Ils ont les yeux divins de la petite fille Qui s’étonne et qui rit à tout ce qui reluit. - Avez-vous observé que maints cercueils de vieilles Sont presque aussi petits que celui d’un enfant? La Mort savante met dans ces bières pareilles Un symbole d’un goût bizarre et captivant, Et lorsque j’entrevois un fantôme débile Traversant de Paris le fourmillant tableau, Il me semble toujours que cet être fragile S’en va tout doucement vers un nouveau berceau; À moins que, méditant sur la géométrie, Je ne cherche, à l’aspect de ces membres discords, Combien de fois il faut que l’ouvrier varie La forme de la boîte où l’on met tous ces corps. - Ces yeux sont des puits faits d’un million de larmes, Des creusets qu’un métal refroidi pailleta … Ces yeux mystérieux ont d’invincibles charmes Pour celui que l’austère Infortune allaita! (V. 1-36) 333 I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 120 334 Der Abschrift für Victor Hugo hat Baudelaire zu diesem Vers eine Anmerkung beige‐ fügt: „Le rébus n’est pas de mon invention. Il y a dans le journal de La Mésangère des gravures de mode où le réticule est orné de rébus brodés.“ Ein „réticule“ (oder „ridicule“) ist ein Handtäschchen. Siehe auch Pichois, Bd. 1, S. 1018, Anm. 2. 335 Darauf macht Stierle aufmerksam: „Die Monstrosität des Alters hat die Frauen […] ihrer geschlechtlichen Differenz beraubt.“ (Der Mythos von Paris, S. 826.) 336 Vgl. Le Peintre de la vie moderne, S. 717: „[le] cadre noir [qui cerne l’œil] rend le regard plus profond et plus singulier, donne à l’œil une apparence plus décidée de fenêtre ouverte sur l’infini […]“; Fleurs du mal XLIII (Le Flambeau vivant), V. 9 f.: „Charmants Yeux, vous brillez de la clarté mystique / Qu’ont les cierges brûlant en plein jour […]“. 337 So in Le Flambeau vivant, V. 5 ff.: „Me sauvant de tout piège et de tout péché grave, / Ils conduisent mes pas dans la route du Beau; / Ils sont mes serviteurs et je suis leur esc‐ lave; / Tout mon être obéit à ce vivant flambeau.“ In den verschlungenen Gassen der großen alten Städte, wo selbst der Schrecken zu einer Bezauberung wird, geht das Dichter-Ich den Neigungen nach, die ihm durch seine humorale Komplexion vom Schicksal verhängt worden sind, und sucht, mit den Worten aus Les Foules gesprochen, nach dem „imprévu qui se montre“ und dem „inconnu qui passe“, um sich ihm mit „poésie et charité“ hin‐ zugeben. Diesmal richtet sich seine Aufmerksamkeit auf Frauen, wobei die Aus‐ wahl, die es trifft, wie nicht anders zu erwarten, dem Prinzip des „malheur“, des Elends, folgt. Es erspäht in der Menschenmenge seltsame Wesen, hinfällig und charmant, bucklige, verrenkte Monstren, die, einstmals bewunderte Heldinnen und Huren, jetzt in zerschlissenen Röcken einherschlurfen und vom Straßen‐ lärm verängstigt ihre bestickten kleinen Taschen 334 an sich pressen. Dabei trip‐ peln sie mechanisch wie Marionetten, schleppen sich wie verwundete Tiere oder tanzen wie Glöckchen, die ein Dämon hin und her bewegt. Der Anblick dieser vom Ich wiederholt „monstres“ genannten alten Frauen ist kaum weniger gro‐ tesk als der des Greises in Les Sept Vieillards, versetzt aber, anders als jener, das Ich nicht in Schrecken, sondern fasziniert es. Das geschieht insbesondere auf‐ grund ihrer Augen, die, auch wenn die Frauen im ersten Teil des Gedichts durchgehend mit „ils“ - bezogen auf „monstres“, V. 5 f. - bezeichnet werden, also ihrer Weiblichkeit beraubt scheinen 335 , doch die Augen von Frauen sind, die Baudelaire grundsätzlich fasziniert haben und deren Kraft und übersinnliche Wirkung er stets bewundert hat. So hat er sie bald eine „fenêtre ouverte sur l’infini“ genannt und von ihrer „clarté mystique“ gesprochen 336 , bald in ihnen eine lebendige Fackel gesehen, die ihn sicher und bestimmt den Weg zum Schönen führe 337 , und gern hat er sie mit Metallen, Edelsteinen usw. vergli‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 121 338 Fleurs du mal XLIII (Le Flambeau vivant), V. 1 ff.; XXXIV (Le Chat), V. 3 f.; XXXIX, V. 14; LI (Le Chat), V. 38 f. u.ö. Neben den Augen faszinieren Baudelaire auch Gang und Be‐ wegung einer Frau; vgl. etwa Le Peintre de la vie moderne, S. 714. 718. 720, sowie hier Str. 3 und 4. 339 Le Peintre de la vie moderne, S. 716 (Kap. „Éloge du maquillage“). 340 „[C]et état exceptionnel de l’esprit et des sens, que je puis sans exagération appeler paradisiaque, si je le compare aux lourdes ténèbres de l’existence commune et journa‐ lière.“ (Le Poème du hachisch, S. 401.) 341 Siehe Pichois, „Notes“, Bd. 1, S. 1014. Nach Pichois könnte es sich um ein Albumblatt gehandelt haben. chen 338 . Auch hier regt ihr Anblick die Phantasie des Ichs an, das sie zunächst durchdringend wie einen Bohrer und leuchtend wie dunkles Wasser nennt und sie dann mit den „göttlichen Augen“ eines kleinen Mädchens vergleicht, das sich staunend über alles freut, was glänzt. Die naive Liebe und Freude, die Kinder und Wilde für alles und an allem haben, was glänzend und geschmückt ist, hat Baudelaire im Peintre de la vie moderne gerühmt und daraus einen Hang zum Artifiziellen abgeleitet, in dem sich der „dégoût pour le réel“ ausdrücke, der von ihrer unsterblichen Seele zeuge 339 . Ebenfalls im Peintre de la vie moderne hat er im Zusammenhang mit der besonderen Wahrnehmungsfähigkeit des Genies das „œil fixe et animalement extatique“ des Kindes angeführt, in dem sich ein neu‐ gieriges und freudiges Staunen über alles Neue zeige, weshalb das Kind ständig trunken („ivre“) sei, sich also in dem Ausnahmezustand der Sinne und des Geistes befinde, den er im Poème du hachisch im Vergleich zu den Mühen des alltäglichen Lebens paradiesisch genannt hat 340 . Der Vergleich mit den „göttli‐ chen“ Augen eines Kindes dürfte hier also zumindest eines mit Sicherheit be‐ deuten, nämlich dass die verhutzelten alten Frauen in ihrer Art, in die Welt zu blicken, ‚wieder geworden sind wie die Kinder‘ und damit dem Himmelreich nahe gekommen sind. Die Phantasie des Ichs malt sich die Kindlichkeit der alten Frauen dann noch weiter aus, indem es sie durch die Beobachtung ergänzt, dass die Särge mancher Alten Kindersärgen gleichen, sie also auch äußerlich zu Kindern werden - ein Symbol, das es der Weisheit des Todes zuschreibt. Daher geht in seinen Augen manche gebrechliche Alte im Menschengewimmel der Stadt sanft einer neuen Wiege entgegen. Ein Manuskript dieser beiden Strophen (V. 21-28), das man in einem Exemplar der Erstausgabe der Fleurs du mal gefunden hat, könnte darauf hindeuten, dass sie separat und früher als das restliche Gedicht entstanden sind 341 , zumal das Motiv der Kindersärge an den „jeune cerceuil“ aus der frühen Version von Paysage erinnert. Die Wendung „un nouveau berceau“ (V. 28) asso‐ ziiert jedoch unweigerlich die Vorstellung von einem neuen Leben, bringt also den Gedanken an die Auferstehung dieser „être[s] fragile[s]“ ins Spiel und führt I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 122 342 Für diese Überlegungen könnte Gautiers Gedicht Les Joujoux de la morte aus Émaux et camées die Anregung gegeben haben, in dem es von einem Kindersarg heißt: „La petite Marie est morte, / Et son cerceuil est si peu long / Qu’il tient sous le bras qui l’em‐ porte / Comme un étui de violon.“ (Poésies complètes, Bd. 3, S. 97) Den „jeune cerceuil“ in Paysage hätte Baudelaire in dessen späterer Version dann auch deswegen aufgegeben, weil das Motiv in Les Petites Vieilles ausdrucksstärker war. 343 Vgl. Pensée d’Album (26. August 1851): „[…] l’irrésistible sympathie que j’éprouve pour les vieilles femmes, ces êtres qui ont beaucoup souffert par leurs amants, leurs maris, leurs enfants, et aussi par leurs propres fautes […]“ (Œuvres complètes, Bd. 2, S. 37). damit den durch die Augen angeregten Gedanken vom nahen Himmelreich fort. In einer dritten Strophe zum Motiv der Särge (V. 29-32), die sich erst in der Ausgabe von 1861 findet, hat Baudelaire seine Phantasie dann noch weiter spielen lassen, nun allerdings mit den höchst irdischen Überlegungen über die verschiedenen Formen, welche die Sargtischler für die verdrehten Gliedmaßen der Alten erfinden müssten 342 . Die letzte Strophe dieses Teils nimmt noch einmal das Augenmotiv auf und vergleicht die Augen der kleinen Alten mit Brunnen aus Millionen von Tränen und mit Schmelztiegeln, in denen sich erkaltete glitzernde Metallplättchen ab‐ gesetzt haben. Auch mit dieser aus Leid herrührenden Schönheit vermögen die Augen der Frauen zu faszinieren, weil sie so die „invincibles charmes“ des „mal‐ heur“, des im Leben angehäuften Unglücks, haben, das nach der Kindlichkeit und dem (verlorenen) Frausein das dritte Moment der Faszination ist, die ihr Anblick beim Dichter als einem im Unglück Erfahrenen auslöst. In dieser kaum zu übertreffenden Steigerung kommt die „unwiderstehliche Sympathie“ zum Ausdruck, die Baudelaire nach eigener Aussage für alte Frauen empfand 343 und die er hier auf sein lyrisches Ich übertragen hat. In Les Foules hatte er von „Orten“ gesprochen, die dem Dichter scheinbar verschlossen bleiben, weil ihr Besuch in seinen Augen nicht der Mühe wert erscheint. Die „petites vieilles“ waren für ihn offenbar ein „Ort“, den aufzusuchen sich lohnte, weil sie seine Anteilnahme und seine dichterische Phantasie in besonderem Maße weckten und anregten, und zur Anteilnahme hat er denn auch seine Leser ausdrücklich aufgefordert: „ai‐ mons-les! “ Wie sehr sich das Aufsuchen dieses „Ortes“ für Baudelaire gelohnt hat, zeigt sich darin, dass auf den ersten Teil des Gedichts noch drei weitere folgen. Hier zunächst die beiden kürzeren mittleren: II De Frascati défunt Vestale enamourée; Prêtresse de Thalie, hélas! dont le souffleur Enterré sait le nom; célèbre évaporée 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 123 344 Vgl. Le Peintre de la vie moderne, S. 719: „[…] ces Valentinos, ces Casinos, ces Prados (autrefois des Tivolis, des Idalies, des Folies, des Paphos).“ Que Tivoli jadis ombragea dans sa fleur, Toutes m’enivrent! mais parmi ces êtres frêles Il en est qui, faisant de la douleur un miel, Ont dit au Dévouement qui leur prêtait ses ailes: Hippogriffe puissant, mène-moi jusqu’au ciel! L’une, par sa patrie au malheur exercée, L’autre, que son époux surchargea de douleurs, L’autre, par son enfant Madone transpercée, Toutes auraient pu faire un fleuve avec leurs pleurs! III Ah! que j’en ai suivi de ces petites vieilles! Une, entre autres, à l’heure où le soleil tombant Ensanglante le ciel de blessures vermeilles, Pensive, s’asseyait à l’écart sur un banc, Pour entendre un de ces concerts, riches de cuivre, Dont les soldats parfois inondent nos jardins, Et qui, dans ces soirs d’or où l’on se sent revivre, Versent quelque héroïsme au cœur des citadins. Celle-là, droite encor, fière et sentant la règle, Humait avidement ce chant vif et guerrier; Son œil parfois s’ouvrait comme l’œil d’un vieux aigle; Son front de marbre avait l’air fait pour le laurier! (V. 37-60) Im zweiten und dritten Teil phantasiert das Ich, durch den Anblick der kleinen Alten angeregt, deren Lebensgeschichten. Dabei greift Baudelaire auf ein Re‐ pertoire von Frauengestalten zurück, das ein wiederkehrender Bestandteil seines Denkens ist. So sieht das Ich einige von ihnen als eifrige Besucherinnen oder Mitwirkende bekannter städtischer Vergnügungsorte wie eines Komödi‐ entheaters, des Spielkasinos des ehemaligen Frascati oder der Vergnügungs‐ parks des Tivoli 344 . Offensichtlich handelt es sich um die Kategorie der „beautés interlopes“ und Kurtisanen, die an solchen Orten ihrem Gewerbe und ihrem Vergnügen nachgingen, wie im 12. Kapitel des Peintre de la vie moderne („Les I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 124 345 Dort sind dieser Gruppe die „courtisane“, die „comédienne“ und die „femme errante“ oder „révoltée“ zugeordnet (S. 720). 346 Vgl. Horaz, carm. IV, 2, 27 ff. 347 Es sind dies Schicksale, die zu phantasieren Guys’ Stiche von eleganten bürgerlichen Familien anregen konnten, die im Park spazieren gehen: „les femmes se traînant avec un air tranquille au bras de leurs maris, dont l’air solide et satisfait révèle une fortune faite et le contentement de soi-même. […] De petites filles maigrelettes, avec d’amples jupons, et ressemblant par leurs gestes et leur tournure à de petites femmes, sautent à la corde, jouent au cerceau ou se rendent des visites en plein air, répétant ainsi la comédie donnée à domicile par leurs parents.“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 719; mit letzterer Gruppe wird das Kapitel „Les Femmes et les filles“ eröffnet.) 348 Mehnert will in dieser Frau, die nach dem Vorbild der Dürerschen Melencolia I geschil‐ dert sei, eine Allegorie der Melancholie sehen; als solche sei sie die „Vorbedingung der Baudelaireschen Imaginationskraft“ (Melancholie und Inspiration, S. 70 f. mit Anm. 95). Es ist aber vielmehr so, dass die „petites vieilles“ der konkrete Gegenstand von Baude‐ laires poetischer Imagination werden, weil sie die Voraussetzungen seines Schönheits‐ ideals erfüllen. Femmes et les filles“) beschrieben ist 345 . In seinem dichterischen Rausch phan‐ tasiert das Ich diese Frauen ‚klassisch‘ überhöht als „Vestalin“, die das Feuer der Spielsucht aufrecht erhielt, als einstige „Thaliapriesterin“, deren Namen der Souffleur kannte, der nun „unter der Erde“ ist, sowie als stadtbekannte Schöne, die ihre Zeit im Tivoli verbrachte. Alle diese Schicksale versetzen es in höchste Verzückung. Nahe fühlt es sich aber auch jenen sanften anderen Frauen, die wie der Dichter, der seinen Honig aus bescheidenen Blüten sammelt 346 , aus dem Schmerz des Lebens Honig gewonnen haben, um durch ihre Hingabe unsterblich zu werden, sei es die vom Vaterland ins Unglück Gestürzte, die von ihrem Gatten mit Leid Überhäufte oder die durch ihr Kind zur Schmerzensmutter Gewor‐ dene - jede von ihnen, so glaubt es und nimmt die Tränenmetaphorik des ersten Teils auf, hätte mit ihren Tränen einen Fluss füllen können 347 . Die letzte Gruppe schließlich ( III ) nimmt die Frauengestalten des späteren Prosagedichts Les Veuves (Le Spleen de Paris XIII ) vorweg. Hier hebt das Ich eine Einzelne hervor, der es einmal auf seinen Gängen durch die Stadt gefolgt ist, um zu sehen, wie sie sich bei Sonnenuntergang in einem Park abseits auf einer Bank niederließ und mit stolzem Ausdruck einem Regimentskonzert lauschte. Die Szene ent‐ spricht der ersten der beiden im Prosagedicht berichteten Anekdoten, in der das empathische Ich erkennt, dass die Teilnahme an dem kostenlosen Konzert die kleine „débauche“ im freudlosen und einsamen Leben der Frau ist. In Les Petites Vieilles bleibt diese Erkenntnis des Ichs ausgespart und das Interesse richtet sich ganz auf die stolze Haltung der Frau mit ihrem Adlerblick und ihrer hohen Marmorstirn 348 . 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 125 349 V. Hugo, Œuvres poétiques, Bd. 1, hrsg. von P. Albouy (Bibliothèque de la Pléiade. 171), Paris 1976, S. 666 ff. 350 Zu diesen Übereinstimmungen siehe Pichois, „Notes“, S. 1015 f., der aber auch befindet: „On ne parlera pas ici de source. […] Mais de pastiche d’admiration.“ 351 Siehe oben, S. 67f. 352 Vgl. Fantômes, II, Strophe 5: „Doux fantômes! c’est là [au fond des bois], quand je rêve dans l’ombre, / Qu’ils viennent tour à tour m’entendre et me parler. / Un jour douteux me montre et me cache leur nombre. / À travers les rameaux et le feuillage sombre / Je vois leurs yeux étinceler.“ mit Baudelaire, Les Petites Vieilles, I, Strophe 7: „Et lorsque j’entrevois un fantôme débile / Traversant de Paris le fourmillant tableau, Il me semble toujours que cet être fragile / S’en va tout doucement vers un nouveau berceau […].“ Unter Baudelaires Titel Fantômes parisiens fallen natürlich auch die halluzinierten Greise in Les Sept Vieillards. 353 Eine der wenigen inhaltlichen Übereinstimmungen ist das Motiv des Namens, den keiner mehr kennt, das sich - in etwas anderer Funktion - auch bei Hugo findet: „Une, pâle, égarée, en proie au noir délire, / Disait tout bas un nom dont nul ne se souvient; “ (S. 667, II, Strophe 2). Hugoscher Herkunft ist auch das hier und in der ersten Strophe von Les Sept Vieillards verwendete Epitheton „fourmillant“ (so Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 354). In den Teilen II und III der Petites Vieilles hat die Forschung augenfällige Übereinstimmungen mit einem Gedicht aus Victor Hugos Orientales festgestellt, das den Titel Fantômes trägt 349 . Dieses ebenfalls mehrteilige Gedicht handelt vom Tod junger Mädchen, die, kaum erblüht, an den Folgen durchtanzter Nächte sterben und derer das Dichter-Ich sich in der Waldeinsamkeit träumend erin‐ nert, wobei es ein Einzelschicksal besonders hervorhebt. Die wesentlichen Ge‐ meinsamkeiten zwischen beiden Gedichten sind die Aufzählung „L’une … l’autre …“ (bei Hugo II , Strophe 1 - bei Baudelaire II , Strophe 3) sowie die Her‐ vorhebung des besonderen Falles: „Une surtout …“ (bei Hugo III , Strophe 1) - „Une, entre autres …“ (bei Baudelaire III , Strophe 1). Außerdem beginnt Baude‐ laires dritter Teil mit der Wendung „Ah! que j’en ai suivi de ces petites vieilles! “, was an den Anfang von Hugos Gedicht denken lässt: „Hélas! que j’en ai vu mourir de jeunes filles! “ 350 Das abweichende, auf die Stadtsituation bezogene Motiv des „Folgens“ entstammt jedoch der Poeschen Erzählung The Man of the Crowd, wo der Erzähler ebenfalls einem Unbekannten, der seine Neugier ge‐ weckt hat, durch eine Stadt folgt 351 . Dafür ist Baudelaires Titel Fantômes parisiens wieder ein Hommage an Hugo, der freilich unter dem Begriff „fantômes“ die Geister früh verblichener junger Mädchen heraufbeschworen hatte, während Baudelaire mit demselben Begriff alte Frauen bezeichnet 352 , die ihr verblühtes Leben inmitten der geschäftigen großen Stadt hinbringen und die Phantasie des Dichters anregen. Bei seinen Übernahmen handelt es sich also mehrheitlich um sprachlich-strukturelle Elemente, die mit der Substanz des Gedichts wenig zu tun haben 353 . Denn Hugos Thema ist ein romantisches Totengedenken, wie es I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 126 354 Vgl. Hugo, Œuvres poétiques, Bd. 1, „Notes“, S. 1329. zur Zeit der Abfassung seines Gedichts en vogue war 354 , Baudelaires Thema dagegen sind die alten Frauen, deren Anblick ihn mitten in der großen Stadt in den schöpferischen Enthusiasmus versetzt - „Toutes m’enivrent“ (V. 41) -, so dass er ihre vielen unterschiedlichen Lebensgeschichten phantasiert. IV Telles vous cheminez, stoïques et sans plaintes, À travers le chaos des vivantes cités, Mères au cœur saignant, courtisanes ou saintes, Dont autrefois les noms par tous étaient cités. Vous qui fûtes la grâce ou qui fûtes la gloire, Nul ne vous reconnaît! Un ivrogne incivil Vous insulte en passant d’un amour dérisoire; Sur vos talons gambade un enfant lâche et vil. Honteuses d’exister, ombres ratatinées, Peureuses, le dos bas, vous côtoyez les murs; Et nul ne vous salue, étranges destinées! Débris d’humanité pour l’éternité mûrs! Mais moi, moi qui de loin tendrement vous surveille, L’œil inquiet, fixé sur vos pas incertains, Tout comme si j’étais votre père, ô merveille! Je goûte à votre insu des plaisirs clandestins: Je vois s’épanouir vos passions novices; Sombres ou lumineux, je vis vos jours perdus; Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices! Mon âme resplendit de toutes vos vertus! Ruines! ma famille! Ô cerveaux congénères! Je vous fais chaque soir un solennel adieu! Où serez-vous demain, Èves octogénaires, Sur qui pèse la griffe effroyable de Dieu? (V. 61-84) Der letzte Teil beginnt mit einer direkten Hinwendung des Ichs zu den alten Frauen, die inmitten des Chaos der geschäftigen Städte stoisch und klaglos ihren Weg gehen. In diesem Chaos, in dem der „homme sensible“ in den ekstatischen 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 127 355 „Le vertige senti dans les grandes villes est analogue au vertige éprouvé au sein de la nature. - Délices du chaos et de l’immensité. - Sensations d’un homme sensible en visitant une grande ville inconnue.“ („Notes diverses sur L’Art philosophique“, S. 607.) 356 Die geistige Vaterschaft ist ein anrührendes, sehr persönliches Bild des späten Baude‐ laire, das ihm offensichtlich seine dichterische Einfühlung erschlossen hat. Vgl. auch die Vater-Kind-Situation in dem Sonett Recueillement von 1861 („Sois sage, ô ma Dou‐ leur, et tiens-toi plus tranquille.“). Dazu die schöne Interpretation von Weinrich, Lite‐ ratur für Leser, S. 98 ff. 357 Das Ich ist hier das dichterische Pendant zu Constantin Guys: „[…] pour compléter votre conception, prenez-le aussi pour un homme-enfant, pour un homme possédant à chaque minute le génie de l’enfance, c’est-à-dire un génie pour lequel aucun aspect de la vie n’est émoussé.“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 691.) Zustand gerät 355 , sind sie der zufällige, alltägliche Anblick, der dem Ich die Tiefe des Lebens offenbart und ein universales Einheitserlebnis beschert. Denn sie, die einstmals stadtbekannt waren, jetzt aber zum Gespött für Kinder und Be‐ trunkene geworden sind, die ängstlich gebückt und voller Scham an den Häu‐ sern entlangschleichen, menschliche Wracks, die reif sind für die Ewigkeit, of‐ fenbaren ihm in ihren vielfachen Lebensformen („Mères au cœur saignant, courtisanes ou saintes“, V. 63) das vielgestaltige Leben der Stadt. Und in seinem dichterischen Enthusiasmus, der nun den Höhepunkt erreicht, wendet es sich ihnen mit der liebevollen Anteilnahme eines Vaters zu, der aus der Ferne mit zärtlicher Besorgnis die unsicheren Schritte seiner Kinder verfolgt, der ihre Lei‐ denschaften aufblühen und ihre Lebenstage, leuchtende wie dunkle, vorbei‐ ziehen sieht 356 . Wie ein Vater durchlebt es mit ihnen ihre Laster und sonnt sich im Glanz ihrer Tugenden, um in dieser Identifikation die „Vervielfältigung“ seiner eigenen Person zu erfahren: „Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices! / Mon âme resplendit de toutes vos vertus! “ (V. 79 f.). In ihrer Gebrech‐ lichkeit werden ihm die kleinen Alten, wie in Les Foules und im Peintre de la vie moderne angekündigt, zur eigenen „Familie“ („Ruines! ma famille! …“) von der es sich allabendlich, in der Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal, feierlich verabschiedet. Mit dem Hinweis auf die Seelenverwandtschaft - „Ô cerveaux congénères“ - zwischen den „Èves octogénaires“ und dem ‚poète-enfant‘ 357 schließt sich der Kreis der Gedanken und Empfindungen, der von den stau‐ nenden Kinderaugen der alten Frauen seinen Ausgang genommen hat. Die mitfühlende Zuwendung zu den kleinen Alten dürfte Baudelaire dazu gebracht haben, von einer Nachahmung der Manier Hugos in diesem Gedicht zu sprechen. Nicht zufällig hat er nämlich in seinem wenig später verfassten Beitrag über jenen bewundernd auf diese Eigenschaft Hugos verwiesen und dabei dieselbe Bildlichkeit wie in Les Petites Vieilles verwendet: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 128 358 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I: Victor Hugo, S. 136; meine Hervor‐ hebungen. 359 „Dans la notice consacrée à Hugo, Baudelaire se crée un droit sur Hugo; il fait de Hugo son obligé; il veut même forcer Hugo à ressembler à l’image que lui, Baudelaire, a de Hugo et à laquelle il surimpose sa propre image du Poète.“ (Bd. 2, „Notice“, S. 1077.) 360 Siehe aber die selbstkritische Fortsetzung des Briefes an Hugo: „J’ai vu quelquefois dans les galeries de peintures de misérables rapins qui copiaient les ouvrages des maîtres. Bien ou mal faites, ils mettaient quelquefois dans ces imitations, à leur insu, quelque chose de leur propre nature, grande ou triviale. Ce sera là peut-être (peut-être! ) l’excuse de mon audace.“ (Correspondance, Bd. 1, S. 598.) 361 Zitiert nach Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 1011. Die ganze Antwort Hugos siehe Bd. 2, „Notes“, S. 1128 f. […] le poète se montre toujours l’ami attendri de tout ce qui est faible, solitaire, con‐ tristé; de tout ce qui est orphelin: attraction paternelle. Le fort qui devine un frère dans tout ce qui est fort, voit ses enfants dans tout ce qui a besoin d’être protégé ou con‐ solé. 358 Noch in den sinnlichen und melancholischen Liebesgedichten Hugos höre man als Begleitmusik „la voix profonde de la charité“ und ahne hinter dem Liebenden „un père et un protecteur“. Dies sei freilich nur die eine Seite von Hugos starkem Charakter, der gleichermaßen das liebe, was „très fort“ sei: „Il caresse en se jouant ce qui ferait peur à des mains débiles; il se meut dans l’immense sans vertige.“ Wegen der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung und Publikation ist nicht auszuschließen, dass es eine Wechselwirkung zwischen den Texten gegeben hat, ja dass bestimmte Wendungen der Charakterisierung Hugos unter dem Einfluss von Les Petites Vieilles stehen. Schon Pichois hat darauf hingewiesen, dass das Bild, das Baudelaire in seinem Beitrag von Hugo zeichnet, stark seinen eigenen Vorstellungen von diesem und darüberhinaus vom Dichter im Allgemeinen ent‐ spreche 359 . Die Behauptung der „Imitation“ könnte also neben der Eindringlich‐ keit der erwähnten aktuellen Bitte an Hugo auch einer gewissen Selbsttäu‐ schung Baudelaires entsprungen sein 360 . Hugos Antwort auf die Widmung war recht gewunden. Um Baudelaires Leis‐ tung zu würdigen, bemühte er pathetisch den Fortschritt der Kunst, beschränkte seine Wertung dann aber offensichtlich auf Les Sept Vieillards: Que faites-vous quand vous écrivez ces vers saisissants: Les Sept Vieillards et Les Petites Vieilles que vous me dédiez, et dont je vous remercie? Que faites-vous? Vous marchez. Vous allez en avant. Vous dotez le ciel de l’art d’on ne sait quel rayon macabre. Vous créez un frisson nouveau. 361 Von beiden Gedichten ist jedoch Les Petites Vieilles das bedeutendere, nicht nur weil die Faszination durch die alten Frauen ein ureigenes Thema Baudelaires 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 129 362 „Le plus beau peut-être des poèmes de Baudelaire par sa profondeur et ses réso‐ nances […]“ (Pichois, „Notes“, S. 1004). ist, sondern auch weil es zum ersten Mal das dichterische Großstadterlebnis in vollem Umfang vorführt und dessen theoretische Formulierung in Les Foules vorbereitet. Wie dort zu lesen sein wird, macht sich das Ich von Les Petites Vieilles die Freuden und Leiden der kleinen Alten zu eigen („Il adopte comme siennes toutes les professions, toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente.“) und versetzt sich in ihr Inneres („il entre […] dans le personnage de chacun“), wobei es von den heimlich genossenen, väterlichen „plaisirs clan‐ destins“ (V. 76) bis zur Identifikation und zur „Vervielfältigung“ der eigenen Person alle Phasen der Ekstase eines Dichters im Zustand des Enthusiasmus erlebt und die „jouissances fiévreuses“ und „mystérieuses ivresses“ dieses Zu‐ stands erfährt. Somit erfüllt sich die zu Beginn getroffene Feststellung über die Großstadt, in der sich auch der Schrecken in Entzücken wandelt („Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements“, V. 2) und wird zur Themenansage eines Gedichts, in dem die Krise der Sept Vieillards überwunden ist. e) Le Cygne Der Wandel der Stadt als poetisches Stimulans Das dritte Gedicht der „neuen Serie“ und zugleich ihr Höhepunkt ist Le Cygne. In ihm sind alle Anforderungen an die Großstadt als Ursprung des dichterischen Enthusiasmus mustergültig erfüllt. Zudem ist der Vorgang in so anschauliche und verdichtete poetische Bilder gefaßt, dass Le Cygne als eines der schönsten Gedichte Baudelaires gilt 362 . Le Cygne À Victor Hugo I Andromaque, je pense à vous! Ce petit fleuve, Pauvre et triste miroir où jadis resplendit L’immense majesté de vos douleurs de veuve, Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit, A fécondé soudain ma mémoire fertile, Comme je traversais le nouveau Carrousel. Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel); I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 130 Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques, Ces tas de chapiteaux ébauchés et de fûts, Les herbes, les gros blocs verdis par l’eau des flaques, Et, brillant aux carreaux, le bric-à-brac confus. Là s’étalait jadis une ménagerie; Là je vis, un matin, à l’heure où sous les cieux Froids et clairs le Travail s’éveille, où la voirie Pousse un sombre ouragan dans l’air silencieux, Un cygne qui s’était évadé de sa cage, Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec, Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage. Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre, Et disait, le cœur plein de son beau lac natal: „Eau, quand donc pleuvras-tu? Quand tonneras-tu, foudre? “ Je vois ce malheureux, mythe étrange et fatal, Vers le ciel quelquefois, comme l’homme d’Ovide, Vers le ciel ironique et cruellement bleu, Sur son cou convulsif tendant sa tête avide, Comme s’il adressait des reproches à Dieu! II Paris change! Mais rien dans ma mélancolie N’a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs, Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie, Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. Aussi devant ce Louvre une image m’opprime: Je pense à mon grand cygne, avec ses gestes fous, Comme les exilés, ridicule et sublime, Et rongé d’un désir sans trêve! Et puis à vous, Andromaque, des bras d’un grand époux tombée, Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus, Auprès d’un tombeau vide en extase courbée; Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus! Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique, Piétinant dans la boue, et cherchant, l’œil hagard, 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 131 363 Siehe dazu ausführlich Stierle, Der Mythos von Paris, S. 852 f. Les cocotiers absents de la superbe Afrique Derrière la muraille immense du brouillard; À quiconque a perdu ce qui ne se retrouve Jamais, jamais! À ceux qui s’abreuvent de pleurs Et tètent la Douleur comme une bonne louve! Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs! Ainsi, dans la forêt où mon esprit s’exile Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor! Je pense aux matelots oubliés dans une île, Aux captifs, aux vaincus! … à bien d’autres encor! (V. 1-52) Les Sept Vieillards beginnt mit einem Blick des Ichs auf die Stadt und ihre wun‐ dersamen Geheimnisse, dem alsbald die Halluzination des schrecklichen Greises folgt, die den poetischen Enthusiasmus verhindert. In Les Petites Vieilles ist dar‐ gestellt, wie das Ich in den Straßen der Stadt fasziniert den seltsamen Gestalten der kleinen Alten folgt und darüber in einen enthusiastischen Zustand gerät, in dem es sich liebevoll in das Schicksal der alten Frauen versenkt. In Le Cygne, dem dritten Gedicht der Serie, befindet sich das Ich von Anfang an im dichte‐ rischen Rausch und dieser ist unübersehbar durch die Großstadt und ihren Wandel verursacht. Zentraler Ort ist die Place du Carrousel zwischen Louvre und Tuilerien-Schloss, deren Neugestaltung eines der ehrgeizigsten Bauprojekte Louis Bonapartes war 363 . Das Ich hat kürzlich dieses „nouveau Carrousel“ über‐ quert („Comme je traversais le nouveau Carrousel“) und sich dabei des vorma‐ ligen Wirrwarrs von Baracken und Kapitellen, Säulen und Steinblöcken erin‐ nert, die nun verschwunden sind und die es nur noch im Geiste schauen kann („Je ne vois qu’en esprit tout ce camp de baraques“, V. 9), nicht anders als das Paris der Zeit vor dem Umbau: Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel); Damals gab es auf dem Platz eine Menagerie, und eines Morgens, zur Stunde des Arbeitsbeginns, sah das Ich einen Schwan, der aus ihr entwichen war und neben einem ausgetrockneten Rinnsal nervös im Sand scharrte, seine weißen Schwingen durch den Staub ziehend und konvulsivisch Kopf und Hals empor‐ reckend, als ob er Vorwürfe gen Himmel schicke. Die Erinnerung an diese Be‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 132 gebenheit macht ihm bewusst, wie sehr sich die Stadt ringsum gewandelt hat, während seine eigene Melancholie unverändert geblieben ist: Paris change! Mais rien dans ma mélancolie N’a bougé! Palais neufs, échafaudages, blocs, Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie, Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs. Soweit das Erlebnis der sich wandelnden Stadt mitsamt den Gedanken, die dem Ich darüber kommen. In seinem ersten Teil weist das Gedicht ein ungewöhnlich komplexes Zeit‐ gefüge auf. Auf die Apostrophe im Präsens („Andromaque, je pense à vous! “) folgt ein Präteritum der Erinnerung an den kürzlichen Gang über das neue Car‐ rousel („Comme je traversais le nouveau Carrousel“), die unterbrochen wird durch die Vergegenwärtigung des Umbaus („Je ne vois qu’en esprit …“), bevor, wieder im Vergangenheitstempus, des noch weiter zurückliegenden Vorfalls mit dem Schwan gedacht wird. Der Wechsel der Zeitebenen weist auf das Thema der Zeit und ihrer Vergänglichkeit hin, das im Wandel der Stadt sichtbar wird. Der zweite Gedichtteil mit seinen Klagen und mitfühlenden Vorstellungen des Ichs ist dagegen einheitlich in ein und demselben Tempus (Präsens) abgefasst. Nun muss man wissen, dass die Vergänglichkeit der Zeit für Baudelaire ein obsessiver und Melancholie auslösender Gedanke war, den er in zahlreichen Gedichten und Äußerungen bekundet hat. Etwa in dem Gedicht L’Ennemi (Fleurs du mal X), V. 12: Ô douleur, ô douleur! Le Temps mange la vie […] in L’Horloge (Fleurs du mal LXXXV ), V. 17 f.: Souviens-toi que le Temps est un joueur avide Qui gagne sans tricher […] oder in Le Voyage (Fleurs du mal CXXVI ), V. 115 f.: […] l’ennemi vigilant et funeste, Le Temps! Ausführlich auch in dem Prosagedicht La Chambre double nach dem Um‐ schlagen der Ekstase in ihr Gegenteil und der Rückkehr ins irdische „habitacle de fange“: Oh! oui! le Temps a reparu; le Temps règne en souverain maintenant; et avec le hideux vieillard est revenu tout son démoniaque cortège de Souvenirs, de Regrets, de Spasmes, de Peurs, d’Angoisses, de Cauchemars, de Colères et de Névroses. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 133 364 Le Spleen de Paris V (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 281 f.). Siehe auch die Notiz in Hygiène (II): „À chaque minute nous sommes écrasés par l’idée et la sensation du temps. Et il n’y a que deux moyens pour échapper à ce cauchemar, - pour l’oublier: le Plaisir et le Travail.“ (Bd. 1, S. 669) 365 Le Poème du hachisch, S, 419. 366 S. 430. Zum Vorgang der Bildung des „symbole parlant“ siehe oben, S. 27 f. Je vous assure que les secondes maintenant sont fortement et solennellement accen‐ tuées, et chacune, en jaillissant de la pendule, dit: - „Je suis la Vie, l’insupportable, l’implacable Vie! “ 364 Das Bewusstsein von Zeit und Vergänglichkeit versetzt Baudelaire offensicht‐ lich in die melancholische Stimmung, die nach seinem Selbstverständnis die zum Dichten erforderliche Seelenlage ist. Und so führt ihn in Le Cygne der Gang durch das sich wandelnde Paris, wo die geliebten Erinnerungen „schwerer als Felsen“ sind, über die Melancholie unversehens in den Zustand des poetischen Enthusiasmus, in dem „alles zur Allegorie wird“. Über den Vorgang der ‚Allegorisierung‘ hat Baudelaire sich allgemein im Poème du hachisch geäußert. Dort ordnet er ihn der zweiten Phase des Ha‐ schischrausches zu, wenn alle Sinne aufs äußerste geschärft sind und die Hal‐ luzinationen einsetzen, wenn die Gegenstände sich verformen und verwandeln und es zu Verwechslungen und gedanklichen Übertragungen bis hin zur Iden‐ tifikation mit Dingen der Umgebung kommt 365 . Beim „homme sensible moderne“ steigert sich in dieser Phase der angeborene ästhetische Sinn, Formen und Farben gewinnen eine ungewöhnliche Energie und Intensität und alles um ihn herum wird lebendig und kommuniziert mit ihm, und der erstbeste Gegenstand, den er vor Augen hat, wird zum Symbol, das ihn die Tiefe des Lebens schauen lässt 366 . Dabei offenbaren sich ihm die vielfältigen Bedeutungen und Bezie‐ hungen der Dinge untereinander und sein Sinn für die Allegorie nimmt unge‐ ahnte Ausmaße an: L’intelligence de l’allégorie prend en vous des proportions à vous-même inconnues; nous noterons en passant que l’allégorie, ce genre si spirituel, que les peintres mal‐ adroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes pri‐ mitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination legitime dans l’in‐ telligence illuminée par l’ivresse. Le hachisch s’étend alors sur toute la vie comme un vernis magique; il la colore en solennité et en éclaire toute la profondeur. Paysages dentelés, horizons fuyants, perspectives de villes blanchies par la lividité cadavéreuse de l’orage, ou illuminées par les ardeurs concentrées des soleils couchants, - profon‐ deur de l’espace, allégorie de la profondeur du temps, - la danse, le geste ou la décla‐ mation des comédiens, si vous vous êtes jeté dans un théâtre, - la première phrase I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 134 367 Le Poème du hachisch, S. 421. 368 Mit dieser Feststellung, die etwas von Selbstbeschwörung hat, endet Le Poème du ha‐ chisch, S. 441. 369 Poème du hachisch, S. 430. 370 Zur Dichtersymbolik siehe etwa Horaz, carm. IV, 2, 21 ff.; II, 20; Alciatus, Emblematum libellus, 107. Die bekannteste Schwanenklage gilt dem Absturz des Phaeton; siehe Ovid, metam. II, 367 ff. Zu Baudelaires Übernahme des Schwanenmotivs siehe H. R. Jauß, „Zur Frage der ‚Struktureinheit‘ älterer und moderner Lyrik“, Germanisch-Romanische Mo‐ natsschrift Bd. 41, N. F.10 / 1960, S. 231-266, S. 253 ff. venue, si vos yeux tombent sur un livre, - tout enfin, l’universalité des êtres se dresse devant vous avec une gloire nouvelle non soupçonnée jusqu’alors. (S. 430 f.) Dieses „bouillonnement d’imagination“ und „enfantement poétique“ 367 eines durch den Haschisch- oder Opiumrausch erleuchteten Geistes erreicht der Dichter im Enthusiasmus, sei es aufgrund ausdauernder Arbeit und Kontemp‐ lation, Willenskraft und guten Vorsatzes 368 , sei es, wie in Le Cygne, aufgrund des melancholischen Blicks auf die sich wandelnde Stadt. Daher werden die neuen Paläste, die Baugerüste und Steinblöcke und die alten Faubourgs für Baudelaires Ich zu Allegorien der „profondeur du temps“, und zum „sprechenden Symbol“ dieses melancholischen Stadterlebnisses wird ihm das bedrückende Bild des Schwans vor dem Louvre: „Aussi devant ce Louvre une image m’opprime“. Das Bild des Schwans ist von großer poetischer Tiefe. Als erstes steht es für das real gesehene Erinnerungsbild auf dem Carrousel. Dazu kommt, dass der erinnerte Schwan vom Ich als ein Alter Ego verstanden wird. Denn als „homme sensible“ kann das enthusiastische Ich die tieferen Gründe eines alltäglichen Schauspiels vor seinen Augen verstehen: La sinuosité des lignes est un langage définitivement clair où vous lisez l’agitation et le désir des âmes. 369 So liest es aus den „gestes fous“ des Tiers dessen Sehnsucht nach seinem „beau lac natal“, den Ruf nach Regen und Blitz und die Anklage gegen das Schicksal heraus und sieht darin ein Abbild seiner eigenen Trauer über den Verlust des alten Paris. Das ist nicht zuletzt deshalb naheliegend, weil der Schwan seit der Antike ein Sinnbild des Dichters ist und sein Gesang gern als Klage gedeutet wird 370 . Jean Starobinski, für den Le Cygne ein „großes Gedicht der Melancholie“ ist, hat gezeigt, dass der klagende Schwan auch in der ikonographischen Tra‐ dition der Melancholie seinen Platz hat und zwar in einer Darstellung des me‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 135 371 La Mélancholie au miroir. Trois lectures de Baudelaire, Paris 1989, deutsch: Melancholie im Spiegel, übers. von H. Günther, München 1992, S. 45-80, besonders S. 60 und 71 f. („Die gebeugten Gestalten: Der Schwan“). Siehe auch Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn and Melancholy, S. 378 ff. mit Abbildung 122: „Melancolicus“. 372 Bei Ovid ist der Mensch als einziges Wesen mit aufrechtem Gang und zum Himmel erhobenem Gesicht erschaffen (Metam. I, 84 f.). Zu Baudelaires Umdeutung dieser Stelle siehe K. Maurer, „Prometheus - göttlicher Mittler oder Rebell? Dante, Goethe und Bau‐ delaire als Leser der Metamorphosen Ovids“, Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum, Bd. 34,1 / 2007, S. 11-26, S. 23 f. 373 Siehe zur engen Verbindung von innerer Erfahrung und äußerer Realität bei Baudelaires Umgang mit Allegorie und Symbol Gilman, „Imagination Enthroned: Baudelaire“, S. 470 f. 374 Siehe dazu Austin, L’Univers poétique de Baudelaire, S. 165 f.; P. Labarthe, Baudelaire et la tradition de l’allégorie, Genève 1999, S. 43 f. 375 Correspondance, Bd. 1, S. 623; Brief vom 7. Dezember 1859. lancholischen Temperaments bei Virgil Solis 371 . Dieser melancholisch-klagende Schwan nun wendet in Le Cygne „comme l’homme d’Ovide“ - gleich dem Men‐ schen in Ovids Metamorphosen 372 - seinen Blick zum mitleidlosen und grausam blauen Himmel, so dass es scheint, als ob er der Gottheit Vorwürfe mache. Damit projiziert Baudelaire außer der Trauerklage über den Verlust des alten Paris auch seine ‚satanischen‘ Überzeugungen von Auflehnung und Revolte auf den Schwan und macht ihn zum Ausdruck seines ganz persönlichen Dichter‐ bildes 373 . Schließlich ist der Schwan in Le Cygne auch ein „symbole parlant“, in dem sich dem Ich die Fülle des ekstatischen Erlebens offenbart. Baudelaire verwendet das Wort „symbole“ gewöhnlich im Wechsel mit ähnlichen Begriffen, etwa „al‐ légorie“, die er nicht scharf voneinander abgrenzt 374 . Hier steht „image“ für das Symbol, und der „mythe étrange et fatal“ des Schwans symbolisiert dem Ich die „universalité des êtres“, die Gesamtheit aller Menschen, die an einem großen Verlust leiden. Warum Baudelaire diese Stellvertreterrolle einem Tier zuge‐ schrieben hat, hat er gegenüber Victor Hugo damit begründet, dass der Mensch am Tier das Leiden der Kreatur in einer besonders nachdrücklichen Form erlebe: […] la vue d’un animal souffrant pousse l’esprit vers tous les êtres que nous aimons, qui sont absents et qui souffrent, vers tous ceux qui sont privés de quelque chose d’irrétrouvable. 375 Als erstes jener Wesen, die einen großen Verlust beklagen, ruft der Schwan dem Ich die mythologisch-poetische Figur der Andromaque in den Sinn. Das Bild der aus hohem Glück in tiefes Elend Gestürzten, die Liebe und Schutz eines edlen Gatten verloren hat und, vom stolzen Sieger dem Mitsklaven übereignet, nicht aufhört, am leeren Grabhügel Hectors zu trauern, kannte Baudelaire aus Racines I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 136 376 P. Laforgue, „Falsi Simoentis ad undam - autour de l’épigraphe du Cygne: Baudelaire, Virgile et Hugo“, Nineteenth-Century French Studies Bd. 24 / 1995 / 1996, S. 97-110. 377 Vgl. Aeneis III, V. 304 ff.: ut me conspexit venientem et Troia circum arma amens vidit, magnis exterrita monstris deriguit visu in medio, calor ossa reliquit; labitur et longo vix tandem tempore fatur: „verane te facies, verus mihi nuntius adfers, nate dea? vivisne? aut, si lux alma recessit, Hector ubi est? “ dixit, lacrimasque effudit et omnem implevit clamore locum. 378 Darauf deutet auch seine Übersetzung des „fals[us]“ als „menteur“, „lügnerisch“ oder die Täuschung fördernd: „Ce Simoïs menteur“. 379 Beide Gedichte verbindet auch das Motiv des Flusses aus Tränen (Le Cygne, I, Str. 1; Les Petites Vieilles, II, Str. 3). Andromaque und aus deren Vorbild bei Vergil. Im dritten Buch der Aeneis be‐ richtet Aeneas von seiner Begegnung mit Andromache, die „ante urbem in luco falsi Simoentis ad undam“ den Manen Hectors opferte (V. 302 f.). Die Hexame‐ terhälfte „falsi Simoentis ad undam“ hatte Baudelaire seinem Gedicht bei der Erstveröffentlichung in La Causerie vom 22. Januar 1860 als Motto vorangestellt, in den Fleurs du mal von 1861 ist sie jedoch gestrichen. Die Erklärung, dass dieses Vergil entnommene Motto den Leser von der Racine-Konnotation habe ablenken sollen, weil Racines Bild von Andromaque als Gattin und Mutter nicht dem „drame le plus personnel“ Baudelaires (der Wiederverheiratung der Mutter) entsprochen habe, greift zu kurz 376 . Vielmehr hat Baudelaire mit dem Motto auf die Nähe seiner Andromaque zur Andromache Vergils hingewiesen, die den Verlust von Gatten und Sohn „am falschen Simois“ mit Hilfe der Phantasie kom‐ pensiert und die in Ohnmacht fällt, als sie sich dort unvermittelt von trojani‐ schen Männern umgeben sieht 377 . Die darin zum Vorschein kommende Kraft der Phantasie hat ihn offensichtlich fasziniert 378 . Racine dagegen hat in seinem Aeneis-Zitat gerade den Vers mit dem Hinweis „falsi Simoentis ad undam“ aus‐ gelassen, weswegen wohl auch Baudelaire schließlich auf ihn verzichtet hat. Die Figur der Andromaque setzt in Baudelaires poetischer Welt die Reihe der leidenden Frauen aus Les Petites Vieilles fort 379 , die alsbald noch um eine weitere Figur verlängert wird: Je pense à la négresse, amaigrie et phtisique, Piétinant dans la boue, et cherchant, l’œil hagard, Les cocotiers absents de la superbe Afrique Derrière la muraille immense du brouillard; 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 137 380 Le Présent, 15. November 1857. Siehe F. W. Leakey, „The Originality of Baudelaire’s Le Cygne: Genesis as Structure and Theme“, in: Order and Adventure in Post-Romantic French Poetry. Essays Presented to C. A. Hackett, hrsg. von E. M. Beaumont / J. M. Co‐ cking and J. Cruickshank, Oxford 1973, S. 38-55, S. 46. 381 Zur Gemeinsamkeit von Schwan, Andromaque und „négresse“ siehe ebd. 382 Siehe dazu oben, S. 26 f. Auch die„négresse“, die mit verstörtem Blick nach den „cocotiers absents de la superbe Afrique“ Ausschau hält, ist literarisch vorgeprägt, nämlich in dem frühen Gedicht À une Indienne (1846), das Baudelaire 1857 überarbeitet und unter dem Titel À une Malabraise erneut publiziert hatte 380 . Darin ist sie in Afrika lebend vorgestellt, jetzt lebt sie im „Exil“ in der Fremde und sehnt sich nach der verlorenen Heimat zurück 381 . Bei den weiter folgenden Figuren wird der Begriff des Verlusts nach dem Prinzip der „correspondances“ und „analogies“ 382 erwei‐ tert und auf jedweden Verlust ausgedehnt: „[…] quiconque a perdu ce qui ne se retrouve / Jamais, jamais! “. Außerdem treten an die Stelle von Einzelnen nun Gruppen: À quiconque a perdu ce qui ne se retrouve Jamais, jamais! À ceux qui s’abreuvent de pleurs Et tètent la Douleur comme une bonne louve! Aux maigres orphelins séchant comme des fleurs! Ainsi, dans la forêt où mon esprit s’exile Un vieux Souvenir sonne à plein souffle du cor! Je pense aux matelots oubliés dans une île, Aux captifs, aux vaincus! … à bien d’autres encor! Aus dem Bild derer, die an der Brust der „Douleur“ wie an einer „guten Löwin“ sich von Tränen nähren - mythologischer Archetyp ist das Zwillingspaar Ro‐ mulus und Remus - entstehen im folgenden Vers die Waisen, die ohne die Liebe von Mutter und Vater „wie Blumen welken“. In der letzten Strophe folgen schiff‐ brüchige und vergessene Matrosen, Gefangene und Besiegte. Und die Schluss‐ wendung „à bien d’autres encor! “ konnten zeitgenössische Leser auf Victor Hugo beziehen, der zu jener Zeit auf Guernsey im Exil lebte und dem das Gedicht I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 138 383 Bei der Widmung handelte es sich diesmal um keine verspätete ‚strategische‘ Widmung, mit der Baudelaire wie im Falle der Fantômes-Gedichte eine Bitte an den Geehrten ver‐ bunden hätte. Im Begleitbrief an Hugo vom 7. Dezember 1859 erklärt er vielmehr, er habe Le Cygne von vornherein für diesen und im Gedenken an ihn gemacht: „Voici des vers faits pour vous et en pensant à vous.“ (Correspondance, Bd. 1, S. 622.) Jedenfalls trägt schon die erste Veröffentlichung des Gedichts in La Causerie den Zusatz „À Victor Hugo“ und, anders als im Falle des Vergil-Mottos, das ab 1861 getilgt wird, bleibt es auch dabei. Die Brisanz von Widmung und Schlusswendung zeigt sich in der Ablehnung von Le Cygne durch Calonne, den Herausgeber der Revue contemporaine; siehe Maurer, „Prometheus - göttlicher Mittler oder Rebell? “, S. 25, Anm. 5 ( dort auch zu weiteren Anspielungen auf Victor Hugo). 384 II, Str. 3. Auch das bringt sie der Vergilischen Andromache nahe: „Troia circum / arma amens vidit“ (V. 304 f.: Hervorhebung von mir). 385 Le Spleen de Paris, XXXIII (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 337). gewidmet ist 383 . Wie der Schwan werden alle diese „malheureux“ und „exilés“ von rastlosen Sehnsüchten heimgesucht, an denen sie sich berauschen. Aus‐ drücklich gesagt ist das nur von Andromaque, die als Trauernde „in Ekstase“ an einem leeren Grab steht und daraus die „ungeheure Würde“ („[l]’immense ma‐ jesté“, Str. 1) ihres Witwenschmerzes gewinnt: Auprès d’un tombeau vide en extase courbée; 384 Denn ohne Sehnsuchtsträume und Rausch ist das Leben unerträglich. Zum le‐ bensnotwendigen Rausch kann nach Baudelaire aber alles verhelfen, die Gat‐ tenliebe, die Liebe zur Heimat, die Kunst und auch die Trauer, n’importe quoi, wie das kurze späte Prosagedicht Enivrez-vous! erklärt: Enivrez-vous! Il faut être toujours ivre. Tout est là: c’est l’unique question. Pour ne pas sentir l’hor‐ rible fardeau du Temps qui brise vos épaules et vous penche vers la terre, il faut vous enivrer sans trêve. Mais de quoi? De vin, de poésie ou de vertu, à votre guise. Mais enivrez-vous. […] 385 Das Vergilische Bild der Andromache „falsi Simoentis ad undam“, das in Le Cygne die „mémoire fertile“ des Ichs „befruchtet“ hat (V. 5), ist so nach dem Schwan das zweite Symbol des Gedichts, ein Symbol, das die Ekstase in der Trauer zum Ausdruck bringt. Rhapsodische Gedankenführung Mit der Zweiteilung und seiner schwer durchschaubaren Struktur hat Le Cygne auf seine Leser immer verwirrend gewirkt. Felix W. Leakey hat das in einer ein‐ fühlsamen Interpretation damit erklärt, dass die Struktur des Gedichts seine Entstehung abbilde und Baudelaires Gedanken so festhalte, wie sie „freely came 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 139 386 „The Originality of Baudelaire’s Le Cygne“, S. 38. Er sieht darin eine Vorwegnahme mo‐ derner Schreibtechniken wie des ‚stream of consciousness‘ und der ‚écriture automa‐ tique‘ (S. 53). 387 „[…] the construction equally corresponds […] to the laborious, almost hesitant pro‐ cesses of mental association on those occasions when we allow our minds to wander, and follow freely yet often gropingly a train of thought leading we know not whither.“ (S. 41) 388 „Zur Frage der ‚Struktureinheit‘ älterer und neuerer Lyrik“, S. 262. Mit Hugo Friedrich (Die Struktur der modernen Lyrik) hält Jauß diese Abfolge für ein Merkmal der neueren Lyrik. Von „incidents et épisodes fragmentaires“ spricht auch V. Brombert, „Le Cygne de Baudelaire: douleur, souvenir, travail“, in: Études Baudelairiennes Bd. 3 / 1973, S. 254-261, hier: S. 256. into his mind at the actual moment of composition“ 386 . Im Rahmen dieser These hält er sich an den Wortlaut des Gedichts und nimmt an, dass beim Überqueren der neuen Place du Carrousel der Gedanke an Andromaque Baudelaires dich‐ terische Erinnerung aufgeweckt habe: What […] specifically activates (or reactivates) his memory is his awareness of the external scene through which he is passing: the new, transformed square, across which (as he thinks, suddenly, of Andromache) he finds himself walking, and which he now immediately and infallibly recalls as it once was and as he had previously known it. (S. 39) Die darauf folgende, an Andromaque gerichtete Rede zeichne die tastenden As‐ soziationen eines frei schweifenden Geistes nach 387 . Nun ist nach den ersten Versen keineswegs einsichtig, durch welche Assozi‐ ation der durch Andromaques Tränen angeschwollene Simois die „mémoire fertile“ des Ichs befruchtet hat, als es das neue Carrousel überquerte. Leakey selbst sagt: „across which (as he thinks, suddenly, of Andromache) he finds him‐ self walking“ (meine Hervorhebung). Die Aussage des Ichs trägt vielmehr zum Eindruck der „wirren Häufung und chaotischen Erstarrung der Materialien der Erinnerung“ bei, die etwa Jauß im ersten Teil des Gedichts festgestellt hat; ihr trete erst im zweiten Teil ein durch die Imagination geschaffener neuer „ordre poétique“ gegenüber 388 . Dieser Teil II setzt mit dem Blick des Ichs auf das ver‐ änderte Paris und die Feststellung der eigenen unveränderten Melancholie ein. Es ist dies der Augenblick des Bewusstwerdens von Zeit und Vergänglichkeit, in dem die melancholieträchtigen Erinnerungen des Ichs aufsteigen und das bedrückende Bild des Schwans mit seinen „gestes fous“ zum ‚Symbol‘ wird, das eine Kette von Assoziationen auslöst, angefangen mit der Vorstellung der An‐ dromaque: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 140 389 Jauß, S. 261 f. 390 Correspondance, Bd. 1, S. 622 f. […] et puis à vous, Andromaque, des bras d’un grand époux tombée, Vil bétail, sous la main du superbe Pyrrhus, Auprès d’un tombeau vide en extase courbée; Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus! Je pense à la négresse […] Warum hat Baudelaire die Umstellung vorgenommen und warum hat er vor den geordneten zweiten Teil einen ungeordneten ersten gesetzt? Musste am Anfang des künstlerischen Aktes ein „Zertrümmern und Verfremden der vertrauten, gegenständlichen Welt“ stehen, damit im Anschluss eine „imaginäre Gegenwelt des Schönen“ evoziert werden konnte 389 ? Gegen eine solche pur ästhetische Annahme spricht sein Brief an Victor Hugo und die Erklärung, die er darin für sein Vorgehen gegeben hat: Es sei ihm in Le Cygne darum gegangen, einen Vor‐ fall und seinen poetischen Niederschlag in Bildern schnell und möglichst voll‐ ständig wiederzugeben; für die Mängel der Darstellung, die noch zu beheben seien, bittet er um Nachsicht: Il ne faut pas les [les vers] juger avec vos yeux trop sévères, mais avec vos yeux paternels. Les imperfections seront retouchées plus tard. Ce qui était important pour moi, c’était de dire vite tout ce qu’un accident, une image, peut contenir de sugges‐ tions […] 390 Seine Absicht war demnach, dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein beliebiger Vorfall - der Gang über das „nouveau Carrousel“ - und ein be‐ liebiges Bild - die erinnerte Begebenheit mit dem Schwan - beim Dichter einen enthusiastischen Zustand hervorrufen, der eine Fülle poetischer Vorstellungen mit sich bringt. Für ein solches ‚Protokoll‘ eines „enfantement poétique“ war nach seinen Worten eine schnelle Wiedergabe des gedanklichen Ablaufs von‐ nöten, die gegebenenfalls auch Unregelmäßigkeiten („imperfections“) in Kauf nahm. Die Frage, wie poetische Einfälle entstehen und welchen Verlauf sie nehmen, hat Baudelaire zeitlebens interessiert. Sie ist einer der Gründe für seine intensive Beschäftigung mit den künstlichen Rauschzuständen. So lässt er im Poème du hachisch den sensiblen und phantasievollen Protagonisten von Poes A Tale of the Ragged Mountains berichten, wie das Opium seine Wahrnehmung der ge‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 141 391 Le Poème du hachisch, S. 428. 392 Ebd. In Poes Erzählung wird die Wirkung des Opiums auf die Wahrnehmung mit den Worten zusammengefasst: „there came a whole universe of suggestion - a gay and motley train of rhapsodical and immethodical thought.“ (The Complete Tales and Poems, S. 681.) 393 Siehe unten, S. 185. 394 „Le bâton, c’est votre volonté, droite, ferme et inébranlable; les fleurs, c’est la promenade de votre fantaisie autour de votre volonté; c’est l’élément féminin exécutant autour du mâle ses prestigieuses pirouettes. Ligne droite et ligne arabesque, intention et expres‐ sion, roideur de la volonté, sinuosité du verbe, unité du but, variété des moyens, amal‐ game tout-puissant et indivisible du génie, quel analyste aura le détestable courage de vous diviser et de vous séparer? “ (Le Spleen de Paris XXXII, S. 336.) ringsten Dinge intensivierte und eine bunte und anregende Fülle von schweif‐ enden, ungeordneten Gedanken in ihm auslöste: Cependant, l’opium avait produit son effet accoutumé, qui est de revêtir tout le monde extérieur d’une intensité d’intérêt. Dans le tremblement d’une feuille, - dans la couleur d’un brin d’herbe, - dans la forme d’un trèfle, - dans le bourdonnement d’une abeille, - dans l’éclat d’une goutte de rosée, - dans le soupir du vent, - dans les vagues odeurs échappées de la forêt, - se produisait tout un monde d’inspirations, une procession magnifique et bigarrée de pensées désordonnées et rhapsodiques. 391 Dieses rauschhafte, von äußeren Zufälligkeiten bestimmte Denken fördert die Inspiration („se produisait tout un monde d’inspirations“) und führt zu unge‐ wohnten Gedankenfolgen, die Baudelaire mit Poe „rhapsodisch“ nennt: […] le mot rhapsodique […] définit […] un train de pensées suggéré et commandé par le monde extérieur et le hasard des circonstances […] 392 Rhapsodisches Denken hat er auch beim flanierenden Protagonisten von Sainte-Beuves Vie, poésies et pensées de Joseph Delorme festgestellt, dem er im Spleen de Paris nachzueifern sich bemühte 393 . Dem rhapsodischen Denken ver‐ wandt ist die arabeske Linienführung in der Musik, die er im Prosagedicht Le Thyrse an Liszt rühmt 394 . Das Bild des von flatternden Bändern und Ranken umspielten Thyrsusstabes hat er De Quincey entlehnt, der es für seine Vorge‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 142 395 „[…] the whole course of this narrative resembles, and was meant to resemble, a cadu‐ ceus wreathed about with meandering ornaments, or the shaft of a tree’s stem hung round and surmounted with some vagrant parasitical plant. The mere medical subject of the opium answers to the dry, withered pole, which shoots all the rings of the flo‐ wering plants, and seems to do so by some dexterity of its own; whereas, in fact, the plant and its tendrils have curled round the sullen cylinder by mere luxuriance of theirs. […] The true object in my Opium Confessions is not the naked physiological theme, […] but those wandering musical variations upon the theme, - those parasitical thoughts, feelings, digressions, which climb up with bells and blossoms round about the arid stock […].“ (Suspiria de Profundis, S. 454 f.) 396 Un Mangeur d’opium, S. 515. 397 Le Poème du hachisch, S. 428. 398 „[…] il y a dans la vie triviale, dans la métamorphose journalière des choses extérieures, un mouvement rapide qui commande à l’artiste une égale vélocité d’exécution.“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 686.) hensweise in den Confessions of an English Opium-Eater verwendet hatte 395 , was von Baudelaire so wiedergegeben wird: […] pensée solitaire, qui aspire à s’envoler loin de ce sol et loin du théâtre des luttes humaines; grands coups d’aile vers le ciel; monologue d’une âme qui fut toujours trop facile à blesser. […] cette pensée est le thyrse dont il a si plaisamment parlé […]. Le sujet n’a pas d’autre valeur que celle d’un bâton sec et nu; mais les rubans, les pampres et les fleurs peuvent être, par leurs entrelacements folâtres, une richesse précieuse pour les yeux. La pensée de De Quincey n’est pas seulement sinueuse; le mot n’est pas assez fort: elle est naturellement spirale. 396 „Rhapsodique“, „arabesque“, „sinueux“, „spirale“ - Zahl und Mannigfaltigkeit der Ausdrücke belegen Baudelaires großes Interesse am Ablauf der Gedanken im Zustand des künstlerischen Enthusiasmus. Unter dem Einfluss von Haschisch verstärkt und vor allem beschleunigt sich nun ein ‚rhapsodischer‘ Gedankenfluss ins „Unendliche“: Ici, le raisonnement n’est plus qu’une épave à la merci de tous les courants, et le train de pensées est infiniment plus accéléré et plus rhapsodique. 397 Daher muss seine Wiedergabe ebenfalls schnell sein. Auf Schnelligkeit als ein wesentliches Element des künstlerischen Schaffensprozesses hat Baudelaire wiederholt hingewiesen. Im Peintre de la vie moderne hat er z. B. das Wieder‐ aufkommen der Mal- und Drucktechniken des 18. Jahrhunderts mit dem schnellen Wandel des modernen Lebens erklärt, der vom Künstler schnelle Ver‐ fahren verlange 398 , und zu Constantin Guys hat er festgestellt, dass dieser bei 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 143 399 Dieser „art mnémonique“ dient der Konzentration auf das Wesentliche von Farbe, Sil‐ houette und Kontur und verhindert, dass sich der Künstler im Detail verliert; siehe dazu J. Frey, Studien über das Reden der Dichter. Mallarmé - Baudelaire - Rimbaud - Höl‐ derlin, München1986, S. 66 f. 400 Le Peintre de la vie moderne, S. 699 f. Pichois sieht hier Baudelaires eigene „esthétique de l’ébauche“ auf Guys projiziert (Bd. 1, „Notes“, S. 1007). Schon Leakey hat auf die Guys-Parallele hingewiesen („The Originality of Baudelaire’s Le Cygne“, S. 50 f.). Siehe zum Thema auch H. Doetsch, „Momentaufnahmen des Flüchtigen. Skizzen zu einer Lektüre von Le Peintre de la vie moderne“, in: K. Westerwelle (Hrsg.), Charles Baude‐ laire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007, S. 139-162, bes. S. 150 ff. 401 „E. Delacroix me disait un jour: ‚L’art est une chose si idéale et si fugitive, que les outils ne sont jamais assez propres, ni les moyens assez expéditifs. Il en est de même de la littérature […]‘“ (Œuvres complètes, Bd. 2, S. 13-20, hier: S. 17.) Auf den Schriftsteller bezogen heißt das: „Pour écrire vite, il faut avoir beaucoup pensé, - avoir trimballé un sujet avec soi, à la promenade, au bain, au restaurant, et presque chez sa maîtresse.“ (Ebd.) 402 Salon de 1859, S. 625. seinem Arbeiten nach dem Gedächtnis 399 mit einem fast rasenden Eifer verfahre, damit sich das Erinnerungsbild nicht verliere: Ainsi, dans l’exécution de M. G. se montrent deux choses: l’une, une concentration de mémoire résurrectionnelle, évocatrice, une mémoire qui dit à chaque chose: „Lazare, lève-toi! “; l’autre, un feu, une ivresse de crayon, de pinceau, ressemblant presque à une fureur. C’est la peur de n’aller pas assez vite, de laisser échapper le fantôme avant que la synthèse n’en soit extraite et saisie […] (S. 699) Das „Phantom“ halte Guys nacheinander mit Bleistift, Tuschlavierungen, in‐ tensiven Farben und schließlich mit Tintenkonturierungen fest, so dass die Zeichnung in jeder Arbeitsphase hinreichend vollständig erscheine. Man könne das eine Skizze nennen: „vous nommerez cela une ébauche si vous voulez, mais ébauche parfaite“ 400 . Baudelaires Kronzeuge für eine schnelle Ausführung des künstlerischen Gedankens war jedoch Eugène Delacroix, dessen diesbezügliche Ansichten er mehrfach zitiert, zuerst 1846 in den Conseils aux jeunes littéra‐ teurs 401 , dann im Salon de 1846 und wieder im Salon de 1859, wo er sie damit begründet, dass bei der Ausführung der künstlerischen Idee nichts vom ur‐ sprünglichen starken Eindruck verlorengehen dürfe: […] qu’elle [l’exécution] soit très rapide, c’est pour que rien ne se perde de l’impression extraordinaire qui accompagnait la conception […] 402 In seinem letzten großen Artikel über Delacroix wiederholt er dies noch einmal und präzisiert, dass ohne eine schnelle Ausführung die „intensité de l’action ou de l’idée“ sich verflüchtige: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 144 403 L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix, S. 764. Zur Identität von „intensité“ und ekstati‐ scher Erfahrung bzw. „surnaturel“ für Baudelaire siehe Frey, Studien über das Schaffen der Dichter, S. 69. 404 Siehe Frey, ebd. 405 Die wesentlichen Änderungen sind der Wegfall des Mottos und „le nouveau Carrousel“ für „le vaste Carrousel“ (I, Str. 2). 406 Zitiert nach Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 1007. 407 Vgl. Leakey, „The Originality of Baudelaire’s Le Cygne“, S. 39: „The opening phrase here is clearly something of a cliché (like so many phrases that come, unbidden, into one’s mind! ); Baudelaire is echoing a familiar and predictable reaction to Haussmann’s end‐ less ‚renovations‘ oft he 1850s and 1860s […].“ […] la préoccupation de toute sa vie […] était, comme on le sait, d’exécuter assez vite et avec assez de certitude pour ne rien laisser s’évaporer de l’intensité de l’action ou de l’idée. 403 Die sich schnell verflüchtigende Intensität eines ekstatischen Geschehens („l’ac‐ tion“), bei dem das Einzelne als Symbol des Ganzen erlebt wird, hat im künst‐ lerischen Enthusiasmus ihr Pendant in der ebenso flüchtigen Intensität der Vor‐ stellung („l’idée“), die sich im Künstler bildet. Beides verlangt daher eine schnelle Wiedergabe. Wenn zusätzlich die wiederzugebenden Vorstellungsgegenstände schnell ablaufen, wie es beim rhapsodischen Denken der Fall ist, wird eine schnelle Umsetzung umso dringlicher, ganz abgesehen davon, dass auch der Schaffensprozess selbst für eine Beschleunigung sorgt, weil das Einzelne über sich selbst hinausdrängt auf das Ganze hin und ein Innehalten ausgeschlossen ist 404 . Unter solchen Bedingungen stand für Baudelaire auch die Wiedergabe des Geschehens von Le Cygne, bei der es ihm, wie seine Äußerungen über die poe‐ tischen „suggestions“ eines „accident“ und einer „image“ anzeigen, um die Wie‐ dergabe des dichterischen Schaffensprozesses ging. Ist ihm diese Wiedergabe geglückt? Da er, entgegen seiner brieflichen Ankündigung, nach der ersten Ver‐ öffentlichung nur noch geringfügige Änderungen am Text vorgenommen hat, von denen keine die Gedankenfolge betrifft 405 , kann man davon ausgehen, dass er mit dem Erreichten zufrieden war. Auch Hugo hat mit Bewunderung - und mit gewohnter Distanz - auf Le Cygne reagiert: Comme tout ce que vous faites, Monsieur, votre Cygne est une idée. Comme toutes les idées vraies, il a des profondeurs. 406 Tatsächlich kann man das Gedicht als „schnelle“, weitgehend unveränderte Auf‐ zeichnung eines rhapsodischen Denkens im poetischen Enthusiasmus ver‐ stehen. Beim Gang über das „nouveau Carrousel“ vergegenwärtigt sich das Ich in einem durch die klischeehafte Wendung „Le vieux Paris n’est plus! “ 407 einge‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 145 408 „Nachdenken über Andromaque (Zu Baudelaires Le Cygne)“, in: Gestaltung - Umge‐ staltung. Beiträge zur Geschichte der romanischen Literaturen. Festschrift zum 60. Ge‐ burtstag von Margot Kruse, hrsg. von B. König und J. Lietz, Tübingen 1990, S. 429-442, hier: S. 440. leiteten Selbstgespräch das „camp de baraques“, das sich bis vor kurzem dort befand, und erinnert sich an die ebenda angesiedelte „ménagerie“ und den aus ihr entwichenen Schwan. Dann kommen ihm, ausgelöst durch diese melancho‐ lische Erinnerung, weitere Bilder und Vorstellungen, deren prominenteste die literarische Figur der Andromaque ist, mit deren imaginärer Anrede das Gedicht so unvermittelt einsetzt. Wolf-Dieter Stempel hat das „Andromaque, je pense à vous! “ des Gedichtanfangs unter Zusammenfassung früherer Forschungsergeb‐ nisse so beschrieben: Die Unvermitteltheit, durch die der Anruf die jähe Erinnerungsgebärde abbildet, das Hervortreten der mythischen Gestalt, die […] an prominenter Stelle (Versanfang) ge‐ nannt wird, die Rede selbst, die sie und zumal durch die Emphase der Zuwendung als literarische Figur in lebendige, ja betont gegenwärtige Erscheinung bringt […] und damit zugleich das redende Ich in eine verinnerlichte Kommunikationssphäre zu ent‐ rücken scheint, […] - all dies erscheint hochgradig figuriert als eine besondere Art von Deixis am Phantasma […] 408 Die enthusiastische Beschwörung der Andromaque geht im Gedicht dem Selbst‐ gespräch des Ichs und der Erinnerung an den Schwan voraus. Nun ist aber, wie oben gesehen, Andromaque ebensowenig die Auslöserin der Assoziationskette wie das Geschehen chronologisch wiedergegeben ist. Vielmehr hat Baudelaire ganz offensichtlich versucht, im Gedicht nicht mehr und nicht weniger als den Moment des poetischen Einfalls festzuhalten, der im Zuge der Vergegenwärti‐ gung der Begebenheit mit dem Schwan das Bild der Andromaque erstehen lässt, und zwar aufgrund der unübersehbaren Analogien beider Vorstellungen. Die erste ist die Analogie des am ‚falschen‘ Wasser trauernden Lebewesens, auf die das später getilgte Motto Falsi Simoentis ad undam verwies: […] Ce petit fleuve, Pauvre et triste miroir où jadis resplendit L’immense majesté de vos douleurs de veuve, Ce Simoïs menteur qui par vos pleurs grandit […] Un cygne qui s’était évadé de sa cage, Et, de ses pieds palmés frottant le pavé sec, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 146 409 I, Strophe 1 und 5 f. 410 Leakey stellt sich das sehr konkret vor und spricht von einer „pause in Baudelaire’s thought: we can imagine him standing alone in the square, lost in his memories, and then as it were coming to himself again, gathering his thoughts together as he once more became aware of the present scene.“ („The Originality of Baudelaire’s Le Cygne“, S. 43.) 411 Vgl. dazu Le Poème du hachisch, S. 431: „Il ne faut pas croire que tous ces phénomènes se produisent dans l’esprit pêle-mêle, avec l’accent criard de la réalité et le désordre de la vie extérieure. L’œil intérieur transforme tout et donne à chaque chose le complément de beauté qui lui manque pour qu’elle soit vraiment digne de plaire.“ 412 Apostrophen werden auch im letzten Teil der Petites Vieilles verwendet, bei dem man nicht auf den Gedanken kommen würde, dass es sich um ein Gespräch handeln könnte. Zur Apostrophe und zur besonderen „manière lyrique de parler“ siehe unten, S. 199f. Sur le sol raboteux traînait son blanc plumage. Près d’un ruisseau sans eau la bête ouvrant le bec Baignait nerveusement ses ailes dans la poudre, Et disait, le cœur plein de son beau lac natal: 409 Die zweite Analogie ist die „Leere“ des Baches („ruisseau sans eau“), neben dem der Schwan am Boden scharrt, und die „Leere“ des Grabes („tombeau vide“), an welchem Andromaque trauert. Das „Andromaque, je pense à vous! “ des ersten Verses bezeichnet exakt jenen Augenblick, in dem diese Bilder in der Phantasie des Ichs zusammenschießen und die poetische Idee des Gedichts geboren wird. Die darauf folgende Erzählung gibt wieder, wie es dazu gekommen ist. Das Ganze ist ein neuerliches Beispiel für die Vielfalt und die Komplexität der poe‐ tischen Assoziationen Baudelaires. Der zweite Teil von Le Cygne beginnt damit, dass das Ich innehält und seine äußere und innere Situation betrachtet 410 , bevor es sich wieder der Bilderflut des Enthusiasmus überlässt, die nun jedoch in geordneter Weise abläuft 411 . Auch die imaginäre Gesprächssituation des Anfangs ist zurückgenommen und ‚beruhigt‘ sich. Die Wendungen „Et puis à vous, / Andromaque, des bras d’un grand époux tombée“ (V. 36 f.) und „Veuve d’Hector, hélas! Et femme d’Hélénus! “ (V. 40) sind eher lyrische Apostrophen, die aus dem „état exagéré de vitalité“ des Lyrikers hervorgehen, als Anredeformen aus imaginierter nächster Nähe 412 . Dafür ver‐ tieft sich in den folgenden Sätzen mit ihrem wiederholten „Je pense à“ die Eks‐ tase und die Anschauung der „profondeur de la vie“ in der Reihe der erinnerten und vorgestellten Gestalten. Das Ich lässt sie in einer Aufzählung, der melan‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 147 413 Die Aufzählung ist die sprachliche Figur, die den „rhythmischen Vollzug des Vergehens“ evoziert (Frey, Studien über das Reden der Dichter, S. 78). Frey setzt den dichterischen melancholischen Erinnerungsakt ab vom nostalgischen Erinnern der Figuren (Andro‐ maques, der „négresse“ usw.) an das, was sie verloren haben (S. 72 ff.). 414 „Cet état nouveau est ce que les Orientaux appellent le kief. Ce n’est plus quelque chose de tourbillonnant et de tumultueux; c’est une béatitude calme et immobile, une résig‐ nation glorieuse. Depuis longtemps vous n’êtes plus votre maître, mais vous ne vous en affligez plus. La douleur et l’idée du temps ont disparu, ou si quelquefois elles osent se produire, ce n’est que transfigurées par la sensation dominante, et elles sont alors relativement à leur forme habituelle ce que la mélancolie poétique est à la douleur positive.“ (Le Poème du hachisch, S. 425.) 415 Leakey („The Originality of Baudelaire’s Le Cygne“, S. 38) führt aus, dass der Leser im Normalfall ein „rearrangement in some form (logical or chronological) of the original ideas, the original experience“ eines Gedichts vor sich habe; diesen „gap, more or less wide“ zwischen ursprünglicher und arrangierter Ideenfolge habe Baudelaire in Le Cygne beseitigt. 416 Zu Rêve parisien siehe im Folgenden. cholischen Ausdrucksform der Vergänglichkeit 413 , an sich vorüberziehen. In der Schlussstrophe verdichten und verschränken sich in einem gesteigerten „en‐ fantement poétique“ noch einmal die vertrauten Bilder von Stadt und Natur bzw. Wald: Im Wald hatte Baudelaire einst die Stadt gesehen, im „Wald“ der Stadt ist sein Geist nun „im Exil“; aus den rauschenden Baumwipfeln hatte er seinerzeit menschliche Klagen herausgehört, nun verwandelt sich auf dem Höhepunkt des Enthusiasmus eine „alte Erinnerung“ an die Klage des (Dichter)Schwans in den vollen „Klang eines Jagdhorns“, und dieser Klang lässt ihn an alle denken, die den „état paradisiaque“ verloren haben und sich im Exil ihres „habitacle de fange“ befinden. Dem Dichter wird hier ein Universalerlebnis der Trauer zuteil, das ein versöhnliches Schlussbild abgibt, vergleichbar der letzten Phase des Ha‐ schischrausches mit ihren „visions splendides doucement terrifiantes et en même temps pleines de consolations“ 414 . Trotz der schnellen Aufzeichnung ist der Gedankenverlauf in Le Cygne selbstverständlich von Baudelaire bearbeitet worden, wie das Einsetzen mit dem poetischen Einfall beweist. Aber er kommt in seiner Form dem ursprünglichen Gedankenverlauf näher als sonst in Gedichten üblich 415 . Die Realisierung des ‚rhapsodischen‘ Denkens war dabei der schwierigere, weil ungewohnte Teil. Le Cygne ist in den „Tableaux parisiens“ jedoch nicht der einzige Fall eines unge‐ wohnten poetischen Ablaufs 416 , und in den Prosagedichten wird Baudelaire es wenig später sogar zu seinem erklärten Programm machen, den „mouvements lyriques de l’âme“, den „ondulations de la rêverie“ und „soubresauts de la cons‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 148 417 Seine Vorstellungen von solchen Abläufen haben sich im Laufe der Jahre gewandelt, denn 1851 spricht er noch von den „rythmes réglés par la tradition“, mit denen die „mouvements lyriques de l’âme“ auszudrücken seien („Les Drames et les romans hon‐ nêtes“, Œuvres complètes, Bd. 2, S. 38-43, S. 39). 418 Siehe Feuillerat, „L’Architecture des Fleurs du mal“, S. 390 f. cience“ in der Großstadt zu folgen - nun mit Hilfe einer poetischen und musi‐ kalischen Prosa 417 . In Le Cygne ist die Großstadt mehr als der poetische Erlebnisraum des Dich‐ ters, der sie in den bisher besprochenen Gedichten war, da sie an der Entstehung seiner „rêverie“ und seines Enthusiasmus nun selbst maßgeblich beteiligt ist. Dabei sind es bemerkenswerterweise nicht die Menschen und ihre Menge, die das melancholische Sinnen des Dichters auslösen, sondern ein Ensemble von Bauten und ein Stadtviertel im historischen Umbruch, das für die Veränderung der ganzen Stadt steht. Dazu kommt ein fait divers um ein Tier mit symbolischer Strahlkraft. Erst dann folgen Menschen, angeführt von einem Geschöpf der Li‐ teratur und weiteren vom Dichter erinnerten und imaginierten „exilés“, die ihm das Leben im irdischen Jammertal verbildlichen. An dieser Gesamtheit von Mensch und Tier, kulturellem Geschöpf, Heimatlosen, Waisen und der ganzen leidvollen Kreatur kann er seine Fähigkeit zum Mitleiden ausleben und ein me‐ lancholisches Einheitserlebnis in der Tiefe der Zeit wie des Raumes erfahren. Diese neue Großstadtdichtung Baudelaires hat ihre eigene beglückende Schön‐ heit, der sich selbst hartnäckige Verfechter des Gedankens von der ausschließ‐ lichen Trübsal und Hässlichkeit der Großstadt auf Dauer nicht haben entziehen können. f) „Tableaux parisiens“ Spätestens nach Fertigstellung der Gedichte der „nouvelle série“, in denen das Großstadterlebnis des Dichters zur vollen Entfaltung gekommen war, dürfte Baudelaire den Plan gefasst haben, diesem Thema in der Neuauflage der Fleurs du mal, an der er seit dem Herbst 1858 arbeitete 418 , eine eigene Abteilung zu widmen. Vor allem in dem Jahr zwischen Unterzeichnung des Vertrags mit Poulet-Malassis ( Januar 1860) und Abgabe des vollständigen Manuskripts ( Ja‐ nuar 1861) war er mit dem Sammeln und Ordnen bisheriger und dem Verfassen weiterer Gedichte für die geplanten „Tableaux parisiens“ beschäftigt. 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 149 419 Anders Feuillerat, der die aus der Erstauflage übernommenen Stücke für den „noyau“ der Abteilung hält (S. 303). Das entspricht seiner Wertschätzung der ersten Fleurs du mal, deren Einheit er durch die Entwicklung der neu hinzugefügten Gedichte gestört sieht. 420 Siehe die Hinweise bei Adam, S. 377; Pichois, „Notes“, S. 996; Crépet / Blin, S. 444. Auf eine frühe Entstehung deuten motivische Parallelen etwa zu Le Vin des chiffonniers und L’Idéal. Tragendes Gerüst der neuen Abteilung waren die Gedichte, in denen das neue Konzept entwickelt worden war 419 , ausgenommen Le Vin des Chiffonniers, der aus schon genannten Gründen weiterhin in der Abteilung Le Vin blieb. Von den übrigen sechs Gedichten waren die beiden Crépuscules als Nr. LXVII und LXVIII bereits in der Abteilung „Spleen et Idéal“ der Fleurs du mal von 1857 publiziert worden. Aus dieser Abteilung boten sich vier weitere Stücke zur Aufnahme in die neue Rubrik an, die mehr oder weniger deutlich im ‚Raum‘ Großstadt an‐ gesiedelt waren, auch wenn ihr lyrischer Habitus dem neuen Konzept noch fernstand und traditioneller war. Dazu kamen sechs neue Stücke, so dass sich ein Gesamt von 18 Gedichten ergab. Das erste der aus der Erstauflage der Fleurs du mal übernommenen Gedichte trägt den Titel Le Soleil („Tableaux parisiens“ LXXXVII ). Es stammt aus Baude‐ laires früher Periode, als er Themen der älteren Lyrik der Pléiade und des Barock zu modernisieren versuchte 420 , und ist Adam zufolge „un des plus médiocres [poèmes] parmi Les Fleurs du mal“. Nicht zuletzt weil es 1857 an prominenter zweiter Stelle stand (1861 dort durch L’Albatros ersetzt) und in der neuen Ab‐ teilung „Tableaux parisiens“ dieselbe Stelle einnimmt, sieht Pichois in ihm ein „Emblem“ des Dichters, besser wohl des Dichters in der Großstadt. Denn es stellt die Tätigkeiten des Dichters und der Sonne in der großen Stadt nebeneinander: des Dichters, der, wenn die Sonne unbarmherzig vom Himmel scheint, durch die Straßen der Stadt irrt, Reime, Wörter und Verse suchend und manchmal lang erträumte findend; der Sonne, die als Vater die Erde nährt und Sorgen vertreibt, Köpfe wie Bienenstöcke mit Honig füllt, die Alten verjüngt und die Jungen er‐ freut und ewiges Wachsen und Blühen befiehlt. Wenn sie wie ein Dichter in die Stadt hinabsteigt, adelt sie die niedrigsten Dinge und herrscht einem König gleich in Hospitälern und Palästen. Der etwas seltsam wirkende Vergleich zwi‐ schen Sonne und Dichter ist keineswegs abwegig, denn Phoebus, der Sonnen‐ gott, ist als Apollo zugleich der Gott der Dichtkunst, die mithin auch städtische Themen adeln kann. Bereits in diesem frühen Gedicht setzt Baudelaire also auf eine positive und durchaus anspruchsvolle Rolle des Dichters in der Stadt, die er aber noch nicht anders als mit traditionellen Bildern wiederzugeben weiß. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 150 421 Zur Datierung (um 1845 / 1846), zum gleichzeitigen literarischen Umfeld und zum bio‐ graphischen Hintergrund siehe Pichois, „Notes“, S. 997 ff.; Adam, „Notes“, S. 378 f.; Crépet / Blin, S. 445 ff. 422 Siehe Pichois, S. 999 ff. Dort auch zu den Überarbeitungen. 423 Carle (eigentlich Antoine Charles Horace) Vernet, Bordeaux 1758 - Paris 1836, ent‐ stammte einer Familie von Malern und war einer der besten Zeichner und Karikatu‐ risten seiner Zeit, den Baudelaire in Quelques caricaturistes français bewundert hat. Der beschriebene Stich dürfte von dem Zeitgenossen Pierre Guérin sein. Für Baudelaires Verwechslung war wohl ausschlaggebend, dass beide Künstler denselben Graveur Darcis hatten; siehe Pichois (der die Namensform Guérain verwendet), S. 1028. Auch die Entstehung des als Nr. LXXXVIII folgenden Gedichts À une men‐ diante rousse fällt in die frühen Jahre des Interesses für ältere Dichtung. In diesem Fall handelt es sich um das barocke Thema der „schönen Bettlerin“, das in den 1840 / 1850er Jahren ein allgemeines Renouveau erlebte. Hinzu kommen wahr‐ scheinliche Begegnungen mit realen Personen, über deren Identifizierung man viel diskutiert hat 421 . Die erste Fassung des Gedichts ist ein „pastiche admirab‐ lement réussi“, das sich, passend zum Thema, in Form (Odelette) und Vers‐ schema (drei Siebensilber, ein Viersilber) sowie mit seiner archaisierenden Dik‐ tion an der Pléiade, vor allem an Ronsard, orientiert 422 . 1851 / 1852 gefiel dies Baudelaire nicht mehr und er begann, das Gedicht zu modernisieren, die Ar‐ chaismen und den Pléiadestil zu tilgen. Noch in den Druckfahnen von 1857 arbeitete er daran. In definitiver Form lag es 1861 vor. Die Erscheinung der bet‐ telnden Schönen in zerlumpten Kleidern passte grundsätzlich ins Bild der Groß‐ stadt, ein gefälliges, leichtes Gedicht darauf also in eine Großstadtlyrik im wei‐ testen Sinne, während die nicht getilgten Namen des 16. Jahrhunderts (Belleau, Ronsard, Valois) als Bildungsmetaphern durchgehen konnten und durch den Namen eines teuren zeitgenössischen Restaurants (Véfour) wettgemacht wurden. Unmittelbar auf À une mendiante rousse folgte 1857 Le Jeu, heute Nr. XCVI der „Tableaux parisiens“. Ausgangspunkt dieses Gedichts ist wohl die Meditation über eine Lithographie, von der Baudelaire eine ausführliche Bildbeschreibung in Quelques caricaturistes français (1857) gegeben hat. Darin schreibt er das Werk irrtümlich Carle Vernet zu, den er für seinen „accent véridique“ und die histo‐ rische Aussagekraft der dargestellten Lebensformen lobt 423 . Die Szene im Spie‐ lermilieu zeigt Männer verschiedenen Alters, die mit höchster Anspannung dem Glücksspiel nachgehen, dazu leichte Mädchen und verlebte Kurtisanen, die im Hintergrund auf ihre Chance warten. Baudelaire hat diesen beiden Gruppen von sich aus die Dichter („poètes illustres“) hinzugefügt, die unter dem Schein über‐ großer Lüster mit finsterer Stirn den Lohn ihrer mühsamen Arbeit („leurs sang‐ lantes sueurs“) verspielen. Dieses düstere Bild („ce noir tableau“) habe er in 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 151 424 Fusées VI, 8, S. 654. 425 Str. 4 f., S. 96. 426 Pichois ist hier nicht ganz auf der Höhe seiner sinnbildlichen Deutung, wenn er meint, ohne den Plural „poètes“ hätte man an Benjamin Constant, „joueur invétéré“, denken können („Notes“, S. 1028). einem nächtlichen Traum gesehen und dazu sich selbst, abseits sitzend, voller Neid auf die Leidenschaft und Lebenslust der Gestalten vor sich, die ihre Ehre oder ihre Schönheit munter zu Markte tragen und Schmerz und Hölle dem Tod und dem Nichts vorziehen. Der großstädtische Charakter des Motivs der Spielhölle liegt auf der Hand. Die Szene selbst ist moralistisch gesehen. Pichois deutet sie als ein Bild des Le‐ bens und der Lebenseinstellung und verweist dazu auf eine Eintragung Baude‐ laires in den Fusées: La vie n’a qu’un charme vrai; c’est le charme du Jeu. Mais s’il nous est indifférent de gagner ou de perdre? 424 In der Tat handelt die zweite Hälfte des Gedichts vom Dichter-Ich, das der me‐ lancholische Zuschauer dieses düsteren Bildes vom Leben ist: Moi-même, dans un coin de l’antre taciturne, Je me vis accoudé, froid, muet, enviant, Enviant de ces gens la passion tenace, De ces vieilles putains la funèbre gaieté, Et tous gaillardement trafiquant à ma face, L’un de son vieil honneur, l’autre de sa beauté! […] 425 Während Baudelaire sich selbst so in der Pose des einsamen und lebensüber‐ drüssigen Melancholikers zeichnet, stellt er seine „illustren“ Kollegen als rührige Teilnehmer am Spiel des Lebens dar, die darin leichthändig ihre unter Mühen erworbenen Meriten einsetzen 426 . Das Bild des Dichters in diesen Versen ist also ein doppeltes, ein satirisch-parodistisches und ein melancholisch-teilnahms‐ loses. Es lässt die spätere Vorstellung vom Enthusiasmus des Dichters in der Großstadt noch nicht ahnen. Brumes et pluies wurde erstmals 1857 veröffentlicht, unmittelbar hinter den vier Spleen-Gedichten (Nr. LXIII ). Ähnlich diesen ist es ein Gedicht der Melan‐ cholie, die hier Jahreszeiten (und Lebenszeiten? ) zugeschrieben wird. Das Dichter-Ich singt ein Loblied auf Herbst, Winter und regenreiche Frühjahre, die „blafardes saisons, reines de nos climats“, bei deren Anblick es seine „ailes de I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 152 427 Correspondance, Bd. 1, S. 445. Der Brief nimmt die spätere (unbiographische) Reihen‐ folge vorweg, die dem Leser ‚natürlicher‘ erscheint. 428 Siehe Pichois, „Notes“, S. 1036 ff.; Crépet / Blin, S. 475 f. 429 Siehe Adam, „Notes“, S. 395; Pichois, „Notes“, S. 1039. corbeau“ weit und besser entfalten könne als in der Zeit des „tiède renouveau“. Der Rabe ist ein Vogel des Apollo, die Rabenflügel sind also Hinweis auf den dichterischen Aufschwung. Auch wenn von einer „grande plaine où l’autan froid se joue“ (2. Quartett) die Rede ist, kann man sich - nicht nur wegen des trös‐ tenden „lit hasardeux“ im zweiten Terzett - leicht eine städtische Umgebung vorstellen, so dass die definitive Übernahme in die „Tableaux parisiens“ ( CI ) plausibel, wenn auch nicht zwingend erscheint. Die beiden letzten der Abteilung „Spleen et idéal“ entstammenden Gedichte, „La servante au grand cœur …“ und „Je n’ai pas oublié …“ (Nr. LXIX bzw. LXX ), erscheinen in den „Tableaux parisiens“ in umgekehrter Reihenfolge als Nr. XCIX und C. Nach Aussagen Praronds sind beide früh entstanden (vor 1843). In einem Brief an seine Mutter (11. Januar 1858) äußert sich Baudelaire zu ihrem intimen Charakter: Vous n’avez donc pas remarqué qu’il y avait dans Les Fleurs du mal deux pièces vous concernant, ou du moins allusionnelles à des détails intimes de notre ancienne vie, de cette époque de veuvage qui m’a laissé de singuliers et tristes souvenirs, - l’une: Je n’ai pas oublié, voisine de la ville … (Neuilly), et l’autre qui suit: La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse … (Mariette)? J’ai laissé ces pièces sans titres et sans in‐ dications claires parce que j’ai horreur de prostituer les choses intimes de famille. 427 Naturgemäß hat das Interesse für diese Gedichte allerlei biographischen Fragen und Spekulationen gegolten, letztere zumal um die „servante au grand cœur“. Dazu kam die Frage nach literarischen Anregungen durch Hugo für das idylli‐ sche Haus sowie durch Hugo und Gautier für das Thema der „pauvres morts“ 428 . Einig ist man sich in der poetischen Bewertung des Verses „La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse …“, der noch Generationen später von Dichtern geschätzt wurde: „Ce vers célèbre, qui tient tout un roman de Balzac dans ses douze syllabes […]“ lautete Valérys Urteil über ihn und das von Jean Cocteau: „Voilà le vers-événement, celui qui entraîne tout le poème vers le haut.“ 429 Die neue Platzierung der Stücke in der Abteilung „Tableaux parisiens“ war der frü‐ heren schon wegen der Situierung „voisine de la ville“ ( XCIX ) und der biogra‐ phischen Konkretheit vorzuziehen. Die sechs Gedichte, die Baudelaire nach 1857 für die „Tableaux parisiens“ neu verfasst hat, sind in der Reihenfolge ihrer Entstehung Danse macabre, Le Sque‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 153 430 Salon de 1859, S. 678. Siehe auch Crépet / Blin, S. 466 ff. 431 Pichois, „Notes“, S. 1029 ff. Adam, „Notes“, S. 390 ff. Die Statuette hat Baudelaire im Salon de 1859 beschrieben und dazu auch Teile des Gedichts zitiert (Bd. 2, S. 679 f.). 432 „Gouge est un excellent mot, mot unique, mot de vieille langue, applicable à une danse macabre, mot contemporain des danses macabres. UNITE DE STYLE, primitivement, une belle gouge n’est qu’une belle femme; postérieurement, la gouge, c’est la courtisane qui suit l’armée, à l’époque où le soldat, non plus que le prêtre, ne marche pas sans une arrière-garde de courtisanes. Il y avait même des règlements qui autorisaient cette vo‐ lupté ambulante. Or, la Mort n’est-elle pas la Gouge qui suit en tous lieux la Grande Armée universelle, et n’est-elle pas une courtisane dont les embrassements sont positi‐ vement irrésistibles? Couleur, antithèse, métaphore, tout est exact.“ (Correspondance, Bd. 1, S. 546 f.) lette laboureur, L’Amour du mensonge, Rêve parisien, Les Aveugles und À une passante. Danse macabre ist in den letzten Tagen des Jahres 1858 entstanden und am 15. März 1859 in der Revue contemporaine veröffentlicht worden. Es war zu Leb‐ zeiten Baudelaires eines seiner verbreitetsten Gedichte. Todes- und Skelettdar‐ stellungen waren damals sehr beliebt. Baudelaire selbst hat in seinem kurz da‐ rauf verfassten Salon de 1859 das Skelett als Thema der Skulptur verteidigt und von seiner „beauté mystérieuse“ gesprochen, die ihm als dem „plan du poème humain“ eigen sei 430 . Für sein Gedicht hat er sich an der Vorstellung des Toten‐ tanzes inspiriert und, wie es scheint, an einer Statuette des Bildhauers Ernest Christophe, dem das Gedicht auch gewidmet ist 431 . Ein nachdenkliches Ich be‐ schreibt darin ein weibliches Skelett, das mit Verführungskunst und Grazie he‐ rausgeputzt am Tanz des Lebens teilnimmt und den lebenden Tänzern, von denen es mit Grauen abgewiesen wird, ein Memento mori vorhält. Baudelaire hat mit dem Herausgeber der Revue contemporaine hartnäckig um den Text und seine Wort- und Bilderwahl gerungen, etwa um das archaisierende „gouge“ 432 , und er hat dem Gedicht ausdrücklich einen allegorischen Charakter zugespro‐ chen: Danse macabre n’est pas une personne, c’est une allégorie. […] Allégorie archi-connue, qui veut dire: le train de ce monde conduit par la Mort. (Ebd.) Diese allegorische Bedeutung von Danse macabre als Tanz des vom Tod ange‐ führten Lebens in der Welt der Großstadt - sowie die Nähe zu Le Squelette la‐ boureur - könnten dafür verantwortlich sein, dass es seinen Platz in den „Ta‐ bleaux parisiens“ gefunden hat und nicht in der Abteilung „La Mort“. Zum Bild des Dichters in der Großstadt trägt es unmittelbar nichts bei. Zur Todesthematik gehört auch das ein Jahr später entstandene Le Squelette laboureur ( XCIV ), zu dem diesmal der anatomische Atlas De corporis humani I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 154 433 Pichois, S. 1023. Erstdruck des Gedichts am 22. Januar 1860 (La Causerie). Das soge‐ nannte Vesalsche Skelett, das Vesalius 1543 während eines Kolloquiums in Basel prä‐ parierte, ist noch heute das älteste Stück der dortigen anatomischen Sammlung. 434 Siehe etwa Mercier, Tableau de Paris, Bd. 1, S. 348 ff. (II, Kap. 144: „Bouquiniste“). 435 Correspondance, Bd. 2, S. 14. fabrica libri septem von Andreas Vesalius (Basel 1543) den Anstoß gegeben haben dürfte 433 . Baudelaire interessierte sich für alte Stiche, wie man sie bei den Bou‐ quinisten am Seineufer finden konnte. Darin waren bis zum Barock Darstel‐ lungen von grabenden Skeletten nichts Ungewöhnliches. Sein Gedicht beginnt mit der städtischen Szenerie an den Quais de la Seine, wo man in staubigen Büchern diesen Bildtafeln mit grabenden Skeletten und Enthäuteten begegne, denen ein wissender alter Künstler überraschende Schönheit verliehen habe. Das Ich denkt über den Sinn solcher Abbildungen nach und fragt, ob sie zeigen sollen, dass nicht einmal der Tod das Ende der Mühen bedeutet. Eine Beziehung zum Großstadtthema besteht nur in der eingangs geschilderten Szene, die eine typisch Pariserische ist und an das ‚tableau de Paris‘ erinnert 434 . Doch könnte die Aktualität des Themas zur Positionierung in den „Tableaux parisiens“ bei‐ getragen haben. Im März 1860 schickt Baudelaire das Gedicht L’Amour du mensonge ( XCVIII ), das noch den Titel Le Décor trägt, an Poulet-Malassis mit der Bemerkung „Vous reconnaîtrez l’héroïne de cette fleur.“ 435 Diese Bemerkung hat die üblichen Dis‐ kussionen und Vermutungen über die Identität der beschriebenen Frau ausge‐ löst. Es scheint jedoch, dass der Sinn des Gedichts weniger in der Liebeserklä‐ rung an eine bestimmte Frau liegt, die nicht mehr jung und vielleicht Tänzerin war, als vielmehr in der Liebe zu etwas Abstraktem, das im Gedicht bald „décor“ oder „Masque“, bald „mensonge“ genannt wird und das man als die nicht na‐ türliche, vielmehr künstlich erzeugte Attraktivität der Frau umschreiben kann. Darauf deutet auch das Motto aus Racines Athalie ( II , 5) über die noch an ihrem Todestag prächtig geschmückte Jezabel, das dem Gedicht bei der ersten Veröf‐ fentlichung (15. September 1860, Revue contemporaine) beigefügt war: Même elle avait encore cet éclat emprunté Dont elle eut soin de peindre et orner son visage, Pour réparer des ans l’irréparable outrage. Im Peintre de la vie moderne, der zur selben Zeit entstanden ist, hat Baudelaire das Phänomen unter dem eindeutigeren Titel „Éloge du maquillage“ be‐ 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 155 436 „Notes“, S. 1034. Zum Gedanken, dass beim Anblick einer Frau schon der schöne Schein seine Wirkung tut, zitiert er als mögliche Quelle Verse von Gautier: „Le bonheur qui nous vient d’un mensonge est le même / Que s’il était prouvé par l’algèbre.“ (Albertus, XXIII, Poésies complètes, Bd. 1, S. 138.) 437 Le Peintre de la vie moderne, S. 715. 438 Les Fleurs du mal XCVIII, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 99. schrieben. Pichois sieht in diesem Kapitel denn auch „le meilleur commentaire“ zum Gedicht 436 . Im „Éloge du maquillage“, der ein Essay über die Kunst des Schminkens ist, wendet Baudelaire sich gegen die Naturästhetik des „La nature embellit la beauté! “ und leitet diesen falschen Gedanken aus dem Glauben des 18. Jahrhun‐ derts an die gute Natur her, dem er entgegenhält: „la nature ne peut conseiller que le crime“ - „La vertu, au contraire, est artificielle, surnaturelle […]“ 437 . Ebenso wie in der Moral verhält es sich im Bereich des Schönen. Schon die Naturvölker haben die „haute spiritualité de la toilette“ begriffen. Die Mode ist ein Symptom des „goût de l’idéal“ des Menschen und die Frau hat das Recht, ja geradezu die Pflicht, ihr zu dienen: La femme est bien dans son droit, et même elle accomplit une espèce de devoir en s’appliquant à paraître magique et surnaturelle; il faut qu’elle étonne, qu’elle charme; idole, elle doit se dorer pour être adorée. Sie muss das Ziel mit allen Mitteln verfolgen, auch wenn der Trug offensichtlich ist: Il importe fort peu que la ruse et l’artifice soient connus de tous, si le succès en est certain et l’effet toujours irrésistible. Diese Feststellung spricht explizit aus, was die letzte Strophe des Gedichts mit poetischen Worten sagt: Mais ne suffit-il pas que tu sois l’apparence, Pour réjouir un cœur qui fuit la vérité? Qu’importe ta bêtise ou ton indifférence? Masque ou décor, salut! J’adore ta beauté. 438 Übereinstimmungen zwischen Gedicht und Essay finden sich auch in Einzel‐ heiten: so der „regard (plus) profond“ und das Insistieren auf den Augen als „Beaux écrins sans joyaux“, die mit dem Himmel verglichen werden, bzw. als „fenêtre ouverte sur l’infini“; ferner das Spiel mit den Schminkfarben Schwarz und Rot, wozu im Gedicht noch die Blässe kommt („Ton front pâle, […] / Où les torches du soir allument une aurore […]“); nicht zuletzt das Recht der Frauen, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 156 439 Vgl. Str. 1: Quand je te vois passer, o ma chère indolente, Au chant des instruments qui se brise au plafond Suspendant ton allure harmonieuse et lente, Et promenant l’ennui de ton regard profond; Vgl. damit Le Peintre de la vie moderne, S. 714: „une harmonie générale […] dans son allure et le mouvement de ses membres“ (Kap. „La Femme“); S. 718: „Tantôt, frappées par la clarté diffuse d’une salle de spectacle, recevant et renvoyant la lumière avec leurs yeux, avec leurs bijoux, avec leurs épaules […]“ (Kap. „Les Femmes et les filles“). 440 Brief an Calonne (Mitte März 1860, Correspondance, Bd. 2, S. 15), in dessen Revue con‐ temporaine das Gedicht am 15. Mai 1860 veröffentlicht wurde. alle Praktiken zu verwenden „pour consolider et diviniser, pour ainsi dire, leur fragile beauté“, das die Vorstellung einer offensichtlich älteren Frau stützt, die den Interpreten des Gedichts soviel Kopfzerbrechen bereitet hat - andererseits lassen sich die Wirkungen des „maquillage“ kaum an einer Frau in der Blüte ihrer Jahre angemessen loben. Freilich geht es nicht nur um kosmetische Kunst; auch Gang und Haltung und ein passendes Umfeld, das die Erscheinung recht in Szene setzt, gehören dazu 439 . Besonders schön sind Baudelaires poetische Bilder für die Eigenschaften der reifen Frau, so die Wendung: „Le souvenir massif, royale et lourde tour, / La couronne […]“ (Str. 3), die er selbst erklärt hat: Le mot royale facilitera pour le lecteur l’intelligence de cette métaphore qui fait du souvenir une Couronne de tours, comme celles qui inclinent le front des déesses de maturité, de fécondité, et de sagesse. L’amour (sens et esprit) est niais à vingt ans, et il est savant à quarante. Tout cela, je vous l’affirme, a été très lentement combiné. 440 Cybele, der turmtragenden Göttin und Mutter der Götter, der „mater turrita“ Vergils (Aen. VI , 784 f.) und Ovids (Metam. X, 696), entspricht im Orient Astarte, deren Name bedeutet „Frau, die Türme baut“ und die demgemäß auch eine Göttin der Städte ist. Die folgenden nicht weniger eindrucksvollen Vergleiche und Metaphern erinnern in ihrer exotisch getönten Naturnähe an die Sprache des Hohen Liedes: […] son cœur, meurtri comme une pêche Est mûr, comme son corps, pour le savant amour. Es-tu le fruit d’automne aux saveurs souveraines? Es-tu vase funèbre attendant quelques pleurs, Parfum qui fait rêver aux oasis lointaines, Oreiller caressant, ou corbeille de fleurs? (Str. 3 f.) 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 157 441 Le Peintre de la vie moderne, S. 707. 442 Correspondance, Bd. 2, S. 10. Erstmals veröffentlicht wurde es in der Revue contemporaine vom 15. Mai 1860 (wie L’Amour du mensonge). 443 S. 408 f. („Le Théâtre de Séraphin“). Wie dem auch sei, die „trügerische“, weil künstliche weibliche Schönheit, die hier gepriesen wird, gedeiht nirgendwo so gut wie in der (großen) Stadt. Somit hat diese Liebeserklärung zu Recht ihren Platz in den „Tableaux parisiens“ (so wie der „Éloge du maquillage“ seinen Platz im Peintre de la vie moderne hat, weil „maquillage“ und „mode“ als Teil des „mundus muliebris“ zum bevorzugten Sujet von Guys’ Kunst - „la pompe de la vie, telle qu’elle s’offre dans les capitales du monde civilisé“ - gehören 441 ). Was aber die „Heroine“ des Gedichts angeht, so könnte man Baudelaires Bemerkung auch ironisch verstehen in dem Sinne, dass er sich sicher war, dass Poulet-Malassis sein, Baudelaires, Idealbild weiblicher Schönheit darin erkennen würde. Rêve parisien, das vorletzte Gedicht der Abteilung „Tableaux parisiens“ ( CII ) und eines der rätselhaftesten Baudelaires, ist um dieselbe Zeit entstanden wie L’Amour du mensonge, vielleicht etwas früher, da Baudelaire schon am 13. März 1860 eine Abschrift davon an Poulet-Malassis geschickt hat. Es trägt die Wid‐ mung „À M. Constantin Guys“, zu der im Brief angemerkt ist, dass es keinen anderen „rapport positif et matériel“ zu jenem habe als den, dass Guys, wie das Dichter-Ich des Gedichts, „se lève généralement à midi“ 442 - was nicht viel zum Verständnis beiträgt. Der Text besteht aus fünfzehn Strophen, von denen drei‐ zehn das im Titel angekündigte Traumgeschehen beschreiben, die beiden letzten das Erwachen und die Rückkehr in die harte Realität („La pendule aux accents funèbres / Sonnait brutalement midi […]“).Was den Traum angeht, so ist er wohl ein „rêve naturel“, wenn man sich an die Unterscheidung hält, die Baudelaire im Poème du hachisch getroffen hat, obwohl der Trauminhalt eher für einen „rêve absurde“ oder „hiéroglyphique“ zu sprechen scheint. Letzterer gibt den „côté surnaturel de la vie“ wieder, weshalb er von den Alten für göttlichen Ursprungs gehalten wurde, während der „rêve naturel“ die gewöhnlichen Erlebnisse des Alltags verarbeitet und den Menschen selbst, „l’homme lui-même“, wiederspie‐ gelt 443 . Ist der Träumer ein Dichter oder Künstler, spiegelt der Traum also die Phantasien eines Dichters oder Künstlers wieder. Der Traum in Rêve parisien scheint zusätzlich durch Drogen verursacht zu sein, worauf sowohl die Zeitan‐ gabe „Ce matin encore“ (der Morgen ‚danach‘? ) und das Erwachen beim mit‐ täglichen Glockenschlag deuten als auch die Parallele zum (späteren) Prosage‐ dicht Une Chambre double, das denselben Ablauf eines beglückenden Phantasieerlebnisses mit anschließendem schrecklichem Erwachen aufweist, der dort der „fiole de laudanum“ zu verdanken ist. Nicht zuletzt legen dies die I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 158 444 Un Mangeur d’opium, S. 482 f. 445 „Nous avons déjà noté, dans notre travail sur le hachisch, cette étonnante prédilection du cerveau pour l’élément liquide et pour ses mystérieuses séductions. Ne dirait-on pas qu’il y a une singulière parenté entre ces deux excitants, du moins dans leurs effets sur l’imagination, ou, si l’on préfère cette explication, que le cerveau humain, sous l’empire d’un excitant s’éprend plus volontiers de certaines images? “ (Ebd.) 446 Le Poème du hachisch, S. 431 f. Traumerzählungen des Mangeur d’opium nahe, der im Gefolge seines Opium‐ konsums die kindliche Fähigkeit zu Tagträumen wiedererlangt hat, die sich mit seinen nächtlichen Träumen zu schönen, in ihrer ungeheuren Ausdehnung je‐ doch beängstigenden Fantasmagorien verbinden. Fantastische riesige Bauten, Terrassen, Türme und Befestigungen wechseln sich darin mit Seen, Wasser‐ landschaften, Meeren und Ozeanen ab, und Wasser in allen Formen wird wie im Rêve parisien das beherrschende Element 444 . Ähnliches ist aus dem Haschisch‐ rausch bekannt, denn das menschliche Gehirn scheint unter Drogen bestimmte Bilder zu bevorzugen 445 . Besonders in der „ivresse cérébrale de quelques artistes“ zeigt sich eine erstaunliche Vorliebe für Wasser aller Art: Les miroirs deviennent un prétexte à cette rêverie qui ressemble à une soif spirituelle, conjointe à la soif physique qui dessèche le gosier […]; les eaux fuyantes, les jeux d’eau, les cascades harmonieuses, l’immensité bleue de la mer, roulent, chantent, dorment avec un charme inexprimable. L’eau s’étale comme une véritable enchanteresse, et, bien que je ne croie pas beaucoup aux folies furieuses causées par le hachisch, je n’affirmerais pas que la contemplation d’un gouffre limpide fût tout à fait sans danger pour un esprit amoureux de l’espace et du cristal, et que la vieille fable de l’Ondine ne pût devenir pour l’enthousiaste une tragique réalité. 446 Auch die Bilder des Rêve parisien sind Bilder von Wasser in den verschiedensten Formen seines Vorkommens: „bassins et […] cascades“, „des cataractes pe‐ santes“, „étangs“, „Des nappes d’eau“, „des flots magiques“, „D’immenses glaces éblouies“, „Des Ganges“, „un océan dompté“. Dazu kommen Gebäude: „esca‐ liers“, „arcades“, „un palais infini“, „colonnades“, „quais“, „un tunnel“ sowie Stein, Metall und Edelsteine: „Du métal, du marbre“, „l’or mat ou bruni“, „des pierres inouies“, „gouffres de diamant“, die jedoch immer nur eine das Wasser begleit‐ ende, rahmende oder begrenzende Funktion haben wie die „murailles de métal“ oder der „tunnel de pierreries“, der den Ozean bändigt. Es ergeben sich also weder ein wirklicher Stadttraum, wie der Titel vermuten ließe, noch eine ar‐ chitektonische Fantasmagorie nach Piranesi-Art. Das neben dem Wasser Auf‐ fälligste ist das Fehlen jeglicher Vegetation: Le sommeil est plein de miracles! 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 159 447 Les Fleurs du mal CII, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 101, Str.2 f. 448 Siehe Leakey, Baudelaire and Nature, S. 137 ff. („Aesthetic Anti-Naturalism: Nature, Art and Artifice“). 449 Hygiène VI (S. 671 f.); zu Baudelaires Verhältnis zum Traum siehe A. Béguin, L’Âme ro‐ mantique et le rêve. Essai sur le romantisme allemand et la poésie française, Paris 1963 ( 1 1939), S. 376 ff. 450 Baudelaire and Nature, S. 169 f. 451 Siehe die Parallele im Mangeur d’opium, S. 483: „Le lecteur a déjà remarqué que depuis longtemps l’homme n’évoque plus les images, mais que les images s’offrent à lui, spon‐ tanément, despotiquement. Il ne peut pas les congédier; car la volonté n’a plus de force et ne gouverne plus les facultés. La mémoire poétique, jadis source infinie de jouis‐ sances, est devenue un arsenal inépuisable d’instruments de supplices.“ Par un caprice singulier, J’avais banni de ces spectacles Le végétal irrégulier, Et, peintre de mon génie, Je savourais dans mon tableau L’enivrante monotonie Du métal, du marbre et de l’eau. 447 Der Ausschluss alles unregelmäßigen Vegetabilen zugunsten einer „berau‐ schenden Eintönigkeit“ entspringt der Laune des Ichs, das wie ein genialer Maler sein Traumbild erschafft und genießt. Das hat zweifellos zu tun mit Baudelaires Vorliebe für das Artifizielle und seiner in diesen Jahren besonders prononciert geäußerten Abneigung gegenüber jedem ästhetischen Naturalismus 448 . Hier macht sich also im Drogentraum der träumende Dichter mit seinen Idiosyn‐ krasien und Neigungen bemerkbar, zu denen auch das Insistieren auf dem wil‐ lentlichen Moment zählt: Architecte de mes féeries, Je faisais, à ma volonté, Sous un tunnel de pierreries Passer un océan dompté; (Str. 10) Es erinnert an Baudelaires Tagebuchnotiz „Il faut vouloir rêver et savoir rêver. Évocation de l’inspiration. Art magique.“ 449 , die freilich in erster Linie das künst‐ lerische Wachträumen betrifft. Leakey hat die Frage aufgeworfen, worauf sich der willentliche Schaffensakt in Rêve parisien beziehe 450 . Einer Äußerung Bau‐ delaires zufolge kann er sich nicht auf die Bilder selbst beziehen, die sich hier „spontanément, despotiquement“ aufdrängen 451 . Erst bei ihrem Arrangement ist I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 160 452 J. Prévost, Baudelaire, Paris 1964 ( 1 1953), S. 77 f.: „[…] le poète qui a pris du hachisch est las, épuisé; il a gardé de son orgie non pas des idées, mais quelques sensations singu‐ lières. Peut-il nous les faire partager? Il ne le pourrait pendant l’ivresse: il ne tiendrait que des discours peu cohérents. Le moindre mot, pour le poète intoxiqué, peut prendre une valeur tout à coup profonde ou sublime, mais que son auditeur ne devinera pas. Son vocabulaire a décuplé de puissance, mais pour lui seulement. Au réveil, lui-meme trouvera misérablement pauvres les splendeurs poétiques de son ivresse. L’eau, les rivières, les nymphes, seront de nouveau des mots usés. […] Il s’agit de trouver des images et des charmes qui auront sur des êtres sains d’esprit le même pouvoir qu’avait l’illusion de la drogue. Et donc la drogue n’a fait que proposer, au poète sorti de son ivresse, une difficulté à vaincre plus grande que d’autres sujets.“ Andererseits war die Droge für Baudelaire kein Ersatz der Dichtung für träge Seelen, sondern ein intellektuelles und sinnliches Vergnügen, wie Giovanni Macchia dargelegt hat: „[…] l’oppio non è un sur‐ rogato della poesia, non sostituisce il libro di versi per le anime pigre e ricettive, trac‐ ciando per essi la via più breve? […] così che, mentre il poeta propone delle equazioni, l’oppiomane impone delle identificazioni, delle verità assolute? […] Ma il fatto che in‐ duce a considerare l’oppio quale un eccitante associato al fenomeno poetico è che, a differenza del vino, il quale turba le facoltà mentali, esaspera la parte sensuale dell’uomo e inaugura la follia e la stravaganza, l’oppio introduce sensibilmente tra quelle facoltà l’ordine e l’armonia, ristabilisce nell’uomo la ‚santé intellectuelle‘ per ‚apaiser ce qui a été agité, et concentrer ce qui a été disséminé‘. Come ogni piacere estetico è un piacere intellettuale e sensuale insieme.“ (Baudelaire e la poetica della malinconia, Napoli 1946, S. 61 f.) Diese Überlegungen geben eine Antwort auf die schwierige und strittige Frage nach Baudelaires Drogensucht. 453 „Un silence d’éternité“, Str. 13. Vgl. auch oben, S. 31, Anm. 62. In der Manuskriptfassung lautete der erste Vers „De ce fastueux paysage“; daraus ist noch vor dem Druck „De ce terrible paysage“ geworden; siehe Pichois, „Notes“, S. 1042. 454 Die Quellen, die man dafür genannt hat, reichen von der Apokalypse bis zur deutschen Romantik, von Piranesi über Wordsworth, De Quincey, John Martin bis zu Poe; siehe Leakey, S. 170; Adam, „Notes“, S. 398 f.; Crépet / Blin, S. 478 ff. eine bewusste Kontrolle möglich. Jean Prévost hat grundsätzlich und sehr scharfsinnig das Verhältnis von Drogeneinfluss und poetischer Arbeit bei Bau‐ delaire analysiert und herausgearbeitet, worin dessen poetische Leistung be‐ stand. Die Droge, so argumentiert er, habe Baudelaire die poetische Arbeit er‐ schwert, weil er nach dem Rausch - während desselben war dies unmöglich - die an einfachen Dingen hervorgebrachte Wirkung des Rausches mit poetischen Mitteln habe reproduzieren müssen 452 . In Rêve parisien sind die gesehenen Dinge prachtvolle Wasserlandschaften und -gebilde, die auf ein ekstatisches Erleben weisen, um nicht zu sagen auf ein Erlebnis des Erhabenen, wie es die „terrible nouveauté“ des „ewigen Schweigens“ nahelegt 453 . Für die poetische Ausgestal‐ tung dieser Bilder hat Baudelaire sich Anregung bei verschiedenen Autoren und Malern geholt 454 . Bei ihrem Arrangement bzw. ihrer Abfolge dürfte er sich hin‐ gegen am realen Traum orientiert haben. Dass er dem Phänomen des Träumens große Aufmerksamkeit gewidmet hat, zeigen viele seiner Äußerungen, nicht 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 161 455 Le Spleen de Paris, Poèmes à faire, Bd. 1, S. 366 ff.; hier: S. 367. Béguin spricht von Bau‐ delaires Begabung zur „rêverie“, die „à la source de toute sa poésie“ gewesen sei (L’Âme romantique et le rêve, S. 378). 456 Crépet / Blin nennen Paysages sans arbres, Le Palais sur la mer, Les Escaliers (S. 478). 457 Pichois spricht von einer „méthode“, die Rêve parisien biete, beschränkt sie aber auf die Äußerungen in Str. 2 und 10. 458 Vgl. Un Mangeur d’opium, S. 483: „Les eaux changèrent bientôt de caractère, et les lacs transparents, brillants comme des miroirs, devinrent des mers et des océans. Et puis une métamorphose nouvelle fit de ces eaux magnifiques, inquiétantes seulement par leur fréquence et par leur étendue, un affreux tourment.“ 459 Baudelaire and Nature, S. 165. zuletzt die Rubrik „Onéirocritie“ in den hinterlassenen Projekten für Prosage‐ dichte 455 . Einige der darin aufgeführten Titel weisen eine große Nähe zu Rêve parisien auf 456 . Das spricht dafür, dass die „méthode“ 457 bzw. das Arrangement der Traumbilder in diesem Gedicht nicht frei erfunden, sondern der Realität entlehnt ist. Die Wasserbilder treten nämlich in Serie auf, das heißt sie variieren das Thema Wasser, dies allerdings nicht in einer (unterbrochenen) Traumserie, sondern in ein und demselben ununterbrochenen Traum und sind, mit Baude‐ laires eigenen Worten, fortlaufende „métamorphoses“ des Gegenstandes 458 , wie sie in realen Träumen vorkommen. Man kann deshalb Rêve parisien als ein po‐ etisch bearbeitetes (und wahrscheinlich um einige Bilder erweitertes) Traum‐ protokoll ansehen. Damit wäre das Gedicht eine methodische Parallele zu Le Cygne, in dem Baudelaire einen poetischen Einfall protokolliert hatte. Anders als dort im Brief an Hugo, hielt er eine Erklärung seines Vorgehens in Rêve parisien aber für unnötig, vielleicht weil der Titel es bereits signalisierte. Warum aber der Zusatz parisien im Titel? Leakey bezweifelt, dass parisien hier soviel bedeute wie ein Traum „of Paris“, weil Paris nur im zweiten Teil beim Erwachen des Ichs eine Rolle spiele, die dazu mehr als undeutlich bleibt, denn mit „l’horreur de mon taudis“ ist wie in La Chambre double das Zimmer gemeint, und auch für „le triste monde engourdi“ des letzten Verses muss man nicht not‐ wendig an Paris denken. Für ihn ist das Gedicht ein Traum „in Paris“, ähnlich wie in Paysage (parisien). Hier wie dort sei die große Stadt Ausgangspunkt des Phantasierens und Gegensatz zu dem, was phantasiert wird („the starting-point and antithesis“), weshalb der Titel irreführend sei 459 . Wie schon oben gesehen, hat Baudelaire in seinen Titeln das Adjektiv „parisien“ (oder den Zusatz „de Paris“) immer dann gesetzt, wenn das so Bezeichnete für ihn in den Lebensraum der Großstadt gehörte. Die prächtigen Wasserlandschaften von Rêve parisien sollen demnach ein in der Großstadt geträumter Traum sein, und als einen sol‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 162 460 Man muss dabei nicht so weit gehen wie Antoine Adam, der meint, nur ein Bewohner der Großstadt Paris habe eine solche Landschaft aus Stein und Metall und ohne jegliches Naturelement phantasieren können (S. 398). Ähnlich schon Feuillerat, „L’Architecture des Fleurs du mal“, S. 310. 461 Siehe Pichois, „Notes“, S. 1021 f. Das Original des Gemäldes befindet sich in Neapel im Museo Capodimonte; der Louvre besitzt seit 1893 eine Kopie. Crépet / Blin (S. 459) halten einen Dialog über Blinde in Champfleurys Übersetzung von Hoffmanns Contes post‐ humes (1856) für die wahrscheinlichere Quelle. Dort ist u. a. von dem zum Himmel gerichteten Blick der Blinden die Rede. 462 Siehe Pichois, „Notes“, S. 1021 f. chen kann man sich das Gedicht auch am ehesten vorstellen 460 . Es würde dann dem einleitenden Paysage (parisien) korrespondieren und - wie es Baudelaires Überzeugung zu jener Zeit entsprach - einmal mehr die schöpferische Kraft der Phantasie beweisen, nun freilich mit ernüchterndem Erwachen am Ende. Ausweislich ihrer ersten Veröffentlichung in L’Artiste vom 15. Oktober 1860 sind die jüngsten Gedichte der Abteilung „Tableaux parisiens“ die beiden Sonette Les Aveugles und À une passante (Nr. XCII und XCIII ). Das erstgenannte, Les Aveugles, kann man leicht für das Ergebnis einer in der großen Stadt alltäglichen Begegnung halten. Baudelaires üblicher Vorgehens- und Inspirationsweise näher kommt jedoch die Annahme, dass ein Druck oder eine Lithographie nach Pieter Brueghels Das Gleichnis von den Blinden (Der Blindensturz) Ausgangs‐ punkt für das Gedicht war 461 . Brueghels Gemälde illustriert Matth. 15,14: „Lasst sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ Es zeigt in einer ländlich-dörflichen Umge‐ bung eine Gruppe von sechs hintereinander gehenden Blinden, vier davon mit zum Himmel erhobenem Kopf; ein vorangehender erster liegt bereits in einem Tümpel, der zweite stolpert gerade, wobei er dem Betrachter seine leeren Au‐ genhöhlen zuwendet. Die moralische bzw. anagogische Deutung dieser Szene liegt auf der Hand 462 . Die beiden Quartette des Baudelaireschen Sonetts sind als gesondertes Manuskript erhalten und könnten eine Bildbeschreibung gewesen sein, was für die Brueghel-These spricht. Dazu würde auch die ursprüngliche Aufforderung „Observe-les“ im ersten Vers passen: Les Aveugles Contemple-les, mon âme; ils sont vraiment affreux! Pareils aux mannequins; vaguement ridicules: Terribles, singuliers comme les somnambules; Dardant on ne sait où leurs globes ténébreux. Leurs yeux, d’où la divine étincelle est partie, 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 163 463 Les Fleurs du mal XCII (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 92.) 464 In der ersten Druckfassung hieß es: „Moi, je me traîne aussi, […]“. „Vois! “ ist im Kontext der Blindenbegegnung ungleich prägnanter. Comme s’ils regardaient au loin, restent levés Au ciel; on ne les voit jamais vers les pavés Pencher rêveusement leur tête appesantie. 463 Baudelaire stand dann irgendwann vor der Frage, wie er den Text fortsetzen sollte. Um ihn den „Tableaux parisiens“ einzufügen, musste die Szene in die Stadt versetzt und die Rolle des Ichs ausgebaut werden. Ersteres gelang mit Hilfe der Vorstellung vom „noir illimité, / Ce frère du silence éternel.“ (1. Terzett), welche die Eigenschaften der Blinden und der Stadt(bewohner) in einem moralischen Bild zusammenbringt. Denn die Blinden sind physisch bereits im „noir illimité“, das allen Menschen bevorsteht, angekommen, im verschwisterten „silence éternel“ dagegen noch nicht, da um sie herum die vergnügungssüchtige Stadt singt, lacht und gröhlt, was sie mit ihrem geschärften Gehör besonders wahr‐ nehmen: Ils traversent ainsi le noir illimité, Ce frère du silence éternel. O cité! Pendant qu’autour de nous tu chantes, ris et beugles, Éprise du plaisir jusqu’à l’atrocité, […] (Str. 3 f.) Mit der Anrede an die Stadt - „O cité! “ - ist auch das dichterische Ich des ersten Verses wieder präsent. Es bildet zunächst eine Einheit mit den Blinden gegen die lärmende Stadt („autour de nous“), setzt sich dann aber von ihnen ab: Vois! je me traîne aussi! mais, plus qu’eux hébété, Je dis: Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles? Zwar schleppt es sich gleichermaßen dahin, aber mit stumpferem Blick als die Blinden - oder, wie man „hébété“ wohl eher verstehen muss - benommener, als jene es vom Lärm der Stadt sind, und es fragt sich, was alle diese Blinden, die echten und die im übertragenen Sinne, im Himmel suchen, im echten die Einen, im vermeintlichen Himmel des „plaisir“ die Anderen. Zum Zeugen dieses so unterschiedlichen Verhaltens ruft das Ich die Stadt an, die das alles in sich be‐ herbergt: „Vois! “ 464 . Damit ist Baudelaire bei einer Deutung des Blindenmotivs angekommen, die mit dem allgemein moralisch-anagogischen Sinn des Brue‐ ghel-Bildes Der Blindensturz nichts mehr zu tun hat, sondern die zum einen seine I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 164 465 Dies ist die übliche - litterale - Auffassung des Schlussverses; vgl. etwa Adam, S. 386: „Son [Baudelaires] désespoir, à lui, est plus grand que celui des aveugles.“ Oder Pichois, der aus einem Brief Baudelaires an seine Mutter zitiert (S. 1021): „Je désire de tout mon cœur (avec quelle sincérité, personne ne peut le savoir que moi! ) croire qu’un être ex‐ térieur et visible s’intéresse à ma destinée; mais comment faire pour le croire? “ 466 In der ersten Fassung hieß es im zweiten Terzett: „Cherchant la jouissance avec féro‐ cité“; den im Zusammenhang des dichterischen Stadterlebnisses positiv besetzten Be‐ griff „jouissance“ hat Baudelaire also gegen das gewöhnliche „plaisir“ ausgetauscht, zugleich das brutalere „férocité“ zu „atrocité“ abgeschwächt. Die Änderung „Con‐ temple-les“ für „Observe-les“ in Vers 1 betont gegenüber der Bildbeschreibung den stärker meditativen Charakter der Begegnung. 467 Siehe unten, S. 285 f. 468 Crépet / Blin, S. 460 f. Nur bei De Quincey ist der Ort der Beinahe-Begegnung und des Verlustes die Stadt: „perhaps even within a few feet of each other - a barrier no wider, in a London street, often amounting in the end to a separation for eternity! “ (Confessions of an Opium-Eater, S. 173.) Baudelaire: „peut-être à quelques pas l’un de l’autre, distance suffisante, dans une rue de Londres, pour créer une séparation éternelle.“ (Un Mangeur d’opium, S. 462.) persönliche Verzweiflung ausdrückt 465 , zum anderen die moralische Frage an die Stadt mit ihrem vergnügungssüchtige Treiben richtet. Diese Integration des Blindenmotivs in die dichterische Erfahrung der Großstadt erfolgt freilich um den Preis des Verzichts auf das Konzept des „poète actif et fécond“ und des „bain de multitude“ mit seinen „jouissances fiévreuses“ 466 . Denn das Ich befindet sich am Ende in einem ebenso jämmerlichen Zustand wie die Blinden: „je me traîne aussi! “, ohne sich mit ihnen identifiziert zu haben, ebenso wenig wie mit der Großstadtmenge, die sich dem Vergnügen hingibt. Seine verzweifelte Frage „Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles? “ wird später Rilke aufnehmen und darauf eine Antwort geben 467 . Das letzte Gedicht, das den Titel À une passante trägt, ist das allfällige Lie‐ besgedicht unter den „Tableaux parisiens“. Es vereint auf glückliche Weise die Großstadtthematik mit Baudelaires Thema der „imagination“, was allerdings wie in Les Aveugles nicht ohne Abstriche an der neuen Rolle des Dichters in der Großstadt vonstatten geht. Abermals nimmt Baudelaire ein gängiges, um nicht zu sagen abgegriffenes poetisches Motiv auf. Crépet / Blin führen eine lange Reihe von Beispielen aus neuerer Dichtung für Begegnungen mit flüchtig er‐ blickten oder erträumten Frauengestalten an, denen freilich die Einbettung in die charakteristische Stadtsituation noch fehlt 468 . Diese trägt die Parisliteratur bei, in welcher Vorstellung und Thema des Passanten (der Passantin) geläufig 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 165 469 So bei Mercier: „On passe à côté les uns des autres sans se connaître. Telle femme qui conviendrait à tel homme, et qui ferait son bonheur, en est coudoyée rudement, et n’en est pas aperçue.“ (Tableau de Paris, I, Kap. 94, Bd. 1, S. 237, „Aveuglement“.) Zitiert bei Stierle, Der Mythos von Paris, S. 789 f. Zum Passanten siehe auch im Folgenden. 470 Zu zeitgenössischen Vorläufern und Parallelen für Lautäußerungen der Stadt vom „ru‐ gissement“ (Le Crépuscule du soir) bis zum „hurler“ siehe Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 350 f. 471 Das hier entworfene Bild der Frau stimmt weitgehend mit dem Bild der „fille“ und der „femme errante“ in Guys’ Stichen überein (Le Peintre de la vie moderne, S. 719 ff.). Auf das Widersprüchliche der Erscheinung weist auch Stierle, Der Mythos von Paris, S. 796 ff., hin. waren, auch schon mit erotischer Konnotation 469 . Außerdem legt À une passante den Gedanken an die ältere abendländische Liebesdichtung und das Thema des ‚coup de foudre‘ bei der ersten Begegnung mit einer Frau nahe, das in der pe‐ trarkistisch fundierten Lyrik so genannte ‚innamoramento‘. Ob Baudelaire ein‐ schlägige ältere Texte aus eigener Anschauung kannte, ist dabei von unterge‐ ordnetem Interesse, weil sich auch bei geringem konkretem Vorwissen im Kontext der Großstadt sozusagen von selbst das moderne Pendant einer ersten Begegnung zwischen möglichen Liebenden ergab, übrigens mit weitgehend gleichem Ausgang trotz der veränderten äußeren Bedingungen. In einem einzigen Vers wird zu Beginn des Gedichts das städtische Umfeld evoziert und zwar wie schon in Les Aveugles mit Hilfe des akustischen Motivs: La rue assourdissante autour de moi hurlait. Die Rollen von Hören und Sehen sind jedoch vertauscht. Während in Les Aveugles das Gehör stellvertretend für den Gesichtssinn die Verbindung zur Stadt herstellt, wird das Gehör in À une passante vom Lärm der Stadt „be‐ täubt“ 470 und es dominiert das ‚Gesicht‘ - wie in den meisten Liebesgedichten wird die Frau zunächst mit den Augen wahrgenommen. Unvermittelt tritt sie in Erscheinung, eine Schönheit ganz nach Baudelaires Vorstellungen: trauernd, majestätisch, von statuenhaftem Äußerem und edler Bewegung, mit großer Geste ihr prächtiges modisches Gewand raffend. Ihr umwölkter Blick, in dem sich ein Orkan ankündigt, verspricht faszinierende Sanftheit und todbringende Lust 471 . Das Entblößen des Beines beim Raffen des Gewandes evoziert die Be‐ wegung der Frau inmitten der wogenden Menschenmenge. So bleibt die Stadt als Ort des Geschehens weiterhin präsent. Das Ich wird vom Blick der Vorü‐ bergehenden wie von einem Blitz getroffen, dem unmittelbar die finstere Nacht folgt. Wie in einem Krampf zitternd - in der ersten Version hieß es „tremblant“ statt „crispé“ - saugt es ihn auf und beginnt, über das Geschehen zu reflektieren, zunächst mit der bangen Frage: „Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? “, dann I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 166 472 So die Interpretation von Weinrich, Literatur für Leser, S. 97. mit der kurz aufflackernden Hoffnung, dass die Begegnung es aus dem diessei‐ tigen Jammertal hinausführen könnte: Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Doch sie führt nicht hinaus, weil sie in der Rastlosigkeit und Unübersichtlichkeit der Großstadtmenge, wo der Eine vom Anderen nichts weiß, untergeht: Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, Ô toi que j’eusse aimé, ô toi qui le savais! Das dichterische Ich von À une passante hat aus dem „réservoir d’électricité“ der Großstadtmenge zwar neue Energie bezogen („le regard m’a fait soudaine‐ ment renaître“), aber dies sind nicht die „jouissances fiévreuses“, die es genießt, wenn es sich als „promeneur solitaire et pensif “ in die Person eines Anderen versetzt und sich dessen Freud und Leid zu eigen macht. Diesmal ist es selbst in das Geschehen involviert und zu einem direkt Betroffenen geworden - einem beinahe Liebenden, für den die „jouissances“ der Liebe allerdings nur in der Phantasie erreichbar sind. Seine Rolle entspricht also nicht dem strengen Groß‐ stadt-Programm Baudelaires und das Ich wird auch nicht ausdrücklich als Dichter vorgestellt. Es hat jedoch dessen Aufmerksamkeit und Wahrnehmungs‐ fähigkeit für das Geschehen in der Menschenmenge, die freilich auch ein Flaneur besitzt, der sich aber nicht in gleicher Weise emotional auf die Situation ein‐ lassen würde. Und es hat, wie der letzte Vers zeigt, die Phantasie eines Dichters. So weit zum ‚litteralen‘ Sinn des Textes. Außer im wörtlichen ist das Gedicht auch noch in einem weiteren, allegori‐ schen Sinn lesbar, nämlich als eine Verbildlichung des Schönheitsbegriffs Bau‐ delaires und der Begegnung mit dem Schönen in seiner doppelten Gestalt, der flüchtigen wie der ewigen. Beide Aspekte sieht das Ich in der Frau vor seinen Augen vereint, die „modernité, […] le transitoire, le fugitif, le contingent“ fasst es mit dem Ausruf „Fugitive Beauté …“ zusammen, „l’éternel et l’immuable“ be‐ wundert es in ihrer Statuenschönheit: „Agile et noble, avec sa jambe de statue“ 472 . Und man kann der allegorischen noch eine ‚anagogische‘ Deutung moderner Art hinzufügen, wenn man annimmt, dass Baudelaire in dieser flüch‐ tigen Begegnung mit einer liebens- und begehrenswerten Frau in der Groß‐ stadtmenge seine Überzeugung vom Streben des Menschen nach der höheren Schönheit ins Bild gesetzt hat, die auf Erden dauerhaft unerreichbar bleibt. Eine solche Deutung wird durch das Verhältnis der potentiell Liebenden nahegelegt, für dessen Bestimmung er die klassische Vorstellung vom Passanten als dem 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 167 473 Vgl. damit die Definition des Passanten bei P. J. Stahl, Le Diable à Paris, 1845 / 1846, Bd. 1, S. 225 f.: „Il n’y a de passants qu’à Paris. Un provincial ne sait pas ou sait mal ce que c’est qu’un passant. Un homme qu’on connaît n’est point un passant. […] Un passant est un homme qui va on ne sait où.“ (Zitiert bei Stierle, „Baudelaires ‚Tableaux parisiens‘ und die Tradition des ‚tableau de Paris‘“, S. 296.) 474 Was der Gegenstand aller Liebesdichtung ist. Das Phantasieren der Frau und ihrer Ge‐ danken entspricht zudem dem Phänomen des Passanten: „[…] tout passant est un secret. Paris est la ville du monde où l’on peut faire, à propos d’un passant, le plus grand nombre de conjectures.“ (Le Diable à Paris, ebd.) Vgl. auch das zu Les Petites Vieilles Gesagte, oben, S. 140 f.# 475 Siehe dazu etwa seine vorläufige Aufstellung vom August 1860, abgedruckt bei Pichois, „Notes“, S. 811. 476 „L’Architecture des Fleurs du mal“, S. 311 ff. 477 S. 259 f. anonymen Anderen variiert hat: „Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais“ 473 . Denn es ist die Frau (die Schönheit), die sich hier entzieht („tu fuis“), und das begehrende Ich (der Dichter) kann nur hoffen, sie in der Ewigkeit wiederzu‐ sehen: „Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? “ Bis dahin bleibt ihm nur das Phantasieren von Liebesgedanken, eigenen oder solchen der Frau 474 : Ô toi que j’eusse aimé, ô toi qui le savais! Diese zusätzlichen Bedeutungen, die die Vorstellung von der Beinahe-Begeg‐ nung mit der idealen Partnerin, wie sie im ‚tableau de Paris‘ geläufig war, ebenso wie das traditionelle ‚innamoramento‘-Thema - das freilich oft ebenfalls alle‐ gorisch aufgeladen war - übersteigen und vertiefen, machen die Faszination dieses großstädtischen ‚Liebesgedichts‘ aus, in dem Baudelaire herkömmliche, moderne und ganz persönliche Elemente auf glückliche Weise miteinander ver‐ bunden hat. Die Anordnung der zu verschiedenen Zeiten entstandenen und verschiedene Stadien seiner Auseinandersetzung mit dem Großstadtthema spiegelnden Ge‐ dichte in der neuen Abteilung der „Tableaux parisiens“ hat Baudelaire große Mühe gekostet 475 . Albert Feuillerat hat geglaubt, zwei Gruppen gleichen Um‐ fangs unterscheiden zu können, eine erste mit „scènes de plein air, croquées sur le vif dans le tumulte de la rue“, die zweite mit „songeries, un rêve, des souvenirs que le poète revit dans sa chambre solitaire et qui viennent animer le silence de cette solitude“ 476 . Das ist wenig glaubwürdig, zumal die mit dem Hinweis auf Paysage versehene Begründung, Baudelaires Phantasie habe sich an die Jahres‐ zeiten gehalten („l’activité poétique de Baudelaire variait avec les mois de l’année.“), keinen Sinn macht. Gleiches gilt für die Unterscheidung eines „visage diurne […], puis nocturne […] de la Ville“, bei Crépet / Blin 477 . Grundsätzlich hat I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 168 478 Einblick in die Überlegungen zur Abfolge der Abteilungen gibt wieder die Aufstellung vom August 1860: danach scheint für Baudelaire sicher gewesen zu sein, dass die „Tab‐ leaux parisiens“ vor den „Fleurs du mal“ zu stehen kommen sollten; bei der Platzierung von „Le Vin“ war er hingegen noch unentschieden. Dies kann man u. a. aus der An‐ ordnung der Gedichte in zwei Rubriken erschließen, bei der vier noch einzuordnende „alte“ Stücke in der rechten Rubrik stehen, ungefähr auf der Höhe ihres definitiven Platzes; in derselben Rubrik liest man mit etwas Abstand „Le Vin“. Siehe Pichois, „Notes“, S. 811. 479 „Baudelaires ‚Tableaux parisiens‘ und die Tradition des ‚tableau de Paris‘“, S. 299. 480 S. 305 ff. Baudelaire die drei hier beschriebenen Gruppen von Gedichten untereinander gemischt, jedoch so, dass inhaltlich bzw. konzeptuell Zusammengehörendes wie die drei zentralen Stücke Fantômes parisiens und Le Cygne nicht getrennt wurde. Auch zeitlich zusammengehörende Gedichte lässt er als Kleingruppen bestehen, seien es die späten Les Aveugles und À une passante oder aus der frühen Phase die beiden titellosen Stücke Je n’ai pas oublié … und La servante au grand cœur …, die er aber weit nach hinten rückt. Fantômes parisiens und Le Cygne bilden den harten Kern, der früh - im ersten Drittel - das Konzept offenlegt; ihnen folgen unmittelbar die verwandten Les Aveugles und À une passante. Stücke mit mehr oberflächlicher großstädtischer Färbung (À une mendiante rousse, Le Squelette laboureur, Le Jeu, Danse macabre, L’Amour du mensonge) ordnen sich um diese Gedichte herum. Paysage, Rêve parisien und Le Crépuscule du matin setzen mit ihrer Thematik zusätzliche Akzente für Anfang und Ende. Ihren Platz findet die neue Abteilung in der Zweitauflage der Fleurs du mal hinter der Abteilung Spleen et idéal und vor Le Vin, was ihre Zugehörigkeit zum Themenkreis Enthusiasmus und Rausch unterstreicht 478 . Es bleibt die Frage, warum Baudelaire für seine Großstadtgedichte die Be‐ zeichnung „Tableaux parisiens“ gewählt hat. Karlheinz Stierle hat darin einen Hinweis auf den prägenden Einfluss des ‚tableau de Paris‘ sehen wollen. Nach ihm ist die „Erfahrung der Großstadt, die sich in Baudelaires Gedichten artiku‐ liert, […] vermittelt durch die feuilletonistische Gattung des tableau de Paris“ 479 . Die Gedichte seien eine „lyrische Transformation“ des ‚tableau de Paris‘ sowohl in ihrem Gegenstand, der ein modernes alltägliches Leben in „lyrischer Reduk‐ tion“ sei, wie in ihrer Weise der Wahrnehmung durch einen „flâneur von ex‐ zentrischer Subjektivität“ und schließlich in der „Befreiung vom Choc der Erscheinung“ mittels lyrischer „Durcharbeitung“ 480 . Entscheidende Vorausset‐ zung dafür sei Baudelaires Ästhetik der Modernität gewesen, die zu einer Neu‐ bestimmung der Lyrik geführt habe, in deren Folge die moralistische Groß‐ stadtschilderung des ‚tableau de Paris‘ vom „lyrischen Pathos“ erfasst werden 2) Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Versgedichten 169 481 S. 306. 482 Tableau de Paris, II, Kap. 184 (Bd. 1, S. 452 f.). 483 Eher ein Kuriosum ist Merciers „L’Allée des veuves“ (Tableau de Paris, IX, Kap. 735, Bd. 2, S. 682 f.) mit ihrer Anprangerung der „profanierten“ Trauer in Mode und Lebens‐ stil. Baudelaire hat sich daran für sein Prosagedicht Les Veuves inspiriert, in dem er das Witwenthema aus seiner Sicht behandelt hat. Siehe unten, S. 173ff. 484 Siehe Citron, La Poésie de Paris, Bd. 2, S. 157 ff. (Kap. XXI: „Le Charme de Paris“). 485 Auch für Stierle profitiert das ‚tableau de Paris‘ hier eher von der Lyrik („Baudelaires ‚Tableaux parisiens‘ und die Tradition des ‚tableau de Paris‘“, S. 309). 486 Die zudem meist von dauerhafter oder sich wiederholender Art waren und darum wie‐ dererkennbar. konnte 481 . Dieser Erklärung der „Tableaux parisiens“ aus dem Geist des ‚tableau de Paris‘ kann hier nicht mehr zugestimmt werden. Denn, wie gesehen, hat Baudelaire seine Erneuerung der Lyrik und sein Bestreben, die moderne Groß‐ stadt als lyrisches Thema zu gewinnen, unverkennbar auf der Basis und im Rahmen des vorgefundenen Lyrikkonzeptes unternommen, das er zu diesem Zweck vertieft und, wie noch zu zeigen sein wird, bis hin zum Prosagedicht weiterentwickelt hat. Mehr als begrenzte gegenständliche Anregungen hat er vom ‚tableau de Paris‘ nicht übernommen und stets seinem jeweiligen lyrischen Thema dienstbar gemacht. So geschehen beim Lumpensammler, den Mercier als ein der ‚Nachhaltigkeit‘ verpflichtetes ökonomisches Wesen beschrieben hatte 482 , an dem Baudelaire dagegen sein Rauschthema vorführt 483 . Andere Mo‐ tive des ‚tableau de Paris‘ wie die Mansarde und der Blick über die Dächer der Stadt, die Pariser Viertel, Straßen und Plätze, Bettler, Dirnen und Passanten oder der Lärm der Stadt waren längst in der zeitgenössischen Dichtung ange‐ kommen 484 , von wo Baudelaire sie übernehmen und in seinem Sinne verändern konnte. Ebensowenig bedurfte es einer Extrapolation des Flaneurs aus dem ‚tableau de Paris‘, denn ein „exzentrisches“, außergewöhnliches Subjekt der Wahrnehmung war bereits im ‚lyrischen Ich‘ vorgegeben. Allenfalls verband sich dieses lyrische Ich, das ihm zum „promeneur solitaire et pensif “ der Groß‐ stadt und zum empathischen, mit einfühlender Phantasie begabten „poète actif et fécond“ geworden war, gelegentlich mit dem Flaneur 485 . Das Phänomen des „Chocs“ schließlich stellt sich vordringlich erst im Spleen de Paris. Vor allem aber darf man die materielle Flüchtigkeit der im ‚tableau de Paris‘ behandelten Er‐ scheinungen 486 nicht mit der psychischen Flüchtigkeit des ‚beau moment‘ ineins setzen, die ein wesentlicher Punkt in Baudelaires ästhetischem und poetischem Denken ist. In Anbetracht dieser Unterschiede erübrigt sich die Annahme eines entscheidenden Rückgriffs auf die feuilletonistische Gattung. Selbst Stierle sieht I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 170 487 „Baudelaire hat sich nicht naiv die Bildwelt des tableau de Paris angeeignet. Dagegen spricht schon die Verspätung seiner Rezeption.“ (S. 299) 488 „J’aime les titres mystérieux ou les titres pétards“ (Correspondance, Bd. 1, S. 378; Brief an Poulet-Malassis vom 7. 3. 1857). 489 Siehe zur Vorgeschichte des Baudelaireschen Prosagedichtes Robert Kopp, „Introduc‐ tion“ zu Petits Poëmes en prose, S. XXVIIIff.; hier: S. XXXIIff. Ferner J. A. Hiddleston, Baudelaire and Le Spleen de Paris, Paris 1987, S. 62 ff. („The Poetry of Prose“). Nach Hiddleston wird in der Eingangsszene von La Fanfarlo das Verhältnis von Vers und Prosa thematisiert, wobei Baudelaire dieselbe Strategie verfolge wie der Protagonist der Novelle, nämlich mit Hilfe der Prosa „to make the matter of poetry more persuasive and more present by immersing it in the contingent world od experience“ (S. 65). bei aller Nähe im Einzelnen keine uneingeschränkte Aneignung des ‚tableau de Paris‘ durch Baudelaire 487 . Wie aber ist dann der Titel „Tableaux parisiens“ zu verstehen? Varianten, die auf irgendwelche Absichten oder Zweifel Baudelaires bei der Wahl des Titels hindeuten würden, sind nicht bekannt. Wie er selbst gesagt hat, liebte er „ge‐ heimnisvolle“ oder „explosive“ Titel 488 . Der mysteriöse oder provokative Wert dürfte bei „Tableaux parisiens“ freilich nicht hoch gewesen sein. Immerhin könnte die abgewandelte Bezeichnung „tableau parisien“ darauf abzielen, seine eigene Variante des ‚Parisbildes‘ herauszustellen - möglicherweise im Wettstreit mit der Malerei, die nach seinen Äußerungen im Salon de 1859 und im Peintre de la vie moderne auch um das Stadtthema rang. 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris a) Die Wende zur Prosa In den Gedichten der „Tableaux parisiens“, die nach Le Cygne entstanden sind, wird der ekstatische Zustand nicht mehr so leicht erreicht und der dichterische Enthusiasmus ist gedämpft, wenn man einmal von Rêve parisien absieht, wo er jedoch im Traum stattfindet. Stattdessen treten andere Verhaltensweisen zutage, etwa eine zunehmende Tendenz des Ichs zur Reflexion. Offensichtlich ließ seine intellektuelle Unruhe Baudelaire nach neuen Herausforderungen suchen. Eine solche Herausforderung war das Prosagedicht, das ohne die Hilfe von Vers und Reim eine poetische Wirkung erzielt. An poetischer Prosa hatte Baudelaire sich schon mehrfach versucht, so in der Novelle La Fanfarlo (1847), in der er zwei Jugendgedichte in poetische Prosa umgesetzt hatte 489 . Auch die umgebende nar‐ rative Prosa ist in La Fanfarlo stark poetisch gefärbt. In Du Vin et du hachisch (1851) hatte er wenig später die Versgedichte L’Âme du vin und Le Vin des chif‐ 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 171 490 Kopp, S. XXXVIIIf.: „Baudelaire, timidement, s’est aventuré dans le domaine du poème en prose en tant que genre.“ Dazu passt auch, dass im Begleitbrief an Desnoyers nur von den beiden Versgedichten die Rede ist, während „les poèmes en prose sont passés sous silence“. 491 Zur jeweiligen Abfolge von Vers- und Prosagedicht und zur Titeländerung von La Che‐ velure siehe Pichois, S. 1321 f. 492 Kopp, „Introduction“, S. XLII. fonniers in poetische Prosa transponiert. Stets ging in diesen Fällen der Vers voraus und die Prosa folgte. Außerdem war die jeweilige Prosaversion in einen größeren (Prosa)Textzusammenhang eingebettet. Erst in seinem Beitrag für den Sammelband Fontainebleau von Desnoyers (1855) wagt Baudelaire sich an selb‐ ständige Prosagedichte 490 : Le Crépuscule du soir und La Solitude sind eine zwei‐ teilige Prosaversion (und Erweiterung) des Versgedichtes Le Crépuscule du soir. Seit 1857 trägt er sich jedoch mit dem Plan eines Bandes von Prosagedichten, den er in seiner Korrespondenz unter dem Titel Poëmes nocturnes ankündigt, in Anlehnung an Aloysius Bertrands Gaspard de la Nuit. In der Tat erscheinen am 24. August 1857 in Le Présent unter diesem Titel die beiden Prosagedichte von 1855 sowie vier weitere Stücke: Les Projets, L’Horloge, La Chevelure, L’Invitation au voyage. La Chevelure und L’Invitation au voyage sind wieder Prosafassungen von vorausgehenden Versgedichten (Fleurs du mal XXIII und LIII ) 491 . L’Horloge ist ein selbständiges Prosagedicht über das in Versen schon mehrfach behandelte Katzenthema. Les Projets weicht dagegen von dem Entstehungsmuster Vers / Prosa ab und deutet mit seinem Phantasie- und Evasionsthema auf die späteren Prosagedichte voraus. Keines dieser Gedichte hat einen direkten Bezug zur Stadt. Von 1857 bis 1860 ist Baudelaire mit der Neuauflage der Fleurs du mal und den „Tableaux parisiens“ beschäftigt, so dass in dieser Zeit nur ganz am Rand von Prosagedichten die Rede ist. Erst im Mai 1861 werden in der neu gegrün‐ deten Revue fantaisiste für deren nächste Nummern Poëmes en prose von ihm angekündigt, die am 1. November 1861 auch erscheinen 492 . Es sind neun Prosa‐ gedichte, außer den bisherigen sechs noch drei neue: Les Foules, Les Veuves und Le Vieux Saltimbanque. Diese neuen Gedichte, die Einblick in sein poetisches Denken nach dem Abschluss des Manuskripts für die Neuauflage der Fleurs du mal geben, bestätigen den mit den „Tableaux parisiens“ eingeleiteten Wechsel zum Großstadtthema. Zunächst fixiert Baudelaire das Konzept des dichterischen Enthusiasmus in der Menschenmenge der Großstadt, das er sich im Lauf der Jahre erarbeitet und in den Glanzstücken der „Tableaux parisiens“ umgesetzt hatte. Dies geschieht in Les Foules. Für einen dichtungstheoretischen Text war die Prosaform nicht I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 172 493 Le Spleen de Paris, XIII, S. 292. 494 Luc de Clapiers de Vauvenargues, „Sur les misères cachées“ (Réflexions sur divers su‐ jets, XL, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. von J.-P. Jackson, Paris 1999, S. 90). Siehe auch Pichois, S. 1317 f. überraschend, ja prinzipiell angemessen. In Les Foules handelt es sich jedoch, wie oben gesehen, um eine stark poetische, bilderreiche Prosa und um eine po‐ etische Gedankenführung dazu, so dass man mit vollem Recht von einem Prosagedicht sprechen kann. Ein ähnlich poetisches Flair haben die verwandten Stellen im Peintre de la vie moderne, die wieder in einem größeren Prosazusam‐ menhang stehen. Les Foules ist entstanden, während Baudelaire noch am Peintre de la vie moderne schrieb, was die sprachliche und gedankliche Verwandtschaft beider erklärt. Das Prosagedicht, das dem solcherart explizit gemachten Konzept in seiner Entstehung und Anordnung unmittelbar folgt, ist Les Veuves, weshalb seine ge‐ dankliche Nähe zu Les Foules nicht überrascht. Das Gedicht beginnt mit einem Zitat des Moralisten Vauvenargues: Vauvenargues dit que dans les jardins publics il est des allées hantées principalement par l’ambition déçue, par les inventeurs malheureux, par les gloires avortées, par les cœurs brisés, par toutes ces âmes tumultueuses et fermées, en qui grondent encore les derniers soupirs d’un orage, et qui reculent loin du regard insolent des joyeux et des oisifs. Ces retraites ombreuses sont les rendez-vous des éclopés de la vie. 493 Vauvenargues’ Text „Sur les misères cachées“ handelt von Unglücklichen und Enttäuschten aller Art, denen man in den Seitenalleen („les allées détournées“) der öffentlichen Parks begegnet. Diese Menschen, Alte und Junge, Männer und Frauen, die sich ihrer Armut schämen, meiden den Blick der Glücklichen und schmieden allerlei Pläne, um ihr Elend zu überwinden, wodurch sie leicht vom Weg der Tugend abkommen 494 . Baudelaire setzt bei ihren „retraites ombrageuses“ an, die der Dichter und der Philosoph gern aufsuchen: C’est surtout vers ces lieux que le poète et le philosophe aiment diriger leurs avides conjectures. Il y a là une pâture certaine. Car s’il est une place qu’ils dédaignent de visiter, comme je l’insinuais tout à l’heure, c’est surtout la joie des riches. Cette tur‐ bulence dans le vide n’a rien qui les attire. Au contraire, ils se sentent irrésistiblement entraînés vers tout ce qui est faible, ruiné, contristé, orphelin. Denn an diesen Orten, wo sich die „éclopés de la vie“, die Fußkranken des Lebens, aufhalten, und nicht, wie er schon in Les Foules gesagt habe - „comme je l’insi‐ nuais tout à l’heure“ -, bei den Reichen mit ihrer leerlaufenden Betriebsamkeit finden Dichter und Philosoph, die sich zu allen Schwachen und zu kurz Ge‐ 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 173 495 Brief an Poulet-Malassis vom 16. Februar 1860 (Correspondance, Bd. 1, S. 670). Siehe auch den „philosophe de la rue, méditant sans cesse à travers le tourbillon de la grande cité“ im Mangeur d’opium, S. 456, sowie die Charakterisierung von Constantin Guys oben, S. 71 ff. 496 Siehe oben, S. 168, Anm. 473. kommenen hingezogen fühlen, Nahrung für ihre Phantasie („leurs avides con‐ jectures“). Zum Dichter gesellt sich hier bemerkenswerterweise der „Philosoph“. Damit ist wohl ein ‚flâneur philosophe‘ gemeint wie in dem Brief an Poulet-Ma‐ lassis, in dem Baudelaire über die Begleittexte zur Neuauflage von Méryons Eaux-fortes sur Paris spricht, die er gern verfasst hätte: Bon! voilà une occasion d’écrire des rêveries de dix lignes, de vingt ou trente lignes, sur de belles gravures, les rêveries philosophiques d’un flâneur parisien. 495 Dazu kam es nicht, weil Méryon eine nur dienende Funktion der Texte verlangte, wozu Baudelaire nicht bereit war. Der Dichter und der philosophierende Flaneur entziffern aus nur wenigen Anzeichen die traurigen Geschicke der Unglückli‐ chen: Un œil expérimenté ne s’y trompe jamais. Dans ces traits rigides ou abattus, dans ces yeux caves et ternes, ou brillants des derniers éclairs de la lutte, dans ces rides pro‐ fondes et nombreuses, dans ces démarches si lentes ou si saccadées, il déchiffre tout de suite les innombrables légendes de l’amour trompé, du dévouement méconnu, des efforts non récompensés, de la faim et du froid humblement, silencieusement sup‐ portés. Dies entspricht dem Verhalten des die Stadt durchstreifenden aufmerksamen Beobachters im ‚tableau de Paris‘, so wie die unbekannten Unglücklichen dem ebenda entworfenen Bild des Passanten entsprechen, der dem Beobachtenden Anlass zu Vermutungen („conjectures“) gibt 496 . Es ist im Übrigen dasselbe Ver‐ fahren wie in Les Fenêtres, wo der Dichter aus Wenigem die „légende“ einer Frau entwirft, die er über die Dächer hinweg erblickt, wodurch es ihm dort gelingt, sein „sentiment de l’existence“ zu steigern. In Les Veuves hält sich das Ich stärker an seine konkreten Beobachtungen und lässt den Leser an seinen Überlegungen teilhaben: Avez-vous quelquefois aperçu des veuves sur ces bancs solitaires, des veuves pauvres? Qu’elles soient en deuil ou non, il est facile de les reconnaître. D’ailleurs il y a toujours dans le deuil du pauvre quelque chose qui manque, une absence d’harmonie qui le rend plus navrant. Il est contraint de lésiner sur sa douleur. Le riche porte la sienne au grand complet. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 174 497 „Autrefois les femmes qui avaient perdus leurs maris, n’auraient osé paraître, même en grand deuil, aux promenades publiques. Il y avait, aux Champs-Elysées, l’allée des Veuves, allée sombre et solitaire, où il ne leur était permis de se promener qu’après dîner, pour prendre l’air et puis rentrer chez elles. Mais l’on voit aujourd’hui des femmes en crêpe paraître à nos spectacles. D’autres font de leur deuil un sujet de parure; elles donnent au deuil d’un mari, l’air d’un deuil de Cour. […]“ (Tableau de Paris, IX, Kap. 735, Bd. 2, S. 682: „L’Allée des veuves“.) 498 S. 294. Dieser Gedanke wird im Prosagedicht Les Yeux des pauvres (Spleen de Paris XXVI) weiter ausgeführt. Quelle est la veuve la plus triste et la plus attristante, celle qui traîne à sa main un bambin avec qui elle ne peut pas partager sa rêverie, ou celle qui est tout à fait seule? Je ne sais … Il m’est arrivé une fois […] Die Vorstellung der armen Witwen führt den ‚flâneur philosophe‘ zu einer Re‐ flexion über die Trauer des Armen und ihren schmerzlichen Mangel an „Har‐ monie“, den er darin begründet sieht, dass der Arme noch an seiner Trauer sparen muss, während der Reiche sie voll ausleben kann. Das ist eine men‐ schenkundliche, moralistische Beobachtung, weit entfernt von der Ekstase eines lyrischen Ichs, aber auch intimer als die sittengeschichtliche Darstellung in Merciers L’Allée des Veuves, wo, ähnlich dem Vorgehen Vauvenargues’, von einem bestimmten Ort ausgegangen wird, um über zeitübliche Verhaltens‐ formen wie die Trauer zu reflektieren 497 . So fragt sich das Ich, welche Witwe trauriger sei und bei ihrem Anblick trauriger mache, die mit einem Kind, das nicht imstande ist, sie zu verstehen, oder die ganz vereinsamte. Dazu erzählt es zwei Fälle von Witwen, die es bei der Teilnahme an öffentlichen Konzerten be‐ obachtet hat. Der einen, arm und bedürftig, folgte es einen Tag lang durch die Straßen bis zu einem Nachmittagskonzert in einem öffentlichen Garten, das der einzige Trost im freudlosen Leben dieser alten Frau war; die andere, aristokra‐ tisch und trauernd, entdeckte es in der Menge gemeinen Volkes, das sich au‐ ßerhalb des Konzertplatzes drängte, während sie aufmerksam lauschte, ein Kind an der Hand haltend, das zweifellos der Grund dafür war, dass sie sich den teuren Eintritt versagte. In seine Berichte streut das Ich weitere moralistische Bemer‐ kungen ein: C’est toujours chose intéressante que ce reflet de la joie du riche au fond de l’œil du pauvre. 498 […] car l’enfant est turbulent, égoïste, sans douceur et sans patience; et il ne peut même pas, comme le pur animal, comme le chien et le chat, servir de confident aux douleurs solitaires. 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 175 499 Hiddleston spricht in diesem Zusammenhang von Baudelaires poetischer Fähigkeit der „voyance“ auch im Alltag der Großstadt (Baudelaire and Le Spleen de Paris, S. 34). 500 Le Spleen de Paris XIV, S. 295 f. Mit der letzten sachlichen Feststellung endet das Prosagedicht Les Veuves über ein Frauenthema, wie Baudelaire es mit lyrischer Emphase und Empathie bereits in mehreren Versgedichten (Les Petites Vieilles, Le Cygne, À une passante) be‐ handelt hatte. Aber es gelingt ihm auch in dieser moralistischen Variante, die Frauen symbolisch zu überhöhen als „allegorical figure[s] of loneliness and dis‐ proportion“ 499 . Anders stellt sich Le Vieux Saltimbanque dar, das von einem Volksfest handelt, zu dessen Vergnügungen alles herbeiströmt: Kinder, die schulfrei haben, Er‐ wachsene, die einen Tag lang die Beschwerlichkeiten des Lebens vergessen wollen, selbst Leute von Welt und Intellektuelle können nicht widerstehen. Auch das Ich, „en vrai Parisien“, findet sich ein und läuft die Schaubuden und ihre Angebote ab. Baudelaire gibt eine ausführliche Beschreibung des Festplatzes und seiner vielen Buden mit Gauklern, Komödianten und Straßenkünstlern: Elles [les baraques] se faisaient, en vérité, une concurrence formidable: elles piail‐ laient, beuglaient, hurlaient. C’était un mélange de cris, de détonations de cuivre et d’explosions de fusées. Les queue-rouges et les Jocrisses convulsaient les traits de leurs visages basanés, racornis par le vent, la pluie et le soleil; ils lançaient, avec l’aplomb des comédiens sûrs de leurs effets, des bons mots et des plaisanteries d’un comique solide et lourd comme celui de Molière. Les Hercules, fiers de l’énormité de leurs membres, sans front et sans crâne, comme les orang-outangs, se prélassaient majes‐ tueusement sous les maillots lavés la veille pour la circonstance. Les danseuses, belles comme des fées ou des princesses, sautaient et cabriolaient sous le feu des lanternes qui remplissaient leurs jupes d’etincelles. Tout n’était que lumière, poussière, cris, joie, tumulte […]. 500 Kinder und Eltern freuen sich in höchstem Maße an allem. Das Ich, das schauend und an der allgemeinen Festfreude Anteil nehmend die Reihen durchquert, er‐ blickt an ihrem Ende einen alten Gaukler, gebeugt und hinfällig, eine mensch‐ liche Ruine, angelehnt an seine elende Hütte, die von zwei Kerzenstummeln erleuchtet wird. Der Alte steht untätig, ohne Bewegung und irgendeinen Laut, wie einer der aufgegeben und seinen Abschied bereits genommen hat. Nur sein tiefer Blick wandert über die Menschenmenge und verstört das Ich: Mais quel regard profond, inoubliable, il promenait sur la foule et les lumières, dont le flot mouvant s’arrêtait à quelques pas de sa répulsive misère! Je sentis ma gorge I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 176 501 Siehe oben, S. 54f. 502 Im Grand Dictionnaire universel du XIXe siècle von Larousse findet man unter den Symptomen der Hysterie unter anderen „une gêne d’abord faible, puis très pénible à la gorge“ (Bd. 9, Paris 1873, S. 524). In einer Notiz von Mon cœur mis à nu hat Baudelaire sich bekanntlich zu seiner Hysterie bekannt: „J’ai cultivé mon hystérie avec jouissance et terreur. Maintenant j’ai toujours le vertige, et aujourd’hui 23 janvier 1862, j’ai subi un singulier avertissement, j’ai senti passer sur moi le vent de l’aile de l’imbécillité.“ (Hygiène I, S. 668) Wie immer man seine letzte Bemerkung einordnen mag, er kannte sich mit hysterischen Symptomen offenbar aus. Dabei fällt die jeweilige bildliche Aus‐ drucksweise auf („la main terrible de l’hystérie“ - „le vent de l’aile de l’imbécillité“). serrée par la main terrible de l’hystérie, et il me sembla que mes regards étaient of‐ fusqués par ces larmes rebelles qui ne veulent pas tomber. so dass es nicht wagt, den alten Mann nach seiner Sehenswürdigkeit zu fragen, aus Furcht, ihn zu demütigen. Es beschließt, ihm diskret etwas Geld zu geben, wird jedoch unversehens vom Strom der Menge fortgetragen. Im Rückblick versucht es, sich über seine Betroffenheit klar zu werden: Et, m’en retournant, obsédé par cette vision, je cherchai à analyser ma soudaine dou‐ leur, et je me dis: Je viens de voir l’image du vieil homme de lettres qui a survécu à la génération dont il fut le brillant amuseur; du vieux poète sans amis, sans famille, sans enfants, dégradé par sa misère et par l’ingratitude publique, et dans la baraque de qui le monde oublieux ne veut plus entrer! Le Vieux Saltimbanque steht Les Foules noch näher als Les Veuves. Das Gedicht beschreibt eine festliche Menschenmenge, deren Sog sich keiner entziehen kann, weil jeder am Hochgefühl und der Festfreude des Anderen teilhat und in den ekstatischen Rausch der „multiplication de l’individualité“ gerät 501 . Auch das Ich genießt die „universelle communion“. Da es als Dichter „toutes les joies et toutes les misères“ aufnimmt und besonders den letzteren und den Schwachen zuneigt, gewahrt es den alten Gaukler, vor dem die fröhliche Menge zurück‐ scheut - „le flot mouvant s’arrêtait à quelques pas de sa répulsive misère! “. An dessen Elend nimmt es so sehr Anteil, dass es einen plötzlichen Anfall von „Hysterie“ erleidet, der ihm die Kehle zuschnürt und Tränen in die Augen treibt, die aber nicht fließen wollen 502 . Das ist eine körperliche Abwehrreaktion, mittels derer das reizbare Ich die Einsicht, die ihm der Anblick vermittelt, zunächst verdrängt. Als es durch die nachdrängende Menge jeder Möglichkeit zu aktivem Handeln enthoben ist, stellt es sich ihr jedoch und erkennt in dem alten Gaukler das schmerzliche Bild seiner eigenen Zukunft: „l’image […] du vieux poète sans amis, sans famille, sans enfants, dégradé par sa misère et par l’ingratitude pu‐ blique, et dans la baraque de qui le monde oublieux ne veut plus entrer! “ Die 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 177 503 Jean Starobinski stellt die „application symbolique et prophétique“ einer künstlerischen Agonie fest, deren Ursache „la déchéance silencieuse, le tarissement de la volonté, l’im‐ puissance insurmontable“ sei, wie Baudelaire sie für sich selbst befürchtete (Portrait de l’artiste en saltimbanque, Genève 1970, S. 91 ff.). 504 Die Gründe dafür sind nur erschließbar: zum einen nahm Baudelaire selbst noch wäh‐ rend der Drucklegung mehrfach Änderungen an seinen Texten vor und auch der He‐ rausgeber Arsène Houssaye griff mit Korrekturen ein, was zur beiderseitigen Verärge‐ rung führte; zum anderen war Houssaye nicht über die große Zahl bereits veröffentlichter Gedichte beglückt und wohl auch nicht über die gemischte Aufnahme durch das Publikum. Siehe dazu Kopp, „Introduction“, S. XLIXff. 505 8. Oktober 1862, Correspondance, Bd. 2, S. 264. Empathie geht hier über eine einfühlende Identifikation mit Steigerung des „sentiment de l’existence“ hinaus und wird von der bitteren Erkenntnis der ei‐ genen Zukunft abgelöst 503 . Insofern handelt es sich in Le Vieux Saltimbanque um mehr als eine bloße Wiederauflage des Konzeptes von Les Foules. Interessant ist noch der Vergleich der Ausdrucksweisen. Le Vieux Saltim‐ banque ist im Ganzen ein erzählender Text, während in Les Veuves nur partiell erzählt wird. Dennoch ist Le Vieux Saltimbanque poetischer, ja dank der Schil‐ derung des Festes und der ekstatischen Freude der Teilnehmer auch lyrischer als das stärker moralistische Les Veuves. Wie in den Versgedichten tritt das Ich stärker hervor und seine Anteilnahme hat einen persönlichen Zug. Mit der ab‐ schließenden Selbstbefragung („je cherchai à analyser ma soudaine douleur“) kommt ein reflektierendes Moment hinzu. Nimmt man dazu den moralistischen Zug der Festbeschreibung (wie in der Fusée gleichen Inhalts), so hat Baudelaire in diesem Gedicht mehrere Ausdrucksweisen vereint, ohne den poetischen Ge‐ samteindruck zu stören. Diese „multitude de tons“ wird ein Hauptproblem der poetischen Sprache seiner Prosagedichte sein. b) Ein neues Thema: „soubresauts de la conscience“ Am 26. und 27. August 1862 sowie am 24. September desselben Jahres erschienen in La Presse drei Feuilletons mit Petits Poëmes en prose, insgesamt zwanzig Ge‐ dichte. Ein viertes Feuilleton mit sechs weiteren Gedichten war vorbereitet, wurde aber nicht mehr veröffentlicht 504 . Es ist dies die umfangreichste Zusam‐ menstellung von Prosagedichten, die Baudelaire zu seinen Lebzeiten veröffent‐ licht hat. Sie sollte dem Leser einen Eindruck vom geplanten Gesamtwerk ver‐ mitteln, wie er in einem Brief an den Herausgeber schreibt: Je voulais donner au lecteur une idée complète de l’ouvrage dans son ampleur, ouvrage conçu depuis longtemps […] 505 I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 178 506 Le Spleen de Paris, S. 275. Vgl. auch die ersten Gedanken zu dieser Erklärung im Brief an Houssaye vom 25. 12. 1861, Correspondance, Bd. 2, S. 207 f. 507 Le Spleen de Paris, S. 275 f. Der Information des Lesers diente auch die „Widmung“ „À Arsène Houssaye“, die dem ersten Feuilleton vorangestellt war. Sie enthält Baudelaires Vorstel‐ lungen zum Prosagedicht, die sich seit der letzten Publikation weiter geklärt hatten und ist seine umfassendste Äußerung zu diesem Thema. Nach einer einleitenden Bemerkung zum ‚fragmentarischen‘ Charakter des „petit poème en prose“, durch den es sich vom großen „poème en prose“ absetze, und in der nicht ohne Ironie die daraus resultierenden Vorteile für Autor, Ver‐ leger und Publikum gerühmt werden, bekennt Baudelaire sich zur Anregung durch den berühmten - „le fameux“ - Gaspard de la Nuit von Aloysius Bertrand, über dessen Lektüre ihm der Gedanke gekommen sei, etwas Ähnliches zu ver‐ suchen und dasselbe Verfahren der Prosa anzuwenden - nun allerdings auf die Beschreibung einer „vie moderne“ und „plus abstraite“: […] de tenter quelque chose d’analogue, et d’appliquer à la description de la vie mo‐ derne, ou plutôt d’une vie moderne et plus abstraite, le procédé qu’il avait appliqué à la peinture de la vie ancienne, si étrangement pittoresque. 506 Als angestrebtes Ziel nennt er die Vorstellung einer poetischen Prosa, die ge‐ eignet sei, die „lyrischen Regungen der Seele“, die „wogenden Träume“ und „Sprünge des Bewusstseins“, die das vielgestaltige Erleben der Großstädte her‐ vorrufe, angemessen wiederzugeben - eine Vorstellung, die er in die Form einer rhetorischen Frage fasst: Quel est celui de nous qui n’a pas, dans ses jours d’ambition, rêvé le miracle d’une prose poétique, musicale sans rythme et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s’adapter aux mouvements lyriques de l’âme, aux ondulations de la rêverie, aux sou‐ bresauts de la conscience? C’est surtout de la fréquentation des villes énormes, c’est du croisement de leurs in‐ nombrables rapports que naît cet idéal obsédant. 507 Damit ist das Prosagedicht zu einem poetischen Produkt und zugleich zum Ab‐ bild des Großstadterlebnisses schlechthin erhoben. Von den genannten Gegen‐ ständen - „mouvements lyriques de l’âme“, „ondulations de la rêverie“, „sou‐ bresauts de la conscience“ - betreffen die beiden ersteren den Rausch und den Enthusiasmus in der Großstadt, der, wie gesehen, schon in den Versgedichten der „Tableaux parisiens“ zum Thema geworden war. Die „soubresauts de la conscience“ hingegen spielten dort noch keine auffällige Rolle, erhalten diese 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 179 508 „Ein materialistischer Artikel über Baudelaire ist […] seit lange ein Desiderat.“ (Max Horkheimer an Walter Benjamin, am 13. April 1937: zitiert nach: W. Benjamin, Gesam‐ melte Schriften, Bd. I, 3, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974, S. 1067.) 509 Brief vom 10. November 1938, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 3, S. 1093 ff. 510 Briefe Benjamins an Horkheimer vom 24. Juni 1939 und vom 1. August 1939 (Gesam‐ melte Schriften, Bd. I, 3, S. 1121 f. und S. 1123 f.). 511 1921 (in: S. Freud, Gesammelte Werke, 18 Bde., hrsg. von A. Freud, Frankfurt a. M. 4 1963 [ 1 1940], Bd. 13, S. 1-69). Benjamin hat außerdem die ergänzenden Ausführungen über Gedächtnis und Erinnerung von Theodor Reik gelesen (Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewusster Vorgänge, Leiden 1935). aber im Spleen de Paris. Seit Walter Benjamin sind sie zudem ein für die Baude‐ laire-Rezeption und -Interpretation zentraler Begriff geworden. Walter Benjamin hatte 1927 ein großes geschichts- und kulturphilosophi‐ sches Werk über das Paris des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen, das den Titel Pariser Passagen tragen sollte. Ein bedeutender Platz in diesem Werk war Baudelaire zugedacht. Im Frühjahr des Jahres 1937 wirkte Max Horkheimer auf Benjamin ein, den Teil über Baudelaire vorzuziehen 508 , um ihn in der Zeitschrift für Sozialforschung, deren Herausgeber Horkheimer war, zu veröffentlichen. Im Herbst 1938 schickte Benjamin mit Verspätung das unter großen Mühen fertig‐ gestellte Manuskript „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ zur Redak‐ tion nach New York, dessen naiv marxistische Deutungen dort jedoch auf Ab‐ lehnung stießen. Adorno setzte Benjamin davon in Kenntnis mit einem Brief, in dem er die fehlende „Vermittlung“ der Inhalte Baudelaires mit der Sozialge‐ schichte und dem gesellschaftlichen Gesamtprozess beklagte und eine Umar‐ beitung nahelegte 509 . Daraufhin nahm Benjamin eine grundlegende Überarbei‐ tung des mittleren Teils vor, die dessen Argumentation erheblich veränderte 510 und die unter dem Titel „Über einige Motive bei Baudelaire“ im Januar 1940 im letzten Heft der Zeitschrift für Sozialwissenschaft, das in Europa erschien, ge‐ druckt wurde. Vor allem dieser Text ist in der Baudelaire-Rezeption wirksam geworden. Benjamins erstes, für seine Baudelaire-Deutung zentrales Motiv ist das des Schocks (in Benjamins Schreibweise Chock). Es ist ein neues Konzept, mit dem er nun an Überlegungen Sigmund Freuds zum Verhältnis von Bewusstsein und Gedächtnis anknüpft, die dieser in dem Essay Jenseits des Lustprinzips angestellt hat 511 . „Chock“ versteht Benjamin als einen Reiz des Organismus, der im Sinne Freuds vom Bewußtsein abgefangen und abgewehrt werden muss. Das Be‐ wusstsein tritt als „Reizschutz“ auf; was mit Bewusstsein erlebt wird, hinterlässt keine „Gedächtnisspur“, sondern wird - so Benjamin - dem Betroffenen zum I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 180 512 „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 605-653, hier: S. 612 f. 513 S. 614. 514 S. 616. 515 S. 616 f. 630. Zur Beliebtheit der Kaleidoskop-Metapher für das Stadterlebnis siehe oben, S. 74, Anm. 209. 516 S. 616. 517 S. 618. 518 Freud unterscheidet zwischen Erregungen, die aus der Außenwelt und solchen, die aus dem eigenen Inneren kommen (Jenseits des Lustprinzips, S. 31). In Benjamins materia‐ listischem Gedankenzusammenhang waren naturgemäß nur die ‚äußeren‘ Erregungen interessant. Von der „Steigerung des Nervenlebens“ in der Großstadt hatte auch der Soziologe Georg Simmel gesprochen („Die Großstädte und das Geistesleben“ [1903], in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, S. 192-204, hier: S. 192); siehe dazu W. Wende (Hrsg.), Großstadtlyrik, Stuttgart 1999, „Einleitung. ‚Augen in der Groß‐ stadt‘ - die Großstadt, ein Wahrnehmungsraum der Moderne“, S. 7 ff. 519 S. 613. „Erlebnis“ 512 . Für Baudelaire ist nach Benjamin „das Chockerlebnis zur Norm geworden“ 513 . Für diese These findet er zahlreiche Belege in Dichtung und Person Baudelaires. So folgert er aus dem Prosagedicht Le Confiteor de l’ar‐ tiste, wo der Künstler im Duell mit dem Schönen „vor Schrecken aufschreit“, dass Baudelaire „die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hinein‐ gestellt“ habe 514 . Ebenso deutet er Baudelairesche Metaphern für den Künstler und seine Tätigkeit im Sinne des Schocks bzw. der Abwehr des Schocks, in erster Linie die Fechtmetapher, die ihm das „Bild dieser Chockabwehr“ liefert, ebenso die Metapher des Kaleidoskops, die für ihn „die Erfahrung des Chocks um‐ schreib[t]“ 515 . Auch auf die exzentrische Mimik und Gestik der Person Baude‐ laires verweist er und knüpft daran die Vermutung, dass dieser ein „traumato‐ phile[r] Typ“ gewesen sei, der es „zu seiner Sache gemacht [habe], die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren“: „Dem Schrecken preis‐ gegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen.“ 516 Den treffendsten Beweis für seine These findet er aber in Baudelaires Widmung des Spleen de Paris an Houssaye, in der er dessen „soubresauts de la conscience“ mit „Chocks des Bewusstseins“ übersetzt 517 . In Freuds Jenseits des Lustprinzips hat Benjamins „Chock“ keine Entspre‐ chung. Freud spricht stattdessen von „Erregung“ und meint damit alle auf den Organismus einwirkenden Reize 518 . Mit seiner Formulierung vom „traumati‐ schen Chock“, den die psychoanalytische Theorie „aus der Durchbrechung des Reizschutzes […] zu verstehen“ suche 519 , nimmt Benjamin daher eine Begriffs‐ verengung und zugleich eine Verschiebung ins Pejorative vor, die er offensicht‐ lich suchte und bei der die Wahl des Wortes eine nicht unwesentliche Rolle 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 181 520 Le Poème du hachisch, S. 429 f.; siehe oben, S. 49. 521 S. 618. 522 S. 620. Viele deutsche Autoren des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts machen eine ähnliche Erfahrung, wenn sie nach London oder Paris kommen. Siehe dazu den Überblick bei Wende, „Einleitung“, S. 10 ff. Zu Rilke siehe unten, Kap. II. gespielt haben dürfte. Die negative Bedeutung übernimmt er dann in seiner Baudelaire-Auslegung, am prägnantesten in der zitierten Feststellung: „Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken her‐ vorzurufen.“ Es verwundert in diesem Zusammenhang, dass Benjamin, obwohl er ein ex‐ zellenter Kenner Baudelaires war, nicht bemerkt hat, dass dieser für den beson‐ ders reizempfänglichen Menschen einen eigenen Begriff hatte, den des „homme sensible moderne“. Grund dafür scheint seine Unkenntnis der Paradis artificiels gewesen zu sein, für die er offenbar kein Interesse aufbrachte. Der „homme sensible moderne“, der bei Baudelaire eine Umschreibung des Künstlers ist, ist für alle Arten von Eindrücken und Sinneswahrnehmungen empfänglich, insbe‐ sondere für den Rausch, wie immer er induziert sei 520 , also für das, was in der Widmung an Houssaye als „mouvements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“ bezeichnet wird. Von „soubresauts de la conscience“ oder Ähn‐ lichem spricht Baudelaire in diesem Zusammenhang noch nicht. Das zweite Motiv, das Benjamin herausstellt, ist das eng mit der Großstadt verbundene Motiv der Menschenmenge. Wieder ist es die Widmung an Hous‐ saye, die ihn einen „innigen Zusammenhang, der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocks und der Berührung mit den großstädtischen Massen be‐ steht“ 521 , erkennen und beide Motive miteinander verbinden lässt. In einem Überblick über das Motiv der Menge in der Literatur des 19. Jahrhunderts von E. Th. A. Hoffmann über Poe, Victor Hugo und Eugène Sue bis zu Friedrich En‐ gels zeigt er, dass das Großstadterlebnis bei diesen Autoren zwischen dem non‐ chalanten Genießen des Flaneurs und der Bestürzung dessen schwankt, der, wie Engels, „aus einem noch provinziellen Deutschland [kommt]“ 522 . In Poes Erzäh‐ lung The Man of the Crowd im Besonderen sei „eine planvoll entstellende Phan‐ tasie am Werk“, die das Schauspiel der Menge als „etwas Bedrohliches“ er‐ scheinen lässt. Dies habe auf Baudelaires Bild der Großstadtmenge maßgeblichen Einfluss gehabt: Es ist eben dies Bild der Großstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist. Wenn er der Gewalt erlag, mit der sie ihn an sich zog und als Flaneur zu einem der ihren machte, so hat ihn doch das Gefühl von ihrer unmenschlichen Beschaffenheit dabei nicht verlassen. Er macht sich zu ihrem Komplizen und sondert sich fast im I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 182 523 S. 629. 524 „Die Masse ist bei Baudelaire derart innerlich, dass man ihre Schilderung bei ihm ver‐ gebens sucht. So trifft man seine wichtigsten Gegenstände kaum jemals in der Gestalt von Beschreibungen. […] In den ‚Tableaux parisiens‘ ist fast überall die heimliche Ge‐ genwart einer Masse nachweisbar.“ (S. 621 f.) Baudelaires Ausdruck für ein solches Dar‐ stellungsverfahren ist „sorcellerie évocatoire“ (Fusées XI, S. 658). 525 „Wenn Baudelaire von einem ‚religiösen Rauschzustand der Großstädte‘ spricht, so dürfte dessen ungenannt bleibendes Subjekt die Ware sein.“ Und: „Es klingt […] dunkel, wenn Baudelaire schreibt: ‚Das Vergnügen, in einer Menge sich zu befinden, ist ein geheimnisvoller Ausdruck für den Genuss an der Vervielfältigung der Zahl‘; aber der Satz klärt sich, wenn man ihn nicht sowohl vom Standpunkt des Menschen als der Ware gesprochen denkt.“ („Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 511-604, hier: S. 559 bzw. S. 561.) gleichen Augenblick von ihr ab. Er läßt sich weitläufig mit ihr ein, um sie unversehens mit einem Blick der Verachtung ins Nichts zu schleudern. (S. 626 f.) So zählt Baudelaire, so fasziniert er auch von der Menge war, für Benjamin letztlich zu denjenigen, in denen sie „Angst, Widerwillen und Grauen“ weckte 523 . Bezeichnenderweise verwendet Benjamin daher statt „Menge“ häufig das im Deutschen negativ besetzte Wort „Masse“. Auch in diesem Fall gibt es Grund zur Verwunderung. Denn Benjamin, der Treffendes zu Baudelaires Darstellung der großstädtischen Menschenmenge gesagt hat 524 , kannte sehr wohl dessen anderslautende Äußerungen zum Groß‐ stadterlebnis. In der Erstfassung „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in der er noch marxistisch argumentiert, zitiert er so das Wort vom „religiösen Rauschzustand der Großstädte“ und die, wie er sagt, „dunkle“ Bemerkung über die „jouissance de la multiplication du nombre“ aus Fusées I. Mit einem bemer‐ kenswerten logischen Salto macht er dann aber zum „Subjekt“ dieser Aussagen „die Ware“ 525 . Nicht anders verfährt er mit der Stelle über das Einfühlungsver‐ mögen des Dichters in Les Foules: Einfühlung ist aber die Natur des Rausches, dem der Flaneur in der Menge sich über‐ lässt: „Der Dichter genießt das unvergleichliche Privileg, dass er nach Gutdünken er selbst und ein anderer sein kann. Wie irrende Seelen, die einen Körper suchen, so tritt er, wann er will, in die Person eines anderen ein. Ihm steht die eines jeglichen frei und offen; wenn ihm gewisse Plätze verschlossen scheinen, so ist es, weil sie in seinen Augen der Mühe wert nicht sind, inspiziert zu werden.“ Was hier spricht, ist die Ware selbst. (S. 558) 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 183 526 H. R. Jauß, „Spur und Aura: Bemerkungen zu Walter Benjamins Passagen-Werk“, in: ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, S. 189-215, hier: S. 192. 527 „Über einige Motive bei Baudelaire“, S. 630. Ärgerlich sind auch die in diesem Zusam‐ menhang angeführten Beispiele für das Bild des schockreichen modernen Leben, so das „‚Knipsen‘ des Photographen“, das „dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock“ erteilt oder die „chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip“ des Films (ebd.). 528 Bd. 1, S. 453. Jauß nennt dieses Vorgehen Benjamins eine „allegorische Substitution von Mit‐ mensch durch Ware“ 526 ; es ist aber in erster Linie dazu angetan, Verwirrung zu stiften, selbst wenn man mit Marx eine „Warenseele“ nur „im Scherz“ annimmt. Zwar sind solche ‚marxistischen‘ Missdeutungen, um nicht zu sagen: (Nach)Dichtungen, in der zweiten Fassung getilgt, aber der neu eingeführte ‚Chock‘-Begriff ist nicht besser geeignet, Baudelaires Verhältnis zur Großstadt und ihrer Menschenmenge zu klären. Das zeigt sich exemplarisch an der Inter‐ pretation der technischen Metapher vom „immense réservoir électrique“ der Menge, in das der „amoureux de la vie universelle“ eintaucht, die Benjamin mit dem „Verkehr in der großen Stadt“ gleichsetzt, durch den „sich zu bewegen, […] für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen [bedingt]“ 527 . Bei dieser Assoziation von physischen Stößen scheint die Bedeutung von frz. choc durchzuschlagen, das tatsächlich einen plötzlichen, mehr oder weniger gewalt‐ samen Zusammenstoß von Gegenständen oder Lebewesen bezeichnet. Alles in allem lässt sich das Bedeutungsgemenge des Benjaminschen „Chock“-Begriffs leicht für eine wohlfeile Zivilisationskritik verwenden, die ihren Ausgang von einer wie auch immer begründeten negativen Sicht der mo‐ dernen Großstadt nimmt, so wie Benjamin selbst sie bei anderen Autoren diag‐ nostiziert hat. Und auch seine eigene Baudelaire-Interpretation ist so verstanden worden. Das verträgt sich jedoch ganz und gar nicht mit dem ekstatischen Grundton von Baudelaires Großstadterlebnis, den die „mouvements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“ in der Widmung an Houssaye unzwei‐ felhaft zum Ausdruck bringen. Die „soubresauts de la conscience“, die Baudelaire zwar erst als letzte, aber doch im selben Atemzug nennt, können dieses enthu‐ siastische Erlebnis nicht ins völlige Gegenteil verkehren. Sie müssen daher an‐ ders zu verstehen sein, als Benjamin meint. Frz. soubresaut ist ursprünglich ein Ausdruck der Reitersprache und bedeutet „unerwarteter Sprung“, dann überhaupt „plötzliche, unwillkürliche Bewegung“. Im Mangeur d’opium findet man die Wendung „le sommeil corrompu par des angoisses et des soubresauts intermittents“ 528 , wobei „soubresaut“ auch das kör‐ perliche Auffahren des Schläfers zum Ausdruck bringt. Für ein rein mentales Aufschrecken verwendet Baudelaire den Ausdruck, wenn er eine satirische Na‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 184 529 Petits Poëmes en prose (Le Spleen de Paris), hrsg. von J. Crépet, in: Œuvres complètes de Charles Baudelaire, hrsg. von J. Crépet, Paris 1926, S. 345. Es handelt sich um die in einem unveröffentlichten Brief überlieferte Äußerung zu einem Gedicht von Hippolyte Babou, die von Crépet als Parallele zu einem nur in der Handschrift erhaltenen Schluss „Qu’en dis-tu, Citoyen Proudhon? “ des Prosagedichtes Assommons les pauvres! (Spleen de Paris XLIX) zitiert wird. Ein Hinweis auf diese Verwendung des Wortes „soubresaut“ findet sich bei Suzanne Bernard, die es im expressiven Sinne des stilistischen Bruchs und seiner Wirkung auf den Leser diskutiert (Le Poème en prose de Baudelaire jusqu’à nos jours, Paris 1959, S. 130 f.). Bernard hält die Brüche und Disharmonien bei Baudelaire für eine „erreur esthétique“; siehe dazu im Folgenden. 530 Dort ist das Erwachen von außen bewirkt und drückt sich in einem körperlichen Bild aus: „Mais un coup terrible, lourd, a retenti à la porte, et, comme dans les rêves infernaux, il m’a semblé que je recevais un coup de pioche dans l’estomac.“ (Le Spleen de Paris, S. 281.) 531 S. 623. 532 Correspondance, Bd. 2, S. 583 (15. Januar 1866). Zum Einfluss Sainte-Beuves siehe Ber‐ nard, Le Poème en prose, S. 106 f. mensnennung in einem Gedicht hoher Stillage kommentiert mit „note criarde, espèce de soubresaut“ 529 . „soubresauts de la conscience“ ist also ein bildhafter Ausdruck für unerwartete, von außen oder von innen bewirkte heftige Aktivi‐ täten des Bewusstseins. Welcher Art diese plötzlichen „Bewusstseinssprünge“ sind, durch was sie in der Großstadt bewirkt werden und was sie mit den „mou‐ vements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“ verbindet, das sind die Fragen, die zu stellen sind. Da es keine direkten Äußerungen von Baudelaire dazu gibt, muss man sich der Antwort auf Umwegen nähern. Bewusstseinssprünge kündigten sich schon in den „Tableaux parisiens“ an. So ist das Erwachen in der schrecklichen Realität in Rêve parisien ein „soubresaut de la conscience“ von derselben Art wie im späteren Prosagedicht La Chambre double 530 . Auch den ‚coup de foudre‘ in À une passante, in dem Benjamin die „Figur des Chocks“ erkannt hat 531 , kann man als „soubresaut de la conscience“ verstehen. Und ebenso die Selbsterkenntnis des Ichs in Le Vieux Saltimbanque, die sich am Ende durchsetzt. Solche Bewusstseinssprünge häufen sich im Spleen de Paris. Im Januar 1866 schreibt Baudelaire an Sainte-Beuve, dass er es in seinem Spleen de Paris, der immer noch nicht fertiggestellt sei, dessen melancholischem Helden Joseph Delorme gleichtun und über alles nachsinnen wolle, was ihm beim Flanieren begegne, um eine „unangenehme Moral“ daraus zu ziehen: Enfin, j’ai l’espoir de pouvoir montrer, un de ces jours, un nouveau Joseph Delorme accrochant sa pensée rhapsodique à chaque accident de sa flânerie et tirant de chaque objet une morale désagréable. 532 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 185 533 Stierle, „Baudelaires ‚Tableaux parisiens‘ und die Tradition des ‚tableau de Paris‘“, S. 286. 534 Tableau de Paris, „Préface“, Bd. 1, S. 14 und 17. 535 Stierle, S. 285. Schon Mercier hatte betont, dass er die naheliegende Möglichkeit zur Satire streng vermieden habe („Préface“, Bd. 1, S. 17). 536 In der erweiterten zweiten Auflage der Poésies complètes Sainte-Beuves findet sich zu diesem Gedicht der wohl vom Autor selbst stammende Hinweis auf eine Bemerkung Diderots über Entstehung und Ablauf von träumerisch schweifendem Denken: „‚Une seule qualité physique peut conduire l’esprit qui s’en occupe à une infinité de choses diverses. Prenons une couleur, le jaune, par exemple: l’or est jaune. la soie est jaune, le souci est jaune, la bile est jaune, la lumière est jaune, la paille est jaune; à combien d’autres fils ce fil ne répond-il pas? … Le fou ne s’aperçoit pas qu’il en change; il tient un brin de paille jaune et luisante à la main, et il crie qu’il a saisi un rayon de soleil.‘ Le rêveur qui laisse flotter sa pensée fait quelquefois comme ce fou dont parle Diderot: ainsi, ce jour-là, Joseph Delorme.“ (Poésies complètes de Sainte-Beuve, édition revue et augmentée, Paris: Charpentier 1845, S. 68 f.) Baudelaire hat diese Ausgabe zweifellos gekannt, so dass man hier eine selten klare poetische Filiation vor sich hat bei gleich‐ zeitigem Wandel in der Bewertung des Vorganges. Verwiesen sei auch auf sein eigenes Insistieren auf der Farbe Gelb in Les Sept Vieillards; siehe oben, S. 114 f. 537 Eine „terrible moralité“ hatte Baudelaire auch schon den Fleurs du mal attestiert („Notes pour mon avocat“, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 193). Die Beobachtung der alltäglichen Zufälle und Gegebenheiten durch einen Fla‐ neur war an sich eine Angelegenheit des ‚tableau de Paris‘, das „eine einfache Form der Beschreibung des modernen Lebens in der ganzen Vielfalt seiner Er‐ scheinungen“ 533 pflegte, darin seinem Begründer Mercier folgend, der die „phy‐ sionomie morale de cette gigantesque capitale“ mit dem Pinsel des Malers („le pinceau du peintre“) und ohne die „réflexion du philosophe“ erstellen wollte 534 . Der Flaneur erfasste alle Gegenstände und Bereiche des städtischen Lebens, blieb aber an der Oberfläche der Erscheinungen, wie es „einer durchschnittli‐ chen Erfahrung“ 535 entspricht; nicht zuletzt darauf beruhte der Erfolg der Gat‐ tung. Sainte-Beuves Figur Joseph Delorme hatte dagegen in dem berühmten Gedicht Les Rayons jaunes das poetisch schweifende, „rhapsodische“ Denken eines Melancholikers angesichts einer sonntäglich gestimmten Menschen‐ menge in der Stadt vorgeführt 536 . Diesem Vorbild folgend will Baudelaire sich von den Vorfällen der Großstadt anregen lassen und hinter den sichtbaren Er‐ scheinungen die verborgene Wahrheit entdecken, die eine „morale désagréable“ sein wird 537 . Nun ist Baudelaire, auch wenn er in den Prosagedichten gelegentlich Apho‐ rismen und Maximen großer Moralisten (Pascal, La Bruyère, Vauvenargues und anderer) zitiert und sich auch selbst moralistischer Formen bedient, kein Mo‐ ralist im eigentlichen Sinne. Wohl sammelt er Eindrücke von und Einsichten in menschliche Verhaltensweisen, die seiner zunehmend pessimistischen Welt‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 186 538 Siehe hierzu Hiddleston, Baudelaire and Le Spleen de Paris, S. 33-61 (Kap. 2: „Une Mo‐ rale désagréable“). 539 Les Projets, Chacun sa chimère, Déjà! , Any Where out of the World. 540 Le Mauvais Vitrier, La Fausse Monnaie. 541 Les Yeux des pauvres, Le Galant Tireur. 542 La Corde, La Belle Dorothée. 543 Un Plaisant, Les Dons des fées. 544 Le Miroir, Assommons les pauvres! 545 Le Tir et le cimetière, Mademoiselle Bistouri. 546 Le Confiteor de l’artiste, Le Fou et la Vénus. 547 À une heure du matin, Les Foules. 548 Le Chien et le flacon, Une Mort héroïque. 549 Zu den sprachlichen Auswirkungen dieser Vielfalt siehe im Folgenden. 550 Fusées XII, S. 661. Vgl. dazu etwa das Helvétius-Zitat im Larousse, Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle, Bd. 14, S. 453: „Toute sensation est une secousse donnée à nos organes.“ sicht (und seinem provokativen satanischen Habitus) entsprechen, wobei er gern von sprachlichen Gemeinplätzen, „idées reçues“ und volkstümlichen Wen‐ dungen ausgeht, deren tatsächlich oder vermeintlich allgemeines Wissen durch den Blick auf die Wirklichkeit Lügen gestraft wird 538 . Er gewinnt so überra‐ schende Einsichten in Träume und Glückssuche der Menschen 539 , in ihre Bos‐ heit 540 , in das Verhalten der Geschlechter in Liebe und Ehe 541 , in Mutter- und Geschwisterliebe 542 , und er mokiert sich über nationale Charakterzüge 543 oder ideologische Positionen 544 und sammelt Pariser Merkwürdigkeiten 545 . Auch in ästhetische Phänomene wie die Verfallenheit des Künstlers an die Schönheit 546 , in die Qualen und Befriedigungen des Schaffensprozesses 547 und die komplexen Wirkungen der Kunst 548 ergeben sich manche Einsichten. Die solcherart anfallenden Erkenntnisse werden nun in der Mehrzahl nicht, wie in der Moralistik (und im ‚tableau de Paris‘) üblich, von einem distanzierten Beobachter vorgebracht, sondern vielmehr von einem mitempfindenden, stau‐ nenden, neugierigen, liebenden, enttäuschten, hassenden oder verachtenden Ich, das seine grundsätzliche Erlebnisfähigkeit dem Ich der Lyrik verdankt, wobei, der Vielfalt der Eindrücke in der Großstadt entsprechend, die Vielfalt seiner Stimmungen erheblich gesteigert ist 549 . Die Betroffenheit ist es, die aus den moralistischen Einsichten des Ichs potentielle lyrische Gegenstände macht, unabhängig davon, ob das Ich das Geschehen am eigenen Leibe erfahren hat oder nur dessen Zeuge oder Zuhörer war. Da aber nach den physiologischen Überzeugungen Baudelaires und des 19. Jahrhunderts jede „pensée sublime“ von einer „secousse nerveuse“ begleitet wird: Il y a dans l’engendrement de toute pensée sublime une secousse nerveuse qui se fait sentir dans le cervelet. 550 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 187 551 „[…] j’affirme que l’inspiration a quelque rapport avec la congestion, et que toute pensée sublime est accompagnée d’une secousse nerveuse, plus ou moins forte, qui retentit jusque dans le cervelet.“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 690.) 552 In einem Brief an Houssaye vom 18. 8. 1861: „J’ai trouvé deux titres nouveaux: Fusées et Suggestions. Soixante-six Suggestions.“ (Correspondance, Bd. 2, S. 256) 553 Nämlich dem „sky-rocketing“ als Bezeichnung für den Stil der Bostoner Literaturkritik; siehe dazu die Ausgabe der Journaux intimes von J. Crépet / G.Blin, „Introduction“, S. 188 f. Gleiches gilt für „suggestions“, das auf Poes Fifty Suggestions bzw. A Chapter of Suggestions zurückgehen dürfte (Crépet / Blin, ebd.). Pichois (Bd. 1, S. 1472 f.) weist für „fusées“ auch auf einen bildlichen Gebrauch des Wortes bei Voltaire hin („Il est assez plaisant d’envoyer, du pied des Alpes à Paris, des fusées volantes qui crèvent sur la tête des sots.“). 554 Crépet / Blin sprechen anläßlich der Fusées von einem „feu d’artifice intellectuel et moral“ (S. 189), desgleichen Hiddleston, der die „soubresauts de la conscience“ vor allem beim Leser sieht und ihre Wirkung so beschreibt: „[…] the mind of the reader, fascinated by their explosive force, comes to an understanding of a wider and deeper reality.“ (Baudelaire and Le Spleen de Paris, S. 55.) 555 Siehe dazu die Anmerkungen von Pichois zu Spleen de Paris VIII, IX, XI, XII, XXIII, XXIX, XLIII, XLVI. 556 „On n’est jamais excusable d’être méchant, mais il y a quelque mérite à savoir qu’on l’est; et le plus irréparable des vices est de faire le mal par bêtise.“ (Le Spleen de Paris XXVIII, S. 324.) und dies auch für die künstlerische Inspiration gilt 551 , ist die „erschütternde“ Wirkung der „soubresauts de la conscience“ dazu angetan, sie zu einer Quelle der dichterischen Inspiration werden zu lassen, die im Spleen de Paris die „mou‐ vements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“ sogar zunehmend in den Hintergrund drängt. „Soubresaut de la conscience“ ist nicht das einzige Bild, das Baudelaire für eine plötzliche morali(sti)sche Einsicht verwendet. Ein anderes ist „fusée“, ein Begriff technischen Ursprungs, den er erstmals 1861 als Titelentwurf für seine Journaux intimes bzw. für einen Teil von ihnen verwendet 552 und den er wahr‐ scheinlich einer ähnlichen Wendung Poes nachempfunden hat 553 . Das Wort „fusée“ vermittelt außer der Dynamik auch die Brillanz der Einsichten 554 . Da beide Ausdrücke dasselbe bezeichnen, ist es nur natürlich, dass nicht wenige „soubresauts de la conscience“ des Spleen de Paris mit „fusées“ der Journaux intimes deckungsgleich sind 555 . Der Unterschied besteht darin, dass im Spleen de Paris die Erkenntnisse in der Regel in eine Erzählung umgesetzt sind, die zeigt, wie sie zustandegekommen sind, und dass sie nur selten als explizite Sentenz formuliert werden wie in La Fausse Monnaie 556 ; entweder sind sie umschrieben (z. B. in Mademoiselle Bistouri), ironisch gebrochen (Le Gâteau, Le Galant Ti‐ reur), als Vermutung (Une Mort héroïque) oder als Vorwurf formuliert (Les Yeux des pauvres) oder gar verweigert (so in Chacun sa chimère, wo die Einsicht im‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 188 557 Siehe zur sprachlichen Form und zum Ort der Einsichten F. Nies, Poesie in prosaischer Welt, Heidelberg 1964, S. 74 f. 558 Le Spleen de Paris XLIV (Œuvres complètes, Bd. 2, S. 350). 559 Zur ‚poetischen‘ Wirkung des eingeschränkten Blicks auf den Himmel siehe die nach‐ folgende Bemerkung Baudelaires: „Avez-vous observé qu’un morceau de ciel, aperçu par un soupirail, ou entre deux cheminées, deux rochers, ou par une arcade, etc., donnait une idée plus profonde de l’infini que le grand panorama vu du haut d’une montagne? “ (Correspondance, Bd. 1, S. 676.) 560 The Poetic Principle, S. 290 f. merhin im Titel enthalten ist), und sie können auch ganz fehlen, so dass die Suche nach ihnen dem Leser überlassen bleibt (La Corde) 557 . Abschließend seien zwei sehr unterschiedliche Beispiele für einen Bewusst‐ seinssprung angeführt, der unmittelbar auf eine „rêverie“ folgt, wie es vorzugs‐ weise künstlerischen Gemütern widerfährt. Das erste handelt von einem alltä‐ glichen Vorfall und ist eines der letzten Prosagedichte Baudelaires. La Soupe et les nuages Ma petite folle bien-aimée me donnait à dîner, et par la fenêtre ouverte de la salle à manger je contemplais les mouvantes architectures que Dieu fait avec les vapeurs, les merveilleuses constructions de l’impalpable. Et je me disais, à travers ma contempla‐ tion: „Toutes ces fantasmagories sont presque aussi belles que les yeux de ma belle bien-aimée, la petite folle monstrueuse aux yeux verts.“ Et tout à coup je reçus un violent coup de poing dans le dos, et j’entendis une voix rauque et charmante, une voix hystérique et comme enrouée par l’eau-de-vie, la voix de ma chère petite bien-aimée, qui disait: „Allez-vous bientôt manger votre soupe, s… b… de marchand de nuages? “ 558 Das Ich blickt hier aus einem Innenraum durch ein geöffnetes Fenster nach draußen auf ein Stück Natur, das auch in der Großstadt zugänglich ist, nämlich Wolken: „les mouvantes architectures que Dieu fait avec les vapeurs, les mer‐ veilleuses constructions de l’impalpable“. Durch den Fensterausschnitt ge‐ sehen 559 werden sie ihm Anregung zu einer ‚contemplation‘, auf deren Höhe‐ punkt es ihre trügerischen Bilder mit den schönen Augen der Geliebten vergleicht. Wolken sind in der neueren Dichtung oft ein poetischer Gegenstand. Für Poe zählte „the grouping of clouds“ zu den einfachen Dingen, „which induce in the Poet himself the true poetical effect“ und zum „ambrosia which nourishes his soul“ 560 . Bei Chateaubriand waren Wolken Bestandteil der „tableaux de la nature“, deren Großartigkeit zum Nachsinnen über das Wirken der göttlichen 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 189 561 Génie du christianisme I, 5, 12: „[…] des groupes de nues qui ressemblaient à la cime de hautes montagnes couronnées de neige. Ces nues, ployant et déployant leurs voiles, se déroulaient en zones diaphanes de satin blanc, se dispersaient en légers flocons d’écume, ou formaient dans les cieux des bancs d’une ouate éblouissante, si doux à l’œil, qu’on croyait ressentir leur mollesse et leur élasticité.“ (S. 592) Weniger bedeutend sind die Wolken in der Meeresansicht: „Quelques nuages étaient jetés sans ordre dans l’o‐ rient […].“ (S. 591) 562 Die Ablösung des Naturparadigmas durch das Großstadtparadigma wird durch die Me‐ tapher „mouvantes architectures“ unterstrichen, in der für die Wolken nicht nur ein großstädtischer Bildspender gewählt ist, sondern auch die traditionelle Richtung der poetischen Übertragung von Natürlichem auf Menschliches bzw. vom Menschen Ge‐ machtes umgekehrt wird. 563 Unnötig zu sagen, dass dieser „Chock“ nur eine äußere Begleiterscheinung des inneren Vorgangs ist, auf den es ankommt. 564 „Tant il est difficile de s’entendre, mon cher ange, et tant la pensée est incommunicable, même entre gens qui s’aiment! “ (Le Spleen de Paris XXVI, S. 319.) Vorsehung beiträgt 561 . Baudelaire hat den „merveilleux nuages“ das Prosagedicht L’Étranger (Spleen de Paris I) gewidmet. In La Soupe et les nuages ist die Natur - wie auch die Geliebte, mit der sie verglichen wird - entsprechend seinem Schönheitsideal nicht mehr vollkommen schön, sondern „légèrement difforme“. So wird die Geliebte „folle“ und sogar „monstrueuse“ genannt und von der „er‐ hebenden Architektur“ der Wolken heißt es ernüchternd, dass Gott sie „aus Wasserdampf “ mache. Dennoch löst diese reduzierte großstädtische Naturansicht 562 beim betrachtenden Ich ein ähnliches Glücksgefühl aus wie die weite Naturansicht bei Chateaubriand, aus dessen christlich metaphysischer Medita‐ tion hier eine moderne und gewissermaßen wissenschaftliche Meditation wird. Mitten in seiner Glücksempfindung erhält das Ich einen Stoß in die Rippen 563 und wird unter kräftigem Fluchen aufgefordert, seine Suppe zu essen. Dadurch wird es aus der Ekstase gerissen, und die Wirklichkeit erscheint ihm wieder, wie sie ist: die Geliebte hat nicht mehr Augen, die mit der Schönheit der Wolken konkurrieren können, sondern „une voix rauque et charmante, une voix hysté‐ rique et comme enrouée par l’eau-de-vie“. Dieser „soubresaut de la conscience“ ist demjenigen in Rêve parisien und La Chambre double vergleichbar, und die unausgesprochen bleibende Einsicht dazu ist dieselbe, die das Ich in Les Yeux des pauvres beklagt, nämlich dass sogar Liebende einander nicht verstehen 564 , da die Geliebte für die vom Dichter empfundene Schönheit der Wolken unempfänglich I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 190 565 Das reicht bis zu den Oppositionen in der Rede und Wortwahl der Personen, z. B. „fan‐ tasmagories“ vs „s… b… marchand“ usw. Die Charakterisierung der Geliebten entspricht einem bekanntem Frauenbild Baudelaires; vgl. etwa Le Peintre de la vie moderne, S. 713: „cet être terrible et incommunicable comme Dieu (avec cette différence que l’infini ne se communique pas parce qu’il aveuglerait et écraserait le fini, tandis que l’être dont nous parlons n’est peut-être incompréhensible que parce qu’il n’a rien à communi‐ quer) […]“. Oder auch Mon cœur mis à nu III. XXVII. XXX. 566 Die ‚moralistische‘ Form dieser Erkenntnis findet man in Mon cœur mis à nu XXX: „Dans l’amour comme dans presque toutes les affaires humaines, l’entente cordiale est le résultat d’un malentendu. Ce malentendu, c’est le plaisir. L’homme crie: ‚Oh! mon ange! ‘ La femme roucoule: ‚Maman! maman! ‘ Et ces deux imbéciles sont persuadés qu’ils pensent de concert. - Le gouffre infranchisssable, qui fait l’incommunicabilité, reste infranchi.“ (S. 695 f.) 567 Le Spleen de Paris XXVII, Bd. 1, S. 319 ff. ist und ihr auf den Alltag fixiertes Denken nur um ihn und ihre Suppe kreist 565 . Die schmerzliche Einsicht in diese Verschiedenartigkeit, auf die nur der Titel hinweist, gibt dem Gedicht Tiefe und eine moderne melancholische Schön‐ heit 566 . Das zweite Gedicht über eine „rêverie“, die diesmal zu einem „soubresaut de la conscience“ mit tödlichem Ausgang führt, ist das bekannte Une Mort héro‐ ïque 567 . Es handelt von dem außergewöhnlichen Clown Fancioulle, der wegen Teilnahme an einer Verschwörung gegen seinen Fürsten zum Tode verurteilt wird. Der Fürst, ein Kunstliebhaber und seiner Veranlagung nach selbst ein Künstler („véritable artiste lui-même“), schätzt den Clown über die Maßen und will in einem Experiment feststellen, ob und wie weit dessen künstlerische Fä‐ higkeiten durch die Todesangst beeinträchtigt werden. Dazu lässt er, begleitet von Gerüchten einer möglichen Begnadigung der Verschwörer, ein großes Schauspiel ankündigen, in dem Fancioulle in einer seiner besten Rollen brillieren soll. Am festgesetzten Tag versammelt sich der ganze Hofstaat, und Fancioulle erfüllt glanzvoll alle in ihn gesetzten Erwartungen, wie der Ich-Erzähler, der dem Clown und dem Fürsten gleichermaßen nahesteht, noch voller Rührung über den unvergesslichen Abend, berichtet. In seiner künstlerischen Ekstase vergisst der Clown die Nähe des Todes, ebenso wie die Zuschauer, unter ihnen seine Mitverschwörer, die in stürmischen Beifall ausbrechen; selbst der Fürst kann sich der Wirkung nicht entziehen. Doch in der sensiblen, vom Ennui und vom Ehrgeiz heimgesuchten Seele des Mächtigen stellen sich alsbald Eifersucht und Groll gegen die Macht des Künstlers und seiner Kunst ein. Er winkt einen Pagen heran und gibt ihm einen Auftrag, den das schelmische Kind sogleich ausführt: als Fancioulle einen seiner besten Augenblicke hat, ertönt ein schriller Pfiff und mit unterdrücktem Gelächter stürzt das Kind aus dem Saal. Fancioulle, 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 191 568 S. 322. aus seiner selbstvergessenen Hingabe an die Kunst plötzlich in die lebensbe‐ drohliche Wirklichkeit zurückgeholt, schwankt und fällt tot zu Boden: Fancioulle, secoué, réveillé dans son rêve, ferma d’abord les yeux, puis les rouvrit presque aussitôt, démesurément agrandis, ouvrit ensuite la bouche comme pour re‐ spirer convulsivement, chancela un peu en avant, un peu en arrière, et puis tomba roide mort sur les planches. 568 Lebenserhaltende „Rêverie“ und tödlicher „soubresaut de la conscience“ des Helden sind hier in tragischer Weise miteinander gekoppelt: Fancioulle stirbt auf der Höhe seiner Kunst eines plötzlichen und im Sinne des ‚héroïsme de la vie moderne‘ „heroischen“ Todes. Doch auch die anderen am Geschehen Betei‐ ligten, der Erzähler und vor allem der Fürst, erfahren angesichts von Sieg und Niederlage der Kunst ihren „soubresaut de la conscience“: Man dürfe bezweifeln, so schließt der Erzähler, dass der Fürst an die tödliche Wirkung seiner List ge‐ glaubt habe, und andererseits hoffen, dass er seinem geliebten, unerreichten Fancioulle gebührend nachgetrauert habe. Jedenfalls sei es nie wieder einem Mimen gelungen „[de] s’élever jusqu’à la même faveur“ - die gleiche „Gunst“ seiner fürstlichen Eifersucht und Rachsucht zu erlangen. La Soupe et les nuages und Une Mort héroïque zeigen die mögliche Spannbreite der „soubresauts de la conscience“, die durch weitere Fälle wie den „coup de foudre“ in À une passante oder ganz allgemein die Inspiration des Künstlers zu erweitern ist. Die „soubresauts de la conscience“ sind also keine schlechthin negativ (oder positiv) zu bewertenden Erschütterungen des Gemüts, sondern alltägliche Erfahrungen und Bestandteile des menschlichen und großstädti‐ schen Lebens, zumal des Lebens eines „homme sensible“. c) „une prose poétique“ Ein besonderes Problem der Großstadtdichtung war für Baudelaire deren poe‐ tische Form. Das zeigt schon der Widmungsbrief des Spleen de Paris, der sich vorrangig mit Fragen der Form beschäftigt und dazu weniger Antworten gibt als vielmehr Fragen aufwirft. Zunächst geht es um die Kürze des Werkes und seiner einzelnen Teile, die wegen des Fehlens einer durchgehenden Intrige aus‐ tauschbar seien, was mit der „rêverie“ des Autors sowie den Bedürfnissen von Verleger und Leser erklärt wird. Angesichts der von Baudelaire geteilten An‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 192 569 Den Poe zum einen von der gewünschten „totality of effect or impression“ ableitet: „If any literary work is too long to be read at one sitting, we must be content to dispense with the immensely important effect derivable from unity of impression - for, if two sittings be required, the affairs of the world interfere, and every thing like totality is at once destroyed.“ (The Philosophy of Composition, S. 196), zum anderen von der natürli‐ chen Begrenztheit der seelischen Erregung: „The value of the poem is in the ratio of this elevating excitement. But all excitements are, through a psychical necessity, tran‐ sient.“ (The Poetic Principle, S. 266.) 570 Le Spleen de Paris, S. 275 f. 571 Dazu passt das Eingeständnis, dass er etwas „ganz anderes“ als dieser gemacht habe: „Mais, pour dire le vrai, je crains que ma jalousie ne m’ait porté bonheur. Sitôt que j’eus commencé le travail, je m’aperçus que non seulement je restais bien loin de mon mys‐ térieux et brillant modèle, mais encore que je faisais quelque chose (si cela peut s’appeler quelque chose) de singulièrement différent, accident dont tout autre que moi s’enor‐ gueillirait sans doute, mais qui ne peut qu’humilier profondément un esprit qui regarde comme le plus grand honneur du poète d’accomplir juste ce qu’il a projeté de faire.“ (Le Spleen de Paris, S. 276) Zum ironischen Ton des Widmungsbriefes siehe Th. Greiner, Ideal und Ironie. Baudelaires Ästhetik der ‚modernité‘ im Wandel vom Verszum Pro‐ sagedicht (mimesis. 18), Tübingen 1993, S. 216 ff. sichten Poes zum Umfang eines poetischen Werkes 569 hat man darin aber eher einen Hinweis darauf zu sehen, dass eine poetische Wirkung angestrebt wird. Es folgt die Frage nach der angemessenen Sprachform: Quel est celui de nous qui n’a pas, dans ses jours d’ambition, rêvé le miracle d’une prose poétique, musicale sans rythme et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s’adapter aux mouvements lyriques de l’âme, aux ondulations de la rêverie, aux sou‐ bresauts de la conscience? C’est surtout de la fréquentation des villes énormes, c’est du croisement de leurs in‐ nombrables rapports que naît cet idéal obsédant. 570 Eine solche „poetische Prosa, musikalisch ohne Rhythmus und Reim, ge‐ schmeidig und schroff genug, um den lyrischen Regungen der Seele, dem Wogen der Träumerei, den Sprüngen des Bewusstseins folgen zu können“, nennt Bau‐ delaire ein „Wunder“. Das deutet darauf hin, dass er ihre Verwirklichung für äußerst schwierig, vielleicht sogar unmöglich hielt und dass seine Vorstellungen sich jedenfalls nicht mit dem von Bertrand Erreichten deckten 571 . Die angefügte Behauptung, das „idéal obsédant“ dieser Prosa entstehe aus den unzähligen menschlichen Beziehungen, auf die man in den großen Städten treffe, bleibt in ihrer Kürze und Lapidarität zunächst dunkel, unterstreicht aber die Forderung nach einer wie immer gearteten „poetischen“ Prosa für die Großstadtdichtung. Vor allem Baudelaires Aussagen zur sprachlichen Form haben zu Spekulati‐ onen Anlass gegeben. So hat Fritz Nies vermutet, Baudelaire habe sich für die Prosa als Spiegel der modernen ‚prosaischen‘ Welt entschieden und zugleich 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 193 572 Poesie in prosaischer Welt, S. 47. 107. 286 u. ö. 573 Baudelaire and Le Spleen de Paris, Kapitel III: „The Poetry of Prose“, S. 62-98, bes. S. 75. Vom „prosaïsme […] de ce spectacle ordinaire qu’offre la vie quotidienne“ spricht auch Pichois, Bd. 1, „Notes“, S. 1297. 574 Défigurations du langage poétique. La Seconde Révolution Baudelairienne, Paris 1979. Johnson erarbeitet ihre These an den Doppelfassungen (La Chevelure - Une Hémisphère dans une chevelure, S. 31 ff.), weshalb sie für die übrigen Prosagedichte nicht gleicher‐ maßen zwingend ist. 575 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 329. 576 The Poetic Principle, S. 275. einen poetischen Überraschungseffekt durch die Verfremdung der gewohnten poetischen Sprache gesucht 572 . Das sind zwei Erklärungen, die sich in ihrer Ziel‐ setzung aufheben: die ‚Prosaizität‘ ist eine geläufige Metapher für die moderne großstädtische Lebensweise, wohingegen der evolutionstheoretische Gedanke gerade den poetischen Charakter der Prosadichtung retten soll. Auch Hiddleston meint, die Disharmonie des Großstadtlebens habe in Baudelaires Augen keine prosodische Sprache vertragen, sondern die Prosa als „a form of anti-poetry […] set against contemporary poetic norms“ verlangt 573 . Einer solchen Auffassung ist jedoch entgegenzuhalten, dass die ihr zugrundeliegende kulturkritische Vor‐ stellung von der Großstadt Baudelaires Vorstellung von deren moderner Schön‐ heit und poetischer Wirkung widerspricht. Nies’ zweites Argument, das Ver‐ hältnis einer poetischen Prosa zur Alltagsrede betreffend, findet sich wieder bei Barbara Johnson, wo es ins Hochtheoretische gewendet ist mit der These, dass die Prosagedichte den poetischen Kode der Versgedichte dekonstruieren, indem sie die nicht markierte Alltagssprache an die Stelle der poetischen figuralen Sprache setzen und vor deren Hintergrund eigene Sprachfiguren bilden 574 . Von Baudelaire selbst gibt es nur wenige, dafür umso erhellendere Äuße‐ rungen zum Problem von Vers und Prosa. Noch Anfang 1857 vertritt er in seinem Vorwort zu Poes Nouvelles Histoires extraordinaires ohne jede Einschränkung die Überzeugung, dass poetische Texte nicht auf den Vers verzichten könnten: Le rythme est nécessaire au développement de l’idée de beauté, qui est le but le plus grand et le plus noble du poème. 575 Er ist sich darin einig mit Poe, der die Dichtung als „The Rhythmical Creation of Beauty“ definiert hatte 576 . Zugleich stellt er aber fest, dass die Prosa dem Vers in der differenzierten Darlegung von „wahren“ Gedanken und Äußerungen überlegen sei, die oft das Ziel der Kurzerzählung („nouvelle“) seien, und dass ihr darüber hinaus eine Vielfalt von Sprechweisen und sprachlichen Ausdrucks‐ möglichkeiten zur Verfügung stehe: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 194 577 Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 329 f. Mit dem Begriff „ton“ bewegt Baudelaire sich weiter in Poeschen Kategorien; vgl. The Philosophy of Composition, S. 198: „The length, the province, and the tone being thus determined […].“ 578 „[…] ce genre de composition qui n’est pas situé à une aussi grande élévation que la poésie pure, peut fournir des produits plus variés et plus facilement appréciables pour le commun des lecteurs.“ (S. 330) 579 Quelques caricaturistes français, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 544-563, hier: S. 554. 580 Brief vom 9. 3. 1865, Correspondance, Bd. 2, S. 473. Or, les artifices du rythme sont un obstacle insurmontable à ce développement minu‐ tieux de pensées et d’expressions qui a pour objet la vérité. Car la vérité peut être souvent le but de la nouvelle, et le raisonnement, le meilleur outil pour la construction d’une nouvelle parfaite. […] De plus, l’auteur d’une nouvelle a à sa disposition une multitude de tons, de nuances de langage, le ton raisonneur, le sarcastique, l’humo‐ ristique, que répudie la poésie et qui sont comme des dissonances, des outrages à l’idée de beauté pure. 577 Diese „multitude de tons“ werde von der Dichtung verschmäht, sei es weil die Sprechweisen der Prosa selbst „comme des dissonances“ sind, sei es weil ihr gemeinsames Auftreten in ein und derselben Erzählung („l’auteur d’une nou‐ velle a à sa disposition […]“) ein Verstoß gegen die Vorstellung der „beauté pure“ ist. Darum ist nach seiner Überzeugung die Prosanovelle, obgleich ihre Ergeb‐ nisse vielfältiger sind und sie mehr Leser anspricht, geringer einzuschätzen als das „poème“ 578 . Nun war die Vielfalt für Baudelaire ein wesentliches Charakteristikum der Großstadt, wie seine wiederholten Äußerungen über die „vie multiple“ der großen Städte und über die „multiplication du nombre“ in der Menge gezeigt haben, die Voraussetzung für die spezifische großstädtische „ivresse“ ist. So lobt er im Herbst 1857, nur wenige Monate nach dem Erscheinen des Poe-Artikels, Daumiers Karikaturen wegen der Vielzahl der in ihnen festgehaltenen Erschei‐ nungen und Stimmungen der Großstadt: Feuilletez son œuvre, et vous verrez défiler devant vos yeux, dans sa réalité fantastique et saisissante, tout ce qu’une grande ville contient de vivantes monstruosités. Tout ce qu’elle renferme de trésors effrayants, grotesques, sinistres et bouffons, Daumier le connaît. 579 Und in einem Brief an seine Mutter kündigt er eine ähnliche Vielfalt von Stim‐ mungen oder Tönen in seinen Prosagedichten an: […] les Petits Poèmes en prose […] un ouvrage singulier, […] où j’associerai l’effrayant avec le bouffon, et même la tendresse avec la haine. 580 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 195 581 „Pour le croquis de mœurs, la représentation de la vie bourgeoise et les spectacles de la mode, le moyen le plus expéditif et le moins coûteux est évidemment le meilleur.“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 686.) Solche Verfahren waren für ihn „le pastel, l’eau-forte, l’aquatinte“ und die wieder zu neuem Ansehen gelangten „gravures à plusieurs teintes du XVIII e siècle“, die zu jenem „immense dictionnaire de la vie moderne“ beitrügen, den man in den Bibliotheken und in den Auslagen der Boutiquen besichtigen könne (ebd.). 582 Le Poème en prose, S. 125: „Baudelaire, assurément, comptait obtenir de curieux effets de contraste en faisant alterner ces pièces ‚sataniques‘ avec d’autres pièces moralisa‐ trices et fraternitaires […] Cette bigarrure, cette diversité mentale correspondait du reste aux intentions ‚rhapsodiques‘ du recueil, et au double désir de montrer d’une part les aspects multiples d’une âme moderne, d’autre part toutes les suggestions variées que peut offrir à ‚l’homme des foules‘ le spectacle de la vie quotidienne.“ Bernards Feststel‐ lung, dass Baudelaire sich „beaucoup plus libre en prose qu’en vers“ gefühlt habe (S. 109), ist dagegen eher zu bezweifeln. 583 „[L]e ton philosophique ou moralisateur, le ton objectif de l’anecdote sont non seule‐ ment apoétiques, mais antipoétiques […]“ (S. 125). Dass die Mannigfaltigkeit des großstädtischen Lebens sich auf die Wahl der künstlerischen Techniken auswirken musste, war ihm durchaus klar. So hielt er etwa für eine künstlerische Darstellung des modernen Lebens in der Genre- oder Sittenmalerei das „schnellste und billigste“ Verfahren für das beste 581 , und an‐ gesichts der ‚Schnelllebigkeit‘ des großstädtischen Alltags sprach er sich gene‐ rell für ein schnelles künstlerisches Arbeitstempo aus: […] il y a dans la vie triviale, dans la métamorphose journalière des choses extérieures, un mouvement rapide qui commande à l’artiste une égale vélocité d’exécution. (Ebd.) Allerdings ist Prosa kein ‚schnelles‘ und vor allem kein einfaches dichterisches Verfahren, und Baudelaire hat sie auch nicht dafür gehalten, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Denn er hat oft über die mühevolle und langwierige Arbeit am sprachlichen Ausdruck seiner Prosagedichte geklagt, und in den Fällen, in denen es eine Vers- und eine Prosafassung seiner Gedichte gibt, folgt die - of‐ fenbar schwierigere - Prosaversion in der Regel auf das Versgedicht. Es muss also die „multitude de tons“ gewesen sein, die ihm die Prosa als besonders ge‐ eignet für die Darstellung der Vielfalt menschlicher Beziehungen und Erfah‐ rungen in der großen Stadt erscheinen ließ. Das hat schon Suzanne Bernard gesehen, die in ihrem grundlegenden Buch über das französische Prosagedicht meint, Baudelaire habe sich wegen der Vielfalt der Sprechweisen und der Kon‐ trasteffekte, die sich damit erzielen ließen, für die Prosa entschieden 582 . Im kon‐ kreten Fall und in ihrem Gesamturteil macht sie aber die Sprechweisen, von denen sie einzelne als „non seulement apoétiques, mais antipoétiques“ ein‐ stuft 583 , sowie die mit ihrem Auftreten einhergehenden „ruptures de tons“ für I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 196 584 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. VII. Théodore de Banville, S. 167. Der Artikel war ein Beitrag für den Sammelband Les Poètes français (1862), erschien jedoch in einer Vorveröffentlichung in der Revue fantaisiste vom 1. 8. 1861; siehe dazu Œuvres completes, Bd. 2, S. 1155. das Ausbleiben der poetischen ‚Kristallisation‘ und für ein Scheitern Baudelaires im Prosagedicht verantwortlich: Il est […] intéressant de discerner les échecs (ou demi-échecs) qui sont dus […] à la conception même de Baudelaire: ces échecs même sont instructifs pour l’historien du poème en prose. […] l’abus des développements, les ruptures de tons, la banalité ou le prosaïsme dans la forme, tout cela ramène le poème à la prose; la tension organique qui mantenait ensemble tous les éléments se relâche, le poème ne ‚cristallise‘ plus: le miracle poétique n’a plus lieu. (S. 147) Dieser Einwand hat seinen Ursprung in dem klassizistischen poetischen Ideal, das in der Dichtung nur wenige ausgewählte Sprechweisen zulässt und verlangt, diese streng durchzuhalten, um die Einheit der poetischen Stimmung zu wahren. Es ist im Grundsatz derselbe Einwand, den Baudelaire in seinem Poe-Artikel erhoben hatte, was Bernard aber übersieht oder zumindest nicht erwähnt. So stellt sie sich auch nicht die Frage, wie Baudelaire diesen Vorbehalt überwunden und die Vielfalt der Sprechweisen in einer „prose poétique“ mit seinem poeti‐ schen Anspruch in Übereinstimmung gebracht hat. 1861 äußert Baudelaire sich erneut zur poetischen Sprache, nun jedoch über‐ raschenderweise ganz anders. In einem Aufsatz über seinen Landsmann und Freund Théodore de Banville stellt er fest, dass die zeitgenössische Dichtung einen „état mixte, d’une nature très complexe“ mit einer Vielfalt von Sprech‐ weisen erreicht habe: En effet, si l’on jette un coup d’œil général sur la poésie contemporaine et sur ses meilleurs représentants, il est facile de voir qu’elle est arrivée à un état mixte, d’une nature très complexe; le génie plastique, le sens philosophique, l’enthousiasme ly‐ rique, l’esprit humoristique, s’y combinent et s’y mêlent suivant des dosages infini‐ ment variés. La poésie moderne tient à la fois de la peinture, de la musique, de la statuaire, de l’art arabesque, de la philosophie railleuse, de l’esprit analytique, et, si heureusement, si habilement agencée qu’elle soit, elle se présente avec les signes vi‐ sibles d’une subtilité empruntée à divers arts. 584 Ausdrücklich nennt er das „génie plastique“, den „sens philosophique“ oder „esprit analytique“, den „enthousiasme lyrique“ und den „esprit humoristique“, geht also über die im Poe-Artikel genannten „tons“ noch hinaus. Auch lässt er erkennen, dass man weitere Sprechweisen aus den bildenden Künsten, etwa aus 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 197 585 Théophile Gautier (I), S. 126. In demselben Artikel, der aus dem Jahr 1859 stammt, nennt Baudelaire Gautier und Hugo die beiden größten französischen Dichter seiner Zeit (S. 125). 586 Théodore de Banville, S. 168. dem „art arabesque“, ableiten könne, wie denn die moderne Dichtung sich über‐ haupt bei den verschiedensten Künsten und Disziplinen Anregungen hole. Die vielfältigen Sprechweisen träten zudem gemischt in „unendlich variierten Do‐ sierungen“ auf und das bei den „besten Vertretern“ der zeitgenössischen Dich‐ tung. Obwohl er keine Namen nennt, ist unschwer zu erkennen, dass damit Théophile Gautier und Victor Hugo gemeint sind, Gautier, der ein neues Element in die Dichtung gebracht hat, „que j’appellerai la consolation par les arts“ 585 , und Hugo, der im Vorwort zu seinem Drama Cromwell die Mischung des „grotesque“ und des „sublime“ gefordert und damit seinerzeit die „bataille romantique“ aus‐ gelöst hatte. Es scheint demnach, dass Baudelaire seine Position zur poetischen Sprache überdacht hat und jetzt eine Verwendung der „multitude de tons“ in ihr für möglich, ja sogar für angesagt hält. Das ist aber nicht die einzige Überra‐ schung des Banville-Aufsatzes, in dem er, wie so oft, ausgehend von einem be‐ sonders geschätzten Autor, seine eigenen Vorstellungen zur Dichtung entwi‐ ckelt. Außer dem Wechsel der sprachlichen Form stellt er in der „poésie contem‐ poraine“ auch einen tiefgreifenden Themenwechsel fest: Mais ce que je dis du choix des moyens s’applique avec non moins de justesse au choix des sujets, au thème considéré en lui-même. Jusque vers un point assez avancé des temps modernes, l’art, poésie et musique surtout, n’a eu pour but que d’enchanter l’esprit en lui présentant des tableaux de béatitude, faisant contraste avec l’horrible vie de contention et de lutte dans laquelle nous sommes plongés. Beethoven a commencé à remuer les mondes de mélancolie et de désespoir incurable amassés comme des nuages dans le ciel intérieur de l’homme. Maturin dans le roman, Byron dans la poésie, Poe dans la poésie et dans le roman analytique […] ont admi‐ rablement exprimé la partie blasphématoire de la passion; ils ont projeté des rayons splendides, éblouissants, sur le Lucifer latent qui est installé dans tout cœur humain. Je veux dire, que l’art moderne a une tendance essentiellement démoniaque. Et il semble que cette part infernale de l’homme, que l’homme prend plaisir à s’expliquer à lui-même, augmente journellement […]. 586 An die Stelle der „tableaux de béatitude“, die die Kunst vergangener Zeiten dem furchtbaren Lebenskampf der Menschen entgegengesetzt habe, seien in der mo‐ dernen Kunst, vor allem in der Musik, die inneren Welten der Melancholie und der Verzweiflung getreten. Die Dichter hätten zusätzlich den „Lucifer latent qui I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 198 587 „En pleine atmosphère satanique ou romantique, au milieu d’un concert d’imprécations, il a l’audace de chanter la bonté des dieux et d’être un parfait classique. Je veux que ce mot soit entendu ici dans le sens le plus noble, dans le sens vraiment historique.“ (S. 168 f.) est installé dans tout cœur humain“ ans Licht des Tages gebracht, so dass sich in der ganzen modernen Kunst eine grundlegend dämonische Tendenz entwi‐ ckelt habe. Es liegt auf der Hand, dass außer den genannten Autoren und ihren Werken Baudelaire auch seine eigene Dichtung in den Fleurs du mal der be‐ schriebenen Thematik zuordnet. Diesen inhaltlichen und formalen Tendenzen der zeitgenössischen Dichtung stellt er nun den „Klassiker“ 587 Théodore de Banville gegenüber, der ein Lyriker par excellence sei. Banvilles Dichtung wird dabei zum Anlaß genommen, die Lyrik als die poetische Dichtungsform schlechthin vorzustellen: La lyre exprime en effet cet état presque surnaturel, cette intensité de vie où l’âme chante, où elle est contrainte de chanter, comme l’arbre, l’oiseau et la mer. […] j’arrive donc à conclure que la poésie de Banville suggérant d’abord l’idée des belles heures, puis présentant assidûment aux yeux le mot lyre, et la Lyre étant expressément chargée de traduire les belles heures, l’ardente vitalité spirituelle, l’homme hyperbo‐ lique, en un mot, le talent de Banville est essentiellement, décidément et volontaire‐ ment lyrique. (S. 164) „lyrique“ und „poétique“ sind für Baudelaire hier synonym, was durch die Er‐ läuterung der ‚lyrischen Empfindung‘ bestätigt wird, die mit anderen Worten das „enlèvement de l’âme“ umschreibt, das die „poésie“ bewirkt: Il y a, en effet, une manière lyrique de sentir. Les hommes les plus disgraciés de la nature, ceux à qui la fortune donne le moins de loisir, ont connu quelquefois ces sortes d’impressions, si riches que l’âme en est comme illuminée, si vives qu’elle en est comme soulevée. Tout l’être intérieur, dans ces merveilleux instants, s’élance en l’air par trop de légèreté et de dilatation, comme pour atteindre une région plus haute. (Ebd.) So wie es eine „manière lyrique de sentir“ gebe, gebe es auch eine „manière lyrique de parler“ und einen „monde“ oder eine „atmosphère lyrique“ mit allem, was dazu gehört: Il existe donc aussi nécessairement une manière lyrique de parler, et un monde lyrique, une atmosphère lyrique, des paysages, des hommes, des femmes, des animaux qui tous participent du caractère affectionné par la Lyre. 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 199 588 S. 168. 166. 589 „[U]n de ces esprits marqués, pour qui la poésie est la langue la plus facile à parler, et dont la pensée coule d’elle-même dans un rythme“ (S. 162). Nicht erwähnt wird in diesem Zusammenhang der Reim, dessen poetische Notwendigkeit freilich schon in den Notes nouvelles nur indirekt, gewissermaßen im Namen Poes, hervorgehoben wurde: „[…] Poe attachait une importance extrême à la rime, et […] dans l’analyse qu’il a faite du plaisir mathématique et musical que l’esprit tire de la rime il a apporté autant de soin, autant de subtilité que dans tous les sujets se rapportant au métier poétique.“ (S. 335 f.) Die bevorzugten Formen der „manière lyrique de parler“ sind die Hyperbel und die Apostrophe: Tout d’abord constatons que l’hyperbole et l’apostrophe sont des formes de langage qui lui sont non seulement des plus agréables, mais aussi des plus nécessaires, puisque ces formes dérivent naturellement d’un état exagéré de la vitalité. (S. 165.) Denn sie haben ihren natürlichen Ursprung im lyrischen „état exagéré de la vitalité“ des Sprechers. Weil der lyrische Seelenzustand außerdem danach drängt, die Dinge in ihren allgemeinen Zusammenhängen zu betrachten („à considérer les choses […] dans les traits principaux, généraux, universels“), greifen die Dichter gern zur Mythologie und zur Allegorie. Denn die Mythologie ist eine Ansammlung allseits bekannter allgemeiner Bilder oder „Hieroglyphen“ („un dictionnaire d’hiéroglyphes vivants […] connus de tout le monde“). Schließ‐ lich sieht der Lyriker die Dinge frei von den Abnutzungen des alltäglichen Le‐ bens in ihrem Idealzustand und gewissermaßen ‚vergöttlicht‘ („pour ainsi dire apothéosé“). Daher führt jeder lyrische Dichter nach Baudelaire in das verlorene Paradies zurück: Tout poète lyrique, en vertu de sa nature, opère fatalement un retour vers l’Éden perdu. Tout, hommes, paysages, palais, dans le monde lyrique, est pour ainsi dire apothéosé. (Ebd.) Auch Banville, der das besinge, was „beau, joyeux, noble, grand, rythmique“ ist, sei ein solcher ‚paradiesischer‘ Lyriker, der sich zu Recht schon zu Lebzeiten unter die Dichter des Elysiums versetzt sehe 588 . Es fällt zunächst auf, dass Baudelaire in diesen Ausführungen die Forderung nach dem Vers als unerlässlichem poetischem Ausdrucksmittel nicht mehr in der früheren kategorischen Form wiederholt. Wohl erklärt er eingangs, Banville sei jemand, für den die Dichtung die natürlichste Sprache sei und dessen Ge‐ danken ganz von selbst in (Vers)Rhythmen flössen 589 , um am Ende festzustellen, dass Banville zu den „moyens anciens“, also Vers und Reim, zurückgekehrt sei, I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 200 590 „Banville seul, je l’ai dit, est purement, naturellement et volontairement lyrique. Il est retourné aux moyens anciens d’expression poétique, les trouvant sans doute tout à fait suffisants et parfaitement adaptés à son but.“ (Théodore de Banville, S. 167 f.) weil sie ihm als „suffisants et […] adaptés à son but“ erschienen seien 590 . Auch bei der Bestimmung der Lyrik als einem „Singen“ der Seele - „La lyre ex‐ prime […] cet état presque surnaturel, cette intensité de vie où l’âme chante, où elle est contrainte de chanter“ - ist der Rhythmus offensichtlich noch inbegriffen. Sein Hauptinteresse gilt aber augenscheinlich nicht der metrischen Form, son‐ dern der „manière lyrique de parler“ im Allgemeinen und ihren ‚natürlichen‘ Sprachformen Apostrophe, Hyperbel und Allegorie im Besonderen, die aus‐ führlich erörtert werden. Diese Ausdrucksformen sind nicht an den Vers ge‐ bunden, sondern können auch in ungebundener Rede auftreten. Damit deutet sich noch unausgesprochen die Möglichkeit eines Wandels vom Vers zu einer gleichberechtigten poetischen Prosa an. Die poetische Prosa ist nun ein wesentlicher Bestandteil des dritten Dich‐ tungskonzeptes, das im Banville-Artikel vorgestellt wird und das von der Dich‐ tung des Alltags handelt. Baudelaire führt diese Dichtung als ein Desiderat ein, indem er die fingierte Frage stellt, ob angesichts des hohen Anspruchs der Lyrik das alltägliche Leben, die „vie ambiante“ mit ihren niedrigen und abstoßenden Erscheinungen, für immer von der Dichtung ausgeschlossen bleiben müsse: Mais enfin, direz-vous, si lyrique que soit le poète, peut-il donc ne jamais descendre des régions éthéréennes, ne jamais sentir le courant de la vie ambiante, ne jamais voir le spectacle de la vie, la grotesquerie perpétuelle de la bête humaine, la nauséabonde niaiserie de la femme, etc.? … Mais si vraiment! le poète sait descendre dans la vie; mais croyez que s’il y consent, ce n’est pas sans but, et qu’il saura tirer profit de son voyage. De la laideur et de la sottise il fera naître un nouveau genre d’enchantements. (S. 167) Er verneint das nachdrücklich. Denn der Dichter verstehe es, auch den Niede‐ rungen des Lebens - der „grotesquerie perpétuelle de la bête humaine“, der „nauséabonde niaiserie de la femme“, usw. - einen poetischen Reiz abzuge‐ winnen. Es entspricht der wiederholt geäußerten Überzeugung Baudelaires, dass der Dichter alles zum Gegenstand seiner Dichtung machen könne, ande‐ renfalls er es nicht verdiene, ein Dichter genannt zu werden: Celui qui n’est pas capable de tout peindre, les palais et les masures, les sentiments de tendresse et ceux de cruauté, les affections limitées de la famille et la charité univer‐ selle, la grâce du végétal et les miracles de l’architecture, tout ce qu’il y a de plus doux et tout ce qui existe de plus horrible, le sens intime et la beauté extérieure de chaque 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 201 591 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. I. Victor Hugo, S. 135. Siehe auch Thé‐ ophile Gautier (I), S. 125 u. ö. 592 Deswegen kann es sich bei diesem Programm nicht um Banvilles Dichtung handeln, wie André Ferran meint (L’Esthétique de Baudelaire, S. 551 f.), sondern nur um Baude‐ laires eigene Pläne. 593 Théodore de Banville, S. 167. religion, la physionomie morale et physique de chaque nation, tout enfin, depuis le visible jusqu’à l’invisible, depuis le ciel jusqu’à l’enfer, celui-là, dis-je, n’est vraiment pas poète dans l’immense étendue du mot et selon le cœur de Dieu. 591 Der Lyriker, der sich bewusst der „vie ambiante“ zuwendet - „s’il y consent, ce n’est pas sans but“ -, wird daher von diesem Ausflug profitieren und gerade aus Hässlichkeit und Dummheit neue poetische „Verzückungen“ schaffen: „il saura tirer profit de son voyage. De la laideur et de la sottise il fera naître un nouveau genre d’enchantements.“ Es fällt auf, dass die Aussage im Futur steht, was auf eine Absichtserklärung und auf Pläne eher als auf schon vorliegende Ergebnisse hindeutet 592 . Das gilt auch für die anschließende Erklärung, von welcher Art die neuen poetischen „enchantements“ sein werden: Mais ici encore sa bouffonnerie conservera quelque chose d’hyperbolique; l’excès en détruira l’amertume, et la satire, par un miracle résultant de la nature même du poète, se déchargera de toute sa haine dans une explosion de gaieté, innocente à force d’être carnavalesque. 593 Eine äußerste Steigerung der Komik wird demnach die Bitterkeit des Hässlichen zunichte machen, und dank der Natur des Dichters wird die Satire sich wun‐ derbarerweise in einem Ausbruch von unschuldiger, karnevalesker Heiterkeit von allem Hass auf die Widerwärtigkeiten des Alltags befreien. Dazu sind einige Erklärungen nötig. Zunächst fällt auf, dass von den Sprechweisen der neuen Dichtung, von denen Baudelaire sonst immer mehrere genannt hat, hier einzig die „bouffonnerie“ genannt ist, diese aber mit größter Selbstverständlichkeit, wie sich an der For‐ mulierung „Ici encore, sa bouffonnerie […]“ zeigt. Dahinter kann man seine Überzeugung vermuten, dass für die Dichtung des (großstädtischen) Alltags keine andere als die niedere Stillage in Frage komme. Nach den Regeln der klas‐ sizistischen Ästhetik waren bestimmten Gegenständen bestimmte Stillagen zu‐ geordnet, einem hohen Gegenstand eine hohe, einem niederen eine niedere. Stillage umfasst dabei neben der sprachlichen Form im engeren Sinne auch die Auffassung des Gegenstandes, also etwa den tragischen oder den komischen Aspekt eines Geschehens. Weil der Alltag der Großstadt ein niederer Gegen‐ stand ist, ist die angemessene sprachliche Form die umgangssprachliche Prosa I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 202 594 E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern / München 5 1971, Kap. XVIII: „Im Hôtel de la Mole“. 595 Siehe dazu E. Auerbach, „Baudelaires Fleurs du mal und das Erhabene“, in: ders., Ge‐ sammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern / München 1967, S. 275-290. 596 De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques, in: Œuvres com‐ plètes, Bd. 2, S. 525-543. Zur langen Entstehungsgeschichte dieses Essays siehe Pichois, S. 1342 f. Pichois druckt die postume Fassung von 1868 ab, die bis auf wenige Aus‐ nahmen mit der von 1857 übereinstimmt. und die zugehörige Stillage die komische oder buffoneske. Bei Erich Auerbach kann man nachlesen, wie die klassizistische Regel der Stiltrennung im Roman Stendhals und Balzacs durchbrochen worden war, in dem das Alltäglich-Wirk‐ liche und das Leben der mittleren und unteren Schichten erstmals tragisch-ernst aufgefasst wurden 594 . In der Lyrik stand eine ähnliche Revolution noch aus. Hier gab es bislang keine ernste poetische Darstellung des Alltagslebens. In der zur Lyrik tendierenden Idylle konnte man zwar schon lange der poetischen Dar‐ stellung einer niederen sozialen Wirklichkeit begegnen, aber das war eine ide‐ alisierte, unrealistische Wirklichkeit. Und die „part infernale de l’homme“, der sich Baudelaire und andere Lyriker der Romantik zugewandt hatten, war eine Sonderform des Erhabenen, also immer noch ein hoher Gegenstand, der auch grundsätzlich im hohen Stil behandelt wurde, wenn auch in den Fleurs du mal schon öfter ‚realistische‘ Bilder und Ausdrücke des niederen Stils zum Einsatz kommen 595 . Für eine Dichtung der „vie ambiante“ kam für Baudelaire demgemäß nach wie vor nur die niedere oder komische Stillage in Betracht. Sie musste allerdings mit dem gewünschten poetischen Charakter einer solchen Dichtung in Einklang gebracht werden. Wie er sich das vorstellte, zeigen seine Überle‐ gungen zur komischen Darstellungsweise. Schon einige Jahre zuvor hatte er in dem Essay De l’essence du rire, der die philosophische Einleitung zu seinen Studien über französische und ausländische Karikaturisten sein sollte, Überlegungen zum Komischen angestellt 596 . Darin setzte er bei der Beobachtung an, dass eine Karikatur, die ästhetischen Maß‐ stäben genügt, mit ihrer Darstellung des moralisch und physisch Hässlichen eine „hilarité immortelle et incorrigible“ im Betrachter auszulösen vermag. Das Komische sei zwar teuflischen Ursprungs und verdammenswert und Lachen eine Folge des Sündenfalls des Menschen und seiner dadurch verursachten phy‐ sischen und moralischen Degradierung, Lachen sei aber auch ein Mittel zur Er‐ lösung. Dann unterscheidet er zwei Formen des Komischen, das „comique sig‐ nificatif “ oder „ordinaire“, das ein „signe satanique de l’homme“ im engeren Sinne ist und auf dem Gefühl der Überlegenheit über das „malheur d’autrui“ beruht, und das „comique absolu“, das er mit einem von E. Th. A. Hoffmann übernommenen Ausdruck auch „comique innocent“ nennt. Dieses „comique 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 203 597 S. 535 f. Das „comique significatif “ hat dagegen als Ziel die Moral und den Nutzen; sein bestes französisches Beispiel ist Molière (S. 537). 598 Es kann offenbar auch durch eine Übersteigerung des „comique significatif “ bewirkt werden, wenn dessen Konsequenzen „aux dernières limites“ getrieben werden (S. 537). 599 S. 539. absolu“ wird durch das Groteske verursacht und hat in sich „quelque chose de profond, d’axiomatique et de primitif “, wodurch es sich einer „vie innocente“ und „joie absolue“, also dem paradiesischen Zustand, wieder anzunähern vermag 597 . Erkennbar ist es am Auftreten einer „gaieté folle“ und eines „vertige de l’hyperbole“. Baudelaire führt dazu als Beispiel die Begegnung mit einer eng‐ lischen Schauspielertruppe und ihrem Pierrot an, der in Gestalt, Kostüm und Maske ebenso wie in seiner Gestik und seinem Spiel die äußerste Steigerung eines gewöhnlichen Pierrot war. Er verkörperte das „comique féroce et très féroce“, das die englische Variante des Komischen ist 598 und sich durch seine „violence“ und eine besondere Begabung für die Übertreibung auszeichnet. Alles in der Pantomime der Truppe geschah mit schwindelerregender Übertreibung: „c’était le vertige de l’hyperbole.“ 599 Die Wirkung auf die Zuschauer aber war „une ivresse de rire, quelque chose de terrible et d’irrésistible“. Demzufolge ist die Verzückung des poetischen Zustands auch durch ein Lachen zu erreichen, das einer äußersten Steigerung der „bouffonnerie“ zu verdanken ist. Ein anschauliches Beispiel des „comique absolu“ und seiner Wirkung liefert das Prosagedicht Une Mort héroïque. Sein Ich-Erzähler schildert eingehend die Kunstdarbietung des Clowns Fancioulle: Le sieur Fancioulle excellait surtout dans les rôles muets ou peu chargées de paroles, qui sont souvent les principaux dans ces drames féeriques dont l’objet est de repré‐ senter symboliquement le mystère de la vie. Il entra en scène légèrement et avec une aisance parfaite […] Quand on dit d’un comédien: „Voilà un bon comédien“, on se sert d’une formule qui implique que sous le personnage se laisse encore deviner le comédien, c’est-à-dire l’art, l’effort, la volonté. Or, si un comédien arrivait à être, relativement au personnage qu’il est chargé d’exprimer, ce que les meilleures statues de l’antiquité, miraculeuse‐ ment animées, vivantes, marchantes, voyantes, seraient relativement à l’idée générale et confuse de beauté, ce serait là, sans doute, un cas singulier et tout à fait imprévu. Fancioulle fut, ce soir-là, une parfaite idéalisation, qu’il était impossible de ne pas supposer vivante, possible, réelle. Ce bouffon allait, venait, riait, pleurait, se convulsait, avec une indestructible auréole autour de la tête, auréole invisible pour tous, mais visible pour moi, et où se mêlaient, dans un étrange amalgame, les rayons de l’Art et la gloire du Martyre. Fancioulle introduisait, par je ne sais quelle grâce spéciale, le I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 204 600 Le Spleen de Paris XXVII, S. 321. Une Mort héroïque wurde erstmals 1863 publiziert. 601 Zu den drei ‚Künstlern‘ des Gedichts (Fancioulle, der Fürst, der Erzähler) als Verkör‐ perungen Baudelaires siehe J. Starobinski, „Sur quelques répondants allégoriques du poète“, Revue d’histoire littéraire de France Bd. 67 / 1967, S. 402-412. divin et le surnaturel, jusque dans les plus extravagantes bouffonneries. Ma plume tremble, et des larmes d’une émotion toujours présente me montent aux yeux pendant que je cherche à vous décrire cette inoubliable soirée. Fancioulle me prouvait, d’une manière péremptoire, irréfutable, que l’ivresse de l’Art est plus apte que toute autre à voiler les terreurs du gouffre; que le génie peut jouer la comédie au bord de la tombe avec une joie qui l’empêche de voir la tombe, perdu, comme il est, dans un paradis excluant toute idée de tombe et de destruction. 600 Die buffoneske Darstellung der niederen Alltagswirklichkeit durch Fancioulle - „Ce bouffon allait, venait, riait, pleurait, se convulsait […]“ - ist so vollkommen, dass er mit seiner Anstrengung ganz hinter der dargestellten Person ver‐ schwindet und nach Überzeugung Baudelaires, hier stellvertretend vom Er‐ zähler artikuliert 601 , gleich einer antiken Statue die Vorstellung des Schönen verkörpert. Damit bezwingt er nicht nur die Zuschauer, die aller Gefahr ver‐ gessend sich den Wonnen der Kunst hingeben und mit wiederholten „explosions de la joie et de l’admiration“ Beifall spenden, dem sich selbst der Fürst voller Begeisterung („enivré“) anschließt; er überspielt in seiner künstlerischen Trun‐ kenheit und ihrer paradiesischen Wirkung auch die Nähe des eigenen Todes und des offenen Grabes. Allein für den Blick des Erzählers ist erkennbar, dass diese Wirkung das Ergebnis einer seltenen Verbindung von Kunst und Martyrium ist. Die „bouffonnerie“ ist also nicht nur die angemessene niedere Stillage der neuen Alltagsdichtung, sie kann dank eines hyperbolischen Moments auch den für Baudelaire so notwendigen poetischen Charakter haben. Mit „hyperbolisch“ ist hier mehr gemeint als die einzelne poetische Wort- und Gedankenfigur der Übertreibung und auch mehr als eine hyperbolische oder lyrische Sprechweise, die solche und andere poetische Figuren einschließt; gemeint ist die Grundein‐ stellung des Dichters, der gemäß seiner „Natur“, nämlich im Zustand des dich‐ terischen Enthusiasmus und der „excitation de l’âme“, ein „homme hyperbo‐ lique“ ist, der seinen alltäglichen Gegenstand hyperbolisch aufzufassen und dadurch die Alltagsmisere in Poesie zu verwandeln weiß. Wie Fancioulle kann er mit einer vollkommenen dichterischen Darstellung der niederen Alltags‐ wirklichkeit, bei der die Prosa mit ihrer „multitude de tons“ zum poetischen Werkzeug wird, eine „idée générale et confuse de beauté“ hervorbringen. Mit den Überlegungen im Banville-Artikel und in De l’essence du rire hatte Baudelaire, wenn auch zunächst nur theoretisch, eine Lösung für das Problem 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 205 602 Théodore de Banville, S. 167. 603 Venus, die in den paradiesischen Jardin du Luxembourg herabsteigt, ist eine Anspielung auf Banvilles Gedicht Malédiction de Cypris aus Le Sang de la coupe (1857), in dem die Liebesgöttin die Stadt Paris verflucht, weil sie sich von ihr abgewendet hat und nur noch dem Golde dient. Baudelaires Prosagedicht Le Fou et la Vénus (Le Spleen de Paris, VII) ist eine parodistische Replik darauf. der poetischen Sprachform der neuen Großstadtdichtung gefunden. Man kann sich fragen, warum er dessen Umsetzung so lange hinausgezögert und die Ta‐ bleaux parisiens statt in einer poetischen Prosa in herkömmlichen Versen ver‐ fasst hat. Außer dem vielschichtigen und langwierigen Klärungsprozeß, den er bewältigen musste, gibt es dafür noch einen anderen Grund. Prinzipiell war er nämlich der Überzeugung, dass sich auch die herkömmliche Dichtung mit ihren Mitteln auf die Gegenwart einlassen könne: Même dans la poésie idéale, la Muse peut, sans déroger, frayer avec les vivants. Elle saura ramasser partout une nouvelle parure. Un oripeau moderne peut ajouter une grâce exquise, un mordant nouveau (un piquant, comme on aurait dit autrefois) à sa beauté de déesse. Phèdre en paniers a ravi les esprits les plus délicats de l’Europe; à plus forte raison, Vénus, qui est immortelle, peut bien, quand elle veut visiter Paris, faire descendre son char dans les bosquets du Luxembourg. D’où tirez-vous le soupçon que cet anachronisme est une infraction aux règles que le poète s’est imposées, à ce que nous pouvons appeler ses convictions lyriques? Car peut-on commettre un ana‐ chronisme dans l’éternel? 602 Mythos und Allegorie, wesentliche Ausdrucksformen der „poésie idéale“, sind zeitlose Formen des Schönen, die ihren Reiz auch im modernen (thematischen) Gewand entfalten können. Das belegen die Gestalten der Phaedra in der Tra‐ gödie des 17. Jahrhunderts („Phèdre en paniers“) oder der Venus in der Dichtung Banvilles 603 . Auch Baudelaire hat sich daher zunächst der traditionellen poeti‐ schen Mittel bedient. So fasst er in Le Cygne seine melancholischen Empfin‐ dungen ob des untergegangenen alten Paris in die Erinnerung an den Schwan, der am alten Carrousel seinen „beau lac natal“ suchte, und überhöht diese mo‐ derne Allegorie mit der mythologischen ‚Hieroglyphe‘ der Andromache zu einem Bild all derer, die einen großen Verlust betrauern. Oder er nimmt über‐ kommene poetische Formen und Sprechweisen auf wie die horazische Ode (À une mendiante rousse), das petrarkistische Sonett (À une passante) oder die Idylle (Paysage; Je n’ai pas oublié, voisine de la ville … und La servante au grand cœur dont vous étiez jalouse …). In mehreren Gedichten der Tableaux parisiens hat er sich zudem, wie die „poésie contemporaine“, an der Kunst inspiriert, an alten Stichen (Le Squelette laboureur, Les Aveugles und Danse macabre), an Architek‐ I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 206 604 Brieffragment von Ende Mai (? ) 1859, Correspondance, Bd. 1, S. 583. Siehe zu diesem wie zu den übrigen angeführten Gedichten der Tableaux parisiens auch die Hinweise bei Pichois, Œuvres complètes, Bd. 1. 605 Zitiert nach Pichois, Bd. 1, S. 1011. 606 Victor Hugo, S. 141. turzeichnungen (Rêve parisien) sowie in der phantastischen Groteske Les Sept Vieillards an den Karikaturen Daumiers. Dort hat er nach eigenem Urteil dann die „limites assignées à la Poésie“ überschritten: […] tout ce que j’en pense est que la peine qu’ils [ces vers] m’ont coûtée ne prouve absolument rien quant à leur qualité; c’est le premier numéro d’une nouvelle série que je veux tenter, et je crains bien d’avoir simplement réussi à dépasser les limites assig‐ nées à la Poésie. 604 Victor Hugo hat diesen neuen ‚Ton‘ - er spricht von ‚Gangart‘ - bestätigt: Que faites-vous quand vous écrivez ces vers saisissants: Les Sept Vieillards et Les Petites Vieilles, que vous me dédiez, et dont je vous remercie? Que faites-vous? Vous marchez. Vous allez en avant. Vous dotez le ciel de l’art d’on ne sait quel rayon macabre. Vous créez un frisson nouveau. 605 Die Erfahrung des Ungenügens der herkömmlichen poetischen Ausdrucks‐ mittel, die Baudelaire in Les Sept Vieillards gemacht hat, dürfte einen nicht un‐ erheblichen Beitrag zu seinem Sinneswandel gegenüber der Prosa und ihrer „multitude de tons“ geleistet und so den Weg zum Prosagedicht geebnet haben. Auch dem Altmeister Hugo mit seiner einzigartigen „faculté d’absorption de la vie extérieure“ kommt in diesem Prozess eine Rolle zu als vorgeblich Gleichge‐ sinnter, dem Baudelaire im Juni 1861, wenige Wochen vor dem Banville-Artikel, die eigenen Erneuerungstendenzen unterstellt: Dans quel ordre des choses, par quels nouveaux moyens renouvellera-t-il sa preuve? Est-ce à la bouffonnerie, par exemple (je tire au hasard), à la gaieté immortelle, à la joie, au surnaturel, au féerique et au merveilleux […] qu’il voudra désormais em‐ prunter des enchantements inconnus? 606 Auch hier spricht er von der neuen Dichtung, die keine andere als seine eigene ist, noch in der Zukunftsform. Tatsächlich waren erst im Februar desselben Jahres in der Neuauflage der Fleurs du mal die Tableaux parisiens erschienen, mit denen die erste, traditionelle Phase seiner Großstadtdichtung zu einem förmlichen Abschluss gekommen war. Nun, im Sommer 1861, gaben die Er‐ kenntnisse der fast zweijährigen Arbeit am Peintre de la vie moderne über den besonderen Charakter des Großstadterlebnisses zusammen mit den jüngsten 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 207 607 Vgl. Fusées XI, S. 618. Siehe oben, S. 28, Anm. 55. 608 À Jules Troubat, 19. Februar 1866 (Correspondance Bd. 2, S. 615). Zur deutlichen Zu‐ nahme des ironischen Tons seit 1862 siehe Nies, Poesie in prosaischer Welt, S. 255 ff. Siehe auch die Gedichtinterpretationen bei Greiner, Ideal und Ironie, besonders S. 231 ff. 609 Einer hyperbolischen Verwendung des ironischen Tons begegnet man schon in der frühen Novelle La Fanfarlo, die als Beispiel des schwierigen „conte poétique“ eine „he‐ roische Verzweiflungstat“ (Notes nouvelles sur Edgar Poe, S. 330) Baudelaires gewesen sein muss und die seine Besessenheit von einer poetischen Sprechweise auch in der Prosa demonstriert. Überlegungen zur sprachlichen Form einer Alltagsdichtung seinem Konzept zunehmend schärfere Konturen und drängten zur Umsetzung. So begann, an‐ geführt von dem Programmgedicht Les Foules und den exemplarischen Ge‐ dichten Les Veuves und Le Vieux Saltimbanque (Revue fantaisiste vom 1. 11. 1861), die zweite, die ‚moderne‘ Phase seiner Großstadtdichtung, in der bis 1864 der größte Teil des Spleen de Paris entstand und die ihren Höhepunkt in der Veröf‐ fentlichung in La Presse im Sommer 1862 fand. In sprachlicher Hinsicht bediente Baudelaire sich hier außer der „bouffonnerie“ auch der anderen ‚Töne‘, die die moderne (Vers)Dichtung sich bereits zunutze gemacht hatte, des „esprit analy‐ tique“, der „philosophie railleuse“ oder Ironie und des „art arabesque“ oder rhapsodischen Denkens. Vor allem die Ironie hatte es ihm angetan, die neben dem „surnaturalisme“ eine „qualité littéraire fondamentale“ für ihn war 607 , und die seit 1862 zum vorherrschenden Ton der Prosagedichte wurde, wie er selbst in einem seiner letzten Briefe festgestellt hat: Je suis assez content de mon Spleen. En somme, c’est encore les Fleurs du mal, mais avec beaucoup plus de liberté, et de détail, et de raillerie. 608 Da sie aber nicht zu den primären lyrischen Sprechweisen zählt, bedurfte sie der hyperbolischen Anwendung 609 . Und so wird sie von einem gelegentlichen Zu‐ stand des lyrischen Ichs den Fleurs du mal, wie ihn das Gedicht L’Héautontimo‐ rouménos beschreibt: Ne suis-je pas un faux accord Dans la divine symphonie, Grâce à la vorace Ironie Qui me secoue et qui me mord? Elle est dans ma voix, la criarde! C’est tout mon sang, ce poison noir! Je suis le sinistre miroir Où la mégère se regarde. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 208 610 Fleurs du mal LXXXIII, Str. 4f. 6. 611 Siehe oben, S. 97 ff. […] Je suis de mon cœur le vampire, - Un de ces grands abandonnés Au rire éternel condamnés, Et qui ne peuvent plus sourire! 610 im Spleen de Paris zu einem dauerhaften Charakterzug des enthusiastischen Ichs, mit dessen Hilfe dieses bevorzugt die „laideur“ und die „sottise“ verarbeitet, denen es im Alltag der Großstadt begegnet. Zu Beginn der zweiten Schaffensperiode seiner Großstadtdichtung hat Bau‐ delaire frühere Prosaentwürfe überarbeitet und sie im Sinne des neuen Kon‐ zeptes verändert, was die Neuerungen gut erkennbar werden lässt. 1855 hatte er zusammen mit den Versgedichten Le Soir und Le Matin die Prosatexte Le Crépuscule du soir und La Solitude in den Sammelband Hommage à C. F. Dene‐ court. fontainebleau - paysages, légendes, souvenirs, fantaisies gegeben und damit seine damaligen Vorstellungen von Versgedicht und Prosagedicht auf engstem Raum nebeneinander gestellt 611 . Die beiden Versgedichte - Le Crépus‐ cule du soir und Le Crépuscule du matin der späteren Tableaux parisiens - be‐ dienen sich einer ausgeprägt lyrischen Sprechweise mit vielen Metaphern, Apo‐ strophen und Hyperbeln. Die Auffassung des Themas der Abendbzw. Morgendämmerung ist romantisch-satanisch, was nicht überrascht: in vielen Beispielen werden die Nacht- und Schattenseiten der menschlichen Natur und die Beschwernisse des großstädtischen Lebens evoziert, und das nicht ohne Sympathie des lyrischen Ichs. Die herkömmlichen positiven Aspekte sind we‐ niger zahlreich. In Le Crépuscule du soir ist es hauptsächlich die Erleichterung, die der Abend dem angestrengten Gelehrten und dem von der Last des Tages gebeugten Arbeiter bringt. Der Prosaentwurf gleichen Titels verfährt in der Erstfassung nicht viel anders. Auch er beschreibt die Wirkung der Abenddäm‐ merung auf den Menschen, reduziert die Beispiele jedoch auf zwei Fälle von „manie crépusculaire“ ehemaliger Freunde des Dichters, die bei einbrechender Dunkelheit gereizt und ausfällig, ja sogar handgreiflich gegen ihre Umgebung wurden. Das positive Gegenstück ist die befriedende, klärende und inspirierende Wirkung der einbrechenden Nacht auf den Dichter. Diese unterschiedlichen menschlichen Reaktions- und Verhaltensweisen werden im Prosatext in mora‐ listischer Manier beobachtet und in einer kühl räsonnierenden Prosa wieder‐ gegeben. 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 209 612 Le Crépuscule du soir (Le Spleen de Paris, XXII), S. 311. 613 So der klassische Abendtopos des Gegensatzes von Ruhe und gequälter Seele, wie er besonders aus der Liebesdichtung bekannt ist. Nachdem Baudelaire für die zwischenzeitlichen Veröffentlichungen in Le Présent (24. 8. 1857) und La Revue fantaisiste (1. 11. 1861) jeweils nur kleinere Än‐ derungen vorgenommen hatte, überarbeitet er den Prosaentwurf 1862 im Hin‐ blick auf die Veröffentlichung in La Presse so gründlich, dass die Endversion fast das Dreifache der früheren Länge erreicht. Dabei bleibt der ursprüngliche mo‐ ralistische Kern in nüchternem Erzählstil weitgehend unverändert, wird aber nun eingerahmt von einer ausführlichen Beschreibung der Abendstimmung zu Beginn und einem lyrischen Preis der herabsinkenden Nacht durch den be‐ glückten Dichter am Ende. Le jour tombe. Un grand apaisement se fait dans les pauvres esprits fatigués du labeur de la journée; et leurs pensées prennent maintenant les couleurs tendres et indécises du crépuscule. Cependant du haut de la montagne arrive à mon balcon, à travers les nues transpa‐ rentes du soir, un grand hurlement, composé d’une foule de cris discordants, que l’es‐ pace transforme en une lugubre harmonie, comme celle de la marée qui monte ou d’une tempête qui s’éveille. Quels sont les infortunés que le soir ne calme pas, et qui prennent, comme les hiboux, la venue de la nuit pour un signal de sabbat? Cette sinistre ululation nous arrive du noir hospice perché sur la montagne; et, le soir, en fumant et en contemplant le repos de l’immense vallée, hérissée de maisons dont chaque fenêtre dit: „C’est ici la paix maintenant; c’est ici la joie de la famille! “ je puis, quand le vent souffle de là-haut, bercer ma pensée étonnée à cette imitation des harmonies de l’enfer. 612 Hinter den Motiven des ersten Abschnitts scheinen alte Muster poetischer Abendbeschreibungen auf 613 . In hartem Kontrast zu diesen steht die nächste Aussage, deren Sinn erst im darauf folgenden Absatz klar wird und die auf die Geschichte der beiden Freunde vorbereitet: vom Irrenhaus am Berge schallt das misstönende Heulen der Wahnsinnigen herab, das den Dichter, der in den An‐ blick der abendlichen Stadt versunken ist, „staunend“ an die „harmonies de l’enfer“ denken lässt. Während diese Eingangsbeschreibung in maßvoller Weise Metaphern und Vergleiche sowie eine rhetorische Frage verwendet, werden im neuen Schlussteil alle Register eines hohen poetischen Stiles gezogen mit Apo‐ strophen, bildhaften Vorstellungen, Vergleichen, darunter solchen zweiten Grades, Metaphern und sogar einer Allegorie: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 210 614 S. 312. 615 Le Poème en prose, S. 118, sowie S. 147: „Il faut distinguer entre les poèmes parus dans La Presse en 1862, qui appartiennent encore à une époque de maturité et de maîtrise littéraire, et les poèmes postérieurs, qui jalonnent la route de la déchéance et de l’im‐ puissance à écrire. Baudelaire, les derniers temps, ne fera plus guère que remanier d’anciens poèmes (Le Crépuscule du soir, Les Projets, par exemple) ou reprendre, dans ses notes, ses écrits antérieurs […], des idées de poèmes lui permettant de grossir le tas primitif.“ 616 Danach gibt es nur noch geringfügige Veränderungen am Text; siehe Kopp, Petits Po‐ ëmes en prose, S. 63 ff. 617 Siehe auch die Interpretation von Warning, „Baudelaire und der Wahnsinn der Dichter“, S. 602 ff. Ô nuit! ô rafraîchissantes ténèbres! vous êtes pour moi le signal d’une fête intérieure, vous êtes la délivrance d’une angoisse! Dans la solitude des plaines, dans les labyrin‐ thes pierreux d’une capitale, scintillement des étoiles, explosion des lanternes, vous êtes le feu d’artifice de la déesse Liberté! […] 614 Suzanne Bernard hat sich über diese Änderungen abschätzig geäußert. Baude‐ laire habe nicht bemerkt, dass er dem ersten Gedicht damit ein zweites „différent de caractère et d’inspiration“ aufgepfropft habe. Sie schreibt das einem Nach‐ lassen seiner schöpferischen Kraft in den letzten Lebensjahren zu, auch weil sie die Überarbeitung in das Jahr 1864 und die „dritte“, die Spätphase, datiert 615 . Dem ist jedoch zu widersprechen. Denn die Überarbeitung war, wie die Druckfahnen von La Presse belegen, 1862 im Wesentlichen abgeschlossen 616 . In dieser End‐ fassung hat Baudelaire dem Motiv der dichterischen Ekstase erheblich mehr Raum gegeben und, anders als zuvor, das Gedicht mit ihm ausklingen lassen 617 . Zugleich ist er mit der Einführung des „enthousiasme lyrique“ als zusätzlicher Sprechweise seinem neuen Prosa-Konzept der Verwendung mehrerer Sprech‐ weisen in einem Gedicht gefolgt. Nur so konnte er die unterschiedlichen Reak‐ tionen des Ichs - die Reflexion über die Stimmungen der Freunde, den Ausdruck der eigenen, ganz anderen Empfindung - präzise darstellen. Von der dadurch entstehenden Stil- und Gefühlsmischung gibt der vorletzte Abschnitt einen Ein‐ druck, in dem die lyrische Wiedergabe des Abendhimmels sich mit dem analy‐ sierenden Blick verbindet: Crépuscule, comme vous êtes doux et tendre! Les lueurs roses qui traînent encore à l’horizon comme l’agonie du jour sous l’oppression victorieuse de sa nuit, les feux des candélabres qui font des tâches d’un rouge opaque sur les dernières gloires du cou‐ chant, les lourdes draperies qu’une main invisible attire des profondeurs de l’Orient, 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 211 618 S. 312. Der letzte Abschnitt greift noch einmal zu dichter Metaphorik: „On dirait encore une de ces robes étranges de danseuses, où une gaze transparente et sombre laisse entrevoir les splendeurs amorties d’une jupe éclatante, comme sous le noir présent transperce le délicieux passé; et les étoiles vacillantes d’or et d’argent, dont elle est semée, représentent ces feux de la fantaisie qui ne s’allument bien que sous le deuil profond de la Nuit.“ 619 Siehe oben, S. 101 f. imitent tous les sentiments compliqués qui luttent dans le cœur de l’homme aux heures solennelles de la vie. 618 Damit ist die traditionelle lyrische Abendstimmung in ein Prosagedicht aufge‐ nommen und einer städtischen Umgebung angepasst. Aus der ursprünglichen rein moralistischen Prosaskizze ist ein poetischer Text geworden, der im Üb‐ rigen auch gegenüber dem Versgedicht seine Eigenart behauptet und mit seiner größeren stilistischen Geschmeidigkeit, der Konzentration auf die mentale Wir‐ kung des Naturphänomens und der analytischen ‚Abstraktheit‘ das modernere Gedicht ist. Auch das zweite Prosagedicht von 1855, La Solitude, verlängert Baudelaire bei der Überarbeitung im Jahre 1862 fast auf das Dreifache. Wieder führt er neue Sprechweisen ein, diesmal jedoch andere. Die erste Version des Gedichts be‐ handelte das alte, oft mit der Naturlyrik verbundene Einsamkeitsthema in mo‐ ralistischer Manier, darin dem Vorgehen von Le Crépuscule du soir ähnlich. Es ging um die Gefahren und den Nutzen der Einsamkeit für den Menschen, wobei im Ansatz die Form eines Streitgesprächs zwischen dem Dichter und einem Anonymus erkennbar war 619 . Die Warnung vor den Gefahren der Einsamkeit war dem Anonymus in den Mund gelegt, der sich dafür auf die Autorität der Kirchenväter berief, während der Dichter widersprach und als Gegenbeispiel Robinson Crusoe sowie eine einschlägige Äußerung von La Bruyère anführte. Die lyrische Variante des Themas klang am Schluss in der Feststellung nach, dass nichts über das Glück eines einsamen Landschaftserlebnisses gehe. In der überarbeiteten Version behält Baudelaire den ursprünglichen Anfang bei, macht jedoch nähere Angaben zur Person des anonymen Gegners - „Un gazetier philanthrope me dit […]“ -, den er mit einem ironischen Zusatz - „et, à l’appui de sa thèse, il cite, comme tous les incrédules, des paroles des Pères de l’Église“ - alsbald ins Unrecht setzt. Darauf gibt er zwar zu, dass die Einsamkeit für eine „âme oisive et divagante“ gefährlich sein könne, wirft seinen Zeitge‐ nossen aber im Ton bissiger Satire vor, dass sie die Einsamkeit nur deshalb fürchteten, weil ihre Geltungssucht und eitle Geschwätzigkeit ein Publikum be‐ nötige: I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 212 620 Le Spleen de Paris XXIII, S. 313. 621 So in der „âme oisive et divagante qui […] peuple [la solitude] de ses passions et de ses chimères“, den „amoureux de la solitude et du mystère“, „voluptés […] que d’autres tirent du silence et du recueillement“, den „jouissances“ der Einsamkeit (S. 313) sowie in der - falschen - Glückssuche „dans le mouvement et dans une prostitution […] fraternitaire“ (S. 314). Il est certain qu’un bavard, dont le suprême plaisir consiste à parler du haut d’une chaire ou d’une tribune, risquerait fort de devenir fou furieux dans l’île de Robinson. Je n’exige pas de mon gazetier les courageuses vertus de Crusoé, mais je demande qu’il ne décrète pas d’accusation les amoureux de la solitude et du mystère. Il y a dans nos races jacassières des individus qui accepteraient avec moins de répu‐ gnance le supplice suprême, s’il leur était permis de faire du haut de l’échafaud une copieuse harangue, sans craindre que les tambours de Santerre ne leur coupassent intempestivement la parole. 620 Er selbst verachtet solche niedrigen „voluptés“ und weist ironisch einen er‐ neuten Überredungsversuch des Journalisten zurück: Je ne les plains pas, parce que je devine que leurs effusions oratoires leur procurent des voluptés égales à celles que d’autres tirent du silence et du recueillement; mais je les méprise. Je désire surtout que mon maudit gazetier me laisse m’amuser à ma guise. „Vous n’é‐ prouvez donc jamais, - me dit-il, avec un ton de nez très apostolique, - le besoin de partager vos jouissances? “ Voyez-vous le subtil envieux! Il sait que je dédaigne les siennes, et il vient s’insinuer dans les miennes, le hideux trouble-fête! (Ebd.) Den Schluss bilden das La Bruyère-Zitat sowie der bekannte Ausspruch Pascals über die menschliche Unruhe, der hier an die Stelle der früheren Bemerkung zur „jouissance“ des Einsamkeitserlebnisses tritt und zu einer weiteren politisch-sa‐ tirischen Spitze genutzt wird: „Presque tous nos malheurs nous viennent de n’avoir pas su rester dans notre chambre“, dit un autre sage, Pascal, je crois, rappelant ainsi dans la cellule du recueil‐ lement tous ces affolés qui cherchent le bonheur dans le mouvement et dans une prostitution que je pourrais appeler fraternitaire, si je voulais parler la belle langue de mon siecle. (S. 314) Die Endfassung brilliert also mit einer Vielfalt von ‚Tönen‘, mit der Baudelaire das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet: zum ursprünglichen „esprit analytique“ kommen hyperbolische Wendungen, in denen die Freuden der Ein‐ samkeit aus dem Programmgedicht Les Foules nachklingen 621 , vor allem aber eine Steigerung der Ironie und ein neuer Ton der gesellschaftlichen und politischen 3) Die Erweiterung der poetischen Inspiration im Spleen de Paris 213 622 Es ist das vierte, in La Presse geplante Feuilleton, das nicht mehr veröffentlicht wurde. Siehe oben, S. 178, Anm. 504. Zur Textgestalt und den Umarbeitungen siehe Kopp, Petits Poëmes en prose, S. 71 ff. 623 Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1332. Satire, der die gängigen Äußerungen zum Thema als unaufrichtig entlarvt. Nicht vergessen seien die Zitate, die jeweils ihren eigenen Stil einbringen. So ist letzt‐ lich ein poetischer satirischer Text entstanden, in dem Baudelaire in einem ‚hy‐ perbolischen‘ Feuerwerk von Einfällen und Sprechweisen mit den bekannten Einwänden gegen die Einsamkeit abrechnet. Das dritte Prosagedicht, das in diesem Zeitraum eine umfassende Bearbeitung erfährt, ist Les Projets. Es ist erstmals zusammen mit den Prosagedichten Un Hémisphère dans une Chevelure und L’Invitation au voyage am 24. 8. 1857 in Le Présent publiziert worden und der früheste Beleg für seine überarbeitete Version ist wie im Fall von Le Crépuscule du soir und La Solitude ein Korrekturabzug von Anfang Oktober 1862 622 . In der Substanz ist das Gedicht eine Abfolge von „pro‐ jets“ oder Phantasien eines Liebenden über ein gemeinsames Leben mit der Ge‐ liebten, die in die Einsicht mündet, dass die Flucht in Phantasiewelten vergeblich ist. Das Thema der (vergeblichen) Glückssuche konnte Baudelaire sich offenbar zunächst nur in rein lyrischer Form vorstellen. Daher hat er in der ersten Version die Phantasien unvermittelt einem Ich in den Mund gelegt und eine durchge‐ hend lyrische Sprechweise mit allen dazu gehörenden Verfahren wie Anrede der Geliebten, Selbstgespräche, Apostrophen usw. gewählt. Selbst der analytische Schlussteil, die Ernüchterung, ist in die pathetische lyrische Sprachform gefasst: … Le rêve! le rêve! toujours le rêve maudit! - Il tue l’action et mange le temps! - Les rêves soulagent un moment la bête dévorante qui s’agite en nous. C’est un poison qui la soulage, mais qui la nourrit. Où donc trouver une coupe assez profonde et un poison assez épais pour noyer la Bête! 623 Die Bearbeitung von 1862 transponiert nun den Vorgang in eine Erzählung, in der ein „il“ auf seinem Weg durch die Stadt durch verschiedene Anblicke (eines Parks, eines Stichs mit einer tropischen Landschaft in einer Fensterauslage, eines bescheidenen Gasthofs) zu den wechselnden Phantasien angeregt wird. Zu Hause angelangt, zieht es die Konsequenz aus dem Vorgefallenen: Et en rentrant seul chez lui, à cette heure où les conseils de la Sagesse ne sont plus étouffés par les bourdonnements de la vie extérieure, il se dit: „J’ai eu aujourd’hui, en rêve, trois domiciles où j’ai trouvé un égal plaisir. Pourquoi contraindre mon corps à I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 214 624 Le Spleen de Paris XXIV, S. 314 f., hier: S. 315. changer de place, puisque mon âme voyage si lestement? Et à quoi bon exécuter des projets, puisque le projet est en lui-même une jouissance suffisante? “ 624 Für die Ausmalung der verschiedenen „projets“ ist auch in der Endfassung die Ich-Form beibehalten, deren lyrischer Tonfall gegenüber der früheren Fassung freilich abgeschwächt wurde. Aber daneben gibt es jetzt einen erzählerischen Rahmen, in dem die Phantasien auf konkrete Anlässe und Örtlichkeiten zu‐ rückgeführt werden, die die Großstadt als Erlebnisraum spürbar werden lassen. Was in der Erstfassung eine im Nirgendwo angesiedelte ‚eintönige‘ Phantasie des lyrischen Ichs war, ist jetzt zu einer wohlgegliederten Erzählung geworden, in der Sprechweisen und Sprecher wechseln und sich gegenseitig profilieren und hervorheben. Am Schluss erzwingt der neue kühl analysierende Ton die Einsicht des Ichs in die Selbstgenügsamkeit der Phantasie und gibt dem Gedicht eine gegenüber der lyrischen Klage der Erstfassung überraschende rationale Schlusswendung. Weil eine ‚rupture de ton‘ auf diese Weise vermieden wird, kann man den damit begründeten Zweifeln Suzanne Bernards am poetischen Charakter des Stückes nicht zustimmen. Vielmehr wird man einmal mehr Bau‐ delaires gezielten Einsatz der poetischen Mittel bewundern müssen, der hier ein ausgewogenes Verhältnis von lyrischer Stimmung und Reflexion schafft und ein geradezu mustergültiges Prosagedicht hervorbringt. In allen drei untersuchten Gedichten führt die Überarbeitung zur Vermehrung der Töne. Jedesmal ist zudem ein hyperbolisches Moment gegeben, das den Charakter des Gedichts bestimmt, sei es im „enthousiasme lyrique“, sei es in einzelnen hyperbolischen Wendungen oder in anderen Formen der Überbietung. Neu ist der ironisch-satirische Ton, der dem komischen Ton nahesteht. Er ist aber keineswegs die Regel. Das lässt sich eher von der analysierenden Sprech‐ weise sagen, ohne die keines der drei Gedichte auskommt. Im letzten Beispiel wird zudem, wie oft im Spleen de Paris, erzählt, weshalb manche „poèmes en prose“ geradezu wie kurze Novellen erscheinen. 4) Resümee Das Großstadtbild Baudelaires ist komplexer, als man lange Zeit hat sehen wollen. Dabei ist ein Unterschied zu machen zwischen dem persönlichen Paris-Bild Baudelaires - denn Paris war nun einmal die unmittelbar von ihm erlebte Großstadt -, das sich, wie Pierre Citron gezeigt hat, vom positiven Groß‐ stadterlebnis des jungen Mannes über ein widersprüchliches des in der Lebens‐ 4) Resümee 215 mitte Stehenden bis zum ablehnenden des späten, nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte befindlichen Kranken entwickelte, und dem Bild, das der Dichter Baudelaire sich von der Großstadt machte, das sich langsamer und kontrol‐ lierter, jedoch mit dem ihm eigenen ästhetischen Scharfblick entfaltete. Früh hat Baudelaire die Großstadt und das Leben in ihr als die neue Aufgabe auch der lyrischen Dichtung begriffen und unter dem Schlagwort der „mo‐ dernité“ gefasst. Da er zugleich der festen Überzeugung war, dass es deren höchstes Ziel sei, die „belles heures“ festzuhalten und sie dem Menschen in seinem irdischen Jammertal zugänglich zu machen, suchte er in der großen Stadt nach den Momenten des „état exceptionnel“, die ihn in den dichterischen Schaf‐ fensrausch versetzen konnten. Er fand sie in den grandiosen Ansichten und Ausblicken der Stadt, in ihrer Architektur, vor allem aber in ihren Menschen, in den Vielen der Menge ebenso wie in einzelnen Individuen. In den Journaux intimes untermauerte er diese poetischen Entdeckungen durch Reflexionen über das ekstatische Erleben in Menschenmengen und die Erfahrung von Ordnung und Harmonie auch in scheinbar chaotischen Zuständen. Parallel erarbeitete er sich in einer ersten Phase seiner Großstadtdichtung in einer Reihe von Ge‐ dichten, die herkömmliche Themen lyrischer oder anderer Provenienz ins groß‐ städtische Milieu übertrugen, das Konzept eines poetischen Enthusiasmus in der Großstadt. Bei diesen „mouvements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“ blieb es aber nicht. Denn seine besondere Vorstellung vom Schönen ließ ihn auch die Schattenseiten des Großstadtlebens als poetische Gegenstände an‐ erkennen. Seine Wahrnehmung der gemeinhin als abschreckend empfundenen Seiten der Großstadt wuchs mit der Häufigkeit und der Genauigkeit des Blickes auf die Stadt und ihre Menschen, wodurch seine Beobachtung schärfer, illusi‐ onsloser, moralistischer wurde. Seine ästhetischen Überzeugungen und Ziele verlangten für eine poetische Wiedergabe dieser „soubresauts de la conscience“ andere als die gewohnten Ausdrucksmittel. So entwickelte er die Idee einer Prosa, die durch eine Vielfalt von „Tönen“, eine hyperbolische Sprechweise und nicht zuletzt eine überschießende Ironie, ihre poetische Wirkung erzielen und von der bitteren Wirklichkeit entlasten konnte. Inhaltlich wie formal führte dieser Weg binnen weniger Jahre konzentrierten Schaffens zum neuen Genus des Prosagedichts. Baudelaire hat in seinen Verswie in seinen Prosagedichten die Großstadt und ihre Menschen in wesentlichen Aspekten ihres Lebens wiedergegeben. Er hat dies auf der Grundlage eines Dichtungsverständnisses getan, das im Enthu‐ siasmus des Lyrikers das Leben in allen seinen Aspekten erfasste und akzeptierte und das der Dichtung wie der Kunst die Fähigkeit zusprach, auf die Herausfor‐ derung durch die moderne Wirklichkeit eine angemessene Antwort zu geben. I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 216 1 H. Goertz, Frankreich und das Erlebnis der Form im Werk Rainer Maria Rilkes, Stuttgart 1932; L. de Sugar, Baudelaire et R. M. Rilke. Étude d’influence et d’affinités spirituelles, Paris 1954; Ch. Dédéyan, Rilke et la France, 4 Bde., Paris 1961; K. A. J. Batterby, Rilke and France. A Study in Poetic Development, Oxford 1966. Eine der frühesten Aussagen ist die von Ellen Key, dass Rilke immer die Werke Baudelaires mit sich führe (Seelen und Werke. Essays, Berlin 1911, darin S. 153-232: „Ein Gottsucher [Rainer Maria Rilke]“, hier: S. 162). 2 De Sugar, Baudelaire et Rilke, weist mit viel Akribie einzelne Baudelairesche Themen und Motive in Rilkes Werk nach, etwa die Malte erschreckenden Begegnungen mit den „Fortgeworfenen“; die Interpretation bleibt aber oft an Äußerlichkeiten hängen. Bat‐ terby, der mit viel Einfühlung Rilkes Verhältnis zu Baudelaire aufgearbeitet hat, belässt es letztlich bei der allgemeinen Feststellung eines Einflusses in der mittleren Schaf‐ fensperiode (vgl. Rilke and France, S. 116: „a deep and lasting impression“; S. 124: „the contact with Baudelaire left Rilke a more complete poet“). Judith Ryan hat an zwei Gedichten (Der Turm; Die Flamingos) Rilkes Auseinandersetzung mit Baudelaire im Grundsätzlichen aufgezeigt (Rilke, Modernism and Poetic Tradition, Cambridge 1999, S. 71 f. und 74-76). II. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 1. Einleitung Schon früh hat die Forschung auf die Bedeutung hingewiesen, die Baudelaires Werk für die Entwicklung Rilkes gehabt hat, und von „affinités spirituelles“ und einer „elective affinity“ zwischen beiden Dichtern gesprochen 1 . Im Vergleich zu den Erwartungen, die mit solchen Äußerungen geweckt wurden, sind die Er‐ gebnisse jedoch eher bescheiden ausgefallen, da sie kaum über den Nachweis vereinzelter motivischer und thematischer Übereinstimmungen hinausge‐ kommen sind, wie man sie auch für den Einfluss anderer Autoren und Werke auf Rilke geltend machen kann 2 . Bei den Gedichten mag dieses an Einzelfällen ausgerichtete Vorgehen seine Berechtigung und seinen Sinn haben, für die Auf‐ zeichnungen des Malte Laurids Brigge würde man sich jedoch mehr und An‐ deres wünschen, so eine Antwort auf die Frage, ob und inwieweit das darin geschilderte Paris-Erlebnis auf eine grundsätzlichere Orientierung Rilkes an Baudelaire weist. Zwar ist die Tatsache, dass Malte sich in der 22. Aufzeichnung beim Problem des „Schrecklichen“ ausdrücklich auf Baudelaire beruft, allseits 3 Siehe dazu U. Fülleborn, „Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman“ in: Unterscheidung und Bewahrung. Fest‐ schrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, S. 147-169, wieder in: H. Engelhardt (Hrsg.), Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (suhrkamp ta‐ schenbuch materialien. 2051), Frankfurt a. M. 1974, S. 175-198. 4 Vgl. den Hinweis auf Baudelaires Gedicht Les Aveugles (Les Fleurs du mal XCII) bei der 59. Aufzeichnung: R. M. Rilke, Werke, kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrsg. von M. Engel / U. Fülleborn / H. Nalewski / A. Stahl, Frankfurt a. M./ Leipzig 1996, Bd. 3: Prosa und Dramen, hrsg. von A. Stahl, „Stellenkommentar“, S. 1001. Siehe dagegen Stahls Rilke-Kommentar zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, zur erzählerischen Prosa, zu den essayistischen Schriften und zum dramatischen Werk, München 1979, S. 224. 5 „[In der] Hoffnung, […] die offenkundige nie aber exakt eingegrenzte Einwirkung dieses Genres auf den Malte-Roman beweisen zu können“ (R. Bauer, „R. M. Rilke und das ‚poème en prose‘ Baudelaire’scher Prägung“, in: P. Demetz / J. W. Storck / H. D. Zimmer‐ mann [Hrsg.], Rilke - ein europäischer Dichter aus Prag, Würzburg 1998, S. 165-177, hier: S. 174). 6 „Rilkes Pariser Bilder“, in: Romanistik als vergleichende Literaturwissenschaft. Festschrift für J. von Stackelberg, hrsg. von W. Graeber / D. Steland / W. Floeck, Frankfurt a. M. 1996, S. 387-411. zur Kenntnis genommen worden, doch hat man es dabei bewenden lassen und keine weiteren Fragen gestellt. Dazu mag der schwierige Text der Aufzeich‐ nungen beigetragen haben, der allererst einmal selbst verstanden sein will. Auf germanistischer Seite hat das Verhältnis Rilkes zum Mitbegründer der europä‐ ischen modernen Lyrik zudem nur mäßig interessiert, wovon die Aufzeich‐ nungen als Prosawerk besonders betroffen sind, obwohl sie bekanntermaßen ihren Ausgang von der Lyrik nehmen 3 . Ja, in der überarbeiteten Neuauflage des Kommentars von August Stahl zu den Aufzeichnungen ist auf schon gewonnene Einsichten wieder verzichtet und die Hinweise auf Baudelaire sind reduziert worden, was dem Textverständnis geschadet hat 4 . Erst der Komparatist Roger Bauer hat die inhaltliche und formale Einwirkung des Baudelaireschen Prosa‐ gedichts auf die Aufzeichnungen zu seinem Gegenstand gemacht 5 . Zur gleichen Zeit hat Karlheinz Stierle gezeigt, dass das Paris-Erlebnis Rilkes nicht nur im Buch der Bilder und in den Neuen Gedichten sondern auch in den Aufzeichnungen entscheidend durch Baudelaires „Tableaux parisiens“ geprägt worden ist 6 . Was das Verständnis des Textes der Aufzeichnungen angeht, konzentrieren sich die Fragen der Forschung auf die drei Themengruppen der Paris-Erlebnisse, der Kindheitserinnerungen und der historischen Episoden samt ihrer Anord‐ nung sowie auf das Schicksal und die Person des Protagonisten, die in ihnen ihren Ausdruck finden. Die grundsätzliche Bedeutung der Kindheitserinne‐ rungen und der historischen Episoden ist durch die Aussage Rilkes gesichert, dass sie für Malte „Vokabeln seiner Not“ seien, in denen er die schweren Erleb‐ Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 218 7 Brief vom 10. 11. 1925 an Witold Hulewicz, in: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, hrsg. von M. Engel (Reclam. 9626), Stuttgart 1997, „Dokumente“, S. 296-304, hier: S. 298. In den Aufzeichnungen wird dafür das Wort „Äquivalente“ verwendet (Die Auf‐ zeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rilke, Werke, Bd. 3, S. 453-635, 26. Aufzeich‐ nung, S. 512). 8 Siehe dazu Stahl, „Kommentar“, S. 880 ff., sowie die ausführliche Darstellung der wech‐ selnden Äußerungen bei A. R. Stephens, Rilkes Malte Laurids Brigge. Strukturanalyse des erzählerischen Bewusstseins (Australisch-neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur. 3), Bern / Frankfurt a. M. 1974, S. 19 ff. („Untergang oder Apo‐ theose? “). 9 So zuletzt Engel in seinem „Nachwort“ zur Reclam-Ausgabe, S. 332. Ähnlich auch Stahl, „Kommentar“, S. 898 f. Armand Nivelle hatte den Weg Maltes in einem allgemeinen religiösen Sinn als Annäherung an Gott gedeutet („Sens et structure des Cahiers de Malte Laurids Brigge“, Revue d’esthétique, Bd. 12 / 1959, S. 5-32, bes. S. 30 ff.). 10 „R. M. Rilke und das ‚poème en prose‘ Baudelaire’scher Prägung“, S. 174. 11 „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: Thematisierte Krise des literarischen Selbstverständnisses“, in: dies., Zu Rilkes Malte Laurids Brigge, Bern 1980, S. 35-62. 12 „Zum dichterischen Verfahren in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Deutsche Vierteljahrsschrift Bd. 42 / 1968, S. 202-230, wieder in: H. Engelhardt (Hrsg.), Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 214-243, hier: S. 236. 13 S. 224. nisse der Pariser Gegenwart zu verarbeiten suche 7 . Weniger klar ist der Verlauf von Maltes Schicksal, zu dem Rilke sich mehrfach widersprüchlich geäußert hat 8 . Unabhängig vom Ende des Protagonisten ist das in den Aufzeichnungen ge‐ schilderte Geschehen gern in einem allgemeinmenschlichen Sinn gedeutet worden, etwa als eine von Malte unternommene „Globalrevision aller vertrauten Kategorien und Haltungen“, die auf einen „völligen Umbau von Ich-Struktur und Wirklichkeitsauffassung“ ziele 9 . Andere Interpreten haben es dagegen auf das Ringen eines Schriftstellers um sein Selbstverständnis und seine Kunstauf‐ fassung eingegrenzt. So hat Bauer als Thema der Aufzeichnungen den „poeto‐ logischen Reifeprozeß“ eines jungen Fremden in Paris konstatiert 10 und Bri‐ gitte L. Bradley hat darin ein fraglich gewordenes Persönlichkeitsideal und den Konflikt zwischen gesellschaftlicher Einbindung und Autonomie der Kunst zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts erkannt 11 . Zuvor schon hatte Ernst Fedor Hoffmann den Text der Aufzeichnungen als Ergebnis der „fortdauernden dichterischen Bemühungen Maltes“ gedeutet, der damit am Ende „seine selbst‐ gestellte künstlerische Aufgabe grundsätzlich gelöst“ habe 12 . Hoffmann hat diese Interpretation damit begründet, dass die Geschichte Maltes nach dem ersten, Paris gewidmeten Drittel des Textes nicht zu Ende erzählt werde, ja die Figur „in Vergessenheit“ gerate und sich in den folgenden Teilen „das Anliegen des Buches von der Darstellung des Künstlers zu der seiner Kunst“ verschiebe 13 . Für 1. Einleitung 219 14 S. 239. In diese Richtung tendiert auch Engel, wenn er den „Werkprozess des Romans“ an die Stelle der traditionellen, realistisch-biographischen Erzählweise treten sieht („Nachwort“, S. 350). 15 Siehe Rilke, Sämtliche Werke, 6 Bde., hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit R. Sieber-Rilke, besorgt von E. Zinn, Frankfurt a. M. 1987, Bd. 4, S. 1016. 16 Stahl, „Kommentar“, S. 839 f. 17 Brief vom 3. 2. 1921 an Rudolf Zimmermann und Brief vom 11. 4. 1910 an Manon zu Solms-Laubach (Stahl, „Kommentar“, S. 879). Darüber dass Clara Rilke von Anfang an Malte als poetische Figur begriffen habe, zeigte er sich erfreut, während er über die befreundete Ellen Key spottete: „[…] hat mich natürlich umgehend mit dem Malte ver‐ wechselt und aufgegeben“ und sich dagegen verwahrte, das Buch „als ein Bergwerk biographischen Materials abzubauen“ (siehe Stahl, ebd.). Schon in der Formulierung „abgelöst“ bewahrt die Existenz Maltes aber einen Fundus Rilkescher „Eigenart“. ihn sind die Aufzeichnungen die „Spiegelung einer zusammengehörigen und fortschreitenden schriftstellerischen Arbeit“ und daher als eine „Dichtung in statu nascendi zu lesen“ 14 . Schließt man sich dieser Deutung an, die die schein‐ bare Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Aufzeichnungen in einem sinnrei‐ chen Konzept aufhebt, so geht es in dem Werk nicht primär um die allgemeine Problematik menschlichen Lebens, sondern um die besondere Problematik eines Schriftstellerlebens in der Moderne. Das führt notwendig zur Frage nach der Persönlichkeit des Malte Laurids Brigge, die im Mittelpunkt der geschilderten Ereignisse steht, und damit zu der Frage, woher Rilke diese Figur und seine Vorstellungen von der Künstlerpersönlichkeit und den Voraussetzungen und Umständen ihres Schaffens bezogen hat. Die Geschichte eines jungen Dichters hatte er bereits zum Gegenstand der frühen Erzählung Ewald Tragy gemacht, die zu seinen Lebzeiten unveröffent‐ licht blieb, wohl wegen zu großer autobiographischer Nähe 15 . Nach Stahl spie‐ gelt sich in Ewald Tragy die Zeit von Rilkes Übersiedlung von Prag nach Mün‐ chen und seine „Distanzierung von den familiären und gesellschaftlichen Anpassungserwartungen“ 16 . Im Mittelpunkt der Erzählung stehen soziale As‐ pekte des Künstlerlebens und die Suche nach der eigenen Rolle, während über die dichterische Arbeit, abgesehen vom Faktum als solchem, nichts verlautet. Es ist offenkundig, dass die Aufzeichnungen eine ganz ähnliche Funktion im Hin‐ blick auf den Pariser Aufenthalt Rilkes haben. Darauf weist schon die erste Auf‐ zeichnung mit der Eintragung „11. September, rue Toullier“, die sein erstes Pa‐ riser Quartier benennt. Dennoch hat Rilke immer wieder darauf bestanden, dass Malte Laurids Brigge eine „durchaus erfundene Gestalt“ sei, eine Gestalt, „die, ganz von mir abgelöst, Existenz und Eigenart gewann“ 17 . Die Erlebnisse seines ersten Pariser Aufenthaltes hat er, soweit sie sich nicht in Verse fassen ließen, in der Tat zunächst in Briefen, zeitnah an seine Frau Clara und ein Jahr später, aus dem Rückblick, an Lou Andreas-Salomé, festgehalten. Einer der Gründe Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 220 18 Vgl. Stahl, „Kommentar“, S. 867 ff. („Entstehung“). Rilke selbst sah die Aufzeichnungen zunächst als eine Fortsetzung zu den Geschichten vom lieben Gott, was sich wohl aus der anfangs geplanten Kombination von Rahmen- und Binnenerzählungen ergab (Engel, „Nachwort“, S. 324, Anm. 9). 19 Siehe das „Nachwort“ von Fritz Paul zu J. P. Jacobsen, Niels Lyhne, mit Illustrationen von Heinrich Vogeler (insel taschenbuch. 44), Frankfurt a. M. 1973, S. 282. Zur Mode der skandinavischen Literatur um 1900 siehe auch Engel, S. 324, Anm.10. 20 Paul, „Nachwort“, S. 282. Rilkes Äußerungen über Jacobsen finden sich in den Briefen an einen jungen Dichter, in: Werke, Bd. 4: Schriften, hrsg. von H. Nalewski, Frankfurt a. M. / Leipzig 1996, S. 514-548, hier: S. 518 ff. Bis in die vorletzte Arbeitsphase (Frühjahr 1908) hatte er seinen skandinavischen Vorbildern folgend noch Maltes Untergang ge‐ plant (Engel, „Nachwort“, S. 327 f.). 21 So Paul, ebd. dafür war wohl, dass er noch keine poetische Form zur Verfügung hatte, in die er sie fassen konnte. Wie an den ersten Entwürfen zu den Aufzeichnungen aus dem Jahr 1904 abzulesen ist, wuchs die Form seines Buches nur langsam und gespeist durch Anregungen von verschiedenen Seiten heran 18 . Auch zur Ent‐ stehung der Figur des jungen Dänen Malte haben verschiedene zeitnahe Lese‐ eindrücke beigetragen, besonders die Werke der nordischen Schriftsteller Sig‐ björn Obstfelder und Jens Peter Jacobsen sowie deren eigene Schicksale. Obstfelders Tagebuch eines Priesters ist das Selbstgespräch eines ‚Gottsuchers‘, der hin und her gerissen ist zwischen Glaubensproblemen und Zivilisations‐ kritik, zwischen Naturerfahrung und ästhetischen Problemen und der nach einem ekstatischen Erweckungserlebnis in der Einsamkeit unter die Menschen zurückkehrt. Jacobsens Niels Lyhne, ursprünglich mit dem Untertitel „Die Ge‐ schichte einer Jugend“ versehen, erzählt von einem empfindsamen und träu‐ merischen jungen Mann, der sich in mannigfache Liebesaffären verstrickt, in seinem Dichtertum unvollendet bleibt und am Ende als Soldat einen „schweren Tod“ stirbt. Der Roman übte mit seiner dekadenten Stimmung, seinem Ästheti‐ zismus und dem offenkundigen Atheismus eine starke Faszination auf Intellek‐ tuelle und Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus 19 . Rilke war ein großer Bewunderer von Jacobsen, dessen Werke ihm neben der Bibel „unentbehrlich“ waren, und man hat Malte einen „Vetter im Geiste“ von Niels Lyhne nennen können 20 . Dennoch ist Maltes Charakter mit Zügen wie „schwermütige Refle‐ xionen“, „Äußerungen totaler Verlorenheit“, „ästhetische Seelenkultur“ 21 nicht hinreichend beschrieben, weil hier diejenigen seiner Eigenschaften - Phantasie, Einfühlung, künstlerische Wahrnehmungsfähigkeit - fehlen, die ihn zum Dichter prädestinieren, und weil nicht zuletzt auch sein Bewusstsein von dieser Aufgabe fehlt. Diese besonderen Eigenschaften und die künstlerische Bewusst‐ heit verbinden Malte - wie auch seinen Autor Rilke - aber in so auffälliger Weise mit Baudelaire und seinen Vorstellungen vom Dichter und Künstler, dass man 1. Einleitung 221 22 Vom ‚Persönlichkeitsmodell‘ Maltes hat zum ersten Mal Stephens gesprochen (Rilkes Malte Laurids Brigge, passim). 23 Zitiert nach Werke, Bd. 3: Prosa und Dramen. Vor der Seite wird zur besseren Orientie‐ rung die jeweilige Aufzeichnung in der üblichen Zählweise angegeben. diesem einen maßgeblichen Anteil an dem ‚Persönlichkeitsmodell‘ 22 zubilligen muss, nach dem die Hauptfigur der Aufzeichnungen modelliert ist und das - angesichts von deren autobiographischen Implikationen - auch für Rilkes ei‐ genes Ringen um sein Selbstverständnis von beträchtlicher Bedeutung gewesen ist. 2. „sehen lernen“ Zu Beginn seiner Aufzeichnungen stellt Malte mehrfach fest, er „lerne sehen“: Ich lerne sehen. (4, S. 456) Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. (5, S. 457) 23 In der ihm unbekannten großen Stadt sieht er viele Dinge, die für ihn neu oder ungewohnt sind und die ihn zum großen Teil tief betroffen machen: Hospitäler und ein Obdachlosenheim; einen Menschen, „welcher schwankte und umsank“; eine schwangere Frau, die sich an einer „Maison d’Accouchement“ entlang tastet; ein dickes, grünliches Kind mit Ausschlag in einem Kinderwagen. Auch registriert er die Ausdünstungen von Mensch und Stadt („nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst“). Mit einiger Mühe unterdrückt er die Empfindungen, die solches in ihm auslöst: „Das war nun mal so. Die Hauptsache war, dass man lebte. Das war die Hauptsache.“ (1; S. 455) In der Nacht hört er den Lärm der Stadt (2) sowie ihre „furchtbare“ Stille (3). Ein andermal nimmt er die vielen Gesichter in der Menschenmenge wahr und es graut ihm vor dem Kopf einer Frau „ohne Gesicht“ (5). Er sieht die zahlreichen Krankenwagen, die im Hôtel-Dieu auf der Île de la Cité ein- und ausfahren, und denkt an das un‐ persönliche Sterben in den Krankenhäusern (7) und, im Kontrast dazu, an den langen, schweren, aber ‚eigenen‘ Tod, den sein Großvater im alten Herrenhaus der Brigges gestorben ist (8). Überall in der Stadt trifft er auf „Fortgeworfene“, „Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat“, und fühlt sich von ihnen verfolgt (16, S. 481). Neben diesen niederdrückenden Wahrneh‐ mungen gibt es jedoch auch andere, die ihn freudig stimmen. So erlebt er einen Herbstmorgen in den Tuilerien, wo er einem Genesenen begegnet, der wieder ohne Krücke gehen kann (11); er sieht die Stadt in ihren Farben wie ein auf Seide Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 222 24 Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 62-107 und S. 217 ff. Die Verschiebung der Mystik zum Ästhetischen ist nach ihr ein Erbe der französischen Symbolisten, Baudelaires und Edgar Allan Poes (S. 209). 25 „Die Wahrnehmung der Großstadt als ästhetisches Problem des Erzählens. Narrativität im Futurismus und im modernen Roman“, in: M. Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als Text, München 1992, S. 131-182, hier: S. 133 ff. 26 S. 912 ff. 27 „Nachwort“ zu seiner Ausgabe der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Reclam), S. 319-350, hier: S. 329 ff. gemaltes Bild (12) und er bemerkt eine Gruppe von Straßenkünstlern, eine Frau mit Leierkasten und ein tanzendes kleines Mädchen, das den Tamburin schlägt (13). Die kleinen Antiquitätenhändler in der Rue de Seine beneidet er um ihr ruhiges und bescheidenes Leben (17) und die Totenmaske Beethovens, die bei einem Gießer aushängt, inspiriert ihn zu enthusiastischen Äußerungen über dessen Musik (24). Allen diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen ist eine ungewohnte Intensität gemeinsam, wie er bemerkt: Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. (4, S. 456) Der programmatische Charakter von Maltes Feststellung „Ich lerne sehen.“ ist oft bemerkt und vielfach erklärt worden. Martina Wagner-Egelhaaf etwa hat Maltes Sehenlernen, die auffällige „Präsenz der Bilder“ und die „Vision[en]“ in den Aufzeichnungen in Verbindung mit mystischen Denk- und Erlebnisformen gebracht, die von Rilke poetologisch umgedeutet würden 24 . Dagegen hat Man‐ fred Smuda es als das Bemühen Maltes gedeutet, „eine dem Großstadtleben adä‐ quate […] Wahrnehmungsweise auszubilden“, die er mit Rückgriff auf Georg Simmel definiert als eine beschleunigte Wahrnehmung der Fülle vorrangig vi‐ sueller Eindrücke der Großstadt, die für den Wahrnehmenden „ständig am Rande der Wahrnehmungsüberforderung entlangläuft“ 25 . August Stahl erinnert in seinem Kommentar an das grundsätzliche Problem von Maltes gestörter Re‐ alitätswahrnehmung und verweist auf zeitgenössische philosophische Paral‐ lelen (Nietzsche); zudem merkt er an, dass Rilke durch die Begegnung mit bil‐ denden Künstlern (Worpswede, Rodin) für das Phänomen des „Sehens“ sensibilisiert worden sei 26 . Für Manfred Engel ist das „Sehenlernen“ ein zentrales ästhetisches Problem der mittleren Werkphase des Autors, in der dieser von seinen bisherigen euphorischen Kreativitätsschüben zu einem Arbeitsethos des „toujours travailler“ nach dem Vorbild Rodins und Cézannes gefunden habe 27 . 2. „sehen lernen“ 223 28 Laut Russel E. Brown, Index zu R. M. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M. 1971, S. 217, findet es sich 65mal allein in der Infinitivform. 29 Insgesamt 3mal im Infinitiv (Brown, Index, S. 209). Nach Stahl sind „sehen“, „schauen“ und „anschauen“ „die am häufigsten vorkommenden Vollverben“ der Aufzeichnungen („Stellenkommentar“, S. 913 f.). 30 Worpswede, in: Werke, Bd. 4, S. 305-400, hier: S. 312 f. 31 Worpswede, S. 330. Das „neue Sehen“ ziele auf eine nach außen gerichtete Wahrnehmung, bei der sich im aufnehmenden Subjekt der dem Objekt korrespondierende Seelenzu‐ stand herstelle. Diese Einstellung habe sich in den ‚Dinggedichten‘ der Neuen Gedichte ebenso wie in den Aufzeichnungen niedergeschlagen. „Sehen“ ist eines der in den Aufzeichnungen am häufigsten verwendeten Verben 28 . Sehr viel seltener findet sich das Verb „schauen“ 29 , das mit seinem Tiefgang, seinem gehobenen und fast weihevollen Sinn eigentlich ein Rilkesches Wort par excellence ist. Besonders beliebt ist es beim frühen Rilke. So heißt es etwa in der im Frühjahr 1902 niedergeschriebenen Abhandlung über die Worps‐ weder Maler zur Entdeckung des Landschaftsthemas in der Malerei: Es müssen andere Menschen gewesen sein, welche, an ihresgleichen vorbei, die Land‐ schaft schauten, die große, teilnahmslose, gewaltige Natur. 30 „Schauen“ bezeichnet hier den inspirierten künstlerischen Blick und Zugriff auf die Welt. Im selben Kapitel über den Maler Fritz Mackensen spricht Rilke wenig später von dessen „ausgeprägtem Sehen“ der Landschaft, wobei sich „sehen“ alsbald in „schauen“ verwandelt: Es ist, als ob die Ränder aller Dinge sich daran [am Sehen] scharf geschliffen hätten. Lieben heißt für ihn schauen, in ein Land, in ein Herz, in ein Auge schauen. 31 Seine „große, kindliche Liebe zur Natur“ gibt Mackensens „Sehen“ emotionale Tiefe, was Rilke mit dem intensiveren Verb „schauen“ ausdrückt. Mackensen selbst wird im Weiteren mit Äußerungen wie „bewundernde[s] Anschauen der Natur“ (ebd.), aber auch mit dem Ausspruch „Unsere Augen sehen gesund und frei“ zitiert, aus dem bei Rilke ein „gesunde[s] Sehen“ wird (S. 337). Im Kapitel über Heinrich Vogeler versieht er das bislang nüchterne Verb „sehen“ mit einer neuen Konnotation: Es war ein Auge, das nicht allein sah, sondern das auch wusste und gesehen hatte, wie alles geworden war. (S. 394) Wissen wird dann alsbald auch dem Verb „schauen“ zugesprochen („Mit diesem neuen Wissen und Schauen Bilder zu malen […]“, S. 398). „Sehen“ und „schauen“ Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 224 32 Auguste Rodin, in: Werke, Bd. 4, S. 401-513, hier: S. 430. 33 Théophile Gautier I, S. 120. meinen in Rilkes Worpsweder Abhandlung also die individuelle Wahrnehmung von Malern, werden aber weitgehend in einem gängigen Sinn verwendet. In der Rodin-Monographie vom Spätherbst 1902 setzt eine Differenzierung ein: Man kann, wenn man will, die meisten Werke Rodins mit Gedanken begleiten, er‐ klären und umgeben. Für alle, denen das einfache Schauen ein zu ungewohnter und schwerer Weg zur Schönheit ist, giebt es andere Wege, Umwege über Bedeutungen, die edel sind, groß und voll Gestalt. 32 „Schauen“ in seiner ursprünglichen Art („einfaches Schauen“) wird hier als ein „Weg zur Schönheit“ bezeichnet und zwar zunächst für denjenigen, der Kunst rezipiert. Das gleichgeartete Schauen dessen, der Kunst schafft, lässt nicht lange auf sich warten: Aber langsam wuchs Rodins Vision von Form zu Form. Und endlich sah er ihn. Er sah eine breite, ausschreitende Gestalt, die an des Mantels Fall alle ihre Schwere verlor. Auf den starken Nacken stemmte sich das Haar, und in das Haar zurückgelehnt lag ein Gesicht, schauend, im Rausche des Schauens, schäumend von Schaffen: das Ge‐ sicht eines Elementes. […] Das war das Schaffen selbst, das sich der Form Balzacs bediente, um zu erscheinen; des Schaffens Überhebung, Hochmut, Taumel und Trun‐ kenheit. (S. 446) Der die Schönheit Schauende ist hier der Schriftsteller Balzac in der Form, wie Rodins Statue ihn darstellt: als denjenigen, der „im Rausche des Schauens, schäumend von Schaffen“ wie ein „Element“ erscheint. Hinter dieser Interpre‐ tation der Balzac-Statue steht - wie vermutlich schon hinter dem Konzept ihres Urhebers - Baudelaires Vorstellung von Balzac als „visionnaire“: J’ai mainte fois été étonné que la grande gloire de Balzac fût de passer pour un ob‐ servateur; il m’avait toujours semblé que son principal mérite était d’être visionnaire, et visionnaire passionné. 33 Während er dem Schriftsteller Balzac das „Schauen“ zuspricht, verwendet Rilke für das Schauen und Schaffen des Bildhauers Rodin in der Monographie das Verb „sehen“: „Und endlich sah er ihn.“, das indes gestützt wird von einer „Vision“, die über verschiedene Stadien „von Form zu Form“ wächst. Die Bedeutungen von „sehen“ und „schauen“ nähern sich hier einander an, wie es scheint. Tat‐ sächlich ist die „sehende“ Arbeitsweise des Bildhauers Rodin nicht weniger ‚vi‐ 2. „sehen lernen“ 225 34 Auguste Rodin, S. 436 f. 35 Le Peintre de la vie moderne, S. 697 ff. und 694. Siehe oben, S. 77. 36 Auguste Rodin, S. 467. 37 Wie Rilke selbst; vgl. im Brief vom 18. 10. 1907 an Clara: „persönliche innere Gründe […], die mich schauender vor Bilder stellen“ (Briefe 1906-1907, S. 390). sionär‘ als die „schauende“ des Schriftstellers, wie ihrer Beschreibung kurz vor dem zitierten Passus zu entnehmen ist: So vergeht über jeder Büste viel Zeit. Das Material wächst, zum Teil in Zeichnungen, in ein paar Federstrichen und Tuschflecken festgehalten, zum Teil im Gedächtnisse angesammelt; denn dieses hat Rodin sich zu einem ebenso verlässlichen als bereiten Hilfsmittel ausgebildet. Sein Auge sieht während der Sitzungs-Stunden viel mehr, als er in dieser Zeit ausführen kann, Er vergisst nichts davon und oft, wenn das Modell ihn verlassen hat, beginnt für ihn das eigentliche Arbeiten aus der Fülle seiner Erin‐ nerung. […] Diese Arbeitsweise führt zu gewaltigen Zusammenfassungen von hundert und hun‐ dert Lebensmomenten: und so ist auch der Eindruck, den diese Büsten machen. 34 Die Fülle der Wahrnehmung wie auch Rodins Schaffen aus der Erinnerung er‐ innern an Baudelaires Schilderung der Arbeitsweise von Constantin Guys, dessen „art mnémonique“ aus den vielen Eindrücken der städtischen Wirklich‐ keit die „fantasmagorie“ entstehen ließ 35 . Denkbar ist, dass Rilke bei seinem Bild des schaffenden Rodin diese Vorstellung Baudelaires vor Augen gehabt hat. Im zweiten Teil der Monographie, der zwischen 1905 und 1907 mehrfach als Vortrag gehalten wurde, tritt das ‚visionäre‘ Moment des künstlerischen Schauens und Schaffens klar zutage und zugleich entwickelt Rilke den Ge‐ danken, dass das Schauen eine „Arbeit“ sei, die man „lernen“ könne: […] diese Werkstätten […], in denen die Bausteine dieses großen Werkes behauen werden. Fast bruchsteinhaft unwirtlich, bieten sie dem Besucher keine Zerstreuung; nur für Arbeit eingerichtet, zwingen sie ihn, das Schauen als Arbeit auf sich zu nehmen, und viele haben an dieser Stelle zuerst empfunden, wie ungewohnt ihnen diese Arbeit ist. Andere, die es lernten, traten mit einem Fortschritt wieder heraus und merkten, dass sie gelernt hatten, an allem was draußen war. Am merkwürdigsten sind diese Räume sicher für die gewesen, die schauen konnten. 36 Die Werkstatt des Bildhauers Rodin zwingt viele Besucher, das ihnen unge‐ wohnte „Schauen“ zu erlernen, was sie „draußen“, wenn sie wieder in die Welt treten, an ihrem neuen Blick auf die Dinge erkennen. Es gibt aber auch andere, die schon „schauen“ können 37 , ob Künstler oder Betrachter, bleibt offen. Jeden‐ falls ist Rodin jemand, der seinerzeit in Belgien in einem „jahrelangen Gehen Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 226 38 S. 476. Auch hier das parallele eigene Vorgehen: „mein viel aufnehmenderes Schauen“ (Brief an Andreas-Salomé vom 15. 04. 1904, in: Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, hrsg. von E. Pfeiffer, Zürich / Wiesbaden 1952, S. 142). 39 M. Gsteiger, Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869-1914), Bern / München 1971. 40 Der Maeterlinck-Vortrag wurde 1902 in Bremen gehalten, eine Übersetzung des Ge‐ dichtes La Brise en larmes des Symbolisten Fernand Gregh erfolgte schon 1897, nur wenige Monate nach Erscheinen des Originals; siehe Gsteiger, Französische Symbo‐ listen, S. 91 f. 120. 243 f. 277, Anm. 11. Den in seinen Anfängen symbolistischen Dichter Émile Verhaeren hat Rilke 1905 in Paris persönlich kennengelernt (Gsteiger, S. 130). 41 „Moderne Lyrik“, in: Werke, Bd. 4: Schriften, S. 61-86, hier: S. 65. und Schauen“, mit dem er sich auf die kommende Arbeit vorbereitete 38 , zu schauen gelernt hat. Und nun gehört zu der Arbeit, der er sich Tag für Tag in der ländlichen Einsamkeit seines Hauses in Meudon widmet, auch: […] dieses Hinausschauen und Mitallemsein und Verstehen. (S. 474) Hier ist das (Hinaus)Schauen, das Sich-Versenken und Verstehen aller Dinge, der eindeutige Beginn eines ekstatischen Zustands, einer „unio mystica“ mit dem Universum, die beim Künstler in den Zustand des schöpferischen Enthu‐ siasmus führt. Auffällig ist, dass Rilke in diesem Zusammenhang das Verb „schauen“ verwendet. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zu den Vorstellungen des jungen Rilke von Kunst angebracht, wie er sie 1898 in dem in Prag gehaltenen Vortrag über „Moderne Lyrik“ entwickelt hat. In seinen Darlegungen ist der Einfluss der französischen symbolistischen Bewegung unüberhörbar, die im deutschen Sprachraum seit den 1890er Jahren vor allem in den städtischen Zentren Mün‐ chen, Wien und Berlin 39 rezipiert wurde und an der Rilke lebhaften Anteil nahm, wie sowohl Gedichtübertragungen wie ein Vortrag über den belgischen Dra‐ matiker Maurice Maeterlinck bezeugen 40 . Kunst definiert er darin als […] das Bestreben eines Einzelnen, […] eine Verständigung zu finden mit allen Dingen, mit den kleinsten, wie mit den größten, und in solchen beständigen Zwiegesprächen näher zu kommen zu den letzten leisen Quellen alles Lebens. Die Geheimnisse der Dinge verschmelzen in seinem Innern mit seinen eigenen tiefsten Empfindungen und werden ihm, so als ob es eigene Sehnsüchte wären, laut. Die reiche Sprache dieser intimen Geständnisse ist die Schönheit. 41 Die „letzten leisen Quellen alles Lebens“ und die „Geheimnisse der Dinge“ sind ein Echo des geheimen Sinns, den die Symbolisten hinter den Erscheinungen fanden, und die „reiche Sprache“ der „intimen Geständnisse“ verweist auf die Bedeutung, die jene dem sprachlichen Ausdruck und seiner Wirkung bei‐ 2. „sehen lernen“ 227 42 Besonders Stéphane Mallarmé hat sich mit dem Ringen um den Ausdruck des „fonds d’extase“ durch sprachliche Mittel hervorgetan. Siehe dazu J. Schulze, „Die reinsten Gletscher der Ästhetik“, in: O. Pöggeler / Ch. Jamme (Hrsg.), „Der glühende Leertext“. Annäherungen an Paul Celans Dichtung, München 1993, S. 227-247. 43 Zwar nennt er im weiteren Verlauf mit sicherem Zugriff unter den französischen Vor‐ bildern Baudelaire und Mallarmé, hält aber auch Abstand, indem er sie mit Hugo von Hofmannsthal in Verbindung bringt: „Loris hat ja gewiss von Frankreich her manche Geste übernommen, und er träumt manchen Farbentraum einem Baudelaire oder einem Mallarmé nach; aber diese verschiedenen Erbstücke waren seinem reichen, ursprüng‐ lichen Besitz so verwandt, dass man sie nun kaum mehr zu sondern vermag.“ („Moderne Lyrik“, S. 81) Seine Kenntnis beider Autoren geht also wohl noch nicht sehr in die Tiefe. 44 Werke, Bd. 4, S. 666-670; hier: S. 668. Hervorhebung von mir. De Sugar hat als erste auf die Nähe dieses Erlebnisses zu Baudelaires Paradis artificiels hingewiesen (Baudelaire et Rilke, S. 158 f.). Der Text hat zwei Teile; im zweiten Teil werden frühere Erlebnisse ähnlicher Art - beim Anblick des Sternenhimmels, bei einem Sturm usw. - demselben Erlebnistyp zugeordnet und ihr Kern als „das Leere“ bezeichnet (S. 670). maßen 42 . Wenn nach Rilke dazu noch der „Einzelne“ und die Geheimnisse der Dinge miteinander „verschmelzen“, ist dies ein universales Einheitserlebnis, das sich in der Seele anlässlich der in der Lyrik üblichen Gefühlsoffenbarungen „löst“: […] dieser Gefühlsstoff, mag es eine Abendstimmung oder eine Frühlingslandschaft sein, erscheint mir nur der Vorwand für noch feinere, ganz persönliche Geständnisse, die nichts mit dem Abend oder dem Blütentag zu tun haben, aber bei dieser Gelegen‐ heit in der Seele sich lösen und ledig werden. (Ebd.) Der offensichtlich beliebige Anlass solcher „persönlichen Geständnisse“ - der Stoff oder „Vorwand“ - entspricht Baudelaires „premier objet venu“, das für einen empfänglichen Betrachter zum „symbole parlant“ werden kann. Ob Rilke zu diesem frühen Zeitpunkt bereits genauere Kenntnis von Baudelaires Be‐ schreibungen des „état exceptionnel“ bzw. „poétique“ hatte, sei dahingestellt 43 . Jedenfalls hat er selbst solche ekstatischen Zustände gekannt, wie sein 1913 entstandener Text Erlebnis bezeugt, in dem er ein pantheistisches Aufgehen in einem Baum beschreibt, das ihn „auf die andere Seite der Natur geraten“ lässt und für das er nun zu derselben Wendung wie Baudelaire greift: Sich sagend von Zeit zu Zeit, dass dies nicht bleiben könne, fürchtete er gleichwohl nicht das Aufhören des außerordentlichen Zustands, als ob von ihm, ähnlich wie von Musik, nur ein unendlich gesetzmäßiger Ausgang zu erwarten sei. 44 Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 228 45 „Es mochte wenig mehr als ein Jahr her sein, als ihm im Garten des Schlosses, der sich den Hang ziemlich steil zum Meer hinunterzog, etwas Wunderliches widerfuhr. Seiner Gewohnheit nach mit einem Buch auf und abgehend, war er darauf gekommen, sich in die etwa schulterhohe Gabelung eines strauchartigen Baumes zu lehnen, und sofort fühlte er sich in dieser Haltung so angenehm unterstützt und so reichlich eingeruht, dass er so, ohne zu lesen, völlig eingelassen in die Natur, in einem beinahe unbewussten Anschaun verweilte. Nach und nach erwachte seine Aufmerksamkeit über einem nie‐ gekannten Gefühl: es war, als ob aus dem Innern des Baumes fast unmerkliche Schwing‐ ungen in ihn übergingen […]“ (Erlebnis, S. 666). 46 „Erst dann, wenn der Einzelne durch alle Schulgewohnheiten hindurch und über alles Anempfinden hinaus zu jenem tiefsten Grunde seines Tönens hinabreicht, tritt er in ein nahes und inniges Verhältnis zur Kunst: wird Künstler.“ („Moderne Lyrik“, S. 62; Hervorhebung im Text.) 47 „So scheinen mir denn auch Lauschen und Einsamsein die Haupteigenschaften, welche den neuen Dichtern gemeinsam sind.“ (S. 69) Aufschlussreich ist auch der (allerdings späte) Brief an Clara vom 12. 10. 1907 über einen Pariser Eindruck, in dem sich noch das Wort „tönen“ findet: „alles stimmt, gilt, nimmt teil und tönt in der Einheit der hellen Zusammenhänge.“ (Briefe 1906-1907, S. 374). Bei der Übernahme des Passus in die 12. Aufzeichnung ist das „Tönen“ dagegen zugunsten einer abstrakten Feststellung aufge‐ geben: „alles stimmt, gilt, nimmt teil und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.“ (S. 466; meine Hervorhebung). 48 J. Ryan, Umschlag und Verwandlung. Poetische Strukturen und Dichtungstheorie in Rainer Maria Rilkes Lyrik der Mittleren Periode (1907-1914), München 1972, hier: S. 12. In Erlebnis ist die Einswerdung mit dem Universum durch den Gefühlssinn ver‐ mittelt 45 . In dem frühen Vortrag über „Moderne Lyrik“ reicht der Dichter da‐ gegen zum „tiefsten Grunde seines Tönens hinab“ und lässt diese „persönlichen Geständnisse“ im Gedicht „sich austönen“ 46 : im enthusiastischen Zustand des Lyrikers spielt der Gehörssinn die entscheidende Rolle, was mit der Entwicklung der Lyrik und auch mit der Vorstellung von der Sphärenharmonie zusammen‐ hängen mag 47 . Für den mittleren Rilke mit seiner Hinwendung zu den bildenden Künsten wird dann das Sehen der Sinn, durch den der Künstler bevorzugt die Welt aufnimmt. Unverändert bleibt im Laufe dieser Entwicklung die Herstellung und Ver‐ mittlung des „außerordentlichen Zustands“ das Ziel der Kunst. So macht Rilke in den ‚Dinggedichten‘ der mittleren Schaffenszeit Vorgänge wie ‚Umschlag‘ und ‚Verwandlung‘, die dem außerordentlichen Zustand sehr nahekommen, zum bevorzugten Gegenstand. Die Vorstellung des ‚Umschlags‘, die auch in den Auf‐ zeichnungen eine bedeutende Rolle spielt, bezeichnet nach Judith Ryan den Übergang in eine Situation, in der der Betrachter eines Gegenstandes „nicht mehr nur einzelnes er[fährt], sondern an einer Ganzheit des Daseins teil[nimmt]“ 48 . ‚Verwandlung‘ ist die poetische Offenbarung solcher zeitlichen, räumlichen oder anderen Ganzheitserfahrungen, wenn die Phantasie des Dich‐ ters durch die „Herstellung von Beziehungen und Korrespondenzen“ den be‐ 2. „sehen lernen“ 229 49 Ryan, S. 43. Ryan hat in ihren Gedichtinterpretationen die sprachlichen Wendungen („Sieh“, „Denk“, „scheinen“, „als ob“) und Verfahren (Vergleiche) herausgestellt, mit denen Rilke diese elementare poetische Vorgehensweise anzeigt. 50 Zum Begriff der ‚Figur‘ siehe B. Allemann, Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961; hier: S. 39. 51 Allemann, S. 244, mit Zitat aus einem Brief Rilkes vom 9. 8. 1924. 52 Sonette an Orpheus I, 12 (Werke, Bd. 2, S. 246). Hinweis bei Allemann, S. 185. 53 M. Engel, „‚Weder Seiende noch Schauspieler‘, Zum Subjektivitätsentwurf in Rilkes Malte Laurids Brigge“, in: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne (suhrkamp taschenbuch. 2599), Frankfurt a. M. 1997, S. 181-200, hier: S. 193. 54 Brief vom 8. 3. 1907, in: R. M. R.: Briefe aus den Jahren 1906-1907, hrsg. von R. Sieber-Rilke und C. Sieber, Leipzig 1930, S. 213 f. trachteten Gegenstand zum „Teil eines Bezugssystems“ macht 49 . In einem spä‐ teren Schritt wird Rilke den Begriff der ‚Verwandlung‘ durch Vorstellungen wie ‚Bewegung‘, ‚Weltinnenraum‘ und vor allem die ‚Figur‘ ersetzen, die als eine „Stelle der Vollzähligkeit und der Fülle […] dem alltäglichen Dasein der Men‐ schen nicht zugänglich ist“ 50 , vom Dichter aber als der produktive, enthusiasti‐ sche Zustand gesucht wird, in dem er weiteste Bezüge und „unabsehliche Be‐ wegungen höherer Ordnung“ 51 überblickt und im Gedicht festhält. Auch die ‚Figur‘ umschreibt einen außergewöhnlichen, ekstatischen Zustand, dessen Be‐ deutung sich zunehmend über den engeren poetologischen Sinn hinaus auf all‐ gemeinmenschliche und existentielle Situationen erstreckt, so wie es in einem der Orpheus-Sonette gesagt ist: „denn wir leben wahrhaft in Figuren“ 52 . Solche Aussagen zur „Sinnbildung des Lebensvollzugs“ 53 waren inzwischen nicht mehr nur der Religion vorbehalten, sondern wurden auch der Dichtung zugebilligt. In einem Brief aus dem Jahr 1907 bringt Rilke die tieferen „Einsichten“ aus‐ drücklich in Verbindung mit dem Vorgang des Sehens. So empfiehlt er der auf Ägyptenreise befindlichen Clara, möglichst viele Eindrücke zu sammeln und festzuhalten: […] alles das Unwichtige, das oft bedeutsam wird durch eine vorübergehende Inten‐ sität unseres Sehens oder weil es an einer Stelle vor sich geht, wo es vollkommen wird in all seiner Nebensächlichkeit und unaufhörlich gültig für irgendeine persönliche Einsicht, die, im selben Augenblick in uns auftretend, mit jenem Bild sinnvoll zusam‐ menfällt. 54 Das „Anschauen“ nämlich ist eine „wunderbare Sache, von der wir so wenig wissen“: […] wir sind mit ihm ganz nach außen gekehrt, aber gerade wenn wirs am meisten sind, scheinen in uns Dinge vor sich zu gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehn‐ süchtig gewartet haben, und während sie sich, intakt und seltsam anonym, in uns Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 230 55 Auch bei Baudelaire dominiert in der Ekstase der Gesichtssinn, der Formen, Farben und Linien wahrnimmt und sich mit imaginären Gestalten durch Blicke verständigt; der auslösende Gegenstand ist das „spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux“ (Le Poème du hachisch, S. 430). An zweiter Stelle stehen dann Gehör bzw. Musik. vollziehen, ohne uns, - wächst in dem Gegenstand draußen ihre Bedeutung heran, ein überzeugender, starker, - ihr einzig möglicher Name, in dem wir das Geschehnis in unserem Inneren selig und ehrerbietig erkennen, ohne selbst daran heranzureichen, es nur ganz leise, ganz von fern, unter den Zeichen eines eben noch fremden und schon im nächsten Augenblick aufs neue entfremdeten Dinges begreifend -. Noch detaillierter als Baudelaire im Poème du hachisch beschreibt er hier, wie durch das intensive Betrachten 55 eines Gegenstands eine Ekstase ausgelöst wird („scheinen in uns Dinge vor sich zu gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehn‐ süchtig gewartet haben“) und der Betrachter in einen Zustand beseligenden Er‐ kennens gerät („wir [erkennen] das Geschehnis in unserem Inneren selig und ehrerbietig“), den er „unter den Zeichen eines eben noch fremden und schon im nächsten Augenblick aufs neue entfremdeten Dinges“ zu begreifen vermag. Es kann keinen Zweifel geben, dass der Schreiber dieser Zeilen mit Baudelaires Einlassungen zum „état poétique“ und zur Entstehung des „symbole parlant“ vertraut war. Wie jener sucht auch er, die Flüchtigkeit des Augenblicks im Schaffensakt festzuhalten, und äußert alsbald den Wunsch danach: […] am Morgen z. B. […] man hat schon viel Sonne gehabt ganz früh, eine Menge Helligkeit, und wenn dann plötzlich im Schatten einer Gasse ein Gesicht einem hin‐ gehalten wird, so sieht man, unter dem Einfluss des Kontrastes, sein Wesen mit solcher Deutlichkeit (Deutlichkeit der Nuancen), dass der momentane Eindruck sich unwill‐ kürlich zum symbolischen steigert. Mehr denn je wünsche ich jemanden her, der malen könnte […] (S. 214) - wobei einigermaßen erstaunt, dass der Dichter hier nach einem Maler ruft. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Rilke zu diesem Zeitpunkt Baudelaires einschlägige ästhetische Schriften bereits sehr gut kannte. Zu bemerken ist auch, dass, ganz im Sinne eines ‚sachlicheren Sagens‘, das Wort „Schauen“ von ihm durch das neutralere „Sehen“ ersetzt ist, das in seiner Bedeutung dadurch auf‐ geladen wird. Von Rilkes genauer Baudelaire-Kenntnis zeugt auch ein bislang nicht weiter diskutierter Brief aus der Serie der ‚Cézanne-Briefe‘ vom Herbst desselben Jahres, in dem er einzelne Motive aus dem Peintre de la vie moderne übernommen hat, um sie nach gewohnter Art abzuwandeln. So beschreibt er für Clara am 2. „sehen lernen“ 231 56 „Briefe über Cézanne“, in: Werke, Bd. 4: Schriften, S. 594-636, hier: S. 632. Es handelt sich um ein zwischen 1873 und 1876 entstandenes Selbstporträt Cézannes aus der Sammlung Pellerin („Kommentar“, S. 1008). 57 Le Peintre de la vie moderne, S. 690; siehe oben, S. 68 f. 58 Siehe Brief vom 12. 10. 1907 („Briefe über Cézanne“, S. 614): „Fräulein V., ganz malerisch geschult und schauend, sagte: ‚Wie ein Hund hat er davorgesessen und einfach ge‐ schaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht.‘“ 23. 10. 1907, vier Tage nach dem für das Konzept der Aufzeichnungen wichtigen Brief vom 19. 10., ein Selbstporträt Cézannes: An den Kanten der Augenbogen kommt die starke Struktur dieses von innen getrie‐ benen Schädels nochmals zur Geltung; von da ab aber hängt, nach unten hin vorge‐ schoben, an dem eng bebarteten Kinn gleichsam vorgeschuht, das Gesicht, hängt, als ob jeder Zug einzeln eingehängt wäre, in unglaublicher Steigerung und zugleich auf das primitivste herabgesetzt jenen Ausdruck unbeherrschten Staunens ergebend, in dem Kinder und Leute vom Lande sich verlieren können, - nur daß die blicklose Blö‐ digkeit ihres Versinkens durch eine animalische Aufmerksamkeit ersetzt worden ist, die in den, durch keinen Liderschlag unterbrochenen Augen eine ausdauernde, sach‐ liche Wachheit unterhält. 56 Die Darstellung kreist um die Augen Cézannes, deren versunkenen Blick Rilke als einen „Ausdruck [jenes] unbeherrschten Staunens“ deutet, „in dem Kinder und Leute vom Lande sich verlieren können“. Dieser Vergleich des Blicks eines Maler-Genies mit dem staunenden Blick eines Kindes auf die Welt ruft Baude‐ laires Gleichsetzung des Genies von Guys mit der willentlich wiedergefundenen Kindheit („l’enfance retrouvée“), der „curiosité profonde et joyeuse“ der Kinder und ihrem „œil fixe et animalement extatique […] devant le nouveau“ herauf 57 . Ganz im Sinne von Baudelaires Argumentation stellt Rilke der „blicklose[n] Blödigkeit“ des in seiner Sensibilität „sich verlierenden“ Kindes die „Aufmerk‐ samkeit“ und „ausdauernde, sachliche Wachheit“ des erstarkten Genies und seiner durch „keinen Liderschlag unterbrochenen Augen“ gegenüber. Er ver‐ zichtet zunächst sogar auf seinen Lieblingsvergleich für diesen aufmerksamen Blick Cézannes, den er einem gemeinsamen Besuch der Pariser Cézanne-Aus‐ stellung mit Mathilde Vollmoeller verdankte - das Bild des Hundes, der „einfach schaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht“ 58 - und wählt stattdessen den allgemeineren Zusatz „animalische Aufmerksamkeit“, hinter dem noch Baude‐ laires Feststellung vom „œil fixe et animalement extatique“ erkennbar wird. Mit dem expliziten Bild des Hundes schließt dann das vielfach verschränkte Porträt: Und wie groß und unbestechlich diese Sachlichkeit seines Anschauens war, wird auf beinah rührende Weise durch den Umstand bestätigt, dass er sich selbst, ohne im Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 232 59 Brief vom 23. 10. 1907 („Briefe über Cézanne“, S. 634 f.). - Rilke erschließt das Porträt ganz aus dem Werk des Porträtierten, wie auch Baudelaire es getan hatte; siehe dessen Bemerkung, dass alles über Guys Gesagte eine durch die Werke suggerierte „pure hy‐ pothèse poétique, conjecture, travail d’imagination“ sei (Le Peintre de la vie moderne, S. 688). 60 Auch das Staunen verweist auf Baudelaire, für den es eine unabdingbare Begleiter‐ scheinung in der Wahrnehmung des Schönen ist; siehe dazu oben, S. 34 ff. Rilke sieht seinerseits im (Er)Staunen „eine der wesentlichsten Anwendungen [des] Gemüts“ bei der dichterischen Arbeit, die „in die unerhörten Wunder unserer Tiefen“ führt (Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck, 11. 08. 1924, Briefe, Bd. 2, S. 454). Baudelaire hat das Motiv des Staunens zusammen mit dem Motiv der Augen in dem Prosagedicht Les Yeux des pauvres dichterisch umgesetzt - in den bewundernden Blicken einer armen Familie angesichts der Pracht eines neuen Pariser Cafés: „Ces trois visages étaient extraordi‐ nairement sérieux, et ces six yeux contemplaient fixement le café nouveau avec une admiration égale, mais nuancée diversement par l’âge.“ Während die Augen des Vaters und des älteren Jungen Staunen und Bewunderung ausdrücken, spricht aus denen des jüngsten Kindes nichts weiter als „une joie stupide et profonde“; nur der Dichter als Seelenverwandter versteht die Blicke der Armen und fühlt sich von ihnen nicht ins Unrecht gesetzt (Le Spleen de Paris XXVI, S. 317 ff.). In Rilkes Cézanne-Porträt sind die „Leute vom Lande“ das dem gemeinsamen Erfahrungshorizont von Briefschreiber und Adressatin entspringende Gegenstück zu Baudelaires Armen. 61 Siehe unten, S. 274 ff. entferntesten seinen Ausdruck auszulegen oder überlegen anzusehen, mit so viel de‐ mütiger Objektivität wiederholte, mit dem Glauben und der sachlich interessierten Teilnahme eines Hundes, der sich im Spiegel sieht und denkt: da ist noch ein Hund. 59 Das Miteinander von „unbeherrschtem Staunen“ 60 , „animalischer Aufmerksam‐ keit“ und „ausdauernder, sachlicher Wachheit“ beschreibt den Blick Cézannes im Zustand der Inspiration und des künstlerischen Schaffensaktes mit Baude‐ laireschen Kategorien. Nimmt man den vorangegangenen Brief hinzu, in dem das Verhältnis von Cézannes und Baudelaires Kunst erörtert wird 61 , so kann man erahnen, welche Bedeutung Baudelaire in dieser Phase für Rilke hatte. Das spricht dafür, auch das Sehen(lernen) Maltes in den Aufzeichnungen - vor jeder philosophischen oder mystischen Deutung - zuallererst in einem Baudelaire‐ schen Sinne als ein tiefergehendes „An-Schauen“ zu verstehen, das Teil der In‐ spiration und Voraussetzung des dichterischen Schaffens ist. Maltes Begriff des „Sehens“ schließt eine Reihe unterschiedlicher Fähigkeiten ein. Zum einen das normale Sehen mit den Augen des Körpers („ich habe auch offene Droschken ankommen sehen […]“, 6). Dazu gesellt sich ein nicht weniger geläufiges geistiges „Ein-Sehen“: Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten […] und zu sehen, dass es nun eine Stadt für Erwachsene war […] 2. „sehen lernen“ 233 62 46, S. 856; 49, S. 870. 63 27, S. 513 (Hervorhebung im Text). Oder wenn der Graf Brahe Abelone seine Memoiren diktiert: „Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte Abelone ‚Eckernförde‘ nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und sie hatte ihn nie gehört. Der Graf, der im Grunde schon lange einen Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war für seine Erinnerungen, stellte sich unwillig. ‚Sie kann es nicht schreiben‘, sagte er scharf, ‚und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da sage? ‘ fuhr er böse fort und ließ Abelone nicht aus den Augen. ‚Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain? ‘ schrie er sie an. ‚Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es durch. Schreib: der Marquis von Belmare.‘“ (44, S. 560; Hervorhebung im Text). Weitere Beispiele: 28, S. 514; 71, S. 633. 64 41, S. 550. Siehe unten, S. 267 und S. 311. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger Betonung der End‐ reime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, inner‐ lich versteht sich. 62 Sodann gibt es das Sehen mit dem geistigen Auge, bei dem die Phantasie tätig wird: Damals zuerst fiel mir auf, dass man von einer Frau nichts sagen könne; ich merkte, wenn sie von ihr erzählten, wie sie sie aussparten, wie sie die anderen nannten und beschrieben, die Umgebungen, die Örtlichkeiten, die Gegenstände bis an eine be‐ stimmte Stelle heran, wo das alles aufhörte, sanft und gleichsam vorsichtig aufhörte mit dem leichten, niemals nachgezogenen Kontur, der sie einschloss. Wie war sie? fragte ich dann. „Blond, ungefähr wie du“, sagten sie und zählten allerhand auf, was sie sonst noch wussten; aber darüber wurde sie wieder ganz ungenau, und ich konnte mir nichts mehr vorstellen. Sehen eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte erzählte, die ich immer wieder verlangte -. 63 Es kann dies das Sehen des Künstlers oder das Sehen dessen sein, der ein Kunst‐ werk aufnimmt, etwa wenn Mutter und Sohn Spitzen betrachten: „Wollen wir sie [die Spitzen] sehen, Malte“, sagte sie und freute sich, als sollte sie eben alles geschenkt bekommen, was in der kleinen gelblackierten Lade war. 64 Hier bekommt das Wort „sehen“ dieselbe Bedeutung wie das Wort „schauen“ in der Rodin-Monographie, das den Weg zur Schönheit und zu einem beglückenden Zustand für den Betrachtenden bezeichnete. Neben diesen Arten des Sehens gibt es in den Aufzeichnungen auch ein ‚spi‐ ritistisches‘ Sehen bzw. Wahrnehmen, das zwischen Körper und Geist, zwischen Realität und Irrealität angesiedelt ist. So berichtet Malte vom Anblick wieder‐ kehrender Verstorbener wie Christine Brahe (15) und Ingeborg (28) und von dessen Wirkung auf Mensch und Tier, oder auch vom einfühlenden Betrachten Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 234 65 Nach dem Verfahren des Schaffens aus der Erinnerung, das er Rodin zugeschrieben hat, ist dies die zweite künstlerische Eigenschaft, die Rilke von Guys, Baudelaires Verkör‐ perung des Künstlers als „homme sensible moderne“, entlehnt und einer eigenen Figur anverwandelt hat. von Bildern und Fotos Verstorbener (Christine Brahes [34], des kleinen Erik [35]). Einmal geht es um die gespenstische Wahrnehmung des abgebrannten Schulin-Schlosses (42): die alte Gräfin riecht das Feuer, die Anderen nehmen nichts wahr, nur Malte, der es „sehen“ möchte, und seine Mutter wissen, dass das abgebrannte Haus „da ist“. Die in diesen Vorfällen sich ausdrückende Nei‐ gung zum Gespensterhaften hat Rilke seinen nordischen Quellen abgeschaut. Das eigentliche, schöpferisch inspirierende Sehen in der großen Stadt, das Malte am Anfang der Aufzeichnungen unter großen Mühen zu erlernen beginnt, ist von anderer Art. Es ist eine grundsätzliche Öffnung und Bereitschaft des Ichs für die Vielzahl von neuen Eindrücken und somit das dichterische Pendant zur „passion insatiable […] de voir et de sentir“, die nach Baudelaire den Maler Con‐ stantin Guys in der Großstadt auszeichnete 65 . Wie ihm dabei geschieht, be‐ schreibt Malte recht genau: Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. (4) Dass „alles tiefer in [ihn] ein[geht]“ bis in „ein Inneres, von dem [er] nicht wusste“, bringt für Malte zunächst aber eine tiefgehende Bedrückung durch Dinge, die er nicht erwartet hat: So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. […] (1, S. 455) Ihr Anblick löst Ängste in ihm aus (6 und 10), so wie es Rilke selbst bei seinem ersten Aufenthalt in Paris widerfahren ist, wie er im Brief an Andreas-Salomé geklagt hat: „O es haben tausend Hände gebaut an meiner Angst und sie ist aus einem entlegenen Dorf eine Stadt geworden eine große Stadt, in der Unsägliches geschieht. Sie wuchs die ganze Zeit und nahm mir das stille Grün aus meinem Gefühl, das nichts mehr trägt. Schon in Westerwede wuchs sie und es entstanden Häuser und Gassen aus den bangen Umständen und Stunden, die dort vergingen. Und als Paris kam, da wurde sie rasch ganz groß. Im August vorigen Jahres traf ich dort ein. Es war die Zeit, da die Bäume 2. „sehen lernen“ 235 66 Brief vom 18. 07. 1903 (Briefwechsel, S. 54 f.). Siehe auch den Brief an Otto Modersohn: „Paris […] ist eine schwere, schwere, bange Stadt.“ (31. 12. 1902, in: Briefe aus den Jahren 1902-1906, hrsg. von R. Sieber-Rilke und C. Sieber, Leipzig 1929, S. 57.) 67 Brief vom 10. 08. 1903 (Briefwechsel, S. 97). „Dinge (…) machen; nicht plastische, ge‐ schriebene Dinge, - Wirklichkeiten, die aus dem Handwerk hervorgehen“ - auf diesen Begriff bringt Rilke unter dem Eindruck Rodins seine schöpferischen Ambitionen (und Qualen) im Sommer 1903. Siehe auch 18. 07. 1903, Briefwechsel, S. 64. 68 Dazu siehe unten, S. 273 ff. in der Stadt welk sind ohne Herbst, da die glühenden Gassen, ausgedehnt von der Wärme, nicht enden wollen und man durch Gerüche geht wie durch viele traurige Zimmer. […]“ 66 Der Anblick der Stadt und ihrer Menschen habe ihn Tag für Tag gequält und geängstigt und seine Kräfte so sehr aufgebraucht, dass er aus dem Gesehenen keine „Dinge machen“ und darin Befriedigung finden konnte: wirkliche stille Dinge, die zu schaffen Heiterkeit und Freiheit ist, und von denen, wenn sie sind, Beruhigung ausgeht […] 67 So geht es auch Malte, der die für ihn unerträglichen Ereignisse zunächst verzagt abwehrt (Aufzeichnungen 5, 16, 18, 19), nicht ohne zugleich mögliche an‐ spruchsvolle Themen für sein Schreiben aufzuzählen (14). Er spürt aber, dass er lernen muss, die Dinge anzunehmen, die er ablehnt, und obwohl er sich davor fürchtet, „alles anders zu sehen“, weiß er, dass diese „Zeit der anderen Ausle‐ gung“ für ihn bevorsteht (18). Erst wenn er so zu sehen gelernt hat, wird sich sein inneres Geschehen verwandeln und er in einen produktiven, enthusiasti‐ schen Zustand gelangen. Das gelingt ihm schließlich mit Hilfe Baudelaires 68 . Schon die ersten Ansätze zu einem beglückenden Sehen Maltes noch vor seiner großen Verwandlung folgen in Anlass und Situation Baudelaireschen Vorgaben: Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel ver‐ hangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. […] (11, S. 465) Die frühe Morgenstimmung mit grauem Nebel und in der Sonne rot aufleuch‐ tenden Blumen lässt an den morgendlichen „état exceptionnel“ im Poème du hachisch denken, den Rilke hier in der für ihn charakteristischen eigenen Art Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 236 69 Die Aufzeichnung entstand, wie die erste Version in einem Brief an Clara Rilke vom 12. 10. 1907 zeigt, während des dritten Pariser Aufenthaltes, als er sich in der Stadt schon heimisch fühlte. Siehe den Kommentar z. St. (Werke, Bd. 3, S. 919). aufgenommen und fortgeführt haben könnte 69 . Ähnliches gilt für die Fortset‐ zung in der folgenden Aufzeichnung, in der das bislang quälende Paris verwan‐ delt ist und „licht“ und „leicht“, „gemalt wie auf Seide“ erscheint: Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluss, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich ver‐ schwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. […] (12, S. 465) Ein drittes Augenerlebnis dieser Art widerfährt dem genesenen Malte, kurz bevor er dem Veitstänzer begegnet: Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der Tag wie Frühling an, wie Frühling in Bildern. Ich will versuchen, auszugehen in die Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter, den ich so lange nicht gelesen habe, und vielleicht kann ich später langsam durch die Gärten gehen. Vielleicht ist Wind über dem großen Teich, der so wirkliches Wasser hat, und es kommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten Segeln hineinlassen und zuschauen. Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als wäre das das Natürlichste und Einfachste. […] Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit gläsernem Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße. Ein Wagen mit hellroten Rädern kam vo‐ rüber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkenden Geschirren auf dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken. (21, S. 499 f.) Schon in der Darstellung der Begegnung im Brief an Lou Andreas-Salomé vom 18. 7. 1903 ist die intensiv wahrgenommene Morgenstimmung in der Stadt aus‐ 2. „sehen lernen“ 237 70 „Was half es da, dass ich manchen Morgen froher aufstand und hinausging mit mehr Muth und eines ruhigen tüchtigen Tages fähig … Einmal, (es war ziemlich früh am Tage) kam ich so den Boulevard St. Michel herunter, in der Absicht nach der National-Bibli‐ othek zu gehen, wo ich viel Zeit zu verbringen gewohnt war. Ich ging und freute mich an allem was der Morgen und der Anfang eines neuen Tages sogar in der Stadt verbreitet an Frische, Helligkeit und Muth. Das Roth an den Wagenrädern freute mich, das feucht und kühl war wie auf Blumenblättern, und es freute mich, dass irgendwo am Ende der Straße jemand etwas Lichtgrünes trug, ohne dass ich daran dachte was es wohl wäre. Langsam fuhren die Wasserwagen bergan und das Wasser sprang jung und licht aus ihren Röhren und machte den Weg dunkel, so dass er nicht mehr blendete. Pferde kamen vorbei in schimmernden Geschirren und ihre Hufe schlugen auf wie hundert Hämmer. Anders klangen die Rufe der Händler: stiegen leichter auf und hallten hoch nach. Und das Gemüse auf ihren Handwagen bewegte sich wie ein kleines Feld und hatte einen eigenen freien Morgen über sich und in sich Dunkelheit(,) Grüne und Thau. Und wenn es still war einen Augenblick, so hörte man über sich das Geräusch von Fenstern, die aufgestoßen wurden …“. (Rilke / Andreas-Salomé, Briefwechsel, S. 59 f.) Das Baudelaire‐ sche Pendant dieser Beschreibung großstädtischen Lebens findet sich im Peintre de la vie moderne, S. 692 f. 71 Das Sehen der Mystiker ist von höherer Art und hat nichts mit der vertrauten visuellen Wahrnehmung zu tun; seine Bilderfülle erklärt sich daraus, dass die mystische Wahrheit für die Sprache unerreichbar ist. 72 Smuda, „Die Wahrnehmung der Großstadt“, S. 134. führlich und mit merklichem poetischem Bemühen geschildert 70 ; es fehlt dort aber die Situation der Genesung. Sie ist ein ziemlich sicheres Indiz dafür, dass Rilke hier einer besonderen Anregung folgte, die wiederum von Baudelaire aus‐ gegangen sein kann, nämlich von dessen Bemerkung über die Steigerung der Wahrnehmung in der Rekonvaleszenz, die der Wahrnehmung eines künstleri‐ schen Genies vergleichbar sei. Mehr oder weniger deutlich scheint also schon in den Augenblicken, in denen Malte Paris positiv wahrzunehmen beginnt, der Einfluss Baudelaires und seines Konzeptes vom künstlerischen Genie hindurch. Im Übrigen zeigt die Freude an konkreten Details der Beschreibungen, dass die Wahrnehmungen sinnenhaft-leiblicher und nicht mystischer oder philosophi‐ scher Natur sind 71 . Und sie sind auch nicht die diskontinuierlichen Eindrücke, die eine neurasthenische Persönlichkeit in der Großstadt empfangen mag 72 . Auch in Maltes anfänglicher Unfähigkeit, in die schöpferische Ekstase zu ge‐ langen, scheint ein Wissen auf, das Rilke mit Baudelaire teilte und das darüber hinaus zu seiner Selbstwahrnehmung gehörte. Was Malte und ihm selbst fehlt, um die bedrückenden Erlebnisse in der Stadt poetisch verarbeiten zu können, sind die Kräfte des gereiften Geistes. Das bezeugt die hilflose Äußerung Maltes „Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“ und das bezeugt Rilkes eigene Klage in dem schon zitierten Brief an Andreas-Salomé über die quälenden Pariser Erlebnisse, Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 238 73 Briefwechsel, S. 66 f. 74 Les Foules (Le Spleen de Paris XII), S. 291. 75 Siehe das Zitat aus der Encyclopédie, oben, S. 64. bei denen ihn von neuem das „Entsetzen […] vor alledem, was, wie in einer unsäglichen Verwirrung, Leben heißt“ ergriffen habe. In ihrer Antwort hat Lou Andreas-Salomé offenbar aus demselben Wissen über schöpferische Vorgänge Rilke getröstet und ihn auf die Notwendigkeit des tieferen Fühlens und auf seine schon gewachsene Kraft hingewiesen: Andrerseits aber ist mir’s jetzt im Gegentheil, als ständest Du schon […] ungetheilt bei Dir selbst. Schon dass Dir etwas so andauernd widerstehn konnte, ohne Dich doch schließlich Dir selber zu entwenden, beruht auf erhöhtem Widerstand durch Zusam‐ menfassung. In Zeiten der Kräftigung, des Übergangs, geriethest Du wiederholt in Gefahr, Dich durch täuschendes Kräftebewusstsein, in flacherer Hingebung an die Dinge, in’s Zufällige zu verspielen. Mit der Kraft, die wuchs, entschwand ihr sozusagen ihr tiefster Gegenstand, - anstatt dass sie sich, wie ein Großer zu einem Kinde, he‐ rabgebeugt hätte zu den Eindrücken des früheren, hülflosern Erlebens, sie alle hi‐ naufzuführen an’s Licht, - mit ihren schwersten Erinnerungen angetan wie mit Genie für alles, was jemals litt. 73 Rilke hat also wie Malte das rechte ‚Sehen‘ und ‚Fühlen‘ in der Großstadt erst lernen müssen, bevor er sie als Inspirationsquelle und Ort des dichterischen Enthusiasmus annehmen konnte, wie es vor ihm Baudelaire getan hatte. Sein Alter Ego Malte beginnt damit nach den ersten beglückenden Erlebnissen und schreibt schon in der 14. Aufzeichnung hoffnungsvoll: Ich glaube, ich müsste anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. (S. 466) 3. „entrer dans le personnage de chacun“ In Les Foules hatte Baudelaire dem Dichter nach alter Tradition die Gabe zuge‐ sprochen, im Enthusiasmus aus sich herausgehen und sich in andere Menschen hineinversetzen zu können: Le poète jouit de cet incomparable privilège, qu’il peut à sa guise être lui-même et autrui. […] il entre, quand il veut, dans le personnage de chacun. 74 Man könnte meinen, dass es sich dabei um ein Privileg des Dramatikers 75 und vielleicht noch des Epikers handelte, während der Lyriker genug damit zu tun hätte, seine eigene Seele zu ergründen. Doch gilt das nach Baudelaire jedenfalls 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 239 76 Correspondance, Bd. 1, S. 334 (Brief vom 9. Januar 1856 an seine Mutter). 77 Brief vom 18. 07. 1903, Briefwechsel, S. 58. Vgl. auch die Antwort von Andreas-Salomé: „Den ‚Mühseligen und Beladenen‘ bist Du der Dichter.“ (22. 07. 1903, S. 66.) 78 Siehe auch Sugar, Baudelaire et R. M. Rilke, S. 68 ff. 79 Batterby, Rilke and France, S. 120. nicht für den Dichter der Großstadt und ihrer Menschen, der sich ebenfalls in andere hineindenken können muss, worauf schon er selbst seinen Dichter-Stolz gegründet hatte: Le propre des vrais poètes - pardonnez-moi cette petite bouffée d’orgueil, c’est le seul qui me soit permis - est de savoir sortir d’eux-mêmes, et comprendre une tout autre nature. 76 Diesen Akt der Empathie mit einem menschlichen Gegenüber, hat er daher in Les Foules in höchsten Tönen als eine „universelle communion“, eine „ineffable orgie“ und „sainte prostitution“ gepriesen und als die dem Dichter der Großstadt eigentümliche Art des Enthusiasmus und der Inspiration dargestellt. Für Rilke war das empathische Mitfühlen mit dem Anderen eine zentrale Lebenserfahrung. Es war bei ihm persönlich sogar um vieles beherrschender als bei Baudelaire und zudem so bedrückend, dass er jahrelang darunter gelitten hat. Der Brief an Lou Andreas-Salomé über seinen ersten Pariser Aufenthalt dokumentiert das auf eindrucksvolle Weise und zeigt sein mühsames Ringen um Distanz zu den „Verlorenen“, den Armen und Obdachlosen, die ihm in der Großstadtmenge begegneten: O, Lou, ich habe mich so gequält, Tag für Tag. Denn ich verstand alle diese Menschen und obwohl ich in einem großen Bogen um sie herumging, hatten sie kein Geheimnis vor mir. Es riss mich aus mir heraus in ihr Leben hinein, durch alle ihre Leben durch, durch alle ihre beladenen Leben. Ich musste mir oft laut sagen, dass ich nicht einer von ihnen bin, dass ich wieder fortgehen würde aus dieser schrecklichen Stadt, in der sie sterben werden; ich sagte es mir und fühlte, dass es kein Betrug war. 77 In seinem Werk ist Empathie daher überall präsent. In der mittleren Schaffens‐ periode ist die Wahl ihres Gegenstands außerdem oft durch Baudelaire angeregt. So kommen in den neun Gedichten des Zyklus der Stimmen aus dem Buch der Bilder ( II , 2), der 1905 / 1906 in Paris entstanden ist, Elendsgestalten wie „Bettler“, „Blinder“, „Trinker“, „Witwe“ und „Waise“ zu Wort, wie man sie ähnlich bei Baudelaire findet 78 . Ähnliches gilt für Stücke aus den Neuen Gedichten (Eine von den Alten, Der Bettler) und für Die Aufzeichnungen 79 . In einer handschriftlichen Fassung der 60. Aufzeichnung beginnt eine Aufzählung von Elendsgestalten Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 240 80 „Witwen und Einfältigen, Blinden und Schreibern, Verwaisten, Verlebten, Verlorenen, Musikmachern, Trinkern und Tänzerinnen.“ Handschriftlicher Zusatz im Berner Ta‐ schenbuch zu voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten; vgl. den Kommentar z. St. (Werke, Bd. 3, S. 1002). 81 16. Aufzeichnung, S. 481. 82 Les Veuves, Spleen de Paris XIII, S. 292. Zu Les Petites Vieilles siehe oben, S. 119 ff. Auch Rilke hat mehrfach nach ausdrucksstarken Bezeichnungen für die Elendsgestalten der Großstadt gesucht; im Brief an Andreas-Salomé versucht er es u. a. mit: „Trümmer von Karyatiden, auf denen noch das ganze Leid, das ganze Gebäude eines Leides lag, unter dem sie langsam wie Schildkröten lebten“; „Vorübergehende unter Vorübergehenden, alleingelassen und ungestört in ihrem Schicksal“; „eine neue Art Thier, dem die Noth besondere Organe ausgebildet hat, Hunger- und Sterbeorgane“ (Briefwechsel, S. 55). Das Bild der „Fortgeworfenen“ ist wohl aus einem Vergleich in der 21. Aufzeichnung abge‐ leitet - „etwas […], das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf“ (S. 499); zu diesem Vergleich und seiner Herkunft siehe im Folgenden. bezeichnenderweise mit den „Witwen“ 80 , mit denen Baudelaire in Les Veuves die Reihe der Großstadtbegegnungen im Spleen de Paris eröffnet hatte. Wie Baude‐ laire hat auch Rilke ein besonderes Wort für diese Elenden: Denn das ist mir klar, dass das die Fortgeworfenen sind, nicht nur Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man muss Unterschiede machen. Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her. 81 Die „Fortgeworfenen“, wie Malte sie nennt, sind Rilkes Version der „débris d’hu‐ manité“ in Baudelaires Gedicht Les Petites Vieilles (V. 72) und der „éclopés de la vie“, der „Fußkranken des Lebens“, im Prosagedicht Les Veuves: […] dans les jardins publics il est des allées hantées principalement par l’ambition déçue, par les inventeurs malheureux, par les gloires avortées, par les cœurs brisés, par toutes ces âmes tumultueuses et fermées, en qui grondent encore les derniers soupirs d’un orage, et qui reculent loin du regard insolent des joyeux et des oisifs. Ces retraites ombreuses sont les rendez-vous des éclopés de la vie. 82 Während aber die Versgedichte seines Stimmen-Zyklus Rollengedichte sind, in denen das lyrische Ich sich mit den Figuren identifiziert, bleibt Malte in den Aufzeichnungen gegenüber den Elendsgestalten zunächst distanziert und bringt ihnen keinerlei Empathie entgegen. Vielmehr fühlt er sich von ihnen - etwa von der alten Frau mit dem Bleistift (16) - verfolgt und fürchtet, ihnen zugerechnet zu werden. Den Vogelfütterern nachzugehen (25), verlangt von ihm einen Bau‐ 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 241 83 Einen solchen ‚außergewöhnlichen Mut‘ zu gelegentlichem unerwartetem Handeln spricht Baudelaire in dem Prosagedicht Le Mauvais Vitrier den kontemplativen und träumerischen Naturen zu (Le Spleen de Paris IX, S. 285). 84 Stahl verweist nur für die Alte mit der Nachttischschublade (16) auf Les Petites Vieilles („Stellenkommentar“, S. 926). Dabei gibt es schon bei Baudelaire eine motivische Teil‐ identität zwischen Les Veuves und Les Petites Vieilles, die Rilke sicher nicht entgangen ist. Er entnimmt beiden Gedichten Bilder und Motive (Park, Puppen) vor allem für die 25. Aufzeichnung; das „suivre“ Baudelaires wird bei ihm zu „folgen“ (25) bzw. „nach‐ gehen“ (25. 60). delaireschen „courage de luxe“ 83 . Noch in der 60. Aufzeichnung vermag er den „verblichenen, alternden Mädchen“ nicht mit jener Hingabe zu folgen, die Bau‐ delaire den Witwen oder den alten Frauen entgegengebracht hatte, obwohl dessen Versgedicht Les Petites Vieilles (Fleurs du mal XCI ), in dem sich die Zu‐ wendung des Dichter-Ichs in mehreren Schritten bis zur väterlich-zärtlichen Fürsorge für die kleinen Alten - „ma famille“ - steigert, in dieser und in den Aufzeichnungen 16 und 25 als Hintergrundfolie, als Bildspender und als gefor‐ dertes Verhaltensmuster für Malte ständig präsent ist 84 . Rilkes ganz persönliche Umsetzung des Baudelaireschen „entrer dans le personnage de chacun“ findet sich stattdessen in zwei anderen Aufzeichnungen: in der Begegnung mit dem Veitstänzer (21) und in der Geschichte des Zimmernachbarn (50), die zu den bekanntesten Stücken der Aufzeichnungen zählen. Die 21. Aufzeichnung beginnt mit der bereits erwähnten Beschreibung einer beglückenden Morgenstimmung auf dem Boulevard Saint Michel. Maltes Auf‐ merksamkeit wird sehr bald durch das auffällige Gestikulieren der Kellner, die vor einem Café aufräumen und scheuern, auf einen Mann gelenkt, der mit merkwürdigen Bewegungen den Boulevard hinuntergeht. Malte folgt dem Mann zunächst aus Neugier, dann mit wachsender Erregung und Anteilnahme, wobei er sich immer mehr in ihn hineinversetzt. Zunächst nur in seine Gedanken und Empfindungen: Jetzt konnte man diese plötzliche Bewegung wieder ganz gut für ein Stolpern halten, wenn man sich einredete, es wäre da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war, dass der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb ärgerlichen, halb vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augen‐ blicken haben, nach der lästigen Stelle um. (S. 501) Ich verstand seine Angst vor den Leuten und ich begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die Vorübergehenden etwas merkten. (S. 502) […] auch in mir war die Angst, mit der er es wachsen und wachsen fühlte […] (S. 503) Doch bald beginnt er, sich genau wie der Mann zu verhalten: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 242 85 Briefwechsel, S. 62 f.; Hervorhebungen von mir. […] ich dachte mir aus, dass auch ich ein wenig stolpern wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. […] Aber während ich so auf Hülfe sann, hatte er selbst einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. (S. 502) Als der Fremde, dem inzwischen im Aufrichten seines Mantelkragens ein neues Ärgernis entstanden ist, den Spazierstock auf den Rücken legt, das Ende der Krücke in den Kragen schiebt und den Stock fest ins Kreuz drückt, spürt Malte selbst es „hart und wie einen Halt hinter dem Halswirbel und dem ersten Rü‐ ckenwirbel“. Nach einer Weile fühlt er, dass die Kräfte des Mannes abnehmen und sein Wille nicht mehr ausreicht. Da hilft er aus: Der Augenblick musste kommen, da seine Kraft zu Ende war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein bisschen Kraft zusammen wie Geld, und indem ich auf seine Hände sah, bat ich ihn, er möchte nehmen, wenn er es brauchte. Ich glaube, dass er es genommen hat; was konnte ich dafür, dass es nicht mehr war. (S. 503) Von nun an macht Malte auch sprachlich keinen Unterschied mehr zwischen sich und dem Mann: „wir waren oft zwischen zwei Wagen […]“; „so betraten wir die Brücke […]“. Erst als sie auf der Place Saint-Michel angekommen sind und der Kranke dem Anfall nicht mehr widerstehen kann, bricht die Verbindung zwischen ihnen ab, weil die hinzulaufenden Schaulustigen den Mann Maltes Blicken entziehen. Eine erste Darstellung dieses Erlebnisses hat Rilke im Brief an Lou An‐ dreas-Salomé gegeben, wo er überaus präzise den Veitstänzer, sein Äußeres, seinen Gang und seine Bewegungen beschreibt, dazu die örtlichen Gegeben‐ heiten wie die Place Saint-Michel, in deren Betriebsamkeit der Mann zunächst erstarrt, bevor der Bewegungszwang ihn wieder und nun ganz und gar über‐ wältigt. Über seine eigene Anteilnahme an dem Geschehen äußert Rilke sich sachlich und mit der Distanz eines Beobachters: Niemand achtete seiner; ich aber, der ich den Blick nicht eine Sekunde lang von ihm abwenden konnte, wusste, wie nach und nach die Unruhe wiederkehrte […] Ich fühlte, wie dieser ganze Mann sich anfüllte mit Unruhe […] Und ich erlebte es wie dieser Stock etwas wurde, etwas Bedeutsames, von dem viel abhing […] 85 In der Aufzeichnung ist die Schilderung unmittelbarer geworden, wodurch die Intensität des Erlebnisses gesteigert wird. Wahrscheinlich angeregt durch Bau‐ 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 243 86 So dem Laufburschen, der zu einem lachenden Kommis „die schwankende Bewegung vor der Stirne [machte], die allen geläufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen Augen und kam mir befriedigt und sich wiegend entgegen.“ (S. 500) delaires Bericht über Poes Erzählung The Man of the Crowd lässt Rilke hier Malte von einem Fieber genesen sein (20) und in diesem Zustand begierig die heitere Morgenstimmung der Großstadt in sich aufnehmen. Gleich dem Protagonisten der Poeschen Erzählung trifft er auf einen Unbekannten, der seine Aufmerk‐ samkeit erregt, so dass er ihm folgt und sich alsbald mit seiner dichterischen Phantasie in ihn hineinversetzt. Im Kontrast dazu wird das Verhalten der Kellner geschildert, denen der Veitstänzer Anlass zu derben Späßen und zufriedener Selbstbestätigung gibt 86 . Maltes einfühlsame Anteilnahme geht so weit, dass er in die Rolle eines Mitbetroffenen schlüpft und sich seinerseits das Verhalten des Kranken zu eigen macht. Höhepunkt des Geschehens ist seine Willensübertra‐ gung, die zu einem Akt der Nächstenliebe stilisiert wird, bei dem Baudelaires „charité“ gewissermaßen wörtlich genommen ist: wie Geld in der Hand sammelt Malte seine Kraft und bietet sie dem Veitstänzer an: „was konnte ich dafür, dass es nicht mehr war.“ So bleibt er schließlich erschöpft und „leer“ am Boden zurück: Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang, den Boulevard wieder hinauf. (S. 504) während der Kranke wie befreit einen „Aufschwung“ nimmt: Der Stock war weg, er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm wie eine Naturkraft und bog ihn vor und riss ihn zurück und ließ ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. (Ebd.) Malte geht in seiner Hingabe an den Anderen über das ihm Zuträgliche hinaus. Er wird seiner Empathie nicht Herr, was sich schon darin zeigt, dass er sich wider besseres Wissen auf das Abenteuer einlässt, als er seiner inneren Stimme nicht folgt: Etwas drängte mich auf die andere Seite hinüber; aber ich begann nur schneller zu gehen und überblickte unwillkürlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts Besonderes bemerkte. (S. 500) Noch einmal rief mich etwas Warnendes auf die andere Seite der Straße, aber ich folgte nicht und blieb immer hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit auf seine Beine richtete. (S. 501) Da ihm über der Anstrengung des Miterlebens und Miterleidens die Kraft aus‐ geht, kommt es nicht zum dichterischen Enthusiasmus, in dem er das Erlebte verarbeiten könnte und damit am Ende auch nicht zur „jouissance“, wie sie in Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 244 87 Briefwechsel, S. 63 f. (Brief vom 18. 07. 1903). Les Foules dem Dichter versprochen wurde. Ähnliches hatte seinerzeit der Autor selbst verspürt: […] ich konnte nichts mehr sehen. Meine Knie zitterten, und es war alles aus mir herausgenommen. Ich stand eine Weile an das Brückengeländer gelehnt und schließ‐ lich ging ich zurück in mein Zimmer; es hätte keinen Sinn mehr gehabt, nach der Bibliothek zu gehen. Wo giebt es ein Buch, das stark genug wäre, mir über das fort‐ zuhelfen was in mir war. Ich war wie verbraucht; als hätte die Angst eines anderen sich aus mir genährt und mich erschöpft, so war ich. 87 Rilkes Bericht für die Freundin Andreas-Salomé ist stärker als Maltes Darstel‐ lung von Reflexion geprägt und von dem Versuch, die eigene schöpferische Schwäche zu verstehen: Und so wie dieser Morgen waren viele, - und Abende waren so. Hätte ich die Ängste, die ich so erlebte, machen können, hätte ich Dinge bilden können aus ihnen, wirkliche stille Dinge, die zu schaffen Heiterkeit und Freiheit ist und von denen, wenn sie sind, Beruhigung ausgeht, so wäre mir nichts geschehen. Aber diese Ängste, die mir aus jedem Tag zufielen, rührten hundert andere Ängste an und sie standen in mir auf wider mich und vertrugen sich, und ich kam nicht über sie hinaus. Im Bestreben, sie zu formen, wurde ich schöpferisch an ihnen selbst; statt sie zu Dingen meines Willens zu machen, gab ich ihnen nur ein eigenes Leben, das sie wider mich kehrten und mit dem sie mich verfolgten weit in die Nacht hinein. Hätte ich es besser gehabt, stiller und freundlicher, hätte meine Stube zu mir gehalten und wäre ich gesund geblieben, vielleicht hätte ich es doch gekonnt: Dinge machen aus Angst. (S. 64) Zum Schluss sagt er ganz unumwunden: „[…] wenn ich stärker gewesen wäre.“ (S. 65). Der Schluss der Aufzeichnung mit dem Bild Maltes, der wie ein „leeres Papier“ vom Wind den Boulevard entlang getrieben wird, verharrt dagegen im Zustand der Schwäche und Haltlosigkeit. Eingeführt hatte Rilke das Papier-Bild schon am Anfang der Aufzeichnung, wo es eine Vorahnung von der übermäch‐ tigen Kraft gibt, die die Begegnung mit einem Anderen für Malte haben kann: „es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf “ (S. 499). In dieser allgemein menschlichen, zerstörerischen Bedeutung stammt es von Baudelaire: 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 245 88 Réversibilité (Les Fleurs du mal XLIV), V. 1 ff.; Hervorhebung von mir. Auf die Herkunft des Vergleichs hat Stierle aufmerksam gemacht („Rilkes Pariser Bilder“, S. 402). Das Gedicht Réversibilité muss Rilke aus mehreren Gründen (Engel-Motiv, Angst) beein‐ druckt haben. 89 Briefe 1906-1907, S. 263 bzw. 265. Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse, La honte, les remords, les sanglots, les ennuis, Et les vagues terreurs de ces affreuses nuits Qui compriment le cœur comme un papier qu’on froisse? Ange plein de gaieté, connaissez-vous l’angoisse? 88 Bei seiner Wiederholung hat Rilke das Bild des zusammengeknüllten und fort‐ geworfenen Papiers spezifiziert und durch den Zusatz „leer“ den Kontext des (nicht) schreibenden Dichters aufgerufen. Das veranschaulicht sinnfällig das Ausbleiben der poetischen Inspiration bei Malte und seine Schwäche und Un‐ fähigkeit zur dichterischen Arbeit. Auch von der 50. Aufzeichnung gibt es eine frühere Briefversion, die für die Aufzeichnungen überarbeitet worden ist. Das zugrundeliegende Erlebnis hat sich im Sommer 1907 zugetragen und ist in einem Brief an Clara Rilke beschrieben. Rilke ist wieder - zum dritten Mal - in Paris, voller Hoffnung und Arbeitswillen, u. a. zum Malte. Doch er hat unerwartete Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen, nicht zuletzt weil er eine neue Unterkunft suchen muss, die er schließlich in einem ihm schon bekannten Hotel in der rue Cassette findet. „Weil die Atmo‐ sphäre dieser Maisons meublées zunächst immer so beunruhigend drückend ist - von so betonter Heimatlosigkeit“, kommt er nicht zum Arbeiten, dazu ge‐ sellt sich eine „unangenehme Zimmernachbarschaft“, die er erstmals am 13. 6. 1907 gegenüber Clara erwähnt 89 . Am 19. 6. gibt er ihr einen ausführlichen Bericht und verortet auch gleich seine Schwierigkeiten: … ich weiß nicht, warum ich diesmal so schwerfällig bin im Eingewöhnen und Ein‐ wohnen. Die Nachbarschaft ist nicht schlimm, und doch, es ist wieder das Paris, das Malte Laurids aufgezehrt hat. (S. 271) Ursache ist ein Student, der seit Jahren für das Examen lernt und stets kurz vor den Prüfungen von einer nervösen Schwäche des Augenlids befallen wird, die ihn am Lernen hindert, weswegen er im Zimmer umherzulaufen beginnt, mit dem Fuß aufstampft und im Zorn blecherne Gegenstände zu Boden wirft. Rilke kommentiert die eigene Reaktion selbstkritisch: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 246 90 Briefe 1906-1907, S. 272 (Brief vom 20. 6. 1907) 91 S. 277 (Brief an Arthur Holitscher, 20. 6. 1907). Du weißt, man hätte diesem jungen Menschen keinen empfänglicheren Nachbar ver‐ schaffen können. Wie mich das die ersten Nächte, noch eh ich wusste, was es bedeu‐ tete, in Anspruch und Atem hielt. Ach: weil ich sofort den Rhythmus in diesem Wahnsinn begriff, die Ermüdung in diesem Zorn, die Aufgabe, die Verzweiflung - Du kannst Dir denken. Das hat bisschen an mir gefressen, und hat mich in meiner ab‐ scheulichen Wehleidigkeit bestärkt und beschäftigt. (Ebd.) Im Brief an Julie Baronin von Nordeck zur Rabenau beschreibt er einen Tag später sein Problem noch genauer: … es ist ein Fehler, ich weiß, mit solcher Hingabe zu leben, dass man jedesmal in der jeweiligen Umgebung verlorengeht. Dieser Fehler wäre entschuldbarer, wenn ich schon imstande wäre, ihn ganz für meine Kunst auszunützen; aber auch das verstehe ich noch nicht […] 90 Immerhin hat er im Fall des Nachbarn sich selbst schneller ‚wiedergefunden‘ als in dem des Veitstänzers, da seine Kräfte inzwischen in Paris „am Tragen [zuge‐ nommen]“ hatten 91 . Dies schlägt sich auch in der Aufzeichnung nieder. Malte befindet sich zu Beginn in einer „schwierig[en] Lage“; er arbeitet krampfhaft, aber er drückt sich auch gern vor der Arbeit: Es sei zu meiner Ehre gesagt, dass ich viel geschrieben habe in diesen Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich ausgegangen war, dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe Stunde, während welcher ich hätte schreiben können. Ich gebe zu, dass das eine Schwäche war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, hatte ich mir nichts vorzuwerfen. (S. 578) Um weitere Störungen abzuwehren, grenzt er sich bewusst von seinem Zim‐ mernachbarn ab, so als hätte er die Lektion aus dem Erlebnis mit dem Veitstänzer gelernt: Ich schrieb, ich hatte mein Leben, und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der für sein Examen studierte. Ich hatte nichts Ähnliches vor mir, schon das war ein entscheidender Un‐ terschied. Und auch sonst waren unsere Umstände so verschieden wie möglich. (Ebd.) Doch im entscheidenden Moment vergisst er, dass es zwischen ihnen „keine Gemeinsamkeit“ gibt, und beginnt darauf zu horchen, wie das Geräusch jenseits 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 247 der Zimmerwand mit einer inneren Gesetzmäßigkeit und dabei jedes Mal anders einsetzt: Wie alle Geräusche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit. Es konnte heftig sein oder milde oder melancho‐ lisch; es konnte gleichsam überstürzt vorübergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zu Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer überraschend. Dagegen hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast Mechanisches. Aber es teilte den Lärm immer anders ab. Das schien seine Aufgabe zu sein. (S. 579) Es beeindruckt ihn, dass von einem Augenlid, das sich eigenmächtig schließt, ein solcher Schrecken und Lärm ausgehen kann. Schließlich versteht er, dass der Student, wegen mehrmals aufgeschobenen Examens von seiner Familie be‐ drängt, verzweifelt versucht, seine lächerliche Ermüdung zu überwinden: Ich bin sicher, dass er wochenlang der Meinung war, man müsste das beherrschen können. (S. 580) Das bringt ihn dazu, auch hier wieder mit seinem eigenen Willen auszuhelfen: Sonst wäre ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich nämlich, dass der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich es kommen fühlte, stand ich da auf meiner Seite der Wand und bat ihn, sich zu bedienen. (Ebd.) Der Student nimmt das Angebot an - „Und mit der Zeit wurde mir klar, dass er darauf einging.“ -, wenn auch vergeblich. Malte indes beginnt, seine „Ausgaben“ zu fühlen und will schon in sich gehen, als ein neuer Mieter ankommt. An diesem Abend ist das Geräusch ärger denn je: […] ich war aus Müdigkeit schon zu Bett gegangen; ich hielt es für wahrscheinlich, dass ich schlafen würde. Da fuhr ich auf, als hätte man mich berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das Stampfen war fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich und böse gegen die Decke. Malte verfolgt gespannt die Reaktion des neuen Mieters: Auch der neue Mieter war natürlich gestört. Jetzt: das musste seine Türe sein. Ich war so wach, dass ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor, als nähere er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine wirklich übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können, dass es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 248 92 Was aus dem Studenten wird, bleibt in der Aufzeichnung offen. Im Brief werden seine Heilungsaussichten skeptisch beurteilt („Er ist nach Hause gereist. Er soll sich er‐ holen.“). 93 Wie Freud es in „Der Dichter und das Phantasieren“ beschrieben hat: „Ein starkes ak‐ tuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dich‐ tung seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst lässt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.“ (S. Freud, Studienausgabe, hrsg. von. A. Mitscherlich / A. Richards / J. Strachey, Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt a. M. 1969, S. 169-179, hier: S. 177 f.). Der triviale Aspekt der Angelegenheit ist, dass Malte durch die phantasiebedingte Beruhigung seine Arbeitskraft zurückgewinnt. meiner Tür; und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel, dass er nebenan eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein. (S. 580 f.) Es ist die Mutter des Studenten. Malte erkennt es an der plötzlich einsetzenden Stille: Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben? ), nun wurde es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich hätte sofort schlafen können; ich hätte Atem holen können und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehörte mit in die Stille. Das muss man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben lässt es sich nicht. Auch draußen war alles wie ausgeglichen. Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie beruhigt ihren Sohn und macht seiner Qual ein Ende, indem sie ihn zu Bett bringt. Und Malte nimmt sich sein Teil davon: Ach, dass es das gab. So ein Wesen, vor dem die Türen ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen. In der 50. Aufzeichnung versetzt Malte sich nacheinander in drei verschiedene Personen und Rollen: den Studenten, die Mutter und ein umsorgtes Kind. Bau‐ delaires „entrer dans le personnage de chacun“ ist hier also wörtlich genommen. Weil er beim dritten Mal zusammen mit dem Studenten in die Rolle des Kindes schlüpft („Ja, nun konnten wir schlafen.“), hat die Sache, anders als bei der Be‐ gegnung mit dem Veitstänzer, einen guten Ausgang für ihn 92 : seine außerge‐ wöhnlichen „Ausgaben“ an „charité“ finden rechtzeitig ein Ende und er be‐ kommt mit der phantasierten Zuwendung der Mutter auch etwas zurück. Das Glücksgefühl, das Malte erzielt, ist ein doppeltes: die mütterliche Zuwendung einerseits und das Ausleben der eigenen Phantasmen andererseits 93 . Letzteres ist eine Form des dichterischen Enthusiasmus und so ist das Resultat der Ein‐ fühlung diesmal also tatsächlich eine „jouissance“. In der Briefversion sieht das 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 249 94 Siehe seine Äußerungen über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter im Brief an Clara vom 2. 11. 1907 (zitiert bei I. Schnack, Rainer Maria Rilke, Chronik seines Lebens und seines Werkes. 1875-1926, Frankfurt a. M. 2 1996, S. 287). grundsätzlich genauso aus, wenn Rilke hier auch nicht seine eigene Phantasie bzw. Erinnerung einsetzt, weil es ihm an ausreichender eigener Erfahrung man‐ gelt 94 , sondern die tröstenden Gesten der Mutter mit Hilfe bildhauerischer Dar‐ stellungen phantasiert: Seine Mutter kam in der ärgsten Zeit. Ihren Schritt draußen zu hören, ach, sie ahnte nicht, wie sehr dieser Schritt auch mir beistehen musste. Man musste ihn nur hören, draußen auf dem Gang, wenn sie kam und ging. Man hörte: eine Mutter hat einen kranken Sohn - hörte es, als sähe mans auf zehn Reliefs in verschiedenen Vorgängen dargestellt: so hörte mans. (S. 272) Das ist der Glückszustand, den die Kunst hervorruft. So ist es also in Wahrheit die Kunst, die Rilke „beisteht“. In dem Erlebnis mit dem Zimmernachbarn wird Malte (und dem Brief zufolge auch Rilke) durch die übermäßige Hingabe an einen Anderen in der Arbeit ge‐ stört und nur durch einen Zufall aus dieser Situation gerettet. Das nimmt er in den zwei folgenden Aufzeichnungen zum Anlass, grundsätzlich über Störungen durch die Außenwelt nachzudenken. Dabei wird implizit eine Poetik des Rilke‐ schen Dinggedichtes entwickelt und zugleich der Übergang zum ‚Menschenge‐ dicht‘ begründet, der in den Aufzeichnungen auf den Spuren Baudelaires erfolgt. Bevor Malte sich in den Zimmernachbarn versetzt, wird seine Aufmerksam‐ keit von dem „blechernen Ding“ angezogen, das ihn immer wieder mit seinem Geräusch aufschreckt. Er geht dabei so weit, dass er dem Ding menschliche Eigenschaften verleiht: „Es konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam überstürzt vorübergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zu Ruhe kam.“ In der 51. Aufzeichnung, als er den Studenten „fast schon vergessen“ hat, fasziniert ihn immer noch der „gewisse blecherne Gegenstand“ im Zimmer nebenan, von dem er annimmt, dass es sich um den Deckel einer Büchse handelt, einen Deckel, der kein anderes Verlangen kennen [müsste], als sich auf seiner Büchse zu befinden; dies müsste das Äußerste sein, was er sich vorzustellen vermag; eine nicht zu übertreffende Befriedigung, die Erfüllung aller seiner Wünsche. Es ist ja auch etwas geradezu Ideales, geduldig und sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichmäßig aufzuruhen und die eingreifende Kante in sich zu fühlen, elastisch und gerade so scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach, aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu schätzen wissen. (S. 582) Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 250 95 Zum Rodinschen „toujours travailler“ als Vorbild siehe den Kommentar von Fülleborn zu den Neuen Gedichten, Werke, Bd. 1, S. 906; zu Cézanne ebd., S. 909. Siehe auch Rilkes eigene Bemerkungen zum Verhältnis von „Konzentrierung“, „Inspiration“ und „Arbeit“ bei Rodin im zweiten Teil der diesem gewidmeten Monographie (Werke, Bd. 4, S. 467 f.). An Baudelaires willensbetonte Schaffensweise erinnern spätere Äußerungen wie „Ar‐ beit, der Übergang von der kommenden Inspiration zur herbeigerufenen und festge‐ halten[en]“ (Brief an Clara Rilke vom 9. 8. 1907; Briefe 1906-1907, S. 305). Darin haben die Dinge sich den Menschen angepasst, die „höchst ungern und schlecht auf ihren Beschäftigungen [sitzen]“. Durch den langen Umgang mit den Menschen sind auch die Dinge verdorben, haben den „Geschmack […] an ihrem natürlichen stillen Zweck“ verloren und versuchen, „sich ihren Anwendungen zu entziehen“; die Menschen, von denen sie dabei ertappt werden, ärgern sich, weil man sie nachäfft und ihnen ihr Vorrecht streitig macht, aber sie „lassen die Sache gehen, wie sie sich selber gehen lassen“. Wo jedoch ein „Einsamer“ ist, der „sich zusammennimmt“ und „so recht rund auf sich beruhen“ will, da ver‐ binden sich die Dinge untereinander und mit allen anderen Wesen und Gott selber gegen ihn, „um ihn zu stören, zu schrecken, zu beirren“ (S. 583). Hier sind erkennbar die Arbeitsstörung und die Ablenkung des Dichters durch die Außenwelt angesprochen, deren tiefere Ursache seine Fähigkeit zur Hingabe ist. (Im Gegensatz dazu hat der Student eine gewöhnliche Arbeitsstö‐ rung, auch wenn sie durch außergewöhnlichen psychischen Druck verursacht ist.) Rilke selbst hatte oft Arbeitsprobleme und hat dafür Halt und Rat bei an‐ deren gesucht, vor allem bei Künstlern wie Rodin und Cézanne, aber auch bei Baudelaire 95 . Der „Einsame“ der 51. Aufzeichnung, der seiner Arbeit nachgehen will und dabei von den übermütigen Dingen gestört wird, die sich wie die Men‐ schen verhalten, ist sein persönliches Pendant zu Baudelaires „homme de génie [qui] veut être un, donc solitaire“, der auch in der Hingabe sich selbst bewahrt und „einsam“ bleibt. Zu Konzentration und Selbstbewahrung, die in der Auf‐ zeichnung mit den Wendungen „sich zusammen[nehmen]“ und „so recht rund auf sich beruhen“ umschrieben sind, hatte Rilke schon früher Einschlägiges bei Baudelaire gefunden, dessen Zitat aus Emersons The Conduct of Life den ersten Teil seiner Rodin-Studie von 1902 als Motto zierte: „The hero is he who is im‐ 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 251 96 Zitiert bei Baudelaire, Hygiène VIII, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 668-675, hier: S. 674. Rilke kann den Ausspruch zunächst im Delacroix-Artikel gefunden haben; siehe den Stellenkommentar zu Auguste Rodin, in: Werke, Bd. 4, S. 940. Zweifellos kannte er später aber die Journaux intimes, die 1887 mit geringfügigen Kürzungen erstmals veröffent‐ licht worden waren (in: Œuvres posthumes et correspondances, besorgt von Eugène Crépet), 1908 dann erneut und komplettiert ( Jacques Crépet). 1909 erschien die erste selbständige Ausgabe mit einem Vorwort von Gustave Kahn; im gleichen Jahr gab es eine deutsche Übersetzung (Charles Baudelaire, Raketen-Tagebücher, Berlin: Oesterheld & Co.) mit einem kritischen Kommentar. Siehe dazu Œuvres complètes de Ch. B., Juve‐ nilia, Œuvres complètes posthumes, Reliquiae, 3 Bde., hrsg. von J. Crépet u. C. Pichois, Bd. 2, Paris 1952, S. 172 f. 97 „The one prudence in life is concentration; the one evil is dissipation.“ (Zitiert in: Hygiène VIII, S. 674.) 98 Zum Begriff des „Heiligen“, dessen Wesen für Rilke nicht durch die Ausrichtung auf Gott, sondern durch Selbstgenügsamkeit und Konzentration bestimmt ist, siehe den Kommentar, Werke, Bd. 3, S. 981. 99 Ebd. movably centred.“ 96 Eine weitere Äußerung Emersons über „concentration“ und „dissipation“, die er bei Baudelaire zitiert gefunden haben kann 97 , mag ihn zu dem grotesken Vergleich animiert haben, dass Menschen um der „Zerstreuung“ willen von ihren Beschäftigungen „hinunter[…]springen, […] rollen und […] blechern“ wie Deckel von ihren Büchsen: „Wo kämen sonst alle diese soge‐ nannten Zerstreuungen her, und der Lärm, den sie verursachen? “ (S. 583) Die Entfaltung dieses Vergleichs lässt die Dinge wie selbständig Handelnde er‐ scheinen und macht die 51. Aufzeichnung zu einem ‚Dinggedicht‘ im engeren Sinne. Die folgende 52. Aufzeichnung behandelt noch einmal die Versuchung durch die Dinge und ihre „ungefähre Unzucht der Zerstreuung“ am Beispiel des „Hei‐ ligen“, der für Rilke eine andere Form des „Einsamen“ ist 98 . Malte folgt dabei den „wunderlichen Bildern“ von Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel d. J. sowie der in der Kunst und Literatur oft gestalteten „Versuchung des heiligen Anto‐ nius“ 99 , in denen die Dinge ein menschenähnliches Eigenleben entfalten. Darin ist das gewandelte Verhältnis Rilkes zu den Dingen - und in der Folge auch zum Dinggedicht - ins „Bild“ gesetzt. Dem Kind nämlich - so heißt es im zweiten Teil seiner Rodin-Monographie - konnten die Dinge alles bedeuten, indem sie „tausend Rollen“ spielten, „Tier waren und Baum und König und Kind“, ohne „weh oder unrecht zu tun“, so dass es „alles Menschliche“ an ihnen erleben konnte. Auch dem Erwachsenen vermittelten sie eine Zeitlang Ruhe, im Unter‐ schied zu den belastenden Begegnungen mit Menschen: Dinge. Indem ich das ausspreche […] entsteht eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird Kontur, und aus vergangener und künftiger Zeit Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 252 100 Auguste Rodin II, in: Werke, Bd. 4, S. 455 f. 101 Engel, Kommentar zum Buch der Bilder, in: Werke, Bd. 1, S. 796. 102 „Moderne russische Kunstbestrebungen“, in: Werke, Bd. 4, S. 285. Dagegen steht beim frühen Rilke das Bild des Dichters als „kosmische[r] Eremit“, der in die „tiefsten Ein‐ samkeiten des eigenen Wesens“ hineinhört („Moderne Lyrik“, in: Werke, Bd. 4, S. 69 und S. 61). 103 24. 6. 1907 (Briefe 1906-1907, S. 282). 104 Brief vom 4. 11. 1907 (Briefe 1907-1914, S. 15). schließt sich ein Dauerndes: der Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge. 100 Der „Dingkult“, dem Rilke sich im Buch der Bilder, dem dritten Teil des Stunden-Buchs und in den Neuen Gedichten verschrieben hat, ist denn auch als „extreme Selbsttherapie einer schwankenden, übermäßig impressionablen und empathischen Innerlichkeit“ verstanden worden 101 . Diese Position hat sich in den Aufzeichnungen jedoch offensichtlich überlebt, denn die Dinge verweisen nun auf den Menschen, was sich darin zeigt, dass sie wie er zu agieren und zu stören beginnen. So nimmt die 50. Aufzeichnung ihren Ausgang von Maltes Einfühlung in das „blecherne Ding“ und findet darüber zur Einfühlung in den‐ jenigen, der es in Bewegung gesetzt hat. Sie spiegelt den unausweichlichen Übergang von den vermenschlichten Dingen zum Menschen selbst. Und zwar zum Menschen verstanden als Nächstem, dessen Gesicht vom Dichter wie „sein eigenes Gesicht in einer schweren Stunde“ erlebt und erlitten wird, wie Rilke es bei den großen russischen Schriftstellern bewundert hatte 102 . Dieser grundle‐ gende Themenwechsel spiegelt sich auch in den Briefen, erstmals in einem Brief an Clara vom Sommer 1907, in dem Rilke sein Verhältnis zu ‚Modellen‘ reflek‐ tiert, das „ja sicher noch falsch [ist], besonders, da ich eigentlich noch gar keine menschlichen Modelle brauchen kann (Beweis: ich mache sie noch nicht) und mit Blumen, Tieren und Landschaften noch für Jahre hinaus beschäftigt bin.“ 103 Wenige Monate später schreibt er anlässlich eines Besuchs in Prag, wiederum an Clara: Ich fange an, Menschen zu sehen, merke auch schon die ‚Tiergesichter‘, die Ibsen sah, die Schnuten und Gebisse, bleibe aber nicht dabei; denn dahinter fängt es erst recht an, interessant zu werden und, über Abneigung und Antipathie hinaus, gerecht. 104 Hier denkt er zwar an Dramen („Ich werde doch noch mal zu Dramen kommen.“), wie der Hinweis auf Ibsen zeigt. Für die poetische Form des ‚Menschensehens‘, wie sie bald darauf in den Aufzeichnungen anstand, hat sich dann aber das Pro‐ sagedicht angeboten. 3. „entrer dans le personnage de chacun“ 253 105 Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft Bd. XV / 1971, S. 341-374; wieder in: H. En‐ gelhardt (Hrsg.), Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 244-279, hier: S. 250. 106 Salon de 1859, S. 619 ff. Siehe dazu oben, S. 41 f. 4. „imagination active“ In einem Aufsatz mit dem Titel „‚Hypothetisches Erzählen‘: Zur Funktion von Phantasie und Einbildung in Rilkes Malte Laurids Brigge“ hat Judith Ryan auf‐ gezeigt, dass die drei Themenkreise der Aufzeichnungen - Pariser Erlebnisse, Kindheitserinnerungen und historische Episoden - sämtlich „durch das […] Motiv der Einbildung geprägt sind“ 105 . Maltes „Sehenlernen“ bzw. „Sehen“ in der Stadt sei mehr eine „innere Umarbeitung“ als eine Wahrnehmung des äußeren Geschehens, denn die Wahrheit liege für ihn „nicht so sehr in der äußeren Re‐ alität als in der eigenen Sicht dieser Realität“ (S. 253). Da ihm nur Teile der Wirklichkeit zugänglich seien, ergänze er das Fehlende durch Vermutungen, ganz wie bei seinen Einfühlungsversuchen in andere Menschen, die Ryan „Übungen der Phantasie“ nennt (S. 254 f.). Dasselbe gelte für die Kindheitserin‐ nerungen, die Maltes Phantasie neu gestalte, sowie für die historischen Auf‐ zeichnungen, die Spiegelungen von Maltes eigenen Problemen seien. Sein Er‐ zählen sei daher ein „hypothetisches“ Erzählen, welches das Ziel eines „objektiven“ Erzählens verfehle und die „Krise des Erzählens“ im modernen Roman zum Ausdruck bringe (S. 266). Für Ryan hat die Phantasie in den Auf‐ zeichnungen demnach eine Doppelrolle: sie ist einerseits Kompensation und Er‐ gänzung für eine lückenhafte Wirklichkeitswahrnehmung, andererseits aber auch ein Hindernis, das die ‚objektive‘ Wahrnehmung der Wirklichkeit verstellt. Das kann man so sehen; doch entspricht eine solche Auffassung weder der Sicht Maltes als einer Figur Rilkes noch der Sicht Rilkes, der als Dichter und auf‐ merksamer Baudelaire-Leser der Phantasie eine ganz andere Bedeutung zumaß. Baudelaire hatte in Les Foules den „goût du travestissement et du masque“ des Dichters, seine Fähigkeit, aus sich herauszugehen und sich in andere Menschen hineinzuversetzen, zum Erkennungszeichen eines „poète actif et fécond“ erklärt, also eines Dichters, der mit einer regen und produktiven Phantasie begabt ist. Schon im Salon de 1859 hatte er mit Poe die schöpferische Phantasie die „reine des facultés“ genannt, die, verwandt mit der göttlichen Schöpfungskraft, aus dem, was sie in der Wirklichkeit vorfindet, Neues erschaffen kann 106 . Je nach dem Umgang mit der Phantasie unterschied er dort zwei Arten von Künstlern: den „réaliste“ oder „positiviste“, der ausschließlich der vorgegebenen Wirklich‐ keit folgen und die Dinge so darstellen will, wie er sie vorfindet, und den „ima‐ ginatif “, der die Wirklichkeit mit seiner Phantasie verwandeln und sie „zum Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 254 107 Le Peintre de la vie moderne, S. 694. 108 „Et les choses renaissent sur le papier, naturelles et plus que naturelles, belles et plus que belles, singulières et douées d’une vie enthousiaste comme l’âme de l’auteur.“ (S. 693.) Siehe auch oben, S. 77. 109 Le Spleen de Paris XXXV, S. 339. 110 Les Fenêtres, S. 339: „Il n’est pas d’objet plus profond, plus mystérieux, plus fécond, plus ténébreux, plus éblouissant qu’une fenêtre éclairée par une chandelle.“ Leuchten bringen“ will; letzterer, der seiner eigenen Natur treu ist und nur dem folgt, was er sieht und fühlt, war für ihn der wahre Realist: L’artiste, le vrai artiste, le vrai poète, ne doit peindre que selon qu’il voit et qu’il sent. Il doit être réellement fidèle à sa propre nature. (S. 620) Als Beispiel eines solchen Künstlers hatte er in Le Peintre de la vie moderne Constantin Guys genannt, der sich allein und im Vertrauen auf seine aktive Phantasie durch das Menschengewühl der Großstadt bewegt: „ce solitaire doué d’une imagination active, toujours voyageant à travers le grand désert d’hommes“ 107 . Guys arbeitet nicht nach der Natur, sondern nach der Erinnerung, wobei seine Phantasie die gesammelten Materialien ordnet, harmonisiert und einer Idealisierung unterzieht, so dass aus der Realität die „fantasmagorie“ des Künstlers wird, in der die Dinge auf dem Papier in gesteigerter Natürlichkeit und Schönheit wiedererstehen 108 . Wie solches im Falle des Dichters vor sich geht, führt das Prosagedicht Les Fenêtres vor, wo das Ich über die Dächer hinweg durch ein geschlossenes, nur wenig erleuchtetes Fenster eine Frau erblickt und ihre Lebensgeschichte phantasiert 109 . Auf den Einwand, dass seine Geschichte nicht der Wahrheit entspreche, entgegnet es, dass es nicht auf Wahrheit an‐ komme, sondern darauf, was die Geschichte ihm selbst bedeute. Ein solches ‚hypothetisches Erzählen‘ weist für Baudelaire den „artiste imaginatif “ aus. Auch Maltes Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen, ist das Ergebnis einer überaus aktiven Einbildungskraft, und Rilke hat bei ihrer Darstellung wie‐ derholt auf Baudelaires Einlassungen zurückgegriffen. Schon in der 6. Aufzeich‐ nung, die erstmals den Vorgang der Einbildung thematisiert, nimmt er in abge‐ wandelter Form Baudelaires Fenstermotiv auf, wenn die undurchsichtigen Milchglasfenster der vorbeifahrenden Krankenwagen für Malte zu einem ‚objet profond, mystérieux, fécond‘ 110 werden, das seine Phantasie anregt: Es ist zu bemerken, dass diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungs‐ kraft und schlägt sie nach andern Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. (S. 458) 4. „imagination active“ 255 111 Rilkes persönliche Reaktion auf das Großstadtphänomen des gegenüberliegenden Fens‐ ters zeigt, anders als die Maltes und Baudelaires, eher die unangenehmen Empfin‐ dungen des ‚Normalmenschen‘: „[…] mag mein Hotel noch so viel Fehler haben, sein größter ist für mich diese enge Gasse mit den Fenstern vis-à-vis, mit den vielen einge‐ rahmten fremden Lebensmomenten, deren Zeuge man fortwährend zu sein gezwungen wird; gerade in den Augenblicken, da man den Blick nach Fernen hebt, Engen begeg‐ nend, die bange machen. Und wenn man auch noch denkt, dass alle diese 12 Fenster, die ich, an meinem Schreibtisch sitzend, vor mir habe, nicht nur Rahmen, sondern auch ihrerseits wieder Augen sind, die in mein Leben herein offenstehen, - dann ist es manchmal kaum zu ertragen.“ (Brief an Clara Rilke vom 28. 9. 1902, in: Briefe 1902-1906, S. 51). Mit den Krankenwagen und den schrecklichen Phantasien, die ihre Fenster auslösen, macht sich erstmals Maltes persönlicher Hang zum Phantasieren schreckerregender und ängstigender Dinge bemerkbar, wenngleich seine Er‐ zählung hier noch ironisch gebrochen ist („die herrlichsten Agonien“, „die Phan‐ tasie einer Concierge“) 111 . In den folgenden Aufzeichnungen lebt sich dieser Hang dann in immer ernsthafteren Überlegungen zu den jeweiligen Todesarten aus, von den „an der Anstalt angestellten Toden“ über den „höflichen Tod der guten Kreise“, die Tode von Männern, Frauen und Kindern bis zum „bösen, fürstlichen Tod“ seines Großvaters, des Kammerherrn Brigge (7-9). Wenig später lässt Malte seinen schrecklichen Phantasien auch bei anderen Gelegen‐ heiten freien Lauf. Anlässlich der Begegnung mit dem blinden Blumenkohlver‐ käufer (18) erzählt er, er habe einen Mann gesehen, „der einen Gemüsewagen vor sich her schob“: Er schrie: Chou-fleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige, hässliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn anstieß, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen, und er musste gleich darauf wieder schreien, weil man vor einem Hause war, welches kaufte. (S. 484 f.) Die beschriebene Szene wirkt skurril: Eine Frau stößt einen Mann mit einem Gemüsewagen an, der daraufhin schreit; wenn der Mann schreit, ohne ange‐ stoßen worden zu sein, schreit er umsonst; er schreit aber wieder, sobald es Käufer gibt. Offensichtlich ist in Maltes Bericht ein wesentliches Faktum aus‐ gelassen, das dem Verhalten der beiden Personen seinen Sinn gibt. Und tatsäch‐ lich liefert er in einem zweiten Anlauf dieses Faktum nach: Habe ich schon gesagt, dass er blind war? Nein? Also, er war blind. (S. 485) Aber sogleich gewinnt seine Phantasie wieder die Oberhand und formt die Wirklichkeit erneut um - diesmal zu einem eindeutig schrecklichen Bild: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 256 Er war blind und schrie. Malte merkt es und korrigiert sich: Ich fälsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als hätte ich nicht bemerkt, dass er Blumenkohl ausrief. Aber dann begehrt er auf: Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich wäre, kommt es nicht darauf an, was die Sache für mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen. (Ebd.) Dieses Aufbegehren ist - ebenso wie die Wendung an den Leser - ein Echo auf jenen Passus aus Les Fenêtres, in dem Baudelaires Ich die hypothetische Frage nach der Wahrheit der von ihm phantasierten Geschichte zurückweist: Qu’importe ce que peut être la réalité placée hors de moi, si elle [sc. la légende] m’a aidé à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis? (S. 339) Beide Ichs räumen dem Produkt ihrer Einbildungskraft Vorrang vor der wahr‐ genommenen Wirklichkeit ein. Beider Einbildungskraft arbeitet ähnlich und ‚verfälscht‘ die Wirklichkeit zu mehr oder weniger schrecklichen Anblicken: Baudelaires Ich phantasiert aus dem wenigen, das es hinter dem Fenster erkennt, eine ganze leidvolle Lebensgeschichte der Frau, die seiner Vorstellung vom not‐ wendigen „Malheur“ des Schönen entspricht; Maltes Phantasie verwendet von dem, was er sieht, nur das, was für ein schreckliches Bild des Blinden taugt. Beider Umgang mit ihrem Phantasieprodukt ist jedoch verschieden: für Baude‐ laire macht die phantasierte Geschichte dem Ich das Leben erträglicher und hilft ihm, sich selbst zu erfahren; Malte hingegen leidet an seinen schrecklichen Phantasien, die er zugleich fürchtet und sucht. Für ihn ist die „Existenz des Ent‐ setzlichen“ allgegenwärtig, denn es verfolgt die Menschen, die es vergessen möchten, bis in Schlaf und Traum: Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlägt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze, geome‐ trische Formen an zwischen den Organen; denn alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richtplätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den Opera‐ tionssälen, unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen Un‐ vergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über solche Furchen im Gehirn, aber Träume drängen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach. […] Nur eine geringste Wendung, und schon 4. „imagination active“ 257 wieder steht der Blick über Bekanntes und Freundliches hinaus, und der eben noch so tröstliche Kontur wird deutlicher als ein Rand von Grauen. (23, S. 505 f.) Malte selbst empfindet so etwas wie eine körperliche ‚unio mystica‘ mit dem Entsetzlichen: Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es dich, dass in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich aufhalten kann; dass auch das Unerhörte binnen werden muss und sich beschränken den Verhältnissen nach. Aber draußen, draußen ist es ohne Absehen; und wenn es da draußen steigt, so füllt es sich auch in dir, nicht in den Gefäßen, die teilweis in deiner Macht sind, oder im Phlegma deiner gleichmütigeren Organe: im Kapillaren nimmt es zu, röhrig aufwärts gesaugt in die äußersten Veräs‐ telungen deines zahlloszweigigen Daseins. (Ebd.) Doch statt ihm dichterische „jouissance“ zu gewähren, „übersteigt“ und „[zer]tritt“ diese Vereinigung ihn wie einen Käfer: Dort hebt es sich, dort übersteigt es dich, kommt höher als dein Atem, auf den du dich hinaufflüchtest wie auf deine letzte Stelle. Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz treibt dich aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon außer dir und kannst nicht mehr zurück. Wie ein Käfer, auf den man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein bisschen obere Härte und Anpassung ist ohne Sinn. (S. 506 f.) Während Baudelaires Schönheitsbegriff auch das „malheur“ einschließt und ihm sogar einen bevorzugten Platz einräumt, hat Malte das rechte Verhältnis zu dem, was er das „Entsetzliche“ nennt, noch nicht gefunden mit der Folge, dass dieses umso mehr Macht über seine dichterische Phantasie gewinnt, je mehr er es fürchtet. Rilkes Alter Ego Malte ist also zweifach bei Baudelaire verortet: zum einen durch die Übernahme von dessen Einstellung zur dichterischen Phantasie, zum anderen durch die Ablehnung von Baudelaires ästhetischer Haltung zum Schrecklichen, der Malte / Rilke (noch) nicht zu folgen vermag. Die 18. Aufzeichnung enthält noch weitere Beispiele für die phantasievolle Umarbeitung der Wirklichkeit zum Schrecklichen. Unmittelbar im Anschluss an die Begegnung mit dem Blinden fällt Maltes Blick auf Mauerreste von abge‐ rissenen Häusern. Sogleich gibt er eine ausführliche Beschreibung ihres wider‐ wärtigen, ekelerregenden Anblicks: Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 258 Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säug‐ lingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. (S. 486) Das „zähe Leben“ der verrotteten Häuser erregt ihm so viel Grauen, dass er davonlaufen möchte. Aber er begreift, dass das nichts nützt, weil das Gesehene eine Projektion seines Inneren ist: Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiters in mich ein: es ist zu Hause in mir. (S. 487) Ja, auch die Häuser sind eine Ausgeburt seiner Einbildungskraft, wie er zugeben muss: Ich habe doch gesagt, dass man alle Mauern abgebrochen hatte bis auf die letzte -? Nun von dieser Mauer spreche ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange da‐ vorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafür, dass ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. (Ebd.) Wie die Einbildungskraft dabei verfährt, hat er zu Beginn durchblicken lassen: Wird man es glauben, dass es solche Häuser gibt? Nein, man wird sagen, ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weiß, dass ich arm bin. Man weiß es. Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebro‐ chen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die dane‐ bengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. (S. 485) Statt „weggelassen“ wie in der Begegnung mit dem Blinden, hat er nun etwas „hinzugetan“, damit der Eindruck des Schrecklichen entsteht, auch wenn er es abstreitet. Und statt wie zuvor mit Trotz besteht Malte nun mit Ironie auf seiner eigenen Wahrheit: „Woher sollte ich es nehmen? Man weiß, dass ich arm bin.“ Das dritte schreckliche und quälende Erlebnis, das Maltes Phantasie sich schafft, ist das der Menschenmenge, in die er gerät, als er vor dem Anblick des Sterbenden aus der Cremerie in die Straßen flüchtet, „die ganz dickflüssig von Menschen mir entgegenrannen“. Es ist Fasching und Abend, die Menschen sind fröhlich und ausgelassen. Malte empfindet ihr Treiben als ekelerregend („das Lachen quoll aus ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen“) und obszön („die Leute hatten alle Zeit und trieben umher und rieben sich einer am andern“; „es war keine Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob 4. „imagination active“ 259 112 Zur Großstadtfeindschaft in der deutschen kulturideologischen Diskussion jener Zeit siehe A. Freisfeld, Das Leiden an der Stadt. Spuren der Verstädterung in deutschen Ro‐ manen des 20. Jahrhunderts (Kölner Germanistische Studien. 17), Köln / Wien 1982, S. 46 ff. mit einschlägigen Literaturangaben. F. Sengle, „Wunschbild Land und Schreck‐ bild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur“, Studium gene‐ rale, Bd. 16,10 / 1963, S. 619-631, bes. S. 626 f. sie sich stehend paarten“), und er ist außerstande, an der allgemeinen Freude teilzunehmen: Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich auf und lachten, und ich fühlte, dass auch ich lachen sollte, aber ich konnte es nicht. (S. 487) Als er versucht, dem Gedränge zu entfliehen, gerät er in Panik: […] obwohl sie standen und ich am Rande der Fahrbahn, wo es Risse im Gedränge gab, hinlief wie ein Rasender, war es in Wahrheit doch so, dass sie sich bewegten und ich mich nicht rührte. […] Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzu‐ denken, ich war schwer von Schweiß, und es kreiste ein betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blut etwas zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei fühlte ich, dass die Luft längst zu Ende war und dass ich nur mehr Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen ließen. (S. 487 f.) Diesmal liefert die Einbildungskraft von Anfang an ein übertrieben abstoßendes Bild der Realität, in dem die innere Distanz Maltes zur Menge zum Ausdruck kommt. Im gleichen Maße, wie es ihm misslingt, auch äußerlich Distanz zu ihr herzustellen, wandelt sich sein Widerwille zudem in Schrecken bis hin zu kör‐ perlichen Symptomen. Dieses von Abstoßung und Widerwillen geprägte Ver‐ hältnis zur Menschenmenge ist das Gegenteil von Baudelaires ekstatischem Mengenerlebnis, so wie Malte ein Gegenbild zum „promeneur solitaire et pensif “ ist, der sich dem „imprévu“ und „inconnu“ der Menge hingeben konnte und in den Augen einer Vorübergehenden „La douceur qui fascine et le plaisir qui tue“ fand (Les Fleurs du mal XCIII : À une passante, V. 8): stattdessen gaukelt Maltes Phantasie ihm vor, dass sich die Menge selbst vor seinen Augen paart. Ein solch negatives, ablehnendes Verhältnis zur Menschenmenge der Großstadt ist in der von Großstadtfeindschaft und Agrarromantik geprägten deutschen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Seltenheit 112 . Walter Benjamin hat es in Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 260 113 „Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, […] als ob sie gar Nichts gemein, gar Nichts mit einander zu thun hätten […] und […] keinem [fällt es] ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolirung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.“ Benjamin kommentiert diesen Passus aus Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in dem sich „der unbe‐ stechliche kritische Habitus mit dem altväterischen Tenor […] verschränkt“, und erklärt ihn mit des Verfassers Herkunft „aus einem noch provinziellen Deutschland“: „vielleicht ist die Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu verlieren, an ihn nie herange‐ treten.“ („Über einige Motive bei Baudelaire“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, S. 619 f.). Auf ein Nebeneinander von Faszination durch die großstädtische Menschen‐ menge und Kritik an ihr trifft man dagegen schon bei Wilhelm von Humboldt und noch früher bei Georg Christoph Lichtenberg; siehe dazu K. Riha, Die Beschreibung der ‚Großen Stadt‘. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750-1850) (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 11), Bad Homburg v.d.H. 1970, S. 45 f. 50. 82. 114 Reisebilder IV. Englische Fragmente (1828), in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 2, hrsg. von G. Häntzschel, München 1969, S. 538 f. („London“). 115 Freisfeld, Das Leiden an der Stadt, S. 76. Freisfeld erkennt in der Figur des Malte den „Entwurf eines Stadtpathologen“ und schreibt dessen Phantasien einem „Mangel an politisch-sozialem Erkenntnisvermögen“ zu, den sein Autor zur „Abwendung von der städtischen Wirklichkeit in eine Welt extremer Subjektivität“ nutze (S. 78). Friedrich Engels’ Beschreibung der Londoner Menschenmenge aufgezeigt 113 und Baudelaires Vorstellung von der Menge davon abgesetzt. Schon früher hatte Heinrich Heine die Wirkung einer Stadt wie London auf einen Dichter, zumal auf einen deutschen Dichter, beschrieben: Schickt einen Philosophen nach London; bei Leibe keinen Poeten! […] […] Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London er‐ drückt die Phantasie und zerreißt das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen Träumer, der vor jeder einzelnen Erscheinung stehen bleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder einem blanken Goldschmiedladen - o! dann ergeht es ihm erst recht schlimm, und er wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden God damn! niedergestoßen. 114 Rilke führt offensichtlich diese deutsche Tradition fort, wenn er die Gegenpo‐ sition zu Baudelaires Großstadtenthusiasmus bezieht und Malte - unter Zuhil‐ fenahme der Phantasie - seine dichterische Inspiration aus dem „Leiden an der Stadt“ gewinnen lässt 115 . Die zweimalige, widersprüchliche Bezugnahme auf Positionen Baudelaires, die am Ende der 18. Aufzeichnung in ein längeres direktes Zitat aus einem Pro‐ 4. „imagination active“ 261 116 Siehe unten, S. 271 f. 117 Briefwechsel, S. 54. sagedicht mündet 116 , macht deutlich, wie gespalten Rilkes Verhältnis zu seinem berühmten französischen Vorgänger war und wie er sich geradezu an ihm ab‐ gearbeitet hat. Das bestätigt auch eine Bemerkung im Brief vom 18. 07. 1903 an Andreas-Salomé: Wie war er mir fern in allem, meiner Fremdesten einer; oft kann ich ihn kaum ver‐ stehen und doch manchmal tief in der Nacht, wenn ich seine Worte nachsprach wie ein Kind, da war er mein Nächster und wohnte neben mir und stand bleich hinter der dünnen Wand und hörte meiner Stimme zu, die fiel. Was für eine seltsame Gemein‐ samkeit war da zwischen uns, ein Theilen von allem, dieselbe Armuth und vielleicht dieselbe Angst. 117 Ändern wird sich das erst nach Rilkes zweitem, glücklicher verlaufendem Paris-Aufenthalt und nach einer erneuten Auseinandersetzung mit Baudelaire. Nicht nur die Pariser Erlebnisse, auch Maltes Kindheitserinnerungen zeugen von seiner regen Einbildungskraft. Auch hier gibt es schreckliche Phantasien, bei denen das Kind nächtens „verkommt vor Furcht“, bis ihm die Mutter zu Hilfe eilt (23). Dazu kommen zwanghafte Angstphantasien (20), die es mitzuteilen sich fürchtet, allen voran das öfter wiederkehrende angsteinflößende „Große“, das nicht genauer beschrieben wird. Doch sind nicht alle phantastischen Vorfälle der Kindheit angstbeladen, vielmehr beschert die Phantasie dem Kind vor allem intensive Empfindungen und Erlebnisse. Wie das funktioniert, zeigt genauer die 32. Aufzeichnung über die Verkleidungsspiele, denen Malte sich heimlich in ab‐ gelegenen Zimmern des großelterlichen Hauses hingibt. Zunächst gewinnen die alten Kleider in den Wandschränken in seinen Augen nach und nach ein Eigen‐ leben: […] wirkliche Roben, die, von ihren Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die Marionetten eines zu großen Stückes, das so endgültig aus der Mode war, dass man ihre Köpfe anders verwendet hatte. Daneben aber waren Schränke, in denen es dunkel war, wenn man sie aufmachte, dunkel von hochgeschlossenen Uniformen, die viel gebrauchter aussahen als alles das andere und die eigentlich wünschten, nicht erhalten zu sein. (S. 526) dann wird ein Spiegel zum Mitspieler: Niemand wird es verwunderlich finden, […] dass ich ein Kostüm, welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin, neugierig und aufgeregt, in das nächste Fremden‐ zimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich grünen Glas‐ Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 262 stücken zusammengesetzt war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich näherte, lang‐ samer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er war, nicht gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich musste er natürlich. (Ebd.) und schließlich das eigene Spiegelbild: Und nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches, Selbständiges, das man rasch überblickte, um sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um ein Haar das ganze Vergnügen zerstören konnte. Wenn man aber sofort zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man sich zuwinkte, sich, fortwährend zurückblickend, ent‐ fernte und dann entschlossen und angeregt wiederkam, so hatte man die Einbildung auf seiner Seite, solang es einem gefiel. (S. 526 f.) Die Phantasie wandert hier in die Gegenstände, dann ins eigene Ebenbild, mit dem das Kind sich angeregt austauscht, wobei es eine schauspielerische Bega‐ bung entwickelt, die seine Fähigkeit zur Empathie beweist: Ich lernte damals den Einfluss kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, musste ich mir einge‐ stehen, dass er mich in seine Macht bekam; dass er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die Spit‐ zenmanschette fiel und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, dass ich mich mir selber entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto über‐ zeugter wurde ich von mir selbst. (S. 527) Bei seinen Verkleidungsspielen verachtet es das übliche „Maskenzeug“ der Do‐ minos und Pierrots mit seiner „dürftigen Unwirklichkeit“ und zieht geräumige Gewänder und große Stoffbahnen wegen ihrer „wirklich freie[n] und unendlich bewegte[n] Möglichkeiten“ vor. Einmal vermummt es sich so mit einem gelben Mantel und einer nach Art eines Turbans umwickelten Maske und hat tatsäch‐ lich einen „großartigen“ Auftritt im Spiegel, bis dass es durch das banale Um‐ stoßen eines Tischchens mit zerbrechlichen Gegenständen aus der Fassung ge‐ bracht wird. Vergebens versucht es, sich der Verkleidung zu entledigen, indem es zuletzt auch den Spiegel zu Hilfe nimmt: Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war für ihn ge‐ kommen. Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich 4. „imagination active“ 263 118 Hier legt Rilke die spiritistischen Neigungen im Umkreis der Reventlowschen Familien in seinem Sinne aus, was neben der nordischen ‚Mode‘ ein weiterer Grund für seine Rückgriffe auf deren Familiensaga gewesen sein kann. 119 Wagner-Egelhaaf deutet es als mystisches Erlebnis, das „Maltes Dichterzukunft“ zum Gegenstand hat (Mystik der Moderne, S. 91 f.). 120 „Ich sehe mich […] irgendwie ungenau voraussehen, dass so das Leben sein würde: voll lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich nicht sagen lassen. Sicher ist, dass sich nach und nach ein trauriger und schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir vor, wie man herumgehen würde, voll von Innerem und schweigsam.“ (29, S. 521) irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen, schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuer, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm. (S. 528) Besinnungslos rennt das Kind davon, „aber nun war er es, der rannte“, in Un‐ kenntnis des Hauses: „er wusste nicht wohin; er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf dem Gange über eine Person her, die sich schreiend freimachte“. Das Hauspersonal steht und lacht ob des Schauspiels, bis das verzweifelte Kind schließlich ohnmächtig am Boden liegt. Hier wird Malte von seiner Phantasie bis zur völligen Selbstaufgabe und zum Verschwinden seines Ichs in der spiele‐ risch imaginierten anderen Person gebracht, die dadurch bedrohlich und „schrecklich“ wird. Das deutet auf seine späteren erdrückenden Erfahrungen bei der empathischen Einfühlung in Andere voraus. In den phantastischen Bereich gehören auch die wiederholten Erscheinungen Verstorbener und die ‚Gespenstergeschichten‘ der Familie Brahe, die Maltes Hang zu einer regen Phantasietätigkeit als mütterliches Erbe ausweisen. Be‐ sonders bemerkenswert sind die Gruppenhypnose um das Schulinsche Haus, an der Malte und die Mutter kräftig mitwirken (42) 118 , sowie der Vorfall mit der „anderen Hand“ (29), bei dem Malte seine eigene Hand als Wesen mit eigenem Willen erlebt, dem sich eine zweite größere Hand entgegenstreckt. Es handelt sich hier wohl um ein Initiationserlebnis 119 und Malte fasst es auch in dieser Weise auf, denn er kann von dem dabei erfahrenen Gefühl des Auserwählts‐ eins 120 niemandem, nicht einmal der Mutter und dem „kleinen Erik“ erzählen. Um die Mutter kreisen phantasievolle Kindheitserinnerungen glücklicher Art, Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 264 121 „[…] wir waren einig darüber, dass wir Märchen nicht liebten. Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren. Wir fanden, wenn alles mit natürlichen Dingen zuginge, so wäre das immer am wunderbarsten. Wir gaben nicht viel darauf, durch die Luft zu fliegen, die Feen enttäuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas anderes er‐ warteten wir uns nur eine sehr oberflächliche Abwechslung.“ (31, S. 523) 122 Die Vorstellung vom „Leseschlaf “ wird schon in der 16. Aufzeichnung am Beispiel der Benutzer der Bibliothèque Nationale eingeführt (S. 479 f.). 123 44. Aufzeichnung, S. 560. Auch Erzählen verlangt natürlich Phantasie. Darauf zielt Maltes Ruf nach einem Erzähler am Ende der Geschichte vom falschen Zaren („Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzähler, einen Erzähler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, muss Gewalt ausgehen über jeden Widerspruch hinaus.“ 54, S. 588), in dem man gern einen Hinweis auf die ‚Krise des Erzählens‘ im modernen Roman sieht. Dass es dabei schlicht um die Macht der erzählerischen Ein‐ bildungskraft geht, lässt sich der Äußerung des Grafen über den Marquis von Belmare entnehmen, der mit seinen Augen „Venedig hier hereingesehen [hätte] in dieses Zimmer, dass es da gewesen wäre, wie der Tisch. Ich saß in der Ecke einmal und hörte, wie er meinem Vater von Persien erzählte, manchmal mein ich noch, mir riechen die Hände davon.“ (44, S. 560 f.) etwa wenn Malte mit ihr, die ebenfalls das natürliche Wunderbare liebt 121 , kunstvolle Spitzen betrachtet und beide zu Phantasien von Gärten und Eis‐ blumen angeregt werden (41). Ein weiterer Zustand, den Malte seiner Phantasie verdankt, ist die Entrü‐ ckung durch das Lesen, das den Heranwachsenden zeitweise in einen „Lese‐ schlaf “ 122 versetzt, über dem er den Sommer draußen, „wo Abelone rief “, beinahe versäumt (56, S. 595 f.). Dass Lesen Phantasie verlangt, zeigt eine Äußerung des Grafen Brahe, der Abelone seine Lebenserinnerungen diktiert: „Sie kann es nicht schreiben, sagte er scharf, und andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da sage? “ fuhr er böse fort […] 123 Malte ist ein phantasievoller Leser und Zuhörer, der „sieht“, was er liest oder erzählt bekommt, etwa die Geschichte von Ingeborg, die die Mutter erzählt (27 f., S. 513 ff.), die ihrerseits betont, „gesehen“ zu haben, wie Ingeborgs Hund seine als Wiedergängerin erschienene Herrin begrüßt habe. Der erwachsene Malte vermag in fremden Schicksalen sein eigenes zu erkennen und umgekehrt, was sein Interesse an Geschichten der Vergangenheit begründet: Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive, verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuss zweier, die sich versöhnten, nur das Zeichen für die Mörder war, die herumstanden. […] (62, S. 612) In solchen Fällen erzählt er überlieferte Vorkommnisse, die ihn besonders an‐ gehen, und versieht sie mit Hypothesen und Zusätzen, die auf seinen eigenen Fall verweisen, wie Ryan für die Geschichten vom falschen Zaren Grischa Ot‐ 4. „imagination active“ 265 124 „‚Hypothetisches Erzählen‘“, S. 265 ff. 125 Le Poème du hachisch, S. 430. 126 „[…] cet état exceptionnel de l’esprit et des sens, que je puis sans exagération appeler paradisiaque“ (Le Poème du hachisch, S. 401). repjow und von Karl dem Kühnen (54 f.) gezeigt hat 124 , die Malte einst in einem „grünen Buch“ gelesen hat. Das gleicht dem Verfahren, das Baudelaires Ich in Les Fenêtres angewandt hatte. Malte seinerseits bemerkt Ähnliches in Ibsens Theater und nennt es die Suche nach „[sichtbaren] Äquivalenten […] für das innen Gesehene“ (26, S. 512). Es ist dies eine eminent poetische Vorgehensweise, die auch Baudelaire im Sinne hatte, als er von „correspondances“ und „analogies universelles“ oder der Allegorie sprach 125 . Die künstlerisch produktive Phantasietätigkeit Maltes beschränkt sich nicht auf das geschriebene oder gelesene Wort; er ist auch ein phantasievoller Bild‐ betrachter, Musikhörer und Zuschauer. Z. B. wenn er sich vorstellt, mit Abelone zusammen die Wandteppiche der „Dame à la licorne“ zu betrachten (38), wenn er ein freundlich gemaltes Porträt seines „einzigen Freundes“ Erik entwirft (35) oder wenn er eine Pariser Stadtansicht mit einem Manetschen Bild vergleicht (12). Kritik am zeitgenössischen Umgang mit der Kunst mischt sich in seine Phantasien, wenn er den komponierenden Beethoven in die Einsamkeit der Thebaἳs versetzt, gehört nur vom All, das ihn zu ertragen vermag (24), oder wenn er das Theater zu Orange besucht und die Architektur der Szenenwand ihm wie eine riesige Maske das übermenschliche antike Drama verkörpert (64). Kunst‐ werke rufen ganz generell seine Phantasie auf den Plan und versetzen ihn in dieselbe Ekstase wie zuvor ihre Urheber. Die ‚Allegorie‘ dieses doppelten Vor‐ gangs ist die verzückte Betrachtung der Spitzen durch Mutter und Sohn mit dem anschließenden Wortwechsel über die Spitzenklöpplerinnen und ihr Schaffen: „Die sind gewiss in den Himmel gekommen, die das gemacht haben“, meinte ich be‐ wundernd. […] Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie ganz langsam: „In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein. Man weiß ja so wenig darüber.“ (41, S. 551 f.) Hier trifft Rilke sich mit Baudelaire in der Überzeugung, dass Phantasie in der Kunst in einen „paradiesischen“ Zustand zu versetzen vermag 126 . Es sind also nicht nur vereinzelte Äußerungen zur Einbildungskraft, die Rilke in den Aufzeichnungen von Baudelaire übernimmt. Vielmehr stimmt er mit diesem grundsätzlich im Glauben an die Kraft der Phantasie und ihre Macht über den Künstler überein. Malte ist ein Verwandter des „artiste imaginatif “ Baudelaires, der in einer realistisch denkenden Umwelt auf der Bedeutung der Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 266 127 Vgl. Baudelaire, Salon de 1859, S. 620: „A ces doctrinaires si satisfaits de la nature un homme imaginatif aurait certainement eu le droit de répondre: ‚Je trouve inutile et fastidieux de représenter ce qui est, parce que rien de ce qui est ne me satisfait. La nature est laide, et je préfère les monstres de ma fantaisie à la trivialité positive.‘“ 128 „[…] wie bereit ich alles Erwartete aufgebe für das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.“ (22, S. 505). 129 „Aber da fühlte ich ihn, obwohl er sich nicht rührte. Gerade seine Regungslosigkeit fühlte ich und begriff sie mit einem Schlage. […] Ich wusste, dass das Entsetzen ihn gelähmt hatte, Entsetzen über etwas, was in ihm geschah. Vielleicht brach ein Gefäß in ihm, vielleicht trat ein Gift, das er lange gefürchtet hatte, gerade jetzt in seine Herz‐ kammer ein, vielleicht ging ein großes Geschwür auf in seinem Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte.“ (S. 489) Einbildungskraft besteht und noch die „Ungeheuer“ seiner Phantasie der Rea‐ lität vorzieht 127 . Allerdings übersteigen die Schrecken seiner „monstres“ oft seine Kräfte, besonders zu Beginn seines Aufenthaltes in Paris. Dann kehren sich die erwarteten Glücksgefühle in ihr Gegenteil um und er leidet unter der großen Stadt: So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. (1, S. 455) 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ Nicht die Einbildungskraft, sondern die Haltung zum Schrecklichen oder, wie Malte es auch nennt, zum ‚argen Wirklichen‘ 128 , wird in den Aufzeichnungen direkt mit Baudelaire in Verbindung gebracht. Zum ersten Mal geschieht das am Ende der 18. Aufzeichnung, als Malte sich nach den eingebildeten Schrecken an ein wirklich schreckliches Erlebnis des Tages erinnert, das ihn zutiefst aufge‐ wühlt hat. Es ist eine Begegnung mit dem Arme-Leute-Tod, wie sie sich in der Großstadt alltäglich und überall ereignen kann. Malte hat sie in seinem Rück‐ blick zunächst ausgelassen, doch nun steht sie ihm mitten in seinen Phantasien von einem besseren Leben, mit denen er die schrecklichen Erlebnisse zu kom‐ pensieren versucht, plötzlich wieder vor Augen: Auf dem Platz, den er in der Cremerie einzunehmen pflegt, saß ein Sterbender. Malte war sofort über ihn im Bilde („Die Verbindung zwischen uns war hergestellt […]“ 129 ), hoffte aber zu‐ nächst, „dass alles Einbildung sei“ wie die vorhergehenden Ereignisse. Doch dann wurde ihm die schreckliche Ahnung zur Gewissheit und er ergriff die Flucht: 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 267 130 Dass das Schreckliche der Außenwelt eigentlich ein Schreckliches des eigenen Inneren ist, betont Rilke im Brief an Franz Xaver Kappus (12. 8. 1904): „Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Misstrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns […].“ (Briefe an einen jungen Dichter, in: Werke, Bd. 4, S. 544; Hervorhebung im Text.) Ebenda fordert er auch, nicht „irgendeine Beunruhigung, irgendein Weh, irgendeine Schwermut […] aus[zu]schließen“. Aber es geschah, dass ich aufsprang und hinausstürzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er saß da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein graues, ge‐ spanntes Gesicht hing tief in ein wollenes Halstuch. […] So saß er da und wartete, bis es geschehen sein würde. Und wehrte sich nicht mehr. (S. 489 f.) Schon die bloße Erinnerung an das Vorgefallene vermag er nicht auszuhalten, wie sein anfänglicher Versuch, es zu verdrängen, zeigt: Es ist gut, es laut zu sagen: „Es ist nichts geschehen.“ Noch einmal: „Es ist nichts geschehen.“ Hilft es? (S. 484) Doch er muss erkennen, dass das nicht möglich ist, weil auch in ihm selbst etwas Schreckliches vor sich geht. Ich sage mir: es ist nichts geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen können, weil auch in mir etwas vor sich geht, das anfängt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen. (S. 490) 130 In Maltes eigener Sprache bedeutet dies, dass ihm der Sterbende in der Cremerie zum „Äquivalent“ für ein „innen Gesehenes“ wird, für ein ihm schrecklich er‐ scheinendes Geschehen in seinem Inneren, gegen das er selbst sich noch wehrt. Dieses Geschehen beschreibt er im Folgenden als eine Trennung und ein Sich-Entfernen aus der ihm gewohnten Welt, eine Veränderung, die von ihm verlangt, „Bedeutungen [aufzugeben], die mir lieb geworden sind“, und die zu einem Schreiben führen wird, über das nicht mehr er selbst bestimmt: Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. […] diesmal werde ich ge‐ schrieben werden. (Ebd.) Eine „Zeit der anderen Auslegung“ sieht er dann anbrechen, in der „kein Wort auf dem anderen bleiben“ und sein „tiefes Elend“ sich in „Seligkeit“ verwandeln werde: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 268 131 Mystik der Moderne, S. 98 ff. 132 Mark. 13, 2. Siehe den Kommentar z. St. (S. 929 f.). 133 Die Bilder der sich auflösenden Wolke und der niedergehenden Wasser stammen aus Hiob 7, 9 bzw. 5, 10; zur Hiob-Parallele siehe auch im Folgenden. „Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein“ (S. 490 f.) Es ist nicht leicht zu verstehen, was Malte mit diesen dunklen Wendungen und Bildern, die großenteils biblischer Herkunft sind, zum Ausdruck bringen will. Immerhin scheint klar, dass es im Kern um eine Veränderung seines Schreibens geht. Wagner-Egelhaaf hat darin einen Umschlag zum mystischen Schreiben unter „Diktat“ erkennen wollen, das der „Kontrolle des Subjekts entglitten“ sei 131 . Doch liegt im Kontext der 18. Aufzeichnung mit ihren schrecklichen Er‐ lebnissen die Annahme näher, dass es um eine Veränderung von Maltes dich‐ terischer Weltsicht schlechthin geht, weil die Begegnung mit dem Sterbenden ihn zu der Einsicht kommen lässt, dass er sich der Existenz des „argen Wirkli‐ chen“ stellen muss, anstatt ihr weiterhin durch Verdrängung oder schreckliche Phantasien auszuweichen. Freilich fürchtet er sich „namenlos“ vor dieser Ver‐ änderung: Wenn meine Furcht nicht so groß wäre, so würde ich mich damit trösten, dass es nicht unmöglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich fürchte mich, ich fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar nicht in dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint. Was soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind […] (S. 490) Die Veränderung erscheint ihm wie ein Untergang und ein apokalyptisches Ende der vertrauten Welt, das er mit den Worten der Weissagung Christi über die Zerstörung Jerusalems beschreibt: „Nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“ 132 Schon für seinen gegenwärtigen Zustand zieht er dieses Bildfeld heran: „ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin.“ Das „zerbrochene Ich“ lässt an Joh. 2, 19 ff. denken, wo Christus vom abgebrochenen Tempel seines Leibes spricht, den er am dritten Tage wieder aufrichten wird: so bedarf auch der Dichter einer Auferstehung, wenn ihm „kein Wort auf dem andern“ bleibt und „jeder Sinn […] wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen [wird]“ 133 . Was Malte in dieser 18. Aufzeichnung widerfährt, ist die „Prüfung“, von der Rilke im Brief an Clara gesprochen hat: 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 269 134 Brief an Clara Rilke vom 19. 10. 1907 („Briefe über Cézanne“, Werke, Bd. 4, S. 625). 135 „Und oft vor dem Einschlafen las ich das 30. Capitel im Buche Hiob und es war alles wahr an mir, Wort für Wort. Und in der Nacht stand ich auf und suchte meinen Lieb‐ lingsband Baudelaire, die petits poèmes en prose, und las laut das schönste Gedicht, das überschrieben ist A une heure du matin.“ (Brief vom 18. 07. 1903, Briefwechsel, S. 53 f.) Ist es nicht das, dass seine Prüfung ihn überstieg, dass er sie am Wirklichen nicht bestand, obwohl er in der Idee von ihrer Notwendigkeit überzeugt war […]? Das Buch von Malte Laurids […] wird nichts als das Buch dieser Einsicht sein […] 134 Rilke bezieht die Prüfung ausdrücklich auf das „Wirkliche“ und - wie der Kon‐ text zeigt - auf dessen Schrecken, denen Malte, wie er selbst weiß, ins Auge sehen müsste, wovor er aber verzagt. Auch Malte versteht die Ereignisse als Prüfung, denn er zitiert im weiteren Verlauf der Aufzeichnung aus dem Buch Hiob: Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und muss ihr Märlein sein. […] (S. 491 f.) Die insgesamt acht Verse, die im ausdrucksstarken Wortlaut einer Luther-Bibel von 1770 teilweise verkürzt zitiert werden, entstammen der Klage Hiobs über die mannigfachen Plagen, mit denen Gott ihn geprüft hat (30, V. 8-31). Bevor Malte sich diese verzweifelte Klage zu Eigen macht, hat er in seiner Not gebetet und dabei Worte Baudelaires gewählt: „Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais bien me racheter et m’enor‐ gueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit. Âmes de ceux que j’ai aimés, âmes de ceux que j’ai chantés, fortifiez-moi, soutenez-moi, éloignez de moi le men‐ songe et les vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu! accordez-moi la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis pas inférieur à ceux que je méprise.“ (S. 491) Das Zitat ist dem Prosagedicht À une heure du matin entnommen, das zu Rilkes frühesten und eindringlichsten Baudelaire-Eindrücken gehört. Schon im Brief an Andreas-Salomé nennt er es zusammen mit Hiob 30 eine zutreffende Be‐ schreibung seiner Situation während des ersten Paris-Aufenthaltes 135 . Baude‐ laire lässt hier in der Stille und Einsamkeit der Nacht eine Reihe von ärgerlichen und demütigenden Begegnungen sowie beschämenden eigenen Taten des ver‐ gangenen Tages an seinem inneren Auge vorbeiziehen; zum Schluss bittet er aufseufzend um „quelques beaux vers“, mit denen er seine Selbstachtung wie‐ derzugewinnen hofft. Rilke hat das Gedicht mit sehr subjektivem Blick gelesen, Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 270 136 Briefwechsel, S. 54. Der Vergleich mit russischer Frömmigkeit spielt auf die Erfahrungen der gemeinsamen Russlandreise mit Andreas-Salomé an. Für Rilke waren orthodoxe Religion und russische Religiosität zudem ein poetisches Narkotikum. 137 Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains: VII. Théodore de Banville, S. 167. 138 Inca Rumold erkennt in Maltes Bewusstseinsänderung die Entwicklung einer „neuen Ästhetik“, die „praktisch an Baudelaire anschließend“ sei; sie greift freilich dem Er‐ gebnis vor, wenn sie in der Begegnung mit dem Sterbenden schon „ein prägnantes Beispiel“ dieser neuen Ästhetik erkennen will (Die Verwandlung des Ekels. Zur Funktion der Kunst in Rilkes Malte Laurids Brigge und Sartres La Nausée [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 291], Bonn 1979, S. 91 ff.). Unter den Inter‐ preten, die sich der 18. Aufzeichnung detailliert zuwenden, sieht Walter Seifert in der von Malte gefürchteten Veränderung dagegen eine allgemeine „Desintegration aller Seins- und Bewusstseinszusammenhänge“, die auch „vor der Sprache nicht halt [macht]“ (Das epische Werk Rainer Maria Rilkes [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft. 82], Bonn 1969, S. 232). Anthony R. Stephens erklärt die Zitate aus Baudelaire und Hiob sogar für irrelevant (S. 87) und deutet die Veränderung im Rahmen seiner These von einer allgemeinen Persönlichkeitsproblematik Maltes als „völlige Umgestaltung der oberflächlichen Persönlichkeit infolge einer Integration von Oberfläche und Kern“ (Rilkes Malte Laurids Brigge, S. 83 ff.). 139 Briefwechsel, S. 64 (Brief vom 18. 07. 1903). indem er nur auf das abschließende „Gebet“ Baudelaires abgehoben hat: „ein wirkliches, schlichtes Gebet, mit den Händen gemacht, ungeschickt und schön wie das Gebet eines russischen Menschen“ 136 - eine Feststellung, an der man Zweifel anmelden kann. Über den Hauptteil mit dem moralistisch getönten Rückblick auf das von Baudelaire als „grotesquerie perpétuelle de la bête hu‐ maine“ 137 bezeichnete Schauspiel des täglichen Lebens in der Stadt hat er hin‐ weggesehen. Sein Alter Ego Malte liest diesen Teil in seinem Sinne als das Ver‐ folgtwerden durch die „Fortgeworfenen“ und macht Baudelaires Seufzer zu einem richtigen Gebet, das er „gebetet ha[t], Abend für Abend“ und das er noch einmal „vor [s]einem Tisch knieend“ abschreibt, „denn so habe ich es länger, als wenn ich es lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu verhallen“ - ein Gebet, das um die Bewältigung und Aufhebung des argen Wirklichen im Gedicht fleht. Das ist bei der Deutung dieser allgemein als zentral geltenden Stelle bisher kaum gesehen worden 138 , wird aber durch den Brief an Andreas-Salomé bestä‐ tigt, in dem Rilke sich eben diesen Ausweg aus seiner Krise erhoffte, „Dinge bilden [zu] können“ aus seinen Ängsten: Hätte ich die Ängste, die ich so erlebte, machen können, hätte ich Dinge bilden können aus ihnen, wirkliche stille Dinge, die zu schaffen Heiterkeit und Freiheit ist und von denen, wenn sie sind, Beruhigung ausgeht, so wäre mir nichts geschehen. 139 Auch Malte gelingt die ästhetische Verarbeitung der schweren Erlebnisse in der 18. Aufzeichnung noch nicht und er bleibt als Dichter wie als Mensch verzwei‐ 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 271 140 Gleiches gilt für die Stelle aus dem Buch Hiob. Im Brief an Andreas-Salomé hatte Rilke beides genau benannt und die Baudelaire-Stelle auch zitiert; das Hiobzitat, weil bekannt oder leichter zugänglich, hingegen nicht. felt, wie der letzte Vers seines Hiobzitates zeigt: „Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.“ In der 18. Aufzeichnung wird der Name Baudelaires nicht genannt 140 . Er fällt zum ersten - und einzigen - Mal in der 22. Aufzeichnung, in der das Problem des ‚argen Wirklichen‘ ausdrücklich angesprochen ist. Malte erklärt in diesem „Briefentwurf “ - so die Überschrift der Aufzeichnung -, dass ihn der Aufenthalt in Paris, dieser Stadt „voll merkwürdiger Versuchungen“, verändert habe: Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Veränderungen zur Folge gehabt […] Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einflüssen in mir herausgebildet […] Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. (S. 504 f.) Die „Veränderungen“ und die „neuen Bedeutungen“ nehmen fast wörtlich den an der früheren Stelle noch bevorstehenden und gefürchteten Wandel der dich‐ terischen Weltsicht auf. Malte glaubt jetzt, ihn vollzogen zu haben, und sieht sich vor den Schwierigkeiten jedes neuen Anfangs: „Ich habe es augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen.“ Seine neue Situation umschreibt er mit dem Hinweis auf Bau‐ delaire: Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht „Une Charogne“? Es kann sein, dass ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schreckli‐ chen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. (S. 505) In dem „unglaublichen“ Gedicht Une Charogne beschreibt Baudelaire in all seiner Widerwärtigkeit ein Aas, das er gemeinsam mit der Geliebten gesehen hat, der er dann vor Augen hält, dass dies dereinst auch ihr Zustand sein werde. Malte sieht in diesem Vorgehen einen Beweis dafür, dass Baudelaire eine ähnliche Erfahrung mit dem ‚argen Wirklichen‘ wie er selbst gemacht und daraus die Folgerung gezogen habe, die Dichtung müsse auch im „Schrecklichen, scheinbar Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 272 141 Wie schon in Rilkes Brief an Andreas-Salomé wird Baudelaires Text auch hier wieder aus ganz persönlicher Sicht gelesen und die groteske Variation des ‚Carpe diem‘-Themas wird ebenso übergangen wie das Motiv der Bewahrung des Vergängli‐ chen in der Erinnerung des Dichters, das Gegenstand der für Malte anstößigen letzten Strophe ist. Zur Deutung des Gedichts siehe C. G. Tucker, „‚Petrarchisant sur l’horrible‘: A Renaissance Tradition and Baudelaire’s Grotesque“, The French Review Bd. 48,5 / 1974 / 1975, S. 887-896, bes. S. 894 f. 142 Ebd. Flauberts Erzählung ist eine Heiligenvita, erzählt nach der Darstellung in einem Fenster der Kathedrale von Rouen. Das eindrucksvolle Abschlussbild, in dem der Heilige mit seinem nackten Leib den Aussätzigen wärmt, der sich darauf in Christus verwandelt und mit ihm gen Himmel fährt, hat bei Flaubert keinen Doppelsinn, wie Malte glauben machen möchte. 143 „Briefe über Cézanne“, in: Werke, Bd. 4, S. 624; Hervorhebung im Text. nur Widerwärtigen“ einen der Darstellung werten Gegenstand sehen 141 . Zur Bekräftigung dieser Erkenntnis verweist er auf Flauberts Légende de Saint-Ju‐ lien-l’Hospitalier und die dort berichtete Liebestat des Heiligen, die ihm als Bild für die Aufgabe des Dichters erscheint, wie er sie jetzt sieht: Hältst Du es für einen Zufall, dass Flaubert seinen Saint-Julien-l’Hospitalier ge‐ schrieben hat? Es kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebesnächte, das kann nicht anders als gut ausgehen. 142 Abschließend erklärt er seine Zufriedenheit mit dem neuen Zustand: Glaube nur nicht, dass ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie bereitwillig ich alles Erwartete aufgebe für das Wirkliche, selbst wenn es arg ist. (Ebd.) Ähnliche Überlegungen wie die hier von Malte geäußerten findet man in einem Brief aus der Reihe der „Cézanne-Briefe“, die Rilke anlässlich des Pariser Herbst‐ salons von 1907 an Clara Rilke geschrieben hat und in denen er in der Ausei‐ nandersetzung mit den Bildern des ein Jahr zuvor verstorbenen Cézanne seine eigene künstlerische Entwicklung reflektiert hat. Dort würdigt er am 19. 10. 1907 Baudelaires historische Leistung so: Du erinnerst sicher … aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids, die Stelle, die von Baudelaire handelt und von seinem Gedichte: „Das Aas“. Ich musste daran denken, dass ohne dieses Gedicht die ganze Entwicklung zum sachlichen Sagen, die wir jetzt in Cézanne zu erkennen glauben, nicht hätte anheben können; erst musste es da sein in seiner Unerbittlichkeit. Erst musste das künstlerische Anschauen sich so weit über‐ wunden haben, auch im Schrecklichen und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden, gilt. 143 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 273 144 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (rde. 25 / 26 / 26a), erweiterte Neuauflage Hamburg 1967, S. 43. 145 „Briefe über Cézanne“, S. 622 f. (18. 10. 1907). 146 Siehe den Brief vom 12. 10. 1907, S. 614: „In den ersten [Arbeiten] war die Farbe etwas für sich; später nimmt er [Cézanne] sie irgendwie, persönlich, wie kein Mensch noch Farbe genommen hat, nur um das Ding damit zu machen. Die Farbe geht völlig auf in dessen Verwirklichung, es bleibt kein Rest.“ 147 Siehe dazu den grundlegenden Aufsatz von Herman Meyer, „Rilkes Cézanne-Erlebnis“ (1952 / 1954), wieder in: ders., Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 244-286. Meyer vertritt die Auffassung, dass die ästhetischen Einsichten des neuen Stils zum Zeitpunkt des Cézanne-Erlebnisses bei Rilke durch den Umgang mit Rodins Werk schon „vorgebildet“ waren und nur noch eine „Klärung, Steigerung und gedankliche Konsolidisierung“ hinzugekommen sei (S. 263 f.). Ähnlich sieht Helmut Naumann im Cézanne-Erlebnis Rilkes dessen „Durchbruch zur methodischen Bewusst‐ heit“, wobei die Methode für ihn eine phänomenologische ist, deren Kennzeichen ‚In‐ tuition‘ und ‚Reduktion‘ dem ‚sachlichen Sagen‘ entsprechen (Gesammelte Malte-Stu‐ dien. Zu Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Rheinfelden / Berlin 1993, S. 67 ff.). Baudelaires Hinwendung zum Schrecklichen und Widerwärtigen, seine „Äs‐ thetik des Hässlichen“ 144 , wird hier von Rilke als notwendige ästhetische Durch‐ gangsstufe zu dem hingestellt, was er Cézannes „sachliches Sagen“ nennt. Dieses ‚sachliche Sagen‘ ist im Brief vom Vortag als eine „unbegrenzte, alle Einmi‐ schung in eine fremde Einheit ablehnende Sachlichkeit“ gerühmt, die „keine Vorlieben mehr hatte, keine Neigungen und keine wählerischen Verwöhnt‐ heiten […] und die so unbestechlich Seiendes auf seinen Farbeninhalt zusam‐ menzog, dass es in einem Jenseits von Farbe eine neue Existenz, ohne frühere Erinnerungen, anfing“ 145 . Gemeint ist damit eine Darstellungsweise, bei der die Mittel der Darstellung, in der Malerei also vor allem die Farbe, völlig in der „Verwirklichung“ des Gegenstandes „aufgehen“ 146 . Rilke erkennt damit bei Cé‐ zanne eine künstlerische Entwicklung und „Wendung“, die, wie er schreibt, „ich selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte“ (S. 622). Sie ist in der Forschung unter der von ihm vorgegebenen Bezeichnung als das ‚sachliche Sagen‘ der mittleren Schaffensperiode bekannt geworden, das den gefühlvollen Stil seiner frühen Gedichte abgelöst hat, und sie ist, zumindest was ihre theoretische Klärung be‐ trifft, stets in Verbindung mit dem „Cézanne-Erlebnis“ gebracht worden 147 . Im Brief vom 19. 10. 1907 glaubt Rilke aber noch mehr als die Wendung zum ‚sach‐ lichen Sagen‘ bei Cézanne zu erkennen. Ausgehend von der Mitteilung, dass Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 274 148 „Du kannst Dir denken, wie es mich berührt, zu lesen, dass Cézanne eben dieses Ge‐ dicht - Baudelaires Charogne - noch in seinen letzten Jahren ganz auswendig wusste und es Wort für Wort hersagte.“ („Briefe über Cézanne“, S. 624.) Zu Rilkes Quelle für diese Mitteilung siehe Meyer, S. 254 f. 149 Rilke hat in den Cézanne-Briefen eine eigene Bildlichkeit für die verschiedenen ästhe‐ tischen Positionen entwickelt, die er konsequent anwendet. So stehen Ausdrücke wie „äußerste Liebesmöglichkeit“, „Liebesnächte“, das „Sich-zu-dem-Aussätzigen-Legen“ für die Baudelairesche Position der Hingabe, „Heiligkeit“, „anonyme Arbeit“ sowie der Vergleich des Künstlerblicks mit dem Blick des Hundes für Cézannes ‚sachliche‘ Vor‐ gehensweise. Zum Hund als „Chiffre für den Maler“ siehe auch Meyer, „Rilkes Cé‐ zanne-Erlebnis“, S. 260. 150 Diesen hypostasierten Entwicklungsablauf bestätigt der Brief vom 13. 10., in dem es heißt, Cézanne sei „auch noch über die Liebe hinaus[ge]kommen; […] Dieses Aufbrau‐ chen der Liebe in anonymer Arbeit ist vielleicht noch keinem so völlig gelungen […]. Er […] wusste seine Liebe zu jedem Apfel zu verbeißen und in dem gemalten Apfel unterzubringen für immer.“ Der Brief endet mit Rilkes Feststellung von „instinktive[n] Ansätze[n] zu ähnlicher Sachlichkeit“ in seinen Neuen Gedichten („Briefe über Cé‐ zanne“, S. 616 f.) 151 Was er sehr wohl selbst wusste; siehe dazu die Äußerung im Anschluss an die Feststel‐ lung, wie nahe er selbst Cézannes sachlichem Sagen bereits gekommen sei: „Darum muss ich vorsichtig sein mit dem Versuch, über Cézanne zu schreiben, der nun natürlich viel Verlockung für mich hat. Nicht der […], der aus so privatem Gesichtspunkte Bilder begreift, ist berechtigt, über sie zu schreiben […].“ (Brief vom 18. 10., S. 622.) Cézanne noch in seinen letzten Lebensjahren Baudelaires Une Charogne „aus‐ wendig wusste“ 148 , äußert er die Vermutung: Gewiss fände man unter seinen früheren Arbeiten solche, in denen er sich gewaltig überwand zu der äußersten Liebesmöglichkeit. Die ‚Überwindung zur äußersten Liebesmöglichkeit‘ ist nichts anderes als die schon bekannte, aus Flauberts Légende de Saint-Julien-l’Hospitalier gewonnene bildliche Umschreibung für die künstlerische Hinwendung zum Schrecklichen und Widerwärtigen, die Rilke hier auch bei Cézanne vermutet 149 . Cézanne hat also dem Brief zufolge in Rilkes Augen zwei ‚Wendungen‘ hinter sich gebracht: die an den ausgestellten Bildern ablesbare Wendung zum ‚sachlichen Sagen‘ sowie, davor, eine aus seiner Vorliebe für Baudelaires Une Charogne erschließ‐ bare Wendung zum Schrecklichen und Widerwärtigen oder ‚argen Wirklichen‘, deren Spuren in den früheren Arbeiten aufzufinden sein müssten 150 . Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Rilke hier seine eigene künstlerische Entwick‐ lung auf Cézanne projiziert 151 . Doch bringt er die eigene Entwicklung zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich nur mit der an Cézanne beobachteten „Entwicklung zum sachlichen Sagen“ in Verbindung. In der Forschung hat man das für bare Münze genommen, weshalb dort stets nur vom „Cézanne-Erlebnis“ Rilkes die Rede ist und in der Einteilung und Charakterisierung der Entwicklungsstufen vom 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 275 152 So von Stahl in seinem „Stellenkommentar“ zur 18. Aufzeichnung (S. 928; mit Verweis auf die 22. Aufzeichnung). 153 Briefe, Bd. 1, S. 263. Die „neuen Bücher“ sind die Neuen Gedichte. ‚frühen Stil‘ gleich zum ‚sachlichen Sagen‘ übergegangen wird, ja, das Pro‐ gramm des „sachlichen Sagens“ mit dem der „harten Sachlichkeit“ gleichgesetzt wird 152 . Die Wendung „harte Sachlichkeit“ stammt ebenfalls von Rilke, hat je‐ doch bei ihm einen eigenen Sinn. Man findet sie in einem Brief an Jakob Baron Uexküll (19. 8. 1909), in dem Rilke seine Entwicklung seit dem Stunden-Buch erläutert: […] was jene neuen Bücher angeht, [kann ich Ihnen] mein gutes, klares Gewissen zusichern […]: jedes Wort, jeder Wortzwischenraum in jenen Gedichten ist mit äu‐ ßerster Notwendigkeit entstanden, unter dem Bewusstsein jener endgültigen Verant‐ wortlichkeit, unter deren innerem Gericht meine Arbeit sich vollzieht. Vielleicht sind Mängel meiner Natur oder nachzutragende Versäumnisse meiner Entwicklung die Ursache jener harten Sachlichkeit und Ungefühlsmäßigkeit des Dargestellten: viel‐ leicht sind gefälligere Wege denkbar: ich muss auf meinem, schweren, weiter. 153 Zunächst spricht er hier von der sprachlichen Form („jedes Wort, jeder Wort‐ zwischenraum“) seiner Gedichte, also der Position des ‚sachlichen Sagens‘, die mit „Ungefühlsmäßigkeit des Dargestellten“ beschrieben wird. Davon zu un‐ terscheiden ist „jene harte Sachlichkeit“, die im nachfolgenden Abschnitt erläu‐ tert wird: Glauben Sie nicht, lieber Freund, dass schon das Stunden-Buch ganz erfüllt war von der Entschlossenheit, in der ich (einseitig, wenn Sie wollen) zugenommen habe? Die Kunst nicht für eine Auswahl aus der Welt zu halten, sondern für deren restlose Ver‐ wandlung ins Herrliche hinein. Die Bewunderung, mit der sie sich auf die Dinge (alle, ohne Ausnahme) stürzt, muss so ungestüm, so stark, so strahlend sein, dass dem Ge‐ genstand die Zeit fehlt, sich auf seine Hässlichkeit oder Verworfenheit zu besinnen. Es kann im Schrecklichen nichts so Absagendes und Verneinendes geben, dass nicht die multiple Aktion künstlerischer Bewältigung es mit einem großen, positiven Über‐ schuss zurückließe, als ein Dasein-Aussagendes, Sein-Wollendes […]. (Ebd.) „[H]arte Sachlichkeit“ meint also die Wendung zum ‚argen Wirklichen‘, worauf schon „mein schwere[r] Weg“ am Ende des vorhergehenden Abschnitts ein‐ stimmte. Das wohlüberlegte Nebeneinander von „harte[r] Sachlichkeit und Un‐ gefühlsmäßigkeit des Dargestellten“ und die ganze Argumentation zeigen klar, dass Rilke in den Neuen Gedichten zwei unterscheidbare Vorgehensweisen am Werke sieht. Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 276 154 Auguste Rodin, I, S. 415 f. 155 Auch hier unterscheidet Rilke erkennbar zwischen Darstellungsweise und Sache. 156 Un Mangeur d’opium, S. 506. Der Satz ist eine Hinzufügung Baudelaires zum Original‐ text De Quinceys. Auch der infernalische Teil der Persönlichkeit gehört demnach zur Harmonie des Ganzen; siehe oben, S. 39. Die „Überwindung“ zum Schrecklichen, die im Brief an Clara mit dem Cé‐ zanne-Erlebnis in Verbindung gebracht ist, betrifft nun nicht nur die Gedicht‐ bücher, sondern Rilkes ästhetische Vorstellungen überhaupt, und sie ist nicht so neu, wie es scheint, sondern hat ältere und tieferreichende Wurzeln. Sie ist das Ergebnis eines über Jahre sich erstreckenden Reifeprozesses, dessen Beginn sich in der Auseinandersetzung mit Rodins Werk beobachten lässt. An dessen erstem Porträt, dem „Homme au nez cassé“, das den „Anforderungen der akademischen Schönheit [widersprach]“ und deshalb vom „Salon“ abgelehnt worden war, hatte Rilke schon 1902 im Kopf des „alternden, hässlichen Mannes“ die „Fülle von Leben“ erkannt, die in diesen Zügen versammelt war: […] der Umstand, dass es auf diesem Gesicht gar keine symmetrischen Flächen gab, dass nichts sich wiederholte, dass keine Stelle leer geblieben war, stumm oder gleich‐ gültig. Dieses Gesicht war nicht vom Leben berührt worden, es war um und um davon angetan, als hätte eine unerbittliche Hand es in das Schicksal hineingehalten wie in den Wirbel eines waschenden, nagenden Wassers. 154 Und so hat er seinerseits die Schönheit des Werkes definiert: […] ein Ding, das man schön nennen muss um seiner Vollendung willen. Aber nicht aus der unvergleichlichen Durchbildung allein ergiebt sich diese Schönheit 155 . Sie ent‐ steht aus der Empfindung des Gleichgewichts, des Ausgleichs aller dieser bewegten Flächen untereinander, aus der Erkenntnis dessen, dass alle diese Erregungsmomente in dem Dinge selbst ausschwingen und zu Ende gehen. War man eben noch ergriffen von der vielstimmigen Qual dieses Angesichtes, so fühlt man gleich darauf, dass keine Anklage davon ausgeht. Es wendet sich nicht an die Welt; es scheint seine Gerech‐ tigkeit in sich zu tragen, die Aussöhnung aller seiner Widersprüche und eine Geduld, groß genug für alle seine Schwere. (S. 416 f.) Diese Vorstellung von Schönheit, die die gelebte Vielfalt einer Person umfasst, trifft sich mit der Vorstellung Baudelaires von der Harmonie einer Persönlich‐ keit, die das ganze Individuum einschließt: Quelque incohérente que soit une existence, l’unité humaine n’en est pas troublée. Tous les échos de la mémoire, si on pouvait les réveiller simultanément, formeraient un concert, agréable ou douloureux, mais logiquement et sans dissonances. 156 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 277 157 Auguste Rodin, I, S. 413. 158 Seifert, Das epische Werk Rainer Maria Rilkes, S. 193. 159 Im dritten Teil des Stunden-Buches kann man noch nicht von einer „ästhetischen Be‐ wältigung“ des Großstadterlebnisses sprechen (Seifert, S. 192), jedenfalls nicht von einem ästhetischen Erlebnis im Sinne Baudelaires. 160 Siehe den Brief an Clara vom 31. 8. 1902: „Die Gesamtwirkung ist unnachahmlich schön - ein Ereignis für mich - etwas, was ich mir, ohne es zu wissen, gewünscht habe, lange.“ Und: „Das hat etwas Kirchliches für mich, dieses Panthéon. Ich musste auf der Schwelle den Hut abnehmen, obwohl ich sah, dass alle Leute nachlässig, mit bedecktem Kopfe darin herumgingen.“ (Briefe 1902-1906, S. 23 und 25) Vgl. auch den Kommentar z. St. (Werke, Bd. 3, S. 934). 161 Vgl. Batterby, Rilke and France, S. 123. Die Briefe vom 25. 5. und 29. 5. 1906 zeigen, dass Rilke sich zu dieser Zeit mit den Aufzeichnungen beschäftigte. Baudelaire (und zuvor schon Dante) war für Rodin, wie Rilke darlegt, jemand gewesen, „der ihm vorangegangen war“ in der Suche nach dem Leben, das „größer war, grausamer und ruheloser“, als es an der Oberfläche erscheint 157 . Rilke hat so über Rodin und Baudelaire das „Entstellte und Hässliche als Ge‐ genstand der Kunst“ entdeckt 158 . Diese „Neuorientierung“ seines Schönheitsbe‐ griffs blieb freilich zunächst theoretisch und noch ohne Folgen für das Werk 159 ; umgesetzt wurde sie erst in den Aufzeichnungen. Die schwierige und langwierige Wendung zum ‚argen Wirklichen‘ hat ihre Spuren auch in der Entstehung der 22. Aufzeichnung hinterlassen. Im Brief vom 19. 10. 1907 nimmt Rilke zu Beginn Bezug auf eine schon existierende, Clara bekannte Fassung dieser Aufzeichnung: Du erinnerst sicher … aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids die Stelle, die von Baudelaire handelt und von seinem Gedichte: „Das Aas“. Diese frühere Version dürfte während des Paris-Aufenthalts von 1905 / 1906 entstanden sein, wie die Eingangsbeschreibung von Puvis de Chavannes’ Bild der die Stadt segnenden Schutzpatronin Genoveva nahelegt, die sich auf Rilkes Pantheon-Besuch im Jahre 1902, also zu Beginn seines ersten Paris-Aufenthalts bezieht, als der gerade Angekommene noch voll hochgespannter Erwartung war und das Fresko ihn tief beeindruckte 160 . Eine Wiederaufnahme dieses Erlebnisses und seine Übertragung auf Malte sind kaum vor dem positiv verlaufenden zweiten Aufenthalt vorstellbar. Wahrscheinlich ist die Aufzeichnung sogar erst im Frühsommer 1906 entstanden, als Rilke nach dem Ende seines Engagements bei Rodin wieder ungestört für sich selbst arbeiten konnte 161 und als auch der Stimmen-Zyklus des Buchs der Bilder entstand, in dem er sich nach Art Baude‐ Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 278 162 Acht der insgesamt neun Gedichte sind vom 7. bis 12. 6. 1906 in Paris entstanden, das Lied des Aussätzigen nur wenig früher (der Kommentar datiert „1905 / 1906“, Werke, Bd. 1, S. 832 ff.). Die Figur des „Aussätzigen“ stellt eine direkte Verbindung zur 22. Auf‐ zeichnung her. 163 Auguste Rodin, I, S. 417. 164 Diese Reihenfolge weicht von Rilkes sonstiger Gewohnheit ab, nach der er Briefe als erste Entwürfe ansah, die sich nach allfälligen Kürzungen und Überarbeitungen in die Aufzeichnungen übernehmen ließen. - Hinter einem solchen Vorgehen verbirgt sich eine gewaltige persönliche Schreib- und nicht zuletzt Organisationsleistung. Denn Rilke konnte nicht erwarten, seine Briefe von den Adressaten zurückzubekommen, wenn er sie brauchte. Also musste er Abschriften von interessanten Textstellen machen, sie aufbewahren und bei seinen zahlreichen Ortswechseln mit sich führen (oder erreichbar deponieren). In einem Brief vom 30. 8. 1907 an Clara, in dem er sich an seine erste An‐ kunft in Paris vor damals fünf Jahren erinnert (Briefe 1906-1907, S. 314), spricht er von seinem „Briefbuch“, demzufolge er Clara am 2. 9. 1902 geschrieben habe; was er ge‐ schrieben hat, weiß er in diesem Fall freilich nicht mehr (das System war wohl noch nicht voll entwickelt bzw. er konnte bei Clara mit einer eventuellen Überlassung der Briefe rechnen). Die Daten könnten übrigens darauf hinweisen, dass er hier eben die Beschreibung des fünf Jahre zurückliegenden Pantheon-Besuchs vor Augen hatte. Was Maltes Charogne-Erkenntnis betrifft, lag ihm natürlich sein Manuskript der Aufzeich‐ nungen vor bzw. das, was davon schon existierte. laires den „Fortgeworfenen“, den „éclopés de la vie“, widmete 162 . In eine solche Situation der Hinwendung zum ‚argen Wirklichen‘ passt die Aussage Maltes, dass er Baudelaires Une Charogne jetzt „verstehe“, was nichts anderes bedeutet als die Wiederholung und Fortsetzung der an Rodins Homme au nez cassé ge‐ wonnenen Erkenntnis Rilkes, dass eine Kunst, die „eine gewissenhafte und gläubige Auslegung des Lebens geben“ will 163 , auch im „Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen [hat], das unter allem Seienden gilt“. Nach dem Cézanne-Erlebnis vom Herbst 1907 scheint die Aufzeichnung dann noch einmal überarbeitet worden zu sein, wobei ihr fragmentarischer Charakter, der zunächst wohl der Mühe des Erkennens zu verdanken war, erhalten blieb und durch die Überschrift „Ein Briefentwurf “ erklärt wurde, die für Rilke zu‐ gleich das zeitliche Verhältnis zum Brief an Clara festhielt 164 . Bei der Überar‐ beitung kam es zu sprachlichen und gedanklichen Angleichungen zwischen beiden Texten, darunter zu der bemerkenswerten Parallele zwischen Maltes Feststellung zu Baudelaires Gedicht („Es kann sein, dass ich es jetzt verstehe.“) und Rilkes Äußerung zur Malte-Figur („Und mit einem Mal [und zum ersten] begreife ich das Schicksal des Malte Laurids.“). Die Parallele, die den engen Zu‐ sammenhang der beiden Vorgänge unterstreicht, grenzt sie zugleich gegenei‐ nander ab: erst nach Rilkes produktiver Auseinandersetzung mit Baudelaire war die Wendung Maltes zum argen Wirklichen möglich und damit der endgültige 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 279 165 Das bestätigt der Brief an Clara vom 8. 9. 1908, in dem Rilke schreibt, er sei „nach den Cézanne-Briefen, die so nah und hart mit ihm sich berührten, an den Grenzen seiner [Maltes] Gestalt angekommen“ gewesen und hätte das Buch eigentlich damals schreiben müssen (Briefe aus den Jahren 1907-1914, hrsg. von R. Sieber-Rilke und C. Sieber, Leipzig 1933, S. 54). 166 59. Aufzeichnung, S. 600. Durchbruch zum Konzept der Figur 165 . Den letzten Anstoß zu dieser Entwick‐ lung gab das Cézanne-Erlebnis mit Rilkes Annahme der zwei ‚Wendungen‘ Ce‐ zannes, deren erste seine eigene, an Rodin gewonnene Erkenntnis wiederholte. Für Rodin wie für Cézanne war in seinen Augen also Baudelaire die treibende ästhetische Kraft gewesen. Die vorletzte Aufzeichnung des Pariser Zyklus, die 59., befasst sich ein letztes Mal mit der Wendung zum ‚argen Wirklichen‘ und bringt die Entwicklung, die in der 18. Aufzeichnung ihren Anfang genommen hat, zum Abschluss. Das ge‐ schieht ohne theoretische Reflexion in rein poetischer Umsetzung, aber wieder und dazu mit verstärktem Rückgriff auf Baudelaire. Wieder steht, wie am An‐ fang von 18, ein Blinder im Mittelpunkt, diesmal ein blinder Zeitungsverkäufer am Parc du Luxembourg. Von seiner schäbigen Kleidung und seinem verwahr‐ losten Äußeren, von seiner Art, den Passanten Platz zu machen und sich ans Gitter des Parks zu drücken, während seine Stimme in unregelmäßigen Ab‐ ständen Zeitungen anpreist, wendet Malte lange Zeit den Blick ab: „Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme mich aufzuschreiben, dass ich oft in seiner Nähe den Schritt der andern annahm, als wüsste ich nicht um ihn.“ Immer dann, wenn die Passanten um ihn herum den Blinden wahrzunehmen beginnen („Und die Leute neben mir sahen sich um und suchten die Stimme.“), weicht Malte nach „innen“ aus, wo seine Einbildungskraft damit beschäftigt ist, ein ins Erbarmenswerte gesteigertes Bild des Blinden zu entwerfen: Nur ich tat eiliger als alle, als wäre mir nichts aufgefallen, als wäre ich innen überaus beschäftigt. Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiß trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich musste ihn machen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weiß jetzt, dass es mir ein wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus steifigem Elfenbein zu denken, die bei allen Althändlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine Pietà trat vor und ab, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt […] 166 Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 280 Ein trostloser Bartnachwuchs und ein schräg aufwärts gerichteter leerer Blick, die Kleidung und die Art, sie zu tragen („ein alter, hochgewölbter, steifer Filzhut, den er trug, wie alle Blinden ihre Hüte tragen: ohne Bezug zu den Zeilen des Gesichts, ohne die Möglichkeit, aus diesem Hinzukommenden und sich selbst eine neue äußere Einheit zu bilden“), werden zu wesentlichen Bestandteilen von Maltes Vorstellung des Blinden. Mit der Zeit bringt er es in seiner „Feigheit, nicht hinzusehen“ und stattdessen seine Einbildungskraft arbeiten zu lassen, so weit, „dass das Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlass stark und schmerzlich in mir zusammenzog zu […] hartem Elend“. „Davon bedrängt“ be‐ schließt er eines Tages, die „zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben“ und „sofort auf‐ merksam an ihm vorbeizugehen“ (S. 601) - sich also dem ‚argen Wirklichen‘ zu stellen. Es ist ein Sonntag im beginnenden Frühling, die Stadt scheint leicht und heiter, die Menschen drängen sich freudig bewegt in den Straßen, als Malte den Blinden plötzlich vor sich sieht: Ich wusste sofort, dass meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider sich fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs. Mögli‐ cherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. (S. 601 f.) Was er sieht, ist weitaus elender, entsetzlicher und mitleiderregender als alles von ihm Eingebildete. Aber das ist nicht alles: Ich war stehngeblieben, und während ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, dass er einen andern Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, dass ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, dass sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen? Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. (S. 602) 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 281 167 Der Vergleich mit dem Tragen des Wintermantels ist ohne sehr genaue Rilke-Kenntnis nicht zu verstehen. Zum Glauben als Akt der Lebensbejahung siehe das „Nachwort“ von Engel, S. 336, Anm. 34. 168 Rilke noch in Das Lied des Blinden (Buch der Bilder II, 2) und Der Blinde (Der neuen Gedichte anderer Teil), Baudelaire in Les Aveugles (Les Fleurs du mal XCII). Auf Bezie‐ hungen zwischen den Stücken weist schon de Sugar hin (Baudelaire et Rilke, S. 71 ff.). Siehe auch Stahl, etwas zaghaft, in seinem frühen Rilke-Kommentar, S. 224: „Stoff und Behandlung des Motivs schein[en] auf Baudelaire zu verweisen“; der Hinweis ist in der Neubearbeitung getilgt worden („Stellenkommentar“, in: Werke, Bd. 3, S. 1001). 169 Kap. V: „L’Art mnémonique“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 699). Malte erblickt die sonntägliche Kleidung des Blinden mit ihren unsäglichen Farben und dem neuen Hut und begreift sie sogleich als einen Ausdruck der Teilnahme an dem frühlingshaften Sonntagsgeschehen, das der Blinde doch nicht sehen kann. Dieser Glaube des Blinden an das für ihn nicht Sichtbare zeigt sich ganz ungeschützt und daher rührend: „wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite“. Und plötzlich erscheint er Malte als ein Bild des Glaubens überhaupt und wird für ihn zu einem neuen Gottesbeweis, der ihn zu einem Gebet nötigt: Wenn es wieder Winter wird und ich muss einen neuen Mantel haben, - gieb mir, dass ich ihn so trage, solange er neu ist. - so, das heißt: glaubend und lebensbejahend, wie der Blinde 167 . In der 59. Aufzeichnung ist Rilke Baudelaire so nahe wie nie zuvor. Das be‐ ginnt beim allgemeinen Thema, der Elendsfigur des Blinden, der sich beide Au‐ toren zugewandt haben 168 , und setzt sich fort, wenn Malte auf seiner Einbil‐ dungstätigkeit insistiert („Ich war beschäftigt, ihn mir vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiß trat mir aus vor An‐ strengung.“), was er schon anlässlich des blinden Gemüseverkäufers in der 18. Aufzeichnung mit deutlicher Baudelaire-Anspielung getan hatte. Auch für die Arbeit der Einbildungskraft an einem „Toten“ - „Denn ich musste ihn machen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Be‐ standteile; der ganz und gar innen zu leisten ist.“ - gibt es ein Pendant bei Bau‐ delaire und zwar im Peintre de la vie moderne, wo von Constantin Guys’ Ar‐ beitsweise die Rede ist und von dessen „mémoire résurrectionniste, évocatrice […] qui dit à chaque chose: ‚Lazare, lève-toi! ‘“ 169 . Maltes Phantasie macht bei ihrer ‚Auferweckungsarbeit‘ Anleihen bei traditionellen religiösen Leidmustern aus der bildenden Kunst („abgenommene Christusse“, „irgendeine Pietà“). In die Vorstellung von der „endgültig schmerzvolle[n] Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehalten war“ geht mit dem zum Himmel gerichteten Blick der Blinden dann wieder ein zentrales Motiv aus Bau‐ delaires Les Aveugles ein: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 282 170 Les Fleurs du mal XCII, V. 5-8. Zu den in der Forschung diskutierten Quellen des Motivs, u. a. ein im Louvre befindlicher Stich nach einem Bild Pieter Brueghels, siehe Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1021, sowie oben, S. 163. 171 Vgl. dasselbe Vorgehen in der 50. Aufzeichnung, S. 578: „Ich nahm mir nach dieser Er‐ fahrung vor, in ähnlichen Fällen immer gleich auf die Tatsachen loszugehen.“ Leurs yeux, d’où la divine étincelle est partie, Comme s’ils regardaient au loin, restent levés Au ciel; on ne les voit jamais vers les pavés Pencher rêveusement leur tête appesantie. 170 Zwar fällt Malte mit seiner „fantasmagorie“ des blinden Zeitungsverkäufers zu‐ nächst noch einmal in seine frühere Gewohnheit des Ausweichens vor der Wirklichkeit in die Welt der Phantasie (und der Kunst) zurück und damit hinter seine in der 22. Aufzeichnung gewonnene Einsicht. Doch erlebt er die bekannten Abläufe jetzt bewusster als früher, auch das quälende Überschießen der Einbil‐ dungskraft, die sich von ihrem Anlass abgelöst und verselbständigt hat, und er kennt das Mittel dagegen, nämlich „die zunehmende Fertigkeit [s]einer Einbil‐ dung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben“ 171 . Mit dem Satz „Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.“, der das sachlich-prosaische Pendant zum pathetischen ersten Vers von Les Aveugles ist („Contemple-les, mon âme; ils sont vraiment affreux! “), leitet Rilke die ‚Baudelairesche Wendung‘ ein: Malte fasst den Entschluss, „sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebes‐ nächte“ (22, S. 505) - seine künstlerische Anschauung überwindet sich zu der ‚argen Wirklichkeit‘ des Blinden. Und jetzt geschieht das, was er in der 18. Auf‐ zeichnung vorausgeahnt und „namenlos“ gefürchtet hat. Er fängt an, „alles an‐ ders zu sehen und doch zu leben“ (S. 490), der „Eindruck“ des Blinden „verwan‐ delt sich“: die „Hingegebenheit seines Elends“ (S. 601) ist ärger als gedacht und doch ist sein Anblick im farbenfrohen Sonntagsstaat zugleich unsagbar tröstlich. Denn für Malte ist „die Zeit der andern Auslegung“ angebrochen, in der „kein Wort auf dem andern bleib[t]“ und seine Hand „Worte schreib[t], die [er] nicht mein[t]“ (S. 490): so findet er einen Gottesbeweis, obwohl er „sie alle vergessen und keinen je verlangt [hat], denn welche ungeheure Verpflichtung läge in [s]einer Gewissheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt.“ (S. 602). Und auf einmal kann er „alles begreifen und gutheißen“ (S. 491) und ist im Einvernehmen mit der Welt: Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Dass wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen? Du allein weißt es. (S. 602) 5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘ 283 172 Siehe dazu Ryan, Umschlag und Verwandlung, passim. Ryan spricht Malte allerdings die Erfahrung des Umschlags ab („Diese von Malte erhoffte, aber nie erreichte Umwand‐ lung […]“, S. 11), obwohl sie zugeben muss, dass die Vorstellung davon sich „wohl am deutlichsten im Malte Laurids Brigge aus[prägt]“ (ebd.). 173 Für Rilkes Wohlbefinden war die Wohnumgebung sehr wichtig. Wiederholt beklagt er, dass sein Zimmer es mit ihm ‚nicht gut gemeint habe‘. Baudelaires Gedicht muss ihn daher beeindruckt haben. Und wo zuvor „hartes“ und „tiefes Elend“ war, ist „Seligkeit“ geworden, wie sie anders nicht sein kann. Denn dieses Mal hat Malte es über sich gebracht, „den Schritt [zu] tun“ (S. 491). Was sich in der Begegnung mit dem blinden Zeitungsverkäufer ereignet, ist der Vorgang des ‚Umschlags‘ bzw. der ‚Verwandlung‘, der Rilkes Dichtung seit den mittleren Gedichten prägt 172 . Allerdings weicht die hier geschilderte Form der spiegelbildlichen Verdoppelung einer Vorstellung bzw. eines Anblicks von den in den Neuen Gedichten üblichen Formen des Vorgangs ab. Dazu könnte ein weiteres Mal Baudelaire die Anregung gegeben haben mit seinem Prosagedicht La Chambre double (Le Spleen de Paris V), in dem ein ekstatischer Zustand in sein Gegenteil ‚umschlägt‘. Im Zustand des Enthusiasmus erlebt Baudelaires Ich dort sein Zimmer zunächst als eine „chambre spirituelle“, bevor es, durch äußere Einwirkung aus der Ekstase gerissen, in die arge Wirklichkeit des „taudis“ zu‐ rückfällt, das es tatsächlich bewohnt 173 . In einem zweifachen Durchgang werden somit die Einzelheiten des Zimmers einmal im verwandelten ekstatischen und einmal im ‚zerstörten‘ realen Zustand beschrieben. Ähnliches geschieht in den Aufzeichnungen mit dem Anblick des Blinden, jedoch in umgekehrter Anord‐ nung: die Einbildungskraft entwirft einen ‚zerstörten‘ Zustand, das „tiefe Elend“; der darauf folgende Blick auf die viel erbarmenswürdigere Wirklichkeit aber bewirkt beim Betrachter einen ekstatischen Zustand, die „Seligkeit“. Die Um‐ kehrung der Reihenfolge ist kein Zufall, sondern die Folge von Maltes Entwick‐ lung seit der 18. Aufzeichnung. Sie kündet, allem Klagen zum Trotz, von Rilkes tiefem Optimismus und seiner Lebensbejahung, so wie andererseits der Fall aus dem Zustand des „idéal“ in den „ennui“ den tiefen Pessimismus und die Zerris‐ senheit Baudelaires offenbart. Paradoxerweise ist das Ergebnis der mit Baude‐ laires Hilfe vollzogenen Wendung Rilkes zum ‚argen Wirklichen‘ also gerade kein Baudelairesches Ergebnis. Optimismus spricht auch aus dem Schluss der 59. Aufzeichnung, mit dem Rilke sich noch einmal auf Baudelaire bezieht. Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 284 174 Zu Baudelaires Glaubensproblem siehe den Kommentar zu Les Aveugles (Œuvres com‐ plètes, Bd. 1, S. 1021). 175 Der Schluss der 59. Aufzeichnung, zumal der Satz „Dass wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen.“ antwortet natürlich auch auf die Hiobsklage am Ende der 18. Aufzeichnung. Das gehört zu den inneren Bezügen des Textes und seinen Kompo‐ sitionsprinzipien. Siehe dazu Fülleborn, „Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1961), S. 160 ff. O cité! Pendant qu’autour de nous tu chantes, ris et beugles, Éprise du plaisir jusqu’à l’atrocité, Vois! Je me traîne aussi! Mais, plus qu’eux hébété, Je dis: Que cherchent-ils au Ciel, tous ces aveugles? (V. 10-14) Mit der melancholischen Schlussfrage, was die Blinden mit ihrem aufwärts ge‐ richteten leeren Blick am Himmel suchen, stellt Baudelaire die verbreitete Vor‐ stellung vom ‚sehenden‘ Blinden in Frage, der seiner äußeren Blindheit zum Trotz oder gerade ihretwegen die innere Wahrheit, also Gott, finden kann: blind, wie sie sind, können die Blinden nur das Falsche am falschen Ort suchen 174 . Rilke, dem die sonntägliche Kleidung des blinden Zeitungsverkäufers zum aussage‐ kräftigen Symbol für dessen naiven Glauben geworden ist, sieht in diesem Glauben einen Beweis für die Existenz Gottes. Das ist seine persönliche Antwort auf Baudelaires Zweifel. Kann man sich ein intensiveres Zwiegespräch zweier Dichter vorstellen? 175 6. Kindheit und Künstlertum Rilke wie Baudelaire sehen einen engen Zusammenhang zwischen Künstlertum und Kindheit. In Rilkes Fall geht das schon daraus hervor, dass Maltes Kind‐ heitserinnerungen neben den Paris-Erlebnissen und den historischen Lektüre‐ reminiszenzen den dritten großen Themenkreis der Aufzeichnungen stellen, so wie Kindheit überhaupt eines der bevorzugten Themen des frühen und mittleren Rilke ist. Baudelaire hingegen hat sich über Künstler und Kindheit vor allem in theoretischer Form in seinen ästhetischen Schriften geäußert. Zentral unter seinen theoretischen Vorgaben ist die Vorstellung von der „perception enfan‐ tine“ des Künstlers, die ihn im Peintre de la vie moderne zu der bekannten Defi‐ 6. Kindheit und Künstlertum 285 176 Dazu und zur vermuteten Herkunft dieses wahrnehmungspsychologischen Gedankens siehe oben, S. 68 ff. 177 Diesen Gedanken Baudelaires hat Rilke seltsamerweise mit Schweigen übergangen, obwohl er über seine eigene empfindsame Veranlagung wiederholt geklagt hat. 178 „C’est dans les notes relatives à l’enfance que nous trouverons le germe des étranges rêveries de l’homme adulte, et, disons mieux, de son génie.“ (Un Mangeur d’opium, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 442-517, hier: S. 497.) nition des künstlerischen Genies als der „enfance retrouvée à volonté“ 176 geführt hat. Wegen der Intensität der Wahrnehmung, die der des Kindes vergleichbar ist, das etwas zum ersten Mal erblickt, fordert Baudelaire für den Künstler „or‐ ganes virils et […] l’esprit analytique“, die der Sensibilität Grenzen setzen können und eine Ordnung des Wahrgenommenen im Kunstwerk möglich ma‐ chen 177 . Der zweite Beitrag zum Thema findet sich im Mangeur d’opium, einer Adaptation von De Quinceys Confessions of an English Opium Eater. Dort weist Baudelaire im vierten Kapitel, das den Titel „Le Génie enfant“ trägt, darauf hin, dass man in den Kindheitserzählungen De Quinceys bereits den Keim für die Träume des Erwachsenen und für sein Genie finden könne 178 . Das lasse sich bei allen Künstlern beobachten, nicht notwendig als materialiter greifbare Über‐ einstimmung, aber als ähnlicher seelischer und atmosphärischer Eindruck. Denn Kummer und Freuden, die der Künstler in der Kindheit wegen seiner au‐ ßergewöhnlichen Sensibilität übermäßig gesteigert erlebe, würden später zum Ausgangspunkt eines Kunstwerks: Tel petit chagrin, telle petite jouissance de l’enfant, démesurément grossis par une exquise sensibilité, deviennent plus tard dans l’homme adulte, même à son insu, le principe d’une œuvre d’art. (S. 498) Ein „philosophischer“ Vergleich zwischen den Werken eines reifen Künstlers und seinem seelischen Zustand im Kindesalter könne zeigen, dass das Genie die „enfance nettement formulée, douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et puissants“ sei (ebd.) - hier ist das Bild aus dem Peintre de la vie moderne ein realer Sachverhalt geworden. So erlebe etwa De Quincey als Erwachsener unter der Wirkung des Opiums seine „Chagrins d’enfance“ (Kap. VII ) noch einmal in gesteigerter Form: Dès lors, sa première existence entra dans la seconde, et se confondit avec elle pour ne faire qu’un tout aussi intime qu’anormal. Il occupa sa nouvelle vie à revivre sa première. […] il revit tout l’univers de son enfance, mais avec la richesse poétique qu’y ajoutait maintenant un esprit cultivé, déjà subtil, et habitué à tirer ses plus grandes jouissances de la solitude et du souvenir. (S. 505) Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 286 179 Einen ähnlichen Gedanken äußert Freud in „Der Dichter und das Phantasieren“, wenn er das Tagträumen des Dichters beschreibt. Nach ihm lässt die Dichtung „sowohl Ele‐ mente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen“; siehe dazu oben, S. 250, Anm. 93, mit einem Beispiel aus den Aufzeichnungen. Die schmerzlichen Kindheitserlebnisse nähmen in den Halluzinationen des Opi‐ umrausches verwandte Formen und Gestalten an (Kap. VIII : „Visions d’Ox‐ ford“), weil im „Psalimpsest“ des Gedächtnisses alles gespeichert werde und nichts verlorengehe. Es bedürfe nur eines geeigneten Anlasses, um das zeitweise Vergessene vor dem inneren Auge wieder erstehen zu lassen: Qu’est-ce que le cerveau humain, sinon un palimpseste immense et naturel? […] Des couches innombrables d’idées, d’images, de sentiments sont tombées successivement sur [le] cerveau, aussi doucement que la lumière. […] L’oubli n’est […] que momentané; et dans telles circonstances solennelles, dans la mort peut-être, et généralement dans les excitations intenses créées par l’opium, tout l’immense et compliqué palimpseste de la mémoire se déroule d’un seul coup, avec toutes les couches superposées de sentiments défunts, mystérieusement em‐ baumés dans ce que nous appelons l’oubli. (S. 505 f.) Die in der Kindheit gemachten Erfahrungen sind nach Baudelaire also im Ge‐ dächtnis gespeichert und können vom Künstler wieder abgerufen werden, wie vergessen oder verdrängt sie auch sein mögen. Sie sind die Muster für die Er‐ fahrungen des Erwachsenen, für seine Vorstellungen und Phantasien, was sie zum Keim des künstlerischen Werks werden lässt 179 . Auch Rilke hat sich schon früh über den Zusammenhang von Kindheit und Künstlertum geäußert. In seinem Aufsatz „Über Kunst“ (1898) schreibt er, dass Kunst eine „Lebensauffassung“ sei, die als ein „fortwährendes Vergeuden“ und eine „naive“ und „unwillkürliche [Art zu sein]“ der Kindheit ähnele, diesem „Reich der großen Gerechtigkeit und der tiefen Liebe“, mit der das Kind alle Dinge gleichermaßen bedenke: Kein Ding ist wichtiger als ein anderes in den Händen des Kindes. Es spielt mit einer goldenen Brosche oder mit einer weißen Wiesenblume. Es wird in der Ermüdung beide gleich achtlos fallen lassen und vergessen, wie beide ihm gleich glänzend schienen in dem Lichte seiner Freude. Es hat nicht die Angst des Verlustes. Die Welt ist ihm noch die schöne Schale, in der nichts verloren geht. Und es empfindet als sein Eigentum Alles, was es einmal gesehen, gefühlt oder gehört hat. Alles, was ihm einmal begegnet ist. Es zwingt die Dinge nicht, sich anzusiedeln. […] sie müssen alle durch seine Liebe 6. Kindheit und Künstlertum 287 180 „Über Kunst“, in: Werke, Bd. 4, S. 114-120, hier: S. 116 f. 181 Ebd. Der Gedanke ist bildlich ausgedrückt und dazu verschränkt angeordnet. 182 „[…] Beschädigungen und Entbehrungen und Leiden, die das Kind René hat ertragen müssen und an deren Aufarbeitung der Dichter sein Leben lang litt“ (Stahl, „Der Dichter der Kindheit“, in: Werke, Bd. 3, S. 779-789, hier: S. 780). 183 Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Leipzig 1928, S. 42. Nach ihrer Überzeugung hat es Rilke „immer an Mut [gefehlt]“, diese Erinnerungen heraufzubeschwören und den „Abstieg“ zu leisten „bis dorthin, wo ihm wahrhaftig sein Material lag, dem er noch nie mit der neu erworbenen Sachlichkeit in die Augen geschaut hatte - mit jener un‐ voreingenommenen furchtlosen Sachlichkeit, […] die mit dem Urgrund des Lebens rückhaltlos sich zusammentat.“ (Ebd.) Sie verweist dafür auf wiederholte diesbezügliche Äußerungen, die er ihr gegenüber gemacht habe (S. 43). hindurch. Und was einmal in der Liebe aufleuchtete, das bleibt darin im Bilde und lässt sich nie mehr verlieren. Und das Bild ist Besitz. Darum sind Kinder so reich. 180 Wenn die Erziehung einsetze, würden aber die individuellen kindlichen Ein‐ drücke „durch überkommene und historisch entwickelte Begriffe ersetzt und die Dinge, der Tradition gemäß, zu wertvollen und unbedeutenden, erstrebens‐ werten und gleichgiltigen [ge]stempelt“. Dann entscheide sich, ob die frühere Fülle der Dinge und ihrer Bilder erhalten bleibe oder wie eine sterbende Stadt unter dem Aschenregen eines Vulkans versinke: Entweder das Neue wird der Wall, der ein Stück Kindsein umschirmt, oder es wird die Flut, die es rücksichtslos vernichtet. (S. 117) Letzteres geschieht nach seiner Überzeugung dann, wenn das Kind „älter und verständiger im bürgerlichen Sinn“ und ein „brauchbarer Staatsbürger“ im Sinne „seiner Zeit“ wird; wenn es hingegen „einfach ruhig weiter von tiefinnen, aus seinem eigensten Kindsein heraus [reift]“, dann wird es „Mensch im Geiste aller Zeiten: Künstler“ 181 . Ein Künstler ist also, wer sich auch als Erwachsener ein wesentliches Stück seines „Kindseins“ bewahrt hat, seiner individuellen und ursprünglichen Offenheit für die Welt, die Rilke hier mit seinen Lieblingsbe‐ griffen „Liebe“ und „von tiefinnen“ umschreibt. Da solches den gängigen Erzie‐ hungsvorstellungen zuwiderläuft, sind Konflikte mit der Gesellschaft absehbar, wie er selbst sie in einem schwierigen Elternhaus zur Genüge erlebt hat 182 . Lou Andreas-Salomé, die ihn so gut kannte wie kaum jemand sonst, hat von „fern‐ sten, dunkelsten Kindererinnerungen“ gesprochen, die er zu bewältigen hatte, was er in den Satz „seine Kindheit nochmals zu leisten“ gefasst habe 183 . Rilke Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 288 184 Er hat die Erfahrungen seiner Kindheit unter anderem in der „Legende“ vom Verlorenen Sohn gestaltet (siehe unten, S. 298 ff.). Andere Verarbeitungen dieser Problematik finden sich in den frühen Novellen Die Letzten und Ewald Tragy. Nach Andreas-Salomés Worten sah Rilke selbst darin aber ein Ausweichen vor der eigenen Kindheit, weil er „Erfundenes an ihre Stelle [gesetzt]“ habe (S. 43). 185 Siehe Stahl, „Kommentar“, S. 867 ff. („Entstehung“). kannte also aus eigener Erfahrung, wovon er in seinem Aufsatz sprach 184 . Von Baudelaires kunstkritischen Schriften und ihren wahrnehmungspsychologi‐ schen Implikationen dürfte er dagegen damals noch keine genauere Kenntnis gehabt haben. Daher das etwas naive Insistieren auf der puren Fülle und un‐ voreingenommenen Ursprünglichkeit der kindlichen wie der künstlerischen Wahrnehmung. Spätestens seit dem zweiten Paris-Aufenthalt und der engeren Freundschaft mit Rodin wird er jedoch Baudelaires Überlegungen zu Kindheit und Künstlertum gekannt haben, die ihn schon aus persönlichen Gründen be‐ eindrucken mussten. Jedenfalls scheinen in manchen Erlebnissen Maltes Ge‐ danken von Baudelaire auf. In der 10. Aufzeichnung ruft Malte seine Kindheit auf. Sie erscheint ihm dort zunächst wie ein Antidot gegen seine Einsamkeit und Furcht in der großen Stadt, über das er allerdings nicht verfügen kann: „Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben.“ (S. 464 f.) Zuvor schon waren ihm vereinzelt Kindheitserinnerungen gekommen wie die an den „bösen, fürstlichen“ Tod seines Großvaters Brigge (8), die von der Vor‐ stellung der vielen banalen und unpassenden Todesarten in der Stadt hervor‐ gerufen war, oder die an die Erscheinung der verstorbenen Christine Brahe (15), die nach Rilkes erstem Plan das Werk eröffnen sollte 185 . Diese Aufzeichnungen, die Rilke aus seinen nordischen Quellen geschöpft hat, setzen in allgemeiner Form die Themen Tod und Spuk als eine von Maltes zentralen Kindheitswahr‐ nehmungen. In der 20. Aufzeichnung sind dann anlässlich eines Fiebers mit der gewünschten Erinnerung auch „alle verlorenen Ängste“ seiner Kindheit wieder da: Die Angst, dass ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, dass dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, dass dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten an‐ kommen würde, und die drückende Sorge, dass damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles für immer; die Angst, dass der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, für das 6. Kindheit und Künstlertum 289 186 19. Aufzeichnung, S. 496 f. Lou Andreas-Salomé verweist zu dieser Angst auf einen Kindheitstraum Rilkes von einem aufgeworfenen Grab und einem hoch aufgerichteten Grabstein mit seinem Namen (Rainer Maria Rilke, S. 14). Beängstigend „Großes“ auch in den Aufzeichnungen 23 und 47. 187 In letzterem Fall erfährt das Kind nicht nur das „Grauen“ des Erlebnisses, sondern auch die „Angst“, über das Erlebnis reden zu müssen und es noch einmal auf andere Weise durchzumachen (S. 520 f.). keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst, dass ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, dass irgend‐ eine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst, dass ich schreien könnte und dass man vor meiner Tür zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, dass ich mich verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, dass ich nichts sagen könnte, weil alles un‐ sagbar ist, - und die anderen Ängste … die Ängste. Dazu kommt noch die Furcht vor dem „Großen“, die seine häufigen Fieberanfälle begleitet hat: Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett standen und mir den Puls fühlten und mich fragten, was mich erschreckt habe: Das Große. 186 sowie die Ängste, in die erfreuliche Unternehmungen wie die Verkleidungs‐ spiele (32) oder das ungewöhnliche Erlebnis „mit der Hand“ (29) münden konnten 187 . Diese vielfältigen Ängste des Kindes leben im Erwachsenen, der sein Leben in der fremden großen Stadt meistern muss, bei geringfügigen Anlässen in verwandelter Form wieder auf und werden durch die gewachsene Wahrneh‐ mungsfähigkeit, Phantasie und Empathie des Dichters gesteigert. Deshalb kann Malte bei alltäglichen Gängen durch die Straßen von Paris von den Dingen, die er sieht, mit Angst geradezu überflutet werden - so in der exemplarischen 18. Aufzeichnung nacheinander durch den blinden Blumenkohlverkäufer, die ab‐ gerissenen Häuser, den Sterbenden in der Cremerie und die wogende Faschings‐ menge. Auch in seiner Angst vor dem sozialen Abstieg und vor der Zugehörig‐ keit zu den „Fortgeworfenen“ (16) finden die alten Ängste neuen Ausdruck. Und nicht zuletzt lassen sie ihn historische Ereignisse begreifen, wie die Wirren des 14. Jahrhunderts, die ihm durch die Erinnerung an einen Zusammenstoß mit einem Erwachsenen und dessen feindselige Reaktion verständlich werden (62): Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 290 188 So auch Stahl, „Kommentar“, S. 1016, der aber nicht die poetischen Konsequenzen sieht. 189 „[…] er findet diese [Erscheinungen und Bilder] bald in den eigenen Kindheits-Erinne‐ rungen, bald in seiner Pariser Umgebung, bald in den Reminiszenzen seiner Belesenheit. Und es hat alles das, wo es auch erfahren sein mag, dieselbe Wertigkeit für ihn, dieselbe Dauer und Gegenwart.“ (Brief vom 10. 11. 1925, in: Briefe, Bd. 2, S. 474 f.) 190 Aufzeichnungen 28. 31. 41. Zur Beschwichtigung von Ängsten durch die Anwesenheit der Mutter siehe Aufzeichnung 23, S. 507, und 30, S. 521 f. 191 Un Mangeur d’opium, S. 499. Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive, verzweifelte Zeit. (S. 612) Das zeigt, dass die Kindheitserlebnisse Maltes die Matrix für seine Erlebnisse und Erfahrungen als Erwachsener sind 188 . Da er ein poetischer Charakter ist, werden sie ihm darüber hinaus zur Quelle seiner Inspiration in Gegenwart und Historie. Das ist recht genau die Umsetzung von Baudelaires Beobachtung an De Quincey: „il revit tout l’univers de son enfance, mais avec la richesse poétique qu’y ajoutait maintenant un esprit cultivé“. Rilke hat das indirekt bestätigt, als er gegenüber seinem polnischen Übersetzer Witold Hulewicz eine Erläuterung der historischen Gestalten für unnötig erklärte, weil sie „Vokabeln [der] Not“ seien, mit deren Hilfe Malte „das fortwährend ins Unsichtbare sich zurückzie‐ hende Leben über Erscheinungen und Bilder sich fasslich zu machen“ suche 189 . Der Zusammenhang der drei thematischen Gruppen der Aufzeichnungen ist demnach dichterischer Psychologie geschuldet. Nicht angstbesetzte Kindheitserinnerungen hat Malte vor allem an seine Mutter, an liebevolle Begegnungen mit ihr, an ihre Erzählungen und an ge‐ meinsame glückliche Momente 190 . Nach dem Tod der Mutter nimmt die jüngere Schwester Abelone deren Platz ein, zu der Malte ein erotisches Verhältnis ent‐ wickelt (37), das ihm die Augen für die Rolle der liebenden Frauen in Kunst und Literatur öffnet. Auch für diese emotionale Nähe zum anderen Geschlecht gibt es eine Parallele in den Confessions of an Opium Eater, wo Baudelaire den Ge‐ danken von der prägenden Wirkung des Umgangs mit Frauen auf den Charakter eines begabten männlichen Kindes entwickelt: L’homme qui, dès le commencement, a été longtemps baigné dans la molle atmosphère de la femme, dans l’odeur de ses mains, de son sein, de ses genoux, de sa chevelure, de ses vêtements souples et flottants, […] y a contracté une délicatesse d’épiderme et une distinction d’accent, une espèce d’androgynéité, sans lesquelles le génie le plus âpre et le plus viril reste, relativement à la perfection dans l’art, un être incomplet. 191 Im Falle De Quinceys sind es drei ältere Schwestern, die den Knaben umhegen und von denen zwei in jugendlichem Alter sterben. Besonders der Tod der 6. Kindheit und Künstlertum 291 192 Siehe dazu im Folgenden. zweiten Schwester, Élisabeth, hinterlässt in der Seele des empfindsamen Knaben eine schwer heilbare Wunde und konditioniert ihn für die „sublimes attractions du tombeau“, die die Phantasien seines Erwachsenenlebens bestimmen werden. Während De Quincey nach Baudelaire durch den mundus muliebris seiner Kindheit letztlich auf eine morbide Sensibilität und Melancholie geprägt wird, kann man im Fall Maltes (und wohl auch Rilkes) neben der ausgeprägten Sen‐ sibilität das Verständnis und überhaupt die Vorstellung von der besonderen weiblichen Art zu lieben, die er im Laufe der Aufzeichnungen entwickelt 192 , im Einfluss des weiblichen Geschlechts angelegt sehen. Auch dabei kann es sich freilich um eine Übereinstimmung handeln, die ebenso der Natur der Dinge, also dem poetischen Charakter, zu verdanken sein mag wie dem direkten Einfluss Baudelaires. Dem Kindheitsgedanken Baudelaires kommt Rilke noch einmal in der 56. Aufzeichnung nahe, die eigentlich von Maltes Verhältnis zum Lesen handelt. Malte spricht dort über seine Vorstellung von der Kindheit und darüber, wie sie sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Als er noch ein Kind war, schienen ihm Kindsein und Erwachsensein zwei deutlich unterschiedene Zustände, deren Ende bzw. Anfang, „wenn das Leben gewissermaßen umschlug“, nicht zu über‐ sehen sein würden. In der Kindheit kam das Leben „von innen“ und war nicht „sichtbar“; es hatte etwas „eigentümlich Unbegrenzte[s], […] Unverhältnismä‐ ßige[s], […] Nie-recht-Absehbare[s]“, das nach seiner Überzeugung im Erwach‐ senzustand überstanden sein würde: denn die Erwachsenen wurden nicht be‐ unruhigt vom Leben und „wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an äußeren Verhältnissen“. Doch ganz sicher war er seiner Sache nicht: Es war freilich nicht einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es [das Leben in der Kind‐ heit] immer noch zu und schloss sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres rührte man in sich auf: Gott weiß, wo es herkam. Aber wahr‐ scheinlich wuchs es zu einem Äußersten an und brach dann mit einem Schlage ab. (S. 593) Als die ersten Erfahrungen eines Erwachsenen an ihn herantraten, erkannte er, dass seine Vorstellung in der Tat falsch war. Jetzt gingen ihm die Augen „für die unendliche Realität“ seines Kindseins auf: Ich wusste, dass es nicht aufhören würde, so wenig wie das andere erst begann. Ich sagte mir, dass es natürlich jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren erfunden. Und es erwies sich, dass ich zu ungeschickt war, mir welche auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen, dass es nichts von ihnen Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 292 193 Für das Lesen folgert er daraus, dass „nichts für eine bestimmte Frist vorgesehen war“ und man alles zu jeder Zeit lesen kann, ja muss, um nichts zu versäumen. wusste. Bestand ich aber darauf, dass meine Kindheit vorüber sei, so war in demselben Augenblick auch alles Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie ein Blei‐ soldat unter sich hat, um stehen zu können. (S. 594 f.) Das eigentümliche ‚Leben von innen‘ der Kindheit ist für Malte nicht vorüber mit dem Erwachsenwerden und es ist ihm nicht möglich, „Abschnitte zu ma‐ chen“, die er in seinem Leben nicht erkennen kann. Er fühlt sich weiterhin wie ein Kind und er muss es auch, wenn er nicht sein Inneres verleugnen und auf die Zukunft verzichten will 193 . Die Beschreibung des „Kindseins“, das nicht „auf‐ hören“ kann, ohne dass „alles Kommende fort“ sein und sich das Leben für ihn auf ein Minimum reduzieren würde, klingt wie ein Echo auf Baudelaires Ge‐ danken vom „Génie enfant“, mit dem Unterschied freilich, dass Rilke die Kind‐ heit wieder quantitativ durch innere Fülle charakterisiert, durch ein Anwachsen des „Unbegrenzten“ und die davon ausgehende „Beunruhigung“, die dem Er‐ wachsenen fehle. Als ihr Gegenbild stellt er den „Bleisoldaten“ hin, in dessen Beschränktheit und Leblosigkeit man den Gegenentwurf zum Baudelaireschen Künstlerbild sehen kann, der aber natürlich als Bild stark interpretationsbe‐ dürftig bleibt. Rilkes theoretische Überlegungen zum Thema Kindheit und Künstler sind allgemeiner als Baudelaires konzise Beobachtungen über die Affinität von kind‐ licher und künstlerischer Wahrnehmungsweise, die sich auch ästhetisch als zu‐ kunftsträchtiger erwiesen haben. Er hat aber das Thema Kindheit und Künstler in den Aufzeichnungen poetisch anschaulicher abgehandelt. 7. Liebe In seinem programmatischen Prosagedicht Les Foules hat Baudelaire den Lie‐ besbegriff als poetologische Metapher für die Haltung des Dichters zur Welt verwendet: Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible, com‐ paré à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe. Verglichen mit der alltäglichen Liebe („amour“), erklärt er, sei die Liebe des Dichters, der sich seinem Gegenstand, dem Unbekannten und Unvorhergese‐ henen, völlig hingibt, eine unsagbare Steigerung, ja eine „sainte prostitution de 7. Liebe 293 194 „L’amour peut dériver d’un sentiment généreux: le goût de la prostitution; mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété.“ (Fusées I, S. 649) 195 Mon cœur mis à nu XXXVI (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 700.) Vgl. zur Selbstbewahrung ebd. I: „De la vaporisation et de la centralisation du Moi. Tout est là.“ (S. 676) 196 Le Peintre de la vie moderne, S. 688. 691. 197 Siehe oben, S. 288 f. l’âme“. ‚Prostitution‘ als Hingabe an den Anderen war für ihn ein „sentiment généreux“ 194 , auf das auch die Kunst gegründet war: Qu’est-ce que l’art? Prostitution. (Ebd.) Freilich sei die Prostitution in der Kunst von besonderer Art, weil der „homme de génie“ bei aller Selbstentäußerung und Hingabe an den Anderen sich selbst bewahren will: „La gloire, c’est rester un […].“ 195 Die vor allem für den Dichter wesentliche Selbstentäußerung an den Anderen hat er in die Formel „poésie et charité“ gefasst, in der das Wort für die christliche Nächstenliebe („charité“, ca‐ ritas) auf den Unterschied der Liebe des Dichters zur alltäglichen Liebe verweist. Allerdings scheut Baudelaire in diesem Zusammenhang auch die Alltagsbegriffe nicht, so wenn er den „peintre de la vie moderne“ Constantin Guys einen „Grand amoureux de la foule“ nennt oder von „épouser la foule“ spricht 196 . Von der geistlich-philanthropischen bis zur erotisch-sexuellen Variante steht dem Dichter also das ganze Verhaltensrepertoire der Liebe zu Gebote. Auch für Rilke war „Liebe“ ein zentraler Begriff für das Verhältnis des Dichters und Künstlers zur Welt, mit dem er schon in dem Aufsatz „Über Kunst“ die Gleichsetzung von Kunst und Kindheit begründet hatte 197 . So denkt er in den „Cézanne-Briefen“ über die „Liebe“ des Künstlers zu seinen Gegenständen nach: Ich war heute wieder bei seinen Bildern; es ist merkwürdig, was für eine Umgebung sie bilden. […] Man merkt auch, von Mal zu Mal besser, wie notwendig es war, auch noch über die Liebe hinauszukommen; es ist ja natürlich, dass man jedes dieser Dinge liebt, wenn man es macht: zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man beurteilt es, statt es zu sagen. Man hört auf, unparteiisch zu sein, und das Beste, die Liebe, bleibt außerhalb der Arbeit, geht nicht in sie ein, restiert unumgesetzt neben ihr: so entstand die Stimmungsmalerei […]. Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es. Wobei denn jeder selbst gut zusehen muss, ob ich es geliebt habe. Das ist durchaus nicht gezeigt, und manche werden sogar behaupten, da wäre von keiner Liebe die Rede. So ohne Rückstand ist sie aufgebraucht in der Aktion des Ma‐ chens. Dieses Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit, woraus so reine Dinge entstehen, ist vielleicht noch keinem so völlig gelungen wie dem Alten; seine miss‐ trauisch und mürrisch gewordene innere Natur unterstützte ihn darin. Er hätte gewiss keinem Menschen mehr seine Liebe gezeigt, so er eine hätte fassen müssen; aber mit Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 294 198 13. 10. 1907 („Briefe über Cézanne“, S. 616 f.). 199 „Die Farbe geht völlig auf in dessen Verwirklichung, es bleibt kein Rest.“ (12. 10. 1907, „Briefe über Cézanne“, S. 614.) dieser Anlage, die durch seine abgesonderte Wunderlichkeit ganz ausentwickelt worden war, wandte er sich nun auch an die Natur und wusste seine Liebe zu jedem Apfel zu verbeißen und in dem gemalten Apfel unterzubringen für immer. 198 Hier ist „Liebe“ im allgemeinen Sinn als natürliche „Zuneigung“ verstanden, über die der Künstler jedoch „hinauskommen“ und sie „aufbrauchen“ müsse „in der Aktion des Machens“, so dass sie im gemalten Gegenstand nicht mehr prä‐ sent sei, wodurch „reine Dinge“ entstünden. Cézanne sei darin ein Meister ge‐ wesen bis hin zu seiner Art, die Farbe zu verwenden „nur um das Ding damit zu machen“ 199 . Das könne man an seinen gemalten Äpfeln erkennen, in denen er sich die Liebe zu ihnen „verbissen“ habe. Dieses Zurücktreten der Liebe ein‐ schließlich des „Aufgehens“ der Darstellungsmittel im Gegenstand entspricht der Position des ‚sachlichen Sagens‘, die Rilke zum damaligen Zeitpunkt an Cé‐ zannes Bildern entwickelt hat. In den Aufzeichnungen trifft man noch auf weitere Bedeutungen des Liebes‐ begriffs. Erstmals fällt das Wort in der 22. Aufzeichnung: Was sollte er [Baudelaire] tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. Hältst Du es für einen Zufall, dass Flaubert seinen Saint-Julien-l’Hospitalier geschrieben hat? Es kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebesnächte, das kann nicht anders als gut ausgehen. (S. 505) Liebe meint hier die Anerkennung des „Schreckliche[n], scheinbar nur Wider‐ wärtige[n]“, das es vom Dichter anzunehmen gelte „mit der Herzwärme der Liebesnächte“ - es geht also um den dargestellten Gegenstand und um Maltes zentrales Problem des ‚argen Wirklichen‘. Mit dem Hinweis auf den heiligen Julian, der nach Flauberts Légende de Saint-Julien-l’Hospitalier in seiner Liebe zum Nächsten bereit war, einen Aussätzigen mit seinem eigenen Körper zu wärmen und der darauf mit Jesus in den Himmel fuhr, verdeutlicht Malte die Einsicht in die Gleichwertigkeit alles Seienden, die Baudelaire in Une Charogne zum Ausdruck gebracht habe. Rilke hat den Hinweis in einem parallelen Brief an Clara wiederholt und die programmatische Bedeutung hervorgehoben, die diese karitative Liebestat des Heiligen für jeden Künstler habe - so bereits für 7. Liebe 295 200 Brief vom 19. 10. 1907 („Briefe über Cézanne“, S. 624). 201 Siehe im Brief an Emanuel von Bodman vom 17. 8. 1901 seine Bemerkungen über die Ehe: „[…] die gute Ehe [ist] die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat. Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welche einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt.“ (Briefe, Bd. 1, S. 23.) 202 70, S. 628. 203 Stahl, „Stellenkommentar“, S. 1026. Flaubert, „der die Entschlüsse des Heiligen mitbeschloss und ihnen glücklich zustimmte und zurief “: Dies sich-zu-dem-Aussätzigen-Legen und alle eigene Wärme bis zu der Herzwärme der Liebesnächte, mit ihm teilen: dies muss irgendwann im Dasein eines Künstlers gewesen sein, als Überwindung zu seiner neuen Seligkeit. 200 Diese Forderung an den Künstler, auch im Schrecklichen das Seiende zu sehen, „das unter allem Seienden gilt“, ist die Rilkesche Entsprechung zu Baudelaires Vorstellung von der karitativen Hingabe des Dichters: „poésie et charité“. Noch eine weitere, recht eigenwillig Bedeutung des Begriffs „Liebe“ hat Rilke in den Aufzeichnungen entwickelt, die er sowohl im Allgemeinen wie im dich‐ terischen Sinne verwendet. Sie geht von der Alltagsbedeutung der erotisch-se‐ xuellen Beziehung zwischen den Geschlechtern aus, die sich ihrem Wesen nach auf einen Anderen bezieht, von dem sie abhängig ist. In dieser Abhängigkeit sah Rilke eine große Gefahr für die Freiheit und Entwicklung der Persönlichkeit 201 . Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Darstellung der erotisch-sexuellen Liebe bei ihm auffällig blass bleibt, zumal in den Aufzeichnungen, wo er an ihre Stelle eine Liebe setzt, in der die Bezogenheit auf den Anderen, „das Transitive“, fehlt: Manchmal fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich darüber täuschen, dass Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? 202 Die hier benannte „intransitive, besitzlose“ 203 Liebe ist eine Liebe ohne Gegen‐ stand, eine Hingabe, die nichts vom Anderen verlangt und einfordert und die sich auch von ihm lösen kann. Rilke hat sie bei den großen, meist unglücklich liebenden Frauen der Mythologie und Literatur festgestellt und am Beispiel der Ovidischen Byblis erläutert: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 296 204 66, S. 618 f. 205 68, S. 622. 206 Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin, hrsg. von B. Blume, Frankfurt a. M. 1973, S. 79 (Brief vom 24. 9. 1908). 207 71, S. 629. 208 Zur „intransitiven“ Liebe gehört als Ergänzung der Begriff des „Einsamen“, der für Rilke zugleich der Künstler ist; siehe Stahl, „Kommentar“, S. 982 f. Schlecht lieben die Geliebten und in Gefahr. Ach, dass sie sich überstünden und Lie‐ bende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verdächtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch die Länder auf seiner Spur, und schließlich war sie am Ende ihrer Kraft; aber so stark war ihres Wesens Bewegtheit, dass sie, hinsinkend, jenseits vom Tod als Quelle wieder‐ erschien, eilend, als eilende Quelle. 204 Dasselbe ist Heloїse geschehen und den romanischen Liebesdichterinnen in Mittelalter und Renaissance bis hin zu neuzeitlichen Liebenden wie der jungen Bettina von Arnim. Denn diese Frauen waren „bereit […], die ganze Liebe zu leisten bis ans Ende“ 205 , eine Liebe, die vollends zum Weitergeben bestimmt [ist] über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur, damit er ihr den äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen den Sternen. 206 Eingehend hat Rilke diese Liebesvorstellung in der Geschichte vom verlorenen Sohn ausgeführt, die ihm zufolge „die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte“ 207 und dessen Leben eine einzige Schule dieser Erfahrung ist. Trotz seines Vorsatzes, „niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein“, hat auch er „geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit 208 “ und dabei gelernt, recht zu lieben: jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren. Und er war verwöhnt von dem Entzücken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat. (S. 631) 7. Liebe 297 209 „Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch lang keine Liebende.“ (Ebd.) Aber er findet keine gleichgeartete Gegenliebe 209 . So zieht er sich zurück ins Allgemeine und Anonyme „wie ein zögernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, dass er es liebte, zu sein.“ Als Hirte beginnt er die „lange Liebe zu Gott, […] die stille, ziellose Arbeit“, hoffend, dass jener „überlegene Geliebte“ (S. 628) „zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe“ (S. 632 f.). Darüber entdeckt er sein „Binnenleben“ und seine noch ungetane Kindheit. Um diese „noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen“, kehrt er zurück zu den Seinen, die das missverstehen und ihn immer noch lieben wollen: Es muss für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass ihn alle missverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, dass die Liebe nicht ihn betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast musste er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten. Was wussten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, dass nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht. (S. 635) Der verlorene Sohn der sein Elternhaus verlässt, um das „Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens“ (S. 629) zu entdecken und danach leben zu können, ist das Alter Ego Maltes (und damit auch Rilkes) und als solches ist er natürlich ein dichterisches Gemüt. Das zeigt sich schon beim Heranwachsenden: Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wusste es nicht anders und gewöhnte sich an ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten; weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, dass er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewusstsein kommt. (S. 629) In diesen Momenten eines morgendlichen Ausnahmezustandes - die „innige Indifferenz seines Herzens“ lässt ihn den „rythme immortel et universel“ (Bau‐ Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 298 210 Die Übereinstimmungen sind hier einschließlich des morgendlichen Ausnahmezu‐ standes auch typologischer Art. 211 S. 630 f. delaire) 210 verstehen - ahnt der Junge seine Zukunft und erlebt das Gefühl der reinen Existenz. Bald darauf erwacht seine Phantasie: Er schälte sich eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur. Schließlich kam der Nachmittag mit lauter Einfällen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte Campêche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und vernahm, ganz heiß, dass dieses Hel‐ dentum hoffärtig war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehörte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewiss welcher. (S. 630) Doch dann kommt er nach Hause, wo alle, selbst die Hunde, ihn zwingen, der zu sein, „für den sie einen hier hielten“ und „das ungefähre Leben nach[zu]lügen, das sie ihm [zuschrieben]“ 211 . Erst in der Liebe zu Gott, kommt der Flüchtige endlich zu seiner wahren Bestimmung: Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. (S. 634) Der Vergleich mit einem Dichter ist hier nicht zufällig gewählt. Denn Rilke war von der Verwandtschaft der intransitiven oder besitzlosen Liebe mit der Liebe eines Dichters zu seinem Tun ebenso überzeugt wie von der Möglichkeit des Umschlags von der einen zur anderen. Das kann man seinem Artikel „Die Bü‐ cher einer Liebenden“ von 1907 entnehmen: Als die großen Liebenden, deren Briefe nicht vergehen, Heloїse und die Portugiesin, über die Abkehr und Umwandlung ihrer Liebhaber in Klagen ausbrachen, wussten sie nicht, wie sehr ihr elementisches Gefühl schon über jeden Gegenstand hinausge‐ wachsen war. Nicht einmal der neue, unendlich fähige Bräutigam ihrer Einsamkeit vermochte (so scheint es) die Ströme ihrer Liebe zu fassen. […] Wäre es möglich ge‐ wesen, diese Liebe, die zu viel war für einen, abzulenken und in einem System von Kanälen zu den Dingen zu führen, so wären jene Gedichte entstanden an deren Rand die Briefe überall heranreichen; denn es ist nur ein Schritt von der Hingabe der Lie‐ benden zum Hingegebensein des lyrischen Dichters. 7. Liebe 299 212 „Die Bücher einer Liebenden. (Comtesse Anna de Noailles)“, Werke, Bd. 4, S. 647-650, hier: S. 647. Rilke bespricht das lyrische Werk der Noailles als ein in diesem Sinn ge‐ lungenes. 213 Vgl. den Kommentar z. St.: „Daraus entstanden keine Verpflichtungen, wie sie aus menschlichen Interaktionen entstehen, und auch keine Schuld.“ (S. 1042) Denn sie bleiben Gegenstände der Phantasie. 214 Unter anderem Baudelaires Vorstellung vom „Leuchten“ des Lyrikers könnte Rilke in diesem Zusammenhang in der für ihn typischen Weise aufgenommen und fortgeführt haben. Man vergleiche Baudelaires Äußerung: „Il y a, en effet, une manière lyrique de sentir. Les hommes les plus disgraciés de la nature, ceux à qui la fortune donne le moins de loisir, ont connu quelquefois ces sortes d’impressions, si riches que l’âme en est comme illuminée, si vives qu’elle en est comme soulevée. Tout l’être intérieur, dans ces merveilleux instants, s’élance en l’air par trop de légèreté et de dilatation, comme pour atteindre une région plus haute.“ (Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains. VII. Théodore de Banville, S. 164; Hervorhebung von mir.) - mit der angeblich an den Rand des Manuskripts geschriebenen Bemerkung der 70. Aufzeichnung: „(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)“ (S. 629). Zum „unerschöpflichen Öl“ siehe im Folgenden das biblische Bild von (den klugen und) den törichten Jungfrauen. 215 S. 602 ff. Und dennoch vermag ihn die Liebende fast nie zu tun; sie steht, nach allem, erschöpft davor, mit dem Rest eines Mutes, der nun ganz groß sein müsste; unfähig anzufangen; wenn sie nicht vor aller Erfahrung, als Kind schon, von dem heroischen Anwachsen ihres Gefühls erschreckt, begonnen hat, es in das Schicksalslose hinauszudrängen. 212 Nur ein Schritt ist es demnach von der Hingabe einer Liebenden zum lyrischen „Hingegebensein“. Und wie die großen Liebesdichterinnen, die bereits in ihrer Kindheit das „heroische Anwachsen ihres Gefühls“ erfahren haben und es ins „Schicksalslose hinausgedrängt“, das heißt begonnen haben, es in Dichtung um‐ zusetzen, lässt Rilke auch den verlorenen Sohn als Heranwachsenden in dich‐ terischen Phantasien und Abenteuern schwelgen, wo Flöte, Raubtier und Käfer „kein Schicksal [werden] und die Himmel wie über Natur [gehen]“ 213 . Auch seine spätere mühsame und kummervolle ‚Arbeit an der Liebe‘ ist nichts anderes als dichterische Arbeit. Das ist Rilkes überaus kühne Umdeutung der biblischen Erzählung in seinem Sinne, in die offensichtlich auch Vorstellungen Baudelaires eingegangen sind 214 . Noch eine weitere Aufzeichnung handelt von der Liebe des Dichters. Es ist dies die 60., in der Malte sich ein weiteres Mal von den „Fortgeworfenen“ ab‐ grenzt 215 . Nach seinen eigenen Worten unterscheidet er sich nicht deshalb von ihnen, weil er „in besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgeh[t]“, sondern weil er „nicht das Herz zu ihrem Leben“ hat, „weder ihre Stärke noch ihr Maß“: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 300 216 Im Berner Taschenbuch gibt es hierzu eine Aufzählung: „[von] Witwen und Einfältigen, Blinden und Schreibern, Verwaisten, Verlebten, Verlorenen, Musikmachern, Trinkern und Tänzerinnen“ (siehe Stahl, „Stellenkommentar“, S. 1002). 217 Siehe oben, S. 128. Sie stehen an ihren täglichen Ecken, auch im November, und schreien nicht vor Winter. Der Nebel kommt und macht sie undeutlich und ungewiss: sie sind gleichwohl. Ich war verreist, ich war krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht gestorben. […] Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten 216 . Die meisten sträuben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen, alternden Mädchen, die sich fortwährend ohne Widerstand hinüberlassen, starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind. (S. 603) Von den letztgenannten soll Malte nun offenbar dichten: Vielleicht meinst du, mein Gott, dass ich alles lassen soll und sie lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich überholen? Warum erfind ich auf einmal die süßesten, nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft mir zwischen Kehle und Herz? (Ebd.) Die „verblichenen, alternden Mädchen“, denen er „nachgeht“ und die ihm die „süßesten, nächtlichsten Worte“ eingeben, weisen unübersehbar auf die Petites Vieilles, denen Baudelaires Dichter-Ich durch die Straßen folgte, Glück und Leid ihres vergangenen Lebens sich vorstellend und sie mit der Fürsorglichkeit eines liebenden Vaters begleitend 217 . Auch Malte phantasiert das Leben seiner „altern‐ den Mädchen“: Warum stell ich mir vor, wie ich sie unsäglich vorsichtig an meinen Atem halten würde, diese Puppen, mit denen das Leben gespielt hat, ihnen Frühling um Frühling für nichts und wieder nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer Hoffnung gefallen, so sind sie nicht zerbrochen; aber abgeschlagen sind sie und schon dem Leben zu schlecht. Nur verlo‐ rene Katzen kommen abends zu ihnen in die Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf ihnen. Manchmal folge ich einer zwei Gassen weit. Sie gehen an den Häusern hin, fortwährend kommen Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter ihnen weiter wie nichts. (S. 603 f.) Im Unterschied zu Baudelaires „petites vieilles“ sind sie aber weder berühmt durch ihre Schönheit noch geadelt durch ihr Leid; vielmehr haben sie ein Leben ohne Liebe und Höhepunkte hinter sich, denn sie waren „schon dem Leben zu schlecht“. Und wenn einer sie zu lieben versuchte mit der wirklichen Liebe, 7. Liebe 301 218 Aber kein Talent zur Liebenden. Dazu weitere Äußerungen, die Maltes Liebesvorstel‐ lung verdeutlichen: „Immer übertrifft die Liebende den Geliebten […]“ (58, S. 599) Und die schon zitierte: „Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, dass sie sich über‐ stünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit.“ (66, S. 618) so wären sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhören zu gehen. Ich glaube, nur Jesus ertrüge sie, der noch das Auferstehen in allen Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden verführen ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur Geliebten wie mit einer kalten Lampe. (S. 604) Hier bringt Malte die Vorstellung von der besitzlosen natürlichen Liebe ins Spiel und spricht den alternden Mädchen die Fähigkeit zu ihr ab, weil sie „zu weit gehen“ und den Anderen überfordern würden. Sogar dem auferstandenen Jesus läge nicht an ihnen, da sie wie die törichten Jungfrauen des biblischen Gleich‐ nisses nur eine Lampe ohne Öl haben und nur „ein kleines Talent zur Ge‐ liebten“ 218 . So muss auch Maltes Dichterliebe an ihnen scheitern. Zu dichterischen Liebes-Gegenständen werden ihm nur die großen Dichterinnen der Liebe, denen es gelungen ist, „innen zur Quelle“ zu werden und ihre Liebes‐ energie in Dichtung umzuwandeln (66 ff.). Dieses dichterische Versagen Maltes könnte man für ein Aufflackern des Problems des argen Wirklichen halten, das ihn lieber die idealen Liebenden feiern lässt statt am Schicksal derer teilzu‐ nehmen, die seiner Vorstellung nicht genügen. Doch ist das Problem des argen Wirklichen der Großstadt zu diesem Zeitpunkt kein Thema mehr, und die Bau‐ delaire-Anspielung dürfte Rilke hier vielmehr dazu dienen, seine Sicht der Liebe, auch der dichterischen, kontrastiv herauszuarbeiten. 8. Rilkes „Prosabuch“ Rilke war seiner Begabung nach ein lyrisches Temperament. Als Lyriker hatte er sich, wie oben gesehen, früh auf das Ziel des lyrischen „Tönens“ und „Feierns“ festgelegt. Damit ließen sich jedoch wesentliche Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gedanken der Pariser Jahre und seiner mittleren Lebensphase nicht er‐ fassen. Für sie musste er eine eigene Ausdrucksform finden. Das gelang ihm erstmals in der poetisch gefärbten Erzählprosa der Briefe, die seinen natürlichen poetischen Neigungen entsprach. Sie bot sich daher ganz selbstverständlich als Sprachform der Aufzeichnungen an. So spricht er schon 1904 von der „feste[n] lückenlose[n] Prosa“ seines geplanten neuen Buches, die ein notwendiger Fort‐ schritt für ihn sei, ohne freilich zu erklären, wie diese Prosa genauer beschaffen Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 302 219 Gegenüber Lou Andreas-Salomé, Brief vom 12. 05. 1904 (Briefwechsel, S. 159). 220 Werke, Bd. 4, S. 82. 221 Aus dem Nachlass. „Zweite Fassung des Eingangs“, S. 641. Zur Datierung siehe Stahl, „Kommentar“, S. 868. sein müsste 219 . Die Äußerungen zur Entstehung der Aufzeichnungen zeigen viel‐ mehr, dass ihn lange Zeit ausschließlich das Schicksal Maltes interessierte, das zu entwerfen und zu verstehen ihm Schwierigkeiten bereitete, während die sprachliche Form des Werkes erst spät zum Gegenstand seiner Überlegungen wurde. Doch hatte er schon in dem Aufsatz über „Moderne Lyrik“ (1898) erklärt, dass ein „bewusste[s], von Intellekt und Überlegung geleitete[s] Erzählen“ in einer poetischen Prosa abgefasst sein könne, die allerdings nicht zu verwechseln sei mit einem ‚Gedicht in Prosa‘, das eine „höhere gebundene Form […] als jede noch so poetische Prosa“ darstelle 220 . Der früheste Entwurf der Aufzeich‐ nungen - die ins Jahr 1904 zu datierende „Zweite Fassung des Eingangs“, in der die spätere 15. Aufzeichnung über die Erscheinung der Christine Brahe erzählt wird - führt exakt ein solches von Überlegung geleitetes Erzählen vor: […] da, gerade mitten im Übergange [vom Boulevard des Capucines zur Rue Riche‐ lieu], leuchtete es in mir auf und war eine Sekunde so hell, dass ich nicht allein eine sehr entfernte Erinnerung, sondern auch gewisse Zusammenhänge sah, durch welche eine frühe und scheinbar unwichtige Begebenheit meiner Kindheit mit meinem Leben verbunden ist. […] es war mir, als wäre in ihr der Schlüssel gewesen für alle ferneren Türen meines Lebens, das Zauberwort für meine verschlossenen Berge, das goldene Horn, auf dessen Ruf hin immer Hülfe kommt. 221 Beim Überqueren eines Pariser Boulevards ist dem Erzähler Malte plötzlich die Bedeutung einer „scheinbar unwichtige[n] Begebenheit“ seiner Kindheit klar geworden, die zu erzählen er sich deshalb vorgenommen hat. Damit ist nicht nur das Kindheitsthema gesetzt und Paris als Ort der Handlung gegeben, son‐ dern es wird auch die auf Baudelaire verweisende Erkenntnis vorgeführt, dass gewisse Kindheitserlebnisse einen Dichter für sein weiteres Leben prägen und seine späteren Vorstellungen und Phantasien bestimmen, die ein wesentlicher Bestandteil von Maltes Ringen um sein Selbstverständnis sein wird. Dichterische Selbstfindungsthematik hatte Rilke seit seinen frühen Erzählungen be‐ schäftigt, etwa in Ewald Tragy. Sie hatte ihn auch an den Romanen der nor‐ dischen Autoren Jens Peter Jacobsen (Niels Lyhne) und Sigbjörn Obstfelder (Ta‐ gebuch eines Priesters) fasziniert, an die die Kindheitsthematik und die 8. Rilkes „Prosabuch“ 303 222 Die vielen und divergierenden Anknüpfungspunkte des frühen Entwurfs machen Rilkes Seufzer im Brief an Andreas-Salomé verständlich: „Dann fing ich im Februar eine grö‐ ßere Arbeit an, eine Art 2. Theil vom Lieben-Gott-Buch; nun stecke ich irgendwie mit‐ tendrin, ohne zu wissen, ob es weitergeht, wann und wohin.“ (Brief vom 17. 03. 1904, Briefwechsel, S. 136.) Sie lassen ahnen, welch weiten Weg er zu einem stimmigen Kon‐ zept zurückzulegen hatte. 223 Siehe etwa seine Besprechung von Obstfelders Pilgerfahrten und das Lob für dessen Sprache: „Seine Worte enthalten nicht, sie beschwören herauf.“ (Werke, Bd. 4, S. 564-568, hier: S. 566.). Diesem evokativen Stil entspricht, was Malte über die Darstellung von Frauen sagt (27, S. 513), und Rilke selbst in einem Brief an Rodin vom 29. 12. 1908: „Et pensez qu’en cette prose je sais maintenant faire des hommes et des femmes, des enfants et des vieillards. J’ai évoqué surtout des femmes en faisant soigneusement toutes les choses autour d’elles, laissant un blanc qui ne serait qu’un vide, mais qui, contourné avec tendresse et amplement, devient vibrant et lumineux, presque comme un de vos marbres.“ (Briefe 1907-1914, S. 63.) 224 „Zweite Fassung des Eingangs“, S. 642 f. 225 „Dieses [Kaminfeuer] brannte träge, ohne eigentliche Lust; es legte sich beständig auf dem Holze hin und erhob sich, wie von innerer Unruhe gezwungen, und versuchte wieder sich auszustrecken und warf sich, halbwach, hin und her. Der Schein des Feuers kam und ging über die Hände Brigges, die mit einer gewissen abgespannten Feierlich‐ keit nebeneinander lagen wie die Gestalten eines Königs und seiner Gemahlin auf einer Grabplatte.“ (S. 640) spiritistische Tendenz der Aufzeichnung anknüpfen 222 . Besonders beeindruckt war er von der poetischen Prosa dieser Autoren 223 . Die Sprache des frühen Ent‐ wurfs ist denn auch eine klassisch elegante Prosa, die bereits Merkmale seines späteren poetischen Stils (wie die Personifizierung von Dingen) aufweist, je‐ denfalls in dem Bericht über die Erscheinung der Christine Brahe, der in die Aufzeichnungen aufgenommen ist: […] das merkwürdige Haus […] So wie es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung bewahrt ist, ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern nur wie ein Fragment aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, - die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und andere kleine rundgebaute Stiegen in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde […] 224 Noch stärker poetisiert ist die Einführung der Figur Maltes in der Rahmenhand‐ lung, die in der definitiven Fassung weggefallen ist 225 . Auch in seinen Briefen hat Rilke die „schweren“ Erlebnisse des ersten Pariser Jahres zumeist in einer poetischen Prosa festgehalten und sich von der Seele geschrieben. Bemerkens‐ wert ist hier der bekannte Brief vom 18. 07. 1903 an Lou Andreas-Salomé, der in Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 304 226 „Damals als ich ein Knabe unter Knaben war, war ich allein unter ihnen; und wie allein war ich jetzt unter diesen Menschen, wie fortwährend verleugnet von allem was mir begegnete; die Wagen fuhren durch mich durch, und die welche eilten, machten keinen Umweg um mich und rannten voll Verachtung über mich hin wie über eine schlechte Stelle in der altes Wasser sich gesammelt hat. […] O es haben tausend Hände gebaut an meiner Angst und sie ist aus einem entlegenen Dorf eine Stadt geworden eine große Stadt, in der Unsägliches geschieht. Sie wuchs die ganze Zeit und nahm mir das stille Grün aus meinem Gefühl, das nichts mehr trägt. Schon in Westerwede wuchs sie und es entstanden Häuser und Gassen aus den bangen Umständen und Stunden, die dort vergingen. Und als Paris kam, da wurde sie rasch ganz groß.“ (Briefwechsel, S. 53 ff.) Nicht zufällig verweist Rilke außer auf Baudelaire auch auf das 30. Kapitel aus dem Buch Hiob; siehe oben, S. 271 f. Ähnlich auch schon der Brief vom 30. Juni desselben Jahres (Briefwechsel, S. 44 ff.). 227 So entsteht der Eindruck, dass Andreas-Salomé, neben Clara Rilke natürlich, eine un‐ ausgesprochene innere Adressatin des Werkes war. Was den zweiten Themenstrang der Aufzeichnungen, Rilkes Kindheitserlebnisse, betrifft, so hat sie wohl tatsächlich mündlich im Gespräch zu deren Verarbeitung beigetragen. Vgl. ihre einschlägige Äu‐ ßerung in Rainer Maria Rilke, S. 14 und 43. zwei ganz unterschiedlichen Stilen gehalten ist, einer berichtenden Prosa für das Erlebnis mit dem Veitstänzer im Mittelteil und davor und dahinter einem bisweilen geradezu biblischen Klageton, in dem Rilke seinen eigenen Seelenzu‐ stand schildert 226 . In einem Brief an die kunstsinnige und literarisch gebildete Andreas-Salomé, die selbst schriftstellerische Ambitionen hatte, ist dies kein zufälliges Vorgehen, sondern ein erster Versuch zu einer angemessenen Stili‐ sierung. Tatsächlich kündigen sich in dem Brief 227 die Typen von Prosa an, die in den Pariser Stücken der Aufzeichnungen vorherrschen werden, nämlich der Ton lyrischer Klage in den einleitenden kürzeren Aufzeichnungen über das mühsame Sich-Eingewöhnen in der großen Stadt und die berichtende Prosa in den folgenden längeren Stücken über außergewöhnliche Erlebnisse ebenda. Während dieser ersten noch tastenden Versuche in Prosa verfasste Rilke wie gewohnt Gedichte und das auch zu Themen, die ähnlich in den Aufzeichnungen behandelt werden. Das Nebeneinander von Poesie und Prosa zog sich über die ganze Entstehungszeit der Aufzeichnungen hin. Noch die im Mittelpunkt des Cézanne-Erlebnisses im Herbst 1907 stehende Vorstellung vom ‚sachlichen Sagen‘ zielte keineswegs auf eine ‚prosaische‘ Sprache, sondern auf eine mentale Haltung, die keine Entscheidung zwischen Prosa und Poesie bedeutete, sondern sich auch in Gedichten, etwa in den Neuen Gedichten, äußern konnte. Erst nachdem das Figurenkonzept endgültig geklärt war, setzte Rilke sich in der letzten Phase der Ausarbeitung der Aufzeichnungen eingehender mit ihrer Pro‐ saform auseinander. Seit 1908 finden sich in seinen Briefen wiederholt entsprechende Äuße‐ rungen. So im Briefwechsel mit dem Verleger Anton Kippenberg, wo neben 8. Rilkes „Prosabuch“ 305 228 Etwa ex negativo: „Ich bin mir bewusst, dass ein lyrisches Werk, geschäftlich gespro‐ chen als eine schwankende Sicherstellung anzusehen ist […]“ Hinter seiner derzeitigen lyrischen Bewältigung der Welt bereite sich aber für die Zukunft auch Weiteres vor wie der „Ausbau meiner Prosa“ oder eine „gewisse dramatische Notwendigkeit“ (Brief an Kippenberg vom 11. 03. 1908, in: R. M. Rilke, Briefwechsel mit Anton Kippenberg 1906-1926, hrsg. von I. Schnack und R. Scharffenberg, 2 Bde., 1995, Bd. 1, S. 99-103, hier: S. 100 f.) Die Bezeichnung „Prosabuch“ stammt aus diesem Briefwechsel, wo Rilke sie 1908 / 1909 zu wiederholten Malen verwendet; siehe Stahl, „Kommentar“, S. 875. 229 „[…] würde endlich das Prosa-Buch folgen (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), das ich […] hoffe eines Tages in Ihre Hände legen zu können.“ (Briefwechsel, S. 102.) 230 Brief an Kippenberg vom 18. 08. 1908, S. 118. 231 Brief an Kippenberg vom 21. 05. 1909, S. 162. ökonomischen Überlegungen 228 und solchen zum verlegerischen Schicksal des Buchs 229 auch von den Bemühungen um „den Ausbau meiner Prosa“ die Rede ist. Rilke verspricht sich von der Fertigstellung des zweiten Bandes der Neuen Gedichte einen Lerneffekt für seine Prosa. Das lässt ahnen, wie nahe er Poesie und poetische Prosa beieinander sah: Vielleicht […] werde ich […] imstande sein, das an diesen Gedichten Gelernte an meine Prosa zu wenden; es sind ja gerade diese Fortschritte, die auch sie sich zunutze machen muss. 230 Im Frühjahr 1909 stellt er dann, gesundheitlich angeschlagen, einen Wirkzu‐ sammenhang zwischen dem Verfassen von Gedichten und den Aufzeichnungen her, den in dieser Art wohl nur ein Lyriker empfinden kann: Denn es ist möglich, dass ich, sobald ich gesundheitlich wieder über mich verfügen kann, erst eine Weile vor der Natur über Gedichten mich erneuern und üben muss, damit die innere Welt, aus der ich jenes Buch gewinne, sich unter dem Einfluss der äußeren erst wieder stärke und spanne. 231 Während diese Äußerungen gegenüber Kippenberg recht allgemein bleiben und offensichtlich immer auch den Verleger im Auge haben, geht Rilke gegenüber Rodin stärker auf die Sache ein. In einem Neujahrsbrief an diesen schreibt er am 29. 12. 1908: Maintenant en effet, je sens que tous mes efforts seraient vains sans elle [cette patience que vous m’avez enseignée par votre tenace exemple]. En faisant de la poésie on est toujours aidé et même emporté par le rythme des choses extérieures; car la cadence lyrique est celle de la nature: des eaux, du vent, de la nuit. Mais pour rythmer la prose il faut s’approfondir en soi-même et trouver le rythme anonyme et multiple du sang. Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 306 232 Briefe 1907-1914, S. 63. 233 14, S. 467. La prose veut être bâtie comme une cathédrale; là on est vraiment sans nom, sans ambition, sans secours: dans des échafaudages, avec la seule conscience. 232 Die Schwierigkeiten der Prosa - und gemeint ist hier die Prosa der Aufzeich‐ nungen - sieht er darin, dass ihr Rhythmus, anders als der lyrische Rhythmus, nicht in der Natur, in „Wasser, Wind und Nacht“, gefunden wird, sondern im tiefsten Selbst und dass er der „rythme anonyme et multiple du sang“ sein muss. In der Bedeutung des Rhythmus auch für seine poetische Prosa trifft Rilke sich wieder mit Baudelaire und dessen Vorstellung von einer „prose poétique, mu‐ sicale“, allem Anschein nach aber nicht in der Herkunft dieses Rhythmus. Denn statt in der „fréquentation des villes énormes“ will er ihn im eigenen Inneren finden und nennt ihn einen „Rhythmus des Blutes“. Was ist mit dieser merk‐ würdig anmutenden Formulierung gemeint? Das Wort „Blut“ verwendet Rilke in den Aufzeichnungen oft für das innerste Fühlen und Denken einer Person. So in der 68. Aufzeichnung, wo es über die Aufnahme von Geschriebenem heißt: Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. (S. 621) oder in der 44. Aufzeichnung, wo der alte Graf Brahe fordert, dass die Bücher mit Erlebtem angefüllt sein müssten: „Die Bücher sind leer“, schrie der Graf mit einer wütenden Gebärde nach den Wänden hin, „das Blut, darauf kommt es an, da muss man drin lesen können. Er hatte wun‐ derliche Geschichten drin und merkwürdige Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen worden.“ (S. 561) An einer anderen Stelle verbindet Malte mit der Forderung, dass Erinnerungen einem ‚ins Blut übergehen‘ müssen, eine Aussage über die poetische Inspiration: Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. […] Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. 233 Erlebtes muss, um „Vers“ werden zu können, so sehr assimiliert, „Blut […], Blick und Gebärde“ geworden sein, dass es „namenlos“ ist und „nicht mehr zu unter‐ scheiden von uns selbst“. Das sagt fast dasselbe wie die Forderung des Briefs an 8. Rilkes „Prosabuch“ 307 234 Werke, Bd. 4, S. 82. 235 S. 84. Der Ausdruck „Gedicht“ sei nur „ganz bestimmten Gefühlsstoffen“ angemessen, weshalb ein solcher Band eine „Vergewaltigung des intimen Empfindens“ darstelle. Dies ist im Folgenden Rilkes Maßstab zur Bewertung zeitgenössischer Prosagedichte. 236 S. 465. 237 S. 465 f. Im Brief an Clara über denselben Vorgang findet sich noch das Wort „tönen“: „alles stimmt, gilt, nimmt teil und tönt in der Einheit der hellen Zusammenhänge.“ (12. 10. 1907, Briefe 1906-1907, S. 374.) Rodin nach dem „rythme anonyme et multiple du sang“ für die poetische Prosa. Beide Aussagen zielen auf Erfahrungen, die die Grenzen des Ichs übersteigen und die als überindividuelle innere Regungen letztlich lyrischer Stoff sind, ähn‐ lich den „mouvements lyriques de l’âme“, den „ondulations de la rêverie“ und „soubresauts de la conscience“, für die Baudelaire im Spleen de Paris den geeig‐ neten Ausdruck gesucht hatte. Diese Äußerungen legen den Schluss nahe, dass die Grenze zwischen Lyrik und poetischer Prosa zu diesem Zeitpunkt für Rilke durchlässig und manchmal vielleicht sogar aufgehoben war. Schon in dem frühen Aufsatz über „Moderne Lyrik“, in dem er der Lyrik die Aufgabe zugewiesen hatte, „letzte Empfindungen in der unwillkürlichsten, also individuellsten Form“ zum Ausdruck zu bringen, hatte er die Meinung vertreten, dass Gedichte dafür nicht unbedingt Reim und Rhythmus haben müssten, wohl aber den „Rhythmus der ganzen Persönlichkeit“ 234 . So werde eine Form möglich, „welche der Prosa ziemlich ähnelt“, die aber als ein „unbewusstes Tönen“ eine „höhere gebundene Form [ist] als jede noch so poetische Prosa“. Die Bezeich‐ nung ‚Gedicht in Prosa‘ sei daher „falsch und irreführend“ und ein Buch von 200-300 Seiten in dieser Form lege den Gedanken nahe, „dass nur einige da‐ runter Gedichte sein können, andere aber gezwungen waren, sich eben nach dem Willen des Verfassers zu verkleiden“ 235 . Immerhin räumt dieses frühe State‐ ment die Existenz von Gedichten in Prosa ein, und die Argumentation legt den Umkehrschluss nahe, dass sich in der poetischen Prosa der Aufzeichnungen nicht wenige davon verbergen. Beginnen wir bei den Aufzeichnungen mit unverkennbar lyrischem Cha‐ rakter. In der 11. Aufzeichnung erlebt Malte beim Gang durch die Tuilerien zum ersten Mal die verhangene Atmosphäre eines „schönen herbstlichen Morgens“ in der Stadt und darin den Anblick eines glücklich genesenen Mannes, der wieder ohne Krücke gehen kann 236 . Gleich darauf folgt in der 12. Aufzeichnung eine Stadtlandschaft mit Straßen, Plätzen, Fluss und Brücken, in ihren jeweiligen Farben „gemalt wie auf Seide“ und durchsetzt von hellen Farbtupfern in Licht‐ grün, Rot, Gelb und violettem Braun und von Menschen, die sich in ihnen be‐ wegen. Ausdrücklich wird der Vergleich mit einem „Manetschen Bildnis“ ge‐ zogen und erklärt, dass alles „eine Vollzähligkeit“ bilde, „in der nichts fehlt“ 237 . Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 308 238 Die Gruppe (Neue Gedichte II, Werke, Bd. 1, S. 544), Saltimbanques (Die Gedichte 1906-1919, Werke Bd. 1, S. 394 f.), Duineser Elegien 5 (Werke, Bd. 2, S. 214 ff.). Siehe auch Stahl, „Stellenkommentar“, S. 919. 239 Zu diesem Ausdruck aus Rilkes Lyrikdefinition siehe oben, S. 228 f. 240 Stahl, „Kommentar“, S. 959. 241 „Ich, der ich schon als Kind der Musik gegenüber so misstrauisch war (nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, dass sie mich nicht wieder dort ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein) […]“ (S. 542) 242 Zu vergleichen ist hier das Versgedicht Bildnis (Neue Gedichte II, Werke, Bd. 1, S. 556). Die Aufzeichnung wird also einem anerkannten Kunstwerk gleichgesetzt. Das dritte ‚Gedicht‘ der Reihe, die 13. Aufzeichnung, zeichnet eine Gruppe von Stra‐ ßenkünstlern, wie Rilke sie mehrfach zum Thema von Versgedichten gemacht hat 238 . Die drei Stücke haben lyrische Themen oder, mit Rilkes Worten, den „be‐ stimmten Gefühlsstoff “ von Gedichten, denn sie bringen Maltes Erlebnis der Stadt in „letzten Empfindungen“ zum Ausdruck, was bezeichnenderweise ge‐ schieht, nachdem er etwas „getan [hat] gegen die Furcht“ und zu schreiben be‐ gonnen hat (10). Zudem stehen sie im lyrischen Gegenwartstempus, arbeiten mit lichten Eindrücken und ihr Sprachrhythmus ist leicht und schwungvoll. Sie können durchaus neben den Prosagedichten Baudelaires bestehen. Des Wei‐ teren enthalten die Aufzeichnungen 37, 38, 41 und 65 „intime“ oder „persönliche Geständnisse“ 239 von Ekstasen, die diesmal durch Kunst erzeugt werden. So gibt Maltes Beschreibung der Wandteppiche der Dame à la licorne eine doppelte ‚Kunstekstase‘ wieder (38), wenn er einerseits den dargestellten rätselhaften Vorgang tiefer Versunkenheit der Dame beschreibt, andererseits die eigene Eks‐ tase beim Betrachten der Szenen kundtut, die er Abelone vermitteln möchte. Auch zu dieser Aufzeichnung gibt es themengleiche Versgedichte 240 . Die vor‐ hergehende Aufzeichnung (37) hat Maltes musikalische Ekstasen zum Gegen‐ stand, die verunsichernden der Kinderzeit 241 und die beglückenden, die Abelones Gesang in ihm ausgelöst hat: […] ich ertrug diese Musik, auf der man aufrecht aufwärtssteigen konnte, höher und höher, bis man meinte, dies müsste ungefähr schon der Himmel sein seit einer Weile. Hier handelt es sich um erzählte Ekstasen, die in der Vergangenheit liegen und deren Schilderung zudem nicht die ganze Aufzeichnung einnimmt. Von einer unmittelbaren künstlerischen Ekstase handelt die 65. Aufzeichnung, in der Malte sich in die Schauspielkunst der Eleonora Duse versetzt, die ihre eigene Verletz‐ lichkeit in den von ihr dargestellten Kunstwelten übersteigt 242 . Weitere Künst‐ lerekstasen schildern die Aufzeichnungen 24 und 26 über Beethovens Musik, die das All herausfordert, und über Ibsen und sein unumgängliches Theater eines 8. Rilkes „Prosabuch“ 309 243 S. 512. Zur 24. Aufzeichnung über Beethoven: „Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All zurückgebend, was nur das All erträgt. Die Beduinen wären in der Ferne vorbeigejagt, abergläubisch; die Kaufleute aber hätten sich hinge‐ worfen am Rande deiner Musik, als wärest du der Sturm. Einzelne Löwen nur hätten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.“ (S. 508) Diese Aufzeichnung hat eine Parallele in Baudelaires Prosagedicht Le Thyrse über Liszt und seine Musik (Le Spleen de Paris, XXXII). 244 S. 552. Siehe auch das Gedicht Die Spitze (Neue Gedichte I, Werke, Bd. 1, S. 474 f.). 245 Siehe dazu auch oben, S. 281 ff. Lebens, „das sich nach innen zurückgezogen hat“ 243 . Diese Aufzeichnungen leben von der Empathie des mitempfindenden Dichters und enthalten zahlreiche poetische, oft pathetische Passagen, wie sie dem Gegenstand angemessen sind. Schließlich gehört in die Reihe der Kunsterlebnisse auch die 41. Aufzeichnung über die alltägliche Kunst des Verfertigens von Spitzen und ihre beglückende Wirkung auf den Betrachter. Malte erinnert sich, wie er mit der Mutter voll seliger Hingabe alte Spitzenreste betrachtet hat: „Die sind gewiss in den Himmel gekommen, die das gemacht haben“, meinte ich be‐ wundernd. Ich erinnere, es fiel mir auf, dass ich lange nicht nach dem Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen waren wieder beisammen. Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie ganz langsam: „In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein. Man weiß ja so wenig darüber.“ 244 Neben den erlebten oder mitempfundenen Aufzeichnungen solcher „letzter Empfindungen“ findet man auch Stücke, die ein ursprünglich lyrisches Thema auf neue Weise behandeln. So das Thema der Liebe, das Rilke in der ihm am Herzen liegenden Variante am Beispiel der großen Liebenden der Literatur und der Historie diskursiv-analytisch erörtert (Aufzeichnungen 39, 66-68), so dass man von Reflexions- oder Gedankenlyrik sprechen kann. Eine besonders kom‐ plexe Aufzeichnung, die Analyse mit Erzählung und dazu einem besonderen „Geständnis“ vereint, ist die 59. vom blinden Zeitungsverkäufer 245 . Nach einem knappen Bericht darüber, wie er dem Anblick des Blinden auszuweichen pflegt, analysiert Malte seine phantasievollen Versuche zu dessen dichterischer „Ein‐ bildung“, die ohne „Beweise“ „ganz und gar innen zu leisten“ ist und die für ihn auf Dauer so schmerzhaft wird, dass er endlich beschließt, sich der Realität zu stellen. Es geschieht an einem Frühlingssonntag, an dem Heiterkeit in der Luft liegt und fröhliche Menschen unterwegs sind, als Malte erstmals den Blinden ansieht und ihn unendlich elender und sonntäglicher und anrührender findet, als er ihn sich je vorgestellt hatte, so dass ihm unversehens ein frommes Ge‐ ständnis und ein Gebet auf die Lippen kommen. Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 310 Der weitaus größte Teil der Aufzeichnungen - Pariser Erlebnisse, Episoden der Familiengeschichte und der Kindheit Maltes - ist jedoch in der klassisch eleganten, erzählend-beschreibenden Prosa abgefasst, die Rilke wohl meint, wenn er von der „ernsten Männerarbeit“ der Prosa spricht. Darunter sind meh‐ rere Stücke mit moralistischem Charakter, etwa die Aufzeichnung über das Lesen (56), die auch vom Kindsein handelt und in einer Begegnung mit Abelone endet sowie in einem morgendlichen „état exceptionnel“ (S. 596 f.). In einer an‐ deren Aufzeichnung gibt Malte eine detaillierte Gesellschaftsschilderung des großelterlichen Hauses und der Dominanz der Großmutter Brigge, die bis zu ihrem und ihres Mannes Tod reicht (36 sowie 8). Moralistisch ist auch die 43. Aufzeichnung über Geburtstage und Geburtstagsgeschenke und das angepasste Verhalten, das eine solche Situation von einem Kind verlangt. In den moralisti‐ schen Stücken wechselt Malte bisweilen in eine ironische Haltung, so in der satirisch-ironischen Beschreibung der Besuche des Pfarrers Jespersen im elter‐ lichen Haus oder des Verhaltens der Ärzte beim Tod der Mutter (33). Eine aufs höchste gesteigerte Ironie bei gleichzeitig moralistischem Unterton liefert die 51. Aufzeichnung über Büchsendeckel, unter welchem poetischen Bild Malte, „[s]einer Anlage gemäß“, das Problem der Zerstreuung abhandelt: Einigen wir uns darüber: der Deckel einer Büchse, einer gesunden Büchse, deren Rand nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein Deckel müsste kein anderes Verlangen kennen, als sich auf seiner Büchse zu befinden; dies müsste das Äußerste sein, was er sich vorzustellen vermag; eine nicht zu übertreffende Befriedigung, die Erfüllung aller seiner Wünsche. Es ist ja auch geradezu etwas Ideales, geduldig und sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichmäßig aufzuruhen und die eingreifende Kante in sich zu fühlen, elastisch und gerade so scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach, aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu schätzen wissen. Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den Menschen auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen nämlich, wenn es angeht, sie ganz vorübergehend mit solchen Deckeln zu vergleichen, sitzen höchst ungern und schlecht auf ihren Be‐ schäftigungen. Teils weil sie nicht auf die richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil man sie schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die Ränder, die aufeinander gehören, verbogen sind, jeder auf eine andere Art. Sagen wir es nur ganz aufrichtig: sie denken im Grunde nur daran, sobald es sich irgend tun lässt, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern. Wo kämen sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen her und der Lärm, den sie verursachen? (S. 582 f.) Stellenweise erreicht die Aufzeichnung die Dimension des grotesk Phantasti‐ schen, so wie es auch die vorausgehenden Aufzeichnungen zur „Zeitbank“ des Petersburger Nachbarn (49) und zum sich schließenden Augenlid des Medizin‐ 8. Rilkes „Prosabuch“ 311 246 Siehe oben, S. 203f. Die gehäuft auftretende groteske Darstellungsweise könnte in diesem Sinne ein Ersatz für Rilkes ‚lyrisches Feiern‘ sein. 247 Brief an Kippenberg vom 2. 01. 1909, S. 140. 248 „Er entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Gedächtnis, er spricht ihn vor, […] um dieser Jugend den schönen, echten Bruch der massiven Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.“ (68, S. 621.) studenten im Nachbarzimmer (50) tun, oder die folgende 52., in der Malte aus einem Bild von Brueghel oder Bosch eine Darstellung der „Unzucht der Zer‐ streuung“ herausliest. Die Steigerung und Übertreibung der jeweiligen komi‐ schen Züge lässt an Baudelaires „vertige de l’hyperbole“ und dessen poetisch verzückende Wirkung denken 246 . Schließlich dürfen in einem Überblick über die Prosaformen der Aufzeichnungen die historischen Vorfälle aus der russischen und der französischen Geschichte (54 f., 61 f.) nicht vergessen werden, die Malte nach dem „kleinen grünen Buch“ seiner Knabenzeit erzählt, wobei er einen Hang zu dramatischen Situationen an den Tag legt, fast wie ein Bänkelsänger. Es zeigt sich also, dass es in den Aufzeichnungen eine ganze Reihe unter‐ schiedlicher Sprechhaltungen vom lyrischen „Tönen“ bis zur Groteske gibt. In einem Brief an Kippenberg zum Jahreswechsel 1909 kommentiert Rilke das wie folgt: Und wenn ich so gelassen daran denke, nach dieser Arbeit nicht mehr zu sein, so ist es, weil ich mir die Fülle noch gar nicht zu versprechen wage, die ich mir mit ihr nach und nach erwerbe: denn jetzt erzieh ich mir (dies ist gewiss, auch wenn ich sonst manches überschätze) eine massive dauerhafte Prosa, mit der rein alles wird zu ma‐ chen sein. Es wäre herrlich, hernach fortzufahren oder täglich neu anzufangen mit des Lebens ganzer unbegrenzter Aufgabe. 247 „massiv“ bedeutet hier so viel wie „ausdrucksstark“, wie eine Bemerkung Maltes über die „massive Schmucksprache“ der Verse der Sappho zeigt 248 , die ein wei‐ teres Indiz dafür ist, dass Poesie und (poetische) Prosa für Rilke damals nahe beieinander lagen. Die Qualifikation „dauerhaft“ sagt dagegen wohl etwas über die umfassenden Verwendungsmöglichkeiten der angestrebten Prosa aus, mit der „rein alles“ zu machen sein wird. So kann er sich vorstellen, später einmal die ganze Breite des Lebens mit dieser Prosa wiederzugeben: „täglich neu an‐ zufangen mit des Lebens ganzer unbegrenzter Aufgabe“. Das erinnert an Bau‐ delaires Ideal einer umfassenden poetischen Prosa, mit deren „multitude de tons“ sich das bunte Leben in den „villes énormes“ wiedergeben ließe. Offenbar hat Rilke sich die „massive, dauerhafte Prosa“ der Aufzeichnungen ebenso Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 312 249 Siehe oben, S. 192 ff. („une prose poétique“). 250 „Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman“ (1961), bes. S. 150. 156 ff. Weitere Vertreter der Romanthese siehe ebd., S. 148 mit Anm. 5. 251 „Nachwort“ zu seiner Ausgabe der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 344 ff. 252 Siehe oben, S. 220 f. 253 Briefe 1907-1914, S. 95. mühsam erringen müssen, wie Baudelaire sich seinerzeit die „prose poétique, musicale sans rhythme et sans rime“ seines Spleen de Paris erschlossen hat 249 . Worin besteht nun für Rilke die Einheit der Aufzeichnungen und was ist das Konzept ihres vieltönigen Ganzen? Wiederholt hat man versucht, das Werk der Gattung des Romans zuzuordnen. Doch fragt sich, welche Art von Roman dies sein sollte. Ulrich Fülleborn hat vom Tagebuchroman gesprochen, wobei die Aufzeichnungen freilich nicht „am Faden der Zeit“ aufgereiht seien 250 . Manfred Engel sieht in den Aufzeichnungen einen modernen Roman, in dem es um Be‐ wusstseinsveränderung gehe, um eine Ich-Erweiterung, die ein für alle Erfah‐ rungen offenes, empathisches Ich zum Ziel habe, das u. a. „Intellekt, Gefühl und Kreativität“ besitze 251 . Fügt man seiner Aufzählung noch ein ungewöhnliches Maß an Phantasie hinzu, so erhält man ein Dichter-Ich, wie es Baudelaire vor Augen stand, und die Aufzeichnungen würden zum Künstlerroman 252 . Ähnliches scheint eine Äußerung nahezulegen, die Rilke kurz nach Fertigstellung der Auf‐ zeichnungen in einem Brief an Gräfin Manon zu Solms-Laubach getan hat: Malte Laurids … Ich weiß nicht, wieweit man aus den Papieren auf ein ganzes Dasein wird schließen können. Was dieser erfundene junge Mensch innen durchmachte (an Paris und an seinen über Paris wieder auflebenden Erinnerungen), ging überall so ins Weite; es hätten immer noch Aufzeichnungen hinzukommen können; was nun das Buch ausmacht, ist durchaus nichts Vollzähliges. Es ist nur so, als fände man in einem Schubfach ungeordnete Papiere und fände eben vorderhand nicht mehr und müsste sich begnügen. Das ist, künstlerisch betrachtet, eine schlechte Einheit, aber mensch‐ lich ist es möglich, und was dahinter aufsteht, ist immerhin ein Daseinsentwurf und ein Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte. 253 Wohl erklärt er hier das Ganze der Aufzeichnungen für unvollständig und „un‐ geordnet“ und unter künstlerischem Gesichtspunkt sogar für eine „schlechte Einheit“, doch hofft er, dass man hinter ihrer Vielfalt und Weite den „Daseins‐ entwurf und […] Schattenzusammenhang sich rührender Kräfte“ erkennen möge. Das darf man als Hinweis auf das Leben eines Künstlers oder Dichters verstehen, der in der modernen Welt den Weg zu sich selbst und seiner Berufung sucht. Das Bild der „in einem Schubfach ungeordnete[n] Papiere“, die obendrein 8. Rilkes „Prosabuch“ 313 254 „Einmal habe ich auf dem schönaich’schen Gut einen ganzen Sommer gesessen, allein in der Familien-Bibliothek, deren Archiv voll alter Briefwechsel und Regesten und Schriftstücke steckt; ich fühlte in allen Nerven die unmittelbare Nähe von Schicksalen, das Sichregen und Aufstehn von Gestalten, von denen nichts mich trennte, als die al‐ berne Unfähigkeit, ältere Zeichen zu lesen und zu deuten und Ordnung zu schaffen unter der ungesichteten Wirrnis dieser Papiere. Was für ein guter, tüchtiger Sommer hätte das sein können, wenn ich ein wenig Archivarhandwerk verstanden hätte […].“ (Brief an Andreas-Salomé vom 13. 5. 1904, Briefwechsel, S. 165.) Siehe auch Stahl, „Kom‐ mentar“, S. 886 ff. („Quellen“). 255 So die Beschreibung des Nachlasses in der 1904 entstandenen Rezension von Obstfel‐ ders Pilgerfahrten: „[…] eine Unmenge undatierter und ungeordneter Papiere mit ver‐ schiedenen, immer wieder veränderten Aufzeichnungen, nicht Bücher, sondern Buch‐ anfänge, nicht Feststehendes, sondern Werdendes, steigendes und fallendes Leben, eine Wirrnis, die im Grunde Bewegung war […]“ (Werke, Bd. 4, Schriften, S. 564). 256 Gesammelte Malte-Studien. Zu Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Rhein‐ felden / Berlin 1993, S. 81. Naumann bezieht sich dabei auf einen Brief an Clara, in dem Rilke seinen ersten Eindruck von Rodins Atelier beschreibt, sowie auf einen späten Brief (10. November 1925) an den Übersetzer Hulewicz, in dem er zu den Aufzeichnungen schreibt: „Fragmentarisch haben alle diese Episoden ihre Aufgabe, sich innerhalb des Malte mosaikhaft zu ergänzen.“ (S. 79; ebd. auch zum Begriff des Mosaiks in den Auf‐ zeichnungen). 257 Michel Butor hat aus dieser Ankündigung den Schluss gezogen, dass der Spleen de Paris eigentlich ein Roman sei, in dem Baudelaire alles weggelassen habe, was nicht unmit‐ telbar poetisch gewesen sei: „Baudelaire dit à Arsène Houssaye, dans la dédicace du Spleen de Paris, qu’il ‚ne suspend pas la volonté rétive de son lecteur au fil interminable d’une intrigue superflue‘. Autant déclarer qu’il y a dans son livre un roman, mais dont il a retranché tout ce qui n’était pas immédiatement poétique. Nous retrouvons le sen‐ timent: ‚Cette description de chambre, permettez-moi de la passer, avec beaucoup d’autres.‘“ (M. Butor, „Le Roman et la poésie“, in: ders., Répertoire II, Paris 1964, S. 7-26, hier: S. 20.) unvollständig seien, erinnert an die Reventlowpapiere 254 , die dänische Inspirati‐ onsquelle Rilkes, und an die Hinterlassenschaft des norwegischen Symbolisten Björn Obstfelder, in der Rilke „steigendes und fallendes Leben, eine Wirrnis, die im Grunde Bewegung war“ entdeckte 255 . Nach Helmut Naumann war es erst die Begegnung mit Rodins Werk, die ihm die Möglichkeit aufgezeigt hat, aus solchen Bruchstücken eine künstlerische Einheit zu machen, ein „Mosaik aus lebendigen Elementen“ 256 . Nun hatte schon Baudelaire im Spleen de Paris für die Erfah‐ rungen einer „vie moderne et […] abstraite“, die zweifellos die eines Künstler‐ lebens war, eine offene Form gewählt. Sein Bild dafür war das der Schlange ohne Kopf und Schwanz („ni queue ni tête“), deren einzelne Glieder („tronçons“), durch keine „intrigue superflue“ gebunden, in loser Ordnung und für sich selbst stehen konnten, so dass jeder Leser nach seinem Wunsch mit dem Text würde verfahren können 257 . Rilke sah die Einheit der Aufzeichnungen in der Person Maltes und ihrer „unendlichen Verschiedenheit“: Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 314 258 M. Betz, Rilke vivant, Paris 1937, S. 123. 259 Engel, „Nachwort“ zu seiner Ausgabe der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 348 f. Schon Fülleborn hatte vom Prinzip der Komplementarität und musikalischen Kompositionsprinzipien, mit Vorliebe solchen des Kontrapunkts gesprochen („ordres complémentaires“, „sainte loi du contraste“; „Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ [1961], S. 156 ff. 161). 260 S. 347 ff. 261 Baudelaire hat diesen Umgang mit der Sprache eine „sorcellerie évocatoire“ genannt (Fusées XI, S. 658) und sie etwa an Théophile Gautier gerühmt (Théophile Gautier [I], S. 117 f.). 262 „Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, S. 156. 263 Siehe Stahl, „Kommentar“, S. 893. Dies stets gegenüber Kippenberg, dem er damit den verkaufsgünstigeren Prosa-Effekt vor Augen stellte. 264 So verweist Roger Bauer auf eine der ersten Rezensionen des Buches in der Fackel (Nr. 309-310 vom 10. 10. 1910): „Die Aufzeichnungen sind Lyrik […] Die Tagebuchblätter, die Reflexionen und Visionen, die Predigten, Erinnerungen und Legenden - alles lyri‐ sche Unmittelbarkeit. Strophen einer großen Hymne.“ Zitiert in „Rilke und das ‚poème en prose‘ Baudelaire’scher Prägung“, S. 176. L’unité nécessaire […] était celle de ce personnage [Malte] qu’il fallait vivre, d’un bout à l’autre, dans son infinie diversité. C’était un rythme haché, rompu qui s’imposait à moi, et j’étais entraîné en beaucoup de directions imprévues. 258 Daraus folgte für ihn jedoch kein biographischer Ablauf der Ereignisse, wie die zahlreichen Leerstellen am Anfang der Aufzeichnungen beweisen, denen im weiteren Verlauf zunehmend freie Textverknüpfungsverfahren - Bild- und Mo‐ tivparallelen, Kontrast-, Komplementär- und Simultanstrukturen - folgen 259 . Engel erkennt darin eine „mittelbare“ Erzählweise, die er als „symbolistisch-evo‐ kative[s] Sprechen“ einstuft 260 . Eine solche evokative Sprech- und Schreibweise ist aber eminent lyrisch 261 . Die Ordnungsstrukturen der Aufzeichnungen sind denn auch ebenso Verfahren lyrischer wie epischer Textkonstitution bzw. Text‐ verknüpfung und können z. B. als Ordnungsprinzipien von Gedichtsammlungen dienen. So weist Fülleborn ausdrücklich darauf hin, dass die „Prosagedichte“ der Aufzeichnungen „sich nach denselben Gesetzen aneinander [fügen], die auch in Rilkes Lyrikzyklen nachweisbar sind“ 262 . Es ist daher mitnichten ein Zufall, dass Rilke im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen den Begriff ‚Roman‘ beharr‐ lich vermieden und stattdessen von seinem „Prosabuch“ gesprochen hat 263 . Ob er dabei auch an Baudelaires Spleen de Paris mit seiner losen Ordnung von Pro‐ sagedichten gedacht hat, sei dahingestellt. Auf jeden Fall hat er mit der Benen‐ nung ebenso wie mit der Anordnung das Verhältnis der Aufzeichnungen zur Lyrik in der Schwebe gehalten, was die zeitgenössischen Leser durchaus be‐ merkt haben 264 . Wegen der „personalen Einheit“ und des dichterischen „Da‐ seinsentwurfs“ lag jedoch die Zuordnung zur Gattung des Romans von Anfang 8. Rilkes „Prosabuch“ 315 an nahe, ja erschien möglicherweise sogar als die ‚modernere‘. Denn nicht nur die Lyrik, auch der Roman unterlag damals großen Veränderungen und war für neue Formen zugänglich. Das sollte sich in der folgenden Zeit noch verstärken, wobei die beiden Gattungen sich weiter einander annäherten. 9. Resümee Rilke und Baudelaire waren einander ähnlich an Sensibilität, Sprachgefühl und Phantasie. Beide kannten als Lyriker beglückende seelische Ausnahmezustände („Tönen“, „Feiern“ - „état poétique“) und waren der Überzeugung, dass es ihre Aufgabe sei, den Lesern solche zu vermitteln. Auch die persönlichen Gefähr‐ dungen des Künstlers waren ihnen wohl bekannt, Rilke vielleicht noch mehr als Baudelaire. Dazu kamen bei beiden schwierige Lebensumstände nicht zuletzt wirtschaftlicher Art, denen durch schriftstellerische Tätigkeit kaum abzuhelfen war, ganz abgesehen von der grundsätzlichen Orientierungsarbeit, die diese Tä‐ tigkeit in einer Epoche mannigfacher Umbrüche von ihnen verlangte. Für Rilke war die Orientierung besonders schwer, da er über längere Zeit in einer fremden Umgebung mit neuen sozialen und kulturellen Erfahrungen konfrontiert war, die er verarbeiten musste. Dazu zählte auch die Begegnung mit dem Werk Bau‐ delaires, das ihm in langer, geduldiger Auseinandersetzung wesentliche Anre‐ gungen für sein eigenes Werk, insbesondere für die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, gegeben hat. Bei Baudelaire stieß Rilke auf das Thema des Großstadterlebnisses, das wäh‐ rend seiner mehrfachen Paris-Aufenthalte für ihn relevant wurde und das sich in der ersten Themengruppe der Aufzeichnungen niedergeschlagen hat. Freilich hat Rilke es, anders als Baudelaire, vorrangig in der Form des „Leidens an der Stadt“ dargestellt. Es fehlt bei ihm Baudelaires ekstatisches Erleben der Men‐ schenmenge, da er das empathische Verhältnis zum Anderen eher als kräfte‐ zehrend und bedrohlich denn als bereichernd und positiv erfahren hat. Und Rilke hat weniger Wert auf Großstadt-Impressionen und -Menschenbilder als auf den „Daseinsentwurf “ seines Alter Egos Malte gelegt, der seine Version des „homme sensible moderne“ ist. In diesem Begriff und Bild des modernen Künstlers wie auch in anderen Vorstellungen und Verfahrensweisen Baudelaires, z. B. der Klä‐ rung der eigenen Ansichten in der Auseinandersetzung mit bildenden Künst‐ lern, konnte er sich selbst wiedererkennen und in seiner schwierigen Pariser Zeit Selbstbestätigung finden. Auch bei der Bewältigung des in den Aufzeichnungen zentralen Problems des ‚argen Wirklichen‘ hat er sich bekanntlich auf Baudelaire berufen, der ihn und Rilkes und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt 316 Malte gelehrt habe, noch im Schrecklichen und Widerwärtigen das Seiende zu sehen, „das unter allem Seienden gilt“. Baudelaire, der kein ‚Ästhetizist‘ wie Rilke war, hatte das Malheur jedoch schon in seinen Begriff des Schönen als ein gewissermaßen gebändigtes ‚arges Wirkliches‘ integriert, weshalb sich für ihn ein Lernprozess der Wirklichkeitserfahrung, wie Malte / Rilke ihn leisten müssen, erübrigte. Nationale und epochale Unterschiede haben hier ebenso ge‐ wirkt wie divergente Psychogramme, etwa Rilkes Hang zu schrecklichen Phant‐ asien und quälenden Eindrücken, die die Phantasie sich gegebenenfalls selbst erschafft. Die Phantasie selbst war für beide Autoren freilich ein gleichermaßen geschätztes poetisches Werkzeug. Schließlich hat Baudelaire, vor Freud und anderen, auf den tieferen psycho‐ logischen Sinn und die poetische Berechtigung der Kindheitsthematik hinge‐ wiesen, die eine weitere Themengruppe der Aufzeichnungen stellt. Unzweifelhaft hat Baudelaires Vorbild auch bei der Klärung der Form der Aufzeichnungen mitgewirkt sowie bei Rilkes Entscheidung für die poetische Prosa, deren ‚Vieltönigkeit‘ („multitude de tons“) er, anders als Baudelaire, nicht mehr rechtfertigen musste. Auffällig ist dabei sein Hang zum satirisch-grotesken Stil, den er auf Baudelaires Spuren möglicherweise als poetischen Ersatz für das frühere lyrische Feiern angesehen hat. Wie der Spleen de Paris tragen auch die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zur Auflösung der klassischen poeti‐ schen Sprech- und Gattungsformen bei und stellen eine Etappe auf dem Weg von der Lyrik zum modernen Roman dar. 9. Resümee 317 1 „Conversation et sous-conversation“, in: L’Ère du soupçon. Essais sur le roman, Paris 1956, S. 79-124, wieder in: Œuvres complètes, hrsg. von J.-Y. Tadié / V. Forrester / A. Jef‐ ferson / V. Minogue / A. Rykner (Bibliothèque de la Pléiade. 432), Paris 1996, S. 1553-1620, hier: S. 1593. 2 „De Dostevski à Kafka“, in: L’Ère du soupçon, S. 1557-1577, hier: S. 1566. 3 Ebd. III. Dichterische Selbstfindung auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Nathalie Sarraute, Portrait d’un inconnu 1. Einleitung Nathalie Sarraute war schon früh davon überzeugt, dass der Roman in der her‐ kömmlichen Form mit festen Charakteren und einem nachvollziehbaren plot sich überlebt hatte. Ihr Interesse galt vielmehr einer „matière psychologique nouvelle“, einer „matière anonyme qui se trouve chez tous les hommes et dans toutes les sociétés“ 1 : […] ces mouvements subtils, à peine perceptibles, fugitifs, contradictoires, évanes‐ cents, […] faibles tremblements, […] ébauches d’appels timides et […] reculs, […] ombres légères qui glissent […] 2 Diesen „mouvements“ hat sie den Namen „tropismes“ gegeben, der in der Bo‐ tanik die unter äußerem Einfluss, Licht oder Schwerkraft, erfolgende Rich‐ tungsänderung des Pflanzenwachstums bezeichnet und in der Biologie allge‐ mein für die Ortsveränderung eines Organismus aufgrund eines physischen Einflusses gebräuchlich ist. Die Bezeichnung ist eine glückliche Metapher, weil sie gleichermaßen die naturgegebene Notwendigkeit der in Frage stehenden psychischen Regungen wie ihren reaktiven Charakter zum Ausdruck bringt. Nach Sarraute funktionieren die Tropismen nämlich nach dem Prinzip Sti‐ mulus - Antwort, wobei der Stimulus gewöhnlich menschlichen Ursprungs ist und die Antwort zu einem neuen Stimulus werden kann, so dass sich gegebe‐ nenfalls längere Folgen von Tropismen ergeben. Tropismen stellen für Sarraute das Geflecht unserer sozialen Beziehungen dar: „la trame invisible de tous les rapports humains et la substance même de notre vie“ 3 . Ihr erstes Werk, eine Sammlung kurzer Prosatexte, die sie Tropismes (1938) nannte, hat sie, wie sie 4 Interview mit Bettina L. Knapp, Kentucky Romance Quarterly Bd. 14 / 1967, S. 283-295, hier: S. 283. 5 S. 284. Ebenso in einem Interview mit Lucette Finas: „ne pas couper court à un tropisme donné, de le laisser s’épanouir“. (N. Sarraute, „Comment j’ai écrit certains de mes livres“, Études littéraires Bd. 12 / 1979, S. 393-401, bes. S. 395 f.). 6 „I had already begun trying to find developing tropisms, like the first ones, fastened to nothing and hanging in the air all by themselves, and it was extremely difficult to do. Max Jacob had written me that it was like fishing in an enormous bowl. I stayed for days on end with the line cast and there were no bites.“ (G. Brée, „Interview with two French Novelists. Nathalie Sarraute“, Contemporary Literature, Bd. 14 / 1973, S. 137-146, hier: S. 140.) 7 Interview mit Finas, S. 395. später erklärte, wie einen poetischen Text niedergeschrieben, intuitiv und ohne recht zu wissen, was es sein würde, nur mit dem Bemühen, den starken Eindruck jener „mouvements“ in Rhythmen und Bildern festzuhalten: J’ai écrit les premiers petits textes, que j’ai intitulés Tropismes, d’une manière tout à fait spontanée, sans même bien savoir ce qu’ils étaient, ce que cela représentait exac‐ tement, sous l’effet d’impressions, comme on écrit des textes poétiques. 4 Bald habe sie jedoch erkannt, dass die Tropismen nach weiterer Entfaltung drängten: […] j’ai vu que si je continuais à montrer ces mouvements séparés, je les limitais. Ils ne pouvaient pas arriver à se développer. 5 Deshalb habe sie begonnen, Folgen von Tropismen zu suchen, zunächst noch ohne Zuordnung zu einem Charakter. Das erwies sich als mühsames Unter‐ fangen 6 . Deshalb habe sie zu einem klassischen Sujet gegriffen, in dem sich zwi‐ schen den Personen Tropismen entwickeln konnten: […] je me suis résolue à prendre un sujet classique (on pourrait l’appeler balzacien), par exemple un père avare et une fille fragile et dépendante comme dans Eugénie Grandet, et à montrer les mouvements qui se développent entre ces deux person‐ nages. 7 Den beiden Balzacschen Figuren fügte sie eine dritte hinzu: „un troisième qui dit ‚je‘“ (ebd.), der die Tropismen aufspürt und deshalb von allen abgelehnt wird. Im Interview mit Germaine Brée hat sie den Vorgang etwas anders dargestellt, nämlich dass ihr der Gedanke gekommen sei, eine Person einzuführen, die Tro‐ pismen bei zwei traditionellen Charakteren sucht: 1. Einleitung 319 8 S. 140. 9 „[…] les difficultés que rencontre mon personnage-témoin dans son rôle d’observateur reflètent celles que me donne l’appréhension, en tous les sens de ce mot, du tropisme.“ („Comment j’ai écrit certains de mes livres“, S. 396.) 10 „Dans Portrait d’un inconnu et dans Martereau comme je n’avais pas confiance, comme je pensais qu’on ne voyait pas ces tropismes, que personne ne les percevait, j’avais effectivement introduit un personnage, une sorte de ‚fou‘ qui passait son temps à les chercher chez les autres. Ces ‚Tropismes‘ presque personne, à ce moment-là, ne les sentait et on me disait: ‚C’est complètement fou.‘ C’est ce qu’avaient répondu tous les éditeurs, sauf Robert Denoël. C’est beaucoup plus tard, par conséquent, avec Portrait d’un inconnu et Martereau que j’ai introduit ce personnage, hypersensible ou du moins seul à les percevoir.“ (S. Benmussa, Nathalie Sarraute. Qui êtes-vous? , Lyon 1987, S. 60.) Ab dem dritten Roman (Le Planétarium) sei das dann nicht mehr nötig gewesen (ebd.). 11 Komplizierte literarische Neuerungen lassen sich leichter an einem bekannten Gegen‐ stand vermitteln. So hat Robbe-Grillet in La Jalousie eine Dreiecksbeziehung für seine verfremdete objektivierende Erzählweise gewählt. 12 „Conversation et sous-conversation“, S. 1595. I told myself that perhaps it would be interesting to show someone who seeks out these tropisms through two semblances, characters externally resembling traditional ones, like the miser and the old maid in Le Portrait d’un inconnu. 8 Welcher Einfall der frühere war, ist nicht festzustellen und letztlich auch nicht entscheidend. Jedenfalls verbreiterte sie dank des Balzacschen Sujets die stoff‐ liche Basis der Tropismen, handelte dieses jedoch auf ihre Weise ab, indem sie außer dem ‚drame‘ auch das herkömmliche Konzept des Charakters aufgab und an die Stelle der bekannten Charakterzüge des Geizes und der töchterlichen Ergebenheit die tropistischen Gemütsregungen und -bekundungen setzte, die sie hinter jenen sah. Die Einführung des „personnage-témoin“ mit seiner Suche nach den Tropismen lieferte zusätzlichen Stoff. Zudem konnte sie mit Hilfe dieser Figur ihre eigenen Schwierigkeiten mit den Tropismen zum Ausdruck bringen 9 und den Schritt vom Einzeltropismus zum Roman tun, ohne zwangs‐ läufig in traditionelles Fahrwasser zu geraten. Wie aus einem späteren Interview hervorgeht, war diese Veränderung eine Reaktion auf das Unverständnis und die Ablehnung, die die Sammlung Tropismes bei Verlegern und Lesern ausgelöst hatte, was sie nicht wenig verunsichert hatte 10 . Ähnliches dürfte auch für den Rückgriff auf das „sujet classique“ der Vater-Tochter-Beziehung gelten 11 , zumal sie der Überzeugung war, dass die Tropismen, wenn der Leser sie miterleben sollte, einen Partner benötigten, sei er phantasiert oder, besser noch, ‚real‘. Die wechselnden Beziehungen zwischen den an den Tropismen Beteiligten könnten dann auch wieder zu einer „très précieuse matière romanesque“ werden 12 . Wenn Sarraute schon zur Darstellung ihres zentralen Themas eine Vorlage aus der Tradition des zu überwindenden Romans herangezogen hat, kann man Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 320 13 Siehe V. Minogue, „Notice“, in: Œuvres complètes, S. 1717-1724, bes. S. 1718. 14 Vgl. Interview mit Knapp, S. 289: „Je crois que le roman se rapproche de la poésie, que le roman doit transmettre un certain ordre de sensations, comme la poésie, et que, par conséquent, le lecteur doit éprouver ces sensations que créent le langage, le rythme, les images.“ 15 „[…] soyez Nathanaël, goûtez aux ‚nourritures terrestres‘. Retrouvez - c’est ce qui vous manque maintenant pour achever la guerison - retrouvez la ‚ferveur‘.“ (Portrait d’un inconnu, hrsg. von V. Minogue, in: Œuvres complètes, S. 33-175, hier: S. 81 f.) Die Nour‐ ritures terrestres hatten, nachdem sie anfangs auf Kritik gestoßen waren, seit der Zweit‐ auflage von 1927 zunehmendes Interesse gefunden und viele junge Autoren beein‐ druckt. 16 „Au lieu des petits vieux sinistres, de la ‚vieille au crayon‘ qui hantait, dans des endroits probablement assez semblables à celui-ci, le triste Malte Laurids Brigge, j’ai réussi, en sachant bien m’y prendre […] à obtenir […] cette vieille assise près de moi qui murmure des choses très douces et qui regarde l’arbre blanc.“ (Portrait d’un inconnu, S. 50) davon ausgehen, dass sie auch für das Erzähler-Ich und seine Tropismensuche nach literarischen Anknüpfungspunkten Ausschau gehalten hat. Diese Anre‐ gungen mussten nicht aus dem Bereich des Romans stammen, auch die Lyrik und ihr Umfeld kamen dafür in Frage. Denn zum einen standen ihre eigenen tropistischen Anfänge der Lyrik, speziell dem Prosagedicht, nahe 13 ; zum anderen gab es im zeitgenössischen Roman eine ausgeprägte lyrische Tendenz, so dass sie selbst von der Nähe der beiden Genera überzeugt war 14 . Außerdem ver‐ langten die zu suchenden und zu (er)findenden Tropismen in ihrer Eigenschaft als „mouvements intérieurs“ einen Beobachter, der für innere Regungen und Zustände empfänglich war. Das ist seiner Natur nach aber eher der introvertierte Lyriker als der nach außen gewandte Epiker. In Portrait d’un inconnu werden denn auch zwei literarische Figuren aus dem Grenzbereich zwischen Roman und Lyrik explizit als mögliche Vorbilder des Erzählers genannt. So rät der Therapeut dem Erzähler, er solle wie Nathanaël, der Adressat von André Gides Nourritures terrestres, reisen und das Leben in vollen Zügen genießen, um den Prozess seiner Genesung zu vollenden 15 . Im anderen Fall setzt der Erzähler sich selbst und sein Verhalten von demjenigen des „traurigen Malte Laurids Brigge“ ab 16 . Während die erste Parallele den Erzähler von seinem tropistischen Vorhaben abbringen soll und daher nur eingeschränkt als ernst gemeintes Vorbild zu werten ist, im‐ pliziert der von ihm selbst vorgebrachte Vergleich mit dem Rilkeschen Prota‐ gonisten trotz seiner ablehnenden Haltung sehr wohl eine Identifikation. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge waren 1926 in Paris in der Übersetzung von Maurice Betz erschienen und hatten auf die junge Sarraute einen nachhal‐ 1. Einleitung 321 17 Vgl. im Interview mit François Bondy („Ein Gespräch mit Nathalie Sarraute. Vom Nichts an schaffen“, Der Monat XVI, Nr. 183 / Dez. 1969, S. 27-31): „Rilkes Einfluß war sicher sehr groß. Denn Rilke habe ich 1926 gelesen und er hatte einen sehr großen Eindruck auf mich gemacht.“ (S. 31) Sie hat die Aufzeichnungen übrigens im Original gelesen (ebd.). 18 Dazu siehe Ingrid Scherff, „Ein Roman in statu nascendi: Portrait d’un inconnu von Nathalie Sarraute“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur Bd. 82 / 1972, S. 336-354. 19 Um derentwillen hat man Portrait d’un inconnu einen „Roman in statu nascendi“ (Scherff) genannt und zwar schon Sartre, der diese Beobachtung freilich negativ for‐ muliert hat: „le roman d’un roman qui ne se fait pas, qui ne peut pas se faire“ (Vorwort zu Portrait d’un inconnu, in: N. S., Œuvres complètes, S. 35-39, hier: S. 35). tigen Eindruck gemacht 17 . Das lag außer an der Genremischung von Prosage‐ dichtsammlung und Roman wohl auch an der Figur ihres Protagonisten, der, ausgestattet mit der Sensibilität eines Lyrikers, in der Großstadt seine poetische Inspiration sucht und dabei die ebenso bedrückende wie beglückende Fähigkeit zur Einfühlung in den leidenden Anderen erwirbt. Diese Fähigkeit zur Einfüh‐ lung benötigt auch der Erzähler von Portrait d’un inconnu, wenn er die „mou‐ vements intérieurs“ der Tropismen bei Anderen wahrnehmen will, und dazu noch ein gerütteltes Maß an schöpferischer Phantasie. Von deren reichlichem Gebrauch in Portrait d’un inconnu zeugt unter anderem das verwirrende Ne‐ beneinander von ‚realen‘ und ‚visionären‘ Szenen 18 . Die Fähigkeit zur Einfüh‐ lung und die schöpferische Phantasie des Erzählers mitsamt seinen Erregungen und Empfindungen, die um die Inspiration und die Herstellung eines schöpfe‐ rischen Zustands kreisen 19 , rücken ihn aber in die Nähe Baudelaires und seiner Ausführungen zum dichterischen Enthusiasmus. Ein nicht zu übersehender Hinweis darauf ist, dass die titelgebende Szene des Romans in einem Baudelai‐ reschen Ambiente angesiedelt ist. Nimmt man dazu noch die Großstadt als das implizite Umfeld, in dem die genannten Bewusstseinsvorgänge ablaufen, dann lässt sich erahnen, welche Bedeutung Baudelaires und Rilkes Vorgaben für den ersten Roman Sarrautes gehabt haben und wie sehr sich dessen Verständnis in ihrem Licht erhellen kann. 2. Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires Les Petites Vieilles Bevor wir uns dem Tropismen suchenden Erzähler in Portrait d’un inconnu zuwenden, empfiehlt es sich, einen Blick auf die Vorstufen im Werk Sarrautes zu werfen. Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 322 20 Tropismes II, in: Œuvres complètes, S. 1-32, hier: S. 4 f. 21 Er hält für möglich, dass die Anderen nicht wie er empfinden: „‚Mais peut-être que pour eux c’était autre chose.‘ C’était ce qu’il pensait, écoutant, étendu sur son lit […]“ (S. 5) 22 Der Text gehört wohl zu den „projets et brouillons“, die Sarraute ursprünglich in Tro‐ pismes unterbringen wollte („Comment j’ai écrit certains de mes livres“, S. 395). 23 Die Beschreibung nimmt diejenige des II. Tropismus auf („C’était ce qu’il pensait, écoutant, étendu sur son lit, pendant que […] leur pensée s’infiltrait en lui […]“, S. 5) und erweitert sie: „Le nerveux-de-la-famille, replié au pied de son lit, tapi au fond de sa chambre qui donne sur la petite cour humide, entend leur coup de sonnette. Il l’attendait, les yeux fixés sur son réveil […]“ (S. 56) In Tropismes hatte Sarraute die „mouvements intérieurs“ tastend und im All‐ gemeinen noch direkt, das heißt nicht aus der Perspektive eines Beobachters beschrieben. Nur im Tropismus II findet sich ein Ansatz zu einer solchen Per‐ spektive. Dort hört ein „il“ in seinem Zimmer den Ruf „C’est servi, c’est servi! “, mit dem eine „elle“ zu Tisch bittet 20 . Die alltägliche Ansprache löst in ihm die Vorstellung des unaufhörlichen banalen Geschwätzes der „elle“ und ihrer „cui‐ sinière“ aus, das auf untergründige Tropismen zwischen beiden hindeutet, die aber nicht ausgeführt werden. Das Geplapper der Frauen erregt den Widerwillen von „il“, der sich ihm nicht entziehen kann, ja überall im Alltag von Ähnlichem verfolgt wird. Er reagiert darauf bald mit ängstlicher Anpassung, bald mit Phantasien eines tätlichen Ausbruchs, ahnt jedoch, dass er mit einem solchen an der Vitalität der Anderen scheitern würde. „il“ leidet in diesem Stück an der „pensée humble et crasseuse“ seiner Umwelt, die in den Gesprächen des Alltags und ihren Klischees zum Vorschein kommt. Seine Sensibilität für den sprachli‐ chen Ausdruck, die ihn von den Anderen unterscheidet 21 , weist auf ein potentiell dichterisches Gemüt, ebenso sein stark beobachtendes und reflektierendes Ver‐ halten, das er vor ihnen zu verbergen trachtet. Für die untergründigen Tro‐ pismen der Anderen hat „il“ noch kein Gespür; er kreist vielmehr um sich selbst und seine eigenen Erregungen und Idiosynkrasien. Einer Figur in ähnlicher Situation, nun aber mit ausgeprägter Sensibilität auch für die Tropismen der Anderen und dazu begabt mit dichterischer Phantasie, begegnet man im zweiten Kapitel von Portrait d’un inconnu. Es handelt sich um eine Episode, die ihrem Thema wie auch der Perspektive nach deutlich als Ein‐ schub erkennbar ist 22 . Ein „il“, hier näher charakterisiert als „le nerveux-de-la-fa‐ mille“, wartet in einem Hinterhofzimmer, auf seinem Bett kauernd und den Blick auf die Uhr geheftet 23 , auf das Klingeln von Frauen, die diesmal eindeutig ge‐ kennzeichnet und benannt werden: „toutes sortes de femmes délaissées, de femmes maltraitées qui viennent s’expliquer“ (S. 57). Der „petit coup bref et froid“ der Klingel, mit dem die Frauen Einlass begehren, trifft „il“ tief. Er erkennt an ihm wie kein anderer - nicht die Passanten, die vorübergehen, und nicht die 2. Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires Les Petites Vieilles 323 24 Tatsächlich verlautet über das Alter der Frauen nichts Genaues; aus der Bemerkung, dass zu ihnen „des grand-mères“ und „des filles qui vont rendre visite […] à leur vieux père“ (S. 57) gehören, wie aus dem allgemeinen Typ der desillusionierten Frau ergibt sich aber, dass sie - wie auch die „elle“ des Romans - nicht mehr jung, allerdings auch nicht durchgehend „vieilles“ sind. 25 Schon Rilke hatte die Vorstellung der alten Frauen in pathetisch-drastischer Manier festgehalten: „Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her.“ (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 16. Aufzeichnung, S. 481.) 26 „Je vois son dos aplati, comme poussé par le vent, qui tourne l’angle de la rue […]“ (S. 52). 27 Schon Rilke hatte sich den Puppen-Vergleich zu Eigen gemacht (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 60); siehe oben, S. 302. Concierges, die selbstzufrieden auf ihren Schwellen sitzen - die vor der Tür Stehenden: „Personne ne les reconnaît, sauf lui, quand elles se tiennent sur les seuils […]“. Die dreimal wiederholte Wendung „Personne ne les reconnaît […]“ verweist auf die Quelle, der Sarraute hier folgt. Es ist Baudelaires Gedicht Les Petites Vieilles (Fleurs du mal, XCI ), das grundlegend für das Verständnis der Episode und der Figur des Beobachters in ihr ist. Schon bei der Beschreibung des Äußeren der Frauen hat Sarraute Anleihen bei Baudelaire gemacht. Ihre verblühten „elles“ 24 bewegen sich wie Baudelaires kleine Alte im Schutz der Mauern: „longeant les murs“ (S. 56) - „Peureuses, le dos bas, vous côtoyez les murs“ (Les Petites Vieilles, V. 70) 25 . Der Blick auf den Rücken war bereits früher der „elle“ des Romans zuteil geworden 26 , mit der die Frauen ausdrücklich verglichen werden: Personne ne les reconnaît, quand elles sortent et vont, comme elle, longeant les murs, avides et obstinées. (S. 56) Baudelaires Alte haben armselige „jupons troués“ (V. 8), Sarrautes „elles“ glätten die Falten ihrer Röcke, wenn sie sich mühsam wieder erheben, nachdem man sie hinausgeworfen hat: […] elles se relèvent, légèrement endolories, tapotent les plis de leur jupe, et revien‐ nent. Auch der Vergleich mit Puppen - „tout pareils à des marionnettes“ (Les Petites Vieilles, V. 13) - kehrt bei Sarraute wieder: „lourdes comme ces poussahs lestés de plomb à leur base qui se redressent toujours quand on les couche par terre, quand on les jette par terre, les renverse“ (S. 56) 27 . Und nicht zuletzt hat sie die Aufzählung unglücklicher Frauen (V. 42 ff.) übernommen: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 324 28 Eine zweite Aufzählung auf S. 58: „des grands-mères, des filles, des femmes maltraitées, des mères“. 29 In Tropismes hatte Sarraute schon mehrfach ‚Frauenschicksale‘ beschrieben, z. B. „la vie des femmes“ im allgemeinen (Tropismes X), die Unterwerfung unter ein übermächtiges „il“ (Tropismes IV) oder die weibliche Herrschaft mittels häuslicher Sachzwänge (Tro‐ pismes VI). 30 Eine vierte gleichlautende Feststellung findet sich am Ende des vorhergehenden Ab‐ schnitts und bezieht sich auf „elle“ („Personne ne la reconnaît“, S. 56); sie hat überlei‐ tende Funktion. Zur Wiederholung als strukturbildendem Element mit poetischer Wir‐ kung in Sarrautes frühen Texten siehe J. Lietz, „Zu Stil und Struktur der Tropismes von Nathalie Sarraute“, Romanistisches Jahrbuch Bd. 25 / 1974, S. 154-173. […] des grands-mères à qui on ne laisse pas assez souvent voir leurs petits-enfants, des filles qui vont rendre visite au moins deux fois par semaine à leur vieux père, ou bien toutes sortes de femmes délaissées, de femmes maltraitées qui viennent s’expli‐ quer. (S. 57) 28 Die „filles qui vont rendre visite au moins deux fois par semaine à leur vieux père“ verdanken sich natürlich der „elle“ des Romans, während in den „grands-mères“ das Altersthema der Petites Vieilles nachklingen mag. „toutes sortes de femmes délaissées, de femmes maltraitées“ erscheint zudem wie ein weibliches Gegenstück zu den „éclopés de la vie“ in Baudelaires Prosagedicht Les Veuves, das demselben Themenkreis wie Les Petites Vieilles angehört 29 . Dreh- und Angelpunkt der Übernahme ist jedoch die mehrfach anaphorisch wiederholte Feststellung „Personne ne les reconnaît“, die den Text rhythmisch und gedanklich gliedert 30 . Sie bringt Baudelaires lyrische Exklamation „Nul ne vous reconnaît! “ in eine epische Aussageform und verändert zugleich die Be‐ deutung des Verbs „reconnaître“: aus dem „Wiedererkennen“ der vergangenen Schönheit der kleinen Alten durch das teilnahms- und phantasievolle Dichter-Ich Baudelaires wird ein „Erkennen“ und „Verstehen“ der verborgenen Tropismen der „elles“ durch den „nerveux-de-la-famille“. Personne ne les reconnaît, quand elles passent correctes, soigneusement chapeautées et gantées. Elles reboutonnent attentivement, avant d’entrer, leurs gants, sous le porche. Les concierges qui prennent le frais, assises sur le pas de leurs portes, les après-midi d’été, les regardent passer: des grand-mères à qui on ne laisse pas assez souvent voir leurs petits-enfants, des filles qui vont rendre visite au moins deux fois par semaine à leur vieux père, ou bien toutes sortes de femmes délaissées, de femmes maltraitées qui viennent s’expliquer. (S. 57) Während die alltägliche Sicht der Passanten und der „concierges“ nur dieses Äußere der Frauen wahrnimmt, erkennt der „nerveux-de-la-famille“ dahinter ihr wahres Wesen. So spürt er schon in ihrem Klingeln, das immer zu früh kommt 2. Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires Les Petites Vieilles 325 („jamais en retard, mais plutôt en avance, toujours plutôt cinq minutes en avance“) und erst aufhört, wenn geöffnet wird, neben dem schüchtern bittenden auch den agressiven und unerbittlichen Ton: Il le reconnaît tout de suite: furtif, un peu quêteur, et déjà agressif, implacable. Un petit coup bref et froid, qui se répétera à intervalles réguliers, calmement espacés, autant de fois qu’il sera nécessaire pour qu’on ouvre. (S. 56) Ganz wie Baudelaires Ich phantasiert er auch die Vergangenheit der Frauen, freilich nicht als eine glanz- oder aufopferungsvolle, wie es die der „petites vieilles“ war. Vielmehr sieht er, dass schon die jungen Mädchen „délaissées“ und „maltraitées“ waren und sich in unerfüllbaren heimlichen Wünschen ver‐ zehrten: Autrefois, quand elles étaient encore toutes jeunes, beaucoup moins résistantes, moins fortes, un œil très exercé aurait pu les déceler - avides déjà et lourdes, toutes lestées de plomb - en train de guetter d’attendre, sur les banquettes de peluche des cours de danse, ou dans des salles de bal, ou bien dans des casinos de plages à la mode, assises à l’heure du thé autour de petites tables, près de leurs parents. Quelque chose d’épais et d’âcre filtrait d’elles comme une sueur, comme un suint. Toutes sortes de petits désirs rampants, mordants, se déroulaient en elles comme des petits serpents, des nœuds de vipères, des vers: des désirs secrets et corrosifs, un peu dans le genre de ceux de la Bovary. Elles regardaient passer devant elles, glissant sur les parquets, des jeunes gens élégants qui ressemblaient beaucoup, aussi, à ceux que la Bovary avait remarqué autrefois au bal. (S. 57) Dabei macht er doppelte Anleihen bei Flauberts Madame Bovary, für die weib‐ lichen Figuren ebenso wie für die jungen Männer: Ils avaient le même air, les mêmes mouvements dégagés et souples du cou; ils laissaient comme eux flotter au hasard leurs regards indifférents; ils avaient la même expression de satisfaction distante, un peu obtuse. Les tentacules qui sortaient d’elles déjà, ces petites ventouses qui sucent, qui palpent, les effleuraient à peine. C’est à peine s’ils sentaient une sorte de chatouillement, comme si des fils légers de la Vierge les frô‐ laient, s’accrochaient à leurs vêtements, mais ils les détachaient sans même y prendre garde, tout en avançant. Und im erneuten Wechsel zu „elles“: Elles les regardaient qui glissaient tout près d’elles sans les voir, fixant dans le vide leurs yeux élégamment inexpressifs et froids de carpes, se dirigeant avec sûreté, loin d’elles, guidés par de mystérieux, d’indécelables courants. Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 326 31 „Elles sont derrière la porte. Elles attendent. Il sent comme elles se déplient, se glissent insidieusement vers lui. Elles palpent. Elles tendent vers le point sensible, un point vital en lui, dont elles savent exactement l’emplacement, leurs ventouses.“ (S. 56) Plus tard, la nuit, dans leurs lits, elles devaient sangloter, tordre leurs bras avec em‐ phase, chercher à comprendre, implorer la Providence … (Ebd.) Zwar ist in dieser Ballszene vorrangig das äußere Verhalten der jungen Mädchen und Männer geschildert, das Wesentliche sind jedoch die Gedanken, Wünsche und Befürchtungen, die gleichzeitig in ihnen ablaufen, in Sarrautes Sinn also die „mouvements intérieurs“ der Tropismen. Und der „nerveux-de-la-famille“ phan‐ tasiert weiter, wie „elles“ sich mit der Zeit innerlich in der Erfahrung ihrer Zu‐ rücksetzung eingerichtet haben, wie sie, einem Vogel gleich, ein schützendes Nest um sich gebaut haben und dafür von überallher, aus Büchern, Theater, Filmen und aus dem Alltag, einschlägige Vorstellungen und Bilder zusammen‐ getragen haben: Mais petit à petit elles avaient acquis de l’expérience, de l’assurance. Elles avaient réussi petit à petit, avec ces à peine perceptibles mouvements, si délicats, de l’oiselet, cet infaillible instinct qui lui fait trier exactement ce dont il a besoin pour se construire son nid, elles avaient réussi à attraper, par-ci par-là, dans tout ce qu’elles trouvaient autour d’elles, des bribes, des brindilles qu’elles avaient amalgamées pour se construire un petit nid douillet, à l’intérieur duquel elles se tenaient, bien protégées, gardées de toutes parts, bien à l’abri. C’était extraordinaire de voir avec quelle rapidité, quelle adresse, quelle vorace obs‐ tination, elles happaient au passage, faisaient sourdre de tout, des livres, des pièces de théâtre, des films, de la plus insignifiante conversation, d’un mot dit au hasard, d’un dicton, d’une chanson, de tableaux, de chromos - Enfance, Maternité, Scènes cham‐ pêtres, ou Les joies du foyer, ou bien même des affiches du métro, des réclames, des préceptes édictés par les fabricants de poudre de lessive ou de crème de beauté […], des conseils de Tante Annie ou de l’Abbé Soury -, c’était extradordinaire de voir comme elles savaient saisir dans tout ce qui passait à leur portée exactement ce qu’il fallait pour se tisser ce cocon, cette enveloppe imperméable, se fabriquer cette armure dans laquelle ensuite sous l’œil bienveillant des concierges, elles avançaient - soute‐ nues par tous, invincibles, calmes et sûres: des grand-mères, des filles, des femmes maltraitées, des mères -, se tenaient derrière les portes, appuyaient de tout leur poids sur les portes comme de lourdes catapultes. (S. 57 f.) Diese Lebensgeschichte der „elles“ phantasiert der „nerveux-de-la-famille“ aus‐ gehend von dem nichtigen Anlass des Klingelns der Frauen, das ihn an seinem „point sensible“ trifft, dem „point vital“ seiner dichterischen Existenz 31 und das 2. Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires Les Petites Vieilles 327 32 Sarraute hat sich um möglichst einfache Bilder für die komplexen Sachverhalte der Tropismen bemüht: „Des images très simples, destinées à faire surgir aussitot des sen‐ sations familières, ont pris […] une place de plus en plus importante dans mes livres […]“ („Ce que je cherche à faire“, in: Nouveau Roman hier, aujourd’hui, S. 25-57, hier: S. 37). Vgl. auch Interview mit Knapp, S. 289. 33 Dies unterstreicht der Bildwechsel von Baudelaires „marionettes“ zu „poussahs“, in dem zugleich der reaktive, tropistische Aspekt des Verhaltens zum Ausdruck kommt. 34 Vgl. dazu Sarraute: „[…] il [der Ich-Erzähler von Portrait d’un inconnu] voit ce qu’on ne doit point voir. Le tropisme est à l’opposé des bienséances.“ („Comment j’ai écrit certains de mes livres“, S. 396.) einen dichterischen Tropismus bei ihm auslöst. Er folgt damit Baudelaires Dichter-Ich, das in Les Fenêtres aus fast nichts die Lebensgeschichte der Frau am Fenster phantasierte. In seinem Fall ist die Geschichte jedoch eine Abfolge von Tropismen, angefangen bei der Deutung des Klingelns als Ausdruck der inneren Befindlichkeit der „elles“ und eines gewissermaßen nach außen gewendeten Tropismus, über die vorgestellte Ballszene mit den Blicken und Wünschen der jungen Männer und Mädchen bis hin zu deren Suche nach Lebensmustern und der Aneignung einer Lebensrolle, die in das leicht verständliche, wenn auch ungewöhnliche Bild des Nestbaus gebracht ist 32 . Dem Sucher von Tropismen offenbart sich, dass die äußerlich bemitleidenswerten Frauen in Wahrheit Steh‐ aufmännchen sind, die sich nach jedem Schlag wieder erheben 33 und „zurück‐ kehren“, um hinter den Türen bedrohlich zu warten: „[elles] se tenaient derrière les portes, appuyaient de tout leur poids sur les portes comme de lourdes cata‐ pultes“. Dass der Blick auf die Tropismen diese verborgene Wirklichkeit auf‐ deckt, verleiht ihm etwas Anstößiges und erklärt die allgemeine Ablehnung, auf die er trifft 34 . Die dichterische Suche nach Tropismen erfährt noch eine Steigerung, wenn sich zum Schluss der Ich-Erzähler einschaltet und berichtet, dass er mehrfach erlebt habe, wie die Frauen sich die Klischees ihrer Rolle aneigneten: Il m’est arrivé parfois, étant assis près d’elles dans une salle de spectacles, de sentir, sans les regarder, tandis qu’elles écoutaient près de moi, immobiles et pétrifiées, la trajectoire que traçaient à travers toute la salle ces images, jaillies de la scène, de l’écran, pour venir se fixer sur elles comme des parcelles d’acier sur une plaque ai‐ mantée. J’aurais voulu me dresser, m’interposer, arrêter ces images au passage, les dévier, mais elles coulaient avec une force irrésistible droit de l’écran sur elles, elles adhéraient à elles, et je sentais comme tout près de moi, dans l’obscurité de la salle, immobiles, silencieuses et voraces, elles les agglutinaient. (S. 58) Die innere Erregung der „elles“ durch die Bilder, die von der Bühne oder von der Leinwand auf sie einstürmen, ist leicht als Tropismus zu erkennen, hier Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 328 35 Der Wechsel gliedert die Episode auch in den Erzählablauf des Romans ein. 36 Les Petites Vieilles, V. 72-80: „Mais moi, moi qui de loin tendrement vous surveille, L’œil inquiet, fixé sur vos pas incertains, Tout comme si j’étais votre père, ô merveille! Je goûte à votre insu des plaisirs clandestins: Je vois s’épanouir vos passions novices; Sombres ou lumineux, je vis vos jours perdus; Mon cœur multiplié jouit de tous vos vices! Mon âme resplendit de toutes vos vertus! “ 37 Das hat Proust für Baudelaire gezeigt, als er feststellte, dass Baudelaire zwar jeden Schmerz der alten Frauen wahrnimmt, dies aber mit völliger Teilnahmslosigkeit, ja „Grausamkeit“: „Il est certain que dans un poème sublime comme Les Petites Vieilles, il n’y a pas une de leurs souffrances qui lui échappe. Ce n’est pas seulement leurs im‐ menses douleurs […] il est dans leurs corps, il frémit avec leurs nerfs, il frissonne avec leurs faiblesses […] Mais la beauté descriptive et caractéristique du tableau ne le fait reculer devant aucun détail cruel […].“ Und er folgert: „[…] peut-être cette subordination de la sensibilité à la vérité, à l’expression, est-elle au fond une marque du génie, de la force, de l’art supérieur à la pitié individuelle.“ (M. P., Contre Sainte-Beuve, hrsg. von P. Clarac und D’Y. Sandre [Pléiade. 229], Paris 1978, S. 250 ff.) Pichois dagegen sieht bei Baudelaire Mitgefühl mit den „petites vieilles“, das er in Zusammenhang mit der an Victor Hugo bewunderten „charité“ bringt (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1016). wiedergegeben im Bild der physikalischen Kräfte des Magnetismus und der Ag‐ glutination von Materie. Aber auch das Ich, das mit den Frauen empfindet („Il m’est arrivé […] de sentir“, „je sentais“) und sie vor den Bildern schützen möchte („J’aurais voulu me dresser, m’interposer, arrêter ces images […]“) erfährt einen Tropismus. Dieser Tropismus des gesteigerten Mitempfindens, der durch den Wechsel von der Erzur Ich-Form noch unterstrichen wird 35 , erfolgt bei Sarraute an ähnlicher Stelle wie die väterlich beschützende Reaktion des phantasierenden Ichs in den Petites Vieilles 36 . Die Ereignisabfolge des Sarrauteschen Textes gleicht also derjenigen des Baudelaireschen Gedichts, freilich ohne Hinweis auf die Ekstase. Und das Mitempfinden des Ichs ist kein Mitleid im landläufigen Sinne, sondern Teil der dichterischen Wahrnehmung 37 . Wir haben es hier also mit einem weiteren dichterischen Tropismus zu tun. Somit gelingt Sarraute auf den Spuren Baudelaires in diesem Text erstmals eine Abfolge von Tropismen des Dichters, was eine der Voraussetzungen für das Konzept von Portrait d’un in‐ connu war. 2. Vorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires Les Petites Vieilles 329 38 Untereinander nennen sie „elle“ eine „maniaque“ und ihren Vater einen „vieil égoïste“, was das Ich in seinem Sinne deutet: „Alors je sais que c’est cela. Je reconnais leur aveuglante lucidité. Cela s’abat sur moi, éclatant, convaincant, absolument irréfutable, terrible, cela tombe sur moi et me terrasse, quand j’écoute, immobile, sur le palier du dessus, leur sentence infaillible, leur jugement.“ (S. 42) 39 Auf Gides Roman La Séquestrée de Poitiers verweist die Wendung „dans leur bon fond de Malempia“ (ebd.). 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration Soweit sich in Portrait d’un inconnu ein Handlungsablauf erkennen lässt, betrifft er die Suche des Erzählers nach Tropismen und ihrer Wiedergabe, also den dichterischen Schaffensprozess. Dargestellt sind unterschiedliche Stadien dieses Prozesses, was Ingrid Scherff zu ihrer Feststellung vom „Roman in statu nas‐ cendi“ veranlasst hat. Gleich im ersten Kapitel von Portrait d’un inconnu führt Sarraute den Erzähler vor, wie er beim Publikum nach Bestätigung für sein tro‐ pistisches Thema sucht - ein Problem, das ihr aus eigener Erfahrung bekannt war und für dessen Darstellung sie daher kaum fremde Vorgaben benötigte. Sie zeigt ihn nacheinander im Gespräch mit zwei verschiedenen Publikumstypen, um deren Anerkennung er ringt. Die erste Gruppe, der er in noch etwas unge‐ lenken Umschreibungen die Tropismen mitteilt, die er an „elle“ beobachtet hat („quelque chose de bizarre, une vague émanation, quelque chose qui sortait d’elle“), weist ihn schroff zurück („ils m’ont rabroué tout de suite, d’un petit coup sec, comme toujours, faisant celui qui ne comprend pas“) und hält seine Beobachtungen für übertrieben: „Oui, elle semble tenir beaucoup à l’affection des gens“, ils me répondaient cela pour me calmer, pour en finir, ils voulaient me rappeler à l’ordre. (S. 42) Es entgeht ihm nicht, dass die Angesprochenen die von ihm beobachteten Auf‐ fälligkeiten zwar ebenfalls wahrnehmen 38 , dass sie aber seine Aufdeckung der Tropismen als anstößig ablehnen („Ils étaient décidés à ce qu’on restât normal, décent […]“). Die zweite Gruppe ist die der literarischen „initiés“ und „expert[s]“, die alles kennen, was man ihnen vorträgt, es schnell einordnen und mit den gängigen Etiketten versehen können. Sie stimmen den Beobachtungen des Er‐ zählers zu, der es diesmal sogar vorziehen würde, im Unrecht zu sein, und finden sie „dans le genre de Julien Green où de Mauriac“ bzw. André Gides (S. 45 39 ). Zugleich geben sie ihm zu verstehen, dass sie mehr über „elle“ und den Alten wissen, und überschütten ihn mit literarischen Gemeinplätzen und anderen Trivialitäten: „des racontars stupides, de vieilles réminiscences de faits divers, de grosses ‚tranches de vie‘ aux couleurs lourdes, trop simples, absolument in‐ Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 330 40 S. 46. Hinter diesen Szenen steht natürlich Sarraute selbst, die noch spät von ihrer „si‐ tuation assez singulière“ und einem „certain isolement“ gesprochen hat, über die sie sich nicht beklage, die sie aber auch nicht gerade suche (so in einer Diskussion in Cérisy, „Ce que je cherche à faire“, S. 25). 41 S. 47. Die Metaphorik knüpft an das Geschehen des ersten Kapitels und die dort erfah‐ rene Zurückweisung an, so die Wendung toucher le fond an das Schlussbild des Hinab‐ ziehens, die Äußerung vom „Spiel“, das „zu weit gegangen“ sei, und diejenige von der Notwendigkeit innezuhalten („faire pouce“) an den betretenen Rückzug des Ichs in der ersten Begegnung. Für eine Krise spricht die Wendung „les cas désespérés“. dignes d’eux, de moi“ derart, dass der Erzähler seine Pläne bedroht sieht und sich völlig missverstanden, ja in die Tiefe hinabgezogen fühlt: […] ils m’empoignent n’importe comment, ils nous empoignent, moi, elle, le vieux, ils nous tiennent tous ensemble, pressés les uns contre les autres, ils nous serrent les uns contre les autres, ils se serrent contre nous, ils nous étreignent. Le grand jeune homme efflanqué […] rit d’un rire râpeux qui vous accroche par en dessous et vous traîne … 40 a) ‚l’autre aspect‘ oder die Suche nach dem dichterischen Enthusiasmus Nach dieser wenig erfolgreichen Präsentation von Tropismen befindet sich der Erzähler zu Beginn des zweiten Kapitels in einer Krise. Er beschreibt seine Si‐ tuation mit einem Bild, das ihm gewöhnlich hilft, sich zu beruhigen und neuen Mut zu schöpfen: dass er nämlich ‚auf Grund gestoßen‘ sei und mit seinen ver‐ bliebenen Kräften wieder aufsteigen werde: Cette fois, comme cela m’arrive presque toujours quand c’est allé un peu trop loin, j’ai eu l’impression d’avoir ‚touché le fond‘ - c’est une expression dont je me sers assez souvent, j’en ai ainsi un certain nombre, des points de repère comme en ont proba‐ blement tous ceux qui errent, comme moi, craintifs, dans la pénombre de ce qu’on nomme poétiquement ‚le paysage intérieur‘ - ‚j’ai touché le fond‘, cela m’apaise tou‐ jours un peu sur le moment, me force à me redresser, il me semble toujours, quand je me suis dit cela, que maintenant je repousse des deux pieds ce fond avec ce qui me reste de forces et remonte … J’ai senti, cette fois-là, que le moment était venu de remonter, de ‚faire pouce‘, le jeu avait été un peu trop loin. J’ai eu recours à un de mes moyens, que j’emploie dans les cas désespérés […]. 41 Auch diesmal ist es so, wie er fühlt: „le moment était venu de remonter“. Er besinnt sich auf ein erprobtes Mittel und hilft sich mit einem „Trick“ ähnlich der 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 331 Autosuggestion, die Ärzte in aussichtslosen Fällen ihren depressiven Patienten verordnen, denen sie den Rat geben, sich im Spiegel anzulächeln, bis sie fröhlich werden, oder auch, ein Ziel auf Umwegen anzustreben: „eh bien, j’ai employé, moi aussi, un de mes trucs, […] fruit de tâtonnements pénibles, et qui me réussit parfois.“ Der Trick lautet: „sortir dans la rue“: Je suis sorti dans la rue. (Ebd.) Zunächst geschieht beim Gang durch die Straßen seines Viertels allerdings nichts. Sie machen vielmehr einen stillen, ja toten Eindruck: J’ai peur de leur [les rues] quiétude un peu sucrée. Les façades des maisons ont un air bizarrement inerte. Sur les places, entre les grands immeubles d’angle, il y a des squares blafards, entourés d’une bordure de buis qu’encercle à hauteur d’appui un grillage noir. Cette bordure me fait toujours penser au collier de barbe qui pousse si dru, dit-on, sur le visage des macchabées. (Ebd.) Mit Bildern wie diesen würde ein depressiver Patient seinen Zustand be‐ schreiben: Dans ses périodes de „vide“ où de „mal-mal“, Oct. h. 35 répète que tout a l’air mort. Toutes les maisons, les rues, même l’air lui paraissent morts: „On sent partout des enfances mortes. Aucun souvenir d’enfance ici. Personne n’en a. Ils se flétrissent à peine formés et meurent. Ils ne parviennent pas à s’accrocher à ces trottoirs, à ces façades sans vie. Et les gens, les femmes et les vieillards, immobiles sur leurs bancs, dans les squares, ont l’air de se décomposer.“ (S. 48) So oder ähnlich habe er das in einem psychiatrischen Handbuch gelesen, erklärt der Erzähler, doch komme es darauf nicht an, weil es ihm nicht um „originalité“ und auch nicht um seine persönlichen Empfindungen gehe. Vielmehr suche er den „autre aspect“, die andere Sicht auf die Dinge, die so natürlich und so ver‐ traut sei, dass sie in medizinischen Büchern keinen Platz habe und die selbst Depressive in ihren lichten Momenten kennen: Je ne cherche pas l’originalité. Je ne suis pas sorti pour cultiver mes sensations per‐ sonnelles, mais pour voir - je le désire de toutes mes forces - „l’autre aspect“; celui dont on ne parle pas dans les livres de médecine tant il est naturel, anodin, tant il est familier; celui que voient aussi Octave ou Jules dans leurs moments lucides, pendant leurs périodes de calme. (Ebd.) Es überrascht, dass die Forschung hier bislang kein Problem gesehen hat, dem nachzugehen sich lohnte. Schließlich wird die Vorstellung, die Großstadt könne in Verbindung mit einer Stimmungsaufhellung dem Auffinden innerer Re‐ Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 332 42 „Ich bin ausgewesen.“ (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1); „Ich will ver‐ suchen, auszugehen […]“; „[…] ich bin so mutig ausgegangen, als wäre das das Natür‐ lichste und Einfachste.“ (21) Und öfter, auch mit genauen Straßenangaben. 43 Aufzeichnungen 1 und 5 (S. 455. 457). Der Anblick „toter“ Häuserfassaden in trostlosen Straßen gehört auch zu Sarrautes frühen persönlichen Erlebnissen; vgl. Enfance, in: Œuvres complètes, S. 987-1145, bes. S. 1051. 1057. 1140. 44 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 490 f. gungen förderlich sein, nicht dadurch verständlicher, dass sie als paradoxe psy‐ chologische Intention ausgegeben wird. Vielmehr setzt sie kulturelle Vorgaben und einen Kontext voraus, mit denen vertraut sein muss, wer das Vorgehen des Erzählers verstehen will. Dieser Kontext ist nicht, wie der Erzähler zunächst glauben machen möchte, die medizinische Literatur, und der erwähnte „autre aspect“ ist anderes und mehr als der manische Zustand eines Kranken. Der Kontext ist vielmehr die moderne Großstadtdichtung, in der die Dichter um ihr Schaffen ringen - vor allem Baudelaire und Rilke, zu deren Werken der Text an dieser Stelle ein dichtes Netz von Beziehungen und Parallelen unterhält. Schon der Akt des „sortir dans la rue“ verweist auf die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in denen das „Ausgehen“ geradezu leitmotivisch wieder‐ kehrt als Signal für die ästhetische Auseinandersetzung Maltes mit der Stadt 42 . (Für den Großstadtmenschen Baudelaire war es hingegen so natürlich und selbstverständlich, dass es nicht ohne weiteres mit ästhetischer Problematik aufgeladen werden konnte.) Sodann erinnert die vom Erzähler registrierte Leb‐ losigkeit der Straßen und Häuser („Toutes les maisons, les rues, même l’air […] paraissent morts“, „un air inerte“, „leur quiétude“) an die „leeren“ Straßen mit ihren „starblinden“ Häusern, die Malte anfangs durchwandert 43 , und die von „Oct. h. 35“ festgestellten fehlenden oder alsbald vergehenden Kindheitserin‐ nerungen („Aucun souvenir d’enfance ici.“ Usw.), die natürlich auch den Erzähler betreffen, lassen an Maltes Klage über die „vergrabene Kindheit“ in den un‐ glücklichen ersten Pariser Tagen denken (10. Aufzeichnung). Das Bild der „toten Kindheiten“ ruft gar eine abgestorbene „perception enfantine“ im Sinne Baude‐ laires hervor. Diese Wendungen und Bilder bringen unmissverständlich die kre‐ ative Leere und Antriebslosigkeit des Erzählers zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu steht der angestrebte „autre aspect“, in dem man eine freie Wiedergabe der Rilkeschen Wendung von der „anderen Auslegung“ vermuten darf. Diese war in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge ein Synonym für „anders […] sehen“ bzw. für den „Eindruck, der sich verwandeln wird“, in dem Maltes dich‐ terisches Problem des ‚Sehenlernens‘ und seine (und Rilkes) Auseinanderset‐ zung mit Baudelaire und dessen Darstellung des „argen Wirklichen“ kulmi‐ nierten 44 . Dieselbe oder doch eine ganz ähnliche ‚Verwandlung‘ wie Malte 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 333 erwartet der Erzähler von Portrait d’un inconnu, wenn er durch die leblos er‐ scheinenden Straßen seines Viertels wandert, eine Verwandlung, die den Straßen ein „anderes Aussehen“ verleiht und ihn selbst in den ‚anderen Zustand‘, den dichterischen Enthusiasmus, versetzt. Um das zu erreichen, muss er sich einer besonderen Anstrengung unter‐ ziehen. Es handelt sich um einen „tour d’adresse“, vergleichbar der visuellen Gymnastik, wie sie in bestimmten Bilderrätseln verlangt wird oder in stereo‐ metrischen Übungen, wo der Blick sehr schnell zwischen zwei Bildern hin und her wechselt, damit man schließlich nach Wunsch ein bestimmtes Bild sieht. So muss der Erzähler, wenn er in den Straßen herumwandert und seine Sicht auf die Dinge verändern will, zu ihnen auf Distanz gehen und sie mit den Augen eines „Fremden“ ansehen, der eine ihm unbekannte Stadt besucht: Je ne dois pas pour cela, comme on pourrait le croire, chercher à me rapprocher des choses, essayer de les amadouer pour les rendre anodines, familières - cela ne me réussit jamais - mais au contraire m’en écarter le plus possible, les tenir à distance, les prendre un peu de loin, de haut, et les traiter en étranger. Un étranger qui marche dans une ville inconnue. (S. 48 f.) Diese ‚Verfremdung‘ bedarf zusätzlich eines „Bildes“, einer Erinnerung aus der Literatur, der Malerei oder auch nur einer Postkarte, die sich auf die Dinge an‐ wenden lässt: Et, comme on fait souvent dans les villes inconnues, appliquer sur les choses et main‐ tenir en avant des images puisées dans des réminiscences, littéraires ou autres, des souvenirs de tableaux ou même de cartes postales dans le genre de celles ou l’on peut voir écrit au verso: Paris. Bords de la Seine. Un square. (S. 49) Der so vermittelte Blick auf die Wirklichkeit bewirkt den „autre aspect“: er schenkt dem Straßenbild Leben, verleiht ihm schärfere Konturen und lässt es in warmen Farben erstrahlen: Il n’y a rien de mieux pour ramener en avant l’autre aspect. Les maisons, les rues, les squares perdent leur air inerte, étrange, vaguement menaçant. Comme des photogra‐ phies qu’on a glissées sous le verre du stéréoscope, elles paraissent s’animer, elles prennent du relief et une tonalité chaude. (Ebd.) Nach der bewährten Methode verfährt der Erzähler auch jetzt. Er versetzt sich in die Stimmung eines Reisenden („cette insouciance que j’éprouve en voyage“) und betrachtet die Straßen mit den Augen Utrillos. Alsbald bekommen sie wie bei diesem ein traurig-zärtliches Aussehen und die großen Häuserblocks schim‐ mern in der grauen Luft: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 334 45 „[…] le monde extérieur s’offre à lui [l’homme] avec un relief puissant, une netteté de contours, une richesse de couleurs admirables.“ (Le Poème du hachisch, S. 401) „C’est une béatitude calme et immobile.“ (Du vin et du hachisch, S. 394) „[…] une température de béatitude calme, muette, reposée“. (Le Poème du hachisch, S. 437) „Là tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe, calme et volupté.“ (L’Invitation au voyage, V. 13 f.) Oder im Prosage‐ dicht L’Invitation au voyage, S. 302: „où la vie est douce à respirer“, sowie ebd.: „des peintures béates, calmes et profondes“. 46 „Délices du chaos et de l’immensité. Sensations d’un homme sensible en visitant une grande ville inconnue.“ („Notes diverses sur L’Art philosophique“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, S. 607.) Zur Veröffentlichung dieser Notizen in den 20er bzw. 30er Jahren siehe die Anmerkung von Pichois, S. 1381. Siehe auch oben, S. 53 ff. Ce jour-là, tout allait bien. Je réussissais assez rapidement. J’étais dans un bon jour. Je remontais. J’étais très résolu et assez calme. Je commençais déjà à sentir cette détente, cette légèreté particulière, cette indulgence, cette insouciance que j’éprouve en vo‐ yage. Les rues s’animaient. Elles prenaient de plus en plus l’air plein de charme, triste et tendre, des petites rues d’Utrillo. Les grands immeubles d’angle paraissaient osciller légèrement dans l’air gris. On aurait dit qu’un jet tendu, un mince filet de vie courait le long de leurs arêtes tremblantes. (S. 49) Er läßt sich auf einem Platz nieder, der jetzt nicht mehr „fahl“ ist und dessen Buchsbaumeinfassung ihn nicht mehr an den kräftig sprießenden Bart von Lei‐ chen denken läßt (S. 47), sondern auf dem ein mit weißen Blüten übersäter Baum steht, wie man ihn in Haarlem oder Brügge antreffen könnte: Je poussais l’audace jusqu’à aller m’asseoir dans un sqare, sur une petite place, non loin de chez moi. Dans un coin, près de la barrière de buis, un arbre couvert de fleurs blanches se détachait sur un mur sombre, assez intense, presque vivant, comme il aurait pu être dans un square de Haarlem ou de Bruges. (Ebd.) Schließlich spricht er mit der Unbefangenheit eines Fremden eine alte Frau an, „une petite vieille assise près de moi sur le banc“, deren Augen „leuchten“ („Il y eut une lueur attendrie dans ses yeux […]“). Sie erteilt ihm freundlich Auskunft über den Namen des Baumes. Und alsbald wird alles sanft und ruhig und ihm ist wohl: Et tout devint vraiment très doux et calme. Je me sentais bien. (Ebd.) Wie an den Symptomen - geschärfte Sinneswahrnehmung, Klarheit der Kon‐ turen, Intensität der Farben, Hochgefühl - zu erkennen, ist hier ein ekstatischer Zustand erreicht, wie Baudelaire ihn wiederholt beschrieben 45 und zumal mit dem Anblick einer großen, unbekannten Stadt verbunden hat 46 . Für den Erzähler ist er das Ergebnis eines Verfremdungsvorgangs, den er mit der Distanzierung von der gewohnten Umgebung begonnen und mit der Heranziehung fremder 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 335 47 M. Proust, À la recherche du temps perdu, hrsg. von P. Clarac und A. Ferré [Bibliothèque de la Pléiade. 100-102], 3 Bde., Paris 1954, Bd. 3, La Fugitive, S. 623 ff. Siehe dazu C. Nägeli / R. Zöllner, „Venise et Combray, le palimpseste de la ville chez Proust“, in: Figurations de la ville-palimpseste, hrsg. von U. Bähler / P. Fröhlicher / P. Labarthe / Ch. Vogel, Tübingen 2012, S. 63-78. 48 Siehe oben, S. 134 ff. Zur Schichtung vor allem literarischer Strata bei Baudelaire siehe P. Labarthe, „Baudelaire, Paris et le palimpseste de la mémoire“, in: Figurations de la ville-palimpseste, S. 21-34. Vorstellungen wie etwa der Pariser Stadtansichten von Utrillo und einer Post‐ kartenansicht von Haarlem oder Brügge fortgeführt hat, bis dass sich das ihm vertraute Bild der Stadt verwandelt hat. Dieser „tour d’adresse“, eine Fortsetzung des „truc“ vom Anfang des Kapitels, ist ein literarisch nicht unbekanntes Ver‐ fahren. Es erinnert an die Technik der „impressions analogues“ in Prousts À la Recherche du temps perdu, durch die dessen Erzähler Marcel die Qualität seiner Erlebnisse beeinflusst. So gewinnt Marcel im Fall Venedigs den ersten, beglück‐ enden Eindruck von der Stadt dank seiner Erinnerungen an Combray, indem er nämlich das Dach des Campanile von San Marco vor dem Hintergrund des Dachs der Kirche Saint-Hilaire und die angrenzende Piazzetta vor dem Bild des hei‐ mischen Kirchplatzes mit seiner sonntäglichen Betriebsamkeit sieht; am zweiten Tag seines Aufenthalts setzt sich das glückhafte erste Venedig-Bild dann an die Stelle der Combray-Erinnerungen und bestimmt fortan seinen Blick auf die Stadt 47 . Im weiteren Verlauf der Recherche wird die Erinnerung an das beglü‐ ckende Venedig-Erlebnis zu einer entscheidenden Etappe in Marcels Entde‐ ckung seiner dichterischen Berufung. Auch bei Baudelaire begegnet man dem Verfahren der Überlagerung mehrerer ähnlicher Vorstellungen, wenn der Dichter in Le Cygne beim Gang über die neu gestaltete Place du Carrousel sich an deren früheren Zustand mit Baracken, Baugerüsten und Steinblöcken erin‐ nert, mitten darin den in einem vertrockneten Rinnsal scharrenden Schwan, und dieser wiederum ihn an die trauernde Andromaque denken lässt: zum eigenen Erinnerungsbild des städtischen Ortes kommt hier, durch Analogie verbunden, die Vorstellung aus der Literatur. Die sich überlagernden Bilder verstärken in Baudelaire die Melancholie und versetzen ihn so in den poetischen Enthusi‐ asmus 48 . In Portrait d’un inconnu ist es dem Erzähler mit Hilfe seiner Phantasie ge‐ lungen, mitten in der Großstadt in den ekstatischen Zustand zu geraten, weil er nach seinen eigenen Worten einen guten Tag hatte und alles richtig gemacht hat. So kann er sich am Ende rühmen, mehr Erfolg gehabt zu haben als Malte Laurids Brigge, der in der Stadt auf erschreckende Gestalten wie die „vieille au crayon“ traf, oder Baudelaire, dem die „sept vieillards“ erschienen: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 336 49 Die „petits vieux sinistres“ sind aus Les Sept Vieillards und Les Petites Vieilles kontami‐ niert. Baudelaires Begegnung wird von Sarraute nicht erwähnt, die Chronologie der literarischen Reihe ist aber gewahrt. 50 Vor allem Interpreten der ersten Stunde (Gaëtan Picon, Ruby Cohn, Gerd Krause u. a.) haben angenommen, daß diese Begegnung wie auch alle anderen nur im Bewusstsein des Erzählers stattfindet; Scherff hält dagegen („Ein Roman in statu nascendi“, S. 340). Au lieu des petits vieux sinistres 49 , de la „vieille au crayon“ qui hantait, dans des end‐ roits probablement assez semblables à celui-ci, le triste Malte Laurids Brigge, j’ai réussi, en sachant bien m’y prendre - il faut savoir montrer qu’on les voit du bon côté, qu’on leur fait confiance - à obtenir, sur cette place d’Utrillo, cette vieille assise près de moi qui murmure des choses très douces et qui regarde l’arbre blanc. (S. 50) Er ist damit bereit für die nahende Inspiration. b) Die Begegnung mit „elle“ und das Scheitern der Imagination Im Zustand der völligen Ruhe und Entspannung überkommt den Erzähler die Inspiration. Ohne die gewohnte Vorahnung tritt sie in der Gestalt von „elle“ in Erscheinung, deren Profil er einen Moment lang im Gittertor des Platzes erblickt. Quoi d’étonnant si dans cet état de détente si douce où je me trouvais, je n’ai pas eu le moindre pressentiment. Rien en moi de cette inquiétude légère, de cette vague exi‐ tation - mélange de crainte et d’attente avide - que je ressens toujours avant même de les apercevoir. C’est cela sans doute qui me donne souvent l’impression que c’est moi qui les fais surgir, qui les provoque. […] Là, je n’ai presque rien senti, un petit choc très amorti au moment où je l’ai aperçue se profilant dans la porte grillagée du square. Mais c’était suffisant. […] (S. 50) Die Meinungen sind geteilt, ob diese Szene ‚real‘ oder nur eine Vorstellung des Ichs ist 50 , das selbst glaubt, dass es sich bei ihr um ein Erzeugnis seiner Phantasie handeln könnte („c’est moi qui les fais surgir, les provoque“). Auch als es wenig später dem Freund über den Vorfall berichtet und dabei auf Pirandello verweist, scheint es das zu denken: „Je l’ai vue, tu sais, je l’ai revue, elle a surgi brusquement, à un moment où je ne m’y attendais pas, pendant que je me prélassais sur un banc, dans un square. Toujours à leur manière: des personnages à la Pirandello. C’était si fort, cette fois, que j’ai failli ne pas y croire.“ (S. 60) „des personnages à la Pirandello“ zielt auf Sei personaggi in cerca d’autore, das Drama der Figuren, die einen Autor suchen, der sie zum dramatischen bzw. theatralischen Leben erweckt. Eine solche Aufforderung geht jedoch nicht nur 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 337 von imaginierten Figuren aus wie im Falle Pirandellos, wo die Figuren - das Personal eines herkömmlichen bürgerlichen Dramas - zudem rein literarischer Herkunft sind. Sie kann ebensogut von der Wirklichkeit ausgehen, und da der Anspruch des Erzähler-Ichs und der Autorin von Portrait d’un inconnu ja gerade der ist, eine bisher unbekannte Wirklichkeit darzustellen, kann man die Szene auch für ‚real‘ halten und die Inspiration von einer ‚realen‘ Figur ausgehen lassen. Ohnehin finden im schöpferischen Prozess Inneres und Äußeres zu‐ sammen, weil erst die Phantasie das ‚premier objet venu‘ zum poetischen Ge‐ genstand macht. Zudem ist die Frage, ob das inspirierende Moment hier im In‐ nern oder in der Außenwelt angesiedelt ist, im Grunde unerheblich, da die Tropismen, auf die es dem Erzähler ankommt, ja in der Regel nur der Phantasie zugänglich sind. Der durch das Gittertor erhaschte flüchtige Anblick hat genügt, um den Er‐ zähler aufzuspringen und „elle“ folgen zu lassen. Er muss sich vergewissern, dass sie es ist und dass alles seine Ordnung hat: Mais c’était suffisant. Je me suis levé tout de suite. J’ai traversé le square très vite, je courais presque, il ne fallait pas perdre de temps, il fallait la rattraper, la voir se re‐ tourner, il fallait s’assurer à tout prix que tout restait anodin, naturel, que tout allait bien … (S. 50) Zwar weiß er, dass es ein Fehler ist, wenn er sich den Personen und Dingen zu sehr nähert, dass er vielmehr Distanz halten muss: Pourtant c’est ce qui ne me réussit jamais - je le sais bien, cela ne me réussit jamais de chercher à me rapprocher des gens, des choses, d’essayer de les amadouer, je dois tenir mes distances, - mais je ne pouvais plus m’arrêter, c’était déjà, je le sentais, cette attraction qu’ils exercent toujours sur moi, comme un déplacement d’air qui happe, ce vertige, cette chute dans le vide … (Ebd.) Aber die Faszination, die von dem inspirierenden Gegenstand ausgeht, ist stärker. Sie reißt ihn fort in einem schwindelerregenden Fall ins Leere, Unge‐ wisse. So folgt er „elle“ und gerät darüber in eine fast erotische Erregung: Je suis si tendu … si ému … une volupté particulière, extrêmement douce et en même temps atroce et louche (toujours ce mélange d’attrait et de peur) me pousse en avant, vite, vite, je ne pourrais pas attendre un instant de plus au moment où je lui pose la main sur l’épaule et l’appelle. (S. 51) Auch „elle“ hat ihn im Vorbeigehen erkannt, aus dem Augenwinkel und ohne den Kopf zu wenden, und sie beschleunigt unauffällig den Schritt. Doch er holt sie ein und stellt sie: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 338 51 S. 42. Elle fait une sorte de bond de côté - juste ce que je redoutais, ce bond de côté, le derrière rentré comme une hyène - et se retourne. Ses yeux, comme des yeux de hyène, fuient mon regard. Je souris d’un air doucereux, comme si de rien n’était […] (Ebd.) Ihr Blick versucht, dem seinen auszuweichen, und während er zu einem freund‐ lich-unverbindlichen Gespräch ansetzt, windet sie sich, in die Enge getrieben und wohl wissend, welches Spiel er insgeheim spielt: Elle sent très bien mon jeu et ce qui est là, entre nous, et que je veux cacher. Je la tiens coincée: elle reste devant moi sans bouger, elle se tortille seulement un peu, il me semble qu’elle tremble très légèrement […] (S. 51 f.) Es ist das Spiel der Tropismensuche, das ihm in den Augen Anderer „quelque chose […] de louche“ verleiht, wie er weiß 51 . Endlich befreit „elle“ sich unter einem Vorwand und flieht, und er wird von einer unerträglichen Angst über‐ fallen: Elle acquiesce, elle sourit de son sourire crispé … enfin elle se décide, ses yeux courent comme traqués, elle se tortille plus fort, elle me tend le bout de ses doigts durs, sa voix se fait toute mince, presque étranglée … „Je crois qu’il est très tard, je suis un peu en retard, je crois que je dois filer“ (ce mot „filer“, qu’elle emploie toujours: un mot qui rampe et mord, mais je n’ai pas le temps de m’arrêter à cela, non, pas maintenant), je sens une angoisse intolérable, un froid, comme un trou béant qui s’ouvre devant moi, je dois faire un effort pour ne pas courir derrière elle, la rappeler, lui parler encore, me démener, la supplier: tout n’est peut-être pas encore perdu, tout peut encore être réparé … Mais elle a filé. (S. 52) Die Szene zeigt den Erzähler, wie er dem Gegenstand seiner Inspiration auf der Suche nach Konkretisierung folgt. Auch Baudelaires Ich folgte den alten Frauen, die ihn in den poetischen Glückszustand versetzten, durch die Straßen der Stadt, um ausgehend von dem, was es sah, ihr Leben zu phantasieren: „Ah! que j’en ai suivi de ces petites vieilles! “ (Les Petites Vieilles, V. 49.) Sein Haupt‐ augenmerk galt dem Kontrast zwischen der jämmerlichen Erscheinung der ge‐ alterten Frauen und ihrer glänzenden Vergangenheit. Rilke, der von Baudelaires Gedicht fasziniert war, hat das Motiv des Folgens gleich zweimal verwendet. In der 25. Aufzeichnung hat er zunächst an die Stelle der alten Frauen die un‐ scheinbaren, verkümmerten Vogelfütterer gesetzt, die alten Puppen gleich in 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 339 52 „Ich unterschätze es nicht. Ich weiß, es gehört Mut dazu. Aber nehmen wir für einen Augenblick an, es hätte ihn einer, diesen Courage de luxe, ihnen nachzugehen, um dann für immer (denn wer könnte das wieder vergessen oder verwechseln? ) zu wissen, wo sie hernach hineinkriechen und was sie den vielen übrigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei Nacht. Dies ganz besonders wäre festzustellen: ob sie schlafen. Aber mit dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht wie die übrigen Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit wäre. Sie sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber durchaus nicht versteckte. Die Büsche treten zurück, der Weg wendet sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da stehen sie […]“ (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 509 bzw. S. 510.) 53 S. 51. Die Hyäne ist ein Raubtier, das seinerseits vom Menschen gejagt wird. den Parks der großen Stadt stehen und den Vögeln Brotkrumen streuen 52 . Daran angehängt hat er die Vorstellung von den alten Frauen, denen „man sogar folgen [könnte]“. Das Folgen bleibt bei ihm aber eine partielle Reminiszenz, bei der es eher um die Vertiefung in fremdes Elend als um den Aufschwung der eigenen Phantasie geht. Sarraute kommt Baudelaire wieder näher, da ihr Erzähler die Tropismen, für die es keine literarischen Muster gibt, aus der Anschauung ge‐ winnen muss, sie das Folgemotiv also im Zusammenhang der Inspirationsthe‐ matik aufnimmt. Ja, sie entfaltet es eigentlich erst richtig, indem sie die Erregung des inspirierten Dichters vor seinem tropistischen Gegenstand schildert („une volupté particulière“, „ce mélange d’attrait et de peur“, „je sens une angoisse intolérable“ usw.) und ihn zu einer ambivalenten Jagdmetaphorik greifen lässt („Elle fait une sorte de bond de côté - juste ce que je redoutais, ce bond de côté, le derrière rentré comme une hyène - et se retourne.“) 53 . Das Erkennungswort „suivre“ fällt eher nebenbei, jedoch dreimal, so zu Beginn der Szene: „Elle me sent dans son dos, et dans son dos aussi, sûrement, mon regard dans la glace, quand je la suis à la sortie d’un spectacle dans la foule“; noch einmal wenig später: „Pour elle aussi, sans doute, c’est contraire aux règles du jeu, invrai‐ semblable que je la suive […]“, und schließlich am Ende, nachdem „elle“ geflohen ist und der Erzähler ihr mit seiner Phantasie folgt: „je suis là encore à la suivre, à l’épier …“. Kaum ist die reale „elle“ seinen Blicken entschwunden, kommt nämlich seine Phantasie in Gang: Cela l’amuserait sûrement, si elle avait le temps de se préoccuper encore de moi, cela l’amuserait, maintenant qu’elle se sent libre, que je ne lui fais plus peur, de savoir que je suis là encore à la suivre, à l’épier … Elle doit marcher très vite maintenant, elle a perdu du temps à grimacer là avec moi, il faut qu’elle le rattrape, elle se dépêche, il y a quelque chose d’obstiné et d’avide, quelque chose d’aveugle et d’implacable dans la façon dont elle avance dans la bonne direction, coupe de biais les chaussées, son dos Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 340 54 Es gibt eine Reihe von sprachlichen Mitteln, durch welche die ‚Visionen‘ des Erzählers kenntlich gemacht werden, wie Tempuswechsel, Ausdrücke des Sehens, des Vermutens, der Wahrscheinlichkeit u. a. Siehe dazu Scherff, „Ein Roman in statu nascendi“, S. 337 f. 55 S. 53. Zu den hier genannten Beispielen des französischen Romans der Zwischenkriegs‐ zeit siehe die Anmerkungen z. St. (Minogue, „Notes et variantes“, S. 1763 bzw. 1764). 56 S. 53 f. Die „matière vivante“ ist eine Wendung Baudelaires aus dem zweiten Spleen-Gedicht: „Désormais tu n’es plus, ô matière vivante! / Qu’un granit entouré d’une vague épouvante […]“ (Les Fleurs du mal LXXVI, V. 19 f.) toujours rentré, comme menacé par-derrière d’un coup de pied, ses longues jambes maigres en avant. (S. 52 f.) So ‚sieht‘ 54 er, wie sie ein dunkles Treppenhaus hinaufsteigt, zitternd vor Erre‐ gung den Schlüssel sucht, dann einen Flur betritt, der schmutzige Tapeten und eine Ausdünstung von Urin und Abfluss hat. Wieder phantasiert der Erzähler hier aus nur wenigen ‚realen‘ Anhaltspunkten eine Geschichte. Über die An‐ haltspunkte äußert er sich später gegenüber dem Freund: „[…] après, dès qu’elle s’est échappée, j’ai vu tout à coup, dans l’expression de son dos, quelque chose qui m’a frappé, quelque chose d’avide et de lourd. Une sorte de déter‐ mination terrible … Elle allait chez le vieux, c’est certain. Écrasant tout. Une force aveugle, implacable. Une catapulte. C’est là que cela m’est venu …“ (S. 60) Dem Anblick und der entschlossenen Haltung von „elle“ hat er demnach ent‐ nommen, dass sie einer furchtbaren Auseinandersetzung mit dem Alten zu‐ strebte. Diese Auseinandersetzung entwirft er, als sie entschwunden ist, wobei es ihm aber nicht gelingt, bis zu den Tropismen vorzudringen. Vielmehr verfängt er sich in trivialen Versatzstücken des psychologischen Romans und denkt sich aus, was „elle“ zu diesen Phantasien sagen würde: Elle me narguerait sûrement maintenant, si elle en avait le temps: „Ah! c’est donc cela? La Bonifas? Adrienne Mesurat? C’est cela? Les intérieurs sinistres donnant sur des cours sombres? Leurs déroulements de serpents dans l’ombre? “ Elle sourirait sûre‐ ment […] 55 Durch ihren Spott entmutigt fühlt er sich wie ein bissiger kleiner Hund, der nie mehr als ein „bien petit morceau de matière vivante“ 56 zu fassen bekommen wird. Als er mit der Szene zwischen „elle“ und dem Alten fortfahren will, verliert seine Phantasie endgültig allen Schwung und er kann nur noch dürre Vermutungen anstellen: Mais je sens que je n’y suis plus très bien, ils ont pris le dessus, ils me sèment en chemin, je lâche prise … Elle doit demander quelque chose, il refuse, elle insiste. Cela porte presque sûrement sur des questions d’argent … (Ebd.) 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 341 57 Vgl. S. 45 f. 58 Hier wird erkennbar, dass Sarraute die „andere Auslegung“ Rilkes sehr bewusst mit der Wendung „l’autre aspect“ wiedergibt: die Tropismen sind ja in der Tat auch ein ‚anderer Anblick‘, eine ‚andere Seite‘ der sichtbaren Wirklichkeit. Die „racontars“ der „initiés“ des ersten Kapitels kommen ihm in den Sinn für den weiteren Gang der Dinge: Je me rappelle le jeune homme efflanqué qui ressemble à Valentin-le-Désossé, quand il se penchait vers moi: „Julien Green? … ou Mauriac? … On dit qu’il se lève la nuit, ramasse de vieux journeaux …“ Ils s’amuseraient beaucoup de moi maintenant … Il doit y avoir des bruits de coups, des cris … Et puis le silence. Encore quelques cla‐ quements de portes. Une odeur de valériane dans le petit couloir … C’est accompli … (S. 53 f.) 57 Er sieht „elle“ mit geröteten Augen und verbitterter Miene das Haus verlassen. Aber sie ist „fermée maintenant, murée de toutes parts, beaucoup plus forte que tout à l’heure“ - ihre inneren Regungen sind ihm nicht mehr zugänglich. Sie selbst hätte jetzt nicht einmal mehr einen Blick für ihn übrig, wenn er, wie es manchmal geschieht, im gegenüberliegenden Hauseingang auf sie warten würde, allenfalls einen kurzen amüsierten Seitenblick: Ou peut-être elle me lancerait juste en passant un regard de côté, un coup d’œil com‐ plice et amusé, si elle m’apercevait par hasard, blotti là, sous le porche, à guetter. (S. 54) Mit seinem ersten Versuch, in die verborgene Welt der Tropismen von „elle“ einzudringen, scheitert der Erzähler, weil seine Phantasie sich noch in abge‐ nutzten Bildern und Geschichten verliert, die untauglich sind, die neue, ‚an‐ dere‘ 58 Wirklichkeit zu erfassen. Seine voraufgehende Suche nach der Inspira‐ tion in den Straßen der Stadt hatte ihn jedoch in die Nähe der Gedankenwelt seiner Vorgänger Rilke und Baudelaire geführt. Und so drängt es sich auf, seine Begegnung mit der vorbeieilenden „elle“ neben die berühmte Begegnung mit der Passantin in Baudelaires Sonett À une passante (Fleurs du mal XCIII ) zu stellen. Das lyrische Ich Baudelaires begegnet in dem Rausch, den die Großstadt durch ihr Menschengewühl in ihm erzeugt („La rue assourdissante autour de moi hurlait.“ V. 1) - der bei Sarraute durch die kunstvollen Vorstellungen des Betrachters („un de mes trucs“) zustandekommt -, einer Frau, deren Anblick ihm einen Schock versetzt: „Un éclair“, fährt aus ihrem Auge, „ciel livide ou germe l’ouragan“, auf ihn nieder (V. 9 bzw. 6), der ihm „La douceur qui fascine et le plaisir qui tue“ (V. 8) verheißt. Bei Sarraute ist daraus „un petit choc très amorti“ geworden. Sarrautes Ich folgt „elle“ mit innerer Erregung und einer Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 342 59 „Tous les ans au printemps, bien qu’on se sente vieillir, on éprouve de nouveau … “ […] „C’est merveilleux, vous ne trouvez pas? cette inquiétude exquise qu’on retrouve, malgré l’âge, certains soirs de printemps. Ces arbres de Paris … Ces petits squares …“ (S. 32 f.) 60 La Chambre double (Le Spleen de Paris V, S. 280). 61 Auch eine Verkörperung seiner Phantasie kann die geliebte Frau für Baudelaire sein, so im Prosagedicht L’Invitation au voyage; siehe dazu im Folgenden. „volupté particulière“. Bei Baudelaire taucht die Frau in der Menge unter („Fu‐ gitive beauté“, V. 9), so dass die Begegnung mit ihr zum modernen Gegenstück der jahrhundertealten unerfüllten Liebe wird, bei der dem Liebenden nur der Rückzug in die Phantasie bleibt („Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, / Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! “, V. 13 f.). In Portrait d’un inconnu kommt die erotische Spannung in banalen, beiläufig vorgeschobenen Bemer‐ kungen des Ichs zum Ausdruck 59 und dessen eigentliche Wollust ist von vorn‐ herein die der schöpferischen Phantasie. Doch „elle“ entzieht sich auch hier: zuerst „fliehen“ ihre Augen („Ses yeux […] fuient mon regard.“), dann „macht“ sie selbst „sich davon“ („je dois filer“; „Mais elle a filé.“). In beiden Fällen ist die Frau dem Ich seelenverwandt und hat dieselben oder ähnliche Empfindungen wie dieses („ô toi qui le savais! “ - „Elle a aussi ce même flair surnaturel des choses.“). Freilich sind diese Empfindungen von ungleicher Art: den von Bau‐ delaires Ich phantasierten Liebesgefühlen stehen die tropistischen Wahrneh‐ mungen der Sarrauteschen Personen gegenüber. Baudelaires Passantin ist dar‐ überhinaus eine Verkörperung der Schönheit, des Ideals: „Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse“ (V. 2); „Agile et noble“ schreitet sie einher, „d’une main fastueuse / Soulevant, balançant le feston et l’ourlet“, „sa jambe de statue“ entblößend (V. 3-5); hinter ihr scheint „l’Idole, la souveraine des rêves“ 60 des Dichters auf 61 . Die „elle“ aus Portrait d’un inconnu dagegen ist keine schöne oder eindrucksvolle Erscheinung. Ihre kindliche Folgsamkeit, das schülerin‐ nenhafte Gebaren („le balancement particulier de son bras qui tient le cartable d’écolière qu’elle porte toujours en guise de sac“) sind weit entfernt von der Erfahrung und Haltung der reifen Schönheit der „passante“; wenn gar von ihrem „Hinterteil“ und ihren „Augen einer Hyäne“ die Rede ist („le derrière rentré comme une hyène“, „Ses yeux, comme des yeux d’hyène“), erscheint sie wie eine Karikatur jener. Vielleicht ist auch sie eine Art bildlicher Verkörperung des äs‐ thetischen Ideals ihrer Autorin, der öffentlich nicht vorzeigbaren Tropismen nämlich. Jedenfalls versetzt in beiden Fällen die ‚Flucht‘ der Frau den Zurück‐ bleibenden in eine „angoisse intolérable, un froid, comme un trou béant qui s’ouvre en moi“ und einen Zustand der Hoffnungslosigkeit: „Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? / Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! “ 3. Stadterlebnis und gestörte Inspiration 343 62 „Nous marchons tous les deux côte à côte. Nous voici longeant le mur du boulevard de Port-Royal: un long mur triste d’asile ou d’hôpital, un de ces murs que Rilke rencontrait partout, dans ses promenades mélancoliques, lors de ses premiers séjours ici. C’est sur ce mur que se détache toujours pour moi le fiacre au fond duquel se ballottait, sur son cou entouré de bandages, la tête livide de l’homme au pansement. Il n’y a rien de tel aujourd’hui pour donner à un mur quelque chose d’un peu tragique, de scénique, d’assez hallucinant, que de projeter sur lui la forme noire, irréelle et aiguë d’un fiacre. - Ce mur me convient très bien comme fond.“ (S. 65) Der Bezugspunkt sind hier nicht Die Auf‐ zeichnungen, sondern ein Brief Rilkes an Lou Andreas Salomé (18. 7. 1903); siehe „Notes et variantes“, S. 1765. (V. 11 f.). Denn mit ihr entziehen sich dem Dichter Schönheit und Phantasie und er bleibt als ein Scheiternder zurück. Die Ähnlichkeit beider Texte ist kaum zufällig: Sarraute dürfte den ihren mit Blick auf das Gedicht Baudelaires geschrieben haben. Wie bei Rilke macht sie auch bei Baudelaire des Öfteren motivische Anleihen oder holt sich Anre‐ gungen. Zuweilen benutzt sie die Texte ihrer Vorgänger als Kontrastfolie, manchmal ausdrücklich wie im Fall der „petite vieille au crayon“, öfter jedoch stillschweigend, sie dabei im eigenen Sinn verändernd. Neben der flüchtenden „elle“ sind dafür ein erhellendes Beispiel die frühen „femmes maltraitées qui viennent s’expliquer“, in die sich unter dem tiefschürfenden Blick des Tro‐ pismen-Suchers die „petites vieilles“ Baudelaires verwandelt haben, die dem „Dévouement“ ergeben waren. Das zweite Kapitel von Portrait d’un inconnu ist so ein überaus vielschichtiger und verdichteter, bei aller formalen und gedank‐ lichen Neuerung eng mit der Tradition verknüpfter Text. 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires Nach dem Treffen mit einem Jugendfreund, mit dem der Erzähler sich lange in der Beobachtung von Menschen geübt hat („nos jeux d’enfants malsains“), der sein neues Stück über „elle“ aber nicht recht zu goutieren weiß und ihn weiter verunsichert; nach einer erneuten Begegnung mit „elle“, in der ihm eine hallu‐ zinatorisch wirkende Rilke-Reminiszenz kommt 62 und er entschlossen ihr Ver‐ hältnis zum Vater anspricht, wozu „elle“ ihm aber nur die Klischees einer „mal‐ traitée“ liefert; nach einer weiteren Reflexion über den Fürsten Bolkonski und seine Tochter Marie aus Tolstois Krieg und Frieden sowie über die eigene Unfä‐ higkeit, ähnliche Charaktere mit glatten und festen Umrissen („masques“) zu gestalten, resigniert der Erzähler und fügt sich dem Urteil seiner Umgebung: in Begleitung seiner Eltern sucht er einen Psychotherapeuten auf (Kap. 4, S. 76-80). Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 344 63 Die Schilderung dieser Begegnung ist von Sarraute in einem ironisch-satirischen Ton gehalten, soweit die Tropismenthematik eine solche Erzählhaltung zulässt; zumindest der erste Teil des Kapitels ist allerdings eher eine Beschreibung des (Rede-)Verhaltens der Beteiligten (des Therapeuten, des Erzählers) als ihrer Tropismen. 64 „Nathalie Sarraute et Rainer Maria Rilke. La Lisière de la métamorphose“, in: R.-M. Allemand (Hrsg.), Le Nouveau Roman en questions 2: „Nouveau Roman et arché‐ types 2“, Paris 1993, S. 93-119. 65 Siehe oben, S. 245. a) Besuch beim „spécialiste“, ‚Genesung‘ und ‚Rückkehr in die Kindheit‘ Vor dem Therapeuten breitet der Erzähler seine tropistischen Entdeckungen aus in der Hoffnung, es mit jemandem zu tun zu haben, der sich auf die Sache ver‐ steht. Der Therapeut tut die Tropismen jedoch im Rahmen seines eigenen Denk‐ systems als nervöse und neuropathische Störungen des Erzählers wie der be‐ obachteten Personen ab und rät ihm, den Kontakt mit der Wirklichkeit zu suchen und Personen zu zeigen, die „bien vivant“, „concret, tangible“ seien 63 . Trotz seiner Enttäuschung fühlt sich der Erzähler nach dem Besuch wie von langer Krankheit genesen. Er lässt sich von seinen Eltern wie in Kinderzeiten in eine Konditorei führen und in eine Unterhaltung über alte Freunde verwickeln. Schließlich spürt er, dass sich etwas in ihm zu regen beginnt. Nach der Überzeugung von Cathérine Desormière soll der Leser, angeregt durch den Hinweis auf die „vieille au crayon“, bei den Erlebnissen des Sarrau‐ teschen Erzählers das Geschehen in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge vor Augen haben 64 . Für den Besuch beim „spécialiste“ und die folgende Regres‐ sion des Erzählers, der zeitweilig in den Schoß der Familie zurückkehrt, ist dies Maltes Besuch in der Salpêtrière, wo sich beim Anblick der Kranken seine Angst und sein künstlerisches Entsetzen vor dem allgegenwärtigen ‚argen Wirklichen‘ steigern und zur Wiederkehr von Kindheitsängsten führen, worauf ihn ein Fieber wie in Kinderzeiten befällt; nachdem er von diesem genesen ist, gelingt es ihm zum erstenmal, sich mit einem leidenden Anderen zu identifizieren (Auf‐ zeichnungen 19-21). Rilke hat hier den Gedanken von der besonderen Wahr‐ nehmungsfähigkeit des von einer Krankheit Genesenen, an die Baudelaire seine bekannte Definition vom Genie als wiedergefundener Kindheit geknüpft hatte, in erzählte Handlung umgesetzt 65 . Desormière deutet nun das Verhalten Maltes wie auch des Erzählers von Portrait d’un inconnu allgemein als Suche nach der eigenen Identität und dem eigenen Platz in der Gesellschaft; den jeweiligen Be‐ such beim Psychiater versteht sie als einen missglückten Versuch dieses Unter‐ 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 345 66 „[…] ces secours [die Besuche beim spécialiste] ne représentent, ni pour l’un ni pour l’autre, l’espoir d’atteindre l’équilibre pour être enfin, mais seulement celui de ne plus souffrir d’exclusion: plaire à la société.“ (S. 105) 67 Sie spricht beiden Protagonisten sogar die künstlerischen Ziele ab: Malte wolle nicht Dichter werden „pour accéder à la création“, sondern Dichter sein mit dem entspre‐ chenden gesellschaftlichen Ansehen; von Sarrautes Erzähler sagt sie: „Il n’a pas d’am‐ bition artistique […]“ (S. 108 f.), ihm gehe es darum „[d’]atteindre l’état de plénitude qu’il ressent chez les autres“ (S. 104). 68 Bei den Caudinischen Pässen erlitten die Römer im Jahre 321 v. Chr. eine schmachvolle Niederlage; siehe „Notes et variantes“, S. 1767. fangens 66 . Dabei übersieht sie in beiden Fällen die künstlerische Schaffensprob‐ lematik 67 . Wie schon in den Aufzeichnungen ist auch in Portrait d’un inconnu in die Schilderung des künstlerischen Schaffensprozesses der Motivkomplex Krank‐ heit-Genesung zusammen mit der Kindheitsthematik eingebaut, so wie Sar‐ raute sie verstanden hat. So sieht der Therapeut „souffrances très réelles“ einer „Krankheit“ beim Erzähler (S. 80). Dieser fühlt sich nach dem Besuch wie ein Genesender: „J’étais tout faible et un peu titubant, comme lorsqu’on sort après une longue maladie.“ (S. 79) Schon während der Beratung glaubt er erste An‐ zeichen einer Besserung zu erkennen: „Je prends déjà petit à petit […] ‚contact avec le réel‘.“, denn „il“ und „elle“ nehmen in seiner Vorstellung plötzlich harte und klare Konturen an wie Schießfiguren auf dem Jahrmarkt (S. 78). Das Motiv der (wiedergefundenen) Kindheit kommt außer in der Begleitung durch die El‐ tern auch in deren Verhalten zum Ausdruck: sie behandeln den Erzähler wie zu Kinderzeiten, betätscheln ihn liebevoll („Leurs mains flasques de vieillards […] me palpaient le bras afffectueusement, comme autrefois […]“), führen ihn an die Orte seiner Kindheit („Ils m’ont conduit, à travers le jardin où je jouais autrefois aux pâtés, accroupi à leurs pieds, à la pâtisserie où nous allions toujours.“ Meine Hervorhebungen.) und versuchen, ihn unmerklich auf den vom Therapeuten vorgeschlagenen rechten Weg zu bringen. Der Erzähler ist zwar noch fähig, zu beobachten („ils avaient un air gêné et comme un peu honteux“), vermag den Eltern aber keinen Widerstand mehr zu leisten und unterwirft sich ganz ihren Wünschen: J’acquiescais, je racontais, je me penchais comme il fallait, plus bas, plus bas encore („les Fourches Caudines“ 68 , je me disais cela, mais je n’avais pas de forces pour résister, il fallait me soumettre maintenant, je n’avais plus rien, rien à moi, rien à préserver d’eux, à tenir à l’abri de leur contact), je faisais pivoter, devant eux, comme ils le Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 346 69 S. 79. Die Metaphorik - „leur musée“, „leurs poupées“, „leurs soldats de plomb“ - für eine individuelle Gedankenwelt ist Sarrautes höchsteigene, die hier aus der Perspektive des Sohnes auch einen ironischen Zug hat. voulaient, leurs poupées, j’avançais avec eux lentement à travers leur musée, je passais avec eux la revue de leurs soldats de plomb … 69 Wie ein Kind lässt er alles mit sich geschehen, da er sich immer schwächer und „leerer“ fühlt: Je me laissais faire. Je me sentais de plus en plus affaibli, vidé […] (S. 80) Das Gefühl der Leere tritt in Portrait d’un inconnu in unterschiedlichen Situati‐ onen und mit unterschiedlicher Bedeutung auf: so in den „périodes de vide ou de mal-mal“ eines Depressiven (S. 48), aber auch, in Verbindung mit dem Bau‐ delaireschen „vertige“, im entgegengesetzten Zustand des beginnenden Enthu‐ siasmus als ein Sich-Fallen-Lassen des Erzählers: „ce vertige, cette chute dans le vide“ (S. 50). An der vorliegenden Stelle spürt der vorübergehend wieder zum Kind gewordene Erzähler plötzlich, wie etwas in seinem Innern sich erhebt und schlägt wie ein schlecht geschlossener Laden bei Nacht: […] et puis j’avais peur de m’arracher à eux brusquement, je me collais même à eux de plus en plus, je me retenais à eux, car je commençais déjà à sentir en moi quelque chose qui se soulevait, quelque chose qui battait doucement dans le vide, se soulevait, retombait, comme cogne dans le silence de la nuit un volet mal fermé - je me retenais à eux, car je savais que si je restais seul tout à coup, sans eux, dans la rue chaude et vide, le battement résonnerait en moi atrocement fort. (Ebd.) Dieses Bild ist eindeutig. Ein Laden schlägt und öffnet sich im Wind. Der Wind, der sich hier erhebt und den Laden bewegt, ist der des dichterischen Enthusi‐ asmus, der durch die entstehende Öffnung eindringen und die „Leere“ im Ich füllen wird. Allein auf der Straße, dem üblichen Ort seiner Inspiration, würde das den Erzähler überwältigen. Das kann er nach dem gerade Erlebten und den Ermahnungen des Therapeuten offenbar noch nicht zulassen und so hält er sich an den Eltern fest („je me retenais à eux“) - das ist der natürliche Aspekt des kindlichen Zustands, der von Malte durch seine Erinnerungen abgearbeitet wurde, während er für Baudelaire uninteressant war. Aber auch der poetisch relevante Aspekt dieses Zustands präsentiert sich bei Sarraute anders als bei Baudelaire und Rilke, weil bei ihr weder von der Intensität einer „perception enfantine“ noch von der Rilkeschen Fülle des kindlichen Erlebens die Rede ist. Vielmehr geht es bei ihr angesichts der Schaffensunfähigkeit und -unsicherheit des Erzählers um ein Sich-Fallen- und Geschehen-Lassen und eine Regression 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 347 70 Valerie Minogue hat sich wiederholt mit dem Motiv der Kindheit bzw. Kindlichkeit in Portrait d’un inconnu beschäftigt, sowohl als Eigenschaft des Erzählers wie auch als Bildspender für die Tropismen (Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 49 ff.; Portrait d’un inconnu, „Notice“, S. 1750). Dabei hat sie u. a. das „inarticulate and uncertain being“ eines Kindes mit dem „prélinguistique“ des Tropismus gleichgesetzt und Kind‐ heit als ein „Emblem“ für das tropistische Material Sarrautes interpretiert: „The child-fi‐ gure of Tropismes […] will run through Sarraute’s work, an emblem of her tropistic material, struggling against the repressive language of categorization.“ („The Child, the Doll, and the Hands that Hold: Tropisme 1 as a Paradigm in the Work of Nathalie Sar‐ raute“, New Novel Review [Special Issue on the Conference at Elmira College, 1994], Bd. 3 / 1995, S. 21-34; hier: S. 24 bzw. 27.) In diesem Zusammenhang hat sie eine Bezie‐ hung zu Baudelaires Konzept des Genies als „enfance retrouvée à volonté“ hergestellt, ohne dies jedoch weiter zu begründen. Vielmehr belässt sie es bei der recht allgemeinen Betrachtung der Metaphorik von „dolls and hands“ in Tropismes und Portrait d’un in‐ connu, die man auch anders, etwa aus der weiblichen Perspektive erklären könnte. 71 Ebd. Zur befreienden Wirkung der Nourritures terrestres siehe Minogue, „Notes et va‐ riantes“, S. 1767. in den kindlichen Zustand, um Kraft für die gewünschte dichterische Tätigkeit zu sammeln. Das ist Sarrautes realistisch-psychologische Deutung des Konzepts von der Kindlichkeit des Künstlers, das ganz offenbar auch sie fasziniert hat 70 . b) Der Besuch im Museum und das unvollendete Portrait d’un in‐ connu Wie vom Therapeuten vorausgesehen, befindet sich der Erzähler nach dem Be‐ such in einem unentschiedenen Zustand der „ambivalence“. Einerseits hält er sich bis auf gelegentliche Anwandlungen für geheilt und wieder in der Welt der Erwachsenen angekommen, „exorcisé“, wie er sagt, weil der Anblick von „il“ und „elle“ ihn jetzt kalt lässt und nicht mehr wie zuvor in innere Erregung ver‐ setzt: […] j’éprouvais maintenant parfois un certain étonnement à les trouver, elle et lui, si anodins, des objets indifférents, sans intérêt, sans importance. J’aurais pu maintenant apercevoir, tournant l’angle d’une rue ou traversant une place devant un petit square, la courbe timide de leur dos, sans plus rien éprouver de mes sursauts éperdus d’au‐ trefois. (S. 81) Von seiner Umgebung ermuntert entschließt er sich sogar zu der Reise, die der Therapeut ihm zur vollständigen Heilung angeraten hatte, wobei er auf Gides Nourritures terrestres verwiesen hatte: […] soyez Nathanâel, goûtez aux nourritures terrestres. Retrouvez - c’est ce qui vous manque maintenant pour achever la guérison - retrouvez la „ferveur“. 71 Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 348 Doch schon bei der Entscheidung des Erzählers zu reisen ist anderes als die pure Lebenslust im Spiel, denn Reisen mit seiner Erfahrung und Wahrnehmung neuer Dinge ist ein künstlerisches Stimulans ersten Ranges. Unübersehbar wird die Ambivalenz dann in der Wahl des Reiseziels: Et c’est là déjà, cependant, que l’ambivalence a dû jouer. Sournoisement, comme tou‐ jours, à mon insu: dans le choix même de cette ville. Pourtant elle me semblait, cette ville, être de tout repos. Elle offrait les plus solides garanties. Elle était, elle avait été toujours pour moi, la ville de L’Invitation au voyage. Ses navires imperceptiblement balancés (Baudelaire avait songé aussi à dire: dandinés, il avait hésité, mais il avait trouvé à le dire mieux encore), les mâts de ses vaisseaux dans le vieux port, son ciel, ses eaux, ses canaux, tout baignait dans une sorte de douceur exaltée. (S. 82) Die ausgewählte Stadt mit ihrem alten Hafen und den sich sanft im Wasser wiegenden Schiffen scheint ein Ort völliger Ruhe und Entspannung. Schon immer, so der Erzähler, sei sie für ihn die Stadt von Baudelaires L’Invitation au voyage gewesen. Wenn er bei ihrem Anblick die Worte dieses Gedichts spreche, verwandle sie sich vor seinen Augen in ein Bild der Ekstase: Les mots de L’Invitation au voyage la frappaient à petits coups légers et elle [la ville] vibrait, elle résonnait mélodieusement, toute pure et transparente et claire comme du cristal. Il suffisait de dire doucement ces mots: „les soleils couchants revêtent les champs, les canaux, la ville entière d’hyacinthe et d’or“, et aux mots „la ville entière“, elle se soulevait dans un élan, sa grande rue se déployait comme une oriflamme, toute pavoisée de drapeaux, de bannières flottant au vent léger de la mer, dans la lumière dorée. (Ebd.) Offensichtlich wendet der Erzähler hier wieder seinen „Trick“ der verfrem‐ denden Vorstellung an, um den „autre aspect“ der Stadt hervorzurufen und selbst in den ‚anderen Zustand‘ zu gelangen. Baudelaires Gedicht L’Invitation au vo‐ yage ist dafür besonders geeignet, weil es den Vorgang der ekstatischen Ver‐ wandlung im Bild einer imaginären Reise vorführt. In L’Invitation au voyage (Les Fleurs du mal LIII ) entwirft das dichterische Ich vor den Augen einer Frau, die es als „mon enfant, ma sœur“ anredet, die Schön‐ heit eines fernen Landes, das ihr gleiche und in dem zu leben, zu lieben und zu sterben sich lohne, eines Landes voller exotischer Reichtümer, in dem die Seele ihr Zuhause finde und alles „ordre et beauté, / Luxe, calme et volupté“ sei. In der letzten Strophe ist das Ich mit seiner Phantasie in diesem Land angekommen; es sieht die im Hafen ruhenden Schiffe und den Sonnenuntergang, der die ganze Stadt in ein warmes, goldenes Licht taucht. Der Anblick von Häfen und von 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 349 72 Vgl. das Prosagedicht Le Port (Le Spleen de Paris XLI, S. 344 f.); Fusées XV, Œuvres com‐ plètes, Bd. 1, S. 663 f. 73 Fusées VIII, S. 655. 74 Dieses wörtliche Zitat aus Fusées, das Valérie Minogue vergeblich gesucht hat („Notes et variantes“, S. 1767 f.), zeigt, wie genau Sarraute Baudelaires Schriften gelesen hat. In ihrer Erörterung des alternativen „dandinés“ hat sie Tagebuchäußerung und Gedicht verbunden. 75 Oriflamme ist die mittelalterliche Reichs- und Kriegsfahne der französischen Könige, heutzutage als rotes Banner mit goldener Sonne, Flammen und Sternen und den Schrift‐ zügen St. Denis und Montjoie in St. Denis zu sehen. Schiffen in sanfter Bewegung war für Baudelaire der Inbegriff der Schönheit 72 ; zumal von letzteren ging für ihn die Aufforderung aus, ins „Glück“ zu reisen: Ces beaux et grands navires, imperceptiblement balancés (dandinés) sur les eaux tranquilles, ces robustes navires, à l’air désœuvré et nostalgique, ne nous disent-ils pas dans une langue muette: Quand partons-nous pour le bonheur? 73 Für den Dichter liegt das höchste Glück im poetischen Enthusiasmus. Er ist denn auch das Ziel, dem Baudelaires Ich im gleichnamigen Prosagedicht L’Invitation au voyage im Bunde mit einer „vieille amie“ zustrebt, hinter der sich wohl die Phantasie verbirgt. Die Gedankenreise geschieht in beiden Gedichtversionen - im Versgedicht verstärkt - in einer hochpoetischen, melodisch-rhythmischen Sprache, die auch die Phantasie des Lesers in Gang setzt und ihn verzaubert. Bei Sarraute schlägt sich das unter anderem in der Beschreibung der Stadt mit Bau‐ delaireschen Worten - „Ses navires imperceptiblement balancés“ 74 , „vaisseaux“, „ciel“, „canaux“, „douceur“ - nieder. Wenn Sarrautes Erzähler bei seinem Reiseziel die Baudelairesche Phantasie eines ekstatischen Glückszustands vor Augen hat, so bedeutet dies, dass auch er diesen Zustand erreichen möchte. Tatsächlich sieht er ihn nach Anwendung seines Tricks alsbald in der realen Stadt materialisiert, die sich aufschwingt („elle se soulevait dans un élan“) und ihre Hauptstraße mit ihren Flaggen wie eine Oriflamme 75 vor ihm entfaltet: die ‚Stadt Baudelaires‘ ist bereit, ihn zu emp‐ fangen. Und der Erzähler, dank seines Genesungszustandes empfindsamer und aufnahmebereiter geworden, nimmt die Einladung an: C’était de la matière épurée, décantée. Une belle matière travaillée. Un mets exquis, tout préparé. Il n’y avait qu’à se servir. Aussi mon attente ne fut-elle pas déçue. Mon état, si proche de la guérison, y aidait beaucoup, du reste: j’étais devenu plus souple, plus réceptif. Et, dès le lendemain, quand je suis sorti me promener dans l’air parfumé et frais du matin, cet air de là-bas, plus pur, plus vif, plus exaltant qu’ailleurs („de l’ozone“, je me disais cela en marchant), il me semblait qu’une main puissante et douce Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 350 me soulevait, me portait. J’étais comme ces voiliers que je voyais sortir du port, leurs coques brillant aux premiers rayons du soleil, toutes leurs voiles blanches dehors, tendues, gonflées par un vent propice. (S. 82) Er fühlt sich glücklich erregt und davongetragen wie ein Segler von günstigem Wind, als er seine Lieblingsstraßen aufsucht („mes rues préférées, ces ruelles paisibles, intimes, si douces, des villes du nord“). In diesem rauschhaften Zustand lenkt er seine Schritte zum Museum. Je näher er kommt, umso mehr wächst die Erregung und wird zu jenem zwiespältigen Gefühl, das schon seinen bisherigen Begegnungen mit „il“ und „elle“ vorausging und auch dort Zeichen des ‚anderen Zustands‘ war: Je sais maintenant que l’ambivalence était là déjà, tapie sûrement dans cette excitation que je ressentais en montant l’escalier du musée, une excitation où une angoisse légère se mêlait à une allégresse trop grande - un sentiment assez semblable à celui qu’é‐ prouve l’amoureux courant à son premier rendez-vous. (S. 82 f.) Er betritt das Museum und gibt sich in den menschenleeren Sälen der Betrach‐ tung seiner Lieblingsgemälde hin: Ici aussi, il n’y avait qu’à s’abandonner, qu’à prendre. L’effort, le doute, le tourment avaient été surmontés, dépassés, le but était atteint, et elles m’offraient maintenant la sérénité féconde et grave de leur sourire apaisé, la grâce exquise de leur détachement. Leurs lignes, dont chacune semblait être, entre toutes les lignes possibles, la seule, l’unique, miraculeusement élue, rencontrée par une chance surnaturelle, inespérée, pénétraient en moi, me redressaient, j’étais tout tendu, vibrant comme la corde tendue d’un arc. (S. 83) Der Anblick dieser Kunstwerke, in denen Zweifel und Anstrengung über‐ wunden und glückhaft die ideale Linie gefunden wurde, vertieft seinen Glücks‐ zustand: er fühlt sich innerlich aufgerichtet und gespannt wie die Sehne eines Bogens („me redressaient, j’étais tout tendu, vibrant comme la corde tendue d’un arc“). Doch dabei bleibt es nicht, denn alsbald nehmen seine geschärften Sinne kurze Luftstöße wahr, die aus einem Nebenraum zu ihm dringen. Ohne beson‐ dere Erwartung, nur um einen alten Eindruck aufzufrischen, nähert er sich einem Gemälde, das ihm schon bei früheren Besuchen vor allen anderen auf‐ gefallen war. Es hängt im dunkelsten Winkel der Galerie und zeigt, gemalt von einem namenlosen Maler, das Bildnis eines Unbekannten. Il me parut, cette fois, plutôt plus étrange encore qu’il ne m’avait paru autrefois. Les lignes de son visage, de son jabot de dentelles, de son pourpoint, de ses mains, sem‐ blaient être les contours fragmentaires et incertains que découvrent à tâtons, que pal‐ 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 351 pent les doigts hésitants d’un aveugle. On aurait dit qu’ici l’effort, le doute, le tourment avaient été surpris par une catastrophe soudaine et qu’ils étaient demeurés là, fixés en plein mouvement, comme ces cadavres qui restent pétrifiés dans l’attitude où la mort les a frappés. Ses yeux seuls semblaient avoir échappé au cataclysme et avoir atteint le but, l’achèvement: ils paraissaient avoir tiré à eux et concentré en eux toute l’intensité, la vie qui manquaient à ses traits encore informes et disloqués. Ils sem‐ blaient ne pas appartenir tout à fait à ce visage et faisaient penser aux yeux que doivent avoir ces êtres enchantés dans le corps desquels un charme retient captifs les princes et les princesses des contes de fées. L’appel qu’ils lançaient, pathétique, insistant, fai‐ sait sentir d’une manière étrange et rendait tragique son silence. (S. 83 f.) Dieses „Portrait d’un inconnu“ erscheint ihm jetzt noch ungewöhnlicher und befremdlicher als sonst („plus étrange encore qu’il ne m’avait paru autrefois“). Die unsicher und unvollständig wiedergegebenen Umrisse des Gesichts, der Kleidung, der Hände, die dem gleichen, was ein Blinder mit tastenden Fingern von einer Gestalt zu erfühlen vermag, lassen ihn an eine Katastrophe denken, die den Künstler mitten in Zweifel und Anstrengung überrascht hat; nur die Augen des Dargestellten scheinen der Katastrophe entronnen und zur Vollen‐ dung gelangt zu sein, denn sie vereinen alle Lebendigkeit und Intensität in sich, ja es geht eine eindringliche Aufforderung von ihnen aus, die der Erzähler als an sich selbst gerichtet empfindet: C’était à moi - il était impossible d’en douter - à moi seul que son appel s’adressait: j’avais beau me dire, pour me retenir sur la pente où je me sentais entraîné, que c’était l’introversion qui recommençait, que j’étais venu là, semblable au criminel qu’une impulsion morbide pousse à revenir hanter les lieux du crime, attiré par le besoin de jouer avec moi-même un jeu dangereux, malsain; j’avais beau, comme je le fais tou‐ jours, chercher de toutes mes forces à me retenir pour rester en lieu sûr, du bon côté, je sentais comme il lançait vers moi, avec un douloureux effort, de la nuit où il se débattait, son appel ardent et obstiné. (S. 84) Der Blick des Porträtierten bringt in ihm etwas fast Vergessenes zum Klingen und bewegt ihn zu einer schüchternen Antwort, die von jenem verstärkt zu ihm zurückgeschickt wird, und schließlich erhebt sich aus beiden gemeinsam ein mächtiger Gesang der Hoffnung, der den Erzähler davonträgt, ihn im Laufschritt aus dem Museum eilen lässt, vorbei an den schläfrigen Wächtern und hinaus auf den Vorplatz, wo weiße Vögel freudig auffliegen: Et petit à petit, je sentais comme en moi une note timide, un son d’autrefois, presque oublié, s’élévait, hésitant d’abord. Et il me semblait, tandis que je restais là devant lui, perdu, fondu en lui, que cette note hésitante et grêle, cette réponse timide qu’il avait Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 352 76 Auch in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (11 und 12) kann die Stadt selbst die Ekstase auslösen: „Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluß, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kästen auf, und das frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.“ (12; Werke, Bd. 3, S. 465 f.) Das auslösende Moment ist hier atmosphärischer Art („so ein kleiner Mond“); ebenso im vorausgehenden 11. Stück: „Heute war ein schöner, herbst‐ licher Morgen.“ fait sourdre de moi, pénétrait en lui, résonnait en lui, il la recueillait, il la renvoyait, fortifiée, grossie par lui comme par un amplificateur, elle montait de moi, de lui, s’é‐ lévait de plus en plus fort, un chant gonflé d’espoir qui me soulevait, m’emportait … Je voyais, tandis que je courais comme porté, poussé hors du musée, les gardiens assoupis sur leurs bancs dans les coins se redresser et me regarder de leurs yeux somnolents, je voyais à mon approche se lever à grands coups d’ailes joyeux les oi‐ seaux blancs, dehors, sur la place. (Ebd.) Er fühlt sich plötzlich frei, befreit durch das innere Feuer des Unbekannten, und mit gekappten Leinen segelt er auf das offene Meer hinaus: Je me sentais libre tout à coup. Délivré. L’Inconnu - je me disais cela tandis que j’es‐ caladais en courant l’escalier de l’hôtel - „l’Homme au pourpoint“, comme je l’appelais, m’avait délivré. La flamme qui brûlait en lui avait, comme un chalumeau, fondu la chaîne au bout de laquelle ils me promenaient. J’étais libre. Les amarres étaient cou‐ pées. Je voguais, poussé vers le large. (S. 84 f.) Was dem Erzähler in diesem Kapitel widerfährt, ist ein langanhaltender und umfassender „état exceptionnel“ in verschiedenen Stufen, deren letzte der dich‐ terische Enthusiasmus ist. Zunächst gerät er in einen allgemeinen ekstatischen Zustand („cet état d’heureuse exaltation“), den er, nach seiner ‚ambivalenten‘ Wahl des Ortes, willentlich durch die Verfremdung und Verwandlung der Stadt mit Hilfe des Baudelaire-Gedichtes hervorruft. Für diese noch unspezifische Ekstase genügt der Anblick der Straßen („mes rues préférées, ces ruelles paisi‐ bles, intimes, si douces, des villes du nord“, „sa grande rue […] toute pavoisée de drapeaux, de bannières“), die im Lichte des Baudelaire-Gedichts für das Ich zu einem erhebenden Anblick werden 76 . 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 353 77 In Entre la vie et la mort verwendet Sarraute die Metapher des Schwingens („vibrer“, „vibration“) für die Begegnung des inspirierten Autors mit seiner Phantasie (Œuvres complètes, S. 732 f.). Siehe auch zum „Vibrieren“ der Wörter S. 662 und S. 730. 78 Symphonie littéraire, in: St. Mallarmé, Œuvres complètes, hrsg. von H. Mondor und G. Jean-Aubry (Bibliothèque de la Pléiade. 65), Paris 1951 u.ö., S. 262. Zu Mallarmé als Leser siehe J. Schulze, „Der Dichter als Leser und seine Ekstasen. Zur lyrischen Situation von Mallarmés Prose pour des Esseintes und ihrem Ursprung aus dem Prosagedicht“, Ro‐ manistisches Jahrbuch Bd. 32 / 1981, S. 92-116. 79 Siehe oben, S. 47. 80 Vgl. etwa Les Fruits d’or, S. 537: „j’entends comme un très faible son … un très léger tintement … les ondes, d’un mot à l’autre, d’une phrase à l’autre se propagent, quelque chose résonne très discrètement, je l’entends, je n’y peux rien …“; sowie S. 606: „Quelque chose me parcourt … c’est comme une vibration, une modulation, un rythme … […] Ce qui passe là des Fruits d’or à moi, cette ondulation, cette modulation … un tintement léger … qui d’eux à moi et de moi à eux comme à travers une même substance se propage, rien ne peut arrêter cela.“ Die nächste Stufe der Ekstase erreicht der Erzähler im Museum, das er in einem weiteren ambivalenten Akt - „Et c’est sans aucune arrière-pensée, du moins à ce qu’il me semblait, […] que […] je me suis dirigé lentement vers le musée.“ - aufgesucht hat. Hier versetzen ihn seine Lieblingsgemälde in ein Hochgefühl, das Sarraute in ein tropistisches Sprachbild fasst: „j’étais tout tendu, vibrant comme la corde tendue d’un arc“ - wie die Sehne eines Bogens, die von einer höheren Kraft gespannt und in Schwingungen versetzt wird 77 . Die Schwingungen, die durch die besonders gelungenen Bilder des Museums aus‐ gelöst werden, führen die Erregung des Erzählers durch das Stadterlebnis fort, verlängern und vertiefen sie. Einen ähnlichen Fall von gezielter Verlängerung und Vertiefung einer natürlichen Ekstase mit Hilfe der Kunst beschreibt Mal‐ larmé in seiner frühen Prosa Symphonie littéraire. Um seinen morgendlichen „état de grâce“ zu erhalten und dem „ennui“ zu entgehen, greift das Ich dort zu den Gedichten Théophile Gautiers. Alsbald verspürt es eine große Leichtigkeit und Vollkommenheit und sein ganzes Wesen und jede Wahrnehmungsfähigkeit ist ergriffen und gefordert: Bientôt une insensible transfiguration s’opère en moi et la sensation de légèreté se fond peu à peu en une de perfection. Tout mon être spirituel - le trésor profond des correspondances, l’accord intime des couleurs, le souvenir du rythme antérieur et la science mystérieuse du Verbe, - est requis, et tout entier s’émeut […] 78 Mit ähnlichen Worte hatte schon Baudelaire die Wirkung der „sorcellerie évo‐ catoire“ Gautiers beschrieben 79 . Sarraute beschreibt derartige außerordentliche Leseerlebnisse gern mit Klangbildern und -metaphern, wie sie es hier bei der Wirkung des „Portrait d’un inconnu“ auf den Erzähler tut 80 . Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 354 81 Das Verb, das diese Wahrnehmung der Tropismen bezeichnet, ist hier und andernorts „sentir“. 82 „Les gens peuvent dire ce que bon leur semble. Personne n’a le pouvoir d’interrompre entre nous cette osmose. Aucune parole venue du dehors ne peut détruire une si na‐ turelle et parfaite fusion.“ (S. 607) 83 Vergleiche dazu Mallarmé: „bien qu’à la vérité un grand hymne sorte […] de cet aveu, que sans elle [ma lecture salvatrice] j’eusse été incapable de garder un instant l’har‐ monie surnaturelle où je m’attarde […]“ (Symphonie littéraire, S. 262; Hervorhebung von mir.) Das Nahen des dichterischen Enthusiasmus, der dritten und letzten Stufe der Ekstase, kündigt sich mit der Wind- und Luftmetaphorik an. Während der Er‐ zähler noch im Genuss der malerischen Vollkommenheit der anderen Werke schwelgt, spürt er, wie aus der kleinen Galerie, in der sich das „Portrait d’un inconnu“ befindet, Luftstöße zu ihm dringen, die Ausdünstungen von Metro‐ schächten gleichen: Je sentais pourtant déjà, par instants, venant par la porte ouverte de la petite galerie où je savais qu’il se trouvait, comme de courtes bouffées, semblables, dans cet air si pur que je respirais, à ces bouffées d’âcre et chaud qui montent du sol dans l’air sec et froid de l’hiver et nous enveloppent brusquement quand nous passons au-dessus d’une bouche de métro. Mais je ne me sentais nullement ému. J’étais tout redressé, tout nettoyé, tout propre. Je ne craignais rien. (S. 83) Die Art und Weise, wie der Erzähler hier und andernorts einen Gegenstand oder eine Person erspürt, noch bevor er sie realiter erblickt, gleicht der Wahrneh‐ mung von Tropismen 81 . Ja, es sind solche Tropismen - nämlich die Mühen, die Zweifel und die Katastrophe des Malers des Porträts sowie der Schmerz des unerlösten Porträtierten -, die ihm von dem Bildnis des Unbekannten aus zu‐ strömen und deren Unvollkommenheit er durch das alltägliche und abstoßende Bild der Metroausdünstungen veranschaulicht. Als er endlich vor dem Gemälde steht, kommt es zu einer wechselseitigen Beeinflussung und Erregung: das Bild schlägt im Erzähler einen Ton an, den er von früher kennt, „une note timide“, die zunächst „hésitante et grêle“ ist und die als „réponse timide“ auf das Porträt trifft, von dem sie in verstärkter Form wieder zu ihm zurückkommt. Am Ende des zunehmend intensiveren Austauschs - von „osmose“ und „naturelle et par‐ faite fusion“ zwischen Rezipient und Werk ist in dem vergleichbaren Lek‐ türe-Erlebnis in Les Fruits d’or die Rede 82 - vereinigt sich der „appel ardent et obstiné“ des Unbekannten mit der nun nicht mehr zaghaften Antwort des Er‐ zählers und aus beiden schwingt sich ein gemeinsamer „chant gonflé d’espoir“ 83 empor. Hinter dem Bild des so entstehenden „concentus“ oder „concerto“ von 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 355 84 Siehe dazu L. Spitzer, Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word ‚Stimmung‘, hrsg. von A. Granville Hatcher, Baltimore 1963, S. 108-138. Die Klangmetaphorik ist in Portrait d’un inconnu deutlich höher ge‐ stimmt als in Les Fruits d’or; der „son d’autrefois“ etwa klingt feierlich und lässt an himmlische bzw. paradiesische Klänge denken. 85 „Nathalie Sarraute et les chefs-d’œuvre inconnus. Lecture intertextuelle de Portrait d’un inconnu“, Revue des sciences humaines Bd. 217 / 218 / 1990, S. 127-138. 86 Die Beschreibung des Sterbens ist eindeutig bis hin zur Seelen-Metapher des Schmet‐ terlings: „Ses étourdissements augmentaient; il attachait son regard, comme un enfant à un papillon jaune qu’il veut saisir, au précieux petit pan de mur.“ (La Prisonnière, in: M. Proust, Œuvres complètes, Bd. 3, S. 187.) 87 Siehe Un amour de Swann (Du côté de chez Swann, in: Proust, Œuvres complètes, Bd. 1), S. 210-212, und S. 344 ff. 88 La Prisonnière, S. 261, sowie S. 263: „c’était grâce à elle [der postum rekonstruierten „petite mélodie“ Vinteuils] […] qu’avait pu venir jusqu’à moi l’étrange appel qu’il exis‐ tait autre chose, réalisable par l’art sans doute, que le néant que j’avais trouvé dans tous les plaisirs et dans l’amour même […].“ 89 Miguet, S. 135. Stimmen scheint die Vorstellung von der harmonia mundi auf 84 , an der der Er‐ zähler auf dem Höhepunkt seiner Ekstase teilhat. Auf der Suche nach intertextuellen Beziehungen, die die Episode des „Portrait d’un inconnu“ erleuchten könnten, hat Marie Miguet die anfängliche Berufung des Erzählers auf Baudelaires L’Invitation au voyage als „frustration“ des Lesers zurückgewiesen und stattdessen mehrere Stellen aus Prousts À la Recherche du temps perdu vorgeschlagen, bei denen es ebenfalls um einen ‚anderen Zustand‘ geht, der durch Kunst ausgelöst wird: den Museumsbesuch des Schriftstellers Bergotte sowie die Erlebnisse Swanns und Marcels mit der Sonate bzw. dem Septett von Vinteuil 85 . Im Fall des todkranken Bergotte, dem vor einem Gemälde von Jan Vermeer über einem faszinierend gemalten Stück Mauer die Einsicht kommt: „C’est ainsi que j’aurais dû écrire […]“, fällt der ‚andere Zustand‘ mit dem Übergang vom Leben zum Tod zusammen, bleibt also künstlerisch fol‐ genlos 86 . Swann wird durch die „petite phrase“ der Vinteuil-Sonate zur Musik geführt und seine Liebe zu dieser verschränkt sich mit der Liebe zu Odette, was sich noch einmal in einem Akt der „mémoire involontaire“ um beider Entste‐ hung wiederholt 87 . Am überzeugendsten ist der Hinweis auf das Erlebnis Mar‐ cels, der von dem Septett Vinteuils einen „appel vers une joie supra-terrestre“ empfängt, der ihm seine früheren ekstatischen Erlebnisse in Erinnerung ruft und ihm die Möglichkeit ihrer Verewigung durch die Kunst aufzeigt 88 . Das hat in der Tat eine Parallele in dem „appel“, den der ebenfalls seine Berufung su‐ chende Erzähler von Portrait d’un inconnu vor dem Bildnis des Unbekannten empfängt. Nur die letztgenannte Proustsche „épiphanie artistique“ 89 ist auch ein ästhetisches Erweckungserlebnis, das dem Betroffenen in seinem durch Kunst Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 356 90 S. 262. Siehe dazu Schulze, „Der Dichter als Leser und seine Ekstasen“, S. 108 f. 91 Ähnlich wie in Baudelaires Prosagedicht L’Invitation au voyage, wo die Gedanken des Dichters wie Schiffe auf das Meer der Unendlichkeit hinausziehen und reich beladen zurückkehren. induzierten ‚état exceptionnel‘ grundlegende künstlerische Einsichten vermit‐ telt. Dass sich solches auch bei poetischen Gemütern keineswegs von selbst versteht, zeigt Mallarmés Reaktion in der schon genannten Symphonie littéraire, wo er sich mit der Kunstekstase begnügt und ihre produktive Weiterführung als „grossière et comme une injure à ma béatitude“ ablehnt 90 . Mallarmé ebenso wie Proust stehen aber in einer genealogischen Reihe mit Baudelaire, der wie kein anderer französischer Autor zuvor das Kunsterlebnis über seine ekstatische Wirkung definiert hat. Und Sarrautes Erzähler hat sich mit seinem Aufbruch in die Stadt Baudelaires unmissverständlich in eben diese Reihe gestellt. Dass die Ekstase des Erzählers von Portrait d’un inconnu auf ihrem Höhepunkt in den dichterischen Enthusiasmus umschlägt, ist an den Bildern zu erkennen, in denen sie ausgedrückt wird. Zentrales Bild sind die Vögel, die sich auf dem Platz vor dem Museum „à grands coups d’ailes joyeux“ erheben und die innere Erhebung des Erzählers versinnbildlichen. Realistischerweise handelt es sich bei ihnen wohl um Tauben, deren weiße Farbe - „les oiseaux blancs“ - hier aber auf den Schwan verweist, der seit jeher ein Symbol des Dichters ist. Auch die alte Schiffsmetapher weist in die poetische Richtung. Sie erscheint schon in der ersten Phase der Ekstase, wenn der Erzähler sich mit Segelschiffen vergleicht, die den Hafen verlassen: „J’étais comme ces voiliers […] toutes leurs voiles blanches dehors, tendues, gonflées par un vent propice“ (S. 82). Am Ende des Kapitels ist das Auslaufen ein Akt der poetischen Befreiung durch den „Homme au pourpoint“, der die Fesseln des Erzählers gelöst hat („fondu la chaîne au bout de laquelle ils me promenaient“), so dass dieser aufs offene Meer hinaustreiben kann: J’étais libre. Les amarres étaient coupées. Je voguais, poussé vers le large. Bei diesem Schlussbild ist natürlich an Rimbauds Bateau ivre zu denken, das nach der Befreiung von den Leinen der Treidler alles hinter sich gelassen hat, um im „Poème de la Mer“ zu baden. Im Sarrauteschen Kontext ist aber nicht Auflösung („Ô que j’aille à la mer! “) angesagt sondern Aufbruch zur Tropis‐ mensuche, so dass man sich den Erzähler von Portrait d’un inconnu trunken von einem produktiven dichterischen Enthusiasmus vorstellen muss 91 . Die poetische Auslegung ist damit eindeutiger als in Rimbauds Gedicht. Das Bildnis des Unbekannten führt dem Erzähler wie in einem Spiegel die Schwierigkeiten seiner Aufgabe vor Augen und fordert ihn zu ihrer Überwin‐ 4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelaires 357 92 „Conversation et sous-conversation“, S. 1589. 93 Siehe Scherff „Ein Roman in statu nascendi“, S. 346, Anm. 35. Miguets Hinweis auf Bal‐ zacs Novelle Le Chef-d’œuvre inconnu („Nathalie Sarraute et les chefs-d’œuvre in‐ connus“, S. 128 ff.) ist weniger überzeugend. 94 Scherff, S. 347. 95 „L’appel qu’ils lançaient, pathétique, insistant, faisait sentir d’une manière étrange et rendait tragique son silence.“ - „C’était à moi […] à moi seul que son appel s’adressait: “ - „il lançait vers moi, avec un douloureux effort, de la nuit où il se débattait, son appel ardent et obstiné“. (S. 84) Auch Proust spricht in der Septett-Szene der Prisonnière wie‐ derholt von einem „appel“ der Musik; siehe dazu Miguet, S. 136. 96 „une matière étrange, anonyme comme la lymphe, comme le sang“ (S. 75). 97 Allen voran ist Lucien Dällenbach zu nennen (Le Récit spéculaire, Paris 1977, S. 152); ferner Calin, La Vie retrouvée, S. 196; Minogue, Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 55; Scherff, „Ein Roman in statu nascendi“, S. 350. dung auf. Die fragmentarischen, wie von einem Blinden ertasteten Konturen von Gesicht, Händen, Weste und Spitzenjabot des Porträtierten offenbaren das schwer ergründbare Wesen der „mouvements infimes et évanescents“ der Tro‐ pismen 92 , und die fern von jeder idealen Linie und Vollendung, mitten in Zweifel, Anstrengung und Qual wie von einer plötzlichen Katastrophe überraschte und erstarrte Arbeit des unbekannten Künstlers wird zum Abbild ihrer nicht weniger mühsamen sprachlichen Wiedergabe. Das einzig Vollendete sind die seltsam lebendigen Augen des Porträtierten, die einer in nächtlicher Dunkelheit gefan‐ genen und nach Befreiung rufenden Märchengestalt anzugehören scheinen. Das Motiv der vollendeten, ausdrucksstarken Augen kann Sarraute in Gogols Künst‐ lernovelle Das Porträt gefunden haben 93 . Dort erwirbt ein armer junger Maler ein Porträt mit wundersam lebendigen Augen und findet in dessen Rahmen Gold; mit dem Gold macht er sein Glück, vergeudet darüber aber sein Talent und endet im Wahnsinn, denn der Dargestellte war ein Wucherer, der mit seinem dämonischen Charakter jeden ins Unglück brachte, der sich mit ihm abgab. Die verwunschene Märchengestalt hat eine Parallele in dem „génie captif qui se débat“, das Proust in Un Amour de Swann dem Geigeninstrument zuspricht 94 . In Portrait d’un inconnu steht sie jedenfalls für die Tropismen und der Blick ihrer Augen übt eine überwältigende, hier konstruktive Gewalt aus: er lässt den Er‐ zähler nicht los und sein sprachloser, aber leidenschaftlich-eindringlicher und hartnäckiger Hilferuf - dreimal wiederholt der Erzähler das Wort „appel“ mit immer neuen Attributen 95 - fordert diesen auf, allen Zweifeln, Schwierigkeiten und Widerständen zum Trotz den „anonymen“ 96 Tropismen ein Gesicht zu geben. Diese ‚Berufung‘ des Erzählers ist der Kern des Erweckungserlebnisses in Portrait d’un inconnu. Was der Erzähler als dichterische Initiation erlebt, ist im Hinblick auf den Gegenstand der Tropismen, wie man früh bemerkt hat 97 , eine ‚mise en abyme‘, Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 358 98 Neben dem Essay „L’Ère du soupçon“ (L’Ère du soupçon, S. 1577-1587) ist ihm auch das dritte Kapitel von Portrait d’un inconnu gewidmet. 99 „L’Ère du soupçon“, S. 1581. 1584. 100 „Ce que je cherche à faire“, S. 36. gefasst in die Allegorie des Bildnisses des Unbekannten. Die allegorische Form mit ihrer mehrfachen Deutungsmöglichkeit gibt dabei die Gelegenheit, außer den Tropismen selbst auch ihre Darstellungsform zu thematisieren. So verweist die Bild-Gattung des Porträts generell auf die Personendarstellung, die ein zen‐ trales Problem der frühen Poetik Sarrautes ist 98 . Die Anonymität des Porträ‐ tierten ist ein Hinweis auf die Auflösung des „personnage“, der nach Sarraute nur noch als „support“ für die neue psychologische Materie dienen soll 99 , und die fragmentarische Ausführung des Bildnisses lässt sich als Verbildlichung der schwierigen sprachlichen Wiedergabe des „innommé“ und „innommable“ der Tropismen 100 deuten, die in den späteren theoretischen Einlassungen Sarrautes zunehmend in den Vordergrund tritt. Der Museumsbesuch und die Begegnung mit dem „Portrait d’un inconnu“ im fünften Kapitel sind der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Die einleitende Bezugnahme auf das Baudelaire-Gedicht ist eine Selbst-Einstimmung, durch die der Erzähler ebenso beziehungswie sinnreich seine Phantasie zur dichterischen Reise einlädt. Die anschließenden Bilder und Tropismen, die sein ästhetisches Erweckungserlebnis und das Eintreten in den ‚anderen Zustand‘ illustrieren, ordnen sich zu einem großen Tropismus der dichterischen Inspiration. Dies ist nach dem Tropismus der „femmes maltraitées“ das zweite Mal, dass Sarraute eine Vorstellung Baudelaires in ihrer eigenen tropistischen Form gestaltet hat. 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen Dem Ich im ‚anderen Zustand‘ zeigt sich die Welt in einem neuen Licht, wie sie in einem Märchen erscheinen mag: Le monde s’étendait devant moi comme ces praires des contes de fées ou, grâce à une incantation magique, le voyageur voit se déployer devant lui sur l’herbe éclatante, près des sources, au bord des ruisseaux, de belles nappes blanches chargées de mets succulents. (S. 85) Sie präsentiert sich als ein poetisches Schlaraffenland. Das Ich muss für seine poetische Sättigung nicht mehr auf die von Anderen bereitete Nahrung warten, es hat seine eigene Nahrung, seine eigenen Freuden wiedergefunden: 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 359 Je n’avais plus besoin, tendu docilement vers eux, d’attendre d’eux ma pâture, de recevoir d’eux la becquée: ces nourritures toutes mâchées, ces joies toutes préparées qu’ils me donnaient. Je retrouvais mes nourritures à moi, mes joies à moi, faites pour moi seul, connues de moi seul. Je reconnaissais leur saveur d’autrefois. Elles répandaient sur moi leur tendre et frais parfum pareil à celui qu’exhalent dans l’air printanier les jeunes feuilles mouil‐ lées de pluie. (Ebd.) Die Metapher „mes nourritures à moi“ entspringt der Empfehlung des Psychi‐ aters, der Erzähler solle wie Gides Nathanâel die „nourritures terrestres“ ge‐ nießen, um die fehlende „ferveur“ wiederzugewinnen. Die so beschworene Le‐ bens-Inbrunst ruft ein zweites, religiöses Bild für das Wiedergefundene herauf: Mes fétiches. Mes petits dieux. Les temples où j’avais déposé tant de secrètes offrandes, autrefois, au temps de ma force encore intacte, de ma pureté. (Ebd.) Seine „Götter“ sind Steine und Mauern, funkelnd vor Leben, von denen ihm manche seit langem vertraut sind, andere dagegen wiederentdeckt werden wollen: C’étaient des pierres surtout, des pans de murs: mes trésors, des parcelles étincelantes de vie que j’étais parvenu à capter. Il y en a de toutes sortes: certains que je connais bien et d’autres qui m’avaient juste fait signe une fois, qui avaient vacillé pour moi d’un chaud et doux éclat, pendant un court instant, quand j’étais passé devant eux, au milieu d’un groupe de gens, sans pouvoir m’arrêter. Mais je ne les ai pas oubliés. (Ebd.) Zum Beispiel ein Brunnenrand im Hofe einer Moschee, modelliert von den Händen des Steinmetzes und der frommen Besucher; graue, bemooste Steine eines Kanalufers, gegen die klatschend das Wasser schlägt; lichtüberströmte Mauern entlang gewundener Gassen mit unregelmäßigem Pflaster, die der dunkle Schatten einer Palme noch heller hervortreten lässt; oder weiß gekälkte Mauern im Schnee des Nordens, die in der Dämmerung bläulich erstrahlen. Diese über die ganze Welt verstreuten „Schätze“ sind dem Erzähler plötzlich wieder verfügbar; sie sind ihm Orientierung („points de repère“) und Stütze („appui“) ganz wie der Unbekannte: Ils étaient, épars à travers le monde, des points de repère pour moi seul. Il y avait entre eux et moi un pacte, une alliance cachée. Comme l’Inconnu, ils m’offraient leur appui. (Ebd.) Was hat es mit diesen „pierres“ und „pans de murs“ auf sich, deren Wirkung auf den Erzähler derjenigen des Bildnisses des Unbekannten gleicht? Schon Miguet hat die Beschreibung der Steine und Mauerstücke in Beziehung zu Erlebnissen Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 360 101 „Nathalie Sarraute et les chefs-d’œuvre inconnus“, S. 137; Du côté de chez Swann, S. 59. 102 „Le Petit Pan de mur rose“, Critique Bd. 58 / 2002, S. 94-104, S. 97 und S. 104: „[…] le tropisme […], qui n’est peut-être que la forme poétique contemporaine du Réel“. Tat‐ sächlich sind Mauerstücke bereits bei Baudelaire Bestandteil der „Landschaften“, die Constantin Guys beglückt in der Stadt wahrnimmt: „paysages de pierre caressés par la brume ou frappés par les soufflets du soleil“ (Le Peintre de la vie moderne, S. 692; siehe oben, S. 75). - alles, was sich dem Auge bietet, nimmt er beglückt wahr. 103 Du côté de chez Swann, S. 178. von Prousts Erzähler Marcel gesetzt: wie dieser beim Anblick der Kirchtürme von Martinville und der Weißdornhecke verstehe es der Erzähler von Portrait d’un inconnu, die von den Dingen ausgehenden Zeichen zu erkennen und „mo‐ ments profonds“ zu erleben. So sei der von Menschenhand geformte Brunnen‐ rand ein Echo bzw. eine „réécriture“ des Portals der Kirche von Combray, das seit Jahrhunderten von den Umhängen seiner bäuerlichen Besucherinnen ge‐ streift wurde 101 . An diese Beobachtung anknüpfend hat Arnaud Rykner das „fast obsessive“ Motiv des Mauerstücks im Werk Sarrautes verfolgt und festgestellt, dass es dazu diene, „d’ouvrir dans l’œuvre la voie d’un surgissement inespéré du Réel“, für das sich offenbar der Tropismus als die zeitgenössische poetische Form anbiete 102 . Rykner wie Miguet kreisen, der eine mehr, die andere weniger, um das Phänomen des dichterischen Enthusiasmus beim Erzähler, ohne es direkt zu benennen; selbst Rykner lässt es bei der „expérience du réel“ (S. 98) bewenden. Dabei ist auch ohne weitere Erklärung Sarrautes offenkundig, dass es in diesem Kapitel genauer um die dichterische Eingebung und ihre Gegenstände geht. Das bisher dazu Gesagte lässt sich daher präzisieren und vertiefen. In der Recherche du temps perdu trifft der junge Marcel, der davon träumt, ein Schriftsteller zu werden, auf seinen Spaziergängen „du côté de Guermantes“ auf Dinge, die ganz unvermittelt seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie ein „plaisir particulier“ in ihm wecken und mit ihrem sichtbaren Äußeren etwas zu verhüllen scheinen, zu dessen Wahrnehmung sie gleichzeitig auffordern: […] tout d’un coup un toit, un reflet de soleil sur une pierre, l’odeur d’un chemin me faisaient arrêter par un plaisir particulier qu’ils me donnaient, et aussi parce qu’ils avaient l’air de cacher, au delà de ce que je voyais, quelque chose qu’ils invitaient à venir prendre et que malgré mes efforts je n’arrivais pas à découvrir. 103 Trotz äußerster Konzentration und Anstrengung gelingt es Marcel nicht, das hinter den Dingen Verborgene zu entdecken: Comme je sentais que cela se trouvait en eux, je restais là, immobile, à regarder, à respirer, à tâcher d’aller avec ma pensée au delà de l’image ou de l’odeur. Et s’il me fallait rattraper mon grand-père, poursuivre ma route, je cherchais à les retrouver en 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 361 104 „Certes ce n’était pas des impressions de ce genre qui pouvaient me rendre l’espérance que j’avais perdue de pouvoir être un jour écrivain et poète, car elles étaient toujours liées à un objet particulier dépourvu de valeur intellectuelle et ne se rapportant à aucune vérité abstraite. Mais du moins elles me donnaient un plaisir irraisonné, l’illusion d’une sorte de fécondité et par là me distrayaient de l’ennui, du sentiment de mon impuissance que j’avais éprouvés chaque fois que j’avais cherché un sujet philosophique pour une grande œuvre littéraire.“ (S. 179) 105 Die Bezeichnungen „fétiches“ und „petits dieux“ treffen genau die Abwertung der ei‐ genen poetischen ‚Einfälle‘ durch den noch unsicheren Autor / die noch unsichere Au‐ torin. fermant les yeux; je m’attachais à me rappeler exactement la ligne du toit, la nuance de la pierre, qui, sans que je pusse comprendre pourquoi, m’avaient semblé pleines, prêtes à s’entr’ouvrir, à me livrer ce dont elles n’étaient qu’un couvercle. (S. 178 f.) Obwohl sich nach Marcels Überzeugung auf diese Eindrücke keine Schriftstel‐ lerexistenz gründen lässt, da sie von Dingen ohne jede „valeur intellectuelle“ und „vérité abstraite“ ausgehen, vermitteln sie ihm doch die Illusion von Krea‐ tivität und verringern seine Enttäuschung darüber, keinen anspruchsvolleren Gegenstand finden zu können 104 . Vor der Anstrengung, hinter den sichtbaren Dingen die erahnte „chose inconnue“ zu suchen, weicht er indes zurück und lässt die Sache erst einmal auf sich beruhen, so dass die Dinge sich im Laufe der Zeit in seinem Kopf ansammeln wie die Blumen und Geschenke in seinem Zimmer, während die Wirklichkeit, die er hinter ihnen geahnt hat, lange tot ist: Une fois à la maison je songeais à autre chose et ainsi s’entassaient dans mon esprit (comme dans ma chambre les fleurs que j’avais cueillies dans mes promenades ou les objets qu’on m’avait donnés) une pierre où jouait un reflet, un toit, un son de cloche, une odeur de feuilles, bien des images différentes sous lesquelles il y a longtemps qu’est morte la réalité pressentie que je n’ai pas eu assez de volonté pour arriver à découvrir. (S. 179) Anders als Constantin Guys, der im Peintre de la vie moderne die „Landschaften“ der Stadt, ihre „paysages de pierre caressés par la brume ou frappés par les soufflets du soleil“, auf sich wirken lassen konnte, schiebt Prousts jugendlicher unerfahrener Erzähler Marcel seine alltäglichen Entdeckungen beiseite, weil er für sein geplantes Werk einen Gegenstand von höherer philosophischer Bedeu‐ tung sucht. Der Erzähler von Portrait d’un inconnu ist durch die Begegnung mit dem Bildnis des Unbekannten bereits einen Schritt weiter. Er hat seine „fétiches“ und „petits dieux“ 105 , seine eigenen poetischen Quellen und Maßstäbe, wieder‐ gefunden, weshalb er die „nourritures toutes mâchées“ und „joies toutes prépa‐ rées“ der Anderen nicht mehr benötigt: „Je retrouvais mes nourritures à moi, Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 362 106 Man darf vermuten, dass diese Vergangenheit seine Kindheit bzw. Jugend war, auch wenn dies der früheren Aussage über die „jeux d’enfants malsains“ des Erzählers und seines Freundes zu widersprechen scheint, wo es um Analyse bzw. Nachahmung von Personen ging: „nous nous amusions […] à dépecer délicatement, par petits morceaux, nos camarades, nos maîtres, nos parents […]“; Sache des Erzählers war damals der „dé‐ peçage“ (S. 59). Der Widerspruch illustriert die Suche nach dem richtigen poetischen Gegenstand. 107 S. 86. Es liegt auf der Hand, dass die Aufzählung ebenso wie die ungenutzte Ansamm‐ lung dieser Dinge über Länder und Jahre hinweg die Dichterwerdung Marcels in der Recherche du temps perdu zum Vorbild hat. 108 Baudelaire, Le Poème du hachisch, in: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 430. mes joies à moi, faites pour moi seul, connues de moi seul.“ Die Dinge, die ihn beeindrucken, sind dieselben Gegenstände und Vorkommnisse des gewöhnli‐ chen Alltags wie bei Proust (und Baudelaire): „des pierres […], des pans de murs“, „la margelle d’un puits“, „le clapotis de l’eau“, „des quais […] et des murs blancs“. Sie sind ihm vor Zeiten - „autrefois, au temps de ma force encore intacte, de ma pureté“ 106 - plötzlich in ihrem Dasein aufgeschienen, die ganze Fülle des Lebens ausstrahlend („des parcelles étincelantes de vie“), und haben ihm ein „plaisir particulier“ und „irraisonné“ bereitet; sie waren „joies“, „trésors“, „joyaux“ und „délices“ oder haben ihm auf geheimnisvolle Weise nur Zeichen gegeben („qui m’avaient […] fait signe une fois“) 107 . Lange Zeit war er von ihnen abgeschnitten („pendant notre longue séparation“), doch jetzt sind sie ihm strahlender denn je wieder zugänglich geworden. Die alltäglichen Dinge, die bei Proust und Sarraute das dichterische Ich schon bei flüchtiger Begegnung tief beeindrucken, die zu ihm sprechen und ihm un‐ beschreibliches Wohlgefallen erregen, sind nun nichts anderes als Baudelaires „premier objet venu“, das im Zustand der Ekstase einem sensiblen Betrachter die Tiefe und Vielfalt des Lebens offenbaren und zum „symbole parlant“ werden konnte: Cependant se développe cet état mystérieux et temporaire de l’esprit, où la profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples, se révèle tout entière dans le spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux - où le premier objet venu devient symbole parlant. 108 Die plötzliche Einsicht in die Fülle und den Zusammenhang des Lebens, die Erfahrung einer Unendlichkeit, an der das betrachtende Ich teilhat, wecken dessen schöpferische Kräfte, insbesondere den Geist der Allegorie („l’intelli‐ gence de l’allégorie“), jener Figur, bei der Eines veranschaulichend für das An‐ dere steht und die für Baudelaire eine Urform der Poesie ist. Mit dieser Fest‐ stellung hat Baudelaire den poetischen Enthusiasmus im Alltag begründet und 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 363 109 I. Nolting-Hauff, „Prousts À la recherche du temps perdu und die Tradition des Prosa‐ gedichts“, Poetica Bd. 1 / 1967, S. 67-84, bes. S. 74 ff. 110 Siehe zur Charakterisierung der beiden Beschreibungen der Kirchtürme und ihrer Be‐ wegungen sowie zur Datierung B. Guyon, „Marcel Proust et le mystère de la création littéraire. Essai d’explication des ‚Clochers de Martinville‘“, Annales publiées par la Fa‐ culté des Lettres de Toulouse Bd. 4 / 1955, H. 1-2, Littérature III, S. 37-65. 111 Der Bericht spiegelt in seiner selbstironischen Anmerkung zur Niederschrift noch die Zweifel Marcels: „Je ne repensai jamais à cette page, mais à ce moment-là, quand, au coin du siège où le cocher du docteur plaçait habituellement dans un panier les volailles qu’il avait achetées au marché de Martinville, j’eus fini de l’écrire, je me trouvai si heureux, je sentais qu’elle m’avait si parfaitement débarrassé de ces clochers et de ce qu’ils cachaient derrière eux, que comme si j’avais été moi-même une poule et si je venais de pondre un œuf, je me mis à chanter a tue-tête.“ (S. 182) die Voraussetzungen für eine Poesie des Alltags geschaffen, und wenn Proust und nach ihm Nathalie Sarraute dieselbe Erfahrung artikulieren, so ist das nicht einfach thematische Wiederholung, sondern durchaus poetische Selbstverge‐ wisserung und bewusste Nachfolge des Erlebens. In der Recherche du temps perdu berichtet Marcel im Anschluss an seine hochgespannten und missglückten poetischen Versuche von einem solchen kre‐ ativen Alltagserlebnis. Es handelt sich um die bekannte Episode der Kirchtürme von Martinville und der wechselnden Anblicke, die sie während einer Kut‐ schenfahrt bieten. Als Marcel seinen beglückenden Eindruck festzuhalten ver‐ sucht, kommt ihm unvermittelt eine „pensée“, die sich zu Worten formt und sein durch die Kirchtürme hervorgerufenes „plaisir“ zu einer alles beherrschenden „ivresse“ steigert: […] force me fut, faute d’autre compagnie, de me rabattre sur celle de moi-même et d’essayer de me rappeler mes clochers. Bientôt leurs lignes et leurs surfaces ensoleil‐ lées, comme si elles avaient été une sorte d’écorce, se déchirèrent, un peu de ce qui m’était caché en elles m’apparut, j’eus une pensée qui n’existait pas pour moi l’instant avant, qui se formula en mots dans ma tête, et le plaisir que m’avait fait tout à l’heure éprouver leur vue s’en trouva tellement accru que, pris d’une sorte d’ivresse, je ne pus plus penser à autre chose. (S. 180 f.) Ohne die sprachliche Offenbarung recht zu begreifen, lässt er sich Papier und Stift geben - „pour soulager ma conscience et obéir à mon enthousiasme“ - und es entsteht das Prosagedicht der „clochers de Martinville“, das im Text wieder‐ gegeben ist 109 . Der Bericht über den Vorfall ist die höchst genaue Beschreibung einer schöpferischen Ekstase 110 , die durch einen jener alltäglichen Gegenstände ausgelöst wird, an deren poetischer Verwendbarkeit Marcel zuvor gezweifelt hatte 111 . Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 364 Auch bei Sarraute rufen Alltagsereignisse ekstatische Zustände hervor. Aus‐ führlich hat sie eine solche Begebenheit in ihrer Autobiographie Enfance ge‐ schildert, in der das Kind Nathalie einen ekstatischen Zustand erlebt oder, wie Rykner sagt, Zugang zur „‚vie‘ à l’état brut“ (S. 103) hat. Nathalie sitzt dort zwi‐ schen dem Vater und der späteren Stiefmutter auf einer Bank im Jardin du Lu‐ xembourg, neben sich die Märchen von Hans Christian Andersen, aus denen man ihr gerade vorgelesen hat: Je venais d’en écouter un passage … je regardais les espaliers en fleurs le long du petit mur de briques roses, les arbres fleuris, la pelouse d’un vert étincelant jonchée de pâquerettes, de pétales blancs et roses, le ciel, bien sûr, était bleu, et l’air semblait vibrer légèrement … et à ce moment-là, c’est venu … quelque chose d’unique … qui ne revi‐ endra plus jamais de cette façon, une sensation d’une telle violence qu’encore main‐ tenant, après tant de temps écoulé, quand, amoindrie, en partie effacée elle me revient, j’éprouve … mais quoi? quel mot peut s’en saisir? pas le mot à tout dire: „bonheur“, qui se présente le premier, non, pas lui … „félicité“, „exaltation“, sont trop laids, qu’ils n’y touchent pas … et „extase“ … comme devant ce mot ce qui est là se rétracte … „Joie“, oui, peut-être … ce petit mot modeste, tout simple, peut effleurer sans grand danger … mais il n’est pas capable de recueillir ce qui m’emplit, me déborde, s’épand, va se perdre, se fondre dans les briques roses, les espaliers en fleurs, la pelouse, les pétales roses et blancs, l’air qui vibre parcouru de tremblements à peine perceptibles, d’ondes … des ondes de vie, de vie tout court, quel autre mot? … de vie à l’état pur, aucune menace sur elle, aucun mélange, elle atteint tout à coup l’intensité la plus grande qu’elle puisse jamais atteindre … jamais plus cette sorte d’intensité-là, pour rien, parce que c’est là, parce que je suis dans cela, dans le petit mur rose, les fleurs des espaliers, des arbres, la pelouse, l’air qui vibre … je suis en eux sans rien de plus, rien qui ne soit à eux, rien à moi. (S. 1024 f.) Genau genommen handelt es sich bei dieser kindlichen Ekstase um einen recht komplexen Zustand des Glücks, in dem die von Baudelaire beschriebene kind‐ liche Ekstasefähigkeit, die verzaubernde Wirkung der Märchenlektüre und eine von dem Kind Nathalie nicht oft erfahrene familiäre Harmonie zusammen‐ treffen. Auf die natürliche Nähe des Kindes zu solchen Zuständen ist wohl die Scheu der reifen Autorin vor den anspruchsvolleren Bezeichnungen für das er‐ lebte Glück zurückzuführen und ihre Entscheidung für das „bescheidene“ Wort „joie“, das allerdings so bescheiden auch wieder nicht ist, wie seine Verwendung 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 365 112 Proust bezeichnet den ekstatischen Zustand, der künstlerisch produktiv werden kann, mit den Begriffen „joie“ und „félicité“. So heißt es in der Madeleine-Episode „puissante joie“ (Du côté de chez Swann, S. 45) und mehrfach begegnet „joie“ mit dem Zusatz „in‐ effable“ oder „supra-terrestre“ bei der Beschreibung des Septetts von Vinteuil (La Pri‐ sonnière, S. 260 ff.); später, im Umfeld der entscheidenden Matinee bei Mme de Guer‐ mantes, dominiert dann „félicité“ (Le Temps retrouvé, S. 866 ff. 871). Zum Vergleich: bei Swanns Vinteuil-Erlebnis ist von „jouissance“ und „étrange ivresse“ die Rede (Du côté de chez Swann, S. 236 bzw. 237), während die Ekstase des sterbenden Bergotte vor dem Bild von Vermeer in seinen „étourdissements“ aufgeht (La Prisonnière, S. 187). 113 Ähnlich die von Rykner verwendeten Begriffe, S. 102: „expérience du réel, confuse et proprement innommable“, „abandon“, bzw. „fusion“ mit dem Gesehenen, „passer de l’autre côté“, sowie S. 104: „échec du langage“; der analytische Begriff ‚Ekstase‘ fehlt jedoch. 114 Bezeichnenderweise hat er die diesbezügliche Aussage im Zitat ausgelassen (S. 103). Man kann sich aber fragen, ob sich sinnvollerweise behaupten lässt, dass ein Kind dem „réel“ begegne, mit dem es den Kontakt ja wohl noch nicht verloren hat, jedenfalls nicht wie ein Erwachsener, der Künstler ist und die Wirklichkeit als Gegenstand seiner Kunst (wieder) sucht. 115 Tropismes, S. 6 f. Rykner, „Le Petit Pan de mur rose“, S. 97 f. bei Proust zeigt 112 . Die Beschreibung der Ekstase selbst erfolgt aus der Erfahrung der Erwachsenen, worauf Genauigkeit und Vollständigkeit in der Aufzählung der charakteristischen Merkmale deuten: ein ursprüngliches Lebensgefühl von größter Intensität („vie à l’état pur“), eine geschärfte sinnliche Wahrnehmung der Umgebung („les briques roses“, „les arbres fleuris“, „la pelouse d’un vert étincelant“ usw.), das Einssein des Ichs mit den Dingen („je suis en eux sans rien de plus, rien qui ne soit à eux, rien à moi.“) und die noch nachträgliche Sprach‐ losigkeit 113 . Es fehlen jedoch die poetischen Implikationen, was bei einem Kind, auch mit entsprechender Begabung, nicht weiter erstaunlich ist. Immerhin ist die Ursache des Zustands das Vorlesen, weshalb das Beispiel nicht ganz in Ryk‐ ners Reihe der Erfahrung von Wirklichkeit passt 114 . Der mit Blumen bewachsene „petit mur de briques roses“ ist nur der erste Gegenstand, auf den der Blick Nathalies in ihrem Verzückungszustand fällt, so dass sie „[la] vie à l’état pur“ erlebt und ihre Identität aufgibt: „je suis dans cela, dans le petit mur rose“. Wohl mit Bedacht hat Sarraute dieses frühe Dokument ihrer poetischen Sensibilität in ihre Autobiographie eingefügt. Ein Beispiel, das an frühe Erlebnisse ähnlicher Art anknüpft, sie freilich ins Negative wendet, ist der III . Tropismus 115 . Die mit „ils“ bezeichneten Personen, offenbar Emigranten, versuchen, sich in der Fremde einzuleben, die ihnen mehr korrekt als menschlich begegnet. Zunächst unterdrücken sie, vielleicht um nicht undankbar zu erscheinen, die Erinnerungen an frühere glückliche Augenblicke; allmählich stellen diese sich dann gar nicht mehr ein: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 366 116 Neben dem „pan de mur“ Vermeers und seiner Wirkung auf Bergotte (La Prisonnière, Œuvres complètes, Bd. 3, S. 186 f.) sind dies die „deux pavés inégaux“ in San Marco, die Marcels künstlerische Selbstfindung befördern (Le Temps retrouvé, Œuvres complètes, Bd. 3, S. 866 bzw. 868). Ils ne cherchaient jamais à se souvenir de la campagne où ils avaient joué autrefois, ils ne cherchaient jamais à retrouver la couleur et l’odeur de la petite ville où ils avaient grandi, ils ne voyaient jamais surgir en eux, quand ils marchaient dans les rues de leur quartier, quand ils regardaient les devantures des magasins, quand ils passaient devant la loge de la concierge et la saluaient très poliment, ils ne voyaient jamais se lever dans leur souvenir un pan de mur inondé de vie, ou les pavés d’une cour, intenses et cares‐ sants, ou les marches douces d’un perron sur lequel ils s’étaient assis dans leur en‐ fance. (S. 6) So um einen wesentlichen Teil ihres Menschseins verkürzt, bleiben sie in der neuen Umgebung Fremde, wie das Schlussbild der nicht geglückten Begegnung mit den anderen Hausbewohnern zeigt (S. 6 f.). Unter den glücklichen Momenten des III . Tropismus gibt es zwei unverkenn‐ bare Proust-Reminiszenzen. Der „pan de mur inondé de vie“ und die „pavés d’une cour, intenses et caressants“, die für die Erinnerung verloren sind, kehren, in umgekehrter Reihenfolge und der Erinnerung zugänglich, in Portrait d’un inconnu wieder: „Je connais aussi des ruelles tortueuses aux pavés irréguliers, des pans de murs inondés de lumière“. Ein solch wiederholtes Zusammentreffen von Gegenständen, die bei Proust den ‚anderen Zustand‘ auslösten 116 , ist kein Zufall, sondern vielmehr eine recht bewußte „réécriture“, zumal der Vergleich der Versionen zeigt, dass die Nähe zu Proust zunächst durch Abstraktion abge‐ mildert bzw. verschleiert werden sollte: „pavés d’une cour, intenses et cares‐ sants“ und „pan de mur inondé de vie“ heißt es im Tropismus; erst die spätere Roman-Version bringt „pavés irréguliers“ und „pans de mur inondés de lumière“, die der Vorstellung der „pavés inégaux“ und des „mur jaune“ des Originals näher kommen. Auch ist in Sarrautes Tropismus der Glückszustand selbst nicht aus‐ geführt und der Kontext - Erfahrung der Fremde vs. Glück der Heimat - ein anderer als bei Proust. Die Gegenstände sind hier bestenfalls ein Kürzel für den ‚anderen Zustand‘. Dafür erscheint erstmals das Kindheitsmotiv in diesem Zu‐ sammenhang. Ein anderer Fall, in dem Dinge ekstatische Empfindungen auslösen, liegt im XXII . Tropismus vor. Bei Rykner findet er keine Erwähnung, weil es nicht vor‐ rangig um Mauern geht. Doch ist der Zustand, der hervorgerufen wird, eine Vorstufe der poetischen Inspiration. Ein nicht weiter charakterisierter „il“ sucht in den Dingen, die ihn umgeben, die Wärme und Intensität des Lebens und 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 367 117 Tropismes, S. 29. Das durchgängige Motiv der nachfolgenden Stellen ist das der Wärme („quelque chose de chaud“, „se réchauffer“, „ferme et chaud contact“). 118 Das Konzept der Kindheitserinnerungen, die beim Erwachsenen poetisch wirksam werden, fand sich bei Baudelaire zur Erklärung der Phantasien in De Quinceys Confes‐ sions of an English Opium Eater. verbirgt das vor den kontrollierenden Blicken der Andern hinter apotropäischen Handlungen: Parfois, quand ils ne le voyaient pas, il pouvait tout doucement, pour essayer de trouver autour de lui quelque chose de chaud, de vivant, passer la main le long de la colonne du buffet … 117 Aber die Dinge, farblos und gut dressiert, verweigern sich seinen Wünschen. Das tun sie schon, seit „il“ als Kind versucht hat, um jeden Preis „poetische Kindheitserinnerungen“ aus ihnen zu machen: Les objets se méfiaient aussi beaucoup de lui et depuis très longtemps déjà, depuis que tout petit il les avait sollicités, qu’il avait essayé de se raccrocher à eux, de venir se coller à eux, de se réchauffer, ils avaient refusé de „marcher“, de devenir ce qu’il voulait faire d’eux, „de poétiques souvenirs d’enfance“. Ils étaient bien matés, les objets, bien dressés, ils avaient le visage effacé, anonyme, des serviteurs stylés; ils connaissaient leur rôle et refusaient de lui répondre, de crainte, sans doute, de se voir donner congé. (Ebd.) Die Suche nach Dingen, die poetische Kindheitserinnerungen sein oder werden könnten, weist auf die dichterischen Interessen von „il“ hin 118 , der aber zunächst erfolglos bleibt und von den Dingen keine Antwort bekommt. Der poetische Prozess wird hier als Interaktion zwischen dem Dichter und den Dingen ver‐ standen, die dabei eine aktive Rolle haben. Ihre Weigerung, begründet mit der Furcht, „entlassen“ zu werden, also keine Beachtung mehr zu finden, bedeutet, dass sie langanhaltende oder doch intensive Aufmerksamkeit verlangen, um von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs („des serviteurs stylés“) zu „poeti‐ schen“ Objekten zu werden. Somit ergeht es „il“ ähnlich wie Marcel in der Recherche, der lange Zeit keinen geeigneten poetischen Gegenstand für ein Œuvre findet, weil er die Mühe mit den sich anbietenden Dingen scheut und stattdessen nach Höherem Ausschau hält. Auch „il“ ist nur manchmal erfolg‐ reich, wenn er sich in einer fremden Umgebung und ganz behutsam den alltäg‐ lichen Gegenständen nähert: De temps à autre seulement, quand il était trop fatigué, sur leur [ses amis, ses parents] conseil, il se permettait de partir seul faire un petit voyage. Et là-bas, quand il se Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 368 119 Dazu kommt, wie schon in Tropismus III, das Motiv der Fremdheit, hier der Fremdheit des (freiwillig) Reisenden. - Die andern von Rykner angeführten Stellen zum Mauer‐ motiv stammen aus Werken, die nach Portrait d’un inconnu entstanden sind; sie belegen, wie anhaltend Sarraute sich mit dem ‚anderen Zustand‘ beschäftigt hat, wobei sie ihn auch in sehr alltägliche Bereiche hineinreichen lässt. So wenn er in Le Planétarium bei Tante Berthe durch einen grünen Vorhang vor einer hellen Mauer ausgelöst wird (Rykner, S. 100 f.). Baudelaire hätte dazu gesagt, dass jeder zu der Ekstase fähig ist, die seiner natürlichen Anlage gemäß ist, weswegen ein „marchand de bœufs“ von „bœufs et pâturages“ träume (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 429). promenait à la tombée du jour, dans les ruelles recueillies sous la neige, pleines de douce indulgence, il frôlait de ses mains les briques rouges et blanches des maisons et, se collant au mur, de biais, craignant d’être indiscret, il regardait à travers une vitre claire, dans une chambre au rez-de-chaussée où l’on avait posé devant la fenêtre des pots de plantes vertes sur des soucoupes de porcelaine, et d’où, chauds, pleins, lourds d’une mystérieuse densité, des objets lui jetaient une parcelle - à lui aussi, bien qu’il fût inconnu et étranger - de leur rayonnement: où un coin de table, la porte d’un buffet, la paille d’une chaise sortaient de la pénombre et consentaient à devenir pour lui, miséricordieusement pour lui aussi, puisqu’il se tenait là et attendait, un petit morceau de son enfance. (S. 30) In diesen raren Fällen wird er von ihrer Leuchtkraft getroffen („des objets lui jetaient une parcelle […] de leur rayonnement“). Auch hier gibt es wieder die roten (und weißen) Mauersteine, die nun nicht nur angeschaut, sondern auch betastet werden. Darüber hinaus gleicht die Situation aber vor allem der von Baudelaire in Les Fenêtres beschriebenen, wo der Blick des Dichters über die Dächer hinweg durch ein Fenster in ein halbschattiges Inneres auf Menschen fällt, die seine poetische Empathie wecken. Bei Sarraute ist die Szene auf die Straße verlegt und der Blick fällt durch das Fenster auf Dinge, die (wieder) ein Stück „Kindheit“ für den Betrachter werden. Kindheit ist dabei mehr als eine bloße poetische Erinnerung: sie ist der paradiesische oder ‚andere Zustand‘, der nicht erzwungen werden kann, der vielmehr besondere Umstände, Behutsam‐ keit und Aufmerksamkeit erfordert ganz wie die poetische Inspiration, die Bau‐ delaire ja mit der „wiedergefundenen Kindheit“ in Verbindung bringt: „le génie n’est que l’enfance retrouvée à volonté“. Der Tropismus XXII speist sich offen‐ sichtlich aus Vorstellungen Prousts und Baudelaires und zugleich hält er mit „il“ einen Prototyp des Erzählers von Portrait d’un inconnu bereit: wie jener schwankt „il“ zwischen „Kindes“- und Erwachsenenzustand und findet das Er‐ sehnte auf Reisen, die ihn aus seiner normalen und geordneten Welt hinaus‐ führen 119 . 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 369 120 „[…] und der Name, mit dem man spielte, den schöne Lippen in die Sonne warfen und den reizende Ohren auffingen, wenn er zitternd niederfiel, dieser Name ist Gian Battista Tiepolo.“ (Geschichten vom lieben Gott, in: Werke, Bd. 3, S. 386.) 121 „Hérault, héraut, héros, aire haut, erre haut, R. O., rythmé sur le bruit du train roulant à travers les plates plaines blanches. Les images surgissent l’une après l’autre, tirées de sa collection …“ usw. (Entre la vie et la mort, S. 633.) Es überrascht nun nicht, dass in Portrait d’un inconnu zugleich mit der Erin‐ nerung an die „petites pierres“ und „pans de murs“ die poetischen Fähigkeiten des Erzählers erwachen. Das zeigt sich deutlich bei der Beschreibung der be‐ moosten Steine, gegen die klatschend das Wasser schlägt: Il y a aussi, ailleurs, de vieilles pierres d’un gris sombre, humides et veloutées, une mince couche de mousse d’un vert intense les recouvre en partie. Elles plongent dans l’eau du canal et en émergent tour à tour, tantôt mates et presque noires, tantôt étin‐ celantes au soleil. Le clapotis de l’eau contre elles est léger, caressant comme le nom de Tiepolo, quand on le dit tout bas: Tie-po-lo, qui fait surgir des pans d’azur et des couleurs ailées. (S. 86) Das onomatopoetische Spiel mit dem Namen Tiepolo ist der Ausdruck der wie‐ dergewonnenen ‚kindlichen‘ poetischen Energie des Erzählers, wobei die kon‐ krete Anregung zu diesem Spiel vielleicht auf Rilke zurückgeht 120 . Es gibt dazu ein Pendant in Entre la vie et la mort, Sarrautes Roman einer Schriftstellerexis‐ tenz, wo der noch kindliche Schriftsteller in träumerischer Versunkenheit die Geräusche eines fahrenden Zuges in Wörter fasst, die wiederum Bilder assozi‐ ieren 121 . In Portrait d’un inconnu spürt der erwachsene Erzähler, dass die Dinge, die ihn früher in einen poetischen Rausch versetzt haben, während der langen Zeit der Trennung in ihm „gereift“ sind, so wie umgekehrt er an ihnen gereift ist, und dass sie ihm nun Auftrieb geben: Il me semblait que pendant notre longue séparation toute leur sève qui m’était destinée s’était amassée en eux. Ils étaient plus lourds, plus mûrs qu’autrefois, tout gonflés de leur sève inemployée. Je sentais contre moi leur ferme et chaud contact, je m’appuyais à eux, ils me protégeaient, je me sentais près d’eux pareil à un fruit qui mûrit au soleil, je devenais à mon tour lourd, gonflé de sève, tout bourdonnant de promesses, d’élans, d’appels. (S. 86) Und so sieht er, in Fortführung des Bildes vom Ende des Kapitels der Begegnung mit dem Unbekannten, wie sein Dichter-Schiff Fahrt aufnimmt: Le temps, comme l’eau qui se fend sous la proue du navire, s’ouvrait docilement, s’élargissait sans fin sous la poussée de mes espoirs, de mes désirs. Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 370 122 Der Situationswechsel wird, wie in anderen Fällen auch, durch ein typographisches Blanc signalisiert; siehe dazu Scherff, S. 341, Anm. 13. 123 Vers l’instant. Lecture de Portrait d’un inconnu de Nathalie Sarraute (Publications Uni‐ versitaires Européennes. Série XIII. 272), Bern 2003. L’eau s’ouvrait avec un bruit de soie froissée sous l’étrave du bateau. De minces crêtes d’écume blanche couraient, frémissantes d’allégresse … (S. 86 f.) Unvermittelt tauchen aus der Erinnerung des Erzählers Worte auf 122 : „Assez! Taisez-vous! Assez! “, dazu eine gebeugte Gestalt, die mit der Faust auf den Tisch schlägt: „Assez! Taisez-vous! Je le sais! “ Eine Bekannte hat dem Erzähler bei‐ läufig von der Begebenheit berichtet, und er hat ebenso beiläufig und nach‐ sichtig lächelnd darauf reagiert („j’avais ri, moi aussi, plein d’indulgence, je n’a‐ vais pas réagi du tout, comme cela arrive souvent, quand certains mots semblent glisser ainsi sur nous sans laisser de traces“). Jetzt stehen die Worte plötzlich wieder vor ihm und sind verwandelt: Ces mots se dressaient maintenant en moi; elle avait, la vieille amie, inconsciente comme l’abeille qui transporte le pollen d’une plante à l’autre, déposé en moi ces mots et ils avaient poussé en moi petit à petit, ils avaient mûri lentement dans cette douce chaleur propice où je m’épanouissais ces derniers temps, ils avaient grandi en moi comme un noyau, je sentais maintenant en moi leurs arêtes tranchantes: „Assez! Taisez-vous! Assez! “ (S. 87) Von der ahnungslosen Freundin ihm zugetragen, sind sie im günstigen Klima seines wiedererstandenen Enthusiasmus groß und schwer und schneidend ge‐ worden: „ils avaient poussé en moi petit à petit, ils avaient mûri lentement […], ils avaient grandi en moi comme un noyau, je sentais […] leurs arêtes tran‐ chantes“. Der Bienenvergleich, das traditionelle Bild für die Stoffsuche des Dich‐ ters, lässt noch in seiner auf die Freundin gemünzten abgewandelten Form („in‐ consciente comme l’abeille qui transporte le pollen d’une plante à l’autre“) erkennen, dass es hier um die Inspiration des Erzählers geht. Überraschend ist allerdings, dass nach den poetischen „pans de murs“ und anderen Dingen, in deren Erinnerung der Erzähler zuvor schwelgte, nun harsche Worte seine Phan‐ tasie beflügeln. Elin Beate Tobiassen hat unter dem Stichwort „Vers l’instant“ die „mouve‐ ments fugitifs“ der Tropismen in Portrait d’un inconnu untersucht 123 und sie von der „Epiphanie“ abgegrenzt, mit der sie das plötzliche Auftreten, die Kürze und die Banalität des auslösenden Gegenstands teilen. Während die Epiphanie aber eine erhellende Einsicht vermittelt, ist der Tropismue („l’instant sarrautien“) eine „expérience profondément corporelle“, die in der Regel auch eines mensch‐ 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 371 124 S. 177 ff. („Tropisme et épiphanie“). 125 So im Interview: „[…] si nous nous plaçons au niveau où je me place, […]nous sommes une telle immensité, il se passe en nous une telle quantité de choses, que, vu de l’inté‐ rieur, il n’y a pas d’identité.“ Und: „Il y a l’univers entier. Je suis tout. […] Il n’y a personne et je suis tout.“ (Benmussa, Nathalie Sarraute, Qui êtes-vous, S. 113 und 114.) 126 Interview mit Knapp, S. 283. 127 „[…] Tropismes, is […] a sequence of separate prose poems presenting individual tro‐ pistic moments“ (Minogue, Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 8). lichen Gegenübers bedarf („perspective interpersonnelle“) 124 . Die in Portrait d’un inconnu feststellbaren „mouvements fugitifs“ oder Tropismen gehören daher für Tobiassen nicht zum Typ der Epiphanie, ausgenommen zwei Erfahrungen des Erzählers „qui expriment au plus haut degré la fusion de tout l’être avec le monde qui l’entoure“, die also einen ekstatischen Zustand zum Gegenstand haben. Beide Vorkommnisse - die Begegnung mit dem „Portrait d’un inconnu“ ebenso wie die „trésors“ des Erzählers, deren Wirkung dem ekstatischen Erlebnis des Kindes Natascha im Jardin du Luxembourg gleicht - haben direkt oder indirekt mit Kunst zu tun. Tobiassen folgert daraus, dass Kunst ein bevorzugtes Feld epi‐ phanieartiger Emotionen sei (S. 197 f.). In ihrer Eigenschaft als psychische Er‐ regungen können Epiphanien nun aber unter bestimmten Bedingungen auch selbst zu Tropismen werden, wenn nämlich der Träger der Emotion ein sensibler Charakter wie ein Dichter oder Künstler ist, dessen schöpferische Phantasie durch sie angeregt wird. Solche Tropismen des künstlerischen Enthusiasmus oder der Inspiration, in denen an die Stelle des direkten personalen Gegenübers ein Sachverhalt menschlicher, geistiger oder künstlerischer Art - eben ein ‚nor‐ maler‘ Tropismus - tritt, können dieselben Ganzheitserfahrungen wie Epipha‐ nien auslösen, wie Sarraute selbst bezeugt hat 125 . Diese künstlerischen Tro‐ pismen sind es, die dem Erzähler von Portrait d’un inconnu im Zuge seiner Tropismensuche mehrfach widerfahren. Die Wirkung der tropistischen Sachverhalte, die einen dichterischen Tro‐ pismus bzw. den Enthusiasmus auslösen, kommt derjenigen der poetischen Dinge („trésors“) so nahe, dass Sarraute ihr Werk Tropismes wie einen poetischen Text niederschreiben konnte - „d’une manière tout à fait spontanée, sans même bien savoir […] ce que cela représentait exactement, sous l’effet d’impressions, comme on écrit des textes poétiques“ 126 - und das in der poetischen Form des Prosagedichts 127 . In einigen Stücken von Tropismes stehen nun auch alltägliche sprachliche Äußerungen im Mittelpunkt von tropistischen Erregungen. So be‐ ginnt der II . Tropismus mit einem banalen Ruf zum Essen („C’est servi, c’est servi“), und im Zentrum des VIII . Tropismus steht das Gespräch eines Großva‐ ters mit seinem Enkel: Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 372 128 Tropismes, S. 13. Et il lui apprenait, en traversant, à attendre longtemps, à faire bien attention, attention, attention, surtout très attention, en traversant les rues sur le passage clouté, car „il faut si peu de chose, car une seconde d’inattention suffit pour qu’il arrive un accident“. Et il aimait aussi leur parler de son âge, de son grand âge et de sa mort. „Que diras-tu quand tu n’auras plus de grand-père, il ne sera pas là, ton grand-pére, car il est vieux, tu sais, très vieux, il sera bientôt temps pour lui de mourir. Est-ce que tu sais ce qu’on fait quand on est mort? Lui aussi, ton grand-père, il avait une maman. Ah! où est-elle maintenant? […]“ 128 Das Verhältnis von Tropismen und Worten zueinander hat Sarraute in ihrem frühen Aufsatz „Conversation et sous-conversation“ dargelegt: Tropismen sind scheu; sie offenbaren sich nicht gern in Handlungen und Akten, die grob‐ schlächtig und gewalttätig sind, den Blick auf sich ziehen und zudem einer strengen sozialen Kontrolle unterliegen, die längst alle ihre Formen registriert hat. Sie äußern sich lieber in Worten, weil Worte frei sind, geschmeidig und nuancenreich, klar oder dunkel und schnell im Rückzug, wenn Gefahr droht. Worte gelten allgemein als folgenlos, leicht dahin gesagt, ja frivol, das macht sie unverdächtig; sie werden nur oberflächlich kontrolliert und sind selten mit ernsten Sanktionen belegt. Daher können sie, vorausgesetzt sie wahren diesen harmlosen Schein, zu äußerst wirksamen Waffen in den unzähligen kleinen Dramen des Alltags werden: Mais, à défaut d’actes, nous avons à notre disposition les paroles. Les paroles possèdent les qualités nécessaires pour capter, protéger et porter au-dehors ces mouvements souterrains à la fois impatients et craintifs. Elles ont pour elles leur souplesse, leur liberté, la richesse chatoyante de leurs nuances, leur transparence ou leur opacité. Leur flot rapide, abondant, miroitant et mouvant permet aux plus imprudentes d’entre elles de glisser, de se laisser entraîner et de disparaître au plus léger signe de danger. Mais elles ne courent guère de dangers. Leur réputation de gratuité, de légèreté, d’in‐ conséquence - ne sont-elles pas l’instrument par excellence des passe-temps frivoles et des jeux - les protège des soupçons et des examens minutieux: nous nous contentons en général à leur égard d’un contrôle de pure forme; elles sont soumises à une régle‐ mentation assez lâche; elles entraînent rarement de graves sanctions. Aussi, pourvu qu’elles présentent une apparence à peu près anodine et banale, elles peuvent être et elles sont souvent en effet, sans que personne y trouve à redire, sans 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 373 129 „Conversation et sous-conversation“, Œuvres complètes, S. 1597. 130 Erstmals verwendet von Sartre in seinem Vorwort zu Portrait d’un inconnu und erfunden im Gespräch mit Sarraute über den Roman. Minogue spricht von einer „trouvaille à deux“ („Notes et variantes“, S. 2079). que la victime elle-même ose clairement se l’avouer, l’arme quotidienne, insidieuse et très efficace, d’innombrables petits crimes. 129 Unversehens treffen die Worte den Partner, kaum merklich, aber präzise und an den verborgensten und verletzlichsten Stellen. Dort schwellen sie an, explo‐ dieren und schaffen eine Unruhe, die aufsteigt und sich wiederum in Worten Luft machen kann: Car rien n’égale la vitesse avec laquelle elles touchent l’interlocuteur au moment où il est le moins sur ses gardes, ne lui donnant souvent qu’une sensation de chatouille‐ ment désagréable ou de légère brûlure, la précision avec laquelle elles vont tout droit en lui aux points les plus secrets et les plus vulnérables, se logent dans ses replis les plus profonds, sans qu’il ait le désir ni le moyen ni le temps de riposter. Mais, déposées en lui, elles enflent, elles explosent, elles provoquent autour d’elles des ondes et des remous qui, à leur tour, montent, affleurent et se déploient au-dehors en paroles. (Ebd.) Dies gilt für die Worte des Großvaters, die dem Enkel auf subtile Weise die eigene Lebensangst einflößen, ebenso wie für die aggressive Allgegenwärtigkeit des banalen häuslichen Geschwätzes, gegen das der „il“ des II . Tropismus sich nicht wehren kann. Im fortgesetzten Spiel solcher verbalen Aktionen und gegebe‐ nenfalls Reaktionen können sich die Tropismen entfalten und damit sogar den Stoff für Romane liefern. Wegen ihrer Doppelbödigkeit, die Sarraute mit dem Ausdruck „sous-conversation“ bezeichnet hat 130 , sind Worte ein unschätzbares Instrument bei der Suche nach Tropismen. Sie sind für den Romancier das, was für den Lyriker die Eindrücke der „pierres“ und „pans de murs“ sind, die seine poetische Phantasie anregen. Das erklärt den unvermittelten Sprung von den poetischen Dingen zu den Worten: „Assez! Taisez-vous! Assez! “. Inspiriert durch die Begegnung mit dem Porträt des Unbekannten spürt der Erzähler von Portrait d’un inconnu plötzlich die Macht der Worte, die man ihm zugetragen hat, und versteht, dass „il“ sie an ihn gerichtet hat: C’était à moi, je le savais bien, qu’il criait cela. C’était contre moi, pour me provoquer, plein de rage impuissante, de défi - qu’il criait. Il devait le sentir confusément, que ces mots allaient m’atteindre, que c’était vers moi, que c’était à moi surtout que ces mots étaient lancés comme un appel ou comme un défi. (S. 87 f.) Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 374 131 Siehe dazu auch „Conversation et sous-conversation“, S. 1595: „Souvent c’est un par‐ tenaire imaginaire surgi de nos expériences passées ou de nos rêveries, et les combats ou les amours entre lui et nous, par la richesse de leurs péripéties, par la liberté avec laquelle ils se déploient et les révélations qu’ils apportent sur notre structure intérieure la moins apparente, peuvent constituer une très précieuse matière romanesque.“ Sprach‐ liches Indiz für den imaginären Status dieses Gesprächs ist der Wechsel ins Präsens, das dann wieder vom epischen Präteritum abgelöst wird. 132 F. Asso, Nathalie Sarraute, une écriture de l’effraction, Paris 1995, S. 192, Anm. 2: „[…] l’appel du vieux […] ramène donc le narrateur à sa recherche. C’est en effet après ce rappel de ce qui est, selon ses propres termes, sa ‚marchandise‘ […], que le narrateur trouve sa voie: la contemplation du tableau lui a donné la possibilité d’une forme, l’appel du père lui rend le matériau qui est le sien.“ Ja, er erkennt, dass „il“ ihn schon länger mit Worten provoziert hat, wenn er über Kunst, über Urlaub und über die rechte Lebensweise gesprochen hat: Il est là sûrement depuis quelque temps déjà à essayer de me provoquer, de me narguer doucement, comme il fait toujours, à sa manière insidieuse, de me taquiner, assis là-bas, en train de se prélasser: „Alors les voyages, hein, toujours? Les œuvres d’art? Les musées? Les Offices? Rembrandt, hein? Tiepolo? Les canaux? Les pigeons? Moi, je vais à Évian. Évian. Vous connaissez? Hôtel Royal. On n’y est pas mal du tout. Et on a de là une vue splendide …“ (S. 88) Unter diesen Reden war anderes verborgen, das der Erzähler geahnt hat und um dessentwillen er sich stets so stark zu „il“ hingezogen gefühlt hat: Je sais qu’il devait le sentir. Je le connais. Il y a sous ses actes, même insignifiants en apparence et anodins, comme un envers, une autre face cachée, connue de nous seuls, et qui est tournée vers moi. C’est par là, sans doute, qu’il m’attire, qu’il me tient tou‐ jours si fort. (S. 88) Jetzt begreift er das alles und die Worte „Assez! Taisez-vous! Assez! “ wirken in dem pirandellesken imaginären Gedankenaustausch 131 mit dem Alten wie ein „appel“: „c’était à moi surtout que ces mots étaient lancés comme un appel ou comme un défi.“ Françoise Asso hat darin die Ergänzung zum „appel“ des Un‐ bekannten erkannt, der dem Erzähler eine Form gewiesen habe: so verweise dieser neuerliche „appel“ ihn auf seinen Gegenstand 132 . Jedenfalls weckt die ver‐ bale Herausforderung des Alten die schöpferischen Kräfte des Erzählers, sodass er sich nun entschlossen dem berichteten Vorfall zuwendet. Als erstes phantasiert er die Situation, in der die Worte gefallen sind. Eine angeregte Gesellschaft begibt sich zu einer Meierei, wo man Kakao und Back‐ werk zu sich nimmt und es sich gut gehen lässt. „il“ fühlt sich zunehmend un‐ wohl in der genussfreudigen und gelösten Atmosphäre, die ihm allzu luxuriös 5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen 375 133 „Et cela avait tressailli en lui très fort, cela avait bondi, jailli au-dehors (les faisant penser à la princesse qui laissait, quand elle parlait, tomber de sa bouche des crapauds), cela avait jailli et se roulait devant eux, un crapaud qui se vautrait sur la nappe parmi les tasses de chocolat, se roulait sur la prairie […]“ (S. 91) 134 Der Phantasiecharakter wird wiederholt signalisiert („Cela avait dû“, „Il devait“, „Ils avaient dû“, „peut-être“). ist. Er hat das Bedürfnis, auszubrechen und sich auf die Seite des Erzählers zu schlagen, der, von den Anderen unbehelligt, sein eigenes Leben lebt. Im Lauf eines banalen Gesprächs über Kinder und deren Ansprüche nimmt sein Unwille immer mehr zu; das gute Zureden der Freunde reizt ihn so, wie die zu große Nachsicht einer Aufsichtsperson ein „enfant nerveux“ reizt, und schließlich bricht es aus ihm hervor: „Assez! Taisez-vous! Je le sais. Je les connais. Ils sont comme ça. C’est comme ça. Il n’y en a jamais assez pour eux. Ils ne sont jamais contents. Tous pareils. Je les connais. Il n’y en a jamais assez. La lune … la Chine …“ Il mêlait tout ensemble dans le même sac, les servantes trop pimpantes, les gens assis aux petites tables autour de lui, comme des poupées immobiles dans leurs vêtements trop neufs, trop apprêtés, ses amis qui l’avaient entraîné là, qui le forçaient à rester là, alors qu’il avait envie, lui aussi, peut-être, d’être ailleurs, tout seul, parmi ce qu’il aimait, partir … (S. 91 f.) Die Freunde stehen ratlos vor dem Ausbruch und schlucken die „Kröte“ 133 . Der Alte steigert seine Erregung bis zu der Vorstellung, dass der Erzähler und die Tochter gemeinsam auf seine Kosten ihren Kunstgelüsten nachgehen: Il mêlait tout ensemble dans le même sac […] sa fille enfin et moi qui le défiions maintenant de loin, en train de nous pavaner quelque part à son détriment, de faire les parasites, pâmés devant „les chefs-d’œuvre“, quelque part le nez en l’air devant les porches d’église ou des bouts de colonnes célèbres, en train de le narguer, de le ravaler. (S. 92) Die tropistische Überreaktion des Alten („Il mêlait tout ensemble dans le même sac“), der darin tropistische Reaktionen der Anderen phantasiert („sa fille enfin et moi qui le défiions maintenant de loin“), ist ein einziger großer kreativer Tropismus des Erzählers, dessen Phantasie im enthusiastischen Zustand durch die von der Freundin berichteten Worte befruchtet wurde, so dass er ein kom‐ plexes alltägliches Tropismen-Drama entwickeln kann, in das er sich als Ab‐ wesender sogar selbst einbringt 134 . Die Worte, die „il“ ihm zugesandt hat, haben sich dabei als seine neuen „nourritures“ und „joies“ erwiesen, die fremde poe‐ tische Nahrung ebenso überflüssig machen wie die eigenen lyrischen Momente Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 376 vor den „pierres“ und „pans de murs“. Dank ihnen hat er zu seinem gesuchten Gegenstand, den Tropismen, gefunden. 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration Im folgenden siebten Kapitel beschreibt der Erzähler noch einmal seinen neuen Zustand und nennt ihn ausdrücklich eine „Genesung“. Sie äußert sich in seiner Abwendung von den Ratschlägen des Psychiaters, für die er nur noch Wider‐ willen und Unverständnis hat: C’est un signe favorable, paraît-il, un des signes de la guérison, quand le malade se détache de son médecin, ne sent plus le besoin d’être soutenu par lui. À cet égard, je semblais guéri. Je ne pouvais plus penser à mon spécialiste qu’avec un sentiment d’éloignement mêlé de dégoût. Il m’était difficile de comprendre comment j’avais pu avoir la faiblesse de recourir à lui. Ce n’était pas, cependant […] un signe d’indépen‐ dance, de force. C’était l’Inconnu maintenant, […] qui tenait la laisse au bout de la‐ quelle je me promenais. (S. 92) Stattdessen lässt er sich jetzt von dem Unbekannten des Porträts führen, der ihn schützt und ihm zugleich Selbstvertrauen gibt: L’Inconnu me servait d’écran, me protegeait. Ce coup perfide que le vieux venait de m’assener de là-bas, de sa ferme-laiterie, me parvenait amorti. Il me semblait qu’il venait me frapper seulement par ricochet, après avoir d’abord atteint „l’Homme au pourpoint“. Quelque chose venant de lui, une parcelle arrachée à lui au passage, son vague et frais parfum, me parvenaient, accompagnant l’angoisse habituelle, la haine. L’Inconnu prenait sa part de mon tourment. Je n’était plus seul. Un sentiment récon‐ fortant de confiance, de dignité, de fierté même me soutenait tandis que je prenais le chemin de retour. (Ebd.) Offensichtlich handelt es sich um die Abwendung von kunstfremden Einflüs‐ terungen und die Hingabe an die neu entdeckte Kunst, die der Unbekannte des Porträts symbolisiert. Der Unbekannte schwächt den „coup perfide“ des Alten ab, der hier als sein Widerpart auftritt und als solcher die veraltete künstlerische Form der Personendarstellung verkörpert. Sein provozierendes Verhalten steht für die Verletzungen, die die selbstbewußten etablierten Kunstformen dem noch unsicheren Ich-Erzähler zufügen. Dieser begreift die neuen Empfindungen und Regungen, die von dem Unbekannten ausgehen, als Tropismen, wie die Ver‐ wendung von Bildern zeigt: der Unbekannte als Schutzwand („me servait d’écran“), an der der Schlag des Alten abprallt und abgeschwächt wird; die Aura 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 377 135 Zur Erinnerung: Maltes erster Weg nach seinem Fieberanfall führt ihn in die Bibliothek zu seinem Dichter, quer durch die Stadt, die sich in ekstatischem, frühlingshaftem Licht zeigt. Dann kommt es zur ersten empathischen Begegnung (21. Aufzeichnung über den Veitstänzer). des Unbekannten als frischer Duft („Quelque chose venant de lui, une parcelle arrachée à lui au passage, son vague et frais parfum“); die Unbedingtheit des Anspruchs im Bild der Führung an der Leine („C’était l’Inconnu maintenant, […] qui tenait la laisse au bout de laquelle je me promenais.“). Noch etwas skeptisch, aber voll Vertrauen tritt der Erzähler die Heimreise an, um sich der Begegnung mit der Wirklichkeit und der Herausforderung durch den Alten zu stellen. Eine starke, ungewohnte Freude erfüllt ihn, ähnlich der‐ jenigen, die ihn früher vor seinen „fétiches“ erfasst hat: Une jouissance nouvelle, encore pleine de la saveur des plaisirs défendus, mais qui s’apparentait à la joie que j’éprouvais en allant retrouver mes fétiches, les objets de mon culte, une jouissance rappelant celle, très douce, que je ressentais devant les pierres veloutées que l’eau caresse avec un clapotis léger ou devant les pans de mur inondés de soleil au bout de l’ombre mauve des ruelles, une joie inconnue jusqu’alors l’emportait sur l’angoisse habituelle tandis que je partais les retrouver. (S. 93) In diesem ekstatischen Hochgefühl beschließt er, die vertrauten Plätze wieder aufzusuchen 135 : Revoir leur cadre: les squares blafards entourés d’une bordure de buis, les petites places pétrifiées, et les façades inertes des maisons avec leur air impersonnel, absent, cet air qu’elles ont de ne pas vouloir attirer l’attention, établir un contact, offrir la moindre prise, comme si elles craignaient qu’un regard trop appuyé ne fît sourdre au-dehors quelque chose qui se tient tapi derrière leurs murs; quelque chose qu’elles sécrètent malgré elles et contiennent. (Ebd.) Er fühlt sich wie ein Reicher, der sein luxuriöses Quartier verlassen hat, um sich eine Zeitlang auf dem Flohmarkt zu vergnügen: Il y avait aussi dans ma jouisssance un peu de cet égoїsme douillet, de ce petit orgueil secret du riche qui prend plaisir à se promener dans les quartiers sordides, à visiter la foire aux Puces, en savourant le contraste piquant qu’elle fait avec le décor luxueux d’où il vient de sortir et où il va bientôt rentrer. J’avais le sentiment, en revoyant tout cela, de ce même contraste savoureux avec mes trésors que je venais de quitter et qui étaient encore présents en moi, cette même impression de sécurité délicieuse, de dés‐ involture. (Ebd.) Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 378 Um seine Freude noch zu steigern, begibt er sich tags darauf in die Banlieue, wo er lange zwischen den kleinen Häusern und Vorgärten umherirrt und in Kind‐ heitserinnerungen schwelgt: Et c’est sans doute pour accroître un peu ma joie, corser un peu le plaisir que, le lendemain même de mon arrivée, je suis allé rôder, un peu au hasard, dans la banlieue. L’endroit où je me trouvais me rappelait certains décors de mon enfance, des pavillons étroits, à l’aspect rugueux, au teint brouillé, précédés de jardinets poussiéreux plantés d’arbustes taillés en forme de pagodes, d’oiseaux et entourés toujours de ce grillage noir bordé de buis. J’errais longtemps, m’arrêtant dans certaines petites rues particulièrement atones et engourdies, éprouvant une drôle de satisfaction, d’une saveur un peu louche: une sensation très intime et douce de repliement sur soi, accompagnée, rehaussée plutôt par une vague impression de faire quelque chose de réprouvé … et aussi comme une exaltation confuse. (S. 93 f.) Einmal mehr wandelt der seine Inspiration suchende Erzähler hier auf den Spuren Rilkes und Baudelaires: „je suis allé rôder, un peu au hasard, dans la banlieue“ - man erinnere sich, dass Baudelaire den Titel Le Rôdeur parisien für seine Prosagedichte in Erwägung gezogen hatte. Nicht zufällig findet er dabei Erinnerungen an seine „Kindheit“ („[…] me rappelait certains décors de mon enfance“). Die widersprüchlichen Gefühle, die sich einstellen, bewirken eine „exaltation confuse“, die alsbald in unruhige Erwartung umschlägt, wie es immer dann geschieht, wenn sich in seiner Phantasie Gestalten abzuzeichnen be‐ ginnen: Cette exaltation se changea en une attente inquiète - toujours ce mélange d’appré‐ hension et d’espoir - pendant que je montais l’escalier de la gare pour rentrer. Je me tenais arrêté sur la passerelle, au-dessus de la voie ferrée, penché sur la balustrade, regardant avec une extrême attention le quai d’un gris sale sur lequel flottait une fumée âcre, à l’odeur soufrée et, derrière, l’avenue descendant vers la gare, une avenue morne bordée de chaque côté par les pavillons grumeleux, les jardinets aux arbres mutilés. J’étais tout tendu. Il me semblait que j’appuyais, que je pressais sur tout cela, comme on presse sur un fruit pour en extraire le jus, de toutes mes forces ramassées. Comme toujours, avant même de les apercevoir, je sentais leur présence. Elle rendait l’atmosphère vibrante et dense, comme serrée, tendue dans un violent effort pour les projeter au-dehors. Et j’ai eu, cette fois encore, une impression de truquage ou de miracle, semblable à celle qu’on doit éprouver à voir les performances accomplies, dit-on, aux Indes, par certains fakirs, cette corde qu’ils lancent en l’air et que tout une foule émerveillée voit se tenir dressée dans l’air, droite et raide comme le tronc d’un palmier. (S. 94) 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 379 136 Ein Bahngelände im Maschinendampf, bald mit, bald ohne Menschen, ist ein beliebtes Thema in der Paris-Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts; vgl. etwa Edouard Manet, Die Eisenbahn, 1873; Claude Monet, Die Gare Saint-Lazare, 1877; Gustave Cail‐ lebotte, Der Pont de l’Europe, 1876; Norbert Goeneutte, Der Pont de l’Europe und die Gare Saint-Lazare, 1887 (nach Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris, Katalog des Museums Folkwang 2010, Göttingen 2010, S. 76. 97 ff.). Zu den aus früheren Versuchen schon bekannten Tropismen und Bildern für das Nahen der poetischen Inspiration kommen hier zwei neue: das Bild der aus‐ zupressenden Frucht für die besondere Anstrengung der Phantasie, das an die Befruchtungs- und Reifungsmetaphorik des vorherigen Kapitels anschließt, und, für das an ein Wunder grenzende Gelingen der Anstrengung, das Bild der Kunstfertigkeit von Fakiren, die vor den Augen einer erstaunten Menge ein Seil in eine aufstrebende Palme verwandeln. Dann treten, wie auf einer Bühne, die Personen des Dramas auf. Schauplatz ist ein Vorstadtbahnhof, auf den der Erzähler von einer Fußgän‐ gerbrücke hinabblickt. Den von Zeit zu Zeit im schwefligen Dampf der Züge verschwindenden Bahnsteig 136 betritt „il“ - „comme Moïse dans ses nuées“ - in seiner charakteristischen Haltung mit schäbigem Überzieher und Hut, die er mit den Worten zu kommentieren pflegt: „on se fait vieux, que voulez-vous? “, „[on] ne fait pas de frais“ oder „[on] se sent comme chez [soi]“ (S. 95). Auf seinen Arm stützt sich eine verhärmte Frau in abgewetztem Mantel, die ein billiges Wachs‐ tuchbündel trägt, die Frau eines alten Freundes. Die Beiden lassen sich auf einer Bank nieder, der Alte liebevoll um seine Begleiterin besorgt. Der Erzähler schaut gespannt und erwartungsvoll auf sie nieder wie auf bewegungslose Tiere, die man ab und zu mit einem Stöckchen anrührt, um zu sehen, was geschieht. Die Sorgfalt, ja Ehrfurcht, die der Alte dem schäbigen Wachstuchbündel der Frau zukommen lässt, weckt im Erzähler die Vorstellung eines Kultes der „dure né‐ cessité“ und „triste réalité“: C’est le baluchon de toile cirée qui m’a d’abord mis sur la piste: une intuition déjà, un pressentiment, avait attiré mon attention sur ce baluchon, sur cet air, surtout, de sol‐ licitude, avec lequel il lui avait pris le baluchon des mains. Il y avait là autre chose encore que de la sollicitude - un respect grave, de la vénération: devant ce baluchon, il aurait pu enlever son chapeau et s’agenouiller. La plaque fêlée, les arbustes rabougris, tout ce décor sordide et étriqué, ce sont ses fétiches à lui, les objets de son culte: „la dure nécessité“, probablement … „la triste réalité“ … ce avec quoi il ne plaisante ja‐ mais … (S. 97) Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 380 Von Zeit zu Zeit braucht „il“ offenbar diese Atmosphäre des Ärmlichen und Schäbigen, die ihn reizt und ihm Zufriedenheit verschafft, besonders wenn er sich dabei zurückziehen und in eine andere Haut schlüpfen kann: […] il y a dans tout cela quelque chose, sûrement, qui l’excite, lui procure une sensation semblable à celle du bourgeois cossu qui se promène à la Foire aux Puces, ou peut-être une impression d’évasion craintive, d’affirmation de soi un peu honteuse, furtive, cette sorte de contentement qu’éprouvent ceux qui se laissent aller à satisfaire un vice secret. […] Il aime ainsi, pendant qu’il est avec les gens, se mettre, sans qu’ils le remarquent, à l’écart, se dédoubler secrètement, goûter, sans jamais rien montrer surtout, cette li‐ berté exquise qui lui permettra, quand il le voudra, de faire peau neuve, de changer de décor, tandis qu’ils resteront là indéfiniment devant les jardinets mornes, sur la petite place endormie. (S. 96) Doch auch die alte Frau ist eine Anhängerin des Kultes und gibt das auch zu erkennen. Sie beklagt die Einsamkeit von „il“ und rührt bald, angestachelt von der Ungeduld des Erzählers, an seinen wunden Punkt, die Ansprüche der er‐ wachsenen Tochter. Der Alte windet sich, doch die Frau fällt ungerührt das ver‐ nichtende Urteil: „Ils sont durs avec vous …“. In diesem Moment naht der Zug, den die Beiden besteigen. Der zurückbleibende Erzähler folgt ihnen in Gedanken weiter und sieht, wie dem Alten das Spiel unheimlich wird und der Ausflug ihn zu reuen beginnt; wie es ihm gerade noch gelingt, sich in gewohnter Weise etwas mürrisch von seiner Begleiterin zu verabschieden und das Bild des lebens‐ fremden alten Mannes zu wahren, das sie von ihm hat. Das richtet den Alten wieder auf, so dass er, zu Hause angekommen, bald das Unangenehme der Be‐ gegnung verdrängen kann und auf die Nachfrage des Erzählers von einem lange fälligen harmlosen Besuch spricht. Dieses über mehrere Seiten sich hinziehende Geschehen spielt sich nur zu einem kleinen Teil in der Wirklichkeit und vor den Augen des Erzählers ab, zum größeren entspringt es seiner Phantasie, wie am Tempus- und Moduswechsel und an den wiederholten Interventionen zu erkennen ist. Der Bahnhof als Aus‐ gangspunkt ist ein belebter städtischer Ort, wo viele Menschen verkehren, wes‐ halb ein Dichter dort in den poetischen Zustand geraten kann. Die Menschen, die Dampfwolken der Züge und schließlich der das Paar entführende Zug nehmen dem Erzähler zwar die Sicht - „je ne vois pas très bien - la passerelle se trouve très haut au-dessus du quai et je vois mal à cause de la fumée et des gens qui circulent sur la plate-forme et qui, à chaque instant, me les cachent“ (S. 95) -, geben aber zugleich seiner Phantasie den Freiraum, das Fehlende zu 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 381 137 Vgl. auch Minogue, Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 48: „The old man and his daughter are not fixed characters, but series of characters, revolving and changing with each ‚story‘ they tell and the audience is meant for.“ ergänzen. Dabei kreist der Erzähler um charakteristische Worte oder Sätze seiner Figuren, die ihm bekannt sind oder die er selbst ihnen in den Mund legt. Das Ergebnis seines Vorgehens ist jedoch keine in sich runde Begebenheit und schon gar keine Geschichte, „histoire“ oder „légende“, wie sie das Ich in Baude‐ laires Les Fenêtres phantasiert hatte. Ja, es gibt nicht einmal feste Charaktere wie im traditionellen Roman. Vielmehr trifft man auf eine Aneinanderreihung von Charakterzügen und Eigenheiten, die etwa im Falle des Alten auch solche des Erzählers sind 137 . So liebt es der Alte, in ein ihm vertrautes Milieu einzutauchen: […] c’est pour flairer cela, humer cela, avec cette volupté équivoque, au goût douceâtre, qu’on ressent à renifler ses propres odeurs, qu’il est venu ici. Un peu comme j’ai fait moi. (S. 95) Wie den Erzähler treibt ihn die unruhige Erwartung des Kommenden: Il a eu, lui aussi, probablement, ce même sentiment d’excitation légère, d’attente, de repliement délicieux, quand il a poussé la grille, traversé le jardinet et appuyé son doigt sur le bouton de la sonnette. (Ebd.) Ebenso kennt er das Gefühl der Überlegenheit, das sich dem Wissen um die geheimen Götzen verdankt: Sûrement, comme je suis venu portant avec moi mes trésors, il est venu, portant en lui comme arrière-plan la pelouse éclatante, bien astiquée, de la ferme-laiterie […] (S. 96) La plaque fêlée, les arbustes rabougris, tout ce décor sordide et étriqué, ce sont ses fétiches à lui, les objets de son culte: „la dure nécessité“, probablement, „la triste réa‐ lité“ … ce avec quoi il ne plaisante jamais … (S. 97) Und genau wie der Erzähler hat er die Befriedigung dessen, der im geheimen seinem Laster nachgeht (S. 96). Über sein Verhalten gegenüber der Bekannten heißt es, dass der Alte mit ihr spielt: „il joue, c’est certain“, „[…] il joue un jeu dangereux.“; ähnliches sagt der Erzähler von sich, wenn er seinen Figuren wie in einem Blindekuhspiel zurufen möchte „C’est tiède, c’est froid, non, non, c’est chaud maintenant, ça brûle.“ (S. 98). Schließlich ist der Alte wie auch der Erzähler leicht durch Andere zu beeinflussen: […] cette extrême sensibilité à l’impression que les autres ont de lui, cette aptitude à reproduire comme une glace l’image que les gens lui renvoient de lui, qui lui donne Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 382 138 Siehe dazu A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 92), Frankfurt a. M. 1974; die erste Ausgabe dieses Werkes erschien 1932 in Wien. Sarraute hat während ihres Aufenthaltes in Berlin 1921 / 1922 soziologische Vorlesungen gehört, weshalb ihre Nähe zur einschlägigen Denkweise nicht überrascht. 139 „L’Ère du soupçon“, S. 1586. toujours la sensation pénible, un peu inquiétante, de jouer avec tous la comédie, de n’être jamais „lui-même“: „un trait, dirait mon spécialiste, fréquent chez les nerveux“. (S. 99) Je suis si influençable, moi aussi, si suggestible. L’impression que les gens ont de moi déteint sur moi tout de suite, je deviens tout de suite et malgré moi exactement comme ils me voient. (S. 64) Nimmt man hinzu noch die Fähigkeit, zugleich in der realen und in einer phan‐ tasierten Welt zu leben, so ist der Alte geradezu ein Alter Ego des Erzählers. Die genannten Übereinstimmungen zwischen dem beobachtenden Ich und den von ihm Beobachteten haben ihren Grund nun nicht mehr in einer inneren Genugtuung, wie sie Baudelaires Ich im phantasierten Leben und Leiden seines Gegenübers suchte und fand. Auch gehen sie in ihrer außergewöhnlichen Viel‐ zahl weit über das alltägliche Fremdverstehen hinaus, das auf Akten der Selbst‐ auslegung des Verstehenden beruht 138 . Sie sind vielmehr ein Kunstgriff, ein be‐ wußt von der Autorin eingesetztes Verfahren der Figurenzeichnung, um das Tropismen-Thema zu verdeutlichen. In dem 1950 entstandenen Essay „L’Ère du soupçon“ legt Sarraute dar, dass die traditionellen Romanfiguren der heutigen komplexen psychologischen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden. Deshalb müsse ein Romancier den Blick des Lesers weg von Personentypen verstärkt auf psychologische Zustände lenken. Verschiedene Autoren hätten verschiedene Wege dafür gefunden, die oft an der Namengebung abzulesen seien. So tragen etwa in William Faulkners The Sound and the Fury mehrere Figuren dieselben Namen, wodurch der Leser gezwungen ist, auf die jeweiligen inneren Vorgänge zu achten, um die Personen auseinanderzuhalten. Darin sieht Sarraute ein Verfahren, die eingefahrenen Bahnen der typisierten Charakterdarstellung zu durchbrechen. Ein anderes, häufig verwendetes Verfahren sei die Verwendung der Ich-Form für den Prota‐ gonisten, durch die der Leser sich im Innern der Figur, also nahe bei den Tro‐ pismen, befinde: Il est plongé et maintenu jusqu’au bout dans une matière anonyme comme le sang, dans un magma sans nom, sans contours. 139 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 383 140 Die genaueren Angaben zum Aussehen beider Personen (S. 65 f. und 158 f.) liegen vor bzw. nach dem Gelingen der Tropismensuche, fallen also ‚aus dem Rahmen‘. 141 S. 1584. Die Dekonstruktion des ‚personnage‘ hat Sarraute in Martereau und Les Fruits d’or fortgesetzt. Siehe auch J. Pierrot, Nathalie Sarraute, Paris 1990, S. 387 ff. 393 ff. Auch Nebenfiguren, die sich als Phantasien, Träume und Projektionen eines anonymen Erzähler-Ichs herausstellen, verwischen die Grenzen und können dazu beitragen, die neue psychologische Wirklichkeit darzustellen. Wie gesehen, unterscheiden sich nun in Portrait d’un inconnu die Figuren nicht mehr in ihrem inneren Erleben, ganz zu schweigen von der fehlenden Kennzeichnung durch Namen oder individuelles Äußeres. Das gilt für den Alten und den Erzähler ebenso wie für die „hypersensible“ Tochter und den Er‐ zähler 140 . Mit diesem Verwirrspiel zwingt Sarraute den Leser, seine Aufmerk‐ samkeit auf die neue „matière anonyme“ der Tropismen zu richten, die nach ihrer Überzeugung allen Menschen ohne Unterschied eigen sind, so dass sen‐ sible ‚Charaktere‘ wie „je“ und „elle“, der Erzähler und die Tochter, aber auch scheinbar sehr unterschiedliche wie „je“ und „il“, der ‚Dichter‘ und der ‚Geizige‘, bei aller Verschiedenheit ihres äußeren Tuns grundsätzlich dieselben inneren Regungen haben. So lösen sich in Portrait d’un inconnu die traditionellen Cha‐ raktere des ‚Geizigen‘, der ‚Hypersensiblen‘ und auch des Dichters in eine Ab‐ folge von Tropismen auf, die weitgehend austauschbar ist, und es vollzieht sich im „Zeitalter des Misstrauens“ die Freisetzung des „élément psychologique“, die Sarraute mit der Befreiung vom Gegenstand in der modernen Malerei vergleicht: Aussi, par une évolution analogue à celle de la peinture - bien qu’infiniment plus timide et plus lente, coupée de longs arrêts et de reculs - l’élément psychologique, comme l’élément pictural, se libère insensiblement de l’objet avec lequel il faisait corps. Il tend à se suffire à lui-même et à se passer le plus possible de support. C’est sur lui que tout l’effort de recherche du romancier se concentre, et sur lui que doit porter tout l’effort d’attention du lecteur. 141 a) Im Tropismenrausch Der Fortgang des Geschehens in Kapitel VII zeigt, dass der Erzähler sich wei‐ terhin im enthusiastischen Zustand befindet, ja in einem regelrechten Produk‐ tionsrausch, in dem er ohne Unterbrechung weitere tropistische Szenen um den Alten phantasiert. So sieht er diesen zu Hause, im Sessel an seinem Schreibtisch sitzend, in einem Schulbuch lesend, wie er die neuen Lernmethoden bewundert, oder auch neueste Forschungsergebnisse und Entdeckungen studierend, um des geistigen Trainings willen. Zugleich formt er sich ein Bild von der Welt und von Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 384 142 Die Szene setzt den VIII. Tropismus fort. sich selbst als wohlsituiertem, beschaulichem Rentier, der an seinem Lebens‐ abend alle Ängste hinter sich gelassen hat. Ein andermal beobachtet der Erzähler den Alten bei einem seiner heimlichen, scheinbar harmlosen Spiele, wie er wäh‐ rend eines Spaziergangs mit einem gleichaltrigen Freund leichthin über die Nichtigkeit des Lebens und den nahen Tod philosophiert, dies vor den Augen und Ohren der nachfolgenden Jungen, des Erzählers und des Sohnes des Freundes, der davon tief beeindruckt ist 142 . Dann wieder phantasiert der Erzähler die nächtlichen Ängste des Alten, dessen „réveils de condamné à mort“ (S. 107), wenn der Gedanke an Tod und Leben ihn unerbittlich erfasst und sich in den Worten der alten Freundin - „Ils sont durs avec vous.“ - kristallisiert, so dass er an seine Tochter denken muss, wie sie ihn um Geld bittet und ein Paket aus der Wohnung trägt - eine Vorstellung, die ihn unmittelbar aufspringen und in die Küche eilen lässt, wo er sogleich die verkürzte Seifenstange sieht. Die fixe Idee des Seifendiebstahls lässt ihn dann nicht mehr los und erst gegen Morgen schläft er erschöpft ein. Tags sind die Ängste wieder verschwunden und „il“ scheint sich dem Erzähler zu entziehen. Sogar sonntags nachmittags, wenn andere an der Einsamkeit leiden, ist „il“ ganz bei sich und ohne Angst. Und bei einer Ge‐ selligkeit versteht er ebenso gut mit den Serviererinnen zu scherzen wie seinen Platz im Kreis der politisierenden Männer zu behaupten. Das VIII . Kapitel führt vor, wie der einfühlsame Erzähler in ein geselliges Tropismengeflecht eintaucht. Den Einstieg liefert ihm „elle“, die „Hypersen‐ sible“, die Tropismen bei sich und Anderen aufspürt wie ein Hund, der Gerüche erschnüffelt, oder wie ein Zauberstöckchen, das Dinge sichtbar werden lässt: Si ce n’avait été qu’elle seule, je ne m’y serais pas fié. Je sais qu’il lui faut si peu de chose, un rien la fait trembler, l’Hypersensible tapissée de petits tentacules soyeux qui frémissent, se penchent au moindre souffle et font qu’elle est sans cesse parcourue d’ombres rapides comme celles que la brise la plus légère fait courir sur une prairie ou sur un champ de blé. Comme les chiens flairant toujours le long des murs des odeurs louches, connues d’eux seuls, le nez collé à terre, elle flaire, sans pouvoir se détacher, les hontes; renifle les sous-entendus; suit à la trace les hontes cachées. Elle révèle leur présence comme la baguette du sourcier. Elle vibre à toutes les hideurs. (S. 116) Wenn sie sich etwa vor dem Erzähler für die Armut ihrer Freunde schämt und diese damit demütigt, spürt er das fast körperlich: 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 385 143 Le Portrait d’un inconnu, S. 50 und 58. 144 Im früheren Fall hatte ihn diese Vorwegnahme der sinnlichen Wahrnehmung - „Je les sens presque avant de les voir.“ - zu der Annahme veranlasst, dass alles ein Produkt seiner Phantasie sei: „[…] que je ressens toujours avant même de les apercevoir. C’est cela sans doute qui me donne souvent l’impression que c’est moi qui les fais surgir, qui les provoque.“ (S. 50) Il m’est arrivé parfois de sentir comme une bouffée d’air chaud se répandre sur tout mon corps tandis que je la voyais se contorsionner quand, sortant ensemble d’un spectacle où je l’avais rencontrée avec ses amis, je leur demandais, insistant exprès - parce que je la sentais frémissante déjà, couchée comme l’herbe sous le vent - où ils habitaient et leur offrait de les déposer chez eux. Je devinais, rien qu’à son tremble‐ ment, à son tortillement silencieux près de moi, dans l’obscurité de la voiture - sans même avoir vu leurs chaussures éculées ou leur pardessus râpés, avant même qu’ils m’aient répondu évasivement qu’il „suffirait de les déposer au coin de la rue, ce n’était pas la peine de tourner, c’était à un pas de là“ - leurs humiliations secrètes que son tortillement, j’en étais sûr, et je la haïssais pour cela, avait éveillées. (Ebd.) Wie öfters 143 leitet die Wendung „Il m’est arrivé parfois de sentir“ hier einen ersten Tropismus des Erzählers ein („sentir comme une bouffée d’air chaud se répandre sur tout mon corps“), dem alsbald weitere folgen. Was er diesmal wahrnimmt, sind die Tropismen von „elle“ („se contorsionner“, „frémissante“, „son tremblement“, „son tortillement“) und - weniger plastisch - die von ihr verursachten Tropismen ihrer Freunde („leurs humiliations secrètes“), die er aufgrund der Erregung von „elle“ „errät“ („Je devinais“). „elle“ mit ihrer Hyper‐ sensibilität („son extrême délicatesse“) wird ihm demnach zum Medium der Wahrnehmung des dichten Geflechts tropistischer Erregungen, vorweggenom‐ mener Wirkungen und Wechselwirkungen, das in der angesagten sozialen Kon‐ figuration herrscht. Neben der direkten Empfänglichkeit für die „Verrenkungen“ von „elle“ ist dafür auch die Phantasie des Erzählers nötig, die ihn die Anderen ahnen lässt, noch bevor er sie sieht: Je les avais remarquées tout de suite: je ne peux jamais m’empêcher de les voir im‐ médiatement. Je les sens presque avant de les voir. Je ne peux jamais éviter de perce‐ voir, venant d’elle, les décharges les plus légères, et de vibrer à l’unisson. (S. 117) 144 Beides, Phantasie und Sensibilität bringen ihn dazu, im Gleichklang mit „elle“ und ihrer Erregung zu schwingen: „vibrer à l’unisson“. Das ist - ins Tropistische gewendet - das empathische Eins-Werden mit dem Anderen, das den Dichter im Zustand des Enthusiasmus erfasst: „être lui-même et autrui“ und „entre[r] dans le personnage de chacun“ hatte Baudelaire das in Les Foules genannt. Wir befinden uns hier also mitten in einem dichterischen Schaffensprozess Baude‐ Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 386 145 Die Metapher vom elektrischen Leitkörper („corps conducteur“) lässt an Baudelaires technische Metapher vom „réservoir d’électricité“ denken, das die Menschenmenge der Großstadt für den „peintre de la vie moderne“ und seine künstlerische Inspiration dar‐ stellte (siehe oben, S. 74), wobei der Akzent hier auf die Tätigkeit des Beobachters ver‐ schoben ist. Im Interview mit Bettina Knapp verwendet Sarraute für denselben Vorgang später das verwandte Bild vom „détecteur“ („Ce sont des détecteurs de mouvements, non des caractères que j’ai voulu montrer.“, S. 286). 146 „La conversation maintenant rendait pour moi un autre son, elle perdait son apparence de conversation banale et anodine. Je sentais que certains mots qu’on prononçait ou‐ vraient de vastes entonnoirs, d’immenses précipices, visibles aux seuls initiés qui se penchaient, se retenaient - et je me penchais avec eux, me retenais, tremblant comme eux et attiré - au-dessus du vide.“ (S. 119) lairescher Prägung. Wie dieser, der von einer „sainte prostitution de l’âme“ ge‐ sprochen hatte, drückt auch Sarrautes Erzähler den Vorgang in mehrdeutigen Bildern aus, wenn er von seiner „complicité“ bzw. „promiscuité humiliante“ mit „elle“ spricht, die ihm die Rolle des schnüffelnden Hundes aufzwinge („cette fascination […] qui me force à la suivre à la trace, tête basse, flairant à sa suite d’immondes odeurs“). Aus Ärger über „elle“ versucht der Erzähler in der Hauptszene des Kapitels, aus seiner Rolle als Beobachter und Tropismensucher auszubrechen, „à ne pas ‚marcher‘, à rester hors du jeu“ (S. 117), und in einem Zustand ahnungsloser Zufriedenheit zu verweilen wie die Anderen in der geselligen Runde. Doch das gelingt ihm nicht. Denn kaum hat er seine Aufmerksamkeit von „elle“ abge‐ zogen, nimmt er bei den Übrigen ganz ähnliche Regungen von Unruhe und Be‐ sorgnis wahr wie bei ihr („des mouvements analogues aux siens et décelant une sorte d’inquiétude vague, d’agitation, un désarroi silencieux“): die alte Haus‐ hälterin hat etwas Gespanntes, Erschrockenes und zugleich Gieriges; „il“, der Alte, hat seine aufgesetzte Gutmütigkeit verloren und schweigt mürrisch, wäh‐ rend seine Finger nervös auf den Tisch klopfen. Da ist es schnell vorbei mit dem Vorsatz des Erzählers und er taucht von neuem in die Welt der Tropismen und die vertraute Rolle eines „corps conducteur“ ein, eines Leitkörpers, der alle Strömungen innerhalb der Gruppe aufnimmt: Il n’en fallait pas plus pour que c’en soit fait de mes velléités d’indépendance, d’in‐ nocence. Je retrouvai tout de suite mon rôle, ma qualité de corps conducteur à travers lequel passaient tous les courants dont l’atmosphère était chargée. (S. 119) 145 Plötzlich entdeckt er hinter der scheinbar banalen und harmlosen Unterhaltung Abgründe 146 und beginnt mit der Gruppe zu fühlen: Mais nous faisions plutôt penser, tandis que nous étions là, tout ramassés sur nous-mêmes, à écouter, aux spectateurs qui observent, les yeux levés et la tête rentrée 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 387 dans les épaules, les performances du gymnaste marchant sur la corde tendue, ou de l’acrobate s’apprêtant à faire le saut périlleux, ou qui regardent, la respiration sus‐ pendue, un somnambule avançant d’un pas assuré tout au bord du toit, le long de la corniche. (S. 119) Als ein unerfahrener junger Mann hervortritt und es wagt, den Alten heraus‐ zufordern, indem er von Ferien und Golfspiel am Meer zu schwärmen beginnt, verfolgt der Erzähler mit den Anderen gebannt dessen Tun und führt das Bild des halsbrecherischen Seiltanzes weiter: […] le jeune acrobate avançait d’un pas léger sur la corde tendue, et nous le regar‐ dions […] il se balançait plus fort et nous le regardions … il allait, d’un moment à l’autre, prendre son élan […] le jeune fou, l’insconcient, l’innocent allait s’écraser à nos pieds. (S. 119 f.) Doch der Alte reagiert gelassen, und als der Junge von neuem beginnt und sich diesmal an „elle“ wendet, was dem Erzähler den Vergleich mit dem heiligen Georg eingibt, der die Jungfrau aus den Klauen des Drachen retten will, ge‐ schieht das Unerwartete: der „Drache“ rührt sich nicht, während die Jungfrau gar nicht gerettet werden will: […] tous repliés sur nous-mêmes, collés au mur comme elle, tête baissée, nous atten‐ dions … il avançait tout droit: „N’est-ce pas, monsieur, que votre fille devrait com‐ mencer à jouer au golf ? Je me charge de lui apprendre, si vous venez dans nos parages cet été, mes parents ont là une proprieté …“ Le dragon ne bougeait pas, il se tenait immobile, un faux sourire bonasse sur sa gueule entrouverte: „Mais bien sûr, mais bien sûr … Pourquoi pas? Pourquoi pas …“ la porte était ouverte, ils n’avaient qu’à sortir, qu’attendaient-ils? Qui les en empêchait? Mais elle ne s’y fiait pas, elle refusait […] (S. 120 f.) Ganz im Gegenteil, der Alte gibt sich für seine Person durchaus interessiert am Golfspiel. Und die Hoffnung des Erzählers auf weitere Tropismen wird ent‐ täuscht: Je m’étais démené inutilement, une fois de plus. Im folgenden Kapitel IX phantasiert der Erzähler mit derselben Hingabe häusliche Alltagstropismen des Alten. Zu Beginn sitzt dieser, einer Spinne gleich, in seinem Zuhause, wartend auf das, was kommt. In den ruhigen Nach‐ mittagsstunden, wenn das Verrinnen der Zeit die Menschen zu nutzlosen Tä‐ tigkeiten antreibt, rückt die Haushälterin in einem günstigen Augenblick wie ein apportierender Hund die harte Realität in den Blick des Alten und meldet einen Wasserschaden, ein geplatztes Rohr unter der Badewanne, einen Fleck an Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 388 147 Zur Funktion der Wiederholung als poetischem Ausdruck der Suche nach Tropismen, wodurch auch das Passé simple verschwindet, siehe Asso, Nathalie Sarraute, une écriture de l’effraction, S. 172 ff. 190 ff. 148 Unter dem Begriff des „masque“ behandelt Sarraute am Beispiel der Figur des Fürsten Bolkonski und seiner Tochter Marie aus Tolstojs Krieg und Frieden die soziale Rolle, die natürliche Neigungen und Tropismen gleichermaßen abdeckt (Kap. III, S. 70 ff.). der Wand. Aufgeschreckt aus seiner kaum noch erträglichen Behaglichkeit tobt „il“ dann vor Wut und Ärger und seiner eigenen Unfähigkeit, Abhilfe zu schaffen, bis die Kraft ihn verlässt und er die Haushälterin mit ihrem praktischen Sinn kleinlaut um Hilfe angehen muss. Das Ganze ist die tropistisch aufgelöste Darstellung einer Auseinandersetzung in einem symbiotischen Verhältnis von Herr und Dienerin. b) Die Vater-Tochter-Szene Den Höhepunkt der Abfolge von tropistischen Phantasien bildet die Begegnung von Vater und Tochter im X. Kapitel, an der der Erzähler zu Beginn gescheitert war, die ihm nun aber gelingt, und zwar um ein Vielfaches länger und detail‐ lierter als beim ersten Versuch 147 . Im Vorlauf klärt er die Situation von „il“ und „elle“: die Gedanken von „elle“ umkreisen auf kindlich-trotzige Weise das Problem, wie sie vom Vater Geld für eine Kur erhalten kann, auf die sie Anspruch zu haben glaubt. Unterstützt wird sie von den „bonnes femmes“, die alles sehen und begutachten und ihr Argu‐ mente für die Auseinandersetzung mit dem Alten liefern. So bewaffnet macht sie sich an einem Sommernachmittag auf den Weg zu ihm. „il“ seinerseits weiß um die „fées protectrices“ von „elle“ seit dem Tag, als diese ihm das Neugeborene in den Arm gelegt und ihm die „Maske“ des Vaters aufgezwungen haben 148 . Seitdem ist „elle“ ein Instrument, das sie gegen ihn einsetzen können; für ihn aber ist sie eine „petite bête insatiable et obstinée“. Darauf beginnt die Handlung in der väterlichen Wohnung. Nach kurzer Be‐ grüßung kommt „elle“ auf ihr Anliegen zu sprechen, das „il“ sogleich mit dem Hinweis auf die Geldschneiderei der Ärzte und seine eigene Sparsamkeit in der Jugend abwehrt. Auch er hat seine Hilfstruppen präsent, die ihm beistehen, vornehmlich einen alten Freund, mit dem er sich seit Jahren in einem erstklas‐ sigen Restaurant trifft, wo man zuvorkommend bedient wird und sich angenehm unterhalten kann, über Geld, über Kinder und das Verhältnis zu ihnen, über frühere Zeiten. So gestärkt, hat „il“ im Gespräch mit „elle“ wie immer seine Maske aufgesetzt und behauptet, „elle“ erhalte genug Unterhalt von ihm. Doch die Truppen der Gegenseite ruhen nicht und „elle“ widerspricht. Wie zwei rie‐ 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 389 sige Insekten - „deux énormes bousiers“ - stehen Vater und Tochter einander gegenüber, ringen miteinander und versuchen jeder, den Panzer des Anderen zu durchbrechen. Die direkte Frage nach den Kosten eröffnet die nächste Phase. Die geforderte Summe von 6000 Francs lässt beide gemeinsam in einen tiefen Brunnenschacht sinken, wo sie ohne Hilfe von außen weiterkämpfen: „il“ sieht ein ungeahntes Verbrechen auf sich zukommen, an welcher Einschätzung auch freundschaftli‐ ches Zureden nichts ändern würde, während „elle“ nicht versteht, wie sie etwas für sich erwarten kann, das man ihr nie zugestanden hat. Denn „il“ hat sie ohne jede Freizügigkeit zu äußerster Genügsamkeit erzogen und sie hat nie anderes kennengelernt. Beide haben panische Angst vor der Armut, weshalb sie nicht von ihm lassen kann, während er sie wie einen Blutsauger empfindet. Er weiß, dass sie schon als Kind gierig war, sie hält das für ein Ergebnis seiner Erziehung; er wirft ihr vor, keinen Mann zu finden, der sie versorgen könnte, sie findet die Schuld dafür in dem Lebensstil, den er ihr aufgezwungen hat. Schließlich reißt er die letzten Schranken von Rücksichtnahme nieder und gesteht, dass er nicht einmal unter Einsatz von Geld einen Partner für sie gefunden habe. Damit haben beide den tiefsten und intimsten Punkt ihrer Beziehung erreicht: […] seuls dans leur grand bon fond, où tout est permis, où il n’est plus besoin de rien cacher […] (S. 152) „Elle“ steckt seine Eröffnung ungerührt weg und holt mit der Ankündigung ihrer bevorstehenden Verlobung zum Gegenschlag aus. Der Erzähler begreift das als einen weiteren Spielzug der engen Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Verletzungen beider in der dunklen, verschlossenen Welt, in der sie sich gegen‐ seitig gefangen halten. Nun gerät „il“ in Rage und spottet über den Mitgiftjäger, „elle“ widerspricht ihm selbstgewiss und voll Hochmut. Der Streit geht hin und her, bis „il“ seiner Sache nicht mehr sicher ist und „elle“ hinauswirft. Sie klam‐ mert sich an die Tür, er stößt sie hinaus, beide schreien; die Haushälterin in der Küche lauscht, desgleichen die Concierge, die im Treppenhaus das Geländer putzt. „Elle“ fängt sich, kehrt um und flüstert durchs Schlüsselloch, bettelnd, argumentierend. Schließlich öffnet sich die Tür und „il“ wirft 4000 Francs heraus. Zufrieden zieht „elle“ ab, vorbei an der Concierge. In dieser Beziehungsszene wechseln Reden sowie untergründige „mouve‐ ments“ und Befindlichkeiten der Personen, die sich in ihrer sachlichen Aussage weitgehend decken. Die Handelnden haben als Vater und Tochter eine enge emotionale Bindung, die wegen der Kindlichkeit und Unselbständigkeit von „elle“ und der herrschsüchtigen Bonhomie des Alten fast unauflöslich erscheint. Auch sind sie tief verstrickt in ein gemeinsames Wertesystem, in dem die „Dés‐ Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 390 149 „leur grand bon fond“: S. 152 und S. 153. involture“ als ein Verbrechen gilt, das nicht einmal genannt werden darf. Wie der zweimalige Hinweis 149 zeigt, ist dies Sarrautes tropistisch gedeutete Variante des „grand bon fond de Malempia“ in Gides Séquestrée de Poitiers, den der Er‐ zähler im Anfang als ein zu konventionelles Vorbild abgelehnt hatte. In ihrer selbstgewählten Isolation kämpfen die Personen hautnah, ohne jede Rücksicht‐ nahme, sich im Kreise drehend und ohne Möglichkeit des Entrinnens. Einige auffallende Bilder illustrieren diesen Kampf: „deux énormes bousiers“ (S. 143); „ils descendent comme au fond d’un puits“ (S. 144); der Vergleich der ausdrucks‐ losen Gesichter der „bonnes femmes“ hinter dem starren Blick von „elle“ mit den „visages lisses et cireux des saints qui entourent sur les tableaux des primitifs les faces figées des Vierges“ (S. 135); das widerwärtige Ausdrücken eines Abs‐ zesses für den Spott von „il“ über die vergeblichen Heiratsversuche von „elle“ (S. 151 f.); seine Wut eines Stieres, der auf das Tuch des Matadors zurennt (S. 154). Nicht zuletzt wird in dieser Szene die Figur des Erzählers stärker konturiert durch die wiederholten Unterbrechungen und Kommentare, die er zu seinem tropistischen Phantasieren abgibt. So betont er ein weiteres Mal seine besondere Empfänglichkeit für die Tropismen, weil er als Einziger hinter dem lauten Wohlgefallen über ein Lob des Kellners das kleine selbstgefällige Lächeln von „il“ hätte entdecken können: Moi seul, si j’étais assis à la table à côté, j’aurais peut-être surpris - tant j’ai l’esprit mal tourné - dans les derniers tremblements de ce rire qui disparaît, enfoui dans ses joues baissées, comme un vague reflet de ce sourire qu’il a parfois, secret, tourné vers lui-même, ce sourire pour lui tout seul, que je connais; mais personne autour de lui ne peut l’apercevoir, cette lueur qui passe, rapide, et va se perdre en lui, s’enfouir au fond d’un trou comme une souris. (S. 140 f.) Ebenso versteht er, dass die geradezu märtyrergleiche Ungerührtheit von „elle“ und ihr infantiler Tonfall bei der Mitteilung der Verlobung gängige Bestandteile ihrer Spiele und Gehässigkeiten im Umgang mit dem Alten sind (S. 153). Seine Einfühlung in Andere, die bis zur Identifikation und zum „vibrer à l’unisson“ mit ihnen geht, zeigt sich hier darin, dass er im Zusammensein mit „il“ und „elle“ das Wort „Désinvolture“ kaum auszusprechen wagt, weil dessen Verbot auch auf ihn wirkt (S. 146). Bemerkenswert ist ferner, dass er wiederholt Unsicherheiten und gar Irr‐ tümer seiner Phantasie feststellt und korrigiert. So ermahnt er sich gleich zu 6. Stadterlebnis und entfesselte Inspiration 391 150 So im Gespräch mit Benmussa: „Toute la poésie est fondée […] sur ce qu’on ressent. […] Je prends des moments dans lesquels j’ai l’impression que quelque chose est en train de se passer. Je les choisis avec beaucoup de difficultés ces moments, ce ne sont pas n’importe lesquels. […] Et je commence à travailler là-dessus. Je t’assure que c’est dif‐ ficile parce qu’au départ … il faut le revivre.“ (Nathalie Sarraute, Qui êtes-vous? , S. 113) Vgl. auch die Arbeit des Schriftstellers in Entre la vie et la mort, S. 623. Beginn zur Vorsicht mit den phantasierten Gestalten, weil sie viele Gesichter hätten und voller Überraschungen seien: […] je sais bien - il ne faut jamais l’oublier - rien n’est jamais aussi simple avec eux, je sais bien comment ils sont, toujours à double face, à triple, à multiple face, fuyants, pleins de replis secrets … (S. 134) Man begreife nicht alles sofort, jedes ihrer Worte und jede noch so unbedeutende Bewegung sei wie eine Kreuzung von Wegen, die in alle Richtungen führen könnten, und man selbst komme erst nach langem Umweg bei ihnen an: C’était pour cela […] qu’il était passé […] j’en suis sûr, je ne m’en étais pas rendu compte sur le moment, on ne peut être partout à la fois, chacune de leurs paroles, le plus insignifiant en apparence de leurs mouvements, est comme un carrefour où s’entrecroisent des chemins innombrables menant dans toutes les directions et je me retrouve ici tout à coup sans trop savoir comment, après un long détour […] (S. 145) Beispielsweise hat er nicht vorhergesehen, dass „il“ plötzlich aggressiv wird (S. 154); oder dass „il“ sich keineswegs davon beeindrucken lässt, wenn „elle“ selbstsicherer auftritt als gewohnt; und er hat auch nicht erwartet, dass „il“ da, wo er, der Erzähler, nur ein „fantoche ridicule“, ein „épouvanteil à moineaux“ sieht, eine reale Gestalt erblicken könnte, die bedrohlich ist, weil sie „elle“ von ihm weg ziehen und an sich binden will (S. 155). Diese Unsicherheiten offen‐ baren die Freiheit der schöpferischen Phantasie und zeichnen zusammen mit den Unterbrechungen den schwierigen Prozess der Tropismensuche nach, zu dem Sarraute sich auch selbst bekannt hat 150 . 7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität Als „elle“ nach der Szene mit dem Vater auf die Straße tritt, sieht sie vor sich den Erzähler. Anders als bei der ersten Begegnung in Kapitel II ist diesmal sie die Selbstbewusste und der Erzähler der Befangene, der ihr um jeden Preis folgen möchte und sie darum in eine Manet-Ausstellung begleitet. Unterwegs be‐ trachtet er sie bald von der Seite, bald im Spiegel der Schaufenster und kommt Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 392 trotz vieler Mühe nur zu Ergebnissen, die ihn nicht zufriedenstellen, weil sie keine Tropismen, sondern nur „du rechauffé“ sind („sa tête […] une proue“, „une tête de gargouille“). Grund ist sein Erschöpfungszustand nach der großen An‐ strengung der letzten Szene: Je sens bien que c’est malgré moi, par habitude, par excès de fatigue, machinalement, que je me bats encore les flancs. Je ressemble à ces coureurs cyclistes qui, la course terminée, assis dans un fauteuil, continuent, sans pouvoir s’arrêter, à remuer les jambes comme s’ils étaient encore sur les routes en train de pédaler. (S. 158) Ein unparteiisches Auge könnte an „elle“ dagegen statt solcher Häßlichkeiten sogar eine gewisse Noblesse und Schönheit finden … Auch sein eigenes nicht besonders vorteilhaftes Porträt sieht er gespiegelt, so wie „elle“ ihn sehen muss: „le fruit malsain d’obscures occupations, de louches ruminations“. In der Aus‐ stellung weicht er nicht von ihrer Seite, wobei er spürt, dass die Bilder ihr ins‐ geheim Argumente liefern, die sie gegen ihn ins Feld führen kann. Als sie ihn dann vor einem Bild tatsächlich herausfordert, widerspricht er: ihm sei in diesem und den anderen Bildern zuviel Sicherheit, zuviel selbstgefällige Zufriedenheit, während der Zweifel, das ängstliche Suchen und Tasten nach dem unbegrenzten, unfassbaren Gegenstand fehle: […] moi j’avoue que ca ne m’émeut pas beaucoup … C’est très fort, évidemment, mais ce n’est pas à cela que vont mes préférences … […] Cela manque de trouble … d’un certain … comment dirais-je … de tremblement … on y sent trop d’assurance … de certitude satisfaite … de … de … suffisance … Je préfère, je crois, aux œuvres les plus achevées, celles où n’a pu être maîtrisé … où l’on sent affleurer encore le tâtonnement anxieux … le doute … le tourment … […] devant la matière immense … insaissable … qui échappe quand on croit la tenir … le but jamais atteint … la faiblesse des moyens … (S. 161) Der Erzähler setzt hier dem vorherrschenden Kunstideal sein eigenes Ideal ent‐ gegen und nennt auch Beispiele, am Ende sogar sein heimliches Vorbild, „L’Homme au Pourpoint“, wie er ihn nennt, aus einem holländischen Museum. „Elle“ hört ihm mit großer Aufmerksamkeit zu und ihr ungewohnt ernster Blick geht scheinbar in die Ferne, tatsächlich jedoch nach innen, während über ihre Züge ein leichtes Lächeln fliegt, als ob sie etwas Vertrautes wiedererkennen würde. Der Erzähler ist plötzlich hoffnungsvoll und dankbar, denn sie blickt auf ein Bild, das er kennt: […] une image en elle, celle que je vois en moi, celle qu’elle a aperçue, sans doute, reconnue en moi tout à l’heure, quand elle m’observait si attentivement; nous la re‐ gardons tous les deux, c’est celle d’un vestibule étroit … (S. 161 f.) 7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität 393 Es ist die eben phantasierte Vater-Tochter-Szene, die sie in tropistischer Ein‐ fühlung in ihm wiedererkannt hat und die beide nun verkürzt vor sich ablaufen sehen: in ihr löst sich der grobgeschnitzte Egoist und Geizhals „il“ in eine un‐ greifbare, weiche und flexible Gestalt auf, die mit der Hypersensiblen in einer unauflöslichen Symbiose verbunden ist. Doch dann weicht „elle“ zurück, wie der Erzähler es im Grunde nicht anders erwartet hat, und ein harter Blick der Ablehnung trifft ihn: seine Vorstellung von künstlerischer Darstellung ist ihr zu persönlich, zu emotional und zutiefst hassenswert. Nachdem sie dies festgestellt hat, verlässt sie eilends das Museum und lässt den Erzähler auf sich selbst zu‐ rückgeworfen zurück. Als er ihr vom Fenster aus mit dem Blick folgt, sieht er sie zusammen mit einer Gestalt davongehen, die dem Alten gleicht, ihm aber banaler als früher vorkommt - oder liegt die Veränderung bei ihm selbst, dem Erzähler? Vater und Tochter entfernen sich gemeinsam und bilden schließlich für seine Augen „une seule tache sombre“. Diese Szene, die den Schluss des X. Kapitels bildet, ist durch den Erschöp‐ fungszustand des Erzählers gekennzeichnet, der sich von „elle“ in das Museum ziehen lässt und gerade noch in der Lage ist, sein Kunstideal zu formulieren und zu verteidigen. Dessen vorhersehbare Ablehnung enttäuscht und entmutigt ihn, so dass sein neuerlicher Blick auf die Realität ihm einen zwiespältigen Eindruck macht, der zwischen „indifférence placide“ des Alten und Gemeinsamkeit von Vater und Tochter („oscillement d’un même mouvement“) schwankt. Nachdem einige Zeit vergangen ist, trifft der Erzähler in einem Restaurant wieder auf „il“ und „elle“. „Elle“ ist verändert, sie trägt ein graues Kostüm mit buntem Seidentuch, eine modische Frisur und ist sogar leicht geschminkt. Beiden gegenüber sitzt ein Mann mittleren Alters, der in Aufmachung und Auf‐ treten dem Alten gleicht und imposant und unerschütterlich, dazu außerge‐ wöhnlich selbstbewusst wirkt. Vergeblich versucht der Erzähler aus dem Äu‐ ßeren seinen Charakter zu ergründen. Der Einladung, sich zu der Gruppe zu setzen, folgt er wie in Hypnose. Man stellt einander vor, der Unbekannte ist der Verlobte von „elle“, mit Namen Louis Dumontet. Die Verlobten betrachten ge‐ rade den Plan eines Häuschens, das Dumontet im Pariser Umland an der Oise besitzt, einer Gegend, die der Erzähler vom Angeln mit seinem Onkel kennt. So dreht sich das Gespräch alsbald um Angeltechniken … Dann kommt man auf die Pläne zur Restaurierung des Häuschens zu sprechen. Die Einrichtung eines Bades stößt beim Alten auf Missbilligung, Dumontet hält dagegen mit Angaben über die Wertsteigerung der Immobilie. Auch die Berechnung der Umbaukosten stimmt den Alten bedenklich, doch Dumontet erklärt, bereits Land hinzugekauft zu haben, das er verpachten und bewirtschaften lassen will. Die geplante Teilung der Erträge erscheint „il“ und „elle“ riskant, nicht so dem Besitzer. Man redet Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 394 151 Nathalie Sarraute ou La Recherche de l’authenticité, S. 80; der Erzähler sei am Ende zwar von seinen „lubies“ und „manies“ geheilt, dafür aber ein Verräter an der „morale de l’authenticité“, der Roman hingegen „le procès-verbal d’une création manquée“ (S. 86. 77). Nicht viel anders sieht Désormière den Erzähler am Ende zum tumben Bürger werden: „Le Narrateur de Portrait d’un inconnu devient un bourgeois béat. Sarraute décrit cette dernière transformation comme une mort symbolique.“ („Nathalie Sarraute et Rainer Maria Rilke“, S. 118.) Von einer „défaillance momentanée du Narrateur“ spricht hingegen Calin, La Vie retrouvée, S. 196. 152 Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 32. dann über Apfelbäume, Apfelgelee und Cidre und über allerlei anderes, alle reihum. Schließlich brechen Dumontet und „elle“ auf, nicht ohne dass dieser den Erzähler in ferner Zukunft zum Angeln einläd. Der Erzähler und „il“ bleiben zurück, letzterer wirkt erschöpft wie der Er‐ zähler kürzlich im Museum. Er ist nicht mehr der Alte von vordem, denn der Erzähler nimmt in seinen Worten weder das gewohnte Tasten nach der sensiblen Stelle des Gegenübers noch die Schwingungen von früher wahr. Jetzt spricht „il“ über sein Altern, über die Versorgung der Tochter und den zukünftigen Schwie‐ gersohn. Der Erzähler stimmt ihm verständnisvoll zu, wenn auch mit einem Anflug von Unwohlsein. Aber die mechanisch abgespulten Worte des Alten be‐ sänftigen auch ihn: er sieht sich selbst auf gutem Weg, die klatschsüchtigen Frauen werden ihm fortan ohne Argwohn begegnen und von „il“ weiterhin als von einem Egoisten und Geizhals reden, und er wird ihnen zustimmen … Alles wird sich allmählich beruhigen und die gelöste Heiterkeit des Todes annehmen. Die Dinge werden sich geben. Nur noch ein Schritt ist zu tun … Das Ende von Portrait d’un inconnu ist oft im Sinne eines Scheiterns des Er‐ zählers wie auch des Romans im Ganzen interpretiert worden. So hat Micheline Tison Braun vom „double échec“ des Erzählers als Mensch wie als Schriftsteller gesprochen 151 , und noch Valerie Minogue nennt Portrait d’un inconnu „the story of a failure“ 152 . Sartre hat in seinem frühen Vorwort gar vom „anti-roman“ ge‐ sprochen, freilich ohne direkten Bezug auf das Ende. Solche Deutungen gehen von der Vorstellung des traditionellen Romans mit traditionellem Personal und traditioneller Intrige aus, auch wenn man sich durchweg einig ist, dass im Zentrum von Portrait d’un inconnu ein schöpferischer Vorgang steht. Wie ist nun das letzte Kapitel und mit ihm das Ende von Portrait d’un inconnu im hier aufgezeigten Zusammenhang des dichterischen Enthusiasmus zu verstehen? Welches Ende wäre für eine Ansammlung von Tropismen dichterischer und anderer Art überhaupt denkbar gewesen? Eine schlichte Fortsetzung, nun unter Einschluss der Tropismen des neu aufgetretenen Verlobten von „elle“, konnte es jedenfalls nicht sein. Denn nach Sarrautes Überzeugung ist der Charakter 7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität 395 153 Vgl. seine Selbstcharakteristik: „Oh! moi, vous savez, je n’aime pas traîner. Sitôt dit, sitôt fait.“(S. 172) 154 Siehe dazu das Interview mit Knapp: „Pour pouvoir les [tropismes] remarquer, il faut être très sensible. Les hommes d’action sont équilibrés et ne s’arrêtent pas à ces choses-là. Il les éprouvent, mais les refoulent.“ (S. 286) 155 Etwa: „Quelque chose a glissé, je l’ai senti, quelque chose a passé, à peine une faible lueur, un crépitement à peine perceptible … elle a regardé le vieux … quelque chose en elle a vacillée … la voix du vieux est légèrement enrouéee […]“ (S. 168) Oder: „Toute frétillante, toute arrondie, gonflée - comme un oiselet apprivoisé qui s’ébroue genti‐ ment au bord de son petit bain de métal, et secoue ses plumes ébouriffées … À l’abri enfin. En sûreté.“ (S. 169) „Le vieux a l’air de s’agiter faiblement, de gigoter doucement sur sa banquette […] Il me semble percevoir chez elle aussi comme un trémoussement léger.“ (S. 170) Dumontets nicht für Tropismen geeignet, weil er als ein Mann der Tat 153 sie zwar wahrnimmt, sich aber nicht auf sie einlässt, sondern sie verdrängt 154 . Und das nicht nur bei sich, sondern auch bei den Anderen, deren entsprechende Re‐ gungen er förmlich niederwalzt: Pas un souffle. Pas un frémissement. Il n’y a rien eu. Je n’ai rien dit. Dumontet: son regard de Méduse. Tout se pétrifie. (S. 169) Das gilt nicht nur für die tropistischen Regungen von „il“ und „elle“, die der Erzähler in Ansätzen durchaus noch wahrnimmt 155 , sondern auch für dessen eigene Tropismen: Il me prend à témoin en riant: „Ah! les femmes, hein, c’est bien ça …“ Tous les tré‐ moussements, tous les tapotements ont disparu comme par enchantement: en moi les petites bêtes effarouchées, les petites couleuvres rapides s’enfuient; je hoche la tête, amusé, je ris. (S. 171) so dass er am Ende festellen muss: Plus un bruit. Plus un crépitement. Pas la plus brève étincelle entre eux, ni d’eux à moi. Pas le plus léger courant. Dumontet nous a bien en main. Il nous mène avec sûreté. (S. 172) Deshalb ist davon auszugehen, dass die Figur Dumontets eingeführt wurde, um ein Ende der Tropismen auf der Personenebene plausibel zu machen. Diese Ent‐ scheidung hat ein Pendant auf der übergeordneten Ebene des Tropismen such‐ enden Erzählers. Die vom Erzähler selbst gewählte Aufgabe der Tropismendarstellung setzt mit seinem nicht besonders geglückten Versuch ein, die Reaktion seines mög‐ lichen Publikums zu erfahren. Nach konkreten Gestaltungsversuchen kommen ihm bald neuerliche Zweifel am Konzept. Darauf holt er medizinischen Rat ein, Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 396 156 Vgl. I. Schwamborn-Kuske, Nathalie Sarraute, Portrait d’un inconnu (Literatur im Dia‐ log. 6), München 1975, S. 26: „Nach geglücktem Experiment tritt er [der Erzähler] wieder als ‚normaler‘ Mensch auf […].“ Und S. 27: Vater und Tochter haben „nichts Aufregendes oder Angriffslustiges mehr an sich, sie sind alltäglich geworden; der Erzähler […] voll‐ zieht damit das zum alltäglichen Leben notwendige Zurückfallen in ein vorspeziali‐ siertes Stadium.“ was ihn schließlich zu einer Reise und der schicksalhaften Begegnung mit einem anregenden Bild führt, durch das er (wieder) in den Zustand des Enthusiasmus versetzt wird. Es folgt die Entfesselung seiner schöpferischen Phantasie in meh‐ reren Schritten und verschiedenen Situationen, deren letzte, die wiederholte Vater-Tochter-Szene, zugleich der Höhepunkt des Romans ist. Nach dieser Leis‐ tung ist die Phantasie des Erzählers offensichtlich so erschöpft, dass er sich nur noch theoretisch äußert. Durch die Realität der Verlobung und den Charakter Dumontets entgleitet ihm bei einem späteren Wiedersehen mit „il“ und „elle“ der „autre aspect“ ihrer Wirklichkeit völlig und er fällt in den Normalzustand der Nicht-Inspiriertheit zurück 156 , ein Zustand, der für einen dichterischen Cha‐ rakter, wie er es ist, gleichbedeutend mit dem Tod ist: Tout s’apaisera peu à peu. Le monde prendra un aspect lisse et net, purifié. Tout juste cet air de sereine pureté que prennent toujours, dit-on, les visages des gens après leur mort. (S. 175) Die Todesmetaphorik dieser Sätze korrespondiert seiner Feststellung über den leblosen Zustand der Umgebung am Anfang des Geschehens, als er noch wie ein Gemütskranker um den enthusiastischen Zustand rang: […] tout a l’air mort. Toutes les maisons, les rues, même l’air, lui [Octave] paraissent morts: „On sent partout des enfances mortes. Aucun souvenir d’enfance ici. Personne n’en a. Ils se flétrissent à peine formés et meurent. Ils ne parviennent pas à s’accrocher à ces troittoirs, à ces façades sans vie. Et les gens, les femmes et les vieillards, immobiles sur les bancs, ont l’air de se décomposer.“ (S. 48) Damit schließt sich der Kreislauf des „autre aspect“ oder des ‚anderen Zustands‘, der in seiner beklagenswerten Kürze, seiner schöpferischen Hochgestimmtheit und der darauf folgenden Depression von Baudelaire so hellsichtig beschrieben worden ist. Baudelaire hat den ‚Normalzustand‘ zwar nicht als ‚Tod‘ bezeichnet, sondern als „habitacle de fange“, das er der „béatitude“ des „état exceptionnel de l’esprit et des sens, que je puis sans exagération appeler paradisiaque“ gegen‐ überstellte. Dennoch schwenkt Sarraute mit ihrem Schluss unübersehbar auf Baudelaires Vorstellung vom dichterischen Enthusiasmus ein, die ihr auch per‐ 7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität 397 157 Rilke dagegen hatte, nach dem was man weiß, kein vergleichbares Problem mit der dichterischen Inspiration. 158 Darauf hat A. J. Clayton aufmerksam gemacht, „Nathalie Sarraute et Rainer Maria Rilke: une course de relais jamais interrompue“, Revue des Lettres modernes, Paris, Nr. 1133-1141 / 1993, S. 67-92. sönlich vertraut gewesen sein muss 157 . Ihr letzter Satz „Juste encore un pas de plus à franchir.“ ist zudem poetischer Natur, denn er spielt mit dem Ende sowohl von Dichtung wie von Leben und lässt offen, ob der Erzähler den Schritt zum Dichtungsende tun wird. 8. Resümee Für den Ich-Erzähler, der in Portrait d’un inconnu die Tropismen des „père avare“ und der „fille fragile et dépendante“ aufspürt, hat Nathalie Sarraute Rilkes Auf‐ zeichnungen des Malte Laurids Brigge und, in noch stärkerem Maße, Baudelaires Überlegungen zum Dichter und zum Akt des Dichtens vor Augen gehabt. Ihr Erzähler ist unübersehbar eine Weiterentwicklung von Baudelaires „homme sensible moderne“, der sich dank seiner besonderen Begabung nun dem schwie‐ rigen Bereich der tropistischen Gemütsregungen zugewandt hat, die unter‐ gründig die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Nach mühsamen Anfängen ist er bereit zur Reise in das Baudelairesche Land der Phantasie, wo er in der Begegnung mit dem „Porträt des Unbekannten“ eine Vorstellung von der künstlerischen Umsetzbarkeit seines Gegenstands gewinnt und darüber zu seiner enthusiastischen Begeisterung zurückfindet, die fortan nicht mehr den ‚poetischen Dingen‘, sondern den Tropismen gilt. Nach diesem ästhetischen Er‐ weckungserlebnis gerät er in einen Schaffensrausch, in dem seine Phantasie das gewählte Thema in vielfältigen Situationen des Alltags ausbreitet, wobei Sar‐ raute wesentliche Komponenten des Schaffensaktes, darunter den dichterischen Einfall und die Empathie, als tropistische Vorgänge darstellt. Auch die Außenseiterrolle, in die moderne Dichter aufgrund ihrer Sensibilität und Phantasie zu geraten pflegen, hat Sarraute mit Worten und Vorstellungen wiedergegeben, die sie bei Rilke und Baudelaire gefunden hat 158 . Als der Erzähler von Portrait d’un inconnu sich nach dem Besuch beim Psychiater in die Norma‐ lität zurückgekehrt glaubt, blickt er auf seinen früheren Zustand zurück und auf das, was die Anderen ihm angetan haben: „Ils sont venus et ils ont goûté à mon plat … ils ont craché dans mon écuelle … profané ma nourriture … souillé l’eau de ma source …“ (S. 80) Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 398 159 Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 585. Konkrete Vorlage für die Steinwürfe ist die Biographie Cézannes; siehe den Kommentar z. St. (Werke, Bd. 3, S. 983). 160 Antoine Adam (Les Fleurs du mal, S. 265) weist zu V. 33 f. auf Ps. 102, 9 f. hin: „Tout le jour mes adversaires m’outragent. Mes ennemies furieux furent ma ruine. Je mange la cendre comme du pain, et je mêle des larmes à mon breuvage.“ Bei Rilke heißt es im 53. Stück der Aufzeichnungen über den Künstler und Ein‐ samen, der auf dem Weg zu seiner Heiligung und zu Gott ist: […] Und wenn er sich nicht erschöpfen ließ und davonkam, so schrieen sie über das, was von ihm ausging, und nannten es häßlich und verdächtigten es. Und hörte er nicht darauf, so wurden sie deutlicher und aßen ihm sein Essen weg und atmeten ihm seine Luft aus und spieen in seine Armut, daß sie ihm widerwärtig würde. Sie brachten Verruf über ihn wie über einen Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er sich rascher entfernte. 159 Die Welt verachtet den Künstler und sein Werk und versucht, ihn mit ihren Zerstreuungen von seinem Weg abzubringen, wobei sie sich als letzten Mittels sogar des Ruhms bedient. Vorbild für Rilke waren zwei Verse aus dem Einlei‐ tungsgedicht Bénédiction der Fleurs du mal über den unverstandenen und von seiner nächsten Umgebung zurückgestoßenen Dichter: Tous ceux qu’il veut aimer l’observent avec crainte, Ou bien, s’enhardissant de sa tranquillité, Cherchent à qui saura lui tirer une plainte, Et font sur lui l’essai de leur férocité. Dans le pain et le vin destinés à sa bouche Ils mêlent de la cendre avec d’impurs crachats; Avec hypocrisie ils jettent ce qu’il touche, Et s’accusent d’avoir mis leurs pieds dans ses pas. (V. 29-36) Diejenigen, die Baudelaires Dichter lieben möchte, begegnen ihm mit Furcht oder sie peinigen ihn; sie besudeln und bespucken sein Brot und seinen Wein und meiden mit heuchlerischer Miene seine Nähe. Die poetische Ausdrucks‐ weise ist dem alten Testament nachempfunden 160 . Rilke hat davon den verächt‐ lichmachenden Akt des Speiens - „Ils mêlent de la cendre avec d’impurs cra‐ chats“ - übernommen, der die Geringschätzung und Verstoßung aus der Gemeinschaft versinnbildlicht, und ihn in seinem Sinne mit der Armut ver‐ bunden: „[sie] spieen in seine Armut“. Sarraute rückt das Speien gar ins Zentrum der Aussage - „ils ont craché dans mon écuelle“ - und verstärkt durch „profaner“ 8. Resümee 399 161 Siehe dazu Clayton, S. 78: „par la répétition du pronom sujet et par le choix des mots profaner et souiller, elle renchérit de manière sensible sur la tonalité biblique de l’ori‐ ginal“. Ohne den Baudelaireschen Hintergrund könnte der Ton aber auch märchenhaft sein. und „souiller“ wieder die biblische Konnotation 161 . Zudem macht sie die Äuße‐ rung als ein übernommenes Zitat kenntlich, das der Erzähler gern auf sich be‐ ziehe: […] je retrouvais une sorte de plaisir amer à répéter (les derniers soubresauts de l’or‐ gueil, sans doute) ces paroles qui me reviennent parfois, je ne sais trop d’où, et que j’aime, dans mes mauvais moments, m’appliquer à moi-même: „Ils sont venus et ils ont goûté à mon plat … ils ont craché dans mon écuelle … profané ma nourriture … souillé l’eau de ma source …“ In diese von Rilke und Baudelaire entlehnten Bilder fasst der Erzähler, als er sich auf seine poetische Reise begibt, die im ersten Kapitel erfahrene Missachtung und Zurückweisung durch die Anderen, die sein Bemühen um die Aufdeckung der Tropismen ablehnen und darin etwas Anstößiges glauben erkennen zu müssen: „quelque chose en moi de louche, à quoi ils savent obscurément qu’il ne faut pas participer“ (S. 42). Im Unterschied zum Bild des Dichters hat das Thema der Großstadt, das in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und in Baudelaires Tableaux pari‐ siens eine dominierende Rolle spielt, in Portrait d’un inconnu seine Bedeutung verloren. Die Großstadt und das Leben in ihr sind bei Sarraute zur Selbstver‐ ständlichkeit geworden. Ihre Straßen, die kleinen Grünanlagen mit ihrem ver‐ traut eintönigen Aussehen, die Museen oder die Cafés als Treffpunkt gehören zum Alltag und haben keine eigene poetische Wirkung, sondern verlangen die Verfremdung durch ein weiteres, ein künstlerisches Bild. Unmittelbar phanta‐ siefördernd ist allenfalls das auch in der Malerei zeitweise beliebte Motiv des Bahnhofs (Kap. VII ). Selbst die Stadt am Meer, die der Erzähler als Reiseziel aus‐ wählt, bedarf noch des Baudelaireschen Blicks auf sie. Und auch dann findet er bald wieder zu seinem Thema der im menschlichen Inneren verorteten Tro‐ pismen. Anders verhält es sich mit der Wiederkehr bestimmter formaler Elemente der Vorläufertexte, die jedoch auch im Zusammenhang mit dem tropistischen Ge‐ genstand zu sehen sind. Dazu gehört die Aufsplitterung der Darstellung in kurze, mehr evozierend-beschreibende als erzählende Textabschnitte, die, anders als man im gattungshistorischen Kontext annehmen könnte, nicht primär auf die Zerstörung der traditionellen Romanform zielt. Vielmehr ist sie zuallererst ein Produkt des Willens zur umfassenden Aufzeichnung des tropistischen Phäno‐ Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 400 162 Zur diesen sprachlichen Verfahren Sarrautes siehe die vorzügliche Aufsatzsammlung Nathalie Sarraute, du tropisme à la phrase, hrsg. von A. Fontvieille und Ph. Wahl, Lyon 2003. 163 Siehe dazu die kurze, aber prägnante Analyse dieses Erzählstils bei Minogue, Nathalie Sarraute and the War of the Words, S. 33 ff. und Sarrautes allgemeine Aussage in „Ce que je cherche à faire“: „[…] ces choses ténues ne se laissent pas enfermer dans des défini‐ tions, dans ces grosses désignations du langage déjà utilisé. Elles sont si fines qu’elles passent au travers de ces filets aux mailles trop larges. Il faut essayer de les capter autrement, il faut trouver des images, il faut trouver un rythme de la phrase, il faut trouver des coupures, pour que ce qui se dégage, par exemple, de la façon de prononcer certaines voyelles, passe dans l’écriture.“ (S. 45) Zu einfachen Bildern sowie der Ent‐ wicklung der Syntax seit Portrait d’un inconnu ebd., S. 36 und 38. menkomplexes und im Übrigen durchsetzt von allfälligen theoretischen Über‐ legungen der Autorin zum Problem. Soweit diese Form den Anteil des um seinen dichterischen Gegenstand ringenden Erzählers betrifft, entspricht sie zudem der Form von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die mit der Auflösung der narrativen Großform vorangegangen waren. Die diskursiven Vorgaben der Baudelaireschen Prosagedichte im Spleen de Paris haben dagegen wohl keinen unmittelbaren Einfluss auf Portraitd’un inconnu ausgeübt. Nahe steht dem Spleen de Paris aber die bilderreiche und stark rhythmisierte Prosa Sarrautes. Durch die Vermeidung von direkten Benennungen, von Be‐ griffen und Definitionen, die mit ihrer Klarheit die Aussage vereindeutigen würden, durch das Verfahren der tastenden sprachlichen Annäherung mittels Vielfachbenennungen, Wiederholungen und anderem 162 , vor allem aber durch einfache Bilder, die beim Leser vertraute Empfindungen wecken, und mäan‐ dernde, verschlungene oder abgebrochene Sätze hat sie, in Portrait d’un inconnu noch zaghaft, dann zunehmend kühner, das „innommé“ und „innommable“ der Tropismen und ihrer Suche zu vermitteln versucht 163 . So führt der sprachliche Ausdruck ihrer „mouvements intérieurs“ und „fugitifs“ auf seine Weise die „prose poétique“ der mannigfachen Seelenbewegungen und zumal der „soubre-sauts de la conscience“ des Spleen de Paris ganz neu und überraschend fort. Was die grundsätzliche Frage nach Roman oder Poesie in Sarrautes Erstling und in ihrem weiteren Werk betrifft, so ist zu sagen, dass Tropismen, auch wenn es sich bei ihnen um psychische Vorgänge handelt, deren Wiedergabe eine ly‐ rische sein kann, ihrer Natur nach stärker zu einer narrativen Darstellung neigen, da sie gern Ketten bilden mit einem auslösenden Impuls und einer oder mehreren tropistischen Reaktionen darauf. Die hier gemachten Beobachtungen zur Entstehung und Herkunft der in Portrait d’un inconnu geschilderten Vor‐ gänge belegen daher nicht mehr und nicht weniger als die Annäherung der 8. Resümee 401 164 Interview mit Bettina L. Knapp, Kentucky Romance Quarterly Bd. 14 / 1967, S. 289. narrativen Großform an die Lyrik und an maßgebliche Vertreter derselben, die Sarraute selbst formuliert hat: Je crois que le roman se rapproche de la poésie, que le roman doit transmettre un certain ordre de sensations, comme la poésie, et que, par conséquent, le lecteur doit éprouver ces sensations que créent le langage, le rythme, les images. 164 Auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Sarraute, Portrait d’un inconnu 402 1 So gibt Baudelaire in Un Mangeur d’opium, S. 456, De Quinceys „a peripatetic, or a walker of the streets“ (S. 157) wieder. IV. Zusammenfassung Dass man in der Großstadt in den dichterischen Enthusiasmus geraten könnte, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht vorstellbar. Zwar kannte man aus Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris (1781-1788) die Begeisterung des Flaneurs, der eine große Stadt durchstreift, und aus Thomas De Quinceys Con‐ fessions of an English Opium Eater (1821) die Freuden der Meditation, die ein „péripatéticien“ und „philosophe de la rue“ 1 in den Straßen Londons finden kann, aber dabei handelte es sich nicht um Vorgänge, die dichterisch genutzt wurden oder gar um entsprechende dichterische Programme. Das poetische Erlebnis der Großstadt ist erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt und begründet worden, als Charles Baudelaire in den spät- und nachromantischen Strömungen der Zeit den eigenen Standort suchte und um die Gegenwartsbezogenheit der Dichtung, ihre „modernité“, rang. Bei seinen Überlegungen setzte er sich ein‐ gehend mit dem dichterischen Enthusiasmus und den ekstatischen Zuständen auseinander, die das Naturerlebnis der romantischen Lyriker geprägt hatten, und machte sie zur Grundlage seiner neuen Großstadtdichtung. Baudelaire war tief beeindruckt vom Werk Edgar Allan Poes, das seit 1845 in Frankreich erschien, sowie von dessen Überzeugung, dass einziges Ziel der Dichtung die Schönheit sei. Die Betrachtung der Schönheit ruft nach Poe eine erhebende seelische Erregung („an elevating excitement of the Soul“) hervor, das „Poetic Sentiment“, das dem Menschen einen Blick auf jenseitiges Glück gewährt. Ausnahmezustände dieser Art - „états exceptionnels de l’esprit et des sens“ - gehörten zu Baudelaires anthropologischen Grundüberzeugungen. Im Poème du hachisch hat er geschildert, wie in einem solchen ekstatischen Zustand ein beliebiger Gegenstand, den der Mensch vor Augen hat - „le premier objet venu“ - zum „symbole parlant“ werden kann, das die ganze Tiefe und Fülle des Lebens offenbart. Aufgabe des Dichters ist es, solche Momente festzuhalten und dem Leser so die Erfahrung von Harmonie und Einheit des Universums zu ver‐ mitteln. Weitere Denkanstöße empfing Baudelaire von Poes Vorgängern, den englischen Autoren und empiristischen Literaturkritikern Coleridge und Wordsworth und ihren Äußerungen zur schöpferischen Phantasie („imagina‐ tion“), denen zufolge der Dichter die alltägliche, farb- und glanzlose Welt in ihrem ursprünglichen Licht erstrahlen lassen kann. Dies ist nicht ohne Einfluss auf Baudelaires bekannte Definition vom Genie als „enfance retrouvée à vo‐ lonté“ geblieben. Nimmt man noch den ‚modernen‘ Begriff eines menschlichen, melancholischen Schönen hinzu, das eine „part infernale“ haben kann und das darüber hinaus die Phantasie anregt, so sind die wesentlichen Ingredientien für das ekstatische Großstadterlebnis vereint, das Baudelaire in den 1850er Jahren in seinen Journaux intimes herausgearbeitet und schließlich in dem program‐ matischen Prosagedicht Les Foules (1861) vorgestellt hat. Eine Bestätigung und ein Musterbeispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt hat er im gleichen Jahr in dem Essay Le Peintre de la vie moderne über Constantin Guys geliefert. Schon früh hatte Baudelaire sich auch in Gedichten mit dem Thema der Großstadt befasst. Ein erster Versuch ist das Versgedicht Le Vin des chiffonniers, von dem es neun Fassungen gibt, die älteste erhaltene um 1848. Es führt die heroischen Phantasien betrunkener Lumpensammler vor, die diesen die Wirk‐ lichkeit erträglich machen, zeigt also eigentlich das Thema des Rausches, bei dem die Großstadt nur den pittoresken Hintergrund abgibt, und behält deshalb auch in der um die Tableaux parisiens erweiterten zweiten Auflage der Fleurs du mal seinen ursprünglichen Platz in der Abteilung Le Vin. Es folgen zwei Vers‐ gedichte (Le Crépuscule du matin, Le Crépuscule du soir), in denen eine naturly‐ rische Thematik in eine städtische Umgebung übertragen wird. Dabei stellt Baudelaire das menschliche Tun und Treiben in den Mittelpunkt, das in der Großstadt den naturgegebenen Rhythmus von Ruhe und Arbeit sprengt und dem lyrischen Ich Gelegenheit gibt, seine Empathie mit den Menschen und ihrer vielfältigen Mühsal zu zeigen. Die beiden Gedichte veröffentlicht er 1855 zu‐ sammen mit einem Brief, in dem er mit der romantischen Natur‚religion‘ ab‐ rechnet und ein Bekenntnis zu den von Menschenhand erbauten großen Städten ablegt. Angehängt sind zwei Prosastücke, in denen er die Gleichwertigkeit von Natur und Großstadt als poetischer Inspirationsquelle belegt. 1857 folgt im Vers‐ gedicht Paysage die Darstellung einer poetisch überhöhten Stadtlandschaft, in der er Anleihen bei der antiken Idylle macht, bevor es 1859 zu den beiden Fan‐ tômes parisiens übertitelten Gedichten kommt, die Victor Hugo gewidmet sind und die nach seinen Worten eine „nouvelle série“ eröffnen, womit offensichtlich das neue Konzept von Großstadtlyrik gemeint ist: Les Sept Vieillards und Les Petites Vieilles lassen sich in einer neuen, intensiven Weise auf die Menschen der Großstadt ein und auf die „pensée de tous les drames“, die sich dort abspielen. Zu dieser „Serie“ zählt noch das Gedicht Le Cygne, in dem die Großstadt selbst mit ihrer baulichen Veränderung die melancholische „rêverie“ und den dichte‐ rischen Enthusiasmus des Ichs auslöst und das mit seinen anschaulichen und IV. Zusammenfassung 404 verdichteten poetischen Bildern als eines der schönsten Gedichte Baudelaires gilt. Damit war für Baudelaire der Punkt erreicht, an dem das Großstadtthema in der Neuauflage der Fleurs du mal (1861) eine eigene Abteilung beanspruchen konnte, die „Tableaux parisiens“, in die er außer den genannten Gedichten sechs weitere aus der Erstauflage sowie sechs neue, insgesamt 18 Stücke, aufnahm. Eine Fortsetzung findet seine Großstadtdichtung in den Prosagedichten des Spleen de Paris, wo sich zu den „mouvements lyriques de l’âme“ und „ondulations de la rêverie“, den ekstatischen Zuständen im engeren Sinne, noch die „soubre‐ sauts de la conscience“, die Bewusstseinssprünge oder plötzlichen Erkenntnisse gesellen, die Baudelaire auch „fusées“ nennt. Diese Vielfalt des städtischen Le‐ bens und Erlebens erfordert, wie er bald erkennt, eine Vielfalt von Redeweisen („multitude de tons“), die nur die Prosa bietet. Daher gibt er Vers und Rhythmus als ausschließliche Mittel lyrischer Sprache auf und sucht nach anderen, dem „état exagéré de vitalité“ des Lyrikers angemessenen Ausdrucksmöglichkeiten, die er in einer „prose poétique“ findet. In ihr geben neben Apostrophe und Hy‐ perbel, die nicht nur eine rhetorische Figur, sondern eine Grundeinstellung des Dichters sei, ein „comique absolu“ und eine gesteigerte „bouffonnerie“ sowie vor allem die Ironie den Ton an. Auf der Grundlage dieser Überlegungen - und nicht als Abbild einer ‚prosaischen‘ Welt - werden Prosa und Prosagedicht im Spleen de Paris zur poetischen Norm von Baudelaires Großstadtdichtung. Obwohl es auch in Deutschland frühe Zeugnisse für die Faszination durch (fremde) Großstädte gibt, wurde die Großstadt dort in einem anderen sozio‐ ökonomischen und kulturellen Umfeld erst spät zum Thema der Dichtung. Rilke, der 1902 aus der Künstlerkolonie Worpswede nach Paris kam, um eine Mono‐ graphie über Rodin zu verfassen, erlebte die französische Hauptstadt lange Zeit ausschließlich als fremd und bedrückend, was sich in den Paris-Erlebnissen der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge als ‚Leiden an der Stadt‘ niederge‐ schlagen hat. Erst in der Begegnung mit dem Werk Baudelaires lernte Rilke es, die ‚realistische‘ Fülle und Wirklichkeit des Großstadtlebens anzunehmen und wiederzugeben. Doch tritt trotz einer ähnlichen Vertrautheit mit ekstatischen, „außerordentlichen“ Zuständen und dem gleichen Willen, sie dem Leser zu ver‐ mitteln, das ekstatische Erlebnis der Großstadt und ihrer Menschenmenge bei ihm zurück, auch weil er selbst das empathische Verhältnis zum Andern nicht nur als bereichernd, sondern vor allem als kräftezehrend und bedrohlich emp‐ fand. Zudem lag ihm mehr als an Großstadt-Impressionen und -Menschenbil‐ dern an dem „Daseinsentwurf “ seines Alter Egos Malte, den er mehr noch als nach Anregungen durch die nordischen Autoren Sigbjörn Obstfelder und Jens Peter Jacobsen nach dem Vorbild von Baudelaires „homme sensible moderne“ gestaltet und mit dessen dichterischen Eigenschaften ausgezeichnet hat. Dies IV. Zusammenfassung 405 sind neben einer regen produktiven Phantasie und der Fähigkeit, sich in einen Andern hineinversetzen zu können („entrer dans le personnage de chacun“) die tiefreichende künstlerische Wahrnehmungsfähigkeit, die Malte als „sehen lernen“ umschreibt: das intensive Betrachten eines Gegenstands, anfangs von Rilke als „schauen“, später sachlicher als „sehen“ bezeichnet, das eine Ekstase auslösen und in den Zustand des schöpferischen Enthusiasmus versetzen kann, wie Baudelaire es für das „symbole parlant“ beschrieben hatte. Auch die Kind‐ lichkeit des Dichters bzw. Künstlers und seine Liebesfähigkeit, die sein Ver‐ hältnis zur Welt meint, haben bei Baudelaire ihre Parallelen. Schließlich artiku‐ liert der Ästhetizist Rilke in der Auseinandersetzung mit Baudelaire und dessen Begriff vom Schönen in den Aufzeichnungen erstmals sein lebenslanges Problem des ‚argen Wirklichen‘. Und nicht zuletzt dürfte Baudelaire auch bei der Ent‐ scheidung für ein „Prosabuch“, das mit Prosagedichten und erzählenden Stücken auf der Grenze zwischen Lyrik und Roman angesiedelt ist, richtungweisend ge‐ wesen sein. Die Annäherung zwischen der Lyrik und der sich auflösenden narrativen Großform setzt sich in Nathalie Sarrautes Portrait d’un inconnu fort, in dem ausdrücklich auf Rilke und Baudelaire Bezug genommen wird. Nach ihren ‚ly‐ rischen‘ Anfängen in Tropismes suchte Sarraute nach einer Möglichkeit, die einzelnen „mouvements intérieurs“ zu längeren Folgen zusammenzufügen. Auf der Tropismenebene wählte sie dazu das Balzacsche Sujet der Vater-Tochter-Be‐ ziehung, auf der übergeordneten Ebene des Beobachters, der die Tropismen aufspürt, ein Ich, das sich mit Rilkes „traurigem Malte Laurids Brigge“ vergleicht und wie dieser Baudelaires Überlegungen zum Dichter und zum Akt des Dich‐ tens folgt. Dank seiner lyrischen Sensibilität hat sich dieses Erzähler-Ich dem schwierigen Bereich der tropistischen Gemütsregungen zugewandt, die unter‐ gründig die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen, wobei es zunächst nicht weniger mit der Ablehnung durch seine Umgebung als mit der eigenen Phantasie und seiner Wahrnehmung der Tropismen zu kämpfen hat. Endlich ist es bereit zu einer Reise in das Baudelairesche Land der Phantasie, wo es in der Begegnung mit dem „Porträt des Unbekannten“ eine Vorstellung von der künst‐ lerischen Umsetzbarkeit seines Gegenstands gewinnt. Darüber findet es zum Enthusiasmus zurück und gerät in einen wahren Schaffensrausch, in dem seine Phantasie das gewählte Thema in vielfältigen Situationen des Alltags ausbreitet, wobei die Autorin wesentliche Komponenten dieses Schaffensaktes, darunter den dichterischen Einfall und die Empathie, als tropistische Vorgänge in ihrem Sinne darstellt. Über den im menschlichen Inneren verorteten Tropismen ver‐ liert das Thema der Großstadt dabei verständlicherweise an Bedeutung. Hin‐ gegen führt der sprachliche Ausdruck der „mouvements intérieurs“ und „fugi‐ IV. Zusammenfassung 406 tifs“ in Portrait d’un inconnu auf überraschende Weise die „prose poétique“ der mannigfachen Seelenbewegungen und zumal der „soubresauts de la conscience“ des Spleen de Paris fort. Obwohl die Tropismen als psychische Vorgänge sich also einer lyrischen Wiedergabe nicht widersetzen, tendieren sie wegen ihres Antwortcharakters doch stärker zur narrativen Darstellung, weswegen Portrait d’un inconnu nicht zu Unrecht dem ‚nouveau roman‘ zugeordnet wird. So lässt sich an den Werken dreier Autoren, die einen scheinbar nur lockeren thematischen und gattungsmäßigen Zusammenhang haben, die literarische und ästhetische Entwicklung eines ganzen Jahrhunderts ablesen. IV. Zusammenfassung 407 V. Bibliographie 1. 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