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Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht

2018
978-3-8233-9188-3
Gunter Narr Verlag 
Jörg Roche
Gesine Schiewer

Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Emotionen. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver und Akos Doma, mit Gastbeiträgen von Que Du Luu, Francesco Micieli, Ilma Rakusa und Selim Özdogan.

Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) ISBN 978-3-8233-8188-4 www.narr.de Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Emotionen. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver und Akos Doma, mit Gastbeiträgen von Que Du Luu, Francesco Micieli, Ilma Rakusa und Selim Özdogan. Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver und Akos Doma S c h r e i b e n - L e s e n - L e r n e n - L e h r e n Emotionen-- Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht Schreiben - Lesen - Lernen - Lehren unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver und Akos Doma Die Erarbeitung dieses Bandes wurde aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung gefördert Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-8188-4 5 Inhalt I. Kl: eine Regieanweisung ins Buch (José F.A. Oliver / Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . 7 Literarisch schreiben (Que Du Luu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Aus: Hundert Tage mit meiner Grossmutter (Francesco Micieli) . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Emotionen-- drei Annäherungen, eine Vorbemerkung (José F.A. Oliver) . . . . . . . 53 Der Tod / (Fragmentarische) Gedanken zum literarischen Essay (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Emotionen (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Rosen und Feenbonbons (Ilma Rakusa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 III. Emotionen-- Religionen (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Freude und Angst (Akos Doma) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Auszüge aus einem Tour-Tagebuch (Selim Özdogan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Emotionen-- Natur (José F.A. Oliver) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs (Gesine Lenore Schiewer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 V. Vorstellungsrunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 7 Kl: eine Regieanweisung ins Buch I. Kl: eine Regieanweisung ins Buch José F.A. Oliver / Jörg Roche Das Lehr- und Lern-, Schreib- und Lese-Buch, das Sie in Ihren Händen halten, ist eine Publikation für Entdeckerinnen und Entdecker. Für Menschen, die Freude an der Sprache haben oder haben wollen (Nehmen Sie den zweiten Teil des vorangegangenen Satzes mindestens mit einem, wenn nicht gar mit zwei oder drei Augenzwinkern). Es ist aber auch ein Buch der literarischen Erkundungen. Nicht nur für diejenigen, die ihre Leidenschaft für die Sprache schon erleben. Es ist für all jene verfasst, die diese Lust auf Sprache bei anderen wecken wollen. Sich auf das Abenteuer Sprache einzulassen sollte einerseits eine Selbstverständlichkeit sein, andererseits ist es jedoch auch eine kontinuierlich herausfordernde Aufgabe. Es geht darum, Worte zu finden, diese miteinander zu verbinden und Sätze zu bilden, die einen Text ergeben. Die einen tun sich damit leichter, den anderen fällt es schwerer, sich auszudrücken. Geschweige denn, das zu Papier zu bringen, was erzählend oft direkter und damit vermeintlich leichter klingen mag. Beiden Charakteren ist jedoch sicherlich (bewusst oder unbewusst) eine Erkenntnis gemeinsam, dass sie nämlich die Notwendigkeit erahnen, sich mitteilen zu müssen. Oder um sie wissen. Letzten Endes ist dies eine Freiheit, um Mensch bleiben zu dürfen, zu können. Das macht Sprache und Sprachvermittlung so spannend und einzigartig. Wie viel Sprache bin ich? Wie viel Sprache trage ich nach außen? Wie viel Sprache(n) mehre ich in mir, indem ich in einen Dialog mit anderen trete? Dieses Buch öffnet Türen in die Wahrnehmung von Sprache und in die Auseinandersetzung um Sprache in Sprache. Erzählend, dichtend, klärend, nicht erklärend. Oft eigenwillig, niemals eigenbrötlerisch. Oft phantasiegeladen, niemals an den Haaren herbeigezogen. Manchmal direkt benennend, bisweilen in zärtlich-poetischer Annäherung an das, was zu sagen ist. Das liegt in der Natur der Texte, die hier vorliegen. Sie wurden allesamt von Literatinnen und Literaten geschrieben, die sich auf ihre jeweils sehr eigenständige Art und Weise mit der Sprache beschäftigen, um Literatur entstehen zu lassen. Das ist für die Leserin und den Leser dieser Veröffentlichung ganz bestimmt auch eine Herausforderung. Wir hoffen, eine schöne. Sprache schafft dort Sprache, wo sie ernst genommen wird. Selbst in und mit jenen Texten, bei denen es nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, was es zu entdecken gilt. Auch das kann eine Faszination erzeugen. Rätselhaftes im Raum stehen zu lassen ist der erste Schritt hin zur Poesie und dahin, diese zu begreifen. Indem sie angenommen wird als das, was sie ist. Eine andere, individuelle, äußerst eigene und eigenwillige Sicht auf die Dinge, die Verhältnisse, das Leben. Man kann sich einem Klang hingeben, einer schönen Formulierung anvertrauen-- oder einfach nur über eine Textstelle stolpern und hängenbleiben. Hoffentlich auch das! 8 I. Nichts in Sprache ist selbstverständlich. Wir haben sie, um damit umzugehen: zu sprechen, uns mitzuteilen, Dinge zu benennen, aber auch, um das zum Ausdruck zu bringen, was wir nur bedingt oder überhaupt nicht sagen können. All das ist Teil unserer Sprache und unseres Sprechvermögens. Wir führen vielfache Dialoge. Mit uns selber. Mit anderen. Mit den Dingen, denen wir einen Namen geben. Manchmal sind sie nachvollziehbar, manchmal scheinen sie ver: rückt. Konkrete Schreibanlässe führen zu konkreten Schreibversuchen. Diese wiederum zu hoffentlich konkreten Ergebnissen in W: orten, die auf das Eigene verweisen, um das Andere zu begreifen. Dabei ist „Ergebnis“ nicht im h: ortenden Sinne einer Ausbeute zu verstehen, die nach Hause geschleppt werden kann, vielmehr liegt unsere Absicht darin, die Prozesse des Schreibens selber als Ergebnisse einer Erfahrung wahrzunehmen. Dieser Schatz ist bisweilen viel bedeutender. Neben den bis ins Detail Aufgaben entwerfenden Beiträgen von José F. A. Oliver, Akos Doma und Que Du Luu erfahren Sie in diesem Buch mehr als ausschließlich die Form der möglichen Textinterpretation und Textanalyse. Sie dürfen immer wieder zu Lesenden werden. Ohne dass eine explizite Aufgabe folgen würde. Auch das ist diese Textzusammenstellung: themenbezogen. Ein Lesebuch zu vielem, was unter „Emotionen“ zu begreifen wäre. Dementsprechend gibt es einige Essays oder Textauszüge, die sich dem weiten Bedeutungshof der Gefühlswelten stellen. Von den letzten Tagen mit der Großmutter, wie sie Francesco Micieli in Auszügen beschreibt, über den „Garten ihrer Kindheit“ aus der Feder von Ilma Rakusa bis hin zu Ausschnitten eines Tour-Tagebuches, das der Romancier Selim Özdogan veröffentlichte. Drei verschiedene Stimmen dreier ganz unterschiedlicher Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger; drei völlig selbständige Augenblicke großer Emotionen. Familie, Tod und Abschied bei Francesco Micieli, das kleine große Paradies der träumerischen Phantasie und ihrer blütenwärmenden Umsetzung bei Ilma Rakusa, und Momente des direkten Erlebens von Publikumsreaktionen bei den Lesungen von Selim Özdogan. Eine knappe wissenschaftliche Erörterung unseres Themas finden Sie am Ende des Buches. Vielleicht inspirieren diese Texte und Textfragmente dazu, eigene zu schreiben oder schreiben zu lassen. Über die Familie oder einen Menschen, den man verloren hat und liebte; über einen Garten, der einem Geborgenheit und Zuflucht schenkt(e); oder über eine Reise, in der Menschen auf einen reagieren, weil das und jenes geschieht. Nehmen Sie dieses Buch- - und auch die anderen dieser Reihe- - als Abenteuer, auch als Anregung, eigene Aufgaben zu entwickeln. Zur Umsetzung der Dialog-Didaktik im Unterricht Es ist ein spannend unsicheres Terrain, auf dem wir uns auch bei diesem Thema bewegen. Aber vielleicht beginnt auf diese Art und Weise eine transmoderne, nicht postmoderne „Didaktik des Dialoges“-- und damit vielleicht auch eine vielgestaltige Didaktik konkreter Utopien, die sich gleichzeitig im Sprechen und in Sprachen ein geheimnisvolles und ein sich offenbarendes Stelldichein geben. In jedem Klassenzimmer ist Sprache immer ein Plural. 9 Kl: eine Regieanweisung ins Buch Es geht in diesem Kompendium von Essays, Erfahrungsberichten, Erzählungen und Übungseinheiten um nichts weniger als um den Versuch, sehr unterschiedliche Stimmen einzuberufen. Fragmente eines Atlanten von Sprech- und Schreibvariationen in Deutschland. Stimmen, die deshalb deutschsprachige Perspektiven sind. Auch dort, wo die deutsche Sprache nicht als Patin zur Verfügung stand. Ein Schreiben und ein Darüber-Sprechen ins Offene einer Gesellschaft, die den interkulturellen Dialog mehr denn je braucht. Ein andersherkünftiger, poetischer Blick auf die deutsche Sprache, der Teil dieses Dialoges ist. Aber wir wollen uns erklären: Dieses Buch beschäftigt sich mit einigen Aspekten der Emotion(en) und verfolgt dabei beileibe nicht den Anspruch auf eine Vollständigkeit, die alles berücksichtigen müsste. Es will auch keine Lehre sein, sondern das Zwischenergebnis verschiedener Lebens- und Gedankenexperimente. Das Gegenteil einer „Lehre“ liegt hier vor. Das macht dieses Werk zur anregenden Interaktion. Denn auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind zur Mitarbeit aufgerufen. Ihr Beitrag ist mit den Ansprüchen an literarische Übersetzerinnen und Übersetzer vergleichbar. Lesen Sie, schauen und überprüfen Sie, was sich für die Realitäten Ihrer Klasse eignet, was sich in Ihr Klassenzimmer übersetzen lässt. Die herausfordernde Leistung besteht darin, die Vorschläge und konkreten Aufgaben, die sich in den Kulturen dieses Buches ergeben, in die Kulturen Ihres Klassenzimmers zu übersetzen. Wir glauben: eine nachdrückliche und aus diesem Grund auch eine sprachschöne Aufgabe. Sie gestalten diese Seiten aber auch insofern mit, als auch unsere Begegnung mit Ihrer Lust auf die Lektüre und die Arbeit mit diesem Buch Teil eines Dialoges mit Ihrer Entdeckerfreude ist. Vielleicht ist es ja auch eine Publikation, die irgendwann mit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, und durch Ihre Erfahrungen ergänzt werden kann und muss. Wir waren bemüht, die jeweiligen Ansätze der am Buch beteiligten Autorinnen und Autoren so zu belassen, wie sie das jeweils für sinnvoll erachtet haben. Ohne einzugreifen, um nicht jene Einheitlichkeit einer Didaktik zu befördern, die es realiter nicht gibt und die der Sprache nicht angemessen wäre. Lediglich die Aufgabenstellungen sind als solche hervorgehoben und bedürfen nur noch Ihrer Tätigkeit ins Übersetzen. Ebenso liegt es an Ihnen zu entscheiden, welche der Kapitel und Texte Sie (mit Ihren Schülerinnen und Schülern) auswählen und besprechen wollen. Eine vorgegebene Progression würde dem Dialog-Prinzip ebenso widersprechen wie die Einschränkung auf die reine Textrezeption. Die vielen Schulveranstaltungen (Lesungen, Workshops, Meisterklassen), aus denen dieser Band auch hervorgegangen ist, belegen gerade das kreative Potential junger Menschen, den Dialog selbst aktiv mitzugestalten. Hier noch ein paar Hinweise für Lehrkräfte, die das Lesebuch im Unterricht einsetzen wollen: Im Sinne des Dialogprinzips sind die Kapitel mit handlungs- und aufgabenorientierten Ansätzen der Didaktik verbunden, die das eigene entdeckende Schreiben der Schülerinnen und Schüler im Fokus haben. Gleichzeitig ist es auch ein Ziel, damit etwas mehr (und vor allem mehr als bisher) von den Autorinnen und Autoren des Chamisso-Preises und ihrer Literatur zu vermitteln. Aus den dargestellten Poetiken der Autorinnen und Autoren und auch aus ihren didaktischen Ansätzen, die sicher auch für Nicht-Lehrkräfte von Interesse sind, ergeben sich interessante Einblicke in ihre Strategien zum Schreiben, in ihr Handwerk, ihre 10 I. Motive und ihre Biografien. Das erhöht die Affinität zu curricularen Rahmenbedingungen, nicht nur des Deutschunterrichts (Genres, Epochen, Medialität, Autoren, Literaturgeschichte, Klassiker), sondern fächer- und schulartübergreifend zu anderen Gegenstandsbereichen, die in modernen Lehrplänen gerne als Lernbereiche ausgewiesen werden. Das können auch von Literatur entfernt erscheinende Lernbereiche wie Verkehrserziehung, Medien, Gesundheitserziehung, Familie, angewandte Sozialkunde etc. sein, die für die Schülerinnen und Schüler mit der Literatur dadurch verbunden sind, dass sie Relevanz haben. Diese Bezüge zu den Lehrplänen können wir im Einzelnen hier nicht ausführen, sie werden aber für die Lehrkräfte der betreffenden Fächer schnell und leicht evident sein. Zu den Lernzielen gehören demnach unter anderem die folgenden: ▶ Dialogfähigkeit ▶ fächerübergreifendes Lernen und Denken ▶ Sprachsensibilisierung und Sprachmotivierung (sprachmotiviertes Handeln) ▶ Mehrsprachigkeit als Sprachsensibilisierung ▶ Wert- und Relevanzschätzung von Kunst und ästhetischer Bildung ▶ kritische Kompetenzen im Sinne von qualifizierten Wertungen, Relevanzbewertungen, Reflexion, politischer Mündigkeit ▶ Handlungsorientierung ▶ poetologische Kompetenzen ▶ interkulturelle Kompetenzen im Sinne der Übersetzung in unterschiedliche Sprache und der Sensibilisierung für Differenz und Transdifferenz. Für die Umsetzung stehen zusätzlich eine Reihe von Ressourcen zur Verfügung, die in aktualisierter Form über die Internet-Seiten der Robert Bosch Stiftung, des Internationalen Forschungszentrums Chamisso an der LMU München, des Stuttgarter Literaturhauses oder der Chamisso-Tage an der Ruhr abgerufen werden können. Dazu gehören: ▶ Interviews mit Autorinnen und Autoren, Laudationes ▶ Mitschnitte von Lesungen und Werkstätten ▶ Unterrichtsmitschnitte z. B. von den Poetikdozenturen ▶ Informationen zur Poetologie der Autorinnen und Autoren ▶ Zeittafel, Biografien, Links, Literaturangaben ▶ Links zur Virtuellen Bibliothek Chamisso-Literatur (im Aufbau) ▶ Übersetzungen ▶ Materialbände zu anderen Themenschwerpunkten ▶ Angebote zur Förderung von Schulveranstaltungen (Werkstätten, Meisterklassen, Lesungen, Workshops). Abschließend danken wir an dieser Stelle der Robert Bosch Stiftung für die weitsichtige und großzügige Förderung der zahlreichen Schulveranstaltungen und Lesefeste, der Poetikdozenturen am IFC der LMU München und auch des Zustandekommens dieses Bandes. 13 Literarisch schreiben Literarisch schreiben Que Du Luu Warum überhaupt literarisch schreiben? Letztens wurde ich gefragt, warum ich literarisches Schreiben unterrichte. Ich hatte mich das vorher schon mehrmals selbst gefragt. Kann jemand wie ich, die rein intuitiv schreibt, überhaupt Schreiben „lehren“? Bei mir ist der Anfangssatz der Urknall, aus dem alles herausfließt. Ich weiß nicht, wie man sich eine Geschichte „erarbeitet“, wie man Figuren entwickelt. Die Figuren tauchen einfach auf. Am Anfang habe ich keine Ahnung, wohin sich eine Geschichte entwickeln wird. Ich habe keine Tricks auf Lager, kein As im Ärmel. Ich kann nicht sagen, woher die Inspiration letztendlich kommt. In den letzten Jahren sind viele Bücher zum Schreiben erschienen, in denen einem weisgemacht wird, dass jeder, der sich an bestimmte Regeln hält, gute Geschichten schreiben kann. Es wird gepredigt, man brauche zum Schreiben Disziplin. Aber auch damit kann man das Besondere nicht erzwingen. Disziplin ist auch nicht das richtige Wort dafür, vom Schreiben getrieben zu sein. Man ist immer noch auf den Funken von außen angewiesen. Daher liegt es nie am Unterricht, ob gute oder weniger gute Geschichten entstehen. Man kann nur kitzeln und warten, ob etwas dabei rauskommt. Dennoch finde ich Schreibkurse sinnvoll. Es geht gar nicht darum, das Schreiben zu lernen, sondern ins Schreiben hineinzufinden. Es geht darum, sich überhaupt eine Zeitlang darauf einzulassen-- und sich andere Gedanken über Literatur zu machen als im normalen Deutschunterricht (oder im normalen Germanistikstudium). Am Anfang bedarf es großer Überwindung, überhaupt mit dem literarischen Schreiben anzufangen. Es ist hilfreich, Vorgaben zu erhalten, Zeitlimits gesetzt zu bekommen und auch über manche Themen im Vorfeld zu diskutieren. Was für einen Sinn aber macht es überhaupt, Geschichten zu schreiben? Bereitet das literarische Schreiben auf den Arbeitsmarkt vor? Die meisten Schülerinnen und Schüler werden später wohl nicht als Autorinnen oder Autoren ihr Geld verdienen. Allerdings werden auch nur wenige als Mathematiker oder Berufssportler arbeiten. Sprache ist wichtig, um das Denken zu ordnen und zu verfeinern. Normalerweise wird mit Schreiben etwas Mühseliges verbunden, wozu man in der Schule gezwungen wird. Auch beim kreativen Schreiben erlebe ich, dass Schülerinnen und Schüler bei jeder Schreibaufgabe erst einmal reflexartig aufstöhnen. Danach sind sie aber eifrig am Schreiben und haben sichtlich Freude daran. Das ist bereits eine gute Erfahrung: Dass Schreiben auch Spaß machen kann und nicht nur lästige Pflicht ist. Berufsausbildung und Studium bestehen später zum großen Teil darin, Sachtexte zu schreiben. Aber auch die können zum Teil anschaulicher und spannender dargestellt werden. Und für Schülerinnen und Schüler, die sich später in irgendeiner Form der Literaturwissenschaft zuwenden, ist es bereichernd, den Schreibprozess schon einmal selbst erlebt zu haben. 14 I. Man versteht Vorgänge besser, wenn man sie schon selber erlebt hat, anstatt nur zu theoretisieren. Wer selber bereits Geschichten geschrieben hat, wird Literatur anders wahrnehmen als durch reine Interpretationen und Analysen. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Hausarbeit in der Literaturwissenschaft. Ich untersuchte Franz Kafkas Erzählung Das Urteil. In seinem Tagebuch schreibt Kafka, die Geschichte sei „wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim aus mir herausgekommen“, und berichtet, dass er die Erzählung in einer Nacht herunterschrieben habe und nachher erschöpft und glücklich war. Konkret schrieb er: „Diese Geschichte ‚Das Urteil‘ hab ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben.“ Die Dozentin bezweifelte, dass man eine so lange Erzählung in einer Nacht schreiben könne. Sie unterstellte, dass er dies nur behaupte, um ein bestimmtes Bild von sich zu schaffen. Seitdem ich selbst schreibe, sehe ich literarische Texte anders und beurteile sie auch anders. Ich nehme die Schönheit (und Hässlichkeit) von Wörtern viel intensiver wahr, mir fallen Formulierungen auf, die vorher unbemerkt an mir vorbeigezogen sind, ich sehe tiefer in die Literatur hinein. Ich weiß, dass viele Autorinnen und Autoren in ihren Romanen die Symbolik nicht zum Entschlüsseln anlegen, sie ergibt sich oft einfach beim Schreiben. Und ich weiß, dass man eine lange Erzählung in einer einzigen Nacht herunterschreiben kann. Literarisches Schreiben hilft auch dabei, aufmerksamer im Alltag zu sein, das Besondere im Normalen zu entdecken und sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Dinge, die man als selbstverständlich hinnimmt, zu hinterfragen-- und durch noch nie Gedachtes die Welt zu verändern: „Ohne Vorstellung keine Veränderung.“ (Ray Bradbury: Zen in der Kunst des Schreibens) Ich werde Emotionen vor allem unter den Aspekt der Kommunikation behandeln, weil es in der Literatur immer um Kommunikation geht, auch wenn ich die Geschichten erst einmal nur für mich schreibe. In der Literatur gibt es immer einen Sender und einen Empfänger. Als Autor ist man der Sender. Wir wollen, dass andere das mitfühlen, was wir ausdrücken. Und trotz aller Unterschiede klappt das auf der emotionalen Ebene, denn da gibt es immer noch Dinge, die uns alle gleich machen. Literatur handelt immer von Menschlichkeit (nicht im üblichen Sinne von Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, sondern von Menschlichkeit im neutralen, allgemeinen Sinne). Ich bin mir sicher, dass Kunst in allen Formen das Wahre in menschlichen Emotionen stärker begreifen lassen kann als es die Psychologie je könnte. Literatur ist deskriptiv und nicht präskriptiv-- ein Darstellen ohne ein Sollen, ein Erzählen ohne eine Kategorisierung in Schubladen. Wie ich vorgehe / Was ich bisher in Schreibwerkstätten für mich mitgenommen habe Wer bin ich? (Das Folgende richtet sich nur an Werkstättenleiterinnen und Werkstättenleiter, die die Schülerinnen und Schüler noch nicht kennen.) 15 Literarisch schreiben Da mir bei meinen Schreibwerkstätten die Schülerinnen und Schüler noch unbekannt sind, erzähle ich zunächst von mir selbst. Bei Veranstaltungen in Realschulen erwähne ich, dass ich bis zur zehnten Klasse ebenfalls auf die Realschule gegangen bin. Das erweckt sofort Interesse und baut Barrieren ab, weil die Schülerinnen und Schüler denken, dass man als Autorin selbstverständlich die ganze Zeit das Gymnasium besucht hat. Bei einem hohen Migrantenanteil erzähle ich mehr über Schwierigkeiten, die ich durch mein äußeres Erscheinungsbild in der Gesellschaft habe. Bei älteren Schülerinnen und Schülern berichte ich von meinen früheren Nebenjobs. Das Zwischenmenschliche finden sie oft interessant. Sie hören gespannt zu, wenn ich von meiner Zeit als Nachtwache in der Psychiatrie erzähle. Wenn ich keine Autorin wäre, würde ich den Schülerinnen und Schülern auch erklären, was mich dazu befähigt, einen Schreibkurs zu geben: Habe ich mich schon immer für Kreativität interessiert? Habe ich mich schon immer gefragt, warum im Kunstunterricht gemalt wird, im Deutschunterricht aber keine Geschichten geschrieben werden? Noch wichtiger als das Vorstellen der eigenen Person ist, dass sich anschließend jede Schülerin und jeder Schüler selbst kurz vorstellt. Jeder soll natürlich seinen Namen nennen und sein Lieblingsbuch (oder welche Art von Büchern er gerne liest). Je nach Anzahl der Schülerinnen und Schüler und nach dem zeitlichen Umfang der Schreibwerkstatt können sie gerne noch mehr über sich erzählen, zum Beispiel was sie interessiert und was sie von der Schreibwerkstatt erwarten. (Bei Schülerinnen und Schülern braucht man da keine Grenzen setzen, weil die meisten nicht so ausschweifend erzählen. Bei Werkstätten mit älteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern muss man ein Limit setzen.) Wenn jede, selbst die zurückhaltendste Person bereits ein paar Sätze gesagt hat, dann ist die Hürde nicht mehr so groß, später auch eigene Texte vorzulesen oder sich an den Diskussionen zu beteiligen. Zeitvorgaben Ich arbeite bei den Schreibübungen zunächst mit sehr kurzen Zeitvorgaben, denn wenn man viel Zeit hat, fängt man nie an. Das kennt man von sich selbst: Erst kurz vor Abgabe erfasst einen Torschlusspanik. Das selbstkritische Denken mit all seinen Bedenken („Nein, so kannst du nicht anfangen“, „Nein, so auch nicht“) setzt aus-- und man kann sich dem „ungehemmten“ Schreibfluss widmen, weil man etwas aufs Papier bringen muss, bevor die Zeit abgelaufen ist. Man braucht sich aber dann, wenn die Schülerinnen und Schüler bereits schreiben, nicht sklavisch an die kurze Zeitvorgabe zu halten. Ich habe oft zehn Minuten vorgegeben, und wenn ich gemerkt habe, dass die meisten noch eifrig am Schreiben waren, habe ich einfach die Zeit gedehnt, indem ich nicht nach zehn Minuten gesagt habe, dass die Zeit um ist, sondern erst nach 15 oder 20 Minuten so getan habe, als sei die Zeit vorbei. Das heißt, alle Zeitvorgaben sind nur eine Orientierung; die Zeit kann, wenn alle noch eifrig schreiben, natürlich verlängert werden. Hilfreich ist es für die Schreibenden, wenn ich sie zwischendurch an die Zeit erinnere, indem ich sage: „Die Hälfte der Zeit ist um.“ Oder: „Jetzt noch fünf Minuten.“ Etwas schwierig ist, dass natürlich nicht alle zeitgleich fertig werden. Manche haben ihre Geschichten schon nach kurzer Zeit beendet und warten, während andere noch lange nicht 16 I. zum Ende gekommen sind. Dann muss man einen Kompromiss finden und die wenigen Nachzügler doch etwas antreiben. Schließlich sollten alle, wenn die erste Geschichte vorgelesen wird, zuhören und nicht noch selber schreiben. Sollen alle vorlesen oder soll das Vorlesen freiwillig erfolgen? Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Früher vertrat ich die Meinung, das Vorlesen der Geschichten solle freiwillig erfolgen. Wenn man nämlich schon vor dem Schreiben weiß, dass die Geschichte später vorgelesen wird, steht man unter dem Druck, besonders gut schreiben zu müssen. Aber gerade das Vorhaben, besonders gut zu schreiben, führt zu schlechtem Schreiben. Man hat zuviel Angst davor, was andere von dem Ergebnis später halten könnten, man verkrampft. Dabei geht es beim Schreiben gerade darum, sich davon zu befreien, was andere von einem denken könnten: „Wenn wir schreiben, dann schreiben wir-- Sorgen, Unruhe, Grübeleien darüber, wie das, was wir schreiben, später aufgenommen wird, haben da nichts zu suchen.“ (Julia Cameron: Von der Kunst des Schreibens, S. 210) Allerdings melden sich manche Schülerinnen und Schüler nicht, obwohl sie gerne vorlesen möchten. Sie preschen nicht hervor, sie wollen nicht angeben. Wenn ich manche Personen (die sich nicht meldeten) bat, vorzulesen und sie gute Kritik von anderen erhielten, sah man ihnen die Freude an. Es gibt also keine klare Antwort. Oft schreibe ich bei den Aufgaben mit und lese dann als erste vor, damit die Schülerinnen und Schüler merken, dass eine Geschichte nicht genial sein muss, um vorgelesen zu werden. Stattdessen stellen sie überrascht fest, dass auch eine Autorin mittelmäßige Geschichten hervorbringt. Mir selbst kommen in Schreibwerkstätten nie wirklich gute Ideen, und die nachfolgenden Geschichten der Schülerinnen und Schüler waren bisher immer phantasievoller als meine eigenen. Rückmeldung zu den vorgelesenen Geschichten Wer vorliest, möchte auch eine Rückmeldung erhalten. Anfangs habe ich die Rückmeldungen eingeschränkt: Nur ich habe welche gegeben. Ich hatte Bedenken, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer Kritik zu harsch werden könnten. Es ist etwas anderes, für einen analytischen Text kritisiert zu werden als für einen literarischen. Auch wenn die Geschichten nicht autobiografisch sind, verletzt einen Kritik viel stärker. Von anderen Werkstätten für Erwachsene habe ich gehört, wie wüst sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenseitig kritisiert haben. Einmal berichtete mir jemand, dass er einen Schreibkurs besucht hatte und andere Teilnehmer ihm gesagt hätten, er solle einfach mit dem Schreiben aufhören. Woanders brüstet man sich damit, dass es in den Diskussionen „Mord und Totschlag“ gäbe. Ich finde, die Dramatik sollte in den Texten erfolgen und nicht außerhalb. Mittlerweile können bei mir auch die Schülerinnen und Schüler Rückmeldungen zu den Geschichten geben. Es ist bisher zu keinen drastischen Äußerungen gekommen. Die meisten Schülerinnen und Schüler äußern sich sachlich und wohlwollend. Ganz selten gibt es harte 17 Literarisch schreiben Rückmeldungen, in denen nur das Schlechte eines Textes betont wird (aber auch nur, wenn der Text objektiv wirklich sehr mager ausfällt). Diese Rückmeldungen kann man jedoch mit seiner eigenen Kritik relativieren, denn eine Rückmeldung der Werkstattleiterin oder des Werkstattleiters sollte-- unabhängig davon, ob die Schülerinnen und Schüler etwas zu den Geschichten der anderen sagen oder nicht-- auf jeden Fall nach jeder vorgelesenen Geschichte ausführlich erfolgen. Ein kurzes „Gut! “ reicht nicht aus. Jeder, der vorliest, möchte auch ein individuelles Feedback erhalten. Es ist mutig, seine Geschichte öffentlich vorzutragen, und das sollte auch belohnt werden. Ich schreibe mir beim Zuhören ein paar Details auf, die mir positiv auffallen, und auch Stellen, an denen ich Verbesserungsvorschläge habe (wenn manche Stellen detaillierter sein könnten, wenn die zeitliche Abfolge nicht stimmt, wenn mir etwas unglaubwürdig vorkommt oder wenn es innerhalb der Geschichte Widersprüche gibt). Dabei bin ich ehrlich und lobe keine Geschichte, wenn ich sie nicht wirklich gut finde. Aber an jeder Geschichte habe ich bisher auch schöne Details entdecken können und das dann auch kundgetan. Jedes Mal merke ich, wie aufmerksam und gespannt die Schülerinnen und Schüler dieser „professionellen“ Rückmeldung lauschen und wie viel sie sich daraus machen. Abwechslung In kurzen Schreibwerkstätten braucht man in der Methodik nicht viel Abwechslung. Als ich aber eine Werkstatt mit 20 Sitzungen hatte, gab mir der erfahrene Lehrer, der dabei saß, den Tipp, nicht immer nur mit Folien und Texten zu arbeiten, sondern auch andere Mittel anzuwenden. Einiges kann ich hier in dem Buch nicht vorschlagen, aus urheberrechtlichen und formalen Gründen. Es lohnt sich aber, zum Beispiel die ersten Minuten einer Filmszene zu zeigen und die Schülerinnen und Schüler aufzufordern, aufmerksam die Figuren, den Dialog und die Handlung zu verfolgen. In dem Film Besser geht’s nicht zum Beispiel geht es um einen von Zwangshandlungen getriebenen Schriftsteller. Am Anfang wird diese Eigenschaft schon deutlich- - und auch, dass niemand ihn mag. Die Nachbarin auf seiner Etage, noch voller guter Laune, will ihre Wohnung verlassen und einkaufen gehen. Kaum sieht sie ihn, verzieht sie das Gesicht und geht wieder hinein. Wenn möglich, lasse ich die Schülerinnen und Schüler etwas vorspielen. Wenn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sie in Aktion sehen, ist die Aufmerksamkeit groß. Man kann kurze Theaterszenen spielen lassen, um in ein Thema hineinzukommen und eine Diskussion in Gang zu setzen. Diskussionen / Gespräche Wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Meinung zu Dialogbeispielen, ersten Sätzen, Titeln etc. äußern, dann verfallen sie immer wieder ins Interpretieren und Analysieren wie im Deutschunterricht. Darum geht es aber in Gesprächen über Literatur nicht in erster Linie. Im Deutschunterricht wird Literatur oft dechiffriert, als sei sie ein Rätsel. Was meint der Autor mit dieser Metapher? Was soll dieses und jenes symbolisieren? Natürlich gibt es im Idealfall 18 I. mehrere Ebenen. Aber um Literatur zu durchdringen und stärker zu erleben, braucht man auch Diskussionen anderer Art: Warum fühle ich mit? Ist die Geschichte ein Erlebnis für mich? Leben die Figuren? Zeit Man kann nicht auf Knopfdruck schreiben und in kurzer Abfolge Geschichten produzieren. Man braucht zwischen dem Schreiben immer Luft. Es geht auch darum, Literatur in anderer Weise zu betrachten. Daher finde ich Diskussionen und das Sich-bewusst-Werden über manche Aspekte zwischendurch wichtig. Diese Überlegungen fließen später beim Schreiben mit ein, wenn auch unbewusst. Literarische Texte versus Sachtexte Auch wenn man sofort weiß, ob ein literarischer Text oder ein Sachtext vorliegt, ist den meisten Leserinnen und Lesern nicht bewusst, worin die Unterschiede liegen. Klar, Geschichten sind erfunden und Sachtexte sind-… nicht erfunden? Geschichten zu schreiben ist für die meisten ungewohnt. Selbst wenn man viel liest, ist man sich der Kriterien nicht unbedingt bewusst. Es ist auch etwas anderes, beim Kunstturnen zuzusehen als selbst zu turnen. Ein bisschen ist das aber wirklich wie beim Turnen: Man besitzt Muskeln, die nur lange Zeit nicht trainiert worden sind. Vielleicht mag das heute anders aussehen, aber ich habe während meiner Schulzeit nur in der Grundschule kreativ geschrieben. Danach wurde nur noch analysiert und interpretiert. In der Schule und an der Uni soll möglichst neutral und hochgestochen geschrieben werden. Dazu dienen auch viele Fremdwörter, die oft nicht notwendig sind. Fremdwörter enthalten kaum Konnotationen. Im Gegensatz zu der gewollten Mehrdeutigkeit in literarischen Texten sollen Sachtexte eindeutig und unemotional sein. In den Philosophieseminaren, die ich besucht habe, war es verpönt, sich metaphorisch auszudrücken, obwohl Philosophinnen und Philosophen sich gerne Gedanken über Metaphern machen. Im Gegensatz zu einem Sachtext gibt es in einer Geschichte: ▶ einen Anfang, ein Ende, eine Rundung ▶ Figuren ▶ Handlung, Bewegung ▶ Dynamik, eine Entwicklung ▶ die Sinne werden angesprochen: man sieht, man riecht, man fühlt, man hört ▶ oft auch Dialog ▶ oft Tragik und Komik ▶ Spannung im weitesten Sinne ▶ Emotionen: Die Figuren leiden, freuen, schämen sich, die Sprache darf emotional sein, Vergleiche und Metaphern sind vielschichtig. Literatur ist im besten Fall mehrdeutig. 19 Literarisch schreiben Wir lesen Erzählungen und Romane, um zu genießen und um emotional angesprochen zu werden. Wir lesen sie nicht vorrangig, um uns über etwas zu informieren. Die oben genannten Eigenschaften können dazu beitragen, das Lesen zu einem Genuss zu machen. Eine Geschichte ist rund, sie hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Es gibt eine Spannung im weitesten Sinne, man will erfahren, wie es weitergeht. Sie hat Figuren und eine Entwicklung, es gibt Handlung, es gibt sinnliche Darstellungen. Beim Lesen versetzt man sich in die Figuren hinein (beim Schreiben von Geschichten noch viel mehr). Die Unterschiede zwischen Sachtexten und Prosatexten werden durch einen direkten Vergleich zweier Texte zum selben Thema anschaulich. Lesen Sie beide Texte vor oder kopieren Sie die Texte-- und verteilen Sie sie an die Schülerinnen und Schüler. Sachtext: reine Information „Asiaten, die nur noch von ihrer äußeren Erscheinung Asiaten sind, von der Mentalität aber westlich geworden sind, weil sie zum Beispiel in Amerika oder Europa aufgewachsen sind, werden von anderen Asiaten herablassend als ‚Banane‘ bezeichnet.“ Romantext: Eine Menge großer Schüsseln standen auf dem Tisch. Ente, Rindfleisch, Nudeln, sogar Garnelen. Das war wohl extra ein Festessen für Onkel Wu. Ich stocherte mit der Gabel in meinen Nudeln und Onkel Wu fragte: „Wieso isst du mit einer Gabel? “ „Sie ist eine Banane“, sagte Bao verächtlich. „Sei nicht so frech! “, gab Onkel Wu zurück und fragte mich: „Kannst du nicht mit Stäbchen essen? “ „Doch das kann sie“, sagte mein Vater, „aber sie hat sich an die Gabel gewöhnt.“ „In Australien isst niemand im chinesischen Restaurant mit Messer und Gabel“, sagte Onkel Wu an mich gewandt. „Es sprechen auch alle besser Chinesisch als du.“ „Ich sag doch, sie ist eine Banane“, mischte sich Bao wieder ein. „Sie ist hier aufgewachsen“, gab mein Vater tonlos zurück. „Banane? Was soll das heißen? “, wollte ich wissen. Mein Vater sagte: „Das ist nicht wichtig.“ „Du weiß nicht, was eine Banane ist? “, fragte Onkel Wu ungläubig. „Sie ist außen gelb und innen weiß.“ Ich fühlte mich seltsam getroffen. Onkel Wu sah mich immer noch ungläubig an. Mein Vater sagte: „Das Essen wird kalt“, und Onkel Wu schüttelte sich kurz, als würde er aus einem Traum erwachen. Er nahm sich Reis. Mein Vater sagte, wir sollten langsam essen. Ling schlang alles in sich hinein und auch Bao aß viel, vor allem von den Garnelen. Wenn Onkel Wu ein deutscher Gast gewesen wäre, hätte er höflich gesagt: „Alles sehr lecker“, aber er verzog keine Miene. Nur einmal sagte er, das Rindfleisch sei salzig. (aus: Im Jahr des Affen, S. 74 / 75) 20 I. Einstiegsdiskussion ▶ Was ist der Unterschied zwischen Sachtexten und literarischen Texten? (Wenn Sie die beiden Texte verteilen, könnte die Frage lauten: Was unterscheiden diese beiden Texte? ) ▶ Warum liest man lieber Geschichten (Romane, Erzählungen etc.) als Sachtexte? Warum wird das eine oft als Vergnügen angesehen, das andere hingegen oft als anstrengend? (Unter anderem sollen bei der Diskussion die oben genannten Punkte genannt werden und noch einmal zur Verdeutlichung an die Tafel geschrieben werden.) Einstiegsschreibaufgaben Das Schwierigste ist, überhaupt anzufangen. Weil der sprachliche Ausdruck als Aushängeschild für Bildung und Klugheit gilt, beäugt man kritisch jedes Wort und kann seine Gedanken nicht fließen lassen. Als Schülerinnen und Schüler haben wir uns oft von Menschen beeindrucken lassen, die sich gestelzt ausdrücken konnten. Wir wollen auch beeindrucken. Das führt zu Künstlichkeit und Verkrampfung. Weil man Sorge hat, dass man selbst mit einer Figur in den geschriebenen Geschichten gleichgesetzt wird, ist es befreiend, aus der Sicht eines Tieres zu schreiben oder sich beim Schreiben auf ein Tier zu fokussieren. Eine Geschichte ist kein rein innerlicher, tagebuchähnlicher Eintrag. Um Bewegung und Handlung zu erreichen, gebe ich das Ergebnis in diesen Aufgaben vor. Die Geschichte zerfasert auch nicht, weil auf ein Ende zugeschrieben wird. Das Skurrile befreit davon, intellektuell und ernsthaft sein zu müssen. Schreibaufgabe ▶ Warum landete der grüne Frosch in dem Toaster? (Schreiben Sie die Vorgeschichte dazu) Erläuterung: Am Ende der Geschichte soll der Frosch im Toaster landen. Sie schreiben, was vorher passiert ist. Was dazu geführt hat. Am Ende könnte der Satz stehen: „Darum landete der grüne Frosch im Toaster.“ Der Satz kann, muss aber nicht am Ende stehen. Zeitvorgabe: Fünf Minuten (dehnbar auf zehn Minuten) 21 Literarisch schreiben Weitere mögliche Schreibaufgaben ▶ Warum fraß ausgerechnet ein Zebra Hildegards Blumenbeet leer? ▶ Zeitvorgabe: Zehn Minuten (dehnbar auf 15 Minuten) ▶ Warum schwamm die Ente Anna am liebsten in Leos Badewanne? ▶ Zeitvorgabe: jeweils zehn Minuten (dehnbar auf 15 Minuten) Das Clustering: Einfach anfangen Ich habe mit dem Clustering-Verfahren gute Erfahrungen gemacht. Mit dem Clustering wird nämlich sofort-- durch das Kernwort-- das erste Wort geschrieben, gefolgt von dem Cluster. Hand und Gedanken geraten durch das Clustering in Bewegung-- und das erleichtert den Start. Zum Vergleich: Jugendliche, die schreibkurserfahren waren, haben das Clustering weggelassen, weil sie gleich mit dem Schreiben anfangen wollten. Bei dieser Gruppe hat es viel länger gedauert, bis sie überhaupt anfing. Das Schreiben ging viel zäher voran, und die Geschichten klangen abgemühter und konstruierter. Beim letzten Schreibkurs mit Studentinnen und Studenten wurde wieder geclustert. Ich habe die Rückmeldung erhalten, dass das Clustering den Anfang wirklich erleichtert. Natürlich will man sich die „Arbeit“ des Clusterns lieber ersparen und gleich anfangen. Aber auf ein leeres Blatt zu starren und zu grübeln ist noch mehr Arbeit. Das Clustering ist ein Brainstorming-Verfahren ähnlich dem Mind Mapping und stammt von Gabriele L. Rico (Garantiert schreiben lernen). Es soll das bildliche Denken anregen und das kritische, analytische Denken etwas wegdrängen. Das bildliche, assoziative Denken soll durch die Umrandung der Wörter gestärkt werden, da man die Wörter dadurch als eine Art Bild sieht. Beim Clustering bildet man zunächst das Gedankennetz. 1. Es wird ein „Kernwort“ genannt, das auf einem leeren DIN -A4-Blatt in die Mitte der oberen Hälfte des Blattes geschrieben wird. 2. Das Wort wird umrandet. 3. Von dem Wort aus assoziiert man frei weiter. (Die assoziierten Wörter müssen nicht offensichtlich mit dem Kernwort zu tun haben.) 4. Man zieht jeweils einen Strich zu den weiteren Wörtern. 5. Auch von diesen Wörtern aus assoziiert man weiter und bildet Gedankenketten. 6. Ist die Gedankenkette zu Ende, kann man wieder vom Kernwort aus vorgehen, oder von anderen Wörtern innerhalb der Gedankenkette wieder einen neuen Gedankenstrang bilden. 7. Jedes Wort wird mit einem Kreis umrandet, und zu den anderen Wörtern wird immer ein Strich gezogen. 8. Fällt einem gerade nichts ein, wird „geduselt“. Das heißt, man umrandet weiter ein Wort oder zieht die Striche nach: Die Hand soll in Bewegung bleiben. 22 I. 9. Irgendwann hat man das Gefühl, dass das Cluster soweit fertig ist. 10. Man sieht sich das Cluster an und fängt in der unteren Seitenhälfte an zu schreiben. Dabei muss man nicht mit dem Kernwort anfangen. Man muss das Kernwort gar nicht in seinem Text verwenden. 11. Es müssen nicht alle Wörter aus dem Cluster verwendet werden. Man kann auch nur einige Wörter aus einem Nebenstrang nehmen. 12. Wenn man weiß, dass man am Schluss ist, schaut man noch einmal auf den Anfang des Textes und nimmt im letzten Satz in irgendeiner Weise Bezug auf den Anfang (inhaltlich, durch ein bestimmtes Wort etc.). So wird die Geschichte rund und wirkt nicht zerfasert. Vorgehen: Erklären Sie das Clustering-Verfahren. Frage ▶ Weiß jemand, was das englische Wort „Cluster“ bedeutet? Frage ▶ Was ist ein Brainstorming-Verfahren? Praktische Vermittlung des Clusterings: Schreiben Sie das Wort „Frau“ an die Tafel und umranden Sie es. Frage ▶ Was bedeutet das Wort, wenn man es analytisch betrachtet? … Mensch … weiblich … erwachsen Das sind gerade die Bedeutungen, die wir beim Clustering nicht herauskehren wollen. Es geht beim Clustern nicht um das streng Analytische, sondern um freie Assoziationen. 1. Veranschaulichen Sie das Clustering-Verfahren, indem Sie anhand des Kernwortes „Frau“ vorgehen (an der Tafel / auf dem Flipchart / auf dem Tageslichtprojektor). 23 Literarisch schreiben 2. Schreiben Sie auf, was Ihnen dabei gerade durch den Kopf geht. Schreiben Sie auch bewusst Wörter auf, die nicht offensichtlich in Beziehung zu dem Wort stehen. 3. Lassen Sie auch die Schüler mitmachen. Sie sollen Stichwörter einwerfen, die rein gar nichts mit dem Wort zu tun haben müssen, sondern sich vielleicht aus einer rein persönlichen Beziehung zu dem Wort ergeben. Zum Beispiel kann einem auch die Farbe „Blau“ zu dem Kernwort „Frau“ einfallen- - der Zusammenhang muss nicht klar sein (vielleicht erinnert man sich an ein Bild mit einer Frau im blauen Kleid). Oder es fällt jemandem „Kuchen“ ein, weil seine Mutter gerne Kuchen backt. 4. Umranden und verbinden Sie die Wörter (ein Wort kann zu einem ganz anderen Wort führen) mit Strichen, und wenn Sie kurz nicht weiterkommen, ziehen Sie die vorhandenen Striche und Kreise immer wieder nach, damit die Hand in Bewegung bleibt. 5. Wenn das Cluster soweit fertig ist, sehen Sie es sich an und erzählen aus dem Steggreif mündlich eine Geschichte. Da alles, was mit Kreativität zusammenhängt, nicht steuerbar ist und daher auch nicht zu sehr eingeengt werden sollte, plädiere ich dafür, dass beim anfänglichen Clustern das Kernwort nicht in der Geschichte vorkommen und auch nicht Thema sein muss. Es sollte anregen, aber wenn eine Geschichte in eine andere Richtung fließen will, soll man sie auch lassen-- und nicht etwas erzwingen, damit es ins Raster passt. Ich finde es wichtiger, dass gute Geschichten entstehen (das ist für den Schreibenden auch befriedigender). Ich empfehle, jede Schreibaufgabe zunächst mit dem Clustering-Verfahren anzufangen. Man kann das Cluster dann nachher verwenden oder nicht. Einstiegsübungen zum Clustering ▶ Mögliche Kernwörter: Glücksfall, Wettkampf, schlechte Nachricht, Befehl, Absage, Roulette, Abschluss, Unfall, Sommertag, Umschwung (oder überlegen Sie sich eigene Kernwörter) Details versus Zusammenfassung Vor und während meines Studiums hatte ich unterschiedliche Jobs. Ein Jahr lang habe ich als Nachtwache in der Psychiatrie gejobbt. In manchen Nächten ging es ziemlich turbulent zu, denn die Psychiatrie-Bewohner waren fast alle nachtaktiv. Als Nachtwache arbeitet man allein. Im Gegensatz zum Tagdienst hat man keine weiteren Kolleginnen oder Kollegen um sich. Ich habe dort sehr ungewöhnliche Situationen erlebt, die man im Alltag ansonsten nicht erlebt. Einmal warfen die Bewohner mit Blumentöpfen. Letztes Jahr saß ich in Südchina in einem kleineren Boot. Es war ein warmer sonniger Tag und ich war nicht weit vom Ufer entfernt. Ich saß am Rand. Weil das Boot flach gebaut war, war das Wasser ganz nah. Es war trüb, man konnte nicht wirklich hineinsehen. Das Boot wankte ein wenig und ich dachte: Was wäre, wenn es gleich kentert und du in das trübe Wasser fällst? Was haben diese Schilderungen alle gemein? 24 I. Wenn ich schreibe, die Psychiatrie-Bewohner hätten mit Blumentöpfen geworfen, klingt das nicht besonders aufregend. Wenn sich aber Leute damit bewerfen und man steht wirklich dazwischen, fühlt sich das dramatisch an. Es kann zu schlimmen Verletzungen führen, wenn man von einem Blumentopf getroffen wird. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Situation selbst erlebt hätte, sich sehr aufgeregt hätte. Wenn an diesem warmen Sommertag das Schiff gekentert wäre und ich hätte das einem Bekannten erzählt, hätte er das sicherlich genauso schulterzuckend zur Kenntnis genommen wie die fliegenden Blumentöpfe. Denn du kannst ja schwimmen, du hättest es ans nahe Ufer geschafft, das Wasser war nicht kalt, du wärst nicht erfroren. Das Kentern des Boots und mein Fall ins Wasser hätten niemanden berührt. Schließlich wäre ich ja nicht gerade auf stürmischer See ins Eiswasser gefallen. Für mich wäre es aber eine Katastrophe gewesen: In dieses trübe Wasser zu fallen, erst völlig einzutauchen und dann wieder an die Oberfläche kommen, mit nassem Gesicht, triefenden Haaren, das Schlammwasser, das immer weiter von den Haaren herunterläuft in die brennenden Augen. Die nasse Kleidung, die dich herunterzieht, das Gefühl, von diesem für dich gefühlt kaltem Wasser umgeben zu sein. Dein Handy, auch gleichzeitig deine Uhr, dein Fotoapparat, deine Daten-- alles hinüber. Das Hotel über Stunden entfernt. Außenstehende, die nicht selber an ihrer eigenen Haut diese Situationen erleben, fühlen nicht mit (bei den Blumentöpfen zuckte ein Bekannter nur desinteressiert mit den Schultern, das sei nicht aufregend). Wie gelingt es Autoren trotzdem, dass andere die Geschichte emotional miterleben? Wir alle haben schon einmal anderen Leuten von Situationen erzählt, in denen wir sehr aufgebracht waren. Vielleicht wurden wir ungerecht behandelt oder von jemandem heruntergemacht. Und wir haben alle schon erlebt, dass unsere Schilderungen andere nicht sonderlich berührt haben. Manche unserer Freunde waren vielleicht sogar gelangweilt. Dieses Problem hatte ich auch beim Schreiben meines dritten Romans. Nur stand ich diesmal auf der anderen Seite, der Seite des Zuhörers, der nicht wirklich mit den Erzählenden mitfühlt. Dabei waren die geschilderten Ereignisse dramatisch. Viel dramatischer als zwischen fliegenden Blumentöpfen zu stehen oder an einem Sommertag ins Wasser zu fallen. Es ging um den Verlust der Heimat, um Freiheit. Es ging um Leben und Tod. Meine Familie ist in den siebziger Jahren auf einem Fischerboot aus Vietnam geflohen. Ich selber habe keine Erinnerungen mehr daran. Als ich für meinen dritten Roman über die Kriegszeit, die Nachkriegszeit und die Flucht recherchierte, musste ich meine Eltern als Zeitzeugen befragen. Natürlich hat das Wiedererleben jahrzehntelang begrabener Erinnerungen starke Emotionsausbrüche bei ihnen hervorgerufen. Diese haben mich fast die Recherchen abbrechen lassen: das laute Geschrei meiner Mutter, das Gekichere meines Vaters. Aber das Erzählte an sich berührte mich seltsamerweise nicht (außer an einer Stelle, die ich aber nicht im Roman verarbeitet habe). Ein Teil des Berichtes über die Flucht klang etwa so: „Wir kamen mit dem Boot zuerst in Singapur an, wurden dort ausgefragt und kurz ins Gefängnis gesteckt. Dann mussten wir alle wieder auf das Schiff. Sie begleiteten uns mit Gewehren, damit niemand floh. Ein Ingenieur kam mit an Bord, kontrollierte die Maschine, ob alles funktionierte. 25 Literarisch schreiben Sie beluden das Schiff mit Wasser, Essen und Benzin (dafür mussten wir bezahlen) und gingen dann wieder vom Boot herunter. Sie schleppten uns mit einem kleineren Schiff wieder auf das Meer zurück und dann zeigten sie dort hin und meinten, dort gehe es nach Thailand und dann zeigten sie in eine andere Richtung, dort gehe es nach Malaysia. Dann schnitten sie das Seil durch und fuhren weg. Wir fuhren weiter, in der Nacht gab es einen schlimmen Sturm. Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne und wir sahen die Küste von Thailand.“ Es fehlten die Details. Trotz Nachfragen kamen keine Antworten dazu, was man empfunden hatte (Beim starken Sturm erzählte meine Mutter, hätte sie uns alle drei auf den Schoß genommen und gesagt, wir sterben, aber egal, wenigstens gehen wir alle zusammen unter. Diese Aussage habe ich aber im Roman nicht verarbeitet, weil diese Gedanken nicht zu Bao, dem Koch, passen). Es fehlte die Atmosphäre. Die Erzählungen hätten, wenn man sie eins zu eins aufgeschrieben hätte, schal geklungen. Diskussion ▶ Können Sie sich an Situationen erinnern, in denen andere etwas erzählt haben und man nicht mitgefühlt hat? Und umgekehrt? ▶ Wie aber kommt es, dass man beim Lesen von Büchern mit den Figuren mitfühlt? Clustern: Kernwort „Meer“ ▶ Nicht sofort nach dem Clustern mit dem Schreiben beginnen. ▶ Nach dem Cluster erst einmal den Stift zur Seite legen. Schreibaufgabe Sie sind eine Jugendliche oder ein Jugendlicher, die oder der allein mit zehn Fremden auf einem Boot flieht. Sie freuen sich, dass Sie an einer Küste ankommen, aber dort werden Sie verhaftet und ausgefragt. Jetzt müssen sie alle wieder auf das Boot. Sie wurden von Männern mit Gewehren auf Ihr Boot begleitet. Ihre Hoffnung ist dahin. Beschreiben Sie, wie Sie und die anderen Flüchtlinge von einem anderen Boot wieder vom sicheren Strand auf das offene Meer hinausgezogen werden. ▶ Beschreiben Sie die Szene aus der Ich-Perspektive und füllen Sie die Szene mit Details aus. Was fühlen Sie in dieser Situation? Was geht in Ihnen vor? Was nehmen Sie wahr? Beobachten Sie auch, was in den anderen vorgeht. Was sehen Sie in deren Gesichtern? In ihrer Körpersprache? Fangen Sie damit an: Sie gehen vom Strand aus zum Boot. ▶ Falls Sie keinen Anfang finden, sehen Sie auf das zuvor geschriebene Cluster. (Zeitvorgabe: 15 Minuten, dehnbar auf 25 Minuten) Vorschlag: Fangen Sie mit dem Satz an: „Der Sand knirschte unter meinen Füßen.“ 26 I. Ich habe die Schilderungen meiner Eltern im Roman so umgesetzt: „Du hast immer nur gekotzt. Aber wir haben alle gekotzt, nur der Kapitän und seine drei Helfer konnten essen. Es gab einen Herd oben auf dem Schiff, aber so einen großen Topf hätten wir nicht gebraucht für die paar Esser. Ich war innen schon ganz ausgetrocknet, obwohl ich versucht habe, viel zu trinken. Jedes Mal kam es aber doppelt wieder heraus. Dann erreichten wir endlich Singapur.“ „Thailand! “, sagte ich. „Wir kamen zuerst in Singapur an! “, sagte Bao gereizt. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mich gefreut habe! Es waren nur wenige Tage auf dem Meer gewesen, aber die waren so lang wie Monate, besonders die letzte Nacht. Es ruckelte und schwankte, so stark, dass wir manchmal schon fast auf der Seite lagen. Ich wollte beten, aber ich wusste nicht zu wem. Also betete ich zu meiner Mutter, als sei sie meine Schutzgöttin. Der Sturm hörte zum Glück am Morgen auf. Länger hätte das Schiff bestimmt nicht durchgehalten. Als wir Singapur sahen, dachten wir natürlich, wir seien gerettet. Aber wir wurden festgenommen und ausgefragt. Man sagte uns, wir dürften nicht bleiben. Sie haben das Schiff vollgetankt und uns Essen und Wasser auf das Schiff gebracht. Aber nicht als Geschenk, wir mussten alles bezahlen. Ich hatte kein Geld mehr, man hatte mich beklaut, aber das ist eine andere Geschichte. Als wir zurück zum Strand gebracht wurden, taten sich einige Männer von unserem Schiff zusammen und versuchten, die Singapurer doch noch umzustimmen. Sie sollten wenigstens die Kinder hier an Land gehen lassen. Dein Vater wurde besonders wütend. Er brüllte so laut, wie ich noch nie einen Menschen habe brüllen hören. Er schrie, das Boot würde keinen zweiten Sturm aushalten. Sie seien Barbaren, dass sie sogar die kleinen Kinder in den sicheren Tod schickten. Aber die Singapurer ließen nicht mit sich reden. Wir mussten alle wieder auf das Schiff. Bewacher mit Gewehren begleiteten uns, damit wir keinen Ärger machten. Ein Mechaniker kam mit auf unser Boot. Er schaute sich unseren Motor an, ob alles funktionierte. Die Singapurer wollten nur nicht, dass die anderen Staaten später auf sie zeigen und sagen: „Eigentlich habt ihr die Flüchtlinge getötet.“ Sie befestigten an unserem Schiff eine Leine, stiegen zusammen mit dem Mechaniker wieder herunter und schleppten uns mit einem kleineren Schiff zurück auf das Meer. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir durch den Kopf ging, als sie uns vom Land wegzogen. Es war so, als zögen sie uns langsam den Tod entgegen. Als wir kein Land mehr sahen, schnitten sie das Seil durch, und während sie ihre Arme erst in die eine, dann in die andere Richtung ausstreckten, riefen sie uns vom anderen Boot aus zu: „Da geht’s nach Thailand und dort nach Malaysia.“ Dann fuhren sie weg. Ich sah ihnen hinterher und fühlte mich so verlassen, dass ich weinen musste. Alle auf dem Schiff haben geweint. Du hast das nicht verstanden, und du hast deinen Vater gefragt, wieso alle so traurig sind. Er hat nicht geantwortet. Deine Worte waren auch die letzten, die ich an dem Tag hörte, denn danach sprach niemand mehr, selbst die Kinder quengelten nicht. Alle waren stumm und bewegten sich, als seien sie nur noch Schiffsgeister. 27 Literarisch schreiben Als wir von Vietnam wegfuhren, waren wir noch voller Hoffnung gewesen, auf amerikanische Schiffe zu treffen. Aber jetzt wussten wir: Es gab keine. (aus: Im Jahr des Affen, S. 212-214) Die Macht der Bilder Einstieg ▶ Wählen Sie eine Schülerin oder einen Schüler aus und gehen Sie mit ihr oder ihm kommentarlos vor die Tür. Draußen erklären Sie ihr oder ihm, dass sie oder er einmal „traurig“ spielen soll (durch Körperhaltung, Mimik). Haben die anderen Schülerinnen und Schüler das erraten, soll sie oder er dann „nervös“ vorspielen (auch das soll erraten werden). Sie oder er selbst bleibt dabei stumm und sagt nichts. Diskussion ▶ Woran hat man diese Emotionen erkannt? ▶ Hätte man diese Emotionen auch noch auf eine andere Weise zeigen können? Der Ausdruck von Emotionen: Abstraktes wird konkret Wenn ich an alle körperlichen Schmerzen in meinem Leben zurückdenke, bin ich mir sicher, dass die größten Schmerzen Bauchschmerzen gewesen waren. Als ich deswegen in die Notaufnahme ging, war die Schwester genervt und auch die Ärztin, die hinzukam (da ich keinen Blinddarmfortsatz mehr besaß, war es angeblich nur eine Magen-Darm-Grippe, nichts wofür man ins Krankenhaus müsste). Als ich letztens mit einem Hautausschlag wegen einer Medikamentenallergie in die Notaufnahme ging (mein Körper war mit Pusteln übersät), waren die Schwester und die diensthabende Ärztin (es war aber ein anderes Krankenhaus) sehr mitfühlend und wollten mich gleich stationär aufnehmen. Dabei hatte ich überhaupt keine Schmerzen, mir ging es gut, nur sah ich wie ein Streuselkuchen aus. Im ersten Fall hatte ich schlimme Schmerzen, aber man hat mir nichts angesehen (ich verziehe auch nicht das Gesicht, sondern lasse mir äußerlich nichts anmerken) und darum nicht mitgefühlt. Im zweiten Fall sah ich schlimm aus, hatte aber keine Schmerzen, und man hat sofort Mitgefühl gehabt und mich nicht verständnislos gefragt, was ich hier wolle. Hinrichtungen per Giftspritze sind nicht so schrecklich mitanzusehen wie Enthauptungen. Ich glaube nicht, dass Verwandte eines Opfers mit Genugtuung mitansehen wollen, wenn der 28 I. zum Tode Verurteilte enthauptet werden würde. Dabei führt beides zum selben Resultat: tot ist tot. Die emotionale Ebene ist eine andere. Etwas zu sehen und auch genau zu sehen (oder auf andere Weise genau übermittelt zu bekommen) ist für unser Mitempfinden wichtig. Einfach nur „Schmerzen“ zu haben, ist zu diffus und beliebig, es betrifft und berührt uns nicht. Oft erlebt man das Sichtbare, Mimik, Gestik, die Körpersprache viel intensiver als das Gesprochene. Es ist ausdruckstärker, persönlicher. Ich habe einmal eine Erzählung geschrieben, die wie ein Stummfilm ist, und sie gehört zu meinen drei Lieblingserzählungen. Diese Erzählung heißt Die Annäherung und kommt ganz ohne Worte aus, obwohl es eine richtige Geschichte ist, mit Action und heimlicher Liebe. Es wird zwar auch gesprochen, aber den Ton hört man nicht, man beobachtet alles nur. Das macht den Reiz der Erzählung aus. Die Geschichte spielt im Bereich der Pissoirs in einer öffentlichen Herrentoilette. In dem Raum sitzt der Toilettenmann, hinter einem Tisch. Auf dem Tisch liegt ein kleiner Teller mit Münzen. Der Toilettenmann liebt die Putzfrau, aber das zeigt er nur durch Mimik und Gestik. Als ein Gast die Frau mit obszönen Gesten belästigt, greift er ein: „Der Mann hört nicht auf mit seinen obszönen Gesten und der Toilettenmann steht nun endlich auf-- man hat es ihm nicht mehr zugetraut-- und zerrt den Mann an seiner Krawatte hinter sich raus, als müsste er einen widerspenstigen Affen bändigen. Draußen drückt er ihn gegen eine Mauer. Der andere Mann sieht die Entschlossenheit in den Augen des Toilettenmannes, und er hat Angst, er kramt zwei Geldscheine statt einer Münze hervor, ich weiß nicht, was er stammelt, womöglich so etwas wie, dass er ja noch zahlen muss, und er steckt dem Toilettenmann die Scheine in die Hemdtasche. Der Toilettenmann lässt ihn los, aber nicht wegen des Geldes-- so sieht er nicht aus--, sondern weil er meint, dass es nun genug ist. Der Saubermann rückt seine Krawatte zurecht und geht seines Weges. Als der Toilettenmann wieder in den Raum zurückkehrt, ist die Frau schon am Putzen. Sie hat in der ersten Kabine angefangen. Die Tür steht offen, er sieht sie von hinten, wie sie sprüht, sich bückt, wischt, ohne sich zu ekeln, denn sie macht sich nicht schmutzig, ihre Gummihandschuhe schützen sie vor dem Dreck. Er ruft ihr etwas zu, vermutlich, dass der Strolch jetzt weg ist, aber sie dreht sich nicht um und nach so langer Zeit weiß er endlich, was er bisher vermutet hat: Sie ist wirklich taub. Sein Gesicht verändert sich ein bisschen, aber man weiß nicht, ob es Traurigkeit ist oder etwas anderes. Dann wechselt sein Gesicht wieder ein wenig und er redet jetzt. Er sagt vielleicht Dinge, die er ihr schon immer sagen wollte und jetzt sagen kann, weil sie nichts hört. Irgendwann dreht sie sich auf einmal um und er hört mitten im Wort auf, sein Mund ist halb offen. Er geht wieder zurück an den Tisch.“ (aus: Die Annäherung, Erzählung) Die Szene ist zwar nicht rein visuell geschildert-- es gibt auch Zuschreibungen--, aber zum größten Teil schon. Die Sichtbarmachung von Emotionen (in diesem Fall beschützt der Toilettenmann die Putzfrau, außerdem ist er in sie verliebt) ist hier mitfühlbarer, als einfach zu lesen, der Toilettenmann sei in die Frau verliebt und greife ein, als ein Sittenstrolch sie belästigt. Das eine ist die reine Information, das andere ist das Miterleben. Es ist das, weswegen man Geschichten liest. 29 Literarisch schreiben Ich habe die Erfahrung gemacht, dass für die Schülerinnen und Schüler schwer zu erfassen ist, was abstrakt und was konkret ist. In der Schule schreibt man vor allem abstrakt. Also verfallen die Schülerinnen und Schüler auch immer wieder ins Abstrakte. Eine Gegenüberstellung finde ich daher hilfreich. Emotionen sind Abstrakta und daher an sich nicht sichtbar. Sie müssen objektiviert werden oder innerlich genau beschrieben. Ich hatte letztes Jahr eine Führung durch das Schloss Benrath in Düsseldorf. Es wurde erzählt, dass die adeligen Frauen am Hof früher Korsetts trugen mit einem Taillenumfang von 45 Zentimetern. Klar, man weiß, dass das nicht viel ist. Aber als die Museumsführerin uns eine Schlaufe genau mit diesem Umfang vor die Nase gehalten hatte und man diesen winzigen schwarzen Kreis vor sich sah, spürte man förmlich die Enge: wie man früher den Bauch einzog, der trotzdem noch zusammengequetscht wurde, und wie man kaum noch atmen konnte. Die Schlaufe hätte wohl gerade so um meinen Oberschenkel gepasst. Geschichten müssen nicht rein visuell geschildert werden, obwohl manche Schreib-Gurus darauf pochen. Es gibt keine allgemeingültigen Gesetze in der Literatur, nur Empfehlungen wie manches handwerklich besser gemacht werden kann. Die Geschichten, die in meinen Werkstätten geschrieben werden, sind Prosatexte- - und keine Drehbücher, in denen alles in Handlung und Dialog umgesetzt werden muss. Gerade Gedanken sind manchmal wunderschön in der Literatur: das In-das-Innere-Sehen, anstatt nur wie im Film alles von außen zu betrachten. Dennoch ist es sinnvoll, das bildliche Schreiben zu üben, weil es oft doch reizvoller ist. Etwas sehen suggeriert uns, dabei zu sein. Diskussion ▶ Was ist abstrakt und was ist konkret? Abstrakt Konkret Nicht sichtbar Sichtbar Rein informativ Zeigen Direkte Aussagen über Gefühle und Gedanken Gefühle und Gedanken werden gezeigt durch anschauliche - Handlungen - Vergleiche und Metaphern oft statisch oft dynamisch Tom war verlegen. Tom lief rot an. Er legte seine Hände schnell auf die Wangen, damit niemand seine Gesichtsfarbe sah. Aber seine Stirn war auch schon längst rot angelaufen und glühte wie Lava. Tom war jähzornig. Wenn Tom wütend war, schmiss er Tische um und warf Stühle aus dem Fenster. (Handlung) 30 I. Abstrakt Konkret Zusammenfassung Szene Tom wurde zusammengeschlagen. Der Große und der Kleine hielten Tom fest. Der Blonde ging einen Schritt auf Tom zu und schlug ihm in den Magen. Tom krümmte sich und wollte sich auf den Boden fallen lassen, aber die beiden anderen ließen seine Arme nicht los. Der Blonde holte noch mal weit aus und schlug Tom ins Gesicht. Es knackte und ein Zahn flog aus dem Mund. Schreibaufgabe Hier sollen keine Geschichten entstehen, sondern Beschreibungen, in denen geübt wird, die Emotionen, Eigenschaften oder Zustände von Menschen nicht abstrakt zu beschreiben, sondern konkret zu zeigen, wie die Menschen aussehen und was sie tun. 1. Irma hat gute Laune. 2. Hans ist wütend. 3. Greta ist in den Kellner verliebt. Zeitvorgabe: Acht Minuten Beispielantworten 1. Irma tanzt durch die Wohnung und summt. Sie sieht aus wie ein Honigkuchenpferd: Ihre Mundwinkel gehen von einem Ohr bis zum anderen. 2. Hans’ Körper ist ganz angespannt, das Zittern ist nicht zu übersehen. Er greift den Couchtisch und wirft ihn um und tritt noch einige Male gegen die Tischplatte. 3. Greta läuft rot an, als der Kellner ihr den Cappuccino bringt. Sie räuspert sich, streicht sich durchs Haar und murmelt mit einem Frosch im Hals: „Dankeschön.“ Als der Kellner wieder geht, stützt sie ihren Kopf in ihre Arme und sieht ihm verträumt nach. Schreibaufgabe Beschreiben Sie kurz (in höchstens fünf Sätzen), woran Sie folgende Eigenschaften der Personen erkennen. Was ist sichtbar? 4. Tom ging es nicht gut, ihm war übel. 5. Tom war betrunken. 6. Hilde war ein sehr unordentlicher Mensch. Zeitvorgabe: Acht Minuten 31 Literarisch schreiben Beispielantworten 4. Tom antwortete nicht mehr auf Fragen. Er presse seine Lippen aufeinander und sein Gesicht verkrampfte sich. Er sah aus, als käme ihm sein Mittagessen gleich wieder hoch. 5. Tom wankte beim Gehen hin und her. In der Hand hielt er noch die Wodkaflasche. Seine Augen waren nur noch halb offen. 6. Hilde saß in ihrem Wohnzimmer. Der Boden war übersät mit alten Zeitschriften, dahingeworfener Kleidung und Schuhen. Auf dem Wohnzimmertisch stapelte sich schmutziges Geschirr, umgeben von leeren Chipspackungen. Schreibaufgabe Tom teilt Linda mit, dass er sie nach zehn Jahren verlässt. Er hat sich in eine andere Frau verliebt. Er hat schon seinen Koffer gepackt und geht nun aus der Tür. ▶ Sie sind Lindas Nachbar und sehen die Szene mit einem Fernrohr. Was tut Linda? Beschreiben Sie in Gestik, Mimik, Handlung ihre Gefühlswelt. Sie hat gerade die Liebe ihres Lebens verloren. Beschreiben Sie die Situation, bis schließlich das Telefon klingelt und sie nach langem Zögern drangeht. Zeitvorgabe: Zehn Minuten Emotionsäußerungen individualisieren In dem Film Chungking Express von Wong Kar Wei werden Emotionen anders ausgedrückt als üblich. Das macht ihn so interessant. Ein Mann, der Liebeskummer hat, weil seine Freundin Schluss gemacht hat, isst ständig Dosenananas-- aber nur aus abgelaufenen Dosen, weil alles ein Verfallsdatum hat, auch die Liebe. Eine Imbissverkäuferin, die einem anderen Mann helfen will, der ebenfalls unter starkem Liebeskummer leidet, geht heimlich in seine Wohnung und vertauscht Dinge. Dieser Mann sieht seine Gefühle durch die Gegenstände objektiviert: Er redet einem nassen Lappen zu, er solle sich nicht so hängen lassen, und bei einer neuen Seife, die die Frau ausgetauscht hat, wundert er sich und sagt, sie sei ganz schön fett geworden. Sie solle sich nicht so gehen lassen. Die Emotionen finden in dem Film einen frischen, ungewohnten Ausdruck. Man gießt sie nicht in konventionelle Bahnen, sie bahnen sich neue, andere Wege. Was tut jemand im Film üblicherweise, wenn er Liebeskummer hat? Was tut jemand, der seine langjährige Ehefrau verloren hat? Betrinkt er sich? Weint er sich bei Freunden aus? Was erwartet man in solchen Situationen? Was wäre ein Klischee? Und was nicht? Würde man selber in Wirklichkeit so handeln, einfach weil man es so kennt? Onkel Wu, der eine zentrale Rolle in meinem Roman Im Jahr des Affen spielt, verhält sich ganz unerwartet: Seine Frau wird nur noch von Maschinen am Leben gehalten, die abgestellt werden sollen. Onkel Wu soll Abschied nehmen und ist allein im Zimmer mit ihr. Er zieht 32 I. den Stecker, läuft aus dem Krankenhaus und geht in ein Dim-Sum-Restaurant. Dort setzt er sich auf einen freien Platz zu fremden Leuten und isst sich satt, bis er schließlich weggeht, weil er seinen Laden öffnen muss. Während er das Mini, der 16-jährigen Hauptfigur erzählt, hört er sich nicht traurig an, sondern lacht: „Das mit dem Dim-Sum-Essen habe ich niemandem erzählt. Sonst würden alle noch mehr über mich reden“, wiederholte Onkel Wu und lachte so, wie man halt lachte, wenn etwas zu schrecklich war, um einen angemessenen Ton dafür zu finden. (aus: Im Jahr des Affen, S. 175) Bei den Beschreibungen, wie Gefühle und Eigenschaften nach außen hin sichtbar gemacht werden, sind wir bei den bisherigen Übungen den konventionellen Weg gegangen. Aber: Ist es, wenn auch unüblich, nicht glaubwürdiger, wenn Onkel Wu über die schreckliche Situation lacht? Weil es eben keine angemessene Reaktion darauf gibt? Im Gegensatz zum Film kann man in der Literatur zwei Dinge gleichzeitig zeigen: die inneren Gedanken, die im Kontrast dazu stehen, wie man sich nach außen hingibt. Diskussion ▶ Wie werden Emotionen normalerweise / konventionell ausgedrückt? Zum Beispiel traurig sein, sich als Gewinner fühlen, verliebt sein (über das Sichtbar-Machen von Verliebtsein haben wir bereits geschrieben). Beispielantworten Es gibt diese Gewinner-Geste: Der Gewinner reißt seinen Arm hoch. Bei Trauer weint man und betrinkt sich. Das Verliebtsein ist schon etwas schwieriger, leichter ist es, wenn das Objekt des Verliebten dabei ist. 33 Literarisch schreiben Aufgabe Stephen King, der mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen lebte und sich kaum über Wasser halten konnte, bekam eines Tages einen Anruf von seinem Verlagslektor. Die Taschenbuchrechte seines ersten Romans Carrie wurden zu einer aberwitzig hohen Summe verkauft. King erhielt satte 200 000 Dollar (damals war das noch viel mehr wert als heute). Er ist allein zu Hause. ▶ Was macht King, nachdem er aufgelegt hat? Er ist allein. Seine Frau und seine Kinder sind nicht anwesend. ▶ Versuchen Sie einen Ausdruck für seine Emotionen zu finden - er ist alle finanziellen Sorgen auf einmal los. Was tut er? Zeitvorgabe: Zehn Minuten Diskussion (nach dem Vorlesen der Beobachtungen) ▶ Was wären konventionelle Handlungen in dieser Situation gewesen? ▶ Welche Beschreibungen waren besonders originell? ▶ Welche Handlungen waren trotz ihrer Originalität realistisch? Aufgabe ▶ Jemand glaubt, er hat nur noch ein paar Monate zu leben. Jetzt hat er beim Arzt gerade erfahren, dass seine Gewebeprobe im Labor vertauscht wurde und dass er kerngesund ist und weiterleben kann. Er kommt gerade aus der Arztpraxis, die in der Innenstadt liegt. Er hat sein Handy nicht dabei. Was macht er? ▶ Beschreiben Sie, was er tut, denn es sind so überwältigende Gefühle in ihm, dass Sie einfach ausgedrückt werden müssen. Nimmt er die Welt anders wahr? Meint er zu träumen? Er war schon zum Tode verurteilt und ist dem Tod von der Schippe gesprungen. ▶ Versuchen Sie, auch einen Kontrast zwischen inneren Gedanken und äußeren Handlungen mit hineinzubringen. Der Titel der Geschichte lautet „Leben! “ Zeitvorgabe: 15 Minuten 34 I. Die anderen Sinne In literarischen Texten will die Leserin oder der Leser die Atmosphäre miterleben. Im besten Fall versetzt sie oder er sich selbst in die Geschichte hinein. Neben dem wichtigsten der Sinne, dem Sehen, macht es einen Text lesenswerter, wenn er die anderen Sinne ebenfalls anspricht. Wir sehen nicht nur, wir fühlen (wenn ich gerade diese Sätze eintippe, fühle ich die Tastatur an den Fingerspitzen, an den Unterarmen fühle ich die Tischplatte, durch meinen Pulli hindurch), ich rieche den Kaffeeduft, der aus der Porzellantasse strömt, ich sehe den Bildschirm vor mir, rechts und links von ihm zwei Lampen, an manchen Stellen sehe ich etwas Staub, denn der Rahmen des Monitors ist schwarz. Während ich das hier eintippe, geben die Tasten einen speziellen Ton von sich. Die Tasten haben genau den richtigen Widerstand: Man muss nicht zu fest drücken, sie geben aber auch nicht zu leicht nach. Die Tastatur ist schon siebzehn Jahre alt und ich hoffe, sie wird nie kaputtgehen. Frage ▶ Was gibt es noch für Sinne außer dem Sehen? Obwohl natürlich jeder weiß, was die anderen Sinne sind, schreibe ich sie noch einmal an die Tafel, damit die Schüler sie auch während der Übungen sichtbar vor Augen haben: ▶ Sehen ▶ Hören ▶ Riechen ▶ Schmecken ▶ Fühlen (im Sinne von taktil fühlen) 35 Literarisch schreiben Schreibaufgabe ▶ Beschreiben Sie kurze Szenen an den folgenden Orten. Was sehen, riechen, hören, fühlen Sie? Vier von den fünf Sinnen sollen vorkommen. (Treffen Sie vorab eine Auswahl aus den Situationsvorschlägen) Zeitvorgabe: Jeweils fünf Minuten ▶ Ich sitze vor einem Lagerfeuer. ▶ Ich gehe durch den Wald. ▶ Ich sitze in einem feinen Café. ▶ Ich befinde mich im Fitnessstudio. ▶ Ich gehe auf einen Friedhof. ▶ Ich gehe in ein Altenheim. ▶ Ich bin im Freibad. ▶ Ich besuche einen Hundesalon. Warum? Die Schülerinnen und Schüler sollen ihren „Sinnlichkeitsmuskel“ trainieren, damit sie bei längeren Schreibaufgaben geübter und mit weniger Mühe das Geschehen sinnlich wahrnehmbar gestalten können. Aufgabe ▶ Wählen Sie für sich Ihr persönliches Wort aus, das diese starken Emotionen in Ihnen auslöst: Hass, Liebe, Neid, Wut etc. (aber keine Namen von bestimmten Personen). ▶ Führen Sie diesmal kein Clustering durch. ▶ Die Geschichte soll an einem Ort spielen, den Sie gut kennen und gut beschreiben können (die Schule, Ihr Fitnessstudio, ein Café etc.). ▶ Schreiben Sie aus der Sicht des anderen Geschlechts. Jungen wählen eine weibliche Protagonistin, zum Beispiel Anna; Mädchen erzählen aus der Sicht von Luca zum Beispiel. ▶ Denken Sie an Handlung, Bewegung, Gestik, Mimik. ▶ Bringen Sie mindestens drei der fünf Sinne mit hinein. Zeitvorgabe: 20 Minuten 36 I. Die emotionale Macht der Spannung Es gibt zwei mögliche Einstiege in das Thema „Spannung“. Einstieg 1 „Theaterstück Überfall“ (dafür braucht man am besten eine Papiertüte / einen Schal und eine Spielzeugpistole, oder man spielt es ohne). Bei Einstieg 2 „Cliffhanger“ braucht man ein Foto von einem Cliffhanger oder eine Tafel / einen Flipchart. Weil es für Schülerinnen und Schüler am interessantesten ist, wenn zwei ihrer Mitschülerinnen oder Mitschüler Szenen vorspielen, entscheide ich mich, wenn es geht, fürs Theaterspielen. Es sorgt für Abwechslung und für etwas Bewegung. Manchmal frage ich, wer spielen will. Aber der Überraschungseffekt ist natürlich größer, wenn man sich zwei Personen herauspickt und gar nichts sagt. Manchmal nehme ich fürs Vorspielen Schülerinnen und Schüler, die ansonsten wenig sagen, oder solche, die häufig stören. Einstieg 1: Theaterstück ▶ Wählen Sie einen Schüler und eine Schülerin aus und gehen Sie mit ihnen vor die Tür. Requisiten: eine große Papiertüte mit zwei Löchern für die Augen, eine Spielzeugpistole. Regieanweisung: Szene 1: Die beiden sollen Folgendes spielen: Das Mädchen ist eine Kioskbetreiberin, und er kommt mit der Tüte über den Kopf rein und schreit: „Geld her! “. Sie sagt: „Nein! “, er schießt und sie ist tot (Sie sitzt auf einem Stuhl und lässt sich hängen.) Danach gehen die beiden wieder raus. Szene 2: Die beiden kommen wieder in den Klassenraum. Sie sitzt auf einem Stuhl. Er kommt herein, schreit wieder: „Geld her! “ Sie steht auf und sagt: „Hier ist kein Geld mehr in der Kasse.“ Er sagt: „Doch.“ Es entspinnt sich ein Dialog, ein Hin und Her. Schließlich reißt sie ihm die Tüte vom Kopf und sagt: „Dich kenne ich doch, du bist der Bruder von meinem Nachbarn.“ Er sagt: „Du hast mich erkannt, jetzt muss ich dich töten.“ Sie fleht: „Bitte nicht, ich erzähle niemanden etwas.“ Er: „Das glaub ich nicht.“ Und so geht’s ein bisschen weiter. Das Stück hört ohne Ergebnis auf. Diskussion ▶ Was ist der Unterschied zwischen den beiden Spielszenen gewesen? (Es soll natürlich festgestellt werden, dass die zweite Szene spannender gewesen ist.) 37 Literarisch schreiben Einstieg 2 ▶ Zeigen Sie das Foto eines Cliffhangers im buchstäblichen Sinne (oder malen sie einen Felsen und ein Strichmännchen, das sich mit einer Hand an dem Felsen festhält, während sein Körper herunterhängt). ▶ Diskutieren Sie darüber, was das Foto darstellen soll und warum Sie es zeigen. Diskussion ▶ Was bedeutet das Wort „Spannung“? ▶ Was ist Spannung? Was ist spannend? Definition „Spannung“: psychischer Zustand der Erwartung und angestrengter Aufmerksamkeit (lat. „suspendere“ = aufhängen, schweben lassen). Althochdeutsch spannan: dehnen, straff anziehen. Wie aus dem lateinischen Ursprung zu erkennen, hat Spannung damit zu tun, dass etwas in der Schwebe ist; im althochdeutschen Verb spannan erkennt man die Dehnung. Spannung ist ein gedehnter Schwebezustand. Ich definiere Spannung im weitesten Sinne. Es muss keine „Zündschnur brennen“ (nach James N. Frey) oder eine aufregende Spannung wie in einem Thriller vorherrschen, sondern es sollte ein Interesse am Fortgang der Geschichte bestehen. Nicht spannend ist es, wenn etwas nicht mehr in der Schwebe ist, man also bereits weiß, wie es ausgeht (oder wenn sich etwas schnell entscheidet, demnach nicht mehr gedehnt ist). Dann herrscht keine Ungewissheit mehr vor, die für die Spannung notwendig ist. In der Regel ist es spannender, wenn man chronologisch erzählt. Oft neigen wir aber dazu, die Spannung sofort aufzulösen, weil wir selbst das Gefühl nicht aushalten und schnell davon erlöst werden wollen. Wenn man schon am Anfang mit dem Ende herausplatzt, ist der Verlauf nicht mehr in der Schwebe. (Das Vorwegnehmen des Endes kann in manchen Fällen jedoch auch sinnvoll sein, wenn man zum Beispiel die Vorgeschichte erzählt, warum etwas passiert ist.) Spannung dient zwar genauso wie sinnliches Schreiben „nur“ dem Genuss des Lesers, aber überflüssig ist sie dennoch nicht. Literatur ist Kommunikation und wenn die Zuhörer, also die Leser, aufmerksam bleiben, dienen Spannung und Sinnliches dazu, die Verbindung aufrecht zu erhalten. Wenn man kommuniziert, soll man nicht langweilen, und man soll verständlich sein. Die Buddhistin Pema Chödrön meint: „Man sollte sich nicht so ausdrücken, dass die Leute abschalten und nicht mehr zuhören.“ 38 I. Spannend Nicht spannend Etwas ist in der Schwebe Wie geht es weiter? Der Zustand der Ungewissheit wird gedehnt. Das Resultat liegt vor Der Zustand der Ungewissheit hört schnell auf. Dynamisch Statisch Beispiele: Im U-Boot fällt eine Maschine aus, es sinkt. Wie geht es mit der Mannschaft weiter? Beispiele: Ein U-Boot explodiert. Die Mannschaft ist tot. Auch wenn es den Zuschauer schockiert, einen wirklichen Eindruck erhält man erst durch bewegte Bilder. Einen wirklichen Eindruck erhält man erst durch bewegte Bilder, auch wenn es den Zuschauer schockiert. Aufgabe ▶ Schreiben Sie einen Kurzkrimi (Diebstahl, Mobbing, Prügelei oder Erpressung - es muss nicht unbedingt Mord sein). ▶ Thema: Freunde. ▶ Sie können ein Clustering damit durchführen. Kein Muss. ▶ Mögliche Orte: Wald, Schule. ▶ Verwenden Sie zwei von diesen sieben Wörtern: Wut, Nacht, Sonne, Stein, glitzern, Morgendämmerung, Abendröte. ▶ Mindestens drei von den fünf Sinnen einbauen. ▶ Halten Sie das Ungewisse bis zum Schluss. ▶ Zeitvorgabe: 25 Minuten Warum? Ein bestimmtes Genre festzulegen, in diesem Fall „Krimi“, gibt die äußere Form für eine Geschichte vor. Die Vorgabe hilft dabei, dem Alltäglichen etwas zu entfliehen und eine richtige Geschichte zu entwickeln. Diskussion ▶ Gab es Schwierigkeiten wegen der ungewohnten Vorgabe? ▶ Sind Krimis interessanter als „normale“ Geschichten? 39 Literarisch schreiben Mitfühlen (…) and remember people, that no matter who you are and what you do to live, to thrive and survive, there are still some things that make us all the same, you, me, them, everybody, everbody! „Denkt dran Leute, egal, wer ihr seid, was ihr tut, um zu leben, um zu gedeihen und um zu überleben-- da gibt es immer noch einige Dinge, die uns alle gleichmachen, dich, mich, euch, jeden, jeden! “ In dem Lied von The Blues Brothers haben wir alle eines gemeinsam: dass jeder jemanden zum Lieben braucht. Aber auch andere Emotionen erleben wir alle gleich. Ich stelle meinen Romanen immer ein Zitat voran, und als ich am Ende meines dritten Romans war, hörte ich ständig Everybody needs somebody. Ursprünglich wollte ich dem Roman das obige Zitat voranstellen, denn in der Geschichte geht es um ein 16-jähriges chinesisches Mädchen und ihre Verwandten, die ganz anders sind-- und letztendlich doch gleich. Ich finde es schön, wenn Leserinnen oder Leser mir sagen, dass Mini im Grunde ein normaler Teenager ist, der sich nicht grundlegend von anderen deutschen Teenagern unterscheidet. Mini ist verliebt, sie ist traurig, sie ist voller Selbstzweifel. Alles, was jeder schon einmal gefühlt hat. „Wir alle sollten wissen, wie es ist, ein Außenseiter zu sein“ Definition „Außenseiter“: „Wer am Rande oder außerhalb einer bestimmten Gruppe, einer Berufsgruppe lebt, mit ihren Gepflogenheiten nicht vertraut ist, seine eigenen Wege geht“ (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv) Der amerikanische Autor und ehemalige Flüchtling Viet Thanh Nguyen sagte in einem Interview: „I wish, not only my son, but everybody, had a sense of what it is like to be an outsider, to be an other. Because that's partly what gives rise to compassion and to empathy-(…).“ Wenn jeder einmal die Außenseiterrolle einnehmen würde, gäbe es wahrscheinlich weniger Außenseiter. Autoren scheinen eine Affinität zu Außenseitern zu haben. Oft dreht es sich in Romanen um Randgruppen oder um einzelne Außenseiter. Geschichten sind natürlich interessanter, wenn die Figuren nicht sorglos leben, sondern wenn ihnen etwas fehlt, und das ist bei Außenseitern immer der Fall. Noch wichtiger ist wahrscheinlich, dass man als Außenseiter durch das Außen-vor-Stehen seine Umgebung intensiver beobachtet. Wer zum Beispiel allein in einem Restaurant sitzt, wird seine Umgebung und die Mitmenschen genauer wahrnehmen als wenn er in Gesellschaft ist. Man kann durch das Lesen von Geschichten in Außenseiterrollen schlüpfen. Doch vor allem durch das Schreiben versetzt man sich in andere Personen hinein. Man ist in ihnen drin, man verleiht ihnen eine Stimme, man spricht aus ihnen heraus. Wenn jeder sich in jeden hineinversetzen könnte, würden wir wahrscheinlich in einer besseren Welt leben. In der Dokumentation The Act of Killing spielen ehemalige indonesische Massenmörder ihre früheren Taten nach. Einige sollen in die Rollen der ehemaligen Opfer schlüpfen. Durch das Hineinversetzen in die Opfer fühlen sie plötzlich das, was die Opfer damals gefühlt haben müssen. Anfangs hatten die Darsteller mit ihren Taten geprahlt und ihre Opfer verhöhnt. Jetzt werden sie aber nachdenklicher und scheinen im Nachhinein Mitgefühl zu entwickeln. 40 I. Menschen, die anders aussehen und in ein neues Land kommen, sind anfangs immer Außenseiter, und viele bleiben es auch ihr Leben lang. Ich sprach einmal mit einem Freund von mir, der dunkelhäutig ist. Wir unterhielten uns, wie man es anstellen könnte, dass Rechtsextreme sich in uns „Ausländer“ hineinversetzen (ich bin dagegen, nicht mit diesen Menschen zu reden, weil das auch nichts besser macht). Wir beide waren nämlich der Meinung, dass alles Schlechte auf der Welt letztendlich darauf beruht, dass Menschen sich nicht in andere Menschen hineinversetzen können. Der Freund schlug vor, dass man Rechtsextreme einmal in ferne Länder schicken sollte. Reisen sei ein Mittel gegen Rassismus. Ich glaube, es geht auch anders. In bestimmten Dokumentationen gibt es Reporter, die in die Haut eines anderen schlüpfen, um die Welt aus ihren Augen zu sehen und zu empfinden, was sie empfinden, wenn sie anders behandelt werden. Günter Wallraff hat sich zum Beispiel als Dunkelhäutiger verkleidet oder als Obdachloser. Es ist bewundernswert, welche Strapazen und Risiken er auf sich genommen hat, um Rassismus und Herabwürdigung zu erleben. Auch einmal aus der Sicht eines Asiaten oder eines Dunkelhäutigen zu schreiben, heißt, in deren Rollen zu schlüpfen. In meinem aktuellen Roman erzählt der Restaurantkoch davon, wie es früher gewesen war, in ein fremdes Land zu kommen, die Sprache nicht zu beherrschen und für sein Aussehen gehasst zu werden. „Bao erzählte weiter. Schon den Namen der Deutschlehrerin konnte er sich nicht merken und auch nicht aussprechen: ‚Sie hieß ungefähr Linneblügge‘, sagte Bao, aber der Name war etwas anders, noch länger. Nachdem er verstand, dass er die Wörter nicht nur nach den verschiedenen Zeiten, sondern auch nach dem Geschlecht, nach Einzahl und Mehrzahl, nach Dativ und so weiter unterscheiden musste, gab er endgültig auf. Französisch sei ja schon viel komplizierter als das Chinesische, aber wie jemand Deutsch lernen sollte, verstand er überhaupt nicht. Jede Nacht habe er leise in sein Kissen geweint und seine Mutter vermisst. ‚Die Leute starrten mich auf der Straße an und die Kinder beschimpften mich. Ich verstand nicht, was sie sagten. Ich verstand auch nicht, wieso sie das taten. Sie kannten mich nicht und trotzdem sah ich den Hass in ihren Augen. Manchmal wollte ich mir eine Tüte aufsetzen.‘ Bao ging langsamer und sah mich an. Er drehte nicht nur den Kopf, sondern fast seinen ganzen Körper in meine Richtung: ‚Du kennst das auch. Aber du konntest dich von deinem Vater trösten lassen‘.“ (aus: Im Jahr des Affen, S. 208) Die meisten deutschen Leserinnen und Leser werden diese Erfahrung nicht gemacht haben, aber: Alle haben sicherlich schon Situationen erlebt, in der sie sich unwillkommen oder fehl am Platz fühlten, nicht dazugehörig oder einfach nicht gut genug. Man muss nur in sich selbst suchen und verstehen, dass selbst Empfundenes auch auf andere zutrifft. Vielleicht war man schon einmal in einem anderen Land und hat sich hilflos gefühlt, weil man die Sprache nicht verstand. 41 Literarisch schreiben Diskussion ▶ Können Sie das mitempfinden, was Bao erzählt? ▶ Waren Sie schon einmal an einem Ort, an dem Sie sich fremd und unwillkommen fühlten? (Das braucht kein anderes Land zu sein, es kann auch ein neuer Verein sein, eine neue Schule oder die Eltern der neuen Freundin.) Aufgabe ▶ Verwenden Sie das Kernwort „Unwillkommen“ und führen Sie das Clustering-Verfahren durch. ▶ (Nicht vergessen: Am Schluss noch einmal den Anfang der Geschichte betrachten und in irgendeiner Form darauf Bezug nehmen.) ▶ Verwenden Sie im ersten Satz das Wort „Licht“ oder das Wort „Sommer“. ▶ Verwenden Sie mindestens drei von den fünf Sinnen: Was sieht, hört, riecht, fühlt, schmeckt man? ▶ Denken Sie daran, den Zustand der Schwebe zu halten. Zeitvorgabe: 25 Minuten Scham Scham, Definition: „das Gefühl bloßgestellt zu werden oder zu sein, Scheu, Verlegenheit“. Althochdeutsch: scama, „Beschämung, Zerknirschung, Bestürzung, Schande“. (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, dtv) Als Außenseiterin oder Außenseiter kann man sich niemals von diesem vorherrschenden Gefühl lösen: Scham. Sie nimmt unter den Emotionen eine besondere Position ein. Im Gegensatz zu anderen Gefühlen beinhaltet Scham immer eine zusätzliche Perspektive: die Blicke der anderen. Sie entsteht also notwendigerweise aus einer Relation. Man schämt sich, wenn man tadelnd angeschaut wird oder sich selbst mit den Augen anderer sieht. Scham hat mit der Angst zu tun, von den anderen abzuweichen. Man fühlt sich unwohl, weil man nicht der Norm entspricht. Was in der einen Kultur normal ist, kann in einer anderen Kultur für beschämende Situationen sorgen. Oft werde ich gefragt, was typisch deutsch und typisch chinesisch ist. Das kann man natürlich nicht in Kürze sagen, ohne in Klischees zu verfallen. Dennoch kann man Unterschiede benennen. Ich bin dagegen zu postulieren, dass alle gleich sein sollen, auch wenn die Gleichmacherei gut gemeint ist und Unterschiede herauszustellen 42 I. oft Rassisten in die Hände spielt. Unbestritten gibt es bei Chinesen andere Essgewohnheiten. In den neunziger Jahren war das deutsche Frühstück noch relativ eingeschränkt. Man hat Kaffee getrunken und Brötchen und Croissants gegessen. Chinesen essen aber schon morgens gerne deftig, während ich oft von Deutschen gehört habe, dass ihnen schlecht werden würde, wenn sie morgens schon deftiges Essen, Gebratenes oder Frittiertes riechen würden. Ein typisches chinesisches Frühstück ist „Dim Sum“, das sind gedämpfte oder frittierte Kleinigkeiten, die in vielen Variationen auf den Tisch kommen. In Deutschland gibt es aber kaum Dim-Sum-Restaurants. In meinem Roman gehen Mini und ihr Vater und ihr Onkel daher in ein feines, deutsches Café-Restaurant: Schnitzelszene „Ich sollte Onkel Wu die Speisen übersetzen. Ich sagte, es gebe Brötchen und Croissants, aber davon wollte er nichts wissen. Er blätterte weiter und fragte, was die Nummer 26 sei. Das interessierte ihn, weil am Rand ein lachendes Schwein abgebildet war. Ich sagte: ‚Schweinefleisch mit frittierten Kartoffeln.‘ Was ich meinte war: Schnitzel mit Pommes, aber ich kannte das Wort für Schnitzel nicht. Ja, das wollte Onkel Wu nehmen. Am Nebentisch saßen zwei Damen. Die eine strich sich gerade mit einer eleganten Handbewegung Marmelade auf ihr Croissant. Beide schauten uns schon die ganze Zeit streng an. Onkel Wu wollte doch nicht wirklich um neun Uhr morgens ein Schnitzel essen? Mein Vater sagte, er wolle auch das Schnitzel nehmen. Die Kellnerin verzog keine Miene, als mein Vater zweimal ‚Schnisel‘ bestellte. Ich sagte, ich wolle ein Brötchen mit Marmelade haben. Mein Vater fragte: ‚Nur Marmelade? Wieso hast du nicht auch ein Schnisel bestellt? ‘ Er wusste anscheinend auch nicht, was ‚Schnitzel‘ auf Chinesisch hieß. Schon nach kurzer Zeit brachte die Kellnerin das Essen. Die anderen Gäste sahen uns erst recht an, manche verstohlen, manche unverhohlen. Es reichte nicht, dass drei Chinesen ohne Kontrabässe in ein feines Café gingen. Sie mussten auch noch Schnitzel mit Pommes zum Frühstück bestellen. Beim Essen schwatzten mein Vater und Onkel Wu so laut, als seien sie auf einem chinesischen Basar. Ihr Sprechen hob sich von dem leisen Gemurmel der anderen ab. Die beiden sprachen mit vollem Mund und einmal fiel Onkel Wu ein Stück vom angekauten Schnitzel auf den Teller. Ungerührt spießte er es auf und schob es sich wieder in den Mund. Wenn sie nicht sprachen, schmatzten sie laut. Ich sah die anderen Leute tuscheln. Ich dachte an den Küchengott und seine Scham. Wenn hier irgendwo ein Herd gestanden hätte, wäre ich hineingeklettert und hätte mich in Rauch aufgelöst. Weil hier kein Herd stand, schnitt ich lustlos in mein Brötchen. Wir waren Chinesen und blieben Chinesen. Das Gegenteil von feinen deutschen Damen. Ich starrte auf meinen Teller, spürte aber immer noch die Blicke der anderen. Auf meinen Fingern, auf meinem Gesicht, auf meinem Hinterkopf. 43 Literarisch schreiben Die Chinesen. Sie haben schwarzes Haar, platte Nasen und Schlitzaugen. Sie kommen hierhin, essen Schnitzel und schwängern das ganze Café, das morgendlich nach frisch gebackenen Brötchen und Kaffee geduftet hat, mit dem Gestank von Frittenfett. ‚Was hast du? ‘, fragte mein Vater. ‚Mou jäh-- nichts‘, sagte ich. Als wir unser Restaurant betraten, war ich richtig froh, hier zu sein. Hier wunderte sich niemand über uns. Wir passten zu der Einrichtung. Das Restaurant kam mir auf einmal vor wie eine Theaterbühne. Nur wenn ich den Mund aufmachte, schauten manche Gäste irritiert. Akzentfreies Deutsch passte nicht zu meinem Erscheinungsbild. Und wenn ich mich besser auf die Rolle vorbereitet hätte, hätte ich auch die falsche Aussprache gelernt. Ich würde mir mit einem Seidenfächer Luft zufächern und schüchtern lächeln-[…]“ (aus: Im Jahr des Affen, S. 79-81) Bei Pema Chödrön heißt es: „Die Menschen sind verschieden. Wir unterscheiden uns sehr stark voneinander. Die Vorstellungen des einen über Höflichkeit erscheinen einem anderen als Grobheit. In einigen Kulturen gilt es als unfein, beim Essen zu rülpsen, während es in anderen bedeutet, dass das Essen geschmeckt hat. Was für den einen abstoßend riecht, erscheint einem anderen als wunderbarer Duft. Wir sind wirklich verschieden und müssen das akzeptieren. Aber statt uns wegen unserer Verschiedenheiten zu bekriegen, sollten wir lieber Fußball miteinander spielen.“ (Beginne, wo du bist, S. 163) Diskussion ▶ Kann man Minis Scham nachvollziehen? Wie würde man sich selbst in dieser Situation fühlen? ▶ Wofür kann sich jemand schämen und versuchen, das zu verbergen? ▶ Waren Sie schon einmal an einem Ort (im weiteren Sinne, also auch: Restaurant, Café, Geburtstagsfeier, Sportgruppe etc.), an dem Sie sich wie ein Fremdkörper gefühlt haben? Schreibaufgabe ▶ Führen Sie das Clustering-Verfahren mit dem Kernwortpaar „Anderssein / Gleichsein“ durch. ▶ Denken Sie an die Sinne, an Handlung, an Bewegung, an die Ungewissheit. Zeitvorgabe: 15 Minuten 44 I. Frische Alles, was neu ist, löst viel stärkere Emotionen aus als das, was gewohnt ist. Wenn wir an einen neuen Ort reisen, fallen uns zahlreiche Details auf. Gehen wir durch die Straßen, durch die wir schon jahrelang gehen, nehmen wir die Umgebung kaum noch wahr. Alte Häuser, die in der Bielefelder Innenstadt stehen, sehe ich mir gar nicht genau an, denn ich komme fast jeden Tag daran vorbei. Als Touristin würde ich mich vor manche Fachwerkhäuser stellen und ihre Schönheit bewundern. Alle Empfindungen schwächen sich durch Gewohnheit ab. Bei der ersten Lesung kommt man um vor Lampenfieber, bei der hundertsten Lesung ist kaum noch Lampenfieber vorhanden. Ein bereits oft gehörter Witz ist nicht mehr witzig. Die immer schwächer werdende Wahrnehmung und damit die geringer werdende emotionale Wirkung sieht man ganz deutlich bei den Metaphern. Sie machen im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch. Neue Metaphern, die wir zum ersten Mal hören, beeindrucken uns. Sie sind eine „kalkulierte Kategorienverwechslung“ (Goodman, Sprachen der Kunst, S. 77). Die Wörter bringen ihre ursprüngliche Sphäre in ein neues Territorium mit ein. Nach Nelson Goodman sind das die kraftvollen, die guten Metaphern. Sie sind eine Mischung aus Seltsamem und Selbstverständlichem-- und überraschen. Wird die kreative Metapher nun öfter verwendet, entwickelt sie sich mit der Zeit zu einer konventionellen Metapher. Ihre emotionale Wirkung schwächt sich ab. Die Abschwächung nimmt weiter zu, bis die Metapher schließlich tot ist. Die sinnlichen Eigenschaften bei „Wolkenkratzer“ sind mit der Zeit vollkommen verloren gegangen, sodass wir bei dem Wort nur noch an ein Hochhaus denken und keine Wolken mehr vor uns sehen, die von etwas gekratzt werden. Bei „Geld verbrennen“ denkt man nicht mehr an Feuer, sondern nur noch daran: dass Geld verschwendet wurde. Im Kantonesischen werden die Europäer, Amerikaner usw. als „Gwai Lou“ bezeichnet, als Gespenstermenschen. Wer die Sprache lernt oder in zwei Sprachen denkt, stolpert über diese Bezeichnung und sieht bei dem Wort ständig Gespenster vor sich. Bei Chinesen ist der Ausdruck aber so gängig, dass sie gar nicht mehr an „Gespenst“ denken, sondern gleich-- wenn sie in Deutschland leben-- an „Deutscher“. Mit neuen Sprachen ist es wie mit allem Neuen. Englische Metaphern und Formulierungen entfalten bei mir eine starke Wirkung, weil ich sie noch nicht so oft gehört habe. Bei einem Engländer würden dieselben Metaphern wenige Gefühle hervorrufen. Wenn ich in einem Song den Satz „He lives his grey, flannel life“ höre, sehe ich das graue Leben vor mir, das sich in den Flanellstoff einkuschelt. Eine tolle Metapher für ein eintöniges, unaufgeregtes, bequemes Leben! Auch wenn es abgedroschen klingt: Es hilft beim Schreiben, alles wieder aus Kinderaugen zu sehen. Ray Bradbury schreibt (in: Zen in der Kunst des Schreibens): „Um Ihre Muse zu nähren, sollten Sie also stets so hungrig aufs Leben bleiben, wie Sie es als Kind gewesen sind.“ Ich bin überzeugt, dass an dieser fehlenden Frische viele Anfängergeschichten scheitern, denn daran war ich anfangs auch oft gescheitert. Man sollte zwar über Bereiche schreiben, in denen man sich gut auskennt, aber man sollte beim Schreiben nicht dieses „Kenn-ich-schon alles“ oder das „Immer-dasselbe“-Gefühl einnehmen. Die Schwierigkeit liegt darin, etwas Bekanntes durch neue Augen zu sehen, frische Eindrücke wiederzugeben (das bedeutet nicht, dass die Figuren an neue Orte reisen, die Beschreibungen der Orte sollen frisch sein). Auch 45 Literarisch schreiben der Verlauf der Geschichte sollte uns selbst neu sein und uns überraschen. Dazu müssen wir neue Geschichten suchen, anstatt vielleicht unsere alten Erlebnisse aufzuschreiben und als neue Geschichten auszugeben. Hausaufgabe (Nur bei mehrtägigen Schreibwerkstätten machbar; am besten diese Hausaufgabe am Ende der ersten Sitzung stellen) ▶ Gehen Sie allein, das Handy ausgeschaltet, ohne Musik in den Ohren, an einen Ort, an dem sie oft schon vorbeigekommen, aber noch nie hineingegangen sind. Das kann ein Café sein, ein Restaurant, ein Friedhof, ein Park usw. ▶ Nehmen Sie alles genau wahr: Was sehen Sie? Was fällt Ihnen auf? Welche Details? Was hören Sie? Wie riecht es? Wenn es andere Menschen dort gibt - wie sehen Ihre Gesichter aus? Sind sie traurig, fröhlich, angespannt oder drückt Ihre Mimik etwas ganz anderes aus? ▶ Bleiben Sie eine Stunde dort und notieren Sie hinterher zu Hause Ihre Wahrnehmungen. Diskussion Fiel es Ihnen leicht oder schwer, eine Stunde nur mit sich selbst zu verbringen an einem neuen Ort? ▶ Haben Sie anders wahrgenommen? Schreibaufgabe ▶ Ihre Eltern sind mit Ihnen in eine andere Stadt gezogen. Sie kommen in eine neue Schule. In der großen Schulpause stehen Sie allein auf dem Schulhof. Wie fühlen Sie sich? Was beobachten Sie? (Sie können gerne aus der Perspektive der dritten Person schreiben.) ▶ Ihre Geschichte sollte mindestens drei Sinne verarbeiten. ▶ Ihnen sollten auch kleine Details auffallen. ▶ Sie sollen andere Menschen / Schüler / Lehrer beschreiben. Alles Menschen, die für sie noch fremd sind. Werden Sie vielleicht angestarrt? Entdecken Sie interessante Menschen? ▶ Verarbeiten Sie auch einen Rückblick: Wie war es an der alten Schule gewesen? ▶ Falls Sie nach der ersten Minute noch keine Idee haben, wie Sie anfangen sollen, machen Sie ein Cluster mit dem Kernwort „Neu“. Zeitvorgabe: 25 Minuten 46 I. Aufgabe ▶ Führen Sie ein Clustering mit dem Kernwort „fremd“ durch. ▶ Es soll diesmal aber nicht sofort nach dem Cluster mit dem Schreiben begonnen werden. Es wird nur erstmal das Cluster geschrieben / gezeichnet und dann wird der Stift beiseitegelegt. Diskussion ▶ Hatte jemand schon Kontakt zu Flüchtlingen oder war selbst einer? ▶ Was denken Sie, was einem am schwersten fällt, wenn man in ein fremdes Land kommt? Aufgabe ▶ Sie sind ein jugendlicher Flüchtling (aus welchem Land spielt in dieser Aufgabe keine Rolle), der erst seit einer Woche in Deutschland ist. Seitdem leben Sie in einer Flüchtlingsunterkunft, einer großen Turnhalle. Heute haben Sie den Mut gefasst, endlich hinaus zu gehen. (Es ist Herbst.) Fangen Sie in der Turnhalle an. Ihre Geschichte sollte ▶ eine Handlung haben ▶ mindestens drei der fünf Sinne behandeln (Was sehen Sie? Was riechen Sie? Was fühlen Sie? Was hören Sie? Was schmecken Sie? ) ▶ Beobachtungen enthalten (Natur, eventuell Gestik, Mimik, Körperbewegungen anderer Menschen) Wenn man beim Anfangen Schwierigkeiten hat, kann das zuvor gestaltete Cluster „fremd“ zur Hilfe genommen werden. Zeitvorgabe: 30 Minuten Diskussion ▶ Fiel es Ihnen schwer, sich in einen Flüchtling aus einer anderen Kultur hineinzuversetzen? ▶ Wenn ja, woran lag es? ▶ Welche Schwierigkeiten hat es beim Schreiben noch gegeben? ▶ Finden Sie die Geschichten der anderen glaubwürdig? 47 Literarisch schreiben Ich habe diese Aufgabe- - eine Geschichte aus den Augen eines Flüchtlings zu schreiben- - kürzlich zum ersten Mal in Schreibwerkstätten gestellt, einmal in einer Sitzung mit Studierenden, am Tag darauf in einer Schule. Ich war gespannt und beobachtete die Teilnehmer. Viele grübelten lange und fingen erst sehr spät an zu schreiben. Es sind zwar Geschichten entstanden, aber einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten Hemmungen, sie vorzulesen. Bei den anschließenden Diskussionen wurden die Gründe für das lange Hadern genannt. Die meisten hatten zu viel Ehrfurcht vor den Erlebnissen von Flüchtlingen: Kriegserlebnisse mit Toten, Bombenanschlägen, Verlust von Angehörigen-- man könne sich da nicht einfach so hineinversetzen. Irgendwie schien es ihnen respektlos, nachempfinden zu können, was den Menschen passiert war. Es ging mir bei der Aufgabe aber auch nicht darum, ob die Geschichte wirklich vollkommen authentisch aus der Feder eines Geflüchteten hätte stammen können. Das lässt sich wohl nie feststellen, da jeder eine andere Vergangenheit, eine andere Persönlichkeit und somit auch eine andere Sichtweise auf den fremden Ort hat. Ich finde es schon bereichernd, wenn man es versucht und überhaupt darüber nachdenkt. Man sollte nicht von vornherein davon ausgehen, dass man sich nicht in andere hineinversetzten kann, selbst wenn derjenige viel Schlimmes erlebt hat. „Wenn man Kontakt zu seinem eigenen Leid aufnimmt, sollte man sich vergegenwärtigen, dass unzählige Lebewesen in diesem Moment genau dasselbe empfinden. Die individuelle Geschichte, die damit verbunden ist, ist immer wieder anders, aber die Empfindung von Leid ist dieselbe. Wenn wir die Praxis für alle fühlenden Wesen und uns selbst ausüben, beginnen wir zu verstehen, dass das Selbst und die anderen nicht wirklich verschieden sind.“ (Pema Chödrön, Beginne, wo du bist, S. 169) Literaturtipps Jugendbücher (nicht nur für Jugendliche) Glück ist eine Gleichung mit 7, Holly Goldberg Sloan Stadt der Diebe, David Benioff Bevor ich sterbe, Jenny Downham Zeit der Wunder, Anne-Laure Bondoux Der Tag, an dem ich starb, Anthony McGowan Romane Im Schatten des Banyanbaumes, Vaddey Ratner Wasser für die Elefanten, Sara Gruen Als der Blues begann, Janice Deaner Die Einsamkeit der Primzahlen, Paolo Giordano Die Frau des Feuergottes, Amy Tan Sterben, Karl Ove Knausgård Lieben, Karl Ove Knausgård 48 I. Sonstige Bücher Ein neues Land, Shaun Tan Schreibbücher Über das Schreiben, Sol Stein Das Leben und das Schreiben, Stephen King 49 Aus: Hundert Tage mit meiner Grossmutter Aus: Hundert Tage mit meiner Grossmutter Francesco Micieli Wenn sie mich anrief, war es, weil sie mich bitten wollte, ihr etwas aus der Wohnung mitzubringen. Ich glaube nicht, dass sie nach einem Plan vorging. Wahrscheinlich meldete sich eine Erinnerung, die sie dann nicht losliess. Die Anrufe verliefen nach einem ganz bestimmten Muster. Ist jemand bei mir zu Hause? Ja, ich bin da. Danach langes Schweigen. Ah, wie schön! Ich brauch etwas von zu Hause. Ich musste ihr die kleine Schuhschachtel mit den Briefen bringen. Viele waren es nicht, die sie aufbewahrt hatte. Die Briefe meines Grossvaters. Drei oder vier waren es gewesen. Wenn man genau sein wollte, durfte man sie nicht Briefe nennen. Es waren eher Listen gewesen, die ihr Grossvater geschickt hatte. Listen von Sachen, die er gesehen oder getan hatte und eine Liste der Gefühle. In der Schachtel befand sich auch der letzte Brief des Grossonkels an Grossvater, den Brief, den er geschrieben hatte, bevor er gefangengenommen und in einen Zug gepfercht wurde. Was willst du damit? Ich will sie verbrennen. Die brauchen nicht mehr zu existieren, wenn ich fort bin. Wir erhielten die Erlaubnis, ein kleines Feuer auf der Terrasse zu machen. Ich musste einfach einen Feuerlöscher in der Nähe haben. Der Tag war wolkig und eher kühl. Der Winter kündigte sich an. Grossmutter, geschützt von vielen Wolldecken im Rollstuhl sitzend, schien ganz glücklich, als sie in die Flammen blickte. Grossvaters Liste der Gefühle hatte ich auswendig gelernt, ich wollte sie nicht verlieren. Seine schön geschwungene Schrift war als Bild in meine Erinnerung eingeprägt. Liebe Rosa, was mir fehlt, habe ich versucht in einer Liste der Gefühle auszudrücken. Ich weiss nicht, ob es wirklich Gefühle sind, oder ob es einfach Dinge sind, Dinge, die einen aufsuchen, wenn man sich in einer unnatürlichen Situation befindet. Krieg ist unnatürlich. Die Wärme deines Körpers, das Leuchten deiner Augen, die Feinheit deiner Haut, die Stille des Friedens, dein Kaffee, der Ton deiner Stimme, dass niemand mehr brüllt, dass mich niemand mehr beim Nachnamen nennt, die Tiere, ein frischbezogenes weisses Bett, nie mehr kalt haben, einmal richtig trocken sein, sauber sein, sich zurücklehnen können, ohne Angst. Grossmutter schlief, als ich den Brief leise las, aber auf einmal wurde sie unruhig, so dass ich für einen Augenblick aufhören musste. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass der Inhalt des Briefs in diesem Raum aufgesagt werden müsse, damit er für den Übergang bliebe. Nicht nach nassen Kleidern stinken, ohne Feind sein, nicht daran denken müssen, ob man schiessen wird, wenn man dem Feind in die Augen sieht, den Alltag, das Feld, den Stall, sonnengereifte Tomaten, unser Wein, das Lachen nach dem Weintrinken, dein Singen. Der Rest des Briefes war von einer Flüssigkeit aufgelöst und unleserlich gemacht worden. Als Kind hatte ich mir vorgestellt, dass es die Tränen der Grossmutter gewesen sind. Grosse, salzige Tränen. Und dass da, wo jetzt nur Flecken waren, die Aufzählung ihrer Vorzüge aufgelistet ist, so viele Vorzüge, dass sie darum nur noch Freudentränen weinen konnte. Sicher war auf der Liste auch ihr Lächeln gestanden. 50 I. Sie wollte mir Fotos geben, die ich erst anschauen dürfe, wenn sie gestorben sei, es seien nachgestellte Bilder der Hochzeit mit Grossvater, die nie stattgefunden hatte. Sie waren ohne kirchliche Trauung verheiratet worden, kurz vor dem Einrücken in den Krieg. Sie war schwanger gewesen. Mit meiner Mutter im Bauch. Sie gab mir die Briefumschläge, als würde sie diese dem Kinde in mir geben. Ich fühlte mich augenblicklich so. Der Raum erschien mir viel grösser. Meine Schritte waren unsicher. Sie wurde zur grossen, starken Frau, die ich als Kind bewundert hatte. Sie rettete mich vor der Dunkelheit, vor meinen Ängsten und meinen Unsicherheiten. Gib mir die Hand, flüsterte ich. Denk daran, es ist wichtig, gute Menschen für den Übergang zu haben, bereite dich jetzt schon vor. Das Wort kam nun häufiger vor in unseren Gesprächen und ich fürchtete, dass mit dem Wort auch das Ereignis näherrückte. Sie habe im Traum mit Grossvater die Stelle besucht, wo sie hinübergehen könne. Es sei ein schöner Ort, ganz und gar nicht gefährlich. Man fühle sich in Frieden, sobald man ihn betrete. Wir standen auf der Terrasse in der Kälte. Ich hielt sie ganz fest, damit sie nicht fiel. Ich glaube, ich werde im Rollstuhl hingehen müssen, sagte sie, dabei würde ich gerne auf eigenen Füssen stehen. Wir schauten in Richtung Berge. An solchen klaren, kalten Tagen waren sie so gut zu sehen, als seien sie leicht vergrössert und ganz frisch an den Horizont geklebt. Eigenartig, dass wir die Berge so stark in unserer Seele gespeichert haben, dabei sind es Steinhaufen, gefrorene Steine. Vielleicht ist es, weil wir eine Erinnerung an die Werdung unserer Landschaft in uns tragen, all die Tausende von Jahren sind irgendwo eingespeichert und lösen in uns ein Glücksgefühl aus, wenn wir sie anschauen. Bei der Liebe zu deinem Grossvater habe ich etwas Ähnliches erlebt. Immer wenn ich ihn anschaute, verliebte ich mich in ihn und zugleich in den ersten Menschen auf dieser Welt. Er löste in mir immer wieder den Gedanken an den ersten Menschen aus. Ich hob Grossmutter sachte in die Höhe, damit sie noch tiefer in die Berge sehen konnte. Mir ist kalt, sagte sie, bring mich bitte wieder in mein Zimmer. Das Zimmer erschien uns ganz dunkel und Grossmutter war etwas aufgekratzt und wollte nicht wieder ins Bett, obwohl ihr kalt war. Ich machte Licht und zündete die Kerze mit dem Orangenduft an. Orangen waren die Lieblingsfrüchte meines Grossvaters. Ich wickelte Grossmutter von den vielen Wolldecken los und zog ihr den dicken Pullover aus. Nun stand sie da, wie eine ausgemergelte Strafgefangene. 51 Aus: Hundert Tage mit meiner Grossmutter II . Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung José F.A. Oliver „Schreiben ist immer auch erinnern und ggf. verinnern. Ein 17-jähriger hat natürlich nicht so viel zu erinnern wie ein 60-jähriger; also greift er auf Vorgeburtliches, das sog. kollektive Unbewusste und Instinktives zurück“. Bęrt Elsmann-Papenfuß: Seifensieder (Fortgesetzte Abgesänge auf Anfänge unter Umständen, Folge 6, 2016) Schreiben und die Begegnungsfähigkeit ins Eigene fördern. Auch über die Lektüre anderer. Sei es über die Texte der Mitschülerinnen und Mitschüler oder über Meisterwerke aus der Literatur. Ein „Schreib-Gespräch“ in vielfacher Hinsicht also. Wie kann dabei eine Verbindung hergestellt werden, die trägt? Entstünde dadurch Inspiration und Motivation in einem? Zentrales Element unserer methodischen und didaktischen Ansprüche bilden zahlreiche Schreibaufgaben, die Sprache in erster Linie freisetzen und kreativ gestalten wollten: Kurze Texte, Fragmente, Zeilen, poetische Notate. Lese- und Aufgabenkompendium I DER TOD Teil 1 „Der Tod ist okay“ (Werner Söllner) Im Folgenden wird von einem Abschied erzählt, der endgültig ist. Eine Möglichkeit der Arbeitsaufträge resultiert aus der Lektüre des Textes und eines anschließenden Gesprächs mit den Schülerinnen und Schülern über den Bedeutungshof des Wortes „Tod“. Danach wären ein paar konkrete Schreibaufgaben eine weitere Möglichkeit, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ zu nähern und eigene Erfahrungen oder Vorstellungen zu Papier zu bringen. 53 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung II . Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung José F.A. Oliver „Schreiben ist immer auch erinnern und ggf. verinnern. Ein 17-jähriger hat natürlich nicht so viel zu erinnern wie ein 60-jähriger; also greift er auf Vorgeburtliches, das sog. kollektive Unbewusste und Instinktives zurück“. Bęrt Elsmann-Papenfuß: Seifensieder (Fortgesetzte Abgesänge auf Anfänge unter Umständen, Folge 6, 2016) Schreiben und die Begegnungsfähigkeit ins Eigene fördern. Auch über die Lektüre anderer. Sei es über die Texte der Mitschülerinnen und Mitschüler oder über Meisterwerke aus der Literatur. Ein „Schreib-Gespräch“ in vielfacher Hinsicht also. Wie kann dabei eine Verbindung hergestellt werden, die trägt? Entstünde dadurch Inspiration und Motivation in einem? Zentrales Element unserer methodischen und didaktischen Ansprüche bilden zahlreiche Schreibaufgaben, die Sprache in erster Linie freisetzen und kreativ gestalten wollten: Kurze Texte, Fragmente, Zeilen, poetische Notate. Lese- und Aufgabenkompendium I DER TOD Teil 1 „Der Tod ist okay“ (Werner Söllner) Im Folgenden wird von einem Abschied erzählt, der endgültig ist. Eine Möglichkeit der Arbeitsaufträge resultiert aus der Lektüre des Textes und eines anschließenden Gesprächs mit den Schülerinnen und Schülern über den Bedeutungshof des Wortes „Tod“. Danach wären ein paar konkrete Schreibaufgaben eine weitere Möglichkeit, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ zu nähern und eigene Erfahrungen oder Vorstellungen zu Papier zu bringen. 54 II. Wo Leben ist, ist Tod. Im letzten Jahr musste ich einen Menschen zu Grabe tragen, den ich geliebt hatte. Sie war mir Komplizin, Aufruhr, Worte. Immer wieder Stille und Sätze, die mich über 30 Jahre lang, dort, wo es Zeit wurde, die Uhr ablegen ließen. Ich lernte innehalten. Nachdenken, fühlen, dankbar sein. Ich wusste nie und weiß es bis heute nicht, was Tod bedeutet. Seit ich ihre Stimme nicht mehr hören kann, weiß ich es noch weniger. Ohne sie ist mein Alltag surrealer geworden. Ihre Abwesenheit füllt eine Wirklichkeit von Zeit, wie ich sie zuvor nicht kannte. Zeit, die ich jedoch im selben Atemzug mit ihr verbinde. Zeit nach dem Tod. Als sie starb, war ich bei ihr. Fast. „Ich will nicht mehr aufstehen“, hatte sie gesagt, ohne mich anzuschauen. Ich saß an ihrem Bett. Im Krankenhaus. Sie entzog mir irgendwann die Hand. Ich wusste plötzlich, ich musste sie loslassen. Eine Schriftstellerkollegin tröstete mich ein paar Tage später am Telefon. „Manchmal“, sagte die Dichterin, die ich sehr schätze, weil ihre Verse ausfransen wie das Leben ausfranst, im Innern ausfranst, damit etwas Neues entstehen kann-- „manchmal“, sagte sie, „verbeißen sich Liebende ineinander wie Vampire, wenn der eine gehen muss und der andere zurückbleibt“. Ich verstand sofort, erwiderte nichts. Deshalb hatte sie mir die Hand entzogen. Wortlos. Das letzte, was ich von ihr hörte, war das Röcheln des Sauerstoffgerätes. Ich deckte sie zu. „Bis morgen“, sagte ich. Keine Antwort. „Schlaf gut“, sagte ich. Keine Antwort. Ich ging. Zwei Stunden später rief man mich an. Ihr Körper war noch warm, ich küsste sie, betete. Ein Vater unser, ein Ave Maria. Das hatte sie sich gewünscht. Jemand, der an ihrem Totenbett wacht und ein Gebet spricht. Ich weinte nicht. Der Rosenkranz, den ich ihr auf die Hände legte, reichte mir die Trauer. „Annehmen“, hatte sie immer gesagt. „So leben, als wäre jeder Tag der letzte“. Wir hielten uns daran. Wir hatten uns daran gehalten. Ich bin in Sätzen. So wie Vater. Auch er begriff sich in Sätzen. Als ich ein Kind war, sagte er oft: Donde hay vida, hay muerte. „Wo Leben ist, ist Tod“. Mutter, die ebenfalls aus Andalusien stammt, antwortete mir einst auf die Frage, was das Wort „Sicherheit“ bedeuten würde, ich möge ihr meine Hände zeigen. Sie zog sie an sich, drehte sie um, zeichnete mit ihren Fingerkuppen ein M nach, das ich dann auch in der Innenfläche meiner Hand erkannte. „In jeder Hand ein M“, sagte sie. „In der rechten, in der linken. In der einen, das M von mamá, in der anderen das M von muerte“. Im Spanischen ist der Tod weiblich. „An deine Geburt kannst du dich nicht mehr erinnern, aber ich“, sagte sie. „Und deshalb bist du hier. Das ist sicher“. Ich lachte. „Und eines Tages wirst du von dieser Welt gehen so wie du damals gekommen bist, auch wenn du das heute nicht mehr weißt, und es wird Menschen geben, die sich später daran zurückerinnern werden, wie du gegangen bist. Auch das ist sicher. Und wenn du irgendwann in eine Situation kommst, in der du nicht sicher bist, was du tun sollst, dann nimm dir Zeit und betrachte deine Hände. Ich bin mir sicher, dass du dann weißt, was du tun musst. Die Sicherheit“, sagte sie, „ist ausgespannt zwischen diesem und jenem Augenblick. Zwischen M und M“. Sie streichelte meine Hände. 55 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Schon als Kind verlor ich die Angst vor dem Tod. Der Tod war mir geheuer, weil er präsent war. Ständig. Wo Leben ist, ist Tod. Das beruhigte mich. Das beruhigt mich noch heute. Deshalb konnte ich vor einem Jahr bei der Traueransprache sagen: „Bis später! “ Ich fürchtete mich davor, an ihrem Grab zu sprechen. Aber ich wusste, ich musste es tun. Das hatte sie erwartet. Ein letztes Mal sprechen. Eine Totenrede. Für sie. An ihrem Grab. Kein Gedicht. Einfach nur sprechen. Ich hatte morgens, am Tag ihrer Beerdigung, kurz nachdem ich aufgestanden war, ein Abkommen mit ihr getroffen. Ich hatte Angst, dass meine Stimme versagen könnte. „Ich habe auf dich aufgepasst“, sagte ich. „Die letzten zwei Jahre. Jeden Tag. Und heute passt du auf mich auf “. Ich wusste nicht, wie. Ich vertraute einfach. Als ich den Sarg vor mir sah, war es mir klar. Ich durfte nicht ans Rednerpult und auf den Sarg schauen. Ich musste mich vor den Sarg stellen. Sie im Rücken. So wie es zeitlebens war. Komplizin. Aufruhr. Stille. Dann konnte ich sprechen. Irgendwann hatte ich gelernt, dass die Plötzlichkeit in solch schwierigen Augenblicken einen Namen hat. Ihr Name lautet „Heiliger Geist! “. Ich vertraue ihm, so wie ich Gott vertraue. Ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube, hatte sie mich ein paar Tage vor ihrem Tod gefragt. Ich sagte ja. Ich hatte sie in ihrer Krankheit begleitet. Krebs. Fast zwei Jahre lang. Sie lebte gerne, wollte nicht sterben. Dennoch hatte sie den Tod angenommen. Schon bei der Diagnose. Wenn ich sie zur Chemo-Therapie fuhr, schwieg sie, schaute aus dem Fenster, sog die Landschaft ein. Als müsste sie die Wiesen und die Wälder trinken. Mit den Augen trinken. Ein letztes Mal. Immer wieder ein letztes Mal. Ich spürte, sie hatte Angst. Vor der Chemo, vor dem Zustand danach. Am meisten davor, dass sie ersticken könnte. Der Tumor ihr den Hals zuschnüren würde. Sie befolgte alles, was ihr die Ärzte rieten. Es war ihr wichtig, dass ich dabei war. Ihre Entscheidungen wurden dadurch willensstärker, wenn die Ärzte mit ihr sprachen. Meine Anwesenheit schenkten ihr Entscheidungen, Vertrauen. So wie die Hand, die sie mir entzog, als sie fühlte, sie würde sterben. Fast zwei Jahre nach der ersten Bestrahlung. Ich bin dankbar, dass ich sie begleiten durfte. Nicht einmal kam mir dabei der Gedanke: Herr erlöse sie. Nicht einmal dachte ich, lass sie sterben. Jede Zeit, auch diese, war unsere. Einmal sprachen wir über die wichtigsten Sätze unseres Glaubens. Die Sätze Jesu auf Golgatha. Das Wort Schädelberg fasziniert mich. Ort des Schädels. Ort der Sätze. „Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen“ und „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“. Der dritte war mir als erster, schon als Kind begegnet. Zwei Jahre vor ihrem Tod hatte ich ihn endlich begriffen. Auch körperlich: „In deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Annehmen. Den Tod annehmen und leben. Indem ich den Tod annehme, lerne ich durch diese Welt zu gehen, lerne ich leben. „Wir sind nur Gast auf Erden“. Noch ein Satz, der mich geprägt hat. Donde hay vida, hay muerte. Wo Leben ist, ist Tod. Ich hänge am Leben. Das Leben ist ein Geschenk des Himmels. Auch wenn ich es nicht immer begreife. Ein Geschenk, das ich erfahren muss. Bei Johannes heißt es, es sei die Gnade der Geburt. Das Leben ist also eine Gnade. Ich versuche zu verstehen, wehre mich nicht, vertraue. Eines Tages werde auch ich gehen. Ich habe keine Angst vor dem Tag, den ich, Gott sei Dank, nicht kenne. Allenfalls Furcht. Schon als Vater starb, wusste ich, dass es nun auf der 56 II. anderen Seite jemanden gibt, der mich geliebt hatte. Dass es auf dieser Seite Menschen gibt, die mich lieben. Wenn ich gehe, werde ich nicht allein sein. Vielleicht für ein paar Augenblicke. Bis ich fortgegangen, bis ich angekommen bin. Aber dieses Alleinsein kenne ich. Auch wenn man zurückbleibt, ist man allein. Es gibt einen Zustand der Trauer, der kommt dem Tod am nächsten. Das Gebet. Das Gebet ist ein Zustand. Und dennoch weiß ich nicht, was Tod bedeutet. Ich ahne nur, dass unsere Zeit dann Zeit wird. Zeit, die ich mir nicht vorstellen kann, auch wenn ich den Begriff benutze, weil mir kein anderes Wort gegeben ist. Aber ich stelle mir vor, dass es eine Zeit ist, in der die Uhren abgelegt sind. Komplizenschaft. Unruhe. Stille. Deshalb will ich, dass man mein Leben schützt, sollte ich krank werden. Es möge alles Menschliche getan werden, um meine Würde zu bewahren, bis ich gerufen werde. Das Wort Ruf mochte ich auch schon immer. Ich glaube daran, dass ich gerufen werde. Ich erinnere eine Situation in der Uni-Klinik, als ein junger Arzt zur ihr sagte „Haben Sie keine Angst. Wir sind bei Ihnen. Sie müssen nicht leiden! “ Sie hatte keine Angst. Sie empfand Furcht. Sie erwiderte: „Junger Mann, überlassen Sie das Sterben Gott und machen Sie einfach ihre Arbeit.“ Als ich diese Sätze hörte, wusste ich, wir würden die Klinik noch einmal verlassen, um zu Hause Abschied zu nehmen. Die Orte noch einmal aufsuchen, die ihr wichtig waren. Das Haus. Die Straßen. Die Restaurants. Zwei Tage vor ihrem Tod wollte sie noch einmal auf den Friedhof, die Gräber besuchen, die sie zeitlebens gepflegt hatte. Sie saß im Rollstuhl. Die Sauerstoffmaske auf. Ich trug sie oft aus dem Zimmer ins Auto. Dann holte ich den Rollstuhl. Wir haben die letzten Wochen genossen. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, dass es mir zu viel würde. Sie hat mir nicht einen Augenblick zu viel zugemutet. Die Zumutung ist heute. Das Leben ohne sie. Vor Jahren, ihre Krankheit war noch nicht diagnostiziert, saßen wir eines Abends am runden Tisch in der Diele ihres Hauses. Ein Freund war zu Gast. Ein Bildender Künstler aus Andalusien. Wir hatten eine Flasche Wein getrunken. Es könnten auch zwei gewesen sein. Plötzlich sagte sie: „Wer sitzt da am Tisch? Das sitzt doch jemand an Tisch? Seht ihr ihn nicht? “ Wir wussten beide, wen sie meinte. Der Tod im Deutschen ist männlich. Wir gaben keine Antwort. Wir fühlten alle drei die Unausweichlichkeit. Nur die Stunde, die Stunde war nicht gewiss. Wir schwiegen. Es war eine Komplizenschaft der Stille. Der Künstler aus Cádiz erzählte mir Monate später von Miró. Es wird berichtet, dass er, bettlägerig, kaum mehr den Stift halten konnte und trotzdem nach Bleistift und Papier fragte. Dann zeichnete er. Immer nur einen Strich. Immer und immer wieder Striche, ließ das Papier zu Boden gleiten und bat um neues. Striche. Einen nach dem anderen. Tagelang. Bis ihn jemand fragte, was er denn zeichnen würde. Miró gab zur Antwort, dass er versuche, den Horizont zu zeichnen. Es wolle ihm einfach nicht gelingen. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Dennoch, sie gefällt mir. Ich kann mir kein mächtigeres Alterswerk vorstellen. Eine unendliche Linie. Irgendwann erreicht sie Gott. Eine Hand, die sich für immer entzieht, zeichnet ähnlich. Eine unendliche Linie. Anfang und Ende sind nicht mehr erreichbar. Es gibt ein schönes Wort dafür. Erschöpfung. Und wie 57 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung selbstverständlich das Wort ein anderes birgt. In sich. Wenn man nur die Vorsilbe streicht. Schöpfung. Beides muss eins sein. Donde hay vida, hay muerte. Wo Leben ist, ist Tod. Aufgaben 1. Gemeinsame Lektüre des Textes. Die Lektüre kann jedoch auch variiert werden - entweder in Kleingruppen oder als Einzellektüre. 2. Im ersten Gespräch über den Text sollten unbekannte Wörter und Sätze, auch die fremdsprachlichen, geklärt werden. Nutzen Sie dabei die schlichte Möglichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler sich noch einmal einzeln mit dem Text befassen und einfach unterstreichen, was ihnen unbekannt ist: Namen, Wörter, Sätze, kulturgeschichtliche oder religiöse Zusammenhänge. 3. Führen Sie ein Gespräch über den „Umgang“ mit dem Tod. a) in unserer heutigen Zeit b) sollte sich die Klasse mit Menschen verschiedener Herkunfts- oder Sprachkulturen zusammensetzen, wäre es auch spannend, über die unterschiedliche Wahrnehmung des Todes zu sprechen und einen Text darüber schreiben zu lassen. Das kann ein persönliches Erlebnis sein, ein „dokumentiertes Gespräch“, das Sie als Hausarbeit aufgeben, indem in den einzelnen Familien nach Geschichten gefragt wird, denen persönliche Erfahrungen des Abschieds zu Grunde liegen. c) Begrenzen Sie die Schreibaufgabe auf maximal eine DIN -A-4-Seite (ca. 2400 Zeichen mit Leerzeichen). 4. Besprechen Sie exemplarisch einige der Texte, die entstanden sind, unter den nachfolgenden Fragestellungen: a) Welche Sprache wurde gewählt? Eher eine gehobene Sprache, oder ist es ein umgangssprachlicher Text? b) Gibt es besonders auffällige Wörter? c) Gäbe es Details, die Euch noch näher interessieren würden, oder ist alles Wesentliche erzählt? 5. Zum Abschluss der Unterrichtseinheit könnte ein Brief geschrieben werden, der den Tod als direkten Ansprechpartner hätte: „Lieber Tod …“, „Sehr geehrter Tod …“ oder einfach nur: „Tod, was ich Dir schon immer einmal sagen wollte …“. Es sollte den Schülerinnen und Schülern überlassen werden, auch eine andere Ansprache zu wählen. Teil 2 Eine weitere Möglichkeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen, wäre die literarische Gattung der Kalendergeschichte(n). Kurze Erzählungen, die auch ein Schwank, eine Anekdote oder eine Parabel sein können. Die epische Kleinform endet meistens mit einer Pointe. 58 II. Johann Peter Hebel machte aus dem Erzählformat der Kalendergeschichte, die als Publikationsform in den „Volkskalendern“ einen populären Ursprung hat, eine eigenständige literarische Kunstform. Im Zusammenhang dieses Kapitels sei seine kanonisierte Geschichte Unverhofftes Wiedersehen sehr empfohlen. Hier zunächst zwei Kalendergeschichten in Anlehnung an Johann Peter Hebel: Wortkommando Zufälle kommen gelegentlich daher wie ungebetene Freier und poltern an die Zimmertüren des Alltags. Nicht immer lösen sich dabei ihre launischen Manöver in Wohlgefallen auf, so dass das Sprichwort „Des einen Leid ist des anderen Freud“ auch umgedeutet werden könnte: „Des einen Leid ist des anderen Fettnapf! “ Es war Zufall, dass ich unlängst wieder einmal die Muße hatte, Radio zu hören. Kein Zufall hingegen, dass ich-- Hausfreund des Südwestrundfunks, der ich seit Jahren bin-- den gleichnamigen Sender eingeschaltet hatte. Jedem Zufall sind mindestens zwei Protagonisten eigen, wenn sich nicht noch weitere hinzugesellen und zum unerwarteten Schicksalsappell antreten. Obschon nicht jeder Zufall Entlarvungen verspricht, kommt es hin und wieder doch zu Demaskierungen, die nicht jeden der unmittelbar oder weitläufig Beteiligten erfreuen dürften. Allein die Sprache legt offensichtliche Spuren bloß. Denn es gibt Wörter, die zwar hin und wieder in ihrer Zusammensetzung gleich enden und auf den ersten Blick trotzdem völlig unterschiedlichen Wesens zu sein scheinen, bei näherer Betrachtung hingegen in ein- und demselben Schlachtfeld versumpfen. Brand- und Wortschatz gehören in diese Kategorie von Begriffen und darüber hinaus heuer wieder einmal mehr zur gemachten Eigendynamik eines Krieges, der in Deutschland allenthalben immer noch als „bewaffneter Konflikt“ bezeichnet wird, auch wenn der Verteidigungsminister laut einer Zeitungsnotiz „Krieg“ in den Mund nehme (Den Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen). Nichtsdestotrotz. Wie beide Ausdrucks-Formen miteinander verwandt sind und sich gegenseitig Deckung geben, möge jeder Mündige selbst entscheiden. Jüngst war vor diesem recht fragwürdigen Interpretationshintergrund zu lesen, der Bundeswehreinsatz am Hindukusch habe bislang 39 Männer das Leben gekostet. Die kurze Bestandsaufnahme, die alle anderen Totgemachten vom Tod ausschließt, schleicht sich-- als sei man erneut im Geschichtsbuch der Unbegreiflichkeit gelandet-- in die erschreckende und furchtbare Selbstverständlichkeit von gefallenen Soldaten, die nach Heimkehr, Trauerfeier und Bestattung in der Öffentlichkeit zu einem kühl konservierenden Kontingent an Zahlen mutieren. Ein Politiker, der sich zeitgleich zur jüngsten Todesmeldung-- dieses Mal dreier deutscher Soldaten-- auf Stippvisite im Kampfgebiet befand, soll hernach bei der am Einsatzort angesetzten Schweigeminute folgenden, wohl dem Trost zugedachten Satz von sich gegeben haben: „Die deutschen Soldaten lassen sich durch noch so heimtückische Gewalt nicht beeinflussen“. Der Hausfreund fragt sich, wovon man sich eigentlich beeinflussen lassen sollte, wenn nicht vom Tod, und überlässt aus diesem Grunde sein Gehör einmal mehr nicht dem Zufall. 59 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Kartoffeln So manche Erkenntnis geht mit dem Kartoffelschälen einher. Wir wissen wohl, dass die Genießbarkeit der Grumbiere dem Entsetzen eines Mannes zu verdanken ist, der nach einem herzhaften Biss in die Erdfrucht und einem jäh ausgestoßenen „Bäh! “ die Knolle ins Lagerfeuer geworfen hatte, weil die südamerikanische Feldfrucht ungenießbar schien, kurze Zeit später jedoch einer seiner Kumpane die verkohlte Kartoffel wieder aus der Glut stocherte, diese schälte und völlig entzückt war ob der so wohlschmeckenden kulinarischen Entdeckung. Man wundert sich, dass die patata-- wie sie die Andenvölker nannten-- nach dieser Anekdote nicht Glutapfel oder Flammenbirne heißt. Der Kartoffelgeschichten sind gar viele und die Bezeichnung kennt ebenso zahlreiche Variationen. Lediglich eine Sprache erinnert noch an die Herkunft der Erdäpfel: das Finnische. Dort ist sie schlicht und einfach unter „peruna“ bekannt, oder so ähnlich. Ich bin des Finnischen nicht mächtig, wohl aber Zeuge nachfolgender Begebenheit, in der die Kartoffel in lebensphilosophische Gefilde vordrang: Eine Mutter von vier Kindern saß eines Samstagnachmittags in ihrer Küche und schälte Kartoffeln. Wie es sich bei vier Kindern in aller Regel verhält-- vor allem samstagnachmittags--, war heftiges Gezeter und Geplärre in Haus. Der eine wollte dieses, der andere jenes. Als die Mutter zu etwas Ruhe mahnte, fühlte sich jeder auf seine Fasson benachteiligt oder übervorteilt. Nun gut. Das Gerangel um Sätze wie diese: „Philipp bekommt immer mehr als ich! “ oder „Marc war schon immer dein Liebling! “ oder „Ich muss immer zurückstecken, wenn Florian etwas haben möchte! “ oder gar „Martin darf machen, was er will- - bei ihm schimpfst du nie! “- - um die Protagonisten mit ihren vorwurfvollsten Äußerungen vorzustellen--, schwoll an, und die aufmüpfigen Tiraden wurden trotz aller Ermahnungen mit der Zeit derart übermäßig, dass die Mutter sich nicht anders zu helfen wusste als auf salomonische Art und Weise, die hier nacherzählt sein will. Sie hieß die vier Jungs am Küchentisch Platz zu nehmen, ging ihrer Tätigkeit jedoch auch weiterhin mit einer Seelenruhe nach, die nur Müttern zu eigen ist, und fragte erst nach einigen Minuten: „Bon, meine Söhne, sagt mal, was mache ich gerade? “ „Wie, was machst du gerade? “ fragte Philipp, der meistens als erster das Wort führte, wenn die Mutter von allen gleichzeitig etwas wissen wollte. „Du hast schon richtig verstanden“, sagte die Mutter: „Na, was mache ich gerade? “ „Kartoffelschälen“ sagte daraufhin Marc beherzt und lachte. „Richtig! “, erwiderte die Mutter. „Ich schäle Kartoffeln. Ich wusste gar nicht, dass ich solch wunderbar intelligente Kinder habe.“ Die Knaben schwiegen verdutzt ob der sanften Ironie, die sie streifte. „Und weshalb schäle ich diese Kartoffeln? “ „Wie, weshalb schälst Du Kartoffeln? “ fragte nun auch Florian, der dabei unentwegt auf die flinken Hände der Mutter schaute. „Es gibt heute Abend Pommes Frites“ sagte er in einem Anflug von kindlicher Erkenntnis und lehnte sich zufrieden zurück, als hätte er soeben eine äußerst schwierige Quizfrage beantwortet. 60 II. „Mhm, gut! “ Die Mutter nickte und lächelte. „Und, könnt ihr mir auch sagen, wie viele Kartoffeln schäle ich? “ „Viele! “ platzte es aus Martin hervor, und er begann sie zu zählen. „Ihr seid ja noch intelligenter als ich dachte“ sagte die Mutter und fuhr in ihrer Tätigkeit fort, ohne innezuhalten. „Könnte einer von euch mir nun auch noch sagen, womit ich die Kartoffeln schäle? “ „Wie, womit? “ fragte nun wiederum Florian. „Na, womit? Versteht ihr meine Frage nicht? Schälen sich die Kartoffen von allein? “ „Mit dem Messer! “ antwortete Philipp. „Richtig, mein Sohn! “ Sie schaute ihn fragend an und sagte: „Nur mit dem Messer? “ „Natürlich nicht“, erwiderte Marc. „Du hast ein Messer in deiner Hand! “ „Ich bin wirklich bass erstaunt“, fuhr die Mutter fort, indem sie das Messer beiseite und die geschälte Kartoffel in eine Schüssel mit Wasser legte. „Nun passt mal auf “, sagte sie, „und schaut genau her. Das sind meine Hände. Mit der einen halte ich die Kartoffel, mit der anderen das Messer. Und hier, meine linke, in der die Kartoffel liegt, hat 5 Finger-- so wie die andere auch mit 5 Fingern gesegnet ist. Wenn ich nun für einen Augenblick unachtsam bin und mir das Messer ausrutscht, während ich die Kartoffel schäle, was könnte dann passieren? Na, Philipp? “ „Dann würdest du dich schneiden! “ „Richtig. Wie gut du das erkannt hast, Philipp! “ Philipp lehnte sich nun ebenso selbstbewusst zurück wie kurz zuvor Florian. „Dann schaut mal her! “ Die Mutter hob die Hand, legte sorgfältig den Daumen nach innen und sagte: „Der Zeigefinger, Philipp, das bist du. Der mittlere du, Marc; der Ringfinger Du, Martin, und der kleine, das bist Du, Florian.“ Die Buben hörten andächtig zu und betrachteten nun ihrerseits die eigenen Hände. „Nun gut“, sagte die Mutter. „Könnt ihr euch vorstellen, dass, wenn ich nicht aufpasse, also für einen Augenblick nicht achtsam bin, und mir das Messer aus Versehen ausrutscht, dass ich mich dann schneide? “ Die Kinder nickten stumm. „Ob ich mich dann in den Zeigefinger, den mittleren, in den Ringfinger oder in den kleinen Finger schneide-- das wäre dann völlig egal. Jeder täte mir weh. Und genau so ist es auch mit euch. Egal, was wem von euch passieren würde, auch wenn ihr noch so verschieden seid, der Schmerz wäre ein- und derselbe.“ Die Kinder betrachteten die Hände intensiv, so als würden sie sich den Schmerz ansehen, den sie aus eigner Erfahrung kannten- - jeder von ihnen hatte sich schon einmal in den Finger geschnitten--, schauten abwechselnd auf ihre Hände und in das Gesicht der Mutter und schwiegen. Das ewige Geplänkel, Gezeter und Geplärre war ab jenem Nachmittag zwar nicht gänzlich verschwunden und flammte hin und wieder auf, und doch konnte sie feststellen, dass bisweilen bei ihren Worten der Schlichtung eine Art von Nachdenklichkeit, um nicht zu sagen, Besinnung auf den Gesichtern ihrer Kinder zu erkennen war. 61 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung So wurde aus der Kartoffel an einem nicht näher datierten Samstagnachmittag neben all den Gaumenfreuden, die sie zu bereiten vermag, auch ein Objekt philosophischer Anschauung. Und nicht von ungefähr weiß man seither, dass nicht nur die Liebe durch den Magen geht, sondern auch die Fähigkeit zur Erkenntnis. Aufgaben Nehmen Sie eine der nachfolgenden Kurznachrichten als möglichen Schreibanlass für die Schülerinnen und Schüler und lassen Sie sie eine Kalendergeschichte schreiben. Diese Schreibaufgabe ist als Gruppenarbeit ebenso möglich. Beschränken Sie auch für diese Übung die Anzahl der Seiten: Mindestens 2500 Zeichen mit Leerzeichen, maximal 5000 Zeichen mit Leerzeichen. Schreibanlass 1 Liebespaar rollt mit seinem Auto in den Rhein Meldung einer Tageszeitung im Jahr 2010 Ein gewaltiger Schrecken hat das Kuschelstündchen eines jungen Pärchens im hessischen Biebesheim beendet: Bei ihrem Pkw, der mitten in der Nacht auf einer sogenannten NATO -Rampe direkt am Rhein abgestellt war, löste sich plötzlich die Handbremse, und das Auto rollte in den Fluss, wie die Polizei mitteilte. Demnach ereignete sich der Vorfall in der Nacht zum Samstag gegen 2.30 Uhr. Die beiden 19-Jährigen konnten sich gerade noch aus dem Auto retten und ans Ufer schwimmen, ehe es versank. Daraufhin alarmierte das durchnässte Paar die Polizei. Vier Stunden brauchten Wasserschutzpolizei, DLRG -Taucher, die Feuerwehr und ein Abschleppdienst, um den Wagen zu bergen. Schreibanlass 2 Rohe Schnecke verspeist-- Mann in Lebensgefahr Eine dumme Wette um das Verschlucken einer lebenden Schnecke drohte einem jungen Australier zum Verhängnis zu werden. Der 21-Jährige hat eine seltene Parasitenkrankheit davongetragen und kämpft ums Überleben. Weil Freunde ihn anstachelten, verschluckte der Mann die Gartenschnecke, die offensichtlich einen Ratten-Lungenwurm übertrug, teilte die Gesundheitsbehörde von Sydney am Donnerstag mit. Die Larven des Parasiten überleben im Rattenkot, den Schnecken fressen. Der Mann muss die Larven mit der Schnecke verspeist haben. Sie wandern ins Gehirn und verursachen eine gefährliche Hirnschwellung und -entzündung. Schreibanlass 3 Forscher erschafft zum ersten Mal künstliches Leben Meldung vom 21. 05. 2010 | AFP 62 II. Ein Team um den US -Genforscher Craig Venter hat erstmals eine Zelle mit komplett künstlichem Erbgut geschaffen. Der Gensatz sei ausschließlich aus chemischen Elementen im Labor erzeugt und in ein Bakterium eingesetzt worden, teilte Venter mit. Der Durchbruch in der Forschung könne zum Beispiel zur Züchtung künstlicher Bakterien zur Erzeugung von Bio-Kraftstoffen oder zum Einsatz gegen Umweltverschmutzung führen. „Dies ist die erste synthetische Zelle, die je geschaffen wurde“, betonte Venter. Die Methode dürfte die Entwicklung der synthetischen Biologie einen großen Schritt voranbringen. „Dies ist ein sehr machtvolles Instrument, um die Biologie nach unseren Wünschen neu zu formen“, sagte Venter. „Es gibt eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten.“ Denkbar sei etwa die Entwicklung synthetischer Algen, die Kohlendioxid aufnehmen und so die Folgen des Treibhauseffekts lindern könnten. Auch Zellen zur Säuberung von Wasser sowie neue Nahrungsmittel und Impfstoffe könnten eines Tages die Folge dieser Entdeckung sein. „Die Möglichkeit, die Software des Lebens umzuschreiben, wird eine neue Ära der Wissenschaft einleiten-- und mit ihr neue Produkte und Anwendungsmöglichkeiten ergeben“, erklärte Venters Unternehmen J. Craig Venter Institute. Das Team veröffentlichte seine Befunde im US -Wissenschaftsmagazin „Science“. Für das Experiment bauten die Wissenschaftler nicht eine komplette Zelle, sondern nur das Erbgut nach. Sie erzeugten einen künstlichen Gen-Satz nach dem Vorbild des Bakteriums Mycoplasma mycoides mit knapp 1,1 Millionen Basenpaaren und setzten ihn in ein anderes Bakterium-- Mycoplasma capricolum-- ein. Das künstliche Erbgut übernahm daraufhin die Kontrolle über das Bakterium. „Wir beginnen mit einer lebenden Zelle, die wir transformieren“, sagte Venter auf einer Pressekonferenz. „Wir bezeichnen die Zelle als synthetisch, weil sie auf einem komplett synthetischen Chromosom beruht, das aus vier Fläschchen Chemikalien und einem Bindestoff hergestellt ist.“ Venter betonte, die Erzeugung eines synthetischen Kleinstlebewesens sei „ein wichtiger Schritt-- in der Wissenschaft wie in der Philosophie“. Der Forschungsdurchbruch ändere „meine Betrachtung des Lebens und seiner Funktionsweise“. Venter betonte, dass die langjährigen Forschungsarbeiten an dem Projekt von Diskussionen unter den Wissenschaftlern über die ethischen Konsequenzen begleitet wurden. Der US -Forscher Craig Venter hatte sich bereits vor zehn Jahren als einer der Ko- Autoren bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts einen Namen gemacht. Einige der teils sehr umgangssprachlich und salopp, auch an der Grenze zur Beleidigung oder aber schlicht mit post-faktischem Anhauch formulierten Online-Kommentare zu dieser Meldung könnten, als zusätzliches „Denk-Material“ für den letzten Schreibanlass oder für eine Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern, eine Handreichung sein. Der Authentizität halber wurden sie im Original belassen, also nicht orthografisch korrigiert. K. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 47: 16 Penicilin? ! Einige Leute hier haben die immense Wichtigkeit solcher Forschung anscheinend immer noch nicht begriffen, was allerdings seltsam ist da man genug Zugang zu Büchern haben sollte, um sich eine entsprechend rationalere Meinung zu bilden. Und an die ganzen Gottes und Das-ist-wider-die-Natur- Fanatiker. Schonmal überlegt das der Mensch der verlängerte Arm eines neuen Natürlichen Schritts sein könnte? ? ! ! Evoulotion mit Ziel-… Wäre ein Gedanke wert. 63 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Fr.d.T. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 46: 37 Gen-Murks Es ist interessant, dass schon in der Überschrift folgender Blödsinn steht: „zum Beispiel zur Züchtung künstlicher Bakterien zur Erzeugung von Bio-Kraftstoffen oder zum Einsatz gegen Umweltverschmutzung führen.“ Das können diese Frankensteinis ihrer Oma erzählen, aber nicht mir! Ich glaube, dass dies erst einmal wie in Amerika üblich, militärisch genutzt wird. Da ist ein viel höherer Profit garantiert. M. A. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 45: 54 Sehr interessant Bisher hat man immer versucht durch genetische Manipulation Organismen auf die Hauptbestandteile zu reduzieren. Das macht Bakterien, die z. B. unser Insulin produzieren, effizienter. Dies hier ist sicherlich ein guter Schritt zu neuen Industriemikroben und zum tieferen Verständnis der Natur. Ich halte allerdings eine begleitende Risikoforschung für zwingend und bin gegen die Freisetzung in die Natur. Eine ethische Debatte gehört genauso dazu. Künstliche Organe sollten damit wahrscheinlicher werden. A. K. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 50: 29 Kommentare Die Mehrzahl der Kommentatoren outen sich hier als blutige Laien, die zu aufgeschnappten, unverstandenen Fragmenten von allem und jedem eine Meinung haben, was erlaubt, aber sinnlos ist. Die Arbeiten sind ein weiterer Meilenstein der Molekularbiologie, denn zuvor hat noch niemand ein komplettes Genom vollsynthetisch erzeugt. Auch wenn die synthetisch hergestellte Erbsubstanz der Natur abgeschaut wurde, ist damit der wichtigste Teil einer lebenden Zelle erstmalig künstlich hergestellt worden! I. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 36: 46 Na endlich! ! ! Endlich gibt es einmal gute Nachrichten! Das ist ja phänomenal! Da kann es ja mit der Forschung gegen Krankheiten nur bergauf gehen. Endlich wird einmal ein Artikel über ein essentielles Thema geboten. Es wäre allerdings schön, wenn die Leserinnen und Leser die enorme Wichtigkeit der Genforschung für Kranke begreifen und richtig verstehen würden. Die meisten urteilen aus bloßer Angst und Ignoranz völlig falsch. H. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 34: 38 Dr. Venter Na dann kann uns ja weiter nichts mehr passieren. Wir können die Erde weiterhin ausbeuten und verschmutzen. Danke Herr Venter für diesen FREIBRIEF . Mir wäre es lieber, wenn die Verantwortlichen dieser Ölverschmutzung mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft werden! Übrigens sind wir als Verbraucher auch beteiligt, denn mit unserem Konsumverhalten nehmen wir billigend in Kauf, was auf unserem Planeten passiert. Geld regiert die Welt und nicht der Verstand! Traurig! ! ! ! 64 II. A. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 32: 38 Amerika unbegrenzt Die sollen lieber AIDS oder Krebsmedikamente erforschen, als das Geld für diesen Unsinn auszugeben. Ganz typisch wiedermal Amerika das Land der unbegrenzten Mö……Wie unbegrenzt Amerika mit ihren Schulden ist, das sehen wir jetzt. Ein Land fehlt noch in der Liste der Schurkenstaaten. Pho. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 26: 43 Künstliches Leben Künstlich ist das in meinen Augen nicht, denn es wurde lediglich eine im Labor geschaffene chemische Verbindung in eine LEBENDE Zelle implantiert, um diese genetisch zu verändern. Hoffentlich schlägt das alles nicht auf uns zurück! ! " DIE GEISTER , DIE ICH RIEF -…! ! ! ! " Mir wird Himmelangst, wenn ich solche Meldungen lese! ! O. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 22: 21 „künstliches Leben“ Der Kommentar 21. Mai 2010, 8: 59: 53 ist ausgezeichnet. Schon die Überschrift der Meldung grenzt an Hochstapelei. Und bewahre uns Gott davor, dass irgendjemand tatsächlich künstliches Leben schaffen könnte; das wäre gefährlicher als ein ganzes Atomwaffenarsenal. Die wissen doch nicht mehr, was sie tun! F. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 21: 13 Tolle Sache Hoffentlich die basteln mal tolle Frauen die nie älter werden und keine Kinder bekommen. Die muss man immer jeden Tag schön ölen, damit sie nicht einrosten. A. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 19: 32 Künstliches Leben Na das klappt doch wieder mal-… das Öl z. B. macht alles Natürliche kaputt, aber halb so schlimm, wer es sich dann leisten kann, kann alles wieder gut und schön machen-… klingt irgendwie so: für Luft bezahlen, die man zum atmen braucht. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder einfach so davon profitieren kann. Das wird bezahlt werden müssen. U. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 16: 56 Künstliches Leben Moin-… ich finde das ist eine gute Sache-… Hier sollte man unbedingt schneller weiterforschen. L. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 13: 10 Künstliches Leben Ein heikles Thema und sehr gefährlich, denn in einigen Jahren wird es nicht bei künstlichen Bakterien bleiben. Es sollten schnell Gesetze geschaffen werden, welche dieses Forschungsgebiet eng eingrenzen. 65 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung A. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 09: 46 Auch mit Lehm gehts Ist ein alter Hut, Gott hat den Menschen auch aus Lehm geformt und siehe da, es hat funktioniert. Man muss nur das Rezept kennen, dann kann man die tollsten Sachen basteln. E. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 08: 53 Künstlich Na, klasse. Wissenschaftlich ein Durchbruch. Aber jede, wirklich jede, bahnbrechende Erfindung wurde bislang von unseren tollen machtorientierten Volksvertretern als Terrorinstrument missbraucht. Warum soll es bei dieser Entdeckung anders sein? Leute, zieht Euch warm an. Eff. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 08: 31 Nochmal wg. Bakterien Also wenn endlich jemand ein wirksames Mittel GEGEN Bakterienvermehrung im Haushalt erfunden hätte dann könnte ich die ganze Aufregung drum herum verstehen-… aber so? O. schrieb am 21. Mai 2010 um 09: 03: 47 Kunstleben Die Menschen sind schon zu blöd Erdöl aus dem Boden zu holen, da sieht man doch schon im Ansatz was passiert wenn was aus dem Ruder läuft. XXX schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 59: 53 XXX Na, dann kann ich ja weiter an Gott glauben! „in ein Bakterium eingepflanzt“ ist manipuliertes Leben, aber eben nicht künstlich. Hieße es: „Aus Aminosäuren durch Bestrahlung Zellen entstanden“ o. ä. sähe die Sache tatsächlich sensationell aus. Fu. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 58: 58 Künstliches Leben „Es gibt eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten“, deren Folgen man gar nicht beeinflussen kann. Die haben sie doch nicht mehr alle. Wenn der Mensch nicht alles zerstören würde, bräuchten wir auch keine mutierenden Bakterien, die alles wieder chic machen. Der Mensch ist das Problem. W. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 53: 04 „warum auf Alien warten“ Also mal ehrlich, warum noch auf Alien warten? Einfach selber erschaffen und dann geht`s ab! ! Ra. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 46: 25 Frankenstein Nun mal angenommen es hat geklappt, das mit dem künstlichen Leben. Kann das Ding auch mutieren, also sich im Laufe der Zeit verändern wie alle anderen Lebewesen? Wenn ja, wovon man ausgehen muss, verändert es auch uns: Pestbeulen sind doch sooo schön. 66 II. El. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 46: 23 Bakterien-Vermehrung Ich habe das jetzt nicht verstanden-… jeder kann doch Bakterien vermehren; die tun das übrigens sogar von ganz alleine-… z. B. wenn man seine Wohnung nicht richtig sauber halten kann. Sch. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 41: 38 Synthetisches Leben Das nächste ist dann, dass man die Bakterien zur biologischen Kriegsführung umfunktioniert. Amerika hat diesbezüglich nie Hemmungen gehabt. Gayaforce schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 41: 27 K. L. (Künstliches Leben) Das Leben findet einen Weg! Jeder Eingriff bedeutet Zugriff und damit unwiederbringliche Veränderungen. Die Welt ist nicht umsonst SO wie Sie ist! ! ! OG schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 37: 09 … Na prima, schlimmer wird es kaum, es hat sich nicht bewährt. Es lebt und verbraucht zwar, kann aber nicht selbständig denken! BC . schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 36: 46 Bakterienzucht Endlich wurde einmal etwas geschaffen, was die Menschheit wirklich braucht-… so kann man doch das Welthungerproblem lösen. T. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 34: 41 Ventergeplärr Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Geradezu exemplarisch für die marktschreierische Unsäglichkeit dieser pseudowissenschaftlichen Datenfriedhofswärter. aa. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 31: 32 Lebende Zellen Wenn die Zellen zu denken anfangen, dann ist es soweit. Hemmungen gehabt. Mi. schrieb am 21. Mai 2010 um 08: 30: 55 gene Der Terminator lässt grüßen. Es ist zwar immer noch Science Fiction, aber in naher Zukunft wahrscheinlich das so etwas wie der Terminator wahr wird. 67 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Schreibanlass 4 Manager schenkt Hure ergaunerte Million Nachricht vom 21. 05. 2010 Wenn Liebe blind macht: Der frühere Manager einer Versicherung aus der Schweiz hat einer Prostituierten rund eine Million Euro (1,5 Millionen Franken) geschenkt. Das Geld hatte er allerdings mit gefälschten Rechnungen bei seinem Arbeitgeber ergaunert. Deshalb wurde der 39-jährige Mann in St. Gallen jetzt zu zwei Jahren Haft mit Bewährung verurteilt. Das 26 Jahre alte Call-Girl, das wegen gewerbsmäßigen Betrugs auf der Anklagebank saß, wurde dagegen freigesprochen. Begründung des Gerichts: Es konnte nicht eindeutig bewiesen werden, dass die Prostituierte dem Ex-Direktor eine Liebesbeziehung vorgetäuscht hatte. Der Mann, der seiner Geliebten auch noch sein privates Vermögen überlassen hatte, habe die zahlreichen Warnsignale einfach ignoriert und in hohem Maße leichtfertig gehandelt. „Blind, dumm und kriminell“. Der heftig verliebte Manager gab der Frau die 1,5 Millionen Franken in nur zwei Jahren und in der Hoffnung, dass sie damit den Schritt zurück in ein bürgerliches Leben schaffte. Die dachte aber überhaupt nicht daran, sondern kaufte in großem Stil ein-- unter anderem erwarb sie ein Haus in den USA . Ehrliches Schlusswort des Angeklagten: Die Liebe zu der Prostituierten habe ihn „blind, dumm und kriminell“ gemacht. Schreibanlass 5 Pilze gesucht, Riesenschlange gefunden PIRMASENS (dpa). Riesenschreck im Wald: Eine Pilzsammlerin hat im Pfälzer Wald nicht nur Steinpilze und Pfifferlinge, sondern auch eine Riesenschlange gefunden. Die 2,5 Meter lange Netzpython war nach Angaben der Polizei in Pirmasens verletzt. Das Tier wurde zu einem Tierarzt gebracht. Woher die Schlange kam, war zunächst unklar. Netzpythons zählen zu den größten Schlangen überhaupt und leben normalerweise in den Tropen Südostasiens. Ob die Pilzsucherin ihr Hobby beibehält, ist nicht bekannt. (11. 10. 10) Kommentar zur Meldung „Pilze gesucht, Riesenschlange gefunden“: Hallo zusammen, ich nehme an, jeder der sich mit der Materie ein wenig auskennt, bzw. sich dafür interessiert, kennt die Bilder und die Geschichte von einem Eingeborenen auf den Philipinen(? ), der von einer Netzpython gefressen wurde. Für die, die sie nicht kennen, hier mal die ungefähre Story: Der Eingeborene Lantod Guimulu (32) wollte im April ´98 auf Fledermausjagd gehen. Als er abends im Regenwald verschwunden war, wurden (angeblich) Schreie gehört. Die nächtliche Suche blieb erfolglos. Am nächsten Tag (andere Quellen berichten von 13 Tagen danach) wurde ein riesiger Netzpython gefunden, der etwas Großes verschlungen haben muss. Man tötete die Schlange und schnitt sie auf. Zum Vorschein kam der verschwundene Fledermausjäger. Hier das Bild-… 68 II. Es gibt noch andere Bilder von der Schlange, wie sie gerade auf einen Lastwagen gebunden ist, aber diese fand ich leider nicht. Wahrheit und Märchen dieser Geschichte seien mal dahingestellt. Im Nachhinein wurde sicherlich Vieles dazugedichtet oder weggelassen. Fakt ist jedoch, dass eine Schlange einen Menschen gefressen hat-- was belegt ist. Interessant wird es aber erst jetzt: Durch Zufall, als ich im Netz recherchierte, stieß ich auf ein Bild, welches mir die Sprache verschlug (dieses Bild ist nichts für schwache Nerven! ! ! ): http: / / foto.arcor-online.net/ palb/ alben/ 67/ 30867/ 1024_3931373463626561.jpg Auf dem Bild ist ein Netz-Python zu sehen, der gerade einen Menschen verschlingt. Den Kopf voraus und bei den Schultern „angekommen“. Zuerst ging ich davon aus, dass es sich um den gleichen, oben beschriebenen Fall handle, aber bei genauerer Betrachtung fällt einem Folgendes auf: 1. die Hose, die das „Opfer“ trägt eine andere ist. 2. wenn der Einheimische wirklich erst am nächsten Tag im Bauch der Schlange gefunden wurde, wer hat dann das Foto gemacht, d. h. dass der Fotograf direkt daneben gestanden haben muss? ! 3. Warum hat der Fotograf nichts unternommen, sondern-- wenn es wirklich derselbe Fall war-- den Python den Menschen ganz verschlingen lassen? Ist es nun der gleiche Fall oder nicht? Vielleicht weiß jemand was über diesen Fall, das Bild, die Geschichte? ! ? Würde mich über Eure Antworten freuen. Dass sich Schlangen bei kühlem Wetter in warme Spalten im Boden zurückziehen, ist ein ganz normales Reptilienverhalten. Riesenschlangen haben ja auch ein spezielles Organ, um Wärme zu spüren, so etwas wie einen Sensor, ähnlich dem Grubenorgan der Grubenottern-- also sie können sozusagen infrarot sehen. Es muss also nicht wundern, dass Reptilien gezielt die warmen Ecken in einem Gebiet finden. Dies tun sie überall auf der Welt. Dabei geht es nicht um Intelligenz, es ist instinktives Überlebensverhalten. Schreibanlass 6 Mann lebt mit Leiche seiner Mutter Online-Meldung vom 25. 03. 2011, 20: 17 Uhr Ein Mann aus Saarlouis hat vermutlich über Jahre hinweg neben der Leiche seiner Mutter in der gemeinsamen Wohnung gelebt. Nach einem Hinweis entdeckten Beamte die bereits skelettierte Leiche der Frau in einem Fernsehsessel der Wohnung, wie die Polizei mitteilte. Sie ist nach Einschätzung der Ermittler bereits zwei bis drei Jahre tot. „Der 46-Jährige, der über kein eigenes Einkommen verfügt, lebte offensichtlich von der Rente seiner Mutter“, hieß es im Polizeibericht. Nach seinen Angaben ist die Frau bereits seit 2008 tot. Wann und woran genau sie starb, soll bei einer Obduktion geklärt werden. Schreibanlass 7 „Der erste Schuss saß“: Yvonne auf dem Gnadenhof eingetroffen (t-online, 2. 9. 2011) 69 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Nach wochenlangem Versteckspiel ist die berühmt gewordene, ausgebüxte Kuh „Yvonne“ im oberbayerischen Ampfing eingefangen und mit einem Schuss aus dem Blasrohr betäubt worden. Sie ist inzwischen beim Gnadenhof von Gut Aiderbichl in Deggendorf eingetroffen-- dort soll sie einen ruhigen Lebensabend verbringen. Ein Betäubungsexperte konnte die Kuh im Ortsteil Unteralmsham ruhigstellen und auf den Transport vorbereiten. Das Schicksal des aus Österreich stammenden Rindes „Yvonne“ hatte wochenlang auch im Ausland für Schlagzeilen gesorgt. Dazu trug bei, dass Gut Aiderbichl „Yvonne“ ihrem Besitzer abkaufte, um ihr wie weiteren 400 Artgenossen auf einem der Gnadenhöfe den Schlachthof zu ersparen- - und stattdessen einen ruhigen Lebensabend zu ermöglichen. Auch „Yvonnes“ Sohn „Friesi“ und Schwester „Waltraut“ sowie Kälbchen „Waldi“ können dort friedlich mit der berühmten Verwandten grasen. Am Donnerstag war „die Kuh, die ein Reh sein will“, am Gatter einer Weide entdeckt und eingelassen worden. Sie hatte sich dort vier Kälbern angeschlossen. Identifiziert wurde sie dann über die Ohrmarke. Ein erster Versuch, „Yvonne“ noch am Abend mit Hilfe einer Betäubung einzufangen, wurde nach Einbruch der Dunkelheit aufgegeben. Am Freitag kurz nach 7 Uhr war es dann soweit: „Nach dem Schuss trabte Yvonne noch ein paar Schritte über die Weide und legte sich dann hin“, erzählte ein Beobachter. Die Kuh wurde nach dem Verladen auf einen Viehtransporter mit einem Gegenmittel aber rasch wieder quicklebendig gemacht. Schreibanlass 8 Amnesty wirft US -Justiz nach Hinrichtung von Troy Davis Versagen vor Nachrichtenmeldung vom 22. September 2011 BERLIN - - Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat der US -Justiz nach der Hinrichtung von Troy Davis Versagen vorgeworfen. Der 42-jährige sei „mit der Giftspritze getötet worden, obwohl es große und gut begründete Zweifel an seiner Schuld gab“, erklärte der USA -Experte der deutschen Amnesty-Sektion, Sumit Bhattacharyya, am Donnerstag. Dieser Fall zeige, dass das Justizsystem der USA „seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird“. Mit einigen Stunden Verzögerung war das umstrittene Todesurteil am späten Mittwochabend (Ortszeit) im US -Staat Georgia vollstreckt worden. Davis soll 1989 einen Polizisten erschossen haben. Die Anwälte des Verurteilten haben bis zuletzt erklärt, ihr Mandant sei unschuldig. Ein in letzter Minute eingereichter Antrag auf Aufschub der Exekution wurde vom Obersten Gerichtshof in Washington abgelehnt. Schreibanlass 9 Beim „Kirschkernweitspucken“ schwer verletzt-… 16. 06. 2011, 15: 31 Uhr | presseportal.de KÖLN - … hat sich am Mittwochabend (15. Juni) ein Kölner (44) im Ortsteil Ehrenfeld. Gegen 19.50 Uhr fiel der alkoholisierte Mann ohne Fremdeinwirkung von einem Balkon am Alpenerplatz in die Tiefe. 70 II. Im Beisein seiner Lebensgefährtin (30) hatte der Mann zuvor in der gemeinsamen Wohnung im dritten Obergeschoss reichlich dem Alkohol zugesprochen. Mit einem ebenfalls anwesenden Nachbarsjungen (12) hatte er sich dann auf den Balkon begeben, um dort mit dem Kind „Kirschkernweitspucken“ zu spielen. Laut Zeugenangaben verlor der Mann hierbei das Gleichgewicht, stürzte auf den Rasen und zog sich schwere Verletzungen zu. Umgehend eilte seine Freundin nach unten und wählte den Notruf. Ein eingesetzter Notarzt ließ den Schwerverletzten in eine Klinik fahren. Dort wird der 44-Jährige auf der Intensivstation behandelt. Lebensgefahr besteht nicht. Schreibanlass 10 Stöbern Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern selber durch die Portale oder Publikationen verschiedener Tagesmeldungen und lassen Sie die Schülerinnen und Schüler ihre „eigenen“ Nachrichten oder Meldungen aussuchen, die sich für eine Kalendergeschichte mit einer Pointe eignen würden. Teil 3 „Noch ein Jahrhundert Zeitungen-- und alle Worte stinken.“ Friedrich Nietzsche: Nachgelassenes Fragment-- KSA, 10, 73 / 1882 Die verschiedenen Nachrichten und Kurzmeldungen, die im vorausgehenden Teil 2 nicht unwesentlich zur Auseinandersetzung um Text und heutiger Sprache beitragen können, leiten über zu einem Essay, den ich über das Zeitungslesen und die Nachrichten geschrieben habe. Er wäre Ausgangspunkt für ein eigenes essayistisches Thema über Zeit, Vergänglichkeit und Tod. & zeitlese mich her. Täglich : es mag verwegen sein, wenn nicht gar zuviel der schöpferischen Passion, schon als Kopfzeile dieses Textes die gemeinhin zu Recht eingeforderte Nachvollziehbarkeit eines Beitrages zu irritieren & mit einem durchaus kühnen Sprachgebilde anzuheben, das für eine Lese-Verwirrung ins Ungereimte sorgen könnte- - vor allem dort, wo es um einen Zeitungsbeitrag geht. Ein Beitrag, der doch in seiner kommunikativen Absicht eher das Gegenteil bewirken & die vielbeschworene Flut an Information entwirren sollte, indem er Punkt Strich Komma Absatz &, alle anderen Schreibregeln respektierend, in kurzen, zumindest kürzeren Sätzen spricht, 1 Zutat einladender Ansprache & 1 Ausgewogenheit durch Sprachauswahl & den Inhalt streut & ganz bestimmt auch dies zu fördern hat: die Übersicht. Bei mir verursacht die Zeitungslektüre jedoch meistens eine Reaktion, die spielt mit dem, was ich da lese & ich finde selten 1 Anfang & 1 Ende 71 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung 1 Verbkompositum zu Beginn dieses Schreibversuches also, das es nicht gibt, & 1 Beiwort, das letztendlich erfunden werden müsste, stünde es-- noch unausgesprochen zwar-- nicht schon längst & nicht mehr wegzudenken im Raum wie 1 Kurz-Meldung, 1 Satz, der mit einer unglaublichen Enthüllung aus dem News-Ticker rauscht, in letzter Minute einen der begehrten, reservierten oder freigemachten Druckplätze in der aktuellsten Ausgabe erhält, die Eilmeldung dadurch fast noch hörbar macht & gerade deshalb den neugierigen Menschen seelenfüttert, seine umtriebige Lust befriedend, spekulativ & kritisch, jeden Tag 1 Mehr an Wissen zu entblättern, sein offenkundiges, aus den Schlagzeilen abzuleitendes Begehren im Kuriosen Wunderfitzigen Unerwarteten zu stöbern nachzuhaken aufzuhorchen & über einen Alligator (oder ähnliches Getier) zu stolpern, der sich wie 1 Hund 1 Katze oder 1 verschlucktes Telefon zum Scheidungsgrund samt Körperverletzung gemausert hat; oder das pflichtentraurige Gesicht in demjenigen des strahlenden Lottogewinners zu spiegeln, in dessen Vernunft oder Unvernunft; oder sich einfach nur in gewohnter Sicherheit zu wiegen (hierzulande), um sich in ihr, wo immer besagter Zustand auch zu orten wäre, vorzustellen, was unvorstellbar ist & weit, weit fort. Bedrohliches Gefahren Schrecken. Angst, die es abzuwenden gilt. Terror Überschwemmtes Hurrikane Erdrutschsiege & immer wieder doch 1 Retter in der Not, der sich auch dort aufhält. Dazwischen Zeilen, die unumstößlich sind, unabhängig davon, was zu hören war, zu sehen riechen. Auch das 1 Freundin, die längst vom Geheimdienst gekauft war, den Mund ständig an der Bahre & die Frage von Gehirn & Eigentum Hunger Elend Durst etc. & ganz ohne Sarkasmus: den Abreißkalender einer möglichen Aufzählung kennen Sie ja selber zur Genüge, dies Kompendium aus Raritäten & haltbaren Gültigkeiten artikelwärts eintauchen oder abtauchen ins Alltägliche der Nachrichten Berichterstattung Hiobsbotschaften ins Vorgeahnte Gewusste Bestätigte oder 1 nichtalltägliches Feuilleton lang durchatmen, dem Ereignis-Bann entkommen & aus dem Gesagten schöpfen, wörterschöpfen & Klärung bilden, 1 Dahinterblicken 1 Meinungsstütze Ruhe 1 Verlangen Klarheit 1 Inspiration & deren Energie aus dem Geflecht der Unruh, die fortbesteht & die auch ich nur all zu gern enträtselt hätte. Das Perpetuum der Not im Griff 1 Nachdenken darüber, was 1 Furioso sein könnte, 1 Meisterwerk Melodik Harmonik Kontrapunkt & Form 1 leiser Ton, der alles sagt im Chaos 1 Missgeschick 1 Unfall Katastrophen 1 Kompromiss & Krieg Verhandlungen & Hoffnungszeichen. Das Für & Wider & das Warum Weshalb Ach so & Was nun ? -- ständig unterwegs & ständig auf der Suche-- so könnte 1 Motiv der Vorliebe, eigentlich Lust, bezeichnet werden, die mich zum leidenschaftlichen Zeitungsleser hat werden lassen aus den Zeilen treten hineinzustapfen SEIN , mitten unter ihnen, davor & danach. Bestimmter die gültige Rechtschreibung Grammatik Verständigungsebene mit ihnen dehnend oder zusammenziehend & 1 Art Sprachakrobatik meisternd, die nicht mehr ganz im grünen Bereich liegt, die unglaublichsten Verrenkungen vorführt & kein Verschweigen der wesentlichen Dinge nahe legt, vielmehr anstachelt ins brüchig filigranere Wort, das vorsichtiger wird von Tag zu Tag & fragiler, weil die Lektüre jeder Zeitung 1 Seiltanz ist 1 Wand 1 Becken Sprung- 72 II. brett Taumel. 1 Fluss, in den man stürzt & schwimmen lernt. Pathos hin & Pathos her, manchmal gar ums Leben „Eres más embustero que el 7-Fechas“, pflegte Vater immer zu sagen, wenn ihm eine Geschichte nicht ganz geheuer vorkommen wollte, die ich mir als Kind zur Rettung manch unangenehmer Situationen ersann & die mir dann bald selber unglaubwürdig wurde. Ganz wie der Sog in eine gut erzählte Titelgeschichte, die alle zu interessieren hatte. „Deine Lügen übertreffen sogar die 7-Fechas! “- - so eine der möglichen Übersetzungen. Ich mochte den Ausspruch damals & hatte natürlich keinen blassen Schimmer davon, dass die 7-Fechas, das sei für den Unkundigen angemerkt, eine Zeitung im Spanien der Franco-Diktatur war, sprichwörtlich 1 Staatsdoktrin & alle systemtragenden Umgelogenheiten verbreitend, die es zu infiltrieren galt, anders gesagt: lateinisch-spanische Buchstaben auf kurzen Beinen, wie die Lügen selber, denen die ebenfalls sprichwörtlichen Gliedmaßen-- längerfristig betrachtet-- ja auch zu kurz geraten sind. Die Presse lehrt es was eine Zensur, die Zensur, bedeutet, wurde mir erst in späteren Jahren einsichtiger, als ich von einem Antiquar eine Feldpostkarte erwerben konnte, deren Absenderangabe lediglich das furchtbeladende Wörtchen „Kriegsgefangenensendung“ preisgab-- datiert im Juni 1916-- & von deren Mitteilung nur noch die Anrede zu erkennen war: „Lieber Bruder“. Der Rest 1 Schwarz. 1 schwarzer Balken & die Phantasie, die Vorstellungskraft, die sich beim Betrachter urplötzlich einstellte & die das innere Geschichtsbuch zu öffnen weiß, wo verschwiegen wird verboten & 1 Mundtotes ist man liest sich immer mit. Nicht eine Meinung war gewünscht-- so will es die Postkarte, die heute noch auf meinem Schreibtisch steht, mich lehren-- nicht eine Sicht der Verhältnisse, die man sich kritisch bilden könnte, sondern 1 Meinung, die eingestampft zurechtgestiefelt verstümmelt zu sein hat(te). Fatale Entgleisung. Bis dato wurde ich von dieser Art Zensur verschont. Es möge so bleiben ich zeitlese mich also her oder tazlese mich ein, 1 Zeitung lang & in diesen Artikel so nehme ich mir denn vor, beileibe und bei Kopfe, mit diesem Text nicht informativ zu sein, geschweige denn Argumente anzuführen. Das überlasse ich denjenigen, die etwas davon verstehen, ihr Handwerk von der Volontärs-Pike auf gelernt haben oder aber unter jenen wenigen Naturtalenten auszumachen sind, die sich in einer Reportage herschreiben wie andere in einem Gedicht Journalisten Reportern Kommentatoren Meinungsmachern Kritikern Rezensenten & will die bloße Aufzählung (Verzeihen Sie die Kürze! ) auch gleich schon wieder unkommentiert verlassen, nicht jedoch, ohne meinen Respekt zu erwähnen. Den, der mir im Laufe meines bisherigen Leselebens zu eigen wurde, angesichts all der unvergleichlich guten Kunst des Schreibens, der bewundernswerten Berichterstattung ins Mutige, die im Wort steht, Wort hält & die ich täglich mitverfolge 1 Respekt vor all denjenigen, die sich nicht zufrieden geben mit dem Dargestellten & weiterbohren; oder vor den anderen, die in einer Kolumne mit klaren Worten auf den Punkt bringen, was ich gar nicht so klar sehe & mir eine gelungene Glosse wie einen augenzwinkernden Merkzettel in den Tag mitgeben, den Gedankenschatz mit einem schelmischen Lächeln 73 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung bereichern, hie und da die Zitierfähigkeit zwar dennoch strapazieren, aber nichtsdestotrotz die Widersprüchlichkeit der Zeugenschaft erträglicher machen & werde wortkreativ durch sie alle. Denn es gibt etwas zu enträtseln: den Großdruck Kleindruck Dünndruck der Gefühle: das Herz als vernünftiges Auge, den Kopf als empfindende Seele 2 die mich im Insgeheimen betreffen: den Zeitungslesenden. Denjenigen, der immer noch liest & sich nach wie vor gern dem Geschriebenen der Tagespresse anvertraut, auch wenn nichts so „alt“ zu sein scheint, wie die nachgeschobene, vergänglich-präsente „Zeitung von Gestern“; die Nachricht, die sich vielleicht schon längst überholt hat; vielleicht schon, wenn 1 Text verfasst wird & Annäherung nur ist, was machbar scheint 1 Komplize folglich der Vorüberheiten. So begegnet mir das Leben. So bestätigt es mir die zusammengerufene Welt in den Artikeln Novitäten 1 Komplize im Widersprechen, Zuspruch, Einvernehmen & ich stelle mir vor die taz zum Beispiel, als 1 Möglichkeit dem Text, den Sie bis hierher gelesen haben, doch noch beizukommen & ihm eine Struktur zu geben, einen Rahmen & könnte 1 Inneres, eine zufällig gewählte Ausgabe studieren & mir 1 roten Faden geben in diesen Beitrag, um die tägliche Lektüre der Zeitung zu verteidigen, ohne dass mir das beim hehren Anspruch, den ich an die „MacherInnen“ stelle & so ganz ohne verbindliche Recherchen, anstünde, wohl aber, weil ich die Ratschläge in mein eigenes Schreiben wieder einmal nicht befolgen will & mir vorgenommen habe, 1 „Zeitung an Gedanken“ herzuschreiben assoziativ & ungeschützt. Als gelte es, die Gedanken-Anthologie um & für das Lesen einer (Tages)Zeitung auch einfach irgendwo aufzuschlagen im Sammelsurium der Gründe, die es gibt & gäbe, um sie an anderer Stelle, im nächsten Absatz weiterzuspinnen loszulassen zu entkräften festzulegen auf 1 Neues. Die behütetere Form, sich in ins Offene zurückzulehnen & auf Reisen zu gehen Kultur & Politik Gesellschaft Wirtschaft aus & in die Welt 1 Wörterbuch der Medizin Sport Science & Fiction Fülle- - die Ebenen vermischen, die sich in Nachbarschaft empfehlen & Leserbriefe Inserate Arbeitsmarkt, die Werbung immer wieder-- auch diese Reihenfolge wie willkürlich als gelte es, nach einem Satz, der unverhofft die Aufmerksamkeit auf sich zieht, einfach zu springen in den nächsten Gedanken, von dort aus in einen weiteren & anderen Artikel; 1 Text, der mich ebenso anfällt wie der zuvor ertappte & hier 1 Wort, das aufzuschnappen gilt, dort wieder 1, schließlich nachdenklich werden grinsen grübeln innehalten ob der Verwunderung & seltsam hergewürfelten Konstellationen einprägsamer Überschriften Aussprüche Zitate Hergeleitetem. Korrektur um Korrektur Satz um Satz, mich um die Titel bringen, dessen, was ich weiß; ja die Gedanken, die um die Zeitung kreisen, führen Ungewöhnliches in den Sinn & provozieren mich ins Neu & Querzulesende der Schrift. Wo es doch für Viele darum ginge, 1 Gewohntes 1 Verlässliches zu berichten vom Reiz einer kleinen, großen Obsession & von der „Grammatik eines Tages“, die kaum greifbar beim nächsten (Ab)Satz, beim nächsten Wörterwink bereits in 74 II. 1 Gewesenes 1 Gestriges vermündet & diese Aufgabe auch textlich, will sagen, dies Unterfangen auch stilistisch einwandfreier zu berücksichtigen man sehe es mir nach (oder auch nicht). Ich überlasse es Ihnen, die sich auf das Wagnis eingelassen haben, diesen Artikel mitzugehen, manche Interpunktion zu setzen, hie und da ein Bild oder 1 Gedanken zu verwerfen, umzugestalten oder diese Skizze einfach nur beiseite zu legen es gibt ja von allem etwas & diejenigen, die nur den Wirtschaftsteil aufschlagen. Das sei ebenfalls benannt & die der Politik Kultur & deren Verzichter & die, die lauter lesen, sich dahinter verbergen oder sich auf die nächste Folge, das nächste Kapitel, den Fortsetzungsroman freuen, vielleicht Rezepte sammeln Horoskope Kontaktanzeigen & diejenigen, die sich die Heimatzeitung abonnieren, zusätzlich & weil die Todesanzeigen zum Ort gehören wie Vereine, die sich feiern, oder Betriebs- & sonstige Jubiläen & die, die Fußballbilder suchen, den verschossenen Elfmeter, die Fehlentscheidung den Klatsch danach die Prunkhochzeit 1 Allgemeines im Besonderen & 1 Adelung in Sprache, die 1 Schnappschuss ist & die, die sich das Börsenfieber kaffeefärben & Index Dachs & Wallstreet-Seiten. Nicht nebenbei so tun infarkten zocken & die Verwahrer Sammler Artikelschneider Morgenleser & die, die sich im Interview vergnügen ärgern finden selbst erheben usw. Gottseidank. Es gibt sie alle & viel mehr. Ach, Sie wissen’s doch: allein die tägliche Portion Neugier & darauf gespannt sein zu dürfen, was ist, was war, scheint Grund & Erklärung genug ins Lesen der zunächst sorgfältig offene, umher & abstreifende Blick; das unüberschaubar eingebrachte Mosaik aus Wörtern & Sätzen-- Bruchstücke allenthalben-- verführt ins Experiment des Denkens Fühlens. Schier zufällige Bedeutungsfetzen, die sich das Auge herholen und einverleiben. Als säße man an einer belebten Straße im Café und beobachtete die Passanten Wortgänger, auch dieser Begriff sei erlaubt. Sie (be)drängen den Verfasser dieser Notiz über die alltägliche Notwendigkeit des Zeitungslesens geradezu, ins Unübersichtliche dieser Liebeserklärung loszuschreiben, um sich alsbald wieder davon zu überholen wach zu rügen & sich ein wenig zu entzingeln sich sortieren. Wie die Fülle an Berichtetem selber, die es in irgendeiner Form in jeder aufgeschlagenen Zeitung nachzufassen heißt die losen Blätter dann doch sinnlösend ( „1 Lösung im Sinn“) wieder ins unvermutet Zusammengehörige des Unvereinbaren zu stellen die losen Blätter also in der Hand, um fündig zu werden: So könnte eine Lektüre beginnen die Absicht, fündig zu werden. Die Bereitschaft, sich auf 1 Wissen 1 Unwissen & Wagnis einzulassen. Immer ein wenig auf der Flucht dabei. Von Text zu Meinung 1 eigene Zeit, die bildentsteht ums Wort. Die Zeitung trägt eine Druckerschwärze Flucht in sich: 1 Fliehendes 75 Emotionen - drei Annäherungen, eine Vorbemerkung Zeit, die Zeiger wirft. Zeit, die aufgehoben wird. Wie sehr sie sich auch darum bemüht, von Artikel zu Artikel einen Anfang und ein Ende zu gestalten. Die Kontur der Zeitung ist das Fragmentarische des Fassbaren & diese Stärke ist es, die berührt & meint den Entwurf ins Weitere. Von Bericht zu Bericht, immer Fragen treibend in die ersehnten Antworten & welteinfangend die parallelen Züge des Erzählbaren & damit auch all dessen, was nicht in Sätzen sein kann, nicht ist, & dennoch nacherzählt oder nachgeschrieben, was war, was wird dadurch 1 Illusion lang die Welt in (meinen) Händen. Vielleicht 1 Traum, irgendwann begreifen zu können, was sich ereignet hat & was im Augenblick geschieht. 1 Mindestmaß & in Vorüberheiten im Vergleiten denken lernen. Schauplätze & ihre Stichworte einholen wie Segel, um 1 Tag lang auszuruhen. Unaufgeregt & immer wieder Bilder Bilder Bilder, die sich lichten Sprech & Sprach-Fotos. Davon die Vorstellung. Darin das eingeblendet Ausgeblendete Ereignisse, die ungehört sind, unerhört. Klug gescheit & dumm (vermeintlich)-- es dürfte gar nicht anders sein: Aufwühlend & versöhnend zugleich weil die Welt doch zu erlesen ist. Mit dem eigenen Leben oder jenseits aller Erfahrungen für ein paar Augenblicke Minuten Stunden, wenn es denn die Anderzeit erlaubt, Lese-Gast zu sein, um das Verschriftete schließlich wieder zu verlassen & am nächsten Tag zurückzukehren in die Genauigkeit der Sätze: die flüchtige Genauigkeit von Zeitungen, sie ist es, die ich will-- ein Ritual der ständigen Einkehr in die scheinbare Ordnung, die sich selber schafft ich traue mir den Wahn zu, diese Neugier, die auch ich in mir weiß, jeden Tag (wie gesagt: wenn auch ohne Anfang & ohne 1 Ende) aufzulesen & könnte schreiben über einen willkommenen Morgen, an dem ich ausgeruht und in wohliger Stimmung- - erholsam- - zum nächstgelegenen Kiosk gehe. An irgendeinem, mir vielleicht noch unbekannten Ort Brötchen kaufe & 1 Tageszeitung. Die Vertrautheit, die sich einstellt, eine schier intime Sicherheit des Fremden & im Fremderlebten. Die einzige wahrscheinlich mit 1 Zeitung unterm Arm, den Brötchen, 1 Baguette vielleicht & beide, die schmecken brotwarm & druckfrisch : 1 Unberührtes den Gaumen in der einen Hand fühlend & in der anderen die Nachrichtenschwere. So ungelesen leicht. Die mir die kleine und die große Unbekannte zusammenstaut nachreift aufbröselt, bisweilen mitzudenken weiß 1 Art zwiefacher Hunger, der gestillt wird, die Vorfreude darauf & die Zeitung schließlich aufschlagen- - so unangetastet augeinfangend wie sie vor mir liegt-- um mich mitnehmen zu lassen von den Zeilen, die das erste Auge entdeckt oder aber 1 Kopfschütteln 1 Zustimmen & Fragezeichen, unnachgiebig 1 Vielfaches an Fragen &-- wie 1 Halt-- keine wirklichen Antworten, die Zutritt wären & nachdem das Versammelte der allmählichen Orientierung weicht, doch die Uhr abstellen. Sich ganz den Ansichten widmen und den Schemen nähern. Als wären diese 1 Klärung der ungeahnten Welten: 1 Menschen-Geographie selber. Die erste Seite die zweite dritte & sofort wieder vergessen, was war, was ist. Dafür mit einem veränderten Blick den Tag bebildern, ihn durchblättern, auf- 76 II. lesen: nachrichten brennpunkt reportage inland wirtschaft umwelt ausland meinung und diskussion kultur leibesübungen & die wahrheit: 1 flimmern und rauschen 1 Wetter ich schaue aus dem Fenster & sehe Frau Metzger Frau Müller 1 Hackbeil das Brot-- eine unglaubliche Verbrecherserie erschüttert ganz Deutschland-… könnte da stehen & wieder zurück zur Politik & weiter in die Wirtschaft, das Feuilleton & die, die stürzen, & die, die diesen, jenen Sturz mit vorbereiten & die, die ihn dann nachbereiten & die, die den nächsten schon vorweggenommen zubereiten & immer wieder auf 1 Neues & buchstabiere dennoch das Wörtchen „bereit“ bereit weiterzulesen HEUTE jemand, der schreibt heute und meint gestern & morgen wieder HEUTE & die Zeitverschiebung, die notwendig ist & morgen mehr. Vielleicht auch weniger neue Landkarten Namen W: orte & lerne Nadschaf Tschetschenien Moskau Peking Athen London Istanbul & Reuters & all die Namen, die austauschbaren die verinnerlichten vergessenen & die, die ich noch weiß & nur der Zeitpunkt der Tag die Woche Monate die Jahre, die geflohen sind & bleiben & verrinnen & bleibt 1 Zeitungsatlas, unerschöpflich. Die Liste ist 1 Ausfransendes & was sein muss & nicht sein muss; was siegt & was letzten Endes doch verliert. Wörter & noch mehr Wörter wie Menschen Menschen Menschen um mich zu fragen, ob ich mehr weiß danach. Der Mexikaner, las ich jüngst irgendwo, vergesse niemals, dass er sterben müsse. Darum liebe er Gebäck und Zuckerwerk, das den Tod darstelle. So räche er sich am Tod: er isst ihn auf. Solange ihm das gelänge, könne sich der Tod noch nicht daran machen, ihn zu verschlingen. Außerdem sei der Tod bei Lebzeiten mitunter ein durchaus gutes Geschäft: für die Erben-… und natürlich für die Sarghändler-… diese Sätze brachten mir 1 Erinnerung zurück. Die Erinnerung an meinen ersten Spaziergang in den Straßen Mexiko-Citys. Das war 1998. Ich hatte am frühen Morgen 1 Kiosk aufgesucht & kaufte mir dort 1 Zeitung, „La Jornada“. Ich trug sie den ganzen Tag wie 1 Verbündete unterm Arm. 1 Zeitung als Stadtplan in die zu bewältigende Größe dieser Megalopolis, die ich bis heute nicht verstehe. Wie selbstverständlich allein & promenierend & doch begleitet. Als gehörte 1 Zeitung zum unverzichtbaren Outfit des Urbanen. Ich war fast ein Einheimischer. Zumindest einer, der etwas Heimisches an sich hatte und sagen konnte: So unbedarft bin ich nicht hier. Als wär‘s 1 Satz in allen Sprachen, den 1 Zeitung schenkt. Selbst ungelesen …- 1 Sicherheit übrigens, die mir auf Reisen immer wieder wird & die ich leider nie in dieser wortbewussten Form empfinde, wenn ich in einem Land bin, dessen Sprache ich nicht spreche. Die Zeitungen schaue ich mir dann dennoch gerne an & versuche etwas zu entdecken, was mir bekannt sein könnte. Aber das ist eine andere Geschichte. 77 Der Tod / (Fragmentarische) Gedanken zum literarischen Essay Der Tod / (Fragmentarische) Gedanken zum literarischen Essay José F.A. Oliver „Das inhaltliche und formale Wesen des Essays besteht in nichts anderem, als eine Absicht sokratisch, also experimentierend durchzusetzen oder einen Gegenstand experimentierend hervorzubringen. Was im Essay gesagt werden soll, wird nicht sogleich als fertiger Spruch, als Gesetz gesagt, es wird vielmehr vor dem geistigen Auge des Lesers beständig hervorgebracht im Akt unermüdlicher Variation.“ Max Bense 1. Jeder Gegenstand (jedes Thema) kann Motiv und Ziel eines essayistischen Textes werden. 2. In einem Essay beziehen die Schreibenden eine erkennbare Position. Eine persönliche Tendenz im Sinne einer nachvollziehbaren Haltung. Das heißt, die Schreibenden mischen sich ein und sind sowohl „Beobachtende“ als auch „Teilnehmende“. Nähe und Distanz in einem. 3. Die Autorin oder der Autor eines Essays beschäftigt sich mit einer „zu klärenden Frage“ oder einer „zu erläuternden Erfahrung“, deshalb ist das „Ich“ wesentlich und der Text im besten Sinne des Wortes „subjektiv“. Zweifel sollten ausgesprochen werden. 4. Man selbst zu sein, heißt „Ich“ zu sagen. Dieses „Ich“ wird deshalb immer ein vorläufiger Ausschnitt der eigenen Persönlichkeit sein. Eine Momentaufnahme. Daher die Feststellung, dass ein Essay immer Fragment bleibt, nie das Ganze für sich in Anspruch nehmen kann. 5. Das „Ich“ kann sich dem Thema unterschiedlich nähern: a. narrativ oder erzählend-- im Sinne einer (Kurz-)Geschichte b. sokratisch oder argumentativ- - im Sinne einer Gegenüberstellung verschiedener Positionen, ohne dabei die eigene aus dem Auge zu verlieren c. darstellend oder beschreibend-- im Sinne einer Reportage 6. Der Essay besteht, formal betrachtet, aus drei (eigenständigen) Teilen, die ineinanderfließen: a. Einleitung-- poetische Überraschungen, unerwartete Gedanken sind nicht falsch 78 II. b. Hauptteil-- strukturiert, die Gedanken und Gefühle ordnend c. Schluss-- ein Fazit, das die Einleitung aufnimmt und doch offen sein kann 7. Die Tonlage in einem Essay darf wechseln. Der Wechsel muss jedoch in seiner Konsequenz in sich stimmig sein. Ein bilderreicher Stil ist erwünscht und einzelne Erkenntnissätze oder Zitate können die innere Welt des Themas veranschaulichen. 8. Die Leserin oder der Leser kann direkt angesprochen werden. Ein imaginiertes „Du“ als Gegenüber des biographischen „Ichs“. 9. Ein Essay experimentiert mit der eigenen Position und dem gewählten Thema. Er ist immer ein Versuch. 10. Der Essay sollte nüchtern-sachlich und / oder (gleichzeitig) empathisch sein. Sowohl die klaren Gedanken als auch das klare Gefühl sind in einem Essay gut aufgehoben. 11. Direkter Tipp für Schülerinnen und Schüler: DENKT IMMER AN EURE PERSPEKTIVE , EUREN BLICK AUF DIE „ SACHE “. 81 Emotionen Emotionen Akos Doma 1. Annäherung an das Thema Der einführende Text Wie mich die Emotionen nach Deutschland brachten stellt eine kurze, persönliche Hinführung zum Thema „Emotionen“ dar, die mit den Schülerinnen und Schülern im Unterricht gelesen und besprochen werden kann, um bei ihnen erste Gedanken zum Thema anzuregen und ähnliche persönliche Erfahrungen wachzurufen. Ich greife darin Erinnerungen aus meiner frühen Jugend Anfang der siebziger Jahre in England auf-- sowie meiner ersten Zeit in Deutschland, in der Oberpfalz. Der darauf folgende einleitende Essay Aus dem Leben der Emotionen ist eine lose Sammlung von Ideen und Reflexionen zum Thema Emotionen und Emotionalität. Nach einer kurzen Begriffsbestimmung betrachte ich in suchender, fragender Weise einige Aspekte des Themas, die sich für eine Behandlung im Unterricht eignen könnten. Im abschließenden Teil Didaktik und Schreibaufgaben mache ich Vorschläge zur didaktischen Vorgehensweise sowie für Schreibaufgaben zum Thema. 2. Einführung Wie mich die Emotionen nach Deutschland brachten Den einzelnen Nationen wird oft ein bestimmtes Temperament, ein bestimmter Grad von Emotionalität zugesprochen. „Heißblütiger Spanier“ klingt in unseren Ohren ganz natürlich, bei „heißblütiger Finne“ stutzen wir. „Melancholischer Russe“ leuchtet uns eher ein als „melancholischer Holländer“. Bei „unverschämter Japaner“ glauben wir uns verhört zu haben, gelten doch Japaner als Inbegriff von Disziplin, Selbstbeherrschung und höflicher Zurückhaltung. In Europa sind es die Engländer, die für Höflichkeit und unerschütterliche Ruhe stehen, man spricht vom typisch englischen Phlegma und Understatement. Ein eher gegenteiliger Ruf haftet dem Ungarn an, er soll temperamentvoll, leidenschaftlich, feurig (wie das von ihm mit Vorliebe verzehrte Paprika) sein. Als Nachfahren der Hunnen-- Hungary, wie schon der englische Begriff besagt-- stellt man ihn sich wild und emotionsgeladen, körperlich als einen „Hünen“ von einem Mann vor. Dass Ungarn tendenziell eher klein gewachsen sind und eine tatsächliche ethnische Verwandtschaft zu den Hunnen keineswegs erwiesen ist, tut nichts zur Sache. Diese unterschiedliche Mentalität, die emotionale Kluft zwischen Ungarn und Engländern, war wohl das Problem. Als ich acht Jahre alt war, emigrierte-- „dissidierte“, wie es damals hieß-- unsere Familie in den Westen. Nach einem halben Jahr in diversen Flüchtlingslagern in Italien gelangten 82 II. wir, glücklich, eine neue Heimat gefunden zu haben, nach England. Doch schon nach fünf Jahren kehrten meine Eltern England wieder den Rücken, wir zogen mit Kind und Kegel auf den europäischen Kontinent zurück. Existentielle Gründe für diese zweite Emigration gab es nicht, die Integration war geglückt, die beruflichen Perspektiven für meinen Vater waren blendend, und doch hatte sich mit der Zeit ein gewisses Unbehagen bei ihnen eingestellt. England war ihnen nicht zur Heimat geworden. Und das lag-- wenn ich es im Nachhinein richtig deute- - an der ihnen fremden Mentalität. Was sie in England vermissten, waren, auf einen einfachen Nenner gebracht, Emotionen. Die phlegmatische, englische Art, die höfliche, geradezu diplomatische Zurückhaltung verwirrte sie, sie empfanden sie als Kühle, zumindest als Gleichgültigkeit. Es fiel ihnen schwer, auch mal zu einem intensiveren, persönlicheren Austausch mit ihren neuen Landsleuten zu kommen, die Kontakte blieben aus ihrer Sicht an der Oberfläche, Gespräche erschöpften sich oft in Themen wie dem „Wetter“ oder „Gartenarbeiten“. Oft konnten sie nicht erkennen, wie ihre Bekannten und Gesprächspartner bei Unterhaltungen zu etwas standen, welcher Meinung sie waren. Ihre emotionale, kritische, von klaren Vorstellungen von ja-- nein, richtig-- falsch, gut-- schlecht, tun-- lassen geprägte, eher östlich-wertkonservative Lebenseinstellung zerschellte an der stets unverbindlich freundlichen, irritierend unkritischen Pragmatik ihrer neuen Landsleute. Wir Kinder empfanden die englischen Kinder nicht als emotionsarm. Bei Streitigkeiten unter uns Schülern ging es schnell zur Sache, noch heute erklingt in meinen Ohren der Standardsatz, in den Meinungsverschiedenheiten oft mündeten: „Do you want a fight about it? “, also etwa: „Willst du es ausfechten? “, „Sollen wir es mit den Fäusten austragen? “. Das war keine rhetorische Floskel, bei einem „ja“ gab es eine Schlägerei. Diese Schlägereien waren ein großes Ereignis an der Schule, umso größer, je mehr die Beteiligten im Ruf standen, tough guys, also harte Kerle, zu sein. Dann machte die Nachricht des verabredeten Aufeinandertreffens schon Stunden vorher die Runde in der Schule. Um vier Uhr, hinter der Schule, flüsterte man sich zu und strömte nach Unterrichtsschluss zum verabredeten Ort. Dort prügelten die Protagonisten dann aufeinander ein, bis in den meisten Fällen auch Blut floss, wir Zuschauer formten einen Ring um sie, stießen sie in den Kampf zurück, entließen sie nicht, bis einer von ihnen den anderen besiegt hatte. Die Zuschauer, ich unter ihnen, waren erregt, der Anblick von Gewalt hat immer etwas ungewollt Elektrisierendes, man ahnt, dass es um Leben oder Tod geht, außerdem waren solche Spektakel für mich etwas Neues. An einige kleinere tätliche Auseinandersetzungen, an denen ich selbst beteiligt war, kann ich mich vage erinnern, in der Regel hielt ich mich als „feuriger“ Ungar aber „vornehm britisch“ zurück. Ich war Brillenträger und als falscher Hunne ohnehin eher zart gebaut. Als ich mit vierzehn Jahren in Deutschland in die Schule kam und Zeuge der ersten drohenden Prügelei zwischen zwei Klassenkameraden wurde, musste ich erstaunt mitansehen, dass sie von ihren, meinen Mitschülern voneinander getrennt wurden, und die Schlägerei ins Wasser fiel. Ein gängiger deutscher Ausdruck für do you want a fight about it? ist mir bis heute denn auch nicht begegnet. 83 Emotionen 3. Aus dem Leben der Emotionen. Aspekte eines Themas. Einleitende Gedanken Der Begriff Emotion. Etymologie, Synonyme Emotion. Émotion. Émouvoir. Emovere. Emotion hat etwas mit Bewegung zu tun. Abgeleitet vom lateinischen emovere bezeichnet der Begriff eine Gefühlsregung, eine Gemütsbewegung, die einen aus seinem gewöhnlichen Seelenzustand „herausbewegt“. Der Mensch gerät „außer sich“, wird erregt, erschüttert, entzückt, entsetzt, erfreut. Man spricht von einem „emotionalen Moment“, wenn man etwas Bewegendes erlebt, von „großen Emotionen“ etwa in einem besonders gefühlsbetonten Film. Wärme-Kälte-Metaphorik als Ausdruck für Emotionen In einem nächsten Schritt könnte man die Schülerinnen und Schüler fragen, wie man das abstrakte Phänomen einer Emotion sprachlich ausdrückt. Dabei zeigt sich, dass man sich bei der Beschreibung von Emotionen oder Emotionalität gern einer Wärme-Kälte-Metaphorik bedient. ▶ Emotionen „kochen über“, Emotionen „kühlen ab“ ▶ Was einen emotional nicht berührt, „lässt einen kalt“ ▶ Ein emotionaler Mensch ist „heißblütig“, ein „Hitzkopf “ ▶ Ein emotionsloser Mensch ist „gefühlskalt“ ▶ In Momenten der Aufregung spricht man von „Fieber“: „Lampenfieber“, „Reisefieber“ Emotionen werden mit Wärme assoziiert, sie erscheinen als Ausdruck von Lebendigkeit, innerer Bewegung, Vitalität. Emotionslosigkeit impliziert Gefühlsarmut und Gleichgültigkeit und wird mit Kälte assoziiert. Gefühlskälte und Emotionslosigkeit sind vorwiegend negativ, Emotionalität und Gefühlswärme vorwiegend positiv besetzt. Und dennoch beschreibt man alles, was einem gefällt, was man bewundert und anerkennt, mit dem englischen Wörtchen cool. Kühl. Was besagt es über eine Gesellschaft, wenn Kühle und Kälte als positive Werte, als etwas Erstrebenswertes gelten? Kälte als Paradigma der Postmoderne Die emotionslose Kälte des Killers, die emotionslose Kälte des Helden, in unzähligen Filmen. Das regungslose Gesicht des Spielers, des Politikers, des Unterhändlers. Die maskenhafte Miene des Models auf dem Laufsteg, kühl, um sich in der Entblößung keine Blöße zu geben. Die Abwesenheit von Emotionen. Die Angst vor Emotionen. Wer emotional ist, wer Gefühle zeigt, macht sich verletzlich. Liefert sich aus, womöglich jemandem, der seine Emotionen zu manipulieren weiß. Jemandem wie Iago. In William Shakespeares Tragödie Othello wird der Protagonist, der Feldherr Othello, ein Opfer der Manipulationen seines Fähnrichs Iago, der ihn durch die Lüge, seine Frau Desdemona habe ihn betrogen, dazu verführt, sie aus Eifersucht zu töten. Der Täter im physischen 84 II. Sinn ist Othello. Doch wer trägt die eigentliche, moralische Schuld an Desdemonas Tod? Der von Grund auf ehrliche, emotionale, gegen die raffinierte Intrige Iagos geradezu wehrlose Othello? Oder der kalt berechnende Iago, der ihn dazu anstiftet? Iago ist berechnend, er handelt hinterlistig, verbirgt die negativen Emotionen (Neid, Eifersucht, Minderwertigkeitsgefühl), die ihn zu seinem Vorgehen motivieren. Er provoziert Othello, wohl wissend, dass jener aus einem Gefühl der verletzten Ehre, des Verraten- und Betrogenseins „blind“ reagieren wird. Ein zweites Beispiel. In Herman Melvilles Erzählung Billy Budd wird der bemerkenswert gutaussehende und charismatische, bei der Schiffsbesatzung allseits beliebte Matrose Billy Budd vom Bootsmann Claggart, der einen heftigen, unerklärlichen Groll gegen ihn hegt, zu Unrecht beschuldigt, eine Meuterei geplant zu haben. Infolge eines Sprachfehlers unfähig, sich verbal gegen die Verleumdung zu wehren, schlägt der empörte Billy in einer plötzlichen Gefühlswallung Claggart tot. Er wird noch auf dem Schiff vor Gericht gestellt, verurteilt und gehenkt. Hätte sich Billy verbal wehren können, wäre Claggarts Lüge aufgedeckt worden und Billy unbescholten geblieben. Wie wichtig ist es, sich sprachlich gut artikulieren, seinen Emotionen verbal klar Ausdruck verleihen zu können? Szenenwechsel. Im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde der Kapitän der französischen Nationalmannschaft Zinedine Zidane des Feldes verwiesen, nachdem er seinen italienischen Gegenspieler Marco Materazzi mit einem Kopfstoß niedergestreckt hatte. Materazzi hatte ihn zuvor wiederholt verbal provoziert und beleidigt. Die dezimierte französische Mannschaft verlor das Endspiel, Italien wurde Weltmeister. Mit der roten Karte wurde ausschließlich Zidanes Reaktion geahndet, nicht die vorausgegangene Provokation Materazzis. Wie hätte eine gerechtere Bestrafung ausfallen sollen? Wer hätte eine Bestrafung eher verdient? Zidane, der angesichts der Beleidigung seine Emotionen nicht im Griff hatte oder haben wollte? Oder der bewusste Provokateur Materazzi, der auf diese Weise seiner Mannschaft einen Vorteil beschaffen wollte? Ist ein emotionaler Mensch, ein emotionales Kollektiv einem emotionslosen, kalt berechnenden immer ausgeliefert? Fährt man ohne Emotionen besser im Leben, und wenn ja, welchen Preis hat das für den, der seine eigenen Emotionen abtötet? Individuelle Emotionen, kollektive Emotionen Echte Emotionen, falsche Emotionen Emotionen, Gefühle, Empfindungen sind individuell, sie entspringen in einem selbst, im Kopf, in der Psyche, im Bauch, in der Seele, im Herzen. Emotionen spielen aber auch kollektiv eine wichtige Rolle. Was passiert mit Emotionen, wenn sie aus der Intimität des Persönlichen in den öffentlichen Raum getragen werden? Wann erscheinen Emotionen in der Öffentlichkeit angebracht, wann nicht? Warum erscheint uns eine „emotionale Rede“ bei einer Beerdigung oder einem feierlichen Anlass, zum Gedenken an eine Person oder ein Ereignis legitim, nicht jedoch, wenn jemand in einer wissenschaftlichen Arbeit oder einer politischen Debatte „emotional argumentiert“ oder „an die Gefühle appelliert“? 85 Emotionen Welche Emotionen werden bei einem Rockkonzert, in einem vollgepackten Fußballstadion, bei einer politischen Großveranstaltung freigesetzt? Was wird aus Emotionen, wenn sie in der Werbung dazu eingesetzt werden, jemanden zum Kauf einer Ware anzuregen? Was wird aus einem Liebesbekenntnis, einer tränenreichen Versöhnung, einer Bitte um Verzeihung, wenn sie statt unter vier Augen in einer abendlichen Fernsehshow vor Millionen von Zuschauern stattfindet? Können Emotionen echt sein, wenn der Kontext künstlich ist? Sind inszenierte Gefühle überhaupt noch Gefühle? Oder kann eine Emotion, wie Mark Twain sagt, nur dann ehrlich sein, wenn sie eine unwillkürliche Regung ist? Welche Folgen hat es für den einzelnen und die Gesellschaft, wenn manipulierte und instrumentalisierte Emotionen zum Normalfall werden? Und nicht zuletzt: Ist es immer möglich, eine echte Emotion von einer nur vorgetäuschten zu unterscheiden? In William Shakespeares Tragödie König Lear will der alternde König sein Königreich zwischen seinen drei Töchtern Gonerill, Regan und Cordelia aufteilen, verlangt von ihnen aber, ihre Liebe zu ihm vorher in Worte zu kleiden. Gonerill und Regan, die für ihren Vater, wie sich später zeigen wird, nichts empfinden, sondern nur seine Macht und seinen Reichtum an sich reißen wollen, stimmen auf ihn geheuchelte Lobeshymnen an. Cordelia, die jüngste der drei Töchter, die für ihren Vater echte Liebe empfindet, weigert sich, ihre Emotionen in pompöse Worte zu fassen. Der alte König lässt sich von den Schmeicheleien seiner älteren Töchter blenden, verbannt Cordelia aus seinem Reich und löst damit seinen eigenen Untergang aus. 4. Didaktik und Schreibaufgaben Ein erstes lockeres Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern im Anschluss an die Lektüre des Textes Wie mich die Emotionen nach Deutschland brachten soll zum Thema hinführen. ▶ Was sind Emotionen? ▶ Was heißt es, emotional zu sein, emotional zu reagieren? Die Runde könnte etwa so beginnen: Wir kennen sie alle, diese Situationen, in denen man mit einem heftigen oder intensiven Gefühl-- also emotional-- reagiert, weil man sich über etwas freut oder ärgert, glücklich oder unglücklich ist. Der Anlass solcher Gefühle kann trivial-alltäglich oder von existentieller Wichtigkeit sein: Eine unverhofft gute Note in einer Schulaufgabe, eine Ampel, die vor einem auf Rot schaltet, der Sieg oder die Niederlage der Lieblingsmannschaft in einem wichtigen Spiel, ein dummer Fehler, den man begangen hat, ein Streit, der einen aufgewühlt hat, ein lang ersehntes Wiedersehen, die Geburt eines Kindes, ein Todesfall, ein verlorener Schlüssel-… Die Schülerinnen und Schüler werden gefragt, ob sie sich an eine Situation in letzter Zeit erinnern können, in der sie emotional empfunden oder emotional reagiert haben, was der Anlass war, und ob sie im Nachhinein auch so reagieren, empfinden würden. Nach dieser ersten lockeren Runde führt die Klärung der etymologischen Bedeutung des Begriffs Emotion zum eigentlichen Einstieg in das Thema. Die im Essay folgenden Aspekte von Emotionen bieten Ideen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema. 86 II. Die Schreibaufgaben steigern sich von einfachen Fingerübungen wie Begriffssammlungen und kurzen Aufsätzen zu längeren fiktionalen Texten. Das Ziel der Aufgaben besteht darin, die Schülerinnen und Schüler an einen freien, kreativen Umgang mit der Sprache zu gewöhnen, Schreibhemmungen abzubauen, ein entspanntes, interessiertes und spielerisches Verhältnis zur Sprache zu erzeugen und Lust am Schreiben zu wecken. Aufgabenstellung 1 (Fünf bis zehn Minuten) Nachdem die Etymologie des Wortes „Emotion“ erläutert worden ist, werden die Schülerinnen und Schüler gefragt, welche Emotionen ihnen spontan einfallen. Diese werden auf der Tafel notiert. Etwa: Glück, Liebe, Freude, Lust, Vergnügen, Verliebtheit, Mut, Begeisterung, Vertrauen, Sympathie, Mitgefühl, Euphorie, Hass, Wut, Ekel, Angst, Furcht, Verachtung, Traurigkeit, Einsamkeit, Schuldgefühl, Rachedurst, Verzweiflung, Neid, Eifersucht, Enttäuschung, Langeweile, Unruhe, Hysterie, Ekstase, Panik, Mitgefühl, usw. Welche Emotionen sind in den Augen der Schülerinnen und Schüler positiv, welche negativ? Gibt es auch Emotionen, die sowohl positiv als auch negativ sein können (z. B. Stolz, Mitleid, Scham, Ekstase)? Aufgabenstellung 2 (Fünf bis zehn Minuten) Die Schülerinnen und Schüler werden nach Synonymen oder sinnverwandten Begriffen für das Wort Emotion oder für emotionale Zustände befragt. Eine solche Liste könnte lauten: Herz, Herzklopfen, Erregung, Aufregung, Gefühl, Affekt, Aufgeregtheit, Fieber, Gemütsbewegung, Gefühlswallung, Rausch, Überreizung, Überspanntheit, Einfühlsamkeit, Empfindung, Gemüt, Innenleben, Inneres, Innerlichkeit, Innigkeit, Neigung, usw. 87 Emotionen Aufgabenstellung 3 (Zehn Minuten) Die Schülerinnen und Schüler zählen ihre jeweils fünf positivsten und fünf negativsten Emotionen in möglichst genauer Reihenfolge auf. Eins bis fünf. Anschließend begründen sie in einem kurzen Aufsatz, warum die jeweils positivste beziehungsweise negativste Emotion auf dem ersten Platz ist. Beispiele für positive Emotionen: Glück, Liebe, Freude, Lust, Vergnügen, Verliebtheit, Vertrauen, Sympathie, Mitgefühl, Euphorie, usw. Beispiele für negative Emotionen: Hass, Wut, Ekel, Neid, Angst, Furcht, Verachtung, Traurigkeit, Schuldgefühl, Rachsucht, Verzweiflung, Eifersucht, Enttäuschung, Langeweile, Hoffnungslosigkeit, usw. Bei der Auswertung werden die Listen verglichen. Welche Emotionen werden als besonders positiv, welche als besonders negativ bewertet? Welche Emotion ist am häufigsten als die positivste bzw. die negativste gewählt worden? Aufgabenstellung 4 (20 bis 30 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler wählen eine Emotion aus und schreiben eine kurze Erzählung, in der diese Emotion exemplarisch behandelt wird. Die Emotion soll möglichst der Auslöser der Handlung sein und als roter Faden oder Leitmotiv durch die Erzählung laufen. Wichtig bei dieser Aufgabe ist, dass die Schülerinnen und Schüler tatsächlich eine Erzählung schreiben, das heißt ihre Gedanken nicht in abstrakt-essayistischer Form, sondern im Rahmen einer fiktionalen Handlung entfalten. Aufgabenstellung 4 (20 bis 30 Minuten) „Sieg“ und „Niederlage“, die stets mit starken Emotionen verbunden sind, können hier sowohl in einem sportlichen als auch persönlichen Sinn aufgefasst werden. Die Ich-Form bietet den Schülerinnen und Schülern eine einfache Identifikationsmöglichkeit mit dem Protagonisten und soll das Schreiben erleichtern. Die Schülerinnen und Schüler schreiben einen Text zum Thema: 1. Nie war ich so glücklich wie nach jenem Sieg (meiner Mannschaft, von mir) … 2. Nie war ich so traurig wie nach jener Niederlage (meiner Mannschaft, von mir) … 88 II. Aufgabenstellung 4 (45 bis 60 Minuten) Aufgabe: Die Schülerinnen und Schüler schreiben ein szenisches Stück zu einer Konfliktsituation. Schülerin oder Schüler A trifft einen Freund oder eine Freundin B. B erzählt wütend und erregt von einem Unrecht (Beleidigung, Verleumdung, Verrat, etc.), das er / sie durch C erlitten hat, und dass er / sie sich dafür nun an C rächen will. A versucht beschwichtigend, versöhnlich auf B einzuwirken, argumentiert gegen ihn / sie, will ihn / sie von seinen / ihren Plänen abbringen. Da taucht C auf und erzählt seine / ihre Sicht der Geschehnisse, die von B's Sicht stark abweicht. Das Stück besteht ausschließlich aus Dialogen. Die Schülerinnen und Schüler erfinden eine Konfliktsituation, der Konflikt wird im Verlauf des Stückes beigelegt. Durch die Aufgabe sollen die Schülerinnen und Schüler das Schreiben flüssiger Dialoge üben (realistisch, komisch, ernst, absurd, usw.). Sie sollen ein Gefühl für die Unterschiede zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort / Text bekommen (szenische Dialoge müssen knapper, pointierter, „sprechbar“ sein, usw.). Zum zweiten soll das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler für die den Worten, der Sprache innewohnende Macht sowie für die Möglichkeit, von dieser Macht positiven oder negativen Gebrauch zu machen, geschärft werden. 89 Rosen und Feenbonbons Rosen und Feenbonbons Ilma Rakusa Er war alles für mich, der Garten am Ende der Strasse, nahe den Gleisen des Güterbahnhofs. Tantenreich, Feenreich, Birnen- und Tomatenreich, Reich der Rosen und Beeren und tosender Nachmittage. Nein, still war er nicht. Die Hummeln summten, der Brunnen zwischen den Rabatten plätscherte, und die Züge ratterten in einem fort. Aber was kümmerte mich das Ohr. Ich schaute und konnte mich nicht sattsehen. Der Garten war gross und glich sich von einem zum andern Ende kaum. Sogar verirren konnte man sich. Stand ich zwischen den Tomatenstauden und Stangenbohnen, war mir die Sicht auf die Blumenpracht versperrt. Auch auf den Goldregen und die krummen Obstbäume. Drüben, drüben, wusste ich. Aber wie spannend war es, in diesem Versteck zu kauern, die Finger ums Rund der kleinen Tomaten zu legen (Paradeis nannte sie Tante) und zu warten. Irgendwann würden die Feen kommen und Bonbons auf die Stauden hängen. Das hatten sie schon getan, doch nachts, wenn ich sie nicht belauschen konnte. Morgens glänzte es silbrig, und Cousine Mara sagte, das wäre für mich, ein Feengeschenk. Feen, Feen, bringt den Segen, flüsterte ich. Aber da kam nur ein Falter geflattert und setzte sich auf die schönste Tomate. Gelb, zitronengelb. War er ein Bote der Himmelswesen? Bitten half nichts, das Gras kitzelte meine nackten Beine, und irgendwann verlor ich die Geduld. Schlich zwischen den Stauden hervor und hielt auf den Apfelbaum zu. Er sah alt aus, warf aber einen friedlichen Schatten, der an einen Teich erinnerte. Die Äpfelchen reiften oben, weit von meiner Hand entfernt. Hochzuklettern, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Der Stamm war rauh, Käfer krochen auf ihm herum. Vorsicht, schrillte auch schon die Stimme einer Rangierlokomotive. Und ich hielt still, wie ertappt. Unter dem Kirschbaum entdeckte ich weiches Moos und eine vergrünte Kinderschaufel. Damit liess sich stochern nach Herzenslust. Zum Vorschein kam dies und das, Wurzelwerk, ein Wurm, ein Kieselstein. Eine eilige Ameise. Doch schon lockten die Blumen, die im Herzen des Gartens wuchsen. Rosen, rot wie Feuer. Hohe, duftende, stachlige Rosen. Oh! Und blassrose Malven und weisse Margeriten und violette Anemonen und schlanke Glyzinien. So schön. Ich zauste sie ein wenig, wie man Freunde zaust. Und sah den Insekten zu, die sie umkreisten. Farbe glänzt, Farbe war hier alles. Und Geruch. Und ich verzaubert vom Blumenbukett. Der Springbrunnen sang näselnd larifari. Der Himmel strahlte blau. Nur die Züge, die lästigen Züge kratzten am seligen Moment. Manchmal entfloh ich dem Rosengewitter in die hinterste Ecke des Gartens, wo Farnkraut, Wolfsmilchstauden und Brombeerbüsche eine braungrüne Wildnis bildeten. Vögel flirrten herum wie Hitzewallungen. Und das Augenflimmern war nicht erfunden. Schleunigst hineinschweifen ins Dunkel. 90 II. Ich überlegte, ob dort, wo alles Rot erloschen war, die Feen nisteten. Geschützt vor Rauhnächten und böigem Wind. Auch Feen brauchen ein Bettchen. Huch. Die Gemüsebeete nahmen viel Platz ein. Tante zog Rüben und Kartoffeln und Rapunzel und Kohl und Gurken und Zwiebeln und Radieschen und Lauch. Wenn sie werkelte, werkelte sie mit schneidendem Gerät, gebückt, oder stehend mit Spaten. Komm nur, rief sie. Aber ich wollte nicht. Blähte die rechte Backe auf, während die linke weinte. Dummerchen. Nur allein strich ich um das Gemüse. Studierte das Wachstum der Blätter, Knollen, Triebe. Wie Merkblättchen hingen da und dort Folien an den Stauden. Ich fragte nicht, wozu. Scharrte mit den Händen in der lockeren Erde. Wenn Tante die Beete besprengte, war ich längst weiter bei den Spalieren. Aprikosen und Birnen rankten sich an der Hauswand empor. An der Sonnenseite, die windgeschützt war. Und vor den Spalieren stand eine grüne Holzbank. Hier sass ich, wenn ich müde war. Starrte ins Funkeln des Gartens. Was wäre, wenn die Augen wie Löffelchen in der dicken silbernen Sosse des Himmels steckenblieben. Was. Ein Zug fuhr jäh in meine geblendeten Gedanken. Immer diese Züge. Die ächzten und schnauften und pfiffen und schrien, als wollten sie die Ruhe des Gartens absichtlich stören. Ich fürchtete ihr metallisches Getöse, erschrak vor der Heftigkeit ihres Fauchens. Von der Schaukel aus sah ich ihre schwarzen Leiber, überblickte den verwilderten Streifen, der sich vom Gartenzaun bis zu den Gleisen erstreckte. Ein Niemandsland voller Brennesseln und Unkraut. Hässlich anzuschauen. Wäre nicht der Klatschmohn gewesen. Andersherum war das Schaukeln schöner. Mit Blick aufs spitzgieblige Haus und die kleine Wiese, auf Rabatten und Rondelle und die schmalen Kieswege dazwischen. Drüben Tomatenrot, vorne flammendes Gewächs und gleissende Blättchen. Und ob ich meine Freude daran hatte. In Lüften, in Lüften. Ich kam mir vor wie ein Häufchen Blume und ein Häufchen Schuh. Hänsin Guck-in-die- Luft. Und vor und zurück. Während die Schatten der Vögel über mich hinwegflogen. Kein Hunger lockte mich fort. Der Garten war ein Märchen, ein Labyrinth, ein begehbares Geheimnis. Und mein Reich. Ich sprach mit den Pflanzen. Ich spuckte in den Brunnen. Ich neckte die Bienen. Ich grub im Sand. Vergrub Klötzchen, einen Kamm. Hortete Steinchen hinter dem Holunder. Mied den Zaun. Gehorchte nur mir und meinen Schritten. Die Füsse wollten nicht ins Kästchen, den verrotteten Sandkasten. Sie wollten erkunden. Wie die Augen. Gingen verschwenderisch hierhin, dorthin. Während die Hände alles betasteten. 91 Rosen und Feenbonbons Ich holte mir Kratzer, Stiche, kleine Wunden, sei's drum. Lernte Rosen entblättern und Falter fangen, Schnecken streicheln und Pflaumen zerteilen. Und mit der Hacke im Rübenbeet werkeln, bis mir schwindlig wurde. Ich machte mich nützlich auf meine Art. Tapsig, meinte der Rasen. Freundlich, meinten die Rabatten. Nur Mutter wunderte sich über das Kind, das sie an den Garten verloren hatte. Es hörte auf nichts. Als verstünde es nur die Sprache der Blumen und Bäume, von der Sonne gegerbt. Der Garten war Sommer, und Sommer war die Welt. Oder fast. Kommt mir bloss nicht mit Regen und Schnee. Von Zeit zu Zeit liessen die Feen blitzende Bonbons zurück. Ich frohlockte über den Fund, ohne ihnen auf die Schliche kommen zu können. Nein, nein. Sie verweigerten sich. Und die Tomaten hüteten ihr Geheimnis. Ich wuchs mit den Gräsern. Ich erstarkte im Grün. Vögel schwirrten um meinen Scheitel. Nachts war ich ein Schmetterling. III . Emotionen - Religionen José F.A. Oliver Doppelpunkte. Ein Versuch, die Tempi zu verw: orten Die Zeit sei ungehalten, gab man mir einst unmissverständlich zu verstehen. Ein konsequent gefräßiges Konstrukt. Ungehalten kopf- und herzverschlingend sei sie. So sagte man. Kein Zügel, der sie bändigte-- und menschenlebenhungrig sei sie auch. Ich könnte heuer wortlustvoll ergänzen: und blind vor Gier. Die Zeit ist blind. Doch scheint mir die Metaphernwahl ein wenig schräg. Es ist-- ein schwierig Ding mit den Vergleichen. Zeit & Zügel! ? Die Zeit ein Lebewesen, das die Kandare brauchte? Braucht? Träfe ein Blindenstock nicht eher zu und wäre stimmiger? Einprägsamer als Symbolgestalt, wo ein Bild die Anschauung befördern darf ? Wenn schon allegorisch dann-… Zumindest trüge dann die Zeit (in ihrer Blindheit) nachvollziehbar Humaneskes. Oder doch die Zügellosigkeit? Die Unruh, die sie unvermutet anpeitscht, treibt? Ihr handgemachtes Zaumzeug, das sich Uhren formt? Ein Schlagwerk samt Gehäuse? Die filigranen Uhren-- sie kennen kein Pardon. Indes, die Anderzeit in uns versucht ihn unentwegt zu leisten, den Spagat der akkurat gesetzten Zeiger. Haft und Widerstand. Abstrakt-konkrete Not, die den Körper zwingt, den Geist; doch nicht die Seele beugt. Wie leibt sich Gegenwart den Augenblick, wo sich Vergangenheiten Zukunft reißen? That´s life. Es la excusa. Oft. ¡Ay! Nur der Tod, so glaube ich, weiß um die Flüchtigkeit des Lebens. Und wir? Wohin wir b: leiben? Kaum gefragt und schon vorbei. Tempus fugit. ¡Y sin piedad! Ein Tag im Jahr 2013, beispielsweise. Nicht austauschbar und doch. Unvermutet ein kultgeschenkter Tag der Einkehr, wie sich auch andere der Feiertage kontemplativ ereignen könnten. Und doch nicht gleich. Das Äußere zeugt Spannungsbögen ins Innere der Wahrnehmung. Auch umgekehrt. Viernes Santo. Es war Karfreitag. Ein Karfreitagsort in Spanien. Ein Tag, an dem die Zeitungen von einem einzigen Nachruf dominiert wurden und Gedanken zu finden waren, die aufhorchen machten: „dass nur jemand, der es wagt, mit Gott in einen Wettstreit zu treten, einen so perfekten Roman schreiben konnte wie 100 Jahre Einsamkeit.“ Gabriel García Márquez, Gabo, wie sie ihn liebevoll nannten, war tot. Ist. Denn Tod bedeutet Gegenwart. Niemals Präteritum. Ein ständiger Karfreitag. Ist. Ich begegne der Obsession Sprache. Sprache in ihrem fatalen Anspruch, schaffen zu wollen, was vergebens ist. Mit Gott in einen Wettstreit treten. Obschon der Turmbau zu Babel vielen Städten gleichnishaft Pate steht, das sprichwörtlich funkelnde Goldene Kalb heute „Tanzender Dax“ heißt und börsennotiert ist. Das Vergangene spricht Gegenwart, die Zukunft ruft Vergangenheit. Der Potentialis Furcht. Fiktion und Wirklichkeit in einem. 93 Emotionen - Religionen III . Emotionen - Religionen José F.A. Oliver Doppelpunkte. Ein Versuch, die Tempi zu verw: orten Die Zeit sei ungehalten, gab man mir einst unmissverständlich zu verstehen. Ein konsequent gefräßiges Konstrukt. Ungehalten kopf- und herzverschlingend sei sie. So sagte man. Kein Zügel, der sie bändigte-- und menschenlebenhungrig sei sie auch. Ich könnte heuer wortlustvoll ergänzen: und blind vor Gier. Die Zeit ist blind. Doch scheint mir die Metaphernwahl ein wenig schräg. Es ist-- ein schwierig Ding mit den Vergleichen. Zeit & Zügel! ? Die Zeit ein Lebewesen, das die Kandare brauchte? Braucht? Träfe ein Blindenstock nicht eher zu und wäre stimmiger? Einprägsamer als Symbolgestalt, wo ein Bild die Anschauung befördern darf ? Wenn schon allegorisch dann-… Zumindest trüge dann die Zeit (in ihrer Blindheit) nachvollziehbar Humaneskes. Oder doch die Zügellosigkeit? Die Unruh, die sie unvermutet anpeitscht, treibt? Ihr handgemachtes Zaumzeug, das sich Uhren formt? Ein Schlagwerk samt Gehäuse? Die filigranen Uhren-- sie kennen kein Pardon. Indes, die Anderzeit in uns versucht ihn unentwegt zu leisten, den Spagat der akkurat gesetzten Zeiger. Haft und Widerstand. Abstrakt-konkrete Not, die den Körper zwingt, den Geist; doch nicht die Seele beugt. Wie leibt sich Gegenwart den Augenblick, wo sich Vergangenheiten Zukunft reißen? That´s life. Es la excusa. Oft. ¡Ay! Nur der Tod, so glaube ich, weiß um die Flüchtigkeit des Lebens. Und wir? Wohin wir b: leiben? Kaum gefragt und schon vorbei. Tempus fugit. ¡Y sin piedad! Ein Tag im Jahr 2013, beispielsweise. Nicht austauschbar und doch. Unvermutet ein kultgeschenkter Tag der Einkehr, wie sich auch andere der Feiertage kontemplativ ereignen könnten. Und doch nicht gleich. Das Äußere zeugt Spannungsbögen ins Innere der Wahrnehmung. Auch umgekehrt. Viernes Santo. Es war Karfreitag. Ein Karfreitagsort in Spanien. Ein Tag, an dem die Zeitungen von einem einzigen Nachruf dominiert wurden und Gedanken zu finden waren, die aufhorchen machten: „dass nur jemand, der es wagt, mit Gott in einen Wettstreit zu treten, einen so perfekten Roman schreiben konnte wie 100 Jahre Einsamkeit.“ Gabriel García Márquez, Gabo, wie sie ihn liebevoll nannten, war tot. Ist. Denn Tod bedeutet Gegenwart. Niemals Präteritum. Ein ständiger Karfreitag. Ist. Ich begegne der Obsession Sprache. Sprache in ihrem fatalen Anspruch, schaffen zu wollen, was vergebens ist. Mit Gott in einen Wettstreit treten. Obschon der Turmbau zu Babel vielen Städten gleichnishaft Pate steht, das sprichwörtlich funkelnde Goldene Kalb heute „Tanzender Dax“ heißt und börsennotiert ist. Das Vergangene spricht Gegenwart, die Zukunft ruft Vergangenheit. Der Potentialis Furcht. Fiktion und Wirklichkeit in einem. 94 III. Im Garten über der Stadt, in dem ich nachmittags mein Schreiben suche, thront die einsame Würde Jahrhunderte alter Pinien. Ich denke an Brecht. Von ihm stammen die gewaltigen Zeilen: „Als Lenin ging, war es / Als ob der Baum zu den Blättern sagte: / Ich gehe.“ Hier oben auf dem Hügel scheint der Tod so alt zu sein, dass die Bäume sich entschieden haben, einfach nur zu bleiben. Als hätten sich die Wurzeln ins moosgetriebene Gestein verkrallt. Selbst die Pinienzapfen wollen nicht wirklich aufspringen. Ich ahne, Wörter sind Pinienzapfen. Die gefallenen lese ich auf. Ortsbestimmung: Inmitten des Katalanischen mallorquinischer Prägung m: eine deutsche Sprache. Die Mandelblütenzeit ist vorüber, das sich ergießende Blau der Agapanthus, wie eine Himmelswelle sähe der Garten dann aus, sagt man mir, stünde noch bevor. Die Zeit der Schmucklilien im Juni. Zimmermannslilie fällt mir ein. Der Sohn des Zimmermanns. So wie der Sohn des Telegrafisten oder der Sohn des Eisenbahners. Gabo, Neruda. Dichtersöhne wie Dichtermütter. 1981 stellte der kubanische Schriftsteller Reinaldo Arenas in einem Artikel über Gabriel García Márquez die Frage: „¿Esbirro o es burro? “ Scherge oder Esel? Gabo hätte sich gerne an der Seite der Mächtigen gezeigt. Ich notiere Palmsonntag, Ölberg, Via Crucis. Und die Verszeile eines Gedichtes: „Die Berge sind Altäre.“ Erlauben Sie mir, verehrte Leserin, verehrter Leser, dass ich Ihnen mit den Tempi dieses Textes eine Patience lege: Ich sitze im Café Espanyol. Am umtriebigen Marktplatz im Zentrum einer ausgedehnten Talschneise. Ausgeweidet zwischen zwei Klosterbergen. Links von mir ein örtliches Bankhauspanorama. Zu meiner Rechten die alte Barockstadtkirche. „Maria von den Engeln“. Nostra Senyora dels Ángels. Ihr Grundstein verweist auf die Zeit der Templer. Das flügelschöne Rosetten-Lichtspiel im Inneren des Gotteshauses, das bei Sonne die Vignetten des Kreuzweges farbgebiert, muss leichteren Datums sein. Ein Versteck. Jede Station das Kaleidoskop des Auferstehungsmorgens. Selbst heute am trauerschmucken Karfreitagsnachmittag. Vor mir, bergan, das kastellbewehrte Sanktuarium Puig de Maria. Ich sinniere den Raubzügen nach. Denjenigen, die ankamen, eroberten, vertrieben. Die Geschichte Mallorcas ist allenthalben stummpolierte Zeugin in den verwinkelten Gassen der Altstadt Pollenças. Maurisch kauernde Häuser, die, aneinander geschnürt, den gesamten Kalvarienberg bündeln. El Calvari. 365 Stufen sind es, wenn man den Serpentinen nicht folgt, sondern die Treppe wählt. Hinauf zur Kapelle, die vormals zu einem Männerkloster gehörte und die auf dem Richtplatz der Templer erbaut worden war. Der Schädelberg wird zum W: ort. Für jeden Tag des Jahres eine Stufe. Die architektonische Metapher der Bürde. Je höher man den Anstieg bewältigt hat, desto mühsamer die Schritte. Jesus ist dreimal unter der Last des Kreuzes gefallen. Sei. Wie oft ich schon daran gedacht habe, dass das deutsche Wort „Gemeinsamkeit“ die Einsamkeit in sich birgt. Ich könnte auch schreiben Gem: einsamkeit. Im Spanischen hingegen die soledad sprachpoetisch das Wort „edad“ verortet. Sol: edad. Folglich das Alter, auch das Zeitalter. Und die Sonne, el sol. Etymologisch falsch, aber als poetisches Experiment ein Genuss, wenn man in beiden Sprachen den verdichtenden Blick zu Rate zieht. Dort oben, auf dem Kalvarienberg, wohne ich. In einem Haus auf einem Grund, der im Mittelalter ein Hinrichtungsort der Mönchsritter mit dem Tatzenkreuz war. Metaphorische 95 Emotionen - Religionen Tatsächlichkeit, an einer ehemaligen Richtstätte zu essen, zu trinken, zu schlafen, die soviel Tod, soviel gemachten Tod erlebt hat. Und zu schreiben. Ich schlafe dennoch ruhig. Man erzählt mir, das liege an den leylines. Dem heiligen Kraftnetz der Erde, den pulsierenden Meridianen. Der Altar, gleich neben meiner Schreibzelle, sei ein Teil ihrer spirituellen Energie. An einem Karfreitag wie jenem, der für Sie wie auch für mich, verehrter Leser, längst vergangen ist und zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Gedanken notiere, die intensivste aller Prozessionen der Semana Santa ein paar Stunden später noch bereithalten sollte, gemahnte es mich zurück, in eine Jugend, in der mir als Heranwachsendem die Andacht am Sterbetag des Herrn intensive Anschauung geworden war. Mystische Erkenntnis. Auch eine Ley-Linie. An einer Statue manifestiert. Wie wir Ministranten das Mittelschiff der Kirche entlangschritten, das vor dem Hauptaltar liegende Kreuz von weitem schon sichtbar. Wie wir vor ihm auf die Knie sanken und die Füße des Toten küssten, der Leben war. Ist. Demut der Gewissheit, dachte ich. Seinerzeit. Der Ernst um Spiel und Wirklichkeit eine Körpergeste der Bescheidenheit. Erkenntnislast und Glaubenshaltung. Eigentlicher Gehorsam, dem Lebendigen zu folgen. Bilder aus vergangenen Tagen und doch immer Gegenwart. Auch dieser Niederschrift. Künftige Mitteilung, wenn ich mir bewusst mache, dass Sie heute diesen Essay lesen. Interreales Spiel mit den Tempi der Zeiten. Der Vorstellung dessen, was zeitaufgehoben Zeit bedeutet. Ein Meister der Auflösung jedweder Uhren war der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar. Die Auflösung jedweder Uhren? Vielleicht ist das die wesentliche Herausforderung, wenn man sich zurückzieht, so wie ich. Ein paar Wochen lang innehaltend, um die Stille aufzuhorchen. Kontemplation, die Sätze gebiert wie diesen: Im Gebet die unbedingte Nähe. Wort und Nicht-Wort der Poesie. Wort und W: orte. Es gibt Seins-Landschaften der Seele, die sich in die natürlichen Umgebungen fügen, als wären sie ihr Geheimnis. In ihr die Geographie des Augenblicks, die das Sein atmet, als vertraute sie das Wort Vanitas der Haut desjenigen an, der in sie hineingeht. Stille, die sich selber meditiert. Dann ist die Sehnsucht ein Eremit. Zartwunsch, der alle Jahreszeiten gleichzeitig ertastet, atmet. Und es ist, als hörte man den Duft einer Rose, als sähe man die vergänglichen Wörter unter jedem Haus, das schon im Plan die Verwitterung des Holzes mitbedacht hätte. So ähnlich w: erden Kinderjahre, die bleiben; verströmt sich der Nachtduft des Jasmins, der s: einen Erinnerungsteppich ausrollt. Dann sind Agaven Zungen, die Fremde sprechen, schenken Feigenkakteen Skulpturen abgeschieden leiser Sommer. Dann erzählen die Zypressen von verlorenen Liebhabern; kündet der Rosmarin ein Epitaph. Ein Dichter sagt: „Nur das Kind versteht den Tod.“ Ich warte. Auf denjenigen, genauer gesagt, auf die filigrane Statue, den liegenden Leichnam desjenigen, der gleich auf einer Bahre vorbeigetragen würde. Die Imagination seines Leibes und nur spärlich mit einem schwarzen Spitzentuch bedeckt. Schier erotisch. Von einsamen Trommelschlägen begleitet. Trompeten- und Oboen-Klang berührte Trommelschläge. Es würde still w: erden. Auch unter den Urlaubsgästen, die sich die Prozession als touristisches Ausflugsziel ausgesucht hätten und sich nicht zu den Gläubigen zählten. Die anderen hingegen, die einem Gelübde folgten, in mönchischen Büßergewändern. Gläubig. Und sei es im Geiste. Ich trete nicht mit Gott in den Wettstreit. 96 III. „¡Ven acá! “-- Komm her! soll Gabriel García Márquez häufig gesagt haben, wenn er einer Frage ausweichen wollte, indem er dann selbst Fragen stellte. Fragen sind Antworten. Ich frage mich erneut, ob mir der Rückzug ins Eigene gelingen würde. Ich hatte es mir gewünscht. Im Schutz mächtiger Aleppokiefern angesichts der verführerischen Geborgenheit orange-roter Aloe-Blüten oder staunend an Gräsern haftend, deren Namen ich nicht kenne. Je genauer der Blick, desto subtiler die Versenkung. Die Stille ist ein plötzlicher Ruf. Die Auferstehung Heimkehr, trostmelancholisch. Auch auf dem Weg ins ungeschriebene Gedicht. Ich warte die Jesus-Statue nicht mehr ab, gehe die 365 Stufen nach oben. Zurück. Nach Morgen, der Gestern war. Ich weiß, die Schreibklausur würde w: erden. Wurde. Ist. Nachbemerkung Ich bin das Gestern, das Heute und das Morgen, und ich habe die Macht, auch ein zweites Mal geboren zu werden. Ich bin die göttliche, verborgene Seele, die die Götter schuf und die Bewohner der Tiefe, des Ortes der Toten und des Himmels versorgt-… Huldige dem Herrn des Schreines, der im Zentrum der Erde steht. Er bin ich, und ich bin er! Ägyptisches Totenbuch „Wir erfanden für unsere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakterabstufungen geteilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich im Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutenden Königreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen sein, und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen erzählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da die griechische, behielt aber im Ganzen ihr Eigentümliches; auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und Kobolden war nicht ausgeschlossen.“ Der letzte König von Orplid. „Schattenspiel“ von Eduard Mörike Kann man Religionen dichterisch näherkommen? Im besten Sinne lyrisch oder erzählerisch? Oder ist es gar ein ganzes Drama, das man schreiben müsste? Ein Lustspiel? Eine Tragödie? Seit Menschengedenken spielt die Religion, der Glaube, der in ihr auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommt, eine wesentliche Rolle im Alltag und in den Lebensentwürfen Vieler. Grund genug, das große Thema „Religion“ auch im Deutsch-Unterricht zu thematisieren. 97 Emotionen - Religionen Dabei geht es weniger um ein Detailwissen einzelner Glaubensrichtungen und die mit ihnen verbundenen religiösen Praktiken, sondern um die ganz persönliche, geistige und im besten Sinne des Wortes emotionale Erfahrung des Religiösen. Aufgabe 1 Fragen für eine erste Gesprächsrunde mit den Schülerinnen und Schülern: ▶ Welche Religionen versammeln sich durch die Schülerinnen und Schüler tagtäglich im Klassenzimmer? ▶ Was können die einzelnen Schülerinnen und Schüler von „ihrer“ Religion erzählen? ▶ Gibt es bestimmte Fest- oder Feiertage im Jahr, die in den einzelnen Familien praktiziert werden? Hausaufgabe Interviews zum Thema „Religion“. Die Gesprächspartner sollten aus der Familie oder dem Freundeskreis kommen. Damit wäre nicht nur ein Dialog zwischen den einzelnen Schülerinnen und Schülern inspiriert, sondern auch über das „Klassenzimmer“ hinaus mit den Eltern, Großeltern, Geschwistern oder anderen Verwandten. Die Interviews sollten schriftlich erfolgen. Eine Teilaufgabe bestünde darin, Gegenstände oder Symbole mitzubringen, die für die jeweiligen „Glaubens- oder Religionsalltag“ von Bedeutung sind. Anhand dieser Symbole können die Schülerinnen und Schüler davon erzählen und als weiteren Arbeitsschritt einen Text dazu verfassen. Reisebericht El camino Was bedeutet Pilgerschaft? Das Wort besitzt eine unangemessene Zärtlichkeit. Und doch ist sie gleichzeitig ein unerhörtes Maß an Versöhnung. Wenngleich nicht minder ein furchtbare Einheit. Im ursprünglichen Sinne ihrer Konsequenz. Darüberhinaus ist mir jede Messung ein Hilfskonstrukt. Das wacklige Gerüst eines Sicherheitsstrebens, das nur dort funktioniert, wo Strecken und Gewichte einer Konvention bedürfen, die sich oftmals selbst überkommt. Denke ich an meine beiden Sprachen, Spanisch und Deutsch, dann sind mir bisweilen die Bedeutungshöfe vieler Wörter in der deutschen Sprache näher, weil konkreter, philosophisch 98 III. fassbarer als die der spanischen. Temor und Reconciliación kennt die eine meiner Muttersprachen. Dem gegenüber habe ich zwei Wörter in meiner deutschen-- Furcht und Versöhnung, die mich gewaltiger aufrütteln. Seltsam, dass ich dabei immer ans Kreuz denke. An seine Trinität, die doch aus einer Dualität besteht. Leben und Tod. Der Vater, der Sohn. Im Tod die Versöhnung s: einer Auferstehung. Auch wenn es keine Sprache gäbe, die das Geheimnis verstünde. Verstehen? Das wäre dann eine kontemplative Leistung des Geistes. Von der Seele geführt. Aufgehobener Zweifel. Wider jegliche Abgeklärtheit Anfang. Kein Ende. Oder wie der syrische Dichter Fouad El-Auwad schreibt: „das elfte gebot / du sollst nicht beenden.“ Die poetische Erkenntnis, die ich vor ein paar Tagen wie zufällig in meinen Händen hielt, ein Buch mit gleichnamigem Titel, erinnert mich zurück an die Notwendigkeit einer längst vergangenen Zeit, in der ich mich dazu entschlossen hatte, mich selber aufzusuchen. Trost wollte ich. Und Gewissheit. Die innere Ruhe, dass es mehr gäbe, als das Diktat der Uhr und das Diktat der Macht. Ersteres muss ich nicht erklären. Die zweite Befehlsgewalt, die mit der religiösen Dimension des christlichen Gehorsams, auf sein Inneres zu hören, nicht zu verwechseln ist, hatte ich aus den Geschichtsbüchern. Dort wurde von Frauen erzählt, oft namenlos gemachten, die im ausgehenden Mittelalter verurteilt worden waren, vom Schwarzwald aus, den Pilgerweg nach Santiago auf sich zu nehmen, den Scheiterhaufen im Rücken. Die Anklage als Gefährtin, den Henker als Wegbegleiter. Mit der heimtückisch geplanten Gier der weltlichen einhergehend (und kirchlichen Richter), sich das Eigentum einzuverleiben, das die „Elenden“ hinterließen, hinterlassen mussten. Der Doppelzüngigkeit und der Strategie der Herrschenden ausgeliefert, dass die der Hexerei Bezichtigten und mit jenem Strafmaß Belegten Geächtete wurden und niemals in ihre Häuser zurückkehren sollten. Irgendein Wegelagerer, Bandit oder Räuber würde sich finden, der das beabsichtigte Todesurteil vollstreckte. Aber dies nur am Rande. Mein Gedankenbericht gilt einer anderen Zeit. An einem sonnigen Oktobertag im Herbst 1992 also m: ein Aufbruch. Peregrinaje sagen die Spanier. Ein Synonym des Nomadentums. Auch derjenigen, die sich sesshaft glauben. San Sebastián. Als Ausgangspunkt Donostia. Vor mir lagen Hunderte von Kilometern, um den Ort zu erreichen, an dem ich schon oft in meiner Vorstellung zugegen war: Santiago de Compostela. In Villafranca del Bierzo, irgendwann mitten auf meinem Weg, wurde mir alsbald klar, dass es Kräfte gibt, deren man nicht habhaft werden kann, die jedoch sind und deshalb w: erden-- „das gnadentor schlägt an / blutschwarz fallen kastanien / ihr fleisch zerstreut gebeine / / verwitterte einsiedler grillen / hauchen steine lehm und stroh / stöbern samen auf.“ Dies meine Zeilen vor der letzten Etappe und dem unentwegten Versuch, zu fassen, was ich in der Kathedrale von Santiago de Compostela wahrnehmen würde: Zerpilgerte Ruhestätten, Santiagojogger, ein surreales Kreisgebet um Knochensplitter. Nein, ein „heiliger Augenblick“ sollte mir die Ankunft in jener Stadt, die vielen anderen Städtenamen Pate stand, nicht sein. Glaube als Souvenirgrundstück, und sei es noch so glänzend vor Kalbsgoldpolitur, schlägt Wunden. Dann bleibt nur die bloße Narbenschrift der Füße, die sich Gedichte schreibt. Die zärtlichen, die nicht bestechlich sind. Himmelspilger, fällt mir ein. Nachthimmelpilger. So stellte ich mir Teresa von Ávila vor. Kargheit, die Weite schuf. Wahrbetrachtetes ins Wesentliche der Not. Oder Johannes vom Kreuz. Das Gedicht ein Gebet. Das Gebet ein Gedicht. Deren Symbiose als Erlösung. Mystik, 99 Emotionen - Religionen auch das habe ich erfahren, ist ein unerschütterlicher Inkarnationsbegriff der Wanderschaft. Der seelischen, der schauenden. Kontemplation. Ich schaue das Wort und finde die W: orte: Pilgerschaft, erdgewobene. Ein Himmelsausschnitt lang. Jerusalem, Rom, Santiago. Vielleicht weil ich in mir selber versöhnen wollte, was Verlangen war. Seine Nuancen. Die Vergänglichkeit überwinden. Derart ausgestattet, entschloss ich mich, den Weg zu gehen, der mich schon in meinen Jugendjahren immer wieder beschäftigt hatte. Das Grab des Heiligen Ignatius in der „ewigen Stadt“ war mir dabei wenige Wochen zuvor schiere Metapher dessen geworden, was bleibt, was bleiben könnte. Seine „Unterscheidung der Geister“, denen ich mich stellte, als ich mich in der Kirche Il Gesù mit der Frage beschäftigte, ob derjenige, der dort beerdigt war, wirklich derjenige war, den man dort bestattet „haben“ wollte. „El discernimiento“ hatte ich im Spanisch-Unterricht schon früh gelernt. Es sei die Tugend, die „Geister“ zu unterscheiden. Wer war ich, wo kam ich her? Wohin wollte ich gehen? Später Motiv und Ziel in einem, mich auf dem Pilgerweg zu begeben, im spanischen Baskenland aufzubrechen, inmitten einer mir fremden Sprache, um Finisterre zu erreichen. Nicht „das Ende der Erde“, wie die Menschen vormals glaubten, sondern das Ende der Welt in mir. Die körperliche Anstrengung als Exerzitien. Auch das wäre eine Interpretation. Im Nachhinein. Und mehr als das, eine Vorsehung. Eine Unumgänglichkeit ins Eigene, die den ursprünglich oberflächlichen Wunsch, in der dortigen Pilgerherberge Aufnahme zu finden, von Tag zu Tag obsoleter machte, weil ich mit jedem Kilometer, den ich zurücklegte, die Absicht, das Ziel als Ergebnis zu betrachten, verlor. Aus der Verlorenheit den Verlust als Gewinn empfinden: „im gleitflug des habichts geboren / schenken mir flüsse lippen zum meer“. Ein Pilgerweg demnach auf den Spuren des Jesuiten? Ein Grab s: ein Gleichnis. Wie alle Gräber Gleichnisse sind, w: erden können? Lediglich Erinnerungsgesten oder doch die Imagination vor einer Tatsächlichkeit in den Glauben eines erweiterten Lebens? Dem folgend, was den Lebensweg des Heiligen Ignatius ausgezeichnet hatte? Das Bedürfnis, die Geister zu unterscheiden, obgleich Gott und Jesus zunächst nicht wirksamer, von ihm bewusst bedachter und bestimmender Bestandteil seiner Gedanken waren, sondern seine Verzagtheit zum Ausdruck brachten und das nicht mehr zu leugnende Verlangen, „el deseo“, das Alltägliche zu hinterfragen, ihm zur ersten Sammlung wurde. Wenn ich heute auf meinen Pilgerweg nach Santiago zurückblicke, glaube ich, dass es mir ähnlich erging. Nicht das, was greifbar ist, vielmehr das, was schöpferische Kraft werden sollte, wollte ich erkunden. Per pedes. Dem Körper abgetrotzt. Alles umsonst? Nein, weit gefehlt. Das wäre eine zu günstige Interpretation der „vanitas“. Nicht das zählt, was später sprichwörtlich Rede-Kult werden sollte und landauf, landab zu vernehmen war-- „Ich bin dann mal weg“--, wenn man sich aufmacht, der Sehnsucht zu begegnen, mit sich selber eins zu sein. Im Gegenteil. Ich kann heute sagen: „Ich bin (jetzt erst) wirklich hier“. Präsent. Das Irdische annehmend, um es in der Haltung eines vermeintlichen Altwortes erleben zu dürfen, das ich auch schon in frühen Kinderjahren vernommen, aber nicht schauend begriffen hatte: Demut. Sie könnte der Herausforderung nahekommen, die Lebensdimensionen in ihren Widersprüchen zu tragen. Pilgerschaft heißt Demut. Allerdings, das sei ebenfalls gesagt, nur dort, wo sie aus einem selber wird und nicht das Kalkül einer Machtbesessenheit fortschreibt. 100 III. „Wir sind nur Gast auf Erden“-- wie oft hatte ich diesen Satz gehört. Er versprach Zuneigung, die nicht verwehrt werden konnte. Nicht verwehrt werden kann. Es gibt eine Zärtlichkeit, die jegliche Bürden vergessen macht. Ohne Zwang, sondern aus dem unbedingten Willen, man selber zu sein, indem man vielleicht jene Zeilen von Octavio Paz auf die Haut buchstabiert: „Vielleicht heißt Lieben zu lernen, durch diese Welt zu gehen.“ Meine ersten Zeilen, die sich vor vielen Jahren auch auf den Weg gemacht hatten, lauteten dementsprechend: los caminos son-- „die wege sind: vergebungen, vagabunden. auch einblick ins gelobte land. ein lächeln demut. ohne muschel. ohne segen fleisch. die knochen geronnene erde.“ Es war jene Erkenntnis, in der die Nacht sich schützend über den Tag legt und Spuren auslegt ins Innere. 1992. Ich denke gerne zurück. In mir der Weg. Von San Sebástian nach Santiago de Compostela. Was als Abenteuer, eine Art Neugier-Etappe begann, sollte eine intensive Begegnung mit dem Tod werden. Erde als Vergänglichkeit und Zukunft zugleich. Niemals zuvor hatten mich Friedhöfe derart berührt und sprachlos gemacht als auf dem Weg der Jakobspilger. Da war kein Stab vonnöten, nicht das Symbol der Muschel, noch ein Stempelheftchen-- als Beweis, dass der Weg auch zurückgelegt worden war. Das Bedürfnis der Stille und die Notwendigkeit, zu beten und die Erde zu berühren, die durch ihr nacktes Dasein ihr kompromissloses Memento! sprach, wurde zum wichtigsten Gedicht. Aufwühlendes und beruhigendes Sagen. Ohne Worte, und doch W: ort. Es war als hätte sich ein Höllenfenster geschlossen. Wo Knochen in den ersten Tagen noch Trauer trugen, brach Erde auf. Lichtstrahlenwarm. Nur so konnte ich nach meiner Rückkehr in Deutschland schreiben: „mein lächeln trinkt frieden / in deinem mund / / wir schöpfen tage / aus maisblütenklängen“. Die b: leibende Erfahrung meines Pilgerweges war die tägliche Betrachtung der Friedhofserde. Alte Gräber, neue Gräber. Verbrachtes, Verschüttetes. Die Landschaft der umgeschorenen Toten. Die, deren Namen noch lesbar waren und derjenigen, die namenlos vergessen wurden. Unter meinen Füßen immer eine Zehenspitze Erde. Das zarte Fell Geborgenheit. Aufgabe 2 Verfassen eines Reiseberichts, der sich auf die Suche nach einem elementaren religiösen Erleben macht. Ein wichtiger Aspekt wäre hierbei zu beachten: Es geht immer auch darum, kritische Stimmen in diese Unterrichtseinheit zu integrieren. Es sollte eine offene Auseinandersetzung stattfinden, die sich den persönlichen Gedanken und Gefühlen der Schülerinnen und Schüler stellt. Beispieltext einer Schülerin: Bei einem mehrmonatigen Schreibprojekt lautete eine meiner Aufgaben an die Schülerinnen und Schüler, einen Brief an die Zeit zu schreiben: 101 Emotionen - Religionen Brief an die Zeit Von Ihm wurdest du erschaffen, von Ihm wirst du kontrolliert. Dein Schöpfer und der von allem, was geschieht. In seiner Hand liegt der Wechsel von Nacht und Tag. Diesem Wechsel bist du unterworfen, denn Er kontrolliert, wie und wann er will. Du kannst nicht irgendetwas aus dir selbst heraus tun, denn du bist nur eines der Dinge, die von Ihm erschaffen wurden. Dich als Ursache der Unglücke zu verfluchen, wobei gemeint ist, dass du es bist, der den Wechsel der Dinge hervorruft, ist falsch. Denn man ordnet somit das Geschehen zu etwas anderem als zu Ihm zu. Wobei er der Eine ist, der solche Ereignisse verursacht und bestimmt. Er weiß es am besten. Wir Menschen leben für eine kurze Zeit. Wir leben auf der Erde, die sich ständig dreht. Alles ist in ständiger Bewegung. Die Sonne und der Mond kommen und gehen. Wir wachsen und altern. Aber Er ist frei von der Zeit. Er ist der Schöpfer der Zeiten, Bewegungen und Rotationen. Für Ihn bist du bedeutungslos: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nicht für Ihn. „Beschwert euch nicht über die Zeit, denn Allah ist die Zeit.“-- Prophet Mohammed (saw) A. M. Aufgabe 3 Auch dieser Brief könnte ein Ausgangstext einer weiteren Schreibübung sein: Ein Reisebericht durch (unsere) Zeit. 102 III. Freude und Angst Akos Doma Einführung Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur. Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr. Friedrich Schiller (An die Freude) Der Unwissende hat Mut, der Wissende hat Angst Alberto Moravia Die Freude. Friedrich Schiller besingt sie in seiner Ode An die Freude, Beethoven vertont Ausschnitte aus der Ode und nimmt sie als Chor in den Schlusssatz seiner 9. Symphonie auf, der Chor wird 1985, zweihundert Jahre nach der Entstehung der Ode, zur Hymne der Europäischen Union auserkoren. Die Freude. In Schillers Worten die „starke Feder in der ewigen Natur“, die Triebkraft allen Lebens. Die positivste aller Emotionen, die Reaktion auf etwas Schönes, Gutes, Wohltuendes, Ersehntes. Erfüllung. Oder die Vorfreude darauf. Dauerhafte Freude: das Glück, der Zustand, nach dem man sich mehr als nach allem anderen sehnt. Am fernen Ende der Skala der Emotionen die Angst. Als Hymnentext taugt sie nicht, man möchte ihr aus dem Weg gehen, und doch lauert sie einem immer wieder auf. Ein Gefühl der Bedrohung. Im Gegensatz zur Furcht, die eine konkrete, reale Ursache hat, ist die Angst oft gegenstandslos, eine unbestimmte Empfindung, Einbildung. Oder ihr eigenes Objekt. „Wenn ich nichts habe, was mich ängstiget“, so Schopenhauer, „so beängstigt mich eben dies, indem es mir ist, als müsste doch etwas dasein, das mir nur eben verborgen bliebe.“ Schlimmer als das, wovor man Angst hat, ist die Angst selbst. Freude und Angst, zwei entgegengesetzte Grundbefindlichkeiten der menschlichen Existenz. Genauso gegensätzlich wie sie selbst sind auch die Metaphern und Assoziationen, in denen sie sprachlich zum Ausdruck kommen. Freude wird mit Lebendigkeit und Bewegung assoziiert: „das Herz hüpft einem vor Freude“, man „springt vor Freude an die Decke“, „führt Freudentänze auf “. Sie setzt ungeahnte Kräfte frei, ist grenzenlos, hebt einen in eine andere, höhere Sphäre, „verleiht einem Flügel“. Man ist „obenauf “, erlebt ein seelisches „Hoch“, stets geht die Bewegung nach oben, wie auch die Synonyme „Hochgefühl“, „Hochstimmung“ oder „Überschwang“ verdeutlichen. Die Freude ist licht, eine „helle Freude“, ein „strahlendes Lachen“, sie öffnet und beseelt: „das Herz geht einem vor Freude auf “. Und da man sich öffnet, 103 Freude und Angst hat die Freude stets ein gemeinschaftliches Element, man will sie mit anderen teilen, anderen mitteilen, am liebsten die „ganze Welt umarmen“. Da das nicht möglich ist, lächelt man sie an, lacht in sie hinein. Das Wort Angst leitet sich aus dem Lateinischen ab: angustus, eng. Angst ist ein Gefühl der Enge. Der Beengtheit, der Beklemmung, der Bedrückung. Eines Druckes, der als umso schlimmer empfunden wird, je unklarer seine Ursache ist. Die Angst drückt nach unten, die Bewegung geht abwärts, wie es verwandten Ausdrücken wie „seelisches Tief “, „Depression“ „Niedergeschlagenheit“ abzulesen ist. Angst assoziiert man mit Starre und Leblosigkeit, sie „lähmt“ einen, „schnürt einem die Kehle zu“, man ist „starr vor Angst“. Sie ist ein Zustand der Einsamkeit, man sehnt sich nach anderen, um nicht allein mit ihr zu sein, doch wird man immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, fühlt sich wie eingeschnürt. Im Moment der Angst schließt man die Augen, hält die Hände entsetzt vor den Mund, will sich ganz und gar verschließen, um die Bedrohung nicht an sich heranzulassen. Die Angst ist dunkel und nähert sich im Dunkeln, ein Schattenwesen, ein Nachtgewächs. Im Volksglauben schlüpft sie in die Gestalt eines Nachtgespenstes, eines Alps (Albs) oder Mahrs (Nachtmahr, „nightmare“), der einen im Schlaf beschleicht, sich einem auf die Brust setzt, einen sprichwörtlich be-drückt. Die Angst: ein Gefühl wie ein Alptraum (Albdruck). Man verstummt angesichts ihrer, wird sprachlos. Oder schreit entsetzt auf. Um die Freude wird es in der hochtechnisierten, beschleunigten, modernen Zivilisation zunehmend still, es ist, als würden beide nicht zueinander passen, als sprächen sie nicht dieselbe Sprache, hätten nicht dieselbe Wellenlänge, nicht dieselbe Geschwindigkeit. Aus Freude wird der schnelle Spaß, das rauschhafte Vergnügen, die dröhnende Ekstase. Sie sind von anderer Qualität. Spaß, ein Seelenverwandter des englischen „fun“, ist die schnelle, seichte Form des Wohlgefühls. Flüchtige Belustigung, Zerstreuung, Zeitvertreib. Das Fast Food unter den Freuden. „Freude-to-go“. Spaß dringt nicht tief ein, klingt nicht nach, hinterlässt keine Spuren im Gedächtnis, im Bauch. Er ist schnell verdaut, ebenso schnell weckt er den neuen Hunger nach sich selbst. „Ich will Spaß, ich will Spaß“, „girls just want to have fun“, hämmert einem die Spaßgesellschaft ein, doch selbst in seiner extremsten, exzessivsten, ekstatischsten Form berührt einen der Spaß nicht, wie es eine einfache Freude zu tun vermag, führt nicht ins Herz des Menschen, sondern führt ihn, wie die ex- und ek-Vorsilben verdeutlichen, aus sich heraus, von sich weg. Weg zu sein, nicht mehr da zu sein, ist der latente Wunsch, der sich in jeder Ekstase verbirgt, darum geht sie so oft mit der Verwendung von Rauschmitteln einher, die demselben Zweck dienen. Im gleichen Maß wie die Freude erlischt, geht der Stern der Angst auf. Nicht jener existentiellen Angst, die seit jeher ein Teil des menschlichen Daseins ist, sondern jener kulturspezifischen Angst, die offenbar eine unvermeidliche Begleiterscheinung hochtechnisierter, moderner Gesellschaften ist. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts diagnostizieren Søren Kierkegaard (Der Begriff Angst, 1844) und Fjodor Dostojewski (in seinen Romanen) zum ersten Mal die Angst als Zeitphänomen, im Existenzialismus Martin Heideggers und Jean-Paul Sartres nimmt sie eine zentrale Stellung ein. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts spricht der englische Dichter W. H. Auden bereits vom „Zeitalter der Angst“ (The Age of Anxiety, 1947). 104 III. In der Literatur hat niemand diese moderne Angstlandschaft so eingehend und genau kartographiert wie Franz Kafka. Kafkaesk ist zu einem Synonym für das Gefühl eines unheimlichen, namenlosen, rätselhaften Unbehagens geworden, dessen Ursprünge in der Unübersichtlichkeit und Entfremdung des Lebens in der industriellen Massengesellschaft liegen, in der wuchernden Bürokratie, der großstädtischen Anonymität, den immer neuen Bedrohungen durch technologisch und wissenschaftlich möglich gewordenen Katastrophen. Zur Angst vor realen oder potentiellen Bedrohungen gesellt sich paradoxerweise die Sehnsucht nach fiktiver, künstlich erzeugter Angst, nach Nervenkitzel und Sensationen, Thrillern, Horrorfilmen und Kriminalromanen, Extremsportarten, nach dem „ultimativen kick“. Je flauer und ereignisloser der Alltag in der modernen Gesellschaft wird, desto größer wird die Spielwiese der Angst. „Außer sich geraten“ kann man auch vor Freude. Dazu bedarf es jedoch keiner künstlichen Aufputschmittel, das Aufputschmittel der Freude ist das Leben selbst. Dann möchte man gerade nicht weg, sondern da sein, Freude ist schiere Lebenslust, Lust am Da-sein. Freude kommt auf, wenn die Hülle der rationalistischen, denaturierten Zivilisation einen Riss bekommt und der Mensch durch den Spalt wieder mit der Natur und seinen natürlichen, biologischen Wurzeln in Berührung kommt. In der Verliebtheit, im Liebesakt, in der Natur, beim Anblick einer ursprünglichen Landschaft, im Umgang mit Kindern, Tieren-- in Momenten, wenn die Natur in einem mit der um einen herum in Korrespondenz gerät und Harmonie entsteht, wenn die im Alltag verschüttete Ahnung einer kosmischen Zusammengehörigkeit wieder spürbar wird. Schreibaufgaben Aufgabenstellung 1 (zehn Minuten) Die Schülerinnen und Schüler erstellen eine Liste von Begriffen, die sie mit den Worten Freude beziehungsweise Angst assoziieren. Verwandte Begriffe für Freude könnten sein: Hochstimmung, Überschwang, Hochgefühl, Glücksgefühl, Euphorie, Entzücken, Leidenschaft, Begeisterung, Gemütlichkeit. Verwandte Begriffe für Angst könnten sein: Furcht, Bange, Entsetzen, Schrecken, Schauder, Grauen, Grausen, Panik, Depression, Melancholie. Anschließend sammeln die Schülerinnen und Schüler Dinge oder Ereignisse, die sie mit den Begriffen Freude beziehungsweise Angst assoziieren. Ein lockeres Gespräch über die Ergebnisse führt ins Thema ein. 105 Freude und Angst Aufgabenstellung 2 (20 bis 30 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Geschichte zum Thema: 1. Nie war ich so außer mir vor Freude wie damals, als … 2. Nie hatte ich eine solche Angst wie damals, als … Aufgabenstellung 3 (30 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler erfinden und schreiben eine Erzählung in der „Ich-Perspektive“ zum Thema „Aprilscherz“. Im Mittelpunkt soll ein Aprilscherz stehen, der in irgendeiner Weise mit dem Thema Freude oder Angst im Zusammenhang steht. Mögliche Titel könnten lauten: ▶ Der missratene Aprilscherz ▶ Ein gelungener Aprilscherz ▶ Ein Aprilscherz, der Wirklichkeit wurde Aufgabenstellung 4 (30 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Geschichte zum Thema: „Eine freudige Überraschung“. Dabei sollten sie Wert darauf legen, dass die Handlung spannend ist. Die Spannung soll sich steigern und in der Überraschung ihren Höhepunkt erreichen. Aufgabenstellung 5 (30 bis 45 Minuten) Glück. Der Inbegriff alles Guten, Positiven, das Ziel aller Hoffnungen. Doch welches Glück ist gemeint? Zu lieben? Geliebt zu werden? Etwas geschafft zu haben? Die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches? Oder schlicht die wunschlose Zufriedenheit? Die Schülerinnen und Schüler schreiben ein Gedicht über ihre ganz persönliche Vorstellung des wahren Glücks. Der Titel könnte lauten: ▶ Das größte Glück ▶ Einmal Glück und zurück 106 III. Aufgabenstellung 6 (30 bis 45 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Geschichte oder ein Gedicht zum Thema Angst und / oder Mut. Was ist Mut, was heißt mutig sein? Wie kann man der Angst mutig begegnen? Die Form des Gedichts eignet sich besonders, allgemeine Gedanken zu einem Thema zu entfalten. Dabei sollte stets Wert auf eine lyrische, dichterische Gestaltung gelegt werden. Beim Prosatext sollte darauf geachtet werden, dass das Thema nicht abstrakt-essayistisch, sondern im Rahmen einer fiktiven Handlung abgehandelt wird. Mögliche Titel könnten lauten: ▶ Wovor ich Angst habe ▶ Mein mutigster Moment ▶ Meine mutigste Entscheidung Aufgabenstellung 7 (45 Minuten) Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung oder ein Gedicht zu einem der Wörter aus der Wortfamilie „Mut“. Zu Beginn werden die vielfältigen, unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter geklärt und gemeinsam besprochen. ▶ Mut ▶ Anmut ▶ Demut ▶ Wehmut ▶ Schwermut ▶ Gleichmut ▶ Wankelmut ▶ Unmut, Missmut ▶ Übermut, Hochmut ▶ Großmut, Edelmut, Freimut 107 Freude und Angst Aufgabenstellung 8 Die Schülerinnen und Schüler lesen und besprechen Franz Kafkas Erzählung Der Bau. Der Bau schildert die Bemühungen eines dachsähnlichen Tieres, seinen unterirdischen Bau gegen potentielle Angriffe und Bedrohungen von außen abzusichern. Seine Sicherheitsparanoia nimmt immer absurdere Formen an, doch jeder Versuch, die Sicherheit seines Baus zu perfektionieren, steigert seine Angst und seine Unruhe nur noch mehr. Welche Bedeutung hat die Erzählung für den heutigen Leser? Gibt es Parallelen zwischen dem Verhalten des tierischen Erzählers in Kafkas Erzählung und den ständig zunehmenden politischen Sicherheitsmaßnahmen heute (Internetüberwachung, öffentliche Videoüberwachung, Telefonüberwachung, E-Mail-Überwachung, Sicherheitskonferenzen)? Die Schülerinnen und Schüler schreiben: ▶ eine Geschichte, in der sie ihre Gedanken zum Thema Angst - Überwachung - Sicherheit in eine fiktive Handlung einbetten ▶ eine Geschichte, die im Gegensatz dazu die Werte Mut - Vertrauen - Freiheit thematisiert Aufgabenstellung 9 Die Schülerinnen und Schüler lassen sich von einem Bild der klassischen Malerei oder Fotografie, das Freude oder Angst zum Thema hat, inspirieren, und schreiben eine selbsterfundene Geschichte zu diesem Bild. Die Wahl der Bilder ist freigestellt. Als Bilder der Angst könnten dienen: ▶ Henry Fuseli, Nachtmahr ▶ Edvard Munch, Der Schrei Als Bilder der Freude könnten dienen: ▶ Pierre-August Renoir, Frühstück der Ruderer ▶ Pablo Picasso, Laufende Frauen am Strand Aufgabenstellung 10 In einer Episode von Akos Domas Roman Der Weg der Wünsche erzählt die Protagonistin Teréz ihrer Tochter Bori, wie sie und ihre jüngere Schwester Jolán die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit im Ungarn der Zwischenkriegszeit erlebt haben, und wie dieses „Fest der Freude“ für sie selbst einmal mit einer furchtbaren Enttäuschung geendet hat. 108 III. Der Weg der Wünsche (Romanausschnitt) „Es war Weihnachten 39, im ersten Kriegswinter“, flüsterte Teréz, als Misi endlich eingeschlafen war. Sie begann zu erzählen. Draußen heulte der Wind, Bori lauschte ihr im Dunkeln, den Kopf aufgestützt, Teréz war froh, sie ablenken zu können. Es war der 23. Dezember. „Ich war neun in jenem Jahr, Jolán vier. Wir lebten in Putnok, auf dem Land, in einem Nebengebäude der höheren Töchterschule, in der dein Großpapa Direktor war. Es war eine schöne Wohnung mit Parkettböden und hohen Decken. Die letzten Tage vor Weihnachten vergingen immer in großer Aufregung, am Heiligen Abend war die Spannung groß. Die Tür zum Wohnzimmer, eine hohe Flügeltür, war schon seit dem Morgen abgeschlossen, wir durften uns ihr nicht einmal nähern. So warteten wir, Stunde um Stunde, das Warten war eine Qual, aber eine schöne, denn wir wussten, dass nach Einbruch der Dunkelheit das Glöckchen bimmelte und Bescherung wäre. Wenn wir beim Läuten endlich das Zimmer betreten durften, roch es nach Tannenwald. Die Lichter waren aus, nur der Baum schimmerte im Schein der vielen Kerzen. Bunte Weihnachtskugeln, Lametta und Salonzucker, goldene und silberne Boas hingen an den Ästen, und alles umhüllte ein hauchdünner Schleier aus weißem Engelshaar. So hoch das Zimmer auch war, der Komet am Wipfel stieß jedes Mal an die Decke, es war mir stets ein Rätsel, wie das Christkind es geschafft hatte, den großen Baum ins Zimmer zu befördern. Vom Christkind selbst war nie eine Spur zu finden. So war es immer gewesen, aber in diesem Jahr kam es anders. Vater war schon am Morgen weggefahren, Mutter kochte, Jolán war bei ihr in der Küche. Ich vertrieb mir die Zeit, hielt am Fenster Ausschau nach fliegenden Objekten und geheimnisvollen Lichtern, horchte auf jedes Geräusch in der Wohnung. Die Vorstellung, dass sich vielleicht just in dem Moment, nur durch eine Tür von mir getrennt, das Christkind, das noch nie jemand zu sehen bekommen hatte, in unserem Wohnzimmer aufhielt, ließ mir keine Ruhe. Ich schlich zur Tür und wieder weg, das war strengstens verboten. Dann wurde die Versuchung doch zu groß, ich blieb an der Tür stehen und lauschte. Tatsächlich, aus dem Zimmer drangen Geräusche. Ganz leise, aber deutlich zu hören. Ich konnte meine Neugierde nicht mehr zügeln, plötzlich war mir alles egal, ich musste das Christkind sehen. Zitternd vor Aufregung stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um das Schlüsselloch zu erreichen-…“ „Und? Was hast du gesehen? “, flüsterte Bori. Die Zigarette ihrer Mutter leuchtete auf. „Was ich gesehen habe? “ Sie seufzte. „Vater. Ich habe meinen Vater gesehen. Er stand auf einer Leiter, fast auf Höhe der Decke, und befestigte gerade den Kometen auf dem Tannenwipfel. Mir blieb fast das Herz stehen, ich sackte zurück, dann reckte ich mich noch einmal nach dem Schlüsselloch, das konnte ja nicht sein. Aber da stand er, mein Vater, am Weihnachtsbaum, im verschlossenen Zimmer. Konnte es sein, dass insgeheim er selbst das Christkind war? Oder war alles gar nicht wahr, gab es das Christkind gar nicht? Aber das hätte bedeutet, dass meine Eltern uns immer belogen hatten, und das konnte auch nicht sein. Doch was suchte mein Vater dann in dem verbotenen Zimmer? Ich schlich davon, am liebsten hätte ich sofort alles rückgängig gemacht, so getan, als hätte ich nichts gesehen, oder alles wieder vergessen, was ich gesehen hatte, aber das war nun nicht mehr möglich. 109 Freude und Angst Ich ahnte, dass etwas Schreckliches passiert war, die Wahrheit sich verwirrt hatte und nie wieder würde entwirren lassen. Noch bevor die erste Bombe auf Budapest fiel, war meine Welt eingestürzt-…“ Ihre Mutter verstummte. „Nie wieder habe ich durch ein Schlüsselloch geschaut“, fügte sie nach einer Weile leise hinzu. Der Wind ging ums Haus, Bori zog die Decke enger um sich, es war kalt geworden. Feste Feste sind besondere Momente im Leben eines Menschen oder einer Gemeinschaft, Momente der Freude und des gemeinsamen Feierns. Die Schülerinnen und Schüler schreiben eine Erzählung, die vor dem Hintergrund eines Festes spielt. Das Fest kann ein kulturelles, religiöses, familiäres oder persönliches Fest sein und sollte mit der Handlung der Erzählung thematisch eng verbunden sein. Der feierliche Rahmen eines Festes eignet sich sowohl für eine dramatische als auch eine komische Behandlung des Themas. 110 III. Auszüge aus einem Tour-Tagebuch Selim Özdogan Mittwoch, 13. April, Düsseldorf, Zakk Ich vertrödele den Tag, überarbeite einen Text, lese, höre Musik, bevor ich mit dem Rad zum Bahnhof fahre, 20 Minuten dauert es mit dem Zug nach Düsseldorf. Weniger als ich gestern zur Lesung gebraucht habe, aber vielleicht kommt es von Tür zu Tür ungefähr aufs Gleiche raus. Die Veranstalterin ist sehr nett, sieht zu, daß es mir gut geht, ohne aufdringlich zu sein. Das Publikum ist toll, viele junge Leute, und gleich bei den ersten Pointen kriege ich die vollen Lacher. Es läuft grandios. Habe ich gar nicht erwartet, weil Düsseldorf letztes Mal nicht so berauschend war. Und mein Freund Andreas Thiel ist da, mit dem habe ich auch nicht gerechnet. Nach der Lesung erzählt mir eine Frau, wie sie in der Pause einen Herren gehört hat, der es bemerkenswert fand, wie gut ich deutsch spreche. Was soll ich sagen? Das ist halt mein Leben. Ich spreche gut deutsch. Ich trinke mit Andreas und einem Freund, den er mitgebracht hat, noch einen Absacker. Wir reden über die Lit.cologne-Lesung. Ich erzähle ihm, wie Edmund seine Eloge vorgelesen hat. Und er erzählt, daß es Edmund erst, als er schon angefangen hatte zu lesen, aufgefallen ist, daß es keine gute Idee war, nur mich so überschwänglich einzuführen. Na, wenn er es wenigstens selber gemerkt hat, dann ist ja okay. Und bald darauf sitze ich im Zug und fahre gut gelaunt nach Hause. Yessir. Wie wenig es manchmal zu sagen gibt, wenn alles gut läuft. Für diese Abende liebe ich den Job. Donnerstag, 14. April, Stuttgart, Merlin Ich gehe morgens zum Yoga und fahre mittags los. Lese im Zug die ersten 50 Seiten von Siri Huvstedts Was ich liebte. Es klingt sehr konstruiert und außerdem spielt es in so einem Intellektuellenmilieu, aber ich mag es trotzdem. Am Bahnhof holt mich Christoph Just ab, ein Mensch, der mich vorher angemailt hatte, ob er ein paar Fotos von mir machen kann. Die Fotos auf seiner Heimatseite sahen ganz schön aus, also habe ich zugesagt. Mit dem Auto bringt er mich ins Merlin, wo sie eine Künstlerwohnung haben. Ich stelle meine Tasche ab und wir gehen raus. Es ist herrliches Frühlingswetter und Christoph hat eine sehr beiläufige Art zu fotografieren, die mir sehr entgegenkommt, weil ich nicht gut für Fotos posieren kann. Er betätigt den Auslöser so, wie andere Leute sich im Gespräch eine Zigarette anzünden. Danach zurück ins Merlin, wo ich etwas zu essen bestelle, ich habe Riesenhunger. Die asiatische Suppe ist gut, die Glasnudeln mit Ingwer und Koriander nicht ganz so und als ich fertig bin, ist es schon halb acht und ich bin vollgefressen. Fehler. Die erste halbe Stunde auf der Bühne muß ich kämpfen, mein Magen rumpelt und beschwert sich. Das Publikum ist grandios, wie eigentlich immer in Stuttgart. Es gibt eine Menge Leute, die jedes Mal wiederkommen, auch wenn die letzte Lesung erst ein halbes Jahr her ist. Wieso 111 Auszüge aus einem Tour-Tagebuch war von denen eigentlich keiner im Theaterhaus? Es sind ungefähr 80 Gäste da, sehr wohlwollend, sehr angenehme Atmosphäre. Während der Lesung erzähle ich, daß ich morgen in Nürnberg lese, ich weiß auch nicht genau warum. In der Pause kommt Jochen von Pulsmacher und erzählt, daß er morgen nach Regensburg fahren muß, Nürnberg liegt auf dem Weg. Wir beschließen, zusammen zu fahren, schöne Fügung. Nach der Lesung sitze ich mit Marc, Sina, Alice und noch einer Frau zusammen, deren Name mir nun nicht mehr einfällt. Menschen, die ich von vorherigen Lesungen oder Besuchen in Stuttgart und Ludwigsburg kenne und die alle irgendeine Verbindung zu der Agentur Pulsmacher haben, die so einige Lesungen mit mir veranstaltet hat und mir immer noch manchmal den einen oder anderen Job vermittelt. Wie die Lesung im Theaterhaus. Es geht mir gut. Diese Menschen haben eine Herzlichkeit, die mich jedes Mal aufs neue begeistert und dazu führt, daß ich mich in dieser Ecke des Landes immer wohlfühle. Vielleicht rede ich an diesem Abend zuviel, kann gut sein, aber es ist schön. Als ich die Stufen zum Zimmer hochsteige, grinse ich. Sina hat gesagt, meine Lesung habe ihr den Tag gerettet. Aber umgekehrt ist es manchmal auch so: das Publikum rettet mir Tage. In letzter Zeit sitze ich oft zu Hause und ärgere mich, daß sich Die Tochter des Schmieds nicht viel besser verkauft. Und an solchen Abenden wie heute merke ich, wie egal das ist. Naja, wie gleichgültig es sein kann. Freitag, 15. April, Nürnberg, Lounge des Hotels Drei Raben Stehe spät auf, trödele bis mittags im Merlin herum und fahre dann nach Ludwigsburg zu den Pulsmachern. Ich gehe mit Jens und Jochen essen. Wie oft war ich in den letzten Jahren in Ludwigsburg und wie wohl fühle ich mich hier jedes Mal. Nach dem Essen hänge ich noch eine Weile bei Pulsmachers im Büro rum, während Jochen ein wenig arbeitet. Schließlich setzen wir uns ins Auto. Auf der Fahrt erzählt mir Jochen, wie er seine Freundin aus Aachen kennengelernt hat. Fernbeziehungen interessieren mich ja immer, weil ich auch eine führe. Jochen hat die Frau als Promoterin eingeteilt und sie hat Jochen irgendwie am Telefon so belabert, daß er ihr mehr als den bei Pulsmacher üblichen Satz gezahlt hat, was er sonst nie tut. Als die Telefonate zum Einteilen immer länger und privater wurden, haben sie sie von den Bürozeiten in die Nacht verlegt, und schließlich haben sich die beiden zu einem Treffen verabredet. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten, die sich wohl zwangsläufig ergeben, wenn man auf diese Weise angebandelt hat-… Schöne Geschichte. Ich habe meine Frau kennengelernt, weil sie mir auf wundersame Weise Geld rausgeleiert hat. Als Jochen mich in Nürnberg am Bahnhof absetzt, singt Nena gerade im Radio Wir sind da. Erzähl mir keiner was von Zufällen. Es ist schon gegen sechs, ich laufe durch die Stadt, es ist Frühling, es ist warm, ich sehe überall Ausschnitte, Beine, nackte Schultern. Es sind diese Tage, in denen die Frauen alle sexy aussehen in ihren Klamotten, bevor das Wetter ein Normalzustand wird und man sich auch an diese Anblicke gewöhnt hat. 112 III. Nachdem ich bei einem Asiaten gegessen habe, gehe ich ins Hotel, wo die Lesung ist, und wo ich auch untergebracht bin. Die Lounge, in der ich lesen soll, ist gleichzeitig die Lobby oder das Foyer, wie auch immer man es bezeichnen möchte. Der Raum ist ein langer Schlauch und ich bin für die Lesung so an einer Längsseite platziert, daß ich nicht das ganze Publikum sehen kann und immer das Gefühl habe, daß mir jemand im Rücken sitzt. Als Sitzgelegenheit habe ich einen Barhocker, nichts davor als einen Mikroständer. Mein Buch, mein Glas, meine Blätter liegen hinter mir auf einer Theke. Was an anderen Tagen möglicherweise okay wäre, aber zusammen mit den Blicken im Rücken ist mir das eigentlich zuviel. Das Publikum ist seltsam gemischt, junge Leute, aber auch Rentner oder Menschen, die kurz davor sind. Dazwischen ist eigentlich nicht viel. Und die Leute reagieren auch verhalten bis gar nicht. Ich lese nicht besonders gut, bin verunsichert. Lacher gibt es kaum. Zur Pause gehen so einige, warum auch immer. Bei den Blicken der Älteren habe ich manchmal das Gefühl, daß ich ihnen nicht seriös genug bin. Das soll Literatur sein? Der hat ja nicht mal vernünftige Schuhe an. Ein Paar geht nach zehn Minuten in der zweiten Hälfte. Zudem ist es die ganze Zeit unruhig, Hotelgäste kommen und gehen, es gibt Gespräche an der Rezeption, einige Schritte links von mir, und ständig wird irgendwo geflüstert. Ich bin unkonzentriert, verhaspel mich, versuche das Beste daraus zu machen, aber das ist nicht sonderlich viel. Nach der Lesung spricht mich ein angetrunkener Mann namens Heinrich an, der mir von seinem Sohn namens Berk Ziya erzählt, den er zusammen mit einer Türkin hat. Er ist etwas unsicher und kommentiert immer schon vorher, was er gleich erst sagen wird. Mir ist das nach so einer Lesung zu anstregend. Während wir reden, kommt Wladimir Kaminer herein. Ich erkenne ihn sofort von den Fotos, die ich gesehen habe. Ich überlege, wie ich den Mann ansprechen kann, doch Heinrich kommt mir zuvor und stellt mich auch gleich vor. Wladimir weiß, wer ich bin, Imran hat ihm von mir erzählt. Wir reden ein paar Takte, Wladimir hat in Erlangen gelesen und ist auch hier im Drei Raben untergebracht. Ich verabrede mich mit ihm zum Frühstück und lasse mich von zwei Leuten, die ich kenne, auf eine Geburtstagsparty mitschleppen. Ich habe gedacht, es wäre eine Privatparty, deshalb bin ich mitgegangen, aber wir landen in einer Karaoke-Bar. Es ist mein erstes Mal, ich finde es langweilig. Mut antrinken, noch mehr Mut antrinken, noch ein bißchen, dann auf die Bühne. Einige können singen, andere nicht, aber das hier entspricht definitiv nicht meiner Vorstellung von einem gelungenen Abend. Es hat etwas sehr Spießiges und Verzweifeltes, wie diese Menschen sich amüsieren. Es scheint mir nicht ausgelassen, es ist erdenschwer, da ist keine Fröhlichkeit, keine Lebensfreude, nur ein Alkoholspaß, den man herausbrüllen muß, um zu zeigen, wie ungehemmt man den schlechten Gefühlen ein Schnippchen schlägt. Oder aber man zeigt, zu wieviel Eitelkeit und Selbstverliebtheit ein Mensch fähig sein kann. Ich gehe bald wieder. Am nächsten Morgen ist Wladimir ein wenig grummelig. Ich sage, daß ich Heinrich gestern abend etwas anstrengend fand. Ach, sagt er, ich finde Menschen grundsätzlich anstrengend. Dann sollte ich mich wohl besser woanders hinsetzen, sage ich, kann aber noch darüber lachen. Wir haben Anlaufschwierigkeiten, doch bald sind wir einem Gespräch und Wladimir 113 Auszüge aus einem Tour-Tagebuch erzählt mir die Geschichte, die Heinrich gestern abend noch erzählt hat, und ich verspreche, sie in mein Tourtagebuch zu schreiben. Heinrich ist in einer Kneipe, wo jemand eine Schlägerei mit ihm anzetteln möchte. Wenn du mich schlägst, sagt Heinrich, kriegst du es mit meiner Mutter zu tun. Mit deiner Mutter? Heinrich zeigt auf eine betrunkene ältere Frau, die am Tresen schläft. Du gehst mit deiner Mutter aus? Heinrich nickt. Ja, klar. Der Typ so verstört, daß es nicht zu einer Schlägerei kommt. Natürlich ist die Frau nicht Heinrichs Mutter. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der Salz auf seine Wurst streut, und Wladimir benutzt große Mengen davon. Nach dem Frühstück löffelt er sich zu seinem Tee noch Marmelade pur in den Mund und sagt, das mache man in Russland so. Er hat einen etwas irren Blick und kann sicherlich sehr ruppig sein, doch er ist lustig, hat eine sehr eigene, intelligente Perspektive und scheint gebildet zu sein, zumindest gebildeter als ich. Ich habe bisher nur die eine oder andere Geschichte von ihm gelesen und die haben mich nicht überzeugt. Es ist sehr einfach und eigentlich immer dasselbe. Vielleicht bin ich auch zu voreilig und sollte es mal mit einem ganzen Buch versuchen. Im Gespräch ergibt sich das Bild eines unabhängigen, humorvollen Mannes, der sich um sehr viele Sachen einfach einen Dreck schert. Ich mag diese Haltung ja, dieses Ist-mir-doch-scheißegal, man muß all die Wichtigtuer auf der Welt nicht auch noch ernst nehmen. Bevor er in seiner Jugend zu den Punks ging, war er Krishnait, sagt er irgendwann im Gespräch. Das sagt man im Deutschen nicht, sage ich. Was sagt man denn? Man sagt Hare Krishnas, vermute ich. Wieso, will er wissen, Buddha-- Buddhist, Krishna-- Krisnait. Nein, beharre ich, das Wort gibt es im Deutschen nicht. Monate später werde ich mir Militärmusik kaufen, es ganz lesen, meine Meinung über Kaminers Literatur kaum ändern, im Buch über das Wort Krishnait stolpern und dann anfangen zu recherchieren. Es gibt das Wort nicht. Heinrich habe erzählt, meine Bücher hätten auch eine spirituelle Qualität, sagt er. Ja, sage ich, ich bin ja auch Krishnait. Wir geben uns die Hand. Er erzählt noch, daß seine Frau ein Buch schreibt, er weiß aber nicht genau, in welchem Verlag es erscheint, egal wie lange er nachdenkt. Du bist dir aber sicher, daß es deine Frau ist? Ja, antwortet er in vollem Ernst. Oder mit einem Humor, den ich nicht verstehe. Zumindest an diesem Morgen neigt er dazu, selbst grobe Übertreibungen in einem Ton zu erzählen, als vermittle er einem eine plötzliche Erkenntnis, die gerade über ihn gekommen ist. Da waren hundert, ach Quatsch, tausend Fotos und ich sitze dann da und soll eins davon aussuchen und die sehen alle gleich aus. Ein interessanter Mensch. Ich finde Menschen ja häufiger interessant, komme mir selbst aber immer langweilig vor. Da ist nur die Hoffnung, daß ich mich zu sehr an mich selbst gewöhnt habe. 114 III. Emotionen - Natur José F.A. Oliver „Die vollendete Kunst war zweifellos die arrangierte Landschaft des Stillebens. Deshalb vielleicht, weil seine bewegungslose Welt an die Ruhestellung eines aufgebahrten Toten erinnert, den man ganz nach Gutdünken so lange betrachten kann, wie man will, weil er sich nicht bewegt“. Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers (Kap. „Die letzte Kunst“) 1993 [1994] Natürlich bedeutet „Natur“ immer auch Emotion. Einer der überzeugendsten Romane, die in den letzten Jahren geschrieben worden sind und sich der Zerstörung unserer Umwelt und den katastrophalen Folgen für den Menschen stellt, ist Eistau von Ilija Trojanow. Ich empfehle die Lektüre nachdrücklich. Einzelne Passagen eignen sich großartig für die Thematisierung der heutigen Bedeutung im Umgang mit der „Natur“. Ich möchte das in jeder Hinsicht schier unüberschaubare, ausfransende und äußerst emotionale Thema mit zwei Gedichtfragmenten aus meiner Feder anreißen und präsentiere im Anschluss daran einen Kommentar zu einem Gedicht Eduard Mörikes, das zum Kanon deutschsprachiger „Naturlyrik“ zählt. Gedichtfragment 1 „jeden tag kommen mir bilder entgegen tragen in ihren händen die trostlosigkeit des schweigens. 1 tor, der nicht sagte: geh weiter weiter. Ich könnte von ihm lernen. könnte von ihm könnte! “ anonymus & stolpere über die Machado-Schritte stolpere über das wesen der straßen, caminante & die philosophie der rinnsteine---------------------------kilo meterlanges schlängeln & aufstrebendes GEHEN längst von den dorfradlern erobertes terrain zu fuß zu fuß die welt / es eilt & stempelkissen blau & schwarz die augen 1 absenderadressat zu aug zu aug die welt / es eilt. Ich sch: reibe bilder & hand um hand die winkelzüge zu klären WAS ich kann / ich könnte b: leibt & lebt fortan fortaus forther fortzwischdurch & stolper w: eiter. So ungebändigt nachgezähmt (auch in sprache). Ich will aus den latschen lachen & dies ge dicht sei mir proviant / ganz dicht auf meinen fersen (oder mit vogelvau)- lasst m: ich stolzieren wie -------------------------------------------------------------------1 pfau 115 Emotionen - Natur Gedichtfragment 2 1 ahorngrün 1 birkengrün 1 rurales restverwertungsgrün sie wehren sich / es probt der aufstand & gewinnt am märz der längst verloren das nacktverwüstet ruhende / am wintersaum der ausfranst fort ins amselstolze aug die falken nähen höhen her 1 himmel der sich offenherzig (bestimmt nicht intellektuell) vom mark der tage nährt / es ist symbolik mein empfinden & streiten fühlgedanken sich mit dem was sich gedankenfühle als schutz vor formeln im furchttrieb eint & m: eint Aufgabenstellungen 1. Beide Gedichtfragmente sollten laut vorgetragen werden - dies kann als Einzelrezitation oder als chorische Inszenierung erfolgen. Sobald ein Gedicht nicht in sich hineingelesen wird, verlässt es die innere Wahrnehmung und füllt den Raum. Dies ist ein erster Schritt ins Begreifen des Gesagten. 2. Nach der Präsentation der beiden Fragmente wäre eine Schreibaufgabe eine mögliche Konsequenz: Ein Kurzkommentar zu einem der beiden Texte, nicht länger als zehn Zeilen, oder ein „Dialogtext“, der den Verszeilen begegnet. 3. In einer Schreibkonferenz werden ein paar der Texte der Schülerinnen und Schüler unter drei Aspekten besprochen: a) Welche Sprache wurde gewählt? Eine, die sich dem Gedichtfragment „angepasst“ hat, oder eine Sprache, die sich vom Sprachstil Olivers unterscheidet? b) Handelt es sich um eine Antwort auf den Ausgangstext oder einen Text, der den Ausgangstext kommentiert? c) Wie schwer war die Aufgabe, einen Dialogtext zu schreiben? 4. Nach diesen Schritten erfolgt eine Gruppenarbeit mit der Aufgabe, gemeinsam über die Texte zu sprechen und sich jeweils für einen Text zu entscheiden, der dann von der jeweiligen Gruppe präsentiert wird. Zur Veranschaulichung eines Kommentares möge der nachfolgende Abschnitt dienen. Es geht um Eduard Mörike und ein Frühlingsgedicht. Weshalb Mörike? Ich glaube, dass Eduard Mörike mit Johann Wolfgang von Goethe in einem Atemzug genannt werden sollte, wo es um die Gedichte der beiden Großmeister der deutschsprachigen Lyrik geht. Dies der schlichte, aber entscheidende Grund. Mörike hatte vielleicht den Nachteil, in der schwäbischen Provinz zu Hause zu sein anstatt in fürstlicher Umgebung und ihres Weimarer Zentrums. Wie dem auch sei. Lassen Sie mich so beginnen, um dem Dichter Mörike gemeinsam auf die Spur zu kommen-… 116 III. Die Soldatenbraut Ach, wenn’s nur der König auch wüßt’, Wie wacker mein Schätzlein ist! Für den König, da ließ’ er sein Blut, Für mich aber ebensogut Mein Schatz hat kein Band und kein’ Stern, Kein Kreuz wie die vornehmen Herrn, Mein Schatz wird auch kein General; Hätt’ er nur seinen Abschied einmal! Es scheinen drei Sterne so hell Dort über Marien-Kapell’, Du knüpftst uns ein rosenrot Band, Und ein Hauskreuz ist auch bei der Hand. War er ein Politischer? Dieser Eduard Mörike? „Ach, wenn’s nur der König auch wüßt’, Wie wacker mein Schätzlein ist! Für den König, da ließ’ er sein Blut-…“ Ich lese in der illustrierten Literaturgeschichte, in Könneckes Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Literatur aus dem Jahre 1894, in einer knappen biografischen Notiz zu Eduard Mörike, dies: Die Soldatenbraut sei zu seinen Lebzeiten das populärste Gedicht, das populärste Lied gewesen. Fast könnte man es glauben, Mörike, der schwäbische Dichter, sei auch jemand gewesen, der sich politisch eingemischt hätte. Dem ist-- so glaube ich-- nicht so gewesen, auch wenn die soeben zitierten Verszeilen eine andere Haltung vermuten lassen könnten. Nicht unberührt von den großen Dichtungen der Romantik, nicht unberührt von den Ereignissen und den Folgen der Französischen Revolution auf das gesamte 19. Jahrhundert, war Mörike doch eher derjenige, der sich auf sich selbst besann, in sich selbst zurückzog und Sprache wurde. Ganz. Ein Sprachmagier, ein Liebhaber der Sprache und seiner poetischen, traum-poetischen Orte. Eduard Mörike war nie ein Dichter, der, wenngleich seine Soldatenbraut gehört, geschätzt, gar geliebt wurde, ein Schreibender gewesen wäre, den man in die Kategorie „populär“ eingestuft hätte; und da mit dem schwäbischen Landpfarrer kein Staat zu machen war, sollte er auch nicht den Rang eines Nationaldichters à la Goethe einnehmen. Unbestritten ist jedoch, dass sein Name für das größte lyrische Talent der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert steht. Er gilt als bedeutendster deutscher Dichter nach, wie gesagt, ich behaupte mit Johann Wolfgang von Goethe. Ja, vielleicht sollte man wirklich sagen: „Mit Johann Wolfgang Goethe der bedeutendste deutsche Dichter! “ Äußerlich ging Mörike ganz im Biedermeier auf: äußere Ereignisarmut und ein sorgenvolles Leben. Innerlich jedoch reicht er weit in die Moderne hinein. Viele seiner Gedichte nehmen die Dramatik des Innenlebens, das ekstatische offene „Ich“, das erst im 20. Jahrhundert in die Lyrik Einzug halten sollte, vorweg. Vielleicht hat ihn die enge, schwäbische Provinz in diese Verinnerung, die Schauer und Erschütterungen einer 117 Emotionen - Natur hochsensiblen, schier nicht überlebensfähigen Seele getrieben. Ein Vor-Moderner also. Ein Unzeitgemäßer, im Grunde. Niemals war die Wortmagie, die Sprachvirtuosität eines Dichters wohltuender als bei Eduard Mörike: „Oh flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe-…“ Wer war Eduard Mörike, der Dichter, der am 8. September 1804 in Ludwigsburg geboren und dessen 200. Geburtstag im Jahr 2004 überall im Land gefeiert wurde? Der Sohn eines Arztes und einer Pfarrerstochter ging mit sieben Jahren in die Lateinschule in Ludwigsburg. Dort schrieb er sein erstes noch erhaltenes Gedicht. Nach dem Tod des Vaters holte ihn sein Onkel nach Stuttgart, wo er seine Schulausbildung beenden sollte. Mörike bestand das Landexamen nicht, wurde aber auf Intervention des Onkels im Theologischen Seminar in Urach aufgenommen. Im Herbst 1822 folgte schließlich das Theologiestudium in Tübingen. Halbherzig und verträumt, sich ein Land erfindend, ein poetisches Land, namens Orplid. ORPLID . Ein Phantasie-Land, ein Möglichkeits-Land, ein Zufluchts-Land, in dem er sein konnte, wie er war. In das er seine Freunde einladen konnte, seine Freunde und Komplizen und die Dichter, die Komponisten, die Maler. In ihm sollte er fürderhin leben und leiden. Nicht zuletzt ob der Unfähigkeit wirklich zu lieben. Es gibt Zungen, die behaupten, dieser Dichter hätte die Liebe geliebt, wäre in die Liebe verliebt gewesen. Deshalb das Scheitern seiner Beziehungen. Mörike und die Frauen? Eine Knechtschaft für sich. Die Peregrina-Dichtungen, der Wunsch-Gesang an Maria Meyer-- sie sprechen für sich. Peregrinus-- der Pilger. Mörike, der Pilger, auf der Suche nach seinem liebenden Seelenheil, der aber seiner Liebe, seinen Lieben hinterherpilgerte. Fast katholisch, nur ohne Erlösung. Ein Dichter, der also zeitlebens „unglücklich“ liebte und der kein wirkliches Interesse am Pfarrerberuf hatte, legte dennoch 1826 sein theologisches Examen ab und begann mit dem Vikariat, das er an sieben verschiedenen Orten absolvierte und das in seiner ersten festen Pfarrstelle in Cleversulzbach mündete. Eine Odyssee, bis er wusste, dass er ins Dichten geboren war. 1838 erschien die erste Auflage seiner Verse, die immer wieder überarbeitet wurde. Er schrieb in seinem Leben über 200 Gedichte. 1843 wurde er wegen Kränklichkeit pensioniert, zog zunächst nach Schwäbisch Hall, dann nach Mergentheim um. 1851 heiratete er Margarethe von Späth und lebte mit ihr in Stuttgart. Die Universität Tübingen „erbarmte“ sich, ernannte Mörike zum Ehrendoktor. Später wurde er Hofrat und bekam den Professorentitel. In dieser Zeit erschienen von ihm Werke, die in die Literaturgeschichte eingehen sollten: Das Stuttgarter Hutzelmännlein und Mozart auf der Reise nach Prag. 1859 siedelten die Eheleute Mörike nach Lorch über. Zwei Jahre später zogen sie erneut nach Stuttgart und danach nach Nürtingen. 1873 wurde die fünfte Auflage seiner Gedichte und Die Historie von der schönen Lau publiziert. Im Sommer 1873 trennten sich Mörike und seine Frau. Am 4. Juni 1875 starb Eduard Mörike in Stuttgart. In einem der wundersamsten Frühlingsgedichte, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden, kommt der ganze Mörike zum Ausdruck. Ich verarbeite einige Passagen der biografischen Annäherung und Interpretation bewusst in meinem Kommentar zu dem Gedicht Das Mädchen an den Mai. 118 III. „Und was da wert sei mein Gedicht / Fürwahr, das weiß ich selber nicht-…“ Das Mädchen an den Mai Es ist doch im April fürwahr Der Frühling weder halb noch gar; Komm, Rosenbringer, süßer Mai, Komm du herbei, So weiß ich, was der Frühling sei! - Wie aber? Soll die erste Gartenpracht, Narzissen, Primeln, Hyazinthen, Die kaum die hellen Augen aufgemacht, Schon welken und verschwinden? Und mit euch besonders, holde Veilchen, Wär’ es dann fürs ganze Jahr vorbei? Lieber, lieber Mai, Ach, so warte noch ein kleines Weilchen! Es wäre zu einfach gedacht und käme dem Werk Mörikes nicht im Geringsten auf die Spur, würde man der Polemik beipflichten und in den schieren Hohn mit einstimmen, den Heinrich Heine einst recht spöttelnd in seinem Schwabenspiegel für den Ludwigsburger Dichter übrig hatte, als der Schöpfer der Loreley und anderer nicht minder idyllischer Verse und Lieder höchstselbst niederschrieb: „Man sagt mir, er (Mörike) besinge nicht nur Maikäfer, sondern sogar Lerchen und Wachteln, was gewiß sehr löblich ist-…“. Das Urteil ist zumindest fraglich, wenn nicht gar weit gefehlt. Doch zur Ehrverteidigung Heines sei gesagt: Im Nachhinein und 200 Jahre später lässt es sich leichter urteilen, großzügiger. Mit Mörike meldet sich schon in sehr jungen Jahren ein „Vor-Moderner“ zu Wort. Ein Schreibender, der äußerlich zwar ganz im Biedermeier verwurzelt scheint, dessen sorgenvolle Existenz jedoch auf erschütternde Weise das widersprüchliche, sich ständig widersprechende Innenleben zum Inhalt macht und poetisch zu einem bis dato ungehörten sprachmagischen Ausdruck bringt. Mörike war seiner Zeit in Form und Sprache weit voraus und nimmt in seinen Gedichten vorweg, was erst im 20. Jahrhundert in der Lyrik dichtes Wort und Spannung werden soll: Die Zerrissenheit als Wesen der Erkenntnis und Daseinsgrund. Das „Ich“ im Seelentaumel zwischen Sehnsucht und der Furcht, diese könnte sich doch erfüllen. Komm, Rosenbringer, süßer Mai, Komm du herbei, So weiß ich, was der Frühling sei! So endet die erste Strophe dieses Frühlingsgesanges, um in den Schlussversen der zweiten zu sagen: 119 Emotionen - Natur Wär’ es dann fürs ganze Jahr vorbei? Lieber, lieber Mai, Ach, so warte noch ein kleines Weilchen! Da sehnt sich also einer nach dem aufleibenden, sprich dem wirklichen, wirkhaften Frühling, den erst der Monat Mai mit Wonne zu bringen vermag und nicht der halbgare, unstete April, in dem die ungelebten Gefühle, das winterkalte Warten und Hoffen, als wären es zarte Triebe in den Lenz, die „kaum die hellen Augen aufgemacht, / Schon welken und verschwinden“-- Ein Verlangen nach der Blüten- und Lustfülle des Rosenmonates. Nach einer Zeit- - der Zeit, in der Erfüllung ist und Liebe. Ein Glück, eine „Rosenzeit“, die Mörike zeitlebens nie erreichen sollte. Diese hochsensible, schier nicht überlebensfähige Dichterseele ging ihre Wege nur halbherzig und verträumt, sich nach und nach ein Land erfindend, ein poetisches Land, das sie Orplid nannte. Lieber, lieber Mai, Ach, so warte noch ein kleines Weilchen! Ein aus den versagenden und versagten Empfindungen in die Sprache Getriebener war er. Seine Frühlingsgedichte zeugen davon. Eine Jahreszeit, nach der ihn so sehr verlangte und die er dann doch nur als Kleinod auf Distanz zu besingen wusste. Nicht zuletzt ob der Unfähigkeit, im Wirklichen zu lieben. Aufgaben 1. Lassen Sie die Schülerinnen und Schüler ein Frühlingsgedicht suchen - es gibt genügend Foren und Lyrik-Seiten im Internet. Und geben Sie Ihnen in einer der darauf folgenden Unterrichtsstunden die Möglichkeit, einen Kommentar zu schreiben. 2. Lassen Sie dann - als zweiten Schritt - Mitschülerinnen und Mitschüler jeweils einen Kommentar zu einem Kommentar schreiben, um einen Dialog im Klassenzimmer zu initiieren. 121 Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs IV. Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs Gesine Lenore Schiewer 1. Über Emotionen lernen? Begriffe, Theorien, Konzepte In der alltäglichen Wahrnehmung haftet dem Bereich des Gefühlsmäßigen, Emotionalen oft etwas Intuitives an, zumindest wird er in der Regel als etwas betrachtet, das grundsätzlich von kognitiven Prozessen im Sinn von Rationalität, Sachlichkeit und Vernunft zu unterscheiden sei. Emotionen werden zudem in der Regel mit dem Bereich des Privaten verbunden, während das Berufsleben und Umfelder wie Ausbildung und Schule der Domäne des Kognitiven zugerechnet werden; allenfalls bei besonderen Ereignissen wie Einschulung, Abschlussfeier, Pensionierung etc. darf es, ja soll dann sogar emotional werden. Anders präsentieren sich die Dinge jedoch, wenn der Blick auf die differenzierteste und wohl wichtigste Form des Ausdrucks, der Kommunikation und der Deutung von Emotionen gerichtet wird: die Sprache, sei es in ihren Verwendungsweisen z. B. des Alltags, der Schule, des Berufslebens, der Politik, der Institutionen oder der Literatur. Denn sobald Sprache und Emotion in ihren Zusammenhängen und Wechselwirkungen beleuchtet werden, können kognitive Komponenten nicht ausgeblendet werden. Dies illustriert etwa das Beispiel einer erneuten Emotionalisierung einschließlich der entsprechenden physiologischen Prozesse, die allein dadurch ausgelöst werden kann, dass man über ein weit zurückliegendes und seinerzeit stark berührendes Erlebnis spricht. Insofern geht das umfangreiche Feld der wissenschaftlichen Emotionsforschung auch weit über die Psychologie im engeren Sinn hinaus, die sich zudem entgegen geläufiger Vorstellungen sogar erst seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert intensiver mit Emotionen befasst. 1 Der Komplex von Sprache und Emotion verweist damit auf eine weit verzweigte Wissenschaftstradition u. a. in der Sprach- und Literaturforschung. So wurden Fragen der Emotionalisierung im Zusammenhang von Kommunikation und Sprache schon in der Antike in Rhetorik, Poetik und Ethik reflektiert. Von dieser Tradition profitieren auch aktuelle Emotionsdefinitionen. Sie umfassen in ihren verschiedenen Ausprägungen neben Aspekten wie dem subjektiven Erleben, der physiologischen Erregung, kognitiven Facetten und sozialen Dimensionen auch die Komponente des Ausdrucks von Emotionen. Damit rückt neben den innerindividuellen Prozessen des Emotionalen die Kundgabe von Gefühlen-- die Manifestation des vordergründig Nicht-Sicht- 1 Vgl. Schiewer 2014. 122 IV. baren-- in den Blick. Die entsprechenden verbalen, mimisch-gestischen sowie die Körperpostur betreffenden Formen des Emotionsausdrucks stehen zunehmend im Interessenhorizont einer Linguistik, die in Ergänzung reduktionistischer Sprachauffassungen Text und Gespräch aus einer Perspektive des „Ganzen Menschen“ analysiert. Denn der Ausdruck von Gefühlen ist eine zentrale Aufgabe von Sprache und findet auf vielfältige Weise statt: Das Spektrum reicht von unter Umständen kaum wahrnehmbaren prosodischen Veränderungen über die explizite Kundgabe und Benennung von Freude, Wut oder Trauer bis zum unkontrollierten Gefühlsausbruch. Ebenso wie diese alltagssprachlichen emotiv-expressiven Funktionsebenen leisten poetische Formen der Sprachverwendung äußerst differenzierte sowohl explizite als auch implizite Thematisierungen des Emotionalen. 2 Im Folgenden wird nun skizziert, inwiefern Emotion und Kognition in enger Verbindung stehen können-- weil dies eine zentrale Frage ist, wenn es um die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Emotionen im Sprach- und Literaturunterricht des Deutschen als Mutter-, Erst-, Zweit- und Fremdsprache geht. 3 Der Begriff der ‚Kognition‘ im engen Sinn kann als ein selbständiger Bereich der psychischen Ausstattung des Menschen begriffen werden. Demgegenüber werden dem weiten Kognitionsbegriff zufolge Kognition und Emotion als integrative Komponenten betrachtet. Diese zweite Auffassung macht sich der gegenwärtig wohl bedeutendste Typus von Emotionstheorien zu eigen, der folgerichtig als kognitive Emotionstheorien bezeichnet wird und auch für das Verständnis von Zusammenhängen von Emotion, Sprache, Kommunikation und Dialog gut geeignet ist. Bei diesem Typ von Theorien werden die kognitiven Aspekte, die im Zusammenhang der Elizitation und des Verlaufs von Emotionen eine Rolle spielen, fokussiert. Physiologische Prozesse, subjektive Empfindungen (‚Gefühlsqualia‘), Ausdrucksphänome, soziale und kulturelle Facetten werden bei kognitiven Emotionstheorien in zweiter Linie berücksichtigt. Die Entstehung von Emotionen wird als Folge bestimmter Kognitionen und ihrer Bewertung gesehen, so dass die Untersuchung der Auslösung von Emotionen durch kognitive Gegebenheiten zentral ist. Zum Beispiel kann die subjektive Bewertung eines Ereignisses als hinderlich für die Erreichung eigener Ziele zu Ärger oder Angst führen. Wie sehen solche Theorien im Allgemeinen aus? Andrew Ortony, Gerald L. Clore und Allan Collins unterscheiden in ihrem viel beachteten Ansatz Emotionen danach, ob sich die zugrundeliegenden Kognitionen auf Ereignisse, Handlungen oder Objekte beziehen. 4 Sie gehen davon aus, dass zunächst ein Ereignis, eine Handlung oder ein Objekt kognitiv repräsentiert wird. Im nächsten Schritt kommt es zur Bewertung, und erst in Abhängigkeit hiervon entsteht eine bestimmte Emotion aus einer der genannten drei Hauptgruppen. Ebenso wie wohl andere Vertreter kognitiver Emotionskonzepte akzentuieren Ortony, Clore und Collins dabei die Variabilität kognitiver Einschätzungsprozesse; nicht Situationen als solche lösen spezifische Emotionen aus, sondern Menschen reagieren vor dem Hinter- 2 Vgl. Schiewer 2007. 3 Vgl. Schiewer 2007. 4 Vgl. Ortony / Clore / Collins: Cognitive structure. 123 Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs grund ihrer individuellen Präferenzen und subjektiven Wertungen auf dieselben Gegebenheiten durchaus unterschiedlich. Im Rahmen des hier nur in aller Kürze umrissenen theoretischen Hintergrunds wird die Funktion von Emotionen darin gesehen, die emotionsinduzierende Situation sowie die Beurteilung und mit einer entsprechenden Reaktion nicht zuletzt auch die Emotion selbst bewältigen zu können (coping). Gleichwohl wird nicht vernachlässigt, dass es vorkommt, dass Menschen nicht in der Lage sind, mit bestimmten Situationen und den betreffenden Emotionen umzugehen. Ortony, Clore und Collins betrachten vor allem die Unerwartetheit eines Ereignisses oder genauer gesagt die subjektive Einschätzung eines Ereignisses als unerwartet-- ganz unabhängig davon, ob es die Elizitation positiv-angenehmer oder negativ-unangenehmer Emotionen mit sich bringt-- als Kriterium, das zur kognitiven Disorganisation (cognitive disorganization) führen kann. Dennoch steht bei kognitiven Emotionstheorien die Frage im Zentrum, inwiefern Emotionen eine den Umständen angepasste Reaktion auf die emotionsauslösende Situation ermöglichen. Kognitive Emotionen werden unterschieden von nichtkognitiven Gefühlen, welche direkt, das heißt nicht durch die Bewertung von Kognitionen, sondern durch angeborene Auslösemechanismen (wie u.U. beim Ekel) erzeugt werden sowie von physiologischen Zuständen, deren subjektives Erleben emotional gefärbt sein kann. Es ist ihre Unausweichlichkeit, welche beide-- sowohl nichtkognitive Gefühlswahrnehmungen wie Ekel als auch mit emotionalen Aspekten verbundene physiologische Zustände- - als Kandidaten für kognitive Emotionen nicht in Frage kommen lässt. Denn erst die Ausgrenzung dieses Unausweichlichen erlaubt es überhaupt, individuelle, variable und relative Formen emotionsgesteuerten Handelns zu erklären. Es geht mit anderen Worten bei kognitiven Emotionstheorien wesentlich um die analytische Beschreibung von individuell und subjektiv bedingten unterschiedlichen emotionalen Reaktionen auf das gleiche Ereignis. Für die Ausbildung solcher Reaktionsvariablen spielt unter anderem die ontogenetische Emotionsentwicklung eine wichtige Rolle. 5 Damit erhält der Sprach- und Literaturunterricht in allen Schultypen und allen Jahrgangsstufen-- sei es als mutter-, zweit- oder fremdsprachlicher Unterricht-- eine wichtige Bedeutung auch für die Entwicklung des individuellen „Emotionsmanagements“, des Umgangs mit Emotionen und ihren Ausdrucksformen. Besonderes Interesse verdienen dabei Gegebenheiten der Mehrsprachigkeit. In pädagogisch-didaktischen Zusammenhängen stellen individuelle Unterschiede in emotionalen Reaktionsweisen einzelner Schülerinnen und Schüler eine besondere Herausforderung dar. Zur Erklärung variabler Deutungen gleicher Situationen, Gegebenheiten oder Ereignisse-- und entsprechender emotionaler Reaktionen-- kann auf eine Anregung von Alexander Kochinka verweisen werden. Auf gestalttheoretische Grundlegungen Bezug nehmend schlägt Kochinka vor, die Entstehung von Emotionen analog zur Gestaltbildung zu begreifen. Dabei gehören zu den in die emotionale Gestaltbildung eingehenden Elementen seiner Auffassung nach insbesondere Erzählungen. Emotionen können die Folge längerer Abwägungen bzw. eben der Ausbildung einer Geschichte sein. Die Bedeutung eines einzelnen 5 Vgl. Holodynski: Emotionen. 124 IV. Geschehnisses ergibt sich erst durch seine Einbettung in ein übergeordnetes Ganzes und kann sich in Abhängigkeit von diesem auch ändern. Beispielsweise kann ein sehr großzügiges Geschenk als Ausdruck besonderer Zuneigung aufgefasst werden oder aber auch als Zeichen eines schlechten Gewissens des Gebers. In Abhängigkeit von der jeweiligen Einschätzung seitens des Beschenkten ist die Auslösung ganz unterschiedlicher emotionaler Reaktionen und nachträglicher Umdeutungen der früheren Einschätzung des Schenkenden denkbar. Die Entstehung komplexer Emotionen kann so analog zur Herstellung einer Erzählung erklärt werden. 6 Ähnlich spricht Christiane Voss von der narrativen Einheit von Emotionen. 7 Es kann festgehalten werden, dass kognitive Emotionstheorien wichtige Schnittstellen u. a. zur Sprach- und Literaturwissenschaft erkennen lassen. Konkrete Perspektiven und Anschlussstellen bietet insbesondere die Narratologie. Dabei haben Prozesse der Textrezeption viel Aufmerksamkeit gefunden. Hierzu gehört etwa die Frage der Ausbildung mentaler Modelle literarischer Figuren in der Konstruktion des Lesers. Ein zweites wichtiges Feld stellt die Untersuchung der literarischen Figuren als menschenähnliche Elemente der erzählten Welt dar. In diesem Zusammenhang ist die Erfassung der Handlungen der dargestellten Figuren zu nennen sowie die Perspektivenstruktur narrativer Texte mit dem gesamten Wirklichkeitsmodell einer literarischen Figur und gegebenenfalls des Erzählers. 8 Beide Schwerpunktfelder der kognitiven Narratologie verlangen ohne Frage eine Bereicherung um die Dimension des Emotionalen. Das bedeutet im ersten Fall die Einbeziehung der emotionalen Prozesse auf der Seite des Lesers, die im Zuge der Textrezeption ablaufen und hierbei bestimmend sein können. Anzusetzen ist bei den kognitiven Konstruktionen des Lesers, die er im Rezeptionsprozess vornimmt. In diese Konstruktionen fließen individuelle Vorannahmen, implizite Persönlichkeitsmodelle, momentane Präferenzen und sonstige kognitive Strukturen des Lesers ein. Das zweite Feld der Schwerpunktsetzungen kognitiver Narratologie bezieht sich auf die Textebene mit dem Plot. Hier spielen Fragen des Handlungsverlaufs einschließlich der fiktiven Handlungsentscheidungen der Figuren eine zentrale Rolle. Besondere Bedeutung kommt den unter Umständen konfligierenden Plänen der dargestellten Figuren zu sowie ihren Bemühungen, die Umgebung ihren Annahmen, Wünschen und Absichten entsprechend zu beeinflussen. Wie die Überschrift dieses Abschnitts, „Über Emotionen lernen“, signalisiert, ist also festzuhalten, dass grundlegende Einblicke in die Emotionsforschung bestätigen, dass Emotionen aus dem Unterrichtsgeschehen nicht auszublenden sind und vielmehr die Arbeit an einem vertieften Sprachvermögen in hohem Maß geeignet ist, die individuelle Emotionskompetenz zu entwickeln. 6 Kochinka: Emotionstheorien, S. 273 ff. 7 Vgl. Voss: Narrative Emotionen: S. 184-188. 8 Vgl. schon Ryan: Possible worlds, und Zerweck: Cognitive turn. 125 Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs 2. Mit Emotionen lernen? Aktuelle Theorien akzentuieren den adaptiven Aspekt von Emotionen und ihr Bewältigungspotential bezüglich emotionsauslösender Situationen. Anders wurde früher eher der gegenteilige Aspekt der durch Emotionen hervorgerufenen Formen der Desorganisation betont. Heute wird vermutet, dass z. B. die mit Trauer einhergehende Passivität insofern angemessen sei, als das auslösende Ereignis, etwa ein Todesfall, unveränderlich ist. Generell soll gelten, dass die kognitive Einschätzung sowohl der Situation als auch des eigenen Vermögens, mit ihr umzugehen, entscheidend ist. Auf diese Weise werden Emotionen elizitiert, die den individuellen momentanen Gegebenheiten entsprechen. 9 Allerdings ist, wie oben bereits angedeutet, die Angemessenheit der Reaktion ja keineswegs immer gegeben. Angst etwa kann zur Blockade führen, obwohl eine Handlung erforderlich wäre. Viele Menschen suchen therapeutische Hilfe, um mit von ihnen als problematisch empfundenen Emotionen wie Angst oder Panikattacken zurechtzukommen. Auch scheinen Emotionen gelegentlich als irrational oder schwer zu kontrollieren; unter diesen Aspekten werden sie oft auch in literarischen Texten thematisiert. Für alle Theorien, die davon ausgehen, dass Emotionen den Absichten und Zielen der betreffenden Person entsprechen, besteht hier ein Problem respektive ein nicht abgedeckter, unerklärter Phänomenbereich. Mit der Akzentuierung der Subjektivität von Bewertungen und der Variabilität emotionaler Reaktionen und anschließender Handlungsdispositionen rückt gerade auch diese Perspektive in den Blick: Keineswegs sind emotionale Reaktionen immer vernünftig. Es geht also um das große Feld des, verglichen mit üblichen Normen, unangepassten und abweichenden Verhaltens. Die Funktionalität für die emotional agierenden Personen steht oftmals in Kontrast zu der für das soziale Umfeld noch zu tolerierenden. 10 Dies ist insbesondere auch für die Emotionsontogenese Jugendlicher typisch. Im Hinblick auf diese Frage hat schon die österreichischstämmige Psychologin Magda Arnold in ihren für die kognitiven Emotionstheorien wegweisenden Schriften darauf insistiert, dass die Einschätzungen aus ihrer Sicht eine intuitive Form kognitiver Bewertung seien. Spätere Ansätze gehen davon aus, dass sowohl bewusste kognitive Prozesse komplexer Art beteiligt sein können als auch eher einfache und unbewusste Abläufe. Beide können gelegentlich auch in Widerspruch geraten oder aber durch unbewusste Motivlagen und konfligierende Ziele beeinflusst werden. Dann führen sie zu Emotionen, die unvernünftig oder irrational scheinen, und zu Stress. 11 Auf diese Phänomene konzentriert sich unter anderem der Kognitionspsychologe Jerome Bruner in seiner Definition des Narrativen: Beobachten wir, daß ein Mensch etwas glaubt oder wünscht oder tut, ohne den Zustand der Welt angemessen zu berücksichtigen, daß er also eine wirklich sinnlose Handlung ausführt, dann wird dieser Mensch aus alltagspsychologischer Sicht als geisteskrank eingestuft, es sei denn, der betreffende Akteur kann narrativ als Gefangener einer entschuldbaren Zwangssituation oder als Opfer 9 Vgl. Roseman / Smith: Appraisal theory, S. 8. 10 Vgl. auch Voss: Narrative Emotionen, S. 183. 11 Vgl. Roseman / Smith: Appraisal Theory, S. 8 f. 126 IV. zerstörerischer Umstände rekonstruiert werden. Im praktischen Leben mag ein weit ausgreifendes Gerichtsverfahren notwendig sein, im Reich der Phantasie ein ganzer Roman, damit eine derartige Rekonstruktion gelingen kann. 12 Abweichungen vom Üblichen und Alltäglichen erklärt Bruner durch individuelle intentionale Zustände und betont die besondere Bedeutung literarischer Texte, wenn es darum geht, solche Zustände nachvollziehbar zu machen. 13 In allen Literaturen findet sich ein unerschöpflicher Darstellungspool emotionaler Turbulenzen. Ohne den literarischen Text im Hinblick auf eine theoretische Zubringerrolle zu funktionalisieren, kommt seinem analytischen Potential größte Bedeutung für die weitergehende Klärung emotionsauslösender appraisal-Prozesse zu. Dies besonders, da hier Dimensionen emotionaler Ontogenese einfließen können, ja vielfach auch soziale und kulturelle Faktoren in den Blick gerückt werden, für die sich kognitive Emotionstheorien ebenfalls öffnen. 14 Literarische Erzählungen konkretisieren, inwiefern die Emotionstheoriebildung sowohl das oft konfliktreiche Zusammenspiel bewusster und unbewusster individueller Einschätzungsfacetten als auch soziale, normative, ethische und zeitabhängige Perspektiven der Emotionssteuerung umfassen muss. Gerade zur Klärung solcher komplexen Prozesse der Emotionsauslösung tragen Erzählungen in besonderer Weise bei und können darüber hinaus zur Nachsicht mit emotionalen Verwirrungen anregen. Dies sei an einem Beispiel illustriert. Im „Prolog im Himmel“ verhandeln Mephisto und der Herr das Schicksal Fausts: „Was wettet ihr? Den sollt ihr noch verlieren, Wenn ihr mir die Erlaubnis gebt Ihn meine Straße sacht zu führen! “ Der Herr darauf: „So lang’ er auf der Erde lebt, So lange sei dir’s nicht verboten. Es irrt der Mensch so lang’ er strebt“. 15 Albrecht Schöne zitiert in seinem Kommentar zu dieser Textstelle aus einem Brief Goethes vom 15. September 1804 an Eichstätt, in dem Goethe auf das Lukas-Evangelium 15,7 Bezug nimmt. Er schreibt: […] daß das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den Menschen im Einzelnen und Ganzen aus, so daß man wohl begreifen kann, wie dem Herzensforscher ein reuiger Sünder lieber sein kann als neunundneunzig Gerechte. 16 12 Vgl. Bruner: Sinn, S. 58. 13 Bruner: Sinn, S. 68-72. 14 Vgl. Holodynski: Emotionen, und Scherer / Schnorr / Johnstone: Appraisal processes 2001. 15 Goethe: Texte, S. 27. 16 Goethe: Kommentare, S. 174. Im Lukas-Evangelium 15,7 heißt es: „Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ 127 Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs Der göttliche „Herzensforscher“ weiß nicht nur, dass das Ausprobieren verschiedener Wege mit dem Leben des Menschen unabdingbar verbunden ist und dass dieses suchende Probieren mit tiefen Empfindungen wie Sündigkeit und Reue verbunden sein kann, sondern das Irren wird in der „Klassischen Walpurgisnacht. Peneus“ in Faust II sogar als Bedingung menschlichen Verstandes akzentuiert. 17 Der Irrtum ist nicht nur ein unentbehrlicher Umweg des Individuums, sondern auch des „Menschen im Ganzen“, der Gemeinschaft. Von der individuell zu erringenden Erkenntnis kann die kollektive Entwicklung profitieren. Schon anhand dieser selektiven Hinweise zeichnet sich ab, dass die Arbeit mit literarischer Sprache und literarischen Texten einen maßgeblichen Beitrag zu emotionaler Sensibilität leisten kann-- einer wesentlichen Komponente jeder Dialogfähigkeit. Und so ist es nur folgerichtig, dass in der modernen Erziehungswissenschaft, in der Pädagogik- und Didaktikforschung, in der Unterrichtspraxis und insbesondere mit Blick auf den Fremd-, Zweit- und Muttersprachenunterricht mit dem komplexen Lerngegenstand Sprache emotionsbezogene Aspekte und die Wechselwirkungen von Emotion und Kognition zunehmend Aufmerksamkeit finden. 18 Wenngleich auch hier die Schwerpunkte in der Regel im kognitiven Bereich liegen, wenn Bildung mit Rationalität mehr oder weniger identifiziert wird (vgl. Gieseke 2007, 47), kam es vor dem Hintergrund jüngerer Einsichten in die vielfältigen Funktionen von Emotionalität im Zusammenhang von Interesse, Denken, Entscheidungsprozessen etc. zu Relativierungen solcher einseitigen Sichtweisen (vgl. z. B. Gieseke 2007). Es liegt dabei auf der Hand, dass emotionsbezogene erziehungswissenschaftliche Fragen u. a. eine gewisse Nähe der angesprochenen Emotionsontogenese haben können; die Erziehungswissenschaft fragt z. B., „warum Individuen Bildungsentscheidungen treffen, welche Emotionsmuster durchschlagend sind, was sich im Lebenslauf wie und aus welchen Gründen fügt und welche Wirkungen Entwicklungen in der Kindheit und Jugend im gesamten Lebenslauf haben.“ 19 Im Hinblick auf den Mutter-, Zweit- und Fremdsprachenunterricht des Deutschen haben die Ansatzpunkte ebenfalls große Variationsbreite. Sie umfassen u. a. (vgl. hierzu z. B. Arnold 1999; Börner & Klaus 2004; Reinhardt 2008; Müller, Hellbrunn, Moll & Storrie 2005; Ogasa 2011): ▶ Lerntheoretisch relevante Grundlagen der kognitiven Emotionsforschung ▶ Affektive Faktoren in Fremdsprachenunterrichtskonzepten und Modellen des Fremdsprachenlernens ▶ Konzeptionelle Überlegungen zur Integration von Kognition und Emotion in konstruktivistischen Fremdsprachenunterrichtsmodellen ▶ Untersuchungen von Fremdsprachenverwendungsangst ▶ Untersuchungen zur Funktion von Empathie beim Fremdverstehen, Attitüden zu Fremdsprachen und zum Fremdsprachenlernen ▶ Lernstrategien und Emotionen 17 Goethe: Texte, S. 312. 18 Vgl. Schiewer 2014. 19 Gieseke 2007, 133. 128 IV. ▶ Lehrerrollen, Lern- und Lernstile ▶ Interkulturelle Verständigung als emotionsbezogene Facette. Vor diesem Hintergrund ist mit Blick auf den didaktischen Umgang mit Emotionen von allzu einfacher „Ratgeberliteratur“ gewiss abzuraten. Zu empfehlen ist vielmehr, sich vor Augen zu führen, dass die Komplexität der theoretischen Ansätze keineswegs selbstzweckhaften Charakter hat, sondern vielmehr der Komplexität des Gegenstands geschuldet ist. Im Unterricht gilt es, die sprachliche Ausdrucks- und Deutungsfähigkeit zu entwickeln und auf diese Weise auch den Umgang mit eigenen und fremden Emotionen fortzubilden. Dies erfordert besondere Sensibilität auf der Seite von Lehrkräften sowohl für die eigene Emotionalität, die im Unterricht sowohl in positiven als auch negativen Formen auftreten kann, als auch für emotionale Lagen von Schülerinnen und Schülern, die ausgenutzt werden können, indem z. B. Neugier gezielt geweckt wird, aber u. U. auch gedämpft werden sollten. Zu den wichtigen Lehr- und Lernzielen gehört daher u. a., über Emotionen zu sprechen, ohne in jedem Fall Emotionalisierung auszulösen, in der Forschung spricht man dann von ‚cold emotion‘ statt ‚hot emotion‘ (vgl. Schiewer 2008). 3. Literatur Arnold, Magda B.: Emotion and personality. New York 1960. Arnold, Jane (Hg.): Affect in Language Learning. Cambridge: Cambridge University Press 1999. Börner, Wolfgang / Vogel, Klaus (Hg.): Emotion und Kognition im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr 2004. Bruner, Jerome: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns [1990]. Heidelberg 1997. Gieseke, Wiltrud: Lebenslanges Lernen und Emotionen. Wirkungen von Emotionen auf Bildungsprozesse aus beziehungstheoretischer Perspektive. Bielefeld: wbv 2007. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt / M. 1994. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Kommentare von Albrecht Schöne. Frankfurt / M. 1994. Holodynski, Manfred: Emotionen-- Entwicklung und Regulation. Heidelberg 2006. Kochinka, Alexander: Emotionstheorien. Begriffliche Arbeit am Gefühl. Bielefeld: transcript 2004. Müller, Burkhard / Hellbrunn, Richard / Moll, Jeanne / Storrie, Tom: Gefühle denken. Macht und Emotion in der pädagogischen Praxis. Frankfurt / New York: Campus 2005. Ogasa, Nicole: Gefühle und Lernen im Fremdsprachenunterricht. Der Einfluss von Gefühlen auf das Lernen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011. Ortony, Andrew / Clore, Gerald L. / Collins, Allan: The Cognitive Structure of Emotions. Cambridge 1990. Roseman, Ira J. / Smith, Craig A.: Appraisal Theory: Overview, Assumptions, Varieties, Controversies. In: Scherer / Schorr / Johnstone, 2001, S. 3-19. Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrarive Theory. Bloomington & Indianapolis 1991. Scherer, Klaus R. / Schorr, Angela / Johnstone, Tom: Appraisal Processes in Emotion. Theory, Methods, Research. Oxford 2001. Schiewer, Gesine Lenore: Sprache und Emotion in der literarischen Kommunikation-- ein integratives Forschungsfeld der Textanalyse, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. 129 Emotionen im wissenschaftlichen Fokus der Didaktik des Dialogs Literatur und Gefühl, hg. von Thomas Anz und Martin Huber. Heft 2 / 2007, Aisthesis Verlag 2007, 66-80. Schiewer, Gesine Lenore: Bausteine zu einer Emotionssemiotik. Zur Sprache des Gefühlsausdrucks in Kommunikation und affective computing, in: Kartographie des Verhüllten. Brückenschläge zwischen Natur- und Kulturwissenschaften / Carthography of the Disguised. Bridging Science and Humanities, hg. von Dieter Genske, Ernest W. B. Hess-Lüttich, Monika Huch, Kodikas / Code, Tübingen: Narr 2008, 235-257. Schiewer, Gesine Lenore: Kognitive Emotionstheorien-- Emotionale Agenten-- Narratologie. Perspektiven aktueller Emotionsforschung für die Literaturwissenschaft, in: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, hg. von Martin Huber und Simone Winko (Reihe „Poetogenesis“), Paderborn: Mentis 2009, 99-114. Schiewer, Gesine Lenore: Studienbuch Emotionsforschung. Theorien, Anwendungsfelder, Perspektiven. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014. Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin 2004. 131 Vorstellungsrunde V. Vorstellungsrunde QUE DU LUU geboren 1973 in Saigon / Vietnam, lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld. Mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, dem Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Hohenemser Literaturpreis und dem Nachwuchspreis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Jüngste Veröffentlichung: Im Jahr des Affen. Roman. Königskinder Verlag. Hamburg 2016. 132 V. José F.A. Oliver andalusischer Herkunft, wurde 1961 in Hausach (Schwarzwald/ Deutschland) geboren, wo er als freier Schriftsteller lebt. Ausgezeichnet u.a. mit dem Adelbert-von- Chamisso-Preis (1997), dem Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg (2007) und dem Basler Lyrikpreis (2015). Publikationen (Auswahl Deutschland): „Fahrtenschreiber“. Gedichte. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 2010; „Fremdenzimmer“. Essays. weissbooks.w. Frankfurt a.M 2015; „sorpresa, unverhofft“ - Lorca, 13 Einschreibungen. hochroth. Berlin 2015; „21 Gedichte aus Istanbul, 4 Briefe und 10 Fotow: orte“. Matthes & Seitz, Berlin 2016 und „wundgewähr“. Gedichte. ebda. 2018. In den USA: „sandscript“. Selected Poetry 1987 - 2018. White Pine Press. Buffalo, New York 2018. José Oliver ist Kurator des von ihm initiierten Literaturfestivals Hausacher LeseLenz (www. leselenz.com). www.oliverjose.com Lektüreempfehlungen: ▶ Standardwerke zum Lyrikpanorama des 20. Jahrhunderts Enzensberger, Hans-Magnus: Museum der Modernen Poesie (Taschenbuch 2002) Hartung, Harald: Jahrhundertgedächtnis (1998) Hartung, Harald: Luftfracht (1991) Sartorius, Joachim: Atlas der neuen Poesie (Taschenbuch 1996) ▶ Einige Empfehlungen für die Schule: Boëtius, Henning / Hein, Christa (Hg): Die ganze Welt in einem Satz. Beltz & Gelberg. Weinheim / Basel 2010 Gelberg, Hans-Joachim (Hg): Neue Gedichte für Kinder und Erwachsene. Beltz & Gelberg. Weinheim/ Basel 2011 Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt. Eine Hilfe für gestreßte Leser. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2008 Sichtermann Barbara / Joachim Scholl (Hg): 50 Klassiker Lyrik. Gerstenberg Verlag. Hildesheim. 3. überarbeitete Auflage 2007 133 Vorstellungsrunde Akos Doma geboren 1963 in Budapest, Schriftsteller und literarischer Übersetzer. Seine Übersetzungen ungarischer Literatur, u. a. von Péter Nádas und Sándor Márai, wurden mehrfach prämiert. Für seine Romane Der Müßiggänger (2001) und Die allgemeine Tauglichkeit (2011) erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. das Grenzgänger-Stipendium, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, den Dresdner Stadtschreiber, das Prager Literaturstipendium sowie Literaturstipendien des Freistaats Bayern und des Deutschen Studienzentrums in Venedig. Jüngste Veröffentlichung: Der Weg der Wünsche. Roman. Rowohlt Berlin Verlag. Berlin 2016 Lektüreempfehlungen: Knut Hamsun, Hunger oder Mysterien Fjodor M. Dostojewski, Schuld und Sühne J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen Lew Tolstoi, Anna Karenina Dino Buzzati, Die Tatarenwüste Milan Kundera, Der Scherz oder Abschiedswalzer Iwan Turgenew, Väter und Söhne Emily Brontë, Sturmhöhe D. H. Lawrence, Liebende Frauen Eduard v. Keyserling, Wellen Lektüreempfehlungen Jugendliteratur: Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo Jules Verne, Mathias Sandorf Ferenc Molnár, Die Jungen von der Paulstraße Karl May, Old Surehand oder Winnetou Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer / Huckleberry Finn Erich Kästner, Emil und die Detektive oder Das fliegende Klassenzimmer Otfried Preußler, Krabat 134 V. James Fenimore Cooper, Der letzte Mohikaner Jack London, Ruf der Wildnis Charles Dickens, Große Erwartungen Walter Scott, Ivanhoe H. Rider Haggard, Erik Hellauge H. G. Wells, Der Unsichtbare Louis Pergaud, Krieg der Knöpfe Kurt Held, Die rote Zora Michael Ende, Momo James Krüss, Timm Thaler J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe Christopher Paolini, Eragon Nachweise Die von Que Du Luu zitierten Textpassagen sind ihrem Roman Im Jahr des Affen entnommen (Königskinder Verlag in der Carlsen Verlag GmbH, © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2016). Wir danken der Autorin und dem Verlag für die Überlassung der Textausschnitte für dieses Buch. Die Textfragmente von Francesco Micieli sind seinem Buch Hundert Tage mit meiner Grossmutter entnommen (Zytglogge Verlag, Basel 2016). Die ss-/ ß-Schreibung des Originals wurde beibehalten. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Überlassung der Textausschnitte für dieses Buch. Der Essay von Ilma Rakusa ist als Sonderbeilage des Literaturblatts für Baden-Württemberg veröffentlicht worden. Die ss-/ ß-Schreibung des Originals wurde beibehalten. Wir danken der Autorin für die Überlassung des Textes für dieses Buch. Die Textausschnitte von Selim Özdogan stammen aus seinem Tourtagebuch. Die ss-/ ß- Schreibung des Originals wurde beibehalten. Wir danken dem Autor für die Überlassung der Tagebuchfragmente für dieses Buch. Die Essays und Gedicht-Fragmente von José F. A. Oliver, die den einzelnen Aufgaben zu Grunde liegen, wurden in Zeitungen und Zeitschriften publiziert oder sind unveröffentlicht. Wir danken dem Autor für die Überlassung der Texte für dieses Buch. Die Rechte an allen Fotos dieses Bandes liegen bei José F. A. Oliver. Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) ISBN 978-3-8233-8188-4 www.narr.de Spracharbeit im Deutschunterricht unter Anleitung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern - darum geht es in diesem literaturdidaktischen Lehr- und Lesebuch. Es unterstützt die Förderung von Grundlagen für ein methodisch und theoretisch anspruchsvolles Verständnis interkultureller Kommunikations- und Dialogfähigkeit, die sich auch in schwierigen Konfliktsituationen bewährt. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht ein zentrales Thema jedes interkulturellen Dialogs: Emotionen. Dieses Lehr- und Lesebuch wendet sich nicht nur an Lehrkräfte, sondern auch an Schülerinnen und Schüler mit ihren Freundinnen und Freunden, Eltern und anderen Bezugspersonen. Damit werden die üblichen Grenzziehungen des Unterrichts aufgehoben und die oft zu engen Textsorten-Grenzen bisheriger Lehrwerke und Lehrerhandreichungen erweitert. Dies bildet sich bewusst auch in der grafischen Gestaltung der Materialien ab. Klar und anschaulich wird verdeutlicht, wie sich unsere Wahrnehmungen der Welt durch Neues, Anderes und Fremdes ständig verändern und zu permanenten Assimilations- und Akkommodationsprozessen des Wissens führen. Die persönliche Präsenz von Autorinnen und Autoren im Klassenraum erlaubt, zusammen mit entsprechenden Arbeitsmaterialien, die sinnvolle und gezielte Einbindung von Literatur in den Deutschunterricht aller Schularten und Altersstufen. Beiträge von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern sind genau dafür hervorragend geeignet. Der Band ist inhaltlich und didaktisch konzipiert von Jörg Roche, Gesine Lenore Schiewer, José F.A. Oliver und Akos Doma, mit Gastbeiträgen von Que Du Luu, Francesco Micieli, Ilma Rakusa und Selim Özdogan. Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer (Hrsg.) Emotionen - Dialoge im Deutschunterricht unter konzeptueller Assistenz und mit Originalbeiträgen von José F.A. Oliver und Akos Doma S c h r e i b e n - L e s e n - L e r n e n - L e h r e n