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Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

2019
978-3-8233-9200-2
Gunter Narr Verlag 
Christiane Fäcke
Franz-Joseph Meißner

Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u.a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht an mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u.v.a.m.

ISBN 978-3-8233-8200-3 Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u. a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht in mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u. v. a .m. C. Fäcke / F.-J. Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) 18200_Umschlag.indd Alle Seiten 26.08.2019 14: 55: 11 Prof. Dr. Christiane Fäcke ist Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Universität Augsburg, Beraterin am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Autorin einschlägiger Fachbücher (u.a. Einführungen in die Fachdidaktik Französisch, Spanisch). Prof. (em.) Dr. Franz-Joseph Meißner war zuletzt Inhaber des Lehrstuhls Didaktik der romanischen Sprachen (1994-2012) an der Justus-Liebig-Universität, Gießen, ist Gründungspräsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen, Mitglied des IQB (2007-2014), Mitherausgeber mehrerer Fachbuchreihen und Fachzeitschriften. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und Aufsätze. Christiane Fäcke-/ Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8200-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9200-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0187-5 (ePub) Einleitung 1 A Sprachlichkeit und Kulturalität 17 1. Sprachlichkeit, Identität, Kulturalität (Adelheid Hu) 17 2. Staatliche (kollektive) und individuelle Mehrsprachigkeit (Sabine Ehrhart) 25 3. Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften ( Jürgen Erfurt) 29 4. Enkulturation und Sprachen (Cristina Allemann-Ghionda) 33 5. Code-Switching (Ulrike Jessner & Elisabeth Allgäuer-Hackl) 37 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension, Übersetzen und Sprachmitteln (Frank G. Königs) 41 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik (Franz-Joseph Meißner) 47 8. Mehrkulturalitätsdidaktik (Christiane Fäcke) 52 B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte 57 9. Politische Dimensionen der rezeptiven Mehrsprachigkeit für die europäische Demokratie (Franz-Joseph Meißner) 57 10. Sprache und Staat (Konrad Schröder) 65 11. Nationale Sprachpolitiken und Sprachlenkung (Claudia Polzin-Haumann) 71 12. Mehrsprachigkeitskonzepte der Europäischen Union (Sylvie Méron-Minuth & Senem Şahin) 76 13. Englisch als „Eurosprache“? (Göran Nieragden & Franz-Joseph Meißner) 80 14. Gesamtsprachencurriculum (Britta Hufeisen) 84 C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt 89 15. Bildungspolitische Perspektiven auf Mehrkulturalität (Hans-Jürgen Krumm) 89 Inhalt VI  Inhalt 16. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Mehrkulturalität (Werner Wiater) 95 17. Pluri- und Multikulturalität im fremdsprachendidaktischen Diskurs (Lutz Küster) 102 D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 107 18. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) und der Begleitband (Companion ) (2018) ( Jürgen Quetz) 107 19. Plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz im CEFR Companion Volume (2018) (Eva Burwitz-Melzer) 112 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (Karim Siebeneicher-Brito) 117 21. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in deutschen Richtlinien des Fremdsprachenunterrichts (Ursula Behr) 120 22. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit (Hélène Martinez) 123 23. Portfolio im Kontext von Mehrsprachigkeit (Sandra Ballweg) 130 24. Mehrsprachigkeit in Wirtschaft und Beruf (Hermann Funk) 133 E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren 139 25. Lehrkompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit (Frank G. Königs) 139 26. Lehr- und lernseitige Einstellungen zu sprachenübergreifenden Ansätzen (Christine Beckmann) 143 27. Mehrsprachigkeitsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung (Franz-Joseph Meißner) 147 28. Mehrkulturalitätsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung (Christiane Fäcke) 153 29. Geschichte mehrsprachiger Ansätze (Marcus Reinfried) 158 30. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit (Stephan Breidbach) 166 31. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit (Maik Böing) 173 F Didaktik der Mehrkulturalität 179 32. Interkulturalität und interkulturelles Lernen (Christiane Fäcke) 179 33. Interkulturelle Kommunikation (Adelheid Schumann) 184 34. Klischees und Stereotype (Christoph Vatter) 188 35. Landeskunde im Kontext von Mehrkulturalität und Globalisierung (Adelheid Schumann) 192 36. Didaktik des Fremdverstehens ( Jan-Oliver Eberhardt) 195 37. Von der Egalitätshypothese zur Global Education (Christiane Lütge) 200 38. Diskriminierung und Ausgrenzung im Kontext von Mehrkulturalität (Christiane Fäcke) 204 VII Inhalt 39. Friedenserziehung in der Perspektive von Mehrsprachigkeit (Werner Wintersteiner) 209 40. Diskursanalyse und Dekonstruktion: postmoderne Diskurse (Laurenz Volkmann) 213 41. Transkulturalität und transkulturelles Lernen ( Jochen Plikat) 216 42. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht (Britta Freitag-Hild) 220 43. Kompetenzorientierung, Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit (Daniela Caspari) 224 44. Strategien und ihre Förderung im Rahmen interkultureller Ansätze (Hélène Martinez) 231 45. Formen partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit (Mark Bechtel) 238 46. Mehrkulturalität in Lehrmaterialien (Daniela Anton) 242 47. Mehrsprachigkeit und digital gestütztes Lernen und Lehren fremder Sprachen (Dietmar Rösler) 245 48. Evaluation / Assessment und Selbstevaluation / Assessment interkultureller Kompetenzen (Michael Byram) 251 49. Stufenmodelle interkultureller Kompetenzen (Claudia Harsch) 256 50. Mehrsprachigkeit in Klassenarbeiten und Tests ( Jochen Strathmann) 260 G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb 265 51. Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb in der Forschung (Sandra Ballweg) 265 52. Kindlicher Spracherwerb in mehrsprachiger Umgebung (Yüksel Ekinci) 271 53. Mehrsprachigkeitsansätze in vorschulischen Bildungseinrichtungen (Anja K. Steinlen & Thorsten Piske) 276 54. Mehrsprachigkeit als Herausforderung und Chance in der Grundschule (Thorsten Piske & Anja K. Steinlen) 280 55. Übergangsdidaktik von der Primarzur Sekundarstufe ( Jürgen Mertens) 283 H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension 289 56. Interkomprehension und Sprachenwachstum (Steffi Morkötter) 289 57. Interkommunikation (Christian Ollivier) 292 58. Europäische Mehrsprachigkeit und Interkomprehension in historischer Sicht (Franz-Joseph Meißner) 294 59. Natürliche Interkomprehension am Beispiel Skandinaviens (Kurt Braunmüller) 300 60. Interlexis und Morphologie als Ressourcen von (europäischer) Mehrsprachenkompetenz (Anna Schröder-Sura) 304 61. Die „Erfindung“ der europäischen Grammatikographie (Claudia Polzin-Haumann) 306 62. Das mehrsprachige mentale Lexikon (Madeline Lutjeharms) 312 63. Modellierung von Interkomprehensionsprozessen ( Johannes Müller-Lancé) 316 64. Interkomprehension und Transfer (Steffi Morkötter) 321 VIII 65. Interkomprehension und sprachliche Kompetenzen (Madeline Lutjeharms) 325 66. Interkulturelle Kommunikation in mehrsprachigen Lernarrangements (Tanja Prokopowicz) 329 I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik 333 67. Materiale Grundlagen der (romanischen) Mehrsprachigkeit (Christina Reissner) 333 68. Die Sieben Siebe für EuroComGerm (Nicole Marx & Robert Möller) 340 69. Schulische Sprachenfolgen und Grundlegung der europäischen Mehrsprachigkeit (Christine Beckmann) 344 70. Interkomprehensionsmethode, Aufgaben- und Übungsformate (Steffi Morkötter) 348 71. Mehrsprachigkeitsförderung durch Interkomprehension in der Sekundarstufe (Isabelle Mordellet-Roggenbuck) 354 72. Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik im Lern-/ Lehrkontext Studium und Universität (Barbara Hinger) 359 73. Kleine und selten erlernte Zielsprachen und Varietäten (Stefanie Wagner) 363 74. Fachsprachen (Thomas Tinnefeld) 366 75. Hörverstehen sprachlicher Varietäten lehren (Camilla Badstübner-Kizik) 369 76. Lesen in der Perspektive von Mehrsprachigkeit (Steffi Morkötter & Franz-Joseph Meißner) 372 77. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken romanischer Sprachen (Michaela Rückl) 377 78. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken slawischer Sprachen (Grit Mehlhorn) 380 79. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken germanischer Sprachen (Anta Kursiša) 384 80. Romanische Interkomprehension unterrichten: Konzepte, Erfahrungen, Empirie ( Jochen Strathmann & Franz-Joseph Meißner) 387 81. Interkomprehension im Unterricht germanischer Sprachen (Robert Möller) 393 82. Slawische Interkomprehension unterrichten (Grit Mehlhorn) 397 83. Mehrsprachigkeit testen (Karl-Heinz Eggensperger) 401 84. Mehrsprachiges diagnostisches Schreiben (Bernd Tesch) 405 85. Mehrsprachigkeitsdidaktik und Interkomprehension: Forschungsstand und Perspektiven (Franz-Joseph Meißner) 408 J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen 415 86. Tertiärsprachen ( Jochen Strathmann) 415 87. Deutsch als Fremdsprache nach Englisch / Französisch (DaFnE) / (DaFnF) (Lennart Bartelheimer) 417 88. English after German (Nicole Marx & Greg Poarch) 420 89. Französisch (Birgit Schädlich) 424 90. Italienisch (Inez de Florio-Hansen) 428  Inhalt IX 91. Katalanisch interkomprehensiv: ein Beispiel für das Lernen und Lehren einer ‚kleineren‘ romanischen Sprache (Tilbert D. Stegmann) 431 92. Latein - ein Weg zur Mehrsprachigkeit? (Christiane Neveling) 433 93. Portugiesisch (Sílvia Melo-Pfeifer) 436 94. Russisch (Anastasia Drackert) 439 95. Weitere slawische Sprachen (Grit Mehlhorn) 442 96. Spanisch (Christiane Neveling) 446 K Englisch und Mehrsprachigkeit 451 97. English as a gateway to cultures (Claus Gnutzmann) 451 98. Englisch als europäische Brückensprache (Christina Reissner) 455 99. Verfahren der Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht ( Jenny Jakisch) 459 L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit 465 100. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit (Havva Engin) 465 101. Didaktik der Grenzregionen (Albert Raasch) 469 102. Die audiovisuelle Gestalt von Sprachen und ihre Bedeutung für den Spracherwerb (Katrin Biebighäuser) 473 103. Mehrsprachige Kommunikation face to face ( Jürgen Erfurt) 477 104. Critical Incidents (Hans Jürgen Heringer) 480 M Herkunftssprachen und DaZ 485 105. Deutschkenntnisse und Integration (Andreas Sander, Theresa Schlitter & Nele McElvany) 485 106. Herkunftssprachenunterricht und Deutsch als Zweitsprache (Havva Engin) 489 107. Arabisch (Mohcine Ait Ramdan) 494 108. Russisch als Herkunftssprache (Grit Mehlhorn) 497 109. Türkisch (Till Woerfel & Seda Yilmaz Woerfel) 500 N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe 505 110. Unterrichten in vielsprachigen Lerngruppen ( Julia Settinieri) 505 111. Bilingualer Sachfachunterricht in der Perspektive von vorhandener und weiterzubauender Mehrsprachigkeit (Andreas Bonnet) 509 112. Geschichte als bilinguales Sachfach und die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz (Bernd Tesch) 513 113. Geographie als bilinguales Sachfach und die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz (Britta Viebrock) 517 114. Mehrsprachige Textarbeit im bilingualen Unterricht (CLIL) (Hans-Ludwig Krechel) 520 Inhalt 115. Öffnung bilingualer Bildungsgänge zur Mehrsprachigkeit (Dagmar Abendroth-Timmer) 523 116. Ausbildung von Lehrkräften für den Sachfachunterricht aus Sicht der Mehrsprachigkeitsdidaktik (Hans-Ludwig Krechel) 526 O Autochthone Mehrsprachigkeiten 531 117. Autochthone Mehrsprachigkeiten: Europa (Eva Vetter) 531 118. Schweiz (Georges Lüdi) 537 119. Österreich (Georg Gombos) 541 120. Deutschland (Helena Olfert & Anke Schmitz) 544 121. Dänisch in Deutschland (Elin Fredsted) 547 122. Friesisch (Thomas Steensen) 549 123. Romanes (Dieter Halwachs) 552 124. Sorbisch (Ines Keller & Jana Schulz) 554 125. Niederdeutsch (Hans-Joachim Jürgens & Helmut Spiekermann) 556 126. Dialekte (Alfred Wildfeuer) 559 Begriffsregister 563 Die Autorinnen und Autoren 585 X  Inhalt 1. Begriffsdefinitionen 1.1. Vielsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Mehrsprachigkeitsdidaktik Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) ist sowohl ein Dachbegriff oder umbrella-term , der unterschiedliche Konzepte und Referenzkontexte versammelt, als auch ein Bewegungsbegriff, der Menschen auf ein Ziel hin mobilisiert. Zugleich handelt es sich um einen Kernbegriff der EU-Sprachenpolitik (↗ Art. 12); nicht zuletzt als Ausdruck ihrer aus 24 Amtssprachen bestehenden Vielsprachigkeit. Zurzeit bestehen EU-weit drei große Tendenzen: Erstens, Englisch als internationale Sprache zu nutzen und zweitens, neben den Muttersprachen mindestens zwei Sprachen der EU (darunter Englisch) als eine Art mehrsprachiges Minimum möglichst weit in der EU-Bevölkerung zu etablieren. Hierneben steht drittens weiterhin die Pflege der Muttersprachen, mit denen sich nationale Identitäten (↗ Art. 1) verbinden. Die geschilderte Ausrichtung wird allerdings der Vielfältigkeit der europäischen Sprachenlandschaft noch nicht gerecht, was schon die Existenz von Verlautbarungen der EU zugunsten der angestammten regionalen Sprachen und Varietäten signalisiert. Wurden zu deren Schutz internationale und europäische Regelungen getroffen, so nur ansatzweise zu den Migrantensprachen auf dem Territorium der Union. Dabei übersteigt die Zahl der Teilhaber einer migrantischen Sprache manchmal erheblich die autochthoner Sprachgruppen. Indes ist es keine Frage, dass die Vielsprachigkeit Europas mit dem Appell einhergeht, die individuelle Mehrsprachigkeit - differenziert und abgestuft - zu fördern (↗ Art. 9). Was den Appell zum Ausbau der (individuellen) Mehrsprachigkeit angeht, so kommen die Befunde der empirischen Fremdsprachenforschung und der Lernpsychologie (↗ Art. 51) hinzu: Sie betonen neben der Relevanz der lernerseitigen Motivation nahezu einhellig die Nutzung des lernrelevanten Vorwissens für erfolgreiches Lernen (nicht nur von Sprachen). Die hohe Konjunktur des Begriffs interkulturelles Lernen (Fäcke 2005) zeigt ein Weiteres: In einem zusammenwachsenden Europa in einer globalisierten Welt sind ethnische und kulturelle Diversität eine Alltagserfahrung, die sich mit Vielsprachigkeit und Multikulturalität verbindet. Dies stellt hohe Anforderungen an die angestammte Bevölkerung, Fremdheiten zu akzeptieren und aushal- Einleitung 2 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner ten zu wollen. Zugleich wird von Minderheiten der Wille zur Anpassung an die Standards der Mehrheitsbevölkerung verlangt (↗ Art. 15). Ziel ist, Andersheit nicht als Bedrohung für das eigene Selbst und das überkommene kollektive Wir, sondern als Bereicherung erscheinen zu lassen. Eine differenzierte individuelle Mehrsprachigkeit gepaart mit interkultureller Kompetenz, insbesondere Sensibilität für unterschiedliche Erscheinungsformen von Fremdheit, sind vor diesem Szenario Strategien und Mittel zugleich, um den Herausforderungen zu begegnen. Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit meinen nicht dasselbe. Der Begriff Vielsprachigkeit bezeichnet als echter Kollektivsingular alle Sprachen, die auf einem definierten Territorium, z. B. einem Staatsgebiet, begegnen. In Deutschland sind dies weit über hundert. Vielsprachigkeit oder Multilinguismus ist vor allem Folge von Migration. All dies impliziert, dass das Profil von Vielsprachigkeit nur schwer konkretisierbar und kaum planbar ist. Mit Mehrsprachigkeit ( plurilinguism ) meint die EU i. d. R. die Sprachen von Individuen. Im Rahmen von Mehrsprachigkeit ist die Förderung konkreter Fremdsprachen durch schulischen Unterricht möglich. Zugleich verbreitet das Schulsprachenangebot bestimmte Mehrsprachigkeitsprofile. Allerdings durchbrechen zahlreiche sprachenpolitische Publikationen in verschiedenen Sprachen die semantische Komplementarität von Viel- und Mehrsprachigkeit. Die umrissene Gemengelage allein erklärt schon den vielleicht wichtigsten Grund für die Entstehung sprachenübergreifender Didaktiken. So fassen Mehrsprachigkeits - und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) als komplementäre Großbegriffe eine Anzahl von Nachbar- oder Unterbegriffen: integrierte oder integrative Didaktik, Gesamtsprachencurriculum oder Common Curriculum , vernetzendes Sprachenlernen, éveil aux langues, interkomprehensiv basierter Ansatz und interkulturelles Lernen (mit verschiedenen Schattierungen). Ihrer Verbreitung kommt selbstverständlich ihre kognatische Internationalität zustatten ( didactique du plurilinguisme, didactique du pluriculturalisme, didactics of plurilingualism, didactics of pluriculturalism ). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von der EU geprägten programmatischen Termini auf ein von Kommunikationsraum zu Kommunikationsraum unterschiedliches Bedingungsgefüge treffen, das ihre Bedeutung in gewissen Grenzen auch hinsichtlich der jeweiligen nationalen Umsetzung verändert (Meißner & Schröder-Sura 2014). Über viele Jahrzehnte hinweg wurden die Begriffe Zweisprachigkeit ( bilingualism, bilinguisme ) und in mitgedachter Verlängerung Mehrsprachigkeit ( plurilingualism, plurilinguisme ) negativ konnotiert. Man unterstellte fälschlicherweise, dass ‚echte‘ Zwei- oder Mehrsprachigkeit, was das Kompetenzniveau der Sprachen angeht, spiegelbildliche Kompetenzmuster in zwei bzw. mehreren Sprachen bedeuten müsse. Die Definition ist schon deshalb zu verwerfen, weil jede Sprache ein Zeichenrepertoire eigener Art darstellt, das dem einer anderen Sprache nie vollständig entsprechen kann. Zudem ist es kaum einem Individuum möglich, jederzeit in gleicher Intensität an allen Themen unterschiedlicher Kommunikationsräume zu partizipieren. Deshalb zeigen auch die Idiolekte konkreter Sprecher in ein und derselben Sprache keine deckungsgleichen Kompetenzmuster. In den Sprach- und Erziehungswissenschaften wurde Zweisprachigkeit - und in der Verlängerung Mehrsprachigkeit - oft mit einer sog. „doppelten Halbsprachigkeit“ in Verbindung gebracht: Man meinte generalisierend, 3 Einleitung dass früher Zweisprachenerwerb weder zu einer hinreichenden Beherrschung der einen noch der anderen Sprache führe. Das Defizit wird noch heutzutage genannt (Wolski & Dralle 2019: 469). Jüngere Befunde unterschiedlicher Wissenschaften unterstreichen indes, dass der Begriff schon deshalb falsch fasst, weil er von einem monolingualen Kompetenzprofil und Sprachenwachstum ausgeht (vgl. Wiese et al. o.J). Pädagogisch komme es in der Tat weniger auf die Defizite an als darauf, vorhandene Kompetenzressourcen zu nutzen. Defizite sollten, so die Aussage, durch gezielte Förderung behoben werden. Eine pädagogische Orientierung liefern die ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘. In der von Bertrand & H. Christ koordinierten Fassung heißt es, dass: unter Mehrsprachigkeit nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). (Bertrand & Christ 1990: 208) Das Handbuch folgt weitgehend dieser, für die Entwicklung der Mehrsprachigkeit wichtigen Definition. 1.2. Diskurse der Mehrkulturalität Analog zu mehrsprachig benutzt dieses Handbuch mehrkulturell - obwohl der Begriff im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs deutlich weniger gängig ist als interkulturell oder selbst transkulturell . Mehrkulturell ist auf Individuen, ihre konkret nennbaren Kulturen und deren Manifestationen bezogen, mit denen sie mehr oder weniger vertraut sind (↗ Art. 17). Zugleich betont die konkrete Perspektivierung die Wichtigkeit des exemplarischen Lernens. Denn es existieren unzählige, zu viele kulturelle Fremdheiten, als dass wir uns mit ihnen allen vertraut machen könnten. Eine Auswahl, die uns tiefere Einblicke in die eine oder andere Kultur und die Wirkung ihrer Andersheiten auf uns selbst erlaubt, ist daher unumgänglich. Exemplarität bildet die Verbindung zwischen mehrkulturellen und interkulturellen Modellen. Hierneben steht wie im Deutschen auch im Englischen, Französischen und in weiteren Sprachen der Begriff vielkulturell ( multicultural/ multiculturel ) in Opposition zu mehrkulturell ( pluricultural/ pluriculturel ). Mehr als die anderen Eckbegriffe dieses Handbuchs zeigt gerade multikulturell die Spuren der politischen Praxis ( multikulturelle Gesellschaft, „multikulti“ ). Als tagespolitisches Programmwort unterschiedlicher Parteien ist es auch in der Bevölkerung in hohem Maße umstritten (↗ Art. 15). Dies erklärt nicht nur seine eigene starke emotive Aufladung, sondern auch die seines Begriffsfeldes bzw. seiner semantischen Nachbarn: Integration, Flüchtlinge/ Geflüchtete, Identität, Herkunftssprachen, Leitkultur und Herkunftskulturen , deutsch und ausländisch, deutsch und Islam usw. sind immer auch Wörter einer ebenfalls hochgradig umstrittenen „Willkommenskultur“. Entsprechende Artikel des Handbuchs werden zu diesen gesellschaftlich durchaus breiten Entwicklungen zwangsläufig in eine Beziehung gesetzt, denn sie antworten ja auf aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Die politische Auseinandersetzung ist immer auch eine um Wörter und deren Sinnfüllung. Zustimmung erheischende Formeln (in der Sprache der politischen Semantik: Miranda) 4 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner werden kreiert und in bestimmter Weise benutzt und verbogen: Der Begriff lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) bezieht sich auf den sprachlichen Erfahrungsbereich konkreter Menschen - vorzugsweise Kinder mit Migrationshintergrund - nicht aber auf die Gesellschaft (↗ Art. 2), denn diese ist vielsprachig (Fereidooni 2012). Ähnliches lässt sich zu Herkunftssprache (↗ Art. 106) sagen: Der alltagssprachliche Begriff zur Bezeichnung bestimmter Sprachen der Migration versteckt, dass alle Menschen eine sprachliche Herkunft haben, die spätestens dann ins Bewusstsein rückt, wenn sie eine zweite Sprache oder die sog. ‚Hochsprache‘ ihrer heimischen Varietät bzw. des eigenen Dialekts erwerben. Wer immer eine zweite Sprache lernt, hat bereits eine erste, in der die Welt auf Begriffe gebracht wurde. Es erscheint daher linguistisch zutreffender wie im Englischen und Französischen ( languages of immigration, langues de l’immigration ) von Sprachen der Immigration zu sprechen. Gleichwohl wird der Begriff Herkunftssprache in den Artikeln dieses Handbuches verwandt, weil der Begriff im Deutschen konventionalisiert ist. Er sollte daher entsprechend modifiziert verstanden werden. Sprache ist Wort gewordene Kultur (K. Schröder in diesem Band, ↗ Art. 10), Kulturen sind ohne Sprachen nicht denkbar. Sprache und Kultur sind Merkmale von Staaten. Kulturen sind auch von Gegensätzen geprägt. So ist die EU-Sprachenpolitik vielfach an ihre europäischen Kulturen und Mitgliedstaaten gebunden, und schon die Bildung der öffentlichen Meinungen geschieht auf nationaler wie EU-Ebene mithilfe von Sprachen. Dies hat insbesondere innerhalb demokratischer (und rechtsstaatlicher) Kulturen Gewicht (↗ Art. 9). So fällt im Vorfeld von Wahlen der öffentlichen Sprache die Aufgabe zu, die politischen Angebote der um die legitime Macht kämpfenden Parteien zu kommunizieren. Ohne Sprache wäre demokratisches Prozedere bzw. demokratische Kultur unmöglich. European citizenship ist ein Begriff des interkulturellen und politischen Lernfeldes. Die Problematik der Vielsprachigkeit für die Bildung einer Öffentlichen Meinung und das politische Prozedere der EU ist bis heute nicht gelöst. Dem Handbuch liegt ein weiter und pluraler Kulturbegriff (↗ Art. 1) zugrunde. In diesem Zusammenhang ist die gemeinsame Geistesgeschichte Europas, einschließlich der Alltagskulturen, relevant. Referenzbereiche sind Staatswesen und Kulturen bzw. Religionen, Wissenschaften, Künste, Sitten und Gebräuche und menschliche Praxen. Spätestens seit den 1990er Jahren wird kulturellen Prägungen auch für das Sprachenlernen Bedeutung zugeschrieben. Insbesondere spielen die Sozialisierung und Enkulturation der Lerner (↗ Art. 4), die Zusammenhänge von Sprache und Identitätskonstruktion oder kulturspezifische Einstellungen eine Rolle, und zwar seitens der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Multikulturalität, Globalisierung, Migration sowie den Umgang mit ethnischer und kultureller Vielfalt, seitens der Migranten und Sprachenlerner der Integrationswunsch in die Zielgesellschaft X oder Sprachgemeinschaft und der Wunsch, sich Vorteile durch Kenntnis der Zielsprache und Zielkultur zu verschaffen (bei Dörnyei 2003 begegnet der Terminus Instrumentalität). Bzgl. der Erfahrung von ethnischer und/ oder kultureller Diversität lassen sich - grob - folgende Unterscheidungen treffen: 1. Fokussiert die Argumentation auf das Verhältnis zwischen ethnisch und kulturell deutlich voneinander abgegrenzten Personen (Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Staatsvölker), so stehen i. d. R. 5 angemessene (konventionalisierte) Umgangsweisen im Vordergrund. Für diesen Fall werden meist Kompositionen mit dem Präfix inter verwendet: interkulturelle Kompetenz, interkulturelles Lernen oder interkulturelle Kommunikation zwischen dem Eigenen und dem Fremden (↗ Art. 32, 36). Solche Bildungen beziehen sich nicht auf Kontraste konkreter Kulturen, sondern fassen generell. Natürlich können Ergänzungen diese Polarität durch Konkretisierung (Typ: der interkulturelle deutsch-britische Dialog ) aufheben. 2. Liegt der Fokus indes auf dem Bestreben nach Aufhebung dieser Oppositionen, dann folgt hieraus die Absage an ein Verständnis von in sich homogenen und geschlossenen Kulturen (die sich von anderen Kulturen unterscheiden und sich nach außen abgrenzen). In diesem Fall wird oft das Präfix trans genannt. Man spricht z. B. von einer (postmodernen) Transkulturalität (↗ Art. 41). Wie die Komplementarität von Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit wird auch die von Interkulturalität und Transkulturalität nicht immer trennscharf benutzt. Der GeR und vor allem der CEFR Companion Volume transportieren, wie angeklungen, die Unterscheidung zwischen multicultural/ multiculturel/ multikulturell einerseits und pluricultural/ pluriculturel/ mehrkulturell andererseits (↗ Art. 18, 19). In einer vielkulturellen Umgebung und einem vielkulturellen Europa ( multicultural Europe und multicultural environment ) sollen pluricultural competences und ein pluricultural repertoire entwickelt werden. Das Präfix multi- dient, wie gesagt, zur Hervorhebung gesellschaftlicher Dimensionen, während das Präfix pluriindividuelle Dimensionen meint. Generell deuten die pluri -Begriffe auf konkrete Planbar- und Organisierbarkeit von gezieltem Unterricht. Hingegen sind die multi- Bildungen semantisch offener. Eine Politik zugunsten von mehr Mehrsprachigkeit und mehr Mehrkulturalität fällt auf unterschiedliche nationale Substrate (und deren eigenständige Interessen). Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist eng mit ihren jeweiligen Nationalsprachen und einer sie begünstigenden Sprachpolitik verbunden. Während die Nationalsprachen längst hinlänglich normiert waren, beherrschten die jeweiligen nationalen Bevölkerungen diese bis weit ins 19. Jh. hinein nur unzureichend: Die meisten Menschen sprachen Dialekte und in den Vielvölkerstaaten zumeist auch unterschiedliche Sprachen. Vorrangige Aufgabe war im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, der Entstehung gänzlich neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industriearbeiterschaft und weiterer die Herstellung eines einheitlichen nationalen Kommunikationsraums, an dem die Gesamtbevölkerung im Rahmen einer vor allem national miteinander kommunizierenden Wirtschaft teilhaben konnte. Träger dieser Entwicklung waren das allgemeine Schulwesen, die allgemeine Wehrpflicht, die Verbreitung von Presse und Radio zu Beginn des 20. Jhs. Die Lage erklärt, weshalb das jeweilige nationale Erziehungswesen des 19. und überwiegend des 20. Jhs. der Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht förderlich gegenüberstand. Eine Politik zugunsten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität gab es in nur wenigen Fällen - kaum jedoch in nennenswertem Umfang in großen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Russland. Eine gewichtige Ausnahme stellte der ehemalige Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn dar (Fäcke 2015). Die Verbreitung der Amtssprachen fand ihre Erweiterung in den Kolonien. Einleitung 6 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner 2. Perspektiven einer Sprachen und Kulturen vernetzenden Didaktik Die einzelne Zielsprachen übergreifenden und vernetzenden didaktischen Ansätze, welche in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind nicht ohne Bezug zu den Didaktiken der einzelnen Sprachen, z. B. zur Englisch-, Französisch- oder Deutsch als Fremdsprache-Didaktik und ihrer langzeitlichen Entwicklung. Konzepte wie die schon genannten - vernetzendes Sprachenlernen, Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14), Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 70), Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) überhaupt - wollen die einzelsprachlichen Didaktiken konzeptuell und methodisch im Sinne der Lernziele Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz ergänzen und bereichern. Die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik ist eine sog. Transversaldidaktik. Ihre beiden Zweige wollen die einzelzielsprachlichen Fachdidaktiken nicht verdrängen, sondern sie ergänzen. Dies berührt zunächst die Didaktiken der Erstsprachen bzw. der hiesigen offiziellen Schulsprachen, sodann der Zweitsprachen und der unterrichteten Fremdsprachen. Da es sich bei diesen vor allem um europäische Sprachen handelt, lassen sich zwischen ihnen zahlreiche Ähnlichkeiten - Transferbasen - ausmachen, deren Nutzung den Erwerb einer neuen Sprache oder die Verbreiterung der interkulturellen Kompetenz erleichtert. Dies gab den Anstoß für die Entwicklung der Interkomprehensionsdidaktik. Für Konzepte des interkulturellen Lernens war es von vornherein konstitutiv. Reflexives Sprachenlernen begegnet in allen Formen des Sprachen miteinander vernetzenden Lehrens und Lernens. Hier überlappen sich die Felder von Sprachpolitik (zugunsten der jeweiligen eigenen Nationalsprache) und Sprachenpolitik (Förderung ausgewählter Fremdsprachen innerhalb eines nationalen Territoriums - z. B. durch die Einrichtung eines entsprechenden Schulfachs, etwa Englisch, Französisch oder aber Sorbisch in Deutschland). 2.1. Sprachenvernetzende Ansätze zwischen Sprach- und Sprachenpolitik (Interkomprehension) Zahlreiche Faktoren bestimmen die Stellung einer Sprache auf dem internationalen Sprachenmarkt, in bunter Mischung: die Zahl der Muttersprachler und der zweit- und fremdsprachlichen Sprachteilhaber, das kulturelle Prestige, die Kraft der jeweiligen Volkswirtschaft, der Status in internationalen Organisationen, die kommunikative Reichweite in den Wissenschaften, die Rolle im Alltagsleben der Menschen, ihre reale und virtuelle Erreichbarkeit bzw. ihre Präsenz in den Medien und dem Internet und last but not least ihre Erlernbarkeit. Apropos kommunikativer Radius: Sein Gewicht für die internationale Stellung einer Sprache verdeutlicht unübersehbar das Englische, für das schwer zu übersehen ist, ob es die fast 350 Mio. nativen Sprachteilhaber, die geschätzt 300 Mio. Zweitsprachensprecher oder die ca. 2 Mrd. heteroglotten Sprachteilhaber bzw. täglichen (heterokulturellen) Nutzer der globalen intersociety sind, die seinen hohen internationalen Marktwert bestimmen (↗ Art. 13, 97, 98). Dies allein schon erklärt, weshalb Sprachen ihre Stellung am Markt verbessern können, wenn ihre Kenntnis es erlaubt, auch weitere attraktive Sprachen zu verstehen und ihr Erlernen zu erleichtern. So findet das Französische in der spanischen oder italienischen 7 Sprache sehr starke ‚Verbündete‘ und diese umgekehrt im Französischen. „Wenn du Spanisch oder Italienisch lernst, helfen dir Französischkenntnisse ungemein. - Mit dem Erlernen einer romanischen Sprache legst du die Grundlage für das leichte und rasche Erlernen quasi aller romanischen Sprachen (800 Mio. native Sprecher, ungezählte Mio. Zweit- und Fremdsprachensprecher).“ Das Argument, das natürlich auch für andere Sprachen und deren Familien als die genannten gilt, hat Gewicht, wenn es um die Überlegung geht, welche Sprache ein Kind oder ein Erwachsener lernen soll. Ein weiterer Faktor betrifft den Status einer Sprache als Schulfremdsprache innerhalb der Gesellschaft: So zeigen die Lernerkontingente der Volkshochschulen, wie sehr ein durch die Schulfremdsprachen vermitteltes Wissensprofil die Nachfrage nach bestimmten Fremdsprachen steigert. Dabei ist klar, dass sich von keiner Fremdsprache außer Englisch behaupten lässt, dass ein heutiges Kind diese Sprache in seinem späteren Erwerbsleben auch wirklich braucht (Sprachenbedarf). Umso wichtiger ist die Vermittlung von Sprachlernkompetenz, die sich vor allem mit dem Erlernen einer zweiten und dritten Fremdsprache bzw. interkomprehensiver Verfahren ausbilden lässt, da es wesentlich auf die Fähigkeit des zielgerichteten Vergleichens sprachlicher Strukturen ankommt (u.a. Schröder 2009). Die offizielle und offiziöse Sprachpolitik der einzelnen Sprachen hat auf derlei Fakten reagiert: In der Romania zeigen dies vor allem die von französischer Seite initiierten organisatorischen Maßnahmen zur Sprachlenkung (Schmitt 1988a und 1988b), die Gründung der Union Latine sowie zahlreiche EU-finanzierte Projekte (Galatea, Eurom4, EuroCom, Redinter, MIRIADI u. a. m.). Auch in Iberoamerika hat die Interkomprehension ein weites Echo gefunden (Interlat, Interrom u. a. m.). Vor diesem Hintergrund bezeichneten zu Beginn der 1990er Jahre Dokumente der Fédération Internationale des Professeurs du Français (F.I.P.F.) die romanischen Schwestersprachen als „langues fédérées“ (F.I.P.F. 1990). Andere Sprachpolitiken, z. B. die der UdSSR oder Russlands, sind diesen Weg jedoch nicht gegangen, obwohl die slawische Sprachenfamilie starke zwischensprachliche Ähnlichkeiten aufweist (↗ Art. 94, 108). Auch die Turksprachen halten ein erhebliches Potential für interkomprehensive Ansätze bereit. Die Lernerkontingente der sog. ‚kleinen‘ Sprachen zeigen, wie sehr sie als Fremdsprachen von den mehrsprachigen Vorkenntnissen der Lerner profitieren. Sieht man einmal von der Migrationsbevölkerung ab, so lässt sich festhalten, dass ein Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Katalanischkursen nicht nur über Kenntnisse im Englischen verfügt, sondern oft auch im Spanischen, im Französischen usw. Es ist eine offene Frage, ob sie einen Katalanischkurs auch ohne diese Vorkenntnisse und die eigenen Sprachlernerfahrungen belegt hätten (↗ Art. 91). Zeigt der romanische Sprachraum ein deutliches Interesse an der Förderung von Interkomprehension, so bezeugt Deutschland eine gewisse Zurückhaltung. Dabei nimmt das Land insoweit eine besondere Stellung ein, als neben dem Englischen und dem Lateinischen vor allem das Französische und das Spanische eine weite Verbreitung als Schulfremdsprache verzeichnen. Verstärkt wird die hier entgegentretende Lernerdisposition z.T. auch durch eine in migrantischen Mehrsprachigkeitsmustern angelegte Kompetenz. So schnitt eine deutsch/ russisch-zweisprachige Schülerin der Limburger Marienschule in einem zweiwöchigen Italienisch-interkomprehensiv-Unterricht an Primanerinnen eines Spanischkurses als beste Einleitung 8 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner ab (bei generell sehr guten Ergebnissen), obwohl sie als einzige weder Französischnoch Lateinkenntnisse nachweisen konnte. Englisch-, Französisch-, Spanisch- und Lateinkenntnisse und der in den Sachfächern erworbene deutsche Bildungswortschatz verleihen deutschsprachigen Kindern ein pädagogisch nutzbares Maß an Transferbasen für romanische Interkomprehensibilität (↗ Art. 7, 56). So können auch Deutschsprachige ihre mehrsprachigen Kenntnisse nutzen, um weitere, nicht nur romanische Sprachen zu erlernen. ‚Interkomprehension über die Familie der eigenen Muttersprache hinaus‘ lautet daher ein Ansatz, der in der deutschen Fremdsprachendidaktik starkes Interesse findet, zumal sich herausgestellt hat, welch wirksame Strategie der interkomprehensive Ansatz für die Förderung von Sprachlernkompetenz ist. 2.2. Bilinguales Lernen Bilinguale Bildungsgänge (BiLi) gelten wohl weltweit als ein Erfolgsmodell (Bonnet & Siemund 2018). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Sachfächer in einer anderen Sprache als der regulären (Deutsch) unterrichtet werden. Es handelt sich, wie gesagt, um Sachunterricht, der lehrseitig eine sachfachliche Kompetenz (nachgewiesen i. d. R. durch die Erste und Zweite Lehramtsprüfung im Sachfach) verlangt. Die sachfachlichen Lehr-/ Lernergebnisse sind durchaus jenen des Fachunterrichts in der regulären Schulsprache vergleichbar. Absolventen dieses Bildungsgangs erreichen in der Zielsprache eine hohe Kompetenz (C1, C2 nach den GeR-Kompetenzdeskriptoren). Empirische Studien zum interkomprehensiv basierten Unterricht an Schülerinnen und Schülern dieses Bildungsganges belegen deren vorzügliche Eignung für den Weiterbau ihrer schon vorhandenen Mehrsprachigkeit. An diese Erfahrung knüpfen Angebote wie Certilingua an. Das Zertifikat erweitert den Nachweis des im bilingualen Bildungsgang erworbenen Kompetenzprofils auf eine weitere Fremdsprache, die auf dem Niveau B2 oder höher beherrscht wird (↗ Art. 111). Im Grunde geschieht der Weiterbau der zielsprachlichen Kompetenz hier nach dem Grundsatz des schon in der Antike gelobten mnemotechnischen Prinzips rem tene, verba sequentur . Allerdings gilt auch für den regulären Fremdsprachenunterricht vor allem im Fortgeschrittenenbereich, dass sich das Sprachenwachstum und Situationswissen an Inhalten ausbildet: je mehr desto besser. 2.3. Lebensweltliche Viel-/ Mehrsprachigkeit: Sprachen - Kulturen - Identitätskonstruktionen Wie Gogolins (1994) Formel des „monolingualen Habitus der deutschen Schule“ meint „lebensweltliche Mehrsprachigkeit“ keinen konkreten fremdsprachendidaktischen Ansatz, sondern eine Kontextbezeichnung, die aufgrund ihrer Beschaffenheit einen bestimmten didaktischen Zugriff verlangt. Dabei verbindet sie die soziale bzw. soziolinguistische Situation der Lerner, insbesondere von Kindern, mit definierten Lehr- oder Lernzielen. Beide Pole sind derweil an Vielbzw. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität festgemacht. Dabei sind Erst- und Zweitsprachen ebenso im Spiel wie Fremdsprachen. Vor allem mit den Erstbzw. Familiensprachen und der Zweitbzw. Umgebungs- oder Mehrheitssprache (Deutsch) ist auch ein Stück Identitätsbildung betroffen (↗ Art. 1). Unsere europäischen Länder sind längst sowohl durch eine starke Einwanderung als auch durch eine rückläufige Entwicklung der angestammten Bevölkerungszahl gekenn- 9 zeichnet. Eine erhebliche Verstärkung der aktiven Bevölkerung durch Immigration ist daher notwendig, schon um die sozialen Sicherungssysteme langfristig zu finanzieren bzw. zu erhalten (Meißner 2014). Hierauf müssen sich die betroffenen Gesellschaften und zuvorderst das Erziehungswesen einstellen. Auch vor diesem Hintergrund steht die Bewertung der etwa in Deutschland präsenten Einwanderer, ihrer Vielsprachigkeit und ihrer Identitätskonstruktion (↗ Art. 16). In den heimischen Varietäten (Dialekt), den Muttersprachen, Erstsprachen, den Zweitsprachen und in gewissem Umfang auch den Fremdsprachen verbinden sich die Kommunikationserlebnisse der Individuen mit deren Sozialisation. Nicht ohne Grund gelten sie als fundamental für die Enkulturation. Die sprachliche Bildung ruft daher nach Konzepten, wie unsere Gesellschaften mit der vorhandenen und der anzustrebenden Vielsprachigkeit umgehen sollen. Unbestritten ist, dass Migranten die Sprache der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft auf möglichst nativem Niveau erlernen sollen (sofern sie eine Integration in diese anstreben). Konkret verlangt eine plurale Gesellschaft zudem, dass Einwanderer, die ein Verbleiben in Deutschland anstreben, mittel- und langfristig die Werte des Grundgesetzes zur Richtschnur ihres Denkens und Handelns machen. Die hohe Relevanz sprachlicher und (inter) kultureller Bildung für die Ausbildung einer plurireferentiellen Identität ist unbestritten. Sie bildet sich bei Einheimischen und Einwanderern aus den unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Individuen. In diesem Zusammenhang wird oft folgender Mix genannt: lokal, regional, national, europäisch (Frankfurterin, Hessin, Deutsche, Europäerin). Die örtlichen Markierungen stehen neben anderen Zugehörigkeiten, die identitätsstiftend sein können, wie z. B. Beruf, Geschlecht, Generation und Alter, Religion, sexuelle Orientierung u. v. a. m. Aus diesen Zugehörigkeiten und Gruppenerlebnissen leitet sich positiv eine Steigerung der psychischen Befindlichkeit ( psychic income ) her. Neben Pro-Zuordnungen sind auch Anti-Zuordnungen möglich: Wir-Gruppen können sich also auch in latenter oder offener Gegnerschaft zu anderen Gruppen bilden. Gründe hierfür können etwa echte oder vermeintliche Frustrationen, Ängste und Ablehnung sein. Das augenfälligste Beispiel hierfür liefert die Xenophobie. 2.4. Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompetenzen Das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung verlangt interkulturelle Kompetenz, Fremdverstehen und Offenheit (Fäcke 2005). Es geht letztlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Émile Durkheim (1978) bezeichnete einen Zustand der sozialen Desintegration als Anomie. Er sah ihn in der Auflösung gültiger Normen, moralischer Überzeugungen und Kontrollen bzw. des Wegfalls einer gemeinsamen Wertebasis in den frühindustriellen Gesellschaften seiner Zeit begründet. Als greifbare Folge machte er einen Anstieg der Kriminalität und der Suizidrate aus. Ursächlich erschien ihm ein Bruch zwischen den überkommenen Werten und den gängigen Praxen der realen Gesellschaft. So wie die frühe Industriegesellschaft im 19. Jh. religiöse Bindungen in Frage stellte, so führen heutzutage die Globalisierung und ihre praktischen Folgen viele Menschen zu einem Gefühl des Abgehängt-Seins; die Bewohner großer Teile Afrikas oder der Kriegsgebiete im Nahen Osten suchen sich in Europa ein Minimum an Sicherheit und Wohlstand. Beängstigend für einen großen Teil der Einleitung 10 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner hiesigen Mehrheitsbevölkerung ist die große Zahl der (potentiellen) Migranten. Nun haben unterschiedliche Kulturen und Kulturkreise nicht unbedingt dieselben Werte. Und ein hoher Anteil an Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen gibt die von ihnen internalisierten Werte nicht einfach bei einem Grenzübertritt ab. Nur langsam gelingt es vielen von ihnen, sich in den Wertekanon der aufnehmenden Gesellschaft einzufinden. Dies verlangt eine enorme Anpassungsleistung. Erfahrungsgemäß kann dies mehr als eine Generation dauern. Gesellschaften, die sich als plural verstehen, müssen den Eingewanderten die notwendige Zeit lassen und Hilfen bieten. Kenntnisse der Mehrheitssprache sind hierzu ein erster Schritt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und auf welcher Grundlage ein friedliches Miteinander basieren kann. Lassen sich universalistische Wertesysteme (↗ Art. 37) finden, auf die sich alle Beteiligten voll umfänglich einigen können? In der Regel eher nicht, wie das Beispiel kontrovers diskutierter Vorstellungen von Familienehre aufzeigt, die unterschiedlich über Einstellungen zum Sexualverhalten der Töchter definiert wird. Über den Bezirk der Ehre hinaus reichen Konventionen. Ein Blick zurück zeigt, dass die Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft sich wandeln können: Interkonfessionelle Ehen galten noch vor wenigen Jahrzehnten als anrüchig, Homosexualität war ein Straftatbestand. In Deutschland diskutierte Konventionen von Minderheiten betreffen z. B. die folgenden Punkte: • Das Schächten von Tieren findet nicht die Zustimmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft; gleichwohl geschieht es aus religiösen Gründen, zumal das Bundesverfassungsgericht die religiöse Praxis erlaubt hat. • Ebenso wenig erhält die Beschneidung von Jungen oder Mädchen im Judentum oder im Islam aus religiösen Konventionen die Zustimmung der hiesigen Mehrheitsgesellschafft. • Das Tragen des Kopftuches von muslimischen Frauen ist seit Jahrzehnten ein in Deutschland und Österreich umstrittenes Thema. Während es den Trägerinnen als Ausweis ihrer Identität gilt, halten andere - Muslima und andere - es für ein Zeichen der Unterdrückung oder des Wunsches, gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ‚Andersheit‘ und ‚Ablehnung‘ zu signalisieren. Fazit: Gegenläufige Ehrauffassungen und Konventionen können spalten, sie schaffen Wir- und Sie-Gruppen. Konfliktpotenziale sind gegeben, Konflikte vorprogrammiert. Aufklärung tut not. Eine der klassischen Wir-Gruppen sind Religionsgemeinschaften, denn Religionen greifen in starker Weise auf die Wertekonstruktion von Menschen zu; und zwar in der Tendenz umso stärker, je weniger sie an Säkularisierung partizipierten. Andere wichtige Wir-Gruppen sind z. B. Nationen oder Ethnien. Bestimmte Wertesysteme hingegen beanspruchen universelle Gültigkeit. Am 10. Dezember 1948 verkündet die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“, das die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen (Artikel 1) sowie das Verbot der Diskriminierung (Artikel 2) umfasst. Der hier formulierte Maßstab folgt einem universalistischen Anspruch, der einen Rahmen für ein weltweites friedliches Miteinander bieten soll und bereits in der Menschen- 11 rechtserklärung der Französischen Revolution angelegt war. Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen des Jahres 1789 jedoch wird kurze Zeit später von Olympe de Gouges dahingehend kritisiert, dass die Revolution die Frauen vergessen habe. Eine andere Infragestellung erfolgte in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam , die 1990 etliche Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Ausdruck eines individualistischen westlichen Denkens ablehnt. Angesichts dieser Beispiele stellt sich die Frage nach der Begründung und Begründbarkeit eines universellen Anspruchs der Menschenrechte für alle. Wer also den universellen Anspruch der Menschenrechte (aus guten Gründen) nicht aufgeben will, wird - um der friedlichen Koexistenz und der Vermeidung von Konflikten willen - gegenüber ihrer Relativierung eine kritische Toleranz praktizieren müssen. Im Bereich des deutschen Grundgesetzes ist eine solche Relativierung, welche die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte aufhebt, freilich verboten, weil verfassungsfeindlich. Diese Fragen sind auch für Erziehung und Unterricht relevant. Die Schule muss einerseits darauf vorbereiten, Fremdheit auszuhalten und aushalten zu wollen, andererseits zur Verfassungstreue erziehen. Dies erklärt, weshalb die Mehrkulturalitätsdidaktik stark auf Einstellungen und Volitionalität sowie auf politische Urteilkraft abhebt. Generell sind einstellungsbezogene, attitudinale und volitionale Ressourcen grundlegend für jegliche Kompetenzbildung. Ohne sie können Kompetenzen der Domänen von Wissen ( knowledge ) und Können ( can do ) nicht miteinander verbunden und aktiviert werden. Dies gilt auch für den Bereich der Mehrkulturalität. Betroffen sind hier 1.) das landeskundliche und das interkulturelle Faktenwissen ( knowledge, savoir ), 2.) das Wissen, wie man dieses Wissen zur Anwendung bringt ( savoir-faire, can do ), z. B. konkretes Handlungswissen im Umgang mit Fremdheit und heterokulturellen Personen praktizieren, 3.) schließlich das Wissen zur Selbststeuerung: Selbstaufmerksamkeit, Kontrolle der eigenen Einstellungen und Handlungen, der Wirkung von interkulturellen Erfahrungen bzw. des Perspektivenwechsels auf das Selbst, Empathie, Kritikfähigkeit gegenüber dem Eigenen und dem Fremden, Bereitschaft zur Revision von Vor-Urteilen ( attitudes, savoir-être ) (Byram 1997). Leider werden die Einstellungen im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht vielfach wenig reflektiert, in interkulturellen Diskursen hingegen geschätzt. Anders als solche des Sprachenwachstums gehören interkulturelle Kompetenzen zu den schwer messbaren Kompetenzen (Frederking 2008) (↗ Art. 48, 49). Eine Möglichkeit der Evaluation eröffnet z. B. das Developmental Model of Intercultural Sensitivity (DMIS) von Milton Bennett (1993), das u. a. in der DESI- Studie verwendet wurde und das verschiedene Entwicklungsstufen von Ethnozentriertheit zu Ethnorelativierung erfasst. Neben diesem quantitativen Zugriff werden häufig eher qualitative Zugangsweisen favorisiert, die zudem auf der Binnenperspektive der Beteiligten aufbauen (z. B. die Autobiography of Intercultural Encounters , Council of Europe 2009). Einen Katalog von Deskriptoren bietet der RePA (↗ Art. 20). Qualitative Studien beschreiben sprachbiographische Erfahrungen (Franceschini 2004), Sprachenbilder, Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung, - um nur die hervorstechendsten Referenzbereiche anzuführen. Einleitung 12 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner 2.5. Qualitätsentwicklung im sprachlich-kulturellen Lernfeld Spätestens seit der Teilnahme Deutschlands an den großen internationalen OECD-Vergleichsstudien im Bildungswesen bemüht sich das Land um empirisch belastbare Qualitätsstandards. Neben den traditionellen Maßnahmen - Richtlinien für den Unterricht, Abschlussprüfungen, Lehrerausbildung und eine entsprechende Aufsicht durch die Ministerien - sind Bildungsstandards Ausdruck dieser Orientierung. Qualitätsentwicklung setzt eine empirische Bildungsforschung (pädagogische Psychologie und Fachdidaktiken) voraus, die in der Lage ist, der politischen Steuerung des Bildungswesens wissenschaftliche Fundierung zu verleihen. Dass eine longitudinale Beobachtung von Unterrichtsprozessen im Kontext von Schule nur eingeschränkt möglich ist, erklärt, weshalb zurzeit im quantitativen Bereich vor allem sog. Leistungsstudien vorliegen, die das Ergebnis von Bildungsbemühungen messen. Deutlich seltener sind dagegen Erhebungen zu Unterrichtserlebnis, Lernerfahrungen und Lernabsichten (Meißner et al. 2008; in gewissem Umfang auch DESI). Dabei ist festzustellen, dass Deutschland einer ländervergleichenden Studie zum Jahr 2004 zufolge, was den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II betrifft, keine einheitliche Bildungslandschaft darstellt (Meißner & Lang 2005). Betroffen sind die Belegungen von Fremdsprachen und Kursen in der Sekundarstufe II. Eine erneute Erhebung ist im Jahre 2019 überfällig; zumal nie untersucht wurde, welche Folgen die signifikanten Unterschiede von Fremdsprachenbelegungen auf den weiteren Bildungsverlauf der Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Bundesländern hatten. Um im Bildungswesen Qualitätssicherung herzustellen ist es, da es sich um „große Systeme“ handelt - die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinbildenden Schulen beläuft sich im Schuljahr 2016/ 17 laut Statistica (2019) auf 763.304 Personen -, erforderlich, auch den Prozess der Einführung von Innovationen - z. B. die Interpretationen von Kompetenzorientierung und deren Umsetzung - zu auditieren. Erst solche longitudinal angelegten Prozessaudits lassen eine belastbare Aussage über die Realisierung von Qualitätsstandards zu. Dies fehlt allerdings nicht nur in Deutschland bis heute. Der späte Einsatz von Vergleichsstudien und die fehlende Prozessauditierung beeinträchtigen in erheblichem Maße Einsichten in die Qualität von Unterricht. 2.6. Sprachlernberatung Sprachlernberatung ist an den europäischen und nationalen Zielen des Fremdsprachenunterrichts orientiert, und zwar mit den Eckwerten „mehrsprachiges Minimum“, interkulturelles Lernen, interkulturelle Kommunikationsfähigkeit und Sprachlernkompetenz. Dies betrifft - gleichrangig - das Englische in seiner internationalen Rolle und die Mehrsprachigkeit. Qualitativ wie quantitativ stellt dies neue Anforderungen sowohl an das Schulwesen als auch an die Schülerinnen und Schüler sowie an die Lehrerschaft. In dieser Situation bietet die Erreichbarkeit der möglichen Zielsprache dank der Medien (Satelliten-TV und Internet) wirkungsvolle methodische Stützen (die sich erst erschließen, wenn man sie zu nutzen weiß). Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass schulischer Fremdsprachenunterricht schon wichtige Weichen für den Erwerb von Mehrsprachigkeit stellt. Denn der Unterricht lehrt nicht nur die Grundlagen einer neuen Sprache, 13 sondern auch den Weg, sich fremde Sprachen anzueignen. Damit erwerben die Schüler ein Instrument, um auf die ihnen in ihrem erwachsenen Leben begegnende Vielsprachigkeit zu reagieren. Hier ist zu unterstreichen, dass die Bereitschaft des Erlernens fremder Sprachen schülerseitig deutschland- und EU-weit laut MES-Studie beeindruckend ist (Meißner et al. 2008: 74 u. 76). Das reale Schulfremdsprachenangebot kommt dem bei weitem nicht nach. Insbesondere fehlt weitgehend eine frühe Diversifizierung des Angebots, was den Studien bzgl. der Rolle von Sprachenfolgen eine breitere Solidifizierung verleihen würde. Eltern und Schüler sehen sich von den Regelungen der Schullaufbahn vor die Frage der Sprachenwahl gestellt. Damit treten sehr konkrete Fragen an sie heran: Welche Sprache soll als erste Fremdsprache gewählt werden? Welche als zweite? Vielleicht eine dritte? Welche Rolle spielt Latein für den Erwerb der modernen Mehrsprachigkeit? Wähle ich mit einer bestimmten Fremdsprachenkombination schon indirekt ein bestimmtes - z. B. west- oder osteuropäisches - Sprachenprofil? Welche Sprachen wähle ich in welcher Reihenfolge, um mögliche Synergien im Sinne der Lernökonomie auszuschöpfen und den Erwerb von Mehrsprachigkeit zu erleichtern? Und last but not least: Wie lernt man heute moderne Fremdsprachen? Wie kann man die Medien nutzen? Usw. usw. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sind immer wieder gehalten, solche und weitere Fragen zu beantworten. Sie benötigen hierzu gesichertes Wissen, im weitesten Sinne zur Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik, im engeren zu einer Vielzahl sehr konkreter Fragen zu den Lernern und dem Unterricht fremder Sprachen. Die Fremdsprachenverbände, insbesondere der Gesamtverband Moderne Fremdsprachen , sind auf dem Feld der Lehrerfortbildung aktiv. Dies berührt die Sprachlernberatung in erheblichem Maße. Natürlich verfolgen auch die Verbände eigene Interessen und der Vorwurf des Lobbyismus ist nicht immer ganz fern. Von einer Sprachlernberatung sind daher mehrere grundlegende Bedingungen zu verlangen: • Neutralität bzgl. der im begrenzten System des Schulwesens miteinander konkurrierenden Fremdsprachen, • Kenntnis des gesellschaftlichen Bedarfs an Fremdsprachenkenntnissen, • Kenntnis der Synergiepotenziale für den Erwerb unterschiedlicher Mehrsprachigkeitsprofile, • Kenntnis der Methoden, um die Synergiepotenziale zu nutzen, • Kenntnis des Fremdsprachenunterrichts auf unterschiedlichen Stufen und Schulformen (Primar- und Sekundarstufe), • Kenntnis der Zertifizierung von Sprachkenntnissen national und international. Das vorliegende Handbuch liefert zu diesen Punkten eine Fülle von Informationen. In diesem Sinne fungiert es auch als ein Instrument der Sprachlernberatung. 3. Struktur des Handbuchs Weder in der Mehrsprachigkeitsnoch in der Mehrkulturalitätsdidaktik gibt es den einen Diskurs. Dies folgt schon aus der Verschiedenheit der Referenzbereiche: autochthone Sprachen, Nachbarsprachen, Schulfremdsprachen, Muttersprachen, Herkunftssprachen, Alte und Neue Sprachen , lingua franca , globale Sprachen, regionale Sprachen, exotische Sprachen, Dialekte und Sprachen, offizielle Sprachen, Amtssprachen, ko-offizielle Sprachen, internationale Sprachen, Italienisch Einleitung 14 ChristianeFäcke-&Franz-JosephMeißner nach Französisch, usw. Inhaltlich umfasst die Mehrkulturalitätsdidaktik die Referenzbereiche: Interkulturalität, Didaktik des Fremdverstehens, Transkulturalität, Multikulturalität, Plurikulturalität, Universalismus und Partikularismus, Antirassismus, Postkolonialismus, Diversität, dominante und marginalisierte Kulturen, kulturspezifische Kenntnisse, Handlungswissen und Einstellungen. Quasi jeder Bereich hat einen eigenen Diskurs. Sodann unterliegen natürlich auch die Diskurse selbst einer Entwicklung. Diese Heterogenität spiegelt den Aufbau des Handbuches mit den verschiedenen Abschnitten (von A bis O). Sie antwortet auf unterschiedliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit, Mehrkulturalität und Vielkulturalität. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass das Handbuch auf den europäischen und speziell den deutschsprachigen Kontext ausgerichtet ist. Der Aufbau des Handbuchs umfasst die folgenden Abschnitte: A Sprachlichkeit und Kulturalität B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren F Didaktik der Mehrkulturalität G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen K Englisch und Mehrsprachigkeit L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit M Herkunftssprachen und DaZ N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe O Autochthone Mehrsprachigkeiten Jeder Abschnitt besteht aus mehreren Artikeln, die aus unterschiedlichen Perspektiven berichten und unterschiedliche Sichtweisen ausleuchten. Die Struktur der Artikel folgt der ihnen eigenen Sachlogik, sodann aber den Merkmalen des Themas, Sachbericht, Forschungsstand und Relevanz für das Lehren und Lernen von Sprachen. Insgesamt spiegeln die in diesem Handbuch aufgenommenen Artikel den fremdsprachendidaktischen Diskurs um Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in ihren vielfältigen Bezügen: aktuelle gesellschaftliche, politische und pädagogische Fragen um Sprach- und Sprachenpolitik, Erst-, Zweit- und Fremdsprachen, Herkunftssprachen und lernrelevantes Sprachwissen, Spracherwerb und Integration, bilinguales Lernen, Sprachenwachstum und Kompetenzmessung, Kompetenzen und Methoden. * Mit der Vielfalt der Beiträge will dieses Handbuch den state of the art der Forschungen und die zahlreichen praktischen Erfahrungen und Perspektiven auf dem Feld der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik darstellen und so einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Diskurse im Rahmen aktueller erziehungswissenschaftlicher, erst-, zweit- und fremdsprachendidaktischer, z.T. sachfachdidaktischer und allgemein gesellschaftspolitischer Fragen unserer Zeit leisten. 15 Literatur Bennett, M. J. 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In Bezug auf das Konzept „Sprache“ setzen viele den Akzent nicht mehr auf Sprache als ein von anderen Sprachen abgrenzbares linguistisches System, das unabhängig vom Sprecher/ Lerner gedacht wird, sondern auf Sprache als Ressource bzw. Mehrsprachigkeit als integratives Repertoire der Lernenden, mit Hilfe dessen sprachlich gehandelt wird. Mit „Sprachlichkeit“ wird also ein subjektorientiertes Sprachkonzept zum Ausdruck gebracht. Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie „Kultur“ bzw. „Kulturalität“. Während Kultur lange (und zum Teil auch heute) als ein abgrenzbares, beobachtbares System betrachtet und diesem i. d. R. ein gewisses Maß an Homogenität zugeschrieben wurde, verschiebt sich der Blick nun eher auf ein diskursiv-reflexives Verständnis von Kultur (↗ Art. 32), d. h. Kultur bzw. Kulturalität wird als Vermögen zur Sinn- und Bedeutungsstiftung und damit auch als gesellschaftliche Praxis verstanden (Gutmann 1998). Interessant und folgerichtig ist, dass im Laufe dieser epistemologischen Entwicklungen auch essentialistische Vorstellungen von Identität dekonstruiert wurden (↗ Art. 40). Darüber hinaus spielt Identität für sprachdidaktische Überlegungen eine immer wichtigere Rolle. Sowohl in interkulturellen Ansätzen (v. a. im europäischen Raum) als auch in sozio-kulturellen Ansätzen (u. a. im US-amerikanischen Raum) wird die Bedeutung von Identität für das Verständnis von Sprachlern- und -lehrprozessen stark hervorgehoben. 2. Sprachlichkeit Das Konzept „Sprachlichkeit“ - im Gegensatz zu „Sprache“ - beinhaltet vor allem drei Aspekte, die für die Didaktik der Sprachen und A Sprachlichkeit und Kulturalität 18 AdelheidHu verwandte Forschungsbereiche von Bedeutung sind. Zum einen wird die Perspektive auf die Akteure gerichtet, d. h. Sprache wird nicht, wie in strukturalistischen Sprachauffassungen üblich, als vom Sprecher/ Lerner getrenntes „sprachliches System“ verstanden, sondern als soziale Praktik der Lernenden selbst und Teil ihrer Identität. Diese Positionierung beinhaltet eine Abwendung von vorrangig kognitiv-mentalistischen Auffassungen von Sprache bzw. Spracherwerb. Kennzeichnend hier ist etwa die einflussreiche Debatte um einen Artikel von Firth & Wagner (1997; 2007), in dem diese eine vorrangig kognitiv ausgerichtete Spracherwerbsforschung und damit einhergehende Konzepte wie z. B. das Konzept des native speaker , von interlanguage oder Input/ Output kritisieren und im Gegenzug ein poststrukturalistisches Konzept von Sprache bzw. Sprachenlernen/ Spracherwerb eingefordert hatten. Sprache wurde von ihnen nicht individualistisch, monolingual und formalistisch verstanden, sondern eindeutig praxeologisch, sozial und kontextgebunden (2007: 802). Wie später Pennycook (2010) feststellt: To look at language as a practice is to view language as an activity rather than a structure, as something we do rather than a system we draw on, as a material part of social and cultural life rather than an abstract entity. (Pennycook 2010: 2) Diese Position führte u. a. dazu, im deutschen Sprachraum von „Sprachlichkeit“ bzw. auch von „Spracherleben“ (Busch 2013: 18 ff.) zu sprechen und stärker in den Blick zu nehmen, wie Menschen - und zwar individuell wie auch kollektiv - Bedeutung und Bedeutungssysteme konstruieren, inszenieren oder erzählen. Die Lernenden werden als sinnstiftende, reflektierende und sich erinnernde Wesen verstanden (vgl. Hu 2013). Im englischsprachigen Raum spricht man zunehmend auch von „Languaging“ (Swain 2006), betont also durch die verbale Form den Handlungscharakter von Sprache. Eine zweite wichtige Dimension dieses soziokulturellen Verständnisses von Sprache bzw. Sprachlichkeit in Lehr-Lernzusammenhängen betrifft die Idee des Sprachenrepertoires. Mit Rückgriff auf Gumpertz (1964) und Bakhtin (1981) wird Sprachenrepertoire z. B. bei Busch folgendermaßen definiert (2013: 20): Das Repertoire wird als Ganzes begriffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile, Register, Codes und Routinen einschließt, die die Interaktion im Alltag charakterisieren. Es umfasst also die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die Sprecher_ innen einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen, um (soziale) Bedeutungen zu vermitteln. Dieses Konzept ist der bislang eingebürgerten Vorstellung von Monolingualismus diametral entgegengestellt, da es die scharfen Trennungen zwischen Einbzw. Zweisprachigkeit wie auch generell die Vorstellung von klar voneinander abgrenz- und zählbaren Sprachsystemen (L1, L2) aufbricht und auf grundsätzlich vorhandene „heteroglossische Ressourcen“ verweist (↗ Art. 2). Ein dritter wichtiger Aspekt betrifft den Zusammenhang von Sprache und Identität. Im angloamerikanischen Raum hat vor allem Norton auf die enge Verbindung von Sprachenlernen und Identität hingewiesen: Whereas some linguists may assume, as Noam Chomsky does, that questions of identity are not central to theories of language, we as L2 educators need to take this relationship seriously. The questions we ask necessarily assume that speech, speakers and social relationships are inseparable. 19 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität […] In this view, every time language learners speak, they are not only exchanging information with their interlocutors, they are also constantly organizing and reorganizing a sense of who they are and how they relate to the social world. They are in other words, engaged in identity construction and negotiation. (Norton 1997: 410) Aus der Perspektive dieser soziokulturellen Theorien sind Sprachenlernende Mitglieder sozialer und historischer Gemeinschaften, die Sprache als dynamisches Werkzeug - nicht zuletzt zur Aushandlung von Identität - verwenden. Es ist bemerkenswert, dass die Entwicklungen in der Identitätstheorie und in den soziokulturellen Ausrichtungen von Spracherwerbsforschung (↗ Art. 51) und Didaktik der Sprachen durchaus konvergierende Züge aufweisen, wie im Folgenden dargestellt wird. 3. Identität Identität ist ein transdisziplinäres Konzept, das vor allem in den Geistes- und Humanwissenschaften und nicht zuletzt auch in der Mehrsprachigkeitsforschung und der Didaktik der Sprachen eine wichtige Rolle spielt. Drei Entwicklungsstränge in der Identitätstheorie sind - gerade in Bezug zum Thema „Sprachlichkeit“ - besonders hervorzuheben: die Dekonstruktion eines essentialistischen Subjektbzw. Identitätsbegriffs (↗ Art. 40), das Konzept der narrativen Identität sowie die Betonung der jeder Identität inhärenten Dynamik und Hybridität. Seit der nach-idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts und dem Beginn der Psychoanalyse setzt eine kritische Hinterfragung der Vorstellung eines rational-autonomen Subjekts ein (Nünning 2001: 613). Insbesondere poststrukturalistische Philosophen wie Jacques Lacan, Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida dekonstruieren die Vorstellung eines substanziell essentialistischen und selbstbestimmten Subjekts. Die Vorstellung von Identität im Sinne eines reifizierbaren Vorliegens eines Sachverhalts wird unhaltbar; Identität muss vielmehr als prinzipiell unvollständige und unvollendete Aspiration verstanden werden, […] als Fluchtpunkt einer sozialen Praxis, in deren Rahmen der Einzelne ins Verhältnis zu sich selbst tritt und sein Handeln am Horizont der gewünschten Autonomie des eigenen Selbst orientiert. (Straub 2004: 280) Bei Jacques Lacan z. B. wird die traditionelle Subjektvorstellung aus psychoanalytischer Perspektive in ein neues Licht gerückt. Die Rolle der Sprache gewinnt hier für die Genese des Subjekts einen zentralen Stellenwert: In der Lacanschen Entwicklungsgeschichte des Kleinkinds identifiziert sich das Kind noch vor dem Spracherwerb über sein Spiegelbild mit einem imaginären, ganzheitlichen und autonomen Ich (Spiegelstadium). Mit dem Spracherwerb erweist sich dieses Ich jedoch noch deutlicher als unerreichbar. Um ein soziales Subjekt werden zu können, muss der Einzelne in die von der Sprache verkörperte symbolische Ordnung eintreten, die seiner Existenz vorgängig ist und ihm nur dann die Möglichkeit bietet, sich auszudrücken und eine symbolische Identität anzunehmen […]. Darüber hinaus bedeutet der Eintritt in die Sprache eine Subjektspaltung. Das Ich, das spricht (sujet d‘ énonciation), ist ein anderes, als das Ich, das im Diskurs repräsentiert wird (sujet d’énoncé). (Nünning 2001: 613) Identität erscheint hier als der Ordnung des Imaginären zugehörig und stellt letztlich immer ein Trugbild dar. 20 AdelheidHu Bei Michel Foucault handelt es sich hingegen weniger um eine psychoanalytische als um eine historisch begründete Kritik klassischer Subjektvorstellungen. Foucault geht von einem Subjektbegriff aus, der das Moment der Unterwerfung (lat. subicere = unterwerfen) ins Zentrum rückt und zwar der Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und der Unterwerfung der Diskurse unter die sprechenden Individuen (Foucault 1994, 246). Gegen die Idee der Voraussetzungslosigkeit von Sprache und sprachlich handelndem Subjekt stellt Foucault die Bedingungen für die Legalisierung von Diskursen ins Zentrum. In diesen Ansätzen innerhalb der Identitätstheorie spielt die Sprache - im Sinne von Diskurs - eine wichtige Rolle. In explizit narrativen Konzeptionen von Identität wird dieser Aspekt noch stärker hervorgehoben und die Verknüpfung von Selbst und Sprache in besonderer Weise betont, z. B. bei Jerome Bruner (1990), Anthony P. Kerby (1991), Alisdair Macintyre (1995) und Paul Ricoeur (1985). Während traditionellerweise das essenzielle Selbst der Sprache übergeordnet wurde, wird hier das Selbst als durch Sprache konstituiert verstanden: Our own existence cannot be separated from the account we can give of ourselves. It is in telling our own stories that we give ourselves an identity. We recognize ourselves in the stories that we tell about ourselves. It makes very little difference whether these stories are true or false, fiction as well as verifiable history provides us with an identity. (Ricoeur 1985: 214) Die eigene Identität wird also durch Geschichten konstituiert: On a narrative account, the self is to be construed not as a prelinguistic given that merely employs language, much as we might employ a tool, but rather as a product of language - what might be called the implied subject of self-referring utterances. (Kerby 1991: 4) Das Erzählen von Geschichten ist damit keine bloße Beschreibung von identitätsrelevanten Ereignissen, sondern eine komplexe Sprechhandlung mit psychosozialen Funktionen, wodurch ein performatives Wissen eigener Art zum Ausdruck gebracht wird (Straub 2004: 286). Der dritte wichtige Entwicklungsstrang, der in direktem Zusammenhang mit den bisher skizzierten Entwicklungen steht, betrifft die Konzeption „hybrider Identitäten“ (↗ Art. 100). In Abwendung von vereinfachenden Konzepten, die eine saubere Überlappung von Selbst, Sprache und kulturellem Ort implizieren, werden nun Subjekte als „mehrfach codierte, komplexe Identitäten“ (Bronfen & Marius 1997: 7) konzipiert, wobei diese Identitäten als narrative Leistungen verstanden werden. So z. B. bei Stuart Hall, einem der einflussreichen Theoretiker in diesem Kontext: Identities are never unified and in late modern times increasingly fragmented and fractured, never singular but multiply constructed across different often intersecting and antogonistic discourses, practices and positions. (1996: 4) 4. Kulturalität Nicht nur zwischen Sprachlichkeit und Identität bestehen somit enge Bezüge, auch in der jüngeren Kulturtheorie spielen Sprache und Identität eine zentrale Rolle. Zunächst einmal ist auch hier ist eine Abwendung von essentialisierenden und gleichzeitig eine Hinwendung zu diskursiv-reflexiven Konzeptionen von Kultur festzustellen (Bachmann-Medick 1996; Göller 2000; Hörning & Winter 1999). Weit- 21 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität gehend Konsens herrscht etwa darüber, dass Kulturen nicht unabhängig von der Perspektive der Betrachter existieren. Auch die lange Zeit vorherrschende Vorstellung von Kulturen als kohärenten und voneinander abgrenzbaren Entitäten mit jeweils kulturspezifischen Charakteristika, die in Alltagstheorien durchaus immer noch lebendig ist, gilt weitgehend als obsolet. Eine auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinende Situation kristallisiert sich dabei heraus: Gerade in den letzten Jahren hat im Zusammenhang der kulturwissenschaftlichen Diskussion, die interdisziplinär alle Fächer der Humanwissenschaften umfasst, eine intensive Dekonstruktion der althergebrachten essentialistisch-objektivistischen Konzeptionen stattgefunden. Gleichzeitig aber entwickelt sich das Konzept Kultur zu einer Schlüsselkategorie, die als Basiskonzept grundlegend für jede verstehende Wissenschaft ist und gesellschaftliche Praxis als kulturelle Leistung begreift. Lawrence Grossberg pointiert diese aktuelle Situation zutreffend, wenn er sagt: „Cultural Studies müssen in gewisser Hinsicht darum ringen, der Kultur zu entfliehen, wenn sie die Macht der Kultur entdecken wollen“ (Grossberg 1999: 82). Kultur wird nicht als Form von Wissenssystem oder als Form von Vergesellschaftung begriffen, ebenso wenig als naturgegebener, fixierbarer Realitätsbereich. So heißt es zum Beispiel bei Mathias Gutmann aus der Perspektive der Kulturphilosophie: Als wesentliches Arbeitsergebnis der Rekonstruktion ergibt sich für den Kulturbegriff in seiner reflexiven Verwendung, dass missverständliche Formulierungen vermieden werden können. ,Wir’ leben weder in einer ,Kultur’, noch ,in einer Tradition’. (…) Eine wesentliche Aufgabe systematischer Philosophie der Kultur liegt demzufolge - unter Verzicht auf solche falschen Vertrautheiten - in der kritischen Analyse gesellschaftlicher Praxen als kultureller Leistungen. (Gutmann 1998: 329) Kultur wird also vielmehr als strukturierende, expressiv-ästhetische und deutende Praxis von Personen gesehen, als deren Vermögen, der Welt Bedeutung zu verleihen, Identitäten zu schaffen, aber auch Machtinteressen durchzusetzen. Hartmut Böhme definiert in seiner Einführung in die Kulturwissenschaften: Kultur erscheint als ein Prozess fortschreitender reflexiver Semantisierung, durch welche ununterbrochen Sinnressourcen geschaffen und distribuiert, aber auch subvertiert und zerstört werden. (Böhme 2012: 33) Böhmes Formulierung „reflexive Semantisierung“ impliziert bereits einen weiteren Aspekt, das Verhältnis von Kultur und Sprache , oder mit anderen Worten, Kultur als diskursive Praxis. Dazu noch einmal Stuart Hall: Eine nationale Kultur ist ein Diskurs, eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassung von uns selbst beeinflusst und organisiert. (Hall 1994: 201) In diesem Verständnis sind Kultur und Sprache wiederum untrennbar miteinander verbunden. Sprache, die - verstanden in einem weiten semiotischen Sinne - Körpersprache, Musik, Stimme usw. mit einschließt, ist eines der wichtigen Medien, in denen kulturelle Praxis stattfindet. Auch aus der Perspektive der Kulturphilosophie wird dieser Aspekt betont, z. B. bei Thomas Göller: Menschliche Sinnstiftung, intra- oder interkulturelle Kommunikation und Interaktion wie auch menschliche Selbst-, Fremd- und Weltbezüglich- 22 AdelheidHu keit bzw. menschlich-kulturale Sinnbestimmung überhaupt, ist in erster Linie an Sprache gebunden bzw. sprachlich vermittelt. Das gilt für alle Formen intrawie interkulturellen Austausches. (…) Sprache und Kultur sind aufs engste miteinander verwoben. (Göller 2000: 330 ff.) In deutlicher Parallele zum Identitätsdiskurs wird bei diesem reflexiven und diskursiven Kulturverständnis der Akzent weniger auf kollektiven Konsens gelegt. Jetzt stehen vielmehr Differenzen, Widerstreit, Synkretismus, Hybridität sowie idiosynkratische Deutungsmuster und Verarbeitungen im Mittelpunkt. Kultur wird nicht - wie bislang üblich - als „integrativer Kitt“ einer Gesellschaft (Hörning & Winter 1999: 8) gesehen, sondern im Gegenteil ist nun die Entlarvung von kultureller Homogenität als Inszenierung Ziel der reflexiv-kritischen Arbeit: Die in der Soziologie dominierende Auffassung, die Kultur in erster Linie nach der Gemeinsamkeit von Werten und Bedeutungen befragt und als integrativen ,Kitt’ der Gesellschaft vereinnahmt, weisen sie (die Cultural Studies , A.H.) zurück. (…) Kultur ist für die Cultural Studies nicht stabil, homogen und festgefügt, sondern durch Offenheit, Widersprüche, Aushandlung, Konflikt, Innovation und Widerstand gekennzeichnet. (…) Nicht die integrative Funktion von Kultur, sondern der Kampf um Bedeutungen’ (Lawrence Grossberg), der nie zu beendende Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken bestimmt ihre Analysen, die sich auf diese Weise den ,vermischten Verhältnissen’ der sich im raschen Wandel befindlichen Gesellschaften der Gegenwart stellen. (Hörning & Winter 1999: 9) Auch hier taucht wieder prominent die Metapher der Hybridität auf: Wenn, wie ich gesagt habe, der Akt kultureller Übertragung den Essentialismus einer vorher bestehenden, originären Kultur in Abrede stellt, dann erkennen wir, dass alle Formen von Kultur sich in einem andauernden Prozess der Hybridität, der Kreuzung und Vermischung, befinden. Für mich liegt die Bedeutung der Hybridität jedoch nicht darin, dass man sie auf zwei Ursprungselemente zurückführen könnte, aus denen das dritte entsteht, vielmehr ist die Hybridität für mich der ,dritte Raum’, aus dem heraus andere Positionen entstehen können. (Bhabha 1990: 211; hier zitiert nach Chambers 1996: 78) Statt Ursprung, Einheit, Reinheit und Zentriertheit von Kultur wird hier der Vermischung und dem Dazwischen Gewicht verliehen, was sich u. a. in einer veränderten Rhetorik und Metaphorik zeigt (vgl. Hu 2005). Auf der Basis des reflexiv-diskursiven Kulturbegriffs, der den Akzent einerseits auf Widerstreit, andererseits auf Vermischung legt, rückt der Aspekt der Macht ins Zentrum (vgl. Gilroy 1999; Grossberg 1999). Normative Kulturkonzepte werden als „metaphorisch-metonymische Vehikel zur Durchsetzung von Machtinteressen“ (Wägenbaur 1995: 23) erkannt. Typisierende und objektivierende kulturelle Abgrenzungen können auf dieser Basis als rhetorische Mittel zum Erreichen dieser Ziele beschrieben bzw. - im Sinne kritischer Diskursanalyse - kritisiert werden. Dazu noch einmal Hall: Wir sollten nationale Kulturen nicht als etwas Einheitliches, sondern als einen diskursiven Entwurf denken, der Differenz als Einheit oder Identität herstellt. Sie sind von tiefen inneren Spaltungen und Differenzen durchzogen und nur durch die Ausübung ,kultureller Macht ‘ ,vereinigt‘. (Hall 1994: 206) 23 1. Sprachlichkeit,Identität,Kulturalität 5. Fazit Bei Sprache/ Sprachlichkeit, Identität sowie Kultur/ Kulturalität handelt es sich um Kernkonzepte der Human- und Sozialwissenschaften, insbesondere auch für pädagogische und sprachdidaktische Forschungsbereiche. Im Zuge poststrukturalistischen Denkens und den damit einhergehenden epistemologischen Neuorientierungen kristallisiert sich zunehmend die Interdependenz dieser drei Konzepte heraus. Sprache - nun verstanden als soziale Praxis - bildet in dieser Sichtweise die Wirklichkeit nicht ab, sondern erschafft diese. Gleichzeitig werden Sprachen nicht mehr als trennbare systemische Einheiten verstanden, sondern als heteroglossische Ressourcen von Personen. Essentialisierende Vorstellungen von Identität werden dekonstruiert und dagegen im Sinne narrativer, also sprachlich-diskursiv hervorgebrachter Identitäten konzeptionalisiert. Auch hier wird der Akzent zudem auf die grundsätzliche Hybridität von Identität gelegt. Das gleiche gilt für Kultur bzw. Kulturen. Kultur und Sprache werden in engster Verbindung gesehen, und normative Kulturkonzepte als Strategie zur Durchsetzung von Machtinteressen interpretiert. Zudem wird auch hier der Fokus auf Vermischung, intrakulturelle Differenzen und Widerstreit bzw. den Inszenierungscharakter von Homogenität gelegt (↗ Art. 40). Für aktuelle Positionen innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung waren diese Entwicklungen von großer Bedeutung. So sind die Vorstellungen etwa von plurilinguisme (im Gegensatz zu additiv verstandenem multilinguisme “ (z. B. bei Coste, Moore & Zarate 2009) (↗ Art. 18, 19), die Theorie des Translanguaging (z. B. bei Garcia & Li 2014), aber auch Theorieentwicklungen in der Mehrkulturalitätsforschung, etwa die Konzeption von Transkulturalität (z. B. bei Welsch 1997) durch die veränderten Verständnisweisen von Sprache, Kultur und Identität geprägt. Literatur Bakhtin, M. (1981): The dialogic Imagination. Four Essays by M.M. Bakhtin . Austin. Bhabha, H. (1990): Nation and Narration . London. Böhme, H. (2012): Kulturwissenschaft. In: R. Konersmann (Hrsg.): Handbuch Kulturphilosophie . Stuttgart/ Weimar, 31-38. Bronfen, E. & Marius, B. (1997): Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte. In: E. Bronfen, B. Marius & T. Steffen (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte . Tübingen, 1-30. Bruner, J. (1990): Acts of Meaning . Cambridge, Mass. Busch, B. (2013): Mehrsprachigkeit . Wien. Chambers, I. 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Spracherwerb ist immer individuell, idiosynkratisch, dynamisch und sozial geprägt. Er setzt frei nach Chomsky neben einem Spracherwerbsapparat ( language acquisition device , LAD) soziale Interaktion, ein social support system (LASS), zwischen einem Erwerber und weiteren beteiligten Personen voraus. Auch diese sind natürlich durch ihre jeweilige Sozialisation geprägt und Träger von Idiolekten. Die mentale Verarbeitung von Sprache ist nicht einseitig erwerbsfixiert: Sprachkompetenz kann sich auch zurückbilden (vgl. Attrition). Wie die Lernpsychologie zwischen intentionalen und inzidentiellem Lernen trennt, so unterscheiden Erst- und Zweitsprachenerwerbsforschung unter dem Dachbegriff der Appropriation zwischen dem nicht initial intentionierten Erwerb ( acquisition ) und dem stärker institutionell unterstützten und/ oder individuell intentionierten Lernen ( apprentissage ). Natürlich verfügen beide Akquisitionswege über gemeinsame Schnittmengen. Erwerben durch Sprachkontakt bzw. interkulturelle Kommunikation ist prinzipiell in jedem Alter möglich, ob durch eine konkrete Erwerbsabsicht unterstützt oder nicht (Busch 2016). In spracherwerbstheoretischer Sicht erscheint es sinnvoll, Sprachkontaktsituationen danach zu taxieren, inwieweit sie ungesteuert oder unfokussiert, implizit und unbewusst ablaufen. Ein weiterer wichtiger Parameter ist der Grad an Freiwilligkeit bzw. Gezwungenheit, welcher als Ausgangspunkt für die Sprachkontaktsituation dient. Auch hier gibt es fließende Übergänge und die Möglichkeit des Gleitens von einem Modus in den anderen im Verlauf der Beschäftigung (Sprachnutzung, Sprachenbewusstheit) mit Sprachen; und zwar in bivalenten Richtungen, etwa hin zu einer stärkeren Motiviertheit zugunsten des Erwerbs einer Sprache oder aber zu einer Ausbildung einer wachsenden Aversion. Die Kreolistik zeigt uns, dass gerade auch ‚verbotene Sprachen‘ oft recht leicht gelernt werden, weil die Existenz von Hürden und Hindernissen die Motivation zum Lernen anregen kann (Ehrhart 2012). Insbesondere das oft versteckte sprachliche Potential der Arbeitswelt (mit Machtstrukturen für die multinationalen Betriebe, welche denen von Staaten durchaus ähneln können) ist in letzter Zeit in den Fokus des Interesses gerückt (↗ Art. 24); nicht nur in den Sprach-, sondern auch den Wirtschaftswissenschaften (Barner-Rasmussen et al. 2014). Über eine sinnvolle Verwendung der Mehrsprachigkeit im Bereich der internationalen Forschung (Steyaert & Janssens 2012) sowie im Rahmen von europäischen oder internationalen Institutionen (Gazzola & Grin 2013) und in der Weltpolitik (Ricento 2015) wird ebenfalls diskutiert (↗ Art. 9). Seit einigen Jahren wird auch immer mehr die Verbindung zwischen Migration bzw. Mobilität einerseits (Pellerin 2011) und dem Sprachwandel durch zunehmenden Sprachkontakt andererseits herausgestellt (Krefeld 2004; Stehl 2005; Garcίa 2009). Rezente Forschungen zum Postkolonialismus und den jüngsten Migrationsbewegungen zwischen dem Nahen Osten und Mittelbzw. Westeuro- 26 SabineEhrhart pa und deren Bezug zum sprachlichen Handeln führen diese Gedanken weiter (z. B. Kalocsányiová 2017). Die neuesten europäischen Richtlinien mit einer Erweiterung des weithin bekannten Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) des Europarats von 2001 unterstreichen die Notwendigkeit einer plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz für die Bürger der Europäischen Union und darüber hinaus (Council of Europe 2018) (↗ Art. 18). Dieses neue und in seiner allgemeinen Ausrichtung nicht unumstrittene Dokument ersetzt die Zielvorstellung des native speakers durch die mehrsprachige Person, welche mit den sprachlichen und kulturellen Verhaltensweisen eines Landes vertraut ist (North & Piccardo 2016: 47). All diese Entwicklungen in Richtung einer immer stärkeren Fluidität des Raumes und einer wachsenden Mobilität der Sprechergruppen müssen in aktuellen Studien berücksichtigt werden, sodass eine klare Unterscheidung zwischen territorialer (im Raum verankerter) und gesellschaftlicher (in den Sprechergemeinschaften verankerter) Mehrsprachigkeit immer weniger möglich sein wird. Die aktuelle Grenzraumdidaktik beschäftigt sich mit derlei Fragen. Dabei sollten die vielfältigen Gegenreaktionen mit einbezogen werden - so die erneute Verstärkung von nationalen Grenzen, welche in der jüngsten Vergangenheit zu beobachten ist. Spolsky 2009 nennt die Bereiche, in welchen sich Sprachkontaktphänomene finden lassen, das sind die Familie im weiteren Sinn (family language policy) , religiöse und kulturelle Vereinigungen, Arbeitsbeziehungen und Handel, der öffentliche Raum, das Gesundheitswesen und das Militär sowie die Verwaltung, die Forschung und das Erziehungswesen auf allen Stufen. Die Diglossie bezeichnet mehrsprachige Situationen mit Sprachgruppen, welche über ein unterschiedliches politisches und gesellschaftliches Gewicht verfügen, auch hier sind oft keine klaren Abgrenzungen mehr festzustellen, die Übergänge sind eher fließend und aushandelbar. Im Sinne der Sprachökologie (Fill & Mühlhäusler 2001; Fill & Penz 2018) ist es nicht von Bedeutung, streng zwischen der individuellen Entstehung der allgemeinen Sprachfähigkeit und der spezifischen Ausbildung von Kenntnissen in einer oder mehreren Sprachen zu trennen. Jedes Inviduum entwickelt das sprachliche Repertoire, welches an seine Umgebung angepasst und dort auch stimmig ist; sei dies aus geografischer, sozialer, kultureller oder politischer Sicht. Es gibt kein Sprachenrepertoire, welches völlig einem anderen gleicht, es ist Folge individueller Lebenswege und bleibt ein Leben lang in Bewegung und in Kontakt mit den jeweiligen wechselnden Umwelten. Kein Mensch ist völlig einsprachig, er verfügt auf jeden Fall über verschiedene Register, diatopische, diastratische und diaphasische Varianten bzw. Soziolekte; gleichzeitig kann man auch die innere Mehrsprachigkeit einer jeden Sprache beobachten, die sich jeweils aus Elementen verschiedenster Herkunft zusammensetzt. Sprache und Nation sind seit dem Beginn der Sprachwissenschaft fast immer als untrennbares Paar aufgetreten (↗ Art. 10, 11). In den letzten Jahrzehnten wurde diese Verbindung immer stärker in Frage gestellt, zunächst durch die Soziolinguisten, welche auf die Bedeutung von Varietäten hinwiesen, die keine Armee, keine Akademie oder kein Erziehungssystem als Stütze hinter sich hatten und welche zahlenmäßig oder auch nur symbolisch schwächer waren als die groβen, mit den Nationalstaaten identifizierten und von diesen geschützten Sprachen. Neue kritische Anstöße kommen nun vor allem durch Autoren, die mit anderen Kultur- 27 2. Staatliche(kollektive)undindividuelleMehrsprachigkeit kreisen und nicht nur dem europäisch-nordamerikanischen Raum in Verbindung stehen wie Pennycook und Otsuji (2015) oder Makoni und Pennycook (2007): sie dekonstruieren das Konzept von Sprache allgemein und sehen eher ein Mosaik an Äuβerungen, deren Verständlichkeit durch komplexe Austarierungsprozesse oder auch Akkomodationsprozesse gewährleistet wird, bei denen sich alle Partner auf die anderen einstellen, es wird nicht nur einseitig ein Integrationswille verlangt. Diese Beobachtungen in Räumen mit intensivem Sprachkontakt werden im Rahmen der Globalisierung immer repräsentativer für die Gesamtheit der Kommunikationssituationen auf der Welt. Ehrhart und Mühlhäusler oder Garcίa unterstreichen die Rolle von kleineren Sprechereinheiten als der Nation, den speech communities ; gerade aufgrund ihrer persönlichen Migrationserfahrung sehen sie auch die Dynamik von Sprecherbiografien, sie zeigen durch ihre Forschungen ebenfalls, dass man sich auch zu mehreren Gemeinschaften (hintereinander oder auch gleichzeitig) zugehörig fühlen kann. Der monolinguale Habitus (nach Gogolin 1994) ist oft nur ein Ausblenden oder sogar ein bewusstes Verdecken der tatsächlich überall auf der Welt herrschenden sprachlichen Diversität. Es wird immer klarer, dass diese Vielfalt auch in Ländern existiert, die offiziell als einsprachig ausgewiesen werden (hier werden häufig Frankreich und Spanien genannt, für beide jedoch auch schon mit sehr unterschiedlichen Sprachenpolitiken), nur ist sie da verdeckter als in z. B. Luxemburg oder in Kanada, welche einige (aber nicht alle) im Land gesprochenen Sprachen auf staatlicher Ebene ausweisen. Die Gleichung „Sprache entspricht Nation“ wird somit durch die innere Vielfalt der Länder aufgebrochen, und ebenfalls durch die Existenz von Ländern, welche sich eine gemeinsame Sprache oder Varietäten davon teilen. Fragestellungen dieser Art sind Inhalt der in ihrer Bedeutung stark anwachsenden Grenz(sprachen)didaktik (↗ Art. 101). Andererseits ist Sprache nicht der einzige verbindende Faktor für politische und soziale Einheiten: die Arbeiten von Canagarajah und Wurr (2011) eröffnen über die erziehungspolitischen Aspekte der Sprachen hinaus neue Perspektiven. So zitieren sie Kubachdanis Beschreibung des vielsprachigen Indiens, in dem ein Gemeinschaftsgefühl nicht unbedingt durch eine gemeinsame Sprache entstehen muss, es kann sich vielmehr auch allein durch das gemeinsam bewohnte und bewirtschaftete Land entwickeln. Dies erinnert an die Veröffentlichungen von Hartmut Rosa (2007), der den in letzter Zeit sehr strapazierten Begriff der Heimat wissenschaftlich neutraler als „eine Umgebung, die ich mir anvertraut habe“ definiert. Caroline Patzelt zeichnet ein eindrucksvolles Bild von “Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften“ anhand ihrer Beschreibung der sehr mobilen Gesellschaft von Französisch-Guayana mit einer sprachlichen Vielfalt, welche „mit traditionellen soziolinguistischen Modellen nicht erklärbar scheint und die auch verschiedene Minderheitensprachen mit oftmals geringer Anzahl an L1-Sprechern dauerhaft erhält, wie diese Vielsprachigkeit im Alltag einer multikulturellen und -lingualen Gesellschaft konkret funktioniert und inwiefern auch solch komplexe sprachliche border -Konstellationen möglicherweise einer gewissen Regelhaftigkeit bzw. Systematik unterliegen“ (2016: 3, ohne Fuβnoten). Sie weist darauf hin, dass in diesen fluiden Gesellschaften „Stabilität durch Mobilität“ (S. 177) erreicht werden kann. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die traditionelle Aufteilung in plurilinguisme 28 SabineEhrhart als Mehrsprachigkeit des Individuums und multilinguisme als Mehrsprachigkeit auf territorialer, gesellschaftlicher oder kollektiver Ebene nicht mehr ausreicht. Auch die Erweiterung in den Einleitungskapiteln des Referenzrahmens von 2001, welcher Multilingualismus als eine getrennte Behandlung von Sprachen dem Plurilingualismu s und seiner holistischen Sicht einer Sprachenlandschaft mit unter sich vernetzten Sprachen entgegensetzt (die englische Sprache unterschied lange Zeit überhaupt nicht und verwendete für alle beide multilingualism ), ist nicht mehr ausreichend (↗ Art. 18). Für Situationen mit ausgeprägtem Sprachkontakt und einer engen Verknüpfung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Bereich schlagen wir daher den Begriff multiplurilingue vor (Bes & Ehrhart, in Vorbereitung). Diese hochgradig mehrsprachigen Kontexte werden heute noch häufig als Ausnahmesituationen betrachtet, in der Gesellschaft der Zukunft werden sie jedoch die Regel sein. Literatur Busch, B. (2016): Gehört werden. Sprachrepertoire und Spracherleben im Zeichen sozialer Exklusion. In: Forschung Sprache 2, 37-48. Barner-Rasmussen, W., Ehrnrooth, M., Koveshnikov, A. & Mäkelä, K. (2014): Cultural and Language Skills as Resources for Boundary Spanning within the MNC. In: Journal of International Business Studies 45/ 7, 886-905. Bes, A. & Ehrhart, S. (in Vorb.): A Multiplurilingual Space for Language Education. How can Teacher Education respond to the Linguistic and Cultural Diversity in a Given Place? In: Voces y Silencios . Bogotá. Canagarajah, A. S. & Wurr, A. J. 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(2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Gazzola, M. & Grin, F. (2013): Is ELF more Effective and Fair than Translation? An Evaluation of the EU’s Multilingual Regime. In: International Journal of Applied Linguistics 23/ 1, 93-107. Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule . Münster. Kalocsányiová, E. (2017): Towards a Repertoire-Building Approach: Multilingualism in Language Classes for Refugees in Luxembourg. In: Language and Intercultural Communication 17/ 4, 474-493. Krefeld, T. (2004): Einführung in die Migrationslinguistik . Tübingen. Langinier, H., Barner-Rasmussen, W. & Ehrhart, S. (in Vorbereitung): Introduction of a Common Corporate Language: Experiences 29 3. MehrsprachigkeitinEinwanderungsgesellschaften of a Best-Practice Scenario. In: Publications of GEM&L . Paris, Toulouse. Makoni, S. & Pennycook, A. (2007): Disinventing and Reconstituting Languages . Clevedon. North, B. & Piccardo, E. (2016): Developing Illustrative Descriptors of Aspects of Mediation for the CEFR . Strasbourg. Patzelt, C. (2016): Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften . Stuttgart. Pellerin, H. (2011): De la migration à la mobilité: changement de paradigme dans la gestion migratoire. Le cas du Canada. In: Revue Européenne des migrations internationales 27/ 2, 57-75. Pennycook, A. & Otsuji, E (2015): Metrolingualism. Language in the City . Routledge. Ricento, T (2015): Language Policy and Political Economy. English in a Global Context . Oxford. Rosa, H. (2007): Heimat im Zeitalter der Globalisierung. In: Der Blaue Reiter - Journal für Philosophie 23, 13-18. Spolsky, B. (2009): Language Management . Cambridge, New York. Stehl, T. (2005): Unsichtbare Hand und Sprecherwahl. Typologie und Prozesse des Sprachwandels in der Romania . Tübingen. Steyaert, C. & Janssens, M. (2012): Multilingual Scholarship and the Paradox of Translation and Language in Management and Organization Studies. In: Organization 20/ 1, 131-142. Sabine Ehrhart 3. Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften 1. Begriffliche und historische Einordnung Eine Darstellung von Mehrsprachigkeit in Einwanderungsgesellschaften sieht sich mit einer kaum überschaubaren Vielfalt an Phänomenen und Fragestellungen konfrontiert. Dennoch lassen sich einige Konzepte identifizieren, die sowohl im Fokus der Migrationsforschung als auch der Mehrsprachigkeitsforschung stehen. Die dabei zentrale Frage ist die nach der sprachlichen Integration von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft (↗ 105) und den Möglichkeiten ihrer Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen (vgl. Maas 2008). Integration und Partizipation werden maßgeblich durch die Sprachpolitik staatlicher und suprastaatlicher Akteure, durch das sprachliche/ soziale Handeln in Kindergärten, Schulen, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen etc. bestimmt. Insbesondere seit 2015 diskutieren die Länder der Europäischen Union gleichermaßen intensiv wie kontrovers „die Flüchtlingskrise“ und erzeugen hierbei den Eindruck, es handle sich um eine historische Ausnahmesituation. Dabei wird übersehen, dass Wanderungsbewegungen seit jeher Teil der europäischen Geschichte sind und Europa weit massivere Bevölkerungsverschiebungen erlebte als jene der Gegenwart (vgl. Bade et al. 2010). Umwelt- und humanitäre Katastrophen, Kriege, Gewalt, Vertreibungen, Armut und Hunger sorgen ihrerseits dafür, dass überall auf der Welt Menschen migrieren und potentiell jede Gesellschaft von Einwanderung wie von Auswanderung betroffen ist. Im Zuge des Kolo- 30 JürgenErfurt nialismus entstanden einige der als klassisch verstandenen Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien. Während ein Land wie Israel sozusagen per se eine vielsprachige Einwanderungsgesellschaft darstellt, geht in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, allen empirischen Befunden zu Ein- und Auswanderung zum Trotz, die Leitidee des Nationalstaats - ein Volk, ein Staat, eine Sprache - mit der politischen Ablehnung der Anerkennung und Gestaltung von Einwanderung einher (↗ Art. 10). Erst mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 zeichnet sich hier eine andere Wahrnehmung von Gesellschaft und Immigration ab. 2. Sprachregimes und Strategien des Konfliktmanagements Migration geht geradezu zwangsläufig mit dem Anwachsen sprachlicher Diversität in gesellschaftlichen Räumen einher (↗ Art. 100). Mit Coulmas (2005) wird unter Sprachregimes ein Bündel von Gewohnheiten, rechtlichen Regulierungen und Ideologien verstanden, die je nach sozialem Raum die Praxis der SprecherInnen in der Wahl der sprachlichen Mittel beschränken. Busch (2013: 135) verweist zudem darauf, dass es hierbei nicht nur um normative Regulierungen von Sprache, sondern auch um die Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen und Macht geht (↗ Art. 38). Sprachliche Integration und Partizipation unterliegen den jeweiligen Sprachregimes, die ihrerseits wiederum Einfluss darauf haben, wie sich das sprachliche Repertoire von ImmigrantInnen und MigrantInnen verändert. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Australien war die Zeit der Masseneinwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg aus nicht-englischsprachigen Ländern von einer konsequenten Assimilierungspolitik zugunsten eines einsprachigen Australiens gekennzeichnet. Andere Sprachen als Englisch waren in öffentlichen Räumen, in den Medien, im Buchbestand öffentlicher Bibliotheken usw. weitgehend ausgeschlossen; ImmigrantInnen sollten so bald wie möglich Englisch lernen und „so wie wir“ werden (Clyne 2003). Gegen die auf Einsprachigkeit in Englisch ausgerichtete Assimilierungspolitik und zugleich gegen die repressive und rassistische Minderheitenpolitik richtete sich in Australien, und sukzessiv in vielen anderen Ländern seit den 1970er Jahren, die Politik des Multikulturalismus. Sie wurde 1971 zuerst in Kanada offiziell eingeführt und avancierte hier zum gleichermaßen komplementären wie konkurrierenden Prinzip der offiziellen Zweisprachigkeit und der Bikulturalität. Zwar öffnet der Multikulturalismus mit der Anerkennung der Herkunftskulturen gewisse Räume für mehrsprachige Praktiken, hinter dem Rücken der Beteiligten setzt sich aber, wie die sprachlichen Verhältnisse im anglophonen Kanada zeigen, das Englische als dominante Sprache durch. Gegen die Politik des Multikulturalismus wenden sich das Konzept und die Politik der Interkulturalität, die im Sinne von Integration und Partizipation nicht mehr nur die Toleranz und das Nebeneinander der Kulturen und Sprachen, sondern das Miteinander und den Austausch favorisieren. Die Förderung interkultureller Kompetenzen zielt dabei auf das kulturelle Selbst- und Fremdverstehen und auf das Erlernen von an Mehrsprachigkeit orientierten Strategien (↗ Art. 44), ohne das Erfordernis einer gemeinsam verfügbaren Sprache in öffentlichen Räumen in Frage zu stellen. 31 3. MehrsprachigkeitinEinwanderungsgesellschaften 3. Familie und Schule Mehrsprachigkeit in der Familie als primäre Sozialisationsinstanz für die darin aufwachsenden Kinder (↗ Art. 52) resultiert in der Regel entweder daraus, dass in einer Gesellschaft zwei oder mehrere Sprachen koexistieren und sie so auch in die Familienkommunikation hineinreichen, oder mindestens einer der Partner unter Migrationsverhältnissen lebt und seine Herkunftssprache(n) oder Zweitsprache(n) in der Erziehung der Kinder praktiziert. Im Kontext von Mehrsprachigkeit bedeutet Familiensprache oft jene für die Zwecke der mündlichen Kommunikation und des intimen und informellen Registers verwendete Sprache des Alltags, die - weltweit betrachtet - überwiegend eine andere ist als jene, in der die schriftsprachliche Sozialisation erfolgt. Elementare Aufgabe jeder Schule ist es, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Im Zuge der nationalstaatlichen Entwicklung erfolgt das Lernen in der Regel in der - oder ggf. in einer - Nationalsprache, somit im Modus der Einsprachigkeit. Für das schulische Erlernen weiterer Sprachen fand und findet dabei traditionell das Konzept der ‚Fremdsprache‘ Anwendung, dessen Sinn in vielsprachigen Migrationsgesellschaften jedoch in Frage zu stellen ist. Für Kinder, die bis zum Eintritt in die Schule nicht mit der Nationalsprache vertraut sind (↗ Art. 54), galt - und gilt auch heute noch - das Prinzip der Submersion , d. h. sie werden in die regulären Klassen eingeschult, indem darauf vertraut wird, dass sie im Kontakt mit ihren MitschülerInnen die Schulsprache erlernen. Seit den 1960er Jahren mehren sich die Versuche, der sprachlichen Diversität in den Gesellschaften dadurch Rechnung zu tragen, dass Modelle der Immersion erprobt werden. Hierbei werden SchülerInnen, deren Herkunftssprache eine andere ist als die Sprache der Schule, pädagogisch kontrolliert, vollständig oder teilweise in der Sprache der Schule unterrichtet. Dieses Modell verbleibt im Prinzip im Modus der Einsprachigkeit, es zielt aber auf die Förderung von Zweisprachigkeit. Zweisprachige Modelle sind hingegen solche, in denen das Curriculum in zwei Sprachen dargeboten wird. Im transitorischen Modell werden homogene Klassen für eine gewisse Zeit in der Herkunftssprache der Kinder unterrichtet und ihnen zunehmend Unterricht in der Zweitsprache erteilt, bis sie, meist nach zwei bis sechs Jahren, in die regulären Klassen übergehen. Im Language-maintenance-Modell wird die Herkunftssprache der Kinder bzw. die Sprache des „kulturellen Erbes“ (‚heritage language‘) während der gesamten Schulzeit als Medium eines wesentlichen Teils des Curriculums neben der dominanten Sprache verwendet. Dagegen werden im Modell der reziproken Immersion ( Two-Way-Immersion ) SchülerInnen verschiedener Sprachgruppen, meist je zur Hälfte aus Einheimischen und aus einer Migrantensprachgemeinschaft, in beiden Sprachen unterrichtet. Die Zweisprachigkeit wird in der gesamten Schulzeit verfolgt und hierbei lebensweltliche Sprachpraxis mit der bildungssprachlichen verbunden (ausführlich dazu Reich & Roth et al. 2002). 4. Sprachloyalität und Sprachumstellung Für Menschen, die sich in anderssprachigen Räumen niederlassen, stellt sich notwendig die Frage, wie sie einerseits die gesellschaftlich dominante Sprache für eine differenzierte Lebenspraxis erlernen können und andererseits, wie sie mit der Sprache oder den Sprachen, die ihre bisherige Biographie geprägt hat oder 32 JürgenErfurt haben, umgehen sollen und wie funktional diese Sprachen in der neuen Umwelt noch sind. Die beiden Begriffe Sprachloyalität und Sprachumstellung (vgl. Fishmann et al. 1966) markieren die Pole einer Achse im Sprachverhalten von Migrantinnen und Migranten zwischen Erhalt ihrer Herkunftssprache(n) und der sprachlichen Akkulturation unter den sprachlichen Dominanzverhältnissen des Ziellandes (↗ Art. 106). Sprachloyalität ist dabei häufig ein Aspekt eines ganzen Bündels von identitätsbezogenen Merkmalen. Insbesondere bei Gemeinschaften, die in der Diaspora leben, verbindet sich religiös motivierte Abgrenzung mit dem Erhalt von erlernten sozialen Normen und der Praxis ihrer Herkunftsbzw. Gemeinschaftssprache. Quer zu dieser Achse verläuft als andere Achse die des sprachlichen Ausbaus, verbunden mit der Frage nach dem Erlernen von sprachlichen Formen, Strukturen und Normen, die eine differenziertere Sprachpraxis als jene der familiär tradierten und mündlich geprägten Nähe-Kommunikation ermöglichen. Der sprachliche Ausbau erstreckt sich somit vor allem auf das Erlernen der auch für die Distanz-Kommunikation erforderlichen Ressourcen des formellen Registers, wie es sich im Medium der Schriftsprache entfaltet und auf diese Weise den Zugang zur Sprache der gesellschaftlichen Verwaltung, des Rechts, der Literatur, der religiösen Texte, der Wissenschaft etc. ermöglicht. Loyalität zur Herkunftssprache und -kultur stellt im Kontext von Migration zunächst eine individuelle Entscheidung dar, die eigene Sprache weiterhin zu kultivieren und als kulturelle Ressource zu nutzen, wie es nicht nur für die sprachlichen und oftmals religiös geprägten Diasporagruppen (z. B. die Mennoniten/ Amischen in den USA und Kanada) kennzeichnend ist. Sprachloyalität ist verbreitet auch als ein widerständiger Akt im Kontext von sozialer Marginalisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft anzusehen, wenn z. B. durch verfehlte Immigrations- und Integrationspolitik, wie gegenüber türkischen ImmigrantInnen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren, die Gemeinschaften auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich quasi autark organisieren müssen (↗ Art. 109). Sprachumstellung hingegen resultiert aus dem individuellen Arrangement mit den dominanten sprachlichen Verhältnissen. Somit folgen Sprachloyalität wie Sprachumstellung maßgeblich den Setzungen der jeweiligen Sprachenregimes. 5. Generation Anhand der Immigration in die USA entwickelte J. Fishman (1966) ein Mobilitätsmodell von Wanderung, das auch als Drei-Generationen-Modell bezeichnet wird. Dieses Modell steht für die sprachliche Akkulturation und für den Übergang von der Einsprachigkeit in der Herkunftssprache A in die Einsprachigkeit im Zielland in Sprache B. Zweisprachigkeit wird hierbei vor allem für die zweite Generation angenommen. Maas (2008: 22, 554 ff.) zeigt, dass dieses Modell im Hinblick auf die jeweils konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse und die Spannungen zwischen den Generationen revidiert werden muss und in etwa wie folgt zu beschreiben ist: Die erste Generation kann das ökonomische Überleben nur bewerkstelligen, wenn sie Kompromisse mit den habitualisierten Lebensgewohnheiten macht und sich zumindest eine „Überlebensvarietät“ in der Landessprache aneignet (z. B. „Gastarbeiterdeutsch“). Die zweite Generation wächst unter landessspezifischen Bedingungen auf; sie hat die Umgangssprache des Landes schon habitualisiert und partizipiert mehr oder weniger 33 4. EnkulturationundSprachen erfolgreich an deren Ausbau in der Schule. In dem Maße, wie die Kinder sich erfolgreich mit den neuen Lebensverhältnissen arrangieren, verlieren für sie die Diasporaverhältnisse der Eltern an Gewicht; sie werden zu einem Konfliktterrain in der Auseinandersetzung mit der elterlichen Kontrolle. Hier gewinnen die Heiratsmigration, aber auch Au-pair-Situationen, an Bedeutung; sie stabilisieren die sprachlichen Verhältnisse in der Familie auch für die folgende Generation. Die dritte Generation ist dem Diasporakonflikt weitgehend enthoben. Mit Eltern, die sich um die Integration in die Einwanderungsgesellschaft bemühen, gehören sie mehr oder weniger erfolgreich zu dieser dazu. Sie erfahren aber häufig diskriminierende Zurücksetzung, durch die ihr Blick nahezu zwangsläufig wieder auf die Herkunft bzw. die Diasporasituation gelenkt wird; mit der Konsequenz, dass sie sich um Attribute der Herkunftskultur bemühen (vgl. ebd.: 555). Die neuere Migrationsforschung fokussiert zunehmend auf die Brechung der Integrationsverläufe, bei denen transnationale und transkulturelle Organisationsformen in den Blick kommen. Literatur Bade, K. J., Emmer, P. C., Lucassen, L. & Oltmer, J. (2010): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart . Paderborn u. a. Busch, B. (2013): Mehrsprachigkeit . Wien. Clyne, M. G. (2003): Dynamics of Language Contact: English and Immigrant Languages . Cambridge u. a. Coulmas, F. (2005): Changing Language Regimes in Globalizing Environments. In: International Journal of the Sociology of Language 175-176, 3-16. Fishman, J.A., Nahirny, V. C., Warshauer, M. E. et al (1966): Language Loyalty in the U.S: the Maintenance and Perpetuation of non-English Mother Tongues by American Ethnic and Religious Groups . The Hague. Maas, U. (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen. Reich, H. H., Roth, H.-J. et al. (2002): Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher: ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg. Jürgen Erfurt 4. Enkulturation und Sprachen 1. Begrifflichkeit Der Begriff Enkulturation wurde zuerst von Herskovits (1948: 39-42) verwendet. Nach seiner Definition bezeichnet enculturation alles, was in einem menschlichen Leben gelernt werden kann unter dem Aspekt dessen, was auf der Welt ist. Sozialisation ist nach der Definition von Child (1954: 655) „the whole process by which an individual, born with behavioral potentialities of enormously wide range, is led to develop actual behavior which is confined within a much narrower range - the range of what is customary and acceptable for him according to the standards of his group“. Zum großen Teil ist Lernen sowohl mit Enkulturation als auch mit Sozialisation verknüpft, wie am Beispiel von Sprache gut erkennbar ist. Ein Teil des erstmaligen Spracherwerbs (L1) beim Kind ist gesteuert. Lernende 34 CristinaAllemann-Ghionda werden in der formalen Bildung, also durch Unterricht, ausdrücklich und systematisch sprachlich instruiert und lernen - dem Alter entsprechend - bewusst. Ein erheblicher Teil des Spracherwerbs erfolgt aber ungesteuert und unbewusst, also informell, vor und nach der Einschulung bzw. unabhängig davon. Ähnliches gilt für das Erlernen weiterer Sprachen parallel zur ersten oder nacheinander (↗ Art. 52). Verwandt mit den Begriffen Enkulturation und Sozialisation sind die Begriffe Akkulturation und Assimilation (sinngemäß: Angleichung). Im Vergleich zur Enkulturation sind diese Prozesse als sekundär und spezifisch zu verstehen. Sie erfolgen also ggf. im Rahmen der Enkulturation, wenn das Individuum - ob in der Kindheit oder später - durch Migration sich in eine Umgebung einfügen muss, die sprachlich und/ oder soziokulturell sich von der seiner Herkunftsfamilie und -region unterscheidet (↗ Art. 100). Berry (1997: 9 f.) versteht Assimilation als eine der möglichen Varianten des Vorgangs Akkulturation, eine andere ist Integration. Seit den 1930er Jahren haben die Begriffe Akkulturation und Assimilation (sowie der Begriff Integration) in der soziologischen und in der anthropologischen Terminologie, namentlich in der Migrationsforschung, verschiedene Gewichtungen und Konnotationen erhalten (Geisen 2018). In Bezug auf den Erwerb bzw. das Erlernen von Sprache(n) im Rahmen von Enkulturation, Sozialisation und Akkulturation sind solche Bedeutungsverschiebungen wichtig. Wenn eine Gesellschaft und ein Schulsystem das Modell der Assimilation als Ideal vorgeben und somit Einsprachigkeit in der Ankunftssprache (für Zugewanderte L2) als Norm voraussetzen, sind die Bedingungen anders als wenn eine Gesellschaft und ein Schulsystem Mehrsprachigkeit akzeptieren oder gar fördern. Auch die Kommunikation im Rahmen der einzelnen Familie wird vom gesellschaftlichen Klima beeinflusst. Ein starker Assimilationsdruck seitens der Politik (↗ Art. 11) und der Schule kann sich auf den Sprachgebrauch in der Familie auswirken: Diese wird sich für den Verzicht auf die Herkunftssprache(n) entscheiden. Auch die Größe der Gemeinschaft der Sprachteilhaber sowie das Prestige der jeweiligen Minderheiten- oder der Migrationssprachen können dabei eine Rolle spielen. 2. Problemaufriss In einer amtlich monolingualen Gesellschaft wird stillschweigend angenommen, dass das sprachliche Lernen beim Kind im Verlauf seiner Enkulturation in nur einer Sprache stattfindet. Eine solche Grundannahme prägt weitgehend auch das Selbstverständnis der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und die Diskurse, die - ggf. auch in Bildungspolitik und Unterrichtspraxis - daraus resultieren. In der neueren und gegenwärtigen soziologischen, anthropologischen, psychologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung wird zunehmend über die Tatsache reflektiert, dass internationale Migrations- und Mobilitätsbewegungen die Bedingungen der Enkulturation sowie der Akkulturation (und ihrer Varianten) tiefgreifend verändert haben und weiterhin verändern. Gemischte Ehen, Schulen mit multilingualer Schülerschaft prägen das menschliche Verhalten in und außerhalb der Familie. Unter solchen Bedingungen kann in zahlreichen Fällen und Konstellationen von einer monokulturellen und einsprachigen Enkulturation keine Rede sein. Kontakt zwischen Kulturen und sozialen Milieus sowie Hybridisierung auch im Sprachgebrauch finden in mannigfaltigen Formen statt (↗ Art. 105). An 35 4. EnkulturationundSprachen verschiedenen Stellen geht die Einführung von Segall et al. (1999: 62 f., 301 f.) mit dem Titel Human Behavior in Global Perspective (erstmals 1990 veröffentlicht) auf diesen Sachverhalt ein. 3. Forschungsstand Forschung über Enkulturation (und Akkulturation sowie ihrer Varianten) unter den Bedingungen der Vielfalt der Soziokulturen und Sprachen ist verhältnismäßig jung. Im Fokus stehen häufig das Jugend- und das Erwachsenenalter und die Ergebnisse der Akkulturation infolge von Migration. Neben der sozialpsychologischen Einführung von Segall et al. (1999) und dem umfangreichen theoretischen sowie empirischen Werk von Berry (1997) sind bisher kaum Arbeiten zu verzeichnen, die gezielt die Verbindung Enkulturation und Sprachen (im Plural) im Kindesalter etwa in Form von Längsschnittstudien zum Gegenstand haben. In der Sprachwissenschaft wurde bis in die 1960er Jahre hinein die Idee vertreten, dass frühkindliche Zweisprachigkeit etwas Unnatürliches, kaum Mögliches und - falls vorhanden - für die kindliche Seele etwas Schädliches sei. Allerdings fehlten damals belastbare Ergebnisse empirischer Untersuchungen, weil empirische Forschung in den Sozialwissenschaften noch in den Kinderschuhen steckte. Seit den 1960er Jahren ist ein Wandel der Perspektive festzustellen. Erste empirische Untersuchungen zeigten, dass Kinder ohne besondere Schwierigkeiten oder Nachteile zwei Sprachen parallel oder mit geringer Zeitverschiebung erwerben können (Baker & Prys Jones 1998: 62 f.). In der Anfangszeit jenes Paradigmenwechsels war noch kaum die Rede davon, dass unter bestimmten Umständen auch frühkindliche Dreisprachigkeit möglich sein kann. Ähnlich wie bei der sozialpsychologischen Forschung sind die 1990er Jahre auch für die Forschung über Mehrsprachigkeit (↗ Art. 51, 85) fruchtbare Jahre. Es kristallisieren sich drei Schwerpunkte heraus: • Frühkindliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 52, 53) als Gewinn für die menschliche Entwicklung und unverzichtbarer Bestandteil von allgemeiner Bildung; auf dieser Idee basiert die von vielen Bildungssystemen unterstützte Förderung des Unterrichts von einer oder zwei Fremdsprachen bereits in der Grundschule. Einen besonderen Fall stellen bilinguale Programme (↗ Art. 111) dar, wie sie Bildungssysteme in offiziell zweisprachigen Ländern, zum Beispiel Kanada, anbieten (Heller 2003). Dieser Ansatz wird einerseits durch die positive Wertung der frühkindlichen Zweibzw. Mehrsprachigkeit aufgrund vorliegender Forschungsergebnisse getragen, andererseits auch von Richtlinien politischer Körperschaften wie etwa der Europäischen Union (Europäische Kommission 1996) propagiert (↗ Art. 12). • Auswirkungen der frühkindlichen Zweibzw. Mehrsprachigkeit (in der Regel geht es jedoch bei Kleinkindern um höchstens drei Sprachen) auf kognitive Prozesse. Hierbei ist als Durchbruch zu nennen, dass moderne bildgebende Verfahren Einsichten in die Hirntätigkeit von Mehrim Vergleich zu Einsprachigen ermöglichen (Van de Craen & Mondt 2003: 213 f.). Nach heutigen Erkenntnissen der Neurolinguistik sind bei Zweibzw. Mehrsprachigen im Kindessowie im Erwachsenenalter kognitive Vorteile nachgewiesen, insbesondere wenn die Sprachen in der frü- 36 CristinaAllemann-Ghionda hen Kindheit (0 bis 3 Jahre) erworben wurden und ein Leben lang verwendet werden. Als kognitive Vorteile werden non-verbale Fähigkeiten genannt wie selektive Aufmerksamkeit und Unterdrückung (selective attention/ inhibition), Verlagerung der Aufmerksamkeit (attention shifting), Arbeitsgedächtnis (working memory) (Bialystok & Poarch 2014). • Zusammenhänge zwischen dem Erwerb von mehr als einer Sprache parallel von Geburt an oder konsekutiv und der Identitätsbildung. Das Thema der Identität (↗ Art. 1) wurde mit Blick auf den - auch literarischen - Gebrauch von mehreren Sprachen durch Erwachsene untersucht (Lüdi 2018: 138). Zu Identität und natürlicher Mehrsprachigkeit von Sprachgemeinschaften s. Baker & Prys Jones (1998: 96 f.), zu Sprachenlernen und -lehren und Identität s. Cummins (2001) und Norton (2013). 4. Praxisrelevanz Untersuchungen über Enkulturation und Sprachen sind relevant • für Erziehungsberechtigte: Wie wird die eventuell mitgebrachte Zweisprachigkeit in gemischten Ehen oder Partnerschaften gehandhabt? Welche Sprachen sollen in Familien mit Migrationshintergrund im Familienalltag gesprochen werden, und wie sind Kinder am besten sprachlich zu fördern? Welchen Stellenwert hat die Erstbzw. Familiensprache (L1) im Verhältnis zur Sprache der Umgebung (L2)? • für vorschulische und schulische Bildung (↗ Art. 53, 54): In welchen Sprachen sollen Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder von hochqualifizierten Fachkräften (oft Expats genannt) die nur wenige Jahre im Aufnahmeland leben, unterrichtet werden? Wie können die Sprachen von Zugewanderten sowie Minderheitensprachen im Regelcurriculum adäquat berücksichtigt werden? • für die Didaktik der beteiligten Sprachen (L1, L2, L3, Ln): Wann sollen Fremdsprachen und Landessprachen einer anderen Sprachregion (zum Beispiel in der Schweiz) eingeführt werden? Welche Unterrichtsmethoden bewähren sich insbesondere in mehrsprachigen Klassen (↗ Art. 110)? • für interkulturelles Lernen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wertschätzung und Förderung der Mehrsprachigkeit, interkultureller Bildung und interkultureller Kompetenz? (Allemann-Ghionda 2013: 107 f.) (↗ Art. 32). 5. Perspektiven Die Verbreitung von Forschungsergebnissen über frühkindliche Zwei- und Mehrsprachigkeit im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen für alle Schulstufen erscheint notwendig. Der Mythos der Perfektion und Reinheit von Sprachen und Soziokulturen weicht der Erkenntnis, dass Mehrsprachigkeit beim Individuum als pragmatisch einzusetzendes Sprachenrepertoire zu verstehen ist. Nicht zuletzt dank der Forschung über frühkindliche Zweisprachigkeit verändert sich die Wahrnehmung und Definition von Enkulturation als zwingend monokulturell und einsprachig zugunsten der Erkenntnis, dass Enkulturation und damit einhergehend Spracherwerb und sprachliche Sozialisation multilingual erfolgen können. Weltweit wachsen Generationen heran, deren Enkulturation 37 5. Code-Switching und Sozialisation bereits von Geburt an unter soziokulturell und sprachlich diversifizierten Bedingungen erfolgt. Hierbei werden Enkulturation und Akkulturation eins. Literatur Allemann-Ghionda, C. (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven. Paderborn. Baker, C. & Prys Jones, S. (1998): Encyclopedia of Bilingualism and Bilingual Education. Clevedon. Berry, J. W. (1997): Lead Article: Immigration, Acculturation and Adaptation. In: Applied Psychology: An International Review 46/ 1, 5-34. Bialystok, E. & Poarch, G. (2014): Language Experience Changes Language and Cognitive Ability. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 17/ 3, 433-446. Child, I. L. (1954): Socialization. In: G. Lindzey (Hrsg.): Handbook of Social Psychology , Bd. 2. Cambridge, MA, 655-692. Cummins, J. (2001): Negotiating Identities: Education for Empowerment in a Diverse Society. 2. Aufl. Los Angeles. Europäische Kommission (1996): Lehren und Lernen: Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung . Luxemburg. Geisen, T. (2018): Assimilation - Akkulturation. In: I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz et al. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Pädagogik. Stuttgart, 44-49. Heller, M. (2003): Identity and Commodity in Bilingual Education. In: L. Mondada & S. Pekarek Doehler (Hrsg.): Plurilinguisme - Mehrsprachigkeit - Plurilingualism. Enjeux identitaires, socio-culturels et éducatifs. Tübingen, Basel, 3-13. Herskovits, M. J. (1948): Man and his Works: The Science of Cultural Anthropology. New York. Lüdi, G. (2018): Mehrsprachigkeit. In: I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz et al. (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Pädagogik . Stuttgart, 133-139. Norton, B. (2013): Identity and Language Learning. In: M. Byram & A. Hu (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning. 2. Aufl. London, New York, 327-332. Segall, M. H., Dasen, P. R., Berry, J. W. & Poortinga, Y. H. (1999): Human Behavior in Global Perspective: An Introduction to Cross-Cultural Psychology. 2. Aufl. Boston, London, Toronto, Sydney, Tokyo, Singapore. Van de Craen, P. & Mondt, K. (2003): Multilingual Education, Learning and the Brain: The End of Language Education as a Pre-Scientific Field. In: L. Mondada & S. Pekarek Doehler (Hrsg.): Plurilinguisme - Mehrsprachigkeit - Plurilingualism. Enjeux identitaires, socio-culturels et éducatifs. Tübingen, Basel, 209-217. Cristina Allemann-Ghionda 5. Code-Switching 1. Definitionen Code-Switching beschreibt die Verwendung von zwei oder mehreren Sprachen bzw. Sprachvarietäten in einer Äußerung oder längeren Interaktion. Verwandte Konzepte, die sich teilweise mit Code-Switching überschneiden, sind borrowing ( weekend für Wochenende) sowie code mixing . Mixing z.B. kann sich auf das Mischen innerhalb eines Satzes, auf Code-Switching-Phänomene oder auf neue Sprachmischungen wie Denglish oder Portuñol beziehen (vgl. Myers-Scotton, Beitrag in Li 2007: 102). Auch calques (z. B. 38 UlrikeJessner-&ElisabethAllgäuer-Hackl fall in love/ tomber amoureux/ -se , in Québec als tomber en amour übersetzt) werden in diesem Zusammenhang genannt. Diglossie steht für die Verwendung von zwei Varianten einer Sprache (z. B. eines Dialekts und einer standardisierten Variante) oder von unterschiedlichen Sprachen innerhalb einer Sprachgemeinschaft, wenn die Sprachen bestimmten Funktionen und soziolinguistischen Kontexten zugewiesen werden können (Fishman 2007: 47-54). Weiterführende Beiträge zu Code-Switching und verwandten Begriffen finden sich in Li (2007) und Auer & Li (2007). In aktuellen Forschungen werden neue Begriffe diskutiert: Language crossing (vgl. Beitrag von Rampton in Li 2007: Kap. 9) bezieht sich auf den Wechsel zwischen Sprachen oder Sprachvarianten über ethnische und soziale Grenzen hinweg; code meshing (Canagarajah 2011) auf das Mischen von Sprachen in schriftlichen Produktionen, und Translanguaging (García & Sánchez 2018) auf die Verwendung mehrerer Sprachen in der schulischen Praxis. 2. Code-Switching - (historischer) Problemaufriss Erklärungsmodelle für Code-Switching stammen aus unterschiedlichsten Disziplinen. Die sozio-linguistische bzw. sozio-kulturelle Perspektive betrachtet Code-Switching als Frage der Sprachenwahl, bei der soziale Prozesse und linguistische Formen ineinandergreifen. Code-Switching als rationale Entscheidung dient der Ausverhandlung von Rollen und Funktionen, bildet die sozialen Beziehungen und Netzwerke der Sprachteilhaber auf der Mikro- und Makroebene ab bzw. ist eine politische Strategie zur Sicherung der Dominanz oder als Ausdruck des Widerstands (vgl. Heller 1988: 1-3; Beiträge in Li 2007: Teil 1; Auer & Li 2007). Myers-Scotton (vgl. Beitrag in Li 2007: Kap. 5) geht in ihrem Modell davon aus, dass die Wahl einer Sprache auf einem „set of rights and obligations“ der Gesprächspartner beruht. Sie kann markiert (Wechsel der Intention, der sozialen Beziehungen etc.) oder nicht markiert (erwartete Norm) sein. In der psycholinguistischen Forschung (↗ Art. 51) wird Code-Switching den Sprachkontakt- oder Transferphänomenen zugeordnet. Erforscht wird u. a., welche switches möglich sind, ob diese grammatikalischen Begrenzungen unterliegen, ob es eine Basissprache gibt und wie man diese definiert (vgl. Beiträge in Milroy & Muysken 1995). Theorien über Code-Switching wurden mit psycholinguistischen oder syntaktischen Theorien verbunden. Das Matrix Language Frame Model von Myers-Scotton (vgl. Beitrag in Milroy & Muysken 1995) z. B. basiert auf der Annahme einer Basissprache, die das grammatikalische Gerüst vorgibt und in die die zweite Sprache eingebettet ist. Es stellte sich aber bald heraus, dass der Wechsel zwischen Sprachen eher pragmatischen denn syntaktischen Regeln folgt (vgl. Auer & Li 2007). 3. Forschungsstand: Neuere-Sichtweisen Ab den 1990er Jahren entstand eine ganzheitliche Sicht von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7), die der Annahme von getrennten Sprachsystemen widersprach (Grosjean 1985). Diese führte zur Definition von mehrsprachigen Menschen als multikompetenten Individuen (z. B. Cook 1991), die durch den Kontakt zwischen den Sprachen u. a. ein erhöhtes metalinguistisches bzw. multilinguales Bewusstsein und eine andere Art der Sprachverarbeitung 39 5. Code-Switching in Form von Code-Switching und erweiterten pragmatischen Transfer-Fähigkeiten entwickeln (vgl. z. B. das Konzept der crosslinguistic interaction CLIN von Herdina & Jessner 2002). In der Mehrsprachigkeitsforschung (↗ Art. 85) werden in der Diskussion über die Bedeutung der Brückensprachen die Funktionen von switches diskutiert (siehe dazu Williams & Hammarberg 1998). Jessner (2006) erweitert in ihrer Studie mit zweisprachig (in Italienisch und Deutsch) aufgewachsenen Englischstudierenden diese Diskussion um die Bedeutung von switches in metasprachlichen Äußerungen bzw. Metasprache. Code-Switching in multilingualen Gesellschaften (↗ Art. 3) erfüllt unterschiedliche diskursive Funktionen, z. B. um die individuelle und soziale Identität zu definieren oder Inklusion und Empathie herzustellen. Neuere Forschungen beziehen sich auf Sprachwechsel und Identität (↗ Art. 1), auf Sprachwahl in der digitalen Kommunikation und im familiären Kontext oder auf den Wechsel zwischen Laut- und Gebärdensprachen. Der Begriff Translanguaging hat Code-Switching inzwischen in vielen Bereichen abgelöst (vgl. Stavans & Porat, im Druck). 4. Praxisrelevanz - Code-Switching und Translanguaging im schulischen Kontext Frühe Studien zu Code-Switching wurden in den USA bereits in den späten 1970er Jahren durchgeführt, oft in Zusammenhang mit der Diskussion über Vor- und Nachteile des bilingualen Unterrichts (↗ Art. 111) und die Funktion der involvierten Sprachen (meist Englisch und Spanisch). In der Fremdsprachendidaktik schloss die Fokussierung auf negativen Transfer oder Interferenz zwischen der/ den L1 und der Zielsprache die Erstsprache/ n für lange Zeit aus dem Unterricht aus. Code-Switching, wie in Forschungen festgestellt wurde, dient jedoch der Klärung von Unsicherheiten oder Beziehungsfragen zwischen Lehrenden und Lernenden und erleichtert das Erklären grammatikalischer Konzepte oder das classroom management (vgl. Beiträge in Milroy & Muysken 1995). Code-Switching wurde zur (vorübergehenden) Lern- und Kommunikationsstrategie im Unterricht, die das Erreichen höherer Kompetenzen in der Zielsprache unterstützt. Das Zulassen von Code-Switching zwischen allen im Repertoire der Lernenden vorhandenen Sprachen als Lernprinzip kann als Schritt in Richtung einer ganzheitlichen, die Sprachen vernetzenden Didaktik verstanden werden, die die Förderung von multilingualem Bewusstsein beinhaltet ( Jessner, Allgäuer- Hackl & Hofer 2016). Ein neuerer, ganzheitlicher Ansatz ist Translanguaging als mehrsprachige, multimodale und transformative Kommunikation und Wissenskonstruktion (García & Li 2014), verstanden als Theorie von Sprache, die das individuelle Repertoire an Sprachen und semiotischen Zeichen als ein Ganzes sieht und die Lernenden anregt, dieses kreativ zu nutzen und weiter zu entwickeln. Translanguaging nimmt die kulturellen Elemente, Hierarchien und Machtgefälle zwischen den Sprachen in den Blick und durchbricht somit die gesellschaftlichen Muster von Abwertung und Ausgrenzung (↗ Art. 38). 40 UlrikeJessner-&ElisabethAllgäuer-Hackl 5. Perspektiven Sprachkontaktphänomene wie Code-Switching wurden anfänglich im bilingualen, später auch verstärkt im multilingualen Kontext untersucht, im Bildungsbereich vor allem in Bezug auf die speziellen Herausforderungen von Lernenden in Minderheitenbzw. Migrationskontexten (↗ Art. 100, 105). Die monolingual orientierte, defizitäre Bewertung von Code-Switching wurde durch eine ressourcenorientierte Sicht abgelöst (vgl. Stavans & Porat, im Druck) und translinguale Praktiken als Lehr- und Lernstrategien definiert. Damit wird Code-Switching/ Translanguaging Teil einer ganzheitlichen Mehrsprachigkeitsdidaktik, die Lernende mit unterschiedlichsten sprachlichen, kognitiven, sozialen und kulturellen Voraussetzungen erreichen will. Code-Switching/ Translanguaging im Unterricht kann im Zusammenhang mit der Förderung von language management skills gesehen werden, wie sie unter anderem im Dynamischen Modell der Mehrsprachigkeit (Herdina & Jessner 2002) dargestellt und im Zusammenhang mit gesamtsprachencurricularen Ansätzen (↗ Art. 14) beschrieben wurden. Literatur Auer, P. & Li, W. (Hrsg.) (2007): Handbook of Multilingualism and Multilingual Communication. Series Handbooks of Applied Linguistics , Bd. 5. Berlin. Canagarajah, S. (2011): Code-meshing in Academic Writing: Identifying Teachable Strategies of Translanguaging. In: The Modern Language Journal 95/ iii, 401-417. Cook, V. J. (1991): The Poverty-of-the-Stimulus Argument and Multi-Competence. In: Second Language Research 7/ 2, 103-117. Fishman, J. (2007): Who Speaks What Language to Whom and When? In: Li, W. (Hrsg.): The Bilingualism Reader . 2. Aufl. London, 55-70. García, O. & Li, W. (2014): Translanguaging: Language, bilingualism and education . New York. García, O. & Sánchez, M. T. (2018): Transformando la educación de bilingües emergentes en el estado de Nueva York. In: Language, Education, and Multilingualism 1, 138-156. [https: / / edoc.hu-berlin.de/ handle/ 18452/ 19773]. Grosjean, J. (1985): The Bilingual as a Competent but Specific Speaker-Hearer. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development 6, 467-477. Heller, M. (Hrsg.) (1988): Codeswitching: Anthropological and Sociolinguistic Perspectives . Berlin, New York, Amsterdam. Herdina, P. & Jessner, U. (2002): A Dynamic Model of Multilingualism: Changing the Psycholinguistic Perspective . Clevedon. Jessner, U. (2006): Linguistic Awareness in Multilinguals. English as a Third Language . Edinburgh. Jessner, U., Allgäuer-Hackl, E. & Hofer, B. (2016): Emerging Multilingual Awareness in Educational Contexts: From Theory to Practice. In: The Canadian Modern Language Review / La revue canadienne des langues vivantes 72/ 2, 157-182. Li, W. (2007) (Hrsg.): The Bilingualism Reader . 2. Aufl. London. Milroy, L. & Muysken, P. (Hrsg.) (1995): One Speaker, two Languages: Crossdisciplinary Perspectives on Code-Switching . Cambridge, New York. Stavans, A. & Porat, R. (im Druck): Code Switching. In: Montanari, S. & Quay, S. (Hrsg.): Multilingual Approaches to Multilingualism . New York. Williams, S. & Hammarberg, B. (1998): Language Switches in L3 Production: Implications 41 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln for a Polyglot Speaking Model. In: Applied Linguistics 19/ 3, 295-333. Ulrike Jessner-& Elisabeth Allgäuer-Hackl 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension, Übersetzen und Sprachmitteln Das Aufkommen des Interesses an Mehrsprachigkeit und insbesondere an der Mehrsprachigkeitsdidaktik hat nicht nur zu neuen Betrachtungen des Lernens und Lehrens geführt, sondern hat eine Neubestimmung, zumindest eine Präzisierung von Begriffen, erforderlich gemacht. Im ersten Teil der folgenden Ausführung soll es um die begrifflichen Konzeptionen und Veränderungen gehen, bevor dann anschließend die daraus resultierenden Veränderungen für den Fremdsprachenunterricht und seiner Erforschung skizziert werden. 1. Der Mehrsprachigkeitsbegriff Die Diskussion um den Mehrsprachigkeitsbegriff ist nicht neu (↗ Art. 7). Grundsätzliche Anmerkungen zum Nutzen der Mehrsprachigkeit gibt es seit längerer Zeit. Ein markantes Datum liefert das Statement von Mario Wandruszka (1979), dass jeder Mensch mehrsprachig ist, was nicht zuletzt auch - oder: nicht nur - im Wechsel zwischen unterschiedlichen Registern zum Ausdruck kommt. Eine partielle Neuausrichtung erlebt der Begriff durch eine stärkere Fokussierung auf Schule und Unterricht, die sich aus mehreren wissenschaftlichen Disziplinen speist: 1. Die Gesellschaft ist zunehmend mehrsprachig geworden. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Herkunftssprache als der Bildungs- oder Umgebungssprache wächst beständig und führt z. B. bereits Gogolin (1994) zur Forderung nach der Abschaffung des monolingualen Habitus der deutschen Schule. 2. Der GeR (↗ Art. 18) nimmt diese Tendenz insofern auf, als er die Förderung von Mehrsprachigkeit als Aufgabe eines Fremdsprachenunterrichts propagiert, wenngleich er konkrete unterrichtliche Umsetzungsvorschläge schuldig bleibt. 3. Nicht zuletzt aus der romanistischen Fachdidaktik argumentieren etliche Fachvertreter dafür, sprachtypologische Gemeinschaften zwischen Sprachen lernpsychologisch zu nutzen (↗ Art. 67, 77), damit das Lernen weiterer Fremdsprachen zu fördern und in seiner Attraktivität für die Lerner zu erhöhen (vgl. bereits früh Meißner 1995 (1993); Meißner & Reinfried 1998). 4. Eng mit dem erstgenannten Punkt hängt zusammen, Interesse an und Nachfrage nach Deutsch als Fremdbzw. Zweitsprache stärker ins Visier zu nehmen. Dort haben wir häufig mit Lerngruppen zu tun, die von Hause aus Mehrsprachigkeit kennen und praktizieren oder aber als Lernergruppe unterschiedliche Sprachen ins Klassenzimmer mitbringen (↗ Art. 106). 5. Flankiert werden diese Beobachtungen durch lernpsychologische Beobachtungen, die zeigen, dass auch fremdsprachliches Lernen von der Anknüpfung an Bekanntes profitiert. 42 FrankG.Königs Damit wird der Mehrsprachigkeitsbegriff zum einen solider, weil er nach mehreren Seiten abgesichert ist; damit rückt er zum anderen mehr in das Zentrum von Unterricht und Schule. Dies wird möglich, weil er nicht mehr nur strategisch und politisch gefüllt ist, sondern weil hinter ihm gleichzeitig ein bestimmtes Lern- und Informationsverarbeitungskonzept, nämlich das der Interkomprehension, steht. 2. Der Interkomprehensionsbegriff Der Interkomprehensionsbegriff (↗ Art. 70) hebt auf die Fähigkeit ab, beim Lernen einer neuen Sprache Verbindungen zu bereits Gelerntem und Vergleiche zwischen diesen Sprachen und der Muttersprache herzustellen. Das Besondere dabei ist, dass diese Vergleiche allenfalls durch die Präsentation bzw. die Auswahl des Materials initiiert werden. Die eigentliche Vergleichbarkeit und damit die weitere Durchdringung des sprachlichen Materials gehen auf die eigenständige, reflektierte und weitgehend autonome Leistung des Lernenden zurück. Die Interkomprehension lehnt sich also in gewisser Weise an die lernpsychologische Transferdiskussion (↗ Art. 64) an, wie wir sie schon länger kennen, betont aber nachdrücklicher das Potenzial, das in der aktiven Suche nach vergleichbaren Strukturen und Regelhaftigkeiten in den beteiligten Sprachen zu finden ist, als die Sorge vor möglichen negativen Transfers. Die Eindämmung des Risikos zu negativem Transfer soll erreicht werden durch die Förderung der lernerseitigen Kompetenz, fremdsprachliche Strukturen durch Vergleich mit äquivalenten Strukturen anderer Sprachen zu durchschauen. Dazu werden dem Lernenden zunächst Text(abschnitte) in einer fremden Sprache vorgelegt, die es ihnen erlauben, ähnliche Strukturen aus anderen Sprachen wiederzuerkennen. Dies funktioniert zunächst bei sprachtypologisch verwandten Sprachen. Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass der Interkomprehensionsgedanke zunächst in der romanistischen Fachdidaktik Fuß fasste, wo mindestens drei romanische Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch) in Deutschland Schulfremdsprachen sind, wenn auch mit je unterschiedlichem Gewicht. Die Idee, das Lernen weiterer Fremdsprachen für (schulische) Lernende attraktiver zu machen, indem man ihnen vor Augen führt, was sie alles in einer für sie noch fremden Sprache verstehen können, führte u. a. zur Entwicklung der sogenannten sieben Siebe (↗ Art. 67): I: Internationalismen; II: panromanischer Wortschatz; III. Lautentsprechungen; IV: Graphien und Aussprachen; V: Syntaktische Kernsatztypen; VI: morphosyntaktische Elemente wie beispielsweise Adverbbildung und VII: Präfixe und Suffixe. Diese ursprünglich aus der Romanistik stammende Idee, sprachstrukturelle Verwandtschaften systematisch zu erfassen und für Sprachfamilien aufzulisten (vgl. Klein & Stegmann 1999) wurde dann lernpsychologisch unterfüttert (begann bereits bei Meißner & Reinfried 1998, erweitert u. a. in Meißner 2010) und auch auf andere Sprachfamilien (die slawischen, aber auch die germanischen Sprachen) übertragen (↗ Art. 68). Mit der Publikation von Hufeisen & Marx (2014) rundet sich dabei das Bild in doppelter Hinsicht ab: Zum ersten spielt in dem Zusammenhang auch das Englische eine bedeutende Rolle, dessen fachdidaktische und zum Teil auch fremdsprachenpolitischen Vertreter sich aus der Mehrsprachigkeitsdiskussion - insbesondere im schulischen Kontext - lange Zeit herausgehalten hatten. Zum zweiten wird dadurch unterstrichen, dass die weltweiten Bemühungen zur Vermittlung des Deutschen als Fremd- und 43 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln Zweitsprache vielfach auf den Rekurs auf das vorgängige Englischlernen nicht verzichten können (↗ Art. 87). Die kurze Skizze zum Interkomprehensionsbegriff zeigt, dass sich unsere Vorstellungen vom fremdsprachlichen Lernen grundlegend gewandelt haben. An die Stelle eher statisch-mechanistischer Vorstellungen tritt Sprachenlernen nunmehr als aktiv vom Lernenden gesteuerter, überwachter und auch selbstbestimmter Prozess, der auf die lernerseitige Autonomie ebenso setzt wie auf die beständige Interaktion der Lernenden sowohl mit ihren Vorwissensbeständen als auch mit den Interaktionspartnern. Dabei wäre es ein Missverständnis, von völliger Lernerautonomie auszugehen. Auch - und gerade - der Interkomprehensionsbegriff legt die Impulsgebung von außen nahe. Lehrkräfte haben also die Aufgabe, Lernende bei der Entwicklung des Interkomprehensionsgedankens durch entsprechende Aufgabenstellungen zu unterstützen und dessen Anregungspotenzial in der Konfrontation mit fremden Sprachen in Kooperation mit den Lernenden zu entfalten. Die geänderte Vorstellung von fremdsprachlichem Lernen, wie sie dem Interkomprehensionsbegriff zugrunde liegt, hat auch Auswirkungen auf den dritten Begriff aus der Überschrift, das Übersetzen. 3. Der Übersetzungsbegriff Die Diskussion um den Übersetzungsbegriff hat eine lange Tradition und verschiedene Ursachen. Zum einen hatte sich mit der Übersetzungswissenschaft eine eigene wissenschaftliche Domäne entwickelt, die ihre Aufgaben vor allem darin sah, dem angehenden professionellen Übersetzer und Dolmetscher mit den Informationen zu versorgen, die ihm seine angestrebte Tätigkeit erleichtern oder sogar ihre Grundlagen bildeten. Das führte insbesondere zu textstrukturellen, textvergleichenden und hermeneutischen Beschreibungsansätzen, bei denen der Übersetzer zwar das Ziel, selten aber der Mittelpunkt oder gar Ausgangspunkt der Überlegungen war. Mitte der 1980er Jahre zeigen dann Untersuchungen zum realen Übersetzungsprozess, dass wechselhafte Vorstellungen zum (professionellen) Übersetzen inzwischen einer Revision bedurften; nicht zuletzt, weil auch das Übersetzen häufiger autonom-kreativen Entscheidungen folgt. In partieller Abhängigkeit davon geriet gleichzeitig auch das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht in die Diskussion. Traditionelles satzweises Übersetzen isolierter Einzeläußerungen zur Festigung neuer fremdsprachlicher Strukturen wurde als unzureichend angesehen, weil es stures Auswendiglernen als höher und wichtiger einschätzte als die notwendige Einbettung übersetzerischen Handelns in möglichst authentischen Situationen. Ziel des Einsatzes von Übersetzungsund/ oder Sprachmittlungsübungen konnte und kann es dennoch nicht sein, im Fremdsprachenunterricht angehende Übersetzer auszubilden, sondern die Lernenden vielmehr in multilingualen Kommunikationszusammenhängen in die Lage zu versetzen, kommunikativ und intentionsangemessen sprachlich zu handeln. Damit wird der Weg frei für den Begriff der Sprachmittlung, bei dem es nicht auf strukturell-sprachliche Äquivalenz, sondern auf die Mittlung der kommunikativen zentralen Botschaften einer Aussage ankommt. An die Stelle der früheren Strukturübungen in Form von Übersetzen treten neue Aufgabenstellungen, durch die Lernende in die Lage versetzt werden sollten, in Kommunikationssituationen, in denen die Gesprächsteilnehmer nicht über eine gemeinsame Sprache ver- 44 FrankG.Königs fügen, zwischen verschiedenen Sprachen und Gesprächsteilnehmern zu vermitteln (↗ Art. 103). Dabei sollen sie lernen, kommunikativ relevante Inhalte von weniger relevanten Inhalten zu trennen und durch einen Abgleich mit vorhandenen sprachlichen Wissensbeständen verständlich und angemessen, aber nicht notwendig vollständig und sprachstrukturell äquivalent zu sprachmitteln. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass jetzt auch - wenngleich mit anderen Begründungen - darüber nachgedacht wird, dem Übersetzen im Fremdsprachenunterricht wieder einen eigenen Stellenwert zu geben, der allerdings über Sprachmittlung hinausgeht und den kulturellen und auch sprachdidaktischen Veränderungen und Herausforderungen Rechnung tragen soll (vgl. Rösler 2015). In der Entwicklung des Sprachmittlungsbegriffs treffen sich also mehrere unterschiedliche Entwicklungen: Zum einen verdankt er seine Entstehung den strukturell bisweilen überlasteten und wenig inhaltsvollen Satzübersetzungen, die häufig mehr der Kontrolle des Erreichten als der Entwicklung angemessenen kommunikativen Verhaltens dienen. Zum zweiten weist der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18, 19) vielfach auf die Bedeutung der Sprachmittlung in unterschiedlichen Unterrichtskonstellationen hin. Und zum dritten führt auch hier die bereits erwähnte Entstehung von immer zahlreicheren Lernergruppen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen (↗ Art. 106) ebenso zur Notwendigkeit, der Sprachmittlung mehr Aufmerksamkeit zu widmen, wie die Tatsache, dass internationale Schulkooperationen längst das Feld traditioneller deutscher Schulfremdsprachen verlassen haben und die Notwendigkeit nach der Suche gemeinsamer Kommunikationswege deutlich vor Augen geführt haben. Was aber folgt aus alldem für Gestaltung und Erforschung des Fremdsprachenunterrichts? 4. Brückensprachen und Übersetzen Wie die Geschichte der didaktischen Materialien zeigt, wurden die den Lernern bekannten Sprachen, zuvorderst die Muttersprachen, methodisch oft ‚mitgedacht‘, was zum Übersetzen anleitete. Hiervon zeugt schon die Grammatik- Übersetzungsmethode. Auch die Grammatiken - über weite Strecken hinweg waren grammaires und méthodes Synonyme - dokumentieren, dass Vergleiche zwischen Sprachen (insbesondere solchen, die nach Meinung der historischen Autoren den Nutzern bekannt gewesen sein durften oder für deren Erlernen ein Interesse vermutet wurde) nicht unüblich waren. Dies ging bis in individuelle Konstruktionen von Methoden und Eselsbrücken hinein (vgl. Meißner 2010). Dabei sei selbstredend daran erinnert, dass das zwischensprachliche Vergleichen von Formen, Bedeutungen, Funktionen und Aspekten eine grundlegende Strategie des Übersetzens ist (Königs 2006). Die Lernerfolg generierende Wirksamkeit des interlingualen Vergleichens gilt auch heute als eine wirksame Strategie nicht nur zur Entwicklung von Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22). Butzkamm (1989: 256) spricht von der „muttersprachlichen Spiegelung der fremden Struktur“, an anderen Stellen von der sog. Sandwich-Technik im Zusammenhang mit dem reflexiven Üben. Allerdings haben die empirischen Befunde von Interkomprehensionsprozessen gezeigt, dass die Spiegelung keineswegs auf den Kontrast von Muttersprache(n) und Zielsprache begrenzt ist (Meißner & Burk 2001; De Angelis & Selinker 2001). Relevant für den erfolgreichen 45 6. Mehrsprachigkeit, Interkomprehension,Übersetzenund Sprachmitteln Transfer sind die lernerseitig erkannten (und genutzten) Transferbasen, die sich besonders zwischen Sprachen ein und derselben Sprachfamilie feststellen lassen (↗ Art. 64). 5. Konsequenzen für Unterricht und Forschung Die Veränderungen in der Begriffsfüllung zu beschreiben, ist das eine. Das andere ist die Frage nach den unterrichtspraktischen und forschungsbezogenen Konsequenzen, die sich daraus ergeben (könnten). Darum soll es im letzten Abschnitt gehen. Ich beginne mit einigen unterrichtspraktischen Überlegungen. 5.1. Zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ - Oder einfach anders? Die Forderung nach Ersatz traditioneller Übersetzungsübungen durch Sprachmittlungsaufgaben ist nicht neu (vgl. exemplarisch Königs 2000; Brammerts & Kleppin 2000; Rösler 2000). Sie lässt sich u. a. durch eine stringentere Mischung aus Spracharbeit, lernerbezogener Reflexion und lernerseitiger Selbstorganisation umsetzen. Die Aufgabenstellungen fordern dazu heraus, sowohl die Textproduktion bewusst zu begleiten als auch aktiver über potenzielle Äquivalenzen nachzudenken und auf der Grundlage möglichst authentischer Sprachmittlungssituationen die Reflexion über Mehrsprachigkeit und über die Auswahl der zu mittelnden Inhalte anzuregen. Die Interkomprehension hat ihren Ausgangspunkt in der Förderung rezeptiver Mehrsprachigkeit; das ist einerseits nachvollziehbar, bliebe aber auf halbem Wege stehen, wenn nicht auch die Rezeption als Vorstufe der Produktion mitgedacht würde. Sichtbar wird dies, wenn Aufgaben so formuliert werden, dass sie die aktive Analyse des kommunikativen Gehalts einer zu mittelnden Aussage/ eines zu mittelnden Textes stärker im Mittelpunkt steht als sprachstrukturelle, von der kommunikativen Orientierung losgelöste, linguistisch anmutende Sprachbetrachtungen. Das muss zu veränderten Lehrkompetenzen und Anforderungen an angemessenes methodisches Lehrerverhalten führen und damit zu einer systematischen Förderung des Reflexionsvermögens. Dies wiederum macht eine Erhöhung des Angebotsreichtums an authentischen Mehrsprachigkeitssituationen unabdingbar. Zu denken wäre hier an schulisch relevante Themen und Formen multilingualer Kommunikation (Schulkooperationen, aber auch entsprechende mehrsprachige Interviews oder schriftliche Materialien in den Medien) (↗ Art. 80, 81, 82). 5.2. Einige Fragen zum Forschungsaspekt Der oben behauptete Zusammenhang zwischen Rezeption und Produktion bei Aufbau und Förderung der schulischen/ unterrichtlichen Mehrsprachigkeit bedarf der Erforschung. An welchen Stellen wird er durch welche Maßnahmen gestärkt oder geschwächt und unter welchen Bedingungen? Ist es z. B. gerechtfertigt, auf die Lernertypendiskussion zu verzichten oder gibt es Bedingungen, unter denen bestimmte Lernertypen besonders von der Konfrontation profitieren? Die Mehrsprachigkeitsdiskussion in Europa (↗ Art. 85) bezieht sich schulisch und unterrichtlich zumeist auf die Schul- und Nachbarsprachen. Wir wissen allerdings aus der Erfahrung, dass die Entscheidung für oder gegen den Erwerb bestimmter Fremdsprachen sich nicht einfach als offene Angebotsstruktur darstellen lässt, sondern Beliebtheit und Ablehnung von bestimmten Sprachen zahlreiche Ursachen haben können. Der europäische 46 FrankG.Königs Blickwinkel wird dabei durch die veränderten Lernerpopulationen mit z. T. erheblichen Mehrsprachigkeitserfahrungen erweitert. Wie können der Fremdsprachenunterricht, vor allem das Fremdsprachenlernen und seine Erforschung davon profitieren? Wenn Mehrsprachigkeit, Interkomprehension und kommunikatives Sprachmitteln durch Förderung der Eigenverantwortlichkeit gestärkt werden, müsste darüber nachgedacht werden, dass jeder Lernende zum reflektierenden „Selbsterforscher“ wird und seine Beobachtungen in einem mehrsprachigkeitsbezogenen Lerntagebuch festhält. Dabei könnte es um Beobachtung gehen wie: Wie habe ich mir eine neue Struktur unter Rückbezug auf andere Sprachen merken können? Was hat mir geholfen? Wie kann ich die gewonnenen Erkenntnisse überprüfen, absichern und dauerhaft verfügbar machen? Wie lernen andere Mitglieder meiner Gruppe? Der mehrsprachig orientierte Fremdsprachenunterricht steht erst am Anfang seiner Entwicklung. Wir sollten seine Förderung ernsthaft betreiben und uns in Unterricht und Forschung darauf einlassen. Literatur Brammerts, H. & Kleppin, K. (2000): Übersetzen im Tandem und Kooperatives Dolmetschen in mehrsprachigen Lerngruppen. In: Fremdsprache Deutsch 23, 40-46. Butzkamm, W. (1993): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen, Basel. De Angelis, G. & Selinker, L. (2001): Interlanguage Transfer and Competing Linguistic Systems in the Multilingual Mind. In: J. Cenoz, B. Hufeisen & U. Jessner (Hrsg.): Cross-Linguistic Influence in Third Language Acquisition. Psychological Perspectives . Clevedon, 42-58. Gogolin, I. (1984): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule . Münster, New York. Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (2014): Euro- ComGerm - Die sieben Siebe. Germanische Sprachen lesen lernen . Aachen. Königs, F. G. (2000): Übersetzen im Deutschunterricht? Ja, aber anders. In: Fremdsprache Deutsch 23, 6-13. Königs, F. G. 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Hierzu notwendige plurilinguale und didaktische Transfereffekte greifen sowohl proaktiv auf neue Zielsprachen zu als auch retroaktiv, indem sie das bereits vorhandene mehrsprachige mentale Lexikon mit neuen Informationen überformen. Die gezielt freigesetzten Synergien unterscheiden das vernetzende Sprachenlernen von der additiven Mehrsprachigkeit bzw. den beziehungslos nebeneinanderstehenden Curricula und Praxen des Unterrichts einzelner Sprachen. Bei der Konzeption der Mehrsprachigkeitsdidaktik wurde von Anfang an mitgedacht, dass ihre Kehrseite die Mehrkulturalität ist (↗ Art. 28). Der Wunsch nach plurilingualer Lernökonomie steht am Anfang des Desiderats eines Gesamtsprachencurriculums (↗ Art. 14) oder einer integrativen Sprachdidaktik ( didactique intégrée, integrated approach ). Beide Dachbegriffe umschließen Mutter-, Zweit- und Fremdsprachen, Fachsprachen sowie unterschiedliche Bildungsziele und Methoden wie CLIL (↗ Art. 111, 115), frühes Fremdsprachenlernen, lebensbegleitendes Lernen, Sensibilisierung für Sprachen und Sprachenlernen (↗ Art. 22), und zwar im Rahmen einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit. Die Pluralen Ansätze zu Sprachen und Kulturen ( approches plurielles ) (↗ Art. 20) mit den Schwerpunkten Sprachenbewusstheit ( Eveil aux langues ), interkulturelles Lernen, Interkomprehension (↗ Art. 85) und integrative Didaktik bieten Deskriptoren für miteinander zu vernetzende Lernkontexte und Methoden. Allen Konzepten gemeinsam ist die Orientierung an metakognitiven Strategien zur sprachen- und lernbezogenen Sensibilisierung und, wenn lernerseitig möglich, zum Vergleichen mehrsprachiger Strukturen. Zugrunde liegt ein von den Wissenschaften vom Lehren und Lernen entwickelter, fächerübergreifend fassender Kompetenzbegriff, der 48 Franz-JosephMeißner im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (↗ Art. 18) Eingang fand. Je offener die Konzepte sind, desto stärker verlangen sie eine über die Schulzeit hinausgreifende Lernplanung, wie sie in der Unterscheidung zwischen einer vorhandenen und noch zu erwerbenden Mehrsprachigkeit entgegentritt (Hallet & Königs 2010). Die Dachbegriffe Mehrsprachigkeitsdidaktik, integrierte Didaktik und Plurale Ansätze antworten auf einen Kontext, der global bis lokal von sozietaler Vielsprachigkeit und Vielkulturalität gekennzeichnet ist, wie es die Begriffe Mehrheitsversus Minderheitensprachen, autochthone Sprachen oder Varietäten und Migrantensprachen andeuten (↗ Einleitung, Art. 7). Bei Letzteren geht es vor allem darum, dem Verlust von Herkunftssprachen oder regionalen Sprachen vorzubeugen. Die Vielsprachigkeit impliziert allerdings, dass die meisten auf dem Territorium eines Staates vorhandenen Sprachen - in Deutschland weit über hundert (Chlosta & Ostermann 2008) - nicht einmal als herkunftssprachlicher Unterricht berücksichtigt werden können, was die Relevanz von Einstellungszielen (Offenheit, Empathie, Toleranz usw.) und den Einsatz entsprechender Strategien unterstreicht. Vorrangig gilt allerdings europaweit das Erlernen der Staats- und Umgebungssprache auf nativem Kompetenzniveau. Defizite hier verbinden sich mit einer geringen Chance auf Integration und beruflichem Erfolg in der aufnehmenden Gesellschaft. 2. Kommunikationskompetenz in einer vielsprachigen EU Neben den nationalen Sprachenpolitiken setzt - neben den einzelnen Mitgliedsstaaten - die Europäische Union mit ihren 24 Amts- und weiteren Sprachen (↗ Art. 12) den politischen Rahmen der genannten Leitbegriffe. Diese liefern die didaktischen Antworten auf die Heterogenität der EU-Bevölkerungen und ihrer Sprachen; sodann auf das Potential des Englischen als Medium für die internationale Kommunikation, aber auch als eine Bedrohung für den Status der einzelnen EU-Sprachen (↗ Art. 13, Phillipson 2003). Ziel ist stets ein Mehr an Kommunikationsfähigkeit der EU- Bürger - trotz vorhandener Sprachbarrieren. Es verlangt neben der Ausbildung produktiver Kompetenzen auch die der rezeptiven Fertigkeiten. Der von Horst G. Klein (1997) geprägte Begriff der Eurokomprehension nimmt auf die Interkomprehension zwischen den drei großen Sprachfamilien Europas Bezug. Am Gegenstand der romanischen Sprachen erarbeiteten Klein & Stegmann eine ‚Filtermethode‘, die die Ressourcen für einen interromanischen Transfer zusammenstellt (↗ Art. 67). Hufeisen & Marx (↗ Art. 68) adaptierten das Modell der ‚Sieben Siebe‘ für die germanischen Sprachen und Tafel et al. (2009) legten eine Einführung in die slawische Interkomprehension vor. Zweifellos hat das Interesse an europäischer Interkomprehension weiteres Interesse geweckt, so z. B. zur Interkomprehension zwischen den Turksprachen (Massakowa 2014). Auch außerhalb Europas stößt der interkomprehensive Ansatz auf breites Interesse. 3. Jüngere Geschichte des Begriffs und der Nachbarbegriffe Die Formel „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ (↗ Einleitung) findet sich erstmals bei Mario Wandruszka (1979: 313, 323 ff.). Im Kern geht es bereits um das „kontrastive Lernen“ von Sprachen, Sprachaufmerksamkeit und 49 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik das reflexive Vergleichen sprachlicher Strukturen; aber, dies betont Wandruszka (1986), immer auch um Einsichten in den kulturellen Reichtum einer sich in vielen Sprachen ausdrückenden res publica litterarum . Mit Blick auf das damalige „Europa der Sechs“ bzw. die damalige Europäische Gemeinschaft entwarfen die ‚Homburger Empfehlungen‘ (Christ 1980) das Modell der sog. sprachenteiligen Gesellschaft, deren Bürgerinnen und Bürger von den meisten Anderssprachigen aus den sechs Ländern verstanden wurden. Die Empfehlungen nehmen Schlüsselbegriffe der späteren Schulsprachenpolitik vorweg: Begegnungs-, Fundamental-, Verkehrs-, Erschließungssprache, Sprachlernprozesse, bilinguale Klassen und bieten damit ein Curriculum für eine lebenslang auf- und weiterbaubare Mehrsprachigkeit. In Weiterführung der ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘ (Bertrand & Christ 1990) konkretisieren die ‚Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik‘ die bisherigen Ansätze um ein auf Vernetzung von Sprachen basiertes Konzept des Lernens und des Lehrens von (zunächst) rezeptiver Mehrsprachigkeit (Meißner 1995). In den ‚Umrissen‘ tauchen erstmalig grundlegende Begriffe wie Transferbasis, interlingualer Transfer und didaktischer Transfer, Sprachlernkompetenz (↗ Art. 20) auf. Die ‚Umrisse‘ betonten zugleich programmatisch, Prozesse des interlingualen Identifikationstransfers zunächst romanischer Sprachen durch Deutschsprachige analysieren zu wollen, um die Praktikabilität des interkomprehensiven Ansatzes in schulischem und außerschulischem Unterricht zu erproben und zu dokumentieren (↗ Art. 63, 70, 88; zu Interkomprehension und Lernerautonomie; zu Interkomprehension und Lerner u. a. m.). Weitere Bezugsfelder waren die empirisch begründete Entwicklung einer erweiterten Transfertypik und Studien zum Zusammenhang von Interkomprehension, Mehrsprachigkeit, Selbstwirksamkeit und Sprachlernmotivation (↗ Art. 64). In der Aktivierung des lernrelevanten Vorwissens liegt auch die Verbindung von Interkomprehension zu einer Methodik der Tertiärsprachen (↗ Art. 86). In der Romania sind didática do plurilinguismo und didactique de l’intercompréhension zumeist Synonyme . Der Begriff interkompréhension, intercompreensāo … schließt an die Fähigkeit der Romanophonen zum spontanen lesenden und hörenden Verstehen der Schwestersprachen an. Den Erstbeleg lieferte wohl Francis Debyser (1984). Schon 1975 hatte Louise Dabène ein Modell für das Erlernen typologisch nahverwandter Sprachen präsentiert, und 1971 hatte der Augsburger Romanist Fritz Abel beschrieben, wie sich im (deutschen) Französischunterricht rezeptive Kenntnisse des Spanischen vermitteln lassen. 1990 gibt die Fédération Internationale des Professeurs de Français (F. I.P. F.) dem Wort intercompréhension eine sprachpolitische Prägung. Wie sie unterstreicht, erweitert doch die romanische Interkomprehension den kommunikativen Radius z. B. des Französischen von 107 Millionen nativer Sprecher (Statista 2018) tendenziell auf 700 bis 800 Millionen nativer und auf viele Millionen sekundärer Sprachteilhaber. Intercompréhension gerät nun in die Nähe der Sprachlenkung (Schmitt 1988). Spätestens mit Sammelbänden wie der von Blanche-Benveniste & Valli 1997 erreicht der Neologismus dann die internationale Fachöffentlichkeit, wozu auch zahlreiche europäische Projekte beitrugen. 50 Franz-JosephMeißner 4. Entwicklungen in der Romania und in Österreich 4.1. La didactique du plurilinguisme in der Romania Schon früh verband sich der Ansatz mit der Produktion von Lernmaterialien und breiter empirischer Forschung. Eurom4, Galatea u. a. m folgen dem Prinzip, nur das zu lehren, was interromanisch intransparent ist. Schwerpunkte der Forschungen betreffen Interkomprehension in den einzelnen Fertigkeiten und zwischen unterschiedlichen romanischen Sprachen, Lehren und Lernen romanischer Sprachen mithilfe von Interkomprehension, interkomprehensiv basierte mehrsprachige Projektarbeit und Lehrerbildung. Mit ‚Euro-Mania‘ entwickelte Escudé (2010) eine Methode für den muttersprachlichen Unterricht von Französisch an 8 bis 11jährige, die darauf zielt, inhaltliche Themen in mehreren romanischen Sprachen zu lehren und lernen. Erweitert Interkomprehension einerseits den kommunikativen Radius im Sinne der Gesamtromania, so erleichtert sie andererseits den Zugang zu den ‚kleinen‘ Sprachen und Varietäten (↗ Art. 91). Der interkomprehensive Ansatz unterstützt damit auch vor allem die autochthonen Minderheitensprachen, ein weiteres Ziel der Europäischen Union. 4.2. Das Curriculum Mehrsprachigkeit in Österreich Generell antworten didaktische Konzepte auf konkrete Kontexte, Interessen und Intentionen, sie sind dementsprechend heterogen (↗ Art. 50, 51, 52). Vor dem Hintergrund einer positiven Bewertung von Mehrsprachigkeit (↗ Einleitung) beklagt Gogolin (1994) aus Sicht der Erziehungswissenschaften das Unvermögen der deutschen Schule, das schülerseitig durch Migration vorhandene Potential an Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu berücksichtigen („monolingualer Habitus“). Hu (2011) und Krumm (s. u.) betonen das Desiderat, die „lebensweltliche“ Vielsprachigkeit mit einem Konzept zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu verbinden. Idealiter sollte aus dieser Sicht eine Mehrsprachigkeitsdidaktik das gesamte Feld der mit Vielsprachigkeit interagierenden Formen der individuellen Mehrsprachigkeit erfassen. Dies versuchen tentativ Krumm & Reich mit dem für Österreich (↗ Art. 119) entwickelten ‚Curriculum Mehrsprachigkeit‘ (2011). Es handelt sich um den Entwurf eines Fächer und Sprachen übergreifenden Gesamtlehrplans, nach dessen Muster die Schulentwicklung auf die vorhandene Vielsprachigkeit reagieren kann. Das Curriculum umgreift quasi alle Schulstufen und -typen. Es fokussiert Sprachaufmerksamkeit, Sprachlernbewusstheit, Lernstrategien, Sensibilität für Kulturen und Heterokulturalität. Es nennt Lernziele, Methoden und abstützende Materialien. ‚Alle‘ in der Alpenrepublik präsenten Sprachen mit Ausnahme der Kunstsprachen und einschließlich der Alten Sprachen werden anvisiert. Die Passung für unterschiedliche Lernkontexte und Sprachen zielt primär auf Einstellungsziele: Offenheit gegenüber Mehrsprachigkeit und fremden Kulturen, Wertschätzung von Pluralität, Toleranz. Das Vergleichen von Sprachen bleibt allerdings relativ unverbindlich, solange konkrete Sprachen und Sprachenfamilien und deren Potentiale für Mehrsprachigkeit. nicht explizit nicht vorgestellt werden. Grundsätzlich gilt selbstredend: Sprach- und Mehrsprachenerwerb finden nicht statt, solange die Lerner nicht konkreten (ziel)sprachlichen Strukturen begegnen und diese mental verarbeiten. 51 7. Mehrsprachigkeitsdidaktik Ähnliche, aber weniger umfassende Pläne wie das Curriculum Mehrsprachigkeit, liegen für die Schweiz vor (↗ Art. 118). 5. Ausblick Eine umfassende Mehrsprachigkeitsdidaktik oder integrative Didaktik wird spätestens dann erreicht sein, wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr fragen, wie sie denn ihren Unterricht an vielsprachige Klassen optimieren können. Die Antwort kann nur aus einem Mix von Lehr- und Lernverfahren bestehen, der sich unter den Oberbegriff einer integrativen Didaktik bringen lässt. Deren wesentliche Elemente, vor allem solche der Interkomprehension, müssen lernwirksam den gesamten Sprachunterricht (Muttersprache, Englisch, Französisch usw.) durchziehen und in der täglichen Praxis von Lehren und Lernen zum Tragen kommen. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze können somit entweder als ein selbstständiges Kursangebot oder transversal in der Praxis der einzelnen Sprachfächer - der Muttersprachen, Zweit- und Fremdsprachen - verortet werden. Hierbei ist im Blick zu halten, dass Mehrsprachigkeitsdidaktik ein mächtiger Ansatz zur Entfaltung von Sprachlernkompetenz ist (↗ Art. 22). Ein Hoffnungsschimmer: Europas Schüler wollen mehr Sprachen lernen (Androulakis et al. 2007). Der Fremdsprachenunterricht muss weg von Konzepten der doppelten Einsprachigkeit im Sinne von etwa Deutsch plus Englisch und hin zu solchen der Mehrsprachigkeit: Deutsch und Englisch mit weiteren Sprachen. Literatur Abel. F. (1971): Die Vermittlung passiver Spanisch- und Italienischkenntnisse im Rahmen des Französischunterrichts. In: Die Neueren Sprachen 70, 355-359. Androulakis, G., Beckmann, C., Blondin, C. et al. (2007): Pour le multilinguisme: Exploiter à l’école la diversité des contextes européens. 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Dies bezieht sich auf mehrkulturelle biografische Bezüge aller am Prozess des Lehrens und Lernens von Sprachen Beteiligten, auf mehrkulturelle Kontexte der Gesellschaft, in der diese Prozesse ablaufen, und auf mehrkulturelle Bezüge der Themen und Inhalte. Mehrkulturalität ist abzugrenzen von Bikulturalität, d. h. es geht immer um mehr als zwei involvierte Kulturen. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Kulturbegriff und nach verschiedenen Definitionen von Kultur (↗ Art. 1). Spätestens seit den 1990er Jahren wurde eine komplexe Debatte zum Kulturbegriff in der Fremdsprachendidaktik und in den 53 8. Mehrkulturalitätsdidaktik Kulturwissenschaften geführt, ohne dass dies zu einem breit akzeptierten Konsens geführt hätte. Dabei wurden u. a. das Spektrum zwischen einem engen und einem breiten Kulturbegriff bzw. die Schwierigkeit der Zuordnung bestimmter kultureller Merkmale zu einer Kultur oder auch Fragen der (unzulässigen) Generalisierung und Homogenisierung einer bestimmten Kultur deutlich. Die Mehrkulturalitätsdidaktik hat diese Fragen zu bedenken und in jedem einzelnen Fall neu zu konkretisieren. Damit geht Mehrkulturalitätsdidaktik auch über die in der Fremdsprachendidaktik intensiv verhandelten Fragen des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32) und interkultureller Kompetenzen (Fäcke 2005) hinaus, deren Schwerpunkt über Jahrzehnte in der Auseinandersetzung mit oder zwischen zwei Kulturen besteht. Konkret wird nicht allein das Miteinander z. B. zwischen Deutschen und Franzosen anvisiert, sondern ein differenzierender Blick auf weitere involvierte Kulturen neben Deutschland und Frankreich eröffnet, u. a. die Kulturen autochthoner (↗ Art. 117) und allochthoner Minderheiten. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Der Begriff der Mehrkulturalitätsdidaktik wird hier analog zur Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) verwandt, die vor allem seit den 1990er Jahren in der Fremdsprachendidaktik intensiv diskutiert wird. Davon abzugrenzen sind Begriffe, die in früheren Jahrzehnten Verwendung fanden: Die Debatte zu Multikulturalität / Multikulturalismus der 1990er Jahre war u. a. zentriert auf Themenfelder der Kunst und Musik (Leggewie 1990). Sie manifestierte sich z. B. in Projekten wie dem in Berlin gegründeten Radio Multikulti oder dem Karneval der Kulturen . Charakteristisch für diese Debatte ist ein positiver Fokus auf Gastronomie, Folklore, Tanz und Musik, damit auf exotische und schöne Besonderheiten der jeweiligen Kulturen, z. B. Sambatänzerinnen aus Brasilien oder Trommlergruppen aus dem Senegal. Der fröhliche Blick beinhaltet stereotypisierende und kulturalistische Elemente (↗ Art. 33) ebenso wie ein Ausblenden politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen und Hierarchien zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen. In schulischen Kontexten realisiert sich dieser Ansatz in der Berücksichtigung der Esskulturen ethnischer Minderheiten oder der Folklore verschiedener Herkunftskulturen. Insgesamt wird diesem Zugang Verharmlosung sozialer und politischer Dimensionen oder auch eine (innen-)politische Instrumentalisierung vorgeworfen. Der Begriff der Multikulturalität wird in den folgenden Jahren durch Begriffe wie Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) und Transkulturalität (↗ Art. 41) abgelöst, wobei der ältere Terminus Interkulturalität vielfach als Oberbegriff gilt. Das Präfix Inter - verweist auf ein heterokulturelles Gegenüber, gegebenenfalls auf ein Miteinander, auf ein Verschränken und auf Beziehungen zwischen den Kulturen. Als Klammerbegriff umfasst Interkulturalität verschiedene Ansätze, die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den Kulturen und Individuen in den Vordergrund schieben (↗ Art. 33, 34, 35, 36, 37). Dabei wird in der Fremdsprachendidaktik oft ein bikulturelles Paradigma des Austauschs zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. dem Anderen mitgedacht (Bausch, Christ & Krumm 1994). Transkulturalität umfasst Positionen in der Tradition der Postmoderne, die Abgrenzungen zwischen einzelnen Kulturen grundlegend in 54 ChristianeFäcke Frage stellen (Welsch 1992) (↗ Art. 40). Wesentlich bei diesen Ansätzen ist die Betonung der Aufbrechung des Kontrasts zwischen zwei oder mehreren Kulturen (Eckert & Wendt 2003). Der aus der Soziologie und Pädagogik stammende Begriff der Diversität ( diversity ) wird derzeit als Paradigma zur Beschreibung und Wertschätzung von Vielfalt in der Gesellschaft genutzt. Dabei geht es um eine Erweiterung der Fokussierung ethnischer und kultureller Herkunft auf die zusätzliche Berücksichtigung weiterer gesellschaftlicher Kategorien entlang von Hierarchisierungen und Diskriminierungen (↗ Art. 38): Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Religion oder Behinderung. Im Mittelpunkt stehen die Interdependenzen zwischen diesen Kategorien, die je nach Kontext unterschiedliche Gewichtungen erfahren (Allemann-Ghionda 2013). Ein Mensch wird damit nicht nur als „Spanier“ oder „Amerikaner“ eingestuft, sondern z. B. als älterer homosexueller katholischer Spanier oder als jugendliche Schwarze im Rollstuhl aus Alabama, wobei je nach Kontext verschiedene Dimensionen der Identität aktiviert werden. Diskurse der Diversität umfassen auch feministische Diskurse, Auseinandersetzungen zu Altersdiskriminierung oder Positionen zu Behinderung und Inklusion. In der Fremdsprachendidaktik werden Fragen nach der Relevanz von Gender für das Sprachenlernen ebenso diskutiert wie der Altersfaktor beim Spracherwerb oder die seit Kurzem in Schulen umgesetzte Forderung nach Inklusion. 3. Entwicklungen im internationalen Vergleich Während im deutschsprachigen Raum Konzepte wie Mehrkulturalität, Multikulturalismus, Plurikulturalität, Pluralität, Vielfalt und Diversität zum Tragen kommen, bestehen in anderen Sprachräumen z.T. vergleichbare Debatten. Im englischsprachigen Raum werden Konzepte wie multiculturalism, cultural pluralism und cultural diversity diskutiert (z. B. Taylor 1994). In den USA gehören Metaphern wie melting pot und salad bowl zur Identität einer nationalen Einwanderergesellschaft. Beide Bilder evozieren Vorstellungen eines durchmischten Miteinanders in einem Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ und des American Dream . Damit sind grundlegend Fragen von gesellschaftlicher Integration, kultureller Assimilation und der Rassentrennung berührt, die in der amerikanischen Geschichte sehr kontrovers diskutiert wurden. Dabei spielt die Verquickung von race, class und gender eine wichtige Rolle. In Großbritannien ist multiculturalism vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte relevant, die in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Aufnahme von Menschen aus den Ländern des Commonwealth mit allen Rechten in Großbritannien führte. Diskurse zur Auseinandersetzung um ethnisch-kulturelle Vielfalt, Identität einer mehrkulturellen Gesellschaft und Umgang mit Minderheiten erfolgen auch hier sehr heterogen und situieren sich zwischen Ablehnung der Vielfalt und der Anderen bzw. „Fremden“, Öffnung im Sinne einer Akzeptanz des multiculturalism und verschiedenen Realisierungen von Integration und Diskriminierung, Assimilation und Ausgrenzung. Englischsprachige Diskurse einer Mehrkulturalitätsdidaktik avant la lettre thematisieren und analysieren diese Konfliktfelder in pädagogischen und didaktischen Kontexten. Dazu gehören u. a. die British Cultural Studies mit ihrer Erweiterung des Kulturbegriffs auf materielle Artefakte, beobachtbare Verhaltensstrukturen und dahinterstehende vermutete Mentalitäten (Williams 1989) sowie auf mar- 55 8. Mehrkulturalitätsdidaktik ginalisierte Gruppen, kulturelle Differenzen, Hegemonien und Machtstrukturen (Hall 1990). American Cultural Studies beinhalten verschiedene Etappen, u. a. Diskussionen des Kulturbegriffs in den Popular Culture Studies , im Ideological Criticism und im New Historicism sowie feministische und antirassistische Perspektiven der Race and Gender Studies oder auch neueste Entwicklungen hin zu Border Crossings, Multiple Identities und Transnationalisms (Fluck 2012). In Frankreich sind Vorstellungen zu ethnischer Diversität und Mehrkulturalität - multiculturalisme - seit der Französischen Revolution durch einen republikanischen Universalismus (↗ Art. 37) geprägt, der die Gleichheit ( égalité ) aller Bürger der Republik ohne Unterscheidung ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft postuliert. Dieses Postulat der égalité erfolgt allerdings um den Preis einer Integration durch Assimilation und tendenzielle Aufgabe der Herkunftskultur, eröffnet zugleich jedoch Zugang zur Gemeinschaft und zur Nation. Die Einheit der französischen Nation impliziert die Verlagerung ethnischer, kultureller oder religiöser Identitäten ins Private und die Vorrangstellung der Ideale der Französischen Revolution als Fundament der Einheitsstiftung. Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Diskurse tragen der Mehrkulturalität der heutigen französischen Gesellschaft Rechnung. Die Argumentationen in einer didactique des langues et des cultures zur interculturalité umfassen seit den 1970er Jahren das Recht auf Differenz immigrierter Minderheiten, die universalistische Aufrechterhaltung republikanischer Werte und die Anerkennung von Pluralität und Diversität als Teil der gesellschaftlichen Realität Frankreichs in den 1990er Jahren (z. B. Abdallah-Pretceille & Porcher 1996). Die anfänglich auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund konzentrierten Diskurse werden auf die gesamte Schülerschaft ausgeweitet, weitere Themenfelder sind die Interkulturalität im Kontext der europäischen Nachbarstaaten sowie Englisch, Deutsch und Spanisch als Fremdsprachen. Nach 2000 geht es in der approche pluraliste (Meunier 2008) um Einstellungen und interkulturelle Kompetenzen in einer von Heterogenität und kultureller Diversität geprägten Gesellschaft. Insgesamt erweist sich in europäischen Diskursen die Unterscheidung der Präfixe multi- und pluri-, wie sie im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001: Kap. 8.1) und im CEFR Companion Volume with New Descriptors (Council of Europe 2018) vorgenommen ist, als prägend: Multikulturelle Kompetenz dient zur Beschreibung gesellschaftlicher Kontexte, während plurikulturelle Kompetenz auf Einzelne bezogen wird (↗ Art. 18, 19). 4. Ausblick Entwicklungen in der Forschung spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen in einzelnen Ländern und Sprachräumen ebenso wie in ihrer internationalen Verflechtung wider. Einigkeit besteht in der Anerkennung von Mehrkulturalität als Realität in allen betrachteten Gesellschaften in Zusammenhang mit Migration und Globalisierung. Im deutschsprachigen Raum ist Mehrkulturalität ein Gegenstand verschiedener Disziplinen. Hierzu gehören • die Kulturwissenschaften und ihre Beschreibungen gesellschaftlicher Verhältnisse sowie historischer Entwicklungen einzelner Länder oder im Vergleich (↗ Art. 35), • die Erziehungswissenschaften, die Mehrkulturalität als Rahmenbedingung für pädagogische Kontexte und deren Relevanz dieses Faktors für mehrkulturell 56 ChristianeFäcke geprägte Individuen in sozialpädagogischen und schulischen Kontexten analysieren (↗ Art. 16), • die Bildungswissenschaften und ihre Berücksichtigung mehrkultureller Bezüge z. B. als Faktor im Bildungsmonitoring oder auf individueller Ebene für den schulischen Erfolg (↗ Art. 16), • die Fremdsprachendidaktik, die sprachenpolitische Entwicklungen diskutiert sowie Erweiterungen interkulturellen und transkulturellen Lernens auf mehrkulturelle Kontexte untersucht (↗ Art. 17), • das Fach Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, in dem mehrkulturelle Faktoren und ihre Auswirkungen auf den Erwerb von Deutschkenntnissen von Menschen mit Migrationshintergrund und Migranten thematisiert werden (↗ Art. 51, 52, 53, 106). Diese verschiedenen Perspektiven auf Mehrkulturalität eröffnen facettenreiche Perspektiven in einem komplexen gesellschaftspolitischen Umfeld, das vermeintliche Neutralität nicht zulässt. Daher sind diese Forschungsdiskurse und Standpunkte zwingend hoch politisch, mit Fragen der Identität verknüpft (↗ Art. 1) und nie abschließend zu führen. Als Spiegel mehrkultureller Gesellschaften werden sie auch in Zukunft Ambivalenzen, Brüche und komplexe sowie einander widersprechende Zielsetzungen sichtbar machen. Literatur Abdallah-Pretceille, M. & Porcher, L. (1996): Éducation et communication interculturelle . Paris. Allemann-Ghionda, C. (2013): Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven . Paderborn u. a. Bausch, K.-R., Christ, H. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (1994): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors-/ Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Frankfurt a. M. u. a. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . 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(1992): Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen . München. Williams, R. (1989): Resources of Hope: Culture, Democracy, Socialism . London. Christiane Fäcke B Europäische Mehrsprachigkeits- und Fremdsprachenkonzepte 9. Politische Dimensionen der rezeptiven Mehrsprachigkeit für die europäische Demokratie 1. Aufriss: die Finalität der EU und die Mehrsprachigkeit Jeder europäische Bürger sollte sich außer in seiner Muttersprache in mindestens zwei anderen Sprachen gut verständigen können. (…) die bereits von mehreren Mitgliedstaaten erzielten Fortschritte [zeigen], dass es absolut erreichbar ist. (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003: 4) Die Zielformulierung der Europäischen Union definiert als mehrsprachiges Minimum eine operable Mehrsprachenkompetenz in drei Sprachen, gekennzeichnet durch die Beherrschung aller vier Teilfertigkeiten auf freilich unterschiedlichen Kompetenzstufen. Das Adverb „mindestens“ signalisiert deren Erweiterung auf eine diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit. Die Abstufung betrifft zwei Aspekte: das in den Fremdsprachen zu erreichende Kompetenzniveau und die Reduktion aller vier Grundfertigkeiten auf zwei rezeptive Kompetenzen. - Die Zielvorgabe antwortet auf die Vielsprachigkeit der EU. - Zugleich rückt die Kommission von der unrealistischen Idealvorstellung des native speaker ebenso ab wie von der Fokussierung auf formal-sprachliche Fehlerlosigkeit; stattdessen wertet sie die mündlichen Kompetenzen und die interkulturelle Pragmatik im Rahmen einer interkulturellen Kommunikationsfähigkeit als übergeordnetes Lehrziel auf. An die Stelle des native speaker als Zielvorstellung tritt der mehrsprachige interkulturelle Sprecher. 1.1. Mehrsprachige Kompetenzprofile und europäische Kommunikation Während man im Europa der Sechs der 1960er Jahre noch mit Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und der Weltverständigungssprache Englisch auszukommen glaubte, um den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, in interkultureller Kommunikation ihre Muttersprachen zu gebrauchen, ist eine solche Eingrenzung in einer Union mit 24 Sprachen zu eng (↗ Art. 11). 58 Franz-JosephMeißner Dies verlangt ein quantitativ wie qualitativ erweitertes schulisches und außerschulisches Fremdsprachenangebot im Sinne des mehrsprachigen Minimums. Faktisch schränkt die Minimalformel allerdings die Wahlfreiheit zugunsten aller EU-Sprachen insofern ein, als eine von zwei Fremdsprachen (außerhalb der irischen Republik, Malta und des Vereinigten Königreichs) immer und überall Englisch ist. Dies verbindet sich zwar mit dem gewaltigen Vorteil, der sich aus der Beherrschung einer Weltverständigungssprache ergibt, es setzt jedoch Menschen, die das Englische nur eingeschränkt oder gar nicht beherrschen, in einen nicht vertretbaren Nachteil. Auch bei der Herstellung einer einheitlichen europäischen politischen Öffentlichkeit bleibt Englisch als ‚Eurosprache‘ defizient, da es abgesehen von den englischsprachigen Gesellschaften nie Ausdruck der involvierten Kulturen und ihrer Themen ist. Keine Frage ist, dass die Mehrsprachigkeit unter Einschluss von Englisch ebenso eine breite Förderung verdient (↗ Art. 12) wie der Ausbau einer zweiten Fremdsprache auf hohem Kompetenzniveau in allen vier Grundfertigkeiten und den Weiterbau zu einer erweiterten Mehrsprachigkeit. 1.2. Mehrsprachigkeit als sprachenpolitische Leitlinie der EU Die EU-Leitlinie zur Fremdsprachenkompetenz steht in einer 50jährigen Tradition, die mit der European Cultural Convention (1954) ihren Anfang nimmt. Obwohl mehr Sprachenkenntnis per se noch nicht zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker führt (was auch die politisch verantwortlich Handelnden immer wussten), geht die EU davon aus, dass mehr individuelle Mehrsprachigkeit ihren Bürgerinnen und Bürgern mehr Verständnis füreinander („mutual understanding“) ermöglicht. Dies erklären explizit oder implizit zahlreiche EU-Dokumente, darunter der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen ( GeR ) (2001) und das diesen ergänzende Companion Volume (2018) (↗ Art. 18, 19), der Guide for the Development and implementation of curricula for plurilingual and intercultural education (Beacco et al. 2016) und Linguistic integration of adult migrants. Guide to policy development and implementation (Council of Europe 2014), um nur die vielleicht wichtigsten programmatischen Publikationen zu nennen. Mit den zuletzt genannten Dokumenten hat die EU ein unübersehbares Signal zur Entwicklung von mehr Mehrsprachigkeit an ihre Mitgliedsstaaten gesendet. Und diese bemühen sich, wie die Eurostatistiken (Eurydice 2012) belegen, die Empfehlungen auch umzusetzen (↗ Art. 21). Generell sieht die EU in der Mehrsprachigkeit eine „Schlüsselkompetenz“, die es erlaubt, innerhalb der Union Freizügigkeit des Arbeitsplatzes und der Residenz wahrzunehmen. Mit dieser Formulierung knüpft die Europäische Kommission an ihr Weißbuch Lehren und Lernen (…) Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft (1996: 3) an. Die individuelle und diversifizierte Mehrsprachigkeit selbst gilt auch als eine Strategie, um die EU zu dem „wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ zu entwickeln (ebd.). Zur Wechselwirkung zwischen einer breiten individuellen Mehrsprachigkeit und dem Funktionieren einer vielsprachigen Europäischen Demokratie schweigen sich die EU-Publikationen indes aus. Dabei wird eine diversifizierte Mehrsprachigkeit umso wichtiger, desto stärker die Finalität der Union auf eine solche Demokratie und die ihr zugrunde liegende Wertegemeinschaft zielt, in der sich das in weit über zwanzig Muttersprachen und 59 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie Nationen ausdrückende (souveräne) Wahlvolk ein gemeinsames europäisches Parlament gibt und dieses die Exekutive wählt. Mag auch die Finalität der EU umstritten sein; unbestreitbar ist das Unvermögen der einzelnen europäischen Nationalstaaten, allein die epochalen Herausforderungen unserer Zeit zu lösen: den Klimawandel bekämpfen, Wohlstand und Sicherheit der Bevölkerung sichern, der europäischen Bevölkerung eine Stimme in der Welt geben. Dazu reicht ein lockerer Staatenbund nicht. 2. Die Rolle der Sprachen als meinungsgenerierende Faktoren in einer vielsprachigen Union aus sechsundzwanzig Staaten Es gibt nur wenige repräsentative Demokratien, in denen die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger nicht dieselbe Sprache sprechen und verstehen können. Die politische Wissenschaft betont seit Jahrzehnten (z. B. von Kielmansegg 1992), dass die Vielsprachigkeit und das hieraus folgende Fehlen einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit die wesentlichsten Hindernisse für den Ausbau einer europäischen Demokratie darstellen. Im Kern betriff dies vor allem die rezeptiv-mehrsprachige Kompetenz, denn sie entscheidet elementar darüber, ob die Bürger die Themen der ‚anderen‘ überhaupt verstehen können. Solange dies nicht der Fall ist, müssen Themen das Filter von Übersetzungen und nationalsprachlicher Berichterstattung durchlaufen. Dass es hierbei an affektivem Potenzial, das diese Themen in den sie stark betreffenden Menschen wachrufen, verloren geht, liegt auf der Hand. Was dies für die europäische Meinungsbildung bedeuten kann, sei anhand der Gedanken erläutert, die im Rahmen der Erfindung der repräsentativen Demokratie zum Phänomen ‚Meinung‘ - demokratische Macht beruht auf den unzähligen Meinungen des Wahlvolkes - im Falle der EU: der aus vielen Völkern zusammengesetzten Bürgerschaft - und unzähligen Themen - formuliert wurden. 2.1. Politische Meinungsbildung in der Anthropologie der Federalist-Papers Mehr als in Staaten, in denen der Volkswille nur eine nachgeordnete Rolle spielt, beruht laut Federalists-Papers (Madison 1788/ 1965) in (repräsentativen) Demokratien die legitime politische Macht auf der Mehrheitsmeinung der Wahlberechtigten. Zu ihrer Feststellung bedarf es eines transparenten, geregelten Wahlverfahrens. Sein Ergebnis konstituiert den politischen Handlungswillen, d. i. die Regierung. Die Gegenstände der Meinungsbildung umfassen ungezählte und sich immer neu stellende Fragen der Politik, für deren inhaltliche Beurteilung es keine verbindliche Methode gibt. Daher ist die Methode des politischen Urteilsvermögens topisch: Jedes Thema verlangt einen eigenen Zugriff, eventuell in einer nur ihm eigenen Sprache. Natürlich ist die Bürgerschaft überfordert, sich zu allen anfallenden Fragen ein Urteil zu bilden und dieses in der Öffentlichkeit zu verhandeln. Doch wie kommen Meinungen zustande? In den Augen des Verfassungsvaters und vierten Präsidenten der USA, James Madison, ist folgende Trias konstitutiv: passion (dt. Leidenschaft, Vorliebe, Geschmack), reason (Vernunft), interest (Interesse). Für die rein von passions geleitete Meinungsbildung sind weder die Nachvollziehbarkeit eines Arguments ( reason ) noch ein Interesse ( interest ) allein entscheidend, sondern Gefühle (Liebe, Hass, Sympathie/ Antipathie, Glaube, Ängste, Begeisterung, Rache usw.). Legitimierende und 60 Franz-JosephMeißner polykausale Referenzen sind zur Herstellung passion -initiierter Wir-Erlebnisse nicht notwendig, doch sind Ausgrenzungen, Definitionen von out-groups und ‚Feinden‘ förderlich. - Eine Parenthese aus gegebenem Anlass: Simplifizierende, nationalistische und populistische Sichtweisen instrumentalisieren das ‚Fremde‘, und der Nationalismus blickt nicht auf das Gemeinsame und allen gemeinsam Mögliche, sondern auf kurzfristig wirkende eigennationale Vorteile (für die jeweilige Wählerschaft): Die Vorteile der Anderen erscheinen leicht als Nachteile zu Lasten des Eigenen. Nationale Egoismen zu reduzieren, erfordert die Aufhebung dieser Fixierung sowie kollektive Empathie, europäische Identität und generelle Mitmenschlichkeit. - Natürlich sind passions an sich neutral und können integrativ (sie sind wie wir) oder adversativ verwendet werden (sind anders). Passions entscheiden auch darüber, ob vernünftige ( reasonable ) Argumente zugelassen und wie sie dargestellt werden. Auch die interests sind an einer Finalität festgemacht. Zumeist betreffen sie wirtschaftliche oder pekuniäre Vorteile. Ihre Beurteilung fällt in kurzfristiger oder langfristiger Betrachtung oft unterschiedlich aus. Natürlich sind Meinungen nie ausschließlich das Ergebnis der einen oder anderen Komponente. Stets handelt es sich um einen Mix von interagierenden Variablen. Madison betont, dass auch reason -geleitete Meinungen unweigerlich dazu führen, dass sich die öffentliche Meinung aus vielen unterschiedlichen Einzelmeinungen bildet („… men […] inevitably fall into different opinions“, L). Der guten Regierung fällt u. a. die Aufgabe zu, die Auswirkungen von passions und interests im Sinne der dann handlungsleitenden, weil möglichst weit in die Zukunft blickenden reason im Sinne des Gemeinwohls zu formieren. 2.2. Die Federalist -Anthropologie, gewendet auf die EU Was heißt dies nun für das Funktionieren der vielsprachigen Europäischen Demokratie und ihrer wesentlichen funktionalen Grundvoraussetzung im Sinne der nationalen Volkssouveränitäten und/ oder einer weiter zu etablierenden europäischen Volkssouveränität bzw. des meinungsbildenden öffentlichen Diskurses? Welche Rolle spielt hierbei die rezeptive Mehrsprachigkeit? Passions, reasons und interests betreffen sowohl die Meinungsbildung der Menschen in ihrer Eigenschaft als Unionsals auch Staatsbürger. Sind die meinungsbildenden und an kollektiven Identitäten gebundenen Anteile der Trias schon innerhalb pluraler nationaler und einsprachiger Gesellschaften unterschiedlich verteilt, so gilt dies viel stärker noch für die vielnationale und vielsprachige Union. Was diese angeht, so müssen unterschiedliche, sich national formierende meinungsbildende Prozesse unter ein gemeinsames europäisches Dach gebracht werden. Auch die Medien stehen in diesem konfliktiven Dilemma, tendieren aber aus durchsichtigen Gründen dazu, die jeweilige eigennationale Perspektive viel detaillierter zur Sprache zu bringen als die der Nachbarn. Damit werden in den nationalen Gesellschaften der EU dieselben Themen nicht nur sehr unterschiedlich behandelt, es werden auch jeweils sehr unterschiedliche Gefühle ( passions ) losgetreten, was nicht zur Bildung eines gemeinsamen europäischen politischen Handlungswillens, erleichtert durch eine politisch tragfähige europäische Identität, beiträgt. Themen der Nachbarn, deren Sichtweisen und Sensibilitäten einfach okkultieren oder zumindest marginalisieren und zugleich eigene - vor allem passion -basierte - nationale Sichtweisen und Wertungen ‚zoomen‘ und ständig 61 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie vor dem nationalen Publikum bestätigend wiederholen ist EU-weit in den Medien zu beobachten - und zwar keineswegs nur in den mehr und mehr autoritativen oder gelenkten Demokratien wie in Polen oder Ungarn. Das Verfahren hat Methode, die sich u. a. in der von Teilen der Wählerschaft ungestraft hingenommenen Gleichschaltung der Medien und der Produktion sog. fake news (die fast immer einseitig auf die passions schielen) manifestiert. Hier begegnet eine Strategie zur inneren Zersetzung der Europäischen Union von der Manipulation der nationalen Öffentlichkeiten her. Die Wirksamkeit des Verfahrens bewies die über weite Strecken hinweg lügenhafte Kampagne der Brexit-Befürworter im Juni des Jahres 2016. Statt bestraft, wurden die fake news -Lügner belohnt. 3. Europäische Demokratie und durch Rezeption erweiterte Mehrsprachigkeit im Diskurs der Fremdsprachendidaktiken In ungezählten Publikationen begleiten die Fremdsprachendidaktiken die Europäische Sprachenpolitik seit deren Anfängen. Ihrer Kernkompetenz gemäß beschränkten sie sich dabei nahezu ausschließlich auf folgende Bereiche: Lehren und Lernen fremder Sprachen und Kulturen, auch im Kontext der Komplexion relevanter Variablen; Methodik und Testen; Konstruktion von sprachlichen Minima; Lehrende und Lernende sowie Sprachenpolitik. Der Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und der Bildung der öffentlichen Meinung in einer vielsprachigen Europäischen Union der Bürgerinnen und Bürger, also nicht nur der Staaten, bleibt ausgeblendet. Anders gesagt: Die europäischen Leitlinien (↗ Art. 12) leiten nicht oder nur sehr unzureichend zur Ausbildung politischer Urteilsfähigkeit, bezogen auf eine vielsprachige Demokratie, an. 3.1. Das spezifische Potential von Fremdsprachenkompetenz zwischen nationalen Identitäten und Europäischer Identitätskonstruktion War der Erziehungsauftrag im 19. und überwiegend auch im 20. Jh. national ausgerichtet und an einer einzigen nationalen Sprache orientiert (Byram 2012), so ist er heute bzgl. des lernrelevanten Vorwissens und der Zielperspektiven zunehmend vielkulturell und mehrsprachig, wobei der jeweilige nationale Raum die stärkste Klammer bleibt. Der neue Anspruch an den Fremdsprachenunterricht - nunmehr zu echter interkultureller Kommunikationsfähigkeit in mehr als zwei Sprachen zu befähigen - verlangt eine Revision der Erziehungsziele, der Kursprofile und der Lehrlernmethoden: Wurden diese noch in Zeiten der Kommunikativen Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 30) einzelzielsprachlich definiert, so stellt die EU nun hierneben das Ziel des mehrsprachigen Minimums. Die quantitative Zielperspektive hat qualitative Folgen. Weil Sprachen in Zahl und jeweiligem Umfang individuell nur begrenzt lern- und lehrbar sind und staatlicherseits Fremdsprachenunterricht nur für wenige Sprachen breit und qualifiziert anbietbar ist, ist eine Abstufung und Präzisierung des Kompetenzziels für dritte, vierte und weitere Fremdsprachen unerlässlich: Auch in diesem Zusammenhang treten die rezeptive Mehrsprachigkeit qua Interkomprehension, sodann die Sprachlernkompetenz und in der Methodik das sprachenvernetzende Lernen (↗ Art. 14) in den Blick. Doch welche neuen Ziele fügt der neue Anspruch den bisherigen Zielen hinzu? 62 Franz-JosephMeißner „Identität“ - ob kollektiv oder individuell - ist nicht nur ein Bewegungsbegriff des politischen Bezirks (Koselleck 1972). Das Wort hat auch in den Fremdsprachendidaktiken ein Echo gefunden (Meißner 2013; Burwitz-Melzer, Königs & Riemer, passim). Es bezeichnet eine starke Verbindung zwischen einzelnen Menschen einerseits und einer kollektiven Entität (Staat, Region, Stadt, Religionsgemeinschaft, Arbeiterschaft, Geschlecht, Generation, Parteizugehörigkeit usw.) andererseits. Offensichtlich kann sich personale Identität nur an der Identität einer Gruppe ausbilden. Das, was Erneste Renan 1882 für die französische Nation beschreibt („…une grande solidarité, constituée par le sentiment des sacrifices qu’on a faits et de ceux qu’on est disposé à faire encore“), gilt mutatis mutandis auch für ein zu entwickelndes europäisches Wir-Gefühl. Dieses müssen die Bürger ausbilden; insbesondere, wenn sie die EU nicht nur als einen losen Staatenbund verstehen (wollen? ): Das Wissen um eine gemeinsame Vergangenheit (und deren gemeinsam erlittene Katastrophen) und der Wille zu einer gemeinsamen Zukunft sind für den politischen Bestand der Europäischen Union konstitutiv. Bis heute machen indes die nationalen Staaten weitaus mehr nationale Identifikationsangebote an ihre Bevölkerungen, als solche EU-seitig pro Europa existieren. Nicht nur das: Zu oft wird die Union zum Sündenbock abgestempelt, um von Fehlern der nationalen Politik (Politiker) abzulenken. Die politische Semantik spricht in nahem Zusammenhang hierzu von Miranda- und Tabuzonen: verehrungsträchtige oder zur Diskriminierung führende Themen und Symbolwörter. Für Luhmann (1987: 224, 229) ist Kultur ein Repertoire an Themen, die innerhalb einer Sprechergemeinschaft - zumeist eine nationale - intensiv und langzeitlich kommuniziert bzw. geteilt werden. So wachsen ein gemeinsames Grundwissen ( common grounds ) und das kollektive Gedächtnis mit der Semantik der Gesellschaft (Luhmann 1980). Die unterschiedlichen und unterschiedlich verteilten Miranda- und Tabuzonen sind Teile der verschiedenen gesellschaftlichen Semantiken in der EU. Die Europäische Gesellschaft ist - auch - in dieser Hinsicht vielfach kulturell fragmentiert. Die jüngere semantische Frame-Forschung beleuchtet diesen Zusammenhang mit anderen Mitteln (passim: Wehling 2018). - Fraglos ist eine EU-identitätsstiftende Erziehung nicht nur eine Aufgabe der sprachlichen Fächer. Doch sind die Fremdsprachen die einzigen, die die Begegnung mit zielkulturellen Themen in den Sprachen der EU-Bürgerinnen und -Bürger selbst erlauben. Im Klartext: Fremde Sprachen liefern uns die Sichtweisen der fremden Sprachgemeinschaften auf die jeweils eigenen, die nationalen sowie die europäischen Themen. Die rezeptive Mehrsprachigkeit ist die unseren Horizont erweiternde Brille, die wir uns aufsetzen müssen, um mehrere fremde Kontexte und dortige Meinungsbildungen erkennen und in ihren passion , reason und interests verankerten Voraussetzungen besser verstehen zu können. Kenntnisse in nur einer einzigen Fremdsprache neigen dazu, dass alle Fremdheiten in der Sammelkategorie der einzig bekannten sprachlich-kulturellen Fremdheit zu subsumiert werden. Fazit: Eine europäische Identitätsbildung kann nur polyreferentiell, plurinational, sprachlich diversifiziert und mehrsprachig gedacht und gemacht werden (↗ Art. 18). Sie muss an wirkungsmächtige national kommunizierte Inhalte anknüpfen, diese international-EU-europäisch vergleichen, integrieren und weiterführen, und zwar so, dass interests , passions und reason kulturspezifisch-differenzierend mitbedacht werden. 63 9. PolitischeDimensionenderrezeptivenMehrsprachigkeitfürdieeuropäischeDemokratie 3.2. Kollektive Affektpotentiale über mehr rezeptive Mehrsprachigkeit europaweit bekannter machen Der Vorwurf der EU-Skeptiker gegenüber einem vereinten Europa verbindet sich regelmäßig mit einer vermeintlichen Bürgerferne des angeblich so fernen Brüssel und einem Kontrollverlust der nationalen Instanzen sowie einem Verlust von Geborgenheit im Nationalen. Das geforderte Mehr an Subsidiarität bedeutet europaweit natürlich auch mehr lokale, regionale und nationale Diversität, um die herum sich dann die in den Medien dargestellten und verhandelten Diskurse in den verschiedenen Sprachen bilden. Dass in diese Diskurse, von denen jeder einzelne vor einem eigennationalen kollektiven Gedächtnis steht, immer auch Konnotationen (Wertungen) einfließen, deren emotive Dimension nicht einfach qua Übersetzung angemessen widergegeben werden kann, steht der europäischen Identitätsbildung entgegen. Dies bezeugen frequente Hochwertwörter wie it. il mio paese (dt. mein Dorf, mein Land, das viel mit dt. „Heimat“ gemeinsam hat), frz. les riches (ein Kampfbegriff der französischen Linken ohne wirkliche emotive Entsprechung im Deutschen) oder La République ( …pour elle un Français doit mourir… , heißt es in dem bis heute gesungenen Chant du Départ des Jahres 1794; es wäre im deutschen Diskurs undenkbar), dt. Gutmenschen (frz. les bien pensants verkürzt um den „typisch deutschen“ Diskurs um politische Korrektheit), Euthanasie (das außerhalb des deutschen Sprachraums keineswegs in starker Weise mit dem Holocaust assoziiert wird, sondern dort regelmäßig Sterbehilfe bedeutet) usw. Natürlich prägen nicht nur affektiv stark aufgeladene Begriffe die politische Semantik staatlicher Sprachgemeinschaften; stattdessen wirken offene oder versteckte Wertungen generell innerhalb einer Sprachgemeinschaft und ihren Angeboten zur Meinungsbildung hinein (u. a. Wierzbicka 1997). Nicht ohne Grund ordnet die Friedensforschung die unmerkliche Führung unserer Gedanken durch die Sprache der kulturellen Gewalt zu (Galtung 1993). Die Wirkung auf Leser ist nicht dieselbe, wenn sie einen fremdsprachigen Text in der Originalfassung oder in einer (selbst guten) Übersetzung lesen. Denn schon die bloße Rezeption in einer fremden Sprache nimmt uns ein Stückweit in deren Kommunikationsgemeinschaft hinein (was keineswegs heißt, dass wir uns ‚fremden‘ Meinungen kritiklos anschließen). Hier liegt der Zugriff der rezeptiven Mehrsprachigkeit als einer Teilantwort auf die national-fragmentierten europäischen Öffentlichkeiten (↗ Art. 6). 4. Mehrsprachige Rezeptionskompetenz und Werteerziehung in der Europäischen Union als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts Die geopolitische Situation in Gestalt der Globalisierung, dem Aufkommen neuer Zentren politischer und ökonomischer Macht, mit vielfältigen Facetten - als Antworten hierauf: die europäische Einigung und die Geburt der demokratischen EU als Lehre aus den Katastrophen der europäischen Geschichte, gegen das Unvermögen der einzelnen europäischen Nationalstaaten, die ökologischen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft zu bestehen und den Europäern im Konzert der Völker eine hörbare Stimme zu verleihen - verlangt (auch) eine grundlegende Revision des Erziehungswesens einschließlich des Fremdsprachenunterrichts. Zwar ist dank der oben angedeuteten Initiativen des Europarats 64 Franz-JosephMeißner viel geschehen. Doch ist der gegenwärtige Status (man mag nicht vom state of the art sprechen) weit davon entfernt, den möglichen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zu einer europäischen Werteerziehung und einer plurireferentiellen europäischen Identitätsbildung zu leisten. All dies geht nicht ohne eine in der europäischen Bevölkerung hinreichend weit verbreitete Kenntnis der Nachbarsprachen und -kulturen. In diesem Sinne muss der Fremdsprachenunterricht in der EU auch als Teil der politischen Bildung begriffen werden. Auf der Grundlage des klug definierten mehrsprachigen Minimums erfordert dies neben der Förderung von dreisprachiger umfassender Kommunikationskompetenz die Regulierung von Maßnahmen zur Verbreiterung der rezeptiven Mehrsprachigkeit sowie die Öffnung des Fremdsprachenunterrichts über die einzelne Zielsprache und Zielkultur hinaus (↗ Art. 14, 16, 29, 65). Last but not least: Erziehung wirkt langfristig - eine notwendige Investition, die morgen ihre Früchte trägt. Eine Ergänzung des Fremdsprachenunterrichts um rezeptive Mehrsprachigkeit und einer politischen Werteorientierung zur Verbesserung der politischen Urteilskraft, die auch den Blick auf die Nachbarn mit einbezieht, ist längst überfällig. Die Weiterentwicklung des nationalen Fremdsprachenunterrichts zu einem in der Tat europäischen liegt zutiefst im Interesse Europas und seiner (hoffentlich) friedensstiftenden Wirkung in der Welt. Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2016): Guide for the Development and Implementation of Curricula for Plurilingual and Intercultural Education . [https: / / www.coe.int/ en/ web/ language-policy/ guide-for-the-development-and-implementation-of-curricula-for-plurilingual-and-intercultural-education]. Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Riemer, C. (Hrsg.) (2013): Identität und Fremdsprachenlernen. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung. Arbeitspapiere der 33. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. 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Der Mensch ist plurilingual, gestuft mehrsprachig (Hochsprache, regionaler Dialekt, sozialer Dialekt, Zweitsprache(n), Fremdsprache(n)). Einsprachigkeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. 2. Sprache und Recht Staaten und überstaatliche Verbünde verfügen in aller Regel über eine explizite Sprachgesetzgebung (↗ Art. 11). Ist sie politisch „hoch aufgehängt“, ist sie Bestandteil der Verfassung, oder, vordemokratisch: der obrigkeitlichen Legislative. Der Erlass Franz I. von Villers-Cotterêts (1539), der Französisch als Sprache der Staatsverwaltung und Rechtsprechung vorschreibt, ist ein solcher gesetzgeberischer Akt. Sprachregelungen können auch einfachgesetzlich und in föderativen Systemen von teilnehmenden Staaten festgelegt sein: Das deutsche Grundgesetz legt keine Amtssprache fest; alle Regelungen sind einfachgesetzlich, wobei die Regelungskompetenz als Bestandteil der Kulturhoheit bei den Ländern liegt. Die ‚Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen‘ des Europarats (1992) schützt als übergeordnetes Recht Minoritätensprachen innerhalb ihrer Siedlungsräume; in Deutschland garantiert sie, dass die Sprachen Dänisch, Friesisch, Niederdeutsch, Romanes und Sorbisch in der Hoheit der jeweiligen Bundesländer in bestimmten Bereichen Amtssprachen sind (↗ Art. 121-125). Mundarten gelten sprachrechtlich als Varietäten der Hochsprache (↗ Art. 126); Luxemburgisch und Jiddisch sind eigenständige Sprachen. Österreichisches Standarddeutsch und Schweizer Hochdeutsch werden als nationale Standardvarietäten klassifiziert (↗ Art. 118, 119). 66 KonradSchröder Sprachgesetzgebungen regeln den Stellenwert der einzelnen auf dem Staatsterritorium benutzten Sprachen, auch als Gerichts-, Parlaments-, Gesetzes- und Schulsprachen. Sie können auf eine einzige, staatstragende Sprache hin ausgerichtet sein, oder alternativ auf ein Neben- und Miteinander gleichberechtiger Sprachen (etwa: Sprachgesetzgebung der EU). Kompromisse sind gängig, teilweise geboren aus der Macht des Faktischen, etwa in EU-Gremien (↗ Art. 12), in denen man sich auf die Sprachen der Experten und/ oder Englisch einigt (Hoheisel 2005). Auch das Verbot von Sprachen ist mitunter Bestandteil sprachlicher Gesetzgebung gewesen (Deutsch in Teilen Ostmitteleuropas nach 1945). Derartige Sprach- und Kulturverbote, stets als Kollektivstrafe verhängt, sind Verstöße gegen das Völkerrecht. 3. Sprache und Nation Der lateinische Begriff natio „Geburt, Volksstamm, Klasse, Herkunft, Sippschaft“ fokussiert in vager Form auf sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten. Die eine, staatstragende Sprache gibt er als Konsequenz nicht her. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein Gebilde mit vielen nationes und Sprachen, ohne verbindliche Leitsprache. Nach außen, in diplomatischer Mission, wurde Latein benutzt. Diese Sprache aber wurde seit dem 17. Jahrhundert von Frankreich, dem Hauptgegner auf der politischen Bühne, nicht mehr akzeptiert. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 wurde um Monate verzögert, weil die französische Abordnung behauptete, nur die eigene Nationalsprache zu verstehen, während die deutsche Delegation auf Latein als Verhandlungssprache beharrte. F. C. Moser (1750: 49 ff.) beschreibt die sprachenpolitischen Auseinandersetzungen im Detail. Die Nationalstaaten der Renaissance wie Frankreich und England betrachteten die symbiotische Einheit von Staat und Sprache als konstitutiv. Sie setzten auf konsequente Sprachentwicklung und Sprachpflege, gerade auch im literarischen und pädagogischen Bereich, und auf ein hohes Maß an Zentralismus (Schröder 2000). Deutschland vollzog den Wandel zum Nationalstaat erst drei Jahrhunderte später. Die Sprachpflege des (Hoch-) deutschen begann mit Luthers Bibelübersetzung; sie wurde im Zeitalter der deutschen Klassik intensiviert und mit der Säkularisation zum pädagogischen Programm. Noch die Preußische Akademie der Wissenschaften Friedrichs des Großen hatte auf Französisch funktioniert, doch das Französische als internationale Sprache war mit den Auswüchsen der Revolution und der napoleonischen Herrschaft in Misskredit geraten. Seine Agonie nach 1815 machte den Weg frei für den deutschtümelnden Nationalismus des nach dem Sieg über Frankreich 1871 gegründeten Kaiserreichs. Zu diesem Zeitpunkt galten die in Deutschland verbreiteten Minderheitensprachen als belanglose, teilweise moribunde Mundarten. Die internationale Blüte des Hochdeutschen währte nicht lange, bis zum Ende des 1. Weltkriegs. Nur wenige Staaten Europas waren im 19. Jahrhundert offiziell mehrsprachig, darunter die Schweiz und die Donaumonarchie mit ihren 11 Amtssprachen (↗ Art. 29). Nach 1918 lässt sich auf dem Gebiet der Donaumonarchie eine brisante semantische Verschiebung der Begrifflichkeit ‚deutsch‘, ‚Deutscher‘ nachweisen: War die Bezeichnung zuvor mit Blick auf die Siedlungsgebiete als „Sprecher des Deutschen“ (etwa innerhalb der größeren böhmischen oder mährischen Landsmannschaft) zu verstehen, so wurde sie nach 1918 umgedeutet als „über die Sprache 67 10. SpracheundStaat der deutschen Nation zugehörig“, eine geschichtsklitternde Sichtweise, die der politischen Usurpation durch die Faschisten 1938 den Weg ebnete und die ethnischen Säuberungen von 1946 begünstigte. Die Tradition einer Koppelung von Nation und Nationalsprache im Sinne eines erzwungenen politischen Monolingualismus ist nicht überwunden, wie die 2018 verfügte Entscheidung der israelischen Regierung zur sprachlichen Ausgrenzung der arabischen Minderheit zeigt. Auch in der EU wird ausgegrenzt. Bestes Beispiel ist der Umgang der baltischen Staaten mit ihrer russischen Minderheit (↗ Art. 4). Manipulativ ist die Tendenz politischer Gruppierungen, an die Stelle des Begriffes ‚Nation‘ den seit der Romantik mystifizierten, über die gemeinsame Sprache definierten Begriff ‚Volk‘ zu setzen. Der Missbrauch des Begriffes hat in Deutschland eine lange Tradition, sowohl in der rechten Szene („ein Volk, ein Reich“, „Volksgerichtshof “, „Volksfeind“, „Volksschädling“) als auch am linken Rand („alle Kinder des Volkes“, „volkseigen“, „Volkspolizei“). Der begründete Slogan aus den Spättagen der DDR „Wir sind das Volk“ wurde durch den Kommentar der Rechten „Deutschland den Deutschen“ politisch pervertiert. Bei alledem hat sich nach 1980 auf nationalstaatlicher Ebene in vielen Ländern Europas ein Umdenken angebahnt. Stellte der gaullistische Premierminister Pompidou noch 1972 klar: „Il n’y a pas de place pour les langues et cultures régionales dans une France qui doit marquer l’Europe de son sceau“ (République française 2017), ist Frankreich heute - sichtbar - ein Land mit neun Regionalsprachen, auch wenn es die Charta des Europarats bisher nicht ratifiziert hat. Auch Spanien ist politisch und sprachlich regionalisiert, die neue Struktur scheint so lange zu funktionieren, wie einseitige Brüche und Sezessionen vermieden werden. Sie bringt dem Land die im Zeitalter des Zentralismus verschüttete kulturelle Vielfalt zurück, unter dem Dach einer neu ausgehandelten gesamtspanischen Gemeinsamkeit. Auch in Großbritannien ist die sprachliche Regionalisierung unter dem Stichwort devolution seit den 1970er Jahren spürbar vorangekommen. Englisch ( Southern Standard ) ist faktisch die Nationalsprache Englands, Englisch ( Northern Standard , Scottish English ) die meistgebrauchte Sprache Schottlands. Offiziell wird zwischen den beiden Standards nicht differenziert. Neben Scottish English existieren auf das Mittelalter zurückgehende süd- und ostschottische Dialekte des Englischen, die heute, als Scots Language zusammengefasst, als Regionalsprache gelten. In Teilen des westlichen Hochlands und auf den Hebriden wird schottisches Gälisch gesprochen; die Regionalsprache hat über ihr heutiges Verbreitungsgebiet hinaus im gesamten Schottland hohen Identifikationswert. Englisch (↗ Art. 13, 97, 98) ist Arbeitssprache des schottischen Regionalparlaments und Sprache der schottischen Gesetzgebung. Im Übrigen ist die Benutzung beliebiger Sprachen möglich; Übersetzung wird, soweit möglich, gestellt. In jüngster Zeit gibt es Initiativen, den Gebrauch des Gälischen im Parlamentskontext voran zu bringen (vgl. Scotland.org). In Wales liegen die Verhältnisse anders: Die walisische Sprache Welsh , als keltische Sprache mit dem Gälischen und enger noch mit dem Bretonischen verwandt, ist seit 2011 die einzige „ de jure official language “ des Landes. Englisch ist „ de facto official “. Die Regelung gilt auch für das walisische Regionalparlament (vgl. National Assembly for Wales). 68 KonradSchröder 4. Sprachenrechte in der EU und Sprachenrechte von Minderheiten Den Gründervätern Europas war klar, dass ein Vereintes Europa keine Neuauflage der Vereinigten Staaten von Amerika sein könne. Europa war historisch, ethnisch und kulturell etwas Anderes (↗ Art. 9). Es gab keine (scheinbar) leeren Siedlungsräume, dafür aber eine gemeinsame, 2000 Jahre alte europäische Kultur. Nation building, wie in den USA, war keine Option. Gleichzeitig machten die Regionalkonflikte in Europa deutlich, dass ein monolinguales Europa ein bürgerkriegsanfälliges Europa sein würde. Alle diese Konflikte (etwa: Südtirol, Irland, Kosovo, Bosnien) hatten sprachenpolitische Komponenten. Für das Europa der Vaterländer de Gaulles war klar, dass die Nationalsprachen - und nur sie - auf dem Papier gleichberechtigt sein sollten, ohne offizielle Leitsprache. (Inoffizielle EU-Leitsprache war damals das Französische.) In den 1960er Jahren argumentierte man im Europa der Sechs, dass die Vielsprachigkeit des Kontinents als Reichtum gesehen werden sollte und nicht als Hindernis auf dem Weg zur Einheit. Es sollten plurilinguale Unionsbürger für ein multilinguales Europa herangebildet werden (↗ Art. 12). Nach 1969 propagierte der Europarat die Idee der rezeptiven Mehrsprachigkeit und, damit verbunden, einer sprachenteiligen Gesellschaft. Die Gedanken wurden in Deutschland positiv aufgenommen und an den Universitäten Augsburg (etwa: Finkenstaedt & Schröder 1992), Frankfurt (Main) (Arbeiten von D. Stegmann) und Gießen (etwa: Meißner 1998 und 2004) weiterentwickelt. Die Konsequenzen der europäischen Fremdsprachenpolitik für die deutsche Schule wurden 1980 in den ‚Homburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft ‘ von H. Christ, K. Schröder, H. Weinrich und F.-J. Zapp programmatisch dargestellt. Demgegenüber waren die mehr als zehn Jahre später von der Europäischen Kommission im Rahmen des Weißbuchs ‚Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft ‘ (1996) an den Unionsbürger und die Schulsysteme gerichteten Forderungen in ihrer monolithischen Festlegung auf „drei Gemeinschaftssprachen“ von Anfang an umstritten; sie sind aus heutiger Sicht schon angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und Migration veraltet (vgl. Schröder 2016: 78). Immerhin hat der auf gestufte Mehrsprachigkeit gerichtete Ansatz verhindert, dass sich in der Frühzeit der europäischen Einigung ein monolinguales Europa mit (im Regelfall schlechtem) Englisch als Leitsprache bildete, auch wenn Englisch fast überall 1. Fremdsprache wurde oder blieb. Von Anglisten ist die Rolle des Englischen unter dem Stichwort English as a Gateway to Languages (↗ Art. 97) inzwischen neu definiert und als ein Einstieg in die Mehrsprachigkeitserziehung ausgewiesen worden (Schröder 1999; Schröder 2009). Der porte aux langues -Ansatz wird auch in anderen europäischen Ländern gesehen (vgl. Candelier 2004). Er geht auf die 1629 erschienene ‚Janua Linguarum ‘ des J. A. Comenius zurück. Die Regelungen zum europäischen Sprachenrecht sind erstaunlich übersichtlich: Derzeit sind 24 Sprachen als gleichberechtigte Amts- und Arbeitssprachen anerkannt (↗ Art. 117). Unionsbürger haben das Recht, sich in einer dieser Sprachen an die Organe der EU zu wenden und eine Antwort in eben dieser Sprache zu erhalten. Schriftstücke, die ein EU-Organ an einen Mitgliedstaat oder eine der Hoheitsgewalt eines solchen Staates unterstehende Person richtet, sind in der Sprache dieses Staates abzufassen (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1958). Luxem- 69 10. SpracheundStaat burgisch und zypriotisches Türkisch haben, obwohl Amtssprachen, derzeit keinen offiziellen Status in der EU. Die derzeitigen „festen“ Beitrittskandidaten der EU erweitern die Sprachenpalette um weitere vier Sprachen: Albanisch, Serbisch, Montenegrinisch, Mazedonisch. (Zur Sprachenfrage in ihrer Problematik insgesamt vgl. Sander 2005; Nißl 2011.) Der Übergang vom Konzept des nationalsprachlichen Europa der Vaterländer zu einem feingliedrigeren Europa der Regionen ist nachvollziehbar: Europa ist seit 1500 Jahren in sprachlicher und kultureller Hinsicht regional gegliedert. Nationalstaatliche Grenzziehungen sind späteren Datums, sie waren nicht selten das Ergebnis von Kriegen, und sie durchschnitten immer wieder gewachsene Regionen. Ein einiges, einträchtiges Europa kann nur auf der Basis befriedeter Regionen verwirklicht werden. Mit dem Übergang auf ein regionalisiertes Europa wird dessen komplexe regionalsprachliche Gliederung bedeutsam, wobei Regionalsprachen durch geschlossene Siedlungsräume definiert sind, die in einem oder mehreren Nationalstaaten (auch grenzüberschreitend) existieren. Regionalsprachen sind gegenüber den Nationalsprachen in der Position von Minderheitensprachen, was ihre Existenz oft negativ beeinflusst hat. Die gleiche Sprache kann in unterschiedlichen Staaten unterschiedlich behandelt werden. Relativ häufig sind Regionalsprachen in einem Staat Minderheitensprachen, während sie in einem anderen die Mehrheitssprache stellen (etwa: Dänisch in Deutschland, Schwedisch in Finnland, Russisch in den baltischen Staaten). Die russischen Minderheiten im Baltikum werden von den betroffenen Staaten nicht anerkannt, da sie auf der Basis einer auf Kulturunterwanderung gerichteten Siedlungspolitik zustande gekommen sind. Ihr Siedlungsraum wird als erzwungen erachtet; die baltischen Staaten haben die Charta des Europarats nicht ratifiziert. Nun spielt aber die Entstehung einer Minderheit im europäischen Rechtskontext keine Rolle. Geschützt werden die europäischen Minoritätensprachen, wie schon angedeutet, durch die am 5.11.1992 vom Europarat gezeichnete Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Lebsanft & Wingender 2012). Sie wurde von Deutschland 1998 ratifiziert (↗ Art. 120). Ihr Ziel ist die Anerkennung der regionalen Sprachen und Kulturen als einzigartiger Bestandteil des europäischen Erbes. Die Charta zielt auf die grenzüberschreitende Wahrung und Stärkung von regionalen Minderheiten ab. Gefährdete Sprachen sollen vor dem Aussterben geschützt und ihr Gebrauch im Bereich des Rechts, der Schulen, des öffentlichen Lebens und der Medien intensiviert werden, auch durch Sprachunterricht, Sprachstudium und die Weckung von Lernmotivation bei den Vertretern der Mehrheitssprache(n). Damit ist die Charta ein völkerrechtliches Instrument. Der Maßnahmenkatalog ist so gehalten, dass die Staaten nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen Verpflichtungen eingehen können. Eine Möglichkeit, Sprachrechte auf europäischer Ebene einzuklagen, besteht nicht. Allerdings sind die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, in regelmäßigen Abständen über ihre Fortschritte in der Förderung ihrer jeweiligen Minoritätensprachen zu berichten (↗ Art. 11). Sanktionen werden nicht verhängt. 5. Ein Blick auf die Gegenwart Das Europa der Regionen hat zehntausende Kilometer neu ins Bewusstsein getretener Sprach- und Kulturgrenzen geschaffen; eine 70 KonradSchröder besondere Grenzkompetenz ( cross-border competence , compétence transfrontalière ) ist angesagt, auch als Gegenstand mehrsprachiger und plurikultureller Erziehung. Die Zahl der Sprachen ist von 24 Nationalsprachen auf etwa 100 Sprachen insgesamt gestiegen. Einige der Regionalsprachen haben es mittlerweile zu „halbamtlichen“ EU-Sprachen gebracht: Baskisch, Galicisch, Katalanisch, schottisches Gälisch und Walisisch. Sie sind weder Arbeitsnoch Vertragssprachen der EU, können jedoch zur Korrespondenz mit EU-Institutionen verwandt werden. An dieser Stelle setzt die Kritik am Regionalisierungskonzept der EU an: Sie habe eine Büchse der Pandora geöffnet und damit die EU einer neuen Kleinstaaterei unterworfen, in der überbewertete regionale Politiker ohne Loyalität zur europäischen Idee und ohne Gespür für nationalstaatliche Errungenschaften ad libitum agieren. Ein weiterer Sündenfall sei, dass Brüssel die real existierenden Immigrantensprachen und -kulturen in Europa dauerhaft aus der Diskussion ausgeklammert habe, weil die geschlossenen Siedlungsräume fehlten, und dies noch zu einem Zeitpunkt, als es längst solche Siedlungsräume gab (etwa: Berlin-Kreuzberg, Pariser Vororte, einzelne Londoner Stadtviertel, ja Teile von Brüssel selbst). Dies sei weltfremd und führe Europa in eine soziale Katastrophe. Die Diskussion der sprachlichen und kulturellen Gestalt Europas ist seit 2015 überdeckt durch die Flüchtlingsdebatte, aber auch durch die Tendenz zu neuem, populistischem Nationalismus und eine daraus resultierende fehlende Solidarität (↗ Art. 15). Literatur Candelier, M. (2004): Janua Linguarum. The Gateway to Languages. The Introduction of Language Awareness into the Curriculum: Awakening to Languages. Kapfenberg. Christ, H., Schröder, K., Weinrich, H. & Zapp, F.-J. (1980): Fremdsprachenpolitik in Europa. Homburger Empfehlungen für eine sprachenteilige Gesellschaft. Augsburg. Europäische Kommission (1996): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung. Luxemburg. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1958): Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage. In: Amtsblatt Nr. 017 vom 6.10.1958, 0385-0386. 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[https: / / www.scotland. org/ about-scotland/ facts/ scotlands-languages]. Konrad Schröder 11. Nationale Sprachpolitiken und Sprachlenkung 1. Definitionen und Rahmen Sprachpolitik wird hier als die Einflussnahme eines Staates auf dessen Sprache(n) verstanden (↗ Art. 10). Sprachenpolitik bezieht sich hingegen auf das Verhältnis von mehreren Sprachen in einem Staat, das funktional, territorial oder institutionell geregelt werden soll. Im staatlichen Bildungswesen ist auch die Festlegung eines Fremdsprachenangebots (Sprachen, Stundentafel, Lehrerausbildung u. a. m.) Teil der Sprachenpolitik. Beide Termini sind nicht trennscharf und werden nicht immer gemäß dieser strikten Abgrenzung verwendet; oftmals erscheint Sprachpolitik als generalisierender Oberbegriff. Zudem weisen sie Berührungspunkte auf, da Sprachensituationen in der Regel nicht homogen sind. Sprachpolitische Aktivitäten können auf den Status einer Sprache zielen oder den Ausbau und die Pflege einer Einzelsprache auf der sprachsystematischen Ebene (Normierung, Kodifizierung). Seit Kloss (1969) spricht man hier üblicherweise von Statusplanung und Korpusplanung . Der Begriff Sprachlenkung bezieht sich auf die Einflussnahme auf den öffentlichen Sprachgebrauch (vgl. ausführlich Polzin-Haumann 2006: 1472-1474). 72 ClaudiaPolzin-Haumann Sprachpolitik ist ein breites Feld, das im Folgenden in seinen Bezügen zur Fremdsprachenpolitik betrachtet wird. Die weltweiten Sprachpolitiken für die drei in der Bundesrepublik Deutschland aktuell wichtigsten modernen Schulfremdsprachen Englisch, Französisch und Spanisch (Decke-Cornill & Küster 2010: 16) werden anhand (historischer) Entwicklungen, Institutionen, Diskurse und Besonderheiten vergleichend zusammengefasst und auf diese Sprachen als Unterrichtsfächer im deutschen Schulkontext bezogen. Russisch (↗ Art. 94), aktuell nach dem Spanischen (↗ Art. 96) auf Rang vier der modernen Schulfremdsprachen (Rang fünf, wenn man das Latein mit einbezieht) (↗ Art. 92), war vor allem in der ehemaligen DDR verpflichtende Fremdsprache ab Klasse 5. Heute wird es in allen Bundesländern außer dem Saarland als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten, weist aber deutliche geographische Schwerpunkte in den neuen Bundesländern auf (Mehlhorn 2016: 536). Im vergleichsweise jungen Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird das Deutsche wissenschaftlich erforscht und didaktisch aufbereitet, um es (in Deutschland oder außerhalb Deutschlands) für Nicht- Muttersprachler zu unterrichten (↗ Art. 87). 2. Drei sprachpolitische Traditionen: Englisch, Französisch, Spanisch Sowohl Französisch als auch Spanisch und Englisch sind - in je spezifischer Ausprägung - als plurizentrisch (z. B. Leitner 1992; Pöll 2017; Lebsanft, Mihatsch & Polzin-Haumann Hrsg. 2012) zu charakterisieren. Für alle Sprachen wird sowohl national als auch weltweit aktiv Sprachpolitik betrieben. Das Französische ist durch eine monolinguale Tradition geprägt (Schmitt 2000). Das international sprachpolitisch entscheidende Organ ist heute die Organisation internationale de la Francophonie (OIF). Mit dieser Institution, die in der Folge der politischen Veränderungen nach Ende des Kolonialsystems seit den 1960er Jahren aufgebaut wurde, arbeitet Frankreich mit derzeit 84 Partnerländern bzw. -regionen weltweit daran, das Französische „als Nationalsprache, offizielle Sprache, Sprache der internationalen Kommunikation, Arbeitssprache oder Kultursprache“ (Erfurt 2005: 11) zu stärken. Dabei wird über sprachliche Aspekte hinaus auch die Werte- und Kulturgemeinschaft der Francophonie betont. In vielen neuen Mitgliedsstaaten der OIF ist das Französische nicht L1 oder L2, sondern Schulfremdsprache. Die Führungsrolle Frankreichs wird regelmäßig bekräftigt und zunehmend mit dem Schlagwort der Mehrsprachigkeit verbunden. Von den zahlreichen sprachpolitischen Institutionen innerhalb Frankreichs sind als heute einflussreichste die 1735 gegründete Académie Française und die Délégation Générale à la langue française et aux langues de France zu nennen. Vor allem letztere hat sich mehr und mehr zu einer sprachlicher Vielfalt gegenüber aufgeschlossenen Institution entwickelt. Der weltweiten Verbreitung der französischen Sprache sowie der französischen/ frankophonen Kultur(en) widmen sich über 200 Instituts français weltweit, von denen elf in Deutschland angesiedelt sind. Das erste dieser Institute wurde bereits 1949 gegründet. Von den drei hier betrachteten Sprachen kann das Französische sicher als die offiziell am wenigsten plurizentrisch geprägte Sprache gelten (Pöll 2017), auch wenn sich die weite geographische und soziale Verbreitung der Sprache auf allen Ebenen des Sprachsystems niederschlägt. Die normativ-präskriptive Tradition in Frankreich und die nur zögernde 73 11. NationaleSprachpolitikenundSprachlenkung Umorientierung von einer monozu einer plurizentrischen Weltsprachegemeinschaft hinterlässt bis heute im Französischunterricht in Deutschland Spuren (vgl. Polzin-Haumann 2010; Montemayor & Neusius 2017; Schwender 2018). Das Spanische ist vor allem seit Ende des 20. Jahrhunderts durch explizite plurizentrische Merkmale gekennzeichnet. Nach einer langen Phase der allein durch Madrid bestimmten Sprachpolitik arbeitet die 1713 gegründete Real Academia Española de la Lengua (RAE) heute eng mit den nach 1870 gegründeten Sprachakademien zusammen, die sich 1951 zur Asociación de Academias de la Lengua Española (ASALE) zusammengeschlossen haben. Die verschiedenen Referenzwerke zeugen von einer wenn auch in den verschiedenen Teilbereichen unterschiedlich ausgeprägten, so doch insgesamt immer stärkeren Akzeptanz hispanoamerikanischer Varietäten (Polzin-Haumann 2012: 51). Diese Neuorientierung der RAE und die enge Kooperation mit der ASALE schlägt sich in dem Motto „La política (lingüística) panhispánica“ nieder. Neben den Akademien sind die Medien zu einem wichtigen sprachpolitischen Akteur geworden. Während die Stilbücher ( Libros de Estilo ) den Sprachgebrauch einzelner massenmedialer Organe sowohl in Spanien als auch in Amerika reglementieren, ist die Arbeit der 2005 gegründeten Fundación del español urgente ( Fundéu ) übergreifend angelegt. Besonders der korrekte Sprachgebrauch in den Medien ist Ziel der ‘Beobachtungen’, ‘Ratschläge’ und ‘Empfehlungen’. Fundéu kooperiert eng mit der RAE und ist darüber hinaus sehr interaktiv orientiert. Weitere wichtige sprachpolitische Akteure sind das 1991 gegründete Instituto Cervantes (IC), das sich primär der Verbreitung der spanischen Sprache und Kultur in der Welt widmet (fünf der insgesamt 77 Institute in 44 Ländern sind in Deutschland). Mit dem Centro Virtual Cervantes (CVC) wurde eine umfangreiche Internet-Plattform geschaffen. Sowohl das IC als auch das CVC bieten Fremdsprachenunterricht (klassisch vor Ort oder online) sowie weitere didaktische Materialien. Der plurizentrische Charakter des Spanischen ist heute zwar weitgehend anerkannt, allerdings nicht umfassend in der Lehre von Spanisch als Fremdsprache (ELE) abgebildet (vgl. schon Scotti-Rosin 1983; zur Frage, welches Spanisch Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts Spanisch in Deutschland ist, vgl. die Beiträge in Leitzke-Ungerer & Polzin-Haumann 2017). Als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache gilt das Englische als „meistgenutzte Sprache der Erde“ (Kötter 6 2016: 502). Sein plurizentrischer Charakter ist unumstritten; längst wird von Englishes gesprochen (Trudgill & Hannah 2008). Auch zugunsten des Englischen wird eine gezielte sprachpolitische Förderung betrieben. So ist Englisch die einzig offizielle Sprache der meisten US-Staaten (mit Ausnahme von New Mexico und Hawaii). Der British Council verfolgt ähnliche Aufgaben wie die Instituts français , die Institutos Cervantes oder für die deutsche Sprache und Kultur in der Welt das Goethe-Institut. In Deutschland genießt Englisch als Sprache der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Kultur etc. sowie aufgrund seiner globalen Präsenz und kommunikativen Funktion ein hohes Prestige; als Schulfach ist es (nicht nur in Deutschland) in jeder Schulform vertreten und als Sprache des Frühen Fremdsprachenunterrichts mehrheitlich verankert. Anders als das Französische und Spanische muss es keine sinkenden Lernerzahlen fürchten oder andere Diskussionen (Status als 2./ 3. Fremdsprache o. ä.) führen (↗ Art. 13, 97, 98). 74 ClaudiaPolzin-Haumann 3. Sprachenpolitik und Mehrsprachigkeit Trotz einer ausgeprägten Tradition zwei- oder mehrsprachiger Grammatiken und Lehrwerke, in denen auch sprachvergleichende Elemente eine wichtige Rolle spielten (vgl. Art. 61), war der moderne Fremdsprachenunterricht lange einsprachig geprägt. Noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein galt das methodische Dogma der sog. „strengen Einsprachigkeit“ in der Zielsprache. Auch die Interferenzgefahr wurde lange überbetont. Nur im Lateinunterricht war, wenn auch sehr implizit, ein Mehrsprachigkeitselement vorhanden, wenn (allerdings ohne empirische Evidenz) behauptet wurde, dass Lateinlernen auf moderne Sprachen wie Französisch, Italienisch und auch Englisch vorbereitet (↗ Art. 92). Ab den 1990er Jahren setzte auf europäischer Ebene eine Politik für Mehrsprachigkeit ein (Reissner 2015: 662-664). Zugleich wurde der Fremdsprachenunterricht zunehmend zum Objekt empirischer Forschung (Zweit- und Fremdsprachenerwerbsforschung, Sprachlehrforschung). Diese Entwicklung vollzog sich parallel zur europäischen Einigung. Die Sprachenpolitik des Europarates (↗ Art. 12) betraf indes nicht nur den Fremdsprachenunterricht in Gestalt von Empfehlungen und didaktischem Material, wie die 1992 vom Europarat verabschiedete und 1998 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zeigt (zuletzt Lebsanft & Wingender 2012). Der 2001 durch den Europarat geschaffene Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (↗ Art. 18) hat u. a. Mehrsprachigkeit und die Kommunikationskompetenz in mehreren Sprachen als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts stärker in den Vordergrund gerückt, bleibt jedoch methodisch im Konzept einer additiven Mehrsprachigkeit verhaftet. Mit dem Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen wurden ein Konzept und Deskriptoren entwickelt, die über die einzelsprachliche Perspektive hinausgehen (↗ Art. 20). Auch der 2017 erschienene, den GeR ergänzende Companion Volume enthält diese neue Sicht auf Mehrsprachigkeit (↗ Art. 19). Infolge der mehrsprachigkeitsorientierten Sprachpolitik wurden Ansätze entwickelt, die Bezüge zwischen verschiedenen Einzelsprachen schaffen und damit einzelsprachenorientierte sprachpolitische Traditionen in gewisser Weise relativieren. Die nun forcierte stärkere Vernetzung der Fremdsprachen (z. B. Meißner & Reinfried 1998, Klein & Stegmann 3 2000, Schröder 2009, Leitzke-Ungerer et al. 2012) eröffnet viele weitere Forschungsfragen. Literatur Decke-Cornill, H. & Küster, L. (2010): Fremdsprachendidaktik . Tübingen. Erfurt, J. (2005): Frankophonie. Sprache - Diskurs - Politik . Tübingen, Basel. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom-- die sieben Siebe. Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Kötter, M. (2016): Englisch. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 502-507. Kloss, H. (1969): Research Possibilities in Group Bilingualism . Québec. Lebsanft, F., Mihatsch, W. & Polzin-Haumann, C. (Hrsg.) (2012): El español, ¿desde las variedades a la lengua pluricéntrica? Frankfurt a. M., Madrid. Lebsanft, F. & Wingender, M. (Hrsg.) (2012): Europäische Charta der Regional- und Min- 75 11. NationaleSprachpolitikenundSprachlenkung derheitensprachen. 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Hierbei wird die mehrsprachige Interlanguage der Individuen als ein dynamisches, idiosynkratisches und den Ausgangs- und Zielsprachen ähnelndes System verstanden. Von Sprecher zu Sprecher unterscheiden sich die sprachlichen Ressourcen (Sprachen und Varietäten). Dabei besitzen Mehrsprachige ein einzelnes, miteinander verbundenes Inventar von sprachlichen Elementen, die sie zur Lösung von (kommunikativen) Aufgaben oder Absichten mit ihren Kompetenzen und Strategien der Selbststeuerung kombinieren können (Council of Europe 2018: 28). 2. Historische Skizze Bereits in den 1970er Jahren wurde vom Europäischen Rat empfohlen, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zum Erlernen einer weiteren Sprache der Gemeinschaft haben sollten (EU 1976: C 038). 1989 wurde deren Bandbreite mit dem Beschluss des Rates zum Lingua-Programm klar konturiert: alle Amtssprachen sollen als Fremdsprachen gelehrt werden (Europäische Union 1989: 1 f.; auch Council of Europe 2014). Diese Ausdehnung der bildungspolitischen Forderungen und der Anzahl der erlernbaren Sprachen weist diesen in den europäischen Programmen für die allgemeine und berufliche Bildung seither eine zentrale Stelle zu (↗ Art. 9). Der Vertrag von Amsterdam 1997 schreibt - mit dem Beitritt neuer Länder zur EU - die europäische Vielsprachigkeit erneut fest, indem nunmehr jedem Unionsbürger das Recht zugestanden wird, sich schriftlich in einer Amtssprache seiner Wahl an jedes Organ oder an jedwede Einrichtung der EU wenden zu können, und eine Antwort in der von ihm benutzten Sprache zu bekommen (Europäische Union 1997). Der Europarat hatte 1992 bereits die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen gezeichnet (die allerdings von Frankreich nie ratifiziert wurde) (Lebsanft & Wingender 2012). Im Vertrag von Lissabon im Jahr 2000 wird die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich angenommen, die in den Artikeln 21 und 22 die Diskriminierung aufgrund von Sprache (↗ Art. 38) verbietet und die Länder verpflichtet, die sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt zu achten (Europäische Union 2000a). Hierdurch werden Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt als Grundwerte der EU offiziell anerkannt und die Charta als völkerrechtliches Dokument wird seither als ein wichtiges Referenz-Instrument für die Erhaltung der Regional- und Minderheitensprachen betrachtet. Die EU und der Europarat proklamieren 2001 das Europäische Jahr der Sprachen und formulieren das Ziel, die Sprachenvielfalt und das kulturelle Erbe Europas zu vertiefen, Sprachenlernen und -lehren attraktiver zu gestalten und lebenslanges Sprachenlernen über die Schulzeit hinaus zu fördern. Alle offiziellen Sprachen der Union werden erneut zu mög- 77 12. Mehrsprachigkeits konzepteder EuropäischenUnion lichen Zielsprachen erklärt. Den Mitgliedsstaaten wird freigestellt, weitere Sprachen aufzunehmen und auch die Gebärdensprachen einzubeziehen (Europäische Union 2000b). Das vom Europäischen Rat in Barcelona im Jahr 2002 verabschiedete Abschlussdokument (Barcelona-Abkommen) enthält die Entschließung zur Förderung der Sprachenvielfalt und des Sprachenlernens. Hiernach soll jeder Bürger Europas vom frühesten Kindesalter an zum Erlernen mindestens zweier Fremdsprachen, nebst seiner Muttersprache, ermutigt werden. Dies soll die Verständigung unter den Mitgliedsländern erleichtern und den sprachlichen Reichtum Europas schützen (↗ Art. 9). Das Ziel lautet breite Herstellung einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit (faktisch unter Einschluss von Englisch). 3. Problemaufriss Die 28 Mitgliedsstaaten umfassende EU zählt derzeit ca. 512 Mio. Bürgerinnen und Bürger (Eurostat 2018), drei Alphabete, 24 Amts- und 60 Minderheitensprachen (Europäische Union 2018). Diese Sprachen als Kommunikationsmittel und Träger kultureller Identität werden als gleichberechtigt angesehen; eine Differenzierung nach vorgeblicher Wichtigkeit einer Sprache oder der Anzahl ihrer Sprecher wird nicht vorgenommen. Die o. g. Mitteilungen und Zielsetzungen zu Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt gelten für die einzelnen Länder als Richtmaß. Die Leitlinien der EU als überstaatliche Organisation können freilich nationalstaatlichen Traditionen entgegenlaufen, weil jedes Mitgliedsland einen eigenen kulturellen, politischen und sozialen Hintergrund, andere Zielsetzungen und Ausgangspositionen für die Erreichung von Mehrsprachigkeit hat (↗ Art. 10, 11). Zum Umgang mit Vielsprachigkeit in den EU-Organisationen: Vertragsgemäß müssen sämtliche EU-Verordnungen und sonstige Rechtsdokumente in alle Amtssprachen übersetzt und veröffentlicht werden. Dabei wird die Entscheidung über den jeweiligen Rechtsstatus der Regional- und Minderheitensprachen (↗ Art. 117) den einzelnen EU-Ländern selbst überlassen (EEC Council Regulation 1958). Praktisch fungiert dann der Übersetzungsdienst zumeist einzig zugunsten der politisch stärkeren Mehrheitssprachen als nationale Amtssprache (also das Kastilische [Spanische] als EU-Sprache, nicht aber das Baskische, obwohl auch dieses im Geltungsbereich der Spanischen Verfassung Rang einer offiziellen Regionalsprache Spaniens hat). So akzeptiert Ungarn bspw. dreizehn offizielle Minderheiten, während Frankreich seine Regionalsprachen zwar zur Kenntnis nimmt (Art. 75,1 der révision constitutionnelle du 23 juillet 2008 ), sie dank der Loi Deixonne (1951) als an französischen Schulen lehrbare Sprachen erlaubt und einrichtet, diesen jedoch keinen offiziellen nationalen Status zuweist ( langues de France [façonnant] l’identité culturelle de la France , Ministère de la Culture 2018). Die Reformen zur Verwirklichung der Ziele aus dem Barcelona-Abkommen konzentrieren sich in erster Linie auf den früh beginnenden Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 53, 54), das Content and Language Integrated Learning (CLIL) und dessen Aufnahme in die Lehrpläne der Sachfächer (↗ Art. 111, 112, 113), ein breiteres Fremdsprachenangebot in der Sekundarschule und die Nutzung der von der Kommission und vom Europarat entwickelten Programme zum Fremdsprachenlernen (↗ Art. 69). In ihren offiziellen Verlautbarungen begreift die EU Mehrsprachigkeit als eine Investition in die Zukunft, indem sie die Bürger 78 SylvieMéron-Minuth-&SenemŞahin in die Lage versetze, miteinander zu kommunizieren und auf dem europäischen Markt mobil zu sein. Allerdings werden seitens der EU nicht alle Sprachen gleich behandelt, zum Nachteil der Migrantensprachen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Aydin (2016: 147) (aus Sicht von deren Interessen) die „Europasprachen“ als „Elitesprachen“. Neben den offiziellen Landessprachen sollen aber die Sprachen der wichtigsten internationalen Handelspartner und die kleineren europäischen Sprachen (Regional-, Minderheiten- und Einwanderersprachen) miteingeschlossen werden (Europäische Union 2002). Sowohl der grundschulische Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 54) als auch CLIL (sowie das Erasmus-Austauschprogramm, die Initiative für Lebenslanges Lernen 2007) nützten mehrheitlich den ‚Elitesprachen‘ und entsprächen deshalb nicht der auf Förderung der sprachlichen Vielfalt und Erweiterung des Sprachenangebots ausgerichteten EU Politik. Bereits 2002 macht die Europäische Kommission auf das in der Unterrichtspraxis de facto eingeschränkte Sprachenangebot aufmerksam und fordert deshalb, eine möglichst große Zahl an Sprachen für das Lehren und Lernen zu fördern, um eine auf Englisch fokussierende kommunikative Einsprachigkeit zu vermeiden (↗ Art. 13, 97). Auch hier ist natürlich ein Feld für interkomprehensive Ansätze im Rahmen einer diversifizierten Mehrsprachigkeit (↗ Art. 56, 58). Belastbare Auswertungen der Europäischen Sprachenpolitik hinsichtlich ihrer Wirksamkeit stellen ein Forschungsdesiderat dar (Gazzola 2006: 394). 4. Ausblick Zu den 2002 in Barcelona vereinbarten Zielen hat die EU Kommission 2018 ein detaillierteres Konzept zur Verbesserung und Sicherstellung des Sprachenlernens in der allgemeinen schulischen Obligatorik vorgeschlagen (Europäische Kommission 2018: 9), nachdem das Europäische Forum für Mehrsprachigkeit 2018 die Politik der EU-Mitgliedsstaaten auf diesem Feld als weitgehend gescheitert bezeichnet und keine sichtbaren Fortschritte zu verzeichnen seien (Europäische Kommission ebd.: 2). Sowohl die sprachliche Vielfalt, einschließlich der Minderheitensprachen, als auch der interkulturelle Dialog mit dem Ziel gegenseitigen, europaweiten Respekts sollen weiterhin innerhalb der Union gestärkt werden. Langfristiges Ziel ist es deshalb, nicht nur dafür zu sorgen, dass mehr nicht nur junge Menschen zusätzlich zur Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen operabel beherrschen (ebd.: 9), sondern auch dass Bildungseinrichtungen und Gesellschaft von den mitgebrachten, vielfältigen Sprachen und Sprach(lern-)erfahrungen ihrer Schüler Gebrauch machen und profitieren. Die (retround) prospektive Mehrsprachigkeit (Hallet & Königs 2010: 304) und Eurokomprehension (↗ Art. 6, 7) bilden weiterhin die Priorität der EU. Literatur Aydin, S. (2016): Subjektive Auffassungen vom Englischlernen mehrsprachiger GymnasiastInnen mit türkischem Migrationshintergrund: Zwei Porträts aus einer Grounded-Theory-Studie. In: Appel, J., Jeuk, S. & Mertens, J. (Hrsg.): Sprachen Lehren . Dokumentation zum 26. Kongress der DGFF. Baltmannsweiler, 147-159. Council of Europe (Hrsg.) (2014): Languages for Democracy and Social Cohesion. Diversity, 79 12. 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Aufriss Das Vorhaben einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden (Art. 1 Abs. 2 EUV), setzt voraus, dass die Europäische Union die kulturelle Vielfalt der Nationalsprachen bekräftigt, in einer allgemeinen europäischen Sprache aber ein für Gesamteuropa wirksames Handlungsmittel entwickelt. Diese Europasprache wird in der Regel für die Unionsbürger Zweitsprache sein. (Kirchhof 2002: 216) Sprachpolitik (↗ Art. 9, 10, 11) ist immer interessensgeleitet und zuweilen umkämpft. Sprachen bieten national und international gewaltige ökonomische, kulturelle und soziale Vorteile (oder eben Nachteile). Unter den Sprachen gibt es Mammute und Mücken. Sprachen verdrängen einander und wachsen. Sprachen sterben mit den Sprechern, die sie vergessen. Sprachen transportieren Kulturen und Lebensgewohnheiten. Sprachen sind konstitutiv für Identitäten (↗ Art. 1) (Schröder 1995; Phillipson 2003). Über Sprachen verlaufen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Sprachen verbinden Menschen miteinander in Sprachgemeinschaften. Spracherwerb - ob Mutter-, Zweit- oder Fremdsprache - ist immer mit einem Investieren von Lebenszeit verbunden. Sprachen prägen unser Denken, und legen uns auf bestimmte ‚Weltsichten‘ fest. Sprachen transportieren Konventionen. Sprachen begegnen auch als „kulturelle Gewalt“ (Galtung 1993). Eine Bevölkerung kann daher nicht einfach von einer Sprache in die andere ‚umziehen‘. In der Reichweite folgen Sprachen einem kommunikativen Bedürfnis, das lokal, regional, (seit Bestehen der Nationalstaaten) national und heutzutage zunehmend international sein kann. Die Staaten haben die Bedeutung von Sprache(n) für die nationale Gemeinschaft durchaus erkannt. So legt die Verfassung der Fünften Französischen Republik unmissverständlich im Artikel 2 fest: „La langue de la République est le français.“ Und 30 der 50 US-Staaten bestimmen in ihren Verfassungen das Englische als Staatssprache. Lehrt eine Universität regulär in einer anderen Sprache als Englisch, riskiert sie den Verlust von staatlichen Zuwendungen (Zimmer 1998). Die Problematik ist besonders brisant in der Europäischen Union, wo 24 Sprachen miteinander koexistieren und das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Sprache mit der Dichte des Zusammenschlusses wächst. 81 13. Englischals„Eurosprache“? 2. Vorteile des Englischen in der EU Infolge einer informellen Vereinbarung hat sich faktisch nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder in die Union das Englische als Verkehrssprache der europäischen Bürger durchgesetzt (↗ Art. 97, 98). Die Breite und Tiefe der Themen, die über das Englische transportiert werden können, stehen und fallen mit der Englischkompetenz der Kommunikationspartner. Laut den Eurydice-Statistiken (z. B. 2017: 71) beherrschen die Europäer Englisch mehrheitlich besser als jede andere Fremdsprache. Zudem erkennen sie die Vorteile von guten Englischkenntnissen an. Dies erklärt, weshalb die meisten europäischen Schüler das Englische als erste Fremdsprache lernen. Klippel (2009: 15) rechnet einer funktionalen Englischkompetenz den Status einer notwendigen „Kulturtechnik“ ähnlich der Lese- und Rechenfähigkeit zu. Die Verbreitung des Englischen in den Medien, unserer Produktwelt, dem Internet, in Beruf und Studium befördert die Englischkenntnisse der europäischen Bevölkerungen. (Zugleich droht sie aber auch, Menschen aus der notwendigen Kommunikation auszuschließen, weil sie gar kein Englisch verstehen). Als eine Art Jokersprache bietet sich Englisch immer dann an, wenn die Kommunikationssituation Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen und operablen Fremdsprachenkenntnissen, jedoch ohne Kenntnis der beteiligten Partnersprachen, zusammenführt. Englisch wird dann von allen Teilnehmern noch am ehesten verstanden (doch wird auch stillschweigend vorausgesetzt, dass diese sich in englischer Sprache hinreichend präzise ausdrücken können); weil es auf den ersten Blick ökonomischer scheint, in Englisch zu kommunizieren als das Übersetzen in mehrere Sprachen; weil es den Vorteil der kulturellen Neutralität genießt (zumindest solange keine nativ Anglophonen und deren Normen im Spiele sind). In dieser Weise ist Englisch alternativlos, solange man Kunstsprachen (Esperanto usw.) ausklammert. Natürlich darf der Blick auf Euro-Englisch den globalen Status von Englisch (besser vielleicht von „the Englishes“) nicht ausblenden. Ob es ein Sesam-öffne-dich für die internationale Kommunikation ist (und wie weit es das tut), entscheidet die interkulturelle Kommunikationsfähigkeit einer amorphen intersociety . So bezeichnet Hüllen (1987) die sich täglich neuformierende, mindestens 1,5 Mio starke Gemeinschaft derer, die sich des Englischen als non-natives in internationaler Kommunikation bedienen. Weitgehend läuft deren Kommunikation in konkreten Situationen mit enger Mitteilungsintention - im Flughafen, beim Einkaufen usw. - ab. Ihr fehlen sehr oft weiter reichende „ common grounds “ von Themen. Gerade deren Repertoire aber macht, wie Luhmann (1991) betont, eine Kultur aus. Fehlende Sprachloyalität stellt auch die Orientierung an ein und derselben linguistischen Norm, etwa des britischen Englisch, in Frage. Das, was gedacht wird, läuft also weiterhin in Chinesisch oder Deutsch ab, die Oberfläche liefert indes das Englische (oft in einer fragwürdigen Form). All das kann zutreffen, muss aber nicht! Begegnet hier ein „Globalesisch“ (Trabant 2005)? Die Frage wird letztlich von den Menschen entschieden, die sich des Englischen als lingua franca , als Arbeitssprache oder als internationale Alltagssprache / Zweitsprache bedienen. Die Zuordnungen sind nicht leicht voneinander zu unterscheiden. Die Frage der Qualität der Kommunikation ist nicht plakativ zu beantworten. Der in den Wissenschaften geführte Diskurs um die Verwendung des Englischen z. B. im Deutschen betont die Unterschiede der Bindung von 82 GöranNieragden-&Franz-JosephMeißner Sprache an Themen und Inhalten: Während die Inhalte der juristischen Fachsprache erst in der jeweiligen Rechtsgemeinschaft kreiert und kodifiziert werden, sind die Fachsprachen der Naturwissenschaften weitgehend unabhängig von einzelkulturellen Inhalten. Dieser Sachverhalt bedeutet Einiges für die Übertragung von Gedanken in eine fremde Sprache. Deutsche juristische oder geisteswissenschaftliche Zusammenhänge in englischer Sprache zu formulieren (nicht: zu übersetzen) ist nur zum Preis der Aufgabe von Konnotationen möglich. In diesem Zusammenhang unterstreichen mehrere Autoren das Risiko des Verlusts von Diskursdomänen in den gegenüber der internationalen Sprache schwächeren nationalen oder gar regionalen Sprachen. In allen Ländern der EU ist Englisch faktisch eine schulische Pflichtfremdsprache (Eurydice 2017: 71), zumeist wird es als erste Fremdsprache belegt. Ihr Unterricht beginnt überwiegend in der Grundschule, sodass das Kriterium, die geographisch nächstgelegenen Nachbarsprachen zu priorisieren, oft nur in den Grenzräumen Bestand hat. Der erhoffte Effekt, mit nahezu allen Nachbarn in Europa zumindest partiell auf Englisch kommunizieren zu können, lässt sich zwar aus der quantitativen Privilegierung des Englischen, das EU-weit von 85 % der Schüler auf der Sekundarebene erlernt wird (Eurydice 2017: 167) und mit 38 % die meistgesprochene Fremdsprache in Europa ist, ablesen, ist jedoch sicherlich noch eher eine Projektion als Realität. 3. Welches Englisch lehren? Was ist Euro-Englisch? Soll Englisch weltweit als Sesam-öffne-dich für die in Tausende von Sprachen aufgespaltene Menschheit fungieren, bedarf es einer Norm - für die globale Kommunikation und für das Erlernen der Fremdsprache. Europäer orientieren sich bislang eher an britischem, Asiaten eher an amerikanischem Englisch. Zugleich zeigen ihre ganz unterschiedlichen Lernersprachen Interferenzen der Muttersprachen, nicht nur in der Phonetik. Das Verständnis zwischen Asiaten, Lateinamerikanern und Europäern über Englisch erleichtert all dies nicht. Fazit: Eine Englisch-Didaktik für Englisch als internationale Sprache (EIL) tut not und ist längst überfällig (Gnutzmann 2000). Ist sie in Sicht? Zu berücksichtigen hätte sie eine der großen Normvarianten des polyzentrischen Englisch (Graddol 2006). Doch welche? Mit welchen Folgen? Englisch als Fremdsprache ist in der Reichweite wirksam, aber in der Anwendung aufwendig. Müssen Nichtanglophone einen Text in einer Fremdsprache verfassen, so beansprucht dies wesentlich mehr Zeit als in den Muttersprachen. (Längst ist daher innerhalb der umsatzstarken englischen Sprachindustrie die Branche der proof-reader entstanden). Vor diesem Hintergrund schlägt Seidlhofer (2003; 2011) mit Blick auf die EU eine Art Euro-Englisch vor, das sich nicht mehr an den kulturellen und linguistischen Standards des britischen (oder US-amerikanischen) Englisch orientiert. Es geht nicht um Schreibweisen wie to organise (brit.) oder to organize (US), sondern um die vielkulturelle Unterfütterung des Euro-Englisch durch die so verschiedenen Alltagspraxen der Europäer. Offensichtlich ist der Gebrauch des Euro-Idioms auf wenige thematische Domänen und kommunikative Funktionen/ Situationen begrenzt, während die national statistisch relevanten Themen vor allem bei den Nationalsprachen verbleiben. Das sog. VOICE-Projekt der Universitäten Wien und Oxford (2005-2013) hat ein International Corpus of English zusammengestellt, 83 13. Englischals„Eurosprache“? das aus Texten nicht-nativer Kommunikation kompiliert wurde. Weitere Vorschläge wurden längst gemacht. Doch festzuhalten ist: Ein europaweit praktikables, sowohl in der muttersprachlichen wie zweitsprachlichen Sprechergemeinschaft mehrheitsfähiges Angebot für die Fremdsprachendidaktik zeichnet sich bis zum heutigen Tage nicht ab (Nieragden 2012: 148). Mit anderen Worten: Das mit Euro-Englisch verbundene Aufwendigkeitsproblem bleibt für die meisten Europäer ungelöst und die Erfüllung nativer Standards für die allermeisten von ihnen unerreichbar. 4. Fazit und Trends Innerhalb der vielsprachigen europäischen Kommunikationslandschaft erscheint das Englische immer dann als eine ‚natürliche‘ Wahl (oder als kleinster gemeinsamer Nenner), wenn die jeweiligen nationalen Sprachen nicht operabel von den Kommunikationspartnern beherrscht werden. Medien, Reisen und Konsum bestätigen tagtäglich, dass Englisch durchaus, wenn auch z.T. nur in gewissen Grenzen, international funktioniert. Die internationale Kommunikation und die global kooperierende Arbeitswelt (↗ Art. 24) verlangen eine weltweit gemeinsame Sprache, die auch nicht-native Teilhaber (Zweitsprachensprecher) elaboriert beherrschen können. All dies ist von der Lebenswelt der Menschen nicht zu trennen. Wenn die Fähigkeit zu kommunizieren im Prinzip eine Erhöhung des psychischen Einkommens ( psychic income ) bedeutet (was die Nationalismusforschung für die Nationalsprachen betont, Katz 1978), so gilt dies auch für die Sprache, in der sich die Menschen unterschiedlicher Muttersprachen miteinander erfolgreich austauschen. Das Englische teilt diese Eigenschaft selbstverständlich mit allen anderen Sprachen: Mutter-, Zweit- und Fremdsprachen, wenn auch die Reichweite von Mücken viel kleiner ist als die des Mammuts oder der Elefanten‘. Ob die vor allem funktional motivierte Dominanz von global oder European English (↗ Art. 97, 98) zum Verlust der europäischen Sprachenvielfalt und zum Verlust von Diskursbereichen in diesen Sprachen, an welchen deren Sprecher teilhaben können, führt, hängt davon ab, (1) wie sehr es der Sprachenpolitik der EU gelingt, eine diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit („mindestens Muttersprache plus zwei EU-Sprachen, eine davon Englisch“) zu verwirklichen und (2) wie sich die Europäer in ihrer täglichen kommunikativen Praxis zwischen Ein-, Mehr- und Vielsprachigkeit entscheiden. Sensibilität ist angezeigt („professors in the Netherlands have complained of Dutch becoming a second-class language and students have not been generally happy about the spread of English”, Green et al. 2012). - Umgekehrt wird sich das Englische dem Einfluss der Kommunikation zwischen den Europäern und weltweit nicht entziehen können (Crystal 2003). Ein Euro-Englisch könnte indes manchem Apologeten nationaler Normen (UK und USA) schon jetzt gar als eine Art Bedrohung erscheinen (Lanvers & Hultgren 2018). Literatur Crystal, D. (2003): English as a Global Language . Cambridge. Eurydice (2017): Key Data on Teaching Languages at School in Europe. Brussels. Galtung, J. (1993): Kulturelle Gewalt. Zur direkten und strukturellen Gewalt tritt die kulturelle Gewalt. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 4, 473-487. 84 GöranNieragden-&Franz-JosephMeißner Gnutzmann, C. (2000): Teaching and Learning English as a Global Language. Native and Non-Native Perspectives. Tübingen . Graddol, D. (2006): English Next. Why Global English May Mean the End of 'English as a Foreign Language' . London. Green, A., Fangquing, W., Cochrane, P. et al. (2012): English Spreads as Teaching Language in Universities Worldwide. In: University World News , 22.08.2018, 1. [http: / / www.universityworldnews.com/ article.php? story=20120621131543827] Hüllen, W. 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Wode et al. 1999), für Österreich Reich & Krumm (2013), für die Schweiz Manno & Egli Cuenat (2018). PlurCur® zeichnet sich allerdings nicht nur durch das Merkmal des Sprachenübergreifenden, dem die interkulturellen Dimensionen inhärent sind, aus, sondern auch durch die Merkmale des Fächer- und Jahrgangsübergreifenden sowie die konsequente Projektorientierung, die die vorgenannten Merkmale überhaupt erst möglich machen (vgl. Allgäuer- Hackl et al. 2015). 2. Problemaufriss Der Entwicklung sprachenübergreifender Konzepte und Modelle liegt zunächst das bildungspolitische Ziel zugrunde, mit der Erstarkung einzelner überregionaler Verständigungssprachen in Bildungsinstitutionen andere und weitere Fremdsprachen zu erhalten und ebenfalls zu stärken. So soll verhindert werden, dass immer weniger Fremdsprachen immer häufiger und länger und so genannte zweite und weitere Fremdsprachen immer seltener und kürzer gelernt werden oder dass sie mit Verweis auf andere, vermeintlich wichtigere, Fächer ganz aus dem Lehrplan genommen werden. Für den deutschen Bildungsraum gilt dies beispielsweise für die typischen zweiten (Fremd)Sprachen Französisch oder Latein, für den weltweiten Raum gilt dies u. a. für die Fremdsprache Deutsch, die praktisch nirgends mehr als erste, sondern allenfalls als zweite Fremdsprache, meist nach Englisch oder einer anderen überregionalen Verständigungssprache, oder sogar erst nach beiden gelernt wird. Eine zweite Begründung für die Entwicklung gesamtsprachencurricularer Ansätze ist der Versuch, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) curricular aufzunehmen und abzubilden. Dies geschieht durch den systematischen Einbezug einerseits der jeweiligen Umgebungssprache(n) (in Deutschland also deutsch), andererseits, wenn möglich, der jeweiligen Herkunftssprachen (↗ Art. 106) der Mitglieder einer Bildungsinstitution. Schließlich sollen in gesamtsprachencurricularen Rahmungen auch die so genannten klassischen Fremdsprachen einen Platz haben (vgl. Hufeisen 2015). 3. Forschungsstand Einzelberichte zu Forschungsstudien finden sich in Allgäuer-Hackl et al. (2015), z. B. zu den Einstellungen zur eigenen Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern, die im Rahmen einer mehrsprachigen Theater-AG untersucht wurden (vgl. Henning eingereicht). Kordt (2018) erarbeitete im Rahmen der Untersuchung ihrer an EuroComGerm orientierten mehrsprachigen Projektwochen einen affordanztheoretischen Bezugsrahmen. Allgäuer (2017) zeigte den Nutzen mehrsprachigen Arbeitens für die Ausbildung von Sprachenbewusstheit und -sensibilisierung und die Auswirkungen für andere Fächer. 4. Praxisrelevanz Angesichts der kulturell und sprachlich immer heterogener werdenden Bevölkerungen sind gesamtsprachencurriculare Implementierungen an Bildungsinstitutionen eigentlich 86 BrittaHufeisen eine zwingende Notwendigkeit; insofern ist von einer hohen Praxisrelevanz auszugehen. Jede Form der systematischen gesamtsprachencurricularen Umsetzung bedarf jedoch grundsätzlicher (Um)Strukturierungen, die auf allen Seiten der Beteiligten Geduld und einen langen Atem erfordern und sich nicht im Rahmen einzelner Legislaturperioden durchführen lassen. Einzelaspekte lassen sich unproblematisch in den Wahlpflichtbereich (vgl. Fasse 2014) oder in Projektwochen (vgl. Kordt 2015) und manchmal sogar ad hoc in den Unterricht einfügen; diese werden jedoch kaum so nachhaltig sein können wie umfassende Umstellungen (vgl. Hufeisen 2019). 5. Perspektiven Das ERASMUS+-Folgeprojekt PlurE hat den Umsetzungsdimensionen die digitale Komponente hinzugefügt (vgl. PlurE). Es gibt zunehmend Schulen, die sich für die Implementierung gesamtsprachencurricularer Strukturen interessieren und entsprechende Begleitforschung einplanen (vgl. formatio), so dass anzunehmen ist, dass Gesamtsprachencurricula noch eine Weile eher an individuellen Schulen ausprobiert und eingeführt werden, dass aber auch die offizielle Bildungspolitik diese Entwicklungen nicht dauerhaft ignorieren sollte. Literatur Allgäuer, E. (2017): Multilingual/ metalinguistic awareness in school contexts within a dynamic systems and complexity theory perspective. The effects of training on multiple language use and multilingual awareness. Innsbruck, unveröffentlichte Dissertation an der Universität Innsbruck. Allgäuer-Hackl, E., Brogan, K., Henning, U. et al. (Hrsg.) (2015): Mehr Sprachen? -- PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula . Baltmannsweiler. Fasse, G. (2014): Im Meer der Sprachen. In: Fremdsprache Deutsch 50 , 36-41. Henning, U. (eingereicht): Zum Wandel der Einstellungen von SchülerInnen zu Mehrsprachigkeit und einzelnen Sprachen. Darmstadt, Dissertation. Hufeisen, B. (2005): Gesamtsprachencurriculum: Einflussfaktoren und Bedingungsgefüge. In: B. Hufeisen & M. Lutjeharms (Hrsg.): Gesamtsprachencurriculum-- Integrierte Sprachendidaktik-- Common Curriculum. Theoretische Überlegungen und Beispiele der Umsetzung. Tübingen, 9-18. Hufeisen, B. (2011): Gesamtsprachencurriculum: Überlegungen zu einem prototypischen Modell. In: R. Baur & B. Hufeisen (Hrsg.): "Vieles ist sehr ähnlich." - Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler, 265-282. Hufeisen, B. (2015): Zur möglichen Rolle der sog. klassischen Sprachen für Gesamtsprachencurriculumskonzepte. In: S. Hoffmann & A. Stork (Hrsg.): Lernerorientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik . Tübingen, 45-57. Hufeisen, B. (2019): Förderung des DAF- Unterrichts durch Mehrsprachigkeitskonzepte. In: U. Ammon & G. 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Der Begriff Mehrkulturalität im gesellschaftlichen Kontext In Analogie zu gesellschaftlicher Vielsprachigkeit ( Multilingualism ) und individueller Mehrsprachigkeit (Plurilingualism ) lässt sich auch Mehrkulturalität einerseits als Zustand einer Gesellschaft (oft: Multikulturalität) und andererseits als Verfasstheit oder auch Kompetenz des Individuums, als individuelle Mehrkulturalität (oft: Interkulturalität), verstehen - und in diesem Zusammenhang ist Mehrkulturalität dann auch Zielsetzung von Erziehung. In der bildungspolitischen Debatte werden die genannten Begriffe aber keinesfalls konsequent unterschieden. In der deutschsprachigen Diskussion dominiert Interkulturalität , vor allem wenn es um die Beschreibung von Lernzielen und Kompetenzen geht (↗ Art. 32, 43). Allerdings wird der Begriff Interkulturalität inzwischen auch skeptisch gesehen, da hier zu stark das Gegenüber zweier Kulturen, Eigenes und Fremdes, im Fokus stünden und die komplexe Interrelation dadurch zu stark vereinfacht werde (Albrecht 2003: 236-237). Hier setzen Konzepte und Begriffe an, die davon ausgehen, dass die Gegenwart nicht durch solche einfachen Gegenüberstellungen oder eine additive Agglomeration, sondern durch eine komplexe Mischung von Sprachen und Kulturen gekennzeichnet ist, die sich nicht isolieren lassen, sondern neue Formen hervorbringen: Transkulturalität, Diversität, Heterogenität und Superdiversität (↗ Art. 41). All diese Begriffe zielen auf Gesellschaften, in denen verschiedene Kulturen nebeneinander, im günstigen Fall auch miteinander existieren und sich eventuell auch neue Formen der Mischung ergeben. Blell und Doff sehen Mehrkulturalität als einen diese verschiedenen Facetten bündelnden Oberbegriff: „Er bildet in diesem Kontext eine breite Klammer für Interkulturalität, Transkulturalität sowie Mehrkulturalität im engeren Sinne“ (Blell & Doff 2014: 2). Dazu bedarf es eines Kulturbegriffs, der die trotz der Anerkennung von Multikulturalität fortbestehende homogenisierende Orientierung an nationalen oder ethnischen Gruppen überwindet und Kultur als Verfügung über kulturelle Deutungsmuster versteht (↗ Art. C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt 90 Hans-JürgenKrumm 1), wobei dann Mehrkulturalität impliziert, dass solche Deutungsmuster nicht mehr fraglos vorausgesetzt, sondern jeweils neu ausgehandelt werden müssen (vgl. Altmayer 2010: 1004-1009). Byram (2000: 51 ff.) spricht in diesem Sinne von „multikulturellen Milieus“ einerseits und von Mehrkulturalität im Sinne von „interkulturell-sein“ andererseits. Er betont zwei Wege zu dieser Mehrkulturalität: Zum einen bilde sie sich als Konsequenz des Zusammenlebens in einem multilingualen Milieu, zum andern sei sie ein wichtiges Ziel und Ergebnis von Sprachenlehren und Sprachenlernen. Dabei geht es zum einen um die zu erwerbenden Kompetenzen des ‚interkulturellen Sprechers/ Hörers‘, zum andern um Einstellungen (Byram: 2000: 53), d. h. der Begriff zielt auf Menschen, die nicht nur durch eine kulturelle Tradition geprägt oder dieser verbunden sind, sondern sich verschiedenen Kulturräumen zugehörig fühlen und sich damit jenseits eindeutiger nationaler und/ oder kultureller und/ oder sprachlicher Zuordnungen bewegen. Christ (posthum 2015: 116) betont in besonderem Maße Mehrkulturalität als Teil der Biographie: „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Fähigkeiten manifestieren sich als soziale Praxen : Sie entwickeln sich in Interaktion mit anderen“. Auch wenn immer wieder betont wird, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität seien „im europäischen Bildungsdiskurs fest verankert (…) und längst zu theoretischen Bezugspunkten für das Lehren und Lernen von Sprachen geworden“ (Schädlich 2009: 91), so gilt das im Grunde nur für die Mehrsprachigkeit. Zwar werden Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität oft in einem Atemzug genannt bzw. als unmittelbar mit einander verknüpft gesehen wie z. B. im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (Europarat 2001: 17). Aber in der Konkretisierung geht es dann in der Regel, auch im GeR (↗ Art. 18), um Mehrsprachigkeit, ohne dass das Entstehen von und der Umgang mit Mehrkulturalität zum Thema wird. Und obwohl Mehrsprachigkeit als eine Basis des interkulturellen Dialogs (↗ Art. 33, 103, 104) und der interkulturellen Verständigung gilt (Schwan 2004), gibt es keinen Automatismus, nach dem Mehrsprachigkeit Interkulturalität notwendig hervorbringt oder garantiert; auch Fremdsprachenunterricht ist oft monokulturell angelegt und kann auch vorhandene Stereotypen (↗ Art. 34) verstärken (vgl. Schulze 2010). 2. Deskriptoren für Mehrkulturalität Mit dem Konzept der europäischen Bürgerschaft / democratic citizenship hat der Europarat (↗ Art. 9) ein Rahmenkonzept formuliert, das Bürger befähigen soll, in multikulturellen Gesellschaften tolerant und in gegenseitigem Verständnis zu leben: „Democratic citizenship is about inclusion rather than exclusion, participation rather than marginalisation, culture and values rather than simple procedural issues“ (Starkey 2009: 8). In zwei im Kontext des Europarats entstandenen Projekten wurde in jüngster Zeit versucht, die hier aufgerufenen Kompetenzen zu beschreiben: 1. Der „Referenzrahmen für plurale Bildung zu Sprachen und Kulturen“ (RePA) (Candelier et al. 2009) zielt auf sprachenübergreifende Kompetenzen, die ein integriertes interkulturelles Lernkonzept in Form von Deskriptoren präzisieren, so z. B. „Kompetenz zum Perspektivenwechsel“, „Kompetenz, dem sprachlich und/ oder kulturell Unvertrauten einen Sinn zu geben“. Dabei verzichtet der 91 15. BildungspolitischePerspektivenauf Mehrkulturalität RePA (↗ Art. 20) auf eine strenge, abprüfbare Hierarchisierung im Sinne der Niveaustufen des GeR (↗ Art. 18), die Abstufung betont stärker den Zusammenhang und Übergang, ebenso wie das Ineinandergreifen von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen. Zwar klingt gelegentlich auch hier die vereinfachte Vorstellung von zwei einander quasi gegenüberstehenden Kulturen an, indem die Unterschiede zwischen „der eigenen Kultur und anderen Kulturen“ (K-92) hervorgehoben werden, insgesamt aber geht der RePA davon aus, dass sich kulturelle Wahrnehmungen erst in der Interaktion herausbilden und mit Hilfe von Sprache Bedeutungen ausgehandelt werden können. 2. Mit einem „Companion Volume“ hat der Europarat u. a. für den im Referenzrahmen ausgesparten Bereich der ‚plurikulturellen Kompetenzen’ Deskriptoren entwickelt (↗ Art. 19). Auch hier bleibt die enge Bindung an die Mehrsprachigkeit erhalten, ergänzt um interkulturelle und soziolinguistische Dimensionen: „Seeing learners as plurilingual, pluricultural beings means allowing them to use all their linguistic resources when necessary, encouraging them to see similarities and regularities as well as differences between languages and cultures.“ (Council of Europe 2018: 27) Die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz machen nur einen kleinen Anteil in dieser Ergänzung aus und bewegen sich sehr stark in dem den sprachlichen Fertigkeiten zugeordneten Bereich der soziolinguistischen Angemessenheit von kommunikativem Handeln. Der Companion versteht sich als Grundlage für Curricula und Lernziele zum interkulturellen Verstehen, erreicht aber das mit dem Stichwort „democratic citizenhsip“ skizzierte Verständnis von Teilhabe an einer mehrkulturellen Gesellschaft nicht. Hinzu kommt, dass die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz bzw. soziokulturelle Angemessenheit nach dem Vorbild des Referenzrahmens in den sechs Niveaustufen A1 bis C2 hierarchisiert sind. Damit schreibt der Companion ein Problem fort, das aus bildungspolitischer Perspektive schon beim ursprünglichen Referenzrahmen zu Kontroversen geführt hat: Die Zuordnung der Kompetenzen zu diesen Niveaustufen wurde in der Praxis genutzt, um diese Niveaustufen als Schwellen z. B. für den Zugang zu Aufenthaltsrechten, d. h. für Segregation einzusetzen (vgl. Krumm 2007). Nicht die Möglichkeit individueller Profilbildung, die der Referenzrahmen durchaus anbietet, sondern diese Einstufung und eventuell Segregation von Zuwanderern bestimmt den migrationspolitischen Gebrauch trotz aller Kritik, die auch innerhalb des Europarats dazu formuliert wurde (vgl. Strik 2013). Hinsichtlich der Erweiterung des Referenzrahmens um Deskriptoren für plurikulturelle Kompetenzen wurde daher die Sorge geäußert, dass nun auch hier Niveaustufen zu einer (sozialen und politischen) Bewertung kultureller Leistungen (↗ Art. 48, 49) und damit zum Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft führen könnten: „Des Weiteren können die Konzepte, von denen vornehmlich die Rede ist (Mediation, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, etc.), nicht auf Deskriptoren, Niveaustufen, Kompetenzen, Aufgaben und kognitive Operationen beschränkt werden, insofern als sie hauptsächlich mit den Lebens- 92 Hans-JürgenKrumm geschichten, den Vorstellungswelten und den Einzelerfahrungen der Menschen und der Veränderlichkeit der Situationen verknüpft sind (↗ Art. 6). Diese Konzepte lassen sich per se nicht in Raster fassen, außer man will sie kontrollieren und technischem Kalkül unterwerfen, um jegliche Diversität und Heterogenität zu unterbinden. Wie wird es sein, wenn die staatlichen Behörden sich dieser neuen Deskriptoren bemächtigen, um die „Mediationskompetenz“ der Geflüchteten zu normieren und zu begutachten, oder wenn sie prüfen, ob deren Verhalten den kulturellen Gepflogenheiten entspricht, um daraus dann den „Beweis“ für ihre Integration abzuleiten, oder um daran eine notwendige Bedingung für den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft zu knüpfen? “ (ACEDLE/ ASDIFLE/ Transit-Lingua 2017). Diese Kritik der französischen Fachverbände ist leider bisher weder in der Fachdiskussion noch im Europarat aufgenommen worden, so dass die damit aufgeworfene Frage nach der Normier- und Überprüfbarkeit interkultureller Kompetenzen unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Verwertbarkeit weiterhin offen ist. Die Debatte um Werte- und Orientierungskurse für Migrantinnen und Flüchtlinge zeigt, dass die Tendenz zu einem homogenisierenden, an nationalen oder ethnischen Gruppen orientierten Kulturbegriff in der Öffentlichkeit und in der Bildungspolitik keineswegs überwunden ist (↗ Art. 1, 4). 3. „Der monokulturelle Habitus“ des multikulturellen Bildungswesens Die von Gogolin (1994) für die Schule geprägte Wendung vom „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ lässt sich durchaus auch auf die kulturelle Perspektive übertragen: Fast überall in Europa ist das Bildungswesen ungeachtet der Tatsache, dass Kinder aus unterschiedlichen Kulturräumen und mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen sie besuchen, auf homogene Lerngruppen hin orientiert und verfügt über ein großes Instrumentarium, um diese Homogenität zu sichern bzw. herzustellen, von der Jahrgangsklasse, den Einschulungs- und Versetzungsbestimmungen über Notengebung und Leistungsbeurteilung, standardisierte Lehrpläne, Unterrichtsmethoden und Vergleichsstudien bis hin zu zentralen Bildungsstandards und Prüfungen. Nur unter der Voraussetzung der Homogenität kann es nämlich - so glaubte man lange und glaubt es vielfach immer noch - gelingen, 20 bis 30 Kinder in der gleichen Klasse, in der gleichen Lernzeit und nach den gleichen Unterrichtsmethoden erfolgreich zu unterrichten. Diese Homogenitätserwartung hat dazu geführt, dass Instrumente zur Assimilation anderssprachiger und kulturell anders geprägter Kinder entwickelt wurden, neben segregierenden Sprachförderprogrammen z. B. Werte- oder Orientierungskurse, die nicht immer dem differenzierenden Eingehen auf die mitgebrachten Ressourcen, sondern der Anpassung an die Rituale und Normalitätsvorstellungen der Aufnahmegesellschaft dienen. „Kultur“ bekommt in dieser Perspektive die Konnotation der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit, erlaubt es, Unterschiede zu machen; Integration wird zunehmend als Assimilation verstanden (↗ Art. 37). Eine Mischung von Kulturen, aus der dann etwas 93 15. BildungspolitischePerspektivenauf Mehrkulturalität Neues entsteht und die bisherigen Unterschiede und Differenzen aufgehoben sind, wie das etwa auch im Begriff des Schmelztiegels zum Ausdruck kommt, ist in vielen europäischen Gesellschaften unerwünscht (↗ Art. 32). Der Begriff der multikulturellen Gesellschaft wird in der politischen Debatte daher zunehmend auch kritisch gesehen, das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft als gescheitert betrachtet. Andererseits bleibt es Ziel der Bildungspolitik, das Zusammenleben in der ‚multikulturellen Schule‘ zu fördern und zu erleichtern und die Schulentwicklung so zu gestalten, dass sich das monokulturelle Grundverständnis zugunsten einer multikulturellen Schule ändert. Seit die deutsche Bildungspolitik (↗ Art. 21) inklusive Erziehung zu einer ihrer Prioritäten erklärt hat und eine Pädagogik der Diversität anstrebt, gibt es hierfür eine Perspektive, wobei kritisch anzumerken ist, dass sich die deutsche Diskussion im Gefolge der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 entwickelt hat. Erst allmählich gewinnt der Menschenrechtsgedanke (↗ Einleitung) für alle Lernenden und die Erkenntnis an Boden, dass es darum geht, auf Unterscheidungen zwischen Menschen auf der Grundlage willkürlich gewählter Merkmale insgesamt zu verzichten und Bildungsgerechtigkeit herzustellen (vgl. Burwitz-Melzer u. a. 2017). 4. Mehrfachidentität Der Begriff der Identität (↗ Art. 1) ist gleichfalls ein Begriff, der sich zum einen auf Individuen richtet (personale Identität), zum andern aber auch genutzt wird, um soziale Gruppen zu charakterisieren (Gruppenidentität). Sprache und gemeinsame kulturelle Merkmale (Religion, gemeinsame Geschichte) machen eine Gruppe erst zur Gruppe - erst recht bei der ‚nationalen Identität‘, bei der ein Mensch sich erst durch solche Merkmale als zugehörig erweisen kann. Analog zu der nationalstaatlichen Entwicklung der letzten 200 Jahre in Europa mit der Vorstellung „ein Staat - eine Sprache“ hat auch hinsichtlich der kulturellen Prägungen und Zugehörigkeiten der Gedanke der gemeinsamen Kultur Fuß gefasst, gleich ob damit die religiösen Grundlagen oder ein geteiltes Geschichtsbewusstsein oder zentrale gesellschaftliche Konzepte gemeint sind; zur klassischen Vorstellung von kultureller Identität werden durchweg Ethnizität, Religion, Sprache und Nationalität gerechnet (↗ Art. 10). Gleichzeitig wird in allen Konzepten zur personalen Identität betont, dass es sich nicht um ein starres, unveränderliches Konstrukt handelt; je nach Entwicklung und Erfahrungen kann sich die Identität eines Menschen wandeln und damit auch die Rolle, die sprachlich-kulturelle Prägungen dabei spielen (vgl. Thim-Mabrey 2003). Das jedoch ist in monokulturellen Konzepten nicht vorgesehen: Mehrkulturelle Identität bedeutet, dass Normalitätsannahmen monokultureller Gesellschaften nicht mehr funktionieren, dass auch andere kulturelle Deutungen als die der Mehrheitsgesellschaft für einen Menschen bedeutsam sind. Ob und in welcher Form sich eine mehrkulturelle Identität entwickeln kann, also ein Selbstverständnis, in dem Menschen sich verschiedenen kulturellen Räumen und Gruppen zugehörig fühlen und verschiedene kulturelle Merkmale gleichrangig integriert haben, oder ob Mehrkulturalität als Bedrohung abgelehnt wird, hängt von den Lebensumständen und insbesondere der Offenheit der Gesellschaft (Schule und Aufnahmeland) ab. Im Laufe von Migrationsprozessen entstehen im günstigen Fall transnationale Räume, die die gleichzeitige und sich überlagernde Zugehörigkeit zu verschiedenen Sprach- und 94 Hans-JürgenKrumm Kulturwelten erlauben und zur Entwicklung einer Mehrfachidentität führen können. Für die Entwicklung und Anerkennung einer solchen mehrkulturellen (und mehrsprachigen) Identität bedarf es einer Gesellschaft, die ihrerseits Mehrkulturalität als konstitutives Merkmal ihrer Verfasstheit ansieht und auf monokulturelle Normierungen verzichtet. Kulturelle Identität in diesem Sinne würde bedeuten, dass die Zugehörigkeit gerade durch die Anerkennung von Verschiedenheit entsteht (↗ Art. 38, 39). In diesem Sinne ist der Begriff der „democratic citizenship“ ausdrücklich nicht nur auf Nationalität bezogen, sondern auf die gemeinsame Verpflichtung auf Grundwerte wie z. B. fundamentale Menschen- und Freiheitsrechte (vgl. Starkey 2002). 5. Ausblick So wie die europäischen Gesellschaften erkennen und eingestehen mussten, dass sie längst zu Einwanderungsgesellschaften geworden sind, so müssen sie entsprechend ihre Bildungssysteme in mehrsprachige und mehrkulturelle Bildungssysteme umwandeln, monokulturelle Erwartungen und Ansprüche überwinden und sich für sprachliche und kulturelle Vielfalt öffnen. Was die sprachliche Vielfalt betrifft, so wird diese Entwicklung auch durch die Mehrsprachigkeitsstrategie der Europäischen Union gestützt (↗ Art. 9, 12). Die meist mitgenannte kulturelle Dimension kommt dabei allerdings immer noch zu kurz. Die Aufgabe, kulturelle Vielfalt zur Normalität werden zu lassen, ist ein langfristiges Projekt, für das Kindergarten und Schule den Grund legen müssen. Sie berührt auch eine machtkritische Perspektive: Solange kulturelle Zugehörigkeit ein Konzept der Inklusion und Exklusion ist, besteht ein Interesse an der Aufrechterhaltung kultureller Klassifikationen. „Das Konzept von Diversity verwirft Klassifizierungen jeglicher Art und setzt stattdessen - wie auch die Inklusion - auf die Achtung der Individualität jedes Einzelnen im Sinne der Menschenrechte“ (Georgi 2015: 26). Die ungleiche Verteilung von Macht ist kaum zu vermeiden, Mehrkulturalität aber betont die Notwendigkeit, Respekt, Würde und Teilnahme unabhängig von der realen Machtverteilung zu ermöglichen: „Der Diversity-Begriff ist positiv konnotiert: Er transportiert die Wertschätzung der Pluralität von Lebensentwürfen und hebt Vielfalt als gesellschaftliche Ressource hervor“ (Georgi 2015: 26). Der Referenzrahmen für plurale Ansätze für Sprachen und Kulturen (RePA) ist hier ein grundlegendes Instrument, weil er nicht nur die Dimension des Wissens, sondern auch die Dimensionen der Einstellungen und Emotionen einbezieht; es geht nicht nur darum, zu vermitteln, dass ‚auch andere Kulturen’ positiv zu verstehen sind, sondern - und das wäre dann ein Schritt über den RePA hinaus - sprachliche und kulturelle Vielfalt als Rahmenbedingungen für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft zu akzeptieren (↗ Art. 20). Literatur ACEDLE/ ASDIFLE/ Transit-Lingua (2017): The Expanded CEFR Project: a not so Good Initiative by the Council of Europe / Das Projekt Weiterentwicklung des Europäischen Referenzrahmens: eine gutgemeinte, aber falsche Initiative des Europarates . [http: / / www.transitlingua. org/ assets/ projet-d-amplification-du-cadre-européen-de-référence-en-langues.pdf]. Albrecht, C. (2003): Fremdheit. In: A. Wierlacher & A. 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Hans-Jürgen Krumm 16. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Mehrkulturalität Richtet sich der Blick der Erziehungswissenschaft auf die Mehrkulturalität der deutschen Gesellschaft, stehen Fragen der Erziehung und Bildung im Kontext gesellschaftlicher Institutionen im Vordergrund. 96 WernerWiater 1. Begrifflichkeit Gegenstand und Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft sind die Erziehung und die Bildung des Menschen als Subjektindividuum im sozialen Kontext und mittels gesellschaftlicher Institutionen (Familie, Kindergarten, Schule, sozial-/ heilpädagogische Einrichtungen). Erziehung wird heute als eine notwendige und absichtsvolle Hilfe der Erwachsenengeneration bei der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu mündigen, d. h. selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und kritisch/ selbstkritisch reflektierenden Persönlichkeiten definiert. Als soziale Interaktion zwischen selbstständig handelnden Subjekten entzieht sich Erziehung jeder Machbarkeit. Ihr normativer Orientierungspunkt sind das Wohl des Kindes oder Jugendlichen, seine Würde und seine Grundrechte. Bildung wird seit der klassisch-idealistischen Epoche (v. Humboldt, Hegel) im deutschen Sprachgebrauch von Erziehung unterschieden. Zur Bildung kommt es, wenn sich der Mensch mit anderen Menschen und mit den geistigen, kulturellen und dinglichen Inhalten seiner Lebenswelt auseinandersetzt und dabei Kenntnisse und Einsichten erwirbt, die es ihm erlauben, das „Funktionieren“ der Welt zu verstehen, zu durchschauen und daraus Anforderungen an sein Handeln abzuleiten (vgl. Klafki 1996). Wird Bildung nicht mit der Schulbildung, der Höhe des Schulabschlusses oder dem Erwerb von Kompetenzen gleichgesetzt, wie bei manchen Bildungspolitikern, dann besteht ihr besonderer Wert heute darin, den Menschen unter den Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft mittels kritisch-distanzierender Reflexion gegenüber Abhängigkeiten, Mainstreamdenken und Fremdbestimmung resilient zu machen (Wiater 2013: 13-25, 86-109). In der Erziehungswissenschaft gilt Kultur als Humanitätsentwurf, als historisch-geografisch-gesellschaftliche Interpretation von Menschlichkeit (relational zu den jeweiligen ökonomischen, sozialen, religiösen und politischen Lebensbedingungen), als spezifische Sinnbestimmtheit des Menschen (Ruhloff 1982). Sie ist das Fundament der gemeinsamen Kulturalität von Menschen, die einer bestimmten Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft angehören (↗ Art. 1). Mit der Kulturalität ist so etwas wie eine „kollektive Programmierung des Geistes“ dieser Menschen gemeint, die durch die frühkindliche Sozialisation und durch die Sprachgemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden, bewirkt wird (Hofstede & Hofstede 2006: 4 ff.). Sie erleben so, was als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich anzusehen ist, und lernen, fremdes Verhalten auf der Grundlage der erworbenen Kulturstandards (↗ Art. 33, 34) zu beurteilen (Thomas 2005: 25). 2. Problemaufriss Seit mehr als einem halben Jahrhundert entwickeln sich die europäischen Nationalstaaten mehr und mehr zu multikulturellen Gesellschaften (↗ Art. 2, 3). In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Entwicklung durch Kriege, Flucht, Vertreibung, Armut und Berufsmobilität deutlich verstärkt. Daraus ergeben sich zahlreiche Probleme, die auch in erzieherischer und bildender Hinsicht relevant sind: 1. Die multikulturelle Gesellschaft führt zur Multilingualität in den Nationalstaaten. Auch bei grundsätzlicher Wertschätzung aller Immigrantensprachen kommt der Nationalstaat nicht umhin, von allen Bürgern zum Zwecke einer alle verbindenden Kommunikation die Sprache des Immigrationslandes verpflichtend abzu- 97 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität verlangen. Erziehungswissenschaftlich betrachtet gehen aber Bildungspotenziale der Mehrsprachigkeit verloren, wenn die Erst- oder Muttersprachen der Kinder und Jugendlichen gesellschaftlich ohne Belang sind (↗ Art. 52). 2. Die multikulturelle Gesellschaft bringt kulturell bedingte Diversifikationen bei der Sozialisation, der Lebenspraxis und den Wertvorstellungen ihrer Mitglieder mit sich. Diese Unterschiede bestehen nicht in jedem Falle konfliktfrei nebeneinander und entsprechen auch nicht immer dem demokratischen Ethos der Staaten Europas (↗ Art. 9, 11). Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist bei den Betroffenen eine Verhaltensentwicklung anzuregen, die in den gesellschaftlichen Einrichtungen (vor allem in den Schulen) zielorientiert betrieben werden muss. 3. Die multikulturelle Gesellschaft steht vor dem Problem des Verstehens von kulturell Fremdem und damit zusammenhängend des Miteinander-Verstehens. Pädagogisches Verstehen muss um die kulturellen Zusammenhänge wissen. Offene Dialoge und gegenseitiger Austausch der differenten Sichtweisen sind dafür unabdingbar (Wiater & Manschke 2012). 4. Die multikulturelle Gesellschaft birgt die Gefahr in sich, alles Denken, Fühlen und Verhalten von Menschen mit Migrationshintergrund ausschließlich aus der Kulturperspektive zu erklären und sie kollektiv national oder ethnisch zuzuschreiben. Die Erziehungswissenschaft stellt demgegenüber das Individuum - ganz gleich, aus welcher Herkunftskultur - in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung und bemüht sich um dessen Entwicklung zu Mündigkeit und Selbstbestimmung. 3. Forschungsstand Die Erziehungswissenschaft hat sich seit der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer für den deutschen Arbeitsmarkt in den 1960er Jahren verstärkt mit der Migrantenthematik befasst. Ihr Fokus galt zuerst der Beschulung von ausländischen Kindern und Jugendlichen, deren Muttersprache und Herkunftskultur im Gastland Deutschland mitgefördert werden sollten, damit sie bei Rückkehr ihrer Eltern in die Heimat dort keine Nachteile haben würden (Ausländerpädagogik). Als die Rückkehr ausblieb, formulierte die Erziehungswissenschaft eine Pädagogik der Vielfalt aus, die im Miteinander von Kindern und Jugendlichen verschiedener Kulturen einen Mehrwert für beide Seiten sah (↗ Art. 32). Konsequenterweise führte diese pädagogische Umorientierung zur Integrationspädagogik und zum interkulturellen Lernen, das bei Wertschätzung der fremden Sprachen und Kulturen und durch die Begegnung von Einheimischen und Zugewanderten im gemeinsamen Schulunterricht wechselseitig befruchtende Effekte erwartet. Belastbare empirische Befunde liegen dazu bisher nicht vor. Anders bei der Enkulturationsfunktion der Schule, einer Erwartung der Gesellschaft an ihre pädagogischen Institutionen (Kindergarten, Schule, pädagogische/ sonderpädagogische Einrichtungen). Hier ist der Forschungsstand besser elaboriert. Der pädagogische Begriff „Enkulturation“ (↗ Art. 4) richtet den Blick auf die „Einbindung“, auf das funktionale, aber auch das intentionale „Hereinwachsen“ der Kinder und Jugendlichen in die kulturellen Lebensformen des Raumes, in dem sie ansässig werden wollen (Weber 1999: 82 ff.). In der multikulturellen Gesellschaft umfasst die Enkulturation auch die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Enkultu- 98 WernerWiater ration steht in enger Verbindung mit „Akkulturation“, einem terminus technicus der Soziologie und der Psychologie. Die Akkulturation richtet den Blick vorwiegend auf die Angehörigen einer Minderheitenkultur und deren Verhalten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Kopp & Schäfers: 9 ff.), das seit W. Berrys Modell (1990: 232 ff.) den Strategien Assimilation, Integration, Segregation und Marginalisierung folgen kann. Im Vordergrund stehen heute im Anschluss an Berry bidimensionale und mehrebenenanalytische Modelle, mit deren Hilfe kulturelle und psychologische Veränderungen auf Grund von Interaktionen zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen in unterschiedlicher Intensität feststellbar werden. Aus soziologischer Perspektive lassen sich Inklusion und Exklusion der Angehörigen einer Minderheitenkultur, d. h. deren soziale Integration (↗ Art. 38), in folgenden Formen beobachten: Kulturation durch Erwerb zusätzlicher Wissensbestände, Kompetenzen und instrumentellen Fertigkeiten der Aufnahmegesellschaft, Strukturelle Platzierung durch Bildung, Beschäftigung und Verfügen über ökonomische Ressourcen in der Aufnahmegesellschaft, Soziale Interaktion durch Bildung persönlicher Netzwerke, Heiraten und Verwandtschaftsbeziehungen in der Aufnahmegesellschaft sowie Emotionale Identifikation in der Form, dass die Werte der Aufnahmegesellschaft übernommen werden und eine Solidarisierung mit dieser geschieht (Nauck 2008: 113 f.). Der Akkulturationsforschung entnimmt die erziehungswissenschaftliche Enkulturationstheorie wichtige Impulse. Erziehung und Bildung zielen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden und implizieren Versuche der Einstellungs- und Verhaltensänderung , wenn das Handeln und Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit den gesellschaftlich akzeptierten Normen, Werten und Rechtsvorschriften kollidiert. In der Erziehungswissenschaft wird jeder Versuch, durch Erziehungs- und Bildungsbemühungen Einfluss auf das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln eines Menschen zu nehmen, als Lernprozess gesehen, bei dem durch Beratung, durch Gruppentherapie, durch Konditionierungen und durch kognitive Strategien ein Prozess des Umlernens in Gang gesetzt werden soll (Mazur 2006: 101 ff.). Bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die in einem anderen Kulturraum aufgewachsen sind, muss mit angeborenen Verhaltensmustern und Habituationen gerechnet werden, die durch den Spracherwerb und die Sozialisation bedingt sind (Franceschini 2002: 54 ff.). Die Erziehungswissenschaft greift hierzu auf die neurowissenschaftlichen Studien zur vor- und nachgeburtlichen Plastizität des Gehirns zurück (Merlin 1991; Neville & Bavelier 2002). Das Ergebnis dieser Forschungen lässt sich mit den Worten Merlins wie folgt zusammenfassen: „The brains of many individuals in a particular culture are broadly programmed in a specific way, while in other cultures they may develop differently.” (1991: 13) Diese neuronale Kulturspezifizität bezieht sich nachgewiesenermaßen auf die raumzeitliche Wahrnehmung, die Vorstellungsbilder, die Weltsichten und Wertsetzungen, das (logische) Denken und die Problemlösungen, das Verstehen, die verbale und nonverbale Kommunikation (↗ Art. 33, 103), das Fühlen, die Formen sozialer Beziehung, die Bräuche und Riten, Normen und Tabus und natürlich die Sprache (Maletzke 1996: 42). Es erfolgt dadurch eine kulturelle Prägung, an deren Zustandekommen und Verfestigung die erfahrene kulturelle Sozialisation (↗ Art. 4) entscheidenden Anteil hat, die das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln des Einzelnen 99 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität in den Kontext eines Gemeinschaftsdenkens, -fühlens,wollens und -handelns stellt, was ihm in seiner Kultur eine soziale Identität verleiht. Allerdings geschieht die Sozialisation, d. h. der Austausch zwischen den Generationen, immer auch als Ko-Konstruktion des Individuums, das seine Persönlichkeit auf Grund der sozialen und kulturellen Lebenskontexte durchaus auch mitgestaltet, so dass die Prägung nicht bei allen Individuen immer gleich ausgebildet ist. In der Erziehungswissenschaft führen diese Forschungsergebnisse zur Forderung nach einer kulturellen Sensibilisierung pädagogischer Institutionen. Im Sinne eines sozialen oder pragmatischen Konstruktivismus, der die Erziehungswissenschaft seit zwei Jahrzehnten theoretisch fundiert, geschieht das Verändern von Einstellungen und Verhaltensweisen auch bei Kindern und Jugendlichen mit fremdkulturellen Prägungen als ein subjektiv-biographischer Lernprozess, der Elemente der selbsttätigen Bedeutungskonstruktion im neuen kulturellen Raum ebenso enthält wie solche der Rekonstruktion von Sinn, der in diesem vorherrscht, und solche der Dekonstruktion bisheriger Überzeugungen und Gewissheiten (vgl. Reich 2010). 4. Praxisrelevanz Die Enkulturation in der Schule (↗ Art. 4) soll Kindern und Jugendlichen, die im Staat ansässig sind, Inländern wie Zugewanderten, helfen, sich die kulturellen Traditionen und Gegebenheiten anzueignen und gemeinschaftlich weiterzuentwickeln, die ihnen das Einleben, Überleben und „gute“ Leben miteinander ermöglichen. Dadurch wird die Gesellschaft als Gemeinschaft stabilisiert, werden kulturelle Rückschritte mit ggf. verhängnisvollen Folgen verhindert und in dynamischen, multikulturellen Gesellschaften werden die Kulturentwicklung und die Kulturerneuerung gefördert. Die Enkulturation erfolgt über Lernprozesse im Schulunterricht und im gestalteten gemeinsamen Schulleben. Dazu veranlasst die Schule Kinder und Jugendliche - erstens - zentrale Inhalte der Traditionskultur des Landes anzueignen und zu resubjektivieren wie die Sprache, die akzeptierten Kommunikations- und Interaktionsformen, die Normen und Werte, die Moral und das geltende Recht. Diese notwendige Kulturaneignung kommt bei aller gebotenen Toleranz nicht ohne Anpassung aus (↗ Art. 37). Zweitens hält sie sie zu kulturellen Tätigkeiten an, bei deren Gestaltung sie größtmögliche Freiheit haben sollen, sich kulturbestimmt zu verhalten, ihr Selbst auszudrücken, zu präsentieren und zu verwirklichen (z. B. in Projekten, Festen, Feiern, Theater- und Musikaufführungen, Kunst-Ausstellungen, Aktionen, Bewegung, Riten und Ritualen, Spielen usw.). Schließlich macht die Schule bei der Enkulturationsfunktion Kultur auch selbst zum Lerngegenstand und behandelt mit allen Schülerinnen und Schülern kulturbedingte Unterschiede bei Mentalitäten und Handlungsweisen selbstkritisch und ideologiekritisch (vgl. beispielsweise Themen wie Gerechtigkeit und Gleichheit, Individuum und Gemeinschaft, Macht und Herrschaft, Freiheit und Zwang, System und Selbst). Gerade diese Aufklärung von kulturspezifischen Identitätsmustern führt bei allen Beteiligten zu einem distanzierenden Blick auf ihre Handlungsmuster und zu einer interkulturellen Kritikfähigkeit. Sie hat ohne Zweifel erziehende und bildende Effekte. Überhaupt gelingt die Enkulturation umso besser, je mehr man die (vermeintlich) nationalkulturelle Perspektive verlässt und stattdessen das Kind und den Jugendlichen mit fremdkultu- 100 WernerWiater rellem Hintergrund in seiner Rolle als Schüler oder Schülerin innerhalb der Lerngruppe oder Klasse betrachtet und Erziehung ohne Kulturalisierung betreibt (Hamburger 1990; Mecheril 2004). Sprache (mündlich/ schriftlich, verbal/ nonverbal), Religion oder Weltanschauung, Weltansicht, Normen, Werte, Geschmacksurteile, Gefühle und Erlebnisformen, kultur- und zivilisationsadäquates Verhalten - all das sind Bausteine der Identität des Menschen (↗ Art. 1). Die kollektive Gebundenheit führt zu seiner sozialen Identität, in die die persönliche Identität, bestehend aus individuellen Erfahrungen, das Selbst des Menschen, eingebettet ist. Angesichts großer Zahlen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund stehen Erziehung und Bildung hier vor einer großen Herausforderung. Einerseits müssen sie der Grundsorge des Menschen nach Identität durch das ihm Vertraute, durch seine Sprache und sein kulturelles Gedächtnis Rechnung tragen, andererseits müssen sie um des gelingenden Lebens in einem anderen Kulturraum willen nationale, ethnische oder volksgruppenspezifische kulturelle Fixierungen aufbrechen. Mobilitäts- und Migrationserfahrungen müssen aufgearbeitet und es muss den Betroffenen zu einer neuen Identitätskonstruktion verholfen werden. Die Soziologie der modernen Gesellschaften hat zur Vorstellung von mehreren Bereichsidentitäten beim Menschen geführt, zur Vielfalt möglicher Identitäten in unterschiedlichen privaten und gesellschaftlichen Kontexten. In ihnen ist das ehemals homogene Eigene mit Fremdem verflochten und von Fremdem durchdrungen, es ist sozusagen eine „transkulturelle Collage“ aus Altem und Neuem, Eigenem und Fremdem nötig (Welsch 1995: 42 f.; Kostalova 2003: 242). Auf diese Weise kann in multikulturellen Gesellschaften durch Erziehung und Bildung eine neue, postnationale Identität entstehen, die transnational, multilingual und multikulturell konturiert ist (↗ Art. 41). Interkulturelle Kompetenz (↗ Art. 43, 49) bei Kindern und Jugendlichen ist ein weiteres Anliegen der Pädagogik multikultureller Gesellschaften. Mit Interkultureller Kompetenz ist die Fähigkeit gemeint, auf der Basis eines geklärten Eigenkulturbewusstseins fremde Kultur und fremde Lebensformen als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Lebensentwürfe zu akzeptieren und darüber in einen Dialog zu treten. Wer interkulturell kompetent ist, überwindet den Ethnozentrismus und bemüht sich um eine „doppelte Optik“, d. h. darum, die Wirklichkeit auch mit den Augen eines Fremden zu sehen, und ist offen dafür, dadurch zu einem neuen, vertiefteren Selbstverstehen zu gelangen. Denken in Polaritäten, Stereotypen und Klischees (↗ Art. 34) verbietet sich hier, einerseits aus dem Willen um Verständigung und andererseits aus einem Bildungsinteresse, das W. v. Humboldt mit der Formel ausgedrückt hat, der Mensch solle zum Zwecke der Menschenbildung „soviel Welt, als möglich ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich verbinden“ (v. Humboldt 1793/ 1963) (vgl. auch Essinger & Kula 1987; Wierlacher & Stötzel 1996). 5. Perspektiven Die Internetkultur der Gegenwart, bei der im Sinnkonstitutionsprozess à la Wikipedia Menschen unterschiedlicher Bildung und Kultur gemeinschaftlich ein Wissen für jeden Anlass produzieren, das global vertrieben wird und von jedem auf der ganzen Welt zu jeder Zeit abgerufen werden kann, wird in den nächsten Jahren zu einer „programmierten Kultur“ (Spengler 2018) führen, die den Einzelnen 101 16. ErziehungswissenschaftlichePerspektivenaufMehrkulturalität vernetzt, normiert, individualisiert und zum Sinn-Konsum veranlasst (↗ Art. 47, 102). Hier stellen sich für die Erziehungswissenschaft neue Fragen, wie sie unter diesen Bedingungen an der Mündigkeit und der Kritikfähigkeit des Individuums, den Zielen von Erziehung und Bildung, festhalten kann. Literatur Berry, J. W. (1990): Psychology of Acculturation. Understanding Individuals Moving between Cultures. In: R. Bristin (Hrsg.): Applied Cross-Cultural Psychology . Newbury Park, 232-253. Essinger, H. & Kula, O. B. (1987): Pädagogik als interkultureller Prozeß . Felsberg. Franceschini, R. (2002): Das Gehirn als Kulturinskription. In: J. Müller-Lancé & C. M. Riehl (Hrsg.): Ein Kopf - viele Sprachen . Aachen, 45-62. Hamburger, F. (1990): Der Kulturkonflikt und seine pädagogische Kompensation. In: E. Dittrich & F.-O. Radtke (Hrsg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten . Opladen, 311-325. Hofstede, G. & Hofstede, G. J. (2006): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management . München. Humboldt, W. v. 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Dies gilt besonders für den deutschen Sprachraum, in dem sich unter dem Einfluss der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts eine eigene kulturalistische Tradition etablierte, die sich - so Hüllen (ebd.: 50 f.) - deutlich von den stärker utilitaristischen Diskursen in England oder Frankreich abhob. Während im 19. und 20. Jahrhundert hierzulande die Leitkonzepte der Kultur- und Landeskunde (↗ Art. 35) die fremdsprachendidaktischen Diskurse bestimmten (vgl. Raddatz 1996), setzten sich seit den 1990er-Jahren die Konzepte der Interkulturalität und des interkulturellen Lernens durch (↗ Art. 32). Man könnte geradezu von einem Boom einschlägiger Schriften sprechen, der nicht zuletzt dem Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ um Lothar Bredella und Herbert Christ zu verdanken ist (↗ Art. 36). Wie das Präfix „inter“ bereits erkennen lässt, sind die Zielsetzungen des interkulturellen Lernens bzw. später der interkulturellen Kompetenz von der Vorstellung einer Dichotomie bzw. einer Bipolarität geprägt. Zwischen der eigenen Sprache und der Zielsprache und über diese vermittelt zwischen der „eigenen“ und der „fremden Kultur“ Brücken zu bauen, war und ist das Anliegen einer interkulturellen Pädagogik und Didaktik. In anglophoner Forschung artikulierten sich demgegenüber schon früh Stimmen, die fremdsprachliches Lernen und Lehren in einen übergreifenden Rahmen stellten, so z. B. Michael Byram (1989) mit seinem Konzept der „tertiary socialisation“ und vor allem Claire Kramsch (1995) mit ihren Vorstellungen eines dritten Orts. Es ist zum einen der zunehmenden Globalisierung unserer Lebensverhältnisse mit den aus ihr resultierenden Vermischungen und Hybridisierungen zuzuschreiben, dass in aktueller fremdsprachendidaktischer Forschung eine auf Kulturkontrastivität angelegte Ausrichtung auch im deutschen Sprachraum als nicht mehr zeitgemäß betrachtet wird. Zum anderen manifestiert sich hier aber zugleich (und vermutlich vor allem) der Einfluss poststrukturalistischen Denkens, welches das Strukturprinzip binärer Oppositionen radikal ablehnt (↗ Art. 40, 41). 2. Begrifflichkeit ‚Pluri-‘ und ‚Multikulturalität‘ lassen sich gleichermaßen auch als ‚Viel-‘ oder ‚Mehrkulturalität‘ bezeichnen. In den Alltagswortschatz hat allerdings nur der Begriff Multikulturalität Eingang gefunden. Er bezieht sich auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer migrationsbedingten sprachlichen und ethnischkulturellen Heterogenität der Bevölkerung. Der aus französischsprachiger Forschung übernommene Begriff Plurikulturalität hingegen ist auf der individuellen Ebene einer von unterschiedlichen sozio- und ethnischkulturellen Einflüssen geprägten Persönlich- 103 17. Pluri-undMultikulturalitätimfremdsprachendidaktischenDiskurs keitsstruktur angesiedelt. Problematisch ist in beiden Fällen jedoch der Begriffsteil „-kultur-“. Die noch von Herder stammende Vorstellung von Kulturen als nationalstaatlich abgrenzbaren und in sich geschlossenen Gebilden lässt sich angesichts gesellschaftlicher, nicht zuletzt aber auch theoretisch-konzeptueller Entwicklungen nicht mehr halten. Eine wissenschaftlich fundierte, allgemein geteilte und zugleich operable Definition dessen, was ‚Kultur‘ im Rahmen von Selbst- und Fremdzuschreibungen sprachlicher und sozialer Identität ausmachen könnte, ist derzeit indes nicht zu finden - zu unterschiedlich und diffus sind die Füllungen des Begriffs in alltagsweltlichen und in wissenschaftlichen Diskursen. Gleichwohl wird der Begriff weiterverwendet, wenngleich mit all seiner terminologischen Unschärfe. Wie nicht anders zu erwarten, ist ferner der Begriff - Daniel Coste (2012: 57) spricht sogar von einem Paradigma - der Pluralität selbst von einer Vielfalt von Bedeutungszuschreibungen und Kontextualisierungen gekennzeichnet (vgl. hierzu ebd.: 57-61). 3. Forschungsstand Aus Platzgründen kann der Forschungsstand zu den beiden im Titel genannten Leitkonzepten im Folgenden lediglich überblicksartig skizziert werden, und dies auch nur in einer weitgehenden Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum. Einblicke in die internationale, zumeist englisch- oder französischsprachige Forschungslandschaft geben andere Handbücher bzw. Sammelbände (vgl. u. a. Benet-Martinez & Hong 2014 sowie Zarate, Levy & Kramsch 2008). In den meisten Veröffentlichungen zum vorliegenden Themenkomplex erscheint der Verweis auf die Kulturalität (↗ Art. 1) nachgeordnet als Implikation des Sprachenaspekts. Dies ist vielfach bereits an den Titeln erkennbar ist, so z. B. im Falle von „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität“ bei Aguado & Hu (2000) sowie gleichlautend bei Christ (2015). Daher ist es nicht immer einfach, in Forschungsbeiträgen oder Anregungen für unterrichtliche Praxis gesondert den Kulturaspekt herauszustellen, zumal verschiedentlich zwar von multikulturellen Klassen (↗ Art. 110) oder plurikulturellen Kontexten die Rede ist, die betreffenden Beiträge jedoch allein auf den Sprachenaspekt abheben (so z. B. in Narcy- Combes & Narcy-Combes 2014). Selten wird zudem der Kulturbegriff selbst näher definiert oder gar kritisch hinterfragt. Zum Konzept der Multikulturalität bzw. gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit lassen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Fokussierungen erkennen: In der ersten erscheint kulturelle Diversität vorrangig als Rahmenbedingung fremdsprachlichen Lernens, in der zweiten primär als dessen Ziel. In beiden Fällen rücken gesellschafts-, sprachenund/ oder bildungspolitische Fragestellungen in den Blick, zu denen durchgängig eine Haltung der Wertschätzung von Vielfalt vertreten wird. Im erstgenannten Fall steht die migrationsbedingte sprachlich-kulturelle Heterogenität des fremdsprachlichen Klassenzimmers (u. a. auch mit ihren Implikationen für den Herkunftssprachenunterricht) (↗ Art. 100, 106), im zweiten die Öffnung gegenüber kultureller und sprachlicher Vielfalt im grenzüberschreitenden globalen bzw. europäischen Maßstab im Vordergrund (vgl. u. a. Pfeiffer 2015). Letzteres ist zudem ein zentrales bildungs- und sprachenpolitisches Ziel, das der Europarat (2001) im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) und in dessen aktualisierter Erweiterung („Companion volume“, Council of Europe 2018) vertritt (↗ Art. 18, 19). 104 LutzKüster Eine besondere Bedeutung erhält aktuell der oben angesprochene attitudinale Aspekt im Kontext der pädagogischen und didaktischen Diskurse zur inklusiven Schule. Gegen eine Verengung des Begriffs Inklusion auf die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem/ n Förderungsbedarf wird in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit verwiesen, gerade auch die sprachliche und ethnisch-kulturelle Heterogenität der Schülerschaft in der pädagogischen und didaktisch-methodischen Gestaltung von Unterricht (↗ Art. 110) zu berücksichtigen (vgl. u. a. Dreyer 2013). Wie eingangs angeführt, stellt Plurikulturalität gewissermaßen die personale Seite der Multikulturalität dar. Herbert Christ (2015: 116) betont zu Recht, dass sowohl Mehrkulturalität als auch Mehrsprachigkeit soziale Praxen sind und sich in Interaktion mit anderen entwickeln. Deswegen nehme eine Didaktik der Mehrkulturalität (wie ebenfalls der Mehrsprachigkeit) ihren Ausgangspunkt stets bei den Lernenden, wohingegen die Zielvorstellungen sozialer Natur seien (vgl. ebd.: 117). Plurilingualität und Plurikulturalität verweisen somit wechselweise aufeinander. Vor diesem Hintergrund und in Weiterführung des GeR verfolgt der „Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen“ (RePA) (Candelier et al. 2009) die Absicht, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Ausbildungsziele integrativ zu verankern (↗ Art. 20). Die Autorinnen und Autoren verwenden verschiedentlich den Begriff einer „plurikulturellen Kompetenz“, ohne diesen allerdings genau zu definieren. Etwas vage heißt es, es handele sich um „eine einzige integrative mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz“, die „letztlich auf die Sprachen und (inter)kulturellen Erfahrungen zurück[gehe], die einem Menschen zur Verfügung stehen“ (ebd.: 7). Problematisch erscheint dabei, dass die Verfasser - wie auf S. 45 deutlich wird - eine Gleichsetzung von Sprache und Kultur vornehmen und somit implizit ein homogenisierendes Kulturverständnis vertreten. Zum engeren Feld der Multi- und Plurikulturalität ist nur wenig empirische Forschung zu verzeichnen. Zumeist steht in fremdsprachendidaktischer Perspektive - verständlicherweise - die Sprache im Mittelpunkt (Art. 1). Zu erwähnen ist gleichwohl die Studie von Blell, Dannecker & Ruhm (2010) zum multimedialen und multikulturellen Erzählen im Fremdsprachenunterricht, eine qualitative Untersuchung zu real-life-narratives von Lernenden unterschiedlicher kultureller Herkunft. Die in diesem Projekt gewählte Fokussierung auf eine Pluralität medialer, sprachlicher und kultureller Zugänge entspricht zudem weitestgehend den Leitgedanken der Multiliteralität, in denen stets die Kulturgebundenheit mehrsprachiger und multimedialer Kommunikation eine vorrangige Beachtung finden (vgl. Küster 2014: 4 f.). Ein der Plurikulturalität wie der Multiliteralität benachbartes Konzept ist ferner das Globale Lernen (↗ Art. 37). Obwohl stärker an Themen als am Spracherwerb orientiert, bietet es insofern Anknüpfungspunkte an die vorgenannten, als es darauf gerichtet ist, die Fixierung auf enge Sprach- und Kulturräume zu überwinden und die globale Vernetzung unserer Lebenszusammenhänge ins Bewusstsein zu heben (vgl. z. B. Hammer 2012). Schließlich sei auf die Bedeutung der Studien zur Konstruktion sprachlicher Identitäten verwiesen (vgl. hierzu Burwitz-Melzer, Königs & Riemer 2013 sowie Abendroth-Timmer & Hennig 2014) (↗ Art. 8). In ihnen laufen die gesellschaftlichen Aspekte der Multikulturalität und die individuellen Aspekte der Plurikulturalität zusammen. Denn in sprachlichen Biographien, die in Arbeiten der Identi- 105 17. Pluri-undMultikulturalitätimfremdsprachendidaktischenDiskurs tätsforschung rekonstruiert werden, kommen zumeist nicht nur die individuellen Sprachlernerfahrungen zum Ausdruck, oft werden vielmehr zugleich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reflektiert, in denen sich fremdsprachliche Sprecher zu behaupten haben. Vor allem in Migrationskontexten verlaufen sprachlich-kulturelle Identitätskonstruktionen daher häufig konfliktiv, nicht von ungefähr bezeichnet Bonny Norton (2000: 127 f.) in einem vielzitierten Diktum Identität als „complex site of struggle“. 4. Praxisrelevanz Fremdsprachenunterricht kann einen Beitrag dazu leisten, dass Multi- und Plurikulturalität als Reichtum begriffen werden. In einschlägigen Zeitschriften sind viele Praxisbeispiele und Unterrichtsideen zu finden, die in unterschiedlichen Akzentuierungen die kognitive, die kognitiv-affektive bzw. attitudinale und die konative Dimension betreffen (↗ Art. 44, 45). Als Beispiele seien Unterrichtskonzepte genannt, in denen Lernende Einblicke in die multikulturelle Gesellschaftsstruktur eines Zielsprachenlandes gewinnen und diese reflektieren sollen (vgl. u. a. Dreßler & Schmidt 2011; Overmann 2017). Der Handlungsaspekt wiederum kommt besonders in dramapädagogischen Ansätzen zur Geltung (vgl. u. a. Davenport 2006). 5. Perspektiven Die hehren Ziele einer Überwindung nationalstaatlicher Horizontverengungen und einer Öffnung hin auf ethnisch-, sozio- und sprachlich-kulturelle Vielfalt stoßen in den politischen Diskursen Europas und Nordamerikas derzeit zunehmend auf Widerstände. Mit Normvorstellungen kultureller Homogenität vertreten erstarkte nationalistische Bewegungen Haltungen, die wenig mit jenen gemein haben, die im Geiste einer europäischen Einigungsbestrebung und weitergehend einer globalen Verständigung proklamiert wurden und werden. Dies hat wesentlich mit der Tatsache zu tun, dass der wachsenden Zahl von Migranten ebenso wie ihren Sprachen ein geringer sozialer Status zugeschrieben wird. Auffälligerweise geht die Idealisierung einer als „eigen“ bezeichneten Orientierungseinheit (Region, Staat, Staatengemeinschaft) durchaus mit einer positiven Bewertung des Englischen als lingua franca einher (↗ Art. 13, 97, 98). Da diese als quasi „entkulturalisiert“ erscheint, stellt sie aus Sicht sog. identitärer Bewegungen offenbar keine Bedrohung dar. Aufgabe und Chance einer auf Multi- und Plurikulturalität ausgerichteten Fremdsprachendidaktik kann daher nur sein, diesen Kräften offensiv entgegenzutreten und einer auf Bedeutungsaushandlung beruhenden Sprach- und Kulturvernetzung den Weg zu ebnen. Literatur Abendroth-Timmer, D. & Hennig, E.-M. (2014): Plurilingualism and Multiliteracies. International Research on Identity Construction in Language Education. Frankfurt a. M. Aguado, K. & Hu, A. (Hrsg.) (2000): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität . Berlin. Benet-Martinez, V. & Hong, Y. (Hrsg.) (2014): The Oxford Handbook of Multicultural Identity. Oxford. Blell, G., Dannecker, W. & Ruhm, H. (2010): My music, my story, my world: Multimediales und multikulturelles Erzählen im (Fremd-) Sprachenunterricht. In: G. Blell & R. Kupetz, (Hrsg.): Der Einsatz von Musik und die Ent- 106 LutzKüster wicklung von Audio Literacy im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a. M., 203-222. Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Riemer, C. (Hrsg.) (2013): Identität und Fremdsprachenlernen. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung. Tübingen. Byram, M. (1989) Cultural Studies in Foreign Language Education. Clevedon. Candelier, M., Camilleri Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen. Graz. Christ, H. (2015): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - eine Perspektive für europäische Bürgerinnen und Bürger. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 44/ 2, 117-129. Coste, D. (2012): Pluralité, évaluation, altérité: trois paradigmes en tension. In: C. Fäcke, H. Martinez & F.-J. Meißner (Hrsg.): Mehrsprachigkeit. Bildung - Kommunikation - Standards. Stuttgart, Leipzig, 57-73. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors-/ Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www.coe.int/ lang-cefr]. Davenport, P. (2006): Approaching Multiculturalism Playfully. In: Englisch betrifft uns 4, 12-16. Dreßler, C. & Schmidt, T. 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Zarate, G., Levy, D. & Kramsch, C. (Hrsg.) (2008): Précis du plurilinguisme et du pluriculturalisme . Paris. Lutz Küster 18. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (2001) und der Begleitband (Companion) (2018) 1. Begriff und Geschichte Der Common European Framework of Reference for Languages: Teaching, Learning, Assessment (CEFR)-/ Cadre européen commun de référence pour les langues-: apprendre, enseigner, évaluer (CECR) wurde 2001 vom Europarat auf Englisch und Französisch vorgelegt und im gleichen Jahr vom Goethe-Institut und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK), der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Österreichischen Sprachdiplom (ÖSD, BM: BWK = Österreichisches Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur) in einer deutschen Fassung unter dem Titel Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen (GeR) veröffentlicht. Im Jahr 2018 ergänzte der Europarat ihn durch einen Begleitband mit neuen Deskriptoren- / Companion Volume With New Descriptors- / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . Für die Erstellung von Curricula, Lehrwerken und internationalen Testsystemen ist der GeR heute weltweit ein unverzichtbares Handwerkzeug, ebenso für Institutionen und Administrationen, die Sprachenangebote planen. 2. Ziele 2.1. Förderung von Mehrsprachigkeit Schon seit den 1960er Jahren verfolgt der Europarat eine Politik, die auf die Förderung der weniger häufig gesprochenen europäischen Sprachen abzielt (↗ Art. 9, 12). Dabei wurde mit dem GeR vor allem ein Konzept populär gemacht, das zwischen Mehr- und Vielsprachigkeit trennt: „[individuelle] Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von [gesellschaftlicher] Vielsprachigkeit , [und] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert. […] Diese Sprachen und Kulturen […] bilden […] gemeinsam eine kommunika- D Kompetenzprofile für Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 108 JürgenQuetz tive Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren“ (Europarat 2001: 17). Sprachenpolitisch will man dabei sowohl den europäischen Minderheiten- und Nachbarsprachen als auch den Herkunftssprachen von Migranten gerecht werden. 2.2. Referenzniveaus Diejenige Komponente des GeR, die im sprachdidaktischen Handlungsfeld die nachhaltigste Wirkung zeigt, sind die Referenzniveaustufen A1 bis C2. Die Skalen mit KANN-Beschreibungen wurden in einem Schweizer Projekt (vgl. Schneider & North 2000; North 2000) entwickelt. Ein wichtiger Bezugspunkt waren dabei die Vorarbeiten zum Konzept von „Referenzniveaus“ der ALTE (= Association of Language Testers in Europe , www.alte.org), auf das die Prüfungen aller ihrer Mitgliedsinstitutionen „geeicht“ wurden, um eine Vergleichbarkeit konkurrierender und komplementärer Testangebote in Europa zu sichern. Die CAN DO-statements der ALTE sind wiederum durch die jahrelange akribische statistische Auswertung von Prüfungen in aller Welt und in vielen Sprachen erprobt und validiert. Die Buchstaben A, B und C stehen im GeR für die Stufen beginners (Grundstufe, elementare Sprachverwendung), intermediate (Mittelstufe, selbstständige Sprachverwendung) und advanced (Oberstufe, kompetente Sprachverwendung). Diese drei Stufen sind noch einmal unterteilt, sodass sich das folgende System ergibt: Wie die Beschreibung solcher Stufen im Detail aussieht, zeigt die Globalskala, von der alle anderen Skalen abgeleitet sind (hier in stark gekürzter Form wiedergegeben): A Elementare Sprachverwendung B Selbständige Sprachverwendung / \ / A 1 A 2 B 1 A Elementare Sprachverwendung B Selbständige Sprachverwendung C Kompetente Sprachverwendung / \ / \ / A 1 A 2 B 1 B 2 C 1 A Elementare rachverwendung B Selbständige Sprachverwendung C Kompetente Sprachverwendung \ / \ / \ A 2 B 1 B 2 C 1 C 2 109 18. Der GeR (2001)undder Begleitband (Companion) (2018) Kompetente Sprachverwendung C2 Kannpraktischalles,waser-/ sieliestoderhört,mühelosverstehen. Kannsichspontan,sehrflüssigundgenauausdrückenundauchbeikomplexeren SachverhaltenfeinereBedeutungsnuancendeutlichmachen. C1 KanneinbreitesSpektrumanspruchsvoller,längererTexteverstehenundauch impliziteBedeutungenerfassen. Kannsichklar,strukturiertundausführlichzukomplexenSachverhaltenäußern. Selbstständige Sprachverwendung B2 Kannsichsospontanundfließendverständigen,dasseinnormalesGesprächmit MuttersprachlernohnegrössereAnstrengungaufbeidenSeitengutmöglichist. B1 KanndieHauptpunkteverstehen,wennklareStandardspracheverwendetwird undwennesumvertrauteDingeausArbeit,Schule,Freizeitusw.geht. KanndiemeistenSituationenbewältigen,denenmanaufReisenimSprachgebiet begegnet. Elementare Sprachverwendung A2 KannSätzeundhäufiggebrauchteAusdrückeverstehen,diemitBereichenvon ganzunmittelbarerBedeutungzusammenhängen(z.B.InformationenzurPerson undzurFamilie,Einkaufen,Arbeit,nähereUmgebung). Kannsichineinfachen,routinemäßigenSituationenverständigen,indenenesum eineneinfachenunddirektenAustauschvonInformationenübervertrauteund geläufigeDingegeht. A1 Kannvertraute,alltäglicheAusdrückeundganzeinfacheSätzeverstehenundverwenden,dieaufdieBefriedigungkonkreterBedürfnissezielen. KannsichaufeinfacheArtverständigen,wenndieGesprächspartnerinnenoder Gesprächspartnerlangsamunddeutlichsprechenundbereitsindzuhelfen. GemeinsameKompetenzniveaustufen: Globalskala(Europarat2001: 35) Der Begleitband zum GeR von 2018 (↗ Art. 19) enthält zusätzlich die Stufe „vor A1“ („pre-A1“), die nicht nur die Beschreibung einer Basiskompetenz beim Erwerb einer Fremdsprache darstellen soll, sondern auch ein Profil für junge Lernerinnen und Lerner (z. B. in der Grundschule) ist. Weitere Skalen zu den sprachlichen Mitteln, die bei der Sprachverwendung eingesetzt werden (Wortschatz, Grammatik usw.), zu pragmatischen Kompetenzen wie Flexibilität, Sprecherwechsel, Themenentwicklung und Kohärenz sowie zu funktionalen Kompetenzen wie Flüssigkeit und Genauigkeit runden die Möglichkeiten zur Beschreibung differenzierter Kompetenzen ab. Im Begleitband werden diese Skalen zum einen ausführlicher dargestellt und zum anderen durch neue Skalen zur Mediation, Online-Kommunikation und solche zu plurilingualen und plurikulturellen Kompetenzen ergänzt (↗ Art. 43). 3. Forschungsstand Über die komplexen Forschungsmethoden bei der Entwicklung des GeR und des Begleitbandes geben diese Dokumente selbst ausführliche Auskunft (Europarat 2001: Anhang A; Council of Europe 2018: Anhang 5). Die Skalen und Deskriptoren sind zwar sehr sorgfältig entwickelt, validiert und kalibriert worden, aber über Empirie in Bezug auf Lernerperformanzen ist nur wenig bekannt. Das heißt, dass man nicht genau sagen kann, ob durch diese Deskriptoren wirklich beschrieben wird, was Lernende im Alltag verstehen und sagen können . Darüber geben bestenfalls die standardisierten Tests der großen internationalen Testanbieter Auskunft, deren Bezüge zum GeR aber eher genereller Art sind (vgl. Quetz & Vogt 2009). 110 JürgenQuetz 4. Praxisrelevanz Der GeR ist kein Curriculum; er ist geschaffen, um Curricula, Lehrwerke, Tests u. v. a. miteinander zu vergleichen. Folglich heißt es im GeR immer wieder: „Die Benutzer des Referenzrahmens sollten bedenken und, soweit sinnvoll, angeben, […] “. Der GeR ist also nur eine Art Messlatte, mit der man Niveaus bestimmen und miteinander vergleichen kann. Er ist außerdem ein Versuch, die relevante Fachterminologie der Fremdsprachendidaktik, der Angewandten Linguistik und der Sprachlehrforschung in systematischen Zusammenhängen darzustellen, um solche Vergleiche in der Praxis zu erleichtern. Das System der Referenzniveaus hat mittlerweile eine erhebliche Dynamik entfaltet. Alle in der ALTE zusammengeschlossenen großen Testanbieter in Europa haben inzwischen ihre Tests mit Hilfe des GeR kalibriert. Am konsequentesten aber nutzt das Europäische Sprachenportfolio (vgl. Burwitz-Melzer 2016) die Möglichkeiten des GeR, vor allem in Hinblick auf eine Didaktik der Mehrsprachigkeit / Mehrkulturalität (↗ Art. 23). Es besteht aus drei Teilen: 1. dem Sprachenpass, in dem alle formellen Qualifikationen bescheinigt sind; 2. der Sprachlernbiographie, verbunden mit einer Selbsteinschätzung mithilfe der Skalen des GeR, die alle Sprachen umfassen kann, die man in Bildungseinrichtungen oder auf andere Weise erworben hat, z. B. durch Migration oder Auslandsaufenthalte; 3. dem Dossier, in dem man Arbeitsproben sammeln kann, die die Selbst- und Fremdbeurteilung veranschaulichen. Die neuen Skalen für Mediation und Plurilingualität / Plurikulturalität im Begleitband sind noch nicht in der Praxis angekommen (↗ Art. 19). Wie stark der GeR in die Praxis des Fremdsprachenunterrichts in alle Bereiche des Bildungswesens in aller Welt hineinwirkt, zeigt sich an Bildungsstandards, Abschlussprüfungen und Lehrmaterialien für Schulen, aber auch für die Erwachsenenbildung (↗ Art. 21, 50). 5. Weitere Entwicklung Der Begleitband zum GeR enthält eine Reihe von Neuerungen, die den Grundgedanken, nämlich die Förderung von Mehrsprachigkeit (Plurilingualtät) und Plurikulturalität, betreffen. So wird dem neu konzipierten Begriff von „Mediation“ (im GeR 2001 noch „Sprachmittlung“) eine Vielzahl von Funktionen zugeordnet (↗ Art. 6), die teils kognitiv zugeschnitten sind (wie z. B. „Spezifische Informationen mündlich / schriftlich weitergeben“), teils aber auch auf einer Beziehungsebene angesiedelt sind („Einen plurikulturellen Raum schaffen“, „Kommunikation in heiklen Situationen und bei Meinungsverschiedenheiten erleichtern“ u. a.). Während herkömmlich eher auf eine angemessene Wiedergabe des Inhalts oder des Sinns einer Äußerung abgezielt wurde, bei der Sprachmittelnde sich mit eigenen Meinungen zurückhalten mussten, kommen jetzt andere Dimensionen hinzu: zum einen eine interkulturelle und zum anderen sogar eine sozialpsychologische. Mit der Forderung, dass bei Mediationsprozessen gleichsam ein „dritter Ort“ geschaffen wird ( creating pluricultural space ), rückt diese Kompetenz in die Nähe der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (↗ Art. 43). Der Begriff des „dritten Orts“ als Begegnungsraum gewinnt im Zusammenhang mit der Mediation an Gewicht: sprach- 111 lich und kulturell verschiedene Gesprächspartner können dort ihr Anderssein verstehen und thematisieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen und bei ihrer Kommunikation zu berücksichtigen. Das ist etwas ganz anderes als traditionelles Dolmetschen und Übersetzen, weil es bei dieser Art von Mediation auch darum geht, Vertrauen zu erwecken, um ein tieferes Verstehen zwischen den Partnern zu schaffen und ihnen dabei zu helfen, Schwierigkeiten zu umgehen, die aus unterschiedlichen kulturellen Blickwinkeln entstehen könnten. Diese theoretische Erweiterung des Bereichs ist bemerkenswert und richtungsweisend. Da der Begleitband 15 Jahre nach dem GeR erschienen ist, stellt er auch den aktuellsten Stand der perspektivischen Dimension dar. 6. Offene Fragen Die fast schon inflationäre Nutzung der Skalen vor allem zu kommerziellen Zwecken ist oft kritisiert worden. Die Konsistenz der Skalen ist seit der Veröffentlichung 2001 immer wieder infrage gestellt worden (Alderson et al. 2004; Bausch et al. 2002). Auch im Begleitband finden sich wieder viele Deskriptoren, die Zweifel an der theoretischen Fundierung gerade auch im Bereich Plurikulturalität / Plurilingualität bzw. Mediation aufkommen lassen. Welcher Niveaustufe z. B. der Deskriptor „Kann im Allgemeinen gemäß den Konventionen der Körperhaltung, des Blickkontakts und des Abstands zu anderen handeln“ zuzuordnen ist, kann kaum mit wissenschaftlichen Kriterien beantwortet werden (Skala „Auf einem plurikulturellem Repertoire aufbauen“, B1). Nach wie vor ist die oft erratische Beschaffenheit der Deskriptoren ein Problem bei der Gestaltung von Tests und Prüfungen (↗ Art. 48, 49), wobei sich auch die Frage stellt, ob man Kompetenzen in den neuen Skalen überhaupt beurteilen und bewerten kann und sollte (Vogt 2017). Literatur Alderson, J. C., Figueras, N., Kuijper, H. et al. (2004): The Development of Specifications for Item Development and Classification within the Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Reading and listening. Final Report of the Dutch Construct Project . [http: / / eprints. lancs.ac.uk/ 44/ 1/ final_report.pdf]. Bausch, K.-R., Christ, H., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2002): Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen . Arbeitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Burwitz-Melzer, E. (2016): Sprachenportfolios. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 416-420. Council of Europe (Hrsg.) (2001): A Common European Framework of Reference: Learning, Teaching, Assessment . Strasbourg. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www. coe.int/ lang-cefr]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. [www. goethe.de/ referenzrahmen]. North, B. (2000): The Development of a Common Reference Scale of Language Proficiency . New York. Quetz, J. & Vogt, K. (2009): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache: Sprachenpolitik auf unsicherer Basis. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 20/ 1, 63-89. 18. Der GeR (2001)undder Begleitband (Companion) (2018) 112 JürgenQuetz Schneider, G. & North, B. (2000): Fremdsprachen können - was heisst das ? Skalen zur Beschreibung, Beurteilung und Selbsteinschätzung der fremdsprachlichen Kommunikationsfähigkeit . Zürich. Vogt, K. (2016): Zur Beurteilung interkultureller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht oder: Testing the Untestable? In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27/ 1, 77-98. Jürgen Quetz 19. Plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz im CEFR Companion Volume (2018) 1. Begrifflichkeit Um den Wandel der Begriffe Plurikulturalität und Plurilingualität vom Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR, Europarat 2001) (↗ Art. 18) zum CEFR Companion Volume with New Descriptors (Council of Europe 2018) zu verstehen, ist ein kurzer Blick in das erste Dokument wichtig, denn beide Konzepte sind bereits im GeR angelegt. Plurilingualität wird im GeR deutlich von Vielsprachigkeit (Multilingualität) unterschieden, u. a. um europäischen Minderheiten-, Nachbar- und den Herkunftssprachen Rechnung zu tragen (Europarat 2001: 17). Im CEFR Companion Volume with New Descriptors spielt der Begriff der Vielsprachigkeit keine Rolle mehr. Stattdessen wird Plurilingualität in Verbindung mit pragmalinguistischen Kompetenzen genauer ausgearbeitet. Plurikulturalität ist im GeR nicht ausdifferenziert. Sie wird kaum von der interkulturellen Kompetenz (↗ Art. 43) unterschieden, was in vielen bildungspolitischen Dokumenten in Deutschland und anderen Ländern eine große Rolle spielt. Auch Plurikulturalität basiert vor allem auf interkultureller kommunikativer Kompetenz (vgl. Byram 1997; Burwitz-Melzer 2003: 66-72). Im CEFR Companion Volume nehmen plurilinguale und plurikulturelle Kompetenz eine insgesamt wichtigere Rolle ein. Sie sind nun zentrale Konzepte, stärker ausdifferenziert als im GeR (Europarat 2001) und zum ersten Mal durch insgesamt sechs Skalen operationalisiert: The focus in that project was to update the CEFR illustrative descriptors by: highlighting certain innovative areas of the CEFR for which no descriptor scales had been provided in the 2001 set of descriptors, but which have become increasingly relevant over the past twenty years, especially mediation and plurilingual/ pluricultural competence; … (Council of Europe 2018: 23). Es werden zwei wichtige Gründe für die Ausdifferenzierung der beiden Konzepte genannt: Dies sei erstens ein neues, dynamisches Verständnis der sprachlich Handelnden in ihren Kommunikations- und Lernprozessen (vgl. ebd.: 26). Zweitens liege ein weiterer Grund im innovativen Charakter der beiden Konzepte: Seit Erscheinen des GeR 2001 seien diese durch psychologische und neurologische Forschung ausdifferenziert und untermauert worden (ebd.: 28), so dass erst heute der Zugewinn an Plurikulturalität und Plurilingualität durch das Erlernen zusätzlicher Sprachen für junge und ältere Fremdsprachenlerner tatsächlich nachgewiesen werden könne. Tatsächlich erhalten die plurilinguale und die plurikulturelle Kompetenz sogar ein eigenes Kapitel. Beide Kompetenzen werden oft - außer in den Skalen - in einem Atemzug genannt, doch wird 113 19. PlurilingualeundplurikulturelleKompetenzim CEFR Companion Volume (2018) die plurikulturelle Kompetenz als die stärkere bezeichnet (ebd.: 28). 2. Makrostruktur der Skalen zu Plurikulturalität und Plurilingualität Insgesamt bietet das CEFR Companion Volume sechs Skalen zu den beiden Kompetenzen Plurilingualität und Plurikulturalität an, wobei drei dieser Skalen im Kapitel Mediation im Unterkapitel Mediating Communication stehen, während drei weitere ein unabhängiges eigenes Kapitel am Ende des Dokuments ausmachen (↗ Art. 6). Das Unterkapitel Mediating Communication umfasst die drei Skalen • Facilitating pluricultural space • Acting as intermediary in informal situations (with friends and colleagues) • Facilitating communication in delicate situations and disagreement (Council of Europe 2018: 122-125). Das innerhalb der kommunikativen Kompetenzen unter Pragmatik ausgeführte Kapitel Plurilingual and Pluricultural Competence umfasst die Skalen • Building on pluricultural repertoire • Plurilingual comprehension • Building on plurilingual repertoire (ebd.: 157-161). Die Kapitel Facilitating pluricultural space und Building on pluricultural space werden jeweils unterschiedlich als erste Skala aufgeführt und gehören inhaltlich eng zusammen. Die nur schwer nachvollziehbare Begründung für diese Trennung lautet, dass die erste Skala eine aktivere Rolle des Sprechers als kulturellem Mediator behandele (ebd.: 158). Tatsächlich aber kann dieser Grund weder Curriculumsplaner und Lehrwerkersteller noch Wissenschaftler überzeugen: Indem die plurikulturelle Basisskala in das Kapitel der mündlichen Sprachmittlung integriert wird, suggerieren die Autoren, dass besonders bei dieser fremdsprachlichen Interaktion ein plurikultureller Raum geschaffen werden müsste. Tatsächlich muss aber auch bei schriftlicher Mediation ein plurikultureller Raum genau und differenziert beachtet werden - ebenso wie bei allen anderen kommunikativen Handlungen, betreffen sie nun das Hörverstehen, das Schreiben oder das Lesen. Die Nutzenden einer Fremdsprache kommen bei keiner der kommunikativen Kompetenzen umhin, sich im plurikulturellen Raum zu orientieren, ihn zu beachten, Perspektiven zu wechseln und rücksichtsvoll zu agieren bzw. detailliert und auf interkulturellem Hintergrund Botschaften von anderen kulturellen Gemeinschaften zu denotieren. Die Platzierung der zwei Skalen zur plurikulturellen Kompetenz zeigt also bereits eine konzeptionelle Schieflage des Konstrukts Plurikulturalität, das nicht in allen kommunikativen Kompetenzen gleichermaßen verortet, sondern auseinandergerissen und nur an zwei verschiedenen Orten der Kompetenzskalen angesiedelt wird. Die im Pragmatik-Kapitel eingestellten drei Skalen wirken durch die Trennung der beiden Plurikulturalitätsskalen ebenfalls inkonsistent. Neben der zweiten Skala finden sich zwei aufeinander aufbauende Skalen zur Plurilingualität, Plurilingual comprehension und Building on plurilingual repertoire . Es drängt sich der Eindruck auf, dass durch die große Bedeutung, die der CEFR Companion der Sprachmittlung zuerkennt, die Systematik in anderen Bereichen, vor allem aber in der Darstellung des zentralen Bereichs der Plurikulturalität, gelitten hat. 114 EvaBurwitz-Melzer 3. Mikrostruktur der Skalen Ein genauerer Blick auf die sechs Skalen und ihre Inhalte soll diesen kurzen Einblick in die Konzepte zur Plurikulturalität und Plurilingualität im CEFR Companion vervollständigen . Die Skala Facilitating pluricultural space befasst sich mit drei Schlüsselkonzepten: mit vorwiegend mündlichen sprachmittelnden Äußerungen, die ein Verständnis für kulturelle Normen und kulturell geprägte Perspektiven befördern sollen, mit Einstellungen wie Verständnis und Respekt gegenüber unterschiedlichen kulturellen und soziolinguistischen Normen und mit Missverständnissen, die aufgrund soziokultureller und soziolinguistischer Normen entstehen. Ausgehend von den mittleren Niveaustufen B1 und B2 wird die Skala nach oben bzw. unten erweitert. Dabei wird auf der Stufe C2 von einer effektiven und natürlichen Vermittlung zwischen den verschiedenen Diskursgemeinschaften gesprochen, die auch eine Leitungsfunktion bei der Sprachmittlung umfassen kann; während auf dem Niveau A1 lediglich rudimentäre Äußerungen wie ein einfaches „Willkommen“ oder auch nonverbale Signale vom Sprachennutzenden erwartet werden. Geht man davon aus, dass den Konzepten der Plurikulturalität nach Byram (1997) oder dem RePA (Candelier et al. 2009) (↗ Art. 20) die kompetenzbildenden Ressourcen aus kulturellem und interkulturellem Wissen ( knowledge ) in Kombination mit jenen der Wissensdomänen Einstellungen ( attitudes, Volitionalität ) und kommunikativer Handlungsfähigkeit ( skills ) zugrunde liegen (vgl. Council of Europe 2018: 158), auf die der Begleittext zu den Skalen auch explizit Bezug nimmt, so lässt sich im Wortlaut der Deskriptoren zwar eine deutlich auszumachende Steigerung der linguistischen und soziolinguistischen Kompetenz und der damit verbundenen kommunikativen Handlungsfähigkeit ausmachen, Einstellungen jedoch erscheinen nur in einer spärlichen Modellierung (z. B. Niveaustufe B1+) und auf Aspekte des kulturellen bzw. sozio- und interkulturellen Wissens wird insgesamt explizit nur einmal verwiesen (Niveau B2+). Gerade diese Wissensressourcen sind aber entscheidend für plurikulturelles Handeln, denn nur wer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in interkulturellen Begegnungen aufgrund seines plurikulturellen Wissens auszuloten weiß, kann auch die nötigen Strategien zur Schaffung eines wirksamen plurikulturellen Raums und zur Vermeidung von Missverständnissen (↗ Art. 33, 104) entwickeln. Curricula und Leistungsmessungen sind auf dieser allzu vagen und nicht befriedigend ausmodellierten Grundlage nicht zu erstellen (↗ Art. 48, 49). Die zweite Skala Acting as intermediary in informal situations (with friends and colleagues) bezieht sich auf Gesprächssituationen, die informell sein können (↗ Art.103); aber auch auf Arbeitssituationen und auf die Wiederholung von Reden und Präsentationen. Es erschließt sich nicht, wo hier die Grenze zur ersten Skala wirklich verläuft und warum gerade informelle Situationen im Titel genannt werden, wenn es auch um berufliche Kommunikation geht (↗ Art. 24). Wieder stehen die soziolinguistische Kompetenz und die plurikulturelle Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt der Deskriptoren. Die Aspekte des Wissens sind nur implizit durch den Anspruch der zu mittelnden Textsorten wahrnehmbar, die Modellierung von Einstellungen entfällt hier ganz. In der dritten Skala zur Plurikulturalität im Unterkapitel Mediating Concepts findet sich eine sehr ähnliche Konzentration auf das Schlüsselkonzept Handlungsfähigkeit in heiklen Situationen, das von einem taktvollen und 115 respektvollen Umgang miteinander (Niveau C2) bis zu einem einfachen Erkennen unterschiedlicher Meinungen (Niveau A1) reicht. Wieder wird deutlich, dass es bei der Modellierung eigentlich vor allem um mündliche Mediation geht, bei der Konflikte vermieden werden sollen. Weder wird ausreichend transparent, welche Einstellungen auf den unterschiedlichen Niveaustufen entscheidend sind für einen erfolgreichen Umgang miteinander, noch welche soziokulturellen und -linguistischen Wissensaspekte jeweils im Mittelpunkt stehen. Gerade die Skalierung von Strategien, die heikle Situationen auflösen sollen, kann nicht überzeugen, denn das Vermittlungsverhalten bei critical incidents (↗ Art. 104) scheint kaum operationalisierbar zu sein. Zusammen betrachtet, erscheinen die drei Skalen sehr inkonsistent, die Thematiken der zwei letzteren sehr willkürlich gewählt und die Modellierung der Skalen allenfalls bzgl. der kommunikativen Handlung konsequent. Als Grundlage für die Erstellung eines Curriculums oder einer begründeten Leistungsmessung reichen sie keinesfalls aus (↗ Art. 48, 49). Den Skalen vorgeschaltet wird gleichsam als salvatorische Klausel die Bemerkung, dass die spezifische Zuordnung eines Deskriptors zu einer Niveaustufe nicht verpflichtend oder zwingend sei. Die erste der drei Skalen Building on pluricultural repertoire versammelt in sich zahlreiche bereits bekannte fachdidaktische interkulturelle Konzepte. Als Schlüsselkonzepte werden genannt: kulturelle, soziopragmatische und soziolinguistische Konventionen erkennen und dementsprechend handeln, Ähnlichkeiten und Unterschiede in Perspektiven und Praktiken bei interkulturellen Begegnungen erkennen und interpretieren, neutral und kritisch evaluieren. Abgesehen davon, dass nicht klar wird, was genau kritisch evaluiert werden soll - die Situation, die involvierten Personen, die Gespräche oder Texte, einzelne Gesprächsbeiträge, die eigenen Gesprächsbeiträge? - wird deutlich, dass auch hier wieder Wissensbestände, Handlungsvermögen und Einstellungen in der Skala versammelt sind (↗ Art. 49). Die einzelnen Deskriptoren sind sehr umfangreich und in ihren Handlungsbeschreibungen bzw. Kompetenzen bunt gemischt. Sie reichen vom Erkennen verschiedener Arten des Zählens und der Zeitangaben (Niveau A1) bis zu sensiblen, kontextadäquaten Handlungen und Ausdrucksformen, die Missverständnisse vermeiden helfen sollen. Rezeptive und produktive Kompetenzen sind oft in einem Deskriptor ebenso vereint wie Bezüge auf lebensweltliche Situationen und fiktionale Kontexte wie die Rezeption von Filmen und Literatur; so z. B. in einem der Deskriptoren auf dem Niveau C1: „ Can sensitively explain the background to, interpret and discuss aspects of cultural values and practices drawing on intercultural encounters, reading, film, etc .“ (ebd.: 159). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der Versuch gemacht wurde, alle fremdsprachlichen Handlungen - egal ob mündlich, schriftlich, rezeptiv oder produktiv - in einer Skala darzustellen. Es ist nicht vorstellbar, wie dies Curriculumsplanern oder Lehrkräften helfen soll, ein differenziertes Curriculum für bestimmte Jahrgangs- oder Leistungsgruppen zu erstellen und die erbrachten Leistungen zu bewerten. Wie in der ersten plurikulturellen Skala sind auch hier einige wenige Adverbien in einzelnen Deskriptoren zu finden, die Einstellungen skizzieren. Die Zusammenhänge zwischen Wissen, Erkennen von kultureller Differenz und achtsamem Handeln werden aber nicht detailliert und konsequent auf allen Niveaustufen modelliert. Die Deskriptoren unterliegen nicht immer denselben Qualitäts- 19. PlurilingualeundplurikulturelleKompetenzim CEFR Companion Volume (2018) 116 EvaBurwitz-Melzer merkmalen: Manchmal sind sie anschaulich und konkret formuliert, daneben gibt es in der Skala auch sehr offene und abstrakte Deskriptoren, die mit den unterschiedlichsten Handlungen konnotiert werden können: “Can generally interpret cultural cues appropriately in the culture concerned“ (ebd.: 145). Dieser Deskriptor könnte sich auf ein lebensweltliches Gespräch beziehen, auf die Analyse eines Films, eines Weblogs oder auf die Interpretationen von Gesichtszügen eines Gegenübers - für Curriculumsplaner eher ein problematisches Beispiel für einen Deskriptor. Die zwei weiteren Skalen dieses Kapitels sind plurilingualen Handlungen zugeordnet: einmal Deskriptoren zum plurilingualen Verstehen, also vorwiegend rezeptiven Kompetenzen, dann dem Aufbau eines plurilingualen Repertoires (ebd.: 160 ff.), schließlich einer Skala, die rezeptive und produktive Kompetenzen mischt. Es erscheint wegweisend, dass die plurilinguale Kompetenz dargestellt wird, indem die Deskriptoren jeweils die Floskel „ different languages “ als Platzhalter in den Deskriptor einfügen. So z. B. in einem Deskriptor auf der Niveaustufe A2: “Can use simple warnings, instructions and product information given in parallel in different languages to find relevant information“ (ebd.: 160). 4. Perspektiven Das CEFR Companion Volume von 2018 versucht die starke Beachtung, die der plurikulturellen und der plurilingualen Kompetenz in der Fachliteratur geschenkt worden ist, aufzugreifen. Die Untersuchung der sechs Skalen zeigt allerdings, dass dies nicht immer gut gelingt: Während die Skalen zur plurilingualen Kompetenz eher Stringenz zeigen, auch wenn sie verschiedene Kompetenzbereiche in einzelnen Deskriptoren direkt nebeneinanderstellen, gelingt eine konsequente Modellierung der plurikulturellen Kompetenz nicht. Weder werden die drei bestimmenden Ressourcendomänen (Wissen, Einstellungen und Handlungsfähigkeit) durchgehend beachtet, noch wird die plurikulturelle Leistung immer sinnvoll mit Einzelkompetenzen verbunden. Der Zweck des Dokuments, das eine Hilfe für Curriculumsplaner und Lehrwerkersteller darstellen möchte, wird damit verfehlt. Literatur Burwitz-Melzer, E. (2003): Allmähliche Annäherungen. Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT. pdf]. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs. [www.coe.int/ lang-cefr].. European Centre for Modern Languages of the Council of Europe (Hrsg) (2012): CARAP - REPA - A Framework of Reference for Pluralistic Approaches. [https: / / www.ecml.at/ tabid/ 277/ PublicationID/ Default/ aspx]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Eva Burwitz-Melzer 117 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 1. Vorstellung des RePA Der RePA (frz. CARAP), dessen erklärtes Ziel in der Förderung der mehrsprachigen Erziehung in einem vielsprachigen und vielkulturellen Europa besteht, ist ein von Michel Candelier pilotiertes Projekt des Europäischen Fremdsprachenzentrums Graz (Österreich), das gewisse Defizienzen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) (Europarat 2001) auszugleichen versucht (↗ Art. 18). Diese betreffen zuvorderst die Operationalisierung von Mehrsprachigkeit (vgl. Candelier & de Pietro 2011: 262: „[der GeR] reste essentiellement centré sur les approches qui envisagent les langues comme indépendantes les unes des autres, comme cloisonnées“) sowie den Kompetenzbegriff. Anders als für die funktional-kommunikativen Kompetenzen und die Sprachmittlung liefert der GeR für diese Bereiche keine Skalierung und bleibt generell in seinen Erläuterungen zurückhaltend. Die Pluralen Ansätze versuchen, die Mängel zu kompensieren. Betroffen sind: • die Mehrsprachigkeit: hier die Definition des GeR nach Candelier & de Pietro, ebd.: „la compétence à communiquer langagièrement et à interagir culturellement d’un acteur social qui possède, à des degrés divers, la maîtrise de plusieurs langues et l’expérience de plusieurs cultures“ (↗ Art. 7), • die Interkomprehension zwischen nahverwandten Sprachen (doch darf dies nicht so verstanden werden, als ob Interkomprehension nur zwischen muttersprachlichen Sprechern derselben Sprachfamilie möglich sei) (↗ Art. 56), • die Sprachenbewusstheit ( Eveil aux langues ) (↗ Art. 22), • das interkulturelle Lernen (↗ Art. 32), • das sprachen- und fächerübergreifende Lernen bzw. die integrative Didaktik: Didactique intégrée ist ein Sammelbegriff und liegt nicht auf der gleichen Ebene wie das interkulturelle Lernen, die Interkomprehension oder Sprachenbewusstheit. Die integrative Didaktik führt zahlreiche, auch hier ungenannte, Kompetenzen und deren Förderung zugunsten der Mehrsprachigkeit zusammen (Beacco et al. 2010). 2. Wie entstand der RePA? Seine Erstellung erfolgte in folgenden Schritten: 1.) Rückgriff, Auswahl und Interpretation vorhandener einschlägiger Publikationen zur Fremdsprachen- und interkulturellen Kompetenz, vorzugsweise aus dem EU-Raum, 2.) Findung der Kompetenzbeschreibungen und Erstellung der Deskriptoren, 3.) Bildung eines gestuften (Kompetenzen - Mikrokompetenzen/ Ressourcen) und aus unterschiedlichen Domänen (Wissen/ knowledge -Können/ Skills -Volitionalität/ attitudes ) gebildeten Kompetenzmodells und 4.) Erstellung einer Systematik ( systématique synthétique ) zwischen den Kompetenzen und deren Bausteinen. Die Systematik umfasst einerseits eine Hierarchisierung. Hierzu ein Beispiel: a) die formale Oberfläche eines vorgetragenen Textes detailliert hörverstehen können (G1), b) die inhaltlich relevanten Lexeme erkennen oder erschließen (G1.1), c) die typische Satzeuphonik erkennen (G1.2), d) syntaktische Merkmale identifizieren (G1.3) usw. Kommunikative 118 KarimSiebeneicher-Brito Aufgaben sind an Situationen gebunden, deren Lösung die Selektion und Mobilisierung bestimmter Ressourcen verlangt (Le Boterf 1994; Perrenoud 1999). Andererseits macht der Rückgriff auf das zu jeder Mobilisierung von Kompetenzen notwendige Zusammenspiel der Domänen ‚Wissen - Volitionalität - Handeln‘ auch ein horizontales bzw. prädikatives Zusammenspiel der Ressourcen erforderlich. Dieses verbindet das handelnde Subjekt (Lerner) mit dem anvisierten Verhaltensziel und dessen Ergebnis vermittels eines Prädikats (X erkennt die morpho-semantische Ähnlichkeit von z. B. engl. education und frz. éducation ). 3. Der RePA in der Praxis Der RePA will ein Werkzeug für die didaktische Reflexion sein (Candelier & de Pietro, ebd.). Dies erfordert letztlich auch einen engen Bezug zu den Praxen des gesamten sprachlichen Lernfeldes. Hierzu ergänzt er die grundlegende Beschreibung, welche detailliert Ziele und Methode der Erstellung der Deskriptoren erörtert (Candelier et al. 2009), sowie die Deskriptorenliste selbst um weitere didaktische Materialien. Zahlreiche Lehrerfortbildungen haben in mehr oder weniger engem Anschluss an das Grazer Zentrum international und mit unterschiedlichen Partnern die Beschreibungen des RePA weitergetragen. Im Projekt Certilingua dienten die Deskriptoren im Rahmen einer internationalen Zertifizierung von Schülerleistungen zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (Meißner 2012b). Die Erweiterungen und Handreichungen reagierten auch auf Weiterentwicklungen in den einzelnen Staaten. In Deutschland betraf dies die Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (↗ Art. 21) in Gestalt z. B. der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (Kultusministerkonferenz 2012). Hier standen der RePA und seine Deskriptoren bei der Einführung des Begriffs der Sprachlernkompetenz Pate (passim Tesch et al. 2017). Es war der Wunsch der an den Fortbildungsveranstaltungen teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer, die umfangreichen theoretischen Erläuterungen des RePA auf das für die Praxis notwendige Maß zu reduzieren, den Kompetenzbegriff stärker zu beleuchten und für die Deskriptoren (als mögliche Lehrziele) Aufgaben zu erarbeiten. Eine spezielle Handreichung kam dem nach (Meißner 2012a). Weitere Publikationen sind - auch im deutschsprachigen Raum - gefolgt (z. B. Melo-Pfeiffer & Reimann 2018). Auch außerhalb Europas begegnet der Wunsch. So in Brasilien: Auch hier ist die einzelzielsprachliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts ohne Berücksichtigung des lernrelevanten linguistischen Vorwissens der Lerner und ihrer Selbststeuerungskompetenz üblich. Dabei erscheinen Sprachlernbewusstheit und Sprachlernkompetenz als wichtige Lernziele (↗ Art. 22). Dies erklärt die portugiesische Kurzfassung der Handreichungen (Siebeneicher-Brito & Meißner 2018). Sie soll Lehrerinnen und Lehrer unterstützen, das lernerseitige Vorwissen in den Unterricht zu integrieren, um die Mehrsprachigkeit der Lerner zu befördern. Zudem können auch Studierende des Lehramts ihre eigene Mehrsprachigkeit reflektieren (Monteiro 2011). Da leider das Studium die Unterrichtspraxis und die didaktische Ausbildung unterbewertet, sind der RePA wie die Handreichung Schritte in die richtige Richtung. 119 Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2010): Guide pour le développement et la mise en œuvre de curriculums pour une éducation plurilingue et interculturelle. Strasbourg . [https: / / www.coe.int/ en/ web/ language-policy/ guide-for-the-development-and-implementation-of-curricula-for-plurilingual-and-intercultural-education]. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT. pdf]. Candelier, M. & De Pietro, F. (2011): Les approches plurielles: cadre conceptuel et méthodologie d’élaboration du Cadre de référence pour les approches plurielles. In: P. Blanchet & P. Chardenet (Hrsg.): Guide pour la recherche en didactique des langues et des cultures: approches contextualisées. Paris, 259-273. [http: / www.projetpluri-l.org/ publis/ Candelier & De Pietro - Le CARAP.pdf]. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen . Berlin. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). [https: / / www. kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf] Le Boterf, G. (1994): De la compétence-: essai sur un attracteur étrange . Paris. Meißner, F.-J. (2012a): Die REPA-Deskriptoren der ‚weichen Kompetenzen‘ - eine praktische Handreichung für den kompetenzorientierten Unterricht zur Förderung von Sprachlernkompetenz, interkulturellem Lernen und der Mehrsprachigkeit . In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 2. [http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: hebis: 26-opus-93728]. Meißner, F.-J. (2012b ): Standard Setting in Intercultural Education by Means of the Framework of Reference for Pluralistic Approaches (FREPA). Key-note ; 6th International Annual Certilingua-Conference, Helsinki 8-9-2012. [http: / / www.certilingua.net/ wp-content/ uploads/ meisner_frepa_certilingua-keynote. pdf]. Melo-Pfeiffer, S. & Reimann, D. (Hrsg.) (2018): Plurale Ansätze im Fremdsprachenunterricht in Deutschland. Tübingen. Monteiro, M. (2011): Interkulturelles Lernen in der Ausbildung von DaF-Lehrern in Brasilien. In: B. Schmenk & N. Würffel (Hrsg.): Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück - Internationale Perspektiven auf Entwicklungslinien im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Tübingen, 181-190. Perrenoud, P. (1999): D’une métaphore à l’autre : transférer ou mobiliser ses connaissances? In J. Dolz & E. Ollagnier (Hrsg.): L'énigme de la compétence en éducation . Bruxelles, 45-60. Siebeneicher-Brito, K. & Meißner, F.-J. (2018): Os descritos dos ‘soft skillsʼ no Quadro de Referência para a Abordagem Plural de Línguas e Culturas (QuRAPLeC/ CARAP) - Um handout prático para o ensino baseado em competências focalizando a promoç-o da aprendizagem de línguas, intercultural e plurilíngue. In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 12. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2018/ 13773/ pdf/ GiFon_12.pdf]. Tesch, B., von Hammerstein, X., Stanat, P. & Rossa, H. (Hrsg.) (2017): Bildungsstandards aktuell: Englisch/ Französisch in der Sekundarstufe II . Braunschweig. Karim Siebeneicher-Brito 20. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen 120 UrsulaBehr 21. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in deutschen Richtlinien des Fremdsprachenunterrichts 1. Begrifflichkeit Die mit den Schulgesetzen der Bundesländer vorgegebenen Bildungsziele werden konkretisiert durch Lehrpläne, Rahmenlehrpläne, Bildungspläne, Kerncurricula, Richtlinien oder Rahmenrichtlinien, für die das Kultusministerium des jeweiligen Landes zuständig ist. „Die Begriffe weisen auf unterschiedliche Perspektiven und Verbindlichkeiten hin, werden allerdings oft synonym verwendet.“ (Christ 2016: 57). Im Folgenden wird - mit Bezug auf die Lehrplan-Datenbank der Kultusministerkonferenz der Begriff Lehrplan verwendet, wobei die Inhalts- und Funktionsbeschreibung auch auf die anderen o. g. curricularen Vorgaben zutrifft. Ein Lehrplan ist ein zentrales Steuerungsinstrument mit hoher Verbindlichkeit, das von staatlicherseits berufenen Kommissionen erarbeitet und von der staatlichen Schulaufsicht in Kraft gesetzt wird. Der Lehrplan beschreibt die verbindlichen Ziele und Inhalte des (Fach-) Unterrichts, ordnet diese in übergeordnete schulartspezifische und/ oder fächerübergreifende Zusammenhänge ein und ermöglicht Schlussfolgerungen für die didaktisch-methodische Gestaltung des fachbezogenen und fächerübergreifenden Unterrichts. Somit haben Lehrpläne einerseits eine Legitimationsfunktion, im Sinne eines staatlich erlassenen Programms für Bildung und Erziehung in der Schule. Anderseits haben Lehrpläne eine Orientierungsfunktion, im Sinne von Arbeitsinstrumenten und Planungshilfen für die einzelne Lehrkraft und als Koordinationsinstrument für das Kollegium einer Schule. Die Konzeption von Lehrplänen ist stets zu betrachten im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, bildungspolitischer Vorgaben und aktueller Entwicklungen im Bereich pädagogischer, schulentwicklerischer, fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Theorien. Die Wirksamkeit von Lehrplänen hängt ganz entscheidend davon ab, inwieweit sie geeignet sind, Lehrkräfte anzuregen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie als Orientierungsgrundlage für die Gestaltung der eigenen pädagogischen und fachlichen Arbeit zu akzeptieren und auch als spezifisches Instrument von Schulentwicklung zu betrachten. Die Lehrplan-Datenbank der KMK (www. bildungsserver.de/ Allgemeinbildende-Schulen-400-de.html) ermöglicht Recherchen nach Land, Schulart/ Schulstufe, Fach/ Sachgebiet, Jahrgangsstufe und Einführungsjahr. 2. Problemaufriss und aktuelle Situation Spätestens seit der Forderung des Europarates, dass jeder europäische Bürger beim Verlassen der Schule neben der Muttersprache über Kenntnisse in mindestes zwei weiteren Gemeinschaftssprachen verfügen sollte, geraten die Begriffe Mehrsprachigkeit und Multikulturalität ins Zentrum bildungs- und sprachenpolitischer Absichtserklärungen (↗ Art. 9, 12). Die Kultusministerkonferenz fasst Beschlüsse zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz (2011), stellt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (↗ Art. 18) heraus, beschreibt interkulturelle Bildung und Erziehung (↗ Art. 32) als Querschnittsaufga- 121 21. MehrsprachigkeitundMehrkulturalitätin Fremdsprachenlehrplänen be (2013), verlangt die Förderung mehrsprachiger Kompetenz, fordert in den Nationalen Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003), Schülerinnen und Schüler auf ein Handeln in mehrsprachigen Situationen vorzubereiten und führt mit den Standards für die Allgemeine Hochschulreife (2012) Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) als verbindliche Kompetenzbereiche ein. Diese programmatischen Verlautbarungen erfahren aber nur bedingt eine verbindliche curriculare länderspezifische Verankerung (↗ Art. 72). So vermittelt ein Blick in die Lehrpläne der Bundesländer für den Fremdsprachenunterricht am Gymnasium folgendes Bild: • Curriculare Vorgaben sind auf den Einzelsprachenunterricht fokussiert. Sprachenübergreifende Ziele der Kompetenzentwicklung werden - mit Ausnahme der Sprachenlehrpläne in Thüringen - nicht formuliert. • Ausführungen zur Mehrsprachigkeit haben eher grundsätzlichen Charakter, d. h. sind vornehmlich Bestandteil von (allgemeinen) Darlegungen zu Zielen und Aufgaben des Faches - im Sinne von Leitgedanken oder Leitbildern für den Unterricht bzw. einer Wertschätzung unterschiedlicher Herkunftssprachen. • Die Entwicklung interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 43) wird mehrheitlich an den Vergleich von Ausgangs- und Zielsprachenkultur - im Sinne einer Bikulturalität - gebunden. • Die Lehrpläne integrieren Ziele sprachenübergreifenden Lernens mehrheitlich nicht konsequent oder nur punktuell in das kompetenz- und standardorientierte Unterrichtskonzept (↗ Art. 14). • Sprachenvergleichende Aspekte sind primär eingebettet in den Lernbereich Sprachenbewusstheit/ Sprachreflexion, wobei nicht in allen Lehrplänen gleichermaßen die Muttersprache Deutsch, die Herkunftssprache (↗ Art. 106), die erste Fremdsprache Englisch oder andere schulische Fremdsprachen als Kontrastfolie benannt sind oder die Rolle als Brückensprache herausgestellt wird. • Die Fremdsprachenlehrpläne sind nicht konsequent abgestimmt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen Synergieeffekte eher von Bedeutung für die zweiten oder dritten Fremdsprachen (↗ Art. 86) sind. Die Lehrplankonzeption in Thüringen (2011) (www.schulportal-thueringen.de/ web/ guest/ lehrplaene/ gymnasium) unterscheidet sich deutlich von der der anderen Bundesländer. So werden für alle Fächer des sprachlichen Aufgabenfeldes, d. h. Muttersprache Deutsch, sämtliche moderne Fremdsprachen sowie Latein und Griechisch, sprachenübergreifende Kompetenzen als gemeinsame Zielsetzung jeglichen Sprachunterrichts ausgewiesen. Dabei erfolgt die Art der Darstellung sprachenübergreifender Kompetenzen in allen Sprachen als integrativer Bestandteil des Einzelfachlehrplans. Mit der Einführung eines eigenständigen Lernbereichs „Über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren“ (Sprachlernkompetenz) erfahren sprachenübergreifendes Lernen und die Entwicklung von Sprach- und Sprachlernbewusstheit (↗ Art. 22) eine Verbindlichkeit in allen Sprachfächern der Sekundarstufe I und II. Die Zuordnung von sprachenübergreifenden Zielen zu bestimmten Klassenstufen und die damit verbundene Progression der Kompetenzentwicklung erfolgt durch: 122 UrsulaBehr • die Verwendung unterschiedlicher Operatoren, • einen unterschiedlichen Grad an erwarteter Selbstständigkeit, • die Bindung an die jeweiligen niveauspezifischen sprachlichen Mittel sowie Rezeptions- und Produktionsstrategien, • die Ausweisung unterschiedlicher Gegenstände für den Sprachenbzw. Kulturvergleich. 3. Fazit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind in den deutschen Richtlinien für den Fremdsprachenunterricht angekommen, ohne jedoch konsequent und durchgängig curricular verortet zu sein. Der von Bausch & Helbig-Reuter vor 15 Jahren bereits geforderte „neue Lehrplantypus“ (2003: 199) ist somit noch nicht Realität. Empfehlungen zur Lehrplanentwicklung, wie: • bei der Erstellung einzelsprachlicher Curricula sprachenübergreifende Aspekte von Beginn an zu berücksichtigen (Meißner 1995: 175), • in ein integratives Mehrsprachigkeitskonzept das Lehren und Lernen von Deutsch (als Muttersprache) explizit mit einzuschließen (Bausch & Helbig-Reuter 2003: 196), • die Curricula zwischen den Sprachfächern abzustimmen (Meißner et al. 2008: 167), • ein Gesamtsprachencurriculum als planerischen Rahmen zu schaffen (Hufeisen 2005: 13) (↗ Art. 14) haben an Aktualität nicht verloren. Lehrpläne sind ein maßgeblicher Transmissionsriemen für die Implementierung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in den Unterricht. Sie können und müssen den verbindlichen Rahmen setzen für die Formulierung (gemeinsamer) sprachenübergreifender Ziele, Inhalte und mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien in allen Sprachfächern und die Beschreibung einer Progression sprachenübergreifender Kompetenzentwicklung. Letzteres erfordert die Nutzung ausdifferenzierter Deskriptoren. Hierfür liegt mit dem „Referenzrahmen für Plurale Ansätze“ (Candelier et al. 2009) ein Instrument vor (↗ Art. 20), das zweifellos Impulse für Zielbeschreibungen in Lehrplänen enthält, aber für diese Spezifik noch einer empirischen Fundierung bedarf (Schädlich 2013: 36). Literatur Bausch, K.-R. & Helbig-Reuter, B. (2003): Überlegungen zu einem integrativen Mehrsprachigkeitskonzept: 14 Thesen zum schulischen Fremdsprachenlernen . In: Neusprachliche Mitteilungen 56/ 4, 194-201. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen. Graz, Straßburg. [https: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT.pdf] Christ, I. (2016): Staatliche Regelungen für den Fremdsprachenunterricht: Curricula, Richtlinien, Lehrpläne. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 56-60. Hufeisen, B. (2005): Gesamtsprachencurriculum: Einflussfaktoren und Bedingungsgefüge. In: B. Hufeisen & M. Lutjeharms (2005) (Hrsg.): Gesamtsprachencurriculum. Integrierte Sprachendidaktik. Common Curiculum. Tübingen, 9-18. Meißner, F.-J. (1995): Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: L. Bredella. (Hrsg.): 123 22. SprachlernkompetenzundMehrsprachigkeit Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen. Akten des 15. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung, Gießen 4.- 6.10.1993 . Bochum, 173-187. Meißner, F.-J., Beckmann, C. & Schröder- Sura, A. (2008): Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES) . Tübingen. [http: / / www1.uni-giessen.de/ rom-didaktik/ Multilingualism/ html/ facette1/ de/ index.htm] Schädlich, B. (2013): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Unterricht der romanischen Sprachen: begriffliche, empirische und unterrichtspraktische Perspektiven . In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 24/ 1, 29-50. Ursula Behr 22. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit 1. Begrifflichkeit und Problemaufriss Der Begriff „Sprachlernkompetenz“ ist ein Neologismus, der sich aus den drei Elementen „Sprachen“, „Lernen“ und „Kompetenz“ zusammensetzt und im Rahmen der Diskussion um die Bildungsstandards für die Sekundarstufe II (KMK 2012) entstanden ist (↗ Art. 43). Sprachlernkompetenz bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Fremdsprachenlernen zielgerichtet zu steuern, d. h. den eigenen Fremdsprachenlernprozess selbstständig zu gestalten und zu kontrollieren. Es handelt sich um eine prozessbezogene Kompetenz - im Gegensatz zu inhaltsbezogenen Kompetenzen wie die funktional kommunikativen oder sachfachlichen Kompetenzen (vgl. Königs & Martinez 2019). Die Förderung von Sprachlernkompetenz hat jedoch nicht erst mit der Einführung der Bildungsstandards für die Sekundarstufe II begonnen, sondern geht auf die Lernerautonomie-Diskussion Ende der 1970er Jahre zurück (Holec 1979; Martinez 2008). Durch die mit der Einführung der Bildungsstandards verbundene Kompetenzorientierung gewinnt Lernfähigkeit allerdings eine neue Dimension. Sie wird zu einer ‚Kompetenz‘, die es neben allen anderen Kompetenzen gleichermaßen und verbindlich zu fördern gilt. Ihr transversaler Charakter macht darüber hinaus deutlich, dass Sprachlernkompetenz - gemeinsam mit Sprach(en)bewusstheit - für die Ausbildung aller weiteren Kompetenzen unerlässlich ist. In den Bildungsstandards (KMK 2012) wird Sprachlernkompetenz folgendermaßen konkretisiert: „Sprachlernkompetenz beinhaltet die Fähigkeit und die Bereitschaft, das eigene Sprachenlernen selbstständig zu analysieren und bewusst zu gestalten, wobei die Schülerinnen und Schüler auf ihr mehrsprachiges Wissen und auf individuelle Lernerfahrungen zurückgreifen.“ (KMK 2012: 25) Der erste Teil der Standardbeschreibung benennt dabei Sprachlernkompetenz als eine bewusste Steuerung und Regulierung des Sprachlernprozesses, was mit der Annahme einhergeht, dass Kognition und Kognitivierung eine lernförderliche Funktion beim Sprachenerwerb haben. Der zweite Teil berücksichtigt die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe bereits mehrere Sprachen erworben bzw. gelernt haben und betont ihre Fähigkeit, ihr mehrsprachiges Vorwissen und ihre Sprachlernerfahrungen als Ressourcen und Strategien für den (selbstständigen) Erwerb weiterer Fremdsprachen einzusetzen. 124 HélèneMartinez Letzteres ist ganz im Sinne des Europarats (↗ Art. 12), wonach „sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus, über die Sprache der Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (…). Diese Sprachen (…) bilden gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen“ (Europarat 2001: 17). Anders als die frühere Modellierung von Methodenkompetenz (vgl. KMK 2003) bezieht sich Sprachlernkompetenz explizit auf den Erwerb sprachlicher und interkultureller Kompetenzen und gründet auf der Fähigkeit der Lerner, ihr sprachliches Repertoire (Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprachen) und ihre Sprachlernerfahrungen für das Erlernen weiterer Fremdsprachen nutzbar zu machen. 2. Forschungsstand Die Wechselbeziehung zwischen Mehrsprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeitskompetenz und Sprachlernkompetenz wurde in der Vergangenheit mehrfach und aus unterschiedlichen Perspektiven erforscht und diskutiert (↗ Art. 85). Die konzeptuelle Nähe zwischen Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit ist bereits dem Konzept der sprachenteiligen Gesellschaft inhärent , welches besagt, dass in einer Gesellschaft viele Menschen möglichst viele Sprachen verstehen und sprechen können sollen (vgl. die ‚Homburger Empfehlungen’; Christ et al. 1980). Den einzelnen Sprachen wurden unterschiedliche pädagogische Funktionen für den Aufbau einer breiten und diversifizierten individuellen Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) zugewiesen, und zwar von der Primarstufe bis hin zur Sekundarstufe II. Die Sprachlernkompetenz lag dabei diesen Überlegungen bereits zugrunde - ohne dass sie explizit genannt wurde (vgl. Martinez & Meißner 2017: 220). Die Interkomprehensionsforschung hat mehrfach empirisch belegt und hervorgehoben, dass die (inferentielle) Interkomprehensionsmethode (↗ Art. 70) zur Autonomisierung der Lernenden beiträgt (u. a. Doyé & Meißner 2010). Die Prozesse bei der Inferierung romanischer Texte ähneln den der Sprachlernkompetenz zugrundeliegenden Prozessen und Strategien. Die Erstellung einer Hypothesengrammatik (im Moment der verstehenden Begegnung mit der Zielsprache oder kurz danach), ihre Überprüfung sowie das Monitoring bezüglich der eigenen Interkomprehensionshandlung setzen Sprachaufmerksamkeit, Sprachbzw. Sprachlernbewusstheit und Reflexion voraus. Meißner (2015: 238) unterstreicht Interkomprehension als „eine sehr wirksame Strategie des lernaufmerksamen Lernens und Lehrens“. Das Inferieren bzw. der positive Transfer (↗ Art. 64) beruhen auf der Fähigkeit, geeignete sprachliche, didaktische und kulturelle Ressourcen zu aktivieren (vgl. Martinez 2017). Dabei entwickeln Lerner Strategien (des Vergleichens), metakognitive/ selbstgesteuerte Strategien und Lernressourcen sowie motivationale und volitionale Strategien. Selbstgesteuerte Strategien sind z. B. selektive Aufmerksamkeit, die Aktivierung schon bekannten Wissens - nicht nur Sprachwissen, auch Weltwissen/ kulturelles Wissen - oder die Regulierung von Strategien (dies bezieht sich auf die Fähigkeit, sich an Strategien, die in ähnlichen Situationen effektiv waren, zu erinnern, sie zu nutzen und bewusst anzuwenden) etc. (vgl. auch Bär 2009: 78 ff.). Die Wahrnehmung eigener Erfolgserlebnisse fördert die intrinsische Motivation und er- 125 22. SprachlernkompetenzundMehrsprachigkeit möglicht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. auch Morkötter 2016). Die mehrsprachigkeitsdidaktische Forschung hat gezeigt, wie Mehrsprachenunterricht eine „Strategie zur Beförderung von Metakognition ( language and learning awareness raising strategy )“ (Meißner 2010: 194) sein kann. Die Interaktion und Kooperation zwischen Lernenden und Lehrenden fördert die reflexive Vergegenwärtigung der ablaufenden Prozesse und die Entwicklung von multi language (learning) awareness . Die Parallelen zwischen einer Pädagogik für Autonomie und der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 56) bzw. Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) sind nicht zu übersehen: Beide ermutigen zur Übernahme der Verantwortung, zur Wahl von Lernzielen und deren flexibler Kontrolle. Der unstrukturierte Input erlaubt z. B. den Lernenden, Hypothesen aufzustellen, zu verifizieren, die Sinngenerierung zu kontrollieren. Beide Ansätze schaffen Gelegenheiten zum selbstgesteuerten Lernen und zur Selbstkontrolle, denn über das Vergleichen von sprachlichen Phänomenen gewinnen die Lernenden Einsicht in die eigenen Lernprozesse und Lösungswege; Übungen wie Laut-Denk-Protokolle oder Übersetzungen, die den Lernprozess ‚online‘ durch Verbalisierung begleiten, fördern das Monitoring. Sowohl eine Pädagogik für Lernerautonomie als auch die Mehrsprachigkeitsdidaktik erfordern und fördern eine positive Einstellung gegenüber dem fremdsprachlichen und interkulturellen Lernen (↗ Art. 32), den Willen, Risiken einzugehen, intellektuelle Neugier, Vertrauen in die eigene Kompetenz und die Kompetenz zur Selbstmotivation (vgl. Jiménez Raya et al. 2007: 33 ff.; vgl. auch Martinez 2008: 293; Martinez 2010: 155 f.). In einer empirischen Studie schlussfolgert Martinez (2008), dass bestimmte Lernende zwar mehrsprachig sind, aber nicht autonom lernen. Es scheint einen Unterschied zu geben zwischen den Lernenden, die von dem Erlernen mehrerer Sprachen profitieren können, und denjenigen, die die Sprachen lediglich additiv erlernen, ohne Bezüge zwischen ihnen herzustellen. Mehrsprachige Lerner scheinen dann autonom zu sein, wenn sie zwischensprachlichen Transfer (↗ Art. 64) als (Lern-) Strategie beherrschen und bewusst oder intuitiv einsetzen. Autonome mehrsprachige Lerner sind diejenigen, die aus dem mehrsprachigen Repertoire eine Kompetenz erzeugen. Definiert man Kompetenz als „Mobilisierungskompetenz von Ressourcen“, so sind die autonomen Lerner fähig, ihre (mehrsprachigen) Ressourcen adäquat und zielgerichtet zu mobilisieren. Autonome mehrsprachige Lerner kontrollieren zwischensprachlichen und didaktischen Transfer und setzen diesen bei Bedarf ein. Dabei greifen sie auf ein reiches und anscheinend gut organisiertes (deklaratives und prozedurales) Wissen zurück, das sie im Laufe ihrer Sprachlerngeschichte erworben haben und bei jedem Zugriff (re-) aktualisieren. Diese „mehrsprachige Aneignungskompetenz“ erlaubt es ihnen, sich eine neue Zielsprache zu erschließen und zu erlernen (ebd.: 281 ff.). Die Erkenntnisse gehen mit Studien zur Tertiärsprachenforschung einher (↗ Art. 51). Im Dynamic Model of Multilingualism (Herdina & Jessner 2002) wird angenommen, dass mehrsprachige Menschen über einen erweiterten mehrsprachigen Monitor sowie ein erhöhtes multilinguales Bewusstsein verfügen. Diese Fähigkeiten und Eigenschaften werden als „multilingual factor“ bezeichnet, eine Kompetenz, die in der Interaktion unterschiedlicher Sprachen entsteht. Untersuchungen belegen, dass Lernende, die bereits eine Fremdsprache oder Fremdsprachen gelernt hatten, über eine 126 HélèneMartinez nachweislich höhere Sprach(lern)bewusstheit verfügen sowie höhere und schnellere Leistungen erzielen (Hufeisen 2003: 97). Sprachen und Sprachlernerfahrungen wurden dementsprechend in den letzten Jahren insbesondere in der Mehrsprachigkeits- und Tertiärsprachenforschung als wesentliche fremdsprachenspezifische Einflussfaktoren für das Erlernen von Fremdsprachen erkannt (vgl. Faktorenmodell von Gibson & Hufeisen 2003: 18). Der Begriff „mehrsprachige Kompetenz“, den der GeR (↗ Art. 18) geprägt hat, unterstreicht diese Dimension. Mehrsprachigkeit bedeutet nicht mehr lediglich die „Beherrschung“ mehrerer isoliert gelernter Sprachen, sondern sie umfasst auch die Kompetenz, mit bereits gemachten Spracherfahrungen umzugehen und sie auf das Lernen weiterer Sprachen zu transferieren (Christ 2006: 50). 3. Praxisrelevanz Wie Behr (2015: 12) am Beispiel des Russischen zurecht erörtert, erfordert die Entwicklung von Sprachlernkompetenz und Sprachenbewusstheit sprachenübergreifende Lehr- und Lernarrangements im Einzelsprachenunterricht, die Lernende anregen: • sprachliche Phänomene bewusst, d. h. mit erhöhter Aufmerksamkeit, wahrzunehmen; • Einzelphänomene aus komplexen Zusammenhängen zu isolieren, mit vorhandenen Sprachbeständen in der deutschen Sprache, ggf. in ihrer Herkunftssprache, und der/ den anderen erlernten Fremdsprache/ n sowie anderen verwandten Sprachen zu vergleichen, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu suchen; • sinnvoll Vergleichbares zu erkennen; • Erklärungshypothesen auf der Grundlage von Vorwissen zu entwerfen; • Hypothesen zu überprüfen; • ihre Vorgehensweise und Ergebnisse zu dokumentieren, zu präsentieren und darüber zu reflektieren. (ebd.) Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich Sprachlernkompetenz auf der Basis von language learning awareness entwickelt. Sie umfasst nach Sinclair (2000) im Idealfall die drei folgenden Bereiche, welche bei der Förderung von Sprachlernkompetenz systematisch berücksichtigt werden sollten: • learner awareness bzw. Lernerbewusstheit • subject matter awareness bzw. Sprachenbewusstheit • learning process awareness bzw. Lernprozessbewusstheit (vgl. auch Martinez 2015). Learner awareness (Who and why? ) attitudes beliefs cultural context expectations learning approach learning style motivation needs political context preferred environment experiences with languages etc. Subject matter awareness (What? ) language systems language varieties similarities and differences between first and target languages social appropriacy 127 22. SprachlernkompetenzundMehrsprachigkeit cultural appropriacy pragmatics etc. Learning process awareness (How? ) activity evaluation strategy evaluation self-assessment goal-setting learning monitoring monitoring progress organizing (time, resources, environment) awareness and exploitation of available resources etc. (In Anlehnung an Sinclair 2000: 9) Lernerbewusstheit bezieht sich auf den Lerner als Individuum und die individuellen Faktoren, die seinen Fremdsprachlernprozess wesentlich beeinflussen. Lernerbewusstheit umfasst den Bereich der Volitionalität bzw. des savoir-être (attitudes) , speziell die Bereitschaft und Fähigkeit des Lerners, über seine Motivation, seine Einstellungen, seine (Lerner-) Rolle im Lehr- und Lernprozess (und bei der Bearbeitung von Aufgaben) sowie über seine persönlichen und favorisierten Lernwege und Lernerstrategien wie auch Lernstile und Sprach(en)lernerfahrungen zu reflektieren. Sprachenbewusstheit umfasst die „Sensibilität für und das Nachdenken über Sprache und sprachlich vermittelte Kommunikation“ und ermöglicht, dass Schüler, „ihre Einsichten in Struktur und Gebrauch der Zielsprache und anderer Sprachen nutzen, um mündliche und schriftliche Kommunikationsprozesse sicher zu bewältigen“ (KMK 2012: 24). Im weitesten Sinne bedeutet Sprachenbewusstheit, dass Lerner „Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen Sprachen erkennen und reflektieren [können]“ (ebd.: 24). In der Praxis heißt dies, dass im Rahmen von sprachenübergreifenden Ansätzen (Spanisch als 3. Fremdsprache nach Französisch oder Französisch / Spanisch als 2. Fremdsprache nach Englisch) Lernende angeregt werden sollten, Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen zu erkennen und zu reflektieren und dieses Wissen und Können als gezielte Lese-, Lern- oder Kommunikationsstrategie zu verwenden (↗ Art. 86). Hier werden auch „Verbindungen zur Pragmalinguistik und zur intrawie interkulturellen Differenzierung deutlich“ (Burwitz-Melzer 2012: 29). Das Vergleichen als grundlegendes Merkmal mehrsprachigkeitsdidaktischen Lernens erklärt, weshalb dieser Ansatz auch eine wirksame fehlerprophylaktische Strategie ist. Lernprozessbewusstheit bezieht sich auf den Prozess des Fremdsprachenlernens und bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft des Lerners, den fremdsprachlichen Lernprozess metakognitiv zu steuern und zu regulieren. Von besonderer Bedeutung erscheint mir in diesem Zusammenhang die „activity evaluation“ (Sinclair 2000) bzw. die Aufgabenevaluation zu sein. Sie geht mit der Fähigkeit der Lernenden einher, den eigenen Aufgabenlösungsprozess (Planung, Durchführung und Evaluation) zu reflektieren und zu regulieren. Darüber hinaus erlaubt sie den Lernenden, über die Relevanz der jeweiligen Aufgaben für den individuellen Lernprozess nachzudenken und an der Gestaltung des eigenen Lernprozesses mitzuwirken (Martinez 2017). Empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, wonach „Teaching goal setting and task classification can suddenly change a classroom from one where the students are disinterested and poor performers to one where everyone is involved in completing a task - a teacher’s dream. The studies show that students found that teaching Goal Setting and TA [Task Analysis] provides an amazing classroom trans- 128 HélèneMartinez formation (…)“ (Rubin 2015: 78; auch Beckmann 2016). Die Thüringer Lehrpläne (↗ Art. 21) für den Unterricht in Deutsch und in den Fremdsprachen (2011) greifen systematisch und konsequent die Entwicklung von Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit auf mit der Einführung eines verbindlichen Lernbereichs „über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren“. Damit stehen sie exemplarisch für die konsequente Förderung von Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit in der Sekundarstufe I (vgl. für Hessen Strathmann 2016). 4. Perspektiven Die Fokussierung auf den Einzelnen als reflexiver Mehrsprachenverwender und Lerner verweist auf eine neue Dimension im Mehrsprachigkeitsdiskurs. Wie Blell & Doff (2014: 2) betonen, „[markiert] diese veränderte Zielsetzung die Wendung von einer standardbasierten Defizitorientierung von Mehrsprachigkeit hin zum Sprecher als einem sprachlich und kulturell geprägten Individuum“. Diese Wende ist verbunden mit einer „Demokratisierung“ des Konzepts (Coste 2013: 38) und stellt herrschende Praktiken und Vorstellungen in Frage. Die Implikationen der Mehrsprachigkeitsförderung für den schulischen (Fremdsprachen)Unterricht liegen auf der Hand: Das Ziel kann nicht länger in der isolierten Vermittlung von zwei, drei oder mehr Fremdsprachen bestehen (↗ Art. 14). Vielmehr gilt es, eine mehrsprachige Kompetenz bzw. ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem allen sprachlichen Ressourcen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler eine besondere Funktion zukommt (vgl. Europarat 2001: 17). Die Gestaltung eines solchen sprachenübergreifenden (Fremdsprachen)Unterrichts, der sowohl Schulfremdsprachen als potenziell auch migratorische Sprachen einschließt und diese als Ressource betrachtet, stellt einen Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht dar, von dem der Europarat anmerkt, dass „er noch genauer herausgearbeitet und in praktisches Handeln übertragen werden [muss]“ (ebd.). Bei diesem Prozess sollten die Sprachlernkompetenz und ihre Förderung eine Schlüsselfunktion einnehmen. Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. 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Begrifflichkeit Im Kontext von Unterricht wird unter einem Portfolio ein Instrument verstanden, das zur Sichtbarmachung und zur Reflexion von Lernwegen, Entwicklungen und Lernleistungen für die Lernenden selbst und für andere dient (vgl. Paulson et al. 1991: 60). Kennzeichnend für Portfolioarbeit ist das Sammeln und Auswählen von Arbeitsproben, beispielsweise in Papierform oder in einem digitalen Portfolio. Portfolios können in einem Lernbereich und für eine kurze Phase oder über einen längeren Zeitraum und verschiedene Lernbereiche hinweg, auch sprachenübergreifend, eingesetzt werden. Neben der pädagogischen Funktion, mit der Lernprozesse unterstützt und lebenslanges Lernen angelegt werden sollen, dienen sie in der Dokumentationsfunktion auch der Sichtbarmachung nach außen, zum Beispiel bei einem Schulwechsel. Relevant für den Fremdsprachenunterricht sind vor allem das Europäische Sprachenportfolio (ESP) (Europarat o. J.), offene Portfolioformen sowie Portfolios in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, z. B. das European Portfolio for Student Teachers of Languages (EPOSTL) (vgl. Newby et al. 2007) und das Lehramtsportfolio für Fremdsprachenlehrkräfte (vgl. Burwitz-Melzer 2004). Die verbreitetste Portfolioform ist das ESP, das ein Instrument der Europäischen Sprachenpolitik (↗ Art. 12) ist und sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen (GeR) orientiert (↗ Art. 18). Die Idee eines ESP wurde 1991 im Zuge der Präsentation des GeR auf dem Rüschlikon-Symposium vorgestellt und das erste Portfoliomodell 2001 veröffentlicht. In den darauffolgenden Jahren wurden 118 Modelle für unterschiedliche Länder und Zielgruppen akkreditiert. Das ESP enthält 1. einen Sprachenpass, in dem Lernende einen jeweils aktuellen Überblick über ihr sprachliches Profil darstellen, 2. eine Sprachenbiografie, in der sie u. a. ihren Sprachstand anhand von Deskriptoren des GeR selbst einschätzen sowie 131 23. PortfolioimKontextvonMehrsprachigkeit 3. ein Dossier, in dem Beispielarbeiten gesammelt werden, die den Sprachstand und kulturelle Lernerfahrungen der Lernenden dokumentieren. Das ESP wurde als Instrument zur Förderung der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und des lebenslangen Fremdsprachenlernens sowie zur Stärkung einer europäischen Identität der europäischen Bürgerinnen und Bürger entwickelt (vgl. Europarat online o. J.). Es ist so angelegt, dass darin mehrere Sprachen aus dem individuellen Repertoire der Lernenden abgebildet werden können. Bei dem zugrundeliegenden Verständnis von Mehrsprachigkeit ist auffällig, dass die Kompetenzbeschreibungen von einzelsprachlichen Fähigkeiten ausgehen und sich dabei vor allem auf autochthone europäische Sprachen (↗ Art. 117) beziehen (vgl. Little im Druck). Ein Verständnis von Mehrsprachigkeit als integriertes Sprachensystem hat sich hier (noch) nicht niedergeschlagen. Außerdem werden Herkunftssprachen und die Zielgruppe der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit bislang kaum einbezogen (vgl. Langner im Druck). Im Vergleich zu offenen Portfolioformen, die in der Regel ohne Vordrucke auskommen, weist das ESP durch die vorgegebene Aufteilung, umfangreiche Vordrucke und die Orientierung an den Deskriptoren des GeR eine höhere Standardisierung auf (↗ Art. 18). Allerdings sind für alle Portfolioformen ein flexibler Einsatz sowie eine spezifische Ausgestaltung je nach Unterrichtskontext, Zielgruppe und Zielsetzung vorgesehen. 2. Verbreitung und Verwendung Zunächst fanden Portfolios in den 1980er Jahren in den USA als writing portfolios Eingang in den Unterricht. Die Arbeitsweise knüpft an kognitivistische, konstruktivistische und interaktionistische Lerntheorien an, indem Bewusstmachung und Reflexion eine zentrale Rolle einnehmen, individuelle Lernprozesse betont und von der Lehrperson unterstützend begleitet werden und der Austausch mit Mitlernenden und mit der Lehrperson ein wichtiges Element darstellt, beispielsweise in Portfoliogesprächen oder in Peer-Feedback-Szenarien. Offene Portfolioformen, wie beispielsweise Projekt-, Schreib- oder auch Leseportfolios, spielen im Fremdsprachenunterricht gegenüber dem ESP eine untergeordnete Rolle. Dieses fand nach seiner Einführung relativ schnell Eingang vor allem in den schulischen Fremdsprachenunterricht und schlug sich auch in den gängigen Lehrwerken nieder, die zur Portfolioarbeit anregen und die jeweils zugeordneten Deskriptoren in Checklisten anbieten. Während der GeR in Europa und darüber hinaus weiterhin an Bedeutung gewinnt, konnte sich das ESP nicht in der erwarteten Form durchsetzen. Hierfür werden verschiedene mögliche Gründe diskutiert, z. B. die Vernachlässigung der pädagogischen Funktion zugunsten der Dokumentationsaufgabe (vgl. Ballweg / Stork 2008), Schwierigkeiten, die spezifische Arbeitsweise des ESP mit bestehenden Curricula in Einklang zu bringen, sowie unzureichende Unterstützung von Lehrenden und Institutionen bei der Einführung (vgl. Little im Druck). 3. Forschungsstand Empirische Studien zeigen, dass Portfolioarbeit die Reflexionsfähigkeit von Fremdsprachenlernenden unterstützen und ihr Strategienrepertoire (↗ Art. 44) erweitern kann 132 SandraBallweg (vgl. z. B. Häcker 2007; Kolb 2007). Die Arbeit mit dem Instrument wird von Lernenden und Lehrenden grundsätzlich als autonomiefördernd wahrgenommen, wobei sie das Portfolio und seine Möglichkeiten jeweils vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erwartungen und Vorstellungen unterschiedlich interpretieren und ausgestalten (vgl. z. B. Ballweg 2015; Kolb 2007). Lernende nehmen Portfolioarbeit auch als aufwändig und fremd wahr und beurteilen sie v. a. dann positiv, wenn der vorgeschlagene Umgang mit dem Instrument den eigenen Zielen und Erwartungen, den persönlichen Eigenschaften, der individuell bevorzugten Arbeitsweise sowie den institutionell wie auch kulturell geprägten Lerngewohnheiten der Lernenden entgegenkommt. Für die didaktische Ausgestaltung bedeutet dies, dass Lehrende gefordert sind, ein auf die Zielgruppe angepasstes Konzept der Portfolioarbeit zu entwickeln und gleichzeitig ausreichend Offenheit und Wahlfreiheiten zu schaffen, um den Lernenden eine individuelle Ausgestaltung zu ermöglichen (vgl. Ballweg 2015). 4. Praxisrelevanz Während Portfolios auch im Kontext alternativer Leistungsfeststellungsverfahren (↗ Art. 50) und in Hinblick auf die Dokumentationsfunktion diskutiert werden, liegt das größte Potenzial in der pädagogischen Funktion und damit in der Förderung von Mehrsprachigkeit, Autonomie und Reflexionsfähigkeit. In Einklang mit aktuellen Tendenzen im Fremdsprachenunterricht sind für diese Arbeitsweise kooperative Lernformen sowie die zeitliche, methodische und inhaltliche Öffnung des Unterrichts kennzeichnend. Portfolioarbeit kann in Bezug auf die Sichtbarmachung und Förderung der Mehrsprachigkeit der Lernenden einen wichtigen Beitrag leisten, wobei dies auch der Kooperation der Lehrenden und der Heranführung der Lernenden an eine sprachenübergreifende Sichtweise bedarf. Eine Voraussetzung für den Einsatz von Portfolios sind die Möglichkeit und die Fähigkeit der Lehrperson, das Instrument an die Rahmenbedingungen sowie an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Dabei bietet es sich an, nicht top down komplexe Konzepte in den Unterricht zu integrieren, sondern vielmehr gewünschte portfolionahe Arbeitsweisen und Funktionen im Unterricht zu stärken oder sie neu einzuführen und diese in einem Portfolio zu bündeln. 5. Perspektiven Während das ESP nach seiner Einführung zunächst auf großes Interesse stieß, hat dies in den vergangenen Jahren wieder nachgelassen, wozu die Komplexität des Instruments für Lehrende und Lernende, die Schwierigkeiten bei der Integration in den Unterricht und bei der Vereinbarkeit von Portfoliogedanken und curricularen Gegebenheiten sowie bestehenden Lernkulturen beigetragen haben (vgl. Little im Druck). Mit der Einführung des Companion Volumes (Council of Europe 2018) sind einige Chancen, aber auch Herausforderungen für das ESP verbunden (↗ Art. 19): Durch ein Verständnis von Mehrsprachigkeit, das weniger additiv und an einer monolingualen Norm orientiert ist, kann auch in Portfolios den vielfältigen Formen von Mehrsprachigkeit der Lernender besser entsprochen werden, nicht zuletzt durch den Einbezug von Erst- und Herkunftssprachen (↗ Art. 100, 106). Allerdings würde das eine grundsätzliche Überarbeitung der bereits akkreditierten Portfoliomodelle sowie neue Überlegungen zu einer sprachen- 133 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf übergreifenden Arbeitsweise für die Praxis voraussetzen. In dieser Umbruchphase besteht außerdem die Chance, die pädagogische Funktion gegenüber der dokumentarischen zu stärken und das Instrument zu reduzieren oder zu entzerren, wobei offene Portfolioformen beispielgebend sein können. Darüber hinaus ist weiterführende Forschung dringend notwendig: Von empirisch untermauerten Deskriptoren des GeR könnten auch die darauf beruhenden Selbsteinschätzungsvorlagen profitieren. Weitere relevante Forschungsbereiche sind beispielsweise die Perspektive und Arbeitsweisen der Lehrenden und die Möglichkeiten einer sprachenübergreifenden Arbeitsweise. Literatur Ballweg, S. (2015): Portfolioarbeit im Fremdsprachenunterricht. Eine empirische Studie zu Schreibportfolios im DaF-Unterricht . Tübingen. 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Als vor mehr als 15 Jahren ein großer südwestdeutscher Energieversorger mit einem französischen Großkonzern und Quasimonopolisten im Energiebereich fusionierte, wurde Englisch (↗ Art. 13, 98), nicht Deutsch oder Französisch als Konzernsprache festgelegt. Man folgte dem Beispiel vieler internationaler Unternehmen wie Siemens, VW 134 HermannFunk u. a. Die Zahl der Englischkurse stieg in dem südwestdeutschen Unternehmen drastisch an. In der praktischen Kooperation zeigte sich aber bald, dass entgegen der Annahmen und ursprünglichen gegenseitigen Versicherungen („Wir sprechen Englisch“) der kooperierenden Managementebenen weder auf deutscher, noch auf französischer Seite die Englischkompetenzen für exakte Vereinbarungen und reibungslosen Kommunikationsfluss im Alltagsgeschäft ausreichten. In der Folge stieg zuerst der Bedarf an Übersetzern und Dolmetschern und schließlich auf deutscher Seite auch die Nachfrage nach firmeninternen Französischkursen, nicht immer mit dem Ziel berufsspezifische Kommunikation, sondern eher mit der Intention der Teilnehmenden, in direkten Kommunikationssituationen nicht sprachlos zu sein (↗ Art. 103). Die zweite Episode etwa aus der gleichen Zeit zum Thema „Mehrsprachigkeit“ stammt nicht aus der Managementebene, sondern aus der Produktion. Ein deutscher Automobilkonzern fertigte in seinem Werk in der Nähe von Lissabon zwei Modelle, deren Motoren aus einem norddeutschen Zulieferwerk kamen. Es gab Probleme mit der Passung und die Direktive des Managements, getreu der Devise „unsere Konzernsprache ist Englisch“, dieses Problem auf Englisch zu lösen. Auch hier stellte sich rasch heraus, dass dies nicht durchführbar war. Weder in der norddeutschen Produktionsstätte noch bei den portugiesischen Kollegen war die Kompetenz vorhanden, ein technisches Problem auf Englisch zu beschreiben, bzw. zu verstehen. Im vorliegenden Fall war die kostengünstigste Lösung, die portugiesischen Kollegen soweit zu schulen, dass sie in der Lage waren, eine begrenzte Anzahl an Fehlern auf Deutsch zu beschreiben. Beide Episoden illustrieren Entwicklungen in den Bereichen der berufsbezogenen Sprachkompetenz im Kontext mit der Weiterentwicklung der industriellen Produktionsformen anschaulich. Starre Vorgaben zum Sprachgebrauch und einer vermeintlichen lingua franca werden komplexen und international diversifizierten Produktionsvorgängen und Kommunikationsanforderungen nicht mehr gerecht. Notwendig sind stattdessen konkrete, fallspezifische Bedarfsanalysen und passgenaue Lösungen. Die Internationalisierung der Industrie hat die regional-komplementäre Produktion, wie sie in der Episode 2 zu besichtigen ist, zum Regelfall gemacht. Das gilt ausweislich der Unternehmensstrukturen besonders in Westeuropa. Die Produktionsform löst damit das traditionelle Export / Import-Modell ab, das in der Regel durch eine Konzentration auf Sprachexpertinnen und Sprachexperten („Fremdsprachenkorrespondentin“) und auf bi-nationale, vor allem schriftliche Kontakte gekennzeichnet ist. In den großen Export-orientierten Nationalökonomien ist dieses Modell vor allem noch bei KMUs (Kleine und mittlere Unternehmen) verbreitet. Die Globalisierung hat in der Konsequenz zu einer horizontalen (mehr Themen), vertikalen (Sprachbedarf auf allen Unternehmensebenen) und qualitativen (interkulturelle Kompetenz in direkten Kontaktsituationen) Ausweitung der sprachlichen Kompetenzanforderungen geführt (Deutscher Volkshochschulverband & Goethe Institut 1995: 14 ff.). Dabei ist die lingua franca Englisch (↗ Art. 13, 98) zwar vor allem in den höheren Hierarchie-Ebenen der Unternehmen von Bedeutung. Sie deckt aber nur einen kleinen Teil unternehmensinterner und -externer Kommunikationsbedarfe ab. Die wachsende Arbeitsmigration innerhalb Europas - in der Regel von Süd nach Nord und von Ost nach West - hat zudem insbesondere in Europa, aber nicht nur dort, sowohl in 135 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf KMUs als auch in großen Firmen zu mehrsprachigen Belegschaften geführt, ohne dass diese Potenziale firmenintern systematisch gepflegt oder gar gefördert würden. Auch hier ist die Reichweite einer lingua franca sehr begrenzt, die Sprache des Produktionsstandortes dagegen ist das wichtigste firmeninterne Kommunikationsmittel sowohl in Bezug auf fachlich-berufliche Kommunikation als auch in Bezug auf die zunehmend wichtige Arbeit in internationalen Teams und zur Etablierung und Aufrechterhaltung kollegial-sozialer Kommunikation. In einer nicht-publizierten, internen Erhebung der ERFA-Wirtschaft- Sprache (www.erfa-wirtschaft-sprache.de) in Deutschland im Jahre 2016 spiegelt sich diese Entwicklung in der Stagnation der Anzahl der Englischkurse (auf hohem Niveau), vor allem aber im Anstieg der Kurse anderer Sprachen mit der stärksten Steigerung für Chinesisch. Die erste und bisher weltweit einzige große Studie zur Lage der beruflichen Mehrsprachigkeit, die ELAN-Studie (CILT 2006), wurde durch das inzwischen aufgelöste EU-Kommissariat für Mehrsprachigkeit (↗ Art. 12) in Auftrag gegeben. Sie bestand u. a. aus einer Befragung mit bis zu 100 KMU aus jedem Land und 30 großen Unternehmen in europäischen Ländern. Im Anschluss daran erfolgte eine Befragung einflussreicher Persönlichkeiten, wie z. B. Leiter von Industrie- und Handelskammern. Die Erhebung erfolgte mittels Fragebogen und telefonischen Interviews. Die Ergebnisse belegen trotz forschungsmethodischer Mängel - die Auswahlkriterien der Interviewpartner bleiben unklar und die Rückmeldungen aus dem deutschsprachigen Raum blieben z. B. spärlich - die beschriebenen Entwicklungen anschaulich und zeigen Strategien zur Optimierung auf. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass europäische Firmen nach eigener Einschätzung durch mangelnde Sprachkenntnisse Umsatzverluste in vielfacher Millionenhöhe durch fehlende Kompetenzen verzeichnen. So gaben 11 % der 2000 befragten Unternehmen an, Aufträge wegen mangelnder Sprachkenntnisse verloren zu haben. 10 Unternehmen gaben eine Auftragssumme von über einer Million an. Dabei waren fehlende Englischkompetenzen in Wort und Schrift aus Sicht der Firmen nur in weniger als 20 % der Verlust-Fälle ursächlich. Vor allem mangelnde Französisch-, Spanisch-, Russischbzw. Chinesisch-Kenntnisse waren in den restlichen 80 % der Fälle Gründe gewesen (vgl. CILT 2006: 22). Die Studie lässt auf ein differenzierteres Bild des Sprachbedarfs in Europa schließen, in dem einer lingua franca nur eine begrenzte Funktion zukommt. In der Außenkommunikation von Unternehmen spielt neben der Umgebungssprache die Sprache (und Kultur) der Kunden eine wesentliche Rolle, sowie im höheren Management vor allem das Englische. Dabei ist ggf. die regionale Mehrsprachigkeit ein wesentlicher Faktor der Personalentwicklung und der Kundenansprache. Auch die Binnenkommunikation in größeren Unternehmen ergibt ein differenzierteres Bild. Die durch Migration geprägten Belegschaften sind mehrsprachig und die Kommunikation am Arbeitsplatz erfolgt nicht immer in der Standortsprache des Unternehmens, deren Kenntnis allerdings unabdingbar ist, besonders im fachsprachlichen Kontext und als Sprache der Qualifikation (Berufsabschlüsse, Weiterqualifikation). Internationale Produktionsstandorte und Vertriebsstrukturen führen zu höherer Mobilität und damit Expat / Impat-Bewegungen mit erhöhtem Sprachenbedarf. Diese Entwicklung kann als funktional ausdifferenzierte Mehrsprachigkeit bezeichnet werden. Die ökonomische Bedeutung von Mehrsprachigkeit in Europa ist besonders sichtbar in 136 HermannFunk den Grenzregionen, den „EUREGIOs“ (↗ Art. 101). Die 1995 gegründete Region Saar-Lor- Lux verzeichnet beispielsweise aktuell über 200.000 grenzüberschreitende Pendler pro Tag, deren Wohnort-Sprache sich von der Sprache am Arbeitsplatz unterscheidet (Wille 2015). Die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen hat zudem den Sprachbedarf bei Klein- und mittleren Unternehmen steigen lassen. Der Mangel an Auszubildenden in Deutschland und die zumeist vergeblichen Versuche der Werbung um Nachwuchs in benachbarten Grenzregionen verdeutlichen auch, dass allgemeine und berufsschulische Konzepte mit den ökonomischen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Im deutsch-niederländischen Konzeptpapier der EUREGIO wird die Voraussetzung grenzüberschreitender Kooperation so formuliert: “ …dass Kompetenzen für den interkulturellen Dialog vorhanden sind, wozu neben der Beherrschung der lingua franca Englisch die Kenntnis der Nachbarsprache, das Wissen über das Nachbarland und interkulturelle Kompetenzen gehören“. Die Forderung nach bilingualen Kindergärten, Netzwerken und Informationsportalen, grenzüberschreitenden Schulpartnerschaften und schulischer Kooperation (gemeinsame Klassenfahrten) haben Fortschritte gebracht, die allerdings in manchen Grenzregionen weiter vorangeschritten sind als in anderen (zur deutsch-tschechischen Grenz- und Schulsituation: vgl. Spaniel-Weise 2018). Besonders in den ökonomischen Fortschritten und Strukturproblemen in den Euregios wird sichtbar, dass die schulischen Konzepte - trotzt aller ermutigenden Einzelbeispiele in Europaschulen und Grenzregionen- und die Konzepte in der Ausbildung von Lehrkräften mit diesen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Nicht nur in den Berufsschulen, aber dort besonders, fehlen Lehrkräfte mit einer mehrsprachigen fremd- und zweitsprachendidaktischen Ausbildung, die auf die Erfordernisse des mehrsprachigen Berufslebens in Europa angemessen vorbereitet werden (Funk & Kuhn 2010). Auf einer vom damaligen EU-Mehrsprachigkeitskommissariat im September 2007 veranstalteten Konferenz zur beruflichen Mehrsprachigkeit in Europa war eine der beiden Leitfragen „Sind die nationalen Erziehungs- und Ausbildungssysteme in der Lage, dynamische Unternehmen mit einer ausreichenden Anzahl von Menschen mit den benötigten Kompetenzen zu versorgen? “ Diese Frage muss auch 10 Jahre später noch verneint werden. Literatur CILT (Hrsg.) (2006): ELAN: Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft . London. [http: / / ec.europa.eu/ assets/ eac/ languages/ policy/ strategic-framework/ documents/ elan_de.pdf]. Davignon, E., Albrink, W., Dyremose, H. et al. (2008): Languages Mean Business. Recommendations from the Business Forum for Multilingualism Established by the European Commission . Brussels. [http: / / ec.europa.eu/ dgs/ education_culture/ repository/ languages/ library/ documents/ davignon_en.pdf]. Deutscher Volkshochschulverband e. V. & Goethe Institut (Hrsg.) (1995): Das Zertifikat Deutsch für den Beruf . München. Euregio2020 (Hrsg.) (2012): Unsere Strategie für morgen. Onze strategie voor morgen . [https: / / www.euregio.eu/ sites/ default/ files/ downloads/ EUREGIO2020_de.pdf]. Funk, H. & Kuhn, C. (2010): Berufsorientierter Fremdsprachenunterricht. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze, 316-321. 137 24. Mehrsprachigkeitin WirtschaftundBeruf Spaniel-Weise, D. (2018): Europäische Mehrsprachigkeit, bilinguales Lernen und Deutsch als Fremdsprache. Längsschnittstudien zum Nachbarsprachenlernen im ostsächsischen Grenzraum . Berlin. Wille, C. (2015): Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux: Wirtschaft - Politik - Alltag - Kultur . Bielefeld. Hermann Funk 25. Lehrkompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit Die Entscheidung zur Förderung von Mehrsprachigkeit kann nicht folgenlos bleiben. Sie zieht zwangsläufig Konsequenzen nach sich, die den Fremdsprachenunterricht auf mehreren Ebenen betreffen (müssen). Im Folgenden soll es um die Auswirkungen gehen, die sich aus dem Votum für Mehrsprachigkeit für die Lehrperspektive ergeben können oder ergeben sollten. Sie betreffen zum einen die Tätigkeit der Lehrkraft selbst und damit die Frage, welche Aufgaben auf sie zukommen, wenn sie bei der Förderung von Mehrsprachigkeit erfolgreich sein will (vgl. 1). Zum Zweiten resultiert daraus aber auch die Frage, wie eine angemessene Ausbildung fremdsprachlicher Lehrkräfte vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen um eine veränderte Lehrerbildung konturiert sein könnte (vgl. 2). Abschließend soll ein Fazit aufzeigen, wie ein möglicher Neuansatz aussehen könnte (vgl. 3). 1. Die Sache mit der Lehrkompetenz Die fremdsprachendidaktische Diskussion der letzten Jahre wurde u. a. von der Kompetenzfrage mitgeprägt. Der Ansatz der Kompetenzorientierung (↗ Art. 43) bemüht sich darum, Unterricht vom Ergebnis her zu betrachten, also von dem, was bei den Lernenden ankommt und verfügbar ist und nicht vom lehrerseitigen Input her. Ein Wesensmerkmal dieser Diskussion ist u. a., dass nunmehr der Kompetenzbegriff als stets im Raum stehend eine terminologische Dominanz entfaltet: Hörverstehens-, Schreib- oder Lesekompetenz werden dabei ebenso häufig angeführt wie Textsorten-, soziale oder interaktionale Kompetenz, um nur wenige Beispiele zu nennen. In der Zwischenzeit ist darauf verwiesen worden, dass die bis dato propagierte Lernerorientierung möglicherweise mit dafür verantwortlich ist, dass Person und Rolle der fremdsprachlichen Lehrkräfte aus dem Blick der Forschung geraten sind (vgl. z. B. Königs 2014; 2016). Das ändert sich übrigens nicht zuletzt durch Publikationen der fächerübergreifenden Schulpädagogik (↗ Art. 16) und die von ihr ausgelöste und mitgeprägte Profes- E Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität lehren 140 FrankG.Königs sionalisierungsdebatte (vgl. z. B. Hericks 2006; Roters 2012; Horn 2016) und führt auch in der Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 17) zu einem geänderten Blick auf das Forschungsfeld (vgl. z. B. Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter 2018). Nun kann man mit guten Gründen bedauern, dass diese Debatte trotz gegenteiliger Bemühungen um terminologische Differenzierung zumindest unausgesprochen den Schluss nahelegt, dass die zuvor ausgebildeten und tätigen Lehrpersonen eben „unprofessionell“ sind bzw. weniger Professionalität in ihrer Ausbildung angetroffen haben. Das entbindet aber nicht von der Verpflichtung darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen Lehrkräfte erfüllen müssen, wollen sie in einem auf Mehrsprachigkeit ausgelegten Fremdsprachenunterricht erfolgreich lehren (↗ Art. 27). Worin besteht also Lehrkompetenz bzw. worin könnte sie bestehen? Wenn Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) dem Fremdsprachenunterricht eine neue Qualität verschaffen soll, muss gefragt werden, welche veränderten Aufgaben damit für die Fremdsprachenlehrkraft verbunden sind. Aus dieser Frage kann zunächst abgeleitet werden, dass die Kompetenzorientierung die aktive und methodisch abgesicherte Gestaltung des Unterrichts nicht in die Hand der Lernenden legt, sondern die Verantwortung dafür beim Lehrenden belässt. Begründen lässt sich dies nicht zuletzt mit seinem Wissen über das Funktionieren von Sprachenlernen und über die (möglichen) Beziehungen zwischen den beteiligten Sprachen. Dabei stellt sich für den Lehrenden eine Vielzahl von Aufgaben, denen er versuchen sollte, möglichst ausgewogen und umfassend gerecht zu werden. Zu diesen Aufgaben zählt u. a. • die Beziehungen zwischen den Sprachen sichtbar machen, • auf die Beziehungen zwischen den Sprachen neugierig machen, • für unterschiedliche Zugangsweisen unterschiedlicher Lerner sensibilisieren, • Transparenz für diese Unterschiede schaffen, • Hilfestellungen beim Aktivieren vorhandener (sprachlicher und sprachlernbezogener) Wissensbestände schaffen, • variantenreich vorgehen, • eigene Erfahrungen transparent machen, • Flexibilität in Bezug auf das Vorgehen, das Interpretieren von Vorwissen und ein ausgewogenes Verhältnis von Fördern und Fordern. In der unterrichtspraktischen Umsetzung muss dies u. a. führen zu: • abwechslungsreichen Aufgaben, • Offenheit für lernerseitige Lösungswege (nicht die Lösungen dürfen offen sein, wohl aber die Wege des Einzelnen, um zu dieser Lösung zu gelangen, • Freiraum für Lernerfahrungen und den systematischen Austausch darüber, • Thematisierung der Reflexivität und Selbständigkeit der Lernenden und ebenso beständige wie systematische Einforderung dieser Haltung, • Kontakt zu einer für die Adressaten authentischen und realistischen mehrsprachigen Interaktionskultur. Dabei gilt, dass dieser Aufgabenkatalog mit zunehmender Zahl der beteiligten Sprachen und sprachlichen Vorwissensbestände immer komplexer wird. Erfüllen können wird man ihn vor allem dann, wenn die Ausbildung die zukünftigen fremdsprachlichen Lehrkräfte angemessen darauf vorbereitet. Damit sind wir bei der grundsätzlichen Frage der Fremdsprachenlehrer(aus)bildung. 141 25. LehrkompetenzundFörderungvonMehrsprachigkeit 2. Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften Hier gilt es zunächst, einige Bemerkungen zum aktuellen Stand der Diskussion um Lehrerbildung zu machen (2.1). Im Anschluss daran ist zu fragen, in welche Richtung die fremdsprachliche Lehrerausbildung verändert werden müsste, um dazu beizutragen, Mehrsprachigkeit zu fördern (2.2). 2.1. Aktuelle Tendenzen in der Lehrerbildung - einige Anmerkungen Es wäre übertrieben, würde man behaupten, dass Fragen der Lehrerbildung die staatliche Schul- und Bildungspolitik dauerhaft zu innovativen Konzepten und Anregungen führen. Zutreffender scheint die Interpretation, dass aktuelle, zumeist quantitative Befunde eher zu hektisch anmutendem Aktionismus führen. Aktuelles Beispiel im Sommer 2018 ist die eigentlich nicht überraschende Feststellung, dass in der Bundesrepublik eine so große Zahl an schulischen Lehrkräften fehle, dass der Bildungsnotstand drohe. Dies führt den amtierenden KMK-Vorsitzenden zu der Idee, auf die Trennung nach Schularten in der Lehrerbildung zu verzichten - eine Idee, die seitens anderer Bildungsorganisationen wie dem Philologenverband mit guten Argumenten rundherum abgelehnt wird. Immerhin räumt die Politik jetzt ein, dass sie eine Entwicklung völlig „verschlafen“ habe. Inhalte spielen bei dieser Position eine geringere Rolle, es geht vielmehr um strukturellen Aktionismus. Das Beispiel macht deutlich, dass Lehrerbildung seitens politischer Entscheidungsträger nicht konsequent inhaltlich, sondern allenfalls sporadisch-quantitativ behandelt wird. Dieser Missstand wird durch die Bildungshoheit der einzelnen Bundesländer eher gefördert als gehemmt. So verwundert das Fehlen eines einheitlichen inhaltlichen Konzepts für Lehrerbildung nicht. Jedes Bundesland verfolgt seine eigenen Vorstellungen (↗ Art. 21) und jeder Ausbildungsstandort - ob 1. oder 2. Phase - interpretiert diese Vorstellungen vor dem Hintergrund der eigenen Konzepte und Ressourcen. Für die konkrete Ausbildung in der universitären Phase bedeutet dies z. B. das Aussortieren von Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Erziehungswissenschaften, nicht jedoch unbedingt eine inhaltliche Festlegung dieser Disziplinen auf obligatorische Ausbildungsprofile. Wir haben es also aktuell bundesweit gesehen mit einer Art Gemischtwarenladen zu tun - sicherlich kein Ruhmesblatt für die deutsche Bildungs- und Schulpolitik. Wenn man vor diesem Hintergrund über einen die Mehrsprachigkeit fördernden Fremdsprachenunterricht nachdenkt, muss gleichzeitig mitbedacht werden, was dies strukturell-konzeptionell und inhaltlich für eine zeitgemäße und angemessene Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften bedeuten könnte. 2.2. Fremdsprachenlehrerausbildung für einen auf Mehrsprachigkeit zielenden Fremdsprachenunterricht Ein auf Mehrsprachigkeitsförderung gerichteter Fremdsprachenunterricht erfordert eine Verständigung über das, was wir mit ‚Mehrsprachigkeit‘ meinen: Denken wir an die Beherrschung zweier oder mehr schulischer Fremdsprachen oder haben wir auch und vielleicht vor allem eine ausgangskulturell geprägte Mehrsprachigkeit im Auge? Aktuelle schuldemographische Entwicklungen lassen es geraten erscheinen, beide Formen bei unseren curricularen Überlegungen zu bedenken (↗ Art. 110). Dies sollte in der Summe zu 142 FrankG.Königs Konzepten für die Ausbildung fremdsprachlicher Lehrkräfte führen, in der die folgenden Aspekte einen integrativen Bestandteil darstellen sollten, die hier allerdings nur schlagwortartig benannt werden können. Angehende Fremdsprachenlehrkräfte sollten • eine Einheit über Grundsätze des Fremdsprachenlernens absolvieren, • eigene Lernerfahrungen bei der Aneignung einer für sie neuen Fremdsprache systematisch reflektieren lernen (vgl. dazu schon Meißner et al. 2001), • forschendes Lehren und Lernen für Mehrsprachigkeit theoretisch durchdringen und praktisch umsetzen, • sich mit Fragen der Alphabetisierung und ihren Folgen für das Fremdsprachenlernen beschäftigen, • einen Überblick über kulturspezifische Elemente des Lernens erhalten, • damit vertraut gemacht werden, die (sprachlichen) Primärerfahrungen von Schülern und Schülerinnen zu ermitteln und in den unterrichtlichen Lehr- und Lernprozess zu integrieren, • lernen, bei den Schülerinnen und Schülern Offenheit, Selbständigkeit und Eigentätigkeit lernerangemessen zu fördern (vorzugsweise in Kooperationsveranstaltungen mit Pädagogen und Psychologen), • in Kooperation mit Sprachwissenschaftlern und Fremdsprachendidaktikern erfahren und reflektieren, welche Beschreibungsmöglichkeiten es für vergleichbare sprachliche Erscheinungen in unterschiedlichen Sprachen gibt. Selbstverständlich muss darüber hinaus eine so orientierte Lehrerausbildung literatur- und landeskundliches Grundlagenwissen (↗ Art. 35, 42) in seiner Bedeutung für die Förderung von Mehrsprachigkeit enthalten. Die curriculare Gewichtung aller genannten inhaltlichen Themen wäre noch detailliert zu entwickeln. Die Benennung dieser Themen sollte lediglich die Richtung andeuten, in die bei der konzeptionellen Entwicklung zu denken ist. Es sollte dabei deutlich geworden sein, dass die unterrichtliche Fokussierung auf Mehrsprachigkeit zu einem anderen Fremdsprachenunterricht führt; deren Sicherstellung sollte auf einer systematischen und wissenschaftlich abgesicherten Grundlage und unter möglichst großer Berücksichtigung von in der ersten Ausbildungsphase verankerten Anteilen eigenen unterrichtlichen und forschenden Handelns durch die angehenden Fremdsprachenlehrkräfte erfolgen. Der Vorschlag abstrahiert bewusst von Aussagen über die Dauer der Ausbildung nicht zuletzt angesichts eines ständig sich steigernden Anforderungskatalogs für Schule und Unterricht. 3. Fazit: Was folgt daraus für eine Neuorientierung der Fremdsprachenlehrerausbildung? Förderung von Mehrsprachigkeit durch Fremdsprachenunterricht ist nicht zum Nulltarif zu haben! Sie macht nicht nur einen veränderten Unterricht, sondern eine veränderte Ausbildung erforderlich, wie die vorangehenden Ausführungen - hoffentlich - gezeigt haben. Es würde allerdings für eine Art Betriebsblindheit sprechen, würde man curriculare Neuansätze ausschließlich bezogen auf Mehrsprachigkeit hin denken. Andere Fokussierungen sind möglich und haben ebenfalls denkbare Begründungen für ihre Realisierung auf ihrer Seite: Bilinguales Lernen (↗ Art. 111, 116), Digitalisierung, Inklusion oder auch Informationstechnologie (↗ Art. 102) sind nur wenige Stichworte, die als Grundlage der Neuorientierung von Schule, Unterricht im 143 26. Lehr-undlernseitigeEinstellungenzusprachenübergreifendenAnsätzen Allgemeinen, Fremdsprachenunterricht im Speziellen und Lehrerbildung genügen mögen. Dabei liegt beinahe auf der Hand, dass ein einziger Ausbildungsgang schwerlich in der Lage sein dürfte, all diese gesellschaftlich berechtigten Anforderungen gleichermaßen zu erfüllen, schon gar nicht im bisher üblichen Zeitrahmen. Vielleicht benötigen wir vielmehr Lehrer, die sich in der Ausbildung ein spezifisches Profil erworben haben. Was spricht gegen Lehrerbildungskonzepte, die zu unterschiedlichen Profilen führen und dem angehenden Lehrenden diese spezielle Profilbildung anbieten, mit ihm umsetzen und zertifizieren? In der Konsequenz bedeutet dies allerdings auch eine klare Absage an den Einheitslehrer, wie er offenbar dem aktuellen KMK-Vorsitzenden vorschwebt. Stattdessen folgt daraus vielmehr die Notwendigkeit, qualitative Aspekte einer Lehrerbildungsreform den rein quantitativ-instrumentellen Überlegungen überzuordnen. Auch und gerade die Förderung von Mehrsprachigkeit sollte uns das aber Wert sein! Auch und gerade um den Preis einer Konsolidierung und vielleicht auch Verlängerung der Ausbildung! Literatur Burwitz-Melzer, E., Riemer, C. & Schmelter, L. (Hrsg.) (2018): Rolle und Professionalität von Fremdsprachenlehrpersonen. Arbeitspapiere der 38. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Hericks, U. (2006): Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden. Horn, K.-P. (2016): Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus. Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerbildung. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 68/ 2, 153-164. Königs, F. G. (2014): War die Lernerorientierung ein Irrtum? Der Fremdsprachenlehrer im Kontext der Sprachlehrforschung. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 43/ 1, 66- 80. Königs, F. G. (2016): Der Fremdsprachenlehrer: Das unbekannte Wesen? - Was wir trotz Lehrerorientierung über Fremdsprachenlehrkräfte wissen könnten (und vielleicht auch wissen sollten). In: F. Klippel (Hrsg.): Teaching Languages - Sprachenlehren . Münster, 59-73. Meißner, F.-J., Königs, F. G., Leupold, E. et al. (Red.) (2001): Zur Ausbildung von Lehrenden moderner Fremdsprachen. In: F. G. Königs (Hrsg.): Impulse aus der Sprachlehrforschung - Marburger Vorträge zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern. Tübingen, 159-181. Roters, B. (2012): Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität . Münster. Frank G. Königs 26. Lehr- und lernseitige Einstellungen zu sprachenübergreifenden Ansätzen 1. Aufriss Der Begriff „sprachenübergreifende Ansätze“ impliziert, dass diese mehr als eine Sprache umfassen. Sprachübergreifende Ansätze sind eng verknüpft mit dem Konzept der Mehr- 144 ChristineBeckmann sprachigkeit (↗ Art. 6, 7). Von Mehrsprachigkeit wird in der Regel gesprochen, wenn dritte oder weitere Sprachen im Spiel sind. Was Mehrsprachigkeit im Kontext des Fremdsprachenerwerbs heißt und vernüftigerweise heißen sollte, definierte 1989 ein Expertengremium so: daß unter Mehrsprachigkeit nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). (Bertrand & Christ 1990: 208) Die Definition nimmt Abschied von der naiven und ohne empirische Evidenz herrschenden Vorstellung, Mehrsprachige könnten alle ihre Sprachen in gleicher Weise zu denselben Themen, mit demselben Kompetenzniveau beherrschen. Sprachenübergreifende Ansätze gehen den Mehrsprachenerwerb lernökonomisch an. Sie verfolgen das Ziel, lernerseitig vorhandene Sprachkenntnisse und Sprachlernstrategien für das Erlernen weiterer Fremdsprachen fruchtbar zu machen. Es handelt sich um ein vernetzendes Lernen (↗ Art. 56). Mehrsprachigkeit ist jedoch nicht nur Ziel des Fremdsprachenunterrichts, sie ist zugleich auch eine Voraussetzung, auf die der Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen aufbauen kann. Dies meint die den Lernenden schon bekannten Sprachen und Varietäten: die in der Gesellschaft mehrheitlich gesprochene Sprache (z. B. Deutsch in Deutschland), die autochthonen Sprachen (↗ Art. 117), die Dialekte (↗ Art. 126) und die Herkunftssprachen (↗ Art. 106), die in Zahl und Art die Schulen vor besondere Probleme stellen. Angestrebt wird ein Fremdsprachenunterricht, der die Zielvorstellung eines allenfalls additiven Verständnisses des Mehrsprachenerwerbs durch ein integriertes Konzept ersetzt (Krumm 2004). Vor diesem Hintergrund entstand der Begriff der Sprachlernkompetenz. Es handelt sich um einen Handlungsbegriff, der Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit (↗ Art. 22) voraussetzt. Ihm zufolge ist ein kompetenter Fremsprachenlerner in der Lage, Sprachen reflexiv zu lernen. Hierbei greift das Individuum auf Wissensressourcen zurück, die es im Umgang mit Sprachen, ihrem Erwerb und mit Kommunikation in ihnen erworben hat. In der sog. Wissensgesellschaft kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass einmal in Schule und Ausbildung erworbenes Wissen ausreicht, um den Anforderungen der Arbeitswelt zu genügen (Europäische Kommission 1996). Die Wissengesellschaft ist eine Lerngesellschaft. Dass unter den Bedingungen der Globalisierung und des Europäischen Zusammenschlusses gerade kommunikative Kompetenzen in mehreren Sprachen vielseitige Anschlussfähigkeit gegenüber fremden Kulturen und Wirtschaftsräumen (↗ Art. 24) herstellen, ist augenfällig. 2. Lehrseitige Einstellungen zu sprachübergreifenden Ansätzen Und dennoch: Immer noch ist die Auffassung anzutreffen, dass die Schüler durch das Erlernen einer einzigen Fremdsprache bereits maximal belastet würden; sie „würde[n] von weitergehenden Hinweisen auf andere Spachen verwirrt und überfordert“, konstatiert 145 26. Lehr-undlernseitigeEinstellungenzusprachenübergreifendenAnsätzen eine Lehrerin in einer Untersuchung zur Einstellung von Lehrenden zur Mehrsprachigkeit (Méron-Minuth 2016: 40). Dabei sind die Einstellungen der Lehrerinnen und Lehrer, die sie ja im Unterricht an die Schüler weitergeben, mitentscheidend für deren Haltung gegenüber dem Erlernen von Sprachen und der Mehrsprachigkeit. Weitere wichtige, in empirischen Arbeiten wiederholt genannte Faktoren betreffen das Unterrichtserlebnis; den Wunsch, die Fremdsprache für Studium und Beruf zu nutzen; den Wunsch, mit den Menschen der Zielkultur zu kommunizieren - um nur die wichtigsten Argumente zu nennen (Meißner, Beckmann & Schröder-Sura 2008: 70 f., 87 f.), Beckmann 2016: 296, 235 ff.). Beispielhaft für das Unterrichtserlebnis ist der Indikator des von den Lernenden angestrebten Kompetenzprofils im Vergleich zu den Prioritäten, wie sie in der Wahrnehmung der Lerner im Unterricht gesetzt werden. Hier besteht eine deutliche Diskrepanz (Beckmann 2016: 242, 299). Sprachenübergreifende Ansätze setzen lehr- und lernseitig eine hohe Kompetenz voraus. Zunächst müssen die Lernenden auf sprachlicher Ebene hinreichend Transferbasen (und Interferenzen) aus den wesentlichen Bereichen der sprachlichen Architekturen erkennen, um disambiguierende Sprachvergleiche vornehmen und solche in ihre Lehre aufnehmen zu können. Und lehrseitig heißt das Korollar der Sprachlernbewusstheit Sprachlehrbewusstheit. Hieraus ergibt sich die Forderung an die für die Ausbildung der Fremdsprachenlehrkräfte verantwortlichen Institutionen, Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 27) in die fremdsprachlichen Lehramtsstudiengänge zu integrieren (Kleppin 2004: 92). Außerdem müssen sie nicht nur für den eigenen Unterricht Verantwortung übernehmen, sondern die Grenzen des eigenen Raumes für die anderen Sprachen und Kollegen/ Kolleginnen öffnen. Sie übernehmen Verantwortung nicht nur für das Sprachenlernen der Lerner in „ihrer“ Fremdsprache, sondern für den Erwerb von Mehrsprachigkeit und die Ausbildung kompetenter Fremdsprachenlerner, nicht „nur“ kompetenter Englisch-, Französisch-, Spanisch- und Polnischlerner. 3. Lernseitige Einstellungen zu sprachübergreifenden Ansätzen Es wurde erwähnt, dass unterschiedliche Faktoren die Einstellung der Schüler zu Sprachen und Sprachenlernen beeinflussen. Hierzu gehört auch die Sprachenfolge. So wies Düwell bereits (1979) nach, dass die Motivation, Französisch in zweiter Position zu lernen, durch vorausgehenden Englischunterricht geschmälert wird. Düwell spricht von „negativer motivationaler Interferenz“. In heutiger Betrachtung stellt sich die Frage, ob ein auf den Französisch- (oder Italienischunterricht) ‚vorbereitender‘ Englischunterricht die Motivation für Mehrsprachigkeit verbessern könnte. Des Weiteren, ob die in 2. Position unterrichteten Sprachen es verstehen, die Vorarbeit des Englischunterrichts zu nutzen (↗ Art. 14). Zu fragen ist auch, ob ein Gespräch über Mehrsprachigkeit und Sprachlernkompetenz und deren Bedeutung für die Zukunft der Schülerinnen und Schüler überhaupt geführt wird. In den letzten Jahrzehnten wurden mehrere qualitative und quantitative Studien zu den Kompetenzniveaustufen der Schüler vorgelegt - darunter DESI (Schröder, Harsch & Nold 2006) und TOSCA (Köller et al. 2003). Beide Studien betreffen nur das Englische. Der Grund ist, dass die anderen Fremdsprachen (sieht man von wenigen Schulen ab) in Breite und Dauer nicht hinreichend unter- 146 ChristineBeckmann richtet werden, um Leistungsstudien sinnvoll erscheinen zu lassen. Im deutschsprachigen Raum liegen kaum statistische Arbeiten zu Attitüden bzw. Einstellungen, Motivation und Erfahrungen und dem Unterrichtserlebnis von Schülern mit Fremdsprachenunterricht vor. Die Studie von Beckmann (2016: 317f., 325f.) deutet darauf hin, dass die befragten Schüler und Studierenden über eine geringe Sprachlernkompetenz verfügen. Es konnte exemplarisch nur gezeigt werden, dass sie weder selbst über Zielsetzungskompetenz verfügen noch die Lehrziele im Unterricht wahrnehmen. Letzeres ist selbstverständlich ein Indikator, der von zwei Komponenten beeinflusst wird: einerseits von der klaren Darstellung der Ziele im Fremdsprachenunterricht und andererseits von der Fähigkeit, diese Lehrziele wahrzunehmen, zu verstehen und im eignen Lernhandeln umzusetzen. In der Wahrnehmung der Studierenden waren Methoden und das selbstständige Sprachenlernen nicht Gegenstand des Unterrichts (ebd.: 298). Morkötter (2005: 254) beschreibt das Interesse der Lerner in Jgst. 10, sich mit dem eigenen Sprachenlernen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus betont sie, dass die grundlegende Bereitschaft zum interlingualen Vergleich eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema im Unterricht voraussetzt (Morkötter 2005: 290f.). Die MES-Studie (Meißner et al. 2008) und die schon erwähnte Untersuchung von Beckmann zeigen deutlich, dass die Lerner großes Interesse am Erwerb mehrerer Sprachen haben. So äußerten sich die Befragten in beiden Studien und über alle Altersstufen (in der MES-Studie wurden Schüler der Jgst. 5 und 9 befragt, Beckmann (2016) befragte Schüler der Jgst. 12/ 13 und Studierende verschiedener Hochschulen) hinweg sehr positiv gegenüber ihrem zukünftigen Fremdsprachenerwerb. Zwar nahm die Bereitschaft, mehr als eine weitere Sprache zu erlernen, mit steigendem Alter ab, gleichzeitig verfügten die Befragten jeder Alterstufe über Kenntnisse in zumindest einer weiteren Fremdsprache. Diese Bereitschaft, weitere Fremdsprachen auch über den schulischen Kontext hinaus zu erlernen, macht einen sprachübergreifenden Ansatz und die damit einhergehende Förderung der language awareness und des Sprachlernbewusstseins (↗ Art. 22) zu einer zentralen Anforderung an den modernen Fremdsprachenunterricht. Literatur Bausch, K.-R., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2004): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. Eine quantitative Analyse der Einstellungen von Schülern und Studierenden. Tübingen. Bertrand, Y. & Christ, H. (Koord.) (1990): Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht. In: Neusprachliche Mitteilungen 43, 208-212. Düwell, H. (1979): Fremdsprachenunterricht im Schülerurteil. Untersuchungen zu Motivation, Einstellungen und Interessen von Schülern im Fremdsprachenunterricht, Schwerpunkt Französisch. Tübingen. Europäische Kommission (Hrsg.) (1996): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft . Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung. [http: / / europa.eu/ documents/ comm/ white_papers/ pdf/ com95_590_ de.pdf]. Kleppin, K. (2004): Mehrsprachigkeitsdidaktik = Tertiärsprachendidaktik? Zur Verantwortung jeglichen (Fremd-) Sprachenunterrichts für ein Konzept von Mehrspra- 147 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung chigkeit. In: Bausch, K.-R., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.), 88-95. Köller, O., Waterman, R., Trautwein, U. & Lüdtke, O. (2003): TOSCA-- Eine Untersuchung zu allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen. Krumm, H.-J. (2004): Von der additiven zur curricularen Mehrsprachigkeit. 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Mehrsprachigkeitsdidaktik als Gegenstand der Lehrerbildung 1. Aufriss Als eine Fächer- und Sprachen übergreifende - transversale - Didaktik teilt die Didaktik der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und, in ihrem Kern, die der Interkomprehension die Erkenntnisse der einschlägigen Professionsforschung (z. B. Schocker-v. Dithfurt & Legutke 2006) und die hieraus folgenden Ansprüche an die Qualität von Fremdsprachenunterricht sowie an die Lehreraus- und -fortbildung. Dies betont u. a. das reflexive Lehren und Lernen ( Task Based Learning, Scaffolding, learner as a researcher u. a. m.). Alle diese Ansätze stehen in engem Bezug zum Konzept des autonomen Lernens (Holec 1979). Sie geben Antworten auf die Desiderata der Wissensgesellschaft in einer globalisierten Welt, in der weltweite Kommunikation und der Umgang mit Vielsprachigkeit eine Alltagserfahrung von immer mehr Menschen sind (Kommission 1996). Die Entwicklung löst eine Phase ab, in der das den Fremdsprachenunterricht und die Lehrerausbildung der 1. und 2. Phase tragende öffentliche Schulwesen nahezu ausschließlich nationalstaatlich orientiert war. Der Unterricht entsprach weniger dem Wunsch nach Kommunikationsfähigkeit in der Zielsprache als einer Ideologie der formalen, national geprägten Bildung. Diese Situation ist heutzutage zunehmend obsolet. Solange weder die Lernpsychologie noch die Spracherwerbsforschung existierten, fußte die Theorie des Unterrichts auf praktischen Erfahrungen. Entsprechend war die Lehrerbildung. Mit der Entwicklung der Unterrichtstechnologie, der zunehmenden plurilokalen 148 Franz-JosephMeißner Lebenspraxis, der angewachsenen Auslandserfahrung und der Rückbindung des Unterrichts an wissenschaftliche Paradigmen wie Behaviorismus und Strukturalismus sowie an die sich weiterentwickelnde Sprachwissenschaft gewann die kommunikative Fremdsprachendidaktik Auftrieb. Allerdings blieb sie naiv an der Fiktion des ‚nativen Sprechers‘ orientiert, ohne auf die begrenzten Möglichkeiten des Fremdsprachenerwerbs außerhalb des zielsprachlichen Raums zu blicken. Das Dogma der ‚strengen Einsprachigkeit‘ tat ein Übriges, und die sog. „Systemtheorie“ betonte die Rolle des formalen Fehlers infolge von Interferenz oder negativem Transfer. Mehrsprachigkeit war kein explizites Lernziel; strenge, zielsprachliche Einsprachigkeit hingegen ein Ziel der Lehrerbildung. Die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung wurde vor allem durch die „Entdeckung“ der Interlanguage gelegt. Im Kontext der Schulfremdsprachen tauchte Mehrsprachigkeit explizit nicht auf, gedacht allenfalls additiv. Die zunehmenden Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften mit dem Gebot des vernetzenden Lernens blieben ebenso lange Zeit unberücksichtigt wie die Ergebnisse der Forschungen zur (fremdsprachlichen) interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33). Die Richtlinien der fremdsprachendidaktischen Lehrerbildung zeigen auch heutzutage noch Mängel. 2. Methodische Eckpunkte der Mehrsprachigkeitsdidaktik “The most important single factor in influencing learning is what the learner already knows." Der Satz des amerikanischen Psychologen David Ausubel (1968 : vi) benennt eine der wichtigsten Grundlagen der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Er gilt für alle unter dem Lemma „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ begegnenden Ansätze des übergreifenden und vernetzenden Sprachenlernens: Interkomprehension und lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) mit ihren Perspektiven auf Mehrheits-, Herkunfts- und sog. autochthonen Sprachen (↗ Art. 117). 2.1. Der interkomprehensive Ansatz Es geht im Kern darum, das lernerseitig vorhandene lernrelevante Wissen, verfügbar zu machen und es mit neuem Wissen zu verknüpfen. Beide Domänen begegnen beim Vergleichen von Strukturen, Bedeutungen und Funktionen korrespondierender Elemente aus verschiedenen Sprachen einerseits und der Aufmerksamkeit für die eigenen Lernhandlungen andererseits. Dies betrifft das Abklären lernersprachlicher Hypothesen zur Zielsprache im Kontrast zu der/ den Brückensprache(n) und der Zielsprache bzw. die Disambiguierung von Strukturen des mehrsprachigen mentalen Lexikons (↗ Art. 62) und dessen partielle Neuformierung. Hier liegt der Grund, weshalb interkomprehensive Verfahren die Sprachlernkompetenz in starker Weise fördern, wie vielfach gezeigt wurde. - Allerdings: Die traditionelle Fixierung auf den Erwerb nur einer einzigen Zielsprache fördert die Strategie des Sprachvergleichs nur inzidentell. Ihr Beitrag zur Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) ist daher gering. Als eine transversale Didaktik ist das sprachenübergreifende und vernetzende Lernen unterschiedlich einsetzbar: als Kurs zum Erwerb mehrsprachiger Lesekompetenz innerhalb einer Sprachfamilie, als Einführungsphase in eine zweite Sprache einer selben Familie (↗ Art. 91, 97), auf der Mikroebene der methodischen Steuerung als Strategienrepertoire zur Disambiguierung sprachlicher 149 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung Strukturen. Es entspricht der Transversalität des Ansatzes, wenn angehende Lehrerinnen und Lehrer nicht nur fremder Sprachen die entsprechenden inhaltlichen Qualifikationen erwerben, um auf die vorhandene Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Hierzu zählt zentral die Mehrsprachigkeit des Lehrpersonals selbst. 2.2. Lebensweltliche Vielsprachigkeit Lerner „mit Migrationshintergrund“ machen einen Großteil der deutschen Schülerschaft aus - 38,1 Prozent ist ihr Anteil an den unter Fünfjährigen (Bundeszentrale 2017: 5). Die Sprachen der Immigration - weit über Hundert - genießen ein höchst unterschiedliches Prestige in der Mehrheitsgesellschaft: Hunderten von bilingualen Schulen mit Englisch oder Französisch stehen nur wenige für die exotischen Sprachen der Immigration gegenüber. Lebensweltliche Vielsprachigkeit bzw. in der Perspektive der Individuen Zwei- oder Mehrsprachigkeit unterscheidet sich von den sprachenübergreifenden Lehransätzen u. a. dadurch, dass sie sich mit tieferen Dimensionen des Menschseins verbindet (↗ Art. 1, 28). Es begegnet das Spannungsfeld unterschiedlicher Identitätsangebote zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmekultur. Integration kann konfliktiv oder integrativ und bereichernd erlebt werden, als Bruch oder als Kontinuum. Dies ist nicht ohne Folge für das Erlernen der Sprache der Mehrheitsgesellschaft oder die Pflege der Herkunftssprachen (Sprachloyalität) in der zweiten oder gar dritten Generation von Migranten. Dass, deren Bleibewille vorausgesetzt, die Sprache des aufnehmenden Landes auf nativem Niveau erworben werden muss, verbindet sich eng mit dem Ziel eines gelingenden Lebens in der Zielgesellschaft, vor allem in Ausbildung, Beruf und darüber hinaus. Bzgl. der Herkunftssprachen nimmt der 10. Jahresbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration den Wunsch des Beirates der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration auf, bleibt jedoch hinsichtlich der Umsetzung vergleichsweise vage: Neben dem Erwerb der deutschen Sprache solle auch die Herkunftssprache der Eltern gewürdigt werden, da ihr Erlernen für die interkulturelle Identitätsentwicklung der Kinder unabdingbar und Mehrsprachigkeit zudem Bestandteil einer weltoffenen Gesellschaft sei. (Bundesregierung 2016: 312) Demgemäß versucht das Schulwesen angesichts der Vielzahl der ganz unterschiedlichen Sprachen und den begrenzten Kapazitäten der Schulen, die dilemmatische Situation zu lindern. Faktisch wird die Pflege der Herkunftssprachen (↗ Art. 107; 108) weitgehend dem in den Bundesländern sehr unterschiedlich dimensionierten herkunftssprachlichen Unterricht (durch herkunftssprachige Lehrkräfte), den Migrantenorganisationen und vor allem den eingewanderten Familien überlassen. Die äußerst heterogene Gemengelage erklärt, weshalb praktische Ansätze zur lebensweltlichen Mehrsprachigkeit nahezu einseitig auf Einstellungen und Haltungen (Offenheit, Empathie, plurikulturelle Sensibilität u. a. m.) abzielen. Besonders betrifft dies die frühe Begegnung mit der Viel- und der Mehrsprachigkeit (Kita, nur wenigen Sprachen vorbehaltener herkunftssprachlicher Unterricht; Apeltauer 2009). Die Vielsprachigkeit qua Migration erklärt, weshalb auch keine oder kaum konkrete Sprachcurricula oder Methoden für den Erwerb und die Pflege der Herkunftssprachen vorliegen (Ausnahme: Doyé 2009; Doyé et al. 2011). Dabei wird wissen- 150 Franz-JosephMeißner schaftlich davon ausgegangen, dass sich die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kinder mit Vorteilen für das Sprachenlernen und das Lernen überhaupt verbindet - bzw. deren Nichtbeachtung durch die Schule mit deutlichen Nachteilen (Baur 2001). Begriffe wie Migrationsbevölkerung fassen überdies Gruppen mit erheblicher ethnischer, sprachlicher, kultureller oder religiöser Differenz und voneinander abweichenden Interessen. Auch dies erklärt die Schwierigkeit der Bereitstellung angemessener herkunftssprachlicher und herkunftskultureller Lernangebote. 2.3. Autochthone Zwei- oder Mehrsprachigkeit Die Territorien der europäischen Nationalstaaten sind keine einheitlichen Sprachgebiete und die Grenzen zwischen Sprachen und Dialekten sind nicht trennscharf. In Deutschland und den meisten EU-Ländern genießen die seit jeher angesiedelten Sprachen Minderheitenschutz, wie es zuletzt die European Charter for Regional or Minority Languages betont, unterzeichnet von Europarat am 5. November 1992. Allerdings schützt die Charta weder die Migrantensprachen noch die Dialekte, selbst wenn deren Sprecher deutlich die Zahl der Teilhaber autochthoner Sprachen übersteigt. In den deutschen Gebieten haben die betroffenen Sprachen - Sorbisch, Friesisch, Dänisch, Romanes - oft eigene Institutionen, die sich der Weitergabe der Sprache an die nächste Generation widmen (↗ Art. 121-125). Die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte, die i. d. R. der entsprechenden Sprachgemeinschaft angehören, ist nicht einheitlich geregelt. 3. Prinzipien der mehrsprachigkeitsdidaktischen Lehre Die Anforderungen an die Lehrerausbildung stehen und fallen mit den anerkannten Lernzielen und der entsprechenden Qualifikation der Lehrerinnen oder Lehrer. 3.1. Anforderungen an die Lehrerausbildung als Bedingungen für die Förderung sprachenübergreifenden Lernens und der Sprachlernkompetenz Sprachenübergreifende Spracharbeit verlangt von den Lehrkräften im Prinzip, dass sie möglichst eindeutig die Sprachlernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler erkennen, analysieren und dem Unterricht zuführen (können). Es kommt also nicht nur darauf an, formale Fehler zu benennen (zur Disambiguierung offener Sprachfragen erfüllt dies durchaus seinen Zweck), sondern deren Entstehung mit Blick auf die mentalen Prozesse de Lerner nachzuvollziehen. Hierzu ist die Fähigkeit erforderlich, entsprechende Strategien und Formate zielführend einzusetzen: Laut-Denk-Protokoll, Analysen zur Erschließung zielsprachlicher Strukturen bzw. zum intelligent guessing , Erstellung und Überprüfung der lernersprachlichen Hypothesengrammatik(en), diagnostisches Schreiben u. a. m. (↗ Art. 71, 84, 85) sowie Mehrsprachigkeit zu testen (↗ Art. 83). Was die sprachlichen Schemata (Transferbasen) angeht, so werden diese von den lernerseitig vorhandenen Sprachenkenntnissen gestellt: deutsche Mutter- oder Zweitsprache, Englisch, oft Französisch oder Latein und weitere sowie den schon vorhandenen Kenntnissen der Zielsprache. Eine Öffnung zu den Migrantensprachen ist erwünscht. Dem von der Europäischen Union definierten mehrsprachigen Minimum kann lehrseitig 151 27. MehrsprachigkeitsdidaktikalsGegenstandderLehrerbildung zumindest tendenziell entsprochen werden, wenn neben der deutschen Sprache die gängigen Schulfremdsprachen den Lehrkräften in ihren Grundzügen bekannt sind, so dass sie Transferbasen aus den voraus gelehrten Sprachen erkennen und nutzen können. (Natürlich ist eine weiter gehende Sprachenkenntnis wünschbar.) Dies verlangt die Integration zumindest eines entsprechenden Moduls in die Ausbildung der Ersten Phase bzw. ein verstärktes Angebot einschlägiger Fortbildungen für Lehrende der deutschen Mutter- oder Zweitsprache und der Fremdsprachen. Hilfreich hierbei sind neben den EuroCom-Konzepten (↗ Art. 67; 68) ein Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14), das die einzelzielsprachlichen nicht ersetzt, sondern im Sinne der Mehrsprachigkeit ergänzt. 3.2. Lebensweltliche Viel- und Mehrsprachigkeit sowie autochthone Sprachen Vorab: Dass Lehrerinnen und Lehrer selbstredend der schülerseitigen Mehrsprachigkeit Wertschätzung entgegenbringen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die hier nicht eigens ausgebreitet werden muss. Der didaktische Zugriff auf die lebensweltliche Vielsprachigkeit greift weit über die konkrete Spracherwerbsarbeit und den Sprachunterricht hinaus. Es handelt sich um eine Transversalaufgabe des Bildungswesens, an der eine Vielzahl von Schulfächern beteiligt sind. Dies ändert sich, wenn die gesellschaftliche Vielsprachigkeit auf individuelle Mehrsprachigkeit ‚reduziert‘ wird und damit konkrete Zielsprachen benannt werden. In diesen Fällen greift die fremdsprachendidaktische Methodik mit ihren sehr unterschiedlich weit geöffneten Angeboten. Lehrziele wie interkulturelle Kompetenz in Abstufung nach Altersstufen und Lerngruppen (Empathie, Offenheit gegenüber fremden Sprachen und Kulturen, Bereitschaft zur Revision des eigenen Standpunktes, Kritikfähigkeit gegenüber eigen- und fremdkulturellen Positionen, Hineinnahme und Aufwertung von Themen aus der einen oder anderen Herkunftskultur in den Klassenraumdiskurs) legen keine zielsprachlichen Progressionsmuster nahe. Nützen können Deskriptoren wie die des RePA (Candelier et al. 2009) (↗ Art. 20). - Gleiches lässt sich auch von der Lehrbarkeit der autochthonen Sprachen sagen. Hinzuzufügen ist: Bezüglich der interkulturellen Kompetenz umgreift diese nicht nur die Kommunikation in einer Fremdsprache, sondern auch die in der Mutter- oder Zweitsprache im Umgang mit fremdsprachigen Partnern. Kommunikative Strategien (↗ Art. 44) sind hier an einer Partnerhypothese im Sinne Bühlers (1934) auszurichten. Das Zusammenwirken von Lehrkräften der unterschiedlichen Schularten und -stufen ist ein dringendes Desiderat. Das Netzwerken in gemeinsamen Fortbildungen ist vor diesem Hintergrund zu fördern. 4. Aktuelle Forschungsdesiderata Für den schulischen Fremdsprachenunterricht fehlen belastbare Erhebungen zur realen Unterrichtsführung, die verlässliche Grundlagen für eine (dynamische) Auditierung liefern könnten. Außerhalb der Schule wurde immerhin von der Stiftung Warentest (2007) „under cover“ Englisch- und Spanischunterricht beobachtet, nach definierten Qualitätsstandards bewertet und in der gleichnamigen Zeitschrift publiziert. Auch die Forschungsmethodik ist in Teilen zu bemängeln: Es irritiert, wenn - wie mehrfach nachweisbar - innerhalb der Subjektiven Theorien-Forschung Fragestellungen ( beliefs ) 152 Franz-JosephMeißner aufgeworfen werden, ohne dass die den Probanden vermittelten Unterrichtserlebnisse als deren Voraussetzungen deutlich gemacht und als „irrig“ gekennzeichnet wurden. So macht es keinen Sinn, im Zusammenhang mit spät erlernten Fremdsprachen nach „Interferenzerfahrungen“ zu fragen - ohne dass geklärt wurde, ob und wie im Unterricht solchen Fehlern entgegengewirkt wurde. Solche Forschungen tragen oft zur Festigung falscher Vorstellungen bei. Die Folge sind dann, wie im Fall mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze immer wieder zu beobachten ist, Simplifizierungen, die dem Mehrsprachenerwerb und den Erkenntnissen der Spracherwerbsforschung entgegenwirken. Auf diese Weise kolportiert und festigt die Forschung selbst falsche „beliefs“. Forschungsdesigns sind daher insbesonders unter dem Gesichtspunkt ihrer methodischen Validität zu überprüfen. Dies zeigt, warum die Lehrerbildung auch die Kompetenz, empirische Forschung zu beurteilen, vermitteln muss. Literatur Apeltauer, E. (2009): Begutachtet, gefördert, sprachlich top? Sprachstandserhebungen und Sprachförderung im Vorschulalter. In: Friedrich Jahresheft Schüler: Migration , 60-63. Baur, R. S. (2001): Mehrsprachigkeit durch Spracherhalt bei Migrantenkindern. In: D. Abendroth-Timmer & G. Bach (Hrsg.): Mehrsprachiges Europa. Festschrift für Michael Wendt zum 60. Geburtstag . Tübingen, 15-25. Bühler, K. (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz. Stuttgart, New York (1982). Bundesregierung (2016): 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland . [https: / / www. google.de/ url? sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahU- KEwjgg47mtqHfAhULUlAKHW08BmIQFjAAegQIBRAC&url=https%3A%2F%2Fwww. bundesregierung.de%2FContent%2FInfomaterial%2FBPA%2FIB%2F10_Auslaenderbericht_2015.html&usg=AOvVaw0Nhbe- E7IAIV7KsnUVhKE5q]. Bundeszentrale für politische Bildung (2017): Länderprofil Deutschland . [http: / / www.bpb.de/ gesellschaft/ migration/ laenderprofile/ 208594/ deutschland]. 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Eine entsprechende Sensibilität für bzw. fachkompetenter Umgang mit ihnen sind jedoch keine Selbstverständlichkeit und müssen daher in der Ausbildung angehender Lehrkräfte thematisiert werden, die nicht per se über interkulturelle Kompetenzen verfügen (vgl. Auernheimer 2010). Somit bilden die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) einen wichtigen Gegenstand in der Lehrerbildung. 2. Problemaufriss Verschiedene Facetten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität werden in erziehungswissenschaftlichen und fremdsprachendidaktischen Diskursen seit den 1990er Jahren diskutiert (↗ Art. 16, 17). Diese Debatten haben, wie die Beiträge in diesem Handbuch zusammenfassend sichtbar machen, zu einer differenzierten und umfangreichen Auseinandersetzung mit der Thematik geführt, die nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen sichtbar wird, sondern auch in Lehr- und Lernmaterialien (↗ Art. 46) oder in curricularen Texten aufgegriffen wurde und darüber hinaus Einfluss auf die Lehrerbildung ausgeübt hat. Dabei gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Sprachdidaktiken, auch in Bezug auf verschiedene Zielgruppen oder Schulformen. Während die Englischdidaktik Fragestellungen der Mehrsprachigkeit weitgehend ignoriert und nur vereinzelt entsprechende Bezüge erkennbar macht, werden national und international Mehrsprachigkeit und Interkomprehension sehr stark vor allem in der Didaktik der romanischen Sprachen diskutiert. Gerade für die Tertiärsprachen (↗ Art. 86) ist der Blick auf vorher gelernte Sprachen konstitutiv. In Deutsch als Fremd- und Zweitsprache stehen seltener Bezüge zwischen den germanischen Sprachen zur Diskussion (↗ Art. 68, 81) und weit häufiger die Mehrsprachigkeit der Lernenden selbst. Die Didaktik der slawischen Sprachen hat zwar Mehrsprachigkeit und Interkomprehension im Blick, spielt jedoch abgesehen vom Russischen infolge der eher selten gelernten Sprachen im deutschsprachigen Raum eine geringere Rolle (↗ Art. 82). Fragen der Mehrkulturalität hingegen umfassen eine ganzheitliche, vernetzende Perspektive und betreffen das Lehren und Lernen von Sprachen auf grundsätzlicher Ebene. Ein 154 ChristianeFäcke Ausblenden mehrkultureller Perspektiven ist faktisch in keiner der Einzelsprachdidaktiken möglich. Hier zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der ins Auge gefassten Zielkulturen und ihre Nähe bzw. Distanz zur eigenen Kultur. In Lehr-/ Lernsituationen sind darüber hinaus Unterschiede je nach Alter der Lernenden und der damit einhergehenden Besonderheiten relevant. 3. Mehrkulturalitätsdidaktik in der Aus- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrkräften In vielkulturellen gesellschaftlichen Kontexten erweist sich die Didaktik der Mehrkulturalität für das Lehren und Lernen von Sprachen aus mehreren Gründen relevant. So beeinflussen monokulturelle, pluri- oder multikulturelle Prägungen oder die ein- oder mehrsprachige Sozialisation Lehrender ihre Einstellungen zum Sprachenlehren und -lernen sowie zu ethnischen und kulturellen Fremdheiten (↗ Art. 26). Die Einstellungen stehen in einem Wechselverhältnis zum Sprachlehrverhalten (↗ Art. 25), wobei natürlich auch andere Faktoren, wie z. B. die Mehrsprachenkompetenz der Lehrenden oder ihre subjektiven Theorien eine Rolle spielen. Eine Lehrerin, die eine Zeit im Zielsprachenland verbracht hat, wird ihre Auslandserfahrungen authentisch in ihren Unterricht einfließen lassen können. Auch beeinflussen Fächerkombinationen (fachliche Kompetenzen) die Art und Weise, wie Lehrkräfte fremder Sprachen z. B. gesellschaftliche oder literarische Themen angehen und behandeln. Eine Lehrerin mit kritischen Positionen gegenüber bestimmten Kulturen und Traditionen, könnte diesbezügliche Themen eher distanziert unterrichten als ein Kollege, der mit Empathie genau diesen Traditionen gegenübersteht. In diesem Zusammenhang spielen auch Fragen der Identität (↗ Art. 1) eine Rolle (Caspari 2003; De Florio-Hansen & Hu 2003). Das Ziel der Lehrerbildung muss darin bestehen, zu einem (selbst)kritischen, reflektierten, offenen und sensiblen Handeln anzuleiten, um einen pädagogisch-konstruktiven Umgang mit den Lernenden zu pflegen. Für die fremdsprachlichen Fächer spiegelt die Lehreraus- und -weiterbildung des 20. Jahrhunderts die jeweils in den einzelnen Jahrzehnten vorherrschenden lerntheoretischen Modelle und fremdsprachendidaktischen Methoden wider. Spätestens seit den 1970er Jahren wird mit dem kommunikativen Ansatz explizit das Vorbild des native speaker angestrebt, seit den 1990er Jahren gilt hingegen zunehmend der intercultural speaker als Ziel im Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 30). Hiermit ist ein sprachlich wie kulturell sensibler mehrsprachiger Sprecher gemeint (vgl. Wilkinson 2012), der nicht zwingend über eine muttersprachennahe Beherrschung der Fremdsprache(n) verfügt und der neben zielkulturellen Kenntnissen über solche zur interkulturellen Kommunikation verfügt. Sprachliche Fehler z. B. in der Grammatik gelten als weniger relevant für erfolgreiche Verständigung als kulturspezifische und vor allem pragmatische Fehler, z. B. ein unangemessener Höflichkeitsgrad in der Kommunikation (vgl. Watts et al. 1993). Interkulturalität, d. h. der Bezug auf mindestens zwei Kulturen, wird somit seit den 1990er Jahren zu einem wichtigen Paradigma in der fremdsprachlichen Lehrerbildung. Mehrkulturalität mit explizitem Bezug auf mehr als zwei Kulturen spielt hingegen weniger eine Rolle. Diskurse zu interkulturellem Lernen (↗ Art. 32) werden in den Fremdsprachendidaktiken etwa seit dieser Zeit in 155 28. MehrkulturalitätsdidaktikalsGegenstandder Lehrerbildung Diskursen zu interkulturellen Kompetenzen weiterentwickelt. 4. Curriculare Verankerungen Die nach dem Erscheinen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (Europarat 2001) um sich greifende Kompetenzorientierung hat den Fokus auf Kommunikation und Mehrkulturalität weiter verstärkt (↗ Art. 18, 43). Diesen Überlegungen trägt die Kultusministerkonferenz (2004) in einem Beschluss über Standards für die Lehrerbildung Rechnung. Für die theoretischen Ausbildungsabschnitte ist u. a. benannt, dass die Absolventinnen und Absolventen „interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ kennen (ebd.: 9). Als Standards für die praktischen Ausbildungsabschnitte sollen sie „die kulturelle und soziale Vielfalt in der jeweiligen Lerngruppe“ (ebd.) beachten. Die Berücksichtigung soziokultureller Vielfalt und von Mehrsprachigkeit wird in der KMK-Richtlinie zu interkultureller Bildung und Erziehung in der Schule (2013) weiter bekräftigt. In der 1. Phase der Lehrerbildung bilden Mehrkulturalität und interkulturelles Lernen nunmehr zentrale Gegenstände im Studium, was sich konkret in der Berücksichtigung in universitären Curricula sowie in Modulprüfungen der Bachelor- und Masterstudiengänge oder im Staatsexamen in Form von prüfungsrelevanten Themen niederschlägt. In Modulbeschreibungen wird beispielsweise erwähnt, dass Studierende lernen sollen, interkulturelle Lernprozesse anzuleiten und zu fördern. Es geht darum, dass angehende Lehrkräfte verschiedene Dimensionen der Kulturalität kennenlernen und sich damit auseinandersetzen, d. h. z. B. mit der eigenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit ihrer Lerngruppe und deren Bedeutung für das Miteinander der Lernenden sowie mit Fragen von Identität und mehrsprachiger bzw. mehrkultureller Sozialisation (vgl. De Florio-Hansen & Hu 2003). In der Europäischen Union und angesichts plurilokaler Lebenspraxen ist auch die Frage zu stellen, inwieweit die Vielsprachigkeit und Vielkulturalität innerhalb derselben die Qualität einer „lebensweltlichen“ Vielsprachigkeit hat, was nicht zuletzt durch die medial vermittelte ubiquitäre Erreichbarkeit zielkultureller Kommunikation der Fall ist. Ziel ist, dass Studierende sensible, reflexive und offene Einstellungen gegenüber ethnischer, kultureller, sprachlicher und anderen Formen der Diversität entwickeln (vgl. z. B. Modulbeschreibungen für Französisch, Justus-Liebig-Universität Gießen 2017). Dazu gehört auch die Kenntnis verschiedener interkultureller Ansätze und Argumentationen, d. h. z. B. universalistischer und partikularistischer, herrschaftskritischer oder transkultureller Positionen (vgl. Art. 36, 37, 38, 41), sowie ihrer Argumentationslogik, um die eigene Position identifizieren, bewerten, verorten und in konfliktiven Situationen sensibel handeln zu können. Dies umfasst auch Wertefragen (vgl. Fäcke 2018: 22 ff.), die bei differierenden Wertesystemen in schulischen Kontexten und in der internationalen Jugendarbeit heikle Entscheidungen berühren, nicht nur in Bezug auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. Wirksam sind Loyalitäten gegenüber der eigenen und der Zielgesellschaft bzw. der aufnehmenden und/ oder der Herkunftsgesellschaft. Die Fokussierung auf die lebensweltliche Viel- oder Mehrsprachigkeit und Viel- oder Mehrkulturalität verlangt eine interkulturell sensible Auseinandersetzung mit den Kulturen und ein Bewusstsein über die Wirkung dieser Auseinandersetzung auf das Selbst der 156 ChristianeFäcke Schülerinnen und Schüler. Den Hintergrund bildet die Weiterentwicklung von einer rein landeskundlichen Vermittlung von zielkulturellem Sachwissen (Realienkunde) hin zur Befähigung zur interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33, 35). Orte der interkulturellen Begegnung sind sowohl die eigene Gesellschaft, die Zielkulturen des Fremdsprachenunterrichts sowie die medial vermittelte Vielkulturalität/ Vielsprachigkeit (Internet, TV, internationale Lerntandems). Die Kompetenzorientierung hat zu einer differenzierten Modellierung von Fertigkeiten (Kompetenzen) geführt. Konstitutiv ist das Zusammenwirken von drei bzw. vier Domänen, darunter die Ausdifferenzierung interkultureller Kompetenzen in savoirs, savoir-faire und savoir-être (Byram 1997). In der Lehrerbildung gilt es zu vermitteln, wie sich interkulturelle Kompetenzen aufbauen und wie sie wirken, d. h. wie sie uns verändern, uns und den Anderen zu Revision alter Positionierungen führen und welche Rolle die notwendige Reflexivität hierbei spielt. Die dann erfolgenden Zielsetzungen betreffen die Auswahl und die Behandlung von möglichen Inhalten. Die curriculare Berücksichtigung dieser Themenfelder spiegelt sich auch in den Abschlussprüfungen der Bundesländer. In Bayern gibt es noch das zentralisierte Staatsexamen mit genauen Vorgaben für einzelne Prüfungsthemen. In den Fremdsprachendidaktiken, d. h. jeweils parallel für die Schulfächer Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch, werden u. a. Theorien und Ziele des interkulturellen Lernens und deren Umsetzung im Unterricht sowie Ziele und Verfahren der Textarbeit im Hinblick auf interkulturelle, literarische und sprachliche Bildungsziele geprüft (Bayrische Staatskanzlei 2008). Mehrkulturalitätsdidaktik mit ihrer Bezugnahme auf mindestens drei Kulturen kommt jedoch nur bedingt vor. In der Hamburger Lehrerbildung wird der sprachlich-kulturellen Vielfalt der Metropole besonders Rechnung getragen. Zu den Teilzielen des Hamburger Integrationskonzepts 2017 gehören u. a. die „Erhöhung des Anteils qualifizierten pädagogischen Personals mit Migrationshintergrund“ sowie die „Steigerung des Anteils interkulturell qualifizierten Personals in Schulen und schulischen Unterstützungs- und Aufsichtssystemen“ (Freie und Hansestadt Hamburg 2017: 46; vgl. auch Hassan 2016). Die kulturell heterogene Zusammensetzung der Lerngruppen ist natürlich in allen Schulfächern relevant. Mehrkulturalitätsdidaktik und interkulturelles Lernen bilden daher auch ein Thema in den Erziehungswissenschaften (↗ Art. 16) und in anderen Fachdidaktiken (vgl. z. B. Prediger 2001). Neben der Ausbildung in den Lehrberufen spielt Mehrkulturalität auch in außerschulischen Kontexten eine Rolle, d. h. in der Ausbildung zur Lehrkraft für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache (↗ Art. 110). Bezeichnend sind hier auch die Angebote der international agierenden Firmen (↗ Art. 24). Auch in der Lehrerfort- und -weiterbildung wird Mehrkulturalität berücksichtigt. So sind die Kultusbehörden an der Sensibilisierung der Lehrkräfte für Themen einer interkulturellen Erziehung und Bildung interessiert und stellen dazu neben Weiterbildungsmaßnahmen auch Handreichungen zur Verfügung (z. B. Niedersächsisches Kultusministerium 2000). Am Europäischen Fremdsprachenzentrum (EFSZ) des Europarats in Graz gibt es ebenfalls Initiativen, die die Ausbildung angehender Fremdsprachenlehrkräfte im Blick haben. Dazu gehört u. a. das dort entwickelte Portfo- 157 28. MehrkulturalitätsdidaktikalsGegenstandder Lehrerbildung lio für Sprachlehrende in Ausbildung (Newby et al. 2008), das als Selbstreflexionsinstrument Anregungen zur Selbsteinschätzung Studierender anbietet. Es umfasst verschiedene Kompetenzbeschreibungen, u. a. auch zu kulturspezifischen Themen, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Ich weiß den Mehrwert zu schätzen, den Schüler verschiedener kultureller Herkunft in den Klassenverband einbringen, und kann daraus einen Nutzen ziehen.“ (ebd.: 17) oder „Ich kann die Fähigkeit der Schülerinnen beurteilen, sich bei Begegnungen mit der Kultur der Zielsprache angemessen zu verhalten.“ (ebd.: 58). 5. Ausblick Die Ausbildung von Lehrkräften ist immer im Fluss und erfordert parallel zu den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seit den Zeiten des Deutschen Bildungsrats in den 1960er Jahren ständige Anpassung (Robinsohn 1971). Der Überblick hat gezeigt, inwieweit Fragen und Themen der Mehrkulturalitätsdidaktik in allen Phasen der Lehrerbildung heute Berücksichtigung finden. Angesichts sprachlicher und kultureller Heterogenität und Diversität in den Schulen und außerschulischen Institutionen werden diese Fragen auch in Zukunft für die Ausbildung einer mehrkulturellen Sensibilität von Lehrerinnen und Lehrern (↗ Art. 26) unverzichtbar sein. Literatur Auernheimer, G. (Hrsg.) (2010): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität . 3. Aufl. Wiesbaden. Bayrische Staatskanzlei (2008): Ordnung der Ersten Prüfung für ein Lehramt an öffentlichen Schulen . (Lehramtsprüfungsordnung I - LPO I). Vom 13. März 2008 (GVBl. S. 180) BayRS 2038-3-4-1-1-K. [http: / / www. gesetze-bayern.de/ Content/ Document/ BayL- PO_I]. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Caspari, D. (2003): Fremdsprachenlehrerinnen und Fremdsprachenlehrer. Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis . Tübingen. De Florio-Hansen, I. & Hu, A. (Hrsg.) (2003): Plurilingualität und Identität. 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Die Anfänge des europäischen Fremdsprachenunterrichts und das Erscheinen mehrsprachiger Unterrichtsmaterialien Seit dem frühen Mittelalter wurde Lateinunterricht vor allem an kirchlichen Kloster- und Domschulen sowie an städtischen Gelehrtenschulen in kleineren Klassen, in selteneren Fällen auch im Einzelunterricht erteilt. Oft verband sich hiermit das Lesen- und Schreibenlernen. In den ersten Unterrichtsjahren wurde i. d. R. eine meist in gereimten Versen abgefasste Lateingrammatik von den Schülern auswendig gelernt. Nur der Lehrer verfügte über ein Manuskript und diktierte (da Wandtafeln erst ab dem 17. Jh. belegt sind, vgl. Comenius 1658/ 1978: 198) den Schülern daraus Auszüge, welche diese auf Wachs- oder Schiefertafeln mitschrieben. Etwa ab 1200 kann die Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts auf neuere Sprachen nachgewiesen werden. Dieser Fremdsprachenunterricht bildete sich zuerst in England aus, wo das Normannische als Gerichtssprache eingeführt wurde, als es bereits als Erst- oder Zweitsprache aus manchen Alltagsdomänen zu verschwinden begann (Kibbee 1991: 15, 31, 45). In Flandern und Brabant, wo viele Kaufleute Geschäfte mit Frankophonen machten, und in einigen oberitalienischen und oberdeutschen Handelsstädten etablierten sich Sprachmeister (Glück 2002: 88, 249, 418 f.; Pellandra 2007: 31 f.). Unter den ersten handschriftlichen Unterrichtsmedien überwiegen Vokabularien, Musterbriefe und Dialoge (Hüllen 1989: 118 ff.; Kibbee 1991: 74, 159 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze 78). Dialoge wurden oft in die Erstsprache der Lernenden übersetzt, auswendig gelernt und aufgesagt. Grammatische Erläuterungen blieben anfangs oft auf ein Minimum (z. B. auf Verbformen) beschränkt. Mit der Erfindung des Buchdrucks erhielt der Unterricht in den neueren Sprachen einen Schub. Die Ausweitung des Fernhandels trug genauso zu einer Vielzahl von mehrsprachigen Grammatiken, Glossaren, Lehrbüchern und Nachschlagewerken bei wie das aufkommende Interesse an Sprachverwandtschaften, das sich im Rahmen von Humanismus und Renaissance ausgebildet hatte. Einen guten Überblick über wichtige mehrsprachige Werke aus der Frühzeit des europäischen Fremdsprachenunterrichts bietet die bibliographische Zusammenstellung von Meißner (2010: 137 ff.). Sie erfasst sowohl gelehrte als auch populäre Publikationsformen. 2. Prototypische Erscheinungsformen mehrsprachiger Werke (16. und 17.-Jh.) Zu den gelehrten Nachschlagewerken gehören die großen und dicken Bände des italienischen Lexikographen Ambrogio Calepinus (1570). Es handelt sich um das berühmt gewordene Latein-Wörterbuch eines Humanisten mit zahlreichen kurzen Zitaten antiker Autoren. Das Lexikon enthält auch Namen bekannter Personen aus der griechisch-römischen Kultur und Beschreibungen von Realien, d. h. vor allem geographische und historische Erläuterungen. Die (je nach Ausgabe) sieben bis elf modernen Sprachen, aus denen Äquivalente zu den lateinischen Lemmata aufgeführt werden, sollen wohl eine genauere Semantisierung (durch Anwendung von Kenntnissen in gut beherrschten Sprachen) und eine interlinguale Vernetzung von Ausdrücken ermöglichen, aber auch auf Neolatinismen hinweisen. Ein völliges Gegenstück zu den Folianten des Calepinus stellt das Taschenbüchlein Colloquia et dictionariolum Noël de Berlaimonts dar (etwa 100 Ausgaben im 16. und 17. Jh., s. z. B. Berlaimont & Hoyoux 1589). Die ursprünglich zweisprachige Version wurde zu vier-, sechs-, sieben- und achtsprachigen Ausgaben erweitert (Hüllen 2005: 56). Die unter Handelsreisenden weitverbreitete Broschüre besteht aus zwei Teilen: der erste enthält Gespräche, der zweite ein kurzes alphabetisches Wörterbuch (ebd.: 55). Die Dialoge geben typische Reisesituationen wieder oder auch kaufmännische Gespräche (Aubert 1993: 18). Das Büchlein, dessen Doppelseiten im Querformat gedruckt sind, teilt jeder Sprache eine einzelne Spalte zu. Dabei erfolgt die Spaltenaufteilung im 16. Jh. wohl noch überwiegend nach der vermuteten Wichtigkeit der Sprachen. In der siebensprachigen Neuausgabe von 1610 stehen das Flämische, Englische und Hochdeutsche, also die germanischen Sprachen, in Spalten auf den linken Seiten, während das Lateinische und das Französische, Spanische und Italienische auf den rechten Seiten abgedruckt werden. Durch die neue Anordnung wird der interlinguale Vergleich innerhalb der germanischen und romanischen Sprachfamilien erleichtert; die Benutzer des Büchleins können, ausgehend von einer Formulierung in einer einzelnen Sprache, auf der jeweiligen Zeile in den Nachbarspalten überprüfen, ob dort ähnliche oder erheblich differierende sprachliche Formen vermerkt sind. Die Aufgliederung in enge Spalten erleichtert das rasche optische Erfassen einzelsprachlicher Spezifika. Eine weitere Variante innerhalb der mehrsprachigen Gesprächsbücher sind vorbereiten- 160 MarcusReinfried de Werke zur „Kavalierstour“, einer vor allem von Adelssprösslingen durchgeführten längeren Bildungsreise, die i. d. R. nach Frankreich, oft auch nach Italien und seltener nach Spanien führte. Ein Beispiel dafür liefert das von Philippe Garnier abgefasste Buch mit Dialogen aus dem Leben junger adliger Männer, die gemeinsam eine Reise nach Straßburg unternehmen. Dort erkundigen sie sich dann über die Reisemöglichkeiten nach Paris. In einem Gespräch geht es um die Wohnmöglichkeiten und Alltagsbräuche in Paris, in einem weiteren Gespräch um das jeu de paume und Aktivitäten der Pariser jeunesse dorée (vgl. Garnier et al. 1656; Garnier & Fabri 1659). Die inhaltliche Auswahl verrät Einiges über die sich damals ausbildende Prädominanz der französischen Kultur in großen Teilen Europas. Obwohl die italienische und spanische Sprache (die im deutschen Lernkontext des 17. Jhs. die zweit- und drittwichtigsten neueren Fremdsprachen darstellten, s. u. Kap. 5) in das vorliegende Mehrsprachigkeitskonzept einbezogen wurden, fehlen entsprechende landeskundliche oder interkulturelle Inhalte in der Gesprächssammlung. Eine andere plurilinguale Textsorte wird von den mehrsprachigen Grammatiken repräsentiert. Dabei kann die Mehrsprachigkeit bei Grammatiken primär durch die Koexistenz von mehreren, d. h. von mindestens zwei Zielsprachen in einem Buch bedingt sein. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674). In ihr werden Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch hintereinander in der traditionellen Reihenfolge der lateinischen Wortarten ( partes orationis ) erläutert. Für die ersten drei Sprachen bedient sich der Autor dabei des Englischen als Metasprache (die wohl auch die Muttersprache der meisten Benutzer war), zur Erklärung der englischen Zielsprache bedient er sich des Lateinischen. Das Lehrbuch war so konzipiert, dass in der Regel jede Zielsprache separat für sich - und nicht im häufigeren interlingualen Vergleich grammatischer Strukturen untereinander - gelernt wurde. Sofern die im Buch angelegte Mehrsprachigkeit überhaupt genutzt wurde, handelte es sich um eine additive Mehrsprachigkeit. Eine andere Form von Mehrsprachigkeit weist die Grammaire pour apprendre les langves italienne, francais [sic] et espagnole Antoine Fabres ( 2 1646) auf, obwohl sie dieselben romanischen Zielsprachen wie die Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674) enthält. Die auf die Morphologie hin orientierte Grammatik Fabres enthält nur eine kleinere Anzahl von Regeln, die immer zweisprachig, italienisch und französisch, präsentiert werden. Den bei weitem größten Anteil an den Lektionen haben französische, italienische und spanische Artikel, Substantive, Pronomen, konjugierte Verben, Partizipien und Adverbien. Alle diese Sprachbeispiele befinden sich auf dreispaltigen Seiten oder in dreispaltigen Abschnitten, die den häufigen Vergleich von grammatischen Formen und Strukturen in den drei romanischen Hauptsprachen nahelegen. Das Layout der Grammatik Fabres begünstigt eher als die von Smith eine integrative, auf Sprachvergleich abhebende Mehrsprachigkeitsdidaktik, die sich sowohl interlinguale Ähnlichkeiten als mnemotechnische Hilfen zunutze macht als auch auf interlinguale Differenzen zur Fehlerprävention hinweist. 3. Erscheinungshäufigkeit und Erscheinungsorte mehrsprachiger Lehrbücher in der frühen Neuzeit Um den Anteil der mehrsprachigen Lehrbücher an der Gesamtheit der damaligen Fremdsprachenlehrbücher einschätzen zu können, 161 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze wurde das Chronologische Verzeichnis französischer Grammatiken von Stengel (1976) herangezogen. Es erfasst nicht nur Grammatiken, sondern gelegentlich auch andere Lehrbücher. Die Auswahl dürfte den größten Anteil an gedruckten Medien des Fremdsprachenunterrichts der frühen Neuzeit abdecken. Für das 16. Jh. enthält die nachgedruckte Bibliographie Stengels zusammen mit Niederehes Ergänzungen 137 Titel, wobei (bei meiner Zählweise) vollkommen neu bearbeitete Titel separat zählen, bei korrigierten und verbesserten Neuauflagen aber nicht. Das Corpus von 137 Werken enthält 17 (12,4 %) mehrsprachige Lehrbücher. Von diesen wurden sieben in London verlegt sowie drei in Antwerpen, eines in Brüssel, eines in Amsterdam, eines in Rotterdam. Damit wird klar ersichtlich, dass die mittelalterlichen Pionierregionen des modernen Fremdsprachenunterrichts (vor allem England, Flandern und Brabant) auch noch im 16. Jh. im mehrsprachigen Unterricht und vermutlich auch bei den Anteilen mehrsprachiger Lernender europaweit führend waren. Auf Frankreich hingegen entfielen im 16. Jh. nur drei mehrsprachige Lehrbücher (zwei mit dem Druckort Paris, eines mit Rouen). In Deutschland ist damals nur ein mehrsprachiges Lehrbuch erschienen (in Köln), ein weiteres Lehrbuch in Genf. Im Laufe des 17. Jhs. hat sich die Anzahl der von Stengel angegebenen Lehrbücher auf 388 Titel erhöht; d. i. im Vergleich zum 16. Jh. nahezu eine Verdreifachung der erschienenen Fremdsprachenlehrbücher. 39 Lehrbücher, das sind 10,0 % der auf das 17. Jh. insgesamt entfallenden verzeichneten Titel, sind mehrsprachig. Aber die Verlagsorte, die sich in diesem speziellen Bereich hervortun, sind nicht mehr die gleichen wie im 16. Jh. Zwar gehören die Niederlande und das wallonische Territorium mit insgesamt zehn mehrsprachigen Titeln genauso wie England noch immer zu den führenden mehrsprachigen Territorien in Europa. Aber Deutschland tritt nun ebenfalls mit zwölf mehrsprachigen Lehrbüchern in Erscheinung. Vier mehrsprachige Lehrbücher gehen in Paris in den Druck, jeweils zwei in Italien und weitere zwei in der Schweiz. Auch Dänemark und Russland treten mit vereinzelten mehrsprachigen Lehrbüchern in Erscheinung. Die meisten Druckorte sind mitteleuropäisch gelegen und befinden sich eher im protestantischen Norden Europas. Für das 18. Jh. zählt Stengel 567 Titel; die bereits im Laufe des 17. Jhs. erreichte Zahl der Lehrbücher nimmt um 46 % zu. Aber die Zahl der mehrsprachigen Lehrbücher im 18. Jh. reduzierte sich dennoch auf bloß sechs neue Titel (1,1 %). Die mehrsprachigen Lehrwerke verschwanden in der ersten Hälfte des 18. Jhs. Abgesehen von zwei Lehrwerken zur Erlernung des Portugiesischen auf der Grundlage französischer Fremdsprachenkenntnisse wurden mehrsprachige Lehrwerke nur noch in Deutschland publiziert. 4. Frühe didaktisch-methodische Überlegungen zur Mehrsprachigkeit Caravolas (2009: 25) hat darauf hingewiesen, dass einige fremdsprachendidaktische Überlegungen von Comenius bereits als Anfänge einer Mehrsprachigkeitsdidaktik erklärt werden können. Der tschechische Reformpädagoge befasst sich in seiner Didactica magna mit der Sprachauswahl und der Lernreihenfolge der in den Schulen zu vermittelnden Sprachen. Er empfiehlt die Muttersprache auch als schulische Erstsprache, worauf eine oder zwei neuere Fremdsprachen folgen sollen. Seines Erachtens eignen sich dafür vor allem Nachbarsprachen mit größerer Verbreitung, deren 162 MarcusReinfried Kenntnis aus ökonomischen oder politischen Gründen nützlich sei. Für spätere Studien empfiehlt er das Erlernen des Lateinischen und eventuell einer weiteren „gelehrten Sprache“ (Griechisch, Hebräisch oder Arabisch) als reiner Lesesprache (Comenius 1657/ 1957: 128). Comenius’ Programm darf schon als diversifiziert und wohl auch abgestuft mehrsprachig bezeichnet werden. Jede dieser Sprachen soll „eher durch ihren Gebrauch als durch Regeln erlernt werden. […] Jedoch sollen auch Regeln den Gebrauch unterstützen und festigen“ (ebd.: 129). Auch diese Aussage kommt der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 58) entgegen. Außerdem gehört zu den von Comenius empfohlenen Prinzipien der „Polyglottie“, dass die Sprachen „immer nacheinander erlernt“ werden sollen, sonst könne „die eine die andere verwirren“ (ebd.: 128), womit wohl avant la lettre die Interferenzen gemeint sind. Wenn jedoch eine Fremdsprache „durch die Übung bereits sitzt“, können ihre Formen oder Regeln „unter Einsatz von Wörterbüchern, Grammatiken und weiteren Unterrichtsmitteln mit anderen Fremdsprachen nutzbringend verglichen werden“ (ebd.). Möglicherweise hat Comenius sogar schon eine Vorläuferin der Kontrastivhypothese Robert Lados (1957: VII) in nuce vertreten, weil ein weiterer seiner polyglossischen Grundsätze lautet: „Die Richtlinie für die Abfassung von Regeln für eine neue Sprache soll die früher erlernte Sprache geben, sodass nur der Unterschied nachgewiesen werde, der zwischen dieser und jener besteht. Denn das mehreren Sprachen Gemeinsame [in den Grammatikregeln] zu wiederholen ist nicht bloß unnütz, sondern schädlich“, weil es gegen den Grundsatz der Lernökonomie verstoße und dadurch für die Lernenden demotivierend wirke (ebd.: 129). Javier Suso López (2009: 33 f.) hat darauf hingewiesen, dass diese Vorwegnahme der Kontrastivhypothese durch Comenius ihrerseits von dem spanischen Grammatiker Antonio del Corro (1586) antizipiert worden ist. Dieser hat bereits gegen Ende des 16. Jhs. die Idee geäußert, dass die Muttersprache die Richtschnur für das strukturelle Erlernen einer Fremdsprache darstellen müsse. Ob und unter welchen Bedingungen aber auch Einwirkungen von einer vorgelernten und gut beherrschten Fremdsprache auf eine Zielsprache ausgehen können, wird von del Corro nicht angesprochen, und selbst bei Comenius wird nicht ganz klar, ob er die Erstsprache und die besonders gefestigte Zweitsprache als gleichwertige Einflussfaktoren einschätzt (↗ Art. 51). 5. Weshalb waren frühe Formen von Mehrsprachigkeitsdidaktik nicht nachhaltig? Die deutliche Verringerung mehrsprachiger Lehrbücher in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. könnte gemäß einer ersten, sprachenpolitischen Hypothese auf eine verstärkte Ausbreitung der französischen Sprache zurückgeführt werden. Die Einbuße an schulisch erworbener Mehrsprachigkeit würde in diesem Fall durch die reduzierten Lerneranteile bei den zweit- und drittwichtigsten neueren Fremdsprachen erklärt. Zu einer Überprüfung dieser Hypothese benötigt man eigentlich die Lernerzahlen, aber diese wurden im deutschsprachigen Raum vor dem 19. Jh. noch nicht erfasst. Die Datenlücke kann meines Erachtens mithilfe der Sachregister in den Linguarum Recentium Annales (Schröder 1980; 1985) zumindest teilweise kompensiert werden. Die Zahl der Einträge, die auf eine Fremdsprache in einer bestimmten Epoche entfallen, darf als grober Indikator für ihre jeweilige Relevanz im 163 29. Geschichtemehr sprachigerAnsätze deutschsprachigen Raum genommen werden. Für den Zeitraum von 1500 bis 1700 entfallen 443 Einträge auf das Französische, 154 auf das Italienische, nur 57 auf das Spanische. Zwischen 1771 und 1800 sind es 810 Einträge für das Französische, 446 für das Englische und 307 für das Italienische. Die Situation hat sich also nicht grundlegend verändert, wenn man einmal von der vermutlich erheblich angestiegenen Zahl der Lernenden absieht: Französisch ist zu Beginn der frühen Neuzeit als Fremdsprache noch genauso führend wie an deren Ende, aber es hat im Laufe der Zeit auch keine völlige Monopolstellung gewonnen. Die Gründe für die Verringerung der mehrsprachigen Lehrbücher können daher nicht aus einem veränderten Fremdsprachenangebot oder einer veränderten Sprachenwahl resultieren. Wahrscheinlich war es vor allem die Einführung der staatlichen Schulaufsicht in Verbindung mit dem (in Deutschland besonders stark ausgeprägten) neuhumanistischen Zeitgeist, der zur Abkehr von mehrsprachigen Lehrbüchern erheblich beigetragen hat. Der Neuhumanismus ging im letzten Viertel des 18. Jhs. vor allem von einigen Universitäten aus. Schon in diesem Zeitraum wurde auch der Französischunterricht an einer wachsenden Zahl der preußischen Gelehrtenschulen eingeführt. Es kam dabei zu einer Verlagerung von privat tätigen Sprachmeistern auf angestellte Lehrer (Kuhfuß 2015: 164), die zwischen 1775 und 1800 42 % (n = 419) ausmachen. Der überproportionale Zuwachs bei den schulischen Französischlehrern führte bereits damals (und nicht, wie oft in der Sekundärliteratur behauptet wird, erst im Laufe des 19. Jhs.) zu einer Bevorzugung deutscher Sprachlehrer gegenüber französischstämmigen Sprachmeistern. Nach Kuhfuß (ebd.: 165) waren bereits im letzten Viertel des 18. Jhs. 63 % der Französischlehrer deutschstämmig. Sie wurden in der Regel an den Gelehrtenschulen deshalb stärker geschätzt, weil sie einen akademischen Abschluss vorweisen konnten und der allgemeinbildenden Zielrichtung der Neuhumanisten, bei der die grammatische Analyse einen hohen Stellenwert hatte, eher als französische Mitbewerber entsprachen (vgl. Giesler 2018: 80, 84). Dem Lehramtsstudium mit neusprachlichem Schwerpunkt, das erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. absolviert werden konnte, ging ein Studium von lateinischen Texten voraus. Eine grammatikorientierte Vorgehensweise wurde in Verbindung mit vielen Übersetzungen oft auf den Unterricht in den neueren Sprachen übertragen (vgl. Christ 2005). Auch in anderen europäischen Ländern fiel die Aufnahme der französischen oder einer anderen neueren Fremdsprache in die staatlichen Lateinschulen in eine methodengeschichtliche Phase, in der das grammatische Analysieren und Kategorisieren dominierten und es gelegentlich auch zu interlingualen Vergleichen kommen konnte (vgl. Minerva & Reinfried 2012: 18). Neuere Sprachen wurden allerdings nur selten untereinander verglichen; falls es überhaupt dazu kam, so betraf dies das Französisch und Italienisch, wie es bei zwei Grammatiken Friedrich Gottlieb Deutschs aus den 1870er Jahren der Fall ist (vgl. Fäcke 2018: 29-37). Häufiger dürfte es im separierten Französisch- oder Italienischunterricht bei altphilologisch orientierten Lehrern zu lexikalischen Ableitungen aus dem Lateinischen gekommen sein. Von den (im 2. Kap. beschriebenen) fünf Prototypen mehrsprachiger Lehrbücher kam in diesem neuhumanistischen Kontext nur noch der 4. Prototyp, der am Beispiel der Grammatica quadrilinguis von J. Smith (1674) präsentiert wurde, für den Anfangsunterricht in Frage. 164 MarcusReinfried Am häufigsten finden wir die Grammatik-Übersetzungs-Methode an den altsprachlichen Gymnasien, wo Französisch in Preußen ab 1837 obligatorisches Nebenfach wurde. Die imitative Gegenströmung, die als Lese-Übersetzungs-Methode bezeichnet werden kann und die mit zielsprachlichen Texten oder verschriftlichten Dialogen begann (vgl. Reinfried 2016: 621), war bis in die 1880er Jahre i. d. R. auf Bürger- und Realschulen beschränkt. Sie setzte sich (teilweise in Verbindung mit der direkten bzw. der Anschauungsmethode) als die Methode der neusprachlichen Reformbewegung durch. Am Anfang des 19. Jhs. betrug das quantitative Verhältnis zwischen den (neusprachlich orientierten) Realschülern und den klassischen Gymnasiasten in Preußen etwa 1: 2, am Ende des 19. Jhs. noch etwa 4: 6 (vgl. Lundgreen 1980: 79). Um 1900 dürfte deshalb immer noch eine gewisse Abhängigkeit von der altsprachlichen Unterrichtsmethodik bestanden haben. Sie wurde erst in den 1920er Jahren überwunden, in denen der Gesamtumfang des neusprachlichen Unterrichts den Umfang des altsprachlichen Unterrichts überholt hat. Allerdings tendierte auch die direkte Methode gegen interlinguale Vergleiche (Reinfried 1992: 70-76, 153-159). Nachdem das Einsprachigkeitsprinzip vorübergehend wieder an Einfluss verloren hatte, lebte es in den 1960er Jahren erneut wieder auf: Sprachvergleiche wurden vorwiegend im Zusammenhang mit der Gefahr einer drohenden lexikalischen oder syntaktischen Interferenz betrachtet, hervorgerufen durch eine assoziative Verklumpung interlingualer Ähnlichkeiten (vgl. Reinfried 1998: 25). Erst durch den Nachweis einer reduzierten einsprachigen Semantisierbarkeit und entsprechenden Nachteilen auch für das lexikalische Behalten kam es zu einer „aufgeklärten Einsprachigkeit“ (Butzkamm 1978: 113-129, 153-163). 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Fachgeschichtlich und konzeptionell stehen Kommunikativer Fremdsprachenunterricht (engl: Communicative Language Teaching , CLT) und Mehrsprachigkeit in einer spannungsreichen Beziehung zueinander. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht steht in einer Abfolge von Konzeptionen des Fremdsprachenlehrens- und -lernens, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einer grundlegenden Auseinandersetzung um Status und Stellenwert moderner Fremdsprachen in der Schulbildung entwickelt wurden. In dieser ging es - vereinfacht - um divergierende Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts, und zwar zum einen Sprachenlernen mit dem Ziel klassisch-formaler Bildung und zum anderen Sprachenlernen mit dem Ziel, diese in Interaktionssituationen aktiv verwenden zu können. Im Kontext der letztgenannten Linie entstand kommunikativer Fremdsprachenunterricht in der Weiterentwicklung früherer Makrokonzeptionen, die sich ebenfalls dem Ziel verpflichtet sahen, Lernende zur aktiven Sprachverwendung zu befähigen z. B. der Direkten Methode oder dem Audiolingualen/ Audiovisuellen Ansatz (vgl. Howatt 2009: 467-468). War vor allem der zuletzt 167 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit genannte Ansatz noch einem strukturalistischen Sprachverständnis verpflichtet, so stellte kommunikativer Fremdsprachenunterricht ein Verständnis von Sprache als soziales Werkzeug in den Vordergrund. „The focus of CLT changed the emphasis from almost exclusive attention to grammatical competence by identifying other competences which are crucial in communicating through speech. In this sense, the most outstanding by-product of CLT has been a change in the ‘object’ that is taught and learnt“ (Byram & Méndez García 2009: 491). 2. Problemaufriss Aufgrund seines Entstehungskontextes ist kommunikativer Fremdsprachenunterricht/ CLT nicht auf Mehrsprachigkeit angelegt, sondern betont die Bedeutung von Kommunikation in der Fremdsprache (Byram & Méndez García 2009: 510). Hierfür führen Byram & Méndez García zwei Gründe an: Erstens sei CLT mit der Programmatik angetreten, den Fokus der Sprachbetrachtung vom Satz als bedeutungstragende Einheit auf den Text bzw. den Diskurs zu verschieben. Zweitens spiele die unterliegende kognitiv-konstruktivistische Spracherwerbs- und Lerntheorie eine Rolle. Zum einen modellierten diese Theorien Fremdsprachenlernen in Analogie zum Erstsprachenerwerb und unterstreichen zum anderen das eigenaktive sprachliche Handeln als wesentliche Grundlage für Lernprozesse (ebd.: 496). Dass Lernende in aller Regel bereits nicht nur über eine, sondern mehrere weitere Sprachen verfügten und diese für den Lernprozess nutzbar gemacht werden können oder der Unterricht selbst mehrsprachig sein könnte, spielte in der Debatte um Ziele und Methoden des CLT keine entscheidende Rolle. Mit der Einzelsprache als Referenzpunkt im Rahmen von CLT konnte auch Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) kaum entwickelt werden. Im deutschen Sprachraum hat Butzkamm (1973) allerdings früh eine kritische Diskussion um das methodische Prinzip der Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht angestoßen und die Rolle der vorgelernten Sprache(n) für das Lehren und Lernen weiterer (Fremd-)Sprachen hervorgehoben. Einen in der europäischen Fremdsprachendidaktik wirksamen Impuls, das Thema Mehrsprachigkeit aufzugreifen, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (1995) mit der Formulierung des Ziels gesetzt, dass alle Bürgerinnen und Bürger (die hier im Übrigen monolingual gedacht werden) neben der Sprache, mit der sie aufwachsen (L1), zumindest zwei weitere (Fremd-)Sprachen (L1+2) lernen sollen (↗ Art. 12). Schulische Fremdsprachenangebote, die sich nur auf eine Fremdsprache (insbes. das Englische) beschränken, aber auch ein Englischunterricht, der das Englische nicht im Kontext einer mehrsprachigen Lebenswelt sieht, geraten hierdurch unter einigen Legitimationsdruck (Breidbach 2003). Die Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts an lebensweltlichen Verwendungskontexten ist darüber hinaus durch die Veröffentlichung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) vorangetrieben worden (↗ Art. 18). Vorschläge und Rahmensetzungen, wie die genannten, sind nur schwer ohne die grundlegenden Umorientierungen des Fremdsprachenunterrichts in Richtung Kommunikation und Kommunikativität vorstellbar. 168 StephanBreidbach 3. Forschungsstand Die Verbindung von Kommunikativem Fremdsprachenunterricht und Mehrsprachigkeit ergibt sich aus den Verständnissen kommunikativer Kompetenz bzw. kommunikativen Handelns in einer vielsprachigen und globalisierten Welt und heutigen Gesellschaften. In der Fremdsprachendidaktik wurden insbesondere zwei Grundverständnisse von kommunikativer Kompetenz wirksam. Die soziobzw. pragmalinguistische Sicht geht auf Hymes (1972) zurück. Dieser grenzt sich von einer bloß formal-strukturalen und generativen Betrachtung von Sprache ab, wie sie etwa von Chomsky vertreten wurde. Kommunikative Kompetenz umfasst demnach auch die Fähigkeit, in spezifischen Situationen pragmatisch und sozio-kulturell angemessen sprachlich zu handeln. Daneben steht die sozialphilosophische Sicht auf sprachliches Handeln, wie sie von Habermas (1971) als Grundlage einer Theorie herrschaftsfreier Kommunikation entwickelt wurde. Kommunikative Kompetenz bezeichnet hier eine Art Ethos, das in der Fähigkeit zur gleichberechtigten Teilnahme an gesellschaftlichen Diskursen ebenso zum Ausdruck kommt wie auch darin, anderen eine solche Teilnahme zu ermöglichen bzw. durch eigenes sprachliches Handeln die Bedingungen hierfür zu wahren (s. Schmenk 2005: 64). Während die sozio-/ pragmalinguistische Lesart ihre Konzeption und Verbreitung vor allem im anglophonen Raum findet, hat die sozialphilosophische zuerst im deutschsprachigen Raum konzeptionsbildend gewirkt. Allerdings stellt Hüllen (2005: 144) fest, dass methodische Umsetzungen auch hier schon bald vorrangig im Sinne der pragmalinguistischen Vorstellungen kommunikativen Handelns erfolgten. Die sich aus den beiden grundlagentheoretischen Modellen ergebende Differenz ist für die fachdidaktische Theorie- und Konzeptionsentwicklung gleichwohl bedeutsam geblieben, denn beide Ansätze haben zwei - in der fachlichen Debatte allerdings nur lose verbundene - Themenfelder hervorgebracht oder diese doch zumindest erheblich beeinflusst: 1.) das Feld des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts sowie 2.) das Feld des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32). Durch dieses Auseinandergehen ist der ursprünglich vorhandene Stachel der Differenz der beiden strukturgebenden Modelle kommunikativer Kompetenz zwar oberflächlich unsichtbar geworden, er ist aber an den Schwierigkeiten, die jeweiligen didaktischen und pädagogischen Anliegen des einen an diejenigen des jeweils anderen Feldes anzuschließen, erkennbar geblieben. In der Konzeption kommunikativen Fremdsprachenunterrichts bildet das Sprachhandeln den Ausgangspunkt und das Zentrum didaktischer Überlegungen. Bach/ Timm (1989) versuchen die soziolinguistische wie auch sozialphilosophische Lesart kommunikativer Kompetenz im Begriff des Handlungsorientierten Fremdsprachenunterrichts zu verbinden (vgl. Hüllen 2005: 144). Sie bezeichnen in Übereinstimmung mit der Hymes’schen Auffassung sprachliche Handlungsfähigkeit als die Fähigkeit der „situations- und partneradäquaten“ Verwendung einer (Fremd-) Sprache, wobei zugleich gilt, „dass Äußerungen Konsequenzen haben, die gegebenenfalls verantwortet werden müssen“ (Bach & Timm 1989: 11). Die historisch neue Qualität, die kommunikativer Fremdsprachenunterricht theoretisch eröffnet, liegt darin, Lernende als aktiv (sprachlich) Handelnde zu sehen. 169 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit 3.1. Theorie des Subjekts Mit der Verschiebung der Sichtweise auf Lernende als sprachlich Handelnde verändert sich auch deren Subjektposition in der fachdidaktischen Theoriebildung. Sie werden nunmehr im politisch-philosophischen wie im praktischen Sinn als emanzipierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an kulturellen Praktiken gesehen. Daher werden die sozialen und individuellen Sinnerfahrungen, die sie im und durch den Gebrauch der Fremdsprache machen, zu einer unmittelbar bedeutsamen Größe. Lernenden wird damit - vielleicht erstmals - zugestanden, durch eigene Sprachhandlungen aktiv Einfluss auf die Herstellung und Gestaltung sozialer Wirklichkeiten zu nehmen. Billigt man Lernenden so weitreichende Handlungsräume und -potenziale zu, lag es nahe, kommunikative Kompetenz nicht alleine als „Mitmachenkönnen“, also als Einsozialisierung in eine (fremde) Sprachbzw. Sprechergemeinschaft zu sehen, nicht zuletzt deswegen, weil Lernende den Status des non-native speaker so gut wie niemals vollständig würden überwinden können. Als Ziel trat nun auch die emanzipierte Beteiligung an sozialen (Aus-)Handlungsprozessen hinzu. 3.2. Sprache und Sprachlernen Eine solchermaßen veränderte Sicht auf die Lernenden sowie die Veränderungen der Ziele des Fremdsprachenunterrichts gingen einher mit der Veränderung des in der fremdsprachendidaktischen Diskussion umstrittenen Kulturbegriffs (s. Hu 1999) und später mit der Hinwendung zum Diskursbegriff (s. Plikat 2017). Essenzialistisch-herkunftbezogene Kulturverständnisse stießen auf erhebliche Kritik, während „narrativ-konstruktivistische Konzept[e]“ im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Theoriebildung (↗ Art. 1) als angemessener wahrgenommen wurden (Hu 1999: 297). Zunehmend konnte sich daneben auch der Diskursbegriff etablieren, der die Art und Weise des Gebrauchs von Sprache in den Mittelpunkt stellt. Sprache wird im Anschluss an Foucault als ein Mittel zur Herstellung symbolischer Ordnungen verstanden. Diskurs ist das Geschehen, in dem - meist in machtförmig geprägten Strukturen - solche Ordnungen erzeugt und sozial wie individuell wirksam werden (↗ Art. 40). Ein diskursives Sprachverständnis wiederum ermöglicht es, die Konzeptionen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts und von Mehrsprachigkeit einander anzunähern. Mit dem Diskursbegriff wurde sprachliches Handeln in einem deutlich erweiterten Sinn als eine allgemeine Kompetenz sozialen Handelns in symbolisch strukturierten, vielfach geschichteten, situativ und historisch dynamischen Kontexten gefasst. Die Betrachtung unterschiedlicher Einzelsprachen trat hinter die Betrachtung sprachlich-interaktionaler Funktionen zurück. Mehrsprachigkeit wird in diesem Zuge zur - über Einzelsprachen hinausgreifenden - Fähigkeit, in verschiedenen symbolisch-sozialen Kontexten (Diskursen) handeln zu können. Programmatisch fasst dies Gogolin (1994: 75): Eine vernunftgemäße Perspektive allgemeiner sprachlicher Bildung müßte (sic! ) (…) am Leitbild des mehrsprachigen, metasprachliche Kompetenz in diesem Sinne innehabenden Menschen mit ‚pluralem sprachlichen Habitus‘ orientiert sein, denn nur dieser wäre in der Lage, seine kommunikative Praxis auf eine noch unbekannte Zukunft in sprachlicher Pluralität hin auszurichten. Betrachtet man Lernende als die für ihren Lernprozess letztlich Zuständigen und Ver- 170 StephanBreidbach antwortlichen und zugleich Lernen als einen aktiven Prozess der engagierten Auseinandersetzung mit Welt und Sprache(n), sind für den Fremdsprachenunterricht Bedingungen notwendig, unter denen Lernende sich auf ein derart intensives Engagement überhaupt einlassen können und wollen. Aus diesem Grund rücken nun verstärkt Aspekte wie Interessen, Sprachlernvoraussetzungen und Sprachlernerfahrungen und -motivation ins Zentrum der Aufmerksamkeit sowie die Frage, ob und wie Lernende substanziell an der Gestaltung von Unterrichtsprozessen zu beteiligen sein könnten. In diesem Zusammenhang spricht Breen von „learner contributions to language learning“ (2001). Er stellt einen Reflexionsrahmen zur Verfügung, der in vier Schichten darlegt, dass Lernende durch Haltungen, Vorannahmen und Affekte (Schicht 1), Handlungsmöglichkeiten und Spielräume (Schicht 2), tatsächliche Beteiligung am Kommunikationsgeschehen (Schicht 3) sowie vergangene, gegenwärtige und zukünftig angestrebte Zugehörigkeiten zu (Sprecher-)Gemeinschaften (Schicht 4) (Breen 2001, zusammenfassend Block 2003: 12) in den Sprachlernprozess eingebunden sind. Kommunikativer Fremdsprachenunterricht kommt daher ohne Lernerzentrierung in diesem Sinne notwendigerweise nicht aus. Im Zuge dessen, was Block (2003) als social turn in der Spracherwerbsforschung rekonstruiert, werden eine Reihe der in Schicht 1 thematisierten Lernerattribute - z. B. Geschlecht, Alter, Lernneigung ( aptitude ) u. a. -, bis hin zu Kategorien wie Identität (Schicht 4) nicht mehr als statische Größen verhandelt, sondern als soziale Konstrukte, die in diskursiven Prozessen entstehen und veränderbar sind (↗ Art. 1). Auch die Modellierung und Erforschung von Sprachlernmotivation hat in ähnlicher Weise eine sozialkonstruktivistische Wende erfahren. So wird Motivation nicht mehr (alleine) als eine intrapsychische Disposition verstanden. Das inzwischen viel zitierte Modell des L2 Motivational Self System (Dörnyei 2009) versteht Sprachlernmotivation explizit in Bezug zu den Dimensionen sozialer und sprachlicher Identität von Lernenden. Daran anknüpfend hat Henry (2017) eine modifizierte Fassung dieses Modells vorgelegt, die dem Gedanken Rechnung trägt, dass beim Lernen von weiteren Sprachen individuelle und differenzierte Identitätsbezüge zwischen den zuvor gelernten und den aktuell gelernten bzw. zukünftig zu lernenden Sprachen entstehen. 3.3. Kultur Eine ähnliche Transformation hat der Begriff der Kultur (↗ Art. 1) in den vergangenen ca. 30 Jahren durchlaufen. Nicht zuletzt im Anschluss an kulturwissenschaftliche Diskurse hat Kramsch vielfach argumentiert (zuletzt 2018: 18), dass die Formel ‚eine Sprache = eine Kultur‘ weder auf der gesellschaftlichen noch auf der Ebene der Schülerschaft empirisch noch tragfähig sei (so sie es denn jemals gewesen sein sollte). Mit der Konzeption eines ‚dritten Orts‘ ( third place ), einer an Homi K. Bhaba angelehnten Wortschöpfung, legte Kramsch (1993) eine ausdrücklich nicht dichotom strukturierte Ziel- (besser: Möglichkeits-)Formulierung für das Lernen von Fremdsprachen vor. Kramsch argumentiert, dass Sprachenlernen weder im Erlernen eines sprachlich-sozialen Repertoires noch in der (kritischen) Thematisierung von Eigenem oder Fremdem aufgehe. Das Erlernen von Sprachen bedeute darüber hinaus immer Begegnung mit Welt in einem unbekannten Idiom und mit unbekannten (d. h. unvertrauten) sozialen Praktiken, die sich als widerständig und als eine destabilisierende Heraus- 171 30. KommunikativerFremdsprachenunterrichtundMehrsprachigkeit forderung an das eigene Selbst herausstellen können: „(L)earning a language is learning to exercise both a social and personal voice, it is both a process of socialization into a given speech community and the acquisition of literacy as a means of expressing personal meanings that may put in question those of the speech community.“ (Kramsch 1993: 231) Für Kramsch ist der dritte Ort ein ambiges, in Qualität, Struktur und Bedeutsamkeit fluides, nicht-statisches Moment der Weltdeutung von unbestimmter Dauer, das sich je individuell aus der freien, fortgesetzten persönlichen Bearbeitung von Fremdheitserfahrungen (evtl. auch von Erfahrungen des Be- und Entfremden) ergibt. Idealiter vollzieht sich dieses im dialogischen Austausch mit Menschen mit einem ähnlichen Erfahrungsstand (Kramsch 1993: 257). Weder die genaue Gestalt des Erlebens eines dritten Orts noch der Zeitpunkt seines Auftretens sind dabei genau im Voraus zu bestimmen. Auch geht das Erlebnis eines Dritten-Orts nicht synthesehaft aus der Begegnung von „Eigenem“ und „Fremdem“ hervor, sodass die Vorstellung vom dritten Ort nicht klassisch-dialektisch strukturiert ist. Kramsch hat den Begriff des third place schrittweise mit einem Konzept mehrsprachiger Kompetenz ( symbolic competence ) unterlegt. Symbolic competence umfasst dabei eine Verstehensebene, die sich auf das Verständnis von symbolischen (hier: sprachlichen) Ausdrucksformen bezieht, eine kreative, die sich auf die Nutzung sprachlich-symbolischer Bedeutungsvielfalt für das Auffinden einer eigenen Subjektposition bezieht sowie eine kritisch-analytische Ebene, auf der eine Auseinandersetzung mit den Anfechtungen der Integrität und Autonomie von Subjekten durch diskursiv vermittelte Vereinnahmungsprozesse ermöglicht wird (Kramsch 2009: 200- 201). 4. Praxisrelevanz Als eine demografische Rahmenbedingung für Fremdsprachenunterricht ist Mehrsprachigkeit im Zentrum der fremdsprachendidaktischen Diskussion inzwischen angekommen. Auch als Ziel von Fremdsprachenunterricht kann Mehrsprachigkeit inzwischen allgemein akzeptiert gelten. Insofern ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass sich aus der Entwicklung einer Reihe wesentlicher grundlagentheoretischer Bezüge, auf denen die Konzeption kommunikativen Fremdsprachenunterrichts fußt, sich auch für diese gewissermaßen von innen heraus eine Öffnung zur Mehrsprachigkeit ableiten und begründen lässt. Aus einer CLT-Perspektive, die sich sowohl aus einer soziolinguistischen als auch gesellschaftsphilosophischen Linie speist, rekurriert Mehrsprachigkeit demnach auf die Möglichkeit, ebenso wie auf die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Sprachen und Diskursen sowie eine Vielzahl tatsächlicher und potenzieller Sprecherpositionen innerhalb von Diskursen ( identity experiences , Henry 2017) zu berücksichtigen. Darum ist kommunikativer Fremdsprachenunterricht gegenwärtig auch nicht mehr überzeugend als Unterricht mit dem Ziel von „multiple monolingualisms“ zu denken (Kramsch 2018: 22). 5. Perspektiven Perspektivisch bedeutsam dürfte für die Theorie und Praxis kommunikativen Fremdsprachenunterrichts eine Verbindung mit den zuletzt stärker in den Vordergrund getretenen Gegenständen der Multiliteralität (Küster 2014) sowie der multilingual education sein. Stärkere Berücksichtigung dürften demnach Ansätze finden, die sich explizit einer ganz- 172 StephanBreidbach heitlichen Sicht auf individuelle Sprachrepertoires zuwenden, wie z. B. das ‚Focus on Multilingualism‘ Modell (Cenoz & Gorter 2011). Abzuwarten bleibt, ob eine Diskussion um die Kommunikativität des Fremdsprachenunterrichts wieder stärker in einer gesellschaftspolitischen Perspektivierung geführt wird. Kramsch (2018) beobachtet zwei argumentative Strömungen, mit denen es sich auseinanderzusetzen lohne: zum einen stellt sie das Diskursphänomen der „Erfindung von Mehrsprachigkeit“ (ebd.: 21 f.) fest. Hierunter subsumiert sie Positionen, die in mehrsprachigen Praktiken insbesondere von gesellschaftlich marginalisierten Personen und Gruppen einen sozialpolitisch emanzipativen Gewinn erkennen. Zum anderen konstatiert sie die „Neu-Erfindung von Einsprachigkeit“ (ebd.: 23). Diese hänge zum einen mit neonationalistischen Reaktionen auf das Entstehen sprachlich heterogener Migrationsgesellschaften und zum anderen mit einer neo-liberalen Tendenz zur globalen Vermarktung von Produkten mittels sprachlicher und kultureller Stereotypen zusammen. Es ist zurzeit noch offen, welches Gewicht solche Konzeptionen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts haben, die in kritischer Reaktion auf diese und ähnliche sozialen und politischen Prozesse formulierten worden sind, wozu die von Kramsch (2009) beschriebene symbolic competence oder das von Plikat (2016) vorgelegte Konzept der fremdsprachlichen Diskursbewusstheit zu zählen sind (↗ Art. 41). Den beiden letztgenannten unterliegt ein breites Verständnis von Mehrsprachigkeit und ein gesellschaftspolitisch-emanzipatorischer Grundimpuls, auf den die Diskussion um kommunikativen Fremdsprachenunterricht lange hat verzichten müssen. Literatur Bach, G. & Timm, J.-P. (1996): Handlungsorientierung als Ziel und Methode. In: G. 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In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 16/ 1, 57-87. Stephan Breidbach 31. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit 1. Rahmen und Verortung Mit mehrsprachiger und mehrkultureller Textarbeit ist ein Einsatz von kontinuierlichen und nicht kontinuierlichen Texten aus verschiedenen Sprachen und Kulturen zum Zweck einer Erkenntnisgewinnung auf der Ebene von Sprachlernbewusstheit, Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) und interkultureller Kompetenz (↗ Art. 43) gemeint. Je nach didaktischer Verortung - ob im Sprachunterricht (Fremdsprachen bzw. Deutsch), im bilingualen Sachfachunterricht (CLIL) (↗ Art. 111) oder im deutschsprachigen Fachunterricht - kann ein Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen und Kulturen unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und folglich unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. 174 MaikBöing Im Sprachunterricht kann mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit im Sinne der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 70) „einen Beitrag zur Erhöhung von Sprachlernbewusstheit ( multi-language and learning awareness ) und Selbststeuerungskompetenz bzw. Lernerautonomisierung leisten. Sie ermöglicht die deutliche Verbesserung des ‚Durchschauens‘ sprachlicher Strukturen (…), trägt bei zur effizienten und raschen Erzeugung mehrsprachiger Lesekompetenz innerhalb bestimmter Sprachfamilien“ (Meißner 2007: 215). In diesem Sinne eingesetzt, kann mehrsprachige Textarbeit den Tertiärsprachenerwerb (↗ Art. 86) beschleunigen und eine Erweiterung von Lese-, Sprech- und Schreibkompetenz herbeiführen. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen schärft diesbezüglich maßgebliche Kompetenzen und Ressourcen aus (vgl. Candelier et al. 2012) (↗ Art. 20). Im bilingualen Sachfachunterricht (↗ Art. 111, 114) reicht eine vorwiegend linguistische Betrachtung im Sinne der skizzierten Vorgehensweise der Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernbewusstheit sowie Sprachlernkompetenz allein nicht aus. Hier muss der Erwerb von Sachfachkompetenz und interkultureller Kompetenz im Fokus stehen. D.h., der Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen und Kulturen muss einen Mehrwert auf der Ebene von Konzept- und Inhaltslernen generieren, z. B. durch die Thematisierung kultureller Skripte (vgl. Albrecht & Böing 2012). Gleiches gilt für den Einsatz von Texten aus verschiedenen Sprachen im deutschsprachigen Fachunterricht. Es sollte ein wissens-, prozess- oder fertigkeitsbezogener Erkenntnisgewinn intendiert werden (d. h. Schüler erwerben Kenntnis über im L1-Fachkontext nicht vorhandene Konzepte und Fachbegriffe bzw. Fachmethoden, z. B. die im französischen Geographieunterricht (↗ Art. 113) verbreitete croquis -Technik einschließlich ihrer spezifischen Symbol- und Zeichensprache). Dies schließt im Sinne eines sprach(en)sensiblen Fachunterrichts auch durchaus den punktuellen Einsatz von Materialien aus den Herkunftsländern der Schülerinnen und Schüler mit ein, sofern diese einen sachfachlichen Erkenntnisgewinn generieren können. Auf Techniken der Interkomprehension (↗ Art. 70) kann auch im bilingualen und deutschsprachigen Fachunterricht auf dem Weg zum Erwerb von Sachfachkompetenz und interkultureller Kompetenz zurückgegriffen werden, eine systematische Aneignung kann hier hingegen nicht erfolgen und sollte in den Sprachunterricht ausgelagert werden. 2. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus Interkomprehension Bereits seit vielen Jahren liegen positive Erfahrungen mit dem Einsatz von Interkomprehension im schulischen Kontext vor. Zunächst vorwiegend in Form von Modulen durchgeführt (vgl. Böing 2004; Bär 2006), greift zunehmend auch der reguläre Tertiärsprachenunterricht der romanischen Schulsprachen auf Verfahren der Interkomprehension zurück (↗ Art. 67). Gemein ist beiden Organisationsformen die abgestimmte Nutzung von Wort- und Spracherschließungsstrategien. Durch eine Kombination folgender Lehr- und Lernstrategien kann mehrsprachige Textarbeit methodisch-didaktisch umgesetzt werden (für Details Böing 2004): • Interlinearübersetzungen zur Visualisierung von Transferbasen und zur Erleichterung der Hypothesenbildung, 175 31. MehrsprachigeundmehrkulturelleTextarbeit • der Rückgriff auf eine individuelle Hypothesenbzw. Spontangrammatik, • Laut-Denk-Protokolle zur Reflexion von Worterschließungsstrategien, • Paralleltexte zur Förderung des „Zwischen-Sprachen-Lernens“, • die Sensibilisierung für Eurokomposita durch Wortschatz-Vergleiche, • das Erkennen zwischensprachlicher Regularitäten in lexikalischen Serien, • ein persönliches Lerntagebuch und eine persönliche Sprachlernbiografie als Begleitinstrumente. Die Auswahl der Texte innerhalb eines auf Interkomprehension ausgerichteten Kurses oder Lehrgangs muss in ihrer Abfolge eine progressive Anwendung der Lern- und Arbeitstechniken ermöglichen. 3. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus interkulturelle Kompetenz Die enge Verbindung zwischen Sprache und Kultur wird vor allem dann deutlich, wenn mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit mit dem Fokus der Förderung der interkulturellen Kompetenz angelegt wird. Dies betrifft gleichermaßen den bilingualen Sachfachwie den (fortgeschrittenen) Fremdsprachenunterricht, wenn es darum geht, dass Lernende Sachverhalte in L 1, L 2 etc. mehrperspektivisch dekonstruieren. Indem die Schülerinnen und Schüler Phänomene, Diskurse, (Fach-) Begriffe und (Fach-)Konzepte aus verschiedenen Sprachen beleuchten und mittels der reflexiven Didaktik (vgl. Breidbach 2007) besprechen, können sie den Mehrwert mehrsprachiger und mehrkultureller Textarbeit unmittelbar erfahren. In diesem Zusammenhang besitzen in den Texten thematisierte sog. kulturelle Skripte eine besondere Bedeutung. Damit können Begriffe bezeichnet werden, „die über ihre rein denotative Funktion zur Bezeichnung eines Sachverhalts hinaus bestimmte „kulturspezifische“ konnotative Merkmale transportieren, d. h. kulturelle Spezifika, Konzepte, Wissensstrukturen, Repräsentationen sowie Bedeutungsnuancen“ (Albrecht & Böing 2010: 64). Für die didaktische Erschließung einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Textarbeit bietet sich ein Rückgriff auf das Integrated Dynamic Model nach Diehr (2016) an. Das Modell thematisiert gezielt vergleichende Betrachtungen von Alltags- und Fachsprache in Verbindung mit den hinter den Begriffen stehenden Konzepten in L 1 und L 2. Im Zentrum der kontrastiven Wortschatz- und Textarbeit in zwei oder mehreren Sprachen stehen die jeweiligen Äquivalenzgrade der durch die Begriffe bezeichneten Konzepte, d. h. fehlende Äquivalenz (Lakunen), Nichtäquivalenz, partielle Äquivalenz, vollständige Äquivalenz. Ursprünglich von der Autorin zur Ausbildung einer doppelten Fachliteralität im bilingualen Sachfachunterricht vorgeschlagen, bietet es ebenfalls einen Ansatzpunkt für mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht, wenn dort stärker inhaltsbezogen gearbeitet wird. Einen weiteren methodischen Zugriff bietet das Textbasis-Satelliten-Arrangement (Meißner 1999). Es gruppiert um einen Text in der unterrichteten Sprache (z. B. Englisch im fortgeschrittenen Englischunterricht) i. d. R. kürzere Referenztexte in anderen, den Schülern verständlichen Sprachen. Dies können sowohl die Schulfremdsprachen (z. B. Französisch, Latein, Spanisch, Russisch) und/ oder die reguläre Sprache des Unterrichts sein (Deutsch) und/ oder die eine oder andere Herkunftssprache 176 MaikBöing der Schüler. Das Text-Arrangement entspricht in historischer Hinsicht der mehrsprachigen europäischen res publica litterarum , in globaler Hinsicht der Präsenz heutiger Themen in ganz verschiedenen Ländern und Kontinenten. Ein Beispiel: Der englische Basistext greift das Diktum amerikanischer Dollarnoten Ex pluribus unum auf. Gemeint ist natürlich die Bildung der Union (der Vereinigten Staaten); kurze Referenztexte von nur wenigen Zeilen können in französischer Sprache die auf Montesquieu zurückgehende Gewaltenteilung ( séparation des pouvoirs ) oder das in der Präambel des Estatuto de autonomía de Cataluña 1913 festgelegte Ziel betreffen que los hombres y mujeres de Cataluña quieren proseguir con el fin de hacer posible la construcción de una sociedad democrática y avanzada, de bienestar y progreso, solidaria con el conjunto de España e incardinada en Europa. (Parlament de Catalunya 2013: 19) Weitere Bezüge nicht nur zum deutschen Föderalismus oder anderen Ländern sind möglich. Sie sollten nicht zuletzt auch nach den in den Klassen vertretenen Schülern mit einem engen oder weiter fassenden Migrationshintergrund gewählt werden. Das Beispiel aus dem Geschichts- oder Politikunterricht lässt sich selbstverständlich auf alle möglichen Kontexte anwenden. Die Unterrichtssprache ist konsequent die reguläre Zielsprache, hier also Englisch. Als Themen für eine derartige mehrperspektivische Textarbeit eignen sich im Allgemeinen aktuelle geographisch-gesellschaftswissenschaftliche Themen (z. B. urbane Herausforderungen im europäischen Vergleich) oder auch historisch-politische Themen (z. B. die Erweiterung des Themas Occupation et Résistance in einem Französisch-Leistungskurs um ein Beispiel aus Italien in italienischer Sprache). Auf diese Weise kann eine auf den Erwerb von Sachkompetenz im Verbund mit interkultureller Kompetenz ausgerichtete mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit auch Wegbereiter eines stärker inhaltsbezogenen Fremdsprachenunterrichts sein. In methodischer Hinsicht bieten etablierte Methoden zur Förderung von Mehrperspektivität und interkultureller Kompetenz (vgl. Böing 2011), wie Mehrperspektivitätswürfel, lexikalische Zuweisungen, Denkhüte, abwechslungsreiche Verfahren für eine lebendige Versprachlichung der Erkenntnisse. 4. Fazit und Ausblick Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit bietet im schulischen Kontext vielfältige Einsatzmöglichkeiten im Sprachenwie im Fachunterricht. Sie kann Erkenntnisse generieren, die unter Rückgriff auf Texte in nur einer Sprache nicht möglich wären. Je nach curricularen Anforderungen (↗ Art. 21), Interessen und Bedürfnissen der Lernenden sowie spezifischem Schulkontext sind unterschiedliche Verfahren zwischen dem oben skizzierten „Fokus Interkomprehension“ bzw. dem „Fokus Interkulturelle Kompetenz“ sinnvoll, auch Mischformen sind selbstverständlich denkbar, da Kultur und Sprache immer als Verbindung zu sehen sind. Mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit sollte wie Textarbeit allgemein durch geeignete pre , while und post reading activities sowie ein abgestimmtes Scaffolding flankiert werden (↗ Art. 115). Auch im Kontext von europäischer Sprachenpolitik - möglichst viele Europäerinnen und Europäer sollten mindestens zwei Fremdsprachen neben ihrer eigenen Sprache lernen (↗ Art. 6, 12) - , aber auch im Zuge der 177 31. MehrsprachigeundmehrkulturelleTextarbeit Herausforderungen multilingualer Klassenzimmer in einer lebensweltlich ausgerichteten sprachensensiblen Schule (vgl. Oleschko 2017) gewinnt mehrsprachige und mehrkulturelle Textarbeit zunehmend an Bedeutung. Durch sie kann eine diversifizierte und abgestimmte Mehrsprachigkeit erreicht werden. In organisatorischer Hinsicht bietet die in manchen Bundesländern mögliche Einrichtung von Projektkursen (in Nordrhein-Westfalen z. B. ein dreistündiger Grundkurs über ein Schulhalbjahr mit Anbindung an ein Leitfach) vielfältige Chancen, Mehrsprachenunterricht und kulturelle Begegnungen in neuen Formaten auch vor Ort durchzuführen. In einem Europa der Nationen und der Sprachen sollte mehrsprachiges- und mehrkulturelles Arbeiten viel stärker das Unterrichtserlebnis bestimmen. Es ist eine Strategie zur Förderung der Bildung einer europäischen Identität. Literatur Albrecht, V. & Böing, M. (2010): Wider die gängige monolinguale Praxis? ! - Mehrperspektivität und kulturelle Skripte als Wegbereiter der Zweisprachigkeit im bilingualen Geographieunterricht. In: S. Doff (Hrsg.): Bilingualer Unterricht in der Sekundarstufe - eine Einführung . Tübingen, 58-71. Bär, M. (2006): Italienisch interkomprehensiv: Erfahrungen mit einem Eingangsmodul an der Schule. In: H. Martinez, M. Reinfried & M. Bär (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen. Festschrift für Franz-Joseph Meißner zum 60. Geburtstag . Tübingen, 95-110. Böing, M. (2004): Interkomprehension und Mehrsprachigkeit. Ein Erfahrungsbericht aus dem zweisprachig-deutsch-französischen Bildungsgang. In: französisch heute . 34, S. 18-31. Böing, M. (2011): Methoden: Mehrperspektivität und interkulturelle Kompetenz. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 110, 24-25. Böing, M. & Palmen, P. (2012): Bilingual heißt zweisprachig! Überlegungen zur Verwendung beider Sprachen im bilingual deutsch-französischen Geographieunterricht. In: B. Diehr & L. Schmelter (Hrsg.): Bilingualen Unterricht weiterdenken. Programme, Positionen, Perspektiven . Frankfurt, 73-90. Breidbach, S. (2007): Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den Sachfachunterricht . Münster. Candelier, M. (Coord.) (2012): Le CARAP. Un Cadre de Référence pour les Approches Plurielles des Langues et des Cultures . Graz. Diehr, B. (2016): Doppelte Fachliteralität im bilingualen Unterricht. Theoretische Modelle für Forschung und Praxis. In: B. Diehr, A. Preisfeld & L. Schmelter (Hrsg.): Bilingualen Unterricht weiterentwickeln und erforschen . Frankfurt, 57-84. Meißner, F.-J. (2007): Interkomprehensionsdidaktik - eine Möglichkeit zur Erweiterung Bilingualer Bildungsgänge. In: O. Mentz, S. Nix & P. Palmen (Hrsg.): Bilingualer Unterricht in der Zielsprache Französisch. Entwicklung und Perspektiven . Tübingen, 115-134. Meißner, F.-J. (1999): Fächerübergreifende Textarbeit im Spanischunterricht. In: W. Altmann & U. Vences (Hrsg.): Vom Lehren und Lernen. Neue Wege der Didaktik des Spanischen . Berlin, 13-32. Oleschko, S. (Hrsg.) (2017): Sprachsensibles Unterrichten fördern - Angebote für den Vorbereitungsdienst. Berlin. Parlament de Catalunya (2013): Estatuto de autonomía de Cataluña . Texto consolidado. Barcelona. Maik Böing 32. Interkulturalität und interkulturelles Lernen 1. Definition Ausgehend von Interkulturalität, d. h. einer durch Globalisierung und Migration bestehenden ethnischen und kulturellen Vielfalt, zielt interkulturelles Lernen auf die Förderung der Kompetenz, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen umzugehen. Im Kontext des hiesigen Fremdsprachenunterrichts bezieht sich dies auf die Kulturen der beteiligten Personen - Lehrende, Lernende und soziales Umfeld - sowie auf die Lerngegenstände - Sprachen, Kulturen, Literaturen, interkulturelle Kommunikation etc. Damit in Zusammenhang stehende Zielsetzungen, Lernwege und Lernprozesse, umfassen hermeneutische Verstehensprozesse, Auseinandersetzungen mit Fremdheiten, Partikularismen und kulturkontrastiven Argumentationen, Ausrichtungen auf interkulturelle Gemeinsamkeiten und Universalismen sowie schließlich Aufbrechungen und Infragestellungen z. B. von Wahrnehmungen, Einstellungen und Stereotypen. Zugleich erscheint die Abgrenzung zwischen den Kulturen schlechthin in vielen Fällen in Frage gestellt (↗ Art. 17). Insgesamt wird interkulturelles Lernen in der Regel auf zwei Kulturen bezogen. Es entspricht jedoch der Offenheit des Kulturbegriffs und dem vielkulturellen Wesen Europas sowie der Mehrkulturalität (↗ Art. 8) der Lerngruppen, wenn bikulturelles Lernen auf mehrkulturelles Lernen ausgeweitet wird. Zudem unterstützt das Prinzip der Exemplarizität durchaus mehrkulturell relevante Lernziele. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Frühe Vorläufer des interkulturellen Lernens im fremdsprachendidaktischen Diskurs sind verschiedene Etappen der Landeskunde (↗ Art. 35), d. h. die Realienkunde seit der Zeit der Neusprachlichen Reformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Berücksichtigung realer Gegenstände aus dem Zielsprachenland, die Kulturkunde der 1920er F Didaktik der Mehrkulturalität 180 ChristianeFäcke Jahre mit dem Fokus auf die Erfassung zielsprachlicher Mentalitäten und des Charakters einer Nation und ihrer Bewohner, die menschenverachtende Rassenkunde in der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich die politisch orientierte Landeskunde der 1960er und 1970er Jahre (Picht 1974), die mit ihrem gesellschaftspolitischen und -kritischen Blick schließlich in die Stuttgarter Thesen (Robert Bosch Stiftung/ Deutsch-französisches Institut 1982) mündet. In der DaF-Didaktik sind vergleichbare Entwicklungen festzustellen: vom faktischen Ansatz einer auf Wissen orientierten Landeskunde über einen handlungsbezogenen, integrierten Ansatz in den 1970er Jahren bis hin zu der Sensibilisierung für Fremdes und dem D-A-CH(L)-Prinzip, das die Vielfalt der deutschsprachigen Länder - Deutschland, Österreich, die Schweiz und Liechtenstein - bewusst berücksichtigt (Rösch 2011: 131 ff.). In den 1990er Jahren werden verschiedene Ansätze vertreten: Argumentationen, die die interkulturelle Kommunikation (↗ Art. 33) fördern wollen, setzen auf das Verständnis von Kulturstandards, d. h. als typisch angesehene Denk- und Verhaltensweisen in einer als in sich homogen wahrgenommenen Kultur, und auf die daraus resultierende erfolgreiche interkulturelle Kommunikation (Thomas 1996). Dabei geht es zentral um die Auseinandersetzung mit Klischees und Stereotypen (↗ Art. 34, 104). Der Anspruch dieses Zugangs liegt darin, interkulturelle Missverständnisse vermeiden zu helfen und zum Gelingen interkultureller Kommunikation beizutragen. Kritische Positionen werfen diesen Argumentationen statische, deterministische Sichtweisen, die fälschliche Homogenisierung einer Kultur sowie die Zementierung von Klischees und Stereotypen vor. In der Fremdsprachendidaktik hat vor allem das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ (Bredella & Christ 1995) eine Rolle gespielt, dessen Verdienst darin liegt, interkulturelles Lernen als wesentliches Element des Fremdsprachenlehrens und -lernens in die fremdsprachendidaktische Diskussion gebracht zu haben (↗ Art. 36). Dieser hermeneutisch argumentierende Ansatz geht aus von der binären Dichotomie des Eigenen und des Fremden und erachtet Empathie und Perspektivenwechsel als Möglichkeit zum Verstehen des Fremden. Bemerkenswert ist die reziproke Wirkung von Fremdverstehen, das prinzipiell zu einer Neuverortung des eigenen Ich führen kann. Fremdverstehen wird als realisierbar vorgestellt. Kritikpunkte beziehen sich darauf, dass dieser Ansatz eher unpolitisch und verharmlosend sei: Für Hunfeld zielt Fremdverstehen auf die Zerstörung des Fremden. Zugleich wird der Didaktik des Fremdverstehens vorgeworfen, dass gerade dieses Verstehen nicht immer und nicht vollständig möglich sei (so im hermeneutischen Skeptizismus, Hunfeld 2004). Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf fehlende Aufbrechungen und Differenzierungen innerhalb der als in sich homogen vorgestellten Kulturen und Nationen. Neben diesen partikularistisch argumentierenden Positionen werden Ansätze aus der Tradition des Universalismus vertreten, die gerade die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft betonen (↗ Art. 37). Dies geschieht u. a. in Argumentationen im Sinne einer Global Education , in denen gerade auch die Bezugnahme auf Kulturen und Nationen außerhalb Europas erfolgt (Lütge 2015). Im Fokus stehen u. a. Nachfolgestaaten ehemaliger Kolonien Englands, Frankreichs oder Spaniens. Dies bedeutet z. B. für den Englischunterricht die Berücksichtigung Ugandas (Schaidt 2017), für den Französischunterricht die Bezugnahme auf frankophone 181 32. InterkulturalitätundinterkulturellesLernen Literatur oder für den Spanischunterricht die Auseinandersetzung mit Hispanoamerika. Die Stärke universalistischer Argumentationen besteht gerade in der Hervorhebung dieser Gemeinsamkeiten, doch stellt dies gleichzeitig auch ihre Schwäche dar, insofern als die erwähnten Gemeinsamkeiten oft mit dem Postulat einer vermeintlichen Gleichheit einhergehen, die in der Realität keineswegs eingelöst ist. Diese letztgenannte Perspektive greifen insbesondere dezidiert antirassistische Positionen auf. Diese kritisieren rassistische und andere Diskriminierungen und Gewaltausübung der verschiedensten Art in verschiedenster Form (↗ Art. 38). Ganz im Sinne der Friedensforschung (Galtung 1998) werden Abstufungen des Rassismus erkannt und kritisiert: die direkte physische, die latente strukturelle und die kaum merklich und durch kommunikative Alltagspraxis verbreitete und omnipräsente kulturelle Gewalt (↗ Art. 39). Galtung (1998: 343) definiert Gewalt als „vermeidbare Verletzungen grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens , die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzen, was potentiell möglich ist“. Im Fremdsprachenunterricht zeigt sich dies in der Thematisierung bestimmter politischer, sozialer, wirtschaftlicher oder historischer Inhalte, u. a. Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei (Poenicke 1995). Die Stärke dieser Argumentationen liegt darin, gerade diese Diskriminierungen und ihre rassistischen, antisemitistischen, sexistischen und anderen Begründungen sichtbar zu machen. Ihre Schwäche liegt in der Verabsolutierung des Rassismus als allumfassendes und unüberwindbares Prinzip aller Gesellschaften aller Zeiten. Mit einem solchen Schwarz-Weiß-Denken ist es nicht mehr möglich, nicht rassistisch zu sein. Jede Denk- und Verhaltensweise wird damit als rassistisch wahrgenommen, ein politisch korrektes Verhalten ist nicht möglich. Gegen Ende der 1990er Jahre begegnen mehr und mehr Positionen in der Tradition der Postmoderne, die den Begriff der Transkulturalität (↗ Art. 41) in den Mittelpunkt stellen (Welsch 1992; Eckerth & Wendt 2003). Ausgehend von der Überlegung, dass Kulturen in der modernen Welt nicht mehr eindeutig als voneinander unterscheidbar und abgrenzbar vorgestellt werden können, stehen Überlappungen, Ambivalenzen von Kulturen und die Aufhebung des Kulturbegriffs im Vordergrund, wie wir ihn aus der Epoche der Nationalismen kennen. Der dekonstruktivistische Blick der Postmoderne zielt auf die Überwindung der o. g. Sichtweisen und visiert ein Überschreiten von Abgrenzungen sowie die Dekonstruktion des Kulturbegriffs an sich an (↗ Art. 40). Stärken dieser Argumentation bestehen in der Berücksichtigung ambivalenter, vielfältiger und offener Sichtweisen auf Kultur(en) in einer von Migration und Globalisierung geprägten modernen Welt. Schwächen des Ansatzes bestehen in der Verwischung nach wie vor bestehender Abgrenzungen und Hierarchisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Mit der Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) und der Bildungsstandards (2003; 2012) verlagert sich die Diskussion in den Fremdsprachendidaktiken von interkulturellem Lernen auf interkulturelle Kompetenzen, die die zu erreichenden Qualifikationen der Lernenden in den Blick nehmen (↗ Art. 18, 43). Dabei werden die folgenden Dimensionen unterschieden: Kenntnisse ( savoirs ), Handlungskompetenz ( savoir-faire ), Einstellungen ( savoir-être ), Fähigkeit des Verstehens einer anderen Kultur ( savoir-comprendre/ sa- 182 ChristianeFäcke voir-apprendre ) und kritisches interkulturelles Bewusstsein ( savoir-s’engager ) (Byram 1997). Neben Fragen danach, wie diese Kompetenzen vermittelt und gefördert werden können, geht es auch um Fragen der Evaluation interkultureller Kompetenzen (Fäcke 2012). Lösungsvorschläge (↗ Art. 48, 49) reichen von einem Plädoyer für die Selbstevaluation bis zu einer Stufung interkultureller Kompetenzen, z. B. werden im Developmental Model of Intercultural Sensitivity (Bennett 1993) sechs Stufen zwischen ethnozentrischen und ethnorelativierenden Sichtweisen unterschieden. Hier werden verschiedene Etappen auf dem Weg zu einer interkulturellen Kompetenz entwickelt, die man individuell durchläuft. Einstufungen erfolgen über die Einschätzung von critical incidents (↗ Art. 104). Dabei ergeben sich Schwierigkeiten der Zuordnung von Einstellungen und Verhaltensweisen zu den jeweiligen Etappen, Probleme der Abgrenzung der einzelnen Stufen oder auch die grundlegende Frage, ob interkulturelle Entwicklungsprozesse zwingend den jeweiligen Stufen und Abfolgen entsprechen müssen. 3. Forschungsstand und Praxisrelevanz Neben hermeneutischen Überlegungen zu interkulturellem Lernen gibt es quantitativ und qualitativ angelegte empirische Forschungen, von denen einige hier exemplarisch angeführt werden. Ein erstes Forschungsfeld in der Tradition der Pädagogischen Psychologie umfasst Studien zur Bedeutung von Interkulturalität für Lernende (und Lehrende). Dabei geht es um Lernvoraussetzungen und Lernbedingungen, um die Berücksichtigung von Multiethnizität und Fragen zur Integration im Klassenzimmer oder auch um die Bedeutung verschiedener Erstsprachen und Mehrsprachigkeit, um Sprachenbiografien und Identitäten (z. B. Krumm & Jenkins 2001). Die Ergebnisse machen die Komplexität interkultureller Dimensionen für die Identitäten der Jugendlichen, für das Miteinander im Klassenraum oder für den schulischen Erfolg sichtbar. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Untersuchungen zu Interkulturalität und interkulturellem Lernen in Unterrichtsmaterialien und Lehrwerken (z. B. Vali 2015). Hier wird deutlich, dass Interkulturalität als Charakteristikum der Zielsprachenkulturen in der Gestaltung von Lehrwerken seit den 1990er Jahren berücksichtigt und abgebildet wird (↗ Art. 46). In aktuellen Unterrichtsmaterialien werden interkulturelle Themen in unterschiedlichem Ausmaß und mit verschiedenen Schwerpunkten zum Gegenstand gemacht, wobei gerade partikularistische Argumentationen mit Fokus auf Besonderheiten der Zielsprachenkulturen wiederholt die Gestaltung prägen. In der empirischen Unterrichtsforschung geht es um die Relevanz des Themas für die Gestaltung des Sprachunterrichts wie z. B. um Fragen nach der Qualität eines interkulturellen Unterrichts, um die Analyse interkultureller Kompetenzstufen der Lernenden mit Hilfe der Analyse von critical incidents (z. B. Göbel 2007) oder auch um Fragen nach der Evaluation und Berücksichtigung interkultureller Kompetenzen in Klassenarbeiten. Weitere Forschungsbereiche mit Praxisrelevanz betreffen die Umsetzung interkulturellen Lernens außerhalb des Fremdsprachenunterrichts, wobei Felder wie Schüleraustausch, Tandemlernen (↗ Art. 45) oder Partnerschaftsprojekte in ihrer Qualität und Wirksamkeit untersucht werden (z. B. Fellmann 2015). Die Studien machen die Komplexität 183 32. InterkulturalitätundinterkulturellesLernen und die Bedeutsamkeit interkulturellen Lernens immer wieder deutlich, wobei gerade auch Ambivalenzen und Brüche in möglichen Lösungen erkennbar werden, die letztlich unvermeidlich, unabgeschlossen und unlösbar bleiben. Interkulturalität in all ihren Facetten prägt den Sprachunterricht, endgültige und eindeutig positive Lösungen zum vollständigen und abschließenden Erreichen interkultureller Kompetenzen liegen nicht vor und sind nicht realisierbar. 4. Ausblick Aktuelle Entwicklungen in Forschungsdiskursen führen die genannten Schwerpunkte weiter. Dabei stellen sich derzeit offene Fragen, so z. B. inwieweit der hermeneutische Ansatz der Transkulturalität (↗ Art. 41) tragfähig ist, ob und wie die Evaluation interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 48) sinnvoll umgesetzt werden könnte (oder sollte), wie gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und wissenschaftliche Diskurse einander beeinflussen oder auch wie deterministisch anmutende Zusammenhänge zwischen ethnischer und sozialer Herkunft einerseits und Bildungserfolg andererseits aufgebrochen und gesellschaftliche Diskriminierungen ins Positive entwickelt werden können. In der Diskussion wird sicher auch die Weiterentwicklung des GeR im Companion Volume (Council of Europe 2018) und die darin angelegte Ausdifferenzierung plurikultureller Kompetenzen eine Rolle spielen (↗ Art. 19). Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Rassismen prägen Gesellschaft und Bildungswesen nach wie vor. Eine sinnvolle und sensible Weiterentwicklung interkultureller Diskurse wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie zu einer Aufbrechung und Öffnung dieser Denk- und Verhaltensweisen beitragen kann. Literatur Bennett, M. J. (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: R.-M. Paige (Hrsg.): Education for the Intercultural Experience . Yarmouth, MN, 21-71. Bredella, L. & Christ, H. (Hrsg.) (1995): Didaktik des Fremdverstehens . Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon u. a. Council of Europe (Hrsg.) (2018): Companion Volume with New Descriptors / Volume Complémentaire avec de Nouveaux Descripteurs . [www.coe.int/ lang-cefr]. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht . Frankfurt a. M. u. a. Europarat (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. 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Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen . München. Christiane Fäcke 33. Interkulturelle Kommunikation 1. Der Begriff der interkulturellen Kommunikation Der Begriff der interkulturellen Kommunikation wurde von dem amerikanischen Kulturanthropologen Edward Hall geprägt, der Ende der 1950er Jahre ein Ausbildungsprogramm für ins Ausland entsandte amerikanische Diplomaten, Militärberater u. a. entwickelte, das die Verständigung mit den Partnern vor Ort verbessern sollte (Moosmüller 2009: 45). Hall verwies mit dem Begriff auf den engen Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur und stellte die These auf, dass allein die Entwicklung eines interkulturellen Bewusstseins für die eigene und die fremde kulturelle Prägung zu erfolgreicher Kommunikation führen könne. Diese Prägung äußerte sich für Hall in Verhaltensnormen, die sich in der Kommunikation u. a. als spezifischer Umgang mit Zeit (monochron vs. polychron), Raum (Nähe vs. Distanz) und Kontext ( low context vs. high context ) auswirken (Hall 1959). In einer Zeit, in 185 33. Interkulturelle Kommunikation der zunehmende politische und ökonomische Verflechtungen auf internationaler Ebene sowie Migrationsbewegungen in allen Teilen der Welt die kulturellen Probleme der Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Herkunft deutlich zu Tage treten ließen und die Erkenntnis förderten, dass Kommunikation aus mehr als Sprache besteht, erwies sich Halls These als hochaktuell. Sie wurde von zahlreichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen aufgegriffen (Literaturwissenschaft, Linguistik, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Ethnologie, Wirtschaftswissenschaft), und in kürzester Zeit konnte sich interkulturelle Kommunikation zu einem zentralen interdisziplinären Forschungsthema entwickeln (Lüsebrink 2004). Dieser Entwicklung schloss sich auch die Fremdsprachendidaktik (↗ Art. 17) an, die, in dem Bewusstsein, dass der Beherrschung von Fremdsprachen in der globalisierten Welt eine zentrale Rolle zufällt, dem interkulturellen Aspekt der Kommunikation seit Mitte der 1980er Jahre besondere Aufmerksamkeit widmete und den intercultural speaker zum neuen Leitbild erklärte (Kramsch 1998). Federführend wurde dabei das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ (1991-2001) (↗ Art. 36). 2. Interkulturelle Kommunikation im Fremdsprachenunterricht Die Verbindung von Sprache und Kultur ist vielschichtig (↗ Art.1). Jede sprachliche Äußerung enthält gleichzeitig kognitive, affektive und handlungsorientierte Aspekte, die eng miteinander verknüpft sind und die kulturelle Prägung der Sprache transportieren: • Inhaltsaussagen, mit denen auf den Gesprächsgegenstand verwiesen wird, • Beziehungsbotschaften, mit denen die persönliche Ebene der Interaktion etabliert wird, • Selbstdarstellungen, die auf die Einstellungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Sprechers hinweisen, • Appelle, die Handlungserwartungen an den Gesprächspartner enthalten. Dieses Beziehungsgeflecht weist in den verschiedenen Kulturen und gesellschaftlichen Gruppen deutliche Differenzen auf (Erll & Gymnich 2007: 91), die sich in der Sprache als unterschiedliche Kommunikationsstile und Diskurskonventionen niederschlagen. Hinzu kommen situative Faktoren (Personenkonstellation, Machtverhältnisse, Gesprächsthemen) sowie personenbezogene Faktoren (Persönlichkeitsmerkmale, Soziales Rollenverständnis), die Einfluss darauf haben, welche Ebene die Kommunikation in einem Gespräch dominiert. Zu unterscheiden ist zwischen • Gesprächsstilen: direkte oder indirekte Gesprächsführung, Dominanz des Sachbezugs oder des Personenbezugs, Einsatz von Gestik und Mimik • Gesprächsstrategien: hohe oder niedrige Kontextualisierung, Vorrang der Sprecher- oder Adressatenorientierung, Reparaturstrategien • Gesprächssequenzen: Formen der Gesprächseröffnung und -beendigung, Verwendung von Routineformeln, Einsatz von Gliederungssignalen • Gesprächsablauf: Sprecherwechsel, Rezipientenverhalten (Schumann 2010: 18 f.). In interkulturellen Kommunikationssituationen können diese Differenzen in der Gesprächsführung zu Fehldeutungen und Missverständnissen führen, insbesondere wenn unterschiedliche Normerwartungen und Höf- 186 AdelheidSchumann lichkeitskonzepte aufeinander treffen (↗ Art. 104). Deshalb muss beim Erlernen einer Fremdsprache ein Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen Sprache und Kultur geschaffen werden. Im Fremdsprachenunterricht findet interkulturelle Kommunikation vorwiegend in mediatisierter Form als Arbeit mit Texten, Filmen oder Bildern der fremdsprachlichen Kultur bzw. zum Zweck des Spracherwerbs konstruierten Dialogen und Texten statt und nicht als interpersonale Interaktion. Um zu gewährleisten, dass diese Form der medialen Kommunikation zur Sensibilisierung für kulturelle Differenzen sowie zur Reflexion über eigene Denk- und Wahrnehmungsmuster führt, müssen Verfahren des interkulturellen Lernens angewandt und plurikulturelle Themen und Situationen behandelt werden (↗ Art. 44). Es können auch erfahrungsbasierte Verfahren, wie z. B. die Arbeit mit Missverständnissen, so genannten critical incidents, bei denen die Darstellung von authentischen interkulturellen Kommunikationsproblemen gedeutet und adäquate Handlungsstrategien erarbeitet werden, zum Einsatz kommen (↗ Art. 104). Zur Verwirklichung direkter interpersonaler Kommunikation im Rahmen des Fremdsprachenerwerbs bedarf es der Organisation von Begegnungssituationen, z. B. in Form von Schüleraustausch oder internationalen Workshops. Solche Begegnungen bieten den Lernern die Möglichkeit, persönliche Erfahrungen in der interkulturellen Kommunikation zu erwerben und über das Erleben eigener Betroffenheit ihr kulturelles Wissen zu erweitern und zu differenzieren sowie adäquate Interaktionsstrategien zu entwickeln (↗ Art. 45). Zur Unterstützung dieser Art von direkten Begegnungen kommen zunehmend als Vor- oder Nachbereitung des Austausches digitale Kontakte (E-Mail, Video-Konferenz, Facebook) zum Einsatz (↗ Art. 102). Zuweilen ersetzen diese sogar die persönliche Begegnung. Auch wenn der digitale Kontakt keine face-to-face -Kommunikation (↗ Art. 103) darstellt, so ist er doch auch als interpersonale Kommunikation zu werten, denn die Lerner kommunizieren in schriftlicher Form direkt miteinander und können dabei die gleichen interkulturellen Erfahrungen machen wie bei der direkten Begegnung. 3. Lernziel interkulturelle Kommunikative Kompetenz Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es, die Lerner in die Lage zu versetzen, sich in interkulturellen Begegnungssituationen erfolgreich zu verständigen. Für dieses Lernziel wurde von Michael Byram der Begriff der interkulturellen Kommunikativen Kompetenz geprägt (Byram 1997), der in den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GeR) (↗ Art. 18) einging und zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen Fremdsprachendidaktik wurde. Byram bezeichnet interkulturelle Kommunikative Kompetenz als das Zusammenspiel verschiedener Wissensbereiche: savoir, savoir être, savoir comprendre, savoir faire, savoir s’engager. Gemeint sind damit die Fähigkeiten, sich soziokulturelles Wissen anzueignen und gegenüber kultureller Fremdheit Neugier und Offenheit zu entwickeln, sich auf den Gesprächspartner einzustellen und Empathie zu zeigen, die eigenen Einstellungen und Deutungsmuster zu reflektieren sowie mithilfe von Aushandlungsstrategien den gegenseitigen Erwartungshorizont zu relativieren und sich auf Deutungsmöglichkeiten zu verständigen. Wie eine solche komplexe Kompetenz im Fremdsprachenunterricht erworben werden kann, wird in der Fremdsprachendidaktik 187 33. Interkulturelle Kommunikation seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert und in Form von didaktischen Modellen erprobt (↗ Art. 17, 32). Die Modelle gehen in der Regel von der Entwicklung verschiedener Bewusstseinsstufen von interkultureller Ignoranz über kulturelle Bewusstwerdung bis zur Integration interkultureller Konstrukte in das eigene Alltagshandeln aus (Witte 2009: 55 ff.) oder sehen den Erwerb interkultureller Kommunikativer Kompetenz als eine Lernspirale, bei der affektive, kognitive und pragmatisch-kommunikative Aspekte ineinander greifen und einen dynamischen, lebenslangen Lernprozess in Gang setzen, der den Grad der kulturellen Bewusstheit auf der Grundlage von immer neuen interkulturellen Erfahrungen, dem Erwerb neuen kulturellen Wissens und der Erprobung von Handlungsstrategien in der Interaktion immer größer werden lässt (Deardorff 2006). Für den Fremdsprachenunterricht wurden in den letzten Jahren eine Fülle von didaktischen Verfahren der kulturellen Bewusstseinsentwicklung, wie z. B. Übungen zur Sensibilisierung und Wahrnehmungsschulung, zur Selbstreflexion und Empathieentwicklung sowie interkulturelle Interaktionstrainings entwickelt (↗ Art. 44). Für den außerschulischen Bereich, insbesondere den wirtschaftsorientierten Bedarf, entwickelte man interkulturelle Trainingsprogramme, in denen, entsprechend der affektiven, kognitiven und handlungsorientierten Dimension interkultureller Kommunikation, informationsbasierte, erfahrungsbasierte oder interaktionsorientierte Verfahren miteinander verbunden werden. 4. Interkulturelle Kommunikation in der globalisierten Welt In der globalisierten Welt gehören Erfahrungen interkultureller Kommunikation in der personalen und medialen Interaktion zum Alltag, und interkulturelle Kommunikative Kompetenz gilt als eine Schlüsselqualifikation, die zur Bewältigung sprachlicher und kultureller Pluralität erforderlich ist. Doch die Globalisierung führt auch zu kulturellen Hybridisierungsprozessen und der Modifizierung traditioneller Kulturvorstellungen und verändert damit das Konzept der interkulturellen Kommunikation, das in seinen Ursprüngen bipolar gedacht war, als kommunikative Austauschsituation zweier, meist national definierter Gesprächspartner. Wolfgang Welsch setzte 1999 dem Begriff der Interkulturalität das Konzept der Transkulturalität gegenüber (Welsch 1999) und lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass Kulturen niemals homogen sind, sondern sich gegenseitig durchdringen und mischen und dass Individuen komplexe multiple Identitäten ausbilden, die sehr verschiedene kulturelle und soziale Einflüsse in sich vereinen können (↗ Art. 41). Die Hybridisierungsprozesse betreffen sowohl die kulturellen Wirklichkeiten in den verschiedenen Ländern, als auch die einzelnen Individuen und ihre spezifischen Identitätskonstruktionen. Globale Einflüsse verbinden sich überall mit lokalen Traditionen (Glokalisierung), und die lebensweltliche Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (↗ Art. 100) einer zunehmenden Zahl von Individuen führt dazu, dass Kommunikationssituationen häufig plurikulturellen Charakter haben. Der Begriff der interkulturellen Kommunikation hat in diesem Sinne in den letzten Jahren eine Erweiterung und Öffnung erfahren, die auch bei der Förderung interkultureller Kommunikativer 188 AdelheidSchumann Kompetenz im Fremdsprachenunterricht zu berücksichtigen ist. Grundlegende empirische Forschungen zum Einfluss der Globalisierung (↗ Art. 37) auf die interkulturelle Kommunikation und das kommunikative Verhalten von Interaktionspartnern in plurikulturellen Interaktionssituationen gibt es bislang kaum. Doch es sind auf diesem Gebiet in den letzten Jahren vermehrt Einzeluntersuchungen zu verzeichnen, in denen auf die Zusammenhänge zwischen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Lerner und ihren Identitätskonstruktionen sowie ihrer Disposition zu kultureller Öffnung und Selbstreflexion eingegangen wird (u. a. Hennig-Klein 2018). Es ist zu erwarten, dass künftige empirische Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität neue Erkenntnisse über die plurikulturellen Aspekte interkultureller Austauschprozesse zu Tage fördern. Literatur Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Clevedon . Deardorff, D. K. (2006): Policy Paper zur Interkulturellen Kompetenz. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz - Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Gütersloh, 13-35. Erll, A. & Gymnich, M. (2007): Interkulturelle Kompetenzen. Erfolgreich kommunizieren zwischen den Kulturen . Stuttgart. Hall, E. (1959): The Silent Language . New York. Hennig-Klein, E.-M. (2018): Plurale Bildung und Identität in mehrsprachigen Französischlerngruppen. Konzeptmodellierung und empirische Studie . Frankfurt. Kramsch, C. (1998): The Privilege of the Intercultural Speaker. In: M. Byram & M. Fleming (Hrsg.): Language Learning in Intercultural Perspective. Cambridge, 16-31. Lüsebrink, H.-J. (Hrsg.) (2004): Konzepte der Interkulturellen Kommunikation. Theorieansätze und Praxisbezüge in interdisziplinärer Perspektive . Saarbrücken. Moosmüller, A. (2009): Interkulturelle Kommunikation: quo vadis? In: M. Otten, A. Scheitza & A. Cnyrim (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz im Wandel 1 . Münster, 41-56. Schumann, A. (2010): La conversation française. Kulturelle Normen des kommunikativen Handelns im Französischunterricht. In: A. Abendroth-Timmer, C. Fäcke, L. Küster & C. Minuth (Hrsg.): Normen und Normverletzungen . Aktuelle Diskurse in der Fachdidaktik Französisch . Stuttgart, 17-30. Welsch, W. (1999): Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: P. Drechsel (Hrsg.): Interkulturalität. Grundprobleme der Kulturbegegnung . Mainz, 45-72. Witte, A. (2009): Reflexion zu einer (inter) kulturellen Progression bei der Entwicklung interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenlernprozess. In: A. Hu & M. Byram (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen , Tübingen, 49-68. Adelheid Schumann 34. Klischees und Stereotype 1. Begriffsdefinition und -abgrenzungen Stereotype sind Fremdbilder. Sie bezeichnen starre, verfestigte Vorstellungen von Mitgliedern einer sozialen Gruppe über die Merk- 189 34. Klischeesund Stereotype male von Mitgliedern einer anderen Gruppe. Im Kontext des Fremdsprachenlernens sind Stereotype in erster Linie als Bilder über eine andere Kultur bzw. ein anderes Land von Bedeutung. Als soziale Konstruktionen sind Stereotype eng mit Selbstbildern verknüpft, da die Abgrenzung von einem „Anderen“ (Alterität) für eigene Identitätskonstruktionen konstitutiv ist. Als mentale Schemata dienen sie der Komplexitätsreduktion und erfüllen über die Verallgemeinerung und Kategorisierung eine Orientierungsfunktion (Heringer 2004). Als kollektive Vorstellungen und Einstellungen gegenüber Anderen sind sie Teil von Fremdwahrnehmungsprozessen (↗ Art. 104); für ihre Entstehung spielen einerseits historische oder aktuelle Erfahrungen eine Rolle, andererseits tragen Medien und die durch sie vermittelten Bilder zu ihrer Genese bei. Unterschieden werden können Autostereotype (Bilder über die eigene Gruppe/ Kultur), Heterostereotype (Bilder über die andere Gruppe/ Kultur) sowie Metastereotype, d. h. Annahmen über Stereotype von Anderen über die eigene Gruppe/ Kultur. Für den Begriff Stereotyp existiert eine Vielzahl von verwandten Bezeichnungen, die häufig auch synonym verwandt werden, insbesondere Klischee, Vorurteil und Image. Unter Klischees können sehr weit verbreitete und als leicht erkennbare Fremdbilder verstanden werden, die sich als Stereotyp quasi selbst entlarven wie z. B. der Franzose mit Baskenmütze und Baguette oder auch der Spanier als Torero. Der Begriff des Vorurteils wird dagegen in der Regel für negativ besetzte, häufig emotional aufgeladene Fremdbilder benutzt, bei denen die Abgrenzungsfunktion im Vordergrund steht und die letztlich auch zu Diskriminierungen führen können ( Jonas & Schmid Mast 2007; Otten 2006). Images, die häufig medial vermittelt werden, stellen komplexere Fremdwahrnehmungsmuster dar, die als nationale Images bspw. in Tourismus und Werbung zu finden sind (Lüsebrink 2016). 2. Historische Entwicklungen und Forschungskontexte Ursprünglich als Bezeichnung für unbewegliche Lettern aus dem Druckereiwesen stammend wurde Stereotyp erstmals von Walter Lippmann (1922) im Sinne von „pictures in our heads“ im sozialwissenschaftlichen Kontext verwendet. Als soziales Phänomen sind Stereotype dagegen als historische Konstante zu sehen, die insbesondere zur Abgrenzung zwischen verschiedenen Gruppen dient. In historischer Perspektive wurden Stereotype über andere Völker im Zuge der Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert systematisiert, z. B. in Form sog. „Völkertafeln“, auf denen Vertreter verschiedener Länder und Volksgruppen in charakteristischer Tracht abgebildet und mit ‚typischen Charaktereigenschaften‘ bezeichnet wurden (Stanzel 1999), und dienten dann v. a. in nationalistischen Diskursen ab dem 19. Jahrhundert zu Identitätskonstruktionen in expliziter Abgrenzung von anderen Kulturen, insbesondere auch im deutsch-französischen Kontext. Als „imaginärer Volkscharakter“ (Müller 2004) wirken diese Zuschreibungen auch bis heute fort und können reaktiviert werden, z. B. im Fußball. Grundlegend sind die Studien des Sozialpsychologen Henri Tajfel (1969) zu Entstehung und Funktion von Stereotypen. Demnach spielen die kognitiven Prozesse der Kategorisierung, Generalisierung und Akzentuierung eine zentrale Rolle: Während Kategorisierung als Unterscheidung von Gegenständen oder Menschen nach gemeinsamen Merkmalen zur Komplexitätsreduktion dient, 190 ChristophVatter erweitert der Prozess der Generalisierung diese Merkmale auf eine ganze Gruppe. Akzentuierung beschreibt schließlich die Betonung von Ähnlichkeiten innerhalb einer Gruppe, während Unterschiede innerhalb dieser Gruppe minimiert werden und so der Kontrast zu einer anderen Gruppe als bedeutender wahrgenommen wird (Tajfel 1969; Jonas & Schmid Mast 2007). Im Kontext der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner 1979) folgt daraus, dass Autostereotype dominant positiv konstruiert werden, während Heterostereotype dagegen eher negativ sind. In der Fremdsprachendidaktik ist das Thema der Stereotype und Klischees eng mit der Entwicklung der Landeskunde (↗ Art. 35) als Grundorientierung des Fremdsprachenlernens von der auf enzyklopädisches Wissen abzielenden Realienkunde im 19. Jahrhundert über die Kulturkunde und Landeskunde in den 1970er und 1980er Jahren bis zur interkulturellen Kommunikation verknüpft. Nachdem man Stereotype lange v. a. als Hürde für die interkulturelle Verständigung angesehen hatte und ihre Bekämpfung zu einem zentralen Ziel des Fremdsprachenunterrichts geworden war, bemühte sich die Landeskundedidaktik v. a. ab den 1980er Jahren um einen reflektierten und bewussten Umgang mit Fremdbildern, v. a. durch die Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Ansätze (Schumann 2007). Neben der Vermittlung von theoretischem Wissen über Fremdwahrnehmungsprozesse beinhaltet dies die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse über die eigene und die Zielkultur sowie eine Analyse von Medien und ihrem Gebrauch von Stereotypen (ebd.). 3. Funktionen und Konsequenzen von Stereotypen Ausgehend von Lippmanns „Bildern im Kopf “ und den sozialpsychologischen Grundlagenstudien, insb. zu Gruppenprozessen, konnte eine Reihe von kognitiven, affektiven und sozialen Funktionen von Stereotypen herausgearbeitet werden (Bausinger 1988; Lüsebrink 2016): Sie dienen der Verallgemeinerung und tragen zur Komplexitätsreduktion und Orientierung bei. Im Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität (↗ Art. 1) kommen weiterhin die Funktionen der Abgrenzung, der Selbstdarstellung sowie der Rechtfertigung eigener Verhaltensweisen zum Tragen, wie z. B. an nationalistischen Diskursen beobachtet werden kann. Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive wurde aufgezeigt, dass sich Stereotype zu komplexeren Fremdwahrnehmungsmustern verdichten können, in denen Faszination (z. B. im Exotismus oder Tourismus) oder Abgrenzung, aber auch Neugierde oder transkulturelle Perspektiven (↗ Art. 41) einer Vermischung der Kulturen zum Ausdruck kommen können (Lüsebrink 2016). Die Wirkung von Stereotypen und die Bedingungen für ihren Abbau sind für die Begegnung zwischen Gruppen von besonderer Relevanz. Die sog. Kontakthypothese (Allport 1954), d. h. die Vorstellung, dass durch den bloßen Kontakt zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen Stereotype und Vorurteile abgebaut werden, gilt inzwischen als weitgehend überholt. Zwar stellen interkulturelle Interaktion und Kommunikation (↗ Art. 17, 32) eine wichtige Voraussetzung dafür dar, jedoch sind für das Gelingen weitere Faktoren notwendig, insbesondere eine gemeinsame Aufgabe, die aufgrund ungleicher Ressourcenverteilung nur kooperativ bewältigt wer- 191 34. Klischeesund Stereotype den kann, ein gleicher Status beider Gruppen sowie die Unterstützung durch Autoritätspersonen (Auernheimer 2003). 4. Praxisrelevanz Beim Fremdsprachenlernen und -lehren spielen Stereotype eine paradoxe Rolle: einerseits sind sie im Zuge der didaktischen Reduktion sowie der Faszination und Attraktivität der Zielsprache ein unumgängliches Mittel; andererseits stellt das Hinterfragen und der Abbau von Stereotypen ein wichtiges Ziel des Fremdsprachenunterrichts dar, v. a. im Kontext des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32). Als Teil des Vorwissens der Lerner sind sie unvermeidbarer Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts und wirken auf die Selbstwie Fremdwahrnehmung, die Lernmotivation und auch die Interaktion mit Vertretern der Zielkultur (Caspari 2012). Der Fremdsprachenunterricht partizipiert gleichermaßen an der Konstruktion und Dekonstruktion von Stereotypen und Klischees. Da Leistungen im Fremdsprachenunterricht mit den Einstellungen zur Zielkultur korrelieren (Hermann-Brennecke 1991) und Stereotype in Krisenzeiten ins Negative kippen können, ist von großer Relevanz, ein Bewusstsein für Fremdbilder zu entwickeln, diese zu erkennen und zu reflektieren (Schumann 2007). Stereotype sind vor allem mit den Kompetenzbereichen des interkulturellen Lernens, mit der kulturwissenschaftlichen Landeskunde, der Sprach- und Kulturmittlung sowie mit Medien verknüpft. Geeignete Gegenstände im Unterricht dazu sind z. B. Literatur, Musik, Film und andere kulturelle Medien wie z. B. Werbung. Ebenso spielen sie in der Begegnungs- und Austauschdidaktik (↗ Art. 45) eine wichtige Rolle (Vatter 2015). 5. Ausblick Eine besondere Herausforderung stellen Klischees und Stereotype in einem mehrsprachigen und mehrkulturellen Umfeld dar, da sie tendenziell zu einer binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem (↗ Art. 36) beitragen. Im Rahmen einer Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik gilt es daher, die multikulturelle Konstellation im Unterricht dazu zu nutzen, vielfältige Perspektiven auf die Zielkulturen zu entwickeln, diese aktiv aufzugreifen, Wechselwirkungen und Divergenzen der Stereotype aufzuzeigen und zur Entwicklung eines differenzierten Verständnisses vom Anderen zu nutzen. Literatur Allport, G. W. (1954): The Nature of Prejudice . Cambridge, MA. Auernheimer, G. (2003): Einführung in die interkulturelle Pädagogik . Darmstadt. Caspari, D. (2012): Stereotype, Klischees, Vorurteile. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 3/ 2012, 15-16. Heringer, H.-J. (2004): Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte . Tübingen, Basel. Bausinger, H. (1988): Stereotype und Wirklichkeit. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 14, 157-171. Hermann-Brennecke, G. (1991): Vorurteile - eine Herausforderung für den Fremdsprachenunterricht. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2/ 1991, 64-98. Jonas, K. & Schmid Mast, M. (2007): Stereotyp und Vorurteil. In: J. Straub, A. Weidemann & D. Weidemann (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz . Stuttgart, Weimar, 69-76. Lippmann, W. (1922): Public Opinion . New York. 192 ChristophVatter Lüsebrink, H.-J. (2016): Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer . 4. Aufl. Stuttgart. Müller, J. (2004): Von Kampfmaschinen und Ballkünstlern. Fremdwahrnehmung und Sportberichterstattung im deutsch-französischen Kontext. Eine Presse- und Fernsehanalyse . St. Ingbert. Otten, S. (2006): Vorurteil. In: H.-W. Bierhoff & D. Frey (Hrsg.): Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie . Göttingen, 437-443. Schumann, A. (2007): Stereotypen im Französischunterricht. Kulturwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen. In: A. Schumann & L. Steinbrügge (Hrsg.): Didaktische Transformation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Fachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik in der Romanistik . Frankfurt, 113-130. Stanzel, F. K. (1999): Europäischer Völkerspiegel: imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts . Heidelberg. Tajfel, H. (1969): Cognitive Aspects of Prejudice. In: Journal of Social Issues 25, 79-97. Tajfel, H. & Turner, J. C. (1979): An Integrative Theory of Intergroup Conflict. In: W. G. Austin & S. Worchel (Hrsg.): The Social Psychology of Intergroup Relations . Monterey, CA, 33-47. Vatter, C. (2015): Interkulturelles Lernen im Schüleraustausch. In: französisch heute , 4/ 2015, 18-21. Christoph Vatter 35. Landeskunde im Kontext von Mehrkulturalität und Globalisierung 1. Begriff und Entwicklung der Landeskunde Als der aus der Geographie stammende Begriff der Landeskunde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von neuphilologischen Reformern mit den Zielen des Fremdsprachenlernens in Verbindung gebracht wurde, ging es darum, den neusprachlichen Fremdsprachenunterricht, der bis dahin humanistischen Bildungsidealen verpflichtet war, anwendungsorientiert zu gestalten und das Erlernen einer Fremdsprache im Hinblick auf potentielle Sprachkontakte mit dem Erwerb von Kenntnissen über Land und Leute zu verknüpfen (↗ Art. 29). In der Folge übernahm die Landeskunde zunehmend die inhaltliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts, wobei die Frage nach der Auswahl adäquater Inhalte immer wieder kontrovers diskutiert wurde und die Vorstellungen von landeskundlichen Themen, die den Spracherwerb fördern und auf fremdsprachliche Kontakte vorbereiten, mehrfach wechselten. Auf die zunächst kognitive Ausrichtung der Landeskunde (Realienkunde) folgten unter dem Einfluss nationalstaatlichen Denkens in den 1920/ 30er Jahren kulturkundliche Ansätze, bei denen die Erfassung nationaler Wesensarten im Zentrum stand, und nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich ein kommunikativ-pragmatischer Ansatz durch, der Landeskunde als handlungsbezogenes Kontextwissen begriff, das auf sozial adäquates sprachliches Handeln im fremdsprachlichen Alltag und auf kommunikative Partizipation vorbereiteten sollte. Auf der Grundlage neuer kulturanthropologischer Erkenntnisse 193 35. LandeskundeimKontextvonMehrkulturalitätundGlobalisierung erfuhr die Landeskunde ab den 1980er Jahren schließlich eine umfassende Kulturalisierung und entwickelte sich unter Einbeziehung lernerorientierter Zugänge zur interkulturellen Landeskunde (Müller-Jacquier 2001: 1230 ff.). Dabei rückte der Begriff der Kultur (↗ Art. 1) als individueller und kollektiver Erfahrungsraum in den Mittelpunkt und das interkulturelle In-Beziehung-Setzen der eigenen kulturellen Erfahrungen mit denen des fremdkulturellen Lebens wurde zu einer zentralen Kategorie, die sich als das Lernziel der „interkulturellen Kommunikativen Kompetenz“ im Fremdsprachenunterricht durchsetzen konnte (Schumann 2010: 187). 2. Öffnung und Entgrenzung der Landeskunde Die inhaltlichen Gewissheiten der Landeskunde in Form eines eindeutigen Bezuges zu nationalstaatlich definierten Ländern bzw. sprachlich definierbaren Kultur- und Kommunikationsräumen sind unter dem Einfluss der Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten ins Wanken geraten. Postmoderne Gesellschaften (↗ Art. 40) sind von kultureller Heterogenität und Diversität geprägt, und in der fremdsprachendidaktischen Diskussion begegnet man der Kategorie „Land“ zunehmend mit Skepsis, weil sie in ihrer Eigenschaft als Bezeichnung eines national definierten Raumes der Pluralität kultureller Wirklichkeiten nicht mehr zu entsprechen scheint. Die Räume haben sich wirtschaftlich, politisch und kulturell geöffnet, die fortschreitende Digitalisierung sorgt für raumübergreifende Vernetzungen, weltweite Migrationsbewegungen führen zur Vermischung der Weltbevölkerung und zur kulturellen Hybridisierung von Individuen. Es gibt deshalb Vorschläge, den Begriff der Landeskunde durch Begriffe wie „interkulturelles Lernen“, „Kulturstudien“ oder „Kulturdidaktik“ zu ersetzen bzw. ihn mit Hilfe von Zusätzen zu öffnen und zu entgrenzen (u. a. Altmayer 2006; Koreik 2010). In der Praxis findet eine solche Entgrenzung schon seit Langem statt. Die räumliche und kulturelle Öffnung landeskundlicher Themenbereiche begann auf deklarativer Ebene bereits in den 1980er Jahren, als man sich im Zuge der Regionalbewegungen innerstaatlicher Mehrkulturalität bewusst wurde und die Sprach- und Kulturräume, auf die im Fremdsprachenunterricht Bezug genommen wird, über die Mutterländer hinaus ausdehnte und die anglophonen, frankophonen, hispanophonen und deutschsprachigen Länder sowie ihre kolonialen Vergangenheiten als Lerngegenstände in den Blick nahm. Gleichzeitig mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte entwickelte sich die Migration zu einem wichtigen Thema des Fremdsprachenunterrichts und, eng damit verknüpft, auch die kulturelle und ethnische Pluralisierung europäischer und außereuropäischer Gesellschaften. Die entscheidende Öffnung erfolgte aber in Form eines grundlegenden Perspektivenwechsels auf der didaktisch-methodischen und prozessuralen Ebene. Indem die potentiell mehrsprachigen und mehrkulturellen Lebenskontexte der Lerner wahrgenommen und deren spezifische Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster als Ausgangpunkt fremdsprachlicher Lernprozesse ernst genommen wurden, erfuhren auch die inhaltlichen Aspekte des Fremdsprachenunterrichts eine entscheidende Veränderung (↗ Art. 100, 110). Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit ein Konstrukt ist, das von jedem Lerner auf der Grundlage seiner sozialen und kulturellen Erfahrungen sowie den in der Sozialisation erworbenen Deutungsmustern wahrgenom- 194 AdelheidSchumann men und interpretiert wird (Altmayer 2006: 50 f.), weist der Wahrnehmungsperspektive eine zentrale Rolle zu. Die Beschäftigung mit fremden Kulturen im Fremdsprachenunterricht hat aus dieser Sicht das Ziel, Einsichten in die Konstruktivität und Relativität der eigenen Wahrnehmung zu gewinnen und zur Selbstreflexion anzuregen. Dem Fremdsprachenunterricht fällt dabei die Aufgabe zu, mit Hilfe von komplexen landeskundlichen und interkulturellen Themen und lernerorientierten Aufgabenstellungen sowie einem die Vielfalt der Kultur widerspiegelnden Angebot an verschiedenen Texten (Literatur, Presse, Film, Bilder, Internet etc.) Lerngelegenheiten für die Entwicklung plurikultureller Kompetenzen zu schaffen. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18) prägte für dieses Lernziel die Begriffe des savoir, savoir-faire, savoir-être und savoir-apprendre . Gemeint sind damit die Fähigkeiten, Wissen über die soziokulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft zu erlangen, interkulturelle Kommunikationsfertigkeiten (↗ Art. 103) zu entwickeln, die eigene Lernerpersönlichkeit mit ihren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern zu reflektieren sowie neues Wissen in vorhandenes Wissen zu integrieren und ein offenes Sprach- und Kommunikationsbewusstsein zu entwickeln. 3. Entwicklungen in den verschiedenen fremdsprachendidaktischen Fachdisziplinen Die Frage, ob man den Begriff der Landeskunde durch Begriffe wie „interkulturelles Lernen“ (↗ Art. 17, 32) oder „Kulturdidaktik“ ersetzen sollte, wird in den verschiedenen fremdsprachlichen Fachdisziplinen aufgrund differenter Forschungstraditionen unterschiedlich beantwortet. In der Englischdidaktik wurde der Begriff der Landeskunde bereits frühzeitig kritisiert und weitgehend vermieden, stattdessen sprach man von Cultural Studies (Kramer 1987). Vorbild waren die im Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham in den 1960er Jahren entwickelten gesellschaftskritischen Kulturstudien, die sich zentralen sozialen Differenzen wie class, gender, race, generation widmeten und einen breiten Kulturbegriff unter Einbeziehung populärer kultureller Praktiken (z. B. Pop, Comics) und alltäglicher Lebensgewohnheiten vertraten. Heute wird in der Anglistik vorzugsweise von Kulturdidaktik gesprochen (Hallet 2010). In der Romanistik entstand in den 1970/ 80er Jahren unter Führung des Deutsch-Französischen Institutes in Ludwigsburg eine sozialwissenschaftlich orientierte Landeskundeforschung und -didaktik, die in den Stuttgarter Thesen zur Rolle der Landeskunde im Französischunterricht (Robert Bosch Stiftung 1982) zur Diskussion gestellt wurde. Darin wurden transnationale und transkulturelle Kommunikationsfähigkeiten als Lernziel für den Französischunterricht propagiert. Dieser Konzeption lag ebenfalls ein breiter Kulturbegriff zugrunde, der Alltagspraktiken einschloss und im Verlauf der 1990er Jahre die neueren Entwicklungen in den Kulturwissenschaften integrierte. Gleichzeitig wurde die Landeskundeforschung in Form von interdisziplinären Kulturraumstudien vorangetrieben (Lüsebrink 1998). Im Fach Deutsch als Fremdsprache sind in der Landeskundediskussion vergleichbare Entwicklungen von einer Integrierten Landeskunde mit enger Verknüpfung sprachlicher und landeskundlicher Lernziele zu einer kulturwissenschaftlichen Landeskunde (Altmayer 2006: 54) festzustellen. Im Zuge der intensiven Zuwanderung von Migranten nach Deutschland, sieht sich das Fach Deutsch als Fremdsprache aber auch mit 195 36. Didaktikdes Fremdverstehens der Aufgabe konfrontiert, Integrationskurse zu entwickeln, die ganz im Sinne der traditionellen Integrativen Landeskunde die Entwicklung eines Orientierungswissen fördert, das konkret auf das gesellschaftliche Leben in Deutschland ausgerichtet ist und die Lerner auf sprachliche und gesellschaftliche Partizipation vorbereitet (↗ Art. 105). 4. Perspektiven der Landeskunde Trotz dieser fachspezifischen Differenzen im Umgang mit dem Begriff der Landeskunde besteht über alle Fächergrenzen hinweg Einigkeit darin, dass die inhaltliche Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts interkulturelle Wahrnehmungsprozesse fördern sollte und nur eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Landeskunde der Pluralität und Diversität moderner Gesellschaften Rechnung tragen kann. Dabei spielen landeskundliche Themen bei der Entwicklung komplexer Lernsettings nach wie vor eine wichtige Rolle, wie ein Blick in die aktuellen Lehrwerke (↗ Art. 46) aller schulischen Fremdsprachen zeigt. Literatur Altmayer, C. (2006): Kulturelle Deutungsmuster als Lerngegenstand. Zur kulturwissenschaftlichen Transformation der Landeskunde. In: Fremdsprachen lehren und lernen 35, 44-59. Hallet, W. (2010): Kulturdidaktik. In: C. Surkamp (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik . Stuttgart, 152-156. Koreik, U. (2010): Landeskunde, Cultural Studies und Kulturdidaktik. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . Seelze-Velber, 133-136. Kramer, J. (1997): British Cultural Studies . München. Lüsebrink, H.-J. (1998): Landeskunde versus Kulturwissenschaft? Überlegungen zur Neuentwicklung in der Romanistik. In: Frankreich-Jahrbuch 1998. Opladen, 215-223. Müller-Jacquier, B. (2001): Interkulturelle Landeskunde. In: G. Helbig, L. Götze, G. Henrici & H.-J. Krumm (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch . Berlin, New York, 1230-1234. Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) (1982): Fremdsprachenunterricht und internationale Beziehungen. Stuttgarter Thesen zur Rolle der Landeskunde im Französischunterricht. Stuttgart. Schumann, A. (2010): Landeskunde. In: C. Surkamp (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik . Stuttgart, 152-160. Adelheid Schumann 36. Didaktik des Fremdverstehens 1. Definition Die ‚Didaktik des Fremdverstehens‘ wurde hauptsächlich in den 1990er Jahren im gleichnamigen Gießener Graduiertenkolleg entwickelt und versucht als ein auch die Migration inkludierender Ansatz des interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen (Eberhardt 2013: 19 f.). Zugleich war mit der Didaktik des Fremdverstehens eine Aufwertung der kulturellen Dimension fremdsprachlichen Lehrens und Lernens im Vergleich zu den bis dato existierenden landeskundlichen Ansätzen verbunden (↗ Art. 35). Laut Bredel- 196 Jan-OliverEberhardt la & Christ (1995: 10) sollte die Kulturspezifik verbaler und non-verbaler Ausdrücke nicht länger ignoriert und die Kommunikation in einer fremden Sprache nicht trivialisiert werden: „Die Trivialisierung ergibt sich daraus, dass man meint, dass diejenigen, die dieselbe Sprache sprechen, sich problemlos verstehen. Verstehen wird dann als ein regelgeleitetes Dekodieren aufgefasst, und es wird unterschlagen, dass alles Verstehen auch ein kreativer Akt ist (…) [und] neben der Kenntnis der Sprache unser weltliches Wissen und unsere volle Aufmerksamkeit für die jeweilige Situation erfordert“. ‚Fremdverstehen‘ beinhaltet nicht nur ein übergreifendes Ziel interkulturellen Lernens, sondern bezieht sich auch auf konkrete interkulturelle Lernaktivitäten. Eine prägnante Arbeitsdefinition von Fremdverstehen liefert Christ (1997: 8): „Von Fremdverstehen sprechen wir dann, wenn zwei Partner, die einander verstehen wollen, unterschiedliche, kulturell bedingte Referenzrahmen haben. Das ist z. B. immer dann (aber nicht nur dann) der Fall, wenn sie verschiedene Sprachen als Muttersprachen sprechen und sich folglich in einer ihnen fremden Sprache verständigen müssen“. Demzufolge zielt Fremdverstehen darauf ab, dass sämtliche relevanten Phänomene einer fremden Kultur, insbesondere Äußerungen und Verhaltensweisen der heterokulturellen Sprachpartnerinnen und -partner, in deren Bezugsrahmen gesehen werden. Das Einnehmen der Perspektive des Fremden stellt eine komplexe Herausforderung für jeden Menschen dar, weil dieser stets die Dinge zunächst von außen mit seinen eigenen Augen sieht, mit seinen eigenen Wahrnehmungskategorien und Einstellungen (Bredella 2010: 302 f.). Demzufolge erfordert Fremdverstehen in erster Linie die Bereitschaft und Fähigkeit zum Wechsel von Außen- und Innenperspektive, wodurch letztlich auch eine Relativierung der eigenen Sichtweise sowie eine Transformation des eigenen Selbst- und Weltverständnisses bewirkt werden. Dabei meint eine Relativierung gewohnter Vorstellungen weder eine unkritische Übernahme fremdkultureller Sichtweisen, noch das Verhaftet-Bleiben in den Sichtweisen und Maßstäben der eigenen Kultur. An dieser Stelle werden letztlich auch konzeptuelle Parallelen zu den Ausführungen von Hanvey (1979) sichtbar, welcher vier Stufen des interkulturellen Verstehens voneinander unterscheidet: während die erste Stufe durch die Wahrnehmung oberflächlicher kultureller Merkmale gekennzeichnet ist, zeichnet sich die vierte Stufe durch ein Bewusstsein dafür aus, wie sich fremde Kulturen aus der Perspektive der heterokulturellen Sprachpartner anfühlen. Die Frage nach der Ausprägung von Fremdverstehen warf immer schon die Frage auf, inwiefern Fremdverstehen überhaupt möglich ist: Aber dieser Auffassung, dass sich der Fremdsprachenunterricht um interkulturelles Verstehen bemühen müsse, steht die Auffassung gegenüber, dass wir andere gar nicht verstehen können, weil wir, vereinfacht gesagt, jeweils in unserer Kultur und unserer Sprache gefangen seien und Verstehen nichts Anderes als Projektion sei. (Bredella 1994: 21) Hunfeld (1998) mahnt in diesem Zusammenhang die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Eigenen und dem Fremden an, welche es in einem hermeneutisch orientierten Fremdsprachenunterricht anzuerkennen gelte. Vor dem Hintergrund der multikulturellen Gesellschaft sei der Kontakt mit Fremdem zudem eine Selbstverständlichkeit, erst die Wahrnehmung des Fremden als Normalität schaffe die Bedingungen für einen interkulturellen Dialog. In seiner Kritik an der west- 197 36. Didaktikdes Fremdverstehens lichen Ethnologie bezeichnet Said (1978) die okzidentalische Intention, das orientalische Fremde zu verstehen, gar als Wille zur Macht, als Vereinnahmung des Anderen. Die wichtigsten Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens betonen dagegen, dass das Verstehen des Anderen stets begrenzt und unvollständig sei und immer auch ein Nicht-Verstehen impliziere (Bredella 1994: 26). Interkulturelles Verstehen könne deshalb nur gelingen, wenn sowohl den Differenzen als auch den Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen Rechnung getragen werde (Bredella 1994: 28). Im Hinblick auf die fremdsprachenunterrichtliche Praxis ist von Relevanz, dass ein Fremdverstehen in realen und virtuellen Kommunikations- und Kontaktsituationen (↗ Art. 102, 103), aber auch bei der Lektüre von Texten, beim Betrachten von Bildern, beim Hören von Musik oder beim Schauen von Filmen zum Tragen kommt (↗ Art. 42). 2. Landeskunde versus Didaktik des Fremdverstehens Ungeachtet der Bedeutung des ‚Fremdverstehens‘ darf die Didaktik des Fremdverstehens nicht auf diese Begrifflichkeit reduziert werden. Die Didaktik des Fremdverstehens orientiert sich weder am lange Zeit richtungsweisenden native speaker , noch am Touristen, sondern - in Anlehnung an nordamerikanische und britische sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Diskurse zu interkulturellem Fremdsprachenunterricht (Byram 2009) - am sogenannten intercultural speaker . Jenes Leitbild trägt sowohl der gesellschaftlichen sprachlich-kulturellen Diversität als auch der spezifischen kulturellen Identität von Menschen Rechnung, wodurch konzeptuelle Parallelen zu den Entstehungsbedingungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) sichtbar werden (Manno et al. 2016). Ausgehend vom Leitbild des intercultural speaker grenzt sich die Didaktik des Fremdverstehens in vielerlei Hinsicht deutlich von landeskundlichen Ansätzen (↗ Art. 35) ab. Folglich soll interkulturelles Lernen (↗ Art. 32) im Sinne der Didaktik des Fremdverstehens nicht beschränkt werden auf ein wissensorientiertes Lernen, auf eine Gegenüberstellung von Ausgangs- und Zielkultur, auf eine Betonung kultureller Unterschiede sowie auf zukünftige interkulturelle Begegnungssituationen. Stattdessen soll die eigene multikulturelle Lebensumgebung, besonders der jeweilige Klassen- und Schulkontext, genutzt werden, um interkulturelle Lernprozesse auf kognitiver, affektiver und handlungsbezogener Ebene zu initiieren. Fremdverstehensprozesse sollen, wie oben gesagt, zudem auch kulturelle Gemeinsamkeiten berücksichtigen und zu einem reflektierten Umgang mit Auto- und Heterostereotypen sowie Vorurteilen (↗ Art. 34) führen, um der Diversität von Kulturen gerecht zu werden. Somit verfolgt die Didaktik des Fremdverstehens auch allgemeine Erziehungsziele wie Persönlichkeitsbildung, Identitätsstärkung und kritisches Beurteilungsvermögen. Einhergehend damit sind im Kontext der Didaktik des Fremdverstehens Kulturkonzeptionen vorherrschend, welche ‚Kultur‘ als flexibel, dynamisch und nationenungebunden erachten und die individuellen und kollektiven Identitäten von Menschen berücksichtigen. Trotz der Abkehr von einem bikulturellen Lernen und von einem statischen Verständnis von Kulturen sahen sich die Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens mit der Kritik konfrontiert, dass die Polarisierung zwischen ‚Fremdem‘ und ‚Eigenem‘ eine künstliche Dichotomie darstelle und andere Menschen 198 Jan-OliverEberhardt dadurch fremd gemacht würden. ‚Fremdheit‘ könne zudem nicht als objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen abgesehen werden, sondern stelle eine Zuschreibung dar (Hu 1997: 36). Vor dem Hintergrund der Mehrkulturalität unserer Gesellschaft weist auch Bredella (1995: 25) darauf hin, dass oft vergessen werde, „dass viele von uns sich ständig zwischen den Kulturen bewegen, so dass gar nicht mehr so eindeutig bestimmbar ist, was das Eigene und was das Fremde ist“. 3. Didaktik des Fremdverstehens und Kompetenzorientierung Die konzeptuellen Ausführungen fremdsprachendidaktischer Diskurse interkulturellen Lernens wurden seit Beginn der 2000er Jahre mit der Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (↗ Art. 18) und den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache sowie der damit verbundenen Outputorientierung des Fremdsprachenunterrichts konfrontiert, im Rahmen derer ‚interkulturelle Kompetenz‘ einen Schlüsselbegriff darstellt. Zahlreiche Vertreter der Didaktik des Fremdverstehens - auch Lothar Bredella und Herbert Christ, die Väter des Gießener Graduiertenkollegs - standen der Kompetenzorientierung in diesem Sinne kritisch gegenüber. Im Zentrum der daraus hervorgegangenen fremdsprachendidaktischen Diskurse stand die grundlegende Frage nach der Eignung interkultureller Lernziele für einen kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 43). In der Wahrnehmung von Hu (2008: 15) kam es in diesem Zusammenhang zu einem Aufeinanderprallen zweier Diskurse, die sich in ihren Anliegen, Prämissen und methodischen Zugängen deutlich voneinander unterscheiden und letztlich eine gewisse Unvereinbarkeit nahelegen. Ginge es innerhalb der Didaktik des Fremdverstehens vor allem um Themen wie „Identität“, „kultureller Komplexität“, „Mehrsprachigkeit“, „Hybridität“, „Verstehen“, „Deutungsmuster“, „Vielfalt“, „Überlappung“, „Intertextualität“, „Bedeutung“ und „Sinn“, so zeichne sich die Kompetenzorientierung durch Schlüsselbegriffe aus wie „Qualität“, „Kompetenz“, „Standardisierung“, „Strategie“, „Bildungsmonitoring“, „Wettbewerb“, „Tests“, „Leistungsfähigkeit“, „Rankings“, „Evaluation“, „Effizienzorientierung“, „Wissensmanagement“, „Kontrolle“, „Verwertbarkeit“, „Exzellenz“, „Internationalisierung“ und „Akkreditierung“. Weniger auf der Ebene der Widersprüchlichkeit von Grundbegriffen und Paradigmen, sondern eher auf konzeptueller Ebene des Konstrukts interkultureller Kompetenz sind standardkritische Positionen gelagert, die insbesondere affektiv-motivationale interkulturelle Lernziele - wie beispielsweise die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel oder zum Verstehen fremdkultureller Wertvorstellungen - per se als unvereinbar mit der Kompetenzorientierung und als schwer operationalisier- und messbar einstufen (Eberhardt 2013). Unabhängig von der nach wie vor kontrovers geführten Debatte um die Vereinbarkeit interkulturellen Lernens mit einem standardorientierten Fremdsprachenunterricht hat sich das Aufeinandertreffen der Didaktik des Fremdverstehens und der Kompetenzorientierung letztlich folgendermaßen auf den heutigen fachdidaktischen Diskurs ausgewirkt: • Der Begriff des Fremdverstehens sowie die Lernziele der Didaktik des Fremdverstehens sind auf konzeptueller Ebene umfassend diskutiert. Stattdessen dominiert das Konzept der interkulturellen oder transkulturellen Kompetenz (↗ Art. 41) sämtliche forschungsbasierten und 199 36. Didaktikdes Fremdverstehens unterrichtspraktischen Diskurse um interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. • Dennoch existiert eine große Bandbreite an Fremdsprachenlehrmitteln und Lernmaterialien (↗ Art. 46), welche die Schülerinnen und Schüler explizit zum Perspektivenwechsel und zur Relativierung eigenkultureller Sichtweisen auffordern (Eberhardt 2013: 191 f.). Zugleich sind heutzutage in zahlreichen nationalen und regionalen Fremdsprachencurricula wie auch in fachdidaktischen Modellen interkultureller Kompetenz zahlreiche Teilkompetenzen und Teilaspekte aufgeführt, welche Begrifflichkeiten der Didaktik des Fremdverstehens widerspiegeln, wie beispielsweise ‚Perspektivwechsel‘, ‚Perspektivenübernahme‘, ‚Hineinversetzen‘, ‚Empathiefähigkeit‘, ‚Relativierung eigener Weltwahrnehmungen und Wertvorstellungen‘ oder ‚kritische Bewertung des Eigenen und des Fremden‘. Ein sehr prominentes Instrument zur Beschreibung interkultureller und mehrsprachiger Kompetenzen stellt der am Europäischen Fremdsprachenzentrum im Jahr 2007 herausgegebene Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen dar (Candelier et al. 2007) (↗ Art. 20), welcher sowohl der Erstellung von Curricula, als auch der konkreten Unterrichtsgestaltung dienlich sein kann. • Aus der immer noch andauernden Debatte um die Operationalisierbarkeit und Standardisierung interkultureller Lernziele sind zahlreiche empirische Studien hervorgegangen, welche sich der Förderung und Messung interkultureller Teilkompetenzen und Teilaspekte widmen. Angesichts der Komplexität interkultureller Kompetenz nehmen die weiter oben beschriebenen Lernziele der Didaktik des Fremdverstehens dabei nur eine marginale Rolle ein. Literatur Bredella, L. (1994): Interkulturelles Verstehen zwischen Objektivismus und Relativismus. In: K.-R. Bausch, H. Christ & H.-J. Krumm (Hrsg.): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen, 21-30. Bredella, L. (1995): Verstehen und Verständigung als Grundbegriffe und Zielvorstellungen des Fremdsprachenlehrens und -lernens? In: L. Bredella (Hrsg.): Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen? Dokumentation des 15. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der DGFF in Gießen . Bochum, 1-34. Bredella, L. (2010): Fremdverstehen und interkulturelles Verstehen. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze-Velber, 302-307. Bredella, L. & Christ, H. (1995): Didaktik des Fremdverstehens im Rahmen einer Theorie des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. In: L. Bredella & H. Christ (Hrsg.): Didaktik des Fremdverstehens . Tübingen, 8-19. Byram, M. (2009): Intercultural Competence in Foreign Languages. The Intercultural Speaker and the Pedagogy of Foreign Language Education. In: D. K. 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Jan-Oliver Eberhardt 37. Von der Egalitätshypothese zur Global Education 1. Definition und Rahmung Im Kontext der interkulturellen Bildung steht das Verhältnis zwischen dem „Anderen“ und dem „Eigenen“ immer wieder im Zentrum vielfältiger Diskurse. Die Auseinandersetzung mit Differenz, Interkulturalität und Diversität hat Implikationen für Bildungsprozesse und eine Reihe unterschiedlicher Ansätze in der Fremdsprachendidaktik hervorgebracht. Unter den verschiedenen Paradigmen und Stadien der Thematisierung kultureller Differenz unterscheidet Allemann-Ghionda (2013) die Defizithypothese, die Differenzhypothese, die Diversitätshypothese und die Egalitätshypothese, die jeweils dem Phänomen der kulturellen Differenz einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen (↗ Art. 16). Die Egalitätshypothese wird einem Paradigma zugeschrieben, bei dem die Diskriminierung des Individuums oder auch von Gruppen auf sozioökonomische Gründe und allgemeine Machtdisparitäten zurückzuführen ist (Allemann-Ghionda 2013: 51) und weniger auf kulturelle Differenz. Sie wird daher gemeinhin mit einer Kritik am Multikulturalismus assoziiert, weil Kulturzugehörigkeit als weniger relevant für Differenzerfahrungen gesehen wird als die sozioökonomische Dimension der Lebenswelt. Eine übergreifende interkulturelle Perspektive auf das Fremdsprachenlernen wird u. a. dafür kritisiert, solche Parameter weniger zu berücksichtigen und eine Reduktion der Lerner auf ihre nationale Herkunft zu verstärken (Altmayer 2016: 18). Aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Gewichtung von Differenzkategorien haben sich kulturwissenschaftliche Zugänge entwickelt, 201 37. VonderEgalitätshypothesezur Global Education die neue Ansätze kulturellen Lernens, z. B. Global Education oder citizenship education (Byram 2008; Lütge 2015) für die Fremdsprachendidaktik rezipieren. 2. Entwicklungen im historischen Rückblick Die vergleichende Beschäftigung mit Kultur geht einerseits auf die amerikanische Kulturanthropologie zurück und ist hier insbesondere mit dem Namen Edward T. Hall (vgl. Hall 1959) verbunden, der unterschiedliche Dimensionen von Interkulturalität wie kulturdifferente Positionierungen im Raum, unterschiedliche Umgangsweisen mit Zeit und den Unterschied zwischen kontextabhängigen und kontextunabhängigen Kulturen diskutiert (vgl. Altmayer 2016: 16). Auch über das in den 1960er Jahren entstandene Forschungsfeld der interkulturellen Kommunikation (↗ Art. 33) wurden diese Ansätze rezipiert (vgl. Haas 2009). Als zweite Quelle des Interkulturalitätsparadigmas benennt Altmayer die Erfahrung der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit und die Diskussion um eine interkulturelle Pädagogik, die sich von einer paternalistischen „Ausländerpädagogik“ absetzte (Altmayer 2016: 16) und die Notwendigkeit betonte, die spezifischen kulturellen Identitäten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (↗ Art. 100) in den Dialog um interkulturelles Verstehen zu integrieren (dazu auch Auernheimer 2003: 22). Es ist wenig verwunderlich, dass interkulturelle Erziehung, die sich als pädagogische Antwort auf internationale Migrationsflüsse versteht, kulturelle Differenz dabei zunächst noch stark mit Aspekten der Ethnizität verband, während heute zunehmend eine Bildungsidee postuliert wird, die alle Formen der Pluralität und der Diversität integriert. Für die Fremdsprachendidaktik wurde die Diskussion über Interkulturalität einerseits aus dem Fach Deutsch als Fremdsprache vorangetrieben und seit Mitte der 1980er Jahre umfassend weiterentwickelt (↗ Art. 105, 106). Dabei stand hier und in den anderen Fremdsprachendidaktiken der aus der Pädagogik entlehnte Begriff des interkulturellen Lernens im Vordergrund (Altmayer 2016: 16; Bausch et al. 1994). Der Fremdsprachenunterricht habe sich demnach auch an Lernzielen wie dem „Aushalten von Verschiedenheit“ und der „Sensibilisierung für andere Sprach- und Verhaltensformen“ auszurichten (Altmayer 2016: 16). Mit der Entwicklung des hermeneutischen Konzepts des Fremdverstehens in den 1990er Jahren (↗ Art. 36), bei dem die Vermittlung zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive (Bredella 2010) zentral in den Fokus rückte, wurde auch die kritische Reflexion der eigenen Perspektive als wichtiges didaktisches Prinzip neu eingeführt. Seit der Jahrtausendwende ist mit dem Begriff der interkulturellen Kompetenz das Modell von Michael Byram (1997) in den Blick gerückt, bei dem es um das Miteinander kognitiver, affektiver, handlungsbezogener Teilfähigkeiten und um kritische Kulturbewusstheit geht. Weiterentwicklungen dieses Diskurses hin zu einem umfassenderen Anspruch kulturellen Lernens im Rahmen pluraler Bildung und eines Konzeptes von global citizenship scheinen geeignet zu sein, auf nationale und ethnische Parameter verengte Modellierungen von Differenz zu erweitern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die bildungstheoretischen Vorstellungen über Bildung und Erziehung im Kontext kultureller Differenz also erheblich gewandelt, aber hier handelt es sich keineswegs um einen gleichförmig verlaufenden und quasi linearen Prozess, der einzelne Phasen chronologisch abbildet. Allemann-Ghi- 202 ChristianeLütge onda (2013: 52) unterscheidet verschiedene Schwerpunkte der Diskurse über die Thematisierung von Differenz und identifiziert verschiedene Paradigmen, die sich teilweise auch zyklisch wiederholen. Gemäß der Defizithypothese, die in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielte, wird das Erleben von Differenz als defizitär und somit veränderungsnotwendig betrachtet und - etwa im Rahmen einer als prä-interkulturell beschriebenen Ära der „Ausländerpädagogik“ - mit dem Ziel der Assimilation betrieben. Die Differenzhypothese (ab ca. Mitte der 1970er Jahre) sieht soziokulturelle und sprachliche Differenz hingegen als positiv und steht im Kontext eines multikulturellen Paradigmas. Ziel dieser Bemühungen um interkulturelle Bildung ist dabei die Integration des oder der Anderen. Ein weiteres Stadium wird in der Diversitätshypothese modelliert, die ab Beginn der 1990er Jahre an Bedeutung gewann. Demnach werden neben kultureller Differenz auch andere Dimensionen der Diversität betrachtet, z. B. sprachliche, religiöse, sozio-ökonomische oder geschlechtsspezifische. Erziehung zur Pluralität im Kontext einer Pädagogik der Vielfalt steht hier im Blickpunkt. Ein viertes Paradigma findet sich in der Egalitätshypothese, die mit einer Kritik am Multikulturalismus Hand in Hand geht und bei der das Primat des Sozioökonomischen stark dominiert. Eine interkulturelle Pädagogik wird demnach als wenig wirksam gesehen. Ziel sei vielmehr eine Pädagogik der Gleichbehandlung, die nur erreicht werden könne, wenn die Ursachen der Diskriminierung strukturell bekämpft würden. Letzterer Ansatz hat gemäß Allemann-Ghionda zyklisch immer wieder Konjunktur (Allemann-Ghionda 2013: 51). Ein eher universalistisch geprägtes Verständnis von Differenz, wie es in der Egalitätshypothese zum Ausdruck kommt, kann dafür kritisiert werden, wiederum im Namen der Gleichbehandlung bestimmte Faktoren wie ethnisch und kulturell bedingte Differenz zu vernachlässigen. Universalistisch geprägte Ansätze, die die Gemeinsamkeiten stärker als die Differenzen fokussieren, sind konzeptionell - ansatzweise - erkennbar in Modellierungen des global citizen und in übergreifenden Konzepten globalen Lernens, das verbindende, kulturell übergreifende Themen und Fragestellungen berührt. 3. Aktuelle Entwicklungen im internationalen Vergleich Im angloamerikanischen Kontext und in französischsprachigen Diskursen haben sich die Begriffe citizenship education/ éducation à la citoyenneté bereits weitgehend etabliert und interkulturelle Bildung bzw. multikulturelle Bildung ersetzt. Global Education als allgemeiner Oberbegriff stellt eine pädagogische Antwort auf Internationalisierung und Globalisierung dar. Dabei werden Aspekte wie Friedenserziehung (↗ Art. 39), Umweltbildung und entwicklungspolitische Bildung im Kontext globaler Zusammenhänge aufgegriffen (vgl. De Florio-Hansen 2002; Cates 2000). Cates definiert vier Zielbereiche für Global Education : (1) Wissen: über Länder und Kulturen, globale Probleme, ihre Ursachen und mögliche Lösungen, (2) Fertigkeiten: kritisches Denken, kooperatives Problemlösen, Konfliktbewältigung, Perspektivenwechsel, (3) Einstellungen: global awareness , kulturelle Würdigung, Anerkennung von Diversität, Empathie, (4) lokale Handlungsfähigkeit: „The final aim of global learning is to have students think globally and act locally.“ (Cates 2000: 241) Michael Byram hat ältere Konzeptionen interkulturellen Lernens (Byram 1997) 203 um globale Themen erweitert und Education for Intercultural Citizenship als wichtige Aufgabe auch für den Fremdsprachenunterricht perspektiviert (Byram 2008). Im Kontext der UNESCO-Ziele für Nachhaltige Entwicklung stehen auch globale Bildungsziele wie Global Citizenship Education im Zentrum, die in verschiedenen Programmen (UNESCO 2018) mit dem Anspruch internationaler Kompatibilität verfasst wurden. Eine Reihe verschiedener citizenship -Konzeptionen haben sich in der Folge etabliert ( world citizenship, planetary citizenship, environmental citizenship ) und greifen dabei dezidiert nicht national-kulturelle, sondern eher universalistische Tendenzen auf. Das Konzept „Globale Kompetenz“ wird im OECD PISA Global Competence Framework (OECD 2018) als die Kombination von vier Dimensionen beschrieben ( examining issues, understanding perspectives, interacting, and acting ), die sich dabei auch an vorhergehende Modelle anlehnen und die Komponenten wie „ knowledge, skills, attitudes, values “ mit einbeziehen. Hier werden zudem erstmalig auch Ansätze zur Evaluation globaler Kompetenzen entwickelt. 4. Perspektiven und Ausblick Die Weiterentwicklung von Konzepten globalen Lernens mündet einerseits in Bemühungen, Themen wie Nachhaltigkeit zu stärken (z. B. Bildung für nachhaltige Entwicklung, Lernbereich Globale Entwicklung, KMK 2015), andererseits aber auch werteorientierte Konzepte zu stärken, insbesondere Demokratielernen (↗ Art. 9), und thematisch in das Fremdsprachenlernen zu integrieren. Das Paradigma der Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) dagegen steht momentan unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck (vgl. Altmayer 2016: 18), da hier immer noch v. a. auf nationalkultureller Ebene argumentierende Ansätze zunehmend in die Kritik geraten. Der alternative kulturtheoretische Diskurs, der mit Begriffen wie Hybridität, Third Space und Transkulturalität (↗ Art. 41) der Komplexität der globalisierten Welt stärker gerecht zu werden versucht, betont mehr Gemeinsamkeiten beim kulturellen Lernen und bezieht dabei begrifflich Inklusion und Diversität mit ein. Bildung unter pluralen Bedingungen mag durchaus als eine Herausforderung und wichtige Aufgabe für die Demokratie gesehen werden und dabei einen ethnozentrischen und exkludierenden Habitus zu überwinden versuchen. Ob das Ziel, Menschen auf eine komplexe “ world citizenship ” (Nussbaum 1998: 295) vorzubereiten, in der pädagogischen Rahmung immer befriedigend gelingen kann, mag durchaus noch zu diskutieren sein. In jüngster Zeit werden Erweiterungen des globalen Lernens und des Citizen -Konzepts sichtbar, die die Auswirkungen der Digitalisierung auf Bildungsprozesse aufgreifen und hier insbesondere Digital Global Citizenship als neue Konzeption modellieren, die fächerübergreifend, aber auch mit Blick auf die Didaktik der modernen Fremdsprachen immer stärkere Bedeutung erlangt (Ribble 2015; Watanabe & Churches 2017; McCosker, Vivienne & Johns 2016). Literatur Allemann-Ghionda, C. (2009): From Intercultural Education to the Inclusion of Diversity: Theories and Policies in Europe. In: J. A. 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Definition Diskriminierung im Sinne von Zurücksetzung, Beleidigung, Benachteiligung, Ausgrenzung oder Herabsetzung von Einzelnen oder Gruppen spielt im Kontext von Mehrkulturalität ebenso eine Rolle wie dahinterstehende Einstellungen, Werte, Klischees und Stereotype (↗ Art. 34). Diskriminierung in verschiedenen Ausprägungen betrifft das Miteinander zwischen Lehrenden und Lernenden oder auch die Inhalte von Unterricht und insbesondere auch eines Sprachunterrichts, in dem kulturspezifische Themen und Inhalte berücksichtigt werden. 205 38. DiskriminierungundAusgrenzungimKontextvonMehrkulturalität Diskriminierung erfolgt entlang von sozialen Strukturkategorien wie Ethnie, Schicht, Geschlecht (im Englischen: race, class, gender ) oder auch entlang von Religion, Behinderung, politischer Überzeugung, sexueller Orientierung, Alter oder Sprache. Sie kann auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, auf struktureller und institutioneller Ebene oder auch symbolisch und sprachlich erfolgen. In den Erziehungswissenschaften (↗ Art. 16) und in den Fremdsprachendidaktiken (↗ Art. 17) werden seit den 1990er Jahren universalistische, partikularistische oder auch dekonstruktivistische Positionen in Diskursen zu interkulturellem Lernen vertreten (vgl. z. B. Allemann-Ghionda 1997). Darüber hinaus gibt es Argumentationen, die rassistische Denk- und Handlungsweisen oder auch systemische Diskriminierung anprangern und explizit eine antirassistische Pädagogik vertreten (z. B. Kalpaka & Räthzel 1990; Dirim & Mecheril 2018). Auch in den Sprachdidaktiken werden individuelle wie strukturelle Diskriminierungen zum Gegenstand gemacht, so z. B. bei Fragen der Bildungsgerechtigkeit (Rösch 2017: 133 ff.), und Ansätze einer Aufbrechung verfolgt. 2. Forschungsdiskurse im historischen Rückblick Kritik an der normativ angelegten Defizit-Hypothese (↗ Art. 37), die Minderheitenangehörige am Maßstab der Mehrheit maß und ihre sprachlichen wie kulturellen Defizite durch Assimilation aufheben wollte, und an der Differenz-Hypothese (↗ Art. 32), die ethnische und kulturelle Unterschiede vor allem in folkloristischen Bereichen wie Musik, Tanz, Kleidung und Esskultur verhandelte, führte in den 1980er Jahren in den Erziehungswissenschaften zu antirassistischen Argumentationen, in denen die Stigmatisierung der Fremden als Fremde, die Vernachlässigung gesellschaftspolitischer und sozioökonomischer Dimensionen, die Exotisierung des Fremden und eben auch die mangelnde Berücksichtigung rassistischer Diskriminierungen kritisiert wurden (z. B. Kalpaka & Räthzel 1990). Eine interkulturelle Pädagogik (↗ Art. 16), die auf die Integration von Minderheiten durch den Konsum exotischer Gerichte oder folkloristischer Musik auf Schulfesten ziele, vernachlässige politische und ökonomische Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung und verfehle damit das Wesentliche. Der antirassistischen Pädagogik geht es insgesamt um die Demontage rassistischer Denkstrukturen und Handlungsweisen. Kritisiert werden offen diskriminierende Handlungsweisen wie physische und verbale Gewalt ebenso wie versteckter und unbewusster Rassismus mit seiner selbstverständlichen und unhinterfragten Abwertung der Fremden. Dazu gehört auch paternalistischer Rassismus z. B. in Gestalt der wohlmeinenden Hilfe gegenüber als hilflos und minderwertig erachteten Minderheiten, da damit erneut eine hierarchische Struktur und die Unterlegenheit der Anderen bestätigt werde. Wenn dieser kritische Blick auf Schwarz- Weiß-Denken und das Aufzeigen rassistischer Strukturen zwar sinnvoll und notwendig sind, so beinhalten sie dennoch eine grundlegende Schwäche. Die Dichotomisierung der eigenen und fremden Kulturen (↗ Art. 36) sowie die Einstufung jeglicher Denk- und Verhaltensweisen als rassistisch führen zu einer kontraproduktiven Stagnation. Wenn jegliches Verhalten als rassistisch eingestuft wird, dann ist eine „richtige“ und politisch korrekte Handlungsweise per se ausgeschlossen. Diese Position kann in ihrem Absolutheitsanspruch 206 ChristianeFäcke dann als dogmatisch kritisiert werden und führte zur Krise des Antirassismus (Taguieff 1991). Aus dieser Kritik an der Eindimensionalität des Antirassismus erfolgt eine Öffnung der Positionen in den folgenden Jahren und eine Pädagogik der soziokulturellen Vielfalt setzt sich durch. Diversität entwickelt sich zu einem Paradigma, mit dem die Interdependenz verschiedener sozialer Strukturkategorien gefasst werden kann. Damit wird Differenz nicht nur kulturell oder ethnisch begründet, sondern weitere Diskriminierungskategorien wie Geschlecht, Religion, Sprache, sexuelle Orientierung oder Behinderung werden in ihrer Verflechtung miteinander berücksichtigt. Die Zugehörigkeit eines Menschen zur Mehrheit oder Minderheit ist damit abhängig je nach Kontext der Betrachtung. Zielsetzungen bestehen in der Förderung einer Sensibilität für Diversität (Allemann-Ghionda 1997: 6). Eine Form struktureller und institutioneller Diskriminierung im Schulsystem wird in den Erziehungswissenschaften in den 1990er Jahren besonders massiv kritisiert: Es handelt sich um den monolingualen Habitus im Schulsystem Deutschlands (Gogolin 1993), d. h. eine Form der Diskriminierung durch Sprache. Das deutsche Schulsystem, das sich ausschließlich der deutschen Sprache bedient, diskriminiere Schülerinnen und Schüler mit anderen Erstsprachen (und häufig mit Migrationshintergrund), die aufgrund geringerer Deutschkenntnisse benachteiligt würden (↗ Art. 105). Gleichzeitig seien die Herkunftssprachen infolge ihres faktisch geringen Sprachprestiges im Schulsystem nicht gewürdigt, Sprachkenntnisse in Türkisch oder Serbisch würden nicht in gleicher Weise als schulische Leistung anerkannt wie Sprachkenntnisse in Englisch oder Französisch. Insgesamt gibt es in der Pädagogik bis heute einen umfangreichen Forschungsdiskurs über Diskriminierungsmechanismen im Schulsystem im Allgemeinen (z. B. Fereidooni 2016; Scherr et al. 2017) sowie über Diskriminierung von Minderheitenangehörigen und Migranten im Besonderen (z. B. Mecheril 2004; Dirim & Mecheril 2018) und die Einforderung bewusster Auseinandersetzung mit dem Thema sowie besonderer Förderung als Gegenmaßnahme. Auch in den Fremdsprachendidaktiken werden Positionen vertreten, in denen Diskriminierung und Ausgrenzung eine Rolle spielen. Ein Schwerpunkt in den 1990er Jahren liegt in der Analyse von Unterrichtsmaterialien (↗ Art. 46) und den darin vorhandenen und nicht bewusst gemachten Rassismen, die insbesondere auf die Darstellung von Minderheitenangehörigen (Fäcke 1998) oder von Ländern der damals so genannten „Dritten Welt“ bezogen wurden (Poenicke 1995). Auch die in den 1990er Jahren dominierende Didaktik des Fremdverstehens (↗ Art. 36) wird etlicher Kritik ausgesetzt, in der die Logik von Diskriminierung eine Rolle spielt. Hans Hunfeld (2004), der einen hermeneutischen Skeptizismus vertritt, sieht in dem Postulat, das Fremde zu verstehen, eine Form der Aneignung des Fremden und damit eine Form der Gewaltausübung gegenüber dem Fremden. Das Fremde werde als Fremdes diskriminiert, weit sinnvoller sei es, das Fremde als fremd anzuerkennen. Auch aus der Sicht von Positionen im Sinne der Transkulturalität (↗ Art. 41) wird die postulierte Heterogenität und die Dichotomie des Eigenen und des Fremden mit Formen der Diskriminierung in Zusammenhang gebracht. Fremdverstehen wird als Anmaßung kritisiert: Wer hat das Recht, wen als fremd zu definieren? (vgl. Eckerth & Wendt 2003) 207 38. DiskriminierungundAusgrenzungimKontextvonMehrkulturalität 3. Praxisrelevanz Diskriminierung im Kontext von Mehrkulturalität spiegelt gesellschaftliche Realitäten und ereignet sich vielfach in vielen Kontexten. Sie stellt eine immer wiederkehrende Möglichkeit menschlichen Miteinanders und Gegeneinanders dar, so dass eine Gesellschaft ohne jegliche Formen der Diskriminierung leider kaum vorstellbar ist. Pädagogische Zielsetzungen können realistisch daher auf Sensibilisierung für Diskriminierungsmechanismen, auf Aufbrechung diskriminierender Denk- und Handlungsweisen oder auf schrittweisen Abbau von Diskriminierung fördernder Strukturen zielen. In Lehr-/ Lernsituationen kann dies z. B. durch die Berücksichtigung interkultureller Kompetenzen angebahnt werden, in denen nicht nur deklaratives und prozedurales Wissen vermittelt und erworben wird, sondern vor allem auch Dimensionen von savoir être (Byram 1997) eine Rolle spielen sowie Werte und Einstellungen konsequent zum Gegenstand gemacht werden. Der Umgang mit vielfältigen und einander auch wiedersprechenden Wertesystemen und Einstellungen beinhaltet besonders aus der Perspektive der Lehrenden jedoch ein Dilemma. Die Setzung eigener Werte als Maßstab für das Miteinander impliziert bei kulturrelativistischer Betrachtung eine Normierung, die zum Konflikt mit Andersdenkenden führen kann. Diese Logik führt, konsequent ans Ende gedacht, zu postmoderner Beliebigkeit und Austauschbarkeit aller Werte und Maßstäbe, was letztlich auch zu einer den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdenden Orientierungslosigkeit führen kann. Letztlich kann die Vorgabe bestimmter Maßstäbe nur durch Verabsolutierung bestimmter Denkweisen als universalistisch gültig begründet werden. Bestimmte als universal erachtete Denkweisen und Werte können im Kontext von Mehrkulturalität jedoch zu Konflikten mit denen führen, die die genannten universalen Denkweisen als westliche Sichtweisen einstufen und dabei eine Kollision mit eigenen Wertesystemen feststellen. Eine Sanktionierung von Andersdenkenden, man denke nur an den Ehrbegriff in bestimmten muslimisch geprägten Kulturen, impliziert zwangsläufig eine Diskriminierung. Letztlich können konfliktreiche Diskurse über Wertesysteme und ihre universelle oder eben nur partikulare Gültigkeit nicht anders als kontrovers geführt werden. Damit stellt sich die Frage danach, welche Werte und Verhaltensweisen für menschliches Miteinander als unhintergehbar oder als verhandelbar gelten. Ein Beispiel für nicht zur Disposition stehende Werte liefern die Vereinten Nationen: Staaten, die Mitglied der UN werden wollen, müssen die Geltung der Menschenrechte zuvor anerkennen (↗ Einleitung). Analog gilt diese Frage auch für die im Unterricht thematisierten Inhalte, damit verbundene Zielsetzungen und anvisierte Kompetenzen oder auch die vermittelten Wertesysteme. Sie gehen zwangsläufig mit der Frage nach möglicherweise ungewollten Diskriminierungen einher. Während Werte und Verhaltensmaßstäbe wie das Tötungsverbot kulturübergreifend Gültigkeit beanspruchen, können andere Bereiche wie Kleidungsvorschriften hingegen als verhandelbar diskutiert werden. In Frankreich führte die Frage der Kleidungsvorschriften in der Schule zu der affaire du voile islamique und in diesem Zusammenhang zu dem gesetzlichen Verbot im Jahr 2004, in der laizistischen republikanischen Schule religiöse Symbole zu tragen, d. h. eben auch ein muslimisches Kopftuch (Hijab), sowie einige Jahre später zu einem weiteren Gesetz ( la loi du 11 octobre 2010 ), das das Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet, d. h. 208 ChristianeFäcke u. a. eben auch den Gesichtsschleier (Burka). In den Diskussionen standen sich Vertreter einer kulturrelativistischen Sichtweise und ihre Gegner unvereinbar gegenüber. Für die eine Seite bedeutet das Verbot eine kulturbezogene Diskriminierung der betroffenen Schülerinnen und Frauen sowie des Prinzips der Religionsfreiheit, für die andere Seite steht die Verteidigung als universell gültig erachteter Werte der laizistischen Schule sowie des Neutralitätsgebots im Vordergrund. In dieser Sichtweise besteht die Vermeidung von Diskriminierung gerade darin, religiöse Symbole zu verbannen und Unterscheidungen zwischen Menschen dadurch Vorschub zu leisten (Koussens 2015). Weitere Positionen in diesem Kontext bestehen in der Einforderung des Schleierverbots gerade durch muslimische Frauen, die darin ein Instrument der Unterdrückung von Frauen im Islam sehen, in der Kritik aus feministischen Kreisen, die einen muslimisch-westlichen Kulturkampf auf dem Rücken der Frauen anprangern und die Wahlfreiheit der einzelnen Frau einfordern, oder auch in nationalistischen Argumentationen, die über die Logik des Gesetzes noch hinausgehen. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst und als Dilemma eben auch nicht lösbar. 4. Ausblick Diskriminierung steht nicht in einem völlig freien Raum, sondern ist im Zusammenhang mit Macht, Herrschaft und Hierarchien zu sehen. Die Vision einer Gesellschaft ohne jegliche Form der Diskriminierung kann nur als utopisch gelten, doch gleichzeitig kann und darf eine solche Einschätzung nicht zu einer fatalistischen Haltung für Schule und Unterricht führen. Zielsetzung aller pädagogischer Bemühung sollte immer auch in einem Beitrag zur Sensibilisierung für die genannten Zusammenhänge sowie zu dem Bestreben nach Aufbrechung diskriminierender Denk- und Handlungsweisen führen. Trotz oder gerade auch wegen aller Erfahrungen. Literatur Allemann-Ghionda, C. (1997): Mehrsprachige Bildung in Europa. In BMW AG, München (Hrsg.): LIFE. Ideen und Materialien für interkulturelles Lernen . Lichtenau, 1-10. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon u. a. Dirim, İ. & Mecheril, P. u. a. (2018): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) 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Friedenspädagogik als ihre Theorie) beschränkt sich nicht darauf, Lernende zu einem friedlichen sozialen Verhalten zu befähigen, sondern sie hat eine weiter reichende, gesellschaftskritische bzw. transformierende Zielsetzung, nämlich den Abbau von Gewalt und die Entwicklung einer Kultur des Friedens (Grasse et al. 2008). Friedenserziehung, verstanden als eigener Teilbereich politischer Bildung wie auch als fächerübergreifendes Prinzip, realisiert sich heute auch als Global Citizenship Education (Wintersteiner et al. 2014). (Nicht nur) in diesem Zusammenhang rückt sprachliche Gewalt in ihren Fokus. 2. Mehrsprachigkeit als Baustein der Friedenserziehung Sprachenfragen sind politische Fragen (↗ Art. 10). Dadurch haben auch Mehrsprachigkeits- und Friedenspädagogik etliche Gemeinsamkeiten, die allerdings bislang kaum systematisch exploriert wurden. In friedenstheoretischen oder -pädagogischen Publikationen zu Sprache und Gewalt/ Frieden bzw. in der sprachkritischen politischen Didaktik wird kaum ein Bezug zur Mehrsprachigkeit hergestellt (Pasierbsky 1983; Raasch 1993; Schäffner & Wenden 1995; Gomes de Matos 2014 oder das Forschungsprojekt Language and Violence 2014-2019, https: / / language. univie.ac.at/ about/ ). In der (interkulturellen) Pädagogik (↗ Art. 16) sowie in Sprachwissenschaft und -didaktik wird hingegen Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) thematisiert, jedoch kaum aus friedenspädagogischer Perspektive (vgl. hingegen Schröder 1995; Wintersteiner 2001, 2009; Fill 2007; Wintersteiner et al. 2008; Meier 2010). Manchmal wird Mehrsprachigkeit friedenspädagogisch ausschließlich als Voraussetzung interkultureller Kommunikation argumentiert (Berliner Komitee 2016). Das ist zwar zutreffend, aber viel zu kurz gegriffen. Der entscheidende Konnex der beiden Felder besteht nämlich im Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Macht (↗ Art. 9). Entsprechend einem teilweise bis heute dominierenden Verständnis von Nation als sprachlich und kulturell homogener Einheit werden Vielsprachigkeit und Multikulturalität als Bedrohung gesehen und (meist vergeblich) zu bekämpfen versucht. Immer kommt es dabei zu Hierarchisierungen zwischen den Sprachen. Je nach Status der jeweiligen Sprache gibt es prestigeträchtige und weniger hochbewertete Formen der Zweibzw. Mehrsprachigkeit. Dies betrifft autochthone ebenso wie „neue“ 210 WernerWintersteiner durch Migration entstandene „Minderheiten“, aber auch den Gebrauch internationaler Verkehrssprachen (↗ Art. 13, 98, 117). Hinzu kommt noch eine Form epistemischer Gewalt in Form der lange Zeit vorherrschenden „wissenschaftlich begründeten“ Abwertung und Diffamierung der Mehrsprachigkeit durch Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Ein klassisches Beispiel ist die Position des Germanisten Leo Weisgerber noch im Jahre 1966: „Für die große Mehrheit behält es Geltung, dass der Mensch im Grunde einsprachig ist. […] Vor allem aber gehen corruption du langage und corruption des mœurs Hand in Hand“ (Weisgerber 1966: 73). Friedenspädagogik setzt sich kritisch mit dem Postulat der Homogenität, der Abwehr von Mehrsprachigkeit und der Hierarchisierung der Sprachen auseinander und deckt den damit verbundenen Gewaltaspekt auf. Aus dieser Perspektive ist die Unterdrückung oder gar Auslöschung von Sprachen, ein nach wie vor ein häufig eingesetztes Mittel zur Aufrechterhaltung von Dominanz, strukturelle und kulturelle Gewalt. Die dänische Linguistin Tove Skutnabb-Kangas fordert daher, dass elementare Sprachenrechte als Menschenrechte verankert werden, als linguistic human rights (Skutnabb-Kangas & Phillipson 1994). Ihre Argumentation für das Recht auf linguodiversity ist friedenspädagogisch relevant: Diese sei ebenso wie mehrsprachige und multikulturelle awareness auf globaler Ebene Voraussetzung, um in einer Weltgesellschaft demokratisch handlungsfähig zu bleiben (vgl. Skutnabb-Kangas 1995: 17-18). In diesem Zusammenhang sind auch die Aktivitäten von Linguapax, einer internationalen NGO mit UNESCO-Beobachterstatus, zu nennen (www. linguapax.org/ english). Häufig werden aber gerade jene sprachlichen Bildungsrechte verweigert, die elementar für die Reproduktion sprachlicher Minderheiten sind. Der oben angesprochene linguicism , eine Spielart des Rassismus, sieht in „Minderheitensprachen“ keinen positiven Wert, sondern ein Handicap, das die Lernenden hindere, das einzig Wertvolle, nämlich die Mehrheitssprache, zu erwerben (Skutnabb-Kangas & Phillipson 1996). Er trachtet danach, „Minderheitensprachen“ öffentlich unsichtbar zu machen, und wendet sich gegen alle Formen von symbolischer Mehrsprachigkeit. Ein monolingualer Habitus (Gogolin 1994) in Gesellschaft und im Bildungssystem bestärkt diesen linguicism und lässt ihn als natürlich und vernünftig erscheinen. Ein weiteres friedenspädagogisches Argument ist das Potential von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität, die eigenen Standpunkte in ihrer Relativität erkennen und infrage stellen zu lassen und somit eine Basis für ein friedliches Miteinander, sei es zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sei es im internationalen Maßstab, zu schaffen (↗ Art. 32). Studien zeigen, dass die Verweigerung von Sprachenrechten zu Konflikten und Kriegen führen kann, während es keine Evidenz dafür gibt, dass Monolingualismus vor Konflikten schütze (Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat 2010). 3. Die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung um Mehrsprachigkeit If neoliberalism and linguistic neoimperialism are determining factors, there are challenges in maintaining the vitality of languages, and organizing school and university education so as to educate critical multilingual citizens. (Phillipson 2018: 14) 211 39. FriedenserziehunginderPerspektivevonMehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit und Schutz der Sprachenrechte sind heute somit dringender denn je. Es geht um drei Bereiche: autochthone Minderheiten (↗ Art. 117); „neue Minderheiten“, durch massive Migration entstanden, die scheinbar monolinguale Länder in multikulturelle Einwanderergesellschaften verwandelt haben (↗ Art. 100, 110). Schließlich erhalten durch die Globalisierung internationale Verkehrssprachen ein bislang unbekanntes Gewicht, vor allem das Englische (↗ Art. 13, 97, 98). Damit werden bisher voll funktionierende Sprachen ins Abseits gedrängt. Neokolonialismus und neoliberale Marktmechanismen (auch im Bereich der Kulturindustrie) sowie die allgegenwärtige Präsenz moderner Massenmedien bedrohen die Existenz kleiner Sprachen. Man schätzt, dass im Laufe dieses Jahrhunderts von den rund 6500 weltweit gesprochenen Sprachen mindestens ein Drittel bis die Hälfte „aussterben“ wird (Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat 2010). Für den Erhalt einer lebendigen Mehrsprachigkeit ist die Schulsprachenpolitik entscheidend. Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Jahrzehnten der Wert der autochthonen Sprachen und der Sprachen der Zugewanderten von der Forschung immer mehr anerkannt, Mehrsprachigkeit wurde zumindest im Prinzip als Bildungsziel festgelegt, der Herkunftssprachenunterricht etabliert und Pionierprojekte zur zweisprachigen Alphabetisierung wurden durchgeführt (↗ Art. 21). Heute ist der positive Umgang mit Mehrsprachigkeit in manchen Lehrplänen und teilweise auch in der Lehrerausbildung für den Deutschunterricht verankert (vgl. für Österreich Krumm & Reich 2013 oder Herzog- Punzenberger 2017). Im Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung (KMK 2016: 137) werden Sprachkonflikte als Thema von Friedenserziehung genannt. Dennoch sind diese Fortschritte noch keineswegs ausreichend und werden auch immer wieder infrage gestellt. Denn seit dem langen Sommer der Migration von 2015 sind in Europa wieder restriktive Sprachenpolitiken auf dem Vormarsch. Integration wird auf den Erwerb der deutschen Sprache reduziert, die Herkunftssprachen (↗ Art. 106) werden abgewertet. So findet sich der Begriff Mehrsprachigkeit weder im Koalitionsvertrag der deutschen (19. Regierungsperiode) noch im Regierungsprogramm der österreichischen Bundesregierung (2017- 2022). Damit ignoriert diese Politik den Geist der Sustainable Development Goals (SDGs), mit denen sich die UN-Mitgliedsstaaten zu weitreichenden auch bildungspolitischen Reformen (wozu u. a. muttersprachlicher Unterricht zählt) verpflichten. In Target 4.7 wird als Grundlage von Bildung zu nachhaltiger Entwicklung und Global Citizenship auf „appreciation of cultural diversity“ und damit auch sprachlicher Diversität hingewiesen (https: / / sustainabledevelopment.un.org/ sdg4). Die UNESCO wiederum nennt in diesem Zusammenhang Mehrsprachigkeit und sprachliche Vielfalt explizit als Basis für nachhaltige Entwicklung und Frieden (http: / / ccic-unesco.org/ les-comptes-rendus/ diversite-linguistique-etmultilinguisme-pour-construire-la-paix/ ). 4. Perspektiven Friedenserziehung muss aktuelle gesellschaftliche Konfliktfelder thematisieren, denn nur diese sind die eigentlichen Lernfelder. Mehrsprachigkeit bzw. Mehrsprachigkeitspolitik ist so ein Feld. Die Forschungsproblematik, wie Alwin Fill sie formuliert, nämlich die Frage nach den konkreten Gründen für einen Zu- 212 WernerWintersteiner sammenhang von sprachlicher Vielfalt und (sprachlichem) Konflikt, gerade unter den Bedingungen der Globalisierung, ist auch für die Friedenserziehung elementar (Fill 2009: 197 f.). Die Orientierung an den SDGs mit ihrer Betonung von Global Citizenship Education als globaler Friedenserziehung bietet einen neuen und attraktiven Hintergrund für diesbezügliche Forschung und Lehre. Literatur Berliner Komitee für UNESCO-Arbeit (2016): UNESCO-Arbeit in Berlin: Friedenserziehung. Berlin. Centre UNESCO de Catalunya-Unescocat (2010): The Management of Linguistic Diversity and Peace Processes . Barcelona. [http: / / www.linguapax.org/ wp-content/ uploads/ 2015/ 03/ Book_ManagementLanguage- Diversity.pdf]. Fill, A. (2009): Language Contact, Culture and Ecology. In: M. Hellinger & A. 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Diese vor allem von der französischen Philosophie, Semiotik und Soziologie verstärkt seit den 1970er Jahren (Barthes, Derrida, Foucault) entwickelte Perspektive ist insofern als postmodern zu begreifen, als sie bisher akzeptierte oder als natürlich (‚naturalisiert‘) begriffene Gewissheiten, Normen und Verstehenskategorien radikal in Frage stellt. Die tradierten grands récits (Lyotard) bzw. soziokulturell sinnstiftenden Narrative und deren emplotment -Strategien werden einer Hermeneutik der Skepsis und dem Verdacht ausgesetzt, ‚Herrschaftsdiskurse‘ - also soziokulturelle Asymmetrien und Hierarchien - zu stützen. Im Sinne des linguistic turn und basierend auf poststrukturalistischen Einsichten - vgl. Derridas zentralen Begriff der différance als Markierung der nie festlegbaren linguistischen Bedeutungsfixierung der sich in Endlosketten aufeinander beziehenden Signifier ( endless deferral of meaning ) - reflektiert die Diskursanalyse postmoderne Bedenken gegenüber ontologischen und epistemologischen Sicherheiten. Die ‚entlarvende‘ Perspektive der Diskursanalyse kommt insbesondere in kritischen Studien zum Tragen, in denen sie darauf abzielt, verdeckte oder offene sprachliche oder semiotische (z. B. visuelle) Mechanismen aufzudecken und im Detail zu sezieren, wie als ‚natürlich‘ dahingenommene sprachliche, soziokulturelle und ökonomische Praktiken kreiert, disseminiert oder perpetuiert werden (beispielhaft ist die bahnbrechende Studie des französischen Soziologen und Semiotikers Roland Barthes, Mythologies , 1957). 2. Fremdsprachendidaktisch relevante Anwendungsfelder der Diskursanalyse Die Diskursanalyse als wissenschaftliche Herangehensweise schlägt sich in einer Vielzahl von theoretisch-konzeptuellen Ansätzen, Untersuchungsperspektiven und -instrumentarien nieder (vgl. Mills 1997; Gerhard et al. 2013; Volkmann 2016). 214 LaurenzVolkmann (1) Mündliche Diskurse und die soziokulturelle wie linguistische Prägung von Redezusammenhängen stehen im Fokus der pragmatischen Diskursanalyse, auch Gesprächs- oder Konversationsanalyse bzw. (im Englischsprachigen oftmals einfach) discourse analysis genannt. Sie deckt im Wesentlichen auf, nach welchen sprachlichen und sozialen Konventionen Äußerungen und Gespräche ablaufen und eruiert Implikationen sowie auch das nicht Geäußerte oder Verschwiegene (Fairclough 1989). In der didaktischen Forschung richtet sich das Augenmerk auf Sprachkonventionen und deren soziokulturelle Signifikanz sowie bei der Auswertung von Interviews und Gesprächen auf diskursive Bedeutungszuweisungen. (2) In der Tradition Foucaults wird die Diskursanalyse auch als weit gefasste Denkrichtung begriffen, die die diskursiven Praktiken von Bedeutungszuweisung im Bereich von Macht, Dominanz, Subjektkonstitution und Alteritätszuweisung behandelt. Hier stehen die diskursiven Praktiken in bestimmten Wissensbereichen, Institutionen und Dokumenten im Vordergrund, etwa in wissenschaftlichen Spezialdiskursen, deren diskursive Praktiken ausgeleuchtet werden. Wissensdiskurse (etwa Curricula, bildungspolitische Dokumente, fachdidaktische Diskurse zu bestimmten Themen) könnten demnach mit einer Foucault’schen Perspektive untersucht werden mit Bezug auf Fragestellungen, wie „deren Grenzen durch Regulierung dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann, gebildet ist“ (Gerhard et al. 2013: 142). (3) Diskursanalytische Akzentuierungen bzw. teilweise eklektische Kombinationen von Theorieelementen der Diskursanalyse und postmoderne, alte Sicherheiten aufbrechende Perspektiven finden sich in zahlreichen Theoriefeldern, welche sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet haben. Forschungen im Bereich von Gender (speziell in der feministischen und GLBT+-orientierten Forschung, vgl. v. a. den Einfluss der Theorien Judith Butlers zur ‚Heteronormativität‘), Alterität und Fremderfahrung, Othering und Postkolonialität (Edward Said, Homi Bhabha), Stereotypen (↗ Art. 34), Rassismus und Diskriminierung (↗ Art. 38); weiterhin auch in der Ökokritik ( ecocriticism und die an sie angelehnte ecopedagogy ), zu animal rights und zum Posthumanismus sowie in Forschungen zu jeglicher Form von bias (also soziokulturell bestimmten Vorannahmen, z. B. zu Diversität, Identität, Geschlecht, Alter, Herkunft). Diskurskritische Ansätze bestimmen darüber hinaus Theorien der Dialogizität (Bachtin), der Hermeneutik (Gadamer), Rezeptionsästhetik (Eco), Semiotik (Barthes, Eco), Psychoanalyse (Lacan) und Inter- und Transkulturalität (Todorov, Welsch), der kritischen (Befreiungs-) Pädagogik (Freire) sowie der Pädagogik der Vielfalt (Prengel) und der Philosophie zum Anderen und Fremden (Levinas). 3. Diskursanalytische und dekonstruierende Praktiken Eine diskursanalytisch orientierte Forschung bemüht sich als kritischer hermeneutischer Ansatz - anders als empirische Vorgehensweisen - nicht um die Trennung oder Setzung von falschen und richtigen, wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen Aussagen, Hypothesen oder Annahmen. Sie untersucht vielmehr, mit welchen diskursiven Mitteln (Sprachverwendung, Argumentation, Präsentation) und/ oder semiotischen Bedeutungsaufladungen (d. h. durch Zeichen, z. B. visueller Art) bestimmte Aussagen (im Englischen utterances , 215 40. DiskursanalyseundDekonstruktion: postmoderneDiskurse Foucault spricht von énoncés ) oder Annahmen als ‚richtig‘ (d. h. ‚naturgegeben‘, authentisch, sinngebend) oder ‚falsch‘ (als nicht akzeptabel, nicht haltbar, immer schon als nicht naturgegeben gesetzt) repräsentiert werden. Es geht also nicht darum, empirisch oder argumentativ gesicherte Aussagen zu treffen, sondern darum, aufzudecken - entsprechend zu ‚dekonstruieren‘ -, wie diskursiv Präsentationen von ‚Wahrheiten‘, ‚Realitäten‘ oder ‚Authentizität‘, kurzum: oftmals unhinterfragte normative Setzungen geschaffen werden. Dabei leiten entsprechende kritische Fragestellungen die Untersuchung: Wer konstruiert mit welchen diskursiven Mitteln welche Aussagen zu welchem Zweck? Was bewirken in einem bestimmten Kontext bzw. in einer bestimmten Rezipientengruppe bestimmte Konstruktionen von Diskursen? Mit welchen Mitteln schaffen Diskurse Inklusion und Exklusion von Meinungen und Partizipierenden? Wie der bedeutende französische Philosoph und Diskursanalytiker Foucault betont, gilt es dabei besonders, linguistisch-rhetorische und semantische ‚Exklusionsmechanismen‘ der Diskurse zu entdecken, mit deren Hilfe sich oftmals erst in verdeckten binären Oppositionen (Mann-Frau, eigene vs. fremde Kultur) Sinnzusammenhänge erstellen. Dabei werden die soziokulturellen Folgen solcher Vor-Annahmen aufgedeckt und kritisch beleuchtet, oft verbunden mit dem explizit geäußerten Anspruch, im Sinne der philosophischen Aufklärung oder sozialer, feministischer, postkolonialer und politisch emanzipatorischer Forderungen gezielt soziokulturelle Veränderungen anzustoßen. 4. Anwendungsgebiete für die Fremdsprachenforschung Als kritisch-reflexiver Ansatz mit emanzipatorischem und aufklärerischem Impetus verstärkt die Diskursanalyse anti-autoritative und sozialkritische Denkrichtungen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, besonders der 1968er Studentenrevolte. Sie verbindet sich mit bildungspolitischen Forderungen, Lernende im kritischen, gängige Autoritäten und Normen ‚hinterfragenden‘ Denken zu fördern. Allerdings stehen die Radikalität und das theoretische Abgehobensein vieler Ansätze einem direkten, konkreten Einwirken auf den unterrichtlichen Alltag entgegen, so dass diskurskritische und dekonstruierende Herangehensweisen z. B. an literarische oder filmische Texte (↗ Art. 42) eher bei einzelnen Teilaspekten Verwendung finden. Zu nennen wären hier beispielhaft Frage- und Aufgabenstellungen zu den Bereichen race, class-& gender oder auch die Sensibilisierung für sprachliche Formen (z. B. im Bereich der political correctness ). Generell haben postmodere Theorien mit ihrer Betonung des soziokulturellen Konstruktcharakters der Diskurse auch jene Richtungen der Pädagogik und Didaktik beeinflusst, die Inklusion, Diversität, Heterogenität und Individualität wertschätzen (↗ Art. 41). In der Fremdsprachenforschung kommen diskursanalytisch akzentuierte Herangehensweisen vor allem in literatur-, kultur- und mediendidaktisch sowie bildungspolitisch orientierten Richtungen zum Zuge, aber auch bei Gesprächs- und Quellenanalysen sowie in der Pragmalinguistik und bei (empirischen) Untersuchungen der Lehr-Lernforschung mit kritischem Ansatz (wie in der Grounded Theory). Um drei typische, explizit diskursanalytisch akzentuierte Beispiele zu nennen: 216 LaurenzVolkmann Diskursanalytische Verfahren gelangen in einer Studie zu dem didaktischen Kernbegriff der ‚Authentizität‘ zum Tragen, wenn dieses Konzept in seiner historischen Genese und gegenwärtigen höchst heterogenen Konzeptualisierung erörtert wird (Will 2017); es liegt weiterhin die Skizze eines vor allem auf Foucaults Theorien zur Diskursanalyse basierenden Modells der kritischen Lehrwerkanalyse vor (Volkmann 1999); diskursiv-dekonstruierende Analysepraktiken zeichnen eine bahnbrechende Untersuchung zu fachdidaktischen Publikationsgepflogenheiten mit Bezug auf Gender-Verständnisse aus (Schmenk 2009). Insgesamt gesehen finden sich diskursanalytische Ansätze weniger in speziellen Einzelstudien wieder, sondern sind vielmehr in der Breite in kritisch-reflexiven Forschungspraktiken und Forschungsinstrumentarien wiederzufinden. Literatur Barthes, R. (1957): Mythologies. Paris. Butler, J. (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York, London. Derrida, J. (1967): L’écriture et la différence. Paris. Fairclough, N. (1989): Language and Power. London, New York. Foucault, M. (1971): L’ordre du discours . Paris. Gerhard, U., Link, J. & R. Parr, R. (2013): Diskurs und Diskurstheorien. In: A. Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie . 5. Aufl. Stuttgart, 141-144. Lyotard, J.-F. (1979): La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris. Mills, S. (1997): Discourse. London, New York. Schmenk, B. (2009): Geschlechterspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtstypischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung . 2. Aufl. Tübingen. Volkmann, L. (1999): Kriterien und Normen bei der Evaluation von Lehrwerken: Grundzüge eines diskursanalytischen Modells. In: W. Börner & K. Vogel. (Hrsg.): Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht. Lernbezogene, interkulturelle und mediale Aspekte. Bochum, 117-144. Volkmann, L. (2016): Hermeneutische Verfahren. In: D. Caspari, F. Klippel, M. Legutke & K. Schramm (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen, 229-242. Will, L. (2017): Authentizität im Fremdsprachenunterricht — erste Schritte zu einer historischen Diskursanalyse. In: J. Appel, S. Jeuk & J. Mertens (Hrsg.): Sprachen Lehren. 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung in Ludwigsburg. 30. September 2015 - 3. Oktober 2015. Kongressband. Hohengehren, 105-120. Laurenz Volkmann 41. Transkulturalität und transkulturelles Lernen 1. Begrifflichkeit Der Begriff Transkulturalität steht für ein Verständnis von Kulturen als hybride, dynamische, vernetzte und sich dabei gegenseitig beeinflussende Gebilde. Es steht in deutlichem Kontrast zu Kulturverständnissen, welche von der Homogenität, Unveränderlichkeit und bisweilen auch Reinheit von Kulturen ausgehen. Die Hybridität und Dynamik von Kulturen und somit ihr transkultureller Charakter nehmen durch aktuelle Phänomene, die unter 217 41. TranskulturalitätundtranskulturellesLernen den Stichworten Globalisierung und Digitalisierung zusammengefasst werden können, stark zu. Dennoch wird Transkulturalität in historischer Perspektive nicht als neues Phänomen aufgefasst, wie das Beispiel etruskischer und griechischer Einflüsse im alten Rom verdeutlicht. Die lateinische Vorsilbe trans- („über, darüber hinaus, jenseits“) soll die Eigenart von kulturellen Phänomenen unterstreichen, Grenzen zu überschreiten - die ohnehin als fiktiv oder zumindest instabil aufgefasst werden. Transkulturalität wird häufig in expliziter Abgrenzung von Interkulturalität (↗ Art. 17, 32) verwendet. Dabei lautet die Kritik, dass die lateinische Vorsilbe inter- („zwischen“) die Vorstellung von einem Ort begünstige, der sich zwischen Kulturen befindet, und somit auch jene von deren Abgrenzbarkeit (Kultur A vs. Kultur B). Eben diese Vorstellung gelte es jedoch zu überwinden. Neben der Makroebene von Gruppen (Kulturen bzw. Subkulturen) bezieht sich der Begriff Transkulturalität auch auf die Mikroebene der Individuen. Er steht hier für die Vorstellung, dass jeder Mensch nicht nur von einem, sondern von vielen kulturellen Einflüssen geprägt ist. Auch auf der individuellen Ebene stehen die Begriffe Hybridität und Dynamik im Mittelpunkt, und auch hier handelt es sich dabei um Phänomene, die in jüngerer Zeit stark zugenommen haben, historisch aber nicht neu sind. Entsprechend meint transkulturelles Lernen die Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen, wenn dabei deren Hybridität und Dynamik in den Blick genommen wird. Es soll bei Lernenden die Fähigkeit und die Bereitschaft fördern, transkulturelle Phänomene sowohl auf der Makroals auch auf der Mikroebene zu reflektieren und sich auf diese Weise für neue Einflüsse zu öffnen. Es steht im Gegensatz zu einem herkömmlichen Verständnis von kulturellem Lernen, welches auf das Kennenlernen von Nationalkulturen abzielt. Dieses dominierte die Kultur- und Landeskunde der 1920erbis 1970er-Jahre (↗ Art. 35), ist aber auch in zahlreichen Beiträgen zum interkulturellen Lernen zu finden. 2. Problemaufriss Ursprünglich von dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz geprägt, wird der Begriff Transkulturalität in den 1990er-Jahren von dem Philosophen Wolfgang Welsch in die deutschsprachige Diskussion eingeführt. Ausgangspunkt von Welschs Überlegungen sind die damals seiner Einschätzung nach weit verbreiteten essentialistischen und dichotomischen Kulturkonzepte, die er auf Johann Gottfried Herder zurückführt (Kugelmodell). Diese seien aber, so Welsch (1999: 48), „[…] nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar.“ Welsch hält die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bis heute sehr verbreiteten Begriffe ‚Interkulturalität‘ und ‚Multikulturalität‘ ebenfalls für problematisch. Sie seien weiterhin auf eben jenes Kulturverständnis angewiesen, das es zu überwinden gelte (↗ Art. 1). Bei der ‚Interkulturalität‘ gehe es zwar darum, interkulturelle Probleme durch Dialog zu lösen. Solange man aber begrifflich an der „Primärthese“ (ebd.: 50) von klar unterscheidbaren Kulturen festhalte, trage man kontinuierlich zur Reproduktion eben dieser Probleme bei. Ähnliches gelte für den Ansatz der ‚Multikulturalität‘, nur dass die Konflikte nun nicht mehr zwischen, sondern innerhalb von Gesellschaften ausgetragen würden. Welsch (ebd.: 49) befürchtet sogar, dass das Multi- 218 JochenPlikat kulturalismuskonzept zum Gegenteil der gesteckten Ziele führen kann: „Es leistet regressiven Tendenzen Vorschub, die unter Berufung auf kulturelle Identität (ein Konstrukt, das man meist aus den Imaginationen eines Vorgestern gewinnt) zu Ghettoisierung und Kulturfundamentalismus führen“. 3. Forschungsstand In der deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Diskussion erscheint der Begriff Transkulturalität erstmals prominent im Titel eines von Eckerth und Wendt (2003) herausgegebenen Sammelbandes. Er wird in dieser und in späteren Veröffentlichungen (vgl. z. B. Antor 2007) verschiedentlich als vielversprechendes Konzept für die bereits von Welsch angemahnte Überwindung der Vorstellung von abgrenzbaren Nationalkulturen vorgeschlagen. Reimann (2014: 46) sieht gar „[…] die Notwendigkeit, Transkulturalität als zentrale Denkfigur des Fremdsprachenlernens zu begreifen […]“. Er entwickelt ein gestuftes Modell, welches drei Dimensionen der Lernprogression integriert: die Progression des Sprachenlernens, die Progression des kulturellen Lernens (von der Landeskunde über die interkulturelle kommunikative Kompetenz zur Transkulturellen kommunikativen Kompetenz ) sowie den Grad der Vertiefung des kulturellen Lernens (vgl. ebd.: 67). In der Anwendung der theoretischen Überlegungen zur Transkulturalität dominieren Vorschläge zur Literatur- und Filmdidaktik (vgl. z. B. Schumann 2008) (↗ Art. 42). Weiterhin können Beiträge zum transkulturellen Lernen häufig der Mehrsprachigkeitsdidaktik zugeordnet werden (vgl. Reimann 2014: 613- 657). Empirische Studien, die auf dem Konzept fußen, sind dagegen bislang nur vereinzelt zu finden (vgl. Fäcke 2006). Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass sich der empirische Zugriff auf kulturelle Lernprozesse allgemein als äußerst schwierig zeigt. Vereinzelt wurde auch grundsätzliche Kritik an der Transkulturalität formuliert, so z. B. von Bredella (2012). Der von ihm angeführte zentrale Kritikpunkt, es gehe bei der Transkulturalität um die „Auflösung und Abschaffung“ (ebd.: 53) von Kulturen, ist allerdings nicht haltbar. Welsch selbst betont, dass Kulturen durchaus weiter existieren und existieren sollten - aber eben als manchmal dicht, manchmal weniger dicht geknüpfte und miteinander auf vielfältige Weise verbundene Bedeutungsnetze, nicht als klar abgrenzbare Kugeln (vgl. Welsch 1999: 58 f.). Gegen Welschs Position lässt sich allerdings einwenden, dass möglicherweise dennoch langfristig der Rückgang kultureller Vielfalt und eine zunehmende weltweite kulturelle Vereinheitlichung zu verzeichnen sein werden. Sollte dies eintreten, wird es aber weitgehend außerhalb der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung liegende Gründe haben - Bredellas heftige Kritik an Welsch trifft somit lediglich den Überbringer der schlechten Nachricht (↗ Art. 36). Ferner ist Bredellas Einwand zu nennen, dass die Auflösung kultureller Grenzen die Auflösung von Gemeinschaften und einen „extremen Individualismus“ (Bredella 2012: 46) vorantreiben könnte. Hierdurch könnten Individuen zu ungeschützten Spielbällen globaler Marktkräfte werden. Nicht nur in Bezug auf diese möglichen Entwicklungen sind machtbezogene Fragen in der Diskussion um Transkulturalität bislang zweifellos unterrepräsentiert. Auch hier gilt jedoch, dass die Transkulturalität eher einen beschreibenden als einen gestaltenden Charakter hat. Kritik 219 41. TranskulturalitätundtranskulturellesLernen sollte sich daher eher an Akteure richten, die diese Entwicklungen vorantreiben - nicht an jene, die sie zu beschreiben versuchen. 4. Praxisrelevanz und Perspektiven Transkulturalität und transkulturelles Lernen sind in hohem Maße praxisrelevant, da Beiträge zum interkulturellen Lernen weiterhin häufig auf jene Kulturverständnisse zurückgreifen, welche es seit langem zu überwinden gilt. Eine neue Begrifflichkeit hat das Potential, hier gegenzusteuern. Auch wenn Praxisbeiträge zum transkulturellen Fremdsprachenlernen weiterhin häufig der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) oder der Arbeit mit Literatur, Film oder Musik zuzuordnen sind, so ist doch inzwischen auch eine Ausweitung des Themenspektrums zu beobachten. Exemplarisch sei hierfür ein Sammelband von Matz, Rogge & Siepmann (2014) genannt. Transkulturelles Lernen wird dort als „ umbrella term “ (ebd.: 7) für Ansätze verstanden, welche „der Versuch [verbindet], der Vielstimmigkeit im Klassenraum Gehör zu schenken und der gestiegenen kulturellen Komplexität einer globalisierten Welt gerecht zu werden“ (ebd.). Dieses Anliegen verfolgen auch Ansätze, welche angesichts der Gefahr kulturalistischer Zuschreibungen sogar einen vollständigen Verzicht auf den Kulturbegriff vorschlagen - zumindest vorläufig und für didaktische Zwecke (vgl. Plikat 2017). Unabhängig von der gewählten Begrifflichkeit verbindet alle genannten Ansätze, dass sie sich mit derselben grundlegenden Schwierigkeit auseinandersetzen müssen: Sie laufen den „komplexitätsreduzierenden Reflexen des Menschen zuwider“ (Antor 2007: 125). Diese Reflexe sind bei jüngeren Lernenden aus entwicklungspsychologischen Gründen stärker ausgeprägt, und sie zu überwinden stellt hohe kognitive Anforderungen. Eine für die Bedingungen des schulischen Fremdsprachenunterrichts wichtige und weiterhin offene Frage lautet, wie kulturelles Lernen auf einer angemessenen Komplexitätsstufe bereits in einem Alter gelingen kann, in dem die Sprachkompetenz und das Abstraktionsvermögen in aller Regel noch stark eingeschränkt sind. Literatur Antor, H. (2007): Inter-, multi- und transkulturelle Kompetenz: Bildungsfaktor im Zeitalter der Globalisierung. In: H. Antor (Hrsg.): Fremde Kulturen verstehen - fremde Kulturen lehren: Theorie und Praxis der Vermittlung interkultureller Kompetenz. Heidelberg, 111- 126. Bredella, L. (2012): Transkulturalität als Herausforderung für das interkulturelle Verstehen. In: C. Fäcke, H. Martinez & F.-J. Meißner (Hrsg.): Mehrsprachigkeit: Bildung - Kommunikation - Standards. Stuttgart, 39-56. Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt a. M. Fäcke, C. (2006): Transkulturalität und fremdsprachliche Literatur: eine empirische Studie zu mentalen Prozessen von primär mono- oder bikulturell sozialisierten Jugendlichen. Frankfurt a. M. Matz, F., Rogge, M. & Siepmann, P. (Hrsg.) (2014): Transkulturelles Lernen-im Fremdsprachenunterricht. Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. Plikat, J. (2017): Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt a. M. Reimann, D. (2014): Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Spra- 220 JochenPlikat chen: Theorie und Praxis des neokommunikativen und kulturell bildenden Französisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts . Stuttgart. Schumann, A. (2008): Transkulturalität in der Romanistischen Literaturdidaktik. Kulturwissenschaftliche Grundlagen und didaktische Konzepte am Beispiel der „littérature beur“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37, 81-94. Welsch, W. (1999): Transkulturalität. In: A. Cesana (Hrsg.): Interkulturalität - Grundprobleme der Kulturbegegnung. Mainz, 45-72. Jochen Plikat 42. Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht 1. Begriffsbestimmung Aus Sicht der fremdsprachlichen Literaturdidaktik sind Aspekte von Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit auf unterschiedlichen Ebenen für die Planung, Gestaltung und Erforschung von Lehr-Lern-Prozessen im Literaturunterricht relevant: (1) Zum einen geht es um die inhaltliche Ebene der literarischen Lerngegenstände: Fremdsprachliche Literatur eröffnet Lernenden den Zugang zu anderen kulturellen Lebenswelten. (2) Zum anderen lässt sich der Begriff der Mehrkulturalität mit dem Ziel der Ausbildung inter- und transkultureller Handlungsfähigkeit bzw. interkultureller kommunikativer Kompetenz in Verbindung bringen, die sowohl im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (↗ Art. 18) als auch in den Bildungsstandards als zentrale Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts definiert werden. (3) Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit werden außerdem insofern relevant, als die biographischen Hintergründe der Lernenden zunehmend mehrkulturell bzw. mehrsprachig geprägt sind und daher davon auszugehen ist, dass sie die Lehr- und Lernprozesse im Literaturunterricht beeinflussen und bei der Planung und Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden sollten (↗ Art. 110). 2. Interkulturalität und Transkulturalität in der Literaturdidaktik In den 1990er Jahren erhielt die fremdsprachige Literaturdidaktik u. a. Impulse durch das Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“, das sich mit der Frage nach der Möglichkeit des ‚Fremdverstehens‘ und nach geeigneten didaktischen Zugängen auseinandersetzte (↗ Art. 36). Die zentrale Prämisse, dass Perspektivenwechsel und eine nicht unkritische Perspektivenübernahme grundlegende Voraussetzungen für das Fremdverstehen darstellen, hat sich nicht nur für Ansätze des interkulturellen Lernens (↗ Art. 32) generell als relevant erwiesen, sondern wurde insbesondere auch in der Literaturdidaktik aufgegriffen: Weil Literatur dem Leser Zugang zu anderen fiktionalen, kulturellen Lebenswelten ermöglicht und ihn anregt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, wurde der besondere Wert literarischer Texte für das interkulturelle Verstehen und die Entwicklung interkultureller Kompetenzen herausgestellt (Bredella 2002). Die Multiperspektivität literarischer Texte ermöglicht es dem Leser, unterschiedliche Perspektiven zu differenzieren, sie während des Rezeptions- 221 42. MehrkulturalitätundMehrsprachigkeitim Literaturunterricht prozesses probeweise einzunehmen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Indem Leser diese Rezeptionsleistungen der Perspektivendifferenzierung, Perspektivenübernahme und Perspektivenkoordinierung erbringen, entwickeln sie zentrale Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch für das interkulturelle Verstehen zentral sind (Nünning 2007). Im Kontext des Graduiertenkollegs wurden aus dieser Erkenntnis heraus zudem Empfehlungen für die Textauswahl zur Förderung von Fremdverstehen formuliert, geeignete Methoden für den fremdsprachlichen Literaturunterricht entwickelt und im Unterricht erprobt (Burwitz-Melzer 2003). In den 2000er Jahren wurde zunehmend das Konzept der Transkulturalität (↗ Art. 41) in der Fremdsprachendidaktik diskutiert, das auch in der Literaturdidaktik zur Weiterentwicklung didaktischer Ansätze genutzt wurde. In seinem Ansatz greift Hallet (2002) das postkoloniale Konzept des third space (Bhabha 1994; vgl. auch Kramsch 1995) auf und entwickelt die Vorstellung vom Fremdsprachenunterricht als einem vielstimmigen und ‚hybriden‘ Diskursraum, in dem Texte aus den unterschiedlichen Kulturen, aber auch Stimmen und Äußerungen der Lehrenden und Lernenden aufeinandertreffen und miteinander verhandelt werden, so dass (trans)kulturelle Aushandlungsprozesse ebenso wie Prozesse der Identitätsbildung (↗ Art. 1) bei den Lernenden angestoßen werden können. Literarische Texte nehmen in dem von Hallet modellierten „Spiel der Texte und Kulturen“ eine besondere Rolle ein, weil sie selbst zentrale kulturelle Fragen und gesellschaftliche Diskurse aufgreifen und in fiktionalen Kontexten weiterverarbeiten, so dass im Unterricht eine Reflexion über die literarisch inszenierte Modellierung der anderskulturellen Wirklichkeit möglich wird (vgl. Hallet 2007: 40). Diese Weiterentwicklungen im Kontext von Transkulturalität als neuem literatur- und kulturdidaktischen Konzept führten zu einer kritischen Reflexion des Kulturbegriffes in der Fremdsprachendidaktik und zu einer kontroversen Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern inter- und transkulturelle Ansätze miteinander vereinbar sind (Delanoy 2006; Bredella 2012). Während in Bezug auf die Definition der theoretischen Konzepte und die Frage nach der Vereinbarkeit von Inter- und Transkulturalität keine Einigkeit besteht, lässt sich für die fremdsprachliche Literaturdidaktik festhalten, dass sowohl interals auch transkulturelle Ansätze Literatur in den Blick nehmen, in der kulturelle Vielfalt bzw. Diversität und mehrkulturelle Identitätsentwürfe erfahrbar werden: Interkulturelle Ansätze heben vor allem die Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit und die Möglichkeit zum Perspektivenwechsel bzw. zur Perspektivenübernahme hervor. Transkulturelle Ansätze fokussieren hingegen stärker die Auseinandersetzung mit kultureller Vielstimmigkeit bzw. Multiperspektivität mit kulturellen Brüche, Durchdringungen, Hybridisierungen und Überlappungen (↗ Art. 17). In der Deutschdidaktik argumentieren Dawidowski & Wrobel (2006: 1) für die „Ausweitung des Literaturunterrichts auf interkulturelle Kontexte“, die dazu führt, dass die Ausrichtung des Deutschunterrichts an primär monokulturellen Inhalten aufgegeben wird. Dabei wird u. a. die Bedeutung von Schule als Ort der Sozialisation hervorgehoben, der Heranwachsenden Entwürfe anbieten muss, um kulturelle Diversität erfahrbar zu machen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Zudem wird auf die Bildungsrelevanz von Literatur verwiesen, die Alteritätserfahrungen ermöglicht, Perspektivenwechsel inszeniert und damit den Aufbau empathischer Haltungen und 222 BrittaFreitag-Hild einen neuen Blick auf die Welt unterstützen kann. Den Autoren geht es dabei um „Interkulturalität als eine Leseperspektive neben anderen“ (ebd.: 5), die sich nicht auf Literatur mit interkultureller Thematik beschränkt. Wintersteiner (2006) hingegen plädiert mit seinem Konzept für einen Paradigmenwechsel von der nationalen zur transkulturellen literarischen Bildung, die eine Erweiterung des Literaturkanons in Richtung einer Literatur mit interkultureller Thematik, postkolonialer Literatur und Weltliteratur beinhaltet und die zu „weltoffener politischer Bildung und globalem Lernen“ (ebd.: 10) beitragen soll. 3. Praxisrelevanz Aus den theoretischen Überlegungen zur Interkulturalität und Transkulturalität im Literaturunterricht lassen sich Implikationen für die Unterrichtspraxis ableiten, die u. a. die Zielsetzungen, Fragen der Textauswahl und -kombination, didaktische Prinzipien zur Gestaltung des Unterrichts sowie methodische Ansätze und Aufgabenformate betreffen (Freitag-Hild 2010; Alter 2015): Im Kontext von Migration und Globalisierung erscheinen für den Fremdsprachenunterricht vor allem koloniale und postkoloniale literarische Texte als auch Exil-, Diaspora- und Migrantenliteraturen interessant, in denen es u. a. um interkulturelle Begegnungen, um Fragen der kulturellen Identität und Zugehörigkeit, um Ausgrenzung bzw. gesellschaftliche Teilhabe und um Prozesse des kulturellen Wandels geht (↗ Art. 40). Weil diese Texte Kulturkontakte und kulturelle Vielstimmigkeit inszenieren, wird Mehrkulturalität während der Rezeption für Lernende erfahr- und reflektierbar (Fäcke 2006). Um kulturelle Diversität und Vielstimmigkeit angemessen im Unterricht zu repräsentieren, wird zudem auf die Notwendigkeit von Textvielfalt bzw. Intertextualität und die Einbindung literarischer Texte in ihre kulturellen Kontexte verwiesen (Hallet 2007). Mit Blick auf geeignete methodische Ansätze und Aufgabenformate werden zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Lesarten vorgeschlagen (Schumann 2008): Während beim empathischen Lesen die Auseinandersetzung mit einzelnen Figuren und Ziele wie Perspektivenwechsel und -übernahme im Mittelpunkt stehen, geht es beim kulturellen Lesen um das Herstellen von Bezügen zwischen dem literarischen Text und seinen kulturellen Kontexten und um das Verstehen, welche besondere Sichtweise der Text auf seine Kontexte wirft. Als geeignete Methoden und Aufgabenformate werden u. a. Rezeptionsgespräche, handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, Aufgaben zur Textinterpretation und -analyse sowie zur Reflexion und Aushandlung vorgeschlagen. 4. Perspektiven Obwohl Interkulturalität und Transkulturalität in der Literaturdidaktik viel Aufmerksamkeit erfahren hat, sind viele Fragen sowohl in der Theorie als auch in Bezug auf die Unterrichtspraxis noch offen. Nachdem mit den RePA-Deskriptoren (↗ Art. 20) ein Vorschlag zur Operationalisierung interkultureller Kompetenzen vorliegt (Meißner 2013), ist z. B. in der Literaturdidaktik zu überprüfen, ob dieses Kompetenzmodell auch als Grundlage für den Kompetenzerwerb im inter- und transkulturellen Literaturunterricht unterschiedlicher Jahrgangsstufen genutzt werden kann. Auch die Frage, welche Herausforderungen sich für die Lehrkraft stellen und welche Kompetenzen Fremdsprachenlehrende selbst für den 223 42. MehrkulturalitätundMehrsprachigkeitim Literaturunterricht Literaturunterricht mit multi- und transkulturellen Texten benötigen, ist bislang nicht systematisch angegangen worden. Gerade mit Blick auf Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7, 8) wird allerdings deutlich, dass sich die Forschung zum fremdsprachlichen Literaturunterricht weitgehend auf den Aspekt der Mehrkulturalität fokussiert hat und die Frage nach der Einbindung von Mehrsprachigkeit häufig ausgeblendet wird: Mit Ausnahme der Arbeiten zu mehrsprachiger Migrationsliteratur in der Deutschdidaktik (vgl. z. B. Rösch 2017) besteht nach wie vor ein Forschungsdesiderat in der Erforschung der Frage, welche (mehrsprachige) Literatur sich für den Fremdsprachenunterricht eignet und wie dadurch Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht gefördert werden kann. Anregungen für eine ‚mehrsprachige Literaturdidaktik‘ - z. B. durch die Auseinandersetzung mit Chicano-Literatur - liefert Delanoy (2014). Literatur Alter, G. (2015): Interand Transcultural Learning in the Context of Canadian Young Adult Fiction . Münster. Bhabha, H. (1994): Die Verortung der Kultur. 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Dem von den Bundesländern Ende 2004 gegründeten Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde die Aufgabe übertragen, die Bildungsstandards weiterzuentwickeln und Aufgaben zur Überprüfung des Erreichens der Standards zu generieren. Die für die erste Fremdsprache Französisch eingerichtete Arbeitsgruppe am IQB setzte sich darüber hinaus u. a. mit der Kompetenzorientierung im Französischunterricht im Allgemeinen auseinander und entwickelte Lernaufgaben für die schwerpunktmäßige Förderung einzelner Kompetenzbereiche (Tesch et al. 2008). Für den Englischunterricht wurden Lernaufgaben entwickelt, die gleichzeitig verschiedene Kompetenzbereiche (weiter) fördern. Diese wurden während der Erprobung videographiert und ermöglichen so nicht nur Einblicke in die unterrichtliche Praxis, sondern geben gleichfalls Hinweise 225 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit auf bewährte Lehrstrategien für Kompetenz entwickelnde Lernaufgaben (Müller-Hartmann et al. 2013). Im November 2012 erschienen die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012), die ebenfalls Grundlage für die entsprechenden Lehrpläne der Bundesländer wurden. Darüber hinaus ersetzten sie die ländergemeinsamen Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung (EPA). Auch für diese Standards wurden in länderübergreifenden Arbeitsgruppen Lern- und Prüfungsaufgaben entwickelt, und in der Publikation von Tesch et al. (2017) die Standards im Rückgriff auf fachdidaktische Modelle erläutert. Obwohl sich die Bildungsstandards auf die Schulfächer Englisch und Französisch beziehen, wurden sie in vielen Bundesländern ebenfalls auf die anderen, i. d. R. als zweite und dritte Fremdsprachen unterrichteten Fächer bezogen. Damit kommt ihnen eine prägende Rolle für die Konzeption von und die Diskussion über Fremdsprachenunterricht in Deutschland insgesamt zu (↗ Art. 21). Es verwundert daher nicht, dass gerade die zuerst erstellten Bildungsstandards (KMK 2003) eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion in Fachdidaktik und Schulpraxis auslösten (vgl. z. B. Bausch et al. 2005). Zentrale Kritikpunkte waren neben dem Paradigmenwechsel von der Inputzur Outputorientierung der als zu eng empfundene Kompetenzbegriff und die damit einhergehende Vorstellung, alle Erträge von Fremdsprachenunterricht ließen sich valide messen, sowie der empfundene Verlust des Bildungsauftrags. Diese Kritik wurde vor allem am weitgehenden Fehlen und der Indienstnahme von literarischen Texten sowie an der Modellierung des Domänenbereiches „interkulturelle Kompetenzen“ exemplifiziert. Dagegen wurde an den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) außer am Fehlen eines eigenen Bereiches für literarisches Lernen (vgl. Grünewald et al. 2013) kaum Kritik geäußert. Es erscheint daher sinnvoll, die Konzeption der Bereiche Mehrkulturalität bzw. Interkulturalität (↗ Art. 32) und Mehrsprachigkeit in beiden Bildungsstandards vergleichend zu erläutern. Dazu werden auch die genannten Anschlusspublikationen, die mit Unterstützung des IQB herausgegeben wurden, mit herangezogen. 2. Die Bereiche „interkulturelle Kompetenzen“ (KMK 2003) und „interkulturelle kommunikative Kompetenzen“ (KMK 2012) In den Bildungsstandards, die sich auf die Schulfächer Englisch und Französisch beziehen, wird nicht von Mehr-, sondern von Interkulturalität gesprochen. Sie bezieht sich auf das Verstehen und Handeln im Umgang mit fremdsprachigen Kommunikationspartnern und -partnerinnen (auch als lingua franca ) sowie auf Diskurse und Texte aus den jeweiligen Zielsprachenländern. In den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) stellen die interkulturellen Kompetenzen neben den funktionalen Kommunikativen Kompetenzen und den methodischen Kompetenzen einen der drei Kompetenzbereiche dar. Dies sowie ein langer Absatz im einführenden Kapitel (vgl. KMK 2003: 6) betonen die Bedeutung dieses Kompetenzbereiches für den Fremdsprachenunterricht. Die Darstellung des Kompetenzbereiches selbst (KMK 2003: 16-17) besteht aus zwei kurzen Abschnitten zur Charakteristik interkultureller Kompetenzen, aus sieben „Kenntnisse[n] und Fertigkeiten“ (KMK 2003: 226 DanielaCaspari 16), die nur teilweise als „Can-do-Standards“ formuliert sind, und vier Wissensbereichen, auf die sich die Kenntnisse und Fertigkeiten beziehen sollen. Als die drei wichtigsten Teilkompetenzen werden in der graphischen Darstellung der Bildungsstandards soziokulturelles Orientierungswissen, verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz und praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen ausgewiesen (vgl. KMK 2003: 8 sowie die Erläuterungen auf S. 10). Anders als für die funktionalen kommunikativen Kompetenzen gibt es in dem Dokument für die interkulturellen wie auch für die methodischen Kompetenzen keine Aufgabenbeispiele. Insgesamt erscheint die Konzeption des Bereiches interkulturelle Kompetenzen nur teilweise gelungen. So attestieren Hu & Leupold (2008: 68) ihm „eine gewisse Allgemeinheit, Abstraktheit und zum Teil sicherlich unrealistische Überzogenheit“ und verweisen zur alternativen Modellierung auf das integrative Modell interkultureller Kompetenz von Byram (1997). Auch Caspari (2008: 22-26) kritisiert die Tatsache, dass den Ausführungen offensichtlich eine additive Auffassung interkultureller Kompetenz zugrunde liegt, die zudem die Dimension der Fremdsprachlichkeit weitgehend unbeachtet lässt. Stattdessen wird in dem Dokument dem Erwerb von „Orientierungswissen zu exemplarischen Themen und Inhalten“ (KMK 2003: 16-17) mit vier Unterpunkten im Vergleich zu den sieben „Kenntnisse[n] und Fertigkeiten“ eine hohe Bedeutung zugemessen. Da das Verhältnis dieses Wissens zu den Standards zudem vage bleibt, besteht die Gefahr, es als eigenen Bereich zu betrachten, der systematisch aufgebaut und überprüft werden kann. In der Publikation des Aufgaben-Entwicklungsprojektes für Französisch ist eine Reihe von Lernaufgaben enthalten, die interkulturelle Kompetenzen ins Zentrum setzen (vgl. die Auflistung in Hu & Leupold 2008: 70). Noch stärker wird dieser Kompetenzbereich im Aufgabenentwicklungsprojekt für Englisch berücksichtigt (vgl. Müller-Hartmann et al. 2013: 110-143). Sie verwenden das auf der Basis von Byram (1997) entwickelte Modell von Caspari & Schinschke (2007) mit seiner systematischen Einbeziehung der fremdsprachlichen Dimension und greifen für die Umsetzung insbesondere auf literarische Texte mit ihrem Angebot zum Perspektivenwechsel zurück. Die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife stellen nach Auffassung von Freitag-Hild (2016: 138-139) „insofern eine Weiterentwicklung der Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss dar, als interkulturelle Kompetenz hier als interkulturelle kommunikative Kompetenz neu definiert und positioniert wird [vgl. KMK 2012: 12-13]“. Sie umfasst nun die Bereiche Verstehen und Handeln, die sich in die drei Ebenen Wissen, Einstellungen und Bewusstheit auffächern, wobei das Wissen deutlich weiter gefasst (soziokulturelles, kommunikatives und strategisches Wissen) und sein Anwendungsbezug betont wird. In den Standards wird die sprachliche Dimension durchgängig berücksichtigt und es werden auch die Grenzen interkulturellen Kompetenzerwerbs sowie der produktive Umgang mit ihnen thematisiert: „[Strategisches Wissen] ermöglicht Schülerinnen und Schülern, mit eigenen und fremdem sprachlichem und kulturellem Nichtverstehen und mit der Begrenztheit ihrer Lernersprache in Kommunikationssituationen umzugehen“ (KMK 2012: 19). Die Standardformulierungen erfolgen durchgehend als Can-do-Standards und erscheinen insbesondere im Bereich der Einstellungen realistischer: Statt Neugier, Aufgeschlossenheit und Akzeptanz kultureller 227 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit Vielfalt (vgl. KMK 2003: 16, zweiter Aufzählungspunkt), wird nun die „Bereitschaft und Fähigkeit anderen respektvoll zu begegnen [und] sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen“ (KMK 2012: 19) angestrebt. Kritische Toleranz ist denn auch der anspruchsvollste Standard der Standards für die Allgemeine Hochschulreife: „[Die Schülerinnen und Schüler können] auch in für sie interkulturell herausfordernden Situationen reflektiert agieren, indem sie sprachlich und kulturell Fremdes auf den jeweiligen Hintergrund beziehen und sich konstruktiv-kritisch damit auseinandersetzen.“ (KMK 2012: 20) Um zu zeigen, wie auf dieses anspruchsvolle Ziel hingearbeitet werden kann, wurden sowohl Lernaufgaben entwickelt, in denen die fokussierte, progressionsorientierte Förderung interkultureller kommunikativer Kompetenz (IKK) im Mittelpunkt steht, als auch Aufgaben, in denen neben anderen Kompetenzen IKK gefördert wird, z. B. indem sie die Erarbeitung unterschiedlicher inhaltlicher Positionen zu einem Thema oder einen bewussten Perspektivenwechsel verlangen (eine Übersicht über die Aufgaben in Caspari & Burwitz-Melzer 2017: 36-55, dort auch weitere Prinzipien für Aufgaben zur Förderung IKK). Für die Überprüfung der IKK wurden auf der Basis der Standardformulierungen Kriterien entwickelt (vgl. die Beispiele für Prüfungsaufgaben in KMK 2012: 30 ff.), eine Testung erscheint nur für isolierte Aspekte oder die rezeptive Dimension sinnvoll, nicht jedoch für produktive Aufgaben (vgl. Caspari & Burwitz-Melzer 2017: 53). Insgesamt werden die Modellierung und die Vorschläge zur unterrichtlichen Realisierung der IKK in einem kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht als gelungen betrachtet. So kommt Freitag-Hild (2016: 139) zu dem Schluss, dass „das bildungspolitische Dokument die lange geforderte Veranschaulichung der definierten Anforderungen ein[löst], indem sowohl exemplarische Prüfungsaufgaben als auch Lernaufgaben vorgestellt werden, die komplexe Prozesse anstoßen sollen, und komplexe Kompetenzen bei der Überprüfung nicht auf Teilfertigkeiten reduziert werden.“ 3. Mehrsprachigkeit in den Bildungsstandards Wie für die interkulturelle kommunikative Kompetenz ist auch für „Mehrsprachigkeit“ (↗ Art. 7) eine deutliche Entwicklung von den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) zu denen für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) feststellbar. Analog zur interkulturellen Kompetenz wird auch dieses Konstrukt in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife für kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht modelliert und konkretisiert und es erlangt durch die Aufnahme in die Bildungsstandards eine völlig neue Bedeutung für den schulischen Fremdsprachenunterricht in Deutschland. In den Standards für den Mittleren Schulabschluss (KMK 2003) taucht der Begriff „Mehrsprachigkeit“ bzw. „mehrsprachig“ lediglich dreimal auf: als Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit („Mehrsprachigkeit stellt für nicht wenige Teilbereiche unserer Gesellschaft eine Realität dar“ [KMK 2003: 7]), als Zielsetzung für den Fremdsprachenunterricht (das „Handeln in mehrsprachigen Situationen am Ende der Sekundarstufe I“ [KMK 2003: 7]) und als Begründung für die Notwendigkeit des Erwerbs soziokulturellen Orientierungswissens hinsichtlich der Zielsprachenländer „für fremdsprachliches kommunikatives Handeln in mehrsprachigen Situationen“ (KMK 228 DanielaCaspari 2003: 10). Letzteres legt nahe, dass das Ziel individuelle Mehrsprachigkeit in diesem Dokument als Zweisprachigkeit verstanden wird: Muttersprache plus Schulfremdsprache. Eine solche begrenzte und additive Auffassung von Mehrsprachigkeit mag mit einer bestimmten Rezeptionsweise des GeR (Europarat 2001) zusammenhängen, der anders als der als Ergänzung erstellte „Referenzrahmen für plurale Ansätze“ (RePA) (Candelier et al. 2009) den Blick vor allem auf den Erwerb einzelner Fremdsprachen und weniger auf die Fähigkeit zu sprachenvernetzendem Lernen richtet (↗ Art. 18, 20). Die Anschlusspublikation für Französisch widmet dem Thema jedoch ein eigenes Kapitel (vgl. Meißner 2008: 35-43) und weist damit auf das fast völlige Fehlen dieses Bereiches hin - lediglich einzelne Standards im Bereich der methodischen Kompetenzen enthalten einzelne Hinweise -, zudem liefert sie Ansatzpunkte für dessen Konkretisierung. Diese wird in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) vorgelegt. Zwar wird der Begriff in der Fachpräambel und im Kapitel zu Standards ebenfalls nur selten, hier: viermal, verwendet, allerdings wird direkt im ersten Satz seine Bedeutung betont: „Mit Blick auf Europa als Kultur- und Wirtschaftsraum und die zunehmende Globalisierung gewinnt das Fremdsprachenlernen mit dem Ziel individueller Mehrsprachigkeit weiter an Bedeutung“ (KMK 2012: 11). Außerdem wird unterstrichen, dass dem Fremdsprachenunterricht „eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit im Hinblick auf lebensbegleitendes Sprachenlernen“ (KMK 2012: 11) zukommt. Neu ist ferner, dass Mehrsprachigkeit nun im Zusammenhang mit allen bereits vorhandenen sprachlichen Kompetenzen des Individuums betrachtet wird: „Dazu gehören vor allem die Erstsprache sowie Erfahrungen mit der ersten Fremdsprache und mit weiteren Fremdsprachen, die in der Schule oder auch außerschulisch gelernt werden.“ (KMK 2012: 11) Ebenfalls neu sind die beiden lateralen Kompetenzbereiche Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22), die sich nicht nur auf die zu erlernende Schulfremdsprache, sondern auch auf andere Sprachen beziehen. Sie liefern somit den bedeutendsten Beitrag zum Erwerb von Mehrsprachigkeit in einem kompetenzorientierten Unterricht. Sprachenbewusstheit, das Nachdenken über Sprache und Sprachen, und Sprachlernkompetenz, die Fähigkeit zunehmend eigenständig den Sprachlernprozess zu steuern, sind komplexe Kompetenzen, die kognitive, affektive, soziale und performative Aspekte enthalten und neben reflexiven auch attitudinale, volitionale und sensorische Fähigkeiten verlangen und fördern (vgl. Vollmer et al. 2017: 201). Beide Kompetenzbereiche sind eng miteinander verknüpft und können drei Ziele unterstützen: 1. den Erwerb und den Gebrauch einzelner Zielsprachen 2. den Erwerb sprachenübergreifenden Wissens und Könnens, auch als individuelles Bildungsziel 3. die Förderung individueller Mehrsprachigkeit. Diese zeigt sich insbesondere in einer größeren Bewusstheit über die in jeder Sprache bereits erreichten Kompetenzen und Teilkompetenzen sowie in der Fähigkeit und der Bereitschaft, auch das in anderen Sprachen bereits erworbene sprachliche und prozedurale Wissen und Können für weiteres Sprachenlernen und für die Kommunikation zu nutzen. Vollmer (2017: 202 f.) formuliert dies wie folgt: „Sprachenbewusstheit, so die [empirisch noch weiter zu belegende] Grundannahme, führt 229 43. Kompetenzorientierung,MehrkulturalitätundMehrsprachigkeit zu einer Verbesserung der Kenntnis von und über Sprache und Sprachen, zu erhöhter Sprachhandlungsfähigkeit und zur Überwindung von akuten Äußerungsschwierigkeiten. Langfristig dürfte sie die Fähigkeit erhöhen, den Zusammenhang zwischen vorhandenen und gelernten Sprachkompetenzen (egal welcher Herkunft und welcher Ausprägung) sowie zwischen Sprachen und damit zwischen den in einem mehrsprachigen Individuum aktivierbaren Sprachelementen bzw. Sprachrepertoires herzustellen.“ Um den letzteren Aspekt zu betonen, wird oft der Begriff „Sprachenbewusstheit“ benutzt (vgl. auch Vollmer 2017: 206). Die Aufgaben bzw. Teilaufgaben, die illustrieren, wie diese Kompetenzbereiche gefördert werden können, regen jedoch nur in einem Fall explizit zum Einbezug anderer Sprachen an. Insgesamt könnte auch bei den Standardformulierungen für Sprachenbewusstheit und für Sprachlernkompetenz der Aspekt der Mehrsprachigkeit deutlicher betont werden: In beiden Kompetenzbereichen ist dies lediglich in folgenden beiden Standards der Fall, wobei der jeweils zweite Standard dem erhöhten Niveau zugeordnet ist: Sprachenbewusstheit: „[Die Schülerinnen und Schüler können] Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Beziehungen zwischen Sprachen erkennen und reflektieren“ und „[sie] können Varietäten des Sprachgebrauchs sprachvergleichend einordnen“ (KMK 2012: 8). „Sprachlernkompetenz“: „[Die Schülerinnen und Schüler können] durch Erproben sprachlicher Mittel die eigene sprachliche Kompetenz festigen und erweitern und in diesem Zusammenhang die an anderen Sprachen erworbenen Kompetenzen nutzen“ und [sie können] „durch planvolles Erproben sprachlicher Mittel und kommunikativer sowie interkultureller Strategien die eigene Sprach- und Sprachhandlungskompetenz festigen und erweitern und in diesem Zusammenhang die an anderen Sprachen erworbenen Kompetenzen nutzen“. (KMK 2012: 22) Auch wenn die Standardformulierungen in diesen beiden Kompetenzbereichen so formuliert sind, dass der Erwerb und der Gebrauch der zu erlernenden Einzelsprache unterstützt wird, stellen sie bereits einen wichtigen, wenn nicht sogar den zentralen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur durchgängigen Sprachbildung dar (vgl. Caspari 2017). 4. Fazit und Ausblick Die Bildungsstandards leisten einen wichtigen Beitrag zur Modellierung, Konkretisierung und Verbreitung der beiden Zielsetzungen Erwerb von interkultureller kommunikativer Kompetenz und Förderung von Mehrsprachigkeit durch den Erwerb von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz im schulischen Fremdsprachenunterricht. Es handelt sich in allen Fällen um komplexe Kompetenzen, die kognitive, affektive, soziale und handlungsbezogene Aspekte enthalten und entweder fokussiert oder integriert gefördert werden können. Sie entsprechen einer weiten Auffassung von Kompetenzen und können im Zusammenhang mit rezeptiven und produktiven sprachlich-funktionalen Kompetenzen zwar überprüft, aber vermutlich nicht oder zumindest nicht sinnvoll getestet werden (↗ Art. 48, 49, 50). Aufgrund ihrer Zielsetzungen, der für ihren Erwerb notwendigen Reflexivität und ihrer systematischen Verknüpfung mit anderen Kompetenzbereichen leisten sie nicht nur einen Beitrag zum Fremdsprachenerwerb, sondern gleichfalls einen Beitrag zur Bildung der Schülerinnen und Schüler. Die anfangs genannte Kritik an einem kompetenzorientierten Fremd- 230 DanielaCaspari sprachenunterricht, so wie er in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (KMK 2003) modelliert wurde, trifft somit auf die hier dargestellten Kompetenzbereiche nicht zu. Für eine Weiterentwicklung wäre eine präzisere Analyse und Überprüfung der möglichen Synergieeffekte der einzelnen Teilkompetenzen für das Erlernen der Zielsprache wie für den Erwerb sprachenübergreifender Kompetenzen wünschenswert, ebenfalls eine didaktische Modellierung hinsichtlich unterschiedlicher Schwerpunkte je nach Erwerbsbeginn und gelernter Fremdsprache. Detailliert untersucht werden sollte ebenfalls das herausragende Potenzial zur Förderung aller drei Kompetenzbereiche durch den Kompetenzbereich Sprachmittlung (vgl. Caspari & Schinschke 2017). Literatur Bausch, K.-R., Burwitz-Melzer, E., Königs, F. G. & Krumm, H.-J. (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand . Arbeitspapiere der 25. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): RePA. 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(2017): Sprachbewusstheit. In: B. Tesch, X. von Hammerstein, P. Stanat & H. Rossa (Hrsg.): Bildungsstandards aktuell: Englisch / Französisch in der Sekundarstufe II . Braunschweig, 201-219. Daniela Caspari 44. Strategien und ihre Förderung im Rahmen interkultureller Ansätze 1. Ausgangslage Für die Fremdsprachendidaktik zentrale Modelle weisen strategische Kompetenz als feste Bestandteile der Kommunikationsfähigkeit aus. Canale & Swain (1980) beispielsweise verstehen die strategische Kompetenz vorrangig als Umsetzung von Kompensationsbzw. Kommunikationsstrategien, z. B. um Defizite in der Zielsprache auszugleichen. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen (↗ Art. 18) betont, dass „auch Muttersprachler regelmäßig kommunikative Strategien aller Art [einsetzen], die der jeweiligen Situation angemessen sind.“ Dabei wird verdeutlicht, dass Strategien Sprechern dazu dienen, die eigenen Ressourcen zu mobilisieren und ausgewogen zu nutzen, Fertigkeiten und Prozesse zu aktivieren, um die Anforderungen der Kommunikation in einem Kontext zu erfüllen und die jeweilige Aufgabe erfolgreich und möglichst ökonomisch der eigenen Absicht entsprechend zu bewältigen. (Europarat 2001: 63 f.) Es besteht Konsens darüber, dass Lerner strategische Kompetenz auch zur Bewältigung (inter)kultureller kommunikativer Anforderungen entwickeln sollen (Europarat 2001: 104). Gleichwohl war die Frage nach den für die interkulturelle Kommunikation (↗ Art. 33) relevanten Strategien und ihrer Vermittlung bisher kaum Schwerpunkt fremdsprachendidaktischer Debatten. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass der Fokus der Forschung vorrangig auf der Modellierung und Operationalisierung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz lag (u. a. Hu & Byram 2009). 232 HélèneMartinez Der vorliegende Beitrag diskutiert den Forschungsstand hinsichtlich der Rolle von Strategien im Rahmen interkultureller Ansätze (↗ Art. 32) und skizziert Desiderata sowie Entwicklungsperspektiven für diesen Bereich. 2. Begrifflichkeit Obwohl der Begriff der „Strategie“ im Rahmen der Lernerorientierung bereits in den 1970er Jahren eingeführt wurde, gibt es bis heute keine einheitliche Definition von Sprachlernstrategien. In Anlehnung an Schramm (2014: 97) wird hier auf den weitreichenden Definitionsversuch von Gu (2005) verwiesen, nach dem „der prototypische Kern einer Strategie als Abfolge von Problemlösungsschritten [bestimmt wird], die zielgerichtet, selbst-initiiert, bewusst und automatisiert ist und die weiterhin (metakognitiv) kontrolliert und bewertet wird“ (auch Oxford 2017: 48). Verschiedene Klassifizierungsversuche zielen auf eine prinzipielle Unterscheidung zwischen kognitiven und metakognitiven Strategien, Kommunikationsbzw. Sprachgebrauchsstrategien sowie affektiven und sozialen Strategien (u. a. Kasper 1982; O’Malley & Chamot 1990; Oxford 1990). Daneben sind Spracherwerbs- und Sprachlernstrategien zu nennen. Metakognitive Strategien dienen der Steuerung und Regulation des Lernprozesses. Ihnen wird eine herausragende Funktion für die Entwicklung fremdsprachlicher Kompetenzen zugesprochen (O’Malley & Chamot 1990: 8). Kommunikative Strategien werden meistens in Abgrenzung zu Lernstrategien definiert. Allerdings ist eine strikte Trennung zwischen Lernstrategien und Kommunikationsstrategien nicht sinnvoll, da Kommunikationsstrategien durchaus auch als Lernstrategien fungieren können. Oxford (2017: 154) plädiert zu Recht dafür, von einem Kontinuum zwischen fremdsprachlichem Lernen und Anwenden zu sprechen. Kommunikationsstrategien sind in der einschlägigen Strategietypologie Oxfords (1990) integriert, etwa in der Kategorie der Kompensationsstrategien bei direkten Strategien (wie z. B. einen nicht verfügbaren Ausdruck umschreiben) und in der Kategorie der sozialen Strategien (wie z. B. bei Unsicherheiten den Kommunikationspartner um Korrektur bitten) als indirekte Strategie. Kulturspezifische Strategien bilden keine „eigene“ Kategorie an sich und werden - wenn überhaupt - der Kategorie der sozialen Strategien zugeordnet (die eigene Empathiefähigkeit durch Kenntnisse über die Kultur einer anderen Nation erweitern). Mit dem Akronym CRITERIA hat zuletzt Oxford (2017: 201 f.) „elements of Sociocultural Competence and Related Strategies” herausgearbeitet. CRITE- RIA steht für „cooperation, respect, integrity, tolerance of ambiguity, exploration, reflection, intercultural empathy, and acceptance of complexity“. Die Ausführungen stehen nicht ohne Bezug zu dem für die Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) zentralen Diskurs um den Begriff des Transfers (↗ Art. 64). Auch dort behandeln zahlreiche Arbeiten Anleitungen zur Einleitung von Transferprozessen (z. B. Haastrup 1985). Sie betreffen sowohl inter- und intralingualen als auch didaktischen Transfer (für eine Auflistung der entsprechenden Strategien s. z. B. Bär 2009: 78 f.). 3. Forschungsstand Ansätze zur Konzeptualisierung und Förderung (inter)kultureller Strategien finden sich vorwiegend in Publikationen zur interkulturellen Kommunikation. Sie knüpfen an Modellierungen von „Kommunikationsstra- 233 44. Strategienundihre FörderungimRahmeninterkulturellerAnsätze tegien“ an, welche allgemein „als Verfahren definiert [werden], die ein Lerner zielgerichtet anwendet, um kurzfristige Diskrepanzen zwischen kommunikativen Anforderungen und seinen lernersprachlichen Möglichkeiten aufzulösen“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1982: 140). Dabei können Diskrepanzen sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption auftreten. Im deutschen Sprachraum legen Knapp & Knapp-Potthoff bereits 1982 eine Klassifizierung produktionsbezogener Kommunikationsstrategien vor und unterscheiden zwischen Reduktionsstrategien, lernersprachbezogenen Strategien und Kompensationsstrategien. Diese (eigen)produktionsbezogenen Strategien werden in der weiterentwickelten Klassifizierung von Dörnyei & Scott (1997) um Strategien ergänzt, die sich auf Probleme mit der fremdsprachlichen Performanz des Sprachpartners beziehen. Letztere Klassifizierung, die alle bisher existierenden Taxonomien subsumiert, unterscheidet zwischen direkten, indirekten und interaktionalen Strategien (vgl. auch Hoschii & Schramm 2017). In einer einschlägigen Publikation zu Strategien beim Erwerb fremder Sprachen setzt sich Vollmer (1997) mit den Merkmalen und Besonderheiten der interkulturellen Kommunikation aus der Perspektive des Hörers als non-native speaker auseinander und arbeitet die Strategien der Verständnis- und Verstehenssicherung im Rahmen interkultureller Begegnungssituationen heraus. Er identifiziert dabei drei große Bereiche, denen er unterschiedliche Strategien zuordnet: (a) formale Strategien der Rückkopplung/ Rückversicherung durch Hörersignale, (b) metakognitive Strategien der Aufklärung von Verständnisschwierigkeiten und der Überwindung von Nicht-Verstehen, (c) inhaltliche Strategien der Verstehenssicherung durch den Hörer als sekundären Sprecher (ebd.: 242 ff.). Darüber hinaus hat vor allem Knapp-Potthoff die Diskussion um Strategien im Rahmen des Diskurses zur „interkulturellen Kommunikation“ immer wieder thematisiert und den Strategien sowie ihrer Vermittlung einen besonderen Stellenwert zugesprochen. Ihr erstes Strategienmodell (Knapp-Potthoff 1987) differenziert nach rezeptiven und produktiven Strategien und fokussiert überwiegend auf die pragmatisch-kommunikativen Aspekte interkultureller Kommunikation. Dazu zählen Strategien der Verständniskontrolle, der metakommunikativen Kontrolle, der Mehrfachinterpretation, Produktionsstrategien etc. In ihrer späteren Konzeptualisierung einer dynamischen und prozesshaften interkulturellen Kommunikationsfähigkeit werden Strategien des Umgangs mit kultureller Andersartigkeit modelliert. Dabei wird unterschieden zwischen Strategien, die auf den erfolgreichen Verlauf einer Interaktion gerichtet sind, und denjenigen, die als „Lern- und rudimentäre Forschungsstrategien“ auf die Erweiterung und Differenzierung von fremdkulturellem Wissen zielen (vgl. Knapp & Knapp-Potthoff 1990). Die Interaktionsstrategien setzen Empathiefähigkeit und Toleranz sowie kulturspezifisches Wissen und allgemeines Wissen über Kultur (↗ Art. 1) und Kommunikation/ interkulturelle Kommunikationsbewusstheit voraus und umfassen u. a.: • das Bemühen, die Kommunikationsbereitschaft der Partnerin/ des Partners zu erhalten, indem Tabuverletzungen vermieden werden; • das Signalisieren von Annäherungsbereitschaft an die andere Kultur (z. B. durch den Versuch der zumindest partiellen Verwendung der Muttersprache des Interaktionspartners, durch partielle Anpassung an die vermuteten Konventionen des Kommunizierens in seiner 234 HélèneMartinez Kultur, durch die Suche nach common grounds ); • die Suche nach Gemeinsamkeiten für die Interaktion, (z. B. die Suche nach der besten gemeinsamen Sprache, nach gemeinsamem Erfahrungshintergrund aufgrund ähnlicher sozialer Rollen, nach vermuteten Gemeinsamkeiten der beteiligten Kulturen); • das Achten auf Indizien für Missverstehen in der Interaktion auf der Basis der Erwartung, dass eigene Äußerungen missverstanden worden sein könnten; • das Nutzen spezifischen Wissens über die fremde Kommunikationsgemeinschaft sowie allgemeinen Wissens über Unterschiede zwischen verschiedenen Gemeinschaften für die Hypothesen über die vom jeweiligen Kommunikationspartner intendierte Bedeutung (vgl. Knapp-Potthoff 1997: 202 f.). Zu den „Lern- und rudimentären Forschungsstrategien“ gehören Strategien der systematischen Beobachtung und gezielten Befragung, sowie das probeweise Verletzen angenommener Konventionen zu weiterem Wissenserwerb über fremde Kulturen. Eine weitere Erwähnung verdient die Typologie von Strategien zur Bewältigung von Problemen interkultureller Kommunikation (Erll & Gymnich 2007: 142 ff.). Über rhetorische und explizite metakommunikative Strategien hinaus wird reflexiven und affektiven bzw. volitionalen Dimensionen von Strategien (Lernmonitoring, Sprachen- und Lernaufmerksamkeit, Reduktion von Unsicherheit) eine besondere Rolle zugesprochen. Strategien stehen im Kern der Konzeptualisierung interkultureller Kommunikationsfähigkeit: „Es geht hier im Wesentlichen um einen Komplex von analytisch-strategischen Fähigkeiten, die das Interpretations- und Handlungsspektrum des betreffenden Individuums in interpersonaler Interaktion mit Mitgliedern anderer Kulturen erweitern. In diese analytisch-strategischen Fähigkeiten sind Wissen über andere Kulturen generell, die Veränderung von Einstellungen und eine Sensibilität ( awareness ) gegenüber kulturbedingter Andersartigkeit integriert“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1990: 83). Eng damit verbunden sind Überlegungen aus der Awareness - Diskussion. Dabei wird meistens zwischen Kommunikationsstrategien, Strategien der Körpersprache, Diskursstrategien und Dominanzstrategien (Rampillon 1997: 177 ff.) unterschieden. „Alle diese Strategien erfordern die Sensibilität und Bewußtheit [sic] der Lernenden für die Prozesse, die bei der Benutzung der Sprache stattfinden und für die Wirkungsweisen, die durch sie ausgelöst werden. Über diese Sensibilität können sie Erfahrungen darin sammeln, wie Sprache funktioniert und welche Strategien sie in der Kommunikation einsetzen können.“ (ebd.: 177) Die Anbahnung einer (inter)cultural awareness wird als ein wesentliches Moment im interkulturellen Lernprozess gesehen (vgl. Byram 1991; vgl. hierzu ethnographisch orientierte Ansätze [Roberts et al. 2001] und/ oder „autobiographie des rencontres interculturelles“ [Byram et al. 2009]). In der Auseinandersetzung mit interkulturellen Begegnungen (Byram et al. 2009) werden die Lernenden angeleitet, reflexive Strategien bzw. metakognitive Strategien zu aktivieren, allerdings ohne eine explizite Strategievermittlung (↗ Art. 45, 48). Strategien im Bereich der Interkulturalität korrelieren mit den Erkenntnissen der Didaktik des Fremdverstehens (Bredella 2012); etwa zu Perspektivenwechsel, Aussetzen von Vorurteilen, Bereitschaft zur Veränderung des eigenen Standpunktes, kritische Beurteilung 235 44. Strategienundihre FörderungimRahmeninterkulturellerAnsätze des Fremden und des Eigenen (↗ Art. 34, 36). Derlei weitgreifende, die Dimensionen von Attitüden und Volitionalität erfassende Prinzipien des Fremdverstehens betreffen die Voraussetzungen für die in einer kommunikativen Situation anwendbaren Strategien. Wenn auch der Lerner mit seiner individuellen Lernbiographie ins Zentrum der didaktischen Überlegungen gerückt ist (Christ 1997) und er zum „Mittler zwischen Kulturen“ (Byram 2008) erzogen werden soll, bleiben viele interkulturelle Ansätze einem einzelsprachlichen Paradigma verhaftet, welches das Erlernen einer Zielsprache auf der Grundlage einer einzelnen Ausgangssprache bzw. einer einzelnen Ausgangskultur suggeriert (zur Problematik von Ausgangs- und Zielsprache vgl. Christ 2002: 31). Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) (Candelier et al. 2009; ↗ Art. 20) bricht mit diesem Ansatz und beschreibt die Kompetenzen und Ressourcen, die im Kontext mehrsprachiger und mehrkultureller Kommunikationssituationen aktiviert werden (können) mit dem Ziel, diese pädagogisch fassbar zu machen (vgl. Meißner & Morkötter 2009). Gemäß der Definition von Mehrsprachigkeitskompetenz beschreibt der RePA zwei allgemeine Kompetenzbereiche, „deren Entwicklung durch die Anwendung von pluralen Ansätzen besonders begünstigt erscheint“: die „Kompetenz, sprachlich und kulturell im Kontext von Alterität angemessen zu kommunizieren“ sowie „die Kompetenz zum Aufbau und zur Ausweitung eines mehrsprachigen und plurikulturellen Repertoires“ von Strategien (Candelier 2009: 20). Dabei listet der RePA in Form von Deskriptoren systematisch die betroffenen Kompetenzen und Ressourcen auf, bezogen auf die interagierenden Domänen savoir, savoir-faire und savoirêtre und nicht zuletzt savoir-apprendre . Der RePA ermöglicht damit eine Konkretisierung der Ressourcen, die in einer mehrkulturellen Kommunikationssituation mobilisiert werden können und liefert eine wichtige Grundlage für die Modellierung entsprechender Strategien. Besonders hilfreich sind m. E. die Ressourcen bezogen auf savoir-être , da sie einhergehen mit der Mobilisierung volitionaler und attitüdinaler Strategien. An der Dimensionierung des RePA orientieren sich Caspari & Schinschke (2009), die eine Aufgabentypologie zur Überprüfung interkultureller Kompetenz vorschlagen (↗ Art. 43). Strategien werden dabei explizit den Bereichen der interkulturellen kommunikativen Kompetenz zugeordnet und als Dimensionen von „Wissen“ ( savoir ), „Können/ Verhalten“ ( savoir-faire ) und „Einstellungen“ ( savoir-être ) definiert: • Unter „strategischem Wissen“ verstehen die Autorinnen „Kenntnisse über Prozesse, die für interkulturelle Kontakte relevant sind, z. B. Wissen über die kulturelle Geprägtheit des menschlichen Verhaltens, der menschlichen Wahrnehmung und Wertung und über die Notwendigkeit, das Wissen über fremde Kulturen/ Kontexte beim Versuch der Perspektivenübernahme anwenden zu müssen“. • „Strategien im Bereich von ‚Verhalten/ Können‘ umfassen Strategien zum Perspektivenwechsel […], zum Umgang mit nicht-Verstehen und Missverständnissen oder zur Bewältigung von Konfliktsituationen.“ • Unter „Einstellungen“ wird die „Bereitschaft, die o. g. Strategien anzuwenden“ verstanden. (vgl. Caspari & Schinschke 2009: 277) Die Integration von Strategien als Bestandteil von Aufgaben ist ein wesentliches Merkmal 236 HélèneMartinez der Aufgabentypologie zur Überprüfung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, ließe sich allerdings um mehrsprachige und mehrkulturelle Dimensionen weiter ausdifferenzieren (↗ Art. 22, 70). 4. Fazit und Ausblick Dieser Forschungsüberblick weist auf eine Entwicklung von Kommunikationsstrategien zu ‚kulturbezogenen‘ Strategien bzw. Strategien zum Umgang mit Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit hin (↗ Art. 7, 8). Zugleich wird deutlich, dass bislang keine umfassende Konzeptbildung stattgefunden hat. Affektive, soziale und metakognitive Strategien, die zur Regulierung und zur Reflexion der Kommunikations- und Lernprozesse sowie kultureller Aushandlungsprozesse und für den Aufbau einer reflexiven interkulturellen Kompetenz unerlässlich sind, sind in der deutschsprachigen Diskussion nicht systematisch berücksichtigt. Der oben erwähnte RePA (Candelier et al. 2009) listet systematisch Deskriptoren der Kompetenzdomänen savoir , savoir-faire , savoir-être und nicht zuletzt savoir-apprendre in der Perspektive auf sog. Plurale Ansätze (integrierte Fremdsprachendidaktik, Interkomprehension, interkulturelles Lernen, Sprachenbewusstheit) auf und könnte zur Konkretisierung - insbesondere - der affektiven und volitionalen Strategien ( savoir-être ) einen besonderen Beitrag leisten (↗ Art. 20). Weiterhin betonen jüngste Publikationen erneut (z. B. Oxford 2017) die affektive, motivationale sowie soziokulturelle Dimension von Lernprozessen und scheinen für eine Weiterentwicklung der für die interkulturelle Kompetenz relevanten Strategien hilfreich zu sein. Damit einher geht eine Differenzierung und Erweiterung von Strategietypen. Sogenannte Metastrategien „metastrategies as executive functions“ (ebd.: 155) werden als Ergänzung zu reinen meta-‚kognitiven‘ Strategien auf alle weiteren Komponenten des Lernprozesses erweitert. Oxford (ebd.) spricht von „metamotivational strategies“, „metasocial strategies“ und „meta-affective strategies“, welche der Regulation der motivationalen, sozialen und affektiven Dimension im Lernprozess dienen. Die Berücksichtigung der sozialen und metasozialen Strategien (Reflexion und Steuerung von sozialen Strategien) erscheint umso wichtiger, als neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Sprecherinnen oder Sprecher in der kommunikativen Interaktion miteinander kollaborieren - und nicht jeweils einzeln an der Überwindung ihrer L2-Sprachdefizite arbeiten (Hoschii & Schramm 2017). Daran anknüpfend sind weitere Forschungsaktivitäten im Hinblick auf Strategien, die im Bereich mehrsprachiger und mehrkultureller Kontexte entfaltet werden, erforderlich (dazu Nied Curcio & Cortés Velásquez 2018). Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Bredella, L. 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Die Tandempartner finden sich über eine Vermittlungsstelle vor Ort oder eine Online-Tandempartner-Börse, erhalten methodische Hinweise zum Tandemlernen, entscheiden dann aber gemeinsam und selbstgesteuert, wo, wann, wie lange sie sich treffen und auf welche Weise sie sich worüber und mit welchem Ziel unterhalten. Von Präsenztandem spricht man, wenn beide Tandempartner gleichzeitig am selben Ort anwesend sind; der Austausch erfolgt hierbei von Angesicht zu Angesicht, zeitlich synchron und mündlich (↗ Art. 103). Ein Distanztandem liegt vor, wenn beide Tandempartner räumlich voneinander getrennt mit Hilfe elektronischer Medien kommunizieren. Bei E-Mail-Tandems findet die Kommunikation zeitlich asynchron und schriftlich statt (↗ Art. 102). Soll das Prinzip des partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit für die Förderung einer „echten“ Mehrsprachigkeit (vgl. Bausch 2016: 285) und Mehrkulturalität genutzt werden, d. h. dem Erlernen von mindestens zwei Fremdsprachen neben der Muttersprache, so sind zwei Möglichkeiten denkbar (↗ Art. 7, 8). Zum einen das Arbeiten in mehreren, voneinander unabhängigen Einzeltandems, neben- oder nacheinander, wobei die beiden 239 45. FormenpartnerschaftlichenLernensaufGegenseitigkeit Fremdsprachen (auf meist unterschiedlichem Kompetenzniveau) mit jeweils anderen muttersprachlichen Tandempartnern gelernt werden. Eine andere, bislang jedoch wenig praktizierte Möglichkeit ist die eines mehrsprachigen Tridems. Hierbei lernen alle drei Tridempartner die Sprache der anderen, wobei die Muttersprache des einen in diesem Fall die Zielsprache der beiden anderen ist (z. B. Deutsch-Französisch-Spanisch). 2. Problemaufriss Das auf den Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Lernerautonomie beruhende Tandemlernen stellt hinsichtlich der Aneignungsform eine Mischform aus ungesteuertem Spracherwerb und gesteuertem Sprachenlernen (Herfurth 1993) dar, da es einerseits durch den Kontakt mit einem Muttersprachler Möglichkeiten des authentischen, spontanen Austauschs eröffnet, so wie man es außerhalb von Unterricht im Zielsprachenland antrifft. Andererseits findet die Kommunikation in einem Lehr-Lern-Kontext statt, in dem die Tandempartner durch eine (explizite oder implizite) „didaktische Vereinbarung“ wechselseitig die Rolle des Lernenden der Fremdsprache und die des Lehrenden für die eigene Muttersprache einnehmen. In der Lernerrolle wendet der Tandempartner die Fremdsprache an, bittet um Hilfe bei Formulierungsschwierigkeiten oder fragt nach bei Verständnisproblemen. In der Rolle des Muttersprachlers ist der Tandempartner „Lehrperson“ in dem Sinn, dass er zum einen den Tandempartner hinsichtlich vereinbarter Fehleraspekte korrigiert und auf sprachliche Formulierungsalternativen hinweist. Zum anderen dient er durch eigene muttersprachliche Beiträge als sprachliches Vorbild und hilft bei Verständnisschwierigkeiten. Zu dieser Rolle gehört beim Tandemlernen dagegen nicht, Lernziele und Lernwege für das Gegenüber festzulegen. Dem Prinzip der Lernerautonomie folgend, ist es der Tandempartner in der Lernerrolle, der festlegt, wozu, was und wie er lernen möchte (vgl. Schmelter 2004). Bei mündlicher Kommunikation wird empfohlen, dass beide Tandempartner die Hälfte der zur Verfügung stehenden Zeit in der einen Sprache, die andere Hälfte in der anderen Sprache miteinander kommunizieren. Durch einander abwechselnde, einsprachige Phasen soll sichergestellt werden, dass beide Tandempartner in gleichem Maße die Gelegenheit bekommen, auf ihrem jeweiligen Niveau in der Fremdsprache zu sprechen und das Gegenüber in seiner Muttersprache sprechen zu hören. Bei schriftlicher Kommunikation über E-Mail wird geraten, den ersten Teil der E-Mail in der eigenen Muttersprache zu verfassen, den zweiten Teil in der Fremdsprache. Diese Vereinbarung zur Sprachenwahl ist auch für ein mehrsprachiges Tridem geeignet, wenn das Ziel verfolgt wird, gleichzeitig die rezeptiven und produktiven Fertigkeiten in einer der Fremdsprachen zu trainieren. Voraussetzung ist, dass die Tridempartner bei ihrem Treffen für einen vorher vereinbarten Zeitraum gleichzeitig nur in einer der drei Sprachen sprechen und nacheinander alle drei Sprachen gleichberechtigt zum Zuge kommen. Das Tridem kann auch dazu genutzt werden, das in einigen Ansätzen der Mehrsprachigkeitsdidaktik verfolgte Ziel der rezeptiven Mehrsprachigkeit (↗ Art. 9) zu fördern. Dafür müssen die Tridempartner vereinbaren, dass alle in ihrer Muttersprache sprechen und somit die beiden jeweiligen Fremdsprachen lediglich rezeptiv verstanden, nicht aber gesprochen werden müssen. 240 MarkBechtel Neben dem fremdsprachlichen Lernen kann das Tandemlernen auch zum interkulturellen Lernen genutzt werden (vgl. Bechtel 2003). Dabei erleichtern der Lehr-Lern-Kontext und die Beidseitigkeit des Lerninteresses den Tandempartnern, sich wechselseitig kulturelles Wissen anzueignen, eigene Wirklichkeitserfahrungen mit denen des Gegenübers in Beziehung zu setzen, die eigene Perspektive darzustellen und den Versuch zu unternehmen, die Perspektive des Gegenübers zu verstehen (↗ Art. 32). Für das Tandemlernen bieten sich insbesondere Themen und Aufgabenstellungen an, die auf den unmittelbaren Erfahrungsbereich der Tandempartner abzielen, über den sie kompetent berichten können (Familie, Freunde, Schule/ Arbeitswelt, Freizeit). Als Anregung können eigens für das partnerschaftliche Lernen auf Gegenseitigkeit entwickelte Arbeitsblätter mit Fragen dienen, durch die der Austausch auf bestimmte Aspekte des Themas gelenkt wird (z. B. OFAJ/ DFJW 2012). 3. Forschungsstand Im Fokus der Forschung stehen das sprachliche und das interkulturelle Lernen im Tandem sowie die Tandem-Lernberatung. Empirische Untersuchungen zu mehrsprachigen Tridems liegen nicht vor. Im ersten Bereich wurde in konversationsanalytischen Untersuchungen nachgewiesen, dass beim Sprachenlernen im Tandem sowohl Kommunikationsstrategien anzutreffen sind, wie sie in „natürlicher“ Muttersprachler-Nichtmuttersprachler-Kommunikation beobachtet werden können (Dausendschön-Gay 1987), als auch ein spezielles Sprachlehr- und -lernverhalten, das beide Tandempartner anwenden, um die Fremdsprache zu lernen und den Tandempartner beim Sprachenlernen zu unterstützen (Rost-Roth 1995). Im zweiten Bereich kommt Herfurth (1993) zu dem Ergebnis, dass Kommunikationsschwierigkeiten, die sich aus begrenzten Sprachkenntnissen und unzureichenden Kenntnissen über den kulturellen Hintergrund des Gegenübers ergeben, im Tandem zur Antriebskraft für die weitere Kommunikation werden können, wodurch auch Probleme interkultureller Art leichter, schneller und offener thematisiert würden. Bechtel (2003) zeigt, wie Tandempartner bei der Darstellung und Übernahme von Perspektiven vorgehen und wie sie dabei ihre Rolle als Mittler zwischen unterschiedlichen Perspektiven ausfüllen. Der dritte Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Frage der Lernberatung von Einzeltandems. Aus der Rekonstruktion der Art und Weise, wie Tandempartner das selbstgesteuerte Fremdsprachenlernen im Tandem aus ihrer Sicht gestalten und wie Beratende dies einschätzen, werden Vorschläge zur Verbesserung der Beratungspraxis entwickelt (Hahn & Reinecke 2013). 4. Praxisrelevanz Das partnerschaftliche Lernen auf Gegenseitigkeit hat überall dort praktische Relevanz, wo es zu direkten oder virtuellen Begegnungen von Lernenden mit beidseitigem Sprachlerninteresse kommt (↗ Art. 102, 103). Im Präsenzbzw. Distanzmodus erlaubt es Fremdsprachenlernenden im Kontakt mit Muttersprachlern, ihre Kenntnisse außerunterrichtlich selbstgesteuert anzuwenden, meist in Ergänzung zu einem Sprachkurs oder als Alternative, wenn aus finanziellen Gründen und unpassenden zeitlichen und curricularen Vorgaben ein Sprachkurs nicht in Frage kommt. Eine Reihe von Online-Tandemporta- 241 45. FormenpartnerschaftlichenLernensaufGegenseitigkeit len für Erwachsene hat mittlerweile die Suche von Tandempartnern vor Ort vereinfacht, die im Präsenzmodus miteinander lernen wollen. Ein weiteres Praxisfeld sind Austauschprogramme im Präsenz- oder Distanzmodus, an denen zwei Lerngruppen mit beidseitigem Sprachlerninteresse beteiligt sind. Das Mit- und Voneinander-Lernen im Tandem ist eine erprobte Methode, solche Begegnungsprogramme effektiv didaktisch-methodisch auszugestalten, sei es in der allgemeinen Erwachsenenbildung, der beruflichen Weiterbildung, im universitären, schulischen oder außerschulischen Bereich. 5. Perspektiven Die Online-Tandembörsen konzentrieren sich vor allem auf die datenbankgesteuerte Vermittlung von Präsenztandems. Wünschenswert wäre eine Ausweitung ihrer Aktivitäten auf die Vermittlung von Distanztandems. Bei Hinweisen, wie Tandems im Präsenzmodus bzw. Distanzmodus effizient zum Sprachenlernen genutzt werden können, sollte auf fachdidaktisch fundierte wie die von Brammerts & Kleppin (2001) zurückgegriffen werden. Tandembörsen sollten neben der Vermittlung auch eine professionelle Tandemlernberatung anbieten, um die Tandems vor Ort bei Bedarf zu unterstützen. Insbesondere im schulischen Bereich wurde bislang zu wenig das Potential gesehen, wie Schüler ihre Briefbzw. E-Mail-Freundschaften im Tandem gezielt zum wechselseitigen Sprachenlernen nutzen können. Diese unterschiedlichen Kontexte des partnerschaftlichen Lernens auf Gegenseitigkeit bedürfen weiterhin der begleitenden Erforschung. Literatur Bausch, K.-R. (2016): Formen von Zwei- und Mehrsprachigkeit. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 285-290. Bechtel, M. (2003): Interkulturelles Lernen beim Sprachenlernen im Tandem. Eine diskursanalytische Untersuchung . Tübingen. Brammerts, H. & Kleppin, K. (Hrsg.) (2001): Selbstgesteuertes Lernen im Tandem. Ein Handbuch . Tübingen. Dausendschön-Gay, U. (1987): Lehren und Lernen in Kontaktsituationen. In: J. Geringhausen & P. C. Seel (Hrsg.): Aspekte einer interkulturellen Didaktik . Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Instituts München vom 16.-17. Juni 1986. München, 60-81. Hahn, N. & Reinecke, K. (Hrsg.) (2013): Erfahrungen mit Sprachlerntandems: Beratung, Begleitung und Reflexion . Beiträge der Freiburger Tandem-Tagung 2012. Freiburg. Herfurth, H.-E. (1993): Möglichkeiten und Grenzen des Fremdsprachenerwerbs in Begegnungssituationen. Zu einer Didaktik des Fremdsprachenlernens im Tandem . München. OFAJ / DFJW (2012): Tête à tête. Anregungen für das Sprachenlernen im Tandem . Paris, Berlin. [http: / / www.dfjw.org/ sites/ default/ files/ tete-a-tete-travail-arbeitsblaetter_0.pdf]. Rost-Roth, M. (1995): Sprachenlernen im direkten Kontakt. Autonomes Tandem in Südtirol. Eine Fallstudie . Meran. Schmelter, L. (2004): Selbstgesteuertes oder potenziell expansives Fremdsprachenlernen im Tandem . Tübingen. Mark Bechtel 242 DanielaAnton 46. Mehrkulturalität in Lehrmaterialien 1. Lehrmaterialien als Grundlage mehrkulturellen Fremdsprachenunterrichts Die Forderung nach Mehrkulturalität als eine Zielbestimmung von Fremdsprachenunterricht bedingt die Notwendigkeit ihrer Reflexion in den zu Grunde gelegten Lehrmaterialien, allen voran den Lehrwerken, die auch heute noch insbesondere in der Sekundarstufe I die Basis des Fremdsprachenlernens darstellen (Baer 2010: 80). Schülerbücher und die sie ergänzenden Materialien präsentieren fremdsprachliche und fremdkulturelle Lebenswelten und erheben den Anspruch, realweltliche Gegebenheiten abzubilden. Da die durch Fremdsprachenunterricht initiierte Begegnung mit anderen Kulturen diese zum ersten Mal in den Blick der Kinder und Jugendlichen rückt, tragen Lehrmaterialien maßgeblich zum Bild der Lerner von der Zielkultur bei (↗ Art. 35). Dabei bildet das Lehrwerk ein zentrales Element der Unterrichtssteuerung, eine wichtige Informationsquelle und ein Werkzeug zur Auswahl, Progression und Präsentation der Inhalte (Vogel & Börner 1999: V). Durch diese Einflussnahme auf das Bild der Lerner vom Zielland stellen Lehrwerke Orte eines ideologischen Diskurses dar, der junge Menschen an spezifische historische, kulturelle und sozioökonomische Ordnungssysteme heranführt (Foster & Crawford 2006: 20; Anton 2017: 16). Ein Fremdsprachenunterricht, der mehrkulturelle Zielsetzungen verfolgt, benötigt mehrkulturelle Bezüge der präsentierten Themen und Inhalte, was insbesondere die dargestellte Lebenswirklichkeit der Mittlerfiguren betrifft, die in den Lehrwerken der Sekundarstufe I maßgeblich den Prozess des Lehrens und Lernens von Sprachen prägen (Renges 2005: 227). Entsprechend bedarf es in Lehrwerken als Mediatoren mehrkulturellen Lernens einer Darstellung der pluralen, teilweise auch multikulturellen Gesellschaft sowie der Integration und Beschäftigung mit unterschiedlichen kulturellen Schauplätzen, Mehr- und Minderheiten und mehrkulturellen Individuen. 2. Entwicklungen im historischen Kontext Lehrwerke bilden implizit und explizit die Gesellschaft ab, die diese produziert (vgl. Gorini 1997), weshalb z. B. in Deutschland produzierte Fremdsprachenlehrwerke immer auch ein Spiegel der deutschen Kultur darstellen und deren Sichtweisen auf die Zielgesellschaft(en) und Fragestellungen reflektieren, wie sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gesellschaftlich und didaktisch relevant sind (Graves 2001: 1 f.). Entsprechend spiegeln sich in Lehrwerken für die ersten Lernjahre Entwicklungen im Bereich der Mehrkulturalität (↗ Art. 8) auch in der Zusammensetzung der dargestellten peer group , also der Gruppe der Lehrwerkpersonen, wobei für die gängigen Fremdsprachen ähnliche Tendenzen festzustellen sind. Allerdings ist hier ebenfalls häufig zu beobachten, dass Lehrwerke hinter der entsprechenden Realität des Ziellandes zurückbleiben und das Heteroklischee (↗ Art. 34) der Produktionskultur spiegeln (vgl. Gorini 1997). Bis in die 1970er Jahre gestaltete sich die Zusammensetzung der Gruppe der Lehrwerkpersonen weitgehend monokulturell, wobei die Französischlehrwerke beispielsweise einseitig auf Frankreich und die Englischlehrwerke 243 46. Mehrkulturalitätin Lehrmaterialien auf Großbritannien und die USA ausgerichtet waren. In den 1970er Jahren erfolgte die Fokussierung des Fremdsprachenunterrichts auf die Ausbildung von kommunikativer Kompetenz, auf Handlungsorientierung und auf landeskundliches Wissen, das insbesondere Alltagssituationen fokussierte (Leupold 2007: 129). Der Fokus lag entsprechend auf typischen, aus der Sozialgeografie entwickelten Daseinsgrundfunktionen als thematisch-inhaltliches Ordnungsprinzip, sodass unmittelbare Erfahrungsbereiche der Lerner mit der dargestellten Realität verglichen werden konnten (Anton 2017: 17). In den Lehrwerken der 1980er Jahre kann weiterhin eine monokulturelle und eurozentrische Perspektive der Sprachvermittlung ohne Berücksichtigung der Mehrkulturalität der Gesellschaft oder, im Falle der Französischlehrwerke, der Frankophonie festgestellt werden (Fäcke 1999: 101). Allerdings traten in den Lehrwerken im Rahmen von Fotografien oder Zeichnungen zum ersten Mal Personen unterschiedlicher Minderheiten auf (z. B. die Fotografie eines Schwarzen in Etudes Françaises- - Echanges Bd. 2 [1989]), wobei diese zunächst nicht dem Kreis der eigentlichen Lehrwerkpersonen zugehörig waren. Dies änderte sich in den Lehrwerkausgaben der 1990er Jahre, die Mehrkulturalität sowohl in der Darstellung einer multiethnischen Gesellschaft als auch in der Zusammensetzung der Gruppe der Lehrwerkpersonen abbildeten. In die Englischlehrwerke fanden zunächst Immigrantenfamilien aus Indien Einzug (z. B. English G 2000 [1997]). In Französischlehrwerken wurden Minderheiten aus dem Maghreb integriert (z. B. die Familie Saïd in Découvertes Bd. 1 [1994]), später solche aus Zentralafrika (z. B. im Lehrwerk Tous Ensemble Bd. 1 [2004]). Dabei wurden zunächst einige, von Fäcke (1999: 129 ff.) als „Alibiausländer“ bezeichnete Personen in die Bände eingebracht, wobei ein eingeschränkter, oft defizitorientierter Blickwinkel auf Unterlegenheit und Hilfsbedürftigkeit vorherrschend war (↗ Art. 38), ohne dass eine entsprechende Dekonstruktion vorgenommen wurde (ebd.: 143). Ethnische Vielfalt war in den Bänden der 1990er Jahre jedoch meist kein leitendes Prinzip; Vorteile von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität wurden nur eingeschränkt herausgestellt. Die Lehrwerke, die nach dem Jahr 2000 entstanden und die einem interkulturellen Ansatz (↗ Art. 32) verpflichtet waren, zeigen mehr kulturelle und ethnische Vielfalt, die teilweise bereits über ein repräsentatives Maß hinausgeht (Anton 2017: 105). In der Zusammensetzung der peer group spiegelt sich dabei die Kolonialgeschichte des jeweiligen Ziellandes wider; neben Immigranten aus Indien, Pakistan oder Bangladesch treten in Englischlehrwerken beispielsweise auch Personen aus dem Westkaribischen Raum auf (z. B. Bd. 1 und 2 von Green Line [2006] oder Camden Town [2005]). Es wird eine breite Fächerung ethnischer Hintergründe angeboten, sodass ein Bewusstsein für Multiethniziät fokussiert wird. Außerdem begegnet auch individuelle Mehrkulturalität in Gestalt von Personen, die zwischen unterschiedlichen Kulturen aufwachsen; eine Tendenz, die sich in aktuell an deutschen Schulen eingesetzten Lehrwerken fortsetzt. Allerdings werden weiterhin meist weder Schwierigkeiten in der Kommunikation noch critical incidents (↗ Art. 104) thematisiert (Anton 2017: 106). Während die Lehrwerkreihen unterschiedlicher Verlage für die Fremdsprachen an deutschen Schulen grundsätzlich eine ähnliche Entwicklung vollziehen, liegt der Fokus der Lehrwerke für Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache vorrangig auf der mehrkulturell und mehrsprachig zusammengesetzten Lern- 244 DanielaAnton gruppe. Besonders herauszustellen sind die in den 1980er Jahren entwickelten Lehrwerke Sprachbrücke sowie Sichtwechsel , die explizit einem interkulturellen Prinzip verpflichtet sind. Sprachbrücke geht hier einen besonderen Weg, indem es ein fiktives Lilaland einführt, das die kritische Reflexion von Perspektiven und die Auseinandersetzung mit Stereotypen und Vorurteilen auf der Grundlage eigener und dargestellter Werte und Einstellungen erlaubt, ohne vorgefertigte Bilder weiterer angenommener Herkunftsländer vorzustellen. 3. Aktuelle Tendenzen und Perspektiven im Bereich der Lehrwerkentwicklung Lehrwerkgenerationen sind auf der Grundlage von Bildungsplänen erstellt, die heutzutage interkulturelles bzw. transkulturelles Lernen (↗ Art. 17, 41) als Zielvorstellung fokussieren und die folglich neben kognitiven auch affektive und pragmatische Kompetenzen anvisieren (Anton 1017: 17). Mehrkulturalität tritt dabei in der Zusammensetzung der präsentierten peer group und der dargestellten multikulturellen Lehrwerkwirklichkeit auf; zusätzlich werden mehrkulturelle Individuen eingebunden, die im Sinne transkultureller Vermischungen zwischen unterschiedlichen Kulturen aufwachsen und das Potential einer Auseinandersetzung mit kulturellen Übergängen sowie Mehrsprachigkeit bieten (z. B. in Band. 1 und 2 von Lighthouse [2012; 2013]). Allerdings wirkt die mehrkulturelle Zusammensetzung der Personengruppe eher implizit; eine explizite Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit, Mehrethnizität und Mehrkulturalität wird, wie dies Renges (2005: 272) bereits bemängelte, weiterhin nicht angestrebt und die Diversität der Schülerpopulation entsprechend ausgeblendet. Hier wie auch im Bereich der Beschäftigung mit kulturellen Vermischungstendenzen und ihren Einflüssen auf Gesellschaften und Individuen ist weiterhin Forschungs- und Entwicklungsbedarf zu beobachten. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Notwendigkeit der didaktischen Reduktion immer nur einen eingeschränkten Blick auf tatsächliche Realitäten zulässt und Lehrwerke nie tagesaktuelle gesellschaftliche Wirklichkeiten abbilden können. Literatur Anton, D. (2017): Inter- und transkulturelles Lernen im Englischunterricht. Eine didaktische Analyse einschlägiger Lehrbücher. Heidelberg. Baer, A. (2010): Der Schulbuchmarkt. In: E. Fuchs, J. Kahlert & U. Sandfuchs (Hrsg.): Schulbuch konkret. Bad Heilbrunn, 68-82. Fäcke, C. (1999): Egalität - Differenz - Dekonstruktion. Eine inhaltskritische Analyse deutscher Französisch-Lehrwerke. Hamburg. Foster, S. & Crawford, K. (2006): The Critical Importance of History Textbook Research. In: S. Foster & K. Crawford (Hrsg.): What Shall We Tell the Children? International Perspective on School History Textbooks . Greenwich, Conn., 1-24. Gorini, U. (1997): Storia dei manuali per l'apprendimiento dell'italiano in Germania (1500- 1950). Un'analisi linguistica e socioculturale . Frankfurt a. M. Graves, N. (2001): School Textbook Research. The Case of Geography 1800-2000 . London. Lehmann, C. (2010): Mediating London. Die britische Hauptstadt als landeskundliche Themeneinheit in Lehrbüchern für den Englischunterricht in der Sekundarstufe I. Ein methodisch-didaktischer Beitrag zur Lehrwerkkritik . Heidelberg. 245 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Leupold, E. (2007): Landeskundliches Curriculum. In: K.-R. Bausch, H. Christ, H.-J. Krumm et al. (Hrsg.) Handbuch Fremdsprachenunterricht . Tübingen, 127-133, Renges, B. (2005): Interkulturelles Lernen und methodisch-didaktische Aspekte in aktuellen Englischlehrbüchern und Unterrichtsmaterialien der Sekundarstufe II. Aachen. Vogel, K. & Börner, W. (1999): Vorwort. In: W. Börner & K. Vogel (Hrsg.): Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht. Lernbezogene, interkulturelle und mediale Aspekte. Bochum, V-XVI. Daniela Anton 47. Mehrsprachigkeit und digital gestütztes Lernen und Lehren fremder Sprachen Wenn man in der Datenbank des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung das Suchwort 'Mehrsprachigkeit' eingibt, erhält man - Stand: 3.9.2018 - 1928 Treffer, bei 'digitalen Medien' 3288. Wenn man 'Mehrsprachigkeit' und 'digitale Medien' kombiniert, erhält man nur 66 Treffer. Die beiden Themen scheinen in der Forschung nicht intensiv zusammengedacht zu werden. Wie wenig digitale Medien und Mehrsprachigkeit zusammengedacht werden, zeigt unfreiwillig Kepser (2018), ein umfassender Überblick über die Digitalisierung im Deutschunterricht. Weder im historischen noch im systematischen Teil behandelt wird das Potential, das die digitalen Medien für die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen haben. Und wenn man die in diesem Handbuch zugrunde gelegten Vorstellungen von Mehrsprachigkeitsdidaktik und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) strikt anwenden würde, müsste die Zahl der als thematisch einschlägig klassifizierten Beiträge noch einmal reduziert werden. Dennoch lässt sich auf der Basis vorhandener Arbeiten ein Versuch unternehmen, die verschiedenen Arten des Zusammenspiels von Mehrsprachigkeitsdidaktik und digitalen Medien zu beschreiben. Die Arbeit mit digitalen Medien im Fremdsprachenunterricht bezieht sich zum einen auf digitales Lehrmaterial, alleinstehend oder in Verbindung mit Printmaterialien, und zum anderen auf im Internet nicht für didaktische Zwecke verfasste Texte im weitesten Sinne sowie auf die dort vorhandenen Kooperations- und Kommunikationsmöglichkeiten (vgl. als Kurzüberblick Rösler 2012: 52-63). 1. Umgang mit der sprachlichen Vielfalt im Internet Zur Anzahl von Internetseiten in verschiedenen Sprachen gibt es unterschiedliche Statistiken (vgl. z. B. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 2961/ umfrage/ anteil-der-verbreitetsten-sprachen-im-internet-seit-2006/ : September 2018). Einig sind sie sich darin, dass der Anteil der auf Englisch verfassten Seiten den der in anderen Sprachen verfassten weit überragt, dass ungefähr die Hälfte oder mehr auf Englisch verfasst wurden und keine der anderen Sprachen auch nur in die Nähe dieser Zahl kommt (↗ Art. 102). In Küsters Befragung studentischer Fremdsprachenlerner zeigt sich jedoch, dass Englisch sich keinesfalls als „killer-language“ erweise. Das Englische habe bei den Befragten zwar eine dominante Stellung, verdränge aber „keineswegs andere Sprachen, 246 DietmarRösler wie die […] große Breite und Diversität der dokumentierten individuellen Mehrsprachigkeit offenbart“ (Küster 2014: 82). Unter landeskundlichen Gesichtspunkten spielt die Qualität der über Wikipedia transportierten Informationen über die Zielkultur(en) eine wichtige Rolle. Nach Selbstauskunft gibt es Wikipedia in 295 Sprachversionen, wobei beträchtliche Unterschiede bestehen. Insgesamt gibt es fünf Wikipedias mit über 2.000.000 Artikeln, darunter Deutsch, aber auch kleinere Wikipedias, z. B. 31 mit 10.000 bis 24.999 Artikeln, darunter Alemannisch (Stand 1.10.2018. Quelle: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Sprachen). Außerdem gibt es Sprachversionen, bei denen „ein großer Anteil an automatisiert oder teilautomatisiert erstellten Artikeln mit geringem Informationsgehalt“ vorhanden ist, und Sprachversionen, die „durchschnittlich einen geringeren Artikelbestand, dafür aber insgesamt wesentlich umfangreichere Informationen aufweisen können“ (https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Wikipedia: Sprachen). Für die Multikulturalitätsdidaktik (↗ Art. 8) von Bedeutung ist, dass man nicht davon ausgehen kann, dass sich alle Lernende des Unterschieds in den Produktionsweisen von Wikipediaseiten bewusst sind. So zeigt die Analyse von Küster (2014) sowohl einen reflektierten Umgang mit unterschiedlichen Quellen als auch eine gewisse Ahnungslosigkeit im Hinblick auf den Status von Seiten im Netz: Einzelne Probanden suchten […] speziell nach Seiten, bei denen sie divergierende politisch-kulturell geprägte Tendenzen vermuteten, um sich in deren Kontrastierung ein möglichst objektives Bild zu verschaffen […]. In dieser Hinsicht zeigen sich die Untersuchungsteilnehmer/ innen in unterschiedlichem Maße sensibilisiert: Während B5 aus dem genannten Grund bewusst Wikipedia-Seiten in verschiedenen Sprachen heranzieht, wird B7 erst im Zuge des Interviews darauf aufmerksam, dass Wikipedia-Artikel nach sprachlich-räumlicher Provenienz in je eigener Weise tendenziös sein können. (Küster 2014: 88) 2. Vorteile digitaler Distribution Oft erleichtern digitale Medien die Distribution von und den Zugriff auf Materialien und helfen bei der Außendarstellung, selbst wenn ein Projekt auch ohne digitale Medien stattfinden könnte. Für Kubanek & Edelenbos (2007) hat sich die Entscheidung, mit einer zweisprachigen - deutsch und niederländisch - Homepage zu arbeiten, als sinnvoll erwiesen. Der Vorteil einer internetgestützten Projektbegleitung liege „in der Aktualisierbarkeit und der Möglichkeit, im Vergleich zu traditionellen Lehrbüchern neue Materialien und Impulse ohne großen Aufwand integrieren zu können“ (ibd.: 109), sie erleichtere „das Projektmanagement, da alle Projektteilnehmer ihre Informationen aus einer Quelle beziehen und Aktualisierungen schnell weitergeben können“ (ibd.). 3. Arbeit mit digitalen Ressourcen Für die Mehrsprachigkeitsdidaktik interessant sind sowohl digitale Angebote, die speziell für didaktische Zwecke produziert wurden, als auch die Verwendung vorhandener nicht-didaktischer Ressourcen. In der in Alloatti, Bovet & Somenzi-Käppeli (2015) beschriebenen Fremdsprachenwerkstatt werden Materialien zur Sprachreflexion so aufgearbeitet, dass sie in einem Blended Learning Konzept in den Unterricht übernommen werden können. Angeboten werden zum 247 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Beispiel Aufgaben, die sich mit Analogien zwischen Sprachen befassen, bei denen die Lernenden unter anderem Korrespondenzregeln formulieren müssen. Für den rezeptiven Bereich gedacht ist ein Lernprogramm von Gross (2016), das einen Schwerpunkt auf lexikalische und grammatische Ähnlichkeiten des Rätoromanischen mit verwandten Sprachen legt. Rückl (2017) stellt elf Aufgaben für Französischlerner als Sprachentdecker vor. Die Aufgaben beziehen sich u. a. auf sprachvergleichende Lernstrategien, die Arbeit mit der Sprachausgabe von WhatsApp, die Produktion eines eigenen WhatsApp Eintrags oder die Systematisierung englischer Transferbasen (↗ Art. 77). Zu den Synergien, die zwischen digitalen Medien und Mehrsprachigkeit existieren, gehört für Ascherl & Ballis (2017), dass das Internet neue Formen des Sprachkontakts gewährt: Einige Menschen haben Gewohnheiten ausgebildet, online Übersetzungsprogramme zu verwenden; einige Menschen ziehen Tutorials auf YouTube heran, um Sprachen zu lehren und zu lernen; einige Menschen integrieren ihre Sprachkenntnisse im Sinne einer Selbstinszenierung in ihr Facebook-Profil. Betrachtet man beispielsweise Kommentarfunktionen auf Flickr oder YouTube, so ist es durchaus üblich, dass in verschiedenen Sprachen und Dialekten kommuniziert wird (ibd.: 6). Bei der Arbeit mit nicht-didaktischen Ressourcen ist es wichtig, auf deren Qualität zu achten, z. B. darauf, dass bei der maschinellen Übersetzung die Qualität der Sprachenpaare unterschiedlich sein kann: „English to German, for instance, has a lower quality than English to Spanish.“ (Fink-Hooijer 2017: 271) Auch ist von Übersetzungsprogrammen nicht zu erwarten, dass sie über einzelne Sprachenpaare hinausgehen: „Currently, the majority of Artificial Intelligence systems interacting with Natural Languages lack sufficient semantic resources which are (1) genuinely multilingual and multicultural and (2) interoperable“ (Massion 2017: 290). 4. Fokus rezeptive Mehrsprachigkeit: Adaptive Kinderbücher Adaptive Kinderbücher liefern mehrsprachigen Kindern „eine Oberfläche für Textproduktion und -rezeption, die an individuelle Bedürfnisse in Bezug auf Textinhalt und -länge, Sprache, Layout und mediale Zu- und Umgangsweisen angepasst werden kann.“ (Hauck-Thum 2017: 10) Die Autorin berichtet über eine mit Aufgaben versehene digitale Bibliothek der Texte der Gebrüder Grimm. Das in Lohe (2018) beschriebene Projekt enthält sechs „für Grundschulkinder angemessene Geschichten auf Englisch, Deutsch, Russisch, Spanisch und Türkisch zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Bezug auf Einstellungen und Wissen über Sprachen“ (ibd.: 71 f.). Hier ermöglicht die Digitalisierung schnelle rezeptive Sprachwechsel (↗ Art. 76). Beide Projekte liefern interessante Anregungen für nun technisch mögliche Zugriffe auf Texte in verschiedenen Sprachen, beide gehen nicht auf für sie relevante vorhandene fremdsprachendidaktische Diskussionen und Projekte ein, auf die Diskussion über das Für und Wider der Arbeit mit adaptierten kinderliterarischen Texten (vgl. als Zusammenfassung der Diskussion O’Sullivan & Rösler 2013: 59-70) oder das Projekt European Picture Book Collection , das Kinder anhand von Bilderbüchern aus verschiedenen Ländern der EU aufgabengeleitet an die Reflexion fremder Sprachen und Kulturen heranführt (vgl. O’Sullivan 2002). 248 DietmarRösler 5. Klassiker der Mehrsprachigkeitsdidaktik: Galanet und EuroCom Zu den etablierten webbasierten Angeboten der Mehrsprachigkeitsdidaktik gehört Galanet, eine Lernplattform für die panromanische Interkomprehension (↗ Art. 70), zu der eine Reihe von Publikationen vorliegen. Ziel einer Zusammenkunft auf Galanet in einer Studie von Prokopowicz (2011) ist beispielsweise „die gemeinsame Erstellung einer mehrsprachigen Webseite, auf deren Inhalte sich die Projektteilnehmer zuvor durch Forums- und Chatdiskussionen einigen“ (ibd.: 119). In diesem Artikel werden das Zugehörigkeitsgefühl der deutschen Teilnehmer zur romanophonen Gruppe und die Herausbildung von plurikultureller Bewusstheit beschrieben. Interaktionen im Chat mit Galanet werden auch in den Beiträgen von Melo-Pfeifer (2017) und Melo-Pfeifer & de Araújo e Sá (2010) analysiert. Geblickt wird dort u. a. auf die Entwicklung der mehrsprachigen und interkulturellen Kompetenz und der Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22) durch Lernaufgaben und auf die Herausbildung und Aushandlung der Vorstellungen zur Mehrsprachigkeit. Ebenfalls zu den etablierten Trägern der Mehrsprachigkeitsdidaktik gehört EuroCom (↗ Art. 67). Bei der Auswertung von Befragungsdaten aus einem Seminar zu Euro- Com-Modulen zum Einsatz in Blended Learning Unterricht stellte Strathmann (2009) fest, dass die Vermittlung über E-Learning Module zielgruppengerecht sei, da die Studierenden diese Lernform akzeptieren und sie eine sinnvolle Ergänzung des Lehrbuchs darstellen (vgl. ibd.: 44). Zum Einsatz im schulischen Kontext vgl. Strathmann (2012). Interessant ist, dass neben den vielen Arbeiten zum Einfluss des bereits gelernten Englisch auf den Deutscherwerb es im Euro- Com-Kontext auch den Blick auf die Rolle des Englischen nach dem Deutschen gibt, der sich also mit der klassischen Situation an einer deutschen Schule befasst (↗ Art. 87, 88). Dass dies auffällt und überhaupt erwähnenswert ist, ist nur verständlich vor dem Hintergrund des lang dominierenden Dogmas der Einsprachigkeit in der deutschen Englischdidaktik. In ihrer empirischen Studie zum Einsatz von Materialien aus EuroCom zum Englischlernen auf der Basis des Deutschen stellte Marx fest, dass, obwohl die Studierenden im Schnitt nur 25 Stunden investierten, sich ihre Lesefähigkeit im Englischen signifikant verbesserte. Auch eine nur kurze zeitliche Investition „in the learning of interlingual inferencing appears to make a difference in students’ ability to read texts in a new foreign language“ (Marx 2010: 233). Wie problematisch das Dogma der Einsprachigkeit für das Lernen mit digitalen Medien ist, zeigt auch der Beitrag von Kulavuz-Onal & Vásquez (2018). 6. Code-Switching beim gesteuerten Englischlernen: Abkehr von der dogmatischen Einsprachigkeit Kulavuz-Onal & Vásquez (2018) befassen sich mit Code Switching (↗ Art. 5) in einer Facebook-Gruppe, in der ägyptische und argentinische Englischlerner miteinander kommunizieren, wobei von den Lehrenden Englisch zunächst als verpflichtende Sprache eingeführt wurde. Interessant ist in einem gesteuerten Lernkontext, in dem die Vorgabe monolinguale Kommunikation lautet, die Analyse der Verwendung der anderen Sprachen. Es gab unterschiedliche Situationen, in denen die Verwendung der Erstsprache Spanisch bzw. Arabisch von den Lehrkräften nicht negativ bewertet wurde: 249 47. Mehrsprachigkeitunddigitalgestütztes LernenundLehrenfremderSprachen Although such L1 uses of Spanish and Arabic were clearly contrary to the teachers’ goal for practicing English, and thus received reminders and sanctions from the teachers, there were other instances of L1 use that did not receive any. In these cases, L1 use appeared as an accepted practice among the teachers as long as participants used it for the following reasons: pedagogic managing functions, pairing L1 use with English translations, providing metalinguistic explanations, and teaching L1 language and culture. (ibd.: 247 f.) Analysiert wurden auch die Vorkommen der Verwendung der Erstsprache des kommunikativen Gegenübers: Such uses usually appeared within mostly English posts, often in the form of formulaic language expressing common speech acts (e.g., thanking, greeting, sending good wishes). Contrary to L1 use, L3 use was often followed by compliments and encouragement from the teachers, even though it still was against their goal with this telecollaboration—namely, practicing English. (ibd.: 250) Die Autoren wenden sich in ihren Schlussfolgerungen gegen einen monolingualen Englischunterricht, der im Kontext stärkerer individueller Kooperationen in sozialen Netzwerken nicht mehr sinnvoll sei: As illustrated throughout our examples, the affordances of SNSs (including multimodality, oneto-many communication, increased negotiation of meaning, and instant or delayed interaction) open up possibilities for a range of translingual communicative practices among language learners and teachers. In this telecollaboration, we observed how teachers’ goals eventually shifted from English language practice to the socialization of their students into becoming global citizens. When language teachers transform social media into pedagogical spaces (especially when learners are located in different geographical contexts), efforts to establish strictly monolingual practices (e.g., enforcing an English-only rule) may be unrealistic, and may in fact stand in opposition to the multilingual affordances of the internet. (ibd.: 253) Zu beobachten war hier also eine Bewegung weg von der herrschenden Unterrichtsmethodik hin zu einem Fremdsprachenlernen, das Elemente natürlicher mehrsprachiger Interaktion aufnimmt, in der Sprachwechsel etc. Alltag sind (vgl. Androutsopoulos 2006 zu Sprachwahl, Sprachwechsel und Sprachmischung und Androutsopoulos 2015 zur Rolle von Genres und kommunikativen Routinen in digitaler Kommunikation in Migrationskontexten). Literatur Alloatti, S., Bovet, A. C. & Somenzi-Käppeli, B. (2015): Online-Unterrichtseinheiten zur Entwicklung von Language Awareness. In: Babylonia 2, 48-50. Androutsopoulos, J. 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Um diese beiden Bedeutungen auseinander zu halten, wird hier das Wort ‚Evaluation‘ für die zweite Bedeutung benutzt und das Wort ‚Assessment‘ für die erste, was zum Teil nicht dem gängigen Gebrauch entspricht, aber eine höhere Genauigkeit erlaubt. Der Begriff ‚Assessment‘ muss zudem genauer definiert werden, denn Assessment als Beobachtung / Beschreibung / Messung wird häufig mit Testen gleichgesetzt, obwohl das Testen nur eine Form des Assessments darstellt. In diesem Text geht es um alle Formen des Assessments, einschließlich des Selbstassessments. Allerdings unterscheidet sich die Zielsetzung des Selbstassessments in der Regel von der des Fremdassessments. Die Ziele des Assessments sind vielfältig: • Beschreibung des Lernfortschritts • Feststellung der Stärken und Schwächen des Lernens zur angemessenen Planung zukünftigen Lernens • Festlegung des anvisierten Lern- und Leistungsniveaus am Ende eines Kurses • als Beitrag zur Beurteilung der Evaluation (besonderer) Lehrformen oder Lehrprogramme. Ein einziges Assessment kann für mehrere Ziele greifen, je nachdem ob es sich um Selbst- oder Fremdassessment handelt. Beispielsweise können qua Selbstassessment individuelle Schwächen eines Lerners identifiziert werden, die das Ergebnis mangelhaften Lernens oder Lehrens sein können. In beiden Fällen müssen Lernende oder Lehrende umdisponieren, um die Mängel zu beheben (↗ Art. 50). Das Assessment interkultureller Kompetenz umfasst weitere Dimensionen. Wenn die Definition interkultureller Kompetenz beispielsweise affektive Zuschreibungen beinhaltet, z. B. die Fähigkeit ‚Ambiguität zu tolerieren‘ oder ‚die Bereitschaft, die Zweifel ‚aufzuschieben‘, dann stellen sich ethische Fragen und Probleme beim Assessment. Sollte es eine Bewertung dieser Eigenschaften (nach bestimmten Kriterien oder Standards) geben? Sollte das Messen dieser Eigenschaften in Prüfungen (und Beurteilungen) einfließen, die darüber entscheiden, ob Individuen Zugang zu weiteren Chancen im Bildungssystem oder im Beruf erhalten? Oder sollten die Deskriptoren solcher Zuschreibungen auf das Selbstassessment beschränkt bleiben? In der Tat lässt sich wegen dieser oder anderer Schwierigkeiten argumentieren, dass interkulturelle Kompetenz überhaupt nicht beurteilt werden sollte (Borghetti 2017). 2. Kompetenzmodelle und Assessment Das Konzept der Kompetenz ist im Bildungswesen und darüber hinaus weit verbreitet. Unter Sprachlehrerinnen und -lehrern wurde es vor allem durch die von Chomsky und an- 252 MichaelByram deren Linguisten vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ bekannt. Diese Dichotomie ist jedoch für die Analyse von Assessment nicht relevant. Der Begriff Kompetenz, wie er in Bildungssystemen verwendet wird, hat die Formulierung von Lernzielen im Sinne (einer Liste) zu erlernenden Wissens überlagert. Kompetenz (↗ Art. 43) bezieht sich auf die Volitionalität und auf die Fähigkeit, sich in bestimmter Weise zu verhalten oder zu handeln. Oft meint Kompetenz das, was ein Lerner tun kann ( can do ). Interkulturelle Kompetenz wird also hier als die Fähigkeit definiert, relevante Einstellungen, Fertigkeiten, Wissen und kritisches Verständnis zu nutzen, um angemessen auf Herausforderungen und Gelegenheiten in der Interaktion mit Vertretern einer anderen kulturellen Gruppe zu reagieren, sofern deren Gruppenidentität salient ist. Die Salienz einer Gruppenidentität meint z. B. den Fall, dass ein Lehrer mit einem Rechtsanwalt über eine Rechtsangelegenheit des Bildungsbereichs kommuniziert und ein jeder den anderen durch dessen hervorstehende Identität als ‚Lehrer‘ oder ‚Rechtsanwalt‘ sieht und jeder seine Überzeugungen, Werte und Verhaltensweisen - d. h. die jeweilige Kultur von ‚Lehrern‘ oder ‚Rechtsanwälten‘ - in die Situation einbringt. Beide müssen ihre interkulturelle Kompetenz nutzen, um über kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe der ‚Lehrer‘ und der ‚Rechtsanwälte‘ hinweg zu kommunizieren. Dagegen können dieselben Personen in einer anderen Situation gute Freunde sein, die sich in Bezug auf ihre persönlichen Identitäten wahrnehmen - und nicht in Bezug auf die gesellschaftlichen oder kulturellen Identitäten ihres Berufsstandes - und daher ganz anders miteinander kommunizieren. Das Assessment interkultureller Kompetenz ist daher eine Frage des Beschreibens - und manchmal des Messens - dessen, was eine Person in Situationen ‘tun kann’, in denen gesellschaftliche oder kulturelle Identitäten salient sind, und es gibt viele Analysen und ‘Modelle’ interkultureller Kompetenz, die aus den Beobachtungen von Sozialwissenschaftlern über das menschliche Verhalten in interkulturellen Interaktionen entwickelt wurden (Spitzberg & Changnon 2009). Verschiedene Wissenschaftler achten je nach Disziplin auf unterschiedliche Elemente der Kompetenz. Einige Modelle wurden von Sozialpsychologen entwickelt, die z. B. die für das Leben und Arbeiten in einem anderen Land relevanten Kompetenzen feststellen. Diese Modelle dienen als Grundlage von Einschätzungen dazu, ob der Einzelne ‘bereit’ ist und in einem anderen Land erfolgreich sein wird, und es gibt viele Unternehmen und Internetseiten, die dies kommerziell anbieten. Häufig wird den sprachlichen Kompetenzen in diesen Modellen und Assessment- Verfahren wenig Aufmerksamkeit beigemessen, vielleicht weil es unrealistisch ist zu erwarten, dass jemand vor dem Umzug in ein anderes Land eine neue Sprache in kurzer Zeit erlernt. Es könnte auch daran liegen, wie Abbe, Gulick & Herman (2007: 16) in ihrem Forschungsüberblick formulieren, dass ‚kulturelle Sensibilität‘ für einen Beruf, in dem interkulturelle Kompetenz gefragt ist, besser den Erfolg voraussagt als fremdsprachliche Kompetenz oder das Ausmaß vorausgegangener internationaler Erfahrungen. Für Sprachlehrerinnen und -lehrer ist es hilfreich, sich klar zu machen, dass weder Sprachkompetenzen noch die bloße Erfahrung in einem anderen Land den Erfolg in internationaler Kommunikation und Interaktion garantieren können. 253 48. Evaluation/ AssessmentundSelbstevaluation/ AssessmentinterkulturellerKompetenzen Jedoch hat interkulturelle Kompetenz in Bildungssystemen durch die Verbindung zum Fremdsprachenunterricht an Bedeutung gewonnen (↗ Art. 21). Dies bedeutet, dass Modelle ohne Berücksichtigung sprachlicher Kompetenzen eher nicht genutzt werden, außer wenn interkulturelle Kompetenz auch ein Bildungsziel anderer Fächer ist. In Europa mag diese Entwicklung in der Tat eine Konsequenz der Einführung des Reference Framework of Competences for Democratic Culture (RFCDC) (Council of Europe 2018) sein. Sowohl demokratische als auch interkulturelle Kompetenz können und sollten also Anliegen aller Fächer sein. Dieses neue Framework ermöglicht es, Übereinstimmung darüber herzustellen, welche Aspekte interkultureller Kompetenz am besten im Fremdsprachenunterricht entwickelt werden und welche Aspekte im Mittelpunkt des Lernens in anderen Fächern stehen. Ein weiterer Zugang ist die Erstellung eines Modells interkultureller Kompetenz für den Sprachunterricht. Sein Ziel besteht darin, aufbauend auf dem kommunikativen Ansatz diejenigen interkulturellen Kompetenzen hinzuzufügen, die im Fremdsprachenunterricht vermittelt werden können. Andere sollten außerhalb dieses Rahmens ausgelassen werden. Das von Byram (1997) entwickelte Modell ist ein Beispiel hierfür. In Deutschland wird es oft in curricularen Dokumenten und in Lehrwerken zitiert. Wie alle Modelle hat es Stärken und Schwächen, die beachtet werden sollten (Risager 2007; Belz 2007; Boye 2016), doch erlaubt es eine systematische und detaillierte Analyse des Lehrens und Assessments interkultureller Kompetenz. 3. Assessment in der Praxis In Bildungssystemen, deren Lehrpläne Wissensziele definieren, ist es möglich, den Anteil dessen, was ein Einzelner vom Gesamt gelernt hat, zu messen und dies z. B. in Prozenten auszudrücken. Die Beurteilung des Wissens über ein Land (Landeskunde), die über weit mehr als ein Jahrhundert wichtiger Teil des Fremdsprachenunterrichts war, kann auf dieser Grundlage umgesetzt werden (↗ Art. 35). Es ist möglich, vermittels eines Tests zu messen, wie viel ein Einzelner im Lauf seines Sprachkurses über ein Land gelernt hat. Im Gegensatz dazu ist ein solcher Zugang in einem kompetenzorientierten Unterricht in dieser Form nicht umsetzbar. Was Lernende ‚tun können‘, muss auf der Grundlage von Beschreibungen unterschiedlicher Elemente interkultureller Kompetenzen auf der Ebene des Verhaltens festgemacht werden. Solche Beschreibungen können auch zur Planung eines Lernprogramms genutzt werden: Lehrerinnen und Lehrer können definieren, was ihre Lernenden am Ende einer Stunde, einer Unterrichtseinheit oder eines ganzen Sprachstudiums tun können (sollen). Dies ermöglicht ihnen, Assessment explizit mit dem Lehren zu verbinden und zu überprüfen, was ihre Schülerinnen und Schüler tatsächlich als Ergebnis ihres Lernprozesses tun können, was somit ihr Lernergebnis ist. Dies lässt sich vermittels etlicher Verfahren umsetzen, inklusive durch critical incidents , die Borghetti (2017) alle analysiert hat (↗ Art. 104). Dieser Ansatz des Lehrens und Beurteilens von Sprachkompetenzen ist dank des Common European Framework of Reference for Languages (Council of Europe 2001) in Europa und (↗ Art. 18) dank der Proficiency Guidelines des American Council on the Teaching of Foreign Languages (ACTFL 2012) in 254 MichaelByram Nordamerika gut etabliert. Er wurde auch auf anderen Kontinenten übernommen (Byram & Parmenter 2012). Die Deskriptoren wurden für verschiedene Kompetenzstufen definiert (↗ Art. 49). Im CEFR gibt es sechs Stufen und in den Proficiency Guidelines des ACTFL fünf. Dies betrifft jedoch nicht die interkulturelle Kompetenz, obwohl einige Modelle, z. B. Byram (1997), vergleichbare detaillierte Beschreibungen unterschiedlicher Dimensionen interkultureller Kompetenz anbieten. Durch die gegenwärtige Betonung von Vergleichen und Tabellen in Bildungssystemen besteht die Erwartung, dass Leistung in Form von Niveaustufen präzisiert werden sollte und dies gilt auch für interkulturelle Kompetenz. Neuere Veröffentlichungen befassen sich mit dieser Erwartung. Der Companion Volume with New Descriptors des Europarats (2018) (↗ Art. 19) definiert ein Konzept mit Bezug zu interkultureller Kompetenz, ohne jedoch damit identisch zu sein - wie z. B. von Byram (1997) oder Deardorff (2006) definiert - nämlich die ‚plurikulturelle Kompetenz‘. Sie ist Teil einer ‚plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz‘. Kriterien werden auf sechs Niveaustufen erstens zum ‚Aufbau einer plurikulturellen Kompetenz‘ angeboten, und, zweitens, zur ‚Förderung eines plurikulturellen Raumes‘ als Teil einer Mediationskompetenz. Parallel dazu hat der National Council of State Supervisors for Languages and the American Council on the Teaching of Foreign Languages in den USA Deskriptoren für ‚interkulturelle Kommunikation‘ (↗ Art. 33) auf fünf Niveaustufen entwickelt (NCSSFL- ACTFL 2018). In beiden Dokumenten sind die Niveaustufen als can do -Beschreibungen formuliert, was bedeutet, dass Lehrerinnen und Lehrer diese Deskriptoren als Teil ihrer Unterrichtsplanung nutzen können und damit sicherstellen, dass die von den Lernenden erworbenen Kompetenzen im Mittelpunkt des Assessments stehen. Eine solche Beurteilung kann in Gestalt eines Tests durchgeführt werden. Er könnte die Form einer Aufgabe haben, die mit Aufgaben im Unterricht vergleichbar ist. Die Lernenden könnten ihre eigene Kompetenzstufe beurteilen, indem sie die can-do -Beschreibungen nutzen und damit ihren Lernfortschritt in einem dem europäischen Sprachenportfolio vergleichbaren Portfolio protokollieren (↗ Art. 23). Prüfungen können nach dem gleichen Prinzip gestaltet werden, auch wenn der Rückgriff auf Kriterien zur Beschreibung der Niveaustufen in ‚objektiven‘ Prüfungen Probleme der Reliabilität mit sich bringt, was weitere (Forschungs)arbeit erfordert. 4. Ausblick Neueste Entwicklungen eröffnen eine Grundlage für gute Beurteilungsverfahren. Dazu müssen Fragen der Validität und Reliabilität angegangen werden und Lehrkräfte benötigen eine Ausbildung für den Umgang mit den Kriterien und Niveaustufen. Das Erscheinen des RFCDC ist von vergleichbarer Relevanz, weil es nahelegt, dass alle Lehrerinnen und Lehrer mit dem Lehren interkultureller (und demokratischer) Kompetenzen befasst sein sollten. Sprachlehrkräfte können das neue Framework gut dazu nutzen, die Kompetenzen ausfindig zu machen, die am besten im Fokus ihrer Unterrichtsplanung und Evaluation stehen (↗ Art. 50). Die Definition von drei Niveaustufen für jede Kompetenz kann das Assessment erleichtern, ebenso wie die sechs Niveaustufen des CEFR (↗ Art. 18) und die fünf Niveaustufen der Proficiency Guidelines des ACTFL. 255 48. Evaluation/ AssessmentundSelbstevaluation/ AssessmentinterkulturellerKompetenzen Eine zweite Konsequenz des RFCDC besteht darin, dass Sprachlehrkräfte eine enge Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern anderer Fächer aufnehmen können, so mit jenen des gesellschaftlichen Aufgabenfeldes (Porto 2014) oder der Mathematik (Cardetti, Wagner & Byram 2019). Eine solche Kooperation ermöglicht den Sprachlehrkräften vor allem auch, kritisches Denken oder die Reflexion einer critical cultural awareness (Byram 1997) in ihre Lehrziele aufzunehmen. Das Assessment dieser Zielsetzungen wird durch die Deskriptoren des RFCDC ermöglicht, auch wenn weitere Forschung zu einer Umsetzung nötig ist, die Sprachlehrkräfte in ihrem gängigen Lehren und Assessment nutzen können. Literatur Abbe, A., Gulick, L. M. V. & Herman, J. L. (2007): Cross-Cultural Competence in Army Leaders: A Conceptual and Empirical Foundation. Arlington. American Council on the Teaching of Foreign Languages (ACTFL) (2012): Proficiency Guidelines. [https: / / www.actfl.org/ publications/ guidelines-and-manuals/ actfl-proficiency-guidelines-2012]. Belz, J. A. (2007): The Development of Intercultural Communicative Competence in Telecollaborative Partnerships. In: R. O’Dowd (Hrsg.): Online Intercultural Exchange. Clevedon, 127-166. Borghetti, C. (2017): Is there really a Need for Assessing Intercultural Competence? Some Ethical Issues. In: Journal of Intercultural Communication 44. [https: / / immi.se/ intercultural/ nr44/ borghetti.html]. Byram, M. 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Deardorff (Hrsg.): The Sage Handbook of Intercultural Competence . Los Angeles, 1-53. Michael Byram 49. Stufenmodelle interkultureller Kompetenzen 1. Begrifflichkeiten Interkulturelle Kompetenzen (↗ Art. 43) können auf unterschiedlichen Wegen und über verschiedene Modelle beschrieben werden: Komponentenmodelle stellen Fertigkeiten, Wissensbestände, Kompetenzen oder Einstellungen dar (z. B. RePA [Europarat 2011] oder Byrams Modell, 1997) (↗ Art. 20, 48); Kausalmodelle gehen auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen Komponenten ein (etwa das Modell von Deardorff, 2006); Stufenmodelle schließlich beschreiben vertikale Stufen der Kompetenzentwicklung oder Ausprägung (z. B. Bennetts Modell, 1993). Stufenmodelle bestehen aus einer „horizontalen“ Dimension, den Teilkomponenten interkultureller Kompetenz, welche auf den vertikalen Stufen beschrieben werden. Diese horizontalen Komponenten werden idealiter aus Komponenten- und Kausalmodellen abgeleitet. Die vertikalen Stufen werden durch unterschiedlich ausgeprägte Fertigkeits- und Kompetenzmerkmale oder durch unterschiedlich komplexe Anforderungen an Kommunikationssituationen beschreiben. Die Stufenbeschreibungen, auch Deskriptoren genannt, sollten idealerweise empirisch kalibriert, d. h. datengestützt den verschiedenen Stufen zugeordnet werden. Die Darstellung von Stufenmodellen kann in Form von Kompetenzskalen erfolgen, die aus ansteigenden Niveaus oder Stufen bestehen, wie etwa die Skalen im CEFR Companion Volume (Council of Europe 2018) (↗ Art. 19). Die vertikalen Stufen werden durch Deskriptoren beschrieben, die wiederum in ein qualitatives, horizontales Komponentenmodell eingeordnet sein sollten. Dadurch können unterschiedliche Ausprägungen und Abstufungen transparent beschrieben werden, um Kompetenzentwicklung entlang verschiedener Dimensionen nachvollziehbar zu machen, oder um unterschiedliche Kompetenzstände abzubilden. Kompetenzskalen kommen bei Beurteilung und Bewertung, Selbstevaluation (etwa in einem Portfolio), oder bei der Setzung von Bildungsstandards zum Einsatz. Eine weitere Möglichkeit der Darstellung von Stufenmodellen sind Progressionsmodelle (z. B. Witte 2009), in welchen relevante Elemente nach didaktischen Prinzipien, oft zyklisch ansteigend, angeordnet werden. Diese Modelle dienen der Planung und Strukturierung von Unterricht. 2. Entwicklung von Stufenmodellen - Kalibrierung Bei der Erstellung von Stufenmodellen sind zwei grundlegende Fragen zu klären: 1. Welche Komponenten und Kategorien sollen horizontal unterschieden werden? In welchem Zusammenhang stehen diese Aspekte zueinander? Dabei stellt sich 257 49. StufenmodelleinterkulturellerKompetenzen die Herausforderung, die Komplexität des Konstrukts interkultureller Kompetenzen so weit zu vereinfachen, dass das Modell handhabbar wird. Hierzu kann man angemessene Komponenten- und Kausalmodelle als Ausgangspunkt benutzen. Alternativ oder komplementär dazu kann man relevante Kommunikationsdaten analysieren, um sie in entsprechende horizontale Dimensionen zu kategorisieren. 2. Wie kommt man zu den vertikalen Abstufungen? Hier sieht z. B. Hesse (2009) für den interkulturellen Bereich (↗ Art. 32) die Herausforderungen, dass nicht bekannt ist, ob alle Personen dieselben Entwicklungsstufen durchlaufen, oder ob Veranlagungen und individuelle Erfahrungen eine überlagernde Rolle spielen. Ebenso sieht Hesse als bislang ungeklärt, ob solche Abstufungen abhängig von Inhalten und Kommunikationssituationen sind, oder ob sie auf alle Inhalte und Situationen gleichermaßen übertragbar sind. Grundsätzlich gibt es drei Wege, Stufenmodelle zu erstellen, welche auch kombiniert werden können (z. B. Europarat 2001: 202 ff.): Man kann dabei empiriegestützt von Leistungen oder Kommunikationsdaten ausgehen, theoriegeleitet von bereits existenten Modellen und Deskriptoren, oder man lässt die Deskriptoren intuitiv durch Experten erstellt und abstufen. Letztlich muss man zu konstruktvaliden Beschreibungen relevanter Dimensionen und Merkmale kommen, welche dann vertikal auf ansteigende Stufen oder Kompetenzniveaus eingeordnet werden. Diese vertikale Kalibrierung erfolgt i. d. R. durch Experteneinschätzung der Deskriptoren oder Leistungen (Kommunikationsdaten) in ihren Anforderungen, welche dann mittels qualitativer und quantitativer Verfahren den Stufen zugeordnet werden. Die Skalen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR, Europarat 2001) und des CEFR Companion Volume etwa wurden auf Basis existenter Deskriptoren entwickelt, welche durch Experten in ihren Anforderungen eingeschätzt wurden (↗ Art. 18, 19). Diese Einschätzungen wurden mittels eines statistischen Verfahrens empirisch kalibriert, wodurch die Deskriptoren den Kompetenzniveaus zugewiesen wurden: Ein Deskriptor etwa, der von den Experten als hoch in seinen Anforderungen eingeschätzt wurde, wurde einem höheren Kompetenzniveaustufen zugeordnet als einer, der mehrheitlich als einfach eingeschätzt wurde. 3. Ausgesuchte Stufenmodelle und ihre Praxisrelevanz Während es eine Vielzahl an horizontalen Modellen zur Beschreibung der Komponenten interkultureller Kompetenzen gibt, sind nur wenige Stufenmodelle publiziert, denen es zudem oft an empirischer Fundierung mangelt (Hesse 2009). Hier werden, ausgehend von relevanten horizontalen Modellen, die bedeutendsten Stufenmodelle interkultureller Kompetenzen (↗ Art. 43) vorgestellt. Das bekannteste horizontale Modell interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenbereich ist das Modell der fünf Savoirs von Byram (1997). Im Modell werden neben kommunikativen Kompetenzen verschiedene interkulturelle Fertigkeiten, Wissensbestände, Einstellungen und Bildungseinflüsse beschrieben. Im Hinblick auf mögliche vertikale Abstufungen schlug Byram (2008) statt quantitativer Stufen eine qualitative, zyklische Progression vor. Er begründete dies mit dem Hinweis, dass 258 ClaudiaHarsch Lernende zu unterschiedlichen Entwicklungsmomenten unterschiedliche Arten von Einsichten zeigten, welche sich nur schwer in einer festen Stufenfolge abbilden ließen. In der Praxis lässt sich sein Modell in Profile und Portfolios umsetzen, die bei der (Selbst-)Beurteilung eingesetzt werden können. Um Byram’s Modell vertikal abzustufen, schlugen Campos et al. (1988: 81) in Anlehnung an die Kompetenzniveaus des Europarats die Niveaus threshold - beyond threshold - university level vor, allerdings ohne diese Einteilung empirisch zu untermauern. Eine ähnliche Dreistufigkeit klingt im Kompetenzmodell des INCA Projekts (Prechtl & Davidson Lund 2007) an. Hier wurden sechs horizontale Komponenten u. a. von Byram’s (1997) Modell abgeleitet, welche auf den drei vertikalen Kompetenzniveaus basic - intermediate - full (Prechtl & Davidson Lund 2007: 473 f.) beschrieben wurden. Allerdings bleibt unklar, wie die entsprechenden Deskriptoren ihren Niveaustufen zugewiesen wurden. So fehlt auch hier eine empirische Absicherung und Kalibrierung der postulierten Stufen. Byrams Modell der Savoirs diente auch den interkulturellen Konzeptionen im RePA und im GeR als Vorlage. Der RePA bietet ausführliche Listen zu Komponenten, Fertigkeiten, Wissensbeständen und Einstellungen im Bereich der inter- und plurikulturellen Kompetenzen, doch erhebt er nicht den Anspruch, diese in einem Stufen-, Progressions- oder Entwicklungsmodell darstellen zu wollen. Während der GeR zwar interkulturelle Kompetenzen thematisiert, finden sich im Dokument von 2001 keine Beispielskalen zu diesem Bereich, da sie sich damals als nicht skalierbar herausstellten. Im 2018 erschienenen CEFR Companion Volume (Council of Europe 2018) gibt es nun zumindest vier für den inter- und plurikulturellen Kompetenzbereich relevante Beispielskalen, die sich auf pluricultural space (ebd.: 123), pluricultural resp. plurilingual repertoire (ebd.: 159, 162) und plurilingual comprehension (ebd.: 160) beziehen. Diese Skalen wurden empirisch kalibriert, doch wird nicht transparent, welchem horizontalen Modell sie zuzuordnen sind. Es war jedoch nicht das Ziel des Companion , inter-/ plurikulturelle Kompetenzen zu modellieren, sondern der Fokus lag auf dem Bereich der Mediation (↗ Art. 6). Dennoch stellen diese vier Skalen eine gute Ergänzung zum RePA dar, wenn es etwa darum geht, interkulturelle Kompetenzen zu beurteilen oder Standards für diesen Bereich zu entwickeln. Eines der einflussreichsten interkulturellen Stufenmodelle aus der Psychologie ist Bennetts (1993) Developmental Model of Intercultural Sensitivity . Bennett postulierte für den relativ eng gefassten Bereich der intercultural sensitivity sechs Entwicklungsstufen, entlang derer er anwachsendes Bewusstsein und steigende Akzeptanz in Bezug auf kulturelle Differenzen beschrieb. Die Stufenfolge ist allerdings nicht hinreichend empirisch belegt. Unklar bleibt desweitern die Beziehung zwischen intercultural sensitivity und kommunikativen Kompetenzen, so dass der Bezug zum Fremdsprachenlernen nicht gegeben ist. Doch zeigte sich in der DESI-Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International), dass das Modell in Teilen für den deutschen Schulkontext relevant sein könnte (z. B. Hesse 2009). DESI untersuchte u. a. interkulturelle Kompetenzen von Neuntklässlern im Fach Englisch. Ein Ergebnis war, dass deutsche Schülerinnen und Schüler verschiedenen interkulturellen Typen zugeordnet werden können, wenn Bennetts Stufen als nominale Typen angesetzt werden. Benetts postulierte Stufenabfolge als vertikale Entwicklungsfolge konnte allerdings nicht nachgewiesen werden (ibid.). 259 49. StufenmodelleinterkulturellerKompetenzen Als letztes Beispiel eines Stufenmodells sei hier Witte’s (2009) neunstufiges Progressionsmodell interkultureller Kompetenzen angeführt. Die „Stufen“ werden dort als zyklische Anordnung mit fließenden Übergängen verstanden. Das auf rein theoretischen Reflexionen basierende Modell greift zurück auf Konzepte aus Byrams Modell und Bennetts Abstufungen und ist auf den Fremdsprachenunterricht ausgerichtet. Allerdings fehlt auch diesem Modell die empirische Kalibrierung. Zudem müsste erforscht werden, ob und wie sich das Modell im Unterricht umsetzen lässt. 4. Ausblick Derzeit gibt es zwar einige theoretisch-konzeptionell fundierte Stufen- und Entwicklungsmodelle interkultureller Kompetenzen, doch sind die Abstufungen dieser Modelle meist nicht hinreichend empirisch validiert. Das dürfte zum einen an der Komplexität der Komponenten und ihrer Relation zueinander liegen, zum anderen an den interindividuellen Unterschieden der Fähigkeiten, Einstellungen, Fertigkeiten, Wissensbeständen und Erfahrungen, die sich zu verschiedenen Entwicklungszeitpunkten in unterschiedlichen Ausprägungen zeigen können. Dazu kommt die dynamische, interaktive und ko-konstruktive Natur interkultureller Kommunikationssituationen (↗ Art. 33), in welchen mindestens zwei Kommunikationspartner miteinander agieren, wobei die Situationen und die Partner sehr unterschiedliche Ansprüche stellen können. Solch situations-/ personenabhängige Anforderungen und individuell geprägte Entwicklungen lassen sich derzeit nur schwer in einem linear abgestuften Kompetenzmodell abbilden. Bis vertikale Kompetenzmodelle entwickelt werden können, die diesen individuellen, situativen und konstruktiven Komplexitäten gerecht werden, sind Profile und Portfolios hilfreich, die individuell und auf bestimmte Kontexte und Situationen hin ausgelegt und adaptiert werden können, und der Inter-Subjektivität des Konstrukts Rechnung tragen. Literatur Bennett, M. J. (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: M. R. Paige (Hrsg.): Education for the Intercultural Experience. Yarmouth, 21-71. Byram, M. (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence . Clevedon. Byram, M. (2008): Researching Residence and Study Abroad. In: S. Ehrenreich, G. Woodman & M. Perrefort (Hrsg.): Auslandsaufenthalte in Schule und Studium. Bestandsaufnahme aus Forschung und Praxis . Münster, 19-28. Campos, C., Higman, F., Mendelson, D. & Nagy, G. (1988): L’enseignement de la civilisation française dans les universités de l’Europe . Paris. 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So lassen sich einerseits Rückschlüsse auf die Effizienz der im Unterricht geförderten Lernprozesse ziehen. Andererseits erhalten die Lerner (idealerweise) selbst eine Rückmeldung über die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Wissens- und Handlungskompetenzen, die dem Lösen vorgegebener Probleme und Aufgaben dienen. Nicht zuletzt sind Klassenarbeiten auch eine Rückmeldung an die Eltern und Erziehungsberechtigten über den Leistungsstand ihres Kindes (ebd.). Neben Klassenarbeiten haben sich weitere Formate als Feedback- und Diagnoseinstrumente etabliert. Hierzu zählen bspw. lern- und schülerseitig bearbeitete Kompetenzraster (in Anlehnung an den GeR und/ oder den RePA) (↗ Art. 18, 20), Facharbeiten und Portfolios. 2. Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit Die Vorzüge eines interkomprehensiv basierten Unterrichts (↗ Art. 70) liegen in dessen Potenzial, auf mehreren Ebenen Mehrsprachigkeit und die Sprachlernkompetenz der 261 50. Mehrsprachigkeitin KlassenarbeitenundTests Lerner zu fördern (KMK 2012: 11). Das übergeordnete curriculare Ziel umfasst den reflexiven Umgang mit sprachlichen Strukturen. Da das mentale Lexikon der Lerner mehrsprachig ist (↗ Art. 62), betreffen Prozesse der Disambiguierung solche Strukturen, d. h. alle Sprachen, die im Kopf der Sprachverarbeiter miteinander interagieren. Ein interkomprehensiv orientierter Unterricht sucht selbstverständlich das Gespräch mit den Schülern über deren Lernen. Klassenarbeiten und kleinere Tests fungieren daher nicht nur als Echo auf einen konkreten Lernstand in der Zielsprache, sondern zeigen auch eine Reflexion über Aufgaben und die Wege, diese zu lösen. 3. Prüfungs- und Testformate Solche Formate lassen sich nach einer Skala ordnen, die von geschlossenen Aufgaben (die nur eine einzelne kurze Antwort erfordern) zu offenen Aufgaben reichen (Meißner 2001). Diese beschreiben sowohl Lösungen als auch Lösungswege (↗ Art. 83). 1. Serielle Lückentexte: Sie bestehen aus lexikalischen Bedeutungsadäquanzen aus den Lernern bekannten Sprachen. Aufgabe ist, die Lücke zu füllen. Es ist möglich, mehrere Serien in einem Aufgaben-Ensemble zusammenzufassen und die Auswahl so zu legen, dass sich phonologisch-orthographische Korrespondenzregeln aufstellen lassen. Beispiel hier: der aufzufindende Lückentext Portugiesisch (in Klammern als blank): toaccompany accompagner (acompanhar) accompgnare acompañar begleiten todesign dessiner (desenhar) dissegnare diseñar zeichnen (design) Teilaufgaben: a. verlangen die Nennung der portugiesischen Verben b. verlangen die Identifikation orthographischer Entsprechungen, z. B. von frz. -gn-/ -n- ~ it. -gn- ~ pt. -nh- ~ sp. -ñ-, dt./ engl. -gn-. 2. Wortpuzzle: Aus einem Wortpuzzle, bestehend aus den Lernern bekannten Sprachen, Korrespondenzpaare herausfinden („Welche Wortpaare gehören zusammen? “). Ein solches Puzzle sollte aus mindestens 26 Wörtern bestehen. 3. Interlinearübersetzungen (↗ Art. 6): Sie umfassen einen schon komplexen Ausschnitt der zielsprachlichen Architektur. Die Interlinearversionen können zwei-, drei- oder mehrsprachig in Übereinstimmung mit den individuellen Mehrsprachigkeitsprofilen der Lerner sein. An diese Aufgabe kann sich sehr gut eine Darstellung der zielsprachlichen Hypothesengrammatik oder die der Hypothesen- oder mehrsprachigen Korrespondenzgrammatik anschließen (sie umfasst Phänomene, die mehreren Sprachen gemeinsam sind). Interlinearübersetzungen zeigen, welche Elemente in mehreren Sprachen miteinander korrespondieren: Lafilledelaquellenousavonstrouvélaclef, habiterueDominique. Lachicadelacualhemoshalladolallave, habitaenlacalleDominique. 4. Übersetzung: z. B. eines zielsprachlichen Textes in eine nahverwandte Sprache, 262 JochenStrathmann in das Englische, das Deutsche oder in eine andere Sprache. Der Zieltext kann in einer Interlinearversion (welche die korrespondierenden Transferbasen und Transferziele zeigt) oder in einer Äquivalenzübersetzung bestehen. 5. Nennung von interlingualen Korrespondenzregeln: z. B. zwischen dem Lautstand verschiedener Sprachen / von Kognaten / evtl. von falschen Freunden / von morphologischen oder von syntaktischen Entsprechungen. 6. Sensibilisierung: Für falsche Freunde durch Übersetzen sensibilisieren, z. B. zum Kontrast Französisch / Spanisch. Aufgabe: Übersetze folgende französische Wörter ins Spanische/ ggf. spanische Wörter in Französische: le sort (destino), le timbre (sello), la carte (tarjeta), oser (atreverse) / / sp . timbre ( sonnette/ timbre ), constipado (enrhumé und nicht constipé ), pipas (graines, auch pipe [Pfeife]; kläre die Bedeutungen: atender/ attendre, burro/ beurre, comprar/ comparer ; finde die Wortform: Karotte → frz.? , → sp.? , u. a. m.; erkläre die minimalen Abweichungen: el minuto/ la minute… 7. Diagnostisches Schreiben in der noch unbekannten Zielsprache zur Identifikation der eigenen Lernersprache (↗ Art. 84). Der Zieltext zeigt deutlich vorhandene, aber auch fehlende Transferbasen. Das diagnostische Schreiben erlaubt in besonderer Weise die Herstellung eines Lernplans im Sinne des übergeordneten Lernziels, weil es sichtbar macht, was ein Lerner schon weiß und was er noch an sprachlichen Strukturen und Funktionen erlernen muss. 8. Hypothesengrammatik: Ausfüllen eines Rasters zur Hypothesengrammatik auf der Grundlage eines Textes in einer unbekannten Sprache, deren Elemente jenen entsprechen, die Teil des Unterrichts waren. 9. Sprachlernverhalten: Offene Fragen zum eigenen Sprachlernverhalten in der Begegnung mit interkomprehensiv erschlossenen Texten. 10. Note-taking (Denk-Protokoll): unmittelbar im Anschluss an die interkomprehensive Begegnung mit der Zielsprache. 11. Erraten: „Eurodeutsch“ oder Erraten von Fremdwörtern (Sprachenbrücken): Eingriff → Operation, Unterordnung → Subordination) Säugling → Baby, Mehrdeutigkeit → Ambivalenz, Polyvalenz, selbstversorgend → autark, Selbstständigkeitstag → Independence Day, beglaubigen → (ak)kreditieren, Klavier-- Piano usw. 12. Komplexe Höraufgabe: Interkomprehension betrifft zwar zumeist das Lesen, kann jedoch auch das Hörverstehen betreffen (↗ Art. 75, 76). Analysen zeigen, dass Hörverstehen in unbekannten Fremdsprachen dazu führt, vor allem lexikalische Transferbasen zu identifizieren (↗ Art. 64). Nicht möglich ist das detaillierte, auf Merkmale der sprachlichen Oberfläche bezogene Hörverstehen (Aussprachen, idiolektale Sonderheiten, Auslassen von Morphemen und notwendige ‚Reparaturen‘.) Weil Hörverstehen zu simultan analytischen Prozessen keine Zeit lässt, eignet sich das interkomprehensive Hören durchaus auch für eine erste Begegnung mit einer ‚neuen‘ Sprache. Dies ist z. B. bei der Zielsprache Rumänisch der Fall. 263 50. Mehrsprachigkeitin KlassenarbeitenundTests 4. Kriterien zur Leistungsbeurteilung Bei den engführenden Übungs- und Kontrollformaten liefert die Zahl der richtigen Lösungen im Verhältnis zu der der Aufgaben - erwartungsgemäß - das Maß für die Leistungsbeurteilung. Betroffen sind die Aufgabentypen: 1, 2, 5, 6, 8 und 11. Das diagnostische Schreiben (7) hat eine ausschließlich formative Funktion: Ein Ergebnis ist umso besser, je konkreter Grundlagen für die weitere Lernhandlungsplanung erkannt werden (↗ Art. 84). Solche können in der konkreten Nennung von ‚Lücken‘ (Defizienzen) und der ihnen entgegenwirkenden Strategien bestehen. Die Erstellung einer Interlinearübersetzung (3) verfolgt die Absicht, lexikalische, morphologische und syntaktische Bezüge zwischen zwei oder mehr Sprachen sichtbar zu machen. Je mehr erkannt wird, desto besser. Die Antworten zum Sprachlernverhalten (9, 10) gruppieren sich um Fragen des Vergleichens der mehrsprachigen Strukturen, um Strategien der Memorisierung und um Verbesserung der Resilienz. Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) beinhaltet auch die Fähigkeit, Hilfsmittel optimal zu benutzen - beginnend bei ihrer angemessenen Auswahl (Benutzung von Wörterbüchern und elektronischer Glossare und des Internets, selbstständige Materialbeschaffung, Benutzung von Konsultationsgrammatiken u. a. m.). Eine besondere Schwierigkeit verlangt die Beurteilung der Hörverstehensleistung bzgl. eines Textes in einer ‚unbekannten‘ Fremdsprache. Fragen zum Feinverstehen sprachlicher Oberflächen sind nicht angezeigt, da sie die Reichweite des echotischen Gedächtnisses überschreiten. Andererseits reichen große stichwortartige Angaben zum Inhalt der Mitteilung nicht aus. Es hat sich als operabel erwiesen, die sog. Argumente eines Textes identifizieren zu lassen und diese zu bewerten (argumentatives Hörverstehen) (Meißner 2010). Hierbei werden diejenigen inhaltlichen Textteile genannt, die zusammengenommen einen jeweils plausiblen Sinn ergeben (und die natürlich der Vorlage entsprechen). Inzwischen sind zahlreiche unterstützende Lehrmaterialen und Vorlagen verfügbar (Dorn et al. 2012, Klein & Stahlhofen 2005, Preker-Franke & Preker 2011, Rieder 2001, Rückl et al. 2012 u. 2013, Strathmann 2007, Schöberle et al. 2015). Literatur Dorn, R., Navarro Gonzalez, J. & Strathmann, J. (2012): ¡Gramática! De la lengua española. Mit Vergleichen zur englischen und französischen Grammatik. Stuttgart, Leipzig. Klein, H. G. & Stahlhofen, T. (2005): Spanisch interkomprehensiv. Spanisch sofort lesen können . Aachen. 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Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb in der Forschung 1. Begrifflichkeit Spracherwerb im Kontext von Mehrsprachigkeit umfasst Sprachaneignungsprozesse in zwei oder mehr Sprachen unter unterschiedlichen Erwerbsbedingungen. Die Unterscheidung zwischen den Formen des Sprachenerwerbs ist selten trennscharf, wie etwa zwischen dem (zumeist gesteuerten) Erlernen einer Fremdsprache und dem (eher ungesteuerten) Erwerb einer Zweitsprache oder auch zwischen dem Erwerb einer zweiten Erstsprache (simultaner Spracherwerb) und dem einer frühen Zweitsprache (sukzessiver Spracherwerb) (s. u.). Auch Tertiärsprachen, d. h. spät erworbene 2., 3. oder 4. Fremdsprachen unterliegen eigenen Erwerbsbedingungen (↗ Art. 86), v. a. bezüglich Vorerfahrung der Lernenden mit dem Sprachenlernen. Auch wenn nicht immer jede zu erwerbende Sprache eindeutig als Erst-, Zweit-, Fremd- oder Tertiärsprache klassifiziert werden kann, zumal sich die Rolle im individuellen Sprachenrepertoire eines Menschen im Laufe der Zeit ändern kann, ist ein Bewusstsein für die Existenz unterschiedlicher Rollen besonders für didaktische Überlegungen förderlich. 2. Forschungsansätze Die Ansätze der Mehrsprachenerwerbsforschung sind vielfältig. Die Erforschung des bilingualen Erstsprachenerwerbs wird verstärkt seit dem frühen 20. Jahrhundert betrieben, wobei vor allem in den ersten Jahrzehnten hauptsächlich Einzelfallstudien in Familien auf der Basis von Tagebüchern durchgeführt wurden (z. B. Ronjat 1913; Leopold 1949). Inzwischen ist das Spektrum der Fragestellungen sowie der methodischen Zugänge deutlich vielfältiger. Weitere Forschungsfelder stellen die Zweitsowie die Fremdsprachenerwerbsforschung, die ein breites Spektrum an Fragestellungen zu ungesteuerten und gesteuerten Erwerbsprozessen einschließen. Das Feld des multiplen Spracherwerbs ist ein junges Forschungsgebiet, in dem in den letzten G Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb 266 SandraBallweg Jahrzehnten umfangreiche Forschungstätigkeiten zur Entwicklung von Erklärungsansätzen für einzelne Aspekte beigetragen haben. Allerdings ist es aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz vergleichsweise schwierig, die Relevanz der einzelnen Erklärungsansätze zu beurteilen. Festzuhalten ist, dass durch die Abkehr vom Ideal des „Muttersprachlers“ ( native speaker ) als Ziel des Spracherwerbs neue Impulse für die Spracherwerbsforschung entstanden sind. Hier setzte sich die Vorstellung durch, dass zwei- oder mehrsprachige Menschen nicht an einem monolingualen Ideal gemessen werden können, „that the bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals“ (Grosjean 1989: 3), sondern die Gesamtheit seiner Sprachen das individuelle Repertoire eines Menschen darstellen (vgl. zum mehrsprachigen Repertoire eines Individuums aus soziolinguistischer Perspektive bereits Fishman 1967). Besondere Berücksichtigung erfährt bei diesem Verständnis die Tatsache, dass Sprachkenntnisse in verschiedenen Lebens- und Diskursbereichen unterschiedlich sein können, da mehrsprachige Menschen ihre Sprachen für unterschiedliche Zwecke sowie in unterschiedlichen Domänen und Umgebungen erwerben und auch anwenden, ein Phänomen, das Grosjean (1997) als complementarity principle bezeichnet (↗ Art. 2, 3, 5, 100). Die Spracherwerbsforschung ist sich darin einig, dass Erwerbsprozesse hochgradig individuell verlaufen (vgl. dazu z. B. die Einzelgänger-Hypothese, Riemer 1999) und in ein komplexes System aus sprachlichen, individuellen und sozialen Variablen eingebettet sind. Je mehr Sprachen hinzukommen, umso vielfältiger werden Sprachenkonstellationen, Einflüsse der Sprachen aufeinander und Lernerfahrungen, so dass Erwerbsverläufe noch diverser werden. Auch Faktoren wie Sprachenprestige und individuelle (Lern) Biografien sind als Einflussfaktoren nicht zu vernachlässigen. Durch die gegebene Komplexität und Vielfalt allerdings können Hypothesen und Modelle jeweils nur Erklärungen für einzelne Aspekte des Spracherwerbs liefern. Die im Folgenden dargestellten Forschungsergebnisse, Modelle und Erklärungsansätze stellen daher nur eine Auswahl aus einem breiten Forschungsfeld dar. 3. Forschungsstand Die am breitesten erforschte Form des zwei- und mehrsprachigen Spracherwerbs betrifft vermutlich den bilingualen Erstsprachenerwerb (↗ Art. 52). Hier werden häufig Vergleiche zu monolingualen Erstsprachenerwerbsverläufen gezogen, obwohl einige Forschungsströmungen einen solchen Vergleich kritisieren. Festzuhalten ist aus diesem Ansatz, dass mehrsprachige Erwerbsverläufe monolingualen im generellen Ablauf stark ähneln und mindestens eine der Sprachen auf einem dem Alter eines monolingualen Kindes entsprechenden Niveau entwickelt ist (vgl. De Houwer 2005: 41). Es gibt eine Tendenz zur Annahme, dass sich die schwächere der beiden Sprachen ähnlich wie eine früh erworbene Zweitsprache entwickelt. In einzelnen Bereichen des Spracherwerbs, beispielsweise im Wortschatzerwerb oder in der Lautdiskriminierung, liegen widersprüchliche Ergebnisse vor, die auf eine Abhängigkeit von sprachtypologischen Besonderheiten sowie auf die Individualität von Erwerbsverläufen hindeuten. Ähnliches gilt für die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf kognitive Fähigkeiten. Hier ist festzuhalten, dass in einzelnen Bereichen und unter spezifischen 267 51. Erst-,Zweit-undMehrsprachenerwerbinderForschung Bedingungen mehrsprachige Kinder Vorteile in der metalinguistischen Sprachenbewusstheit aufweisen und tendenziell ihre Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, stärker ausgeprägt ist. Allgemeine Aussagen größerer Reichweite lassen sich allerdings nach dem derzeitigen Stand der empirischen Ergebnisse schwer treffen (für einen Überblick vgl. Bialystok 2004). Ein weiterer strittiger Punkt war lange Zeit die Frage, ob Kinder gemeinsame oder getrennte sprachliche Systeme ausbilden, und der damit verbundene Einflussfaktor des Inputs bzw. des Sprachkontakts (↗ Art. 62). Während zunächst davon ausgegangen wurde, dass Kinder ein gemeinsames System ihrer beiden Sprachen erwerben, das sie später trennen (vgl. Leopold 1949; Volterra & Taeschner 1978), ist mittlerweile Konsens, dass zweisprachige Kinder früh zwischen ihren Sprachen unterscheiden können (Deuchar & Quay 2000). Mit der 1990 aufgestellten separate development hypothesis betont De Houwer (2005) die Rolle des Inputs für die Entwicklung zweier getrennter morphosyntaktischer Systeme bei bilingual aufwachsenden Kindern. Inzwischen beschäftigt sich die Forschung differenzierter mit der Frage, wie sich der Kontakt zwischen den sprachlichen Systemen eines Menschen ausgestaltet (vgl. z. B. die Bootstrapping -Hypothese [Gawlitzek-Maiwald & Tracy 1996], in der die verstärkende Wirkung von Kenntnissen aus der einen auf die andere Sprache und eine temporäre gemeinsame Nutzung von sprachlichen Ressourcen angenommen wird, oder die crosslinguistic influence hypothesis [Hulk & Müller 2000]). Als Einflussfaktoren auf die getrennte Entwicklung der Sprachsysteme werden beispielsweise Quantität, Qualität und Vielfalt des Inputs und Einstellungen zu Sprachen, deren Sprecherinnen und Sprechern sowie zu Mehrsprachigkeit allgemein herausgearbeitet. Aus soziolinguistischer Perspektive ist außerdem bedeutsam, dass nicht nur Input und Interaktion Einfluss nehmen, sondern die sprachliche Sozialisation der Lernenden in ihrer Umgebung ausschlaggebend ist.Der im Kontext des Fremd- und Zweitsprachenerwerbs weit diskutierte Faktor ‚Alter‘ auf Erwerbsprozesse ist auch beim Erwerb mehrerer Sprachen relevant. Das Alter dient als Unterscheidungsmerkmal zwischen bilingualem Erstsprachenerwerb und frühem Erwerb einer Zweitsprache, wobei die Grenze in der Literatur zwischen der Geburt und dem Alter von drei Jahren als Kontaktbeginn mit der Sprache variiert. Insgesamt ist festzuhalten, dass der simultane und der sukzessive Spracherwerb im frühen Kindesalter (↗ Art. 4, 52) zahlreiche Gemeinsamkeiten im Verlauf aufweisen und sich vom Zweitsprachenerwerb zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem der Erstsprachenerwerb weitgehend abgeschlossen ist, deutlich unterscheiden. Insgesamt wird nicht mehr die Pubertät als kritische Phase beschrieben, wie es noch Lenneberg (1967) in seiner critical period hypothesis in Bezug auf die Lateralisierung des Gehirns annahm, sondern es wird eher vermutet, dass insgesamt altersbezogene Unterschiede im Erwerbsprozess bestehen. Besonders in Bezug auf den Umgang mit mehr als zwei Sprachen wird deutlich, dass das individuelle Sprachenrepertoire eines Individuums dynamisch ist und sich im Laufe des Lebens entsprechend der sprachlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten sowie der sozialen und persönlichen Lebensumstände verändert Der spätere Zweitsprachenerwerb, ab der späteren Kindheit einsetzend, gestaltet sich anders als der (multiple) kindliche L1-Erwerb, denn den Lernenden stehen bereits sprachliche Konzepte in der Erstsprache zur 268 SandraBallweg Verfügung und sie können auf das mit den Erstsprachen erworbene Weltwissen, auf kulturelles Wissen sowie auf stabile Bedeutungen zurückgreifen, wobei zahlreiche individuelle und soziale Faktoren auf den Verlauf des Erwerbs und das letztendlich erreichte Sprachniveau wirken (vgl. z. B. die Rolle der sozialen Integration und des Zugangs zu zielsprachlicher Interaktion [Norton 2000]). Hier liefern u. a. eine Vielzahl von behavioristischen, nativistischen, kognitivistischen, soziokulturellen und interaktionistischen Erwerbshypothesen, die sich teilweise ergänzen und teilweise widersprechen, Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb (für einen Überblick vgl. Riemer 2002). Die Erforschung von mehr als zwei Sprachen setzt teilweise auf diesen Ansätzen auf, um mehrsprachigkeitsspezifische Fragestellungen zu diskutieren (↗ Art. 85). Eine wesentliche Erkenntnis liegt in der gegenseitigen Beeinflussung der Sprachen eines Individuums ( crosslinguistic influences ). Während lange Zeit der Einfluss der Erstsprache auf weitere Sprachen im Fokus stand, wird inzwischen berücksichtigt, dass potenziell alle Sprachen eines Menschen miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Grosjeans Konzept des Sprachenmodus ( language mode ) (1997) geht davon aus, dass die Sprachen eines Menschen jeweils zu unterschiedlichen Graden aktiviert sind, wobei an einem Ende eines Kontinuums alle Sprachen gleichzeitig aktiv sind und am anderen Ende, in einem monolingualen Modus, alle außer einer unterdrückt werden. Green (1998) nimmt im inhibitory control model an, dass die Aufgabe eines mehrsprachigen Sprechers nicht in der Aktivierung einer Sprache besteht, sondern in der Unterdrückung aller anderen (vgl. hierzu auch das multilingual processing model von de Bot (2004) in Bezug auf die Verarbeitung von Lexemen im multilingualen mentalen Lexikon) (↗ Art. 62). Das Verhältnis aller Sprachen eines Individuums zueinander beleuchten bspw. das dominant language constellation model von Aronin (2016) sowie das dynamic model of multilingualism (Herdina & Jessner 2002), die beide Erst-, Zweit- und Fremdsprachen gleichermaßen einbeziehen. Aronin unterscheidet zwischen zentralen und peripheren Sprachen und bündelt diese. Herdina & Jessner verdeutlichen in ihrem Modell, dass Mehrsprachigkeit auch über Charakteristika verfügt, die nicht den Einzelsprachen zuzuordnen sind, sondern weit darüber hinaus gehen, und dass sich Sprachsysteme durch die Nicht-Linearität des Spracherwerbs, durch Reversibilität, durch die Stabilität eines Sprachsystems sowie durch Komplexität und die Interdependenz mit früheren und folgenden Systemen auszeichnen. Um die Rolle zuvor gelernter Sprachen beim Tertiärsprachenerwerb (↗ Art. 86) geht es bspw. im language switches model von Williams & Hammarberg (1998), das sich damit befasst, welche Sprache im Kontext des Tertiärsprachenerwerbs zur Hilfssprache ( supplier language ) wird. Einflussfaktoren sind die typologische Verwandtschaft, die Präsenz einer Sprache sowie der Kompetenz der Lernenden. Darüber hinaus ist es wahrscheinlicher, dass beim Lernen einer Fremdsprache eine andere Fremdsprache zur wichtigsten supplier language wird. Diese unterstützende Funktion einer zuvor gelernten Sprache findet sich auch im Konzept der Interkomprehension (↗ Art. 65, 63) und im Mehrsprachenverarbeitungsmodell (Meißner 2007), bei der in multilingualen Rezeptionsvorgängen von der Bildung einer Spontangrammatik oder Hypothesengrammatik unter Einbezug einer oder mehrerer Brückensprachen ausgegangen wird, sowie 269 51. Erst-,Zweit-undMehrsprachenerwerbinderForschung im Faktorenmodell von Hufeisen (z. B. mit Gibson 2003). Letzteres zeigt auf, dass neben den Faktoren, die auf den Erwerb einer Erstsprache und einer ersten Fremdsprache wirken, bei weiteren Sprachen auch fremdsprachenspezifische Faktoren wie die individuelle Lernerfahrung, Lernstrategien und die Interimssprachen in den verschiedenen Fremdsprachen Auswirkungen auf das Lernen der neuen Sprache haben. Ein großer Teil dieser Forschung stammt aus westlichen Ländern mit einer eher monolingualen Tradition, was sich auch im starken Interesse an Bildungsmehrsprachigkeit spiegelt. Publikationen, die die Perspektive in traditionell mehrsprachigen Gesellschaften in den Blick nehmen, zumeist aus soziolinguistischer Perspektive, zeigen auf, wie dort Spracherwerb und Sprachverwendung weniger stark getrennt verlaufen, sondern Sprachverwendungssituationen zu Erwerb führen und Sprachen fluid sind (vgl. z. B. Canagarah & Wurr 2011). 4. Perspektiven Zum Mehrsprachenerwerb liegen zahlreiche Forschungsergebnisse vor. Zugleich besteht Bedarf an weiterer Forschung, wobei hier nur einige Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen genannt werden können. Zunächst sollte der Erwerb verschiedener Kompetenzen genauer in den Blick genommen werden, z. B. der Aussprache oder der von mehrsprachigen Textrezeption in mehreren Sprachen. Darüber hinaus werfen sich wandelnde gesellschaftliche und mediale Bedingungen auch neue Fragestellungen auf. Zum frühkindlichen Spracherwerb könnte das Aufwachsen mit zwei oder mehr Sprachen in Familien zählen, bei denen nicht alle Familienmitglieder im selben Land leben, für verschiedene Altersgruppen der Spracherwerb unter den Bedingungen von Migration oder Flucht mit diskontinuierlichen Bildungsbiografien und Spracherwerbsverläufen, für Fremdsprachenlernende Spracherwerbsverläufe in unterschiedlichen Lebensphasen und unter unterschiedlichen sozialen und medialen Bedingungen sowie für alle Formen von Mehrsprachigkeit die Interaktion der Sprachen miteinander ( crosslinguistic influence ). Aus soziolinguistischer Perspektive wird die Forderung formuliert, individuelle Erwerbsprozesse über private und öffentliche Domänen hinweg, auch unter Einbezug analoger und digitaler Medien, zu betrachten (vgl. the Douglas Fir Group 2016: 20). Gewinnbringend wäre es, psycholinguistische und soziolinguistische Forschungsansätze noch stärker als bisher zu verbinden. Auch die Schnittstelle zu den Didaktiken darf nicht vernachlässigt werden. Hier stellen sich Fragen der Förderung verschiedener Einzelsprachen sowie der gezielten Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitskompetenz (↗ Art. 6, 7), aber beispielsweise auch der Frage der Leistungsbewertung im Kontext von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 50). Literatur Aronin, L. (2016): Multi-competence and Dominant Language Constellation. In: V. Cook & W. Li (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Linguistic Multi-Competence . Cambridge, 125-141. Bialystok, E. (2004): The Impact of Bilingualism on Language und Literacy Development. In: T. Bhatia & W. Ritschie (Hrsg.): The Handbook of Bilingualism . Oxford, 577-601. Canagarjah, S. & Wurr, A. (2011): Multilingual Communication and Language Acquisition: 270 SandraBallweg New Research Directions. In: The Reading Matrix 11/ 1, 1-15. 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(1998): Language Switches in L3 Production: Implications for a Polyglot Speaking Model. In: Applied Linguistics 19/ 3, 295-333. Sandra Ballweg 271 52. KindlicherSpracherwerbinmehrsprachigerUmgebung 52. Kindlicher Spracherwerb in mehrsprachiger Umgebung 1. Aufriss Die Sprachenvielfalt in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist in den letzten Jahrzehnten rapide gewachsen. Die große Zahl von Einwanderern hat die Zahl der Herkunftssprachen erhöht. Die neue Vielsprachigkeit wirft auch für die Spracherwerbsforschung neue Fragen auf. Betroffen ist die in individueller Zweisprachigkeit der einzelnen Kinder begründete Vielsprachigkeit (↗ Art. 2, 3, 100). In der Praxis sind unterschiedliche Familien zu beobachten, die ihren Kindern eine zweisprachige Erziehung, bestehend aus der jeweiligen Herkunftssprache bzw. der Sprache des Vaters oder der Mutter oder aber einer Fremdsprache und Deutsch, ermöglichen möchten: a) Eltern mit verschiedenen Muttersprachen Bei binationalen Paaren ist oft eine zweisprachige Erziehung zu beobachten. Sie gelingt umso eher, desto mehr Sprachpartner sich dem Kind für beide Sprachen in entsprechender Breite anbieten. Sie bestimmen zusammen mit der Art der verbalen Interaktivitäten das Sprachbzw. Sprachenerlebnis. b) Familien, Partnerschaften, Personen, die an mehrsprachiger Erziehung interessiert sind Oft sind Eltern an einer zweisprachigen Erziehung ihres Kindes interessiert und holen die Zielsprache in die häusliche Umgebung. Dies kann geschehen, indem sie sich selbst mit ihrem Kind dieser Sprache bedienen (elternseitig ist eine entsprechende Kompetenz vor allem der nähesprachlichen Register vorausgesetzt) und ihrem Kind intensive und anhaltende Kontakte mit der Zielsprache ermöglichen (Au-pair, bilinguale Spielgruppe, Kita usw.). c) Zuwandererfamilien und Familien mit Fluchtgeschichte Das Kind spricht in diesen Fällen überwiegend die Herkunftssprache. Es lernt die Zweit- oder Umgebungssprache erst in der Kita, meistens also im dritten oder vierten Lebensjahr, kennen; manchmal auch erst zum Zeitpunkt der Einschulung (↗ Art. 53, 54). Generell lässt sich sagen: Eine zweisprachige Kindererziehung gelingt in dem Maße, wie beide Sprachen zur Erhöhung des psychischen Einkommens des Kindes beitragen. Dies unterstreicht die Rolle des Sprach- und Spielerlebnisses mit authentischen Sprachpartnern in beiden Sprachen, vorzugsweise wiederum Kinder. Oftmals sind Eltern, die ihre Kinder zweisprachig erziehen möchten, ratlos, wie sie mit den Sprachen umgehen sollen. Es begegnen immer wieder folgende Fragen: • „Wer spricht mit dem Kind in welcher Sprache? “ • „Welche Sprache soll ich selbst mit meinem Kind sprechen? “ • „Wie lernt mein Kind am schnellsten die Sprache der Mehrheitsgesellschaft (Deutsch), damit ein guter Schulstart ermöglicht werden kann? “ • „Ich spreche nur meine Muttersprache. Mein Mann spricht aber besser Deutsch als ich. Wie sollen wir mit der deutschen Sprache, wie mit unserer Herkunftssprache umgehen, damit unser Kind ‚unsere‘ Sprache nicht vergisst und doch zugleich angemessen Deutsch lernt? “ • „Kann mein Kind in einer mehrsprachigen Umgebung auch mehrere Sprachen lernen? “ Später tauchen dann Fragen auf wie: 272 YükselEkinci • „Warum antwortet mein Kind in Deutsch, obwohl ich immer in meiner Muttersprache mit ihm rede? “ • „Mein Kind mischt die Sprachen. Sollten wir lieber nur eine Sprache sprechen? “ Die Unsicherheit der Eltern im Umgang mit den in den Familien und der Umwelt gesprochenen Sprachen verlangt Wissen über den frühkindlichen Spracherwerb. Immer wieder ist die Befürchtung zu hören, dass Zweisprachigkeit die Kinder überfordere. Sie würden die Sprachen durcheinanderbringen (↗ Art. 4, 5), schließlich habe Deutsch Vorrang. Die Verunsicherung äußert sich in fragwürdigen Handlungsmaximen wie „Zuhause wird nur noch Deutsch gesprochen! “ Es herrschen oft falsche Vorstellungen. Dabei ist die Spracherwerbsforschung mehrheitlich der Ansicht, dass frühe Zweisprachigkeit die kognitive Entwicklung der Kinder nicht beeinträchtigt (u. a. Nitsch 2007). Entscheidend sind die personalen, sozialen und kulturellen Faktoren, die den Sprachenerwerb begleiten. Zweisprachig aufwachsende Kinder verfügen früher und breiter über Sprachenbewusstheit, sie verfügen über mehr sprachliche Schemata, die für das Lernen fremder Sprachen von Nutzen sind, und wenden daher mehr Strategien auf mehr sprachliche Muster an. (↗ Art. 22). Weltweit ist Mehrsprachigkeit der Normalfall, es können problemlos mehrere Sprachen parallel erworben werden. Selten wird indes untersucht, was dies für die Literalität bedeutet und wie sich die Korrelation zwischen dem Prestige einer Sprache in einer gegebenen Gesellschaft und unterschiedlichen Formen der Mehrsprachigkeit darstellt. 2. Begrifflichkeiten und Forschung im Erst- Zweit- oder Mehrspracherwerb Bei kindlichem Spracherwerb kann es sich, wie angedeutet, um die Mutter- oder Erstsprache, um eine Zweitsprache (z. B. Umgebungssprache und/ oder offizielle Sprache) oder um eine Fremdsprache handeln (↗ Art. 51). 2.1. Der simultane Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen Der Erwerb von Sprachen kann bei Kindern wie Erwachsenen sowohl ‚gesteuert‘ als auch ungesteuert (durch nicht-lehrintentionale Kommunikation) stattfinden. Im Alltag lernt das Kind die Sprachen beim Spiel, in Interaktion mit anderen Kindern und Erwachsenen, im Kindergarten oder in der Schule in verbaler Kommunikation. Die kindbezogene Spracherwerbsforschung unterscheidet zwischen simultan erworbener Zweisprachigkeit (zwei Erstsprachen) und sukzessiv erworbener Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Im Folgenden werden die Begriffe erläutert. Bei simultanem bilingualem Spracherwerb lernen Kinder innerhalb der ersten Lebensjahre oder spätestens bis zum dritten Lebensjahr (vgl. Meisel 2007; Bickes & Pauli 2009) gleichzeitig zwei Sprachen nebeneinander. Dies setzt voraus, dass ihnen zu dieser Zeit mindestens jeweils ein Partner pro Sprache zur Verfügung steht. Im fünften Lebensjahr erreicht das Kind i. d. R. in beiden Sprachen ein Kompetenzniveau, auf dem es hinreichend verstehen und sich ausdrücken kann. 273 52. KindlicherSpracherwerbinmehrsprachigerUmgebung 2.2. Der sukzessive Erwerb von Sprachen Hier geht es um den zeitversetzten Erwerb zweier Sprachen (oder mehr). Der Erwerb einer zweiten Sprache beginnt laut Rothweiler (2007: 106) erst dann, wenn das Kind bereits über ein alterstypisches Kompetenzmuster in seiner ersten Sprache verfügt. Viele Studien betonen, dass sich ein Kind vor dem sechsten Lebensjahr die Erstsprache noch nicht soweit erschlossen und diese gefestigt hat, dass eine zweite Sprache nicht ähnlich wie beim Erstsprachenerwerb erworben werden könnte. Der unmittelbare Zugriff von Welt auf Sprache und Sprache auf Welt unterscheidet beide kindlichen Erwerbstypen von späteren, in denen die dann Lernenden bereits über ein ausgeprägtes erstsprachliches Begriffs- und Sprachsystem verfügen. Dies bedeutet, dass der Zugriff auf die Zielsprache und die zu versprachlichende Welt stärker über Umschreibungen als über ‚festgefügte‘ Begriffe erfolgt Daher unterscheidet die Literatur zwischen frühkindlichem Zweitspracherwerb (0.-6. Lebensjahr), kindlichem Zweitspracherwerb (Zweitspracherwerb 6.-12. Lebensjahr), dem Zweit- und dem Fremdspracherwerb Erwachsener. Rehbein & Grießhaber (1996: 71) sprechen von einem frühen sukzessiven Bilingualismus (3.-12. Lebensjahr), wenn das Kind nach dem dritten Lebensjahr in Kontakt mit einer zweiten Sprache kommt. Die Erwerbsbedingungen sind wichtige Faktoren für den erfolgreichen Erwerb von Sprachen. Betroffen sind: das Prestige der Sprache, Input, Sprachgebrauch, Alter des Kindes beim Erwerbsbeginn der jeweiligen Sprache, Sprachpartner und Sprachkontakt ( exposure to the language ). Nach Chilla et al. (2013) unterscheidet sich der Wortschatzerwerb von sukzessiv zwei- oder gar mehrsprachigen Kindern von dem von Kindern im Erstsprachenerwerb (↗ Art. 62). Im Vergleich zu einsprachig aufwachsenden Kindern, deren Sprachenbewusstheit spätestens mit dem Erwerb der Schriftlichkeit beginnt, bilden zweisprachig aufwachsende deutlich früher Sprachenbewusstheit aus, denn sie vergleichen Schemata aus Sprache 1 mit jenen aus Sprache 2. Zudem benutzen sie mit unterschiedlichen Personen unterschiedliche Sprachen. Einiges spricht dafür, dass sie so auf das Erlernen fremder Sprachen besser vorbereitet werden. Ein hinreichend umfangreicher und bedeutungshaltiger Sprachinput ist eine der wichtigen Voraussetzungen für den Spracherwerb. Bruner (1987) misst der Interaktion im Spracherwerb eine bedeutsame Rolle bei. Entsprechende Lernarrangements entstehen durch Interaktionen, in die sich Lernende und Lehrende einbeziehen: nachfragen, eventuell vorformulieren, immer: zusammen etwas tun, dieses dialogisch versprachlichen, Möglichkeiten zur Wiederholung bieten. Vor allem: Einbezug von Handeln in beiden Sprachen. Es geht immer um das Zusammenschalten von Sprache und Welt. Ein Beispiel für kindliche Mehrsprachigkeit findet sich u. a. in Luxemburg, unter den zumeist aus Portugal zugewanderten Kindern (Portugiesisch [mündlich], Letzeburgisch [mündlich], Deutsch [mündlich und schriftlich], Französisch [mündlich, später schriftlich], Englisch als Fremdsprache [folgend]). Allerdings steht die Gruppe in dem Ruf des sog. „under-achievement“, was die Schriftlichkeit in den Landessprachen angeht. 274 YükselEkinci 3. Einflussfaktoren beim Spracherwerb in einer mehrsprachigen Umgebung: Gegen den Verlust der Herkunftssprache Viele Kinder haben in den letzten Jahren durch die anhaltende Zuwanderung mehr Kontakt zu mehr Sprachen, in manchen Quartieren werden sie in einer vielsprachigen Umgebung groß. Anders als bisher werden Kinder verstärkt mit visueller Mehrsprachigkeit konfrontiert (↗ Art. 102). Abhängig vom Stadtteil sind viele Hinweise mehrsprachig. In der U-Bahn sind viele Hinweise in verschiedenen Sprachen zu sehen. Auch sind in anderen öffentlichen Räumen wie zum Beispiel in städtischen Behörden viele Beschriftungen, Flyer oder Hinweise mehrsprachig. Meistens ist zu beobachten, dass auch die Werbung in diesem Wohnumfeld gleich mehrsprachig vorbereitet wird. Im Wortschatzprojekt der TU Dortmund stellten Hoffman & Ekinci (2013) bei Kindern, die in einer mehrsprachigen und -kulturellen Umgebung wohnten, fest, dass die Kinder vor ihrer Einschulung über andere Symbole, Zeichen oder Logos, etwa die der Wohnumgebung, verfügen als ihre monolingualen Freunde in der Kita. Bei der Einschulung erkannten diese Kinder wegen ihres Wohnumfelds auf mehrsprachigen Werbeplakaten andere Logos, Zeichen oder Symbole als ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. Diese Kinder kommen also nicht mit Defiziten in die Schule, sondern sie kennen einfach andere Symbole, Zeichen oder Logos. Solche Potentiale der Kinder werden aber von der Schule nicht aufgegriffen. Diese Lebensrealität sollte jedoch beim Schulstart berücksichtigt werden, wenn im ersten Schuljahr an den Vorerfahrungen mit Schriftzeichen angeknüpft werden soll. Allzu oft übersehen Lehrkräfte die Ressourcen aus dem Umfeld sowie der Erstsprache und vergessen, dass man diese Potentiale auch positiv nutzen kann. Wie für alle Lernkontexte ist der Einfluss der digitalen und analogen Medien für den Spracherwerb nicht zu unterschätzen. Oft laufen zu Hause Fernsehsender in der Herkunftssprache mit einer ganz anderen Werbung als die, welche sich an Konsumenten mit Deutsch als Erstsprache richtet. Meistens ist diese Werbung zweisprachig, dabei werden auch Sprachmischungen aufgenommen. Die Kinderserien und Werbung richten sich gezielt an eine zweisprachige Adressatengruppe. Seit den 1990er Jahren ist der Einfluss der „Daily Soaps“ gewachsen. Manche Redewendungen werden aus diesen Sendungen auch ins Deutsche entlehnt. Dabei stellt sich die Frage, ob und welche Sendungen speziell an Kinder zum Zweck der Unterstützung der herkunftssprachlichen Kompetenz gerichtet sind. Dies betrifft natürlich auf Forschungsaspekte. In dem Projekt „Deutsch und mehr Sprachen lernen - mit digitalen Medien“ der FH Bielefeld zusammen mit der Hellingkampschule und der Stadtbibliothek konnte nachgewiesen werden, dass die Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Schriftlichkeit stärker ausgebaut werden kann, wenn die Kinder selbstständig digitale Medien nutzen. Das Erstellen von Büchern am Tablet ermöglichte es Kindern, eigene Geschichten zu erzählen (vgl. Ekinci & Marci-Boehncke 2017) und hiermit ihre Sprachkenntnisse auszubauen. Entsprechende empirische Forschungen, in denen auf der Grundlage von Symbolketten eine Zielsprache generiert wird, liegen in Frankreich seit den 1990er Jahren vor (Cohen 1992). 275 52. KindlicherSpracherwerbinmehrsprachigerUmgebung 4. Perspektiven zur Förderung der kindlichen Mehrsprachigkeit Es zeigt sich, dass die Pädagogen und Pädagoginnen, Erzieher und Erzieherinnen Wissen über die Potentiale der Kinder ihrer mehrsprachigen Gruppe und ihre Spracherwerbsbiografien besitzen sollten (↗ Art. 26). Prinzipiell wünschenswert wäre eine entsprechende Förderung aller Sprachen der Kinder in der Herkunftssprache und in der Zweit- und evtl. einer Fremdsprache. Die Erstsprache ist wertvoll und fördernswert; es ist wichtig, sie nach Möglichkeit so gut zu beherrschen wie das Deutsche (↗ Art. 105, 106). Im Wortschatzprojekt der TU Dortmund konnte festgestellt werden, dass eine entsprechende Förderung durch die Bildungsinstitutionen von Bedeutung ist. Wird z. B. die Herkunftssprache des Kindes in der Schule unterrichtet, dann kann sie auch weiterhin ausgebaut werden. Die Förderung der Mehrsprachigkeit der Kinder sollte sich dabei auch in der Schriftlichkeit niederschlagen. Beispielsweise kann in den Schulen auch die Schreibkompetenz der Kinder in mehreren Sprachen unterstützt werden, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben wird, den Herkunftssprachenunterricht zu besuchen und diesen entsprechend auszustatten. Bei einer Doppelalphabetisierung in der Erst- und Zweitsprache kann den Kindern eine große Hilfestellung gegeben werden, schnell lesen und schreiben zu lernen. Die digitalen Medien geben den Kindern eine zusätzliche Möglichkeit, am Unterrichtsgeschehen zu partizipieren und dieses mitzugestalten. Es ist zu erwarten, dass die Digitalisierung die Sprachen der Kinder weiter unterstützt, und zwar bzgl. der Mündlichkeit als auch der Schriftlichkeit. Gegenstand der Forschung muss sein zu untersuchen, inwieweit die Mehrsprachigkeit der Kinder auch in institutionalisierten Kontexten optimal gefördert werden kann. Literatur Bickes, H. & Pauli, U. (2009): Erst- und Zweitspracherwerb . Paderborn. Bruner, J. S. (1987): Wie das Kind die Sprache lernt . Bern. Chilla, S., Rothweiler, M. & Babur, E. (2013): Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen - Störungen-- Diagnostik . München. Ekinci, Y. & Hoffmann L. (2012) Wortschatzarbeit mit Blick auf den Schrifterwerb. Das Projekt „Wortschatzentwicklung und Wortschatzarbeit bei mehrsprachigen Kindern im Übergangsbereich Vorschule-Schule“. In: W. Grießhaber & Z. Kalkavan (Hrsg.): Orthographie und Schriftspracherwerb bei mehrsprachigen Kindern . Freiburg, 213-233. Ekinci, Y. & Marci-Boehncke, G. (2017 ): Deutsch und mehr Sprachen lernen anhand von Kinderliteratur: Ein mediengestütztes Kooperationsprojekt zur Mehrsprachigkeits- und Leseförderung. In: Y. Ekinci, E. Montanari & L. Selmani (Hrsg.): Grammatik und sprachliche Variation. Festschrift für Ludger Hoffmann. Heidelberg, 283-296. Grießhaber, W. & Rehbein, J. (1996): L2-Erwerb versus L1 Erwerb: Methodologische Aspekte ihrer Erforschung. In: K. Ehlich (Hrsg.): Kindliche Sprachentwicklung . Opladen, 67-119. Meisel, J. M. (2007): Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn. In: T. Anstatt (Hrsg.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb - Formen - Förderung . Tübingen, 93-114. Nitsch, C. (2007): Mehrsprachigkeit: Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In: T. Anstatt (Hrsg.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb - Formen - Förderung . Tübingen, 47-48. Ramge, H. (1993): Spracherwerb. Grundzüge der Sprachentwicklung des Kindes . Tübingen. 276 YükselEkinci Rothweiler, M. (2007): Bilingualer Spracherwerb und Zweitspracherwerb . In: M. Steinbach, R. Albert, H. Girnth et al. (Hrsg.): Schnittstellen der germanistischen Linguistik. Stuttgart, 103-136. Ruberg, T. & Rothweiler, M. (2012): Spracherwerb und Sprachförderung in der Kita . Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit. Stuttgart. Tracy, R. (2008): Wie Kinder Sprachen lernen und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen. Yüksel Ekinci 53. Mehrsprachigkeitsansätze in vorschulischen Bildungseinrichtungen 1. Begrifflichkeit In vorschulischen Bildungseinrichtungen werden die Begriffe ‚Mehrsprachigkeit‘ oder ‚Multilingualismus‘ vor allem in Bezug auf Kinder mit einem ‚Migrationshintergrund‘ verwendet, die oftmals in zwei oder gar mehreren Sprachen aufwachsen (↗ Art. 52); zumeist mit ihrer Herkunftssprache (die sie als Erstsprache/ n, L1, lernen) und mit Deutsch als Umgebungssprache (vgl. Steinlen & Piske 2016). Dies betraf im Jahr 2017 etwa 38 % aller Kinder unter 10 Jahren (Statistisches Bundesamt 2018). In der Fremdsprachenerwerbsforschung werden die vorhandenen Sprachkenntnisse der Lernenden als wichtige Ressource anerkannt (↗ Art. 51). Wie die Zweisprachigkeit von Kindern in Kindertageseinrichtungen in Deutschland heutzutage gefördert wird, sei anhand von zwei Ansätzen illustriert (siehe Schmidt 2018): Dazu zählen zum einen einsprachige Kitas, in denen bspw. Kinder mit einer minoritären Sprache (z. B. Russisch) die Umgebungssprache lernen, die dann ihre Zweitsprache (L2) darstellt. In zweisprachigen Kitas werden dagegen parallel zwei Sprachen angeboten, z. B. Deutsch und Englisch. Einsprachig in Deutsch aufwachsende Kinder kommen hier schon früh mit einer zweiten Sprache in Kontakt; Kinder, die zuhause keine der beiden angebotenen Sprachen sprechen, lernen gleichzeitig eine Zweitsprache (Deutsch) und eine dritte Sprache (L3, Englisch). Eine dritte Variante betrifft mehrsprachig ausgerichtete Kitas, in denen die Erstsprachen der Kinder nach Möglichkeit einbezogen werden. Diese stellen jedoch bisher eher die Ausnahme dar (z. B. das BMBF-Projekt „Effekte einer aktiven Integration von Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen“, 2014-2018) und wurden kaum evaluiert, weshalb im Folgenden der Fokus auf ein- und zweisprachige Kitas liegen wird. 2. Problemaufriss Laut Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018) besitzen 20 % der unter 3 bzw. 30 % aller über 3 Jahre alten Kita-Kinder einen Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil ist zugewandert). In durchschnittlich 2,7% (in Berlin sogar in 8,3%) aller Kitas in Deutschland sprechen mehr als 75 % der Kinder in der Familie nicht Deutsch (Ländermonitor 2017). In diesem Zusammenhang wird immer wieder kritisch darauf hingewiesen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder mit Migrationshintergrund schon vor Schulbeginn oftmals sprachlich schwächere 277 53. Mehrsprachigkeits ansätzeinvorschulischenBildungseinrichtungen Leistungen im Deutschen zeigen als einsprachig deutsch aufwachsende und dass sich dies nachteilig auf deren späteren Bildungserfolg auswirkt (z. B. Lisker 2011). Mehrsprachigkeitsansätze in der Kita können also nur dann als sinnvoll gelten, wenn über die Mehrsprachigkeit hinaus der Erwerb der Umgebungssprache Deutsch altersgemäß gefördert wird (↗ Art. 106). 3. Forschungsstand 3.1. Einsprachige Kitas: Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern In allen Bundesländern wird der Sprachstand von Kindern erhoben. Dabei kommen entweder standardisierte Tests (z. B. KISTE: Kindersprachtest für das Vorschulalter), Screening (z. B. SSV: Sprachscreening im Vorschulalter) oder Beobachtungsverfahren (SISMIK: Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern im Kindergarten) zum Einsatz, auf deren Grundlage Entscheidungen für spezifische (ebenfalls bundeslandabhängige) Sprachförderangebote geschaffen werden. Der Anteil der betroffenen Kinder, also zumeist Kinder mit Deutsch als Zweitsprache oder mit besonderem Sprachförderbedarf, liegt bundeslandabhängig zwischen 15 % und 57 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Sprachförderungskonzepte, die in den Bundesländern von unterschiedlichen Trägern im Elementarbereich eingesetzt werden (↗ Art. 21), umfassen fast ausschließlich Programme für die deutsche Sprache (Lisker 2011). Bei sprachstrukturellen Programmen zur additiven Sprachförderung werden, einem festgelegten zeitlichen Ablaufplan mit vorgegebenem Material folgend, einzelne oder mehrere Sprachausschnitte des Deutschen (z. B. Wortschatz, Grammatik, phonologische Bewusstheit) gezielt ein- oder mehrmals pro Woche in kleinen Gruppen gefördert. Bisher wurden jedoch nur wenige additive Sprachförderprogramme evaluiert. Es konnten keine starken Effekte auf die sprachliche Entwicklung direkt nach der Förderung, also im Jahr vor der Einschulung, nachgewiesen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt stehen noch wissenschaftliche Evaluationen zum Erfolg von integrativen (alltagsintegrierenden, ganzheitlichen) Sprachförderungsansätzen aus: Dazu zählt z. B. das vom BMBF finanzierte Programm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ (2011-2015), an dem rund 4.000 Kitas teilnahmen. Bisherige Ergebnisse zeigen zwar die Akzeptanz des Programms sowie der Fortbildungsaktivitäten auf, sagen jedoch nichts zum Sprachstand der beteiligten Kinder (BMBF 2015). 3.2. Zweisprachige Kitas: Fremdsprachenvermittlung Ein weiterer Ansatz, Mehrsprachigkeit im Kita-Kontext zu fördern, bezieht sich auf die frühe Fremdsprachenbegegnung für Kinder unter drei Jahren (↗ Art. 4). Der Anteil solch bilingual arbeitender Kitas beträgt bundesweit ca. 2 % (über 1.035 Einrichtungen, FMKS 2014). Der Erwerb der neuen Sprache soll nicht zu Lasten der Muttersprache (Deutsch) gehen. Besonders bewährt haben sich Kitas, die den Ansatz der Immersion mit zwei Sprachen verfolgen, denn hier wird die neue Sprache als Alltags- und Kommunikationsmittel eingesetzt und nicht im Rahmen eines Kurses. Gearbeitet wird nach dem Prinzip „eine Person - eine Sprache“, d. h. in jeder Kita-Gruppe gibt es zumeist zwei Erzieherinnen bzw. Erzieher, von denen die/ der eine Deutsch und die/ 278 AnjaK.Steinlen-&ThorstenPiske der andere ausschließlich die Zielsprache (z. B. Englisch oder Französisch) spricht. Solange die Kinder über keine oder nur über begrenzte Kenntnisse in ihrer L2 verfügen, wird in der Kommunikation stark auf extraverbale und visuelle Mittel zurückgegriffen (Gestik, Mimik, Bilder und Realia). Die enge Verzahnung zwischen Sprache und dargestelltem Handeln wird jedoch mit steigender Sprachkompetenz der Kinder zurückgenommen. Insgesamt hat sich der Ansatz der frühen Immersion als das weltweit erfolgreichste und am gründlichsten erforschte Sprachlehr- und -lernverfahren erwiesen (z. B. Wesche 2002). Die Ergebnisse des EU-geförderten ELIAS- Projekts ( Early Language and Intercultural Acquisition Studies , Kersten et al. 2010) zeigten in den Sprachstandserhebungen zur Zielsprache Englisch insgesamt einen deutlichen Zuwachs des Hörverstehens, unabhängig davon ob die L1 der Kinder Deutsch, Französisch oder Schwedisch war. Insgesamt sind die rezeptiven Kenntnisse den produktiven voraus und das Hörverstehen im Englischen entwickelte sich besser, je länger und intensiver der Kontakt mit der neuen Sprache war. Gleiches ist bei gleichen Voraussetzungen prinzipiell auch für andere Zielsprachen anzunehmen. In Bezug auf zweisprachige Kinder mit Migrationshintergrund (↗ Art. 51, 100) sind die Ergebnisse des ELIAS-Projekts besonders ermutigend: Zum einen unterschieden sich diese Kinder nicht von einsprachig aufwachsenden Kindern in der Entwicklung des Hörverstehens im Englischen. Zum anderen differierten die Deutschleistungen von solchen Kindern nicht signifikant von denen ihrer einsprachig aufwachsenden Altersgenossen. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass die getestete Gruppe relativ klein und deshalb nicht repräsentativ war. Dennoch scheinen bilinguale Kitas einen guten Lernort darzustellen, der es Kindern ermöglicht, zusätzlich zu ihren mitgebrachten Sprachen ihre Umgebungssprache Deutsch und eine Fremdsprache zu erwerben. 4. Praxisrelevanz Welche Bedingungen tragen also zum erfolgreichen Zweitbzw. Fremdsprachenerwerb in der Kita bei? Bewährt hat sich eine Kombination aus frühem, intensivem und kontinuierlichem Kontakt mit der neuen Sprache, mit reichem und authentischem Input in relevanten Kontexten. Sodann scheint der produktive Umgang mit der Zielsprache bei den Kindern positive Effekte zu zeitigen (z. B. Doyé 2009; Steinlen & Piske 2016). Darüber hinausgehend plädiert Schmidt (2018) dafür, nicht nur sprachfördernde Aktivitäten ergänzend zur alltagsintegrierten Sprachförderung anzubieten, sondern auch die Erstsprachen der Kinder im Alltag der Kita hörbar und sichtbar zu machen (z. B. durch Wörter, Begrüßungsrituale, Lieder oder Redewendungen in den verschiedenen Erstsprachen, der Umgebungssprache und der Fremdsprache); die Sprachen untereinander bewusst in Beziehung zu setzen (z. B. durch Sprachenvergleich); die gegebene Mehrsprachigkeit der Familien auch in der pädagogischen Raumgestaltung und der Materialauswahl stärker zu berücksichtigen und, was das Deutsche betrifft, schließlich auf Unterschiede zwischen der Alltags- und der erzählenden Sprache einzugehen (z. B. durch das Vorlesen von Märchen oder Sachgeschichten). 279 53. Mehrsprachigkeits ansätzeinvorschulischenBildungseinrichtungen 5. Perspektiven Um Mehrsprachigkeitsansätze (↗ Art. 7) erfolgreich in vorschulischen Bildungseinrichtungen zu etablieren, ist es unerlässlich, Eltern einzubinden: Die Pflege der Familiensprachen liegt weiterhin in ihren Händen. Gemeinsame Gespräche, die Pflege der Herkunftssprache mit dem Kind, gemeinsame Aktivitäten sowie das Vorlesen stärken die Erstsprachenkompetenz des Kindes (Steinlen & Piske 2016). Zur Umsetzung bedarf es pädagogischer Kräfte, die willens und in der Lage sind, die Vermittlung der Sprachen sensibel zu gestalten. Dazu gehört eine gewisse Offenheit und ein Wissen über Mehrsprachigkeit, das spracherwerbliche Kenntnisse und Vermittlungsstrategien einschließt, um Mehrsprachigkeit sinnvoll in das pädagogische Alltagsgeschehen zu integrieren. Das bedeutet auch, dass das Thema Mehrsprachigkeit in der Aus- und Fortbildung von pädagogischen Kräften im Elementarbereich stärker als bisher in den Vordergrund treten muss (↗ Art. 27). Da die Bildungspläne der Bundesländer die Förderungswürdigkeit der Mehrsprachigkeit betonen, sollte deren Potenzial weiter ausgeschöpft werden. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018 . Bielefeld. BMBF (2015): Ergebnisse der Evaluation des Bundesprogramms „Schwerpunkt-Kitas Sprache-& Integration“. [https: / / sprach-kitas.fruehe-chancen.de/ fileadmin/ PDF/ Sprach-Kitas/ Evaluation_SPK.pdf]. Doyé, P. (2009): Didaktik der bilingualen Vorschulerziehung . Tübingen. FMKS, Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen (2014): Bilinguale Kitas in Deutschland . [https: / / www.goethe.de/ resources/ files/ pdf92/ fmks_bilinguale-kitas-studie2014.pdf]. Kersten, K., Rohde, A., Schelletter, C. & Steinlen, A. K. (Hrsg.) (2010): Bilingual Preschools. Vol. I: Learning and Development. Vol. II: Best Practices . Trier. Ländermonitor (2017): KiTas nach ihrem Anteil an Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache . [https: / / www. laendermonitor.de/ de/ vergleich-bundeslaender-daten/ kinder-und-eltern/ migrationshintergrund/ kitas-nach-ihrem-anteil-an-kindern-mit-nicht-deutscher-familiensprache/ ? tx_itaohyperion_pluginview%5Baction%5D=chart&tx_ itaohyperion_pluginview%5Bcontroller%5D=PluginView&cHash=a6c0e89dde- 407b466e70945816947843]. Lisker, A. (2011): Additive Maßnahmen zur vorschulischen Sprachförderung in den Bundesländern . Expertise im Auftrag des DJI. München. Schmidt, M. (2018): Kinder in der Kita mehrsprachig fördern . München. Statistisches Bundesamt (2018): Bevölkerung in Privathaushalten 2017 nach Migrationshintergrund . [https: / / www.destatis.de/ DE/ Zahlen- Fakten/ GesellschaftStaat/ Bevoelkerung/ MigrationIntegration/ Migrationshintergrund/ Tabellen/ MigrationshintergrundAlter.html]. Steinlen, A. K. & Piske, T. (Hrsg.) (2016): Bilinguale Programme in Kindertageseinrichtungen: Umsetzungsbeispiele und Forschungsergebnisse . Tübingen. Wesche, M. B. (2002): Early French Immersion: How has the Original Canadian Model stood the Test of Time? In: P. Burmeister, T. Piske & A. Rohde (Hrsg.): An Integrated View of Language Development . Trier, 357-379. Anja K. Steinlen-& Thorsten Piske 280 ThorstenPiske-&AnjaK.Steinlen 54. Mehrsprachigkeit als Herausforderung und Chance in der Grundschule 1. Begrifflichkeit An Grundschulen in Deutschland gibt es eine stetig steigende Zahl an Kindern mit einem ‚Migrationshintergrund‘, die in unterschiedlichen Sprachen, aufwachsen und mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen eingeschult werden (↗ Art. 52, 100). Dem Statistischen Bundesamt (2016) zufolge betraf dies im Jahr 2015 bereits etwa 35 % aller Kinder unter 10 Jahren. Diese Kinder wachsen oft mehrsprachig auf, z. B. mit einer oder mehreren Herkunftssprachen (verschiedene L1) sowie mit Deutsch als Umgebungsbzw. Zweitsprache (L2). Andere Kinder haben in den ersten Lebensjahren zunächst Kontakt mit ihrer/ ihren Herkunftssprache(n) und erwerben erst später, z. B. im Kindergarten, die Umgebungssprache Deutsch, wozu in der Grundschule die erste Fremdsprache als dritte Sprache (L3) hinzukommt. Für einsprachig Deutsch aufwachsende Kinder stellt die in der Grundschule gelernte Fremdsprache dagegen die L2 dar. 2. Problemaufriss In Deutschland wird häufig von (vermeintlich) schwächeren Leistungen berichtet, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu einsprachig Deutsch aufwachsenden erbringen. Dabei scheint ein Migrationshintergrund in Verbindung mit der in der häuslichen Lernumwelt vorherrschenden Familiensprache einen Risikofaktor für den hinreichenden Erwerb der deutschen Sprache und damit gleichzeitig für den Bildungserfolg darzustellen (z. B. OECD 2016). Der Faktor Migrationshintergrund korreliert allerdings mit einer Reihe von Faktoren, die die Leistung von Schülerinnen und Schülern deutlich beeinflussen können: So zeichnen sich Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland oftmals durch einen vergleichsweise niedrigeren sozioökonomischen Status und ein geringeres Bildungsniveau aus (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Insofern muss immer wieder kritisch überprüft werden, ob die von Kindern mit Migrationshintergrund gezeigten Leistungen tatsächlich von ihren sprachlichen und kulturellen Hintergründen abhängen oder vornehmlich durch Faktoren wie Bildungsnähe und sozioökonomischen Status bedingt sind (↗ Art. 38). 3. Forschungsstand In mehreren Vergleichsstudien zu Deutschleistungen in der Grundschule erzielten zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder oftmals schlechtere Ergebnisse als vergleichbare einsprachige (z. B. Bos & Pietsch 2006; Schwippert et al. 2012). Uneinheitliche Ergebnisse liegen dagegen für Leistungen im Fremdsprachenunterricht vor: In einigen Studien erbrachten zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Grundschulkinder gleich gute oder bessere Leistungen als einsprachig Deutsch aufwachsende (z. B. Keßler & Paulick 2010), in anderen Studien schlechtere Leistungen (z. B. May 2006). In einer der Untersuchungen, in denen mehrsprachige Grundschüler schlechtere Leistungen erzielten als einsprachige, zog Elsner (2007: 245 f.) die Schlussfolgerung, dass „die sprachlichen Kompetenzen vieler zwei- oder 281 54. Mehrsprachigkeitals HerausforderungundChanceinderGrundschule mehrsprachiger Kinder in ihrer Muttersprache und ihrer Zweitsprache nicht auszureichen scheinen, um im schulischen Fremdsprachenunterricht (wie er derzeit konzipiert ist) hinreichende Lernerfolge erzielen zu können“. Anders konzipiert sind z. B. bilinguale Fremdsprachenkonzepte wie der Ansatz der frühen Immersion, bei denen mehrere Fächer (also mehr als 50 % der Unterrichtszeit) in einer bestimmten Fremdsprache unterrichtet werden. In solchen Kontexten zeigten Sprachstandserhebungen bisher kaum Unterschiede zwischen mehrsprachigen und einsprachig Deutsch aufwachsenden Grundschulkindern auf, und zwar weder in Bezug auf ihre Deutschleistungen noch auf ihre sprachlichen Leistungen in der Fremdsprache (z. B. Steinlen & Piske 2013; Steinlen 2016; 2018). Verschiedene Gründe können dazu beitragen, dass mehrsprachige Grundschüler eventuell zwar schlechtere Deutschleistungen, aber ebenso gute Leistungen in einer Fremdsprache erbringen wie einsprachig Deutsch aufwachsende Kinder (z. B. Piske 2018): So profitieren Mehrsprachige im Fremdsprachenunterricht unter Umständen davon, dass die Fremdsprache für alle Schüler neu ist und sie daher mit einsprachig aufwachsenden Schülern eher „in einem Boot sitzen“ als im Fach Deutsch und den in deutscher Sprache unterrichteten Fächern. Des Weiteren ist es möglich, dass mehrsprachig aufwachsende Schüler besonders von der Anschaulichkeit bzw. dem hohen Maß an Kontextualisierung (also dem Einbezug von Mimik und Gestik) von Sprache profitieren, durch den sich nicht nur der Anfangsunterricht in einer Fremdsprache, sondern z. B. auch bilinguale Angebote wie die Immersion auszeichnen, d. h. von der engen Verflechtung von Sprache und Handlung im Unterricht. Darüber hinaus entwickeln mehrsprachig aufwachsende Schülerinnen und Schüler durch den kontinuierlichen Umgang mit mehreren Sprachen schon früh ein höheres Maß an Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22), das ihnen das Erschließen weiterer Sprachen in der Schule erleichtert, weil sie den Wortschatz, die Grammatik und die Aussprache dieser Sprachen zu bereits gelernten Sprachen in Beziehung setzen können. 4. Praxisrelevanz Vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsergebnisse wird immer wieder für eine ‚integrative Sprachenpädagogik‘ an Grundschulen plädiert. Mehrsprachigkeit und Multikulturalität (↗ Art. 7, 8) sollen also in den Unterricht integriert und dessen Fokus damit nicht nur auf die Förderung einer einzigen Sprache, etwa Deutsch im Deutschunterricht oder Englisch im Englischunterricht, gelegt werden (z. B. Elsner 2007; Hu 2018). Wie das in einer Grundschulklasse vorhandene mehrsprachige und multikulturelle Potenzial genutzt werden kann, haben z. B. schon Hélot & Young (2006) im Zusammenhang mit dem so genannten projet Didenheim beschrieben. Um bei den Kindern einer Grundschule im Elsass das Bewusstsein für andere Sprachen und Kulturen zu fördern, wurden alle von den Kindern der Grundschule gesprochenen Herkunftssprachen in Zusammenarbeit mit den Eltern und im Rahmen mündlicher und schriftlicher ‚bewusstmachender‘ Aktivitäten (bei denen die Aufmerksamkeit der Lernenden auf eine bestimmte sprachliche Struktur gelenkt wird) an der Schule vorgestellt (↗ Art. 101). Als Vorteile eines solchen Ansatzes werden u. a. genannt, dass die Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Sprachenbewusstheit entwickeln, alle Herkunftssprachen Anerkennung erhalten, die Lehrkräfte Kenntnisse über die 282 ThorstenPiske-&AnjaK.Steinlen Sprachen ihrer Schüler erwerben und zur Reflexion ihrer eigenen Sprachlernerfahrungen angeregt werden. Um mehrsprachige Kompetenz effizient fördern zu können, sollten im Deutschunterricht sowie im Fremdsprachenunterricht Anregungen geschaffen werden, die strukturellen Merkmale der in der Schule präsenten Sprachen mit ihren bisher gelernten Sprachen in Beziehung zu setzen, Parallelen und Unterschiede zu erkennen und so die strukturellen Besonderheiten aller von ihnen gelernten Sprachen immer stärker zu durchdringen (↗ Art. 106). 5. Perspektiven Inwieweit solche bewusstmachenden Aktivitäten und auch sprachkontrastives Arbeiten das Erlernen des Deutschen oder einer Fremdsprache an Grundschulen etwa im Bereich des Wortschatzes, der Grammatik und der Aussprache konkret unterstützen, ist bisher nur relativ wenig empirisch untersucht worden. Nur auf der Grundlage solcher Untersuchungen wird sich aber entscheiden lassen, welche Mehrsprachigkeit integrierenden Materialien und bewusstmachenden Verfahren wirklich dazu geeignet sind, das Erlernen von Sprachen wirksam an Grundschulen zu begleiten. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Grundschulkinder nur durch positive Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit und Multikulturalität gleichsam automatisch in mehreren Sprachen eine hohe Kompetenz aufbauen können. Vermutlich wird ein Kind beim Aufbau einer mehrsprachigen Kompetenz vielmehr von solchen Unterrichtsmaterialien (und -verfahren) profitieren, die seinen spezifischen sprachlichen Hintergrund in angemessener Weise berücksichtigen. So sind z. B. Übungen zur Aussprache der im Englischen vorkommenden stimmlosen und stimmhaften dentalen Frikative <th> für Deutschsprachige sinnvoller als für diejenigen, die z. B. mit Griechisch oder Arabisch (↗ Art. 107) aufgewachsen sind, weil dentale Frikative im deutschen Lautinventar nicht vorkommen, jedoch den Lautsystemen der anderen beiden Sprachen angehören. Mit solchen Übungen können auch schon Grundschulkinder in Bezug auf die Herkunftssprachen in ihrer Klasse, deren Lautinventare und damit auf sprachübergreifende Lautunterschiede sensibilisiert werden, wenn die Lehrkraft diese Übungen in den Mehrsprachigkeitskontext entsprechend einbettet. Natürlich können sich Lehrkräfte nicht im Detail mit allen von ihren Schülerinnen und Schülern gesprochenen Herkunftssprachen vertraut machen (siehe jedoch Krifka 2014 für Informationen über häufige Sprachen, die im mehrsprachigen Klassenzimmer anzutreffen sind), aber schon ein hohes Maß an Verständnis für den Spracherwerb kennzeichnende Phänomene und Prozesse sowie für einige grundsätzliche strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die es zwischen Sprachen geben kann, wird es ihnen erleichtern, ihre Schülerinnen und Schüler gezielter in ihrer mehrsprachigen Entwicklung zu fördern (↗ Art. 25, 26). Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018 . Bielefeld. 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Übergangsdidaktik von der Primar- zur Sekundarstufe 1. Begrifflichkeit Unter Didaktik des Übergangs (Mertens 2000) versteht man Maßnahmen, Prinzipien und Haltungen, die dazu beitragen, das Erlernen einer Fremdsprache ab der Grundschule in der Sekundarstufe bruchlos fortzusetzen. Der Be- 284 JürgenMertens griff steht neben einer Reihe anderer Benennungen (z. B. Nahtstellen-, Weiterführungs-, Übergangsproblematik); diese akzentuieren verstärkt die veränderte Ausgangslage für die Sekundarstufe. Eine Didaktik des Übergangs verbindet die Schularten in zeitlicher Hinsicht, indem sie sich auf die Spanne von Klasse 3 bis 6 bezieht; umfasst eine inhaltliche Schnittmenge, die zum gemeinsamen Unterrichtsgegenstand wird und greift auf ein gemeinsames Methodenrepertoire zurück, das altersentsprechend weiterentwickelt wird (vgl. Mertens 2003: 161). Die Didaktik des Übergangs greift sprachenpolitische Entwicklungen auf und thematisiert die damit einhergehenden Konsequenzen hinsichtlich der Erwartungen an die Lehrkompetenz von Primar- und Sekundarstufenlehrkräften unter administrativer, didaktischer, methodischer und ausbildungstheoretischer Perspektive (↗ Art. 25, 26, 27, 28). Die administrative Komponente bezieht sich auf schulorganisatorische Maßnahmen, die die Kontinuität des Lernens im Bildungsgang sicherstellen. Dies kann z. B. geschehen, indem die in der Primarstufe begonnenen Sprachlernprozesse (↗ Art. 54) ohne Unterbrechung angeboten (d. h. Fortführung der Grundschulfremdsprache in der Sekundarstufe), zu erreichende Inhalte und Kompetenzen in den Bildungsplänen der jeweiligen Schulart formuliert sowie ein Minimalkonsens als Ausgangsbasis für die Sekundarstufe definiert (z. B. Saarland, Baden-Württemberg), der Lernprozess in Form eines Abschlussprofils dokumentiert und die Ziel- und Kompetenzorientierung des frühen Fremdsprachlernens nachgewiesen werden (z. B. Saarland). Im Rahmen einer Didaktik des Übergangs ist die didaktische Abstimmung von Ziel- und Kompetenzerwartung zwischen den beiden Schularten zu leisten. Dies bedeutet, dass Zonen der Überlappung (Mertens 2003: 166) geschaffen werden, die sich aus der Schnittmenge von erreichten Zielen und Erwartungen der Sekundarstufe ergeben. Ein solcher Konsens könnte sein: die Beschränkung auf ausgewählte produktiv beherrschte Redemittel, die Fokussierung auf bestimmte Fertigkeiten (z. B. Hörverstehen, Sprechen), die Berücksichtigung prozessualer Kompetenzen (z. B. Sprachlernkompetenz, Kommunikations- und Lernstrategien). In methodischer Hinsicht bedeutet Didaktik des Übergangs die Übernahme und altersgemäße Weiterentwicklung von aus der Grundschule bekannten Prinzipien und Verfahrensweisen in der weiterführenden Schulart. Dazu zählen die Prinzipien der Anschaulichkeit, der Wiederholung, der Kindgemäßheit, des integrativen Arbeitens sowie der Spiel- und Handlungsorientierung, spezifische Unterrichtsformen (z. B. Stuhlkreis, Lernzirkel, Freiarbeit) und Rituale (z. B. Begrüßung / Verabschiedung, Hausaufgaben, Klassendienste, Aufstuhlen, etc.). Im Rahmen einer Didaktik des Übergangs kommt der Lehrkompetenz der beteiligten Lehrkräfte eine zentrale Bedeutung zu (↗ Art. 25). Um den Brückenschlag zwischen den Schularten zu leisten, verfügen sie über diagnostische Kompetenzen, um einerseits Lernleistungen zu dokumentieren und andererseits „Anschlusspunkte für Neues [zu] entdecken und diese als Planungsimpulse für den weiteren Unterricht zu begreifen“ (Legutke 2002: 102). Sie haben soziale Kompetenzen, die im Rahmen von Hospitationen, Lehreraustausch und gemeinsam verantworteten Arbeitskreisen zum Erfahrungsaustausch etc. zum Tragen kommen. Eine Selbstreflexionskompetenz ermöglicht ihnen die Auseinandersetzung mit und die Fortentwicklung von ihren individuellen lern- und berufsbiographischen Grundein- 285 55. ÜbergangsdidaktikvonderPrimar-zur Sekundarstufe stellungen. Eine souveräne alltagssprachliche Zielsprachenkompetenz schafft in der Primarstufe ein immersives und holistisch geprägtes Sprachlernklima und ist andererseits die Basis dafür, dass die Sekundarstufenlehrkräfte die Voraussetzungen schaffen, „um Können [zu] entdecken und nicht Defizite auf[zu]decken“ (ebd.). 2. Problemaufriss Fremdsprachen wurden traditionellerweise erst in der weiterführenden Schule gelehrt (↗ Art. 29, 30). Das muttersprachliche System sollte ausreichend aufgebaut und die kognitive Reife der Schüler und Schülerinnen vorhanden sein, um eine andere Sprache lernen zu können. Diverse Schulversuche zeigten jedoch, dass auch jüngere Kinder unter institutionellen Bedingungen dazu fähig sind (vgl. z. B. Jaffke 1994; Pelz 1999; Sauer 2004). Die Zielsetzungen im Lernbereich Fremdsprache an der Grundschule waren indes sehr breit gefächert, so dass bspw. aufgrund des sog. Burstall-Berichts (1974) die Effektivität des frühen Fremdsprachenlernens in Frage gestellt wurde und French in the Primary School in Großbritannien zum Erliegen kam. Unter dem Stichwort Konzeptionenstreit wurde in den 1990er Jahren innerhalb der deutschen Fremdsprachendidaktik darüber gestritten, ob der frühe Fremdsprachenunterricht mehr das Ziel Sensibilisierung für Sprache/ n oder das des Fremdspracherwerbs verfolgen solle. Die in dieser Auseinandersetzung einander gegenübergestellten Begriffe ‚Erlebnisund. Ergebnisorientierung‘ umschreiben schlagwortartig die unterschiedlichen Positionen in dieser Frage (vgl. Mertens 2001; 2018). Unter dem Einfluss der europäischen Sprachenpolitik (↗ Art. 12) wurde seit der Jahrtausendwende europaweit der Fremdsprachenunterricht sukzessive in den Primarbereich vorverlegt, weshalb man hier von einem Wendepunkt in der Geschichte des Fremdsprachenlernens sprechen kann (Mertens 2001). Nur wenige deutsche Bundesländer entschieden sich (meist ab Klasse 3, z.T. ab Klasse 1) im Sinne eines mehrsprachig ausgerichteten Sprachenangebots in der Grundschule für andere Fremdsprachen als Englisch (↗ Art. 21). In der Regel handelte es sich dabei um Französisch, das aus regionalen und historischen Gründen (Saarland, in der Rheinschiene Baden-Württembergs) angeboten wurde. Vereinzelt wurde der Kanon auch um Italienisch oder Tschechisch (z. B. Sachsen oder Thüringen) erweitert. Mehrheitlich ist daher Englisch die in der Grundschule angebotene Fremdsprache, was vor allem im Hinblick auf die Kontinuität des Fremdsprachenlernens und die durch seine globale Verwendung begründete besondere Bedeutung des Englischen begründet wird. 3. Forschungsstand Mit der Formel ‚Anknüpfung statt Weiterführung‘ (Mertens 2000) wird der Fokus auf die gemeinsame Verantwortung der abgebenden wie auch der aufnehmenden Schulart(en) für den Fremdsprachenerwerb gelegt. Zugleich impliziert Anknüpfung einen Perspektivwechsel: weg von einer durch die Sekundarstufen geprägten Erwartungshaltung hin zu einer Haltung, die sich an den Rahmenbedingungen der Primarstufe und am Lerner, insbesondere seinen individuellen psycho-kognitiven Lernmöglichkeiten orientiert und diese Voraussetzungen zum Ausgangspunkt des Fremdsprachenunterrichts ab der Sekundarstufe macht. Vorwissen und Vorerfahrungen der Grundschulkinder (vgl. Mertens 2000: 149) definieren einen Anfangs- 286 JürgenMertens unterricht unter neuen Bedingungen und bilden die Grundlage für die Didaktik des Übergangs. Die föderale Struktur Deutschlands und regionale Sonderwege (z. B. Baden-Württemberg mit 2 regional unterschiedlichen Grundschulfremdsprachen) bedingen eine Vielzahl an unterschiedlichen Möglichkeiten, um die Grundschulfremdsprache fortzuführen. In der Regel wird die Fremdsprache der Grundschule ab Klasse 5 als sog. fortgeführte Fremdsprache angeboten. Da es sich mehrheitlich um Englisch handelt, stellt dies für die Schulorganisation keine Herausforderung dar. In den Landesteilen mit Französisch als Grundschulfremdsprache ist die Praxis der Fortführung - verschärft durch die Parallelität von G8 und G9 im Gymnasialbereich - weitaus komplexer und heterogener; verkürzt kann man sagen, dass unter dem Einfluss des Elternwillens Sprachenfolgen möglich geworden sind, die für das Französische eher ungünstig sind (z. B. starker Rückgang von Französisch als 1. Fremdsprache). Idealerweise wird Französisch fortgeführt und Englisch als 2. Fremdsprache ab Klasse 6, selten parallel ab Klasse 5 angeboten, um das Potenzial von Französisch für das Erlernen weiterer romanischer Sprachen ausschöpfen zu können. Ermöglicht wird bspw. auch ein Neubeginn mit Englisch ab Klasse 5 und die Wahl von Latein ab Klasse 6, ohne Französisch fortzuführen. Im mittleren Schulwesen (Real-/ Regel-/ Gemeinschaftsschulen) ist die 1. Fremdsprache mit Englisch i. d. R. gesetzt, so dass mit sog. Brückenkursen Kenntnisse aus einer anderen Grundschulfremdsprache lebendig gehalten werden sollen, ehe sie als 2. Fremdsprache ab Kl. 6 bzw. 7 wiedereinsetzt. Zahlreiche Forschungsarbeiten haben in den letzten zwei Jahrzehnten dazu beigetragen, die Leistungen des frühen Fremdsprachenlernens aufzuzeigen und seine Rolle zu legitimieren. Ausgewählte Kompetenzbereiche (Sprechen, Lesen, Schreiben) standen dabei besonders im Fokus (z. B. Diehr & Rymarczyk 2015; Sambanis 2007). Komplementär dazu steht der den Pluralen Ansätzen zuzuordnende Eveil aux langues (Candelier 2003), der einem Mehrsprachigkeitsansatz nahesteht und über die exemplarische Beschäftigung mit Sprache/ n in verschiedenen Sprachen nutzbare Kompetenzen zum Ziel hat (vgl. Mertens 2018). Gerade im Hinblick auf die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit innerhalb von Lerngruppen kommt der Frage der Sprachenbewusstheit ( language awareness ) eine zentrale Rolle zu: „ Not to include some comparative/ contrastive dimensions where pupils already have experience in learning a second language is to ignore a very valuable resource “ (McCarthy 1994: 7). Cummins (2012) sieht in sprachsensibilisierenden Ansätzen, wie Eveil aux langues, ein geeignetes Instrument dafür, Lerner handlungsfähig zu machen, indem ihr mitgebrachtes kulturelles Kapital gewürdigt, ihnen der Zugang zu Kulturinhalten eröffnet und ihr Interesse an Sprache und ein bewusster Umgang mit ihr ermöglicht wird (vgl. ebd.: 53). Eine Didaktik des Übergangs ist insofern nicht allein auf die einzelne Fremdsprache zu beziehen, sondern hat Ressourcen sowohl aus den Herkunftssprachen wie auch aus der Umgebungssprache der Lerner mit zu berücksichtigen, als Lernimpulse wie auch als Lernziele im Hinblick auf eine mehrkulturell und mehrsprachig geprägte Bildung. 4. Praxisrelevanz Für die Akzeptanz der Leistungen des Fremdsprachenfrühbeginns wie auch der des einzelnen Lerners ist das Gelingen des Übergangs von großer Relevanz. „Der Übergang von ei- 287 55. ÜbergangsdidaktikvonderPrimar-zur Sekundarstufe ner Schulart in die andere ist für die Entwicklung des jungen Menschen von so weittragender Bedeutung, dass er mit aller Behutsamkeit und Sorgfalt vorbereitet und vollzogen werden muss“ (KMK 1966, zit. nach KMK 2006: 5). Vielfach wurden daher Vorkehrungen getroffen (Bildungspläne / -standards, fortgeführte Fremdsprache, Lehrerfortbildung), um die beiden Schularten miteinander zu verknüpfen. Lernmaterialien wurden entwickelt, die das Augenmerk der aufnehmenden Schularten auf die Diagnose, Wiederholung und den Ausbau von in der Grundschule erworbenen Kompetenzen und Sprachwissen legten und den Lehrkräften „eine andere Sichtweise von fremdsprachlichen Lernleistungen abverlangten“ (Mertens 2006: 8) - jenseits des quantifizierbaren und direkt Wahrnehmbaren - als sie dies landläufig gewöhnt waren. 5. Perspektiven Der Fremdsprachenfrühbeginn ist ein etablierter Bestandteil des fremdsprachlichen Curriculums (↗ Art. 54). Es bleibt abzuwarten, ob die damit verbundene Hoffnung auf eine individuelle Mehrsprachigkeit erhöht werden kann. Der Anteil von Englisch mit ca. 95 % beim Frühbeginn verdrängt das Erlernen weiterer Sprachen in die Pubertät, wo die Fremdsprachen nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Fächern und Lernbereichen in Konkurrenz stehen. Die geringe Diversifizierung von Fremdsprachenangebot und Sprachenfolgen beschränkt die Möglichkeiten, optimale Lernwege und Sprachenfolgen zur Erreichung des mehrsprachigen Minimums zu erforschen (Meißner et al. 2008: 160 ff.). Die Forschungen zum Frühbeginn haben eine Bandbreite an Ergebnissen erbracht, so dass die Geberseite Einiges vorweisen kann. Dem stehen nur wenige Untersuchungen zu Beginn der Sekundarstufe gegenüber (z. B. Manno 2017). Die Beforschung des Lehrerhandelns im Rahmen einer Didaktik des Übergangs stellt gegenwärtig, von Ausnahmen abgesehen (z. B. Kolb & Legutke 2019), ein Desiderat dar, wäre jedoch eine notwendige Informationsquelle für Maßnahmen zur Förderung mehrsprachiger Kompetenz in unseren modernen Gesellschaften. Literatur Burstall, C. (1974): Primary French in the Balance. Windsor. Candelier, Michel (dir.) (2003): L’éveil aux langues à l’école primaire. Evlang: Bilan d’une innovation européenne. Louvain-la-Neuve. Cummins, J. (2012): Language Awareness and Academic Achievement among Migrant Students. In: C. Balsiger, D. Bétrix Köhler, J.-F. de Pietro & C. Perregaux (dir.): Eveil aux langues et approches plurielles. De la formation des enseignants aux pratiques de classe. Paris. Diehr, B. & Rymarczyk, J. (Hrsg.) (2015): Researching Literacy in a Foreign Language among Primary School Learners. Forschung zum Schrifterwerb in der Fremdsprache bei Grundschülern. Frankfurt a. M. u. a. Jaffke, C. (1994): Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe: seine Begründung und Praxis in der Waldorfpädagogik. Weinheim. 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Aufriss und Verortung Vorbehalte gegenüber sprachenübergreifenden Ansätzen wie der Interkomprehension (hinfort I.) sind vor allem in wenig realistischen und überzogenen Ansprüchen an die zu erwerbende Sprachkompetenz begründet (↗ Art. 26). Dagegen weisen empirische Untersuchungen zu interkomprehensiv basierten Unterricht deutlich positive Ergebnisse aus (u. a. Bär 2009). Dies verdichtet sich in der verbreiteten Vorstellung: Mehrere Sprachen sprechen heißt keine richtig sprechen. Die Aussage definiert weder „richtig“ (Akzent und Aussprache, Satzeuphonik, Morphologie, Syntax, Wortschatz, Situationsadäquanz; so schon Möhle & Raupach 1993) noch differenziert sie nach den Teilfertigkeiten (Hörverstehen, Sprechen und Lesen und Schreiben) noch ist sie daran gemessen, was in einem mehrjährigen normalen Fremdsprachenunterricht überhaupt erreichbar ist. Auch die Orientierung am Ideal des native speaker ist wenig hilfreich. Schließlich trägt das dogmatische Festhalten am Gebot der Einsprachigkeit (Butzkamm 1973) und das explizite Verbot des Rückgriffs auf die Muttersprache oder auf bereits gelernte Fremdsprachen zur Verbreitung des Irrtums bei, zeigten doch Studien zum mehrsprachigen mentalen Lexikon (↗ Art. 62) zudem, dass sprachliche Schemata nicht getrennt voneinander gelernt und gespeichert werden, sondern oft miteinander interagieren (u. a. Meißner 2018: 108). Die Interaktion kann als Interferenz zwar zu falschen Freunden führen, doch übersteigt die Zahl der echten Freunde bei weitem die der falschen (↗ Art. 64). Sprachvergleichende, zur Identifikation von falschen und echten Freunden führende Verfahren sind daher auch eine Strategie der Fehlerprophylaxe - etwa wird die semantische Gleichsetzung von engl. gift (Gabe, Geschenk) mit dt. Gift nicht dadurch vermieden, dass sie nicht bewusst gemacht wird. Wenn Schüler eine zweite Fremdsprache zu lernen beginnen, verfügen sie neben ihrer Mutter- und gegebenenfalls Herkunftssprache sowohl bereits über mehrsprachige Kenntnisse als auch über Erfahrungen mit dem Lernen von Sprachen. Das sich hier andeutende H Mehrsprachigkeit und Interkomprehension 290 SteffiMorkötter Vernetzungspotential sollte zweifach genutzt werden: zum einen prospektiv durch z. B. entsprechende Impulse in der ersten Fremdsprache, zum anderen durch Aufnahme der lingualen und in Sprachlernerfahrungen begründeten didaktischen Transferbasen, die aus den Lernerlebnissen des bereits genossenen Fremdsprachenunterrichts stammen. Die Hypothese ist plausibel und offenkundig zutreffend, dass durch derlei Vergleiche eine Vertiefung und Erweiterung des mehrsprachigen mentalen Lexikons geschieht. Darauf deuten Untersuchungen zur Lernersprache (vgl. De Angelis & Selinker 2001). Der Aspekt der mehrsprachigen Vernetzung bzw. der Berücksichtigung des mehrsprachigen lernersprachlichen Lexikons führt zur Frage der optimalen Grundlegung der Mehrsprachigkeit oder eines Mehrsprachigkeitstypus durch schulische Sprachenfolgen (↗ Art. 69). Linguistisch gesehen gilt hier der Grundsatz: „eine zur Muttersprache einigermaßen distante Sprache als erste Fremdsprache oder Englisch“ sollte die erste fremde Sprache sein, die ein Kind erlernt. Neben diesen beiden Fremdsprachen sollte mindestens eine weitere Fremdsprache im Schulsprachenangebot gehalten werden, so dass sich für deutschsprachige Lerner der Typus einer umfassenden europäischen Mehrsprachigkeit, bestehend aus z. B. Deutsch, Französisch, Englisch und Russisch oder Polnisch, oder einer westeuropäischen Mehrsprachigkeit mit Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch bzw. eine osteuropäische mit Russisch und Tschechisch ergeben kann. Freilich hat Englisch als erste Fremdsprache in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Kritik auf sich gezogen. Neuere Forschungen betonen jedoch zwei Aspekte: Zum einen gelingt es dem Englischen, das Motivationsniveau für das Fremdsprachenlernen hoch zu halten (Morkötter et al. 2010), zum anderen weist der romanische Kernwortschatz in erheblichem Umfang Transferbasen mit dem Englischen auf, und zwar zu 55 Prozent (Meißner 2018: 42) (↗ Art. 98). Eine linguale Transferbasis umfasst deklaratives und/ oder prozedurales Wissen über Lexeme und grammatische Regularitäten (↗ Art. 60). Deren Nutzung erleichtert den Erwerb einer weiteren (Fremd-)Sprache, insbesondere wenn diese derselben Familie wie die schon bekannte Sprache angehört. Der interlinguale Identifikationstransfer spielt für das Sprachenwachstum, nach Ausweis zahlreicher empirischer Arbeiten, eine große Rolle. Wenn ein Schüler im Anfangsunterricht Französisch bspw. einen Text liest, in dem sich eine Französin vorstellt ( Je m‘appelle Marie. J’aime les films de science-fiction… ), so fällt die Aktivierung einer Reihe von hilfreichen Wissensquellen leicht: die Kenntnis der Wörter Marie, Film (dt.) oder film bzw. science-fiction (engl.). Auch die Grammatik ist betroffen: der Plural wird mit „-s“ gebildet, les könnte ein Artikel sein. Um solche Beobachtungen festzuhalten, hat die Interkomprehensionsdidaktik entsprechende Aufgaben- und Übungsformate wie etwa das mehrsprachige persönliche Wörterbuch oder das Konzept der Hypothesengrammatik entwickelt (↗ Art. 70). Neben der Strukturierung von sprachlichem Wissen geht es auch immer um den Einsatz von Strategien (Meißner & Morkötter 2009; Art. 42). Zu (mehrsprachiger bzw. erfahrungsbasierter) Lesekompetenz (↗ Art. 76) gehört darüber hinaus auch das Wissen, den Kotext und den Kontext analysieren zu können, so dass die Bedeutung der Satzanfänge Je m’appelle und J’aime (der Eigenname Marie und les films de science-fiction ) eingegrenzt und verstanden werden kann. Auch Textsortenwissen (wenn man sich vorstellt, gibt man an, wie man heißt, usw.) unterstützt die I. Das 291 56. InterkomprehensionundSprachenwachstum im Vergleich mit dem Hörverstehen größere Zeitfenster beim Leseverstehen und Schreiben (↗ Art. 85) erlaubt andere Möglichkeiten der (Selbst-)Steuerung. 2. Forschungsstand Im deutschsprachigen Kontext ist die lernerseitige Fähigkeit zur Aktivierung von Transferbasen und sprachlernbezogenen Fähigkeiten bislang insbesondere mit Fokus auf romanischer und germanischer I. untersucht worden, wobei zumindest im erst genannten Fall die Probanden in der Regel auch über Englischkenntnisse verfügten. Für germanische I. sind vor allem die Ansätze English after German (EaG) (Marx 2010) und Deutsch als Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) (Hufeisen 2006) zu nennen (↗ Art. 87, 88). Für romanische I. durch Germanophone konnte gezeigt werden, dass diese über die - mehr oder weniger bewusste - Bildung von Hypothesen verläuft und dass die hierbei verwendete Brückensprache in der Regel eine andere romanische Sprache ist, insofern die Probanden über entsprechende Kenntnisse verfügen. Doch auch bei keinen oder nicht ausreichenden Kenntnissen in einer romanischen Sprache kann I. durch eine Aktivierung des deutschen Bildungswortschatzes und/ oder von Englischkenntnissen (ebd.) gelingen. Darüber hinaus ist zu betonen, dass eine (Weiter-)Entwicklung von Sprachlernkompetenz, wie oben angedeutet, immer auch ein Ziel von I. ist. Eine Studie zur Förderung von Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) mit sowohl germanischen als auch romanischen Zielsprachen konnte zeigen, dass auch junge Lernende der Sekundarstufe I in der Lage sein können, eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien zu verwenden und Transferoperationen durchzuführen (Morkötter 2016). 3. Praxisrelevanz und Perspektiven Die Praxisrelevanz des interkomprehensiven Ansatzes wird, abgesehen von einer bemerkenswerten Progression in den Zielsprachen auch in der Sprachlernkompetenz deutlich. Dies erklärt ihr didaktisches Potential für den herkömmlichen Fremdsprachenunterricht. Dabei versteht sich die Interkomprehensionsdidaktik als Ansatz, der den herkömmlichen Unterricht (↗ Art. 30) ergänzen, nicht ersetzen will (Meißner 2018: 116). Ein Thema, das in diesem Zusammenhang diskutiert wird und weiterer Erforschung bedarf, ist der Aufbau von produktiven Kompetenzen auf der Grundlage von (mehrsprachiger) Lesekompetenz (↗ Art. 76). Auch interkomprehensiv basiertes Hörverstehen (↗ Art. 75) ist bei Disponibilität einer starken Brückensprache möglich (vgl. Meißner & Burk 2001). Bei der Umsetzung rezeptiver in produktive Kompetenzen spielt die Diagnostik des mehrsprachigen Kompetenzniveaus eine Rolle. Das sog. mehrsprachige diagnostische Schreiben (↗ Art. 84) macht den Lernern nicht nur ihre Transferbasen und -prozesse transparent, sondern gibt ihnen auch über den Stand ihrer Lernersprache Auskunft (↗ Art. 85). Daneben gilt es Verfahren zu entwickeln und zu evaluieren, die aus dem Förderungsrepertoire der einzelnen Kompetenzen stammen und mit interkomprehensionsdidaktischen Verfahren in Einklang zu bringen sind. Auch zum Einsatz dieser neuen Übungs- und Aufgabenformate sind weitere anwendungsbezogene Forschungen ein Desiderat. 292 SteffiMorkötter Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. 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Castagne (2016) erwähnt als Interkommunikationsmodi die Verwendung einer lingua franca , die Sprachmittlung (i.e. meistens die Übersetzung durch eine Mit- 293 57. Interkommunikation telsperson) - die interkulturelle Mediation könnte hinzugefügt werden - und im Falle interkomprehensibler Sprachen die rezeptive Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6). Mit dieser Bedeutung wird der Begriff von Klein und Stegmann (2000: 179) genutzt, wenn sie festhalten, dass der Zerfall des römischen Reiches zuerst zu einer „eingeschränkte[n] Interkommunikation“ und später zur Ausgliederung der romanischen Sprachen geführt hat. In diesem Sinne ist Interkommunikation weitgehend Synonym zu „interaktionaler Interkomprehension“ und bezeichnet eine „Kommunikationsform, bei der sich mindestens zwei Kommunikationspartner unter Verwendung unterschiedlicher Produktionssprachen verständigen“ (Ollivier & Strasser 2013: 44). 2. Begrifflichkeit - Interkommunikation in den Interkomprehensionsstudien Mit einem Artikel von Balboni (2007) wurde der Begriff „Interkommunikation“ in der Interkomprehensionsforschung (↗ Art. 85) näher definiert und vor allem der Bezug zur „Interkomprehension“ präzisiert. Balboni verwendet den Begriff wie oben erwähnt im Sinne einer interaktionalen Interkomprehension. Interkommunikation besteht demnach in Balbonis Modell aus Interkomprehension (für den rezeptiven Teil) und Interproduktion (für den produktiven Teil). Diese unterteilt Balboni in mündliche ( inter-parlare ) und schriftliche ( inter-scrivere ) Interproduktion. 3. Forschung und Perspektiven Somit rückt Balboni auch die damals weitgehend unbeachtete produktive Seite der Interkomprehension (↗ Art. 56, 64, 65) ins Licht. Die Interproduktion eröffnet nämlich neue Perspektiven für die Interkomprehensionsforschung und -didaktik (Capucho 2017; Ollivier 2017). Balboni plädiert für Studien, die sich mit den „caratteristiche di testi orali, scritti e multimediali che siano più facilmente comprensibili a parlanti di altre lingue romanze“ (ebd.) befassen. Aus diesen Studien könnten didaktische Vorschläge für das Erlernen der Interproduktion herauswachsen. 4. Interkommunikation oder Interkomprehension? - Diskussion Fragen kann man sich, warum sich die Interkomprehensionsforschung für diese Bezeichnung nicht erwärmen konnte, obwohl sie den großen Vorteil mit sich bringt, das Feld der Interkomprehension zu strukturieren und eine klare Unterscheidung zwischen „interaktionaler Interkomprehension“ (Interkommunikation) und „rezeptiver Interkomprehension“ (Interkomprehension in Balbonis Modell) zu ermöglichen. Tost Planet (2009: 28) vermutet, dass sich die Interkomprehensionsforschung nicht traut, sich von der ursprünglichen identitätsgründenden Bezeichnung ihres Forschungsfeldes zu lösen: „chacun y va donc de sa proposition sans trop oser se dégager de la dénomination première“. Wir glauben, dass sich das Festhalten an der Bezeichnung „Interkomprehension“ mit der Pertinenz des Begriffs erklären lässt. Einerseits ist gegenseitige Verständigung das oberste Ziel der Kommunikation, anderseits ist jede Produktion auch Rezeption. Der Sprachphilosoph 294 ChristianOllivier F. Jacques (2000: 63) betont die Untrennbarkeit der Produktions- und Rezeptionsprozesse und die besondere Bedeutung letzterer: „Ce sont mes oreilles qui te parlent parce que je signifie pour autant que je te comprends. C’est ma voix qui t’écoute parce qu’au fur et à mesure que je parle, j’écoute ou plutôt je parle l’écoute que je te prête de ma propre parole“. Literatur Balboni, P. 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Materiell ist hierunter der gesamte Bestand der Kommunikation ermöglichenden Elemente eines sprachlichen Systems zu verstehen. (Ein System ist ein interagierendes und unabhängiges Ensemble von Einheiten, die ein Ganzes bilden. „La langue est un système qui ne connaît que son ordre propre“, Saussure [1915] 1986: 30). In Bezug auf menschliche Sprachen ist syn- oder diachronische verbale Kommunikation gemeint und in face to face -Situationen kann die Kommunikation von extraverbalen Zeichen begleitet werden ( face work , Kleidung, Gestik usw.). Sprachen umfassen größere oder kleinere Sprechergruppen (Sprachgemeinschaften). Mit zunehmender oder abnehmender kommunikativer Intensität neigen Sprachen zur morphosemantischen Differenzierung. Dies produziert Stabilität oder Dynamik. Sprachen sind Dia- 295 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht systeme, die mehrere Subsysteme, Register oder Varietäten - vor allem Dialekte oder Soziolekte - umgreifen. Sprache und Dialekt (Regiolekt) sind gegeneinander nicht trennscharf: „A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot“, bemerkt 1945 Max Weinreich (In: YIVO-Bleter 1945, 25,1, 13) zu ihrer Unterscheidung. Vielfach wurde auch die Interkomprehensibilität zwischen Dialekten einer selben Sprache als Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Sprache angeführt. Dies macht auch deren Eigenschaft als Dachsprache für ein Dialektkontinuum aus. Als weiteres Kriterium wird genannt, dass Sprachen, anders als Dialekte, regelmäßig eine orthographische Norm und eine Schriftsprache aufweisen. Historisch entsteht eine Sprache zumeist aus einer ihrer Varietäten (die sächsische Kanzleisprache der Lutherbibel, gebildet aus mehreren Varietäten des Deutschen; die als ‚bon usage‘ durch die 1635 gegründete Französische Akademie definierte Varietät von Paris in der Färbung von la cour et la ville usf.). Zumeist verbindet sich diese Entwicklung mit der jeweiligen politischen Dominanz, die sich dieser Varietät/ Sprache bedient und sie vorschreibt. Und natürlich verlangt die Emanzipation eines Dialekts zu einer Sprache eine Norm in Gestalt einer kodifizierten Grammatik. Allerdings bedeutet die Existenz einer grammatikographisch festgelegten Norm keineswegs, dass ‚alle‘ Subjekte des Staates, der eine Varietät als Staatssprache definiert, auch diese Sprache hinreichend verstehen und sprechen können. Sprachgemeinschaft und Staatsvolk sind nicht notwendigerweise identisch (↗ Art. 10). So waren die Sprachen unserer nationalen europäischen Staaten bzw. Staatsvölker soziolinguistisch davon gekennzeichnet, dass ihre Sprecher im Vergleich zur Überzahl der Dialektophonen eine immense Minderzahl waren. Als historischer Beleg hierfür wird oft die wohl erste Zählung von Sprachteilhabern eines nationalen Idioms genannt. Wie der Rapport sur la nécessité d‘anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française betont , den der Abbé Henri-Baptiste Grégoire dem Pariser Comité de l’Instruction Publique am 30. Juli 1993 vorlegte, beherrschten nur 3 der 26 Mio. Bürgerinnen und Bürger der 1. Französischen Republik deren Sprache. Allerdings stand der Bericht statistisch auf tönernen Füßen. Die Demokratisierung des Französischen in seiner modernen Gestalt kam erst mit der allgemeinen Schulpflicht (Alphabetisierung), der Entwicklung eines breiten Pressewesens, dem nationalen Militärdienst, der Entstehung neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industrialisierung, der Urbanisierung und noch im 20. Jahrhundert der Verbreitung des Rundfunks einher. Ähnliche Faktoren lassen sich für die diastratische Verbreitung des nationalen Idioms in anderen Sprachräumen anführen. Nun erst waren die nationalen Sprachen im Sinne ihrer Norm zu Sprachen der (nationalen) Völker geworden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird man für ein Sprachgebiet weniger von dessen Interkomprehensibilität sprechen, wohl aber die Komprehensibilität seiner Varietäten voraussetzen und diese auch von den Bürgern verlangen. Der Rückgang der Dialekte in unserer Zeit setzt diese Entwicklung fort (↗ Art. 29, 126). Gilles (2017: 112) findet das Wort intercompréhension erstmalig bei Ronjat (1913). Der Neologismus beschreibt ein Phänomen, das sich innerhalb eines Kontinuums von Dialekten feststellen lässt. Interkomprehension meint also im Kern Komprehension über Sprach- oder Dialektgrenzen hinweg. Interkomprehensible face to face -Kommunikation (↗ Art. 103) ist daher exolingual (wenn jeder Kommunikant seine Sprache spricht und verstanden wird). Eine 296 Franz-JosephMeißner Sprache interkomprehensiv verstehen, heißt, sie zu verstehen, ohne sie in ihrer natürlichen Umgebung erworben oder sie formal erlernt zu haben. Die Interkomprehensibilität zweier oder mehrerer Sprachen ist linguistisch-materiell in ihrem Anteil an erkennbar-gemeinsamen morphosemantischen, syntaktischen, funktionalen und aspektuellen Strukturen (Korrespondenzen, Transferbasen) begründet. Weitere Bedingungsfaktoren liegen in der mentalen Ausstattung der rezipierenden Person. Zusammengefasst lässt sich zu Mehrsprachigkeit und Interkomprehension (↗ Art. 6, 7) feststellen: 1. Interkomprehension erlaubt hochgradige rezeptive Mehrsprachigkeit zwischen Sprachen derselben Familie (oder Nachbarsprachen, mit denen Menschen in intensivem Kontakt leben) 2. … zwischen Dialekten derselben Sprache 3. … zwischen einer Sprache und einem Dialekt 4. … eingeschränkt zwischen Sprachfamilien 5. (Komprehension, Dialoganten sprechen dieselbe Sprache mit hoher Verständnis-Kompetenz). Bei der Beurteilung der verschiedenen Formen von Interkomprehension ist zu berücksichtigen, dass Interkomprehensionskompetenz ein Kontinuum darstellt, gemessen an der Zahl der in einem Text liegenden morphosemantischen Elemente. In diesem Sinne ist die Interkomprehensibilität zwischen einer Brücken- und Zielsprache durchaus messbar. Es wurde bereits sichtbar, dass alle Formen von Sprachlichkeit den Begriff der Sprachkompetenz unterlegen. Allerdings sind die Unter- und Nebenbegriffe z.T. ideologisch fixiert („Muttersprache“ vs. „Erstsprache“) oder sie okkultieren, dass Sprachkompetenz immer eine dynamische Größe ist (wie dies in den Eckbegriffen Interlanguage und Sprachverlust [Attrition] deutlich wird). Dies relativiert grundsätzlich die Trennschärfe von Nachbarbegriffen wie Erst-, Zweit- und Fremdsprache (natürlich kann sich ein Fremdsprachler zu einem Erst- oder Zweitsprachensprecher entwickeln). Besonders deutlich belegen dies die Sprachbiographien von Einwanderern und Auswanderern sowie ihrer Familien. Während z. B. die nach Preußen einwandernden Hugenotten französischsprachig waren, haben ihre Nachfahren das Französische längst verloren (oder es als Fremdsprache eben neu erlernt). Ähnliches lässt sich von Deutschsprachigen sagen, die US-Amerikaner wurden. 2. Historische Skizzierung der mehrsprachigen Kommunikation in Europa zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit …und Grammatikographie Eine Dachsprache ist dadurch gekennzeichnet, dass sie als eine grundlegende Norm für ihre Varietäten fungiert. Ein Indiz für die Normierung der modernen Sprachen unseres Kontinents ist das Erscheinungsjahr der einschlägigen Grammatiken (↗ Art. 61) (Eckdaten: 1492: Gramática de la lengua castellana des Antonio de Nebrija; 1755 die maßgebliche russische Grammatik des Michail Wassiljewitsch Lomonossow; 1578 die Grammatica Germanicae linguae… des Johannes Claius im Zusammenhang mit der Verbreitung des Lutherdeutsch usw.). Natürlich sind derlei Indizien, wie oben angedeutet, noch kein Hinweis auf die Verbreitung der ‚genormten‘ Varietät bzw. Sprache innerhalb der Bevölkerung eines Staates oder gar der eines weltumgreifenden Imperiums. Schon hier sei gesagt: Auch innerhalb eines 297 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht Sprachgebietes war Kommunikation überwiegend interkomprehensiv, solange die nationalen Idiome weder grammatikographiert waren noch das Volk wirklich erreicht hatten. Eine besondere Erwähnung verdient mit Blick auf Europa Latein nicht nur wegen seiner Rolle als Sprache des Römischen Imperiums, der christlichen Religion oder als historische lingua franca des Abendlandes und Sprache der auctoritates . In den Jahrhunderten, in denen das relevante Schrifttum noch gar nicht oder nur zu einem (sehr) geringen Teil in einer Volkssprache vorlag, erfüllte es europaweit die Funktion eines gelehrten Adstrats. Es war die klassische Sprache des Lesens, und als Sprache der Gelehrsamkeit hat es auch zahlreiche Hellenismen in die modernen Sprachen gebracht. Dies galt umso mehr, solange die Volkssprachen ihre Register noch nicht zur Schriftfähigkeit ausgebaut hatten (Ausbausprache). Der Ausgang der Questione della lingua im frühen 16. Jh. setzte auch hier ein Datum. Hüllen (1989) hebt in diesem Zusammenhang die frühmittelalterlichen Glossare und volkssprachlichen Notizen hervor, die dem besseren Verstehen des lateinischen Schrifttums dienten. Hüllen notiert: „Am Beginn der englischen (und auch der deutschen) Kultur des Mittelalters steht der Fremdsprachenunterricht. Die theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Zeit mußten [sic] aus lateinischen Texten rezipiert und entweder lateinisch oder in der eigenen Sprache vermittelt werden“ (ebd. 112). Außerhalb der Wissenschaften und der res publica litterarum überhaupt fand Interkomprehension selbstredend stets in dem Maße ihren Platz, wie Menschen unterschiedlicher Sprachen miteinander kommunizierten. Dies geschah offenkundig z. B. entlang der großen Handelsstraßen, der Pilgerwege, im Umfeld der Universitäten, der Klöster, der Städte (Frijhoff 2010) und in den Häfen nicht nur des Mittelmeerraumes. Auch die Sprachakademien wirkten zugunsten der Volkssprachen (Eckdaten: Accademia della Crusca 1583, Académie Française 1635, Real Academia Española 1713, Russische Akademie der Wissenschaften 1724). Daneben lassen sich plurilokale Lebenspraxen nachweisen, die zur Mischung mehrerer Sprachen führten (Blanche-Benveniste 1997). Interkomprehensive face to face -Kommunikation war - wie zu vermuten ist - oft mischsprachig, stark situationsabhängig, eng auf die jeweilige Sprechsituation und bestimmte Mitteilungsabsichten bezogen (Loonen 1991). Mehrsprachigkeit begegnete auch regelmäßig im Rahmen von Wanderungsbewegungen, in deren Verlauf ganze Völkerschaften verschiedener Sprachen aufeinandertrafen. Die europäische Geschichte kennt massenhaft Kriege, Eroberungen, Vertreibungen, Versklavungen, Flucht, Umsiedlungen, Aus- und Einwanderungen. Oft verband sich hiermit ein Sprachwechsel, bei dem sich die Bildung von Sub-, Ad- und Superstraten beobachten lässt. Ein eindrucksvolles Zeugnis für sprachliche Mischung und Sprachenkontakt bietet zwischen 711 und 1492 das romanisch basierte Mozarabische bzw. Al-Andalus mit den Distanzsprachen Latein, klassisches Hebräisch und Arabisch (Neumann-Holzschuh 2012: 20). Aber was meint in Gesellschaften nahezu ausschließlicher Mündlichkeit Sprache? Wie wenig differenziert noch zu Zeiten Dantes (1265-1321) die Vorstellungen selbst für die bekannten romanischen Varietäten waren, verrät die Benennung „ydioma tripharium“ mit der weiteren Klassifizierung nach den Bejahungspartikeln oil, oc und si in der Schrift De vulgari eloquentia. Hierneben standen seit Alter Zeit die Bezeichnungen für die nicht-ro- 298 Franz-JosephMeißner manischen Sprachen (z. B. mhdt. diut-, lingua tiodisca , it. tedesco ). Anders als für das Griechische bestand lange Zeit für die detaillierte grammatikalische Beschreibung dieser Sprachen kein hinreichendes Motiv. So blieben die Bilder, die sich die Zeitgenossen von solchen Sprachen machten, eher diffus, was sich schon in gebräuchlichen generalisierenden Formeln wie Germanorum lingua usw. ausdrückt. Hinter solchen Benennungen standen faktisch Dialektkontinua. Es ist dann eine offene Frage, ob sich die interdialektale Kommunikation als interkomprehensiv bzw. ein- oder mehrsprachig bezeichnen lässt. Frühe konkrete Sprachbeispiele für (fiktive) Vielsprachigkeit liefert der Retrato de la loçana andaluza des Francisco Delicado (1528), der in den Vierteln der römischen Unterwelt spielt, wo sich ein Sprengel der aus Spanien 1492 vertriebenen jüdischen Gemeinde angesiedelt hatte. In den Dialogen treffen verschiedene Sprachvarietäten / Sprachen aufeinander: Dem Latino maccheronico , Genuesischen, Katalanischen, Italienischen, Arabischen und Kastilischen zugeordnete Sprachbeispiele belegen, was sich Zeitgenossen unter diesen Etiketten vorstellten. Kurz: Es fehlte - abgesehen vom Lateinischen und von einzelnen Menschen, die mit zwei oder mehreren Sprachen aufgewachsen waren - i. d. R. nicht nur die gemeinsame Sprache etwa des Käufers oder des Verkäufers. Es fehlten vor allem Sprachlehren, die das Erlernen der einen oder anderen Sprache kolossal erleichtert hätten. Denn eine Grammatik ließ sich erst dann für eine Sprache erstellen, wenn eine feste und einigermaßen detaillierte Vorstellung von der zu beschreibenden Varietät vorhanden war. Damit war auch eine Bedingung für die Komposition von Lehrwerken erfüllt. 3. Mehrsprachigkeit nach Erfindung des Buchdrucks und der Demokratisierung der Volkssprachen Die Situation änderte sich völlig mit der Erfindung des Buchdrucks 1492, der in den folgenden Jahrhunderten platzgreifenden Verbreiterung der lesenden Schichten, der Entdeckung der Neuen Welt, schließlich der eingangs erwähnten Verbreitung der nationalen Sprachen in den Bevölkerungen der entsprechenden europäischen Nationen und Staaten (Demokratisierung) sowie in den überseeischen Gebieten Europas und Sibiriens das Eindringen der Sprachen der Kolonisatoren. Natürlich entstanden in den Kolonien anhaltende Perioden der Zwei- und Mehrsprachigkeiten, die (z.T.) in Verbindung mit europäischen Idiomen zur Entstehung von Kreolsprachen führten. Seit dem Beginn des 16. Jhs. gibt es eine große Zahl von Grammatiken, Wörterbüchern unterschiedlichen Zuschnitts und Lehrbüchern, die ein Interesse an einer vom Lateinischen und bestimmten Volkssprachen gebildeten Mehrsprachigkeit und eine entsprechende Methodik ausweisen (Minerva 2009; Meißner 2012). Adressat war eine (alphabetisierte) Leserschaft, die damals aber nur einen mehr oder weniger kleinen Teil der Bevölkerung darstellte. Die Autoren waren zumeist Sprachmeister oder Sprachenkundige, die ihre Werke z.T. parallel für mehrere (romanische) Zielsprachen publizierten, wie etwa der Kölner Johannes Basforest (Greive 1992). Die Zahl der Auflagen einzelner mehrsprachiger Wörterbücher und Lehrbücher unterschiedlicher Zielsprachen, in denen auf andere Sprachen Bezug genommen wurde, ist bemerkenswert. Solcherlei Parallelwerke in mehreren Sprachen stehen am Anfang der vergleichenden Sprachwissenschaft (Greive 1996). Sie trugen zweifellos zur additiven Mehrsprachigkeit bei. 299 58. EuropäischeMehrsprachig keitundInterkomprehensioninhistorischerSicht Auch die Entstehung von sog. Vielvölkerstaaten tat ein Übriges für die Entwicklung von Mehr- und Vielsprachigkeit. Dies zeigt z. B. die Habsburgische Österreichisch-Ungarische Monarchie (1867-1918) mit den beiden Amtssprachen Deutsch und Ungarisch und z.T. ihren vorlaufenden italienischen Gebieten, mit Böhmen, Transsylvanien u. a. m. Die Bevölkerung selbst war u. a. deutscher, ungarischer, italienischer, ukrainischer, serbischer, kroatischer, slowenischer, böhmischer, tschechischer, sorbischer, bulgarischer, ruthenischer und polnischer Muttersprache. Nachdem der Versuch Joseph II., das Deutsche als einzige Amtssprache durchzusetzen, gescheitert war, griffen die Reformen Maria-Theresias im Sinne der Mehr- oder Vielsprachigkeit zumindest für Teile der Beamtenschaft. Ähnliche Entwicklungen lassen sich für andere Sprachen ausmachen, deren Staaten territorial expandierten (↗ Einleitung). Als explizites Lernziel des Fremdsprachenunterrichts bleibt der Signifikant Mehrsprachigkeit ( plurilinguisme, multilinguisme ) bis vor wenigen Jahrzehnten ungenannt (↗ Art. 6, 7). Inhaltlich lässt sich allerdings durchaus - und zwar über Jahrhunderte hinweg - ein Interesse am Erwerb mehrerer Sprachen ausmachen, wie ungezählte didaktische Publikationen, vor allem mehrsprachige Glossare, belegen. Das „Wesentlichste, soweit es für die Schulgrammatik von Belang ist, zu erfassen“, signalisiert die ‚Vergleichende Syntax der Schulsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Lateinisch)‘ (1930) von Ferdinand Sommer. Im deutschen Sprachraum brachte der Romanist Mario Wandruszka (1911-2004) die Formel „Didaktik der Mehrsprachigkeit“ zu Papier (1979: 313). Interkomprehension und Interkomprehensionsdidaktik sind seit den 1990er Jahren in fachsprachlichem Gebrauch. Die bisherigen Erörterungen, insbesondere zur Interkomprehension (↗ Art. 56, 64), setzen die Interaktion von mindestens zwei, oft mehr Sprachen voraus. In diesem Sinne erscheint Interkomprehension als Vehikel der Vielsprachigkeit, und zwar- in Sprechakten millionenfach realisiert - zum Zeitpunkt der verstehenden Begegnung von Kommunikanten verschiedener Sprachen. Literatur Blanche-Benveniste, C. (1997): Les langues de Christophe Colomb. In: C. Blanche- Benveniste & A. Valli (coord.): L'intercompréhension: le cas des langues romanes. Paris, 54-58. Blanche-Benveniste, C. (2008): Comment retrouver l'expérience des anciens voyageurs en terres de langues romanes? In: V. Conti & F. 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Ziel dieser Methode ist es, mit wenig Aufwand zu einer rezeptiven Lesekompetenz dieser Sprachen zu gelangen. Das Gegenstück für das Germanische liegt in Hufeisen & Marx (2007) vor und berücksichtigt alle (germanischen) skandinavischen Sprachen und deren wechselseitige Unterschiede (↗ Art. 68). 301 59. NatürlicheInterkomprehensionamBeispielSkandinaviens Etwas anders liegt der Fall für das Skandinavische, wobei hierunter die germanischen Sprachen Nordeuropas verstanden werden, also das Dänische, Schwedische und Norwegische (in den beiden Schriftformvarianten Bokmål und Nynorsk). Isländisch und Färöisch zählen bei dieser Art der Verständigung zu einer sekundären Ebene, weil sich diese Sprachen seit dem Mittelalter ohne den nachhaltig prägenden Einfluss des Niederdeutschen zur Hansezeit eigenständig entwickelt haben, wobei es allerdings beim Färöischen zu ‚Interferenzen‘ durch das vom niederdeutschen Kontakt geprägte Dänische als zweiter Landessprache gekommen ist. Im Fall des Isländischen wurde dieser frühere dänische Kontakt im Zuge puristischer Bestrebungen wieder weitgehend rückgängig gemacht, so dass die Bewohner Islands bestenfalls über die Beherrschung einer festlandskandinavischen Sprache an der direkten innerskandinavischen Kommunikation teilhaben können. Für die Färinger geht dies hingegen problemlos über die Zweitsprache Dänisch. Genau genommen liegt für das Skandinavische keine Interkomprehension im Sinne der heutigen Sprachlehrforschung vor, sondern eine besondere Form der interdialektalen Kommunikation, so wie man Sprecher, auch von entfernteren Nachbardialekten, durchaus verstehen kann, sofern der feste Wille zu dieser Art der asymmetrischen Verständigung vorhanden ist. Auch eine Klassifizierung aus der Perspektive der rezeptiven Mehrsprachigkeit lässt sich mit guten Argumenten vertreten (Braunmüller 2002a). 2. Problemaufriss Die innerskandinavische Kommunikation geht auf das Mittelalter zurück und gründet sich auf eine gemeinsame Geschichte und Kultur. Früher nannte man mittelalterliches Skandinavisch „dǫnsk tunga“ (‚dänische Sprache‘), das alle Varietäten überwölbte (Melberg 1949-51). Heute wird Festlandskandinavien quasi als ein Haus mit mehreren Gebäudeteilen gesehen, bei dem das gemeinsame Dach abhandengekommen ist. Das Haus, d. h. die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit, ist jedoch noch vorhanden. Der Wunsch, sich als sprachlich-kulturelle Einheit zu sehen, ist somit sehr alt, wird jedoch heute zunehmend von der Dominanz des Englischen als Lingua franca bedroht (↗ Art. 13, 98). Dies gilt insbesondere für die jüngste Generation (Delsing & Lundin Åkesson 2005). Natürlich gibt es etliche phonologische wie lexikalische Unterschiede zwischen diesen Sprachen, aber diese werden überspielt, weil die unmittelbare Verständigung ohne eine Hilfssprache (bislang) weitaus mehr zählt als das Lernen einzelner Wörter, die es im eigenen Idiom nicht oder nicht mehr gibt. Sog. „falsche Freunde“, d. h. morphologisch ähnliche Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung (z. B. rolig : dän./ norw. ‚ruhig‘, schwed. ,lustig‘), werden in der Regel als solche meist erkannt und memoriert. Für das Bewusstmachen dieser Gemeinsamkeiten wie auch für das Aufzeigen gewisser Unterschiede wird seit jeher vom Nordischen Ministerrat (↗ Art. 9, 11) viel getan, so dass sich diese quasi interdialektale Mehrsprachigkeit weiterhin in der täglichen Praxis hält und bewährt, wobei es hin und wieder vorkommt, dass jemand auf die Unverstehbarkeit der betreffenden Nachbarsprache hinweist. Dies erfolgt paradoxerweise jedoch auch im rezeptivsprachlichen Modus! Lexikalische Eigentümlichkeiten der Nachbarsprache werden vor allem im Schulunterricht vermittelt und bei Auslandsreisen in der interaktiven Praxis erworben. Im Zuge der festen Öresundquerung wurden Kampagnen und Lehrmaterialen (↗ Art. 79) 302 KurtBraunmüller für die Metropolregionen Kopenhagen und Malmö entwickelt, wobei man sich durchaus bewusst war, dass gesprochenes Dänisch für Schweden ziemlich schwer zu verstehen ist, was an bestimmten morpho-phonologischen Schwächungstendenzen im Dänischen liegt, die seit dem Hochmittelalter wirken. Dänen haben es da phonetisch etwas leichter, weil die schwedische Aussprache näher an deren Schriftform liegt. Norwegisch liegt hinsichtlich des Verstehens wie der Verstehbarkeit ungefähr in der Mitte, was darin begründet liegt, dass das heutige Bokmål früher die Sprache des Dänisch sprechenden Bürgertums in Norwegen war. Diese Varietät wurde im Zuge der Nationalstaatenbildung etwas vereinfacht und lokal dialektal umgeformt. Dass es ein dialektales Kontinuum in Bezug auf die Lexik wie die Flexions- und Wortbildungsmorphologie von der norwegischen Westküste bis ins westliche Finnland gibt, kann man an der zweiten Schriftsprache Nynorsk ablesen, die dialektale Gemeinsamkeiten mit dem Schwedischen aufweist. 3. Forschungsstand Wesentliche methodische, historische wie soziolinguistische Aspekte beschreibt Braunmüller (2007: 321-362) in einer einführenden Darstellung. Mit Blick auf die rezeptive Mehrsprachigkeit zum Zweck der interkulturellen Kommunikation in einem vielsprachigen Europa (Eurocomprehension) umreißt er den Forschungsstand über die Jahrtausendwende hinaus (Braunmüller 2006). Als Beispiele für Fallstudien, bezogen auf die Öresundregion, seien Ridell (2008) und Börestam (2008) genannt. Beide Untersuchungen zeigen anschaulich anhand der dänisch-schwedischen Kommunikationsprobleme, wo sie auftreten und wie man sie lösen kann, wobei auch die nicht geringe Anzahl an Zweitsprachenlernern, d. h. Einwanderern, berücksichtigt wird. In Zeevaert (2004) werden die dabei ablaufenden Strategien dargestellt, ebenso wie in Golinski (2007). Zum Hörverstehen wie zur Akkommodation zwischen Dänen und Schweden liegt eine Untersuchung von Doetjes (2010) vor. Dass selbst missglückte Akkommodationsversuche nicht abgelehnt, sondern eher als positives Bemühen geschätzt werden, wird in Braunmüller (2002b) gezeigt. Das Interesse an dieser Thematik hat in den letzten Jahren stark abgenommen, so dass wenig dazu publiziert worden ist. Möglicherweise spielt hier die Dominanz des Englischen als internationaler Sprache eine entscheidende Rolle. 4. Praxisrelevanz Diese Art der rezeptiven Mehrsprachigkeit innerhalb eines dialektalen Kontinuums ist nach wie vor von überragender Bedeutung für die innereuropäische Kommunikation. Das von der EU propagierte Ziel, neben der Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen zu beherrschen, kann vielleicht von einer gewissen Gruppe mit höherer Bildung erreicht werden (↗ Art. 12). Dennoch ist es sehr wünschenswert, dass man sich über die Ähnlichkeiten der verwandten Nachbarsprachen klar wird und lernt, wie man sich mit relativ wenigen Regeln den Sinn von Texten in diesen Sprachen erschließen kann. Im Gegensatz zum Vorbild Skandinavien fehlt es jedoch an dem Bewusstsein wie der Einsicht, dass transnationale Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedern derselben Sprachfamilie bestehen. Da Fremdsprachenlernende nicht jedoch über ein muttersprachliches System mit verschiedenen Varietäten verfügen, bietet sich 303 59. NatürlicheInterkomprehensionamBeispielSkandinaviens nur an, im Sinne der Interkomprehensionsforschung eine sog. Brückensprache zu lernen. Für den Bereich der germanischen Sprachen wäre dies das Niederdeutsche (↗ Art. 125), das wegen der nicht erfolgten hochdeutschen Lautverschiebung zu allen anderen Sprachen dieser Familie den geringsten Abstand aufweist. Leider ist das Niederdeutsche heutzutage sehr geschwächt und kämpft um sein eigenes Überleben, so dass diese Möglichkeit ausscheidet. Dennoch bietet jede andere germanische Sprache als das Hochdeutsche mehr Einsichten in die Strukturen und die Lexik der übrigen germanischen Sprachen. 5. Perspektiven Es gilt zu unterscheiden zwischen Theorie und Praxis. Zweifelsohne hat die Interkomprehension, die rezeptive Mehrsprachigkeit wie auch die interdialektale Kommunikation eine große Zukunft. Durch diese Modi der Verständigung würde das Bewusstsein für sprachliche Ähnlichkeiten wie Variation gestärkt, die im Zuge der Standardisierung der Nationalsprachen weitgehend verloren gegangen sind. Diese mangelnde kommunikative Flexibilität gab es in früheren Jahrhunderten nicht: man war so ständig gezwungen, neue Varietäten zu lernen und immer offen für andere, oft ähnliche Formen, Laute und Wörter zu sein. Was die dominierende Standardisierung hinsichtlich des Abbaus an Flexibilität nicht geschafft hat, wird wohl durch den inflationären Gebrauch des Englischen, auch in Form von Hybridbildungen, endgültig beseitigt werden. Literatur Börestam, U. (2008): Samma skjorta - olika knappar. Kopenhagen. Braunmüller, K. (2002a): Variation in Receptive Bilingualism: what is received and what is not received. In: G. Kischel (Hrsg.): Eurocom. Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Hagen, 226-237. Braunmüller, K. (2002b): Semicommunication and Accommodation: Observations from the Linguistic Situation in Scandinavia. In: International Journal of Applied Linguistics 12, 1-23. Braunmüller, K. (2006): Vorbild Skandinavien? Zur Relevanz der rezeptiven Mehrsprachigkeit in Europa. In: K. Ehlich & A. Hornung, (Hrsg.): Praxen der Mehrsprachigkeit. Münster, 11-29. Braunmüller, K. (2007): Die skandinavischen Sprachen im Überblick. 3. Aufl. Tübingen, Basel. Delsing, L.-O. & Lundin Åkesson, K. (2005): Håller språket ihop Norden? Kopenhagen. Doetjes, G. (2010): Akkommodation und Sprachverstehen in der interskandinavischen Kommunikation. Hamburg. [http: / ediss.sub.uni-hamburg.de/ volltexte/ 2010/ 4805/ pdf/ Doetjes_2010_Dissertation.pdf]. Golinski, B. (2007): Kommunikationsstrategien in interskandinavischen Diskursen. Hamburg. Hufeisen, B. & Marx, N. (2007): EuroComGerm - Die sieben Siebe: Germanische Sprachen lesen lernen. Aachen. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: R omanische Sprachen sofort lesen können. 3. Aufl. Aachen. Melberg, H. (1949-51): Origin of the Scandinavian Nations and Languages. 2 Bde. Halden. Ridell, K. (2008): Dansk-svenska samtal i praktiken. Uppsala. Zeevaert, L. (2004): Interskandinavische Kommunikation. Hamburg. Kurt Braunmüller 304 AnnaSchröder-Sura 60. Interlexis und Morphologie als Ressourcen von (europäischer) Mehrsprachenkompetenz 1. Begrifflichkeit Interlexeme oder Kognaten sind Wörter, die in verschiedenen Sprachen vorkommen und morphosemantische Ähnlichkeiten aufweisen. Sie sind formkongruent und bedeutungsadäquat und besitzen ein gemeinsames Etymon. Beispiel: dt. kurios , engl. curious , frz. curieux , it. curioso …. Die Serie verdeutlicht, dass die Bedeutungsadäquanz zwischen Formkongruenten partiell sein kann: So bedeutet frz. curieux im Gegensatz zu dt. kurios nicht „merkwürdig“, sondern auch „neugierig“. Eine totale Intersynonymie (Synonymie in mindestens zwei Sprachen) muss außerhalb der Fachsprachen als Ausnahme betrachtet werden. Sie würde voraussetzen, dass die betreffenden Kognaten „in paradigmatischer, syntagmatischer und diasystematischer (diachronischer, diatopischer, diastratischer, diakonnotivativer, diatechnischer, dianormativer und diafrequenter) Hinsicht übereinstimmen“ (Schaeder 1990: 71). Natürlich ist Formkongruenz nicht nur innerhalb ein und derselben romanischen Serie möglich. So liefert der Stamm dt. kontinuim Adjektiv kontinuierlich oder im Substantiv Kontinuum Transferbasen zur Serie to continue, continuer, continuare, continuar. Interlexeme sind generell dank des lexikalischen Vorwissens der Sprachteilhaber und des jeweiligen Ko-Textes dekodierbar. Ihre Dekodierung kann durch Strategien wie Zerlegung (Dekomposition) in morphologische Elemente (Prä-, In- und Suffixe) erleichtert werden. Interlexeme fungieren als intra- und interlinguale Sprachenbrücken bzw. Transferbasen (↗ Art. 64). Auf den europäischen Sprachraum bezogen, können sie, strenggenommen, nicht einfach mit Internationalismen gleichgesetzt werden (Muljačić 1979). Echte Internationalismen müssen global und in vielen nicht miteinander verwandten Sprachen heimisch sein. 2. Historische Typisierung und Reichweiten des morphosemantischen Identifikationstransfers Interlexikalische Transparenz und interlingualer Identifikationstransfer sind innerhalb der europäischen Koiné nicht auf Sprachfamilien begrenzt (Meißner 2018: 102 ff.). Dies lässt sich historisch mit der Rolle der klassischen Sprachen als Adstrate der modernen europäischen Sprachen erklären. Deshalb ist auch Englisch (↗ Art. 98) für das Erlernen romanischer Sprachen ebenso nutzbar wie diese für das Englische (Hemming et al. 2011). Dessen Transparenzanteil am romanischen Kernwortschatz beträgt immerhin 53 Prozent! (Meißner 2018: 47). Die interromanische Transparenz basiert, wie gesagt, auf dem lateinischen Erbe. Als Sprache des Volkes (Vulgärlatein) stellte Latein (↗ Art. 92) in zahlreichen Varianten einen Großteil des romanischen Vokabulars der Mündlichkeit. Die französische Lexikologie spricht von Erbwörtern ( mots populaires ). Ihr Lautstand bezeugt, dass sie immer im Munde des Volkes waren. Daneben stand das Latein als Sprache der Gelehrsamkeit, der Literatur, der Kirche und der Schriftregister überhaupt über viele Jahrhunderte bzw. über ein Jahrtausend hinweg zur Verfügung, um gelehrtes Vokabular ( mots savants ) zu „entleihen“. Erbwörtliche Beispiele: voir < videre, 305 60. InterlexisundMorphologiealsRessourcenvon(europäischer)Mehr sprachenkompetenz aujourd’hui- < hodie, eau < ACQUA. Buchwörter stehen hingegen dem lateinischen Original näher, z. B. frz. aqueux < aqua, visibilité < VI- SIBILITAS, humeur/ humour < HUMOR usw. Aufgrund des entfernten Lautstandes der Erbwörter von den Etyma und der großen Zahl an Buchwörtern muss das Französische als eine besonders gut geeignete Brückensprache für die Interkomprehension und für das Erlernen weiterer romanischen Sprachen betrachtet werden (↗ Art. 67, auch: Klein 2002). Folgt man einer erweiterten Interlexemtypik, so lassen sich unter dem Gesichtspunkt der Transferreichweite bestimmte Klassen aufstellen. Von europäischer Reichweite sind zumeist Buchwörter oder Kultismen (frz. humour , extase, comédie, grammaire, génie …) als klassische Wörter der res publica litterarum . Von oft weltweiter Reichweite sind Modernismen (sp. emancipación, frz . émancipation < EX MANU CAPERE [frei werden, z. B. von Sklaven], dt. Zigarette , rus. cигаре́ та, fr. chocolat…, rus . шокола́д , Schokolade…, sp. neoliberalismo, engl.. neoliberalism, dt. Neoliberalismus… ; von oft globaler Reichweite sind Szientismen (dt,/ en./ fr. oxydation, fr. aspirine, dt./ en. aspirin usw.), Interlexeme des modernen Lebens (en./ fr./ dt. usw. software ) und Bedeutungsexotismen: Ikebana aus dem Japanischen, dt; Samovar < rus. самова́ р (Meißner 1993). Wörter, die für jede einzelne Sprache typisch und nicht transferierbar sind, werden als opake Wörter oder als Profilwörter bezeichnet: fr. beaucoup, sp. alfombra usw. (Meißner 2004; Klein & Stegmann 2000). Solche Wörter versperren das interkomprehensive Verständnis von Sprachen und sollten deshalb schon früh Lernern bekannt gemacht werden. 3. Interligalexe Der Begriff Interligalex ist ein Neologismus der auf Mehrsprachigkeit ausgerichteten Lexikographie (Meißner 2019). Er bezeichnet jene lexematischen Elemente, die Interlexemen gemeinsam sind. Typ: Ein einziges Interligalex hat die Serie: accès, accesso, acesso, acceso, access im Fall einer fünfsprachigen seriellen Transparenz, und zwar ACCES; fünf romanische Ligalexe zählt hingegen die opake Serie BALAI; RAMAZZ-, SCOP-A/ ESCOB; VASSOU in balai, ramazza/ scopa, vassoura, escoba, (broom, Besen) . Selbstverständlich können Ligalexe wie Lexeme Teil mehrerer Serien sein, so zu: frz. balayer in den Serien von spazzare/ scopare (fegen, kehren). Zudem können Interligalexe als Entsprechungen in z.T. voneinander abweichenden Graphien in verschiedenen Sprachen auftreten (it. SCOP- ~ sp. ESCOB-). Die große lernökonomische Wirkung der Interligalexe ergibt sich nicht nur daraus, dass sie intraserielle Varianten auf einen oder evtl. mehrere Archetypen reduzieren, deren Zahl zumeist geringer ist, als die Vertreter der Serie, sondern auch aus dem geringen Anteil von opaken Formen am Gesamt des Vokabulars, im Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM) sind dies 9 % (seriell totale Opazität) gegenüber 61 % (seriell totale Transparenz) (Meißner 2018: 35). 4. Praxisrelevanz Die genaue Kenntnis der europäischen Interlexis erlaubt beträchtliche Vorteile für das Leseverstehen neuer Sprachen und den Aufbau der Mehrsprachigkeit (steile Progression und beschleunigtes Sprachenwachstum, mehrsprachige Lesekompetenz, Sprachlernkompetenz sowie eine positiven Motivationssteuerung) 306 AnnaSchröder-Sura (↗ Art. 56). Die verbesserte Lernökonomie zu verwirklichen verlangt lehrseitig ein differenziertes Verständnis des zu vermittelnden Wortschatzes, vor allem unter dem Gesichtspunkt der interlingualen Transferierbarkeit. Reflexives Lernen spielt eine besonders große Rolle in den aktuellen Empfehlungen des Europarates für die Sprachendidaktik. Dabei wird betont, dass mit den „ reflective activities “ Nutzen durch das Einbeziehen aller Sprachen des lernerseitigen Repertoires verbunden ist (Beacco et al. 2016: 41). Dies betrifft zuvorderst die Wortschätze. Literatur Beacco, J.-C., Byram, M., Cavalli, M. et al. (2016): Guide for the Development and Implementation of Curricula for Plurilingual and Intercultural Education . Strasbourg. [https: / / www.coe.int/ en/ web/ platform-plurilingualintercultural-language-education/ curricula-and-evaluation#{%2228070509%22: [0]}]. Hemming, E., Klein H. G. & Reissner, C. (2011): English - the Bridge to the Romance Languages . Aachen. Klein, H. G. 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Definitionen Der Begriff Grammatik geht zurück auf das griechische tékhnē grammatikḗ und das daraus geprägte lateinische ars grammatica ‚Kunst des (korrekten) Lesens und Schreibens‘. In Europa sind die bekannten Abhandlungen 307 61. Die„Erfindung“der europäischenGrammatikographie über Grammatik aus der griechischen Antike überliefert. Sowohl konzeptuell als auch terminologisch ist die europäische Grammatikographie wesentlich von der griechisch-lateinischen Antike beeinflusst. In der Geschichte der europäischen Grammatikographie zeigt sich, dass Grammatik bzw. die daraus entwickelten einzelsprachlichen Termini ( grammaire , gramática , grammar etc.) einerseits die Struktur, das System bzw. den Bau einer Sprache bezeichnet, andererseits ein konkretes Werk (z. B. „die Grammatik von Nebrija“). Im Mittelalter kam der Grammatik als Teil des Triviums insofern eine zentrale Rolle zu, als sie die Grundlage für alle anderen Disziplinen darstellte; grammatica war gewissermaßen gleichbedeutend mit lateinischer Sprache. Noch Dante unterscheidet zu Beginn des 14. Jahrhunderts - zu einer Zeit, als für das Okzitanische bereits die ersten Werke mit normierendem Anspruch entstanden waren (Polzin-Haumann 2006: 1475; Swiggers 1989) - zwischen gramatica , dem Latein, und der vulgaris locutio , der in Zeit und Raum wandelbaren Volkssprache, „quam sine omni regula nutricem imitantes accipimus“ ( De vulgari eloquentia : I, I, 3). Generell können Grammatiken präskriptiv/ normativ (im Hinblick auf die Durchsetzung einer bestimmten Sprachnorm) angelegt sein oder mit deskriptiver Intention sprachliche Strukturen (inkl. verschiedener Sprachnormen) dokumentieren; sie können weiterhin vornehmlich wissenschaftlich/ theoretisch (und hier wiederum unterschiedlichen Strömungen folgen) oder vornehmlich praktisch, d. h. im Hinblick auf die Vermittlung einer Sprache orientiert sein (für Sprecher derselben Sprachgemeinschaft oder als Fremdsprache). Diese unterschiedlichen - grundsätzlich parallel existierenden - Grammatiktypen entwickeln sich in je spezifischen kulturhistorischen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten. 2. Historische Entwicklungslinien von der Antike bis zur frühen Neuzeit Erste grammatische Abhandlungen zum Griechischen sind von Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) und Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.) überliefert. Die für das Griechische verwendeten Begrifflichkeiten werden im Weiteren auf die lateinische Sprache übertragen. Die Grammatikographie des Mittelalters hat zunächst die lateinische Sprache zum Gegenstand (für eine Zusammenstellung der Abhandlungen vgl. Keil 1855-1880). Das erste bekannte Werk zum Lateinischen, De lingua latina von M. Terentius Varro (2./ 1. Jh. v. Chr.) ist nur fragmentarisch erhalten. Besonders einflussreich sind Aelius Donatus ( Ars minor , Ars maior ; 4. Jh.) und Priscianus ( Institutionum grammaticarum ; 6.Jh.). Beide Werke wurden intensiv genutzt sowie zahlreich kommentiert und glossiert; Law (2002: 44-52; 65-67) weist darauf hin, dass dabei auch - je nach Jahrhundert und geographischem Raum spezifische - Veränderungen bzw. Ergänzungen vorgenommen wurden. Charakteristisch für das ausgehende 7. und das 8. Jh. seien etwa die sog. „Insularen Elementargrammatiken“. Besonders die Ars minor des Donat hat das Lateinlernen nicht nur im Mittelalter, sondern weit darüber hinaus entscheidend geprägt. Um diese Prägung zu erfassen, genügt es im Grunde, die in diesem Werk behandelten acht Wortarten zu betrachten: „De nomine, De pronomine, De verbo, De adverbio, De participio, De coniunctione, De praepositione, De interiectione“. Neben Donat wurden ab dem ausgehenden 12. Jh. weitere Werke für den Lateinunterricht benutzt und ihrerseits vielfach glossiert. Als zwei wichtigste seien hier Doctrinale von Alexandre de Villedieu [Alexander de Villa- Dei] (1199; Lehrgedicht in Hexametern) und 308 ClaudiaPolzin-Haumann Graecismus von Évrard de Béthune [Eberhardus Bethuniensis] (1212; ein lateinisches Lehrgedicht in Hexametern und Pentametern) genannt. Die mittelalterlichen Lateingrammatiken haben präskriptiven Charakter und sind - modern ausgedrückt - auf konzeptionelle Schriftlichkeit ausgerichtet, auch wenn sie zum Teil in Dialogform abgefasst waren. Parallel hierzu entwickelte sich sowohl für das Latein (hier gilt die Grammatik des Ælfric von Eynsham, die um 995 in lateinischer und altenglischer Sprache verfasst wurde, „[…] als eine Pionierleistung der Sprachwissenschaft und der Sprachdidaktik“; Gneuss 2002: 77) als auch und später vor allem für das Erlernen der (noch nicht standardisierten) Volkssprachen z. B. für die Handelskommunikation eine praktisch orientierte Tradition in Form von Vokabellisten und Dialogbüchern (Sánchez Pérez 1992: 14 f.). Zunächst stand im spätmittelalterlichen England das Französische im Fokus der sog. Manieres de langage (Kristol 1992; Critten 2015). Hier wird der Sprachgebrauch in den Mittelpunkt gerückt. Sánchez Pérez (1992: 8) spricht daher insgesamt von zwei Tendenzen der Grammatikschreibung: „gramatical“ und „conversacional“. Diese beiden Traditionen waren allerdings letztlich schon über die mittelalterlichen Kommentare und Glossierungen zu Lehrzwecken miteinander verbunden; auch im weiteren historischen Verlauf sind sie nicht immer sauber zu trennen (↗ Art. 29, 58). 3. Vom 16. bis 21. Jahrhundert: Tradition und Innovation Wie stark der Einfluss der Lateingrammatik und des Lateinunterrichts auf die europäische Grammtikographie war, erkennt man nicht zuletzt daran, dass die ersten (fragmentarischen) Beschreibungen romanischer Volkssprachen nach dem Muster des Donat entstehen ( Donatz Proensals , ca. 1240; Le Donait françois , ca. 1409). Für die Beschreibung der lebenden Sprachen ab der frühen Neuzeit bildet die lateinische Grammatik das maßgebende Muster (vgl. hierzu Padley 1976; 1985; 1988). Ihre Rolle ist jedoch ambivalent: Sie bildet einerseits den - terminologischen und konzeptuellen - Rahmen, innerhalb dessen die Beschreibungen und Kodifizierungen der Volkssprachen sich bewegen; andererseits trägt sie auch dazu bei, das Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit von Volkssprachen und gelehrten Sprachen zu schärfen. Daneben blieb das Latein lange die Metasprache der volkssprachlichen Grammatikschreibung, auch nicht-indoeuropäischer Sprachen wie dem Ungarischen. Davon zeugen Werke wie z. B. Sylvester, János (1536): Grammatica Hungarolatina oder Molnár, Albert (1610): Novae grammaticae Ungaricae libri duo . Einen informativen Überblick über die wesentlichen Grammatiken des Französischen, Italienischen, Spanischen, Slavischen und Russischen gibt Colombat (1998; vgl. auch Ahlqvist 1987). Die intensive grammatikographische Auseinandersetzung mit den Volkssprachen ab der frühen Neuzeit ist ein gesamteuropäisches Phänomen; Divergenzen gibt es im Hinblick auf den Beginn in den einzelnen Ländern. Die erste Grammatik einer romanischen Volkssprache wird auf Italienisch verfasst: die Grammatichetta vaticana oder Regole della lingua fiorentina von Leon Battista Alberti (zw. 1435 und 1441). Doch erst die in Pietro Bembos Werk Prose della volgar lingua (1525) enthaltene Grammatik in Dialogform erlangt den Referenzcharakter, den Antonio de Nebrijas Gramática de la lengua castellana (1492) in Spanien besaß. Trotz politischer (und sprachlicher) Zersplitterung ist in Italien die Entste- 309 61. Die„Erfindung“der europäischenGrammatikographie hung eines kulturellen Nationalbewusstseins zu beobachten, dem allerdings das machtpolitische Moment fehlt. Wesentlich deutlicher sieht man den Zusammenhang von Nation und Sprache (↗ Art. 10, 11) in Spanien, wo er von Nebrija programmatisch formuliert wird („[…] siempre la lengua fue compañera del imperio”). Auch hier rückt die Volkssprache also vergleichsweise früh in den Blickpunkt theoretischer Auseinandersetzungen. Erst ein halbes Jahrhundert später erscheint die nächste Grammatik, die 1555 anonym in den damaligen Niederlanden publiziert wird. Überhaupt entstehen, erklärbar aus der mächtigen Position Spaniens in Europa unter Karl V., die meisten spanischen Grammatiken dieses Zeitraums im Ausland. Auch in Frankreich steht das 16. Jahrhundert im Zeichen der Ausbildung der französischen Nationalsprache. Dass es hier im Grunde drei ‘Premieren’ gibt, illustriert exemplarisch die Komplexität der Entwicklungen: Die erste Französischgrammatik erscheint zunächst in England (Palsgrave, John: Lesclaircissment de la langue francoyse , London 1530; trotz des französischen Titels in Englisch); die erste Französischgrammatik in Frankreich erscheint 1531, allerdings auf Latein verfasst (Dubois, Jacques: Iacobi Syluui Ambiani in linguam Gallicam Isagoge, vna cum eiusdem Grammatica Latino-gallica, ex Hebraeis, Graecis,-& Latinis authoribus , Paris 1531). Als erste in Frankreich erschienene Französischgrammatik in französischer Sprache gilt die von Louis Meigret Le trętté de la grammęre françoęze, fęt par Louís Meigręt Líonoęs (Paris 1550). Vergleichsweise spät erscheinen die ersten Grammatiken des Englischen (z. B. William Bullokar, A bref grammar for English , 1586). Mit der Erkenntnis der Unterschiedlichkeit von Latein und Volkssprachen gehen die Renaissancegrammatiker sehr unterschiedlich um. Im Hinblick auf die Terminologie beispielsweise lassen sich neben der Verwendung traditioneller Begriffe und Kategorien volkssprachliche Dopplungen und/ oder Umschreibungen bis hin zu Paraphrasierungen belegen (Polzin-Haumann 2001: 135-139). Eine besonders große Vielfalt ist in den Fällen zu beobachten, in denen volkssprachliche Phänomene nicht in das durch die traditionelle Lateingrammatik vorgegebene Raster passen, wie etwa beim zusammengesetzten Perfekt (Polzin-Haumann 2011). Eine eigene Kategorie bilden zwei- oder mehrsprachige Grammatiken und Lehrwerke. Insbesondere die „Gebrauchsgrammatiken“ (Dahmen et al. 2001) enthalten bisweilen sprachvergleichende Elemente (neben anderen praxisnahen Hinweisen, z. B. für bestimmte Lernergruppen), die gar nicht im Titel auftauchen (Polzin- Haumann 2001: 135 f.). Die explizite ‚Kontrastivität‘ (Suso López 2012) ist von den Anfängen der volkssprachlichen Grammatikschreibung an in vielen Varianten belegt, sowohl was die Art als auch den Umfang der vergleichenden Darstellung angeht. Eine eingehende Analyse dieser Werke, die Meißner als mehrsprachigkeitsdidaktisch ante litteram bezeichnet, steht noch aus (vgl. Meißner 2012: 541 f. für eine ausführliche Liste und verschiedene Fallbeispiele). Zu erwähnen sind weiterhin die mehrsprachigen Glossare, Vokabellisten bzw. Wörterbücher, die ebenfalls in hoher Zahl, mit unterschiedlichen Sprachenkonstellationen und in verschiedenen Metasprachen (Französisch, Spanisch, Latein u. a.) aufgelegt wurden (vgl. Hüllen 1989). Besonders bekannt sind die Werke des Ambrosius Calepinus, die zeitweise elf Sprachen umfassten ( Dictionarium undecim linguarum , 1590), des Noel de Berlaimont (ab 1536 in verschiedenen Varianten) und die Colloquia et Dictionariolum Octo Linguarum (1656; Waentig 2002). Da die Grammatiken bisweilen auch Wortlisten enthielten und die Glossare 310 ClaudiaPolzin-Haumann auch sprachliche Strukturen und Funktionen thematisierten (Waentig [2002: 195] bezeichnet die Colloquia explizit als „Fremdsprachenlehrbuch“), sind Grenzen zwischen Grammatikographie und Lexikologie/ Lexikographie sowie Lehrbuch mitunter schwer zu ziehen. Die kontrastiv angelegten Werke umfassen häufig mehrere romanische Sprachen; doch auch sprachfamilienübergreifende Ausgaben (die u. a. das Englische, das Flämische, das Deutsche, das Lateinische oder auch slavische Sprachen [vgl. z. B. Pausch 2003] einbeziehen), sind rekurrent belegt und zeugen von einer hohen Nachfrage und einem ebenso hohen Gebrauchswert dieser Werke (Meißner 2012: 538-540). Mit der Institutionalisierung des (Fremd) Sprachenlehrens und -lernens und der Entwicklung von Curricula, später auch für verschiedene Schultypen, beginnt ab dem 19. Jh. ein neuer Abschnitt, in dem (wieder) nationale Einflussmomente in den Vordergrund treten. Die mehrsprachigkeitsorientierte Sprach- und Bildungspolitik auf europäischer Ebene ab den 1990er Jahren (↗ Art. 9, 12) stellt - auch wenn sie national umgesetzt werden muss und insofern keine direkten Auswirkungen hat - die Weichen für gesamteuropäische Entwicklungen, die zumindest zum Teil an für das 16. und 17. Jahrhundert charakteristische Strömungen anknüpfen. 4. Schlussfolgerungen und Ausblick Zwischen den eingangs genannten verschiedenen Typen von Grammatiken bestehen Überlappungen und vielfältige Übergänge. Die „Erfindung“ der europäischen Grammatikographie vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit der antiken Tradition und durch spezifische kulturhistorische Kontexte bedingte Innovationen. Dabei sind „[d]as lateinische und das nicht-lateinische Mittelalter“ (Hüllen 2005: 31 bzw. 31 ff.) stärker verbunden, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. Wie Meißner (2012) gezeigt hat, sind ‘moderne’ Methoden fest in der Vergangenheit verankert; umgekehrt sind ‘historische’ Methoden, sei es die Grammatik-Übersetzungsmethode, sei es die direkte Methode oder weitere Methoden (Puren 2007) nach wie vor Bestandteile des aktuellen (Fremd)Sprachenunterrichts (↗ Art. 30). Literatur Ahlqvist, A. (Hrsg.) (1987): Les premières grammaires des vernaculaires européens (= Histoire - Épistémologie - Langage 9/ 1). Saint-Denis. Colombat, B. (Hrsg.) (1998): Corpus représentatif des grammaires et traditions linguistiques , t.1 (= Histoire - Épistémologie - Langage hors-série n°2). Paris. Colombat, B., Fournier, J.-M. & Raby, V. (Hrsg.) (2012): Vers une histoire générale de la grammaire française. Matériaux et perspectives. Actes du colloque international de Paris (HTL/ SHESL, 27-- 29 janvier 2011) . Paris. Critten, R. G. (2015): Practising French Conversation in Fifteenth-Century England. In: The Modern Language Review 110/ 4, 927-945. 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Auch in der Erstsprache wird das mentale Lexikon im Laufe des Lebens einer Person erweitert und das semantische Gedächtnis weiter ausgebaut. Das Wort wird als Grundeinheit des mentalen Lexikons betrachtet, wie es die Bezeichnung „Lexikon“ vermuten lässt. Doch Wörter sind vielschichtig. In der Kognitionspsychologie (für die Literatur zu den kognitionspsychologischen Erkenntnissen im Folgenden siehe Lutjeharms 2004), in der das mentale Lexikon experimentell untersucht wird, benutzt man „Lexem“ für die phonologische Wortform, während die abstrakte Grundeinheit im Lexikon als „Lemma“ bezeichnet wird (in der Sprachwissenschaft dagegen meist als „Lexem“). Zu den Repräsentationsebenen des Lemmas gehören Worteigenschaften wie Bedeutung, Wortart, morphologische Form, Flexionsmorpheme, syntaktische Verwendungsmöglichkeiten (z. B. Verbvalenz), Kombinierungsmöglichkeiten, phonologische und pragmatische Informationen, Frequenz u. a. Diese Repräsentationsebenen können sehr flexibel eingesetzt werden. Mit lexikalischem Zugriff, d. h. dem Zugriff auf das mentale Lexikon, ist der Moment gemeint, in dem alle Repräsentationsebenen (Eigenschaften) eines Wortes für die weitere Verarbeitung zur Verfügung stehen. Bei der Rezeption greift man ausgehend von der vorgegebenen Lautform oder der graphischen Form auf die Repräsentationsebenen des Lemmas zu, bei der Produktion erfolgt der Zugriff vom Begriff aus. Erst anschließend geschieht beim Sprechen die Aktivierung der phonologischen Eigenschaften des Lemmas, also des Lexems. Morpheme werden als eines von vielen Ordnungsprinzipien im mentalen Lexikon betrachtet und dürften für den lexikalischen Zugriff eingesetzt werden. Das mehrsprachige mentale Lexikon wird im Allgemeinen als sprachübergreifend betrachtet, d. h. es wird eine gemeinsame Repräsentation der erworbenen Sprachen angenommen, vielleicht mit sprachbedingten Subsystemen oder bei jedem Lemma eine Sprachkennzeichnung als eine von vielen Repräsentationsebenen. Man geht von einer Netzwerkstruktur aus, übrigens auch innerhalb von nur einer Sprache. Es kann unterschiedlich starke Verbindungen zwischen Übersetzungsäquivalenten geben. Viele Faktoren können die Stärke der sprachübergreifenden Verbindung beeinflussen, so u. a. die Sprachbeherrschung, die Art bzw. individuelle Geschichte des Spracherwerbs (↗ Art. 51), die Verwendung, die Distanz zwischen Sprachen oder Worteigenschaften. Für Kognaten wurden viele Hinweise auf gemeinsame Speicherung gefunden. Wörter der verschiedenen Sprachen, die konkrete Sachen bezeichnen, könnten stärker mit einander verbunden sein als die für abstrakte Begriffe, bei denen kulturbedingte Aspekte oft wichtig sind. Viele 313 62. Dasmehrsprachige mentaleLexikon experimentelle Daten konnten zeigen, dass das L1-Übersetzungsäquivalent beim Zugriff auf fremdsprachliche Wörter mit aktiviert wird. Auch neurolinguistische Daten zeigen, dass bei der Verarbeitung einer Zweitsprache automatisch der lexikalische Zugriff auf die Erstsprache stattfindet, so dass Übersetzungsäquivalente und alternative Bedeutungen mit aktiviert werden (Meuter 2009). Aufgrund des Verhältnisses der erworbenen Sprachen (Sprachdistanz oder -verwandtschaft), der Erwerbsgeschichte und des Erwerbsalters, der Verwendung, des Niveaus der Sprachbeherrschung u. a. dürfte es individuelle Unterschiede im mentalen Lexikon geben (vgl. auch die Ergebnisse von Franceschini et al. 2004: 184 zum Gehirn aufgrund von bildgebenden Verfahren). Zudem ist das Lexikon nicht statisch, es ändert sich bei jeder Sprachverwendung. Letzteres impliziert die Aktivierung bestimmter Elemente. Bei häufiger Aktivierung wird der lexikalische Zugriff auf ein Lemma beschleunigt. 2. Das mentale Lexikon bei der Sprachverarbeitung Bei der Rezeption werden Zeichen und Laute vom sensorischen Gedächtnis aufgenommen und an das Arbeitsgedächtnis weitergeleitet, das nur eine beschränkte Kapazität hat. Mithilfe der Informationen aus dem mentalen Lexikon werden Zeichen und Laute automatisch erkannt und unter Einsatz von Aufmerksamkeit gedeutet. Bei der Produktion geschieht ausgehend von der Sprech- oder Schreibintention mithilfe des mentalen Lexikons eine Umsetzung in Laute oder Zeichen. Die Wiedererkennung, Deutung und Umsetzung geschieht im Arbeitsgedächtnis. Dazu werden ein Input- und ein Outputsystem angenommen. Um Informationen etwas länger im Arbeitsgedächtnis zu halten, weil man mehr Zeit für die Verarbeitung oder die Formulierung braucht, beispielsweise bei schwierigen Stellen, zum Lernen oder zum besseren Behalten, wird die sogenannte phonologische Schleife eingesetzt. Mithilfe des akustischen Kodes können Informationen so etwas länger im Arbeitsgedächtnis festgehalten werden (Rezirkulation oder rehearsal , vgl. Baddeley 1997: 52 ff.). 3. Forschung zum mehrsprachigen mentalen Lexikon Bei der (experimentellen) Forschung der Kognitionspsychologie wurde anfänglich nur die Erstsprache untersucht, zumeist das Englische. Erst in den 1990er Jahren findet das bilinguale Lexikon mehr Interesse (Schreuder & Weltens 1993). Eine sehr frühe Arbeit zum mehrsprachigen Lexikon ist Abunuwara (1992), der bei Arabischsprachigen Hebräisch und Englisch als Fremdsprachen untersuchte. Heute wird immer noch vor allem das bilinguale Lexikon erforscht (Pavlenko 2009), obwohl seit etwa zwei Jahrzehnten das Interesse für Mehrsprachigkeit wächst (Szubko-Sitarek 2015). Gelegentlich wird bilingual auch im Sinne von mehrsprachig verwendet (↗ Art. 85). Das Lexikon wird vorwiegend mit Hilfe von Priming -Experimenten zur Worterkennung und zum Wortabruf erforscht. Dabei wird ein Wort ( Prime ) in Sprache A offen oder verdeckt präsentiert und untersucht, wie bzw. ob dieses Wort die Verarbeitung eines Wortes in Sprache B beeinflusst. Eine Hypothese über die Struktur des mehrsprachigen mentalen Lexikons und den Zugriff darauf wird durch die Reaktionszeit bestätigt oder ver- 314 MadelineLutjeharms neint. Heute wird häufig das Code-Switching oder der Sprachwechsel (↗ Art. 5) erforscht, wobei Teile einer Äußerung in einer anderen Sprache erfolgen, die von den Gesprächsteilnehmenden meist verstanden wird (bspw. de Bruin et al. 2018; Beatty-Martinez & Dussias 2017). Der Kodewechsel kann in sehr unterschiedlichen Situationen stattfinden und wird u. a. durch die Gesprächsbeteiligten, durch das Thema, durch die schnellere Aktivierung der anderen Sprache bzw. durch Kenntnislücken ausgelöst. Deshalb sind die Forschungsergebnisse schwer vergleichbar. Im Bereich der Forschung zum Fremdsprachenerwerb (zur Angewandten Linguistik, Psycholinguistik) besteht neuerdings mehr Interesse für das mehrsprachige Lexikon als in der Kognitionspsychologie (vgl. u. a. Cenoz et al. 2003; Tschirner 2004; Li 2006; De Angelis & Dewaele 2011; eine frühe Arbeit ist Börner & Vogel 1994). Hier werden vor allem traditionelle Methoden der Angewandten Linguistik eingesetzt, neben Wortschatzerwerb Transfer und Fehleranalyse, also empirische Daten. Bei der Erforschung des Drittsprachenerwerbs wird auf Transfer nicht nur aus der Erstsprache, sondern auch aus der Zweitsprache geachtet. Der Einfluss der schon erworbenen Sprachen wird in der Interferenz deutlich. Wenn der Transfer (↗ Art. 64) zu einer korrekten Äußerung führt, fällt er nicht auf. Psychologisch betrachtet sind Transfer und Interferenz dieselbe Strategie oder derselbe Prozess. In der Fremdsprachendidaktik werden Interferenzen als wichtige Fehlerquelle betrachtet. 4. Relevanz der Forschung für Spracherwerb und -unterricht Es gibt noch nicht viele gefestigte Erkenntnisse zum mehrsprachigen mentalen Lexikon, so dass nur einige Hinweise gegeben werden können. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es unterschiedliche Lernertypen gibt und die Lehrkraft daher unterschiedliche Erwerbsstrategien zur Auswahl vorschlagen soll. Für den Wortschatzerwerb muss die Vielschichtigkeit von Lemmata berücksichtigt werden. Ein Wort umfasst ja viele form- und bedeutungsbedingte Repräsentationsebenen, also Informationen wie Bedeutung, auch im Verhältnis zu anderen Wörtern (wie Synonyme, Unter-und Überordnung), Laut- und Schriftform, Sprach- und Wortartzugehörigkeit, morphologische und syntaktische Verwendungsmöglichkeiten, Kollokationsebene, Frequenz u. a. Beim Fremdsprachenerwerb können diese Aspekte mithilfe des Übersetzungsäquivalents ganz oder teilweise aus einer besser beherrschten Sprache übernommen werden. Es ist aber sinnvoll, die verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen. So kann es zu einer tieferen Verarbeitung kommen, die erwerbsfördernd wirkt. Auf Unterschiede zum Übersetzungsäquivalent soll hingewiesen werden, und zwar möglichst anhand von Kontexten, was dem Netzwerkcharakter des Lexikons entspricht. Da Morpheme eines der Organisationsprinzipien im mentalen Lexikon sind, ist die Suche nach bestimmten Morphemen, auch grammatischen, in Texten sinnvoll. So kann es zudem zur wiederholten Verarbeitung von Texten kommen, mit jeweils anderen Aufgaben. Aufmerksamkeit für zu lernende Wörter kann formund/ oder inhaltsorientiert sein. Auch wenn nur Lesefertigkeit (↗ Art. 76) angestrebt wird, die Aussprache muss geübt 315 62. Dasmehrsprachige mentaleLexikon werden. Sie wird für die Rezirkulation gebraucht, wenn man bei der Verwendung eines Wörterbuchs (off- oder online) oder beim Memorieren die Form länger im Arbeitsgedächtnis halten will, für die Arbeit in der Klasse oder für den späteren Erwerb weiterer Fertigkeiten. Heute gilt als gesichert, dass es nur ein mentales Lexikon gibt und es daher sinnvoll ist, das schon vorhandene Sprachenwissen einzubeziehen. Transfer ist eine - meist spontan eingesetzte - Lernhilfe. Deshalb wird nicht mehr versucht, die Muttersprache und andere erworbene Sprachen „aus den Köpfen der Lernenden“ fernzuhalten, wie es in der audiolingualen und audiovisuellen Methode - vergebens - angestrebt wurde. Sie sollen im Gegenteil als Lernhilfe eingesetzt werden. 5. Ausblick Es ist erstaunlich, dass obwohl die Beherrschung von drei oder mehr Sprachen keine Ausnahme ist, das Interesse für die experimentelle Erforschung des mehrsprachigen mentalen Lexikons erst spät angefangen hat und spärlich ist. Die erhöhte Komplexität, die der Einbezug einer dritten Sprache mit sich bringt, dürfte dafür eine der Ursachen sein. Transferprozesse sind besser erforscht, weil die Komplexität dort geringer ist. Es fehlt zudem noch an Erkenntnissen auf vielen Gebieten, auch für das muttersprachliche Lexikon. So wird in der Kognitionspsychologie vor allem die Worterkennung untersucht, weniger die syntaktische Analyse. Bei der Transferforschung geht es dagegen oft um syntaktische und grammatische Formen. Es herrscht noch Uneinigkeit über die Art der Verarbeitung. Ist sie modular oder interaktiv/ konnektionistisch - oder beides? Zudem werden immer wieder dieselben Sprachen einbezogen, und zwar Englisch und andere indo-europäische Sprachen. Allerdings hat sich hier die Lage inzwischen verbessert (vgl. die Zeitschrift The mental lexicon ; es sind allerdings keine Artikel zum mehrsprachigen Lexikon enthalten). Literatur Abunuwara, E. (1992): The Structure of the Trilingual Lexicon. In: A. M. 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Madeline Lutjeharms 63. Modellierung von Interkomprehensionsprozessen 1. Begrifflichkeit Bei der Interkomprehension handelt es sich um ein Phänomen, das so alt ist wie die menschlichen Sprachen selbst, das aber erst in den 1990er Jahren als Grundlage der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 6, 7) sowie als potenzielle Kommunikationsform innerhalb der Gremien der erweiterten Europäischen Union (als Alternative zu einer lingua franca oder dem systematischen Übersetzen in sämtliche EU-Sprachen) in den Fokus linguistischer und didaktischer Forschung geraten ist (Doyé 2004: 59; vgl. Art. 11, 12, 58). Beim Begriff ‚Interkomprehension’ (analog zu engl./ frz. intercomprehension / intercompréhension ) sind zwei Aspekte zu unterscheiden: der Aspekt der Performanz und der Aspekt der Kompetenz. Performanz im Sinne einer Tätigkeit meint hier das auf den konkreten Einzelfall bezogene Verstehen eines anderssprachlichen Gegenübers oder eines anderssprachlichen Textes, ohne dass dabei zwangsläufig Kenntnisse der anderen Sprache vorliegen (Doyé 2004: 60, 61). Interkomprehension als Kompetenz hingegen meint die grundsätzliche Fähigkeit, fremde Sprachen bzw. Varietäten zu verstehen, ohne sie zuvor gelernt zu haben (Meißner 2017: 146). Beide Aspekte erfassen gleichermaßen die mündliche wie die schriftliche Kommunikation und fokussieren die Rezeption (↗ Art. 75, 76). Basis der Interkomprehension als Kompetenz sind die Fähigkeit zum Sprachenvergleich sowie zum Inferieren bzw. Transferieren ähnlicher Strukturen aus der einen in die andere Sprache (↗ Art. 64). Dies setzt zum einen die den Menschen angeborene Spracherwerbskompetenz voraus, zum anderen aber auch einen Fundus an angelerntem sprachlichen Vorwissen. Der Grad der gegenseitigen Verständlichkeit zweier Einzelsprachen wird als Interkomprehensibilität bezeichnet. Sie ist umso höher, je höher der Anteil ihrer von Rezipienten erkennbaren lexikalischen, morphologischen, syntaktischen etc. Gemeinsamkeiten ist (Meißner 2017: 146). Besonders ausgeprägt ist daher die Interkomprehension innerhalb konkreter Sprachfamilien wie zwischen den romanischen (↗ Art. 67) oder den skandinavischen Sprachen (↗ Art. 59). Entscheidend für erfolgreiche Interkomprehension ist aber nicht nur die Interkomprehensibilität der jeweiligen Sprachen, sondern auch das individuelle Sprachenprofil (eignet sich die Muttersprache oder eine zuvor gelernte Fremdsprache als Brückensprache zum 317 63. ModellierungvonInterkomprehensions prozessen Verständnis der Zielsprache? ) und die Kompetenz der jeweiligen Sprecher in unterschiedlichen Sprachen (Berthele 2011), weiterhin ihre Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22) sowie ihre Erfahrungen und die damit zusammenhängende Bereitschaft, das Vorwissen für Interkomprehension zu nutzen (Meißner 2016: 234). Entsprechend gehört es zu den zentralen Zielen der Mehrsprachigkeitsdidaktik, die lernerseitige Bereitschaft zur Nutzung von Interkomprehension zu steigern und das Erkennen und Transferieren interlingualer Gemeinsamkeiten zu trainieren und zu systematisieren (↗ Art. 6, 7, 23) - Interkomprehension wird hier als Methode genutzt (Bär 2011; Meißner 2011; Teyssier 2012). 2. Probleme der Modellierung von Interkomprehensionsprozessen So vielfältig wie die Aspekte der Interkomprehension, so unterschiedlich kann die Modellierung von Interkomprehensionsprozessen ausfallen. Fokussieren solche Modellierungen z. B. die interpersonale mündliche Ebene, dann berühren sie zugleich die Bereiche der Gesprächsforschung, der interkulturellen Kommunikation bzw. der Mehrkulturalität oder der Transkulturalität (↗ Art. 7, 14, 15, 16, 30, 39, 41). Hier ist dann auch die Interkomprehension in Bezug auf Gestik, Mimik (hierzu Cosnier 2014) und parasprachliche Aspekte (Lautstärke, Intonation, Pausen, Sprecher-/ Hörersignale etc.) modellhaft darzustellen, und selbst okkasionelles Code-Switching (↗ Art. 5) in weitere Sprachen z. B. zur Überprüfung des Verständnisses müsste mitberücksichtigt werden. Modellierbar ist auch die Ähnlichkeit von Sprachen, also gewissermaßen das Ausmaß und die Spezifik von Interkomprehensibilität - solche Fragestellungen fallen in den Bereich der Kontrastiven Lingustik. Verbreiteter und für die bisherige Entwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik wichtiger sind aber Modellierungsansätze, die die Auseinandersetzung eines Sprachnutzers mit einem mündlichen oder schriftlichen Text einer fremden Sprache, für die keine oder nur partielle Kompetenzen bestehen, darstellen und dabei die Möglichkeit der Interaktion, also z. B. des Nachfragens, ausklammern. Mit zu berücksichtigen sind also auch allgemeine Prozesse des (fremdsprachlichen) Lese- (vgl. z. B. Bernhardt 2011; Lutjeharms 2002, 2016) und Hörverstehens (z. B. Badstüber-Kizik 2016; Müller-Lancé 2002a) sowie Erfahrungen aus dem Bereich der Einordnung von Äußerungen in einen lebensweltlichen textsortenspezifischen Rahmen (handelt es sich bei dem fraglichen Text z. B. um eine Speisekarte, einen Zeitungsartikel, eine Radionachricht? ). Zentral sind bei dieser Modellierung wiederum Ähnlichkeiten der betroffenen Sprachen wie z. B. Kognaten (↗ Art. 60), also formal und semantisch verwandte Wörter in verschiedenen Sprachen (z. B. engl. university , dt. Universität , frz. université , sp. universidad ; zur Definition Berthele 2011: 200 ff. und Murillo Puyal et al. 2008: 175 ff.). Eine solche Modellierung verbindet somit allgemeine kognitive Prozesse, wie den Zugriff auf Elemente des mehrsprachigen mentalen Lexikons (↗ Art. 62), mit dem Vergleich von Einzelsprachen. Einen zusätzlichen Problembereich bei der Modellierung von IC-Prozessen stellt die Frage dar, inwieweit diese Prozesse trainiert wurden und damit z. B. einstudierten kognitiven/ metakognitiven Strategien (Bär 2011: 28 f.) bzw. gesteuerten Routinen folgen wie den Sieben Sieben des EuroCom-Projekts (↗ Art. 67, 68), oder ob die Prozesse eher „natürlich“ ablaufen 318 JohannesMüller-Lancé und damit lerntypen-, erfahrungsbzw. temperamentsabhängig sind. 3. Modellierung von Interkomprehensionsprozessen Der modellhafte Ablauf des Interkomprehensionsprozesses umfasst nach Meißner (2011: 44 ff.) sechs Schritte: 1. Konstruktion eines inhaltlichen Erwartungshorizonts auf Basis der vorliegenden Textsorte bzw. der Art der Äußerung bzw. von Kontext und Ko-text (hierzu auch López Alonso & Séré 1996). 2. Wahl der geeigneten Brückensprache(n). 3. Verbindung leicht identifizierbarer Formen (z. B. Orts- und Personennamen, Daten, Kognaten) mit entsprechenden Inhalten. 4. Wiederholtes Lesen/ Hören mit Blick auf noch zu erschließende Details. 5. Kontrolle der Plausibilität der gefundenen Bedeutungserschließungen. 6. Überprüfung der Hypothesen zur Struktur der Zielsprache (Hypothesengrammatik). Innerhalb der Schritte gibt es zwei grundlegend verschiedene Vorgehensweisen: Die Hypothesen zum Verständnis und zur Struktur der Zielsprache können von den sprachlichen Formen her gebildet werden ( data-driven ) oder aber von der Inhaltsseite her ( concept driven ). Ersteres Vorgehen liegt dann nahe, wenn man z. B. eine nahverwandte Brückensprache sehr gut beherrscht und die fremde Zielsprache quasi indirekt übersetzen kann (z. B. im Falle eines Hispanophonen, der einen katalanischen Text liest). Das zweite Vorgehen bietet sich an, wenn man zwar keine besonders guten Kenntnisse einer Brückensprache, dafür aber eine recht präzise Vorstellung vom Inhalt des Textes hat, so z. B. wenn man in einer fremdsprachigen Zeitung den Bericht über ein Fußballspiel liest, das man selbst gesehen hat. Hier sucht man gewissermaßen im Text die passenden Lexeme zu den Inhalten, die man schon kennt. Diese beiden Vorgehensweisen können ebenso von Element zu Element variieren wie die Wahl der Brückensprache(n). Diese hängt nach Müller-Lancé (2006: 440, 456 ff.) von folgenden Faktoren ab: der Kompetenz in der Brückensprache, der typologischen Verwandtschaft der Brückensprache zur Zielsprache sowie dem Grad der Aktivierung der Brückensprache. Von zentraler Bedeutung ist auch die individuelle Vernetzung der unterschiedlichen Sprachen im Mentalen Lexikon (wer z. B. beim Wörterlernen und -assoziieren häufiger Verbindungen über verschiedene Sprachen anstellt, wird auch bei den Erschließungsstrategien breiter über seine verschiedenen Sprachen streuen). Das Vorgehen bei der eigentlichen sprachlichen Analyse demonstriert ein Modell von Müller-Lancé (2003, 2006: 453 ff.): Die wahrgenommene fremdsprachliche schriftliche oder mündliche Äußerung wird phonologisch und morphologisch dekodiert und mit dem mentalen Lexikon und dem Weltwissen abgeglichen. Wird ein Element nicht identifiziert, dann werden je nach Motivation, Sprachlernerfahrung und Sprachenprofil unterschiedliche Strategien (z. B. interlingual, intralingual, kontextuell, episodisch) eingesetzt, um die Bedeutung zu inferieren. Über einen internen „Monitor“ wird mit dem Speicher für das Weltwissen abgeglichen, ob die erschlossene Lösung korrekt sein kann. Ist dies unwahrscheinlich, dann wird - entsprechende Motivation vorausgesetzt - die Prozedur mit vergrößerter Suchbreite wiederholt. Diese kann z. B. darin bestehen, dass beim Abgleich nicht mehr primär auf die Anfangssilben geachtet wird (was ansonsten das verbreitetste Vorgehen ist; vgl. Müller-Lancé 2002b), sondern nun auch auf weiter hinten liegende Silben eines unbekannten Worts. Nach jüngeren 319 63. ModellierungvonInterkomprehensions prozessen empirischen Untersuchungen von Vanhove & Berthele (2015: 112 f.) sind die Wortfrequenz der Kognaten (↗ Art. 60) in der Brückensprache und die orthographische Ähnlichkeit zwischen fremdsprachlicher Form und bekanntem Kognat die wichtigsten Indikatoren für eine erfolgreiche Kognaten-Erkennung. Wie aber lässt sich die Kognatenerkennung plausibel beschreiben? Üblicherweise werden zwei Verfahren der Inferenz (Carton 1971) angenommen: die Deduktion (von der Regel zum Einzelfall) und die Induktion (vom Einzelfall zur Regel). Berthele (2011) macht aber deutlich, dass bei Interkomprehensionsprozessen häufig ein drittes Inferenzverfahren vorliegt: die Abduktion. Bei diesem Verfahren wird von einem Einzelfall ausgehend eine Regel aufgerufen, die man aus einem anderen Kontext kennt, und analog dazu eine neue Regel angenommen. So erschloss eine deutschsprachige Probandin aus der Schweiz das geschriebene dänische Wort <blive> korrekt mit der Bedeutung ‚bleiben’, weil sie von ihren Spanischkenntnissen her mit der Regel vertraut war, dass die Grapheme <b> und <v> gleich ausgesprochen werden können (2011: 194 f.). Diesen Graphem-/ Phonem-Zusammenfall (z. B. in span. beber vs vivir ) übertrug sie auf die germanischen Sprachen und kam so über dialektales BLIBE auf bleiben (ähnlich: Möller 2011). Zum Prozess des Erkennens von Kognaten, also der Aufspürung von Konvergenzen, gehört im Übrigen auch das Erkennen und Systematisieren von Kontrasten, um falsche Übertragungen auszuschließen (Gajo 2008: 133 f.). 4. Praxisrelevanz und Perspektiven Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz von Interkomprehension im Fremdsprachenunterricht hervorragend mit den Prinzipien des Entdeckenden Lernens und der Lernerautonomie vereinbar ist (Bär 2011; Meißner 2016: 237). Entsprechend widmen sich inzwischen einige Internetplattformen der Interkomprehension - so z. B. die Portale euro-mania.eu (vgl. Capucho & Escudé 2007) und miriadi.net. An der Universität Reims / Champagne-Ardennes ist aus dem Projekt Intercompréhension Européenne (ICE) ein eigener Master-Studiengang entstanden (Castagne 2014a). Interkomprehension kann im Unterricht auch eingesetzt werden, um metasprachliche Kompetenzen zu fördern und das Funktionieren einer Zielsprache besser zu verstehen (Bär 2011: 22). Dies setzt allerdings voraus, dass man die bloße Annäherung an einen Textinhalt bereits als Lernziel akzeptiert und ggf. auch entsprechend evaluiert (vgl. Blanche-Benveniste 2007; Castagne 2014b und das Projekt evalic.eu). Wichtig sind die Erkenntnisse der Interkomprehensionsforschung (↗ Art. 85) auch für das Erstellen mehrsprachiger Wortkunden und Vokabelverzeichnisse, wenn es darum geht auszuwählen, welche anderssprachigen Kognaten zu einem zielsprachlichen Lemma mit aufgeführt werden sollen. Und schließlich unterstreichen die Ergebnisse der Interkomprehensionsforschung die Bedeutung eines - auch - formfokussierten Fremdsprachenunterrichts, insbesondere im Bereich der Orthographievermittlung. Gerade im Französischunterricht sollte die stark etymologisierende Orthographie nicht als lästiges Übel vermittelt werden, sondern als äußerst hilfreiche Verständnisbrücke zu Sprachen wie Latein und Englisch. 320 JohannesMüller-Lancé Literatur Badstüber-Kizik, C. (2016): Hör- und Hör-Sehverstehen. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 93-97. Bär, M. 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Kresic (Hrsg.): Crosslinguistic Influence and Crosslinguistic Interaction in Multilingual Language Learning. London, 95-118. Johannes Müller-Lancé 64. Interkomprehension und Transfer 1. Begrifflichkeit und Problemaufriss Noch weit über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus war der schon von Thorndike & Woodworth (1901) eingeführte didaktische Begriff des Transfers (Übertragung von Wissensinhalten, Überführung) stark und einseitig an systemlinguistischen Ähnlichkeiten und Unterschieden orientiert. Diese Deutung begleitete die Fremdsprachendidaktik über viele Jahrzehnte hinweg: „Those structures that are similar will be easy to learn because they will be transferred and may function satisfactorily in the foreign language. Those structures that are different will be difficult […]“ (Lado 1957: 59). Behavioristisch geprägte Vorstellungen fassten Transfer als eine bloße Reaktion auf einen sprachlichen Reiz auf. Schließlich führte seit den 1970er Jahren die Entdeckung der Lernersprache ( interlanguage ) zu einer differenzierteren Auffassung, indem sie den Fokus vom Sprachprodukt auf den Spracherwerbsprozess lenkte. Seit der kognitiven Wende wird Sprachenlernen als ein aktiver Prozess der Hypothesenbildung, -prüfung und -modifikation wahrgenommen (↗ Art. 29, 51). Vor diesem Hintergrund ist es ein Verdienst der Interkomprehensionsdidaktik, den Transferbegriff auf empirischer Grundlage ausdifferenziert und weiterentwickelt zu haben. Traditionell unterscheidet die Fremdsprachendidaktik lediglich zwischen ‚positivem‘ (erfolgreichem) und ‚negativem‘ (zu Interferenzen und Fehlern führendem) Transfer. Bezeichnenderweise fehlte der außerhalb der Fremdsprachendidaktik genutzte Typus des Nulltransfers ( t. zero ), wohl weil man einsei- 322 SteffiMorkötter tig auf die Transfereffekte als ‚Fehler‘ blickte. Die stark simplifizierende Unterscheidung zwischen positivem und negativem Transfer zeigt, wie gesagt, eine einseitige Fixierung auf das Transferprodukt, nicht aber auf den Transferprozess. Die reduktionistische Sichtweise ignoriert nicht nur gänzlich rezeptive Prozesse und ihre Bedeutung für den Sprach- und Fremdsprachenerwerb, sie ignoriert auch weitgehend Ergebnisse der Forschungen zur Kommunikation zwischen heteroglotten Sprechern (↗ Art. 85). Der ausschließende Blick auf sog. falsche Freunde blendet vor allem die Überzahl der echten Freunde aus; er entpuppt sich im Grunde auch als unrealistisch, indem er ein an nativeness orientiertes Kompetenzziel unterstellt, das im regulären schulischen Fremdsprachenunterricht nicht zu erreichen ist (↗ Art. 30). Dass ein auf Rezeptionskompetenz in mehreren Sprachen zielender Interkomprehensionsunterricht in der Fremdsprache C zu Fehlern in Aussprache, Satzeuphonik, Wortwahl, Syntax, fehlender Situationsadäquanz usw. in den vorab schon gelernten Fremdsprachen A und B führe, ist eine Behauptung, die wesentliche konditionierende Faktoren ebenso ausblendet wie die Pragmatik der interkulturellen Kommunikation oder die Wirkung des vorausgegangenen Unterrichts: Hat sich dieser überhaupt für das mehrsprachige mentale Lexikon der Lerner (↗ Art. 62) interessiert? Hat er eine entsprechende Sprachensensibilisierung betrieben? Solche Variablen hängen insbesondere von den zahlreichen Möglichkeiten der Steuerung im Rahmen des reflexiven Lernens ab, von Sprachen- und Kommunikationsbewusstheit sowie von der Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22). Generell ist zu sehen, dass der interkomprehensive Ansatz selbst eine Strategie der interlingualen Fehlerprophylaxe darstellt. Auch sie ist wesentlicher Bestandteil der Interkomprehensionsdidaktik. Vorwürfe des Interferenzrisikos an die Mehrsprachigkeitsdidaktik sind solange obsolet, wie der Zusammenhang zwischen didaktischer Steuerung und „Fehlergenese“ nicht erforscht ist. 2. Die Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik Die von Meißner (2007) auf empirischer Grundlage entwickelte Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik unterscheidet nicht einfach in ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern kategorisiert und systematisiert lernerseitige Transferprozesse. Dabei knüpft sie an bisherige Transferdefinitionen an, die vor allem die Faktoren Wissen, Training, Kommunikation, Generalisierung (Übergeneralisierung) betreffen. Die Verbindung der Interkomprehension zur Lernersprache erklärt sich daraus, dass die interkomprehensive Handlung die Lernersprache in statu nascendi abbildet. Es werden zum einen die Transferphänomene nach einem interlingualen und / oder intralingualen Identifikationstransfer (Lese-, Hör- und Hörsehverstehen) (↗ Art. 75, 76) und einem interlingualen und / oder intralingualen Produktionstransfer (Schreiben und Sprechen) unterschieden. Orte des intra- oder interlingualen Transfers können sowohl die Ausgangs- oder Brückensprache als auch die Zielsprache sein. Gegenstand des Transfers sind Formen (Form-), Inhalte (Inhalts-), Funktionen (Funktionstransfer) oder die Metakognition (Sprachlernkompetenz, Transfer von Sprachlernerfahrungen). Jeder Transfer hat eine Transferbasis, einen Transferauslöser und ein Transferprodukt oder einen Transfereffekt. Die Transferrichtung betrifft die Frage, welches kognitive Schema als letztes bzw. als Ausgangspunkt für die Auslösung ei- 323 64. InterkomprehensionundTransfer nes Transferprozesses dient; insbesondere, ob die Perzeption einer (affinen) Analogie schon durch die Reihenfolge der mentalen Aktivitäten nahegelegt wird. Transferprozesse können sodann proaktiv von einem dem Individuum schon bekannten Schema ausgehen, um einen Transfereffekt zu erzielen, oder retroaktiv. In diesem Fall führt ein Transfereffekt zu einer Überformung eines schon vorhandenen kognitiven Schemas. Ein Beispiel: Die Begegnung mit dem spanischen Adjektiv paulatino (allmählich) führt zu der Erkenntnis, dass dieses im zuvor gelernten Französischen keine formkongruente Entsprechung hat und dort durch graduel wiedergegeben wird/ werden kann, im Englischen durch gradual . Die Formgleichheit der englischen mit der französischen Adäquanz führt zur (fehlerprophylaktischen) Lenkung der Aufmerksamkeit auf die leichte orthographische Abweichung graduEl / gradu- Al . Dies wiederum weckt weitere Analogien: mutuEl / mutuAl , aspectuEl/ aspectuAl, deutsch: graduell, aspektuell… Die Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik beschränkt sich nicht, wie oft behauptet, auf morphosemantische Wortähnlichkeiten, sondern schließt auch den morphosyntaktischen Transfer mit ein (etwa die Bildung des Plurals mit „-s“ im Englischen, Französischen und Spanischen) (↗ Art. 60). Im Fall des (semantischen) Inhaltstransfers geht es um das Erkennen von den Bedeutungsadäquanzen gemeinsamen Bedeutungskernen. Diese bilden die Brücke zu einer okkurrentiellen Bedeutung / Verwendung im Ko-Text der Zielsprache. Auch bei opaken Bedeutungsadäquanzen sind ko-textliche Erschließungen möglich, so etwa die Präpositionen since 1982 und depuis 1982. Der frühzeitige Einbezug opaken Vokabulars in das Curriculum einer nachgelernten Sprache erleichtert deren Leseverständlichkeit ungemein. Ein Beispiel für intralingualen Transfer ist das Erkennen von Silbenfunktionen wie etwa das Suffix -er im Englischen, durch das ein Verb ( to sing , to work ) in ein Substantiv umgewandelt werden kann (hier: die handelnde Person - singer , worker, analog zu Bäcker, sodann sind alle Agenzien betroffen: Spiel-er, boulang-er, joueur , specta-teur, gioca-tore, let-tore, juga-dor, carnic-ero, panad-ero usw.). Schließlich ist der Typus des so genannten didaktischen Transfers zu betonen, der sich auf einen Transfer von Lernerfahrungen bezieht und vor allem beim bzw. ab dem Erlernen einer zweiten Fremdsprache eine Rolle spielt. Er betrifft unter anderem die Bereiche individuell bewährter Strategien, der Motivationssteuerung, des Lernzeitmanagements, der Bestimmung von Lernzielen und Lernstrecken, der Bewertung und Kontrolle der Lernschritte und des Lernerfolgs sowie der Organisation von sozialen Komponenten erfolgreichen Lernens z. B. im Kontakt mit anderen Personen. Die gewonnenen Erkenntnisse der interkomprehensionsdidaktischen Empirie (↗ Art. 85) haben zu einem Grundmodell geführt, dessen wesentliche Elemente die sog. Hypothesengrammatik und der didaktische Mehrsprachenmonitor sind (Meißner 2007). Beide dienen dem reflexiven Mehrsprachenlernen. 3. Praxisrelevanz und Perspektiven Die bisherigen Ausführungen machten ersichtlich, dass die Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik nicht nur das Konzept des Transfers in differenzierter Weise in das Bewusstsein der Fremdsprachendidaktik gehoben hat - wovon auch nicht eng verwandte Sprachen profitieren. Sie hat auch die Verbindung zwischen Sprachlern- 324 SteffiMorkötter kompetenz (Selbstwirksamkeitserfahrungen, Selbstlernmonitoring) und der Interkomprehensionshandlung (Sprachlernerlebnis) selbst hergestellt. Positive Effekte auf die Sprachlernmotivation konnten empirisch nachgewiesen werden (u. a. Bär 2010). Lehr- und lernseitig ist die Transfertypologie ein wichtiges Instrument zur Erfassung des aktuellen Stands der Interlanguage. Studien mit mehr und weniger fremdsprachen(lern)erfahrenen Personen - u. a. Schüler, Studierende und Bautechniker - konnten zeigen, dass die Interkomprehension auch bei äußerst verschiedenen Probandengruppen eine empirische Grundlage hat und sich für die Identifikation und Analyse mentaler Transferaktivitäten eignet (Meißner 2010). Forschungsbedarf besteht unter anderem in der Untersuchung verschiedener Sprachenfolgen (↗ Art. 69), auch in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der englischen Sprache als Transfersprache, nicht allein aufgrund ihres hohen romanischen Wortschatzanteils und ihrer Sprecherzahlen, sondern auch wegen ihrer häufigen Position als erste Fremdsprache, ist hier insbesondere an eine diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit „Englisch + eine weitere (Fremd-)Sprache + weitere Fremdsprachen mit rezeptiver Kompetenz“ oder „Fremdsprache1 + Englisch + Sprache mit rezeptiver Kompetenz“ zu denken. Dies betrifft ebenfalls die Einstellungen zu Sprachen(lernen) und die Motivationssteuerung (↗ Art. 26), wobei eine weitere Diversifikation des fremdsprachlichen Lernangebots generell wünschenswert wäre. Zentraler Forschungsbedarf besteht zur Frage, inwieweit sich rezeptive Kenntnisse zu produktiven Kenntnissen ausbauen lassen. Literatur Bär, M. (2010): Motivation durch Interkomprehensionsunterricht - empirisch geprüft. In: P. Doyé & F. Meißner (Hrsg.), 281-290. Doyé, P. & Meißner, F.-J. (Hrsg.) (2010): Lernerautonomie durch Interkomprehension: Projekte und Perspektiven-/ L’autonomisation de l’apprenant par l’intercompréhension: projets et perspectives-/ Promoting Learner Autonomy through Intercomprehension: Projects and Perspectives. Tübingen. Lado, R. (1957): Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers. Ann Arbor. Meißner, F.-J, (2007): Grundlagen der Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: E. Werlen & R. Weskamp (Hrsg.): Kommunikative Kompetenz und Mehrsprachigkeit. Diskussionsgrundlagen und unterrichtspraktische Aspekte. Baltmannsweiler, 81-101. Meißner, F.-J. (2010): Interkomprehension empirisch geprüft: Kompetenzprofile, Mehrsprachenerlebnis, Lernerautonomisierung. In: P. Doyé & F. Meißner (Hrsg.), 194-226. Thorndike, E. L. & Woodworth, R. S. (1901): The Influence of Improvement in one Mental Function upon the Efficiency of other Functions. In: Psychological Review 8, 247- 261, 384-395, 553-564. Steffi Morkötter 325 65. InterkomprehensionundsprachlicheKompetenzen 65. Interkomprehension und sprachliche Kompetenzen 1. Der Kompetenzbegriff Die Bezeichnung „Kompetenz“ hat eine lange Geschichte in der (angewandten) Sprachwissenschaft. Chomsky benutzte „Kompetenz“ für das grundlegende Sprachvermögen, eine allgemeine, angeborene und dynamische Sprachfähigkeit, und als Gegensatz dazu „Performanz“, die individuelle Sprachverwendung. Mit der Bezeichnung „kommunikative Kompetenz“ (Hymes 1972) wurde die soziale Funktion von Sprache hervorgehoben. Heute umfasst die Bezeichnung „Sprachkompetenz“ Wissen und Können, also deklaratives Wissen (oder Inhalte) und prozedurale Fertigkeiten (Routinen von Handlungen und Vorgängen), aber auch allgemeine kognitive und kommunikative Fähigkeiten, so bspw. die Fähigkeit, Probleme bei der Verständigung zu lösen, strategische Aspekte wie Einsatz des Vorwissens, wozu u. a. Transfer des rein sprachbedingten Vorwissens gehört, und Lernstrategien (↗ Art. 22, 43). Die klassischen vier Fertigkeiten, Hör- und Leseverstehen, Sprechen und Schreiben, sowie die entsprechende Sprachbeherrschung gehören zur sprachbedingten Kompetenz. Die Sprachbeherrschung umfasst lexikalische, grammatische, semantische, phonologische und graphematische Kompetenzen. Bei der Sprachverwendung werden zudem pragmatische Kompetenzen eingesetzt (wie die Angemessenheit der Äußerung). Mit der Sprachlernkompetenz zeigen Lernende, wie sie ihre Sprachlernprozesse einsetzen und wie sie diese mithilfe von Lernstrategien zu verbessern versuchen (Meißner 2010b). Sie impliziert eine Bewusstmachung dieser Lernstrategien. Mit Sprachenbewusstheit ist das explizite, bewusste Wissen über Sprache und deren Regelmäßigkeiten gemeint, das Sprachanalyse ermöglicht. Es bestehen also viele Teilkomponenten der Sprachkompetenz, sodass auch von „sprachlichen Kompetenzen“ gesprochen wird. Im Falle der Mehrsprachigkeit, wie sie vom Interkomprehensionsansatz (↗ Art. 64) angestrebt wird, kann es sprachbedingt unterschiedliche Kompetenzniveaus geben, und zwar je nach angestrebter Zielsetzung (bspw. nur Leseverständnis oder Sprechfertigkeit), einsetzbarem Vorwissen aufgrund von Sprachverwandtschaft oder/ und Sprachlernkompetenz u.ä. Die Sprachkompetenz zeigt sich im Sprachhandeln. Sie ist daher beobachtbar, also auch messbar ( Jude 2008: 12, 15). In diesem Sinne spielt sie eine grundlegende Rolle im Bereich des Sprachtestens. Mit Hilfe von Tests zu spezifischen (sprachbedingten) Teilkompetenzen können individuelle Leistungsprofile aufgestellt werden (ibid.). Das Konstrukt Sprachkompetenz hat durch die Verwendung im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (↗ Art. 18) und dann auch in den deutschen Bildungsstandards eine beachtliche Verbreitung gefunden. 2. Interkomprehension und Lesebzw. Hörkompetenz Input ist der Anfang jeden Spracherwerbs. Die Interkomprehension (↗ Art. 56) fängt daher mit der Rezeption an, hauptsächlich mit Lesen. Die Vorteile des Lesens im Vergleich zum Hören sind, dass das Dekodiertempo selbst bestimmt werden kann, dass man leicht Stellen übergehen und später darauf zurückkommen kann, dass man unterschiedliche Lesestile einsetzen kann, dass problemlos wiederholt 326 MadelineLutjeharms werden kann und dass leicht Übungen erstellt werden können (↗ Art. 76). Doch nach ersten Übungen mit Leseverstehen wird zusätzlich Hörverstehen interkomprehensiv eingesetzt (Klein 2004: 31 f.; Marx 2008; Meissner & Burk 2001). Beim Hörverstehen ist aufgrund des Zeitmangels - man kann während der Dekodierung kaum nachdenken - der Einsatz automatischer Routinen erforderlich (↗ Art. 75). Der Erwerb der Aussprache ist von Anfang an notwendig wegen des kurzen Festhaltens von Informationen in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses (Rezirkulation), das u. a. zum Lernen, zur Wörterbuchverwendung oder bei schwierigen Stellen erforderlich ist. Für den späteren Erwerb weiterer Fertigkeiten ist die Aussprache ebenfalls unumgänglich. 3. Forschungsstand Interkomprehension ist kein neues Phänomen (Meißner 2010a). Allerdings wurde es in den vergangenen Jahrzehnten für die drei großen europäischen Sprachfamilien ausgiebig erforscht und didaktisch aufbereitet, zuerst für die romanische (↗ Art. 85). Vor allem Meißner hat in vielen Veröffentlichungen über die Interkomprehension geforscht: über theoretische Grundlagen, didaktische Aspekte und die Empirie. Empirische Daten wurden vorwiegend mit Hilfe von Laut-Denk-Protokollen (Intro- und Retrospektion) und Portfolios zum Lernverhalten sowie von Interviews, Fragelisten und Testverfahren gesammelt. So wurde festgestellt, dass die Interkomprehension durch geeigneten Unterricht (↗ Art. 80, 81, 82) verbessert werden kann (Marx 2008; Meissner 2010c). Manche Lernende brauchen Training, während erfolgreiche Leserinnen und Leser die Transferbasen oft automatisch finden. Wahrscheinlich hängt dies mit einer höheren Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zusammen. Die Sprach(lern)bewusstheit ist im Falle der Mehrsprachigkeit unterschiedlich entwickelt, je nachdem in welchem Kontext die Sprachen erworben wurden (vgl. Wolff 2006). Faktoren wie Bildung, soziale und affektive Komponenten müssen bei der Deutung der Daten berücksichtigt werden. Die Forschung zur Interkomprehension wurde vorwiegend mit Studierenden durchgeführt, die diese Bewusstheit schon erworben haben. Sie waren daher im Stande, über ihren Erwerb zu berichten. Mehrmals wurde festgestellt, dass Lernende sich bewusst vor allem mit dem Wortschatz auseinandersetzen. Deutschsprachige werden selten Probleme mit der Wortfolge haben, da ihnen alle möglichen Kombinationen von Subjekt-Verb-Objekt aus der Muttersprache bekannt sind. Bei der grammatischen Morphologie müssen allerdings neue Formen erworben werden. Die Versuchspersonen von Meißner & Burk (2001) hatten spontan auf solche Formen geachtet. So wird eine Hypothesengrammatik aufgebaut, die bei weiterem Input der Zielsprache adaptiert wird. 4. Der Einsatz sprachlicher Kompetenzen beim Lernen Kognitive Grundfähigkeiten, wie Dekodier- und Ausdrucksfähigkeit, Textkompetenz und Sprachenbewusstheit sowie der Einsatz des Vorwissens, Kompetenzen, die alle über die Erstsprache - oder eventuell die Schulsprache - vermittelt werden (sollten), sind eine Vorbedingung für die Entwicklung der rezeptiven Sprachkompetenz in einer neu zu erwerbenden Sprache, wobei Problemlösungs- und 327 65. InterkomprehensionundsprachlicheKompetenzen Lernstrategien bewusst eingesetzt werden. Beim Strategieeinsatz muss immer berücksichtigt werden, dass verschiedene Lerntypen vorkommen. Nicht alle Lernenden finden bspw. automatisch Kognaten (d. h. Wörter mit einer gemeinsamen Herkunft), manche finden es auch nach Training noch schwer (↗ Art. 60). Mithilfe von Lernstrategien wird versucht, eine Gedächtnisrepräsentation zu kontrollieren, zu strukturieren und mit dem schon vorhandenen Wissen zu verbinden. Es handelt sich hier um Strategien wie die Verallgemeinerung (so bei den systematischen Lautentsprechungen) oder den interlingualen Transfer (wie Bedeutungsübertragung bei Kognaten). Verallgemeinerung und Transfer vereinfachen den Erwerb durch die Organisation der Kenntnisse. Die Lehrkraft kann dabei steuernd wirken. Vermeidung ist eine Strategie der Vereinfachung, wobei darauf verzichtet wird, unbekannte und verwirrende Informationen zu verarbeiten. Bei schwachen erstsprachlichen Leser ist die Vermeidung die Folge einer ungenügend automatisierten Dekodierebene, bei Lesenden einer Fremdsprache meist die Folge unzureichender Sprachkenntnisse. Eine besondere Form von Vermeidung kommt bei Wörtern mit Kontrastmangel vor. Das sind Wörter, bei denen aufgrund vertrauter Morpheme - inter- oder intralingual bedingt - die Dekodierebene (Form) automatisch verarbeitet wird, ohne dass eine Bedeutungserschließung ausgelöst wird. Auf übergangene Textstellen kann später zurückgekommen werden, um Problemlösungsstrategien einzusetzen, wie um Hilfe bitten, ein Wörterbuch verwenden, eine Hypothese ausprobieren. Wichtig ist es, dass Lernende sehen, welche Wörter sie nachschlagen müssen, weil sie sie für das Textverständnis brauchen. Sie müssen auch die Wörterbuchverwendung lernen (↗ Art. 70). Lernstrategien (↗ Art. 22) werden zudem als bewusste Strategie zum Spracherwerb eingesetzt. Dazu gehören alle Formen des Memorisierens, so die Rezirkulation, wortwörtliches Wiederholen, wiederholtes Abrufen der Information (bspw. einer Wortform) oder erneute inhaltliche Verarbeitung mit Elaborationen (wobei man mehr Weltwissen mit der Form verbindet). Für die Worterkennung brauchen wir den Transfer aus schon (teilweise) erworbenen Sprachen. Wichtig ist, dass die Sprachverwandtschaft oder -nähe nachvollziehbar ist, damit die Lernenden sich trauen, ihr Vorwissen einzusetzen. Wenn keine Transferbase gefunden wird, muss eine kontextbedingte Inferierstrategie unter Einsatz des Weltwissens aushelfen, bzw. die Lehrkraft oder ein Wörterbuch. Wenn mehrere Lautänderungen erforderlich sind, wird die Transferbase oft nicht sofort erkannt. Ein deutsches Beispiel ist „Zeichen“, das englisch token , niederländisch teken entspricht. Jedoch auch, wenn das Verständnis nicht gleich gelingt, das Wissen um die Wortverwandtschaft erleichtert den Erwerb der Wortform und den Bedeutungsabruf (vgl. Reinfried 1998: 48), denn Anknüpfen an Bekanntes ist ein wichtiges Prinzip beim Lernen. Achten auf inhaltliche Logik ist bei der Interkomprehension unumgänglich, um irreführende Kognaten zu entdecken. „Im Wechselspiel von Interferenz und Inferenz ist das nachhaltige Monitoring die entscheidende Instanz“ (Meißner 2010c: 219). Beim Versuch, bei einer Fehldeutung Textkohärenz herzustellen, kommt es vor, dass der Inhalt entsprechend - und damit falsch - adaptiert wird. Spracherwerb bedeutet wiederholten Input. Mehrere Suchbzw. Wiedererkennungsaufgaben zum selben Text erleichtern die Aufgabe. Bei Kleingruppenarbeit in der Klasse können Lernende solche Übungen füreinander 328 MadelineLutjeharms erstellen, was die Verarbeitungstiefe erhöht (Beispiele bei Lutjeharms 1997: 176 f.; vgl. zur Übungsgestaltung auch Meissner 2004: 50 ff.). Die Interkomprehension ermöglicht es Lernenden, selbst Texte für die Verwendung in der Klasse zu suchen, eventuell für die Arbeit in Kleingruppen. Dies ist an sich schon eine Übung. Die Interkomprehensionsmethode eignet sich daher auch für autonomes Lernen. 5. Zur Bedeutung der Interkomprehension innerhalb der Fremdsprachendidaktik Mit der Betonung des Strategieeinsatzes und der Sprachlernbewusstheit gehört die Interkomprehensionsmethode zur kognitiven Wende der 1980er Jahre, deren lernpsychologische Erkenntnisse auch heute noch in der Didaktik dominieren. Als Phänomen ist der Einsatz schon vorhandener Sprachkenntnisse nicht neu, er geschieht meist auch automatisch, wie sich u. a. bei Interferenzen zeigt. Aber mit dem Interkomprehensionsansatz wird das Vorwissen didaktisch maximal ausgenutzt, um den Erwerbsprozess zu fördern. Angst vor Fehlern gibt es nicht. So wird die Schreibfertigkeit bei noch sehr beschränkten Kenntnissen diagnostisch eingesetzt „als Mittel zur Erzeugung von Sprachen- und Sprachlernbewusstheit“ (Meissner 2010c: 200) (↗ Art. 84), damit Lernende sich dessen bewusst werden, welche Sprachkenntnisse sie noch brauchen - und was sie schon können. Die Interkomprehensionsmethode fördert so eine Entdeckungsreise in eine neue Sprache, die allerdings ein Minimum an Transferbasen anbieten soll. Wie groß das Minimum sein muss, ist teilweise lernerbedingt. Literatur Chomsky, N. (1965): Aspects of the Theory of Syntax . Cambridge, Mass. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Hymes, D. H. (1972): On Communicative Competence. In J. B. Pride & J. Holmes (Hrsg.): Sociolinguistics: Selected Readings . Harmondsworth, 269-293. Jude, N. (2008): Zur Struktur von Sprachkompetenz . Frankfurt a. M. Klein, H. G. 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Die Plattform G alanet (www.galanet.eu) bspw. richtet sich an romanophone Muttersprachler und ermöglicht auf Interkomprehension (↗ Art. 65, 70) basierte Interaktionen zwischen Studierenden, die gemeinschaftlich eine mehrsprachige Webseite zu einem bestimmten Thema erstellen (u. a. Degache 2005; 2006). Die Teilnehmer kommunizieren i. d. R. in ihrer Muttersprache (oder in einer nachgelernten Sprache) und verstehen lesend die Beiträge der übrigen User, sodass sich neben dem simultanen Mehrsprachenerwerb auch Möglichkeiten des interkulturellen Lernens eröffnen (↗ Art. 32). Die mehrsprachigen Aushandlungsprozesse finden in Forums- und Chatdiskussionen statt (↗ Art. 102). Zum einen ist die interkomprehensionsbasierte Kommunikation durch das Nebeneinander von Produktion und Rezeption auf der Plattform innerhalb einer interaktionalen Perspektive des Fremdsprachenerwerbs verortbar (vgl. Ollivier & Strasser 2013; Melo-Pfeifer 2015; Prokopowicz 2017). Zum anderen ist die exolinguale Kommunikationssituation ein wesentliches Merkmal mehrsprachiger Lernarrangements, welche sich aus den asymmetrischen Sprachkompetenzen der User ergibt (Melo-Pfeifer 2015). 330 TanjaProkopowicz 2. Zum Forschungsstand Mehrsprachige Lernarrangements stellen innerhalb der Fremdsprachendidaktik ein relativ neues Forschungsfeld dar. Untersuchungen zur romanischen Interkomprehension auf G a lanet belegen, dass sich mit dieser Interaktionsform die Entwicklung mehrsprachiger und mehrkultureller Kompetenz fördern lässt (u. a. Melo 2006). Dies gilt auch für Teilnehmer, die in einer nachgelernten Sprache kommunizieren und nicht dem romanophonen Kulturraum angehören (Prokopowicz 2017). Die Teilnehmer ko-konstruieren Interkomprehension durch Mobilisierung ihres mehrsprachigen Repertoires in der Interaktion (↗ Art. 57). Dabei wird auf alle den Teilnehmern zur Verfügung stehenden Sprachen zurückgegriffen, teilweise auch auf solche, die außerhalb der romanischen Sprachfamilie zu verorten sind (Melo-Pfeifer 2015, Prokopowicz 2017). Melo (2006) macht drei Dimensionen von mehrsprachigen interkulturellen Begegnungen aus: Die sozio-affektive Dimension (z. B. Thematisierung der Sprachlernbiographie oder der eigenen Mehrsprachigkeit, die als common grounds wirken), die kognitiv-verbale Dimension (z. B. Umgang mit Verständnisschwierigkeiten) und die linguistisch-kommunikative Dimension (z. B. Code-Switching ) (↗ Art. 5). In den Interaktionen materialisieren sich demnach Haltungen und Einstellungen gegenüber Sprachen und dem Sprachenlernen, Sprachen werden verglichen, indem die (psycho-)typologische Nähe bzw. Distanz thematisiert wird, außerdem werden Selbst- und Fremdevaluationen der sprachlichen Kompetenzen vorgenommen, was als Zeichen für mehrsprachige Bewusstheit gewertet werden kann (vgl. auch Vela-Delfa 2009; Melo-Pfeifer & Araújo e Sá 2010; Prokopowicz 2017: 319). Durch die Verknüpfung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (↗ Art. 7, 8) kommen in mehrsprachigen Lernarrangements verschiedene kulturelle Perspektiven, Einstellungen und Orientierungen zum Ausdruck, die die Teilnehmer in Forums- und Chatdiskussionen verhandeln (vgl. Araújo e Sá & Melo-Pfeifer 2009; Arismendi 2011). Sprachen und Interkulturalität bieten selbst inhaltliche common grounds , was sich auf der Plattform als produktiv erweist. Dank des mehrsprachigen und mehrkulturellen Settings werden Prozesse des Fremdverstehens (↗ Art. 36) initiiert, die über einen einfachen Vergleich von Ausgangs- und Zielkultur hinausgehen, sodass sich der Erwerb mehrkultureller Bewusstheit bzw. Kompetenz anbahnen lässt. Forschungen zu interkomprehensionsbasiertem Spracherwerb und interkulturellem Lernen im Chat zeigen allerdings auch, dass das interkulturelle Lernpotential nur ansatzweise ausgeschöpft wird. So werden interkulturelle Themen von Brisanz (sog. Tabuzonen) umgangen (Degache & López Alonso 2007; Araújo e Sá & Melo-Pfeifer 2009; Prokopowicz 2017: 323), was sich u. a. damit erklären lässt, dass die Chatteilnehmer zu wenig miteinander vertraut sind. Aus pragmatischer Sicht und im Interesse der Aufrechterhaltung der Kommunikation scheint es daher durchaus nachvollziehbar, bei einem Erstkontakt eher unverfängliche Inhalte zu thematisieren. 3. Praxisrelevanz Die medial vermittelte Kommunikation auf G alanet bietet Zugang zu einer authentischen Form von Sprache, die der in face-toface Begegnungen nahekommt (↗ Art. 103). Chats bedienen sich zwar eines graphischen Codes, weisen aber zahlreiche Ähnlichkeiten 331 66. InterkulturelleKommunikationinmehrsprachigenLernarrangements zu mündlichen Äußerungen auf (u. a. Ellipsen, abrupte Themenwechsel). Des Weiteren kommen im Chat Höflichkeitsaspekte, z. B. Duzen oder Siezen, Begrüßungs- und Verabschiedungssequenzen zum Tragen, die sich kulturell unterschiedlich manifestieren und Ausgangspunkt für interkulturelle Vergleiche sein können (vgl. Álvarez Martínez & Devilla 2009). Innerhalb mehrsprachiger Lernarrangements können interkulturelle Begegnungen eine offene Haltung gegenüber den beteiligen Sprachen und Kulturen fördern (Prokopowicz 2017: 307; Melo 2017), denn die sprachliche und kulturelle Vielfalt auf der Plattform wird von den Teilnehmern i. d. R. als positiv erachtet. Des Weiteren begünstigt der unstrukturierte mehrsprachige Input Bedeutungsaushandlungen, die als spracherwerbsfördernd gelten. So zeigen die Chatteilnehmer im Falle von Verständnisproblemen, deren Auslöser ein nicht transferierbares bzw. nicht erschließbares Lexem ist, wechselseitige Anpassungsleistungen in Form von Erklärungen, Vereinfachungen, metasprachlichen Kommentaren oder Paraphrasierungen (Álvarez Martínez 2008; Melo 2006; Prokopowicz 2017: 320) (↗ Art. 7). Weiterhin ist in einem interaktionalen Lernarrangement die Anwendung von Produktions- und Interaktionsstrategien bedeutend. Ollivier & Strasser (2013) nennen neben den o. g. Strategien zur Bedeutungsaushandlung Strategien zur Verständnissicherung und zur Aufrechterhaltung der Kommunikation (Nachfragen bei Nichtverstehen, Bitte um Erklärung etc.). Ferner begünstigt das mehrsprachige Setting Code-Switchings , die einen Ausgangspunkt für Sprachvergleiche darstellen (↗ Art. 5). Diskussionen über Ähnlichkeiten und Unterschiede von Sprachen sind - nicht nur - für Melo-Pfeifer (2017) Ausdruck metakommunikativer und metasprachlicher Kompetenz. Das mehrsprachige, interaktionsbasierte Setting lässt also kognitive und metakognitive Einblicke in den Fremdsprachenerwerb zu und trägt somit auch zur Ausbildung von Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) bei (Prokopowicz 2017: 324). 4. Perspektiven Empirische Daten (↗ Art. 85) belegen, dass aus Sicht der Sprachenlerner von interkulturellen Begegnungen in mehrsprachigen Lernarrangements ein motivierender Charakter ausgeht, der auf der authentischen Kommunikationssituation sowie der sprachlichen und kulturellen Vielfalt beruht. Untersuchungen aus dem romanischen Kontext zeigen, dass sich interkomprehensionsbasierte Kommunikation auf der Plattform auch gewinnbringend in schulischen Lehr-/ Lernkontexten einsetzen lässt, was auf den deutschen Schulkontext durchaus übertragbar erscheint. Voraussetzung sind allerdings hinreichende Kenntnisse in mindestens einer der beteiligten Sprachen. Zum einen ließe sich so die in den Curricula postulierte individuelle Mehrsprachigkeit der Schüler und Schülerinnen fördern. Zum anderen könnten interkulturelle Begegnungen initiiert werden, anhand derer face-to-face Begegnungen vorbzw. nachbereitet werden könnten. Literatur Álvarez Martínez, S. (2008): Interacciones sincrónicas escritas en línea y aprendizaje del español: caracterización, perspectivas y limitaciones. Universidad de Lleida / Université Stendhal Grenoble. Álvarez Martínez, S. & Devilla, L. (2009): Les stratégies de politesse dans les chats plurilingues. In: M. H. Araújo e Sá, R. Hidalgo 332 TanjaProkopowicz Downing, S. Melo-Pfeifer et al. (Hrsg.), 177-196. Araújo e Sá, M. H. & Melo-Pfeifer, S. (2009): La dimension interculturelle de l’intercompréhension: négociation des désaccords dans les clavardages plurilingues romanophones. In: M. H. Araújo e Sá, R. Hidalgo Downing, S. Melo-Pfeifer et al. (Hrsg.), 117-150. Araújo e Sá, M. 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Eine explorative Fallstudie zu romanischer Mehrsprachigkeit aus der Sicht deutschsprachiger Studierender. Tübingen. Vela Delfa, C. (2009): La gestión de los malentendidos en los intercambios plurilingües. In: M. H. Araújo e Sá, R. Hidalgo Downing, S. Melo-Pfeifer et al. (Hrsg.), 165-176. Tanja Prokopowicz 67. Materiale Grundlagen der (romanischen) Mehrsprachigkeit Der Begriff Mehrsprachigkeit hat viele Facetten (↗ Art. 6, 7) und sehr unterschiedliche Referenzen. Er kann entweder auf ein einzelnes Individuum, eine Gesellschaft oder auf bestimmte Sprachen bezogen sein, sich aber auch auf Kompetenzniveaus oder einzelne Teilfertigkeiten beziehen (↗ Art. 18, 43). Auch eine Differenzierung etwa nach dem Alter der betreffenden Personen oder nach dem Zeitpunkt des (Mehr-)Spracherwerbs ist möglich, da sich die Mehrsprachigkeitskompetenz in Abhängigkeit vom Alter nicht nur in ihrer Ausprägung, sondern auch hinsichtlich der altersbedingt unterschiedlichen Register und Pragmatik unterscheidet. Daneben kann der Begriff auch eine bereits vorhandene, noch zu erwerbende oder zu erweiternde Mehrsprachigkeit bezeichnen. Für Sprachkompetenz sind zumindest zwei Ressourcendomänen konstitutiv: die grundsätzliche menschliche Sprachbegabtheit und das Vorhandensein hinreichender funktionaler Elemente in der entsprechenden Sprache - (hör)verstehend und sprechend, eventuell auch lesend und schreibend. Mehrsprachigkeitskompetenz ist eine umfassende kommunikative Kompetenz, bei der alle sprachlichen Ressourcen eines Individuums interagieren; sie ist hochdynamisch, verändert sich ständig und ist individuell in jeder Sprache unterschiedlich ausgeprägt und diversifiziert. So kann eine mehrsprachige Person neben ihrer Muttersprache eine zweite, dritte, gar vierte Sprache in allen Teilkompetenzen beherrschen, und weitere Sprachen nur rezeptiv. Um erfolgreich zu kommunizieren, müssen die verfügbaren lexikalischen, grammatikalischen und funktionalen Mittel in einer Sprachhandlung zusammengebracht werden. Der Identifikationstransfer in einer ‚fremden‘ Sprache und die Bewusstmachung seiner Rückwirkungen auf das eigene mehrsprachige mentale Lexikon (↗ Art. 62) gehören zu den zentralen Aspekten des sprachenvernetzenden Lernens und der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 56, 64). Diese Art des Transfers liegt zudem in der Natur des Spracherwerbs und ist schon beim Erwerb einer ersten Sprache vielfach zu beobachten. I Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik 334 ChristinaReissner Vor diesem Hintergrund sind mehrsprachige Inputanalysen von hoher Relevanz, insbesondere für die Identifikation und Beschreibung von materiellen, d. h. linguistischen und didaktischen Transferbasen in bestimmten Sprachenpaaren und/ oder Sprachenkombinationen aus unterschiedlichen sog. Brückensprachen und Zielsprachen. Der Gedanke ist nicht neu, aber die Methoden und Instrumente der didaktischen Sprachbeschreibung und Steuerung sind es durchaus. Sie lenken den Blick sowohl auf den interkomprehensiv basierten Lernprozess als auch auf den Input in den Ausgangs-, Brücken- und Zielsprachen. War der fachdidaktische Diskurs der letzten Jahrzehnte vom Leitsatz „der Prozess ist das Produkt“ bestimmt und immer noch ‚monolingual‘ ausgerichtet im Sinne von ,Deutsch und Zielsprache‘ und unter systematischem Ausblenden der lernerseitigen Mehrsprachigkeit, so gilt doch ebenso ‚ohne angemessene materiale Substanz können Prozesse und Strategien bzw. Lernhandlungspläne nicht platzgreifen‘. Dabei ist das ,Zusammendenken‘ und Vernetzen aller sprachlichen Ressourcen i.S. der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) unerlässlich. 1. Der EuroCom-Ansatz Für den mehr als achthundert Millionen Menschen umfassenden romanischen Sprachraum wurden mehrere Werke vorgelegt, die sich sprachenübergreifend mit dem gemeinsamen materiellen Kern der romanischen Sprachen auseinandersetzen (u.a. Klein & Stegmann 1999; Schmidely et al. 2001; für den Wortschatz Meißner 2016). Ihnen gingen ähnlich ausgerichtete Publikationen voraus (u.a. Delattre 1965; Sommer 1930; ↗ Art. 58). Weitere viel beachtete Darstellungen des romanischen Inventars stammen aus romanischen Ländern, zumeist in Gestalt von einschlägigen Lehrwerken. Während sich diese in erster Linie an ein romanophones Publikum richten und vorrangig das vermitteln, was für Romanischsprachige nicht augenfällig interkomprehensibel ist, stellt EuroComRom zunächst das in den Fokus, was die romanischen Sprachen gemeinsam haben und entwickelt Korrespondenzregeln und Analogien; es werden aber auch diejenigen Phänomene thematisiert, die die Sprachen voneinander unterscheiden. Die von Horst G. Klein und Tilbert D. Stegmann an der Frankfurter Goethe-Universität entwickelten Sieben Siebe präsentieren die romanischen Sprachinventare in sieben Kapiteln. Sie beruhen auf Horst G. Kleins Konzept der Eurocomprehension (EuroCom), das die großen europäischen Sprachenfamilien umfasst. Dies erklärt die Ausweitung von EuroComRom auf EuroComGerm und EuroComSlav. EuroCom bietet den wohl prominentesten Ansatz der deutschsprachigen Interkomprehensionsdidaktik, der auch in der Romania breite Beachtung gefunden hat (auch Meißner et al. 2004). Eurocomprehension kann in einem Vereinten Europa wesentlich zu einem besseren Verständnis und Verstehen der europäischen Diskurse beitragen (↗ Art. 9). Als pluridisziplinäres Projekt umfasst EuroCom nicht nur verschiedene linguistische Disziplinen (Reissner 2007), sondern auch die Sprachlehrforschung, vertreten durch Euro- ComDidact (www.eurocomdidact.eu). EuroComRom ist heute an der Universität des Saarlandes angesiedelt (Claudia Polzin- Haumann und Christina Reissner; www.eurocom.uni-saarland.de), EuroComGerm an der TU Darmstadt (Britta Hufeisen). Zum Euro- Com-Projekt gehört auch die von Horst G. Klein, Britta Hufeisen, Franz-Joseph Meißner, Tilbert D. Stegmann, Claudia Polzin- 335 67. MaterialeGrundlagender(romanischen)Mehrsprachigkeit Haumann und Lew Zybatow im Shaker-Verlag (Aachen) herausgegebene Reihe der Editiones EuroCom. Das Konzept der Eurocomprehension entspricht der Sprachenpolitik der EU (↗ Art. 12). Seit ihren Anfängen ist die Euro- Com-Gruppe national und international auch in der Lehrerfortbildung präsent. 2. Die Sieben Siebe des EuroComRom und EuroComGerm Das in vielen Sprachen vorliegende Grundlagenwerk EuroComRom - Die Sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können erschien in erster Auflage 1999. Die Sieben Siebe bieten auch für andere Sprachfamilien ein Muster zur Beschreibung didaktisch nutzbarer Transferbasen (↗ Art. 64). So entstand im Jahr 2007 unter der Leitung von Britta Hufeisen und Nicole Marx EuroComGerm an der TU Darmstadt (↗ Art. 68). Ein Repertoire für slawische Transferbasen haben Tafel et al. (2009) zusammengestellt. Die Sieben Siebe wurden in Linguistik-Seminaren für Studierende der Frankfurter Romanistik entwickelt. In die Vorarbeiten flossen neben den sprachwissenschaftlichen Grundlagen auch die reichen Erfahrungen der Autoren aus der akademischen Lehre ein. Die die linguistischen Beschreibungen ergänzenden Lerntipps und Übungen wurden mit unterschiedlichen Studierendengruppen vielfach erprobt. (↗ Art. 72). Die Originalität des EuroComRom-Konzepts zeigt sich in der Art, wie es den Bestand einer Sprachenfamilie unter sieben Aspekten erfasst, „siebt“ und ordnet: I. Internationaler Wortschatz, II. Panromanischer Wortschatz, III. Lautentsprechungen, IV. Graphien und Aussprachen, V. panromanische syntaktische Strukturen, VI. Morphosyntaktische Elemente, VII. Prä- und Suffixe (Eurofixe). Die einzelnen Kapitel haben zahlreiche Unterkapitel, etwa „Lateinisch basierte Suffixe in der Romania“ (Klein & Stegmann 1999: 6) oder „Romanische Profilwortliste“ u.a.m. Innerhalb der Lexis greifen allerdings die einzelnen Kategorien nicht immer trennscharf, viele Elemente des panromanischen Wortschatzes sind auch international verbreitet. Aus Sicht der Gebrauchsforschung und der auf Interkomprehension ausgerichteten Lehre sind insbesondere die Lautentsprechungen (Sieb III) und die Orthographien und Aussprachen (IV) für den interkomprehensiv basierten Spracherwerb hilfreich. Denn wer formähnliche Bedeutungsadäquanzen in verschiedenen Sprachen „demaskieren“ kann, vergrößert seine lernrelevanten lingualen und didaktischen, das Lernwissen betreffenden Ressourcen - und damit letztlich auch seine Sprachlernkompetenz. Um ihren deskriptiven Kern herum gruppieren die Sieben Siebe didaktische Materialien, die den Identifikationstransfer erleichtern und den Kompetenzerwerb unterstützen: Beispiele, Übungstexte und Lerntipps. Die Sieben Siebe beschreiben die Sprachen Französisch, Italienisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rumänisch und Spanisch. Eine jede dieser Sprachen wird in einem Mini-Porträt vorgestellt. Die weitgehend nach dem romanistischen Vorbild aufgebauten und von Hufeisen & Marx herausgegebenen Sieben Siebe des EuroComGerm beschreiben Dänisch, Isländisch, Niederländisch, Norwegisch (Bokmål) und Schwedisch. Der Band versammelt die Expertise von neun Autorinnen oder Autoren. An einigen Universitäten ist der interkomprehensive Ansatz Teil der Fremdsprachenlehreraus- und -fortbildung (↗ Art. 27), so z.B. im Saarland und in Gießen. Die akademische Lehre wird dabei häufig gestützt von Euro- 336 ChristinaReissner ComRom und EuroComDidact, in Darmstadt und Lüttich von EuroComGerm, in Innsbruck von EuroComSlav. Auch die Förderung von Sprachlernkompetenz steht dabei im Fokus (↗ Art. 22). Vielfach besteht Interesse von Schulen an entsprechenden Kursen und Projekten (↗ Art. 71; Polzin-Haumann & Reissner 2019). Auch in die Übersetzer- und Dolmetscherausbildung hat die Interkomprehensionsdidaktik Eingang gefunden (EuroComTranslat, L. Zybatow). Es ist zu wünschen, dass summative und formative Tests zur Mehrsprachigkeitskompetenz sowie eine valide Zertifizierung entwickelt und institutionalisiert werden (www. evalic.eu; ↗ Art. 83). Hierbei können die oben genannten Inventare wichtige Instrumente sein; ebenso bei der Entwicklung eines Lehr- und Lernzielkatalogs für Mehrsprachigkeit und Sprachlernkompetenz, wobei auch der Referenzrahmen für Plurale Ansätze für Sprachen und Kulturen (↗ Art. 20) herangezogen werden sollte. 3. Der Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM) Die Kenntnis von Wörtern ist entscheidend für das Verständnis von Texten (vgl. Lutjeharms 2004). So zeigen empirische Daten aus Interkomprehensionsprozessen durchgehend, dass sowohl das Leseals auch das Hörverstehen bei der Identifikation von Wörtern in einer ‚unbekannten‘ Sprache beginnen. Dass die Sieben Siebe den pädagogisch relevanten romanischen Wortschatz nur unzureichend abbilden konnten, liegt nicht nur in der Dimensionierung des Grundlagenwerkes begründet. Die heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten der Computerlinguistik erlauben die Erfassung einer damals unvorstellbaren Anzahl von tokens und deren Lemmatisierung und bieten damit ganz andere Grundlagen für die Erstellung eines mehrsprachigen Kernwortschatzes. Grundwortschätze - laut lexikalischer Frequenzforschung zumeist Inventare von Vokabeln unterhalb eines Frequenzrangs von 2000 - und Kernwortschätze - unter 5000 - gelten seit nahezu hundert Jahren als wirksame Instrumente für das Erlernen des frequenten Wortschatzes einer Fremdsprache. Die Zusammenstellung erfolgt durch die Erfassung von Frequenz- (Häufigkeit), Dispersions- (Verbreitung) und Disponibilitätsdaten (Verfügbarkeit). Die Computerlinguistik hat der Kompilation solcher Listen aufgrund der ungeheuren Breite der nun erfassten Formen ( tokens ) über alle Register einer Sprache hinweg, einschließlich solcher der lange vernachlässigten Mündlichkeit, eine nie gekannte Reliabilität verliehen, was die überkommene Skepsis gegenüber den Minimalwortschätzen obsolet macht (vgl. Kühn 1990; Abel 2006). Mit dem Kernwortschatz der Zielsprachen Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch sowie den disambiguierenden Sprachen Deutsch und Englisch zzgl. der Etyma erweitert der KRM die bislang vorhandene, monolinguale pädagogische Frequenzlexikographie um mehrsprachige Makro- und Mikrostrukturen. Ihre Frequenzklassen werden aus den einzelnen Zielsprachen gewonnen werden (sind also keine bloße Übersetzung des Minimalwortschatzes einer einzigen Zielsprache [Oehler 1974] und beruhen nicht auf reinen Utilitätseinschätzungen [Eaton 1940]). Der Weg zur Erstellung eines Mehrsprachen-Kernwortschatzes darf mithin als ein lexikographisches Novum bezeichnet werden (Meißner 2016). Er umfasst folgende Schritte: 1. Selektion der zielsprachlichen Inventare aus computerlexikographisch kom- 337 67. MaterialeGrundlagender(romanischen)Mehrsprachigkeit pilierten Frequenzwörterbüchern und von pädagogischen Experten zusammengestellten Basiswortschätzen der romanischen Sprachen innerhalb der Bereiche <2000 und <5000, und zwar Zielsprache nach Zielsprache, 2. Anordnung des bedeutungsadäquaten Vokabulars in sechssprachigen Serien, 3. intraserielle Klassifizierung der Lemmata pro Zielsprache nach vier Transparenzstufen, 4. Markierung der Serien und Lemmata nach ca. 50 pädagogisch oder lexikologisch relevanten Kriterien, 5. makrostrukturelle Vernetzung der semantischen Merkmale durch Aufnahme von in den einzelnen Serien ungenannt gebliebenen Synonymen aus unterschiedlichen Sprachen mit Verweis auf die Serien, in denen die Synonyme vorkommen, 6. Erweiterung der Serien um disambiguierende deutsche und englische Bedeutungsadäquanzen. Die ca. 9555 Serien umfassende elektronische Datenbank erlaubt dynamische ad hoc-Visualisierungen, sodass in den KRM-Apps vergleichende Kontraste und Komputationen zu bestimmten Sprachenpaaren und Sprachenkombinationen (die auf das lernrelevante linguale Vorwissen der Nutzer einerseits und deren weitere Sprachlerninteressen andererseits abheben) automatisch zusammengestellt und präsentiert werden können. Dies ermöglicht es, das individuelle Lerninteresse der Nutzer zu berücksichtigen („Ich kann/ Meine Schülerinnen können Deutsch als Muttersprache, Englisch und Französisch auf B1-Niveau: Liefere alle Wörter des Kernwortschatzes Italienisch, die ich/ sie noch nicht verstehen/ erschließen kann/ können.“). Zu den 853 seriell interlingual opaken Profilwörtern gesellen sich 1488 Profilwörter, die nicht aus gänzlich opaken Serien stammen (Typ: beaucoup, molto, muito, mucho, much ). Wer nun auf der Grundlage seiner Deutsch- und operablen Englischbzw. Französischkenntnisse in Kenntnis dieser opaken Wörter an die Lektüre italienischer Tageszeitungen geht, wird wenig Schwierigkeiten haben, ihre Texte zu verstehen. Und pädagogisch gilt im Prinzip: Mehr komprehensibler Input führt zu mehr Intake, der neu gewonnene Intake wiederum zu mehr Input usw. (nach Mason & Krashen 1997). Die Schnittmenge der summiert mindestens 45.000 rangfrequentesten Wörter aus vier romanischen Zielsprachen liefert die Grundlage für zukünftige Optimierungen des lexikalischen Inputs. Dies betrifft auch sog. Interligalexe (↗ Art. 60). Sie umfassen die morphologischen und vor allem lexematischen Elemente, die Wörter einer Serie minimal miteinander verbinden: affli-ction, afli-çāo, afli-cción, affli-zione, affli-ction - to afflict, affliger, affliggere, pt./ sp. afligir - (Kernbedeutung: bedrücken, betrüben, belasten) - to inflict, infliger, infliggere, pt./ sp. infligir (zufügen, auferlegen) - engl./ frz. infliction, inflizione, infliçāo, ( inflicción ); air, ar-, air-e, ar-ia . Die Serien zeigen zunächst die Varianz der Korrespondenzen ( af-fli-, in-fli-, air-/ ar- ), in phonetischer Realisierung / afl-/ bzw. / eɾ/ oder / eʀ/ , evtl. variiert; sodann der Suffigierungen ( -ction, -çāo, -cción, -zione ). Das didaktisch nutzbare Potenzial besteht in der fokussierten Präsentation und Nutzung der Interligalexe in neuartigen Übungsformaten, die rasch intraserielle Identifikations- oder Zugriffsroutinen ausbilden helfen. Wie die Reihungen zeigen, lässt sich auch bei den Interligalexen das Prinzip des Filterns und der dadurch bewirkten Lernökonomie anwenden: Die Varianz von +fli+, affli-/ afli-, infli- bzw. und die von air/ ar erlaubt allein im vorliegenden Beispiel die Reduktion von mehrmals fünf bedeutungsäquivalenten lexematischen Elementen aus fünf Sprachen auf zwei oder drei Interligalexe. Dies macht die ökonomisierende Potenz der Interligalexe sichtbar. Dabei erhöht die Kenntnis der 338 ChristinaReissner phonologischen Korrespondenzen (vgl. drittes und viertes Sieb, s.o.) den Erkennungserfolg und kann als Grundlage für das lesende und hörende Verstehen von Komposita in vielen Sprachen dienen. Die Kompetenz, Wörter zu entschlüsseln, ist unerlässlich für die Ausbildung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22). * Den Anschub für die Erstellung eines mehrere romanische Sprachen umfassenden Grundwortschatzes lieferte das EU-finanzierte Miriadi-Projekt (2012-2015). Der Grundwortschatz der Romanischen Mehrsprachigkeit (GRM) und eine erste Lernapp wurden 2015 fertiggestellt. Die App ist unter https: / / www.miriadi.net/ vocabulaire-fondamental-du-plurilinguisme-roman bzw. unter https: / / miriadi.eurocomdidact. eu aufrufbar. Im Unterschied zum KRM umfasst der Grundwortschatz lediglich das Frequenzrang-Intervall <2000. Ermöglicht wurden die weitere Entwicklung zum KRM und dessen Finanzierung durch die Abgabe der Rechte an ein Software-Unternehmen. Daher ist die Datenbank selbst nicht frei zugänglich. Die kostenfrei nutzbaren Apps werden von dieser geschützten Datenbank gespeist und bauen Serie für Serie neue Aufgaben auf. Dabei können die Nutzer eine bestimmte Zielsprache oder alle romanischen Zielsprachen gemischt ansteuern. Die Kompilation und Selektionsmuster des Datenbestandes wurden in mehreren Publikationen eingehend erörtert (Meißner 2016; 2018a/ b). Die Lernapps sind über Android- und Windows-Systeme via GOOGLE Play oder www.eurocomdidact.eu zugänglich. Die für die einzelnen Lerner und deren Lernsitzungen jeweils individuell zusammengestellten variierenden Übungen umfassen deren gesamten Bestand; ‚ungelöste‘ Fälle werden zeitversetzt erneut vorgelegt. Die Konstruktion von KRM-basierten Übungsformaten ist vorgesehen. Die KRM-Datenbank ist für den Erwerb einer mehrsprachigen romanischen Lesekompetenz angelegt (↗ Art. 76). Ihre Mikrostruktur zielt nicht unmittelbar auf die Unterstützung des Erwerbs von Sprech- oder Schreibkompetenz, hierzu wären weitere Informationen wie Aussprachemuster, Definitionen, Kollokativität, Valenz usw. erforderlich. Das Einüben und Trainieren interkomprehensiver Strategien über den mehrsprachigen Wortschatz bietet sich insbesondere im Rahmen des reflexiven Lernens an und kann etwa im regulären Englisch- oder Französischunterricht gewinnbringend eingesetzt werden. 4. Ausblicke auf die Materialforschung zur Interkomprehensionsdidaktik Die didaktische Aufgabe der Inputoptimierung verbindet sich in der Mehrsprachigkeitsdidaktik mit zahlreichen Themen: Vernetzung des sprachlichen Inputs über die einzelnen Sprachfächer hinaus, Altersspezifik bzw. Sprachen-, Sprachlernerfahrungen und Mehrsprachenlernen, Wirkung von schulischen Sprachenfolgen auf den Aufbau der Mehrsprachigkeit in longitudinaler Sicht, Optimierung des lexikalischen Inputs im Sinne der Mehrsprachigkeit von Beginn des gesteuerten Spracherwerbs an, usability -Forschungen zu den in der Interkomprehensionsdidaktik gebräuchlichen Übungsformaten zur Verbesserung des autonomen Lernens, Rolle der materialen Hilfsmittel (Wörterbücher, Konkordanzer, praktische Nachschlagegrammatiken), Schulung zur Befähigung von Lehre- 339 67. MaterialeGrundlagender(romanischen)Mehrsprachigkeit rinnen und Lehrern, Mehrsprachenansätze in den eigenen Unterricht zu integrieren. Nicht zuletzt ist die Erstellung von Mehrsprachen-Kernwortschätzen über die Romania hinaus ebenso ein Desiderat wie die Erstellung von materialen Transferinventaren und Sieben für weitere Sprachenfamilien. Literatur Abel, F. (2006): Gemeinsamkeiten im Häufigkeitswortschatz des Französischen, Italienischen und Spanischen. Bericht über ein Experiment. In: H. Martinez, M. Reinfried & M. Bär (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern - heute und morgen . Tübingen, 37-52. Delattre, P. (1965): Comparing the Phonetic Features of English, French, German and Spanish. An Interim Report . Heidelberg. Eaton, H. S. (1940): An English-German-French- Spanish Word Frequency Dictionary. A Correlation of the First Six Thousand Words in Four Single Language Frequency Lists. New York (Neudruck 1967). Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (22014): Euro- ComGerm - Die sieben Siebe: Germanische Sprachen lesen lernen . Aachen. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Krashen, S. (1992): Comprehensible Input and Some Competing Hypothesis. In: R. Courchêne, J. I. Glidden, J. St. John & C. Thérien (Hrsg.): Comprehension-Based Second Language Teaching/ l’enseignement des langues axé sur la compréhension . Ottawa, 19-39. Lutjeharms, M. (2004): Der Zugriff auf das mentale Lexikon und der Wortschatzerwerb in der Fremdsprache. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 33, 10-26. Mason, B. & Krashen, S. (1997): Extensive Reading in English as a Foreign Language. In: System 25/ 1, 91-102. Meißner, F.-J. (2018a): The ‘Core Vocabulary of Romance Plurilingualism’ (the CVRP-Project). In: T. Ambrosch-Baroua, A. Kropp & J. Müller-Lancé (Hrsg): Mehrsprachigkeit und Ökonomie . München, 91-106. Meißner F.-J. (2018b): Die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit. In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 11. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2018/ 13589/ pdf/ GiFon_11.pdf]. Meißner, F.-J. (2016): Der Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit (KRM). In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 7. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2016/ 11950/ pdf/ GiFon_7.pdf]. Meißner, F.-J., Meissner, C., Klein, H.G. & Stegmann, T.D. (2004): Les sept tamis. Lire les langues romanes dès le départ. Avec une introduction à la didactique de l’eurocompréhension . Aachen. Oehler, H. (1974): Grundwortschatz Deutsch - Essential German - Allemand fondamental . Stuttgart. Polzin-Haumann, C., Reissner, C. (2019): Annäherung an die Fremdheit: Sprachgrenzen überwinden. In: Wowro, I., Jakosz, M., Koziel, R. (Hrsg.): Sprachliche Dimensionen der Fremdheit und Andersartigkeit . Berlin, S.29-43. Reissner, C. (2007): Die romanische Interkomprehension im pluridisziplinären Spannungsgefüge . Aachen. Schmidely, J. (coord.) (2001): De una a cuatro lenguas del español al portugués, al italiano y al francés . Madrid. Sommer, F. (1930): Vergleichende Syntax der Schulsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Lateinisch) . Leipzig, Berlin. Tafel, K., Durić, R., Lemmen, R. et al. (2009): Slavische Interkomprehension - Eine Einführung . Tübingen. Christina Reissner 340 NicoleMarx-&RobertMöller 68. Die Sieben Siebe für EuroComGerm 1. Begrifflichkeit Die Idee des EuroCom-Ansatzes liegt darin, mit Hilfe der Kenntnis einer Sprache aus einer Sprachfamilie Texte in anderen Sprachen dieser Familie zu erschließen. Mit der Metapher des ‚Siebs‘ ist gemeint, dass in Texten in den unbekannten Sprachen die Elemente gefunden (‚herausgesiebt‘) werden, die über Ähnlichkeit Bekanntem zugeordnet werden können. Idealerweise liefert das ‚Sieben‘ auf verschiedenen Ebenen (Lexikon, Morphologie, Syntax) insgesamt eine ausreichende Menge an Durchschaubarem, um den Inhalt eines Texts inferieren zu können. Im Vordergrund steht also das Erwerben von Strategien und Selbstvertrauen, um die Gemeinsamkeiten wahrzunehmen; damit das ‚Sieben‘ gelingen kann, müssen allerdings auch gewisse Kenntnisse der betreffenden Sprachen (v. a. der phonologischen Entwicklung und der orthographischen Konventionen) vermittelt werden. Je nach Nähe zwischen bekannter und unbekannter Sprache ist darüber hinaus noch mehr oder weniger Vermittlung von spezifischen grammatischen Strukturen und nicht erschließbarem Wortschatz nötig, damit Textverstehen möglich wird. Bei den germanischen Sprachen ist in den meisten Fällen einiges an solchem Zusatzwissen nötig (↗ Art. 79, 81). Das EuroCom-Konzept visiert im Prinzip ein Eröffnen des Lese-Zugangs (↗ Art. 76) für eine ganze Sprachfamilie an, auf dem Weg über ein Mitglied der Familie, das beherrscht wird und als ‚Brückensprache‘ zum Verständnis der übrigen führt. Welche der germanischen Sprachen sich hierfür am besten eignet, wäre schon wegen der Untergruppierungen innerhalb der Familie nicht einfach zu bestimmen. In der Praxis erscheint aber vor allem sinnvoll, an verbreitet vorhandene Sprachenkenntnisse anzuknüpfen; das Englische bietet allerdings durch den starken romanischen Einfluss im Wortschatz keinen optimalen Zugang zu anderen germanischen Sprachen. EuroComGerm geht vom Deutschen als Haupt-Brückensprache aus und berücksichtigt zusätzlich auch das Englische (↗ Art. 97, 98). Es spricht allerdings einiges dafür, klarer zwischen einem Zugang über die L1 und einem Zugang über eine (weniger gründlich beherrschte) L2 als ‚Brückensprache‘ zu unterscheiden: Vor allem für das Erschließen von Wortschatz spielen periphere Teile des Lexikons eine wichtige Rolle, teilweise gilt das auch für grammatische Archaismen. Gerade dies sind Bereiche, in denen (gute) muttersprachliche Kenntnisse besonders weit über (gute) fremdsprachliche Kenntnisse hinausgehen. 2. Problemaufriss Der EuroCom-Ansatz setzt v. a. darauf, dass die Benutzer Unbekanntes in Beziehung zu Bekanntem setzen. In welchem Umfang das möglich ist, hängt zum einen davon ab, was bekannt ist, zum anderen davon, ob die Herstellung der Beziehung gelingt. Beides ist beim derzeitigen Forschungsstand schwierig einzuschätzen (↗ Art. 85). Über Kenntnisse der betreffenden Sprachen und allgemeine language awareness hinaus ist auch Wissen und Erfahrung hinsichtlich Kognatenbeziehungen (↗ Art. 60) und Varietätendifferenzen relevant, Kenntnisse und Fertigkeiten, die dem Individuum oft gar nicht bewusst sind. Dazu 341 68. DieSiebenSiebefür EuroComGerm kommt, dass ein nur partiell gelingendes Erschließen in sehr unterschiedlichem Maß als Erfolgserlebnis (oder demotivierendes Nichtverstehen) wahrgenommen wird. Für die Darstellung in einem einzigen, obendrein autodidaktisch verwendbaren Einführungswerk sind hier Entscheidungen zu fällen, die weitgehend auf pauschalen Annahmen über mögliche Zielgruppen beruhen: Sollen die Nutzer eher durch leichte Erfolgserlebnisse motiviert werden (mit dem Risiko von Enttäuschungen in der Praxis) oder eher tatsächlich zum Verstehen von Texten befähigt werden (mit dem Risiko von Abschreckung durch Informationsfülle und/ oder zu hohe Erwartungen)? Welcher Stellenwert sollte (schon in einer Einführung) dem selbstständigen Entdecken zukommen, das in der Interkomprehension im Prinzip ja sehr weit führen kann und soll, und wo sind umgekehrt die Grenzen des realistischerweise Erwartbaren? Sind verzichtbare Zusatzinformationen zu interlingualen Beziehungen - etwa den Hintergründen für Bedeutungsunterschiede bei Kognaten u. ä. - der Gewöhnung an diesen Zugang und dem Interesse förderlich (Zielgruppe ‚Liebhaber‘), oder ist eine Reduktion auf das praktisch Notwendige vorzuziehen (Zielgruppe ‚Nutzer‘)? Über solche Grundsatzentscheidungen hinaus ist auch im Detail die Einschätzung schwierig, welche Beziehungen leicht erkannt werden können und welche Informationen unabdingbar sind. Für Autoren, die seit langer Zeit über das einschlägige einzelsprachliche und/ oder sprachhistorische Wissen verfügen, ist es kaum möglich, sich wieder in die Wahrnehmung von Laien hineinzuversetzen. In der ersten Auflage des EuroComGerm- Basiswerks wurde angestrebt, einem relativ breiten Spektrum von Nutzerinteressen gerecht zu werden. Die entsprechende Akkumulation von Informationen mit verschiedener Funktion, einerseits Hinweise auf relativ Durchsichtiges zu Motivationszwecken, andererseits neues Wissen, das für ein echtes Verstehen durchschnittlicher Texte gebraucht wird, ergab dabei eine Informationsfülle, die sich in den bisherigen Praxisversuchen als abschreckend und schwer handhabbar erwiesen hat. Dies betrifft z. B. die phonologischen Entsprechungen zwischen den verschiedenen Sprachen und der Brückensprache Deutsch: Die Kenntnis dieser Beziehungen ist für die Erkennung germanischer Kognaten zwar im Prinzip sehr wichtig, eine extensive, listenartige Darstellung von Korrespondenzen scheint jedoch unpraktikabel (s. Berthele et al. 2011). Für die Neuauflage 2014 wurde daher eine Reduktion auf die frequentesten Entsprechungen vorgenommen und Erkenntnisse aus empirischen Studien zur Laien-Intuitionen bei der Kognatenerkennung einbezogen. Allerdings ist ein gänzliches Übergehen von offenbar ‚naheliegenden‘ phonologischen Beziehungen zugunsten einer Konzentration auf die intuitiv weniger zugänglichen auch problematisch, da einige der „näherliegenden“ sehr zentral und quantitativ relevant sind (2. Lautverschiebung). Zudem wäre allgemein eine stärkere Beachtung der phonologischen Ähnlichkeit wichtig, um ein Korrektiv zu rein semantisch basierten Strategien zu liefern. In der Neuauflage wurde daher versucht, hilfreiche Intuitionen durch Explizitmachen in Form einiger grundsätzlicher ‚Faustregeln‘ zu bestärken. 3. Forschungsstand Der Schwerpunkt der Arbeit mit den Sieben Sieben für EuroComGerm lag in der Erstellung eines didaktischen Basiswerks zur Ver- 342 NicoleMarx-&RobertMöller wendung in Unterrichtskontexten (↗ Art. 70, 71). Da das Unterfangen sich als recht umfangreich erwies, steht eine entsprechend breite empirische Überprüfung noch aus. Bislang durchgeführte Studien fokussieren auf das Erschließen unbekannter germanischer Sprachen bei ungeschulten und geschulten Lernern. Bei ungeschulten Lernenden wurden Effekte sowohl linguistischer Merkmale der untersuchten Sprachen als auch individueller Merkmale der Probanden untersucht. Mit Bezug auf linguistische Merkmale von Kognaten (↗ Art. 60) konnte erstens gezeigt werden, dass Kognaten ein unterschiedliches Erschließungspotenzial aufweisen. So werden bei der isolierten Kognatenpräsentation nicht nur Lexeme mit nur wenigen abweichenden Segmenten leichter erkannt, sondern bestimmte Veränderungen wie Anhängen oder Tilgen oder Ersetzen von t durch d oder umgekehrt bereiten offenbar weniger Mühe als andere. Besonders Konstanz des Artikulationsorts von Konsonanten scheint intuitiv angenommen zu werden, was den tatsächlichen Verhältnissen bei germanischen Kognaten entspricht (vgl. Möller 2011; Möller & Zeevaert 2010). Ob weitere Erforschung der beteiligten Faktoren eine Voraussage des Erschließungserfolgs möglich machen kann, ist bislang unklar. Kommentare von Probanden weisen jedenfalls darauf hin, dass die phonologischen Intuitionen nur als ein Assoziationspfad unter anderen betrachtet werden und ihnen beim Erschließen im Textzusammenhang vorwiegend semantische Plausibilität als Kriterium dient (Möller & Zeevaert 2015). Zweitens scheint es differenzierte Erfolgsquoten in Bezug auf die zu erschließende Sprache zu geben. So konnten Untersuchungen zur kontextualisierten globalen und lexikalischen Erschließung der EuroComGerm-Fokussprachen zeigen, dass deutsche Studierende einen deutlich höheren Erfolg beim Erschließen des Niederländischen (Marx 2012) bzw. des Niederländischen und des Schwedischen (Marx 2007) erfahren als beim Dänischen, Norwegischen und insb. Isländischen, wo sie deutlich höhere Hürden passieren müssen, um zu einem Textverständnis zu gelangen. Unterschiede zwischen Probandengruppen konnte Berthele 2008 nachweisen. Dabei wurde das Erschließen von kontextualisierten sowie nicht-kontextualisierten, isolierten Lexemen sowie von Texten im Niederländischen durch Standardsprechende des Deutschen mit Dialektsprechern aus der Schweiz verglichen. Dabei konnten Dialektsprecher mehr, spontaner und korrekter unbekannte niederländische Lexeme erschließen und einen niederländischen Lesetext besser verstehen als Probanden ohne Dialektkenntnisse. Ob dies an der Mehrsprachigkeitserfahrung der Personen per se liegt, bleibt noch weiter zu untersuchen; so konnte Marx 2012 keinen Zusammenhang zwischen bloßer Sprachenanzahl und Erschließungserfolg nachweisen. Empirische Untersuchungen zum Erfolg von EuroComGerm-Kursen stehen weitgehend aus. In zwei Pilotierungen wurde von Duke & Marx ein selbsttragender Kurs im Umfang von ca. 24 Unterrichtsstunden in Masterseminaren empirisch untersucht. Trotz eines quantitativ und qualitativ ähnlichen Fokus auf alle Sprachen wurde deutlich, dass sich ein sehr hoher Lernerfolg bei Niederländisch abzeichnete, ein mittlerer bei den Sprachen Dänisch, Norwegisch und Schwedisch und kaum Lernzuwachs bei Isländisch zu verzeichnen war. Dies birgt sicherlich auch Konsequenzen für den Einsatz solcher Kurse und stellt ein klares Forschungsdesiderat dar. 343 68. DieSiebenSiebefür EuroComGerm 4. Praxisrelevanz, Anwendungsfelder und Einschränkungen Ein Interkomprehensionsansatz (↗ Art. 56) mit stark linguistisch ausgerichteter Vorgehensweise erfordert einen Rezipientenkreis, der nicht nur ausreichend Kompetenzen in beiden Ausgangssprachen - Englisch und Deutsch - mitbringt, sondern auch linguistisch vorgebildet und interessiert ist. Nicht überraschend ist daher, dass gerade diese Zielgruppe für die Autoren von EuroComGerm im Vordergrund stand. In Anlehnung an den Vorreiter EuroComRom, der im Rahmen von universitären Lehrveranstaltungen der Gesamtromanistik entwickelt, erprobt und eingesetzt wurde (↗ Art. 67), standen vornehmlich Studierende germanistisch-skandinavistischer oder linguistischer Fächer als potentielle Leser im Vordergrund. Das Basiswerk wurde zudem nicht als didaktisches oder gar kurstragendes Lehrwerk konzeptualisiert, auch wenn (v. a. in der Auflage von 2014) diverse Übungsgelegenheiten einbezogen wurden. Vielmehr fungiert es als Grundlage für eine zielgruppenorientierte Didaktisierung. Erfahrungen mit dem Einsatz als kurstragendes Werk in Germanistik- und Linguistikseminaren zeigten schnell, dass auch bei älteren, linguistisch vorgebildeten Zielgruppen das Basiswerk ohne weitere Materialien und ohne eine deutliche Reduzierung des Stoffes nicht unterrichtlich umsetzbar war. Noch deutlicher wird dies, wenn das Konzept nicht mit sprachaffinen Erwachsenen, sondern mit Schulkindern erprobt wird. So sind z. B. die durch Kordt 2015 entwickelten Materialien zum Einsatz in Projektwochen der 6. und 7. Klasse nur im Gröbsten auf das Basiswerk zurückzuführen - und führen trotzdem, ja wahrscheinlich gerade deswegen, zu einer gelungenen Einführung in die germanischen Sprachen auch bei diesen jungen Lernenden. Vielversprechend erscheint der Ansatz für einen partiellen Einbezug im Rahmen anderer Fächer oder als Beispiel für Verwandtschaften zwischen unterschiedlichen Sprachen, z. B. im Rahmen eines Eveil aux langues -Ansatzes (↗ Art. 79, 81). 5. Perspektiven Der EuroComGerm-Ansatz birgt Potenzial für unterschiedliche Praxiskonstellationen; es wird aber gleichzeitig deutlich, dass das Basiswerk sich nicht als kurstragendes Material eignet und je nach Zielgruppe differenzierte und didaktisch reduzierte Inhalte mit entsprechenden Materialien zu entwickeln sind. Hierfür bieten die bereits entwickelten, jedoch nicht öffentlich zugänglichen Materialien aus den unterschiedlichen Praxisversuchen einen Ansatzpunkt. Literatur Berthele, R. (2008): Dialekt-Standard Situationen als embryonale Mehrsprachigkeit. Erkenntnisse zum interlingualen Potenzial des Provinzlerdaseins. In: K. Mattheier & A. Lenz (Hrsg.): Dialektsoziologie-/ Dialect Sociology-/ Sociologie du Dialecte . Tübingen, 87-107. Berthele, R., Colliander, P., Duke, J. et al. (2011): Zu den Grenzen des EuroCom-Konzeptes für EuroComGerm: Zwischenfazit. In: W. Pöckl, I. Ohnheiser & P. Sandrini (Hrsg.): Translation - Sprachvariation - Mehrsprachigkeit. Festschrift für Lew Zybatow zum 60. Geburtstag . Frankfurt, 482-498. 344 NicoleMarx-&RobertMöller Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (2014): Euro- ComGerm-- Die sieben Siebe: Germanische Sprachen lesen lernen . 2. Aufl. Aachen. Kordt, B. (2015): Sprachdetektivische Textarbeit. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 4, 4-9. Marx, N. (2007): Interlinguales Erschließen von Texten in einer unbekannten germanischen Fremdsprache. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 18/ 2, 165-182. Marx, N. (2012): Reading across the Germanic Languages: Is Equal Access Just Wishful Thinking? In: International Journal of Bilingualism 16/ 4, 467-483. Möller, R. (2011): Wann sind Kognaten erkennbar? Ähnlichkeit und synchrone Transparenz in der germanischen Interkomprehension. In: Linguistik online 46, 79-101. Möller, R. & Zeevaert, L. (2010): ‚Da denke ich spontan an Tafel‘ - zur Worterkennung in verwandten germanischen Sprachen. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 21/ 2, 217-248. Möller, R. & Zeevaert, L. (2015): Investigating Word Recognition in Intercomprehension. In: Linguistics 53/ 2, 313-352. Nicole Marx-& Robert Möller 69. Schulische Sprachenfolgen und Grundlegung der europäischen Mehrsprachigkeit 1. Aufriss Neben den Alten Sprachen boten die Bildungsgänge der weiterführenden Schulen im Deutschland des 19. Jahrhunderts vor allem Französisch- und Englischunterricht an (↗ Art. 29). Übergeordnetes Lehrziel war die mehr oder weniger weit gefasste Kenntnis dieser Sprachen in Wort und Schrift (passim: Christ & Rang VII, 1985). Angesichts der damals fehlenden psycholinguistischen Erkenntnisse und unterrichtstechnischen Möglichkeiten sowie eines reduzierten Verständnisses von Mündlichkeit standen vor allem das Lesen und das Schreiben im Fokus. Das Sprechen war kaum an interkultureller Kommunikation orientiert. Zwar berücksichtigte die Steuerung des Unterrichts durchaus praktische Lehrerfahrungen, doch war sie weder durch eine überprüfbare Empirie begleitet noch untermauert. Spezielle Curricula und Lehrangebote zur Förderung einzelner Teilkompetenzen oder der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 6, 7) waren nicht verbreitet. Als Ausdruck formaler Bildung waren die Inhalte an Ausschnitten der Literatur und Realienbzw. Landeskunde (↗ Art. 35) orientiert. Echte Lernerorientierung spielte explizit weder als Lehrziel (Sprachlernkompetenz) noch als entscheidender Faktor in der unterrichtlichen Variablenkomplexion eine Rolle (↗ Art. 22). So blieb die Anlage des modernen Fremdsprachenunterrichts ‚zielsprachlich-monolingual‘ und die neben der Muttersprache zumindest durch Latein-, Englischund/ oder Französischunterricht aufgebaute Mehrsprachigkeit allen- 345 69. SchulischeSprachenfolgenundGrundlegungdereuropäischenMehrsprachigkeit falls additiv (additive Mehrsprachigkeit). Methodisch war die Nähe zum Lateinunterricht (↗ Art. 92) unübersehbbar. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. ist eine naive Orientierung am Ideal des nativen Sprechers unverkennbar und die anhaltende Diskussion um Interferenzerscheinungen währt bis weit in die 1980er Jahre hinein. Erst die Paradigmata der interkulturellen Kommunikation und des interkulturellen Lernens haben die Situation verändert (↗ Art. 32, 33). Besonders kraftvolle Impulse gingen vom Europäischen Zusammenschluss aus. Hiervon profitiert bis heute das Lehrziel Mehrsprachigkeit. 2. Administrative Regelungen in Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland wurden das Schulsprachenangebot und die -sprachenfolge im Hamburger Abkommen i. d. F. von 1971 in § 13 geregelt: 1. Fremdsprache kann demzufolge im gymnasialen Bildungsgang eine lebende Fremdsprache oder Latein sein. Ist Englisch nicht in erster Position, so folgt es obligatorisch in zweiter. Mit der Reform der Gymnasialen Oberstufe (1972 ff.) und der Einführung des Kurssystems verband sich eine Öffnung des Schulsprachenangebots, wovon insbesondere sog. Tertiärsprachen (Spanisch, Italienisch, Russisch und weitere) profitierten (↗ Art. 86). Der Fremdsprachenunterricht der DDR blieb bis in die 1960er Jahre einseitig am Russischen (↗ Art. 94) ausgerichtet, um sich danach insbesondere für das Englische, weniger für das Französische zu öffnen. Die nicht-gymnasialen Bildungsgänge nahmen nur eine Fremdsprache in die Obligatorik, wobei die Realschulen traditionell Französisch fakultativ anboten. 2011 erinnert die KMK einmal mehr an die mehrfach erhobene Forderung des Europarates (2008: 2), „dass für junge[n] Menschen […] ein breit gefächertes und hochwertiges Unterrichtsangebot in den Bereichen Sprachen und Kultur bereit steht, das sie […] in die Lage versetzt, mindestens zwei Fremdsprachen zu beherrschen“ (auch Europäische Kommission 1995). Doch in der Umsetzung bleibt das geforderte Angebot hinter den Möglichkeiten der Diversifizierung zurück (Destatis 2017). Auch der Forderung, dass möglichst viele Europäer neben der Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen lernen (↗ Art. 12), kommen die deutschen Länder nur teilweise nach: Zum einen werden nicht an allen Schulformen zwei Fremdsprachen in die Obligatorik genommen und zum anderen tritt Latein nach wie vor in Konkurrenz zu den modernen Fremdsprachen außer Englisch, zumeist jedoch zu Französisch, so dass ein beachtlicher Anteil der Abiturienten (auch Beckmann 2016: 22) lediglich Kenntnisse in nur einer einzigen modernen Fremdsprache (Englisch) erwirbt (↗ Art. 21). Insgesamt zeigen die Belegungen von Fremdsprachenunterricht in Deutschland ein äußerst unterschiedliches Bild (Meißner & Lang 2005). 3. Individuelle Mehrsprachigkeit in globaler Vielsprachigkeit Längst trifft die Vielsprachigkeit Europas auf eine zunehmend plurilokale Lebenspraxis einer nicht unbedeutenden Zahl von Menschen, was neben Englisch und Französisch weitere Sprachen ins Spiel bringt. Hierzu gehören auch die Migrantensprachen, etwa Arabisch, Italienisch, Farsi, Lingala, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch u. v. a. m.; sodann die Nachbarsprachen der deutschsprachigen Länder: Dänisch, Französisch, Italienisch, 346 ChristineBeckmann Niederländisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ungarisch (↗ Art. 100, 106); sodann die autochthon-regionalen Sprachen, etwa Friesisch (↗ Art. 122) oder Sorbisch (↗ Art. 124) in Deutschland, Katalanisch (↗ Art. 91) oder Baskisch in Spanien, Sardisch in Italien usw. Grundsätzlich genießen alle Sprachen der Europäischen Union einen gewissen Status als Fremdsprachen, wie sich den Sprachenberichten der KMK und den Veröffentlichungen des Europarats entnehmen lässt (↗ Art. 12). Nicht nur wirtschaftliche Daten belegen, dass auch exotische Sprachen (als Fremdsprachen), allen voran Chinesisch, weltweit an Boden gewinnen. Natürlich lassen sich Sprachen nicht auf ein bloßes einzelnes Etikett (Migration, Nachbarsprache, Weltsprache, Familiensprache, Feriensprache usw.) reduzieren. Obwohl prinzipiell keine unterscheidende kulturelle Wertigkeit von Sprachen ethisch vertretbar ist (vgl. die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen [1992]), handelt es sich auf dem sog. Markt der Sprachen, metaphorisch ausgedrückt, um Mammute, Elephanten und Mücken (Meißner 2008). Und natürlich benötigen die Menschen in einer globalisierten Welt eine weltweite lingua franca (wie Englisch; Crystal 1997), die, ohne ein Sesam-öffne-dich zu allen Kulturen zu sein, vielen Menschen eine zumindest basale (oder mehr) Kommunikation erlaubt (↗ Art. 13, 97, 98). Bislang war nur von Sprachen die Rede, nicht von deren Funktion in den vielfältigen Formen interkultureller Kommunikation. Nationale Sprachen, erst recht ‚regionale‘ Sprachen und Varietäten, bringen Menschen unterschiedlicher Kulturen einander näher, als dies eine fremde Sprache oder lingua franca und das Fehlen von gemeinsamen Themen oder eines gemeinsamen Grundwissens ( common grounds ) bewirken können. Die Linguistik unterscheidet in diesem Sinne Nähe- und Distanzsprachen (Koch & Oesterreicher 1985). Nähesprache unterstützt die Entfaltung von Wir-Gefühlen. 4. Intelligente Wege zu einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit Das Konzept der Eurokomprehension antwortet auf das Desiderat der Europäischen Union einer diversifizierten Mehrsprachigkeit (Bär 2004). Es bedeutet, dass die operable Kenntnis einer Sprache einer großen europäischen Sprachenfamilie neben der Muttersprache die Ressoucen liefert, um eine Ausweitung auf rezeptive Kompetenzen in weiteren Sprachen derselben Familie zu erlauben. In diesem Sinne unterscheidet die EuroCom-Gruppe zwischen den Sektionen EuroComGerm, -Rom und -Slav (↗ Art. 67, 68). Das europäische Bildungsziel „Muttersprache plus mindestens zwei Fremdsprachen“ verlangt die Konkretisierung erreichbarer Lehrziele, effiziente Lernwege und damit die Setzung eines entsprechenden Inputs. Letzteres schließt die Sprachenfolgen ein, denn sie entscheiden mit darüber, über welche Ressourcen Lerner möglichst zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Lernbiographie verfügen. Lernpsychologisch versucht die Interkomprehension das lernerseitig lernrelevante, oft allerdings träge Vorwissen zu aktivieren. Dieses Vorwissen gilt seit Jahrzehnten als einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Lernen. Nach dem Kompetenzmodell des RePA (2009) (↗ Art. 20) umfasst es sowohl das (mehr) sprachliche als auch das allgemeine Weltwissen sowie volitionale und auf Sprachlernkompetenz bezogene Ressourcen. Die Ressourcen selbst sind innerhalb der interaktiven Dimensionen von Wissen, Können und Volitionalität loziert. 347 69. SchulischeSprachenfolgenundGrundlegungdereuropäischenMehrsprachigkeit Das inferentielle Lernen, welches interkomprehensiven Verfahren zugrunde liegt, verlangt eine Anordnung des Inputs im Sinne der übereinzelsprachlichen Lernökonomie. Entscheidend ist, dass Lerner frühzeitig mit Elementen vertraut werden, die einen translingualen Identifikationstransfer erlauben. Dies ist nicht ohne Sprachenbewusstheit möglich, wie sie sich mit interkomprehensiven Strategien stark verbindet. Blickt man in dieser Perspektive auf die möglichen Ausprägungen europäischer Mehrsprachigkeit und den Interkomprehension zugrunde liegenden sprachlichen Transferbasen (↗ Art. 64), so ergeben sich aus linguistischer Sicht drei fokussierbare Typen einer anzustrebenden europäischen Mehrsprachigkeit (Meißner 1993), die folgender Tabelle zu entnehmen sind: TYPUSundLehrziel MS ZS 1.FS 2.FS 3.FS Lesek. Umfassendeeurop. Mehrsprachigkeit DE * RU EN FR slaw.oder/ und roman.Lesek. DE * EN FR RU Erweitertewesteurop. Mehrsprachigkeit DE * FR EN IT roman. Lesek. DE * EN SP FR Erweiterteosteurop. Mehrsprachigkeit DE * RU EN PO slaw. Lesek DE * EN PO RU Die Zweitsprache (z. B. die Sprache der Familie in heterolingualer Umgebung) eröffnet Transfermöglichkeiten, die hier nicht abgebildet werden können. Notabene: Das Modell setzt voraus, dass neben der Muttersprache (hier DE) zwei Fremdsprachen mit umfassender operabler Kompetenz (Lesen, Hörverstehen, Schreiben und Sprechen) verfügbar sind. Es ist ganz im Sinne einer abgestuften und diversifizierten Mehrsprachigkeit, wenn weitere Sprachen, auch mit eingeschränktem Kompetenzziel - Lesen z. B. - angeboten werden. Es war bislang von den sprachlichen Ressourcen als möglichen Transferbasen die Rede. Ebenso wichtig wie die sprachlichen sind selbstverständlich auch die sprachlernbezogenen Ressourcen (Sprachlernkompetenz) und solche, welche die Motivation, fremde Sprachen - und zwar mehr als nur eine - betreffen. Wie sehr das Sprachlernerlebnis mit dem Erlernen verschiedener Sprachen zu tun hat und welche Rolle dabei auch Sprachenfolgen spielen, zeigt Düwells (1979) Begriff der motivationalen Interferenz. Leider bleiben die Richtlinien und Lehrpläne der Länder z.T. weit hinter dem sinnvollen Angebot zurück (↗ Art. 21). Literatur Bär, M. (2004): Europäische Mehrsprachigkeit durch rezeptive Kompetenzen. Konsequenzen für Sprach- und Bildungspolitik. Aachen. Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht. Eine quantitative Analyse der Einstellungen von Schülern und Studierenden. Tübingen. Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti, V. et al. (2009): Referenzrahmen für Plurale MS=Muttersprache; ZS=Zweitsprache; FS=Fremdsprache.ImPrinzipkannRUdurchjedeandere slawischeSprache,FRdurchjedeandereromanischeSpracheersetztwerden 348 ChristineBeckmann Ansätze zu Sprachen und Kulturen . Graz, Straßburg. [http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C4_RePA_090724_IDT.pdf]. Christ, H. & Rang, A. (Hrsg.) (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Tübingen. Crystal, D. (1997): English as a Global Language . Oxford. Destatis (2017): Schüler/ innen mit fremdsprachlichem Unterricht. Statistisches Bundesamt (Bildung, Forschung, Kultur) . [https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ BildungForschungKultur/ Schulen/ Tabellen/ AllgemeinBildendeBeruflicheSchulenFremdsprachUnterricht. html; jsessionid=33466EBE6A2B2067CDFD- 788FAD171711.InternetLive2]. Düwell, H. (1979): Fremdsprachenunterricht im Schülerurteil. 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M. Christine Beckmann 70. Interkomprehensionsmethode, Aufgaben- und Übungsformate 1. Begrifflichkeit und Problemaufriss Im Zuge der Kompetenzorientierung hat die terminologische Unterscheidung zwischen einer „Aufgabe“ und einer „Übung“ an Bedeutung gewonnen. Mit Caspari et al. (2008: 86) kann festgehalten werden, dass Lernaufgaben auf eine (Weiter-)Entwicklung von Kompetenzen abzielen. Diese umfassen neben den funktional kommunikativen Kompetenzen auch die Sprachlernkompetenz und das interkulturelle Lernen (↗ Art. 43). Aufgaben stehen zu 349 70. Interkomprehensionsmethode,Aufgaben-undÜbungsformate Übungen in einer hierarchischen Beziehung in dem Sinne, dass „Übungen als Elemente der Vorbereitung auf eine komplexere Aufgabe“ (Leupold 2007: 113) aufgefasst werden können. Übungen sind darüber hinaus stärker formfokussierend und geschlossen, wohingegen Aufgaben offen(er) und bedeutungsfokussierend sind. Die Relation lässt sich wie folgt verdeutlichen: Die Aufgabe ‚die Sprache X lesend zu verstehen‘ verlangt die Identifikation von interphonologischen Korrespondenzregeln (z. B. frz. -èin lateinisch offener Silbe entspricht oft romanisch -a-: père , padre , cher , caro, chenal, canale < PA-TRE(M), CA-RU(S), CANALI(S)). In Anlehnung an die Merkmale einer task nach Rod Ellis (2003: 9) lässt sich eine äußerste Nähe der Interkomprehensionsmethode zum task based language learning ausmachen (vgl. Meißner & Tesch 2011: 99 für Interkomprehension als ein Eingangsmodul für das Spanische mit dem Ziel eines Aufbaus von Lesekompetenz und einer basalen Grammatik). Die Affinität interkomprehensiver Methoden zu Aufgabenorientierung zeigt sich neben der in beiden Kontexten betonten Authentizität von (Text-)Material und Aufgabenstellungen in dem Ziel der Eigentätigkeit der Lernenden und deren eigener Steuerung von Lernaktivitäten am deutlichsten: Unter ‚Aufgabe‘ ist ein mehr oder weniger umfangreiches Lernarrangement zu verstehen, das die Lernenden mit realitätsnahen, alltagsbezogenen Handlungssituationen konfrontiert, innerhalb deren Themen bearbeitet, Problemsituationen bewältigt und Ergebnisse erzielt werden sollen. (Mertens 2010: 7) 2. Aktueller Stand der Entwicklungen Bei den Aufgaben- und Übungsformaten der Interkomprehensionsdidaktik stehen die lernerseitige Identifikation von so genannten Transferbasen und das Self-Monitoring bei der Bearbeitung einer Aufgabe im Vordergrund (Meißner 2010). Unter lingualer Transferbasis (↗ Art. 64) wird die deklarative und/ oder prozedurale Kenntnis einer lexematischen oder einer grammatischen Regularität verstanden, die Lernern die Interkomprehension bzw. den Erwerb einer weiteren Fremdsprache erleichtert. Diese Lernerleichterung kann sich sowohl auf rezeptive als auch produktive Kompetenzen sowie Sprachlernkompetenz beziehen und sowohl proals auch retroaktiv wirksam werden. Gerade weil Interkomprehension ein Phänomen ist, das sich nicht auf institutionelle Kontexte beschränkt, sondern auch außerhalb dieser als eine Kommunikationsform vorkommt, bedarf es für den Unterricht konkreter Aufgaben- und Übungsformate, damit die Nachhaltigkeit sprach(lern)bezogener Beobachtungen unterstützt wird und es nicht bei inzidentellen Entdeckungen bleibt (etwa wenn eine englischkundige Person in Italien ein Schild mit der Aufschrift „Attenzione! “ sieht und auf der Grundlage von attention versteht, dass vor etwas gewarnt wird). Zu den zentralen Formaten gehören das persönliche mehrsprachige Wörterbuch, lexikalische Serien, die Hypothesengrammatik und mehrsprachiges diagnostisches Schreiben (↗ Art. 84). Das Format Eurodeutsch (der Ersatz von Wörtern mit germanischer Wurzel durch Kognaten, z. B. Marine statt Seefahrt ) sensibilisiert für Sprachenbrücken, die der deutsche Bildungswortschatz bereitstellt. Sie alle haben die Funktion, Transferprozesse in Gang zu setzen, zu systematisieren und zu strukturieren, zielen jedoch auf 350 SteffiMorkötter jeweils andere Erkenntnisziele (s. u.). Auch das vor allem als Forschungsinstrument bekannte Laut-Denk-Protokoll, bei dem Lernende dazu aufgefordert werden, während der Bearbeitung einer Aufgabe ihre diesbezüglichen Gedanken, Beobachtungen und (meta)sprachlichen Hypothesen zu verbalisieren, nimmt im Interkomprehensionsunterricht eine wichtige Rolle ein. Es steht insofern in gewisser Weise quer zu den bereits angeführten Aufgaben- und Übungsformaten, als beispielsweise während der Bildung lexikalischer Serien oder des mehrsprachigen diagnostischen Schreibens usw. laut gedacht werden kann, d. h. der Versprachlichung von Überlegungen wiederum verschiedene Aufgaben- und Übungsformate zugrunde liegen können bzw. müssen. Das persönliche mehrsprachige Wörterbuch orientiert sich am individuellen sprachlichen Vorwissen und den Fragen der Lernenden zum Wortschatz. Es kann in tabellarischer Form umgesetzt werden, wobei die erste Spalte für Lemmata der jeweiligen Zielsprache vorgesehen ist und in weiteren Spalten Entsprechungen in anderen Sprachen; etwa der Muttersprache, der Herkunftssprache, zuvor oder parallel gelernter Fremdsprachen. Eine solche serielle Anordnung formähnlicher Lexeme erlaubt es unter anderem, zwischensprachliche Regularitäten zu erkennen, wie beispielsweise die Suffixe dt./ engl./ frz. -ation , sp. -ación , it. -azione, poln. acja . russ. -а́ ция usw. In einer Variante des mehrsprachigen Wörterbuchs enthält dieses eine letzte Spalte für Notizen und Anmerkungen, in der sprachliche Beobachtungen festgehalten werden können (z. B. „it. pantaloni steht im Plural wie trousers “) und die der Fehlerprophylaxe dient („Achtung, falscher Freund! “). Im Sinne eines erweiterten Vokabelheftes können auch Bedeutungsentsprechungen in das persönliche Mehrsprachenwörterbuch eingetragen werden, die keine Formähnlichkeit aufweisen, beispielsweise, um zur Pflege von Kenntnissen in (distanten) Herkunftssprachen beizutragen. Der Zweck des Übungsformats der lexikalischen Serien betrifft die Zuordnung von bedeutungsähnlichen Lexemen. Diese können entweder formkongruent ( possibility , possibilité , posibilidad… ) oder formdivergent ( probabilidade , verosimiltud , Wahrscheinlichkeit ) sein. Das Format soll Schülerinnen und Schüler für interphonologische Regelmäßigkeiten ( -ity , -ité , -idad , s. auch oben zu -ation ) und Abweichungen sensibilisieren und ihre Fähigkeit zum Wiedererkennungs- und Produktionstransfer fördern. So kann das Wissen, dass s+Konsonant im Deutschen, Englischen und Italienischen ( Student, studente ) häufig e+Konsonant im Französischen, Portugiesischen und Spanischen ( étudiant, estudante, estudiante ) entspricht, die Identifikation von Wörtern wie école oder escuela aus Schule, it. scuola erleichtern. Zugleich deutet die Varianz auf die Veränderung des Artikels im Italienischen hin ( lo studente, aber il lago ). Die Zuordnung von Wörtern kann auf der Grundlage von Wortlisten erfolgen (s. z. B. Meißner & Tesch 2011: 108), bei jüngeren Lernern lässt sie sich in Form eines Wörterpuzzles umsetzen. Die konkrete Auswahl der Wörter hängt von den Zielsetzungen ab, die mit den lexikalischen Serien verfolgt werden. Für fortgeschrittene Lerner ist auch gerade die Kenntnis von sog. opaken Serien wichtig, da sie die Dekodation eines Textes in einer ‚unbekannten‘ Sprache behindern (während Transparenzserien oft automatisch erkannt werden). Solche Profilwörter sind z. B. dt. zerquetschen , engl. to smush/ crush , frz. écraser , ital. schiacciare oder span. aplastar . Das kleinste gemeinsame Formelement einer interlingualen Transferbasis betrifft die Interligalexe, die unterschiedliche Wortklassen miteinander verbinden 351 70. Interkomprehensionsmethode,Aufgaben-undÜbungsformate können (sp. continuación , fr. continuer , dt. kontinuierlich ). Schließlich kann das Format der lexikalischen Serien auch Sprachfamilien bewusstmachen ( Fisch , fish , vis - poisson, pesce, pescado - рыба, ryba, ryba ). Auch die Hypothesengrammatik hat ihr Format. Sie dient dazu, Hypothesen zur Morphosyntax der Zielsprache festzuhalten und zu strukturieren. Wie das persönliche mehrsprachige Wörterbuch sollte sie ebenfalls den gesamten Lernprozess begleiten. Sie ist dynamisch und wird bei jeder Begegnung mit interkomprehensivem Material weiterentwickelt. Auch sie kann tabellarisch angelegt werden. In der ersten Spalte können verschiedene grammatische Kategorien wie Artikel, Substantiv und Adjektiv angegeben werden, in der zweiten dann Ähnlichkeiten und systematische Unterschiede zu anderen Sprachen. Die dritte Spalte ist für Notizen, Anmerkungen und vor allem auch für noch offene Fragen vorgesehen. Die Hypothesengrammatik bildet die Entwicklung der Lernersprache ab. Ihre Dynamik ergibt sich unter anderem aus den vorhandenen Transferbasen (↗ Art. 64). Auch hier wirkt eine fehlerprophylaktische Komponente: fr. le sang anders als sp. la sangre. (Auch wenn der Genuswechsel für das Verständnis (in diesem Fall) irrelevant ist, schadet das Wissen um diesen nicht.) Die Hypothesengrammatik umfasst auch ungelöste Fragen, die im Zusammenhang mit einem später zu bearbeitenden Text beantwortet werden. Bei der Aufgabe des mehrsprachigen diagnostischen Schreibens (↗ Art. 84) geht es darum, erschlossenes Sprachwissen (Hypothesen), erkannte zwischensprachliche Regularitäten, aber auch Wissenslücken (Lakunen) durch Sprachproduktion sichtbar zu machen. Es zeigt Lernern klipp und klar, was sie in der Zielsprache wissen, was nicht und was sie wissen müssten/ wollen. Durch Vergleichs- und Transferoperationen sind sie aufgefordert, auf der Grundlage ihrer Transferbasen beispielsweise einen französischen Satz in ihre neue Zielsprache Spanisch zu übertragen. Dabei kommt es nicht auf die normrichtige Verwendung der Zielsprache an, sondern allein darauf, die eigene Lernersprache bzgl. der Zielsprache X zu identifizieren. Hieraus kann dann ein weiterer Lernplan entwickelt werden. Dieses Vorgehen ist der Interlinearübersetzung aus der unbekannten Zielsprache verwandt (↗ Art. 6). Die Identifikation von Transferbasen und die Bildung und Überprüfung von Hypothesen spielen auch hier eine große Rolle. Das didaktische Potential dieses Aufgabenformats zeigt sich in der Klärung semantischer und funktionaler Kontrastpaare in der Brücken- und der Zielsprache. Diagnostisches Schreiben führt zu einer tiefen sprachlichen Bewusstheitsbildung, konkretisiert an disambiguierten Strukturen und Sprachhypothesen. So müssen sich Lerner bspw. im Falle der Produktion der spanischen Entsprechung von je suis zwischen soy und estoy entscheiden. Bei der Rezeption hingegen können beide Verben in der Regel durch den Ko- und Kontext als „bin“ erkannt werden. Allerdings wird sich schon bald die Frage stellen, warum es manchmal ser und manchmal estar heißt. Und i. d. R. werden Lerner dieser Frage nachgehen, eventuell indem sie Konkordanzer und mehrere Ko-Texte zur Klärung heranziehen. Wie alle Formen des fremdsprachlichen Schreibens kann auch das diagnostische Schreiben den Fokus auf Selbstkorrektur und den Umgang mit Nachschlagewerken (elektronischen und papiernen Wörterbüchern, Lernergrammatiken) legen, d. h. darauf, dass Lerner sich eigene Fragen wie zu sp.: „* camera ? oder cámara “ bzw. ser oder estar ? “ selbst zu beantworten lernen. Gebündelt kann eine solche Recherche gut in Partner- oder 352 SteffiMorkötter Gruppenarbeit durchgeführt werden (↗ Art. 85), wie auch alle anderen interkomprehensiven Aufgaben- und Übungsformate. So können Lernende sich über ihre (meta-)sprachlichen Beobachtungen austauschen. Für alle Aufgaben- und Übungsformate der Interkomprehensionsdidaktik ist es unerlässlich, nicht ‚nur‘ die Produkte der interkomprehensiven Arbeit zu betrachten, sondern den Lernern durch ein fragend-forschendes Vorgehen („Wie seid ihr vorgegangen? “; „Wie seid ihr darauf gekommen? “ usw.) die Lernwege bewusst zu machen. Durch eine solche Strategie des language learning awareness raising kann das Übertragen bzw. der Transfer der eingesetzten Strategien auf andere Aufgaben vorbereitet und erleichtert werden (↗ Art. 22). Übersetzungen deutschsprachiger Studierender der Anglistik belegen, wie sehr sich diese des Fremdwortschatzes bedienen (Zimmermann 1990). Den Rückgriff auf solche transferablen kognatischen Formen zu lehren (welche weniger frequent als die germanischen Synonyme sind) geschieht evtl. über Texte im sog. „Eurodeutsch“. Es handelt sich um eine künstliche Varietät, deren einziger Zweck darin besteht, mögliche deutsche Sprachbrücken ins Bewusstsein zu heben (Beispiel: In der Gegend blühen Bäume und Sträucher. > In der Region *floriert die Vegetation. ~ sp. En la región florece la vegetación. / Na regiāo florece la vegetaçāo./ Dans la région la végétation fleurit. ). Solche Strategien bilden rasch entsprechende lexikalische Suchroutinen aus. In den letzten Jahren wurden mehrfach Vorschläge für mehrsprachigkeitsdidaktisch angelegte Aufgaben zur Sprachmittlung publiziert. Auch hier sind Arrangements möglich, in denen interkomprehensible Sprachen betroffen sind (vgl. Schöpp 2013). 3. Praxisrelevanz und Perspektiven Das Ziel, neben der Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen zu lehren/ erlernen (Europäische Kommission 1995) (↗ Art. 12), und die Befähigung zu lebenslangem Lernen unterstreicht die Relevanz des interkomprehensiven Ansatzes und seines Aufgaben- und Übungsinventars. Mehrsprachigkeitsdidaktische Elemente haben mittlerweile Eingang in die Lehrwerke gefunden. Allerdings wirken z. B. Rückverweise auf vorgelernte Fremdsprachen oft willkürlich gesetzt (etwa, wenn in einer Vokabelliste bei sp. anunciar auf engl. to announce verwiesen wird, bei sufrir jedoch nicht auf to suffer ). Auch das Selbst- und Lernmonitoring bzw. die Sprachlernkompetenz werden stiefmütterlich behandelt. Fragen/ Aufgaben wie „ Was ist mir bei dieser Aufgabe/ Übung leicht/ schwergefallen? Was kann ich besonders gut? Was hätte mir noch geholfen? “ werden nur selten gestellt. Von den hier dargestellten Aufgaben- und Übungsformaten ist das mehrsprachige Wörterbuch vereinzelt und nur in Ansätzen in Lehrwerken zu finden. Ansonsten liegen lehrwerkunabhängige Materialsammlungen und Unterrichtsvorschläge vor (z. B. Preker-Franke & Preker 2011; von Kahlden et al. 2015). In Österreich ist die „Interlingual-Reihe“ erschienen für Lerner einer dritten Fremdsprache: Découvrons le français. Französisch interlingual (Rückl et al. 2013). Es liegen Parallelwerke für Italienisch und Spanisch vor. Die Reihe verfolgt ein mehrsprachigkeitsdidaktisches Konzept (↗ Art. 77). In der Materialverwendungsforschung besteht derzeit großer Nachholbedarf. So konnten beispielsweise Heyder & Schädlich (2014: 194; auch Morkötter 2005) in ihrer Befragung niedersächsischer Fremdsprachenlehrender zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität fest- 353 70. Interkomprehensionsmethode,Aufgaben-undÜbungsformate stellen, dass Sprachvergleiche im Unterricht vor allem zwischen der jeweiligen Zielsprache und Deutsch vorgenommen, andere Sprachen aber kaum einbezogen werden, „obwohl […] der Lernförderlichkeit ihrer Integration von den Untersuchungsteilnehmern in hohem Maße zugestimmt wird.“ Wie dieses Ergebnis zeigt, muss eine geringe Berücksichtigung von anderen Sprachen im Fremdsprachenunterricht nicht mit einer ablehnenden Haltung gegenüber interkomprehensiven Ansätzen einhergehen (↗ Art. 26). Fehlende Vergleiche und Suchroutinen könnten auch deshalb fehlen, weil sie im regulären Unterricht nicht angelegt wurden. Literatur Caspari, D., Grotjahn, R. & Kleppin, K. (2008): Kompetenzorientierung und Aufgaben. In: B. Tesch, E. Leupold & O. Köller (Hrsg.): Bildungsstandards Französisch: konkret. Sekundarstufe I: Grundlagen, Aufgabenbeispiele und Unterrichtsanregungen. Berlin, 85-87. Ellis, R. (2003): Task-Based Language Learning and Teaching . 10. Aufl. Oxford. Europäische Kommission (1995): Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung . [http: / / europa.eu/ documents/ comm/ white_papers/ pdf/ com95_590_ de.pdf]. Heyder, K. & Schädlich, B. (2014): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität ‒ eine Umfrage unter Fremdsprachenlehrkräften in Niedersachsen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19/ 1, 183-201. [https: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt. de/ index.php/ zif/ article/ view/ 23/ 20]. 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Definition und Problemaufriss Die einschlägige Forschung hat längst in zahlreichen empirischen Untersuchungen national und international den Mehrwert der Interkomprehensionsdidaktik für die Entwicklung einer mehrsprachigen Lesekompetenz ( plurilingual comprehension ) (↗ Art. 7, 76) und der Sprachlernkompetenz aufgezeigt (↗ Art. 22). In diesem Zusammenhang wurden Lehr- und Lernstrategien entwickelt, erprobt und in mehreren Fallstudien beschrieben. Konstitutiv für das Training einer interkomprehensiven Kompetenz ist das Vergleichen (bzw. Erkennen, Interpretieren, Prüfen) zwischen korrespondierenden Elementen verschiedener Sprachen sowie der eigenen Interkomprehensionshandlung. Die hauptsächlichen Ergebnisse sind: • Entwicklung eines Grades an Lesekompetenz in der Zielsprache in nur wenigen Stunden, der in etwa dem in der starken fremden Brückensprache entspricht • … von Sprachlernkompetenz, die sich in einer höheren Reflexivität des Sprachhandelns und der Lernschritte darlegt • von positiveren Einstellungen gegenüber den Sprachen im eigenen Repertoire, dem Sprachenlernen an sich und Optimierung der Selbstwirksamkeit (passim Bär 2009). Es liegt auf der Hand, dass diese Vorteile nicht nur dem Unterricht und den Unterrichtsphasen nach dem interkomprehensiven Ansatz, sondern dem Fremdsprachenunterricht generell zugutekommen sollten, weshalb eine angemessene Integration dieses Ansatzes in den Unterricht nachdrücklich zu empfehlen ist (↗ Art. 30, 70). 2. Die Integration des interkomprehensiven Ansatzes im Allgemeinen Schulwesen: Zwischen Ist, dem Mehrwert und dem Soll Voraussetzung für eine nicht nur projektunterrichtliche Nutzung der Vorteile des interkomprehensiven Ansatzes (Art. 6, 7) in den Sekundarstufen ist seine Berücksichtigung in den Curricula der benutzten und gelehrten Sprachen, d. h. wenn möglich der Erstsprachen, der Zweitsprachen und der Fremdsprachen (↗ Art. 21). Leider bleibt das deutsche Schulsystem diesbezüglich hinter den Möglichkeiten zurück. So erstaunt es nicht, dass bislang die Interkomprehensionsdidaktik wenig Einzug in den traditionellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe gefunden hat, obwohl seit 2001 mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (↗ Art. 18), im Jahr 2018 ergänzt durch den Begleitband Volume complémentaire avec des nouveaux descripteurs (↗ Art. 19), der Weg für neue didaktische Ansätze geebnet wurde . Entsprechende Konzepte bieten Hufeisen & Lutjeharms (2005) mit den Schlüsselbegriffen Gesamtsprachencurriculum , integrierte Didaktik , Common Curriculum (↗ Art. 14). Der Referenzrahmen für plurale Ansätze (Candelier et al. 2009) bietet Kompetenz-Deskriptoren und wurde für die Lehrerfortbildung optimiert (↗ Art. 20). Reich & Krumm (2013) haben für Österreich ein umfassendes Konzept zu einem Gesamtsprachencurriculum vorgelegt. Hier 355 71. MehrsprachigkeitsförderungdurchInterkomprehensioninderSekundarstufe bieten sich Perspektiven an, die eine Weiterentwicklung des Schulwesens im Sinne der europäischen Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität befördern können. Der Rückstand könnte auf folgende Punkte zurückgeführt werden: die ausschließliche Fokussierung der Interkomprehensionsdidaktik auf die rezeptiven Kompetenzen, die sprachenpolitisch noch fehlende Leitvorstellung der diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit, die Unterschätzung der rezeptiven Mehrsprachigkeit für politische Implikationen (↗ Art. 9) und für das Sprachenlernen, ein naives Verständnis von „Einsprachigkeit“ im Fremdsprachenunterricht bzw. von der Zielsetzung quasi-muttersprachlicher Gesamtkompetenz sowie eine unreflektierte Auffassung von Interferenz und Fehler. Offensichtlich profitieren die Tertiärsprachen am meisten von einer Vernetzung mit den anderen Sprachen (↗ Art. 86). So empfehlen die Richtlinien mancher Bundesländer, die dritte Fremdsprache nach Grundsätzen der „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ zu unterrichten (z. B. Hessen); Nordrhein-Westfalen unterstreicht die Vorteile von „Mehrsprachigkeit“ und „Sprachlernkompetenz“ und nennt für den grundschulischen Unterricht (2012: 75) das Lernziel Sprachenbewusstheit durch „Reflexion und Experimentieren“ (↗ Art. 21). Allerdings verstecken die Richtlinien und Kernlehrpläne zumeist den Begriff Interkomprehension hinter Mehrsprachigkeit, Mehrsprachigkeitsdidaktik und Sprachlernkompetenz . Sie ignorieren damit die Strategien des zur Sprachlernkompetenz führenden Vergleichens korrespondierender zwischensprachlicher Bestände. Dabei ist dieses Vergleichen Ausdruck des lernerseitigen Wunsches der Disambiguierung sprachlicher Strukturen und damit sowohl eine Strategie des Sprachenwachstums als auch der Fehlerprophylaxe. So fallen die Richtlinien hinter einen Stand zurück, der sich mit der Entdeckung der Lernersprache ( Interlanguage ) verbindet (Selinker 1972). 3. Der interkomprehensive Ansatz zu Förderung von mehrsprachiger Lesekompetenz und Sprachlernkompetenz (verstecktes Lernwissen sichtbar machen) Die Ähnlichkeiten zwischen Sprachen herauszuarbeiten kann nicht nur für die wirkungsvolle Erweiterung der individuell vorhandenen mehrsprachigen Lesekompetenz, sondern auch zur Erhöhung der Sprachlernkompetenz genutzt werden. Während für die mehrsprachige Lesekompetenz (↗ Art. 76) entsprechende Beschreibungen existieren (Morkötter 2016), liegen nur wenige Dokumentationen zur Integration von interkomprehensionsbasierten Verfahren in den Anfangsphasen des kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterrichts vor. Ein Vergleich beider Kurstypen - interkomprehensives Lesen in mehreren Sprachen versus alle vier Grundfertigkeiten umfassend anvisieren - zeigt, wie unterschiedlich Zeit und Mittel investiert werden können. Generell verläuft die Progression der rezeptiven Fertigkeiten, vor allem der Lesekompetenz, wesentlich rascher als die der produktiven (die ja auch immer die rezeptiven umfassen). Die Fokussierung auf zielsprachliche Rezeption führt zu einem Mehr an komprehensiblem Input und zu einem Mehr an Intake, zumindest im Bereich der deklarativen Wissensdomäne. Dies kann mithin eine Lehrstrategie sein, um überhaupt schnell und breit in eine nahverwandte Sprache hineinzuführen. Für den Fremdsprachenunterricht schlägt Meißner (2004: 75 ff.) daher eine seither mehrfach wiederholte 356 IsabelleMordellet-Roggenbuck Revision der Sprachcurricula vor, in denen zu Anfang des Kurses mehr Rezeption und mehr Anknüpfung an schülerseitig bekannte sprachliche und didaktische Schemata steht. Allerdings wollen Schüler sich auch selbst produktiv in der fremden Sprache erfahren. Diesem Schülerwunsch ist vorrangig zu entsprechen. Offensichtlich sind außerhalb reiner Interkomprehensionskurse mit dem Lernziel einer mehrsprachigen Lesekompetenz wechselnde Phasen angezeigt: Interkomprehensive werden in den auf alle Fertigkeiten zielenden Fremdsprachenunterricht eingepasst, wenn sich die Reflexion über Sprache z. B. bei der Besprechung von Fehlern oder der Disambiguierung von Bedeutungen und Funktionen anbietet. Das Vergleichen mehrsprachiger Bestände und die Reflexion über Sprachen, interkulturelle Kommunikation und Spracherwerb (↗ Art. 51) sollten daher den Sprachunterricht auf allen Stufen begleiten. Leider fehlen bislang entsprechende großangelegte Pilotprojekte, die die Theorie aus Sicht der Praxen ausleuchten. Immerhin bieten heutige Lehrwerke, z. B. des Spanischen, durchaus Ansätze zu einer solchen Integration (Meißner et al. 2011). Auch bei Bär & Franke (2016) und weiteren finden sich entsprechende Aufgabenbeispiele. Ansonsten liegen längst didaktische und methodische Anleitungen für die Umsetzung der Interkomprehensionsdidaktik im deutschsprachigen Raum vor; ebenso Aufgaben- und Übungsformate (↗ Art. 71, 77). Auch internationale Publikationen sind durchaus hilfreich. Ausschlaggebend für den Erfolg von interkomprehensionsbasierten Lernverfahren ist das schülerseitige Vorwissen bemessen an der Zahl individuell verfügbarer Transferbasen und seine zielgerichtete Aktivierung (↗ Art. 64). Insofern ist eine von Fremdsprachendidaktikern immer wieder gestellte Frage wie „Hilft dir Englisch für Italienisch mehr als Französisch? “ (oder ähnlich) lernpsychologisch irreführend. Denn aus linguistischer Sicht ist der Anteil des englischen Transferpotentials beträchtlich. Meißner (2018) zeigt in seiner lexiko-statistischen Studie, dass die Kognaten, die das Englische mit dem romanischen Grundwortschatz teilt, nicht weniger als 53 Prozent des romanischen Kernwortschatzes ausmachen (↗ Art. 60). Auch ignoriert die stark vergröbernde Frage, dass der herkömmliche Fremdsprachenunterricht gerade in der auf produktive Kompetenz ausgerichteten Anfangsphase ganz andere sprachliche Register erfasst als die Interlexis. Deshalb kann z. B. die Folgesprache Spanisch zur Versprachlichung ‚kommunikativer Alltagssituationen‘ nur in Teilen vom Englischen oder Französischen profitieren. Ganz anders verhält es sich mit den Transferbasen der Wissensdomäne Sprachlernkompetenz und Gesprächsfähigkeit. 4. Schülereinstellungen und Lehrerbildung Sekundarstufliches Lernen muss selbstverständlich auch die Einstellungen der Schüler und Schülerinnen zur angestrebten Mehrsprachigkeit berücksichtigen (↗ Art. 71). Die MES-Studie (Androulakis et al. 2007) hat hierzu die Meinungen von ca. 10.000 Schülern der Jahrgangsstufen 5 und 9 aus fünf EU-Ländern erfragt. Die Fünftklässler der deutschen NUT Berlin wollen zu 76 % zwei weitere Fremdsprachen, die Neuntklässler (welche ja zum großen Teil schon Unterricht in zwei Fremdsprachen erhalten) zu 17 % noch zusätzlich zwei, zu 21 % noch drei Sprachen (hinzu)lernen. Nicht ausgeblendet bleiben dürfen die Nachfrage der an Hochschulen Studierenden 357 71. MehrsprachigkeitsförderungdurchInterkomprehensioninderSekundarstufe und ihre schulischen Erlebnisse mit Fremdsprachenunterricht. Beckmanns quantitative Untersuchung (2016: 255 ff.) zieht aus fünf Hochschulpopulationen sowohl Daten für real getätigte schulische Sprachenbelegungen als auch für die Absichten der Studierenden, die bisherigen Sprachenbiographien weiter auszubauen. Die hohen Nachfragewerte nach Fremdsprachen werden deutschlandweit durch die Auskünfte der Fremdsprachenzentren bestätigt. Die Sprachenpolitik (↗ Art. 11) sollte dieses Interesse nicht ignorieren und durch Schullaufbahnregelungen unterbinden (Meißner et al. 2008: 147). Insgesamt machen die Zahlen den Umfang der weiteren Ausbaubarkeit einer diversifizierten und funktionalen Mehrsprachigkeit sichtbar. Dass gerade der Hochschulunterricht ein geeigneter Lernkontext für eine breite Implementierung der rezeptiven Mehrsprachigkeit qua Interkomprehensionsdidaktik ist, zeigt Mordellet-Roggenbuck (2011). Heyder & Schädlich (2014) nehmen an, dass die Lehrkräfte mehrheitlich mehrsprachigkeitsorientierten Ansätzen gegenüber positiv eingestellt sind. Eine ähnliche Aussage lässt sich der Untersuchung von Morkötter (2005) entnehmen. Die MES-Studie (ebd.: 157 ff.) richtet einige Empfehlungen an Entscheidungsträger des Fremdsprachenunterrichts: Förderung von Jungen, von Sprachlernkompetenz, Vorbereitung auf das lebensbegleitende Fremdsprachenlernen, Differenzierung der Curricula nach Kompetenzprofilen; auch Interkomprehension und differenzierte Mehrsprachigkeit werden dort genannt. Insgesamt wird bemängelt, dass die Diversifizierung des modernen Schulsprachenangebots zu gering ist, um überhaupt statistisch signifikante Aussagen über die Vorteile von unterschiedlichen Sprachenfolgen zuzulassen (↗ Art. 69). Es liegt bei den die Lehrerbildung der ersten, zweiten und dritten Phase verantwortenden Institutionen (z. B. durch mehrsprachige Settings), die angehenden Lehrkräfte optimal auf ihre spätere Aufgabe vorzubereiten bzw. sie nachzubilden. Deren Handlungsrahmen stellt die europäische Vielsprachigkeit und Vielkulturalität. Die Kompetenzorientierung bedeutet sowohl die Fähigkeit zur umfassenden interkulturellen Kommunikation in mindestens zwei Sprachen neben der Muttersprache (↗ Art. 12) als auch gleichrangig hierzu die Entwicklung eines Maßes an Sprachlernkompetenz, das den erfolgreichen Aus- und Weiterbau der individuellen Mehrsprachigkeit im Erwachsenenalter erlaubt. Die notwendigen grundlegenden Ressourcen dafür muss das schulische Sprachenlernen bzw. der schulische Umgang mit Sprachen liefern. Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies eine gewaltige Umstellung. Die Beurteilung des Schulwesens wird daran zu messen sein, ob und wie die Schulen diese enormen Herausforderungen bewältigen. Die Qualität der Lehrerausbildung (↗ Art. 27) ist in diesem Zusammenhang der wohl entscheidendste Faktor. Hierzu ist zu berücksichtigen: Über nur eine Fremdsprache ist Mehrsprachigkeit weder zu erwerben noch zu befördern. Literatur Androulakis, G., Beckmann, C., Blondin, C. et al. (2007): Pour le multilinguisme: Exploiter à l'école la diversité des contextes européens. Résultats d'une étude internationale . Liège. Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenzen. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. Bär, M. & Franke, M. (Hrsg.) (2016): Spanischdidaktik für die Sekundarstufe I und II . 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Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik im Lern-/ Lehrkontext Studium und Universität 1. Aufriss Lern- und Lehrkontexte im Studium und an der Universität bieten, je nach Ausbildungszweigen und Ausbildungszielen, diverse Möglichkeiten für die Berücksichtigung und Umsetzung mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktischer Aspekte (↗ Art. 7, 8). Während philologische Studien für Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik prädestiniert erscheinen, fällt deren Relevanz für Studien wie Medizin, Rechtswissenschaften, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oder für naturwissenschaftliche Fächer zunächst weniger ins Auge. Dennoch sollten auch in den nicht-philologischen Fächern mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Inhalte ihren Platz haben. In den sozialpädagogischen Studiengängen, in der Ausbildung für Pflegedienste und in Jura sind sie von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Dies erfordern die lebensweltliche und herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität unserer immer internationaler werdenden Gesellschaft. Entsprechende inter- und transkulturelle Kompetenzen (↗ Art. 41, 43) bereits in der Ausbildung zu erlangen, kann dazu beitragen, die Kommunikation mit mehrsprachigen, ggf. der Mehrheitssprache nicht ausreichend mächtigen, und mehrkulturellen Personen zu erleichtern, um Gesprächsverläufe kommunikativ so erfolgreich wie möglich zu gestalten. 2. Das Ist In den Philologien ist der Platz von Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik nicht notwendigerweise ausschließlich in den fremdsprachigen Philologien zu sehen. Vielmehr sollte es in den deutschsprachigen Ländern auch Aufgabe der Germanistik sein, mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Aspekte aufzugreifen, zu thematisieren und forschungswie evidenzbasiert zu beleuchten. In der Tat kann in diesem Zusammenhang bereits seit geraumer Zeit auf entsprechende Ausbildungsprogramme verwiesen werden, in denen diese Aspekte inkludiert sind. Exemplarisch sei hier auf eine in Berlin verpflichtete Zusatzqualifikation in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) für Lehramtsstudierende aller Sprachenfächer verwiesen (↗ Art. 27, 28). Damit soll sichergestellt werden, dass Lehrpersonen in ihrem späteren Berufsalltag die lebensweltliche Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern (↗ Art. 100) adäquat nutzen und einbeziehen können (vgl. Surkamp 2016: 599 f.). Die Universität Münster geht diesbezüglich einen Schritt weiter und bietet ein DaZ-Modul für Studierende aller Lehramtsfächer an (vgl. Schöpp 2015: 165). Im Bachelor- und Masterstudium Lehramt Sekundarstufe der Universität Innsbruck kann fakultativ eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „Lebensweltliche Mehrsprachigkeit und Interkulturalität im Schul- und Bildungssystem“ von Studierenden aller Unterrichtsfächer gewählt werden. In der sprachfächerübergreifenden Ausbildung der Fremdsprachendidaktik an dieser Universität sind mehrsprachigkeitsdidaktische Inhalte seit 2001 curricular implementiert. Sie werden insbesondere im sprachenübergreifenden Einführungskurs zur Fremdsprachendidaktik aufgegriffen und in begleitenden sprachspezifischen Lehrver- 360 BarbaraHinger anstaltungen vertieft (Hinger 2016; Hirzinger-Unterrainer 2013). Für Lehramtsstudierende zweier Fremdsprachenfächer werden Kurse wie „Fremdsprachenunterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit und Diversität“ oder „Fremdsprachenunterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit und Tertiärsprachendidaktik“ zur Vertiefung angeboten (vgl. ebd. und Fliri in Bearbeitung). Mittlerweile wird diese als Innsbrucker Modell der Fremdsprachendidaktik (IMoF) etablierte Ausbildung als „Meilenstein“ (Krumm & Reich 2013: 35) einer integrierten fremdsprachendidaktischen Ausbildung angesehen. 3. Weitere Möglichkeiten zur Förderung von Mehrsprachigkeit in der Ausbildung und ihre Bedeutung für die Wissenschaft In Sprachkursen, wie sie fremdsprachenphilologische Studienfächer als Teil der Ausbildung bieten, um die Zielsprachenkompetenz der Studierenden auf- und auszubauen, sollten grundsätzlich mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen können interkomprehensionsdidaktische Verfahren nach dem EuroCom-Muster eine beschleunigte Sprachaneignung in Gang setzen (↗ Art. 67, 68). Zum anderen können im Sinne des lebenslangen Lernens alle Sprachkurse Sprachlernkompetenz und Sprachlernstrategien explizit ausbilden. Kennen die Dozentinnen und Dozenten den (mehr-)sprachlichen und (mehr-) kulturellen Hintergrund ihrer Studierenden - dies lässt sich relativ einfach anhand individueller, narrativ ausgerichteter oder auch kategorienbasierter Sprachlernbiographien und kreativ angefertigter Sprachenporträts (Krumm & Jenkins 2001) erarbeiten -, so kann die in einem Kurs vorhandene Sprachen- und Kulturenvielfalt aufgegriffen und für ein vernetzendes Sprachenlernen genutzt werden. Idealerweise werden mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Ansätze in den jeweiligen Curricula verankert und in Aus- und Weiterbildungsseminaren universitären Sprachlehrenden gezielt vermittelt. Das bisher Angeführte setzt eine mehrsprachenfreundliche universitäre Sprachenpolitik und ein Gesamtsprachencurriculum (s. Hufeisen & Lutjeharms 2005) (↗ Art. 14) voraus. All dies ist bislang kaum festzustellen. Vielmehr setzen Universitäten auf Internationalisierungsstrategien, die sich meist im Bestreben einer Erhöhung der Anzahl internationaler Studierender und/ oder Lehrender und der Implementierung bilingualer Studiengänge mit Englisch als Arbeitssprache erschöpfen (u. a. Kleppin & Reich 2016). Letzteres wird als „monoglossischer Habitus plus Englisch“ (Dannerer 2018: 423) gefasst und kritisiert, dass Universitäten die Mehrsprachigkeit der an ihnen tätigen Personengruppen kaum aufgreifen (s. auch Franceschini 2018). Dabei könnte „[d]ie Erfahrung der Fremdheit fremden Sprachdenkens […] eine wichtige hermeneutische Grunderfahrung [im Erkenntnisprozess sein und] explizite Beachtung in der Lehre wie in der Forschung“ erfahren, wie Ehlich (2000: 49) konstatiert. Redder (2018: 279) sieht darin wiederum, mit Verweis auf Lüdi (2015), ein großes „Potential für die Vielfalt von Denkverfahren und kooperativen Handlungswegen“ in der universitären Forschungskommunikation. Damit würden mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Ansätze auch für die Wissenschaft selbst und deren Diskurse nutzbar. Sie gäben einer vielsprachigen Wissenschaft die Chance, den von einer einzigen Sprache dominierten Diskurs aufzubrechen und Aspekte ans Licht 361 zu bringen, die bislang weitgehend okkultiert werden (vgl. am Beispiel der Fremdsprachendidaktik: Meißner 2005). Für Studierende und Lehrende ließen sich mehrsprachige Seminarforen, Lektüre- und Referatsgruppen mit dem Ziel der Förderung des interkulturellen Verstehens und kooperativen mehrsprachigen Handelns anbieten (Redder 2018: 280) (↗ Art. 66). Ob Ähnliches in den bereits existierenden Masterstudien zu Mehrsprachigkeit umgesetzt wird, bleibt im Einzelnen zu untersuchen. Bislang zeigen Studien für unterschiedliche Länder lediglich, dass und wie sehr Studierende einen natürlichen Umgang mit ihrer persönlichen Mehrsprachigkeit im alltäglichen Gebrauch, insbesondere mit ihresgleichen, pflegen (de Bres & Franziskus 2014; Dannerer 2018). 4. Ausblick Universitäten als hybride kulturelle Begegnungs- und Diskursräume (vgl. Hu 2018: 381) können durch das adäquate Einbeziehen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der an ihnen tätigen Personengruppen das nach wie vor zu beobachtende „monolingual mindset“ (Clyne 2005) auf vielfältige Art und Weise durchbrechen. Mehrsprachigkeits- und mehrkulturalitätsdidaktische Ansätze sind dabei über Sprachkurssettings hinaus auch in Kursen (fremd)philologischer und naturwissenschaftlicher Fächer im Sinne universitärer Wissensgenerierung relevant und in medizinischen, pflegewissenschaftlichen, aber auch juridischen und pädagogischen Studien, insbesondere im Lehramt, im Sinne eines gelingenden sozialen Miteinanders in hochkomplexen Migrationskontexten von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung. Als inklusive und superdiverse Lern- und Lehrorte könnten Universitäten gerade durch die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik deutlich mehr als heute dazu beitragen, den Monolingualismus in institutionell konzipierten mehrsprachigen und mehrkulturellen Begegnungsszenarien zu verlernen (vgl. Scarino 2014). Literatur Clyne, M. (2005): Australia’s Language Potential . Sydney. Dannerer, M. (2018): Mehrsprachigkeit als Programm - Mehrsprachigkeit wider Willen? Universitäre Mehrsprachigkeit zwischen Verpflichtung und Unwissenheit. In: M. Dannerer & P. Mauser (Hrsg.): Formen der Mehrsprachigkeit. Sprachen und Varietäten in sekundären und tertiären Bildungskontexten . Tübingen, 421-440. de Bres, J. & Franziskus, A. (2014): Multilingual Practices of University Students and Changing Forms of Multilingualism in Luxembourg. In: International Journal of Multilingualism 11/ 1, 62-75. Ehlich, K. (2000): Deutsch als Wissenschaftssprache für das 21. Jahrhundert . [http: / / www. gfl-journal.de/ 1-2000/ ehlich.html]. Fliri, B. (in Bearbeitung): Mehrsprachigkeitsdidaktische und sprachsensible Ansätze in der Ausbildung zukünftiger Fremdsprachenlehrpersonen: Ein evidenzbasierter Beitrag zur Professionalisierung in der PädagogInnenbildung Neu. Doktorarbeit, Universität Innsbruck. Franceschini, R. (2018): Die Herausforderungen einer Universität vor dem Hintergrund der Internationalisierung der Studiengänge und der Herkunft der Studierenden. In: M. Dannerer & P. Mauser (Hrsg.): Formen der Mehrsprachigkeit . Sprachen und Varietäten in sekundären und tertiären Bildungskontexten . Tübingen, 403-420. 72. Mehrsprachigkeits-undMehrkulturalitätsdidaktikin StudiumundUniversität 362 BarbaraHinger Hinger, B. (2016): Welche Heterogenitätsaspekte kann eine sprachenübergreifende Didaktikausbildung für künftige Fremdsprachenlehrkräfte aufgreifen und nutzen? Einblicke in das Innsbrucker Modell der Fremdsprachendidaktik. In: S. Doff (Hrsg.): Heterogenität im Fremdsprachenunterricht. Tübingen, 155-168. Hirzinger-Unterrainer, E.-M. (2013): Eine sprachenübergreifende Ausbildung in der Fremdsprachendidaktik aus studentischer Perspektive-- Das 'Innsbrucker Modell der Fremdsprachendidaktik' (IMoF) . Bern u. a. Hu, A. (2018): Universitäten als interkulturelle und mehrsprachige Kommunikationsräume. Warum der Internationalisierungsdiskurs stärker mit dem Thema Mehrsprachigkeit verzahnt werden muss. In: M. Dannerer & P. 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Sprecher einer romanischen L1 oder L2-x werden den obigen Auszug ohne Mühe als romanisches Idiom einordnen. Es handelt sich um das Nissart (fr. niçois ), einen der sieben regionalen Standards des Okzitanischen (Sumien 2006: 155), dessen Sprachgebiet sich über die drei Nationalstaaten Spanien (Val d’Aran), Frankreich (gesamte Südhälfte) und Italien (Piemonte) erstreckt. Einst Literatursprache der Troubadoure und westliche Kultursprache des Mittelalters zählt das Okzitanische heute zu den europäischen Regional- und Minderheitensprachen und steht auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Sprachen der UNESCO. Im Folgenden möchten wir an ihm exemplarisch zeigen, inwiefern die Methode der Interkomprehension für die Förderung von kleinen und selten erlernten Idiomen anwendbar ist (↗ Art. 67, 70). Das Okzitanische ist die romanische Sprache, die Kontaktareale mit fünf anderen romanischen Sprachen (Katalanisch, Spanisch, Französisch, Franco-Provenzalisch, Italienisch) hat (vgl. Escudé & Janin 2010: 76) und somit eine hervorragende Ausgangslage bietet, um sich ihr über die Methode der Interkomprehension zu nähern. 1. Auf Spurensuche Betrachten wir die romanischen Sprachen jenseits aller politischen Hierarchisierung als in einem Kontinuum auf einer Ebene befindlich, so ermöglicht die Interkomprehension eine Sprachzirkulation, bei der jede einzelne von ihnen sowohl Ausgangsals auch Brücken- oder Zielsprache sein kann (vgl. Escudé 2014). Mit Kenntnissen in mindestens einer romanischen Sprache und Grundlagen der historischen Lautentwicklung können wir uns somit selbst auf Spurensuche in einen okzitanischen Text begeben. Wie bei vielen kleinen oder selten verwendeten Idiomen, so gibt es auch kein „occitan par excellence“ (Martin & Moulin 1998: 11), sondern die sieben regionalen Varianten gascon, limousin, auvergnat, vivaro-alpin, languedocien, provençal général und niçois sind als gleichwertig zu betrachten (vgl. Martin & Moulin 1998; Sumien 2006: 155). Auch eine einheitliche Kodifizierung liegt bislang nicht vor, doch erlauben sowohl die stärker historisch orientierte Kodifizierung des Institut d'Estudis Occitans („ grafia classica “) als auch die vom Félibrige entwickelte graphie mistralienne (die beide nicht immer in Reinform verwendet werden) einen interkomprehensiven Zugang. Betrachten wir nun exemplarisch den obigen kurzen Textausschnitt in Nissart, der sich an die graphie mistralienne anlehnt. Welche Elemente lassen sich, auch aufgrund ihrer syntaktischen Stellung und des Kontextes erschließen? Wir gehen als Vergleichsgrundlage von Kenntnissen des Französischen oder Spanischen oder Italienischen aus. Die erschließbaren Elemente befinden sich in der Abfolge französisch/ italienisch/ spanisch in eckigen Klammern, mögliche Dekodierungslücken 364 StefanieWagner sind durch einfache Klammern gekennzeichnet (↗ Art. 67). Avèn [nous avons/ abbiamo/ (tenemos)] un counvidat [un convive/ un convitato/ un (comensal)] per lou soupà [pour le souper/ per (la cena)/ por (la cena)], estou sera [(ce) soir/ questa sera/ esta sera]. Ièr [hier/ ieri/ ayer], papà es arribat tout contènt [papa est arrivé tout content/ papá è arrivato tutto contento/ papá (ha llegado) todo contento] e a dich à mamà [et il a dit à maman/ e ha detto a mamma/ y ha dicho a mamá] que avìa rescountrat d’asart [qu’il avait rencontré par hasard/ che aveva incontrato (per caso)/ que había encontrado al azar (por casualidad)] per carrièra [(dans la rue)/ per (strada)/ (en la calle)] lou siéu vièlh amic [son vieil ami/ il suo vecchio amico/ su viejo amigo] Leoun Labierra, que l’avìa plus vist despì l’an [qu’il n’avait plus vu depuis l’an/ che non aveva più visto (da) l’anno/ que no había visto más despuès del año] pebre. Bereits beim ersten Kontakt „mit einer einigermaßen interkomprehensiven oder transparenten Sprache“ (Meißner 2004: 43) bildet sich die Spontangrammatik heraus. Lernende entdecken dabei nicht nur bedeutungshaltiges lexikalisches Material (wieder), sondern auch weitere Regularitäten, die sich in Bezug auf die Zielsprache als intralingual, bezüglich vorher erlernter Fremdsprachen als interlingual und innerhalb dieser wiederum als intralingual definieren lassen. Betroffen ist also der gesamte Sprachbau (vgl. Meißner 2004: 43). Bei Lücken auf der Dekodierebene ermöglicht Weltwissen Inferierstrategien, um zu einer inhaltlichen Deutung zu gelangen (vgl. Lutjeharms 2004: 76). Da der Wortanfang eine tragende Rolle spielt (vgl. Lutjeharms 2002: 125), ist es von Vorteil, beim interkomprehensiven Lesen (↗ Art. 76) damit flexibel zu sein: so weisen niss. ièr und it. ieri kein Graphem <h> auf, während dies bei fr. hier vorhanden ist. Bei sp. ayer tritt ein zusätzlicher Vokal an den Wortanfang. Bei niss. rescountrat und fr. rencontré ähnelt sich der Wortanfang, während sp. encontrado und it. incontrato kein initiales Graphem <r> aufweisen. Aus den obigen Zeilen in Nissart lassen sich eine Vielzahl weiterer Elemente zunächst hypothetisch durch den Sprachvergleich herausarbeiten, z.B. • die Bildung der Nominalphrase (mit Artikel) ähnelt der in anderen romanischen Sprachen • im Gegensatz zum Französischen ist der Gebrauch von Subjektpronomina nicht obligatorisch • Objektpronomina werden wie im Französischen, Italienischen, Spanischen vor die finite Verbform gestellt • wie im Italienischen werden Possessivadjektive zusammen mit dem Artikel gebraucht • Bildung und Gebrauch der Vergangenheitstempora im Indikativ sowie die Relativsatzbildung sind vergleichbar mit denen der anderen romanischen Sprachen. Bei der Beschäftigung mit weiterem Sprachmaterial lassen sich erarbeitete Hypothesen überprüfen und neue zu anderen sprachlichen Phänomenen bilden. Analysen von Mehrsprachenverarbeitung belegen pluridirektionale, pro- und retroaktive Prozesse zwischen einer Zielsprache und unterschiedlichen aktivierten Transfersprachen und Transferdomänen (↗ Art. 64). Mehrsprachigkeitsdidaktische Arbeitsweisen tragen somit zu einer Ausweitung und Festigung der Wissensbestände aller mental aktivierten Sprachen bei (vgl. Meißner 2004: 47). 365 73. KleineundseltenerlernteZielsprachenundVarietäten 2. Quo vadis Okzitanisch? Die EU setzt sich zwar für Mehrsprachigkeit und für die Förderung weniger verbreiteter europäischer Sprachen ein, doch sind ihre Handlungsmöglichkeiten begrenzt, da für die Sprachen- und Bildungspolitik die einzelnen Mitgliedsstaaten zuständig sind (↗ Art. 11, 12). Mit Blick auf das Okzitanische lässt sich hierzu festhalten, dass Spanien, das im Gegensatz zu Frankreich und Italien die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen nicht nur unterschrieben, sondern auch ratifiziert hat, im Val d’Aran das Aranès (die dortige Variante des Okzitanischen) neben Katalanisch und Spanisch zur Amtssprache erhoben hat, während das Okzitanische in Italien und v. a. in Frankreich, wo der überwiegende Teil des Sprachgebietes liegt, wenig Schutz und Förderung erfährt und zum Überleben meist auf private Initiativen angewiesen ist. Dennoch hält der Euromosaic-Bericht fest: L'intérêt manifesté par les populations régionales est favorable à la langue et la culture, quoique fragile. Il faudrait donc que dans l'ensemble des populations concernées, la sympathie passive se transforme en sympathie active. (Europäische Kommission 1992) Diese „aktive Sympathie“ ließe sich u. a. durch die Möglichkeit des Erwerbs einer zunächst passiven, d. h. rezeptiven Sprachkompetenz fördern. Dank der Methode der Interkomprehension findet das Okzitanische somit auf den „Sprachenmarkt“ zurück (vgl. Escudé 2014). Wir betonen mit Wagner (2015: 305), dass auf Interkomprehension abzielende Anteile im Fremdsprachenunterricht das Verständnis für die sprachliche Vernetzung innerhalb der Romania verbessern und bei Lernenden Interesse für kleinere und selten erlernte Idiome wecken können. Insbesondere das Internet (↗ Art. 102) bietet ihnen dann die Chance mit Hilfe ihrer bereits vorhandenen Sprachkenntnisse in die Welt kleiner und selten gelernter Idiome einzutauchen. Literatur Escudé, P. (2014): De l’ invisibilisation et de son retroussement. Etude du cas occitan : normalité de la disparition, ou normalisation du bi/ plurilinguisme . 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Aufgrund der Ausformung mehrsprachiger Berufsbilder ist diese Entwicklung heute an Schule und Hochschule so aktuell wie nie zuvor (↗ Art. 71, 72). Gleichwohl muss konstatiert werden, dass derzeit bereits viel gewonnen wäre, wenn ein Mehr an nur auf eine einzige Fremdsprache bezogener Fachsprachenvermittlung noch flächendeckender als bisher realisierbar wäre. 2. Linguistische Grundlagenforschung Die Grundlagenforschung hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, Fachsprachen auch als bilinguales Unterrichtsfach an Schule und Hochschule zu etablieren. In diesem Zusammenhang kommt der Zeitschrift Fachsprache Bedeutung zu (ebenso wie den bahnbrechenden Monographien von z. B. Hoffmann 3 1987, Gläser 1979, Oksaar 1988, Fluck 1996, Roelcke 2005 sowie Krings & Mayer 2008 für den Übergangsbereich zwischen Fachsprachenforschung, Übersetzungswissenschaft und Mehrsprachigkeit). In Untersuchungen zu den einzelnen (vielen) Fachsprachen (z. B. Tinnefeld 1993) wurden und werden die linguistischen Grundlagen für die Vermittlung von bestimmten Fachsprachen bereitgestellt. 3. Mehrsprachige Fachkommunikation Mehrsprachige Fachkommunikation ist heute aus vielen Berufen nicht mehr wegzudenken, wobei interkulturelle Kompetenzen hier impliziert sind. In dem sich so ergebenden Zielbereich fachorientierter Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 6, 7) steht dabei das Englische, ergänzt durch andere Fremdsprachen, im Vordergrund. 4. Fachorientierte Mehrsprachigkeitsdidaktik Fachsprachenorientierte Mehrsprachigkeitsdidaktik ist in unterschiedliche Felder aufgliederbar, die entweder von der Fremdsprachendidaktik oder von den jeweiligen Sachfächern angegangen werden können. 4.1. Übersetzungsdidaktik Im Rahmen der übersetzungsorientierten Fachsprachenforschung (Kohn 1987) ist die Übersetzungsdidaktik eng mit der Fachtexttypologie verbunden (Arntz 1993) und schon per se kontrastiv (Kußmaul 1986), also mindestens bilingual ausgerichtet. Mehrsprachigkeit wird besonders dann interessant, wenn sich der Unterricht an Lerner unterschiedlicher Muttersprachen richtet und etwa mit der Ziel- 367 74. Fachsprachen sprache Französisch auch der ‚Geist‘ der romanischen Sprachen vermittelt werden soll. 4.2. Institutionelle Mehrsprachigkeit Für die institutionelle Mehrsprachigkeit soll die Europäische Union (EU) hier beispielhaft stehen (↗ Art. 2, 9, 12). Die Notwendigkeit, die Texte der EU in die Sprachen der Mitgliedsländer zu übersetzen, stellt dabei für die Mehrsprachigkeitsdidaktik eine erhebliche Chance dar, lassen sich diese Materialien doch sowohl für den Sprachvergleich als auch für die gleichzeitige (passive) Vermittlung mehrerer Fremdsprachen nutzen (z. B. Capitant 2018; auch Arntz 2001). Ein weiteres Beispiel für den vorliegenden Bereich sei das französische Gerichtsurteil (Eggensperger 2018), das Studierenden zunächst in seiner fachsprachlichen Spezifik und seinem charakteristischen Aufbau vermittelt werden kann. Im Anschluss kann es entsprechend mit Gerichtsurteilen anderer (z. B. romanischer) Länder verglichen werden. Auf diese Weise wird - institutionell induziert - sach- und sprachorientiertes interkulturelles Denken geschult (↗ Art. 32). Und es können gleichzeitig produktiv oder rezeptiv die inhaltlich relevanten Strukturen der Sprachen vermittelt werden. 4.3. Bilingualer Sachfachunterricht und CLIL Der meist nach schulischen Bedingungen ausgerichtete bilinguale Sachfachunterricht (↗ Art. 111) trifft in Hochschulen auf eine Situation, wo Mehrsprachigkeit in Kombination mit Fachinhalten gelehrt wird. In Fällen bilingualer Züge lassen sich recht unproblematisch weitere Fremdsprachen in den Unterricht integrieren, z. B. das Spanische oder Italienische im Fach Geographie einer Klasse des französischen Zugs (↗ Art. 113). So können Sachinformationen aus anderen Ländern in den Originalquellen gelesen und gleichzeitig die jeweilige Fremdsprache rezipiert werden (↗ Art. 114). Ähnliche Umsetzungsmöglichkeiten bieten sich im tertiären Bereich beispielsweise in den Studiengängen der Deutsch-Französischen Hochschule. Generell können und sollen Hochschulen heute mehr denn je als mehrsprachige Räume fungieren (Polzin-Haumann 2018; Hu 2016; Reissner 2017; Sture Ureland 2001). In Fällen z. B. migrantischer oder anderer mehrsprachiger Lernergruppen können sich dabei besondere Möglichkeiten ergeben (vgl. Niederhaus 2017; Prediger & Özdil 2011). In Wissenschaft und Politik ist der CLIL-Ansatz auf großes Interesse gestoßen (Marsh 2002). Ermutigend ist zudem, dass auch Studierende CLIL in Bezug auf die vier funktionalen Teilkompetenzen sowie die Internationalisierung positiv sehen (Tinnefeld 2010). Der Ansatz ist mehrsprachendidaktisch besonders dann relevant, wenn es sich um sprachlich heterogene Lernergruppen handelt und wenn - durchaus nicht unmöglich - mehr als eine (Fremd)Sprache verwendet wird. In solchen Fällen können in Minimalform bestimmte Fachterminologien zusätzlich in anderen als jener der Unterrichtsfremdsprache und des Deutschen erarbeitet werden. Der CLIL-Ansatz wird von Lehrenden jedoch dann überschätzt, wenn er mit systematischem Sprachunterricht (den er nicht ersetzen kann) gleichgesetzt wird. Selbstredend ist lehrseitig eine entsprechende mehrsprachige Kompetenz vorauszusetzen. Didaktisch lässt sich der Weg zu fachsprachlicher Mehrsprachigkeit modellartig wie folgt darstellen: 368 ThomasTinnefeld Fachsprachen  Kontrastiver Filter  Relevante fachsprachliche Strukturen  Didaktischer Filter 1  Bilingualer Fachsprachenunterricht  Didaktischer Filter 2  Multilingualer Fachsprachenunterricht 5. Abschließende Bemerkungen Bereits diese kurzen Ausführungen haben deutlich werden lassen, dass der fachsprachliche Unterricht im Rahmen der Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik ein gesellschaftliches Desiderat darstellt und durch vielerlei Herausforderungen gekennzeichnet ist. Dies wird erhebliche Anforderungen an Praxis und Forschung erfordern. Es handelt sich um einen Bereich, der in der Schnittmenge von Sprachen, Sachfächern, Fremd- und Fachsprachendidaktiken sowie Kulturwissenschaften und interkultureller Didaktik von hoher Komplexität geprägt ist. Literatur Arntz, R. (1993): Fachtexttypologie und Übersetzungsdidaktik. In: J. Holz-Männttäri & C. Nord (Hrsg.): Traducere Navem. Festschrift für Katharina Reiß zum 70. Geburtstag . Tampere, 153-168. Arntz, R. (2001): Fachbezogene Mehrsprachigkeit in Recht und Technik . Hildesheim. Capitant, D. (2018): Le droit européen à l'épreuve du multilinguisme. In: Giessen, Krause, Oster-Stierle & Raasch, 121-140. Eggensperger, K.-H. 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Hörsehverstehen entwickeln sich entlang perzeptiver und bedeutungskonstruierender Verstehensprozesse, bei denen die vom Hörverstehens-/ Hörsehverstehenstext gelieferten sprachlichen und außersprachlichen Daten mit dem Wissen, den Erfahrungen und Erwartungen der hörenden/ sehenden Personen interagieren (vgl. Badstübner-Kizik 2016). Hörverstehensprozesse sind bei vergleichsweise geringer Kompetenz in fremden Sprachen bewusst intendiert und verlangen genaues Hinhören; native oder nativ-nahe Sprachteilhaber können hingegen das Hörverstehen nicht willentlich ‚abstellen‘. Die beteiligten Prozesse verlaufen - im einfachen Kommunikationsmodell gesprochen - interagierend, aufsteigend von den gesendeten akustischen Sprachdaten zur Bedeutungsbildung ( language information processing ) auf Seite des Empfängers sowie absteigend von einer situativen Plausibilitätsanalyse zur Identifikation konkreter Sprachdaten. Die didaktische Literatur unterscheidet verschiedene Hörverstehenskategorien: das abstrakte und das situativ-gestützte Hören, das Hinhören und das Mithören, das inhaltliche Verstehen und das auf die sprachliche Oberfläche gerichtete bzw. auf Sprachformen bezogene Hörverstehen (um nur die hauptsächlichen Kategorien zu nennen) (Rossa et al. 2017). Den Hörverstehenskategorien gemäß werden globale, selektive, detaillierte, 370 CamillaBadstübner-Kizik eng gesteuerte und offene Aufgaben- und Übungsformate unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades unterschieden. Dementsprechend kann eine Progression aufgebaut werden. Die interkomprehensionsdidaktische Forschung (↗ Art. 85) hat gezeigt, dass Lernende in ihren mentalen Lexika (↗ Art. 62) idiolektale Archetypen (Archiphoneme) gespeichert haben und von diesen ausgehend phonematische (diatopische, diastratische, diaphasische) Varianten - muttersprachlich-intralinguale oder mehrsprachig-interlinguale - zu erkennen lernen, indem sie Korrespondenzregeln bilden (pt. chamada -sp. llamada ; chegada llegada ; chave llave ). Dies betrifft nicht nur phonologisch relevante Oppositionen, sondern z. B. auch das Wissen über Wörter („Das ist ein Wort aus Dialekt X.“). Dies rückt auch sog. Morphemgrenzen in den Blick, die bekanntlich in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich sind. Ihre Identifikation erlaubt es u. a., den Sprachfluss zielführend zu segmentieren und Formen zu disambiguieren bzw. in Sinneinheiten aufzulösen. Gelernt werden dabei auch zwischensprachlich ‚schwierige‘ Korrespondenzregeln innerhalb einer Sprachfamilie; z. B. die ‚Verkürzungen‘ in einer Zielsprache im Vergleich zu einer Ausgangs- oder Brückensprache, Beispiel: it. mèdico / mɛdiko/ vs. fr. medecin / medsɛ̃ / ( Jamet 2007); Transferbasen (↗ Art. 64) werden auch über Wortklassen hinaus erkannt: pn. mleko/ mleCZny -rus. молоко/ молоЧный (Milch/ milchig/ trübe). Gezielte Übungen erleichtern auch hier den Identifikationstransfer. Eine gezielte pädagogische Steuerung erleichtert die Identifikation schwieriger Hörverstehenszuordnungen zwischen Sprachen oder sprachlichen Varietäten ungemein. 2. Grundlegendes für die Konstruktion von HV-Aufgaben Die Deskriptive Linguistik hat spätestens seit den 1970er Jahren grundlegende Arbeiten zur Sprechsprache vorgelegt (z. B. Söll & Hausmann 1971). Seither unterscheidet sie gesprochene Texte in ‚spontan erstellt‘ vs. ‚vorbereitet‘ ( premeditated speech ) und nach dem jeweils aktivierten Kanal und dessen Zeichensystem, d. i. graphisch oder phonisch. Ein Hörverstehenstext ist klassischerweise entweder spontan erstellt und phonisch ‚gesendet‘ (z. B. in einer face to face -Interaktion) oder vorbereitet, graphisch fixiert und phonisch (z. B. vorgelesener Vortrag) realisiert. Ein Hörsehverstehenstext präsentiert zudem Sprechsprache in einem sichtbaren (situativen) Kontext. Es ist bekannt, dass alle Sprachen diatopische, diastratische und diaphasische Varianz aufweisen. Für fremdsprachliches Hörverstehen stellt dies erhebliche Hürden dar. Daher ist es didaktisch relevant, das Hörverstehen vor allem über diatopische Varietäten von Registern mit hoher Repräsentativität innerhalb eines sprachlichen Diasystems zu lehren - was insbesondere in den großen plurizentrischen Sprachen entgegentritt. Natürlich sind nicht ‚alle‘ Varietäten einer Sprache lehrbar, daher gilt es eine Auswahl zu treffen. Diese entscheidet sich nach den Kriterien der schon erwähnten Repräsentativität und Verbreitung einer Varietät und dem besonderen Lernerinteresse. Die Medien nehmen solche repräsentativen Varietäten auf, schwächen aber deren Merkmale im Vergleich zu ihren authentischen so weit ab, dass ihre weitgehende Komprehensibilität für das nationale Publikum deutlich wird. So wird im deutschsprachigen Raum das im Fernsehen vertretene Bairisch soweit „adaptiert“, dass es auch nord- 371 75. Hörverstehensprach licherVarietätenlehren deutschen Sprachteilhabern verständlich wird (vgl. Studer 2002). Ähnliches gilt - grob gesagt - für andere Sprachräume. 3. Anwendung Der didaktische Ort der Lehre von fremdsprachlichen Varietäten oder des interkomprehensiv basierten Hörverstehens einer ‚unbekannten‘ nahverwandten Sprache ist natürlich weniger der Anfangsunterricht oder das anfängliche Lernen einer Zielsprache, sondern der Fortgeschrittenenbereich (↗ Art. 71) . Lerner können prozedural nur diejenigen Elemente aus einem Sprachfluss ( chaîne parlée, speech chain ) erkennen, über die sie deklarativ bereits verfügen. Sind ihnen genügend sprachliche Mittel geläufig, so werden prinzipiell auch sog. Lakunen greifbar. Deren Identifikation ist eine Voraussetzung für ihre Disambiguierung mithilfe von Nachschlagewerken. Was das durch das Hörverstehen begründete Sprachenwachstum angeht, so sei daran erinnert, dass Sprachenlernen immer auch das Lernen von Sprachformen umfasst. Hörverstehen knüpft an die Interaktion der Formen (Signifikanten, Satzoberflächen) mit der Konstruktion von Inhalten (Sprechsituation, Thema, Skript, mentales Szenario, Plausibilitätsprobe) an. Im Extremfall ist es selbstverständlich auch möglich, einen Inhalt ohne sprachliche Stütze zu konstruieren (Stummfilm oder Film in gänzlich nicht-komprehensibler Sprache), was selbstredend nicht zum Spracherwerb führt. Die optische Einbettung eines Inhalts in einer z. B. filmisch dargestellten Situation erleichtert die Plausibilitätsprobe, welche für die Konstruktion des Inhalts unerlässlich ist. Dies vorausgesetzt, kann das Lehren von Hörverstehen diatopischer Varietäten folgendes, aus der Interkomprehensionsdidaktik stammendes Grundmuster aufweisen: 1. Präsentation / Anhören des Hörverstehenstextes 2. Verständniskontrolle und Feststellung der Lakunen bzw. des Maßes des ersten Verstehens 3. Nochmaliges Hören 4. Rückgriff auf ein standardsprachliches Transkript oder auf ein Transkript in der Zielvarietät (selbstverständlich kann die Reihenfolge auch umgekehrt sein) 5. Übersetzen des jeweiligen Textes in die andere Varietät (von der Standardsprache z. B. in den Regiolekt oder vom Regiolekt in die Standardsprache) 6. Erneutes Anhören des regional gefärbten Textes, versetzt (Syntagma für Syntagma oder eventuell Satz für Satz) in der Reichweite des echotischen Gedächtnisses 7. Markierung der phonetischen Abweichungen zwischen der standardsprachlichen und regiolektalen Phonetik (Rhythmik, Verschleifungen, Pausen, Satzmelodie bzw. Euphonik, idiolektale Sonderheiten bzw. Sprechweisen u. a. m.). Im Bedarfsfall spielen im Prinzip alle Strategien (schon O’Malley et al. 1989) eine Rolle, die auch im Anfängerbereich zur Anwendung kommen. 8. Lexikalische Analyse des Hörtextes / des regionalen Skripts mit der Klärung von regionalen Markierungen (z. B. kölnisch: Pänz für ‚Kind‘ usw.) 9. Extraverbale Informationsanalyse (Ort der Sprechhandlung, Gestus, evtl. Kleidung, Haltung, Mitteilungsabsicht, usw.) Natürlich verlangt die Ausbildung der regional variierten Hörverstehenskompetenz das vielfach wiederholte Hören. 372 CamillaBadstübner-Kizik Literatur Badstübner-Kizik, C. (2016): Hör- und Hör-Sehverstehen. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht , 6. Aufl. Tübingen, 93-97. Jamet, M.-C. (2007): À l’écoute du français. La compréhension orale dans le cadre de l’intercompréhension des langues romanes . Tübingen. Meißner, F.-J. (2018): Zur Geschichte der fremdsprachendidaktischen Fachbegriffe der rezeptiven Mündlichkeit. In: H. Martinez & F.-J. Meißner (Hrsg.): Fremdsprachenunterricht in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Marcus Reinfried . Tübingen, 77-106. O’Malley, J. M., Chamot, A. U. & Kupper, L. (1989): Listening Comprehension Strategies in Second Language Acquisition. In: Applied Linguistics 10, 418-431. Rossa, H., Meißner, F.-J. & Aufgabenentwickler (2017): Hörverstehen und Hörsehverstehen. In: B. Tesch, X. von Hammerstein, P. Stanat & H. Rossa (Hrsg.): Bildungsstandards aktuell: Englisch/ Französisch in der Sekundarstufe II. Mit einem Grußwort der Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Braunschweig, 84-99. Söll, L. & Hausmann, F. J. (1971): Gesprochenes und geschriebenes Französisch . Berlin. Studer, T. (2002): Dialekte im DaF-Unterricht? Ja, aber… Konturen eines Konzepts für den Aufbau einer rezeptiven Verstehenskompetenz. In: Linguistik Online 10/ 1. [https: / / bop.unibe.ch/ linguistik-online/ article/ view/ 927/ 1618]. Camilla Badstübner-Kizik 76. Lesen in der Perspektive von Mehrsprachigkeit 1. Grundsätzliches zum Spracherwerb Jeder Erwerb einer menschlichen Sprache (↗ Art. 51) verläuft über den ihrer verbalen Zeichen mit deren Form- und Inhaltsseiten. Fehlt die eine oder andere Seite, so ist Erwerb unmöglich. Die sprachliche Formseite präsentiert sich als eine akustische oder graphische Oberfläche, die Inhaltsseite wird im kommunikativen Akt von einem Hörer/ Leser mithilfe der identifizierten Oberflächenmerkmale - Laute, Wörter, morphologische und syntaktische Regularitäten, soziolinguistische Merkmale und vieles andere mehr - dekodiert und (re)konstruiert. Hierbei ist eine Plausibilitätsprobe im Spiel, die sich auf einen kommunikationsintentionalen und -situativen Kontext, auf einen aus den gesendeten sprachlichen Zeichen bestehenden Ko-Text und auf die Aktivierung von zwischen Sender und Empfänger geteiltem Wissen ( common grounds ) bezieht, das sich aus kulturspezifischen und/ oder interkulturellen Wissens- und Verhaltensressourcen speist. Schon die Begriffe Sender und Empfänger deuten auf den sozialen Charakter von Sprache hin. Auf Kompetenzen hin gewendet unterstreicht diese Paarung die Komplementarität von Rezeption und Produktion beim Erstsprachenerwerb. Beim Erwerb einer weiteren Sprache oder linguistischen Varietät wird diese Obligatorik zum Nachteil der produktiven Teilfertigkeiten (des Sprechens und des Schreibens) eingeschränkt, wie sich an den Beispielen von Dialekten und Soziolekten sowie an zur Erstsprache nahverwandten Sprachen beobachten lässt. Die Reduzierung um die Produktivität beim Erwerb einer zwei- 373 76. LeseninderPerspektivevonMehrsprachigkeit ten, dritten oder weiteren Sprache geht mit dem Fokus auf Rezeptionsfähigkeit einher. Kurz und knapp: Erstens, man kann keine Sprache sprechen oder schreiben, ohne sie auch hörverstehen (↗ Art. 75) oder lesen zu können. Zweitens, man kann vor allem lesend viel mehr verstehen, als man sagen oder schreiben kann. Diese Feststellung muss ihrer Trivialität zum Trotz genannt werden, da sie wesentlich für alle didaktischen Modelle des Sprachenerwerbs oder der differenzierten und abgestuften Mehrsprachigkeit ist. Mehrsprachigkeit meint realiter nie dieselbe Kompetenzbreite und dasselbe Kompetenzniveau in allen einem Individuum verfügbaren Sprachen (↗ Art. 6, 7). Eine solche naive und empirisch unhaltbare - gleichwohl lange verbreitete - Auffassung ignoriert schon die kulturspezifische Prägung einer jeden Sprache als eines eigenen Repertoires von Themen. Die Fremdsprachenerwerbsforschung betont in diesem Zusammenhang die Rolle von Quantität und Qualität der Teilhabe eines Individuums an mehreren Kulturen und deren Sprachen für den Aufbau von Mehrsprachigkeit. Selbstredend verbindet sich Spracherwerb mit Sprach- und Kommunikationserlebnissen. Sie umfassen vor allem die unterschiedlichen Grundfertigkeiten und ihren Gebrauch in den verschiedenen Sprachen sowie soziale Erfahrungen mit Sprachen und kommunikativen Situationen. Schon hier sei ein zentraler Vorzug des Lesens für den Erwerb von Mehrsprachigkeit außerhalb der zielsprachlichen Räume unterstrichen: Anders als das Hörverstehen findet Lesen in einem offenen Zeitfenster statt, das wiederholt geöffnet werden kann, und zwar auch dann, wenn es nicht einer didaktischen Steuerung unterliegt. Dass die rezeptiven Fertigkeiten auch willentlich nicht ‚abstellbar‘ sind, erklärt, weshalb sowohl inzidentelles als auch (vor allem) gesteuertes Lernen beim Lesen, Hörsehverstehen und Hörverstehen besonders greifen. Ein das Erlebnis bestimmter Sprachen stark prägender Faktor entfließt dem Charakter der Zielsprache selbst, gerade auch im Verhältnis zu den einem Individuum schon bekannten Sprachen. Er bestimmt den Grad der Fremdheit von Sprachen und damit auch weitgehend den ihrer (vermeintlich) leichten oder schweren Erlernbarkeit. Den ersten Eindruck liefert die Verständlichbzw. Unverständlichkeit der phonischen oder der graphischen Oberfläche einer ‚neuen‘ Zielsprache. Immer ist das relevante Vorwissen der Individuen im Spiel. 2. Lesen in Sprachen mit phonographischen Schriften Il (l'enfant) est aussi un animal 'métalangagier'. Il faut bien se rendre compte que le passage à l'écrit est en soi un acte de ce type, comparable, toutes proportions gardées, à l'arrachement de la naissance, au détachement de la nature et de la mère. (Catach 1988: 18) Alle europäischen Alphabete sind lautabbzw. -nachbildend, auch wenn das phonographische Prinzip durch das etymologische, das zumeist auf das Lateinische zurückgreift, unterbrochen wird. Die bekannten Systeme - die Varianten der arabischen Schriften, das kyrillische und das lateinische Alphabet - sind allerdings so verschieden, dass sie für das Erlernen einer fremden Sprache über das Lesen ein erstes und erhebliches Hindernis darstellen können, obwohl ihre mentale Verarbeitung - sehr grob - dieselbe Abfolge von Prozessen einleitet, wie sie auch beim Lesen einer Fremdsprache mit gleichem Alphabet wie die Muttersprache feststellbar ist: Identi- 374 SteffiMorkötter-&Franz-JosephMeißner fikation der Buchstaben, deren Relationierung mit dem gefassten Laut (Phon), Zusammenfassung der Phonogramme zu Silben, Erkennung morphosemantischer Einheiten (und ihrer lexematischen und morphematischen Anteile) und syntaktischer Regularitäten oberhalb der Wortebene. Studien zur Verarbeitung von Leseprozessen zeigen, dass das Grobschema wesentliche Faktoren übersieht; etwa die Leseerfahrung in einer Muttersprache und/ oder in weiteren Sprachen, sog. Wortsuperioritätseffekte (häufige Buchstabenstrings in Wörtern werden schneller rezipiert als Einzelbuchstaben oder seltene Buchstabenfolgen), Morphem- und Lexemfrequenzen (je vertrauter desto schneller gerät die Verarbeitung), phonologische Rekodierung: Rückschlüsse vom Graphem zum Phonem, das Speichern und der Rückgriff auf phonologische Informationen, Nutzung syntaktischer Informationen wie Valenz und Wortklasse, Wortfolgemuster bzw. Satzstellung (vgl. vor allem Lutjeharms 2010: 17 ff.). Selbstverständlich interagieren die Verarbeitungsstufen von sprachlichen Oberflächenmerkmalen mit semantischen Informationen. Vorwissen und Inferieren kommen ins Spiel. So entsteht das „Textverständnis (…) aus einer Interaktion der Dekodierungsergebnisse mit inhaltlichem Vorwissen“ (ebd.: 20). Als flüssige Leser in ihrer Mutter- oder Erstsprache verfügen die Individuen über Routinen, die ihren Leseprozessen eine automatische und keineswegs bewusstseinspflichtige Systematik zur Verfügung stellen, welche sich auf die Relation zwischen Aussprache und Orthographie zunächst ihrer Erstsprache bezieht (die Aussprache von dt. Spange ist / spaŋe/ und nicht / *spange/ , wie dies z. B. italienische DaF- Schüler produzieren). Dies erklärt, weshalb Lerner fremder Sprachen ohne Vermittlung der zielsprachlichen Lautmuster deren normgerechte Aussprache nicht erschließen können. 3. Spezifika fremdsprachlichen Lesens (wobei die Lesekompetenz in einer ersten Sprache erworben wurde) Gehört die Zielsprache demselben Alphabet wie die Sprache der (ersten) Alphabetisierung an, so müssen bestimmte notwendige Schritte nicht erneut gemacht und die hierzu gehörigen Kompetenzen nicht mehr neu erworben werden. Ähnliches gilt für Ausgangs- und Zielsprachen in dem Maße generell, soweit sich zwischen ihnen linguale Transferbasen feststellen und nutzen lassen (↗ Art. 64). Diese können jeglicher Art sein, d. h. auf die Dekodation der sprachlichen Oberfläche bezogene oder auf inhaltliche Wissensschemata. Dementsprechend unterscheidet die Leseforschung zwischen Verständnis bzw. Dekodation und Verstehen, d. i. die Deutung oder Interpretation der Mitteilung. Grundsätzlich gilt: Geübte Leser einer (noch) nicht gut beherrschten Fremdsprache müssen typische Strategien schwacher muttersprachlicher Leser einsetzen wie Inferieren auf der Ebene der Worterkennung. Sie beherrschen das Inferieren aber besser, da sie mehr Auslöser verarbeiten können und imstande sind, ihre bessere Textkompetenz (…) einzusetzen. (Lutjeharms 2010: 21) Der benutzte Begriff der Transferbase verweist auf Mustererkennung und damit u. a. auf Eckmans (1977) berühmte markedness -Hypothese, der zufolge gleiche Muster zu positivem, unterschiedliche hingegen zu negativem Transfer führen können; zwei Beispiele: dt. sein hat im Spanischen zwei mögliche Entsprechungen: ser und estar , dt. können im Französischen pouvoir und savoir. Während die Produktivität Deutschsprachige leicht zu Fehlgriffen führt, zeigt ihnen die Rezeption entsprechender zielsprachlicher Ko-Texte 375 76. LeseninderPerspektivevonMehrsprachigkeit die richtige Verwendung der Formen. In der größeren Kenntnis von möglichen Transferbasen liegt ein Grund dafür, dass Mehrsprachige es tendenziell leichter haben, fremde Sprachen zu verstehen und zu erlernen als Einsprachige ohne Sprachlernerfahrungen (↗ Art. 62). Bislang war von der Aussprache allein im Hinblick auf eine Zielsprache und die Mutter- oder Erstsprache die Rede. Die Frage stellt sich natürlich auch zwischen den Brücken- und den Zielsprachen. Graphisch sind z. B. engl. continue / kən’tinju: / und frz. continue / kɔ̃tiny/ homonym, homophon sind sie aber nicht. Mindestens ebenso relevant, wahrscheinlich wichtiger als die Fragen und Modelle der lesebasierten phonologischen Rekodierung, ist die Motivation: Lerner wollen einen Text auch laut lesen können und sich dabei sprechen hören. 4. Eine neue Sprache lesen lernen heißt, ihre Profileigenschaften zu „demaskieren“ Zwar haben sich die Orthographien der europäischen Sprachen mit Blick auf lateinische Schreibweise(n) entwickelt, doch haben sie diesen Blick so gut wie nie (offen) auf die Rechtschreibungen der Nachbarsprachen ausgeweitet. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Wunsch nach interlingualer Differenzierung, nicht der nach Angleichung im Spiel war. Vor allem dies erklärt die unterschiedlichen Abbildungen eines quasi identischen Lauts in den verschiedenen Orthographien, wofür sich ungezählte Beispiele finden lassen, z. B. für den [f]-Laut: dt. Elephant/ Elefant , engl. elephant , frz. éléphant , it./ port./ sp. elefante usw. Besonders der Homophonenreichtum des Französischen hat zu starken Differenzierungen geführt, so etwa für [o]: -o-, -ot, -au-, -eauohne Nennung der folgenden stummen Konsonanz ( sot, beaux, haricots, aux usw.). Solche Alleinstellungsmerkmale einer Sprache heißen in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik Profilformen. Wer Lesekompetenz in einer weiteren (romanischen) Sprache erwerben will, muss lernen, die unterschiedlichen Graphien zu erkennen, um ihre verschiedenen national-orthographischen Prägungen auf einen gemeinsamen Bedeutungskern zu bringen. Klein & Stegmann (2000) sprechen treffend von der Fähigkeit, phonetische, phonologische und orthographische Abweichungen von Sprachen zu „demaskieren“. Aufgrund ihrer hohen Frequenz begegnet dies zuvorderst bei Prä- oder Suffixen: -ación, -aç-o, -azione, -ation, -ation, -ation, lacja , я́ция usw. Natürlich sind auch die lexematischen Anteile des Vokabulars betroffen, wie insbesondere die sog. Interligalexe (↗ Art. 60) veranschaulichen (Meißner 2019). 5. Relevanz der fremdsprachlichen Lesekompetenz Die Fremdsprachendidaktik ist in Lehre und Forschung im Hinblick auf mehrsprachige Lesekompetenz weitgehend an überkommenem Unterricht orientiert. Bezeichnend hierfür ist, dass der Diskurs um das interkulturelle Lernen das Lesen und die Lesekompetenz nicht angemessen bewertet (↗ Art. 17, 32). Dies umfasst einerseits dessen Rolle für den Spracherwerb, vor allem aber dessen praktische Wertigkeit für die Nutzung fremder Sprachen. Im Rahmen des Lehrziels einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit ist zu betonen, dass das Lesen in fremden Sprachen eine wissenschaftspropädeutisch und berufsbezogen generell nicht zu unterschätzende Rolle 376 SteffiMorkötter-&Franz-JosephMeißner einnimmt. Lesekompetenz wird immer dann erforderlich, wenn es um inhaltliche Gegenstände geht, die in fremden Sprachen behandelt wurden. Im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich gilt dies für bislang eine kaum gesichtete Vielzahl von Gegenständen und Sprachen. Für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die beruflichen Experten kommt es nicht oder viel weniger darauf an, in mehreren Sprachen (produktiv) zu kommunizieren denn zu lesen. Auch für die Herstellung einer EU-europäischen Öffentlichkeit ist eine weit verbreitete mehrsprachige Lesekompetenz entscheidend (↗ Art. 9). Zusammengefasst gilt: Die mehrsprachige Lesekompetenz ist keine quantité négligeable . 6. Fazit Der vorliegende Artikel hat Faktoren herausgearbeitet, die bei mehrsprachigem Lesen relevant sind. Dabei wurde um Aspekte verkürzt, die das fremdsprachliche Lesen, die kognitionswissenschaftlich orientierte sowie die fremdsprachendidaktische Leseforschung im Allgemeinen betreffen (insbes. Koda 2011; Meißner 2013; Meißner & Schröder 2017: 122). Letzteres schließt auch methodische Fragestellungen ein. Umgekehrt wurden Argumente genannt, die in den dortigen Publikationen weitgehend fehlen, weil sie in einzelsprachlichen Ansätzen keine bedeutende Rolle spielen. Die an Beispielen der romanischen Mehrsprachigkeit erarbeiteten Befunde verlangen den Vergleich mit dem stark lesegestützten Erwerb in anderen Sprachfamilien (↗ Art. 67). Nur wenn solche vorliegen, können über die romanische Interkomprehension hinaus verallgemeinernde Aussagen über den Erwerb von Lesekompetenz in mehreren Sprachen ermöglicht werden. Entsprechende Forschungen sind ein Desiderat, das sich vor allem jenen hinzugesellt, die den Weiterbau der rezeptiven auch zur produktiven Kompetenz betreffen. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass Lesekompetenz im Diskurs zum interkulturellen Lernen bislang nicht angemessen berücksichtigt wird. Literatur Catach, N. (1988): Fonctionnement linguistique et apprentissage de la lecture. In: Langue Française 88, 6-19. Eckman, F. (1977): Markedness and Contrastive Analysis Hypothesis. In: Language Learning 27, 315-330. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Koda, K. (2011): Learning to Read a New Writing System. In: M. H. Long & C. J. Doughty (Hrsg.): The Handbook of Language Teaching . 2. Aufl. Sussex, 462-485. Lutjeharms, M. (2010): Der Leseprozess in Mutter- und Fremdsprache. In: M. Lutjeharms & C. Schmidt (Hrsg.): Lesekompetenz in Erst-, Zweit- und Fremdsprache . Tübingen, 11-26. Meißner, F.-J. (2013): Lesen, Lesekompetenz. Leseförderung in fremden Sprachen. In: E. Klein, F.-J. Meißner & T. Prokopowicz (Hrsg.): Lesen, Lesekompetenz, Leseförderung. Akten des GMF-Sprachentages. Aachen 2012. In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 1, 9-70. [http: / / geb.uni-giessen. de/ geb/ volltexte/ 2013/ 9525/ ]. Meißner, F.-J. (2019): Interligalexes of the Core Vocabulary of Romance Plurilingualism (CVRP) and their Potential Effects on Plurilingual Learning Economy. In: Rivista di Psicolinguistica Applicata/ Journal of Applied Psycholinguistics XIX, 2 (forthcoming). Meißner, F.-J., Schröder, K. et al. (2017): Leseverstehen. In: B. Tesch, X. von Hammerstein, 377 77. InterkomprehensionsdidaktischeAnsätzeinLehrwerkenromanischerSprachen P. Stanat & H. Rossa (Hrsg.): Bildungsstandards aktuell: Englisch/ Französisch in der Sekundarstufe II . Braunschweig, 120-141. Steffi Morkötter-& Franz-Joseph Meißner 77. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken romanischer Sprachen 1. Definition Lehrwerke für romanische Sprachen werden in Deutschland und Österreich meist für den Unterricht der 2. und 3. Fremdsprachen an der Sekundarstufe konzipiert und müssen dementsprechend die Lernausgangslagen und das (sprachliche und steuerungsbezogene) Vorwissen kognitiv reiferer Schülerinnen und Schüler berücksichtigen. In den Lehrplänen ist dies ebenso verankert wie die Förderung mehrsprachiger und plurikultureller Kompetenzen, was eine effektive Kommunikation im Kontext von Alterität ermöglichen soll (↗ Art. 20, 86). Diese Prämissen erfordern sprachenübergreifende Ansätze, die allerdings im Spannungsfeld mit der sprachspezifischen Ausrichtung der Lehrpläne stehen. Dabei überprüfen Gutachterkommissionen in regional organisierten Approbationsverfahren die Passung der Lehrwerke in Bezug auf ihre Konzeption und Komponenten, was mitunter zur Hürde für eine nachhaltige Implementierung interkomprehensionsdidaktischer Ansätze werden kann. 2. Problemaufriss „Die effektivsten Lehrwerke sind die, die gezielt kontrastieren, vergleichen und bewusst machen.“ Das Zitat Hufeisens (1998: 130) bringt den Grundgedanken einer interkomprehensionsdidaktischen Lernökonomie auf den Punkt, die von der Renaissance bis zum 19. Jh. in mehrsprachigen Wörterbüchern, Grammatiken und Dialogbüchern genutzt wurde, um Volkssprachen zu lehren und zu lernen (↗ Art. 29). Auch Comenius stellte modern anmutende Regeln für Polyglottie auf und setzte sie u. a. in seinem Lehrbuch Orbis pictus (1658) um, in dem synoptische Vokabelspalten neben Inhaltswissen auch den Aufbau eines mehrsprachigen Wortschatzes förderten (Müller-Lancé 2006: 25). Mit der Dominanz der direkten Methode und der im 20. Jh. folgenden lerntheoretischen Orientierung am Behaviorismus traten diese mehrsprachigkeitsfördernden Ansätze in den Hintergrund. Das damit verbundene ‚Dogma‘ der strengen Einsprachigkeit führte zu einer überzogenen Angst vor interferenzbedingten Fehlern, was sich massiv auf die Gestaltung von Lehrwerken auswirkte, die nunmehr fast ausschließlich in der Zielsprache verfasst wurden. Erst die Interkomprehensionsdidaktik schaffte seit den 1990er Jahren wieder Raum für die Förderung von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7), was durch das Paradigma des neo-kommunikativen Fremdsprachenunterrichts betont wurde: Interkomprehensionsdidaktik ist hier explizit unter dem Dachprinzip des fächerübergreifenden Lernens verankert (Reinfried 2001: 10). In den weiterhin sprachspezifisch angelegten Lehrwerken wird dieser Ansatz aber auch aktuell nur marginal genutzt. 378 MichaelaRückl 3. Forschungsstand Im Zuge der europäischen Interkomprehensionsprojekte (↗ Art. 67) wurden innovative Lehrmaterialien entwickelt, mit dem Ziel, eine günstige motivationale Ausgangslage für den Sprachlernbeginn zu schaffen, als Basis für einen bedarfsorientierten Ausbau weiterer Teilfertigkeiten. Anhand empirischer Begleitforschung konnte eine Steigerung der rezeptiven Kompetenzen in den Zielsprachen sowie der transversalen Sprachlernkompetenz nachgewiesen werden, die auf den interkomprehensiven Ansatz zurückführbar ist (jüngst Morkötter 2016). Die Analysen aktueller Lehrwerke für den Schulunterricht zeigen allerdings, dass sprachliche Mittel zwar meist induktiv erarbeitet werden, was mit dem inferentiellen Lernbegriff kompatibel ist, der interkomprehensionsdidaktischen Ansätzen zugrunde liegt. Sprachenübergreifende Aufgaben, die den heterogenen Spracherwerbsbiografien der Lernenden gerecht würden, sind aber sowohl in Bezug auf sprachlich-kulturelle als auch auf leistungsbedingte Diversität die Ausnahme (Fäcke 2016: 38 ff.). Lehrwerke für romanische Schulsprachen, die Sprachenvergleich und Inferenz systematisch nutzen, entstanden im Rahmen des kantonübergreifenden Schweizer Projekts Passepartout. Dabei wurden die Französischlehrwerke Mille feuilles für die Primarstufe und Clin d’oeil für die Sekundarstufe I entwickelt und durch Begleitforschung flankiert. Hier zeigte sich die dringende Notwendigkeit, die Lehrwerkkompetenz von Lehrpersonen in Bezug auf mehrsprachige Verfahren auszubauen (jüngst Lovey 2017: 233). Parallel dazu entstand in Eigeninitiative dreier Lehrerinnen das Italienischlehrwerk Tracce für die Sekundarstufe II, das mit dem Worlddidac Award 2014 ausgezeichnet wurde. Die ebenfalls aus einem Eigenprojekt entstandene österreichische Lehrwerkreihe Découvrons le français, Descubramos el español, Scopriamo l’italiano für die Sekundarstufe II nutzt den interkomprehensiven Ansatz systematisch, um alle lehrplanmäßig vorgesehenen Kompetenzbereiche lernökonomisch zu fördern und erreichte dadurch die Approbation für den Unterricht der 3. Fremdsprache. Zum frühen Mehrsprachigkeitsunterricht hat Peter Doyé zusammen mit zielsprachlich-nativen Koautorinnen - mit Unterstützung von Volkswagen und weiterer Sponsoren - für mehrere Zielsprachen pädagogische Materialien besorgt (Doyé & King 2010; Doyé et al. 2011; Doyé & Hausmann 2011; Doyé et al. 2012). Damit ist die empirische Erforschung der Rezeption und Wirkung des Lehrwerkkonzepts in der regulären Schulpraxis möglich (↗ Art. 85). Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur in der Lage sind, kognitiv anspruchsvolle mehrsprachigkeitsfördernde Aufgaben zu bewältigen, sondern diese auch positiv wahrnehmen (Rückl 2018: 187). 4. Praxisrelevanz Schülerinnen und Schüler sollen (sprachliches und selbststeuerungskompetentes) Vorwissen von Anfang an als lernerleichternd erfahren und hierzu neue Formen und Funktionen selbstständig erarbeiten können. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken können dazu beitragen, Hypothesenbildung, Inferenz und Transfer als Strategien zum sprachenübergreifenden Lernen bereits im Anfangsunterricht, der als lehrwerkbasiert gilt, zu forcieren (Fäcke 2016: 35). Als Printmedium können Lehrwerke halbstrukturierte 379 77. InterkomprehensionsdidaktischeAnsätzeinLehrwerkenromanischerSprachen Raster, Mindmaps und Infografiken als Merk- und Systematisierungshilfen für Interlexeme und mehrsprachige Grammatikübersichten anbieten oder anleiten, um metakognitives Wissen zu fördern und den Lernertrag zu steigern (Hypothesengrammatik). Entsprechende Formate liegen längst vor (↗ Art. 80). Interkulturelle Aufgaben im Anschluss an diese formalisierende Strukturarbeit können Neugier wecken und für kulturelle Komplexität sensibilisieren. Nach den Sieben Sieben (Klein & Stegmann 2000) bietet der Referenzrahmen für Plurale Ansätze (RePA) konkrete Deskriptoren für die Aufgabenkonzeption und eine webbasierte Materialienbank (↗ Art. 20). Das Core Vocabulary of Romance Plurilingualism (CVRP) stellt auf lexikografischer Forschung basierte Lern- Apps zum sprachenübergreifenden Erwerb des romanischen Kernwortschatzes bereit, die als digitale Zusatzkomponenten verwendet werden können (Meißner 2018). 5. Perspektiven und Herausforderungen Wenn es um die nachhaltige Integration interkomprehensionsdidaktischer Ansätze in den Unterrichtsalltag geht, spielen die in den Schulen und der Erwachsenenbildung eingesetzten Lehrwerke eine wichtige Rolle, die exemplarische Zusatzmaterialien nicht übernehmen können. Dazu müssen mehrsprachigkeitsrelevante Grundsätze in Lehrplänen aufgegriffen und systematisch in die Lehrwerkkonzeption integriert werden. Die Lehrwerkentwicklung erhält hierdurch eine forschungsbasierte und praxisbezogene Fundierung. Forschungs- und Entwicklungsprojekte in Kooperation mit Schulen nach dem Modell Passepartout sowie Design-Based Research- Ansätze scheinen geeignet, um Lehrwerke im Sinne des integrativen und interkomprehensiven Ansatzes weiterzuentwickeln und gleichzeitig Erkenntnisse zu Lehr- und Lernprozessen im konkreten Praxisbezug zu gewinnen. Literatur Fäcke, C. (2016): Lehrwerkforschung - Lehrwerkgestaltung - Lehrwerkrezeption. Überlegungen zur Relevanz von Lehrwerken für den Fremdsprachenunterricht. In: M. Rückl (Hrsg.): Sprachen-& Kulturen: vermitteln und vernetzen . München, 34-48. Hufeisen, B. (1998): Individuelle und subjektive Lernerbeurteilungen von Mehrsprachigkeit. Kurzbericht einer Studie. In: International Review of Applied Linguistics in Language Teaching 36/ 2, 121-135. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können . 3. Aufl. Aachen. Lovey, G. (2017): Lernerorientierung in den Lehr- und Lernmaterialien ' Mille feuilles '. In: C. Fäcke & B. Mehlmauer-Larcher (Hrsg.): Fremdsprachliche Lehrmaterialien - Forschung, Analyse und Rezeption. Frankfurt a. M, 217-244. Meißner, F.-J. (2018): Die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit. Eine didaktische Analyse zur interlingualen Transparenz- und Frequenzforschung . Giessen. Morkötter, S. (2016): Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe. Untersuchungen zu früher Interkomprehension . Tübingen. Müller-Lancé, J. (2006): Der Wortschatz romanischer Sprachen im Tertiärsprachenerwerb. Lernerstrategien am Beispiel des Spanischen, Italienischen und Katalanischen . 2. Aufl. Tübingen. 380 MichaelaRückl Reinfried, M. (2001): Neokommunikativer Fremdsprachenunterricht: ein neues methodisches Paradigma. In: F.-J. Meißner & M. Reinfried (Hrsg.): Bausteine für einen neokommunikativen Französischunterricht. Lernerzentrierung, Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Interkulturalität, Mehrsprachigkeitsdidaktik. Tübingen, 1-20. Rückl, M. (2018): Die Rolle von Lehrwerken für die Umsetzung eines Gesamtsprachencurriculums. Konzeption und Implementierung der Lehrwerkreihe Romanische Sprachen interlingual lernen im Kontext der neuen Lehrplanvorgaben für die österreichische Sekundarstufe II. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 29/ 2, 169-191. Materialien Doyé, P. & King, B. (2010): Kindergarten goes bilingual. Hildesheim. Doyé, P., Manazza, A. & Posillico, F. (2011): Vivere due lingu e. Hildesheim. Doyé, P. & Hausmann, C. (2011): Educación bilingüe . Hildesheim. Doyé, P. & Meissner-Lenoir, C. (2012): Vivre en deux langues . Hildesheim. Internet Holzinger, G., Seeleitner, I., Castillo de Kastenhuber, C. et al. (2012): Descubramos el español. Spanisch interlingual . Wien. [http: / / www.hpt.at/ Flipbooks/ DESCUBRAMOS/ ]. Rückl, M., Holzinger, G., Pruniaux, F. et al. (2013): Découvrons le français. Französisch interlingual . Wien. [http: / / www.hpt.at/ Flipbooks/ DECOUVRONS/ ]. Rückl, M., Moriggi, R., Rigamonti, E. et al. (2012): Scopriamo l’italiano. Italienisch interlingual . Wien. [http: / / www.hpt.at/ Flipbooks/ SCOPRIAMO/ ]. Materialienbank zum RePA: [https: / / carap. ecml.at/ Database/ tabid/ 2313/ Default.aspx]. Mille feuilles / Clin d’oeil : [http: / / www.passepartout-sprachen.ch]. Tracce : [http: / / www.tracce.ch]. Michaela Rückl 78. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken slawischer Sprachen 1. Problemaufriss Während im schulischen Kontext häufiger zwei romanische Sprachen gelernt werden (↗ Art. 80) und Lernende des Deutschen als Fremdsprache sehr oft an bereits vorhandene Englischkenntnisse anknüpfen können (↗ Art. 87), werden Schülerinnen und Schüler in Deutschland - wenn überhaupt - nur mit einer slawischen Sprache konfrontiert. Beim Erlernen einer ersten slawischen Schulfremdsprache (L3) überwiegen daher Sprachvergleiche mit den zuvor gelernten Sprachen Deutsch (L1) und Englisch (L2) sowie Ansätze der sprachfamilienübergreifenden Interkomprehension. Eine zweite und ggf. weitere slawische Sprache kann im Erwachsenenalter, z. B. im Rahmen eines Slawistikstudiums, hinzutreten; in diesem Fall wird Interkomprehension innerhalb der slawischen Sprachfamilie relevant (Art. 95). 381 78. InterkomprehensionsdidaktischeAnsätzeinLehrwerkenslawischerSprachen 2. Forschungsstand Wegweisend für die Mehrsprachigkeitsdidaktik der letzten zehn Jahre im Bereich des Russischen war die empirische Arbeit von Behr (2007) zum sprachenübergreifenden Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I. Ergebnisse dieser Arbeit fanden Eingang in die Lehrwerkgeneration für Russisch als 2./ 3. Schulfremdsprache ab 2008, wo sich systematische Vergleiche mit anderen Sprachen und Anregungen zum entdeckenden Lernen finden. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Sprachfamilien übergreifenden Interkomprehension des Russischen (als 3. Schulfremdsprache zu Beginn der Kl. 8) wurde gezeigt (↗ Art. 94), dass ein Großteil der Schülerinnen und Schüler einen russischen Originaltext auf Deutsch zusammenfassen sowie Internationalismen in kyrillischer Schrift erschließen konnte (Mehlhorn 2014). Tafel et al. (2009) bieten eine theoretische Einführung in die slawische Interkomprehension mit praktischen Anleitungen und Übungsmaterial für Lesekurse mit den Zielsprachen Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Polnisch, Tschechisch, Russisch und Ukrainisch, wobei diese Slawinen gleichzeitig als Brückensprache fungieren können (↗ Art. 95). 3. Praxisrelevanz In der Lehrwerkgeneration für Russisch als zweite ( Dialog , Konečno ) und dritte Fremdsprache ( Privet ) 2008-2011 wird erstmals systematisch an zuvor gelernte Sprachen der Schülerinnen und Schüler angeknüpft. Durch Sprachvergleiche sollen sie für die Verwandtschaft der indoeuropäischen Sprachen, Ähnlichkeiten in der Funktion und Anordnung sprachlicher Strukturen und kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede sensibilisiert werden. Authentische Fotos mit Aufschriften auf Gebäuden und Einrichtungen zeigen den Lernenden, dass sie - mithilfe des kyrillischen Alphabets - viele Wörter in der neuen Sprache verstehen können, ohne sie direkt gelernt zu haben. Besonders deutlich sind Mehrsprachigkeitsansätze in den Lehrwerken Dialog und Privet erkennbar. Die hier enthaltenen Sprachvergleiche sind nicht nur lexikalischer, sondern auch grammatischer Art und entsprechen den Kriterien für sprachenübergreifende Übungen (vgl. Behr & Wapenhans 2016) und entdeckendes Lernen. Am häufigsten wird das Russische mit Deutsch und Englisch verglichen. Auf Französisch und Latein wird seltener verwiesen. Viele Übungen sind jedoch so angelegt, dass die Lernenden selbst Beispiele aus ihren gelernten Sprachen beisteuern können. Verglichene grammatische Phänomene sind bspw. Wortstellung, Wortarten, Deklinations- und Konjugationsendungen, Rektion von Verben und Präpositionen, Tempora, Modalverben, Aspektgebrauch, Partizipien, Passivbildung, Steigerung der Adjektive und Satzarten (vgl. Mehlhorn & Wapenhans 2011: 57 f.). Dialog , Privet und Vmeste präsentieren darüber hinaus Vergleiche mit weiteren Slawinen, in denen die Schülerinnen und Schüler Kognaten innerhalb der slawischen Sprachen, sog. Panslawismen, und die Rolle des Russischen als Brückensprache erkennen können, z. B. Privet 1 im Bereich der Zahlen 1-5 (2009: 15) und der Bezeichnungen für Familienmitglieder (ebd.: 18): (1) „vier“: russ. четыре (četyre), poln. cztery , tsch. čtyři , bulg. четири (četiri) (2) „Großmutter“: russ. бабушка (babuška), poln. babka , tsch. babička , bulg. баба (baba) Einer der ersten Texte im Lehrwerk für Tschechisch an Gymnasien ( Čeština pro gymnázia 1, 2007: 11) behandelt die Tschechische Republik und nutzt dabei gezielt Weltwissen 382 GritMehlhorn der Lernenden und Internationalismen. Das Lehrwerk Witaj Polsko! (2009) für Polnisch als dritte Fremdsprache weist jedoch lediglich auf deutsch-polnische Parallelen in Aussprache, Wortschatz und Grammatik hin. In Interviews mit Lehrkräften des Russischen als dritte Fremdsprache wurden gewisse Unsicherheiten deutlich, wie sprachenübergreifende Lehrwerkimpulse im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden können (Mehlhorn & Wahlicht 2011: 59-64). Den Lehrkräften zufolge laden Tabellen mit vorgegebenen Beispielwörtern aus verschiedenen Sprachen weniger zu Sprachvergleichen ein als Aufgaben, in denen Lernende selbst etwas erschließen müssen, z. B. eine auf Polnisch verfasste Glückwunschkarte im Russischlehrwerk Dialog 2 (Arbeitsheft 2009: 32) oder ein Telefongespräch in tschechischer Sprache in Dialog 1 (Handreichungen, 2008: 76). Auch Lehrwerke für Erwachsene beginnen häufig mit der Präsentation von Internationalismen und Fremdwörtern, die bspw. beim Lesen polnischer Schlagzeilen im Lehrwerk Razem (2009: 13) oder über das Hören erschlossen werden sollen, z. B. im Tschechischlehrwerk Schritt für Schritt (2006: 11). Dem Prinzip des entdeckenden Lernens fühlt sich auch das Lehrwerk Polski w pracy („Polnisch im Beruf “) verpflichtet: Die Lernenden sollen anhand von Visitenkarten internationale Berufsbezeichnungen verstehen (2010: 7), die später für die tabellarische Systematisierung maskuliner und femininer Personenbezeichnungen (ebd.: 13) wieder aufgegriffen werden. Ein ungewöhnlicher Interkomprehensionsansatz wird im ersten zusammenhängenden Text des Polnischlehrwerks Razem (2009: 16) gewählt: Die für Anfänger nicht erschließbaren Profilwörter eines polnischen Texts über die polnische Geschichte sind auf Deutsch angegeben, und die Lernenden werden aufgefordert, sich von dem Text unvoreingenommen überraschen zu lassen und ihre Erschließungsprozesse im Anschluss zu reflektieren. 4. Ausblick Leider wurde das Konzept des sprachenübergreifenden Lernens in der neuen Lehrwerkgeneration Dialog 1-3 (2016-2018), möglicherweise bedingt durch Autorenwechsel, nicht in diesem Sinne fortgeführt. So finden sich nur noch vereinzelt retrospektive Verweise auf die bereits bekannten Sprachen Deutsch und Englisch; die Bewusstmachung der Funktion des Russischen als Brückensprache und Anbahnung prospektiver Mehrsprachigkeit durch Vergleiche mit anderen slawischen Sprachen sucht man hier vergebens. In der Neubearbeitung des Lehrwerks Razem neu (2016) ist die Anzahl sprachvergleichender Übungen ebenfalls zurückgegangen. Auch wenn fast alle aktuellen Lehrwerke der slawischen Sprachen von Anfang an Internationalismen zur raschen Wortschatzerweiterung verwenden, bleibt die intensivere Nutzung von Vorwissen aus bereits gelernten (slawischen) Sprachen weiterhin ein Desiderat. Der Gebrauchswert von Kognaten (↗ Art. 60) geht über den lexikalisch-semantischen Bereich hinaus: Sie eignen sich für das Erkennen von Aussprache-, Rechtschreib- und Wortbildungsregeln sowie als Beispiele, anhand derer grammatische Phänomene erklärt werden können (Zawadzka & Mehlhorn 2014). Der Einsatz von zunächst stark strukturierten Texten mit einem hohen Maß an Transparenz, geringer kultureller Prägung und überwiegend bekannten Informationen als Prinzipien der Interkomprehension (Olivier & Strasser 2013: 99) stellt einen ersten Schritt dar, aber insbesondere in den Lehrwerken für Erwachsene 383 78. InterkomprehensionsdidaktischeAnsätzeinLehrwerkenslawischerSprachen besteht noch großes Potenzial für eine Fortführung dieser Progression sowie eine stärkere Bewusstmachung von positivem Transfer (↗ Art. 64) zwischen den slawischen Sprachen. Literatur Behr, U. (2007): Sprachenübergreifendes Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I. Ergebnisse eines Kooperationsprojekts der drei Phasen der Lehrerbildung. Tübingen. Behr, U. & Wapenhans, H. (2016): Sprachenübergreifendes Lehren und Lernen im Russischunterricht der Sekundarstufe I - wie geht das? In: A. Bergmann (Hrsg.): Kompetenzorientierung und Schüleraktivierung im Russischunterricht. Frankfurt a. M., 167-179. Mehlhorn, G. (2014): Interkomprehension im schulischen Russischunterricht? Ein Experiment mit sächsischen Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 8. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19/ 1, 148-168. Mehlhorn, G. & Wahlicht, M. (2011): Mehrsprachigkeit im Russischunterricht aus Sicht der Lehrenden. In: G. Mehlhorn & C. Heyer (Hrsg.): Russisch und Mehrsprachigkeit. Lehren und Lernen von Russisch an deutschen Schulen in einem vereinten Europa. Tübingen, 33-67. Mehlhorn, G. & Wapenhans, H. (2011): Die neue Lehrwerkgeneration für Russisch als zweite und dritte Fremdsprache. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40/ 2, 49-63. Ollivier, C. & Strasser, M. (2013): Interkomprehension in Theorie und Praxis . Wien. Tafel, K., Durić, R., Lemmen, R. et al. (2009): Slavische Interkomprehension. Eine Einführung. Tübingen. Zawadzka, A. & Mehlhorn, G. (2014): Niemieckie podręczniki do języka polskiego - stan obecny i dezyderaty na przyszłość. In: Gajda, S. & Jokiel, I. 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Putzier, A., Wasilewski, P. & Maskala, M. (2016): Razem neu. Polnisch für Anfänger. A1-A2. Stuttgart. Wapenhans, H. & Behr, U. (Hrsg.) (2008-2010): Dialog . Lehrwerk für den Russischunterricht. Bd. 1-3. Berlin. Wielandt, I. (Hrsg.) (2009-2010): Privet! Lehrwerk für den Russischunterricht. Bd. 1-2. Berlin. Worbs, E. (Hrsg.) (2009): Witaj Polsko! Polnischkurs. Bd 1-2. Wiesbaden. Grit Mehlhorn 384 AntaKursiša 79. Interkomprehensionsdidaktische Ansätze in Lehrwerken germanischer Sprachen 1. Problemaufriss Die Lehrwerkreihen der germanischen Sprachen, die von großen deutschen Verlagen auf den Markt gebracht worden sind, werden als modern, kommunikativ oder handlungsorientiert angepriesen. Ihr Einsatz zielt auf den praktischen Gebrauch einer Fremdsprache, z. B. beim Reisen oder Aufenthalten in den Zielsprachenländern, im Beruf oder im Studium. Die Lehrwerke spiegeln allerdings die Entwicklungen nicht nur in der Fremdsprachendidaktik und -methodik, sondern auch in der Sprachen- und Bildungspolitik wider. Die Orientierung der einzelnen Lehrwerkbände an den Kann-Beschreibungen der Niveaustufen nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (GeR) nimmt Bezug auf die Standardisierung des Fremdsprachenlehrens und -lernens vom schulischen Unterricht bis zur Erwachsenenbildung (vgl. Harsch 2016: 89; Vogt 2016: 202). Wenn Lehrwerke damit werben, die Lernenden auf eine bestimmte Prüfung vorzubereiten, handelt es sich auch hierbei in der Regel um die Niveaustufen des GeR (↗ Art. 18, 43, 50). In der Konsequenz wird Lehrmaterial produziert, das erstens die gleiche GeR-Niveaustufe in allen fremdsprachlichen Fertigkeiten anstrebt, statt die Kompetenzbereiche zu differenzieren, und das sich zweitens häufig auf Aufgabenformate beschränkt, die den Prüfungsaufgaben entsprechen. Didaktische Ansätze, die aus dem üblichen Raster herausfallen, finden somit nur schwer Eingang in die Lehrwerke. Zu solchen Ansätzen gehört auch die Interkomprehension - das EuroComGerm-Konzept, das Lernenden verspricht, mit Hilfe der Sieben Siebe und des optimierten Erschließens „nach kürzester Zeit“ (Hufeisen & Marx 2014: 8) Texte in mehreren germanischen Sprachen zu verstehen (↗ Art. 68). In seiner zweiten Auflage richtet sich das Basiswerk EuroCom- Germ jedoch an eine klar eingegrenzte Zielgruppe: „linguistisch Interessierte“ (ebd.: 1). Bei der Erstellung oder Aktualisierung von Lehrwerk-Reihen sind Verlage an dem sogenannten Return-on-investment interessiert, also am Verhältnis vom Gewinn durch den Verkauf der Produkte zum investierten Kapital (vgl. Funk 2010: 310 f.). Das schließt vor allem möglichst große Lernerzahlen ein, die am Kauf eines Lehrwerks interessiert wären. Eine umfassende Implementierung von EuroComGerm in die Lehrwerke der germanischen Sprachen scheint durch etliche, oben aufgezeigte Hindernisse gekennzeichnet. Gleichzeitig liefert das Konzept mehrere sinnvolle Strategien, die auch in einzelnen Sprachen und je nach Bedarf oder Kontext für das fremdsprachliche Leseverstehen und für die Entwicklung der Sprachlernbewusstheit eingesetzt werden können. 2. Praxis Eine positive Entwicklung im Bereich der Lehrwerkentwicklung ist insoweit festzustellen, als die Lektionen immer häufiger sogenannte Textseiten oder Lektionsteile zur Textarbeit beinhalten (↗ Art. 31, 76). Immer öfter werden auf diesen Seiten authentische oder lernstufenbezogene Lese-, manchmal auch Hörtexte angeboten, und die Zielsetzung betont das inhaltliche Erschließen. Die Arbeit mit Lesetexten dient in einem Teil der Lehrwerke der Ver- 385 79. InterkomprehensionsdidaktischeAnsätzeinLehrwerkengermanischerSprachen mittlung von landeskundlichen Informationen, und die Texte werden mit üblichen Testaufgaben wie Fragen zum Textinhalt versehen (z. B. Paulsson 2013; Hach-Rathjens 2017). Teilweise sind sie jedoch durch Aufgabenstellungen begleitet, die zur Nutzung von Strategien einladen, z. B. man lässt die Lernenden bestimmen, um welche Art von Text es sich handelt (z. B. Dedeurwaerder-Haas & Gassmann 2011: 12). Das Interkomprehensionskonzept verbindet den Einsatz von Vorwissen mit der Aneignung der Sieben Siebe und Strategien, die, zunächst bewusstgemacht und anschließend gezielt eingesetzt, das Texterschließen optimieren können (↗ Art. 68, 81). Die Aufgabenstellungen, die auf das vorhandene Wissen mehrerer Sprachen hinweisen, z. B. „Lesen und unterstreichen Sie Wörter, die deutschen, englischen und Fremdwörtern ähneln! “ (z. B. Pude 2017: 30, ähnlich auch Burger 2011), weisen auf die Nutzung der Brückensprachen hin und arbeiten somit mit dem Sieb „Kognaten“, erschöpfen sich aber oft auch schon darin. Dass man mit Hilfe anderer Siebe evtl. noch mehr an Erschließbarem in den zielsprachlichen Texten entdecken könnte, wird in den Lehrwerken noch nicht thematisiert. Eine Seltenheit sind Aufgabenstellungen wie „Ergänze die deutschen und englischen Übersetzungen der niederländischen Wörter. […] Markiere in deiner Tabelle Übersetzungen, die den niederländischen Wörtern ähneln. Unterstreiche in diesen Wörtern die Buchstaben, die anders als in den niederländischen Wörtern sind.“ (Abitzsch & Sudhoff 2018: 36). Das Beispiel welkom - willkommen - welcome illustriert, wie die Lernenden letztlich eine Reihe an Lautentsprechungen bzw. unterschiedlichen Graphien in den beteiligten Sprachen entdecken könnten, was ebenfalls einem der Sieben Siebe entspricht. Durch die anschließende Aufforderung, Ideen zur Frage „Niederländisch, Deutsch und Englisch sind sich sehr ähnlich. Wie kann man das beim Niederländischlernen nutzen? “ (ebd.) zu sammeln, wird die Aufmerksamkeit auf die Förderung des Lernens gelenkt. Vieles davon, was die Siebe „Wortbildung“, „Morphosyntax“ und „Syntax“ ausmacht, wird im Rahmen der Grammatikarbeit im Laufe der Kurse eingeführt. Manchmal gibt es Hinweise auf Ähnlichkeiten oder Unterschiede mit dem Deutschen (z. B. Kernsatzstrukturen im Niederländischen und Deutschen, vgl. Abitzsch & Sudhoff 2015: 125), genauso können Lernende aufgefordert werden, selber nach Ähnlichkeiten oder Unterschieden zu suchen: „Schauen Sie sich die Tabelle an. Vergleichen Sie mit der deutschen Sprache.“ (Hath-Rathjens 2016: 28). Ähnlich ist es mit dem Sieb „Graphien und Aussprachen“. Aufgaben wie „Hör zu und lies mit.“ in den Anfangslektionen geben den Lernenden einen ersten Eindruck über die Laut-Buchstaben-Verbindungen, die dann oft unter dem Titel „Aussprache“ (Cornax et al. 2011: 45) oder „Sprachecke“ (Hach-Rathjens 2017) nochmalig ausführlich beschrieben werden. Es wäre jedoch verfehlt, hier schon von interkomprehensionsdidaktischen Ansätzen zu sprechen: Es fehlen Hinweise darauf, wie man diese neu gewonnenen Kenntnisse beim Texterschließen einsetzen könnte. Auch sieht der EuroComGerm-Ansatz nicht vor, dass die Siebe erst nach und nach im Laufe eines Kurses zusammengestellt werden. Eine mögliche Grundlage für die Interkomprehensionsarbeit könnten die Übersichten der Grammatik und Rechtschreibung sein, die in der Regel am Ende eines Lehrbuchs zu finden sind. Bis dato sind diese Übersichten eher einsprachig, manchmal mit Erläuterungen und mit einem Abgleich der Strukturen in der L1 Deutsch versehen. Weitere mögliche Brückensprachen werden in der Regel nicht berücksichtigt. 386 AntaKursiša 3. Perspektiven Die Interkomprehensionsmethode bietet eine linguistisch und strategisch orientierte Arbeit auf rezeptiver Ebene an, in den meisten Lehrwerken für germanische Sprachen finden sich jedoch kaum Anzeichen ihrer Nutzung. Das muss nicht so bleiben. Auf der Grundlage des EuroComGerm-Konzepts (↗ Art. 68) können Lehrmaterialien erarbeitet werden, die auch für Lernende über die Zielgruppe der „linguistisch Interessierten“ hinaus eine attraktive Lernquelle darstellen. In einem Versuch, das Konzept im Rahmen des schulischen Fremdsprachenlernens in der Sekundarstufe I und II einzusetzen, wurde es durch die didaktische Reduktion und Umwandlung der Siebe in eine Detektivausrüstung erfolgreich jüngeren Lernenden zugänglicher gemacht (vgl. Kordt 2015). Außerdem sollte überlegt werden, inwieweit die mittlerweile übliche Lehrwerk-Struktur sowie der Aufbau von Lektionen ein Hindernis für die Integration neuer Lehr- und Lernkonzepte darstellt. Statt einer Abfolge von Lektionen sollten Lehrwerke eher als eine Sammlung von Lernquellen vorzustellen sein. Die Sieben Siebe der zu erlernenden Sprache könnten so in ihrer Ganzheit auf der Basis einer auf eine Zielgruppe ausgerichteten didaktischen Reduktion und mit Berücksichtigung der bekannten Brückensprachen (zumindest Deutsch und Englisch) einen Platz in Lehrwerken finden. Ergänzt werden die Siebe durch eine Schritt-für-Schritt-Präsentation des optimierten Erschließens, Lesetexte sowie kurze Übungseinheiten, unter anderem mit Reflexionsfragen. Erfolgversprechend sind ein solches oder andere, ähnlich gedachte Unterfangen nur, wenn auch die Standardisierung vom Fremdsprachenlehren und Prüfungspraktiken überdacht wird. Die Forschung (↗ Art. 85) sollte sich außerdem mehr um Didaktisierungen des EuroComGerm bemühen und die Erprobungen dokumentieren und begleitend erforschen. Literatur Funk, H. (2010): Materialentwicklung. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze-Velber, 307- 312. Harsch, C. (2016): Standardorientierung im Kontext des Lernens und Lehrens von Sprachen. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 88-92. Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (2014): Euro- ComGerm - Die sieben Siebe: Germanische Sprachen lesen lernen . 2. Aufl. Aachen. Kordt, B. (2015): Sprachdetektivische Arbeit. In: Praxis Fremdsprachenunterricht: Englisch 4, 4-9. Vogt, K. (2016): Sprachen lernen und lehren in der Erwachsenenbildung: Curriculare Dimension. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 200-205. Lehrwerke Abitzsch, D. & Sudhoff, S. (2015): Welkom! neu A1-A2. Stuttgart. Abitzsch, D. & Sudhoff, S. (2018): Welkom in de klas! 1. Stuttgart. Burger, C. (2011): Wat leuk! A1. Arbeitsbuch. Ismaning. Cornax, A., de Leeuw, E. & Roël, P. (2011): Contact! A1-A2. Berlin. Dedeurwaerder-Haas, F. & Gassmann, I. D. J. (2011): Wat leuk! A1. Ismaning. Hach-Rathjens, I. (2016): Dansk for dig neu A1- A2. Stuttgart. 387 80. RomanischeInterkomprehensionunterrichten: Konzepte,Erfahrungen,Empirie Hach-Rathjens, I. (2017): Norsk for deg neu A1- A2. Stuttgart. Paulsson, M. (2013): Välkomna! neu A1-A2. Stuttgart. Pude, A. (2017): Vi snakkes ved! aktuell A1+. Ismaning. Anta Kursiša 80. Romanische Interkomprehension unterrichten: Konzepte, Erfahrungen, Empirie 1. Aufriss Die Planung interkomprehensionsbasierter Lehrverfahren hat (neben den für jede unterrichtliche Faktorenkomplexion relevanten Variablen) von den speziell bei diesem Ansatz wirkenden lernerseitigen mentalen Prozessen auszugehen (↗ Art. 56, 71). 2. Mentale Prozesse und Aktivitäten in Interkomprehensionshandlungen Empirische Studien (↗ Art. 85) zum Verlauf des Erschließens fremdsprachlicher Strukturen führen zu folgenden Empfehlungen. • Motivation bzw. Erhöhung von Resilienz zur Verhinderung der verfrühten Aufgabe des Versuchs, zielsprachliche Strukturen zu erschließen. Oft geschieht der interkomprehensiv basierte Einstieg mithilfe eines leicht erschließbaren Textes in der Zielsprache erst auf den zweiten Blick. Dabei ist zu berücksichtigen: Das rasche und oft überraschende Verstehen einer neuen Sprache und der rasante Lernfortschritt wirken stark motivationsfördernd. Hiervon profitieren sowohl das zielsprachliche Wachstum als auch das generelle Bild von Sprachen und Sprachenlernen (↗ Art. 56, 65). • Aufgaben lauten z.B.: Erschließe und beschreibe die Zielsprache, soweit du ihre Elemente verstehst. Danach erfolgen Fragen wie: du hast das Phänomen X erkannt und dann eine Hypothese zur Grammatik/ zum Wortschatz der Zielsprache gebildet, wie überprüfst du nun deren Richtigkeit und wie sicherst du dein neu erworbenes Wissen? Betroffen sind: 1.) grob die Zielsprache X generell, 2.) die zwischensprachliche Korrespondenzgrammatik bzw. Analogien zwischen Brückensprachen und der Zielsprache zu den Phänomenen X und Y, 3.) das eigene mentale Lexikon, dessen systemisches Wissen ggf. einer Überformung zugeführt wird (Reinfried 1999), sodann 4.) das Wissen über das eigene erfolgreiche Erschließen selbst und über die Wege dorthin, 5.) das Kennenlernen von Techniken der lern- und sprachverarbeitungsbezogenen Bewusstmachung, etwa mithilfe von Laut-Denk-Protokollen, 6.) Aufstellung des weiteren Lernweges und 7.) das Bewusstmachen der eigenen Mehrsprachigkeit (mein Idiolekt, mein Dialekt, meine Muttersprache, meine Fremdsprachen) mit ihren Auswirkungen auf die Erweiterung der eigenen Mehrsprachigkeit und das Wissen über das eigene Sprachenlernen (↗ Art. 70). • Sprachaufmerksame Begegnung mit einem zielsprachlichen Text. Skimmen des Textes und Scannen von zielsprachlichen 388 JochenStrathmann-&Franz-JosephMeißner Strukturen zum Zweck des Abgleichs zwischen bekannten und neu erkannten sowie weiterhin opaken sprachlichen Schemata. Betroffen sind zunächst Lexik, Morphologie, Syntax, aber auch die Aspektualität. Es kann folgen: die Anwendung der unter 1. genannten Aufgaben. • Aufstellung einer zielsprachlichen Hypothesengrammatik. Fragen hierzu: Wie funktioniert die Zielsprache? Welche Elemente hat sie? Evtl. die Hypothesen trennen nach Wortschatz, Morphologie, Syntax. Weitere Fragen umfassen mögliche Unterschiede zwischen einzelnen Elementen der Zielsprache und ihren Entsprechungen in anderen Sprachen. - Es handelt sich um eine Aktivität, die an mehreren Texten ausgebildet wird und die der Wiederholung bedarf. • Anlage und Fortschreibung der Hypothesengrammatik und Anlage eines Lernprotokolls. • Aufstellung einer interlingualen Korrespondenzgrammatik. Sie umfasst Hypothesen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten der involvierten Sprachen, und zwar im Abgleich der neu erkannten Elemente mit ihren brückensprachlichen Transferbasen. Die ablaufenden Prozesse zeigen sowohl den proaktiven wie retroaktiven Transfer (↗ Art. 64). Letzteres impliziert die Erweiterung des brückensprachlichen durch das hinzugewonnene zielsprachlich-linguistische Wissen. • Bewertung des Verfahrens durch die Schüler unter der Frage: Was habe ich in den letzten Stunden gelernt? Warum konnte ich so viele Strukturen erkennen? Woran bin ich gescheitert? Wie hätte ich ein Scheitern verhindern können? Welche Rolle spielen meine eigenen Lernhandlungen. Wie schätze ich meine Motivation (Widerstandskraft gegen „inneren Schweinehund“ [Resilienz] ein? Welche Aktivitäten muss mein weiteres Lernen umfassen (Entwurf eines Lernplans)? Wie diese Zusammenstellung belegt, verlangt die Förderung von Sprachlernkompetenz durch den interkomprehensiven Ansatz eine langfristige und regelmäßige Berücksichtigung (Nold et al. 1997), die jeden Fremdsprachenunterricht begleiten sollte. 3. Grundsätzliches zur Steuerung von Interkomprehensionsunterricht Interkomprehensionsunterricht verlangt letztlich eine offene Steuerung. Lerner müssen in die Lage versetzt werden, ihre Lernentscheidungen selbst zielführend zu treffen. Dies erfordert die Kenntnis dessen, was Sprachenlernen und Sprachlernkompetenz grundlegt. Hierbei sind immer die Lernersprache und deren Mehrsprachigkeit betroffen (De Angelis & Selinker 2001). Die lehrseitige Steuerung muss sich, wie eingangs erwähnt, an den Prozessen orientieren, die im mehrsprachigen mentalen Lexikon der Lerner ablaufen und das Sprachenwachstum in Gang setzen (↗ Art. 62). Für den interkomprehensiven Lernansatz wurde dies auf empirischer Grundlage wie folgend skizziert in einem Modell abgebildet (Meißner 1998): Im Moment der verstehenden Begegnung mit einer unbekannten, aber einigermaßen transparenten Zielsprache entwerfen Lerner (möglichst) selbstständig deren Hypothesengrammatik (Was bedeutet das Wort? Womit kann ich es verbinden? Z.B.: Ist das französi- 389 80. RomanischeInterkomprehensionunterrichten: Konzepte,Erfahrungen,Empirie sche Verb continuer bedeutungsgleich mit en. to continue? Welche Wortart ist die Form X? Wie ist die Satzstellung? Gibt es Kongruenzen wie in Sprache X? usw.). Zugleich werden sie sich der Existenz einer mehrsprachigen interlingualen Korrespondenzgrammatik bewusst (Was genau ist im Französischen genauso wie/ anders als im Spanischen? Entspricht die englische Verlaufsform genau dem spanischen Gerundium [ ¿Estás bromeando? ~ You must be joking? ~ Bist du am Witze machen ? Rheinisch]). Grundlage für die Konstruktion beider Grammatiken sind Prozesse des interlingualen Identifikationstransfers. (↗ Art. 56) Man hat auch von „intelligentem Raten“ ( intelligent guessing ) oder Erschließen gesprochen . Eine weitere wichtige Unterscheidung bzgl. der pädagogischen Steuerung betrifft den Unterschied zwischen inzidenteller und intentionaler Interkomprehension. Der interkomprehensive Ansatz erfordert natürlich die Herstellung von Nachhaltigkeit - ohne die weder Sprachenwachstum noch systematisches Lernen möglich sind. Die Steuerung verlangt daher Sprachaufmerksamkeit für alle in die Interkomprehensionshandlung einbezogenen Sprachen und deren Bereiche: Wortschatz, Morphologie, Syntax und deren Elemente wie Wortarten, Genus, Numerus, Kongruenz, Verbformen, Konjugationsklassen, Aktionsart, Tempora in Formen und Gebrauch, Modi usw. - Wie bei jedem sprachlichen Verstehen benötigen die Schritte ständige semantische und funktionale Plausibilitätsproben. Intentionales Lernen ist immer zielbezogenes Handeln (im Sinne einer um zu-Struktur). Im Falle von Sprachenlernen greift dieses unterschiedlich weit: A - Italienisch lernen, Aa - es lesen lernen, Aa1 - das passato prossimo vom imperfetto lesend unterscheiden lernen, Aa2 - es vom en. present perfect unterscheiden lernen… (solange eine Mehrsprachigkeit mit Englisch gegeben ist). Diese Intentionalität des Vergleichens zwischen Sprachen erklärt die enge Verbindung zwischen auf Interkomprehension ausgerichteten Handlungen einerseits und der Sprachlernkompetenz andererseits (↗ Art. 22). Die pädagogische Modellierung von Interkomprehension umfasst daher einen didaktischen Mehrsprachenmonitor oder Portfolio, in dem die sprach- und lernbezogenen Aktivitäten versammelt und abrufbar gemacht werden. 4. Methodische Grundmuster konkreter Steuerung zur Interkomprehension Seit geraumer Zeit liegen belastbare Daten zur interkomprehensionsdidaktisch basierten Progression von Sprachlernkompetenz vor (u. a. Bär 2009; Morkötter 2016). Sie erlauben eine empirische Begründung für die Anordnung von Steuerungsformaten. Ungewohnte Lerner benötigen demnach zu Anfang eine z.T. engführende Anleitung (↗ Art. 71), die nach und nach geöffnet wird. Folgende Grundmuster bieten sich an: • die fragend-forschende (auch sokratische) Methode (Bär 2006). Die Steuerung versucht, den Lernern Analogien zwischen ihren vorhandenen Transferbasen und dem zu identifizierenden Transferziel vor Augen zu führen (↗ Art. 64). Es kommt darauf an, nicht-saliente Reize zu potentiell salienten Reizen umzuformen, um einen Identifikationstransfer auszulösen. Weitergehende, z. B. auf die Pro- und Retroaktivität der Transferprozesse beziehende Impulse sind möglich. Je nach Komplexität des Transferziels (Umgang des Kontextes, Zahl der Transferbasen im Verhältnis zu den Tokens, 390 JochenStrathmann-&Franz-JosephMeißner Vertrautheit mit dem Inhalt) und dem Lernstand kann diese Art der Steuerung offen oder eng eingesetzt werden. Eine enge Beziehung zum sog. Task Based Learning ist augenfällig. • Scaffolding. In diesem prinzipiell offenen Verfahren kreieren (planen, präsentieren, erklären, diskutieren in der Gruppe) Lerner - nach Möglichkeit ohne oder nur mit geringer lehrseitiger Unterstützung - den mentalen Organisationsrahmen für anzustrebende Transferprozesse. Betroffen sind in jedem Falle die Interkomprehensionshandlungen und die Sicherung von Nachhaltigkeit (Monitoring, Anreicherung des Lernmonitors). Diese Phase kann als „warming up“ bezeichnet werden. In längerfristiger Anwendung bedarf das auf Interkomprehension gerichtete Scaffolding einer ständigen Neujustierung im Hinblick auf die Vervollständigung der Hypothesengrammatik. • Abwechslung zwischen den sozialen Formaten des Unterrichts: Einzelarbeit, Gruppenarbeit und Verfahren, die die Lehrperson stärker ins Spiel bringen, wechseln einander ab. Es ist darauf zu achten, dass der Entwurf der Hypothesengrammatik möglichst individuellselbstständig erstellt wird. • Der interkomprehensive Ansatz kann im Prinzip auf alle Sozialformen zugreifen. Allerdings sollte bedacht werden, dass mentale Prozesse, wie sie bei der Sprachverarbeitung entstehen, immer nur individuell und einzig sind. Partner- und Gruppenarbeit können - was die Bewusstmachung interkomprehensiver Prozesse angeht - immer nur vergleichend und im Nachhinein eingesetzt werden. Jegliches Lernen ist eine mentale Tätigkeit von Individuen. Dies gilt natürlich auch für den interkomprehensiven Ansatz. Da die zielsprachliche Hypothesen- und die mehrsprachige Korrespondenzgrammatik, deren Aufbau von jedem Schüler nur einzeln geleistet werden kann, in die Gemeinschaftsarbeit der Klasse integriert werden muss, ist es, um Lernerfolgsüberprüfungen in der Gruppe zu ermöglichen, notwendig, die individuellen Hypothesengrammatiken zusammenzuführen. Als zielführend hat sich erwiesen, einen Impuls wie „Was hast Du getan, um den zielsprachlichen Text zu erschließen? Beschreibe dies im Einzelnen und detailliert“ zu setzen. In einem zweiten Schritt werden die Antworten der einzelnen Schüler gesammelt, erörtert und für alle sichtbar festgehalten (Overheadprojektor, Whiteboard). Da alle Schüler mit demselben Text gearbeitet haben, können sie ihre Strategien vergleichen und diskutieren. Dabei kann die Unterstützung durch heutige Medien wirkungsvoll sein (Strathmann 2010). Solches kommt nicht zuletzt der notwendigen Anlage von Interkomprehensionsunterricht über die einzelne Schulstunde hinweg zugute (Meißner & Senger 2001). 5. Lernhemmnisse Lernhindernisse ergeben sich aus der für viele Schüler und für erwachsene Lerner ungewohnten Reflexivität der eigenen durchgeführten/ durchzuführenden Lernhandlungen. Selbstbestimmtes Lernen (Lernerautonomie) und Lernreflexivität werden oft als anstrengend empfunden, insbesondere wenn sie auf methodische Erwartungen und Lernroutinen treffen, die auf ein einfaches Lernmuster ‚Zeige es mir, damit ich es nachmache‘ abheben und auf diese Weise das einsichtsvolle Lernen reduzieren (↗ Art. 85). Fallstudien zum interkomprehensiven Lernen haben immer wieder 391 80. RomanischeInterkomprehensionunterrichten: Konzepte,Erfahrungen,Empirie folgende Schwierigkeiten sichtbar gemacht, nämlich • dass Schüler und viele erwachsene Lerner nicht auf Anhieb in der Lage sind, interlinguale Transferbasen zu identifizieren (obwohl sie latent über diese verfügen) • … sich überrascht zeigen, wenn sie gefragt werden, wie genau sie versuchen, eine Sprachaufgabe (Disambiguierung von Strukturen) zu lösen • … sich bloßgestellt fühlen, wenn sie darüber sprechen sollen, was, wieviel (wie wenig) sie an Transferbasen anführen können und wie ergebnisführend sie sich zur Lösung einer ‚Aufgabe‘ äußern (können) • nicht gewohnt sind, das eigene Lernen zu reflektieren, es kurz- und langfristig (im Sinne eines weiteren Lernplans) zu organisieren. Interkomprehensiv basierter Unterricht droht erfolglos zu bleiben, wenn es nicht gelingt, den Lernern über diese Lernhindernisse - fehlende Aktivierung vorhandener, aber ‚träger‘ Wissensschemata ( dormant knowledge ) - hinwegzuhelfen. Lehrseitig ist eine entsprechende Sensibilität und Methodik erforderlich. Die Lernforschung zeigt auch, dass interkomprehensiv basiertes Sprachenwachstum (↗ Art. 56) nur bewirkt werden kann, wenn zwischen den/ der Brückensprache(n) und der Zielsprache in hinreichendem Umfang Transferbasen identifiziert und mit entsprechenden Maßnahmen zur Herstellung von Nachhaltigkeit verbunden werden können (↗ Art. 70). Dies ist natürlich textlich und/ oder lernerseitig begründet. Unzutreffende Vorurteile: Verbreitet war bis vor kurzem oder ist immer noch die Meinung, interkomprehensionsbasierte Verfahren eigneten sich ausschließlich für fortgeschrittene Lerner und den Tertiärsprachenunterricht (↗ Art. 86). Diese Ansicht ist vor dem Hintergrund der einschlägigen empirischen Forschung (zuletzt u. a. Morkötter 2016) nicht haltbar, schon weil interkomprehensiv greifende Strategien stark auf Sprachen- und Sprachlernbewusstheit wirkende Verfahren darstellen. So lernen schon Vorschulkinder sprachliche Merkmale gerade auch durch Disambiguierungen bzw. durch das Vergleichen und Abgleichen von Formen. 6. Grenzen der Interkomprehensionsmethode Der interkomprehensive Ansatz befähigt in kurzer Zeit zur plurilingualen Komprehension. Seine kontrollierbare Wirkung ist allerdings auf die rezeptiven Fertigkeiten und die Verbesserung der Sprachlernkompetenz begrenzt. Die hohe Progression erklärt sich damit, dass die Methode latent vorhandenes Wissen enaktiv in deklaratives und/ oder prozedurales Wissen umwandelt. Dies überrascht nicht, weil bekanntlich das passive Sprachenwissen weitaus größer ist, als dasjenige, welches in der Sprachproduktion zutage tritt. Ein Weiteres ist, dass die Ausbildung rezeptiver Kompetenz um die Beherrschung vieler Mikrokompetenzen abstrahieren kann, die für Produktivität unerlässlich sind und deren Erwerb viel Zeit in Anspruch nimmt. Betroffen sind: Aussprache, (produktive) Orthographie, Valenz (Substantive, Adjektive, Verben, Präpositionen usw.) u. a. m., deren Elemente zu prozeduralem Wissen ( can speak, write, communicate ) ausgebildet werden müssen. Andererseits vergrößert das durch Interkomprehension in Gang gesetzte rasche Anwachsen der rezeptiven Kompetenz potentiell den zielsprachlichen Intake in erheblicher Weise. Auch wenn der comprehensible input 392 JochenStrathmann-&Franz-JosephMeißner im Sinne Krashens (1995) auf die Identifikation graphischer oder audialer Zeichen beschränkt ist und keine produktiven Zugriffsprozesse auf zielsprachliche Strukturen stattfinden, so ist die passive Kenntnis dieser Formen keineswegs nutzlos für die Umformung rezeptiver in produktive prozedurale Kompetenz. Literatur Bär, M. (2006): Méthodologie de la didactique du plurilinguisme: dialogue pédagogique et transfert d'identification interlinguistique. In: französisch heute 37, 376-384. Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10 . Tübingen. De Angelis, J. & Selinker, L. (2001): Interlanguage Transfer and Competing Linguistic Systems in the Multilingual Mind. In: J. Cenoz, B. Hufeisen & U. Jessner (Hrsg.): Cross-Linguistic Influence in Third Language Acquisition. Psychological Perspectives. Clevedon, 42-58. Krashen, S. D. (1995): The Input Hypothesis: Some Current Issues. In: W. Brusch & H. Stiller (Hrsg.): Lust auf Sprachen: Schlüssel zu Europa-- Tor zur Welt. Beiträge zum Internationalen Fremdsprachenkongreß in Hamburg 1994 . Hamburg, 15-30. Meißner, F.-J. (2015): Sprachlernkompetenz unterrichten - oder: das stumme Wissen der Lerner zum Sprechen bringen. In: J. Böcker & A. Stauch (Hrsg .): Konzepte aus der Sprachlehrforschung - Impulse für die Praxis . Festschrift für Karin Kleppin. Frankfurt, 149- 169. Meißner, F.-J. (1998): Transfer beim Erwerb einer weiteren romanischen Fremdsprache: das mehrsprachige mentale Lexikon. In: F.-J. Meißner & M. Reinfried (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen . Tübingen, 45-69. Meißner, F.-J. & Senger, U. (2001): Vom induktiven zum konstruktiven Lehr- und Lernparadigma. Methodische Folgerungen aus der mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung. In: F.-J. Meißner & M. Reinfried (Hrsg.): Bausteine für einen neokommunikativen Französischunterricht: Lernerzentrierung, Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Interkulturalität, Mehrsprachigkeitsdidaktik . Tübingen, 21-50. Morkötter, S. (2016): Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe. Untersuchungen zu früher Interkomprehension . Tübingen. Nold, G., Haudeck, H. & Schnaitmann, G. W. (1997): Die Rolle von Lernstrategien im Fremdsprachenunterricht. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8/ 1, 27-50. Reinfried, M. (1999): Innerromanischer Sprachtransfer. In: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 6/ 12, 96-125. Strathmann, J. (2010): Spanisch durch EuroComprehension: Multimediale Spracherwerbsprozesse im Fremdsprachenunterricht . Aachen. Jochen Strathmann-& Franz-Joseph Meißner 393 81. InterkomprehensionimUnterrichtgermanischerSprachen 81. Interkomprehension im Unterricht germanischer Sprachen 1. Begrifflichkeit Mit Interkomprehension ist das Verstehen von Texten in einer unbekannten Sprache mit der Hilfe von Kenntnissen in einer anderen Sprache gemeint. Von zentraler Bedeutung sind dabei weitgehende Gemeinsamkeiten zwischen der unbekannten und der bekannten Sprache, wie sie bei verwandten Sprachen zu finden sind (↗ Art. 56, 64). Die Familie der germanischen Sprachen hat sich allerdings auseinanderentwickelt, für einen spontanen interkomprehensiven Zugang reichen die Ähnlichkeiten nur sehr begrenzt aus (s. Gooskens et al. 2017). Bei Interkomprehension geht es - anders als normalerweise im Fremdsprachenunterricht - um rein rezeptive Kompetenz, entweder beschränkt auf Leseverstehen oder auch Hörverstehen mit umfassend. Eine Interaktion im Modus rezeptiver Mehrsprachigkeit auf der Basis von Interkomprehension ist dann möglich, wenn die Kompetenz dazu symmetrisch auf beiden Seiten vorhanden ist. Didaktischer Einsatz von Interkomprehension kann vorrangig auf den Erwerb solcher rezeptiven Kompetenz abzielen, aber auch allgemeiner der language (learning) awareness dienen. 2. Problemaufriss Die Art des Einsatzes von germanischer Interkomprehension im Schul- und Hochschulunterricht (sowie im außerschulischen Sprachenunterricht) hängt stark vom Ziel ab (↗ Art. 71, 72). Reines Leseverstehen germanischer Sprachen (besonders des Deutschen) als Ziel ist traditionell besonders an Hochschulen relevant, wenn es um die Rezeption fachlich (bzw. für ein bestimmtes Spezialgebiet) wichtiger Texte in der Originalsprache geht. Hierbei ist der Erwerb einer sicheren Lesekompetenz vorrangiges Ziel, angestrebt ist nicht nur globales, sondern detailliertes Textverständnis auch bei unerwarteten Inhalten (↗ Art. 76). Dementsprechend spielt die Überprüfung der interkomprehensiv aufgebauten Erschließungshypothesen hier eine besonders wichtige Rolle. Im Idealfall können die Lerner tatsächlich interlinguistische Kriterien für die Beurteilung der Plausibilität einer Hypothese erwerben (vgl. Möller & Zeevaert 2015), dies scheint jedoch individuell sehr verschieden zu sein. Darüber hinaus scheint vom individuellen Interesse an Sprachen abzuhängen, ob das Aufbauen überprüfungsbedürftiger Hypothesen subjektiv als effizienter oder ineffizienter Zugang empfunden wird. Rezeptive Kompetenz inklusive Hörverstehen als Ziel ist vor allem dann relevant, wenn Sprecher verschiedener germanischer (Nachbar-)Sprachen regelmäßigen Kontakt haben, z. B. in beruflichen Kontexten. Als Beispiel hierfür ist besonders die rezeptive Mehrsprachigkeit in Skandinavien (↗ Art. 59) bekannt, ähnliche Möglichkeiten bestehen aber auch zwischen Niederländisch und Deutsch (s. Beerkens 2010). Bedingung für das Gelingen ist allerdings Symmetrie der rezeptiven Kompetenz. Da hier die Befähigung zur face to face -Kommunikation (↗ Art. 103) angestrebt ist, ist auch das Trainieren des Umgangs mit phonetischen Unterschieden wichtig sowie insbesondere die Handhabung kommunikativer Vergewisserungs- und Reparaturmechanismen (s. ebd.). Selbst wenn mittelfristig auch produktive Kompetenzen erworben werden sollen, kann ein interkomprehensiver Ansatz im Anfangs- 394 RobertMöller stadium den Vorteil haben, gleich zu schnellen und motivierenden Fortschritten zu führen. Dabei kann es sich um eine kurze Einstiegsphase handeln, aber auch um eine längere Zeit des Vertrautwerdens mit dem fremdsprachlichen System über das Erschließen von Texten (normalerweise zuerst Lese-, dann Hörtexten). Dieser leichte Beginn, der schon bald zu einer verwendbaren Lesekompetenz führt, kann auch dazu motivieren, eine „kleine“ Sprache zu lernen wie das Niederländische oder das Schwedische, deren Erwerb ansonsten leicht durch eine „Kosten-Nutzen“-Abwägung blockiert würde (vgl. Arntz & Wilmots 2002). Statt im Erwerb einzelsprachlicher Kompetenzen kann das Lernziel aber auch vor allem in der Einsicht in die interlingualen Beziehungen und deren Erklärung liegen, unter sprachhistorischem Aspekt (Prozess der Ausgliederung der Einzelsprachen einer Familie, deren historische Vorformen) oder unter sprachwandeltheoretischem Aspekt (welche Arten von Beziehungen / Veränderungen kommen vor, wie lassen sie sich erklären). Insbesondere Ansätze wie EuroCom (↗ Art. 68), die eine gleichzeitige interkomprehensive Annäherung an mehrere bzw. alle Sprachen derselben Familie vorsehen, bieten sich hierfür an. Als Zielgruppe kommen dafür nicht nur Germanistik-Studierende in Frage, auch im muttersprachlichen Oberstufenunterricht kann eine solche Beschäftigung mit Interkomprehension das Verständnis von Sprache und deren Funktionieren und Entwicklung vertiefen. Das Lernziel von Interkomprehension kann schließlich auch (fast unabhängig von der spezifischen erschlossenen Sprache) darin liegen, Erschließungsstrategien und einen gezielten Umgang mit den vorhandenen, bei der Erschließung aktivierten Ressourcen zu üben bzw. letztere bewusster zu machen, um die allgemeine language (learning) awareness zu fördern (s. Morkötter 2016). In diesem Fall ist der Identifikation von Transferbasen und den Prozessen der Hypothesenbildung mehr (explizite) Aufmerksamkeit zu widmen als der Hypothesenüberprüfung im Einzelfall, da das korrekte Verständnis der gewählten Zielsprache zweitrangig bzw. sogar nebensächlich ist: Wichtig ist hier vor allem, dass plausible Hypothesen aufgestellt werden, nicht, ob sie zufällig doch unzutreffend sind. Oleschko & Olfert (2014: 32) befürworten einen derartigen Einsatz von Interkomprehension gerade auch im Unterricht sprachlich heterogener Klassen, um in dieser Weise die eigenständige Nutzung individuell ganz verschiedener sprachlicher Ressourcen zu fördern. 3. Forschungsstand Die Forschung zur germanischen Interkomprehension hat sich bislang vor allem auf die sprachenspezifischen Erschließungsmöglichkeiten durch Nullanfänger und die Rolle linguistischer und attitudinaler Faktoren dabei konzentriert. Dabei hat sich vor allem bestätigt, dass Interkomprehension bei den germanischen Sprachen nur innerhalb der festlandskandinavischen Teilgruppe spontan funktionieren kann (↗ Art. 59) und darüber hinaus am ehesten zwischen Deutsch und Niederländisch Erfolgsaussichten hat (s. Gooskens et al. 2017: 11). Wenngleich nicht allgemein etabliert, ist rezeptive Mehrsprachigkeit Deutsch-Niederländisch als Kommunikationsmodus z. B. in Organisationen mit grenzübergreifenden Kontakten anzutreffen (wobei die Kenntnisse allerdings teilweise über Interkomprehension hinausgehen). Beerkens (2010) hat diese Kommunikation untersucht und gibt auf der Basis der Ergebnisse Empfehlungen für die 395 81. InterkomprehensionimUnterrichtgermanischerSprachen Praxis, wobei sie jedoch explizit die Lernbarkeit außerhalb der Kommunikationssituation in Frage stellt (ebd.: 282). Möller & Zeevaert (2015) haben die phonologischen Intuitionen und die Herangehensweise von Studierenden bei der Kognatenerkennung (↗ Art. 60) analysiert, als Empfehlung ergibt sich hieraus die explizite Bestärkung und objektivierende Bewusstmachung der (großenteils zutreffenden) phonologischen Intuitionen. Didaktischer Einsatz von germanischer Interkomprehension außerhalb Skandinaviens ist noch wenig erforscht. Die Nutzung interlingualer germanischer Beziehungen im Tertiärsprachenunterricht ist vor allem für die Konstellation „Deutsch nach Englisch“ (↗ Art. 87) sowie für „Englisch nach Deutsch“ (↗ Art. 88) in den Blick genommen worden, wo die Möglichkeiten von Interkomprehension begrenzter sind, aber gleichwohl Erfolge erzielt werden konnten (Marx 2010). Mit dem Einsatz von unter anderem deutsch-niederländischer Interkomprehension zur Förderung der language (learning) awareness im Schulunterricht der frühen Sekundarstufe (Klasse 6-7) befasst sich eingehend Morkötter (2016); das Niederländische wurde hier vor allem wegen der vergleichsweise geringen Distanz zur deutschen Muttersprache der Schüler gewählt. Morkötters Untersuchung zeigt, dass schon junge Schüler in der Lage sind, eigenständig diverse unterschiedliche Erschließungsstrategien einzusetzen und verschiedenartige Transferbasen zu nutzen. Oleschko & Olfert (2014) haben ebenfalls mit dem Ziel, language (learning) awareness zu fördern, den EuroComGerm-Ansatz im Unterricht der fünften und der zehnten Klasses eingesetzt. Dabei zeigte sich entgegen den Erwartungen, dass die Schüler mit migrationsbedingter mehrsprachiger Kompetenz nicht besser, sondern schlechter zurechtkamen als die anderen. Außer der mangelnden Wertschätzung der Herkunftssprachen (ebd.: 40) wäre eine Erklärung hierfür, dass der gemessene Erschließungserfolg (= korrektes Textverstehen) hier mehr von der guten Verfügbarkeit spezifisch germanischer Transferbasen abhängt, d. h. von umfassenden Wortschatz- und Varietätenkenntnissen im Deutschen, als von Erfahrung allgemein im Umgang mit verschiedenen (nicht-germanischen, teilweise auch nicht-indoeuropäischen) Sprachen. 4. Praxisbezug Aufgrund der Verteilung einerseits der linguistischen Distanzverhältnisse und andererseits der Motivation zum Erwerb der spezifischen Sprachen (bzw. einfach der Sprecherzahlen) spielt der Einsatz von germanischer Interkomprehension im schulischen Fremdsprachenunterricht bislang keine große Rolle. Einen relativ leichten Zugang vom Deutschen als Erst- oder Zweitsprache aus bietet nur das Niederländische, das jedoch nur sporadisch im Nordwesten Deutschlands und vor allem in Belgien einen Platz im Schulunterricht hat. Hier kann Interkomprehension am besten genutzt werden, bei symmetrischem Einsatz beiderseits der Sprachgrenze auch mit dem Ziel, in dieser Weise rezeptive Mehrsprachigkeit als Kommunikationsmodus zu etablieren (vgl. ten Thije et al. 2016). Skandinavische Sprachen werden in Schulen außerhalb Skandinaviens normalerweise nicht unterrichtet, abgesehen vom Dänischen an einigen Schulen in Schleswig-Holstein (↗ Art. 121). Deutsch als Fremdsprache ist verbreiteter, allerdings wegen seines synthetischeren Baus und der entsprechenden 396 RobertMöller Morphologie von den anderen germanischen Sprachen aus interkomprehensiv schwieriger zugänglich. Für Englisch gilt dasselbe wegen seines nur teilweise germanischen Wortschatzes, hinzu kommt, dass hier fast immer unmittelbar aktive Kompetenz angestrebt ist. Interkomprehensive Elemente sind je nach linguistischer Distanz und Alter der Lerner im Unterricht germanischer Sprachen in der Germania wohl immer schon einbezogen worden. Die übliche Fokussierung des Fremdsprachenunterrichts auf aktive Kompetenzen hat es dennoch mit sich gebracht, dass z. B. der Niederländisch-Unterricht in Deutschland trotz der geringen linguistischen Distanz der allgemeinen methodischen Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts gefolgt ist (s. Wenzel 2014: 32-45). Für den (v. a. außerschulischen) Unterricht der distanteren skandinavischen Sprachen gilt dies umso mehr. Eine Ausnahme stellen hier (teilweise) skandinavistische Studiengänge an Hochschulen dar, bei denen mehrere skandinavische Sprachen erworben werden und die interlingualen Beziehungen sowie auch deren historische Hintergründe im Blick sind. Auch in Germanistik-Studiengängen wird teilweise germanische Interkomprehension zur Erarbeitung linguistischer Einsichten genutzt (↗ Art. 27, 72), wenngleich dies meistens mit einer diachronen Perspektive verknüpft ist, deren Gewicht im Germanistikstudium stark zurückgegangen ist. Universitäre Lesekurse für Deutsch (und Englisch nach DaF, was zeitweise für Studierende aus Osteuropa von Interesse war) können aus den genannten typologischen Gründen zwar Interkomprehension nutzen, aber meistens nicht voll darauf setzen. Wenn die Einbeziehung von Interkomprehension zur Förderung der language (learning) awareness im schulischen Fremdsprachenunterricht jedenfalls in Deutschland schwierig ist (s. o.), so ist dagegen der Deutschunterricht durchaus ein geeigneter Platz, um mittels Interkomprehension Reflexionen über sprachliche Kodierungsmöglichkeiten und deren Variation und Veränderlichkeit anzuregen. Darüber hinaus kann interkomprehensive Texterschließung z. B. auch zur Bewusstmachung und Erweiterung von Textsortenwissen und ähnlichen abstrakteren Transferbasen in der Erstsprache genutzt werden. 5. Perspektiven Abgesehen von solchen Einsatzmöglichkeiten im Unterricht der Erstsprache, bei denen die erschlossenen Sprachen zwar vor allem als Mittel zum Zweck dienen, aber immerhin doch an Bekanntheit gewinnen, ist eine Ausweitung der Nutzung germanischer Interkomprehension wohl nur möglich, wenn es gelingt, zu einer organischeren Verbindung von Interkomprehension und dem Erwerb aktiver Kompetenz zu gelangen. Ein stärkeres Propagieren der Kommunikation mittels rezeptiver Mehrsprachigkeit kann (abgesehen von Skandinavien) vor allem im deutsch-niederländischen Grenzgebiet und in Belgien erfolgreich sein, hier bedarf es teilweise vor allem der Akzeptanz. Bei den anderen germanischen Sprachenkombinationen ist eine dauerhafte Beschränkung auf rezeptive Kompetenzen kaum eine Option, weil der (für beide Kommunikationspartner! ) nötige Einsatz zu deren Erwerb zu hoch ist. Literatur Arntz, R. & Wilmots, J. (2002): Kontrastsprache Niederländisch - ein neuer Weg zum Leseverstehen . Hildesheim. 397 82. SlawischeInterkomprehensionunterrichten Beerkens, R. (2010): Receptive Multilingualism as a Language Mode in the Dutch-German Border Area . Münster. Gooskens, C., van Heuven, V. J., Golubović, J. et al. (2017): Mutual Intelligibility between Closely Related Languages in Europe. In: International Journal of Multilingualism 15/ 2, 169-193. Marx, N. (2010): eag and Multilingualim Pedagogy. An Empirical Study of Students’ Learning Processes on the Internet Platform English after German . In: P. Doyé & F.-J. Meißner (Hrsg.): Lernerautonomie durch Interkomprehension. Projekte und Perspektiven . Tübingen, 225-236. Möller, R. & Zeevaert, L. (2015): Investigating Word Recognition in Intercomprehension. In: Linguistics 53/ 2, 313-352. Morkötter, S. (2016): Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe. Untersuchungen zu früher Interkomprehension . Tübingen. Oleschko, S. & Olfert, H. (2014): Förderung von Sprach(lern)bewusstheit und Sprach(lern-) kompetenz durch germanische Interkomprehensionsansätze. In: N. Morys, I. de Saint- Georges, C. Kirsch & G. Gretsch (Hrsg.): Lernen und Lehren in multilingualen Kontexten: Zum Umgang mit sprachkultureller Diversität im Klassenraum. Frankfurt a. M., 31-45. ten Thije, J. D., Gooskens, C., Daems, F. et al. (2016): Lingua Receptiva. Positionspapier zur Skills Agenda der Europäischen Kommission. [http: / / taalunieversum.org/ sites/ tuv/ files/ downloads/ Taalunie%20positionpaper%20 luistertaal%20(Duits)-def.pdf]. Wenzel, V. (2014): Spracherwerbstheorien und die klassischen Methoden des Fremdsprachenunterrichts. In: V. Wenzel (Hrsg.): Fachdidaktik Niederländisch. Berlin, 29-48. Robert Möller 82. Slawische Interkomprehension unterrichten 1. Begrifflichkeiten Interkomprehension bedeutet „eine fremde Sprache hörend und/ oder lesend verstehen, ohne diese qua Unterricht, Selbstunterricht oder in Interaktion mit ihren Sprechern erworben zu haben“ (Meißner 2016: 234). Innerhalb der europäischen Sprachfamilien wurde Interkomprehension innerhalb der romanischen (↗ Art. 67), germanischen (↗ Art. 68) und slawischen Sprachen (EuroComSlav) näher beschrieben. Das Ziel von EuroComSlav besteht darin, „den Kennern einer slawischen Sprache - als Brückensprache - zu rezeptiven Kenntnissen in allen anderen slawischen Sprachen zu verhelfen und somit […] die Grundlage für ein zunächst rezeptives Verstehen slawischer Sprachen und letztlich für eine mögliche rezeptive slawische Mehrsprachigkeit der Europäer zu schaffen“ (Zybatow 2002: 314). Die slawischen Sprachen gehören zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Sie werden nach ihrer geografischen Lage und sprachlichen Verwandtschaft in drei große Untergruppen geteilt: Zu den ostslawischen Sprachen gehören Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch, zu den westslawischen Sprachen Polnisch, Obersorbisch, Niedersorbisch, Tschechisch und Slowakisch sowie zu den südslawischen Sprachen Bosnisch, Bulgarisch, Kroatisch, Makedonisch, Serbisch und Slowenisch (↗ Art. 94, 95). Die starke Ähnlichkeit der slawischen Sprachen, v. a. in ihrer morphologischen Struktur und im Grundwortschatz, erleichtert das Erlernen weiterer Slawinen. 398 GritMehlhorn 2. Problemaufriss Slawische Sprachen werden häufig als Tertiärsprachen (↗ Art. 86) im Jugend- oder Erwachsenenalter gelernt, wobei - im Gegensatz zu romanischen Sprachen - maximal eine Slawine als Schulfremdsprache fungiert. Bei einem Slawistikstudium werden dagegen meist zwei oder mehr slawische Sprachen nacheinander bzw. parallel gelernt. Russisch ist die slawische Sprache mit den meisten Sprechern und die verbreitetste Slawine in Deutschland (↗ Art. 94), zu der viele Lehr- und Nachschlagewerke in deutscher Sprache existieren. Darüber hinaus ist Russisch UNO-Sprache und lingua franca zwischen den Völkern der Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Es erleichtert den Zugang zu den anderen kyrillisch schreibenden Slawinen (Bulgarisch, Makedonisch, Serbisch, Ukrainisch, Weißrussisch). Aufgrund dieser Argumente bezeichnen Zybatow und Zybatow (2002: 69) das Russische für Lernende mit der L1 Deutsch als ideale Brückensprache. 3. Forschungsstand Das Konzept zur Interkomprehension innerhalb der slawischen Sprachen (EuroComSlav) wurde nicht so weit ausgearbeitet wie EuroComRom (↗ Art. 67) und EuroComGerm (↗ Art. 68). Es gibt jedoch andere Arbeiten mit ähnlicher Zielstellung. Sowohl Tafel et al. (2009) als auch Heinz und Kuße (2015) gehen davon aus, dass jede bekannte slawische Sprache als Brücke für das Verstehen weiterer Slawinen fungieren kann, vorausgesetzt, die Lernenden verfügen über fundierte Kenntnisse in ihrer bereits gelernten slawischen Sprache. Heinz und Kuße (2015) nutzen historische Zusammenhänge und Ähnlichkeiten der slawischen Sprachen, besonders ihre gemeinsame Basis im Urslawischen vor der Ausdifferenzierung in die ost-, west- und südslawischen Sprachen. In der EuroCom-Methode werden Texte in einer noch nicht gelernten Sprache durch optimale Nutzung interlingualer lexikalischer und morphosyntaktischer Transferbasen innerhalb derselben Sprachfamilie mit den sogenannten „sieben Sieben“ interkomprehensiv erschlossen. Demzufolge muss ein zu rezipierender Text in einer neuen Sprache mittels mehrerer mentaler Siebe verarbeitet werden, die das schon Bekannte herausfiltern und zu einem Textverständnis zusammenfügen. Diese sieben Siebe umfassen bei EuroComSlav 1. internationalen Wortschatz, 2. panslawischen Wortschatz, 3. Lautentsprechungen, 4. Graphien und Aussprachen, 5. Morphosyntax, 6. slawische Kernsatztypen, 7. Präfixe und Suffixe (Zybatow & Zybatow 2006: 239-243). Zum panslawischen Wortschatz gehören Tafel et al. (2009: 43-44) zufolge Wörter, die in allen, zumindest jedoch fünf slawischen Sprachen vorkommen, z.B. 1. „Fuß/ Bein“: altkirchenslawisch noga , bosnisch/ kroatisch/ serbisch (BKS) noga , poln. noga , tschech. noha , russ. ногá (noga), ukrain. ногá (noga) und die u. a. in den Bereichen Verwandtschaftsbezeichnungen, Körperteile, Pflanzen, Tiere und Zahlwörter anzutreffen sind. Auch in der Morphosyntax ähneln sich die slawischen Sprachen u. a. in der Konjugation, im Formenbestand an Partizipien sowie in der Wortbildung hinsichtlich der Präfixe und Suffixe, vgl. die Beispiele aus Heinz und Kuße (2015: 204, 230, 265): 2. „ich kann“ (Endung auf -m oder Vokal in der 1.Ps.Sg.): russ. умéю (uméju), bulg. 399 82. SlawischeInterkomprehensionunterrichten умéя (uméja), poln. umiem , tschech. umím , BKS umim 3. „geschrieben“ (Partizip Präteritum Passiv): russ. напи́сан (napísan), bulg. напи́ сан (napísan), BKS nápīsan , tschech. (na)psán , poln. (na)pisany 4. „Teekessel“ (Tee + Suffix -nik ): russ. чáйник (čájnik), bulg. чáйник (čájnik), BKS čájnīk , tsch. čájník , poln. czajnik Bei der Erschließung von Texten in einer weiteren slawischen Sprache helfen darüber hinaus grammatisch ähnliche Phänomene in Bezug auf Kasusfunktionen und -endungen, Genusmarkierung, Verben der Bewegung, die Kategorie der Belebtheit, Verbalaspekt und Wortfolge (Tafel et al. 2009: Kap. IV-VII). Artikulatorische Fertigkeiten, phonetisch-phonologisches Wissen und damit im Zusammenhang stehende Sprachenbewusstheit können zudem die Sprachproduktion in einer weiteren slawischen Sprache erleichtern, bspw. die Aussprache phonotaktisch aus der L1 nicht bekannter, komplexer Konsonantenverbindungen im Polnischen, wenn diese bereits im Russischen beherrscht werden, z. B. [pt], [mr], [vzg], [mgn], [vzdr], oder die für slawische Sprachen typische Wortbindung (Mehlhorn 2011: 204). 4. Praxisrelevanz Im Slawistikstudium (↗ Art. 72) wird das Potenzial einer bereits gelernten Slawine als Brückensprache z. B. in Lesekursen zum Ausbau der Strukturkenntnisse und rezeptiven Kompetenzen einer weiteren Slawine gezielt als positiver Transfer genutzt (vgl. Tafel et al. 2009). Der „Slawische Sprachvergleich für die Praxis“ von Heinz und Kuße (2015) ist aus sprachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen hervorgegangen und soll Studierenden „einen schnellen und effizienten Weg zum Erwerb von Mehrsprachigkeit im Bereich der slawischen Sprachen“ aufzeigen (ebd.: 5). Die Autoren lehnen sich an EuroComSlav und Tafel et al. (2009) an, gehen jedoch noch einen Schritt weiter: Die Lernenden sollen nicht nur Texte in anderen slawischen Sprachen lesen, sondern auch kurze gesprochene Dialoge verstehen können und über einen Grundstock an Floskeln zur Alltagskommunikation verfügen (ebd.). In ihrem Lehrmaterial vermitteln Heinz und Kuße (2015: 17-25) konkrete Lernstrategien sowie sieben Erschließungsstrategien: 1. Bekanntes erkennen (internationaler Wortschatz, panslawischer Wortschatz) 2. Ermitteln weiterer bekannter Wörter durch graphische oder lautliche Entsprechungen 3. Ermitteln von bekannten Wortteilen 4. Füllen von Lücken aus dem Kontext oder dem Weltwissen 5. Ermitteln der Grundform unbekannter Wörter 6. Nachschlagen der unbekannten Wörter 7. Sicherung: Überprüfen von Bedeutungen am Kontext (semantische Kohärenz sichern) Die fünfte Strategie, die Ermittlung von Grundformen der Wörter, hat keine Entsprechung im EuroCom-Modell, ist aber für das Erschließen von Wörtern in slawischen Sprachen essenziell, da viele Wörter in ihrer flektierten Form aufgrund der Vokal- und Konsonantenwechsel im Wörterbuch oft nicht auffindbar wären. So würden Lernende mit Vorkenntnissen in einer slawischen Sprache in der tschechischen Präpositionalphrase na středoevropských trzích („auf den mitteleuropäischen Märkten“) vermutlich die Prä- 400 GritMehlhorn position und das Adjektiv erschließen können und erkennen, dass es sich bei trzích um ein Nomen im Lokativ Plural handelt, müssten jedoch die auf den ersten Blick nicht interkomprehensible Bedeutung nachschlagen. Ohne Kenntnis der Grundform (Nominativ Singular) trh würde man im Wörterbuch jedoch nicht fündig werden. Hierzu muss die zweite Strategie (Ermittlung der Lautentsprechungen) greifen, deren erfolgreiche Anwendung gleichzeitig die Verwandtschaft zu russ. torg , bulg. tărg und poln. targ transparent macht (ebd.: 26-27). Während beim Erlernen der ersten slawischen Sprache viel Zeit benötigt wird, bevor authentische Texte verstanden werden können, zahlt sich dieser in die erste Slawine investierte Aufwand beim Erlernen einer slawischen Folgefremdsprache mehrfach aus, wenn bekannter Wortschatz, erlernte grammatische Phänomene, phonetische Regeln und lexikalische Einheiten übertragen werden können. Zudem steigt die Wirksamkeit spontaner Interkomprehension mit der Anzahl der gelernten Sprachen und der damit verbundenen Sprachlernerfahrungen. Auf dem Internationalen Slawistenkongress werden Vorträge in allen lebenden slawischen Sprachen gehalten - auch in solchen wie Sorbisch mit sehr kleinen Sprecherzahlen - und vom slawistisch interessierten Publikum verstanden. In den Diskussionen verwenden die Teilnehmenden ihre jeweils beste beherrschte slawische Sprache. Heinz und Kuße (2015: 316-362) bieten in ihrer vergleichenden Grammatik Übungen zur Festigung des Gelernten und zu den Erschließungsstrategien an. So sollen die Lernenden u. a. anhand des Schriftbilds die Herkunft von Zeitungstiteln identifizieren, slawische Kognaten (↗ Art. 60) vergleichen und die Bedeutung der ihnen unbekannten Wortteile ableiten, kurze Interkomprehensionstexte verstehen, die Grundformen flektierter Wörter in verschiedenen Slawinen ermitteln, Kasusformen bestimmen, Steigerungsformen von Adjektiven in Texten finden, Relativpronomen erkennen und das Wort identifizieren, auf das sie sich beziehen. In Hörübungen auf der CD können z. B. die Sprachen von Kurzdialogen erkannt, die Wörter in Lückentexten verschiedener slawischen Sprachen vervollständigt oder herausgehört werden, ob geduzt oder gesiezt wird. Im schulischen Kontext (↗ Art. 71) wird das Prinzip der Interkomprehension seit 2014 bei der Slawiniade vermittelt - ein regelmäßig stattfindendes Schülerseminar, bei der die teilnehmenden Jugendlichen mit jeweils einer slawischen Schulfremdsprache (Polnisch, Russisch, Sorbisch, Tschechisch) durch das Bearbeiten von Aufgaben in einer neuen, bisher noch nicht gelernten slawischen Sprache Gemeinsamkeiten zu ihnen bereits bekannten Sprachen entdecken und erkennen, welches Potenzial ihre Sprachkenntnisse darstellen, um sich Wortschatz und Strukturen in weiteren europäischen Sprachen zu erschließen (vgl. Mehlhorn 2015). In sprachenübergreifenden Teams entschlüsseln die Neuntklässler Schilder und Aufschriften, entnehmen Informationen aus Speisekarten, Stadtplänen, Visitenkarten und Durchsagen in einer neuen slawischen Sprache, ordnen neue Wörter grammatischen Kategorien oder Wortarten zu, verbinden Zahlen in der richtigen Reihenfolge, setzen Gedichte in einer neuen Sprache zusammen, bilden nach entdeckten Wortbildungsregeln selbst Wörter in einer anderen Slawine und lösen Wort-Sudokus, Kreuzworträtsel und LearningApps am Computer. Dabei haben sie nicht nur Aha-Erlebnisse und Freude am Entdecken, sondern entwickeln auch Neugier auf weitere Slawinen. 401 83. Mehrsprachigkeittesten 5. Perspektiven Im Unterricht weiterer slawischer Sprachen sollte das unterschiedliche Vorwissen von Lernenden aus bereits gelernten Sprachen gezielt berücksichtigt werden. Das erfordert von Lehrenden an Hochschulen neben Kompetenzen in der zu vermittelnden Zielsprache auch Strukturkenntnisse weiterer slawischer Sprachen. Wer Sprachvergleiche gewinnbringend einsetzen möchte, muss selbst mehrsprachig denken, Parallelen zu den bereits gelernten Sprachen der Studierenden herstellen können und sollte selbst weiter Sprachen lernen (↗ Art. 85). Literatur Heinz, C. & Kuße, H. (2015): Slawischer Sprachvergleich für die Praxis. Lern- und Erschließungsstrategien, Floskeln für den Alltag, Grammatik, Wörterverzeichnis, Hörmaterialien. München u. a. Mehlhorn, G. (2011): Russisch und Mehrsprachigkeit. Implikationen für den Fremdsprachenunterricht. In: G. Mehlhorn & C. Heyer (Hrsg.): Russisch und Mehrsprachigkeit. Lehren und Lernen von Russisch an deutschen Schulen in einem vereinten Europa. Tübingen, 199-219. Mehlhorn, G. (2015): Multilingual sprachenbewusst - Slawiniade! Ein Lernfest der slawischen Sprachen. In: Praxis Fremdsprachenunterricht Russisch 4/ 2015, 7-9 plus Downloadmaterial. Meißner, F.-J. (2016): Interkomprehension. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Aufl. Tübingen, 234-239. Tafel, K., Durić, R., Lemmen, R. et al. (2009): Slavische Interkomprehension. Eine Einführung. Tübingen. Zybatow, L. (2002): Die slawistische Interkomprehensionsforschung und EuroComSlav. In: G. Kischel (Hrsg.): EuroCom - Mehrsprachiges Europa durch Interkomprehension in Sprachfamilien. Aachen, 313-327. Zybatow, L. N. & Zybatow, G. (2002): Die Euro- Com-Strategie als Weg zur europäischen Mehrsprachigkeit: EuroComSlav. In: D. Rutke (Hrsg.): Europäische Mehrsprachigkeit: Analysen - Konzepte - Dokumente. Aachen, 65-96. Zybatow, L. N. & Zybatow, G. (2006): EuroComDidact und EuroComSlav / Euro- ComTranslat - mögliche Synergien. In: H. Martinez & M. Reinfried (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen. Tübingen, 237-253. Grit Mehlhorn 83. Mehrsprachigkeit testen 1. Ein Test für mehrere Sprachen Im Mittelpunkt des Artikels stehen Überlegungen zur simultanen Erhebung von Sprachdaten über Lernstände in mehreren Fremdsprachen. Auf internationaler Ebene liegen ungezählte Beiträge zum Testen einer Fremdsprache vor. Soweit überschaubar, klafft jedoch eine Lücke zum gleichzeitigen Testen von mehreren Fremdsprachen, wenn man von einigen wenigen Beiträgen absieht (Christ 1996; Eggensperger 2016). Die Entwicklung des hier vorgeschlagenen Tests orientiert sich an den von Bachmann & Palmer (1996: 17 f.) genannten Gütekriterien. Als übergeordnetes Kriterium gilt usefulness , hier Testkontext und Testzweck (Abschnitt 2); construct validity erfordert die Modellierung fremdsprachlicher Lesekompetenz (Abschnitt 402 Karl-HeinzEggensperger 3); practicality und authenticity sind insbesondere für die Testaufgaben von Bedeutung (Abschnitt. 4). Eine Validierung des Tests nach dem argument based approach (Kane 2013) kann somit erfolgen, indem Testkontext, Testzweck, Testkonstrukt, Testaufgaben und die Interpretation der Testergebnisse argumentativ verbunden werden. 2. Testkontext und Testzweck Im Korsett des institutionell verankerten monolingualen Fremdsprachenunterrichts kann die Mehrsprachigkeitsdidaktik bislang nur eine begrenzte Wirkung entfalten (↗ Art. 30). So ist oft etwa eine Unterrichtssequenz zum integrativ-mehrsprachigen Lernen nur schwer außerhalb eines Projektes in den regulären Fremdsprachenunterricht einzubringen (Muñoz 2014: 126). Für formative Tests während des Lernvorgangs müssten in der Planungs- und Designphase zumindest das Curriculum, Lehr- und Lernmaterialien sowie das Zeitbudget vorliegen. Selbstverständlich ist die Beschaffenheit der Zielgruppe ein relevanter Faktor (Eggensperger 2016). Deshalb liegt der Schwerpunkt im Folgenden auf summativen Tests für ein Mehrsprachenzertifikat. Es soll Mehrsprachigkeit unabhängig von den Bedingungen der Aneignung der Sprachenkenntnisse sichtbar machen. Als Alleinstellungsmerkmal gilt ein Leseverstehenstest etwa in drei verwandten Fremdsprachen zum selben Zeitpunkt (↗ Art. 76). Damit ist eine Doppelung von Prüfungen für Schulnoten oder für internationale Zertifikate wie z. B. DELF-DALF, DELE oder die Tests von Cambridge English Language Assessment ausgeschlossen. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal betrifft die Prüfungsmodalitäten. Pro Sprache könnten ein zweisprachiges Wörterbuch und eine Grammatik zugelassen werden (Eggensperger 2016: 31). 3. Kompetenzmodellierung Lesen wird als konstruktiv-interaktiver Prozess aufgefasst. In einem informationsverarbeitenden Prozess führen Leser die in einem Text enthaltenen Informationen mit ihrem Vorwissen zusammen und konstruieren eine mentale Repräsentation des Gelesenen. Für das Testen von mehrsprachiger Lesekompetenz werden relevante Merkmalsdimensionen durch ein Konstrukt dargestellt. Aus der Vielzahl von Modellen zur Beschreibung fremdsprachlichen Leseverstehens favorisiert Grotjahn das Modell von Weir (2008: 4): „Das Modell […] beschreibt generische Komponenten des Leseprozesses, die bei der Konstruktion von Leseverstehensaufgaben berücksichtigt werden sollten.“ (Grotjahn 2010: 95) Abgesehen von einem geringeren Automatisierungsgrad der Wort- und Satzidentifikation aufgrund der großen Lernbelastung durch die fremdsprachlichen Formen ist die Lesefähigkeit in der Erstsprache nach der Interdependenzhypothese grundsätzlich auf die Fremdsprache übertragbar (ebd.: 100). 4. Testaufgaben 4.1. Zertifikatsbezogenes Testen von mehrsprachiger Lesefähigkeit Aus der Perspektive der kognitionspsychologischen Leseforschung sollten sich Aufgaben zum fremdsprachlichen Leseverstehen auf die sprachlichen Realisierungen von möglichst zahlreichen prototypischen Merkmalen der Lesekompetenz beziehen (↗ Art. 43). Aus test- 403 83. Mehrsprachigkeittesten theoretischer Sicht soll der Test ein möglichst adäquates Abbild der fremdsprachlichen Lesefähigkeit außerhalb der Testsituation ergeben. Komplexe szenariobzw. simulationsgestützte Formate mit drei unbearbeiteten Texten in drei Sprachen sowie Instruktionstexten in der Erstsprache der Probanden kommen einer realen Verwendungssituation nahe. Folgendes Szenario wäre denkbar: Drei Artikel aus der internationalen Presse sollen zu einem relevanten, nicht nur tagesaktuellen Thema ausgewertet werden. Le Monde , El Païs und La Repubblica nehmen den Abschied von Mesut Özil aus der Fußballnationalmannschaft zum Anlass, die Integration in die deutsche Gesellschaft zu thematisieren. Daraus ergeben sich Aufgaben zu unterschiedlichen Leseintentionen: • Zum globalen Lesen: „Was erfahren Sie aus den Texten über Integration? “ • Zum aufsuchenden Lesen: „Identifizieren Sie identische und voneinander abweichende, unterschiedlich dargestellte Sachverhalte.“ • Detailliertes Leseverstehen ließe sich mittels einer Synopse prüfen: „Ergänzen Sie die folgende Tabelle und geben Sie die Belegstellen an: “ IntegrationausderSicht le Monde El País La Repubblica vonMezutÖzil vonTürkeideutschenbzw.TürkeninderBRD weitererPersonen desAutors/ derAutorindesArtikels Die geprüften mentalen Operationen sind auf eine grundlegende Fähigkeit im Studium und Beruf, Texte zu exzerpieren, übertragbar. 4.2. Hypothesengrammatik Die Mehrsprachigkeitsbzw. Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 7, 70) geht davon aus, dass Lerner eine Hypothesengrammatik entwerfen. Dazu ließen sich z. B. mit folgenden Aufgaben Daten erheben: 1. „Kennzeichnen Sie im Text […] im Abschnitt […] in folgenden Wörtern […] mit unterschiedlichen Farben die lexikalische und grammatische Information.“ 2. „Unterstreichen Sie im Text […] im Abschnitt […] alle sprachlichen Elemente, die das Tempus angeben.“ (Verbformen, Ähnliches zu: Adverbien, Adjektive u. a.) 4.3. Interlingualer Transfer In den drei Prüfungstexten finden sich ausreichend Beispiele für möglichen interlingualen Transfer, der Leser beim Verstehen unterstützt. Aus Sicht der kognitionspsychologischen Leseforschung ist zu vermuten, dass bekannte Transferbasen und Internationalismen auf der Ebene der Worterkennung wirksam werden. Es wäre zu prüfen, in welchem Maße sie dazu beitragen, dass Leser die in den Texten enthaltenen Informationen mit ihrem Vor- und Weltwissen zusammenführen, um eine mentale Repräsentation des Gelesenen zu konstruieren oder ob der Leseprozess trotz interlingualen Transfers auf einer niedrigeren Prozessstufe abbricht (↗ Art. 64). 404 Karl-HeinzEggensperger 4.4. Synergien Die Mehrsprachigkeitsdidaktik versucht, „intelligente Lern- und Lehrwege zu finden, um dem Mehrsprachenerwerb mögliche Synergien zuzuführen.“ (Meißner 2013: 22) Die drei Texte bieten sich an, Daten zum „lernökonomischen Potential des romanischen Wortschatzes und des lernerseitigen lexikalischen Vorwissens“ (Meißner 2016: 9) zu erheben. Wenn das Vokabular des Instruktionstextes bekannt ist, könnten Synergieeffekte im Wortschatz durch folgende Aufgabe sichtbar gemacht werden: „Stellen Sie aus den Texten Serien zusammen mit opaken, opaken und transparenten sowie transparenten Wörtern.“ 5. Schlussbemerkung Was spricht gegen eine beileibe nicht neue Idee im Gewand einer optionalen Zusatzqualifikation, die den Wert von rezeptiver Mehrsprachigkeit für eine breite Adressatengruppe in Studium und Beruf (↗ Art. 71, 72) nutzbar machen kann? Und wäre, analog zum Bundeswettbewerb Fremdsprachen , ein Wettbewerb Mehrsprachigkeit ins Auge zu fassen? Literatur Bachman, L. F. & Palmer, A. S. (1996): Language Testing in Practice: Designing and Developing Useful Language Tests . Oxford. Bermejo Muñoz, S. (2014): Implementierung schulischer und lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in ein aufgabenorientiertes Unterrichtskonzept im Spanischunterricht der Sekundarstufe II. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19/ 1, 119-137. Christ, H. (1996): Tests de plurilinguisme. In: H. Goebl, P. H. Nelde, S. Zdeněk & W. Wölck (Hrsg.): Kontaktlinguistik. Contact Linguistics, Linguistique de contact . Berlin, New York, 501-507. Eggensperger, K.-H. 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Begrifflichkeit und Problemaufriss Mit der schreibdidaktischen Hinwendung zum Prozess des Schreibens (Flowers & Hayes 1981) anstelle einer Fixierung auf das Produkt entstanden neue und nachhaltige Perspektiven für das Schreiben im Fremdsprachenunterricht allgemein. Der Begriff des diagnostischen Schreibens wird als solcher erstmals von Meißner (2010) in der Wortverbindung „diagnostisches mehrsprachiges Schreiben“ verwendet, womit der Autor die Verbindung von Schreib- und Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) herstellt. Auch das kollaborative Schreiben kann als Schreibwie auch als Forschungsmethode zum diagnostischen Schreiben in Bezug gesetzt werden. Schließlich lässt sich im Kontext des diagnostischen Schreibens auch an Überlegungen zur Evaluation durch Lernaufgaben (Martinez et al. 2017) anschließen. 2. Forschungsstand zum Schreiben in der Fremdsprache Das Schreiben in der L2 stellt für alle Sprachen außer Englisch ein bisher noch eher wenig bearbeitetes Feld dar. L2-Schreibmodelle (Börner 1989; Krings 1992) legen mehrheitlich das Schreibprozessmodell von Flower & Hayes (1981) zugrunde und erweitern dieses auf die Spezifik des L2-Schreibens hin. Porsch (2010) stellt hier ein Desiderat fest und merkt an, dass die spezifisch schulischen Faktoren (z. B. Korrektur der Lehrperson, Lehrziele) außer bei Börner (1989) nicht berücksichtigt werden. Auch von Manchón & Matsuda (2016) wird dieses Thema ignoriert. Das L2-Schreiben wird insgesamt überwiegend im Vergleich zum L1-Schreiben und diesbezüglich als defizitär betrachtet. Bedingt durch die zeitlich beschränkten Anwendungsmöglichkeiten im unterrichtlichen Kontext ist das L2-Schreiben i. d. R. deutlich weniger entwickelt als das Schreiben in der L1 und somit nur eingeschränkt automatisiert. Aufgrund geringer Automatisierung und fehlendem Wissen verläuft der Schreibprozess somit zäher und ist verlangsamt (Keller 2006: 129 f.; De Florio-Hansen 2005: 218). In zahlreichen Studien wird die begrenzte Verfügbarkeit sprachlicher Mittel als ein frequentes und typisches Merkmal festgestellt (Krings 2016: 109; Porsch 2010: 40; Börner 1995; Manchón et al. 2007: 152 ff.). Der Einsatz bestimmter Strategien stellt eine Möglichkeit bzw. Notwendigkeit dar, fehlende sprachliche Mittel und Wissenslücken auszugleichen. Folglich ist es besonders für L2-Schreibende wichtig, über entsprechende Strategien und Werkzeuge zu verfügen: kommunikative Strategien (z. B. Vermeiden und Vereinfachen), kognitive Strategien (z. B. Erraten, Übersetzen), metakognitive Strategien (Steuerung, Monitoring) und Kompensationsstrategien (z. B. Rückgriff auf die L1 oder andere Sprachen) (Edmondson & House 2011: 234 ff.). 406 BerndTesch 3. Diagnostisches mehrsprachiges Schreiben in der Fremdsprache Der Ansatzpunkt für das diagnostische mehrsprachige Schreiben nach Meißner (2010) liegt in einer Umkehrung der oben geschilderten defizitorientierten Ansätze. Meißner betont im Gegenteil das bereits vorhandene mehrsprachige Wissen von L2-Schreibenden: „Die mentalen Lexika der Lerner romanischer Sprachen sind zumeist mehrsprachig. Erfahrene Sprachenlerner wissen in der Regel zwischen den ihnen bekannten Sprachen zielführende bzw. transfergenerierende Vergleiche durchzuführen“ (Meißner 2010: 4). Zwar hebt er damit explizit auf „erfahrene Sprachenlerner“ ab, lenkt jedoch die Aufmerksamkeit zu Recht generell auf das Transfer- und Vergleichspotential des mehrsprachigen Schreibens, d. h. das „plurilinguale und didaktische Wissen“ (ibd.) der Schreibenden (↗ Art. 64, 65). Dieses kann seiner Auffassung nach durch Vergleiche der eigenen mit typologisch verwanden Sprachen bereits im Vor- und Grundschulalter gefördert werden. Übertragen auf das diagnostische mehrsprachige Schreiben bedeutet dies vor allem, eine diagnostische Haltung bezogen auf das Schreiben zu entwickeln (↗ Art. 83). Es impliziert, Fragen zu entwickeln und festzuhalten, bewusste Hypothesen zu ihrer Beantwortung aufzustellen und an Hand von Hilfsmitteln (z. B. Wörterbücher, Experten) zu verifizieren. Zum tentativen Transfer bestimmter Satzelemente von einer Sprache in die andere auf der kognitiven Ebene tritt das „Lernverhaltensprotokoll“ (ibd.: 7) auf der metakognitiven Ebene hinzu. Letzteres integriert das L2-Schreiben in einen metakognitiven und reflexiven Lernplan, der als ständiger Begleiter fungiert und damit die Selbststeuerungskompetenz fördert. Dieser Ansatz ist hochkompatibel mit dem kollaborativen Schreiben, einem weiteren aktuell in der Schreibforschung diskutierten Verfahren. Storch (2013; 2016) grenzt das kollaborative gegenüber dem kooperativen Schreiben ab. Während kooperative Vorgehensweisen Arbeitsverteilung oder auch nur einzelne gemeinsam gestaltete Schreibphasen (z. B. Überarbeitung) beinhalten können, bezeichnet kollaboratives Schreiben die gleichzeitige gemeinsame Produktion eines Textes (Storch 2013: 3). Auf der Prozessebene bedeutet dies, dass während des gesamten Schreibprozesses Interaktion zwischen den Schreibenden stattfindet. Die jeweiligen Beiträge der beteiligten Schreibenden können aus dem gemeinschaftlich produzierten Text nicht mehr extrahiert werden, und somit wird er auch von den Beteiligten gemeinsam verantwortet (Storch 2016: 387). Auf der interaktionalen Ebene setzt dies voraus, dass sich die Schreibenden ein gemeinsames Ziel setzen, sich auf eine Vorgehensweise und Rollenverteilung einigen, diese koordinieren und sich beiderseitig engagieren und bemühen. Das von Meißner (2010) geforderte hypothesengenerierende forschende Schreiben kann in seiner Wirkung durch die Kooperation bzw. Kollaboration in Dyaden oder Gruppen noch potenziert werden, wobei einseitige Rollenzuschreibungen (z. B. als Protokollant) zu vermeiden wären. Melo-Pfeifer (2009) untersucht das plurilinguale kollaborative Schreiben im Kontext der sog. integrierten Didaktik. Dabei stützt sie sich allerdings auf einen außerschulischen Schreibkontext, das computerbasierte kollaborative Schreiben in einem mehrsprachigen internationalen Projekt (Galanet). Diese sehr elaborierte Form des gemeinsamen Aushandelns von Sprache und Text unter expliziter Einbeziehung der Interkomprehension (z. B. Meißner & Mor- 407 84. Mehrsprachiges diagnostischesSchreiben kötter 2009) ließe sich auch in schulischen Lernkontexten realisieren, wo elektronische Partnerschaftsprojekte zwar nicht die Regel aber immer häufig zur Realität werden (↗ Art. 102). Melo-Pfeifer (ibd.: 73) kommt zu dem Schluss „de prendre en compte l’intégration non seulement des répertoires linguistiques des apprenants mais aussi de leurs compétences techniques, de leurs motivations et représentations“. Schließlich lässt sich das diagnostische Schreiben auch mit dem Ansatz der Evaluation durch Lernaufgaben verbinden. Martinez et al. (2017) zeigen an konkreten Beispielen, wie Kriterienraster für die Entwicklung einer Aufgabenbewusstheit auch beim Schreiben eingesetzt werden können. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln dort selbst ein Kriterienraster für das Schreiben, das sie daraufhin in Kleingruppenarbeit auf ihre individuell verfassten Texte anwenden, d. h. es sind kooperative Diagnoseschritte systematisch vorgesehen. Diese können ohne weiteres auf die Nutzung mehrsprachigen Wissens ausgedehnt werden. 4. Praxisrelevanz und Perspektiven Die Beispiele in Melo-Pfeifer (2009) und Martinez et al. (2017) zeigen, wie der theoretische Ansatz nach Meißner (2010) in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts umgesetzt werden kann. Dabei treten insbesondere drei Arbeitsformen hervor: 1. Das kollaborative diagnostische mehrsprachige Schreiben: zwei oder mehr Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder Lerngruppe schreiben gleichzeitig an einem gemeinsamen Text und reflektieren dabei ihre Vorschläge und Hypothesen. 2. Das kooperative diagnostische mehrsprachige Schreiben: zwei oder mehr Schülerinnen und Schüler einer Klasse oder Lerngruppe schreiben an einem gemeinsamen Text, teilen sich jedoch die Arbeit auf, so dass es individuelle oder kollaborative Teillösungen gibt, die anschließend in der Gruppe reflektiert werden. 3. Das kollaborative diagnostische mehrsprachige Schreiben in virtueller Kommunikation: zwei oder mehr Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Ländern arbeiten simultan im Rahmen eines elektronischen Schreibprojekts. Wenn auch individuelle Schreibprozesse im Hinblick auf das diagnostische mehrsprachige Schreiben durchaus denkbar sind, so scheint doch die Kollaboration / Kooperation der beste Weg zu sein, um die Aufmerksamkeit auf mehrsprachiges Vorwissen zu lenken und diesbezügliche Hypothesen zu bilden. Sie betreffen lexikalische, konzeptuelle ebenso wie morphosyntaktische Transferbzw. Differenzpotentiale. Das diagnostische mehrsprachige Schreiben erscheint mithin gerade im Lichte einer herkunftssprachlich immer heterogeneren Schülerschaft (↗ Art. 3, 100) als ein bisher noch wenig genutztes, jedoch potentiell ergiebiges Verfahren zur Beschleunigung des fremdsprachlichen Schriftsprachenerwerbs. Literatur Börner, W. (1989): Didaktik schriftlicher Textproduktion in der Fremdsprache. In: G. Antos & H. P. Krings (Hrsg.): Textproduktion . Tübingen, 348-376. Börner, W. (1995): Der Text im Fremdsprachenunterricht . Bochum. De Florio-Hansen, I. (2005): Kreatives Schreiben . 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Mehrsprachigkeit greift über Zweisprachigkeit hinaus, indem das Wort ‚mehr als zwei Sprachen‘ bedeutet. Obwohl Mehrsprachigkeit wie Interkomprehension als Spra- 409 85. MehrsprachigkeitsdidaktikundInterkomprehen sion: ForschungsstandundPerspektiven chen-, Kommunikations- und Spracherwerbserfahrung viel älter sind als unsere heutigen Sprachen (Deutsch, Französisch usw.) und deren Unterricht (↗ Art. 27), spielten sie in der Forschung lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Mehrsprachigkeit galt noch vor wenigen Jahrzehnten mehr oder weniger als eine bloße Erweiterung von pädagogisch lange umstrittener Zweisprachigkeit (Bilingualität, Bilingualismus) (↗ Einleitung). Dementsprechend hatten die Richtlinien des deutschen Fremdsprachenunterrichts nur jeweils eine einzige Zielsprache im Blick. Eine vernetzende, Sprachen miteinander verbindende, synergetisch auf Mehrsprachigkeit ausgerichtete und auf die lernrelevanten Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler zurückgreifende integrative Steuerung war kein Lehrziel. Daher bleibt die Suche nach expliziten Forschungen zum Mehrsprachenerwerb für diese Zeitspanne ergebnislos. Zugleich prägte im 19. Jh., der Hoch-Zeit der Nationalismen, die Kraft des Faktischen Vorurteile, die der Mehrsprachenförderung entgegenwirkten. Auch in der Didaktik steuern relevante Adressatenbezüge letztlich Forschungskontexte. Dies gilt auch für Mehrsprachigkeit. Während einerseits von einer durch die Schulfremdsprachen unterstützten planbaren Mehrsprachigkeit die Rede sein kann, umfasst der Begriff im Rahmen der sog. „Lebensweltlichkeit“ (↗ Art. 100) unterschiedliche und sehr viele Sprachen und damit Vielsprachigkeit. Die an Migration gebundene herkunftssprachliche Vielsprachigkeit ist administrativ nur schwer fassbar. Faktisch ist deren Förderung auf den sog. „muttersprachlichen Unterricht“ (↗ Art. 106) reduziert, der allerdings längst nicht alle Herkunftssprachen umgreift. Belastbare empirische Arbeiten sind für den herkunftssprachlichen Unterricht kaum vorhanden. Allerdings erfuhren die Herkunftssprachen im Rahmen von Portfolio-Beschreibungen eine Aufwertung (Burwitz-Melzer & Quetz 2006). - Demgegenüber beansprucht der Unterricht von Deutsch als Zweitsprache erhebliche Förderungsmittel seitens des Staates und der Migranten (weil die nativnahe Kenntnis der Umgebungssprache in hohem Maße über ein gelingendes Leben in der Aufnahmegesellschaft entscheidet) (↗ Art. 107, 108). Während Interkomprehension generell meint, ‚eine fremde Sprache dekodieren können, ohne sie gezielt erlernt oder mehr oder weniger inzidentell erworben zu haben‘, betonen romanische Länder hierneben oft die Fähigkeit, eine andere (romanische) Sprache spontan und in interkultureller Kommunikation zu verstehen. Während romanischsprachige Einführungen das Prinzip verfolgen, nur zu lehren, was Romanischsprachigen nicht augenfällig erschließbar ist, stellen deutschsprachige Forschungen eher sprachliche Transferbasen zusammen und analysieren Lehrlern-Strategien, deren Kenntnis notwendig ist, um sich eine fremde Sprache, insbesondere einer anderen Sprachfamilie, transparent bzw. interkomprehensibel zu machen (↗ Art. 64). Der Grund für die verschiedenen Herangehensweisen besteht natürlich in dem unterschiedlichen Maße der lernerseitigen Verfügbarkeit nützlicher Transferbasen bei Mutter- und Fremdsprachlern. Allerdings lassen einschlägige Publikationen zum interlingualen Identifikationstransfer keinen Zweifel daran, dass auch romanischsprachige Lerner didaktischer Unterstützung bedürfen, um romanische Interkomprehension zu nutzen (z. B. Carrasco Perea 2000). Dass der Ansatz zur romanischen Interkomprehension (↗ Art. 67, 80) in romanischen Ländern mehr Aufmerksamkeit findet, als dies etwa in Deutschland der Fall ist, erklärt (1.) sich mit der relativen ‚Leichtigkeit‘, 410 Franz-JosephMeißner mit der die Schwestersprachen erworben werden können, (2) der hohen Attraktivität von Fremdsprachen wie Französisch, Italienisch, Portugiesisch / Brasilianisch und Spanisch, (3.) und der sprachpolitischen Bedeutung der Erweiterung des kommunikativen Radius der eigenen (romanischen) Sprache (z. B. von den ca. 140 Mio. Erst- und Zweitsprachlern des Französischen zu den nahezu 800 Millionen Romanophonen). In engem Zusammenhang hiermit steht eine gezielte Förderung zahlreicher Projekte zur Interkomprehension. Die Fördermittel stammten sowohl aus EU-Töpfen als auch von nationalen und übernationalen Organisationen wie der Union Latine (1954- 2010) (www.unilat.org). Interkomprehensive Lehrlernkonzepte begegnen europaweit für unterschiedliche Sprachfamilien, darunter die ‚natürliche‘ skandinavische Interkomprehension (↗ Art. 59), Deutsch als Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) (↗ Art. 87), English after German (EaG) (↗ Art. 88), für die slavische Familie (↗ Art. 82) und für z. B. die Kombination Niederländisch / Deutsch (Wenzel 2014). Allerdings sind die einschlägigen Forschungen vor allem zur Lehr- und Lehrbarkeit unterschiedlich weit fortgeschritten, weshalb im Folgenden die Interkomprehension romanischer Sprachen in den Fokus genommen wird. Die europäische Perspektivierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in Bezug auf weniger stark normierte Sprachen, z. B. die Quechua-Familie (Romani Miranda 2011) oder das Türkische und die Turk-Sprachen Innerasiens, das pädagogische Potenzial der Interkomprehension, die ja eine natürliche kommunikative Strategie in interkultureller Interaktion darstellt, bei weitem nicht erschöpft ist. 2. Einzelzielsprachlicher Habitus oder integrative Mehrsprachigkeit? Marksteine für die fachliche Bewertung von Unterricht sind u. a. die Lehrziele. Zwar lautet eines von ihnen seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. ‚Kommunikationsfähigkeit in der Zielsprache‘, doch fehlten zu seiner Realisierung realitätsnahe Parameter, wie sie die Erforschung der interkulturellen Kommunikation, die Deskriptive Linguistik der Mündlichkeit und die Analyse des Klassenraumdiskurses erbracht haben. Die so in den Begriff projizierte relative Unkenntnis führte in Theorie und Praxis streckenweise zu einem defizienten Konzept von Zielsprache sowie zur Ausblendung von Mehrsprachigkeit und interkultureller Kommunikation. Auch die Verbindung zur lernerseitig bereits vorhandenen und angestrebten Mehrsprachigkeit blieb zumeist aus. All dies erklärt die Kritik Hüllens, demzufolge der Englisch- oder Französischunterricht bis weit in die 1960er Jahre hinein zur „fashionable(n) Salonunterhaltung im eigenen Land“ (2005: 141) eher befähigten als zur interkulturelle Kommunikation mit anglo- oder frankophonen Personen. Der reduktionistische Sprachbegriff wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein methodisch durch eine entsprechende Praxis erhärtet: Wesentlich hierfür waren eine naive Orientierung an zielsprachlicher Einsprachigkeit, das Ausblenden des unterschiedlichen Erwerbstempos der einzelnen Teilkompetenzen, generell eine unzureichende Berücksichtigung der Ergebnisse der Fremdsprachenerwerbsforschung und der Lernersprache(n), schließlich eine gewisse Ignoranz gegenüber den Spezifika interkultureller Kommunikation (↗ Art. 33) und eine unkritische Orientierung am sog. native speaker . Übergreifendes Sprachenlernen fand auch in der Ausbildung von 411 85. MehrsprachigkeitsdidaktikundInterkomprehen sion: ForschungsstandundPerspektiven Sprachenlehrern nicht statt. Dies prägte sowohl die Lehrpraxis, die Sprachlernerfahrungen, die methodische Sprachlernerwartung mehrerer Generationen von Lernern sowie eine weitgehend wenig entwickelte Kompetenz, sich das eigene Lernen transparent zu machen und die Relevanz des eigenen mehrsprachigen und lernbezogenen Vorwissens zu erkennen (obwohl diese für erfolgreiches Lernen seit nahezu einem halben Jahrhundert von der Lernpsychologie betont wird). Das hartnäckige Stereotyp erklärt, wie manche Lehrer und Lehrerinnen auf Neuerungen zu reagieren pflegen: ob eher ablehnend oder eher offen (Ellis 2003: 321): “An innovation constitutes a ‘threat’ in the sense that it may challenge existing preconceptions about teaching and require teachers to adopt new routines to replace those with which they are familiar”. Das natürlich längst nicht von allen geteilte Klischee stellt eines der wesentlichen Hindernisse für die Modernisierung des Fremdsprachenunterrichts (↗ Art. 30), darunter der interkomprehensive Ansatz, dar. Konzepte zur Förderung einer diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit fanden in diesem Rahmen ebenso wenig einen Platz wie die Berücksichtigung der lernerseitig schon vorhandenen Mehrsprachigkeit und Mehrsprachenerfahrung. 3. Bisherige Forschungen (nicht nur) in Deutschland und Perspektiven Schwerpunkte der Forschungen betreffen Interkomprehension in den einzelnen Fertigkeiten zwischen Sprechern unterschiedlicher romanischer Sprachen, Lehren und Lernen von interkomprehensiv basierten Strategien, mehrsprachige internationale Projektarbeit und Lehrerbildung. Während in den romanischen Ländern über sechzig Qualifikationsarbeiten - vor allem Fallstudien zu romanischer und europäischer Interkomprehensibilität sowie zur Interkommunikation (↗ Art. 57) - vorliegen (vgl. z. B. www.theses.fr/ zu intercompréhension und intercompréhension intégrée), standen im Fokus der weniger zahlreichen deutschen Studien vor allem Fragen: • zur Interkomprehensibilität romanischer Sprachen bei Deutschsprachigen verschiedenen Alters und verschiedener Sprachenbiographien (Kinder, Schüler der Sekundarstufen I und II, sprachlernungewohnte Erwachsene, Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen). Erfasst wurden das interkomprehensive Lesen und das Hörverstehen (Meißner 2010), • zur Lehrbarkeit von romanischer Interkomprehension an deutschsprachige Lerner unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Sprachenprofile und Sprachlernerfahrungen (↗ Art. 81) in Schule, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Universität, • zur Entwicklung von methodischen Grundbausteinen des interkomprehensiven Ansatzes auf empirischer Grundlage sowie von Übungsformaten zum interkomprehensiven Ansatz (↗ Art. 71) einschließlich der Erfassung romanischer und germanischer Transferbasen (↗ Art. 67, 68), • zu lehr- und lernseitigen subjektiven Theorien zur Mehrsprachigkeit, dem Mehrsprachenerwerb und den Sprachlernerlebnissen (↗ Art. 25) in quantitativen und qualitativen Untersuchungen, • zu Erfahrungen mit Kommunikation im mehrsprachig-romanischen Polylog (↗ Art. 66), • zum Vergleich des interkomprehensiven Procedere in Abhängigkeit von unter- 412 Franz-JosephMeißner schiedlichen Sprachfamilien (mit unterschiedlichen Strukturen) (Meißner 2014; Gilles 2017), • zur Geschichte der Interkomprehensionsdidaktik (in semasiologischer und onomasiologischer Perspektive). In der deutschen Forschung zur romanischen Interkomprehension, zu DaFnE/ F (↗ Art. 87) und EaG (↗ Art. 88) wurden eine Reihe empirischer Studien vorgelegt (die hier nicht aufgezählt werden können). Die Befunde zeigen übereinstimmend, dass interkomprehensionsbasierte Sprachlernerfahrungen zur einer generellen Positivierung des Sprachlernerlebnisses, der Selbstwirksamkeit und der Sprachen- und Sprachlernbewusstheit führen. Für die weitere Entwicklung (nicht nur) des schulischen Fremdsprachenunterrichts ist daher die Integration interkomprehensionsdidaktischer Verfahren in den regulären Sprachunterricht (↗ Art. 13) relevant. Die Beschränkung auf romanische und deutsche Entwicklungen soll nicht verschweigen, dass auch die englischsprachige Forschung wichtige Teilerkenntnisse liefert (vgl. Inferenz, Transfer, Strategien, crosslinguistic influence, language learning beyond the classroom u. a. m., ↗ Art. 6). 4. Desiderata für aktuelle Forschung Es liegt im Wesen von Forschung, dass sie neue Fragen aufwirft und gegebenenfalls daran erinnert, dass wichtige Fragen weiterhin der Beantwortung harren. Zur Interkomprehensionsdidaktik sind mit Blick auf den deutschsprachigen Raum zumindest folgende Punkte zu nennen: • Integration interkomprehensiv basierter Lehr- und Lernstrategien (Inhalte, Lernverfahren, Förderung von Volitionalität bzw. einer positiven motivationalen Interferenz, Selhstlernmonitoring) in den regulären Unterricht der ersten, zweiten und weiterer Fremdsprachen zum Zweck der Förderung von Sprachlernkompetenz ◦ Vernetzung von ‚Sprachenbewusstheit‘ zwischen Mutter-, Zweit- und Fremdsprachen ◦ lernerseitige Analyse und Beurteilung selbstreflexiver Verfahren bei unterschiedlichen Lernständen und Lernergruppen verschiedener Sprachenlernerfahrungen, Alters usw. ◦ Integration und Evaluation z. B. des diagnostischen Schreibens zur Identifikation der Lernersprache und hiervor ausgehend Festlegung des weiteren Lernweges (↗ Art. 86) • Auf- und Weiterbau produktiver Kompetenzen unter Nutzung der individuell vorhandenen rezeptiven Kompetenz ◦ Analyse des entsprechenden Lernarrangements, der Lehrlernstrategien und der Stützformate unter dem Gesichtspunkt der Effizienz ◦ Identifikation der ‚Schwierigkeiten‘ (Aussprache, Klärung semantischer Fragen, Festlegung des zeitlichen Investissements) • Erforschung der interkulturellen und mehrsprachigen Dialogkompetenz: Lerntandem, mehrsprachiger Polylog, interkultureller selbstgesteuerter Projektunterricht (Prokopowicz 2015) • Erforschung der Interkomprehension und entsprechender didaktischer Verfahren zwischen unterschiedlichen Sprachfamilien (z. B. Caure 2009) • Optimierung der Lehreraus- und Fortbildung zugunsten interkomprehensiv und reflexiv fokussierten Sprachenlehrens und -lernens 413 85. MehrsprachigkeitsdidaktikundInterkomprehen sion: ForschungsstandundPerspektiven Literatur Burwitz-Melzer, E. & Quetz, J. (2006): Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in Sprachenportfolios. In: H. Martinez, N. Reinfried & M. Bär (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik gestern, heute und morgen . Tübingen, 203-214. Carrasco Perea, E. (2000): Parenté tipolinguistique et apprentissage répercuté : l’espagnol en tant que deuxième langue de référence chez les lecteurs francophones débutants en catalan . Lille. Caure, M. (2009): Caractérisation de la transparence lexicale, extension de la notion par ajustements graphophonologiques et microsémantiques, et application aux lexiques de l’anglais, de l’allemand et du néerlandais. Reims (thèse). Ellis, R. (2009): Task-based Language Learning and Teaching . 10. Aufl. Oxford. Gilles, F. 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Tertiärsprachen sind ‚spät erlernte (schulische) Fremdsprachen‘ (vgl. Christ 1982), in der Terminologie der Forschung hingegen L4, L5 usw. Der tertiärsprachliche Unterricht ist eine Schöpfung der Reformierten Gymnasialen Oberstufe im Jahre 1972 und der Ausweitung des Sprachenangebots. Zu den heute unterrichteten Tertiärsprachen zählen neben Latein (↗ Art. 92) und Französisch (neu oder fortgeführt) (↗ Art. 89) vor allem Spanisch (↗ Art. 96), Italienisch (↗ Art. 90), Portugiesisch (↗ Art. 93), Chinesisch, Arabisch, Polnisch (↗ Art. 95), Russisch (↗ Art. 94), Niederländisch, Türkisch, Tschechisch (↗ Art. 95) und Dänisch. Nicht für alle Schulfremdsprachen liegen Lehrpläne vor. Die Exklusivität der in der Sekundarstufe I gelehrten Fremdsprachen (vor allem Latein, Englisch und Französisch) wurde geöffnet, so dass Russisch und Spanisch auch dort mit erheblichen Lernerkontingenten vertreten sind (↗ Art. 69). Im administrativen Jargon werden die Tertiärsprachen auch als „spät beginnend“, „neu einsetzend“, „dritte Fremdsprache“ oder „in der gymnasialen Oberstufe einsetzende Fremdsprachen“ bezeichnet. - In der Lehrerschaft gab der Begriff zu Fehldeutungen und Missverständnissen Anlass, und zwar im Sinne von „drittklassig“ (was keineswegs von den Autoren intendiert war). Konzeptuell entsprach die Öffnung des Sprachenangebots der Realität des zusammenwachsenden Europas, seiner großen und kleinen Sprachen, kurz: seiner Vielsprachigkeit (↗ Art. 9, 12). J Der Erwerb spät erlernter Fremdsprachen 416 JochenStrathmann 2. Methodisches zum Tertiärsprachenunterricht Zur Steuerung des tertiärsprachlichen Unterrichts gehört traditionell eine vergleichsweise steile Progression. Ansonsten richten sich die Curricula (wie bei den beiden zuvor gelernten Fremdsprachen) am Lehrziel einer umfassenden Kompetenz (Hören-, Sprachen-, Lesen- und Schreiben-Können) aus. Abstriche gegenüber den ‚langzeitlich‘ unterrichteten Sprachen werden laut Richtlinien hinsichtlich des angestrebten Kompetenzniveaus gemacht (↗ Art. 21). Der Unterricht einer dritten Fremdsprache bzw. einer L4 hat es mit erfahrenen Lernern zu tun. Zu Recht stellt Marx (2010: 167) daher für die Konzepte des Tertiärsprachenunterrichts fest: Allen gemeinsam ist das Grundkonzept, dass sowohl vorher erworbene sprachliche Kenntnisse (z. B. aus der ersten Fremdsprache und aus der Erstsprache) als auch vorher (z. B. im Unterricht der ersten Fremdsprache) gemachte Sprachlernerfahrungen (Lern- und Kommunikationsstrategien […]) genutzt werden können, um einen erleichterten Zugang zur neuen Zielsprache zu erlangen. Dies sah auch schon Zapp (1979) so, als er die Vernetzung des Sprachunterrichts forderte. Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) ist zwar an jeder zu erlernenden Sprache ausbildbar, aber jede Sprache und jede Sprachlernsituation erfordert und lehrt neue Verhaltensweisen und neue Strategien. Auch diese Dimension bedarf lehrseitiger Beachtung: Sie aktivieren nicht in erster Linie die Sprachen selbst, sondern das Lernpotenzial, das beim Lernen dieser vorherigen Sprachen angelegt wurde. So werden Vorerfahrungen nicht länger ignoriert bzw. liegen brach, sondern ermöglichen es, dass der L3-FSU auf einer höheren Stufe beginnen, die Progression steiler angelegt sein und die Inhalte anspruchsvoller sein können. (Hufeisen 2003: 9) Im Kontext der Exportdidaktiken (z. B. DaF außerhalb des deutschen Sprachgebietes) greift der Unterricht auf eine Schülern und Lehrern bekannte Brückensprache zurück (wie schon die Aktronyme DaFnE [Deutsch als Fremdsprache nach Englisch], DaFnEF [… Englisch und/ oder Französisch], EaG [ English after German ] signalisieren) (↗ Art. 87, 88). Sie dient sowohl als Repertoire von möglichen Transferbasen als auch zur Steuerung des Unterrichts. 3. Ausblick Das Tertiärsprachenlernen (im schulischen Sinne) ist ein Erfolg, der durch die Öffnung des Fremdsprachenangebots und die Erstellung eines entsprechenden didaktischen Ausbauvolumens in den nach 1972 hinzugekommenen Schulfremdsprachen (Richtlinien, Lehrwerke, Fachlehrerprinzip) ermöglicht wurde. Allerdings stehen die vorhandenen Angebote curricular und methodisch noch zu sehr in der Tradition des national gedachten Fremdsprachenunterrichts, wie wir ihn aus den letzten beiden Jahrhunderten überwiegend kennen (↗ Art. 29, 30). Dies betrifft die weitgehende Ausblendung der Pluralen Ansätze, hier der schülerseitig vorhandenen lernrelevanten individuellen Mehrsprachigkeitsprofile als auch der Sprachlernkompetenz (↗ Art. 3, 100). Zu Recht beklagen die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Zusammenhang die Unterschiedlichkeit der in den Kursen begegnenden Mehrsprachigkeits- und 417 87. DeutschalsFremdsprachenachEnglisch / Französisch(DaFnE) / (DaFnF) Kompetenzprofile. Die Materialentwicklung ist aufgerufen, der Heterogenität entgegenzutreten und zu ‚liefern‘, z. B. um eine bessere Vernetzung der Lehrmittel im Sinne einer integrativen Didaktik zu erleichtern (Anschluss von L4, L5 an das mit L2 oder L3 erworbene Wissen, Können und die Selbststeuerungskompetenz). Das lernrelevante lernerseitige Vorwissen darf keine terra incognita bleiben. Eine Antwort auf die Vielsprachigkeit der Europäischen Union (und darüber hinaus) bietet das Konzept der diversifizierten und abgestuften Mehrsprachigkeit. Zu überlegen ist, ob nicht auch „Rezeptive Mehrsprachigkeit im Sinne der Eurokomprehension“ (↗ Art. 7) Thema eines Kurszeitkurses sein kann. Literatur Christ, I. (1982): Richtlinien in Tertiärsprachen. Probleme und Möglichkeiten der Innovation bei der Erstellung von Richtlinien für Schulfächer ohne Lehrtradition. In: Die Neueren Sprachen 81, 88-106. Hufeisen, B. (2003): L1, L2, L3, L4, Lx - alle gleich? Linguistische, lernerinterne und lernerexterne Faktoren in Modellen zum multiplen Spracherwerb. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht 8 (2/ 3). [https: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/ zif/ article/ view/ 537]. Marx, N. (2010): EuroCom und die Wiederaufnahme früher Einsichten in das Lehren und Lernen von Fremdsprachen. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 36, 161-172. Zapp, F. J. (1979): Verzahnung von Zweit- und Drittsprachenerwerb. In: G. Walter & K. Schröder (Hrsg.): Fachdidaktisches Studium in der Lehrerbildung, Englisch. München, 9-14. Jochen Strathmann 87. Deutsch als Fremdsprache nach Englisch / Französisch (DaFnE) / (DaFnF) 1. Begrifflichkeiten DaFnE (Deutsch als Fremdsprache nach Englisch) beschreibt den Teilbereich der Tertiärsprachenlinguistik, der sich mit dem Erlernen der Fremdsprache Deutsch nach dem vorherigen Erlernen der Fremdsprache Englisch und den dadurch bedingten Einflüssen auf den Deutscherwerb befasst. DaFnF (Deutsch als Fremdsprache nach Französisch): Neben Englisch (↗ Art. 13, 97, 98) gewinnen weitere (Vor-)Fremdsprachen in der Forschung zunehmend an Bedeutung. Dabei zeigen Beobachtungen aus der Unterrichtspraxis, dass insbesondere Französisch (↗ Art. 89) einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Schreib- und Textkompetenz im Deutschen haben könnte (vgl. Fischer & Hufeisen 2010; 2012). Da Französisch allerdings sprachverwandtschaftlich betrachtet weiter entfernt vom Deutschen ist als Englisch, gibt es hier sprachstrukturell - und insbesondere lexikalisch - weniger Überschneidungspunkte mit Deutsch, sodass weitere Aspekte wie beispielsweise Sprachen(lern-)kultur oder Textmusterwissen Aufmerksamkeit erfordern (vgl. Bartelheimer et al. 2018). Diese Zusammenhänge müssen künftige Forschungen untersuchen. 2. Problemaufriss Deutsch wird selten als erste Fremdsprache erlernt, sondern ist in der Regel zweite, dritte oder weitere Fremdsprache im Sprachenre- 418 LennartBartelheimer pertoire der Lernerinnen und Lerner. Dabei ist es die englische Sprache, die von den meisten Menschen bereits erlernt worden ist, bevor sie mit dem Deutschlernen beginnen. Da Englisch außerdem mit dem Deutschen verwandt ist, lassen sich hier viele Inferenz-, Interferenz- oder Transferphänomene (↗ Art. 64) beobachten (vgl. Neuner et al. 2009: 12-13). Allerdings wurde der Einfluss verschiedener Fremdsprachen aufeinander lange Zeit in erster Linie als Fehlerquelle eingeschätzt. Erst um 1990 begann die Tertiärsprachenforschung (↗ Art. 51, 85), die positiven Transfereffekte in den Fokus zu nehmen und für den Fremdsprachenunterricht zu nutzen (vgl. Neuner et al. 2009: 28-29). Aufgrund der hohen Bedeutung der Brückensprache Englisch für den Deutscherwerb bildete sich DaFnE als Teilbereich der Tertiärsprachenlinguistik und -didaktik heraus. Ziel von DaFnE ist es dabei, die Einflüsse des vorherigen Englischerwerbs auf den nachfolgenden Deutscherwerb zu erforschen und Konzepte zu entwickeln, um diese Einflüsse für den Deutscherwerb bzw. den DaF-Unterricht nutzbar zu machen. 3. Forschungsstand DaFnE als Teilbereich der Tertiärsprachenlinguistik und -didaktik ist insbesondere daher relevant, da es aktuell kaum noch DaF-Lernende gibt, die nicht bereits über Englischkenntnisse verfügen, was Marx (2005: 13) vor einigen Jahren in der Formel „DaF im neuen Millennium = DaFnE“ zusammenfasste. Dabei zeigen jüngere Forschungsarbeiten, dass insbesondere die lange gehegte Befürchtung einer negativen Auswirkung des zuvor gelernten Englisch, gerade im Bereich der Lexik, wenig begründet ist. So stellt Kärchner-Ober (2009: 264) im Bereich der Textproduktion einen starken lexikalischen Transfer der L2 Englisch bei ihren malaysischen Untersuchungspersonen fest. Marx (2005: 244) kommt im Bereich des Hörverstehens zu dem Ergebnis, dass Hörtexte mit hoher Kognatendichte leichter verstanden werden. Auch im Bewusstsein der Lernenden erscheint die Brückensprache Englisch eher positiv: Knapp 84 % der von Lay & Merkelbach (2011: 45) befragten taiwanischen DaF-Lernenden beschreiben die Ähnlichkeit zwischen englischem und deutschem Wortschatz als vorteilhaft. Die von Kursiša (2012) im Bereich der Arbeit mit Lesetexten untersuchten lettischen Schulkinder empfinden ihre Englischkenntnisse insbesondere bezogen auf den Wortschatz als sehr hilfreich für das Textverständnis (↗ Art. 76). Interessanterweise wurde hier die Ähnlichkeit zwischen englischen und deutschen Vokabeln sehr viel stärker wahrgenommen als die Ähnlichkeit zwischen lettischen und deutschen Wörtern, auch dann, wenn letztere objektiv vorhanden war (Kursiša 2012: 311 f.). Auch die von Vidgren (2018) untersuchten finnischen Lerner beschreiben Englisch neben Schwedisch als besonders beim Vokabellernen hilfreiche Brückensprache (↗ Art. 59). Um diese Potentiale produktiv zu nutzen und Interferenzfehler zu vermeiden, ist allerdings ein hohes Kompetenzniveau in der Brückensprache nötig (vgl. Vidgren 2018: 253 f.). All dies kann nicht überraschen. So zeigt die Vermessung des Kernwortschatzes von vier romanischen Sprachen (Frequenzrang <5000) mit Englisch und Deutsch als disambiguierenden Sprachen, dass die Lexis, die das Englische mit dem Romanischen teilt, einen Anteil von über 50 % umfasst (Meißner 2018: 35). Geht man über die Marke 5000 hinaus, so wächst der Anteil der gemeinsamen Kognaten weiter an. Jenseits der rein sprachstrukturellen Ebene beeinflussen die vorhandenen Englischkenntnisse das Deutschlernen auch in weiteren 419 87. DeutschalsFremdsprachenachEnglisch / Französisch(DaFnE) / (DaFnF) Bereichen, etwa der Schreibbzw. Textkompetenz (vgl. Hufeisen 2002) oder der interkulturellen Kommunikation (vgl. Rost-Roth 2005). 4. Praxisrelevanz Die Gefahr von Interferenzfehlern auf lexikalischer Ebene ist nachweislich deutlich geringer als der positive Transfer (↗ Art. 64) , da auf rund 100 deutsch-englische false friends über 600 positive Kognaten kommen (vgl. Neuner et al. 2009: 30, 58). Auch morphologische und syntaktische Ähnlichkeiten können für den DaF-Unterricht nutzbar gemacht werden (folgendes ausführlich bei Neuner et al. 2009: 150 f. und 155 f.): bei der Komparation (z. B. smart er / klüg er ), bei Endmorphemen (z. B. teach er / Lehr er oder count less / zahl los ) bzw. bei lateinisch- oder griechischstämmigen Prä- und Suffixen (z. B. anti- , de- , ex- , -ion , -ist , -tor ). Auch in der Zeitenbildung gibt es Parallelen, z. B. im Futur ( I will go / Ich werde gehen ). Zudem finden sich Ähnlichkeiten durch den Stammvokalwechsel ( sing , sang , sung / singen , sang, gesungen ). Die Wortstellung folgt der SVO-Wortfolge, auch Imperativ- und Fragesätze werden ähnlich gebildet ( Come here / Komm her , Wo warst du / Where were you , Are you German? / Bist du Deutsche(r)? ). In Aussprache und Rechtschreibung kann man einige z.T. aus der zweiten Lautverschiebung resultierende Gesetzmäßigkeiten ableiten (z. B. c/ k, th/ d, k/ ch, t/ s (z), tw/ zw, v/ b (f), d/ t, p/ pp (pf), sh/ sch). Allerdings gibt es auch Fallstricke, bei der Komparation etwa durch die englische Komparationsform mit more. Die Präpositionen sind größtenteils zwar semantisch vergleichbar ( since / seit , from / von , for / für , by / bei ), werden aber mit vielen Verben anders verwendet ( ask for / bitten um , hope for / hoffen auf , wait for / warten auf ). Auch die Zeiten werden im Deutschen z.T. anders verwendet als im Englischen (z. B. unmarkiertes Präsens: Ich mache es morgen statt Ich werde es morgen machen ) und in der Satzstellung gibt es Unterschiede, etwa bei Verneinungen mit nicht oder bei Nebensätzen (z. B. *er ist nicht da heute oder *weil sie mochte die blaue Bluse ). Hierbei kommt erschwerend hinzu, dass Phänomene wie etwa Hauptsatzbildung nach weil mittlerweile in der mündlichen Kommunikation durchaus gebräuchlich sind. Besondere Aufmerksamkeit ist auch bei Aussprache und Rechtschreibung geboten, wie bei der Auslautverhärtung (z. B. Dialo g , Gel d ), der unterschiedlichen Aussprache gleich geschriebener Vokale (z. B. m a n, w i ld) oder Konsonant-Vokal-Kombinationen (z. B. app le / Apf el ). Daraus folgt z.T. eine unterschiedliche Schreibweise von Wörtern gleichen semantischen Inhalts und ähnlicher Aussprache (z. B. mouse / Maus ). 5. Literatur Bartelheimer, L., Hufeisen, B. & Janich, N. (2018): Hilft die Vorfremdsprache Französisch bei der Textproduktion der folgenden Fremdsprache Deutsch? Das Projekt DaFnE/ F. In: C. Merkelbach & M. Sablotny (Hrsg.): Darmstädter Vielfalt in der Linguistik . Baltmannsweiler, 207-224. Fischer, R. & Hufeisen, B. (2010): Transferprozesse beim Produzieren deutschsprachiger wissenschaftlicher Texte von ausländischen NachwuchswissenschaftlerInnen mit Englisch bzw. Französisch als erster Fremdsprache. Vorüberlegungen zu dem Forschungsprojekt Transfer und Textkompetenz DaFnE/ F. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2/ 21, 249-259. Fischer, R. & Hufeisen, B. (2012): Textproduktion und Sprachenfolge - Wie beeinflusst die Vorfremdsprache L2 die Textproduktion in 420 LennartBartelheimer der L3 Deutsch als Fremdsprache? Methodische Vorüberlegungen zu einer explorativen Studie. In: D. Knorr & A. Verhein-Jarren (Hrsg.): Schreiben unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit . Frankfurt a. M., 157-168. Hufeisen, B. (2002): Ein deutsches Referat ist kein englischsprachiges Essay. Theoretische und praktische Überlegungen zu einem verbesserten textsortenbezogenen Schreibunterricht in der Fremdsprache Deutsch an der Universität . Innsbruck. Kärchner-Ober, R. (2009): The German Language is Completely Different from the English Language: Besonderheiten des Erwerbs von Deutsch als Tertiärsprache nach Englisch und einer Nicht-Indogermanischen Erstsprache . Tübingen. Kursiša, A. (2012): Arbeit mit Lesetexten im schulischen Anfängerunterricht DaFnE. Eine Annäherung an Tertiärsprachenlehr- und -lernverfahren anhand Subjektiver Theorien der Schülerinnen und Schüler . Baltmannsweiler. Lay, T. & Merkelbach, C. (2011): Deutsch als Tertiärsprache in Taiwan. Eine empirisch quantitative Erhebung zur Einschätzung vorhandener Sprachkenntnisse und Sprachlernerfahrungen für den Lernprozess des Deutschen. In: R. Kärchner-Ober (Hrsg.): Multilingual Thumbprints. Different Perspectives of Multilingualism in South-East Asia . Baltmannsweiler, 25-55. Marx, N. (2005): Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache. Zum Nutzen eines Sensibilisierungsunterrichts in „DaFnE“ . Baltmannsweiler. Meißner, F.-J. (2018): Die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit. Eine didaktische Analyse zur interlingualen Transparenz- und Frequenzforschung. In: Giessener Fremdsprachendidaktik: online 11. [http: / / geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2018/ 13589/ pdf/ GiFon_11.pdf]. Neuner, G., Hufeisen, B., Kursiša, A. et al. (2009): Deutsch als zweite Fremdsprache. Fernstudieneinheit 26. München. Rost-Roth, M. (2005): Förderung interkultureller Kompetenzen im Tertiärsprachenunterricht Deutsch nach Englisch. In: B. Hufeisen & G. 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Dennoch wird es im deutschsprachigen Raum immer deutlicher, dass auch Englisch als Tertiärsprache noch länger Thema sein wird - und zwar besonders für Einwanderer, die nach dem DaF-Unterricht Englisch als Fremdsprache belegen. Beide Konstellationen bringen besondere Aspekte und Herausforderungen, aber auch besondere Potenziale mit sich. 421 88. English after German 2. Problemaufriss Beim Begriff „EaG“ handelte es sich zunächst um ein didaktisches Interkomprehensionskonzept (↗ Art. 70, 71), das Anfang der 2000er Jahre einem Desiderat an deutschen Hochschulen nachzukommen versuchte (Marx 2010). Obwohl zunehmend rezeptive Kompetenzen im Englischen für das Bestehen im Studium erforderlich waren, gab es eine kleine, dennoch bedeutende Gruppe von Studierenden und akademischen Mitarbeitern ohne Englischkenntnisse. Dies waren i. d. R. Personen aus Osteuropa, die neben Russisch als erste Fremdsprache auch Deutsch als zweite Fremdsprache gelernt hatten (↗ Art. 108). Da der Großteil der Universitäten von einer hohen Englischkompetenz ihrer Studierenden ausging, gab es i. d. R. keine Möglichkeit, Englisch auf niedrigeren Niveaus in regulären Kursen der universitären Sprachenzentren zu lernen. Die Betroffenen sollten ausreichend Englischkenntnisse erwerben, um akademische, wissenschaftliche Texte lesen zu können. Etwas anders gestaltet sich derzeit eine zwar nicht neue, dennoch sehr wichtig gewordene Situation im Englischunterricht deutschsprachiger Schulen. Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche, die von Sprachlernklassen für Deutsch in den Regelunterricht und somit auch in den Englischunterricht wechseln, bringen sehr unterschiedliche sprachliche Vorkenntnisse mit, die im Deutschwie im Englischunterricht meist nicht berücksichtigt werden. Somit ist bei beiden Gruppen von einer unterschiedlichen Lernsituation auszugehen. Im ursprünglichen EaG-Projekt bildeten Hochschulabsolventen mit hohen Deutschkompetenzen die Zielgruppe und das Lernziel rezeptiver Englischkompetenzen (↗ Art. 75, 76) wurde verfolgt (vgl. Marx 2010); entsprechend konnten die Deutschkenntnisse gezielt von Lehrenden in den Unterricht einbezogen werden. Bei neu zugewanderten Schülern sind sowohl Deutschals auch Englischkenntnisse deutlich heterogener; zudem werden frühere Sprachlernerfahrungen in der konkreten Unterrichtssituation oft von den Lehrenden verkannt. Trotz der sehr spezifischen Motivation für die Entstehung des Begriffs EaG soll im Rahmen dieses Artikels auch die allgemeine Lernsituation betrachtet werden, die auf Grund des Status der neuen Sprache als Tertiärsprache viele Ähnlichkeiten mit DaFnE (↗ Art. 87), aber auch weiteren slawischen Sprachen (↗ Art. 95) u. a. aufweist. 3. Forschungsstand Der Forschungsstand zu EaG ist für beide o. g. Lernergruppen als eher mager zu bezeichnen. Wenn nicht auf die vielen und interessanten Ergebnisse aus der allgemeinen Tertiärsprachenforschung oder der mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung (↗ Art. 85) Bezug genommen wird, verbleibt eine nur vergleichsweise geringe Anzahl an Studien zu der besonderen Lernsituation von Englisch nach Deutsch. Da es sich i. d. R. zudem um rein beschreibende Ansätze handelt, bestehen kaum spezifische Informationen zu den Lernprozessen. In diesem Kontext sind u. a. Annahmen aus der allgemeinen Tertiärsprachenforschung relevant, die sich mit dem Erlernen dritter oder weiterer Sprachen beschäftigt (↗ Art. 51). So ist zu erwarten, dass Lernende des EaG von diversen Sprachlernerfahrungen sowie von linguistischen Kenntnissen profitieren, wenn sie sich ihrer zweiten germanischen Sprache zuwenden. Dies steht insbesondere im Kon- 422 NicoleMarx-&GregPoarch trast zu solchen Lernenden, die Englisch als erste Fremdsprache belegen. Tertiärsprachenlerner weisen diverse linguistische, metalinguistische und metakognitive Vorteile auf. U. a. üben sie bei der Auseinandersetzung mit Sprachen eine stärkere kognitive Kontrolle aus und sind kognitiv sensibler und kreativer im Umgang mit den eigenen Sprachen. Sie verfügen über Lern- und Verarbeitungsstrategien und können neue sprachliche Informationen erfolgreicher systematisieren als L2-Lernende (vgl. zusammenfassend Angelis 2007); z.T. auch wegen ihres relativ höheren Alters sind sie zielorientierter, selbstständiger und sprachlich risikobereiter ( Jessner 2006). Von größtem Vorteil dürfte allerdings die Tatsache sein, dass sowohl Englisch als auch Deutsch zur westgermanischen Sprachenfamilie gehören und somit einen großen Anteil ihres Sprachguts teilen (↗ Art. 68); ein Vorteil, auf den die deutlich besser erforschte und didaktisierte DaFnE-Didaktik aufbaut (vgl. Neuner et al. 2009). Eventuelle Interferenzphänomene kommen, wie in der Situation von DaFnE (↗ Art. 87), v. a. in den Anfangsstadien des Lernens vor (vgl. z. B. Angelovska & Hahn 2012 zum Schreiben in Deutsch als L2 und Englisch als L3). Mit Bezug auf die ursprüngliche EaG-Zielgruppe sind auf Grund der wenig belastbaren Forschungslage die obigen Ausführungen größtenteils Annahmen. Eine Pilotstudie, die sich dieser spezifischen Lernergruppe widmete, wurde in Marx 2010 berichtet. Es handelte sich einerseits um ein didaktisches Konzept, bei dem ausländische Studierende mit sehr niedrigen Englischfähigkeiten (< GeR A2) innerhalb weniger Kursstunden auf einer Online-Lernplattform englischsprachige Texte auf den Niveaus B2-C1 lesen lernen sollten. Dabei wurde in einer Adaption des EuroCom-Ansatzes (vgl. Art. 67, 68) das Deutsche als (fremdsprachliche) Brückensprache bestimmt. Lernende wurden in der Anwendung interlingualer Erschließungsstrategien nach der Sieben-Siebe-Struktur des EuroCom geschult, erhielten aber keinen Englisch as a Second Language -Unterricht. Es konnte nachgewiesen werden, dass diese Studierenden ihre Englischlesefähigkeiten signifikant und bedeutend verbessern konnten. Ähnlich wie DaFnE-Lerner scheinen also Lerner des Englischen als Tertiärsprache nach Deutsch als Fremdsprache von bereits vorhandener linguistischer Kompetenz in ihrer L2 zu profitieren. Zur derzeit relevantesten Gruppe der neu zugewanderten Schüler bestehen ebenfalls wenige empirische Erkenntnisse, auch wenn eine erste Beschreibung dieser Situation bereits Anfang der 1980er Jahre erfolgte (Hafez & Jagomast 1986). Neuere Befunde beschreiben die Sprachentwicklung bei Schülern mit Herkunftssprachen u. a. anhand von Transfereffekten in das Englische als Drittsprache. So konnten Schülern mit den Familiensprachen Russisch (↗ Art. 108), Türkisch (↗ Art. 109) und Vietnamesisch in Abhängigkeit vom jeweiligen linguistischen Phänomen und der Herkunftssprache Transfereffekte sowohl aus der Herkunftssprache als auch aus dem Deutschen in die neue Fremdsprache nachgewiesen werden (Siemund & Lechner 2015). Hier scheinen vor allem die jüngeren Lernenden von ihrer Mehrsprachigkeit beim Erlernen des Englischen als Drittsprache zu profitieren. Ähnliche Befunde wurden von Rauch, Naumann und Jude (2012) berichtet, die positive Effekte einer Biliteralität in Türkisch und Deutsch bei bilingualen Schülern sowohl in deren Lesefähigkeit in English als Drittsprache als auch deren metalinguistischer Bewusstheit feststellten. Lernende mit höheren schriftlichen Kompe- 423 88. EnglishafterGerman tenzen in beiden Sprachen schnitten dabei im Durchschnitt besser ab als die mit nur partiell entwickelter Biliteralität und als monolinguale Schüler. Hier zeigen sich die Potenziale einer umfassender erworbenen Herkunftssprache (d. h. neben mündlichen Fähigkeiten auch Literalität) im Erlernen einer Drittsprache (s. hierzu auch Maluch & Kempert 2017). Poarch und Bialystok (2017) plädieren daher für eine generelle Unterstützung von Schülern mit Migrationshintergrund im Erwerb ihrer Herkunftssprachen (↗ Art. 106), um ihnen eine mündlich und schriftlich weitestgehend entwickelte Mehrsprachigkeit zu ermöglichen, die sich positiv auf ihre kognitiven Fähigkeiten auswirken und ggf. sozio-ökonomische Nachteile ausgleichen kann. 4. Praxisrelevanz EaG kommt in den bereits erforschten Konstellationen immer seltener vor. Dennoch gibt es eine Zielgruppe, die in den nächsten Jahren sicherlich mehr Aufmerksamkeit erlangen wird: neu zugewanderte Kinder und Erwachsene, die nach dem Erwerb und der Literalisierung in ihren Erstsprachen und der Teilnahme an einem schulischen (Deutsch-) Vorbereitungskurs einen Quereinstieg in den regulären Deutsch-, Fremdsprachen- und Sachfachunterricht vornehmen. Dieser umfasst auch den Englischunterricht, der in Zukunft unter dieser Perspektive dringend in das Augenmerk von Forschung und Lehre gelangen soll. 5. Perspektiven EaG hat sich von einer Situation des Lernens des Englischen bei Jugendlichen und Erwachsenen nach der schulischen 1. oder ggf. 2. Fremdsprache Deutsch derzeit wieder eher zu einer Situation entwickelt, bei der immigrierte Kinder und Jugendliche zunächst Deutsch im Inland erlernen und danach als Quereinsteiger am regulären schulischen Englischunterricht teilnehmen. Forschungen, die sich dieser neuen und durchaus theoretisch sowie praktisch interessanten Konstellation widmen, werden stark auf individuelle Lernerfahrungen achten müssen. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler werden unterschiedliche Erfahrungen mit dem Englischunterricht machen, gerade wenn sie nicht nur über eine und dieselbe L1 verfügen, sondern auch Kenntnisse anderer Sprachen haben. Literatur Angelis, G. de (2007): Third or additional language acquisition . Clevedon, Buffalo. Angelovska, T. & Hahn, A. (2012): Written L3 (English): Transfer Phenomena of L2 (German) Lexical and Syntactical Properties. In: D. Gabryś (Hrsg.): Cross-Linguistic Influences in Multilingual Language Acquisition . Berlin, New York, 23-40. Hafez, M. & Jagomast, J. (1986): Drittsprache Englisch. Probleme der Fremdsprachenvermittlung bei türkischen Schülern mit Deutsch als Zweitsprache . Hamburg. Jessner, U. (2006): Linguistic Awareness in Multilinguals. English as a Third Languag e. Edinburgh. Maluch, J. 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Die Schätzung von Personen, die Französisch als Erst- oder Zweitsprache auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus beherrschen, ist in der statistischen Erhebung allerdings problematisch, sodass die Zahlen stark differieren können (vgl. Wolff 2014). Französisch ist zudem offizielle Arbeitssprache in zahlreichen internationalen und europäischen Organisationen. Während es vom 17. bis 19. Jahrhundert den Status einer internationalen Verkehrssprache und Sprache der Eliten innehatte (↗ Art. 29), verlor das Französische im 20. Jh. diese Stellung an die englische Sprache. Dem Französischen wird jedoch nach wie vor ein hoher Bildungswert zugeschrieben. Als Schulfremdsprache nimmt es neben dem Englischen weiterhin eine zentrale Rolle ein (vgl. Christ 2015: 38 f.). Der deutsch-französische Elysée-Vertrag von 1963 verleiht den Partnersprachen Deutsch und Französisch füreinander ein besonderes Gewicht. Als Sprachen der beiden wichtigsten Länder der EU hat ihr Erlernen eine historische, politische und wirtschaftliche Bedeutung (↗ Art. 9, 12). Dies unterstreicht auch die Resolution zur Erneuerung des Vertrages (vgl. Bundestag 2018). 2. Französischunterricht als Ort einer mehrsprachig und mehrkulturell orientierten Didaktik - mit-Praxisbeispielen Französisch wird vereinzelt im Primar- und Sekundarbereich als erste oder zweite Fremdsprache unterrichtet, im gymnasialen Bildungsgang als erste und - zumeist nach Englisch - als zweite, dritte oder vierte Fremdsprache. Zwischen den Schulformen sowie den Bundesländern bestehen jedoch 425 89. Französisch erhebliche Unterschiede (vgl. Christ ebd.: 34). Das Französische eignet sich als spät erlernte Fremdsprache in besonderer Weise für eine mehrsprachig und mehrkulturell orientierte Didaktik. Im Rahmen interkomprehensiver Ansätze ist es als erste oder zweite Fremdsprache eine optimale Brückensprache (vgl. Klein 2002); in dritter und vierter Position kann es von der Mutter- und den Zweitsprachen sowie vorgelernten anderen, vor allem den romanischen Sprachen profitieren. Als zweite Fremdsprache kann das Bewusstmachen von englischen und deutschen Transferbasen (↗ Art. 64) (Analogien, Ähnlichkeiten) eine Stütze sein. Das Erkennen interlingualer Ähnlichkeiten erleichtert in erster Linie die Ausbildung rezeptiver Kompetenzen. Dass mit Französisch, Spanisch, Italienisch und (wenn auch seltener) Portugiesisch gleich vier romanische Sprachen zu den traditionellen Schulfremdsprachen in Deutschland zählen, macht den Einsatz interkomprehensiver Verfahren besonders plausibel. Für den Ansatz liegen sowohl Materialien, Übungen sowie ganze Lehrwerke vor (↗ Art. 71, 77, 80). Interkomprehension fokussiert auf Ziele zur mentalen Vernetzung von Sprachen und betont dabei primär Sprachen des schulischen Bildungsgangs. Ansätze zu lebensweltlich bedingter Mehrsprachigkeit (vgl. Hu 2003; Kramsch 2009) integrieren darüber hinaus Erst- und Familiensprachen der Schülerinnen und Schüler (↗ Art. 106). Aufgaben und Materialien in diesem Bereich zielen darauf, die subjektive Bedeutung von Sprache und Sprachlichkeit zu thematisieren. Damit vollziehen sie einen Perspektivenwechsel von einem eher am Sprachsystem orientierten hin zu einem eher subjektorientierten Verständnis von Sprache (vgl. Busch 2013). Hier liegen als Materialien beispielsweise Lernaufgaben zu sprachlicher Identität und Mehrsprachigkeit vor (z. B. Hu 2005), oder solche, die interkomprehensive Verfahren mit lebensweltlich mehrsprachigen Ressourcen verbinden (z. B. Schädlich 2013: 40 f.). Auch hier ist nicht mehr die Idealfigur des native speaker maßgeblich, sondern die des interkulturellen Sprechers, der seine Sprachen in unterschiedlichen transkulturellen Kommunikationssituationen nutzt. Dies ist umso wichtiger, als eine europäische Identität sprachlich und kulturell nur plurireferentiell gebildet werden kann (↗ Art. 1). Sprachliches Lernen findet an und mit Inhalten statt, welche die Zielkulturen repräsentieren, das Verhältnis der Lernerinnen und Lerner zu diesen behandeln und den Nexus von Sprache und Kultur selbst zum Inhalt von Fremdsprachenunterricht machen. So spiegelt sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit jugendkulturellen Themen und umgangssprachlichen Varietäten die Frage wider, welches Französisch für welche Verwendungskontexte im Unterricht eine Rolle spielen sollte. Wie Englisch oder Spanisch ist auch das Französische als plurizentrische und plurikontinentale Sprache (vgl. Pöll 2008) durch starke innere Variation und kulturelle Diversität gekennzeichnet. Varietäten und kulturelle Inhalte des frankophonen Raums werden in den letzten Jahren zunehmend in Unterrichtsmaterialien akzentuiert. So setzt das Lehrwerk Passages (Bergér et al. 1998) die Frankophonie als Bezugsraum für den Französischunterricht an (↗ Art. 77). Postkoloniale frankophone Literaturen sind in Ansätzen für den Oberstufenunterricht erschlossen (z. B. Wölfel 2014) und zielen auf eine mehrperspektivische Auseinandersetzung mit sprachlich-kultureller Vielfalt des frankophonen Raums (↗ Art. 42). 426 BirgitSchädlich 3. Perspektiven für Forschung und Unterrichtsentwicklung Der Französischunterricht in Deutschland wird seit vielen Jahrzehnten als in einer Krise befindlich beschrieben. Die repräsentative Studie Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule (Meißner et al. 2008) verweist darauf, dass die Zustimmungswerte für das Fach im Laufe des Bildungsgangs abnehmen; vor allem Jungen belegen weniger fremdsprachliche Fächer (vgl. auch Bonin 2009). Zugleich ist die Bereitschaft, Zeit und Mühe in das Französischlernen zu investieren, geringer als diejenige für den Englischunterricht (vgl. Meißner et al. 2008: 105), obwohl die Lehrerinnen und Lehrer des Faches höhere Zustimmungswerte erzielen. Hinsichtlich beruflicher Relevanz wird dem Französischen im Vergleich zum Englischen geringere Bedeutung zugeschrieben, was in gewissem Widerspruch zum realen ökonomischen Bedarf steht (vgl. Beckmann 2016: 347-348). Qualitative Forschungen, welche jene Faktoren ausleuchten, die zur Abwahl von Fremdsprachen außer Englisch führen, sind ein Desiderat, haben doch neben dem Französischen auch andere Sprachen, z. B. Spanisch, ein Abwahlproblem, das allerdings aufgrund des kleineren Lernerkontingents und der generell kürzeren Lernzeit vor allem der 3. Fremdsprache weniger die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit findet (vgl. Meißner 2011: 44). Der Französischunterricht steht vor der Aufgabe, Mythen und irrige Zuschreibungen - Französisch als „schwere“ Sprache, als „Mädchenfach“, als „elitär“, fehlerorientiert und lehrerzentriert - aufzubrechen. Mehrsprachig und mehrkulturell orientierte Didaktiken (↗ Art. 7, 8) stellen in diesem Zusammenhang ein wichtiges Feld in Forschung und Unterrichtsentwicklung dar. Die Wahrnehmung vieler Schülerinnen und Schüler, im Französischen kein dem Englischen vergleichbares Niveau zu erreichen, kann beispielsweise durch ein sprachenübergreifendes Unterrichten relativiert werden (vgl. Schröder-Sura et al. 2009: 11). Ein grundsätzliches Problem der fremdsprachlichen Fächer bleibt allerdings, dass ihre monolinguale Ausrichtung den Lernzielen und Arbeitsweisen integrativer Didaktik häufig nicht entspricht. Herausforderungen für Lehrkräfte liegen beispielsweise bei Entscheidungen bezüglich der Unterrichtssprache oder hinsichtlich der Gestaltung eines lernförderlichen Verhältnisses von Sprachreflexion und kommunikativem Gebrauch der Fremdsprache(n). Im Kontext aktueller Initiativen zur sprachlichen Bildung kommt der Frage, inwieweit der Fremdsprachenunterricht sprachlich-kulturelle Heterogenität innerhalb der Lerngruppen als Ressource nutzen kann, gesteigertes Interesse zu (vgl. Caspari 2017). Qualität und Motivationspotenzial des Fachs hängen in entscheidendem Maße von der Wahl ansprechender Inhalte ab, die besonderes Gewicht in Ansätzen des zwei- und mehrsprachigen Sachfachunterrichts darstellen, deren Potenzial bislang kaum ausgelotet wurde (vgl. Deutsch & Brüning 2013: 167). Im Gegensatz zum Englischen und Spanischen scheint das Fach Französisch in den Repräsentationen sowohl der Lernenden als auch der Lehrkräfte dominant am Nationalstaat Frankreich orientiert zu sein. Die häufig stereotypen Vorstellungen über Zielsprache und -kultur koinzidieren mit einem nur schwach ausgeprägten soziokulturellen Wissen über die Zielgesellschaft (vgl. Schröder-Sura et al. 2009: 13). Die Zukunft des Fachs wird von auf Frankreich, auf Europa und auf die Frankophonie bezogene Themen geprägt sein. 427 89. Französisch Literatur Beckmann, C. (2016): Lernziele im Fremdsprachenunterricht . Tübingen. Bergér, N., Bufe, W., Verger, N. & Pelz, M. (Hrsg.) (1998): Passages. Bd. I. Frankfurt a. M. Bonin, J. (2009): Jungenförderung im Französischunterricht. In: französisch heute 40/ 1, 15-24. Bundestag (2018): Resolution . [https: / / www. bundestag.de/ blob/ 537270/ a0aac9a1ba8b4ea2867ecb6e9faa1f35/ traite_elysee_resolution-data.pdf]. Busch, B. (2013): Mehrsprachigkeit. Wien. Caspari, D. (2017): Durchgängige Sprachbildung - Der Beitrag des Fremdsprachenunterrichts. In: B. Jostes, D. Caspari & B. 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Während der bisher größten Auswanderungswelle verließen zwischen 1876 und 1915 schätzungsweise 14 Millionen Italienerinnen und Italiener das Land, um sich in den USA sowie Argentinien und Brasilien niederzulassen. Während des Faschismus wanderten noch einmal 2,6 Millionen aus. Zum Ansehen des Italienischen in Europa und in der Welt trägt vor allem der Status Italiens als herausragende Kulturnation bei. Über Jahrhunderte hinweg war Italien führend in Architektur, Bildhauerei, Malerei, Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Musik. In jüngerer Zeit sind vor allem Film, Mode und Design zu nennen. Nicht zuletzt hat auch die italienische Küche - sie wurde 2010 als immaterielles Weltkulturerbe von der UNESCO anerkannt - Anteil an der Verbreitung des Italienischen. 2. Lernbarkeit Für Deutschsprachige hält das Erlernen des Italienischen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereit. Das gilt insbesondere deshalb, weil viele Schülerinnen und Schülerinnen über ausbaufähige Französischund/ oder Lateinkenntnisse verfügen (↗ Art. 89, 92). Außerdem können die meisten Lernenden bis zu einem gewissen Maß auf ihre Englischkenntnisse zurückgreifen (↗ Art. 13, 97, 98, 99). Lernerleichternd kommt hinzu, dass das Italienische wie die in allgemeinbildenden Schulen hauptsächlich gelernte zweite Fremdsprache Französisch zum romanischen Zweig der italischen Gruppe der indogermanischen Sprachen gehört (↗ Art. 67, 69). Die italienische Sprache hat viel vom flektierenden Charakter des Lateinischen bewahrt, ist aber, wie Französisch und Spanisch, eine weitere häufig gewählte Fremdsprache, eine agglutinierende Sprache; die Beziehungen im Satz, z. B. Person, Zeit und Kasus, werden durch Suffixe kenntlich macht. Gestaltet sich der Einstieg in das Erlenen der italienischen Sprache relativ leicht, so hält der morphosyntaktische Bereich zunehmend Schwierigkeiten bereit (vgl. Krings 4 2003: 541). Was den Rückgriff auf das mentale Lexikon und dessen Ausbau angeht, bieten nicht nur der Wortschatz des Französischen und Lateinischen, sondern auch der des Englischen Bezugspunkte (↗ Art. 60). Dass und wie Erwachsene beim Italienischlernen auf ihre Kenntnisse in der Muttersprache und den zuvor gelernten Fremdsprachen zurückgreifen, wurde bereits Anfang der 1990er Jahre ausführlich dargelegt (De Florio-Hansen 1994: 6). 3. Lernkontexte Die von der Europäischen Union schon lange geforderte Mehrsprachigkeit (↗ Art. 12), nämlich die Muttersprache, Englisch sowie eine „Nachbarsprache“, hat nicht zu einer größeren Verbreitung des Italienischen geführt (vgl. De Florio-Hansen 2001: 68). Da die zweite Fremdsprache im schulischen Unterricht nicht bis 429 90. Italienisch zum Abitur fortgeführt werden muss, ist es bisher nicht zur erwünschten Mehrsprachigkeit gekommen, sondern bei der Zweisprachigkeit Deutsch / Englisch geblieben. Bereits im 18. Jh. wurde Italienisch an Realschulen und Gymnasien gelehrt (für eine ausführliche Darstellung siehe Reimann 2009). Inzwischen wird Italienisch in allen Bundesländern überwiegend an Gymnasien und Gesamtschulen als dritte Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 8 oder als späteinsetzende Fremdsprache ab Jahrgangsstufe 10 angeboten (↗ Art. 86). Dieses Angebot wird von einer vergleichsweise geringen Zahl von Schülerinnen und Schülern genutzt: Im Jahr 2016/ 17 belaufen sich die Zahlen der Lernenden an allgemeinbildenden Schulen (Statistisches Bundesamt s. d.) für: Englisch: 7.184.236 (zum Vorjahr - 0,5 %) Französisch 1.475.793 (- 1,3 %) Latein 632.056 (- 3,1 %) Spanisch 425.066 (1,9 %) Italienisch 50.594 (- 1,7 %) Russisch 108.981 (- 2,0 %) Ganz anders stellt sich die Situation in der Erwachsenenbildung dar. Da für die zahlreichen privaten, betrieblichen und gemeinnützigen Anbieter keine Teilnehmerzahlen vorliegen, ist man auf die Statistik des Deutschen Volkshochschulverbands angewiesen. Danach verteilten sich die Lernenden im Arbeitsjahr 2015/ 16 wie folgt (Huntemann & Reichart 2016): Nach Deutsch als Fremdsprache belegt Englisch Platz 1. Es folgen: Kurse Unterrichtsstunden Belegungen Spanisch 20.601 11,2% 515.3556,7% 181.6489,2% Italienisch 17.1689,4% 424.1515.5% 143.3777,3% In kurzem Abstand nach Spanisch und Italienisch belegt Französisch Rang 4. An fast allen universitären Sprachenzentren in Deutschland wird Italienisch angeboten (↗ Art. 72). Damit entspricht man dem Bedarf, der in vielen geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Studiengängen besteht. In den meisten Fällen ist die Italianistik ein Teilbereich der Romanistik, wobei die Abschlüsse im Italienischen höchst unterschiedlich verteilt und gestaltet sind. An den meisten deutschen Hochschulen kann man Italienisch im Rahmen der Lehramtsstudiengänge als Neben-, seltener als Hauptfach studieren. Dass es auch für das Fach Italienisch neuere Ansätze gibt, belegt eine Examensarbeit mit dem Titel WebQuests im Italienischunterricht (Ziehm 2015). 4. Unterrichtspraxis Bisweilen ist Italienisch die erste Fremdsprache, über deren Wahl die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden. Dabei sind sie freilich auf das Angebot ihrer Schule angewiesen. Insbesondere in der Oberstufe, aber auch in der Jahrgangsstufe 8 verfügen die Lernenden, über zahlreiche Erfahrungen mit ihren Muttersprachen und den zuvor gelernten Fremdsprachen. Hinzu kommen ein größeres Weltwissen und entwicklungsbedingte kognitive Fortschritte. Allein diese Unterschiede seitens der Schülerinnen und Schüler stellen eine Herausforderung für den Unterricht in einer dritten Fremdsprache dar (↗ Art. 86). Was Didaktik und Methodik angeht, folgt der Italienischunterricht an Schulen sowie in der Erwachsenenbildung und an Hochschulen 430 InezDeFlorio-Hansen einem additiv-linearen Ansatz. Bezüge zwischen den Sprachen werden so gut wie nicht berücksichtigt. Auch die Lehrwerke unterstützen die Lehrpersonen nur höchst eingeschränkt beim Umsetzen eines mehrsprachigen und mehrkulturellen Ansatzes (↗ Art. 77). Daran hat sich nichts Wesentliches geändert, obgleich inzwischen auch Lehrbücher für den schulischen Italienischunterricht vorliegen, während man bis in die 1990er Jahre auf die für die Erwachsenenbildung konzipierten Lehr- und Lernmaterialien angewiesen war. 5. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - ein Desiderat Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und Mehrkulturalität (↗ Art. 8) haben in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Ausformungen erfahren. Gleichgültig, welches Konzept man im Einzelnen zugrunde legt, die Forderungen an die Unterrichtspraxis bleiben im Wesentlichen gleich: Im Unterricht der dritten Fremdsprachen, auch als Tertiärsprachen apostrophiert, sollen die bereits in anderen Sprachen erworbenen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen sowie Strategien und Techniken beim Erlernens der weiteren Fremdsprache genutzt werden, und zwar zugeschnitten auf jeden individuellen Lernenden (↗ Art. 14, 70). Damit verbunden ist das Desiderat auch die Kenntnisse in den bereits zuvor gelernten Sprachen in angemessener Weise zu verändern und zu verbessern. Ähnliches gilt für das Zusammenwirken der mit den jeweiligen Sprachen verbundenen Kulturen, welches meist unter dem Begriff Mehrkulturalität gefasst wird (↗ Art. 8). Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Herstellen der genannten Verbindungen zu einem verbesserten Sprachenlernen führt. Unklar bleibt, wie Lehrpersonen dies im Unterricht bewirken können. Der Rückgriff auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) trägt wenig zur Verbesserung des Unterrichts bei. Unter plurilinguisme und pluriculturalisme verstehen die Autoren des GeR (vgl. Europarat 2001: 1.3) nicht das, was den Tertiärsprachenunterricht im Detail verbessern könnte (↗ Art. 18, 19). Daraus die obengenannte Forderung nach Verknüpfung möglichst aller erlernten und zu erlernenden Sprachen abzuleiten, ist legitim. Da der GeR es sich aber zur Aufgabe gemacht hat, Performanzstandards und deren Messung festzulegen, machen die Experten keine Vorschläge für die konkrete Unterrichtspraxis. Solange es aber keine Konkretisierungen hinsichtlich des didaktischen und methodischen Vorgehens im Italienischunterricht gibt, wird die Umsetzung mehrsprachiger und mehrkultureller Ansatz ein Desiderat bleiben. Literatur De Florio-Hansen, I. (1994): Vom Reden über Wörter. Vokabelerklärungen im Italienischunterricht mit Erwachsenen. Tübingen. De Florio-Hansen, I. (2001): Italienischunterricht in der Bundesrepublik Deutschland: andante con moto. In: Bulletin suisse de linguistique appliquée 73, 65-93. Europarat (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, Lehren, Beurteilen. Berlin. Krings, H. P. (2003): Italienisch. In: K.R. Bausch, H. Christ & H.-J. Krumm (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 4. Aufl. Tübingen, 538-542. Reimann, D. (2009). Italienischunterricht im 21. Jahrhundert. Aspekte der Fachdidaktik Italienisch . Stuttgart. Ziehm, A. (2015): WebQuests im Italienischunterricht. Eine Möglichkeit zur Förderung der 431 91. Katalanischinterkomprehensiv: LernenundLehreneinerromanischenSprache Medien- und der Fremdsprachenkompetenz? München. Internet Statistisches Bundesamt (s. d.): Schüler/ innen mit fremdsprachlichem Unterricht. Allgemeinbildende und berufliche Schulen. [https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ BildungForschungKultur/ Schulen/ Tabellen/ AllgemeinBildendeBerufliche- SchulenFremdsprachUnterricht.html]. Huntemann, H. & Reichart, E. (2016): Volkshochschul-Statistik: 54. Folge, Arbeitsjahr 2015 . [https: / / www.die-bonn.de/ doks/ 2016-volkshochschule-statistik-01.pdf]. Inez De Florio-Hansen 91. Katalanisch interkomprehensiv: ein Beispiel für das Lernen und Lehren einer ‚kleineren‘ romanischen Sprache 1. Ausgangslage Die Motivation eines Lerners für die Zuwendung zu einer ‚kleineren‘ Sprache, wie Katalanisch, kann nicht aus dem gleichen Prestigefundus schöpfen, wie die überregionalen oder weltweit verbreiteten Sprachen. Der interkomprehensionsdidaktische Rückgriff auf vorhandene Kompetenzen in anderen Sprachen, insbesondere der gleichen Sprachenfamilie, kann bei der lernenden Zuwendung zu einer kleineren Sprache eine noch stärkere motivationale Bedeutung bekommen, als es sowieso schon in allen Fällen von verwandten Sprachen der Fall ist oder sein sollte (↗ Art. 56, 65, 67). Die Variablen der Motivation beim Sprachenlernen interagieren in komplexer Weise. Experten wie Zoltán Dörnyei (2001) oder Joan Mallart i Navarra (2008), von der Societat Catalana de Pedagogia, heben den klaren Bezug zwischen affektiven Faktoren und dem Lernerfolg hervor. Zu den üblicherweise angeführten Motivationsfaktoren kann die Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) den Aspekt der Lernökonomie beitragen (Stegmann 2008). 2. Katalanisch als weitere romanische Sprache an Universitäten Das Katalanische wird im Ausland fast nur an Universitäten unterrichtet. Für Katalanischlernende an Universitäten ist eine wirkungsvolle Motivationsstrategie, sowohl zu Beginn des Spracherwerbs als auch zum Weiterverbleib im Lernprozess, die Ökonomie, das heißt die dem Lerner deutlich werdende Relation zwischen benötigtem Lerninput und sichtbarem Lernerfolg. Von Anfang an den Lernern zu zeigen, dass sie schon beim ersten Lernschritt in der neuen Sprache und dann bei jedem weiteren Schritt, mit vielfachem Identifikationstransfer aus anderen Sprachen rechnen können, ist außerordentlich motivierend (↗ Art. 72). EuroComRom (Klein & Stegmann 2000; Clua et al. 2003) hat systematisiert, wie man den Zugang zu einer Sprache wie dem Katalanischen für Lerner, die über Kompetenzen im Französischen, Spanischen, Italienischen oder anderen romanischen Sprachen verfügen (aber auch das Deutsche und das Englische liefern zahlreiche Transferbasen), erleichtern 432 TilbertD.Stegmann kann. Als besonders motivierend hat sich dabei die ‚detektivische‘ Tätigkeit des optimierten Erschließens katalanischer Texte durch Rekurs auf (etymologisch) verwandte Wörter aus anderen Sprachen und auf syntaktisch oder morphologisch parallele Strukturen erwiesen. Hier wird eine „Knobelarbeit“ geleistet, die kontinuierliche Aha-Effekte produziert und zu einer mit jedem neuen autonom entschlüsselten Text rapide steigenden sprachlichen kombinatorischen Kompetenz führt (↗ Art. 67). Das Büchlein Katalanisch express (Stegmann & Moranta 2007) z. B. versammelt 20 authentische Texte, die nicht primär nach Progressionsgesichtspunkten angeordnet sind, sondern möglichst bald an einen mittleren Schwierigkeitsgrad gewöhnen sollen, wie ihn die reale Lesesituation katalanischer Alltagstexte vorgibt. Dabei entwickelt sich einerseits die Identifikationskompetenz von Wort- und Strukturverwandtschaft in Form einer laufend überprüften und korrigierten Hypothesengrammatik der neuen Sprache, die der Lerner selbst konstruiert. Anderseits werden auf einer weiteren Ebene detektivische Kompetenzen für jede andere Sprache schon aus der eigenen Muttersprache mobilisiert, die die Lerner immer anwenden können. Es muss nur didaktisch dazu angeregt werden, diese Kompetenzen auch auf die neue Sprache anzuwenden und gegen die vorschnelle automatische Reaktion „das verstehe ich nicht“ auszuspielen. Dazu gehört das enzyklopädische Wissen (geographische, historische, politische Begriffe oder Personen, oder das Wissen über das Zeitgeschehen, alles Wissenschaftswissen usw.) Und dazu gehört auch neben dem Weltwissen das sprachliche, strukturelle Wissen über die Syntax, die grammatischen Strukturen allgemein, den Umgang mit Texten, die Logik von Aussagen und z. B. auch das Nutzen der Erwartbarkeit von Folgeaussagen, die sich aus dem gerade gelesenen Textteil ergeben. Den Lesern steht jedenfalls eine große Fülle von Kompetenzen zur Verfügung, zu deren Aktivierung ein Text in einer „neuen“ Sprache auffordert. Dies macht den Text von vornherein in einem hohen Grade verstehbar. Entschlüsseln und Leseverstehen erleichtern den Einstieg in die dritte Sprache deutlich. 3. Phonetische Charakteristik und Aussprache Zum Einstieg in eine neue Sprache gehört von vornherein auch das Erlernen der Aussprache, die aus der Verschriftung nur zum Teil erschlossen werden kann. Alle Arten von akustischer Heranführung müssen hierfür genutzt werden. Als Beispiel seien hier nur Lieder genannt, z. B. die Nova Cançó Catalana , das katalanische Protestlied (Stegmann 1979). (Das genannte Katalanisch express enthält auf einer CD alle Texte gesprochen.) Es geht um Aussprache vermittels eines genauen Hinhörens auf die charakteristische audiale Seite der Sprache sowie um die Reproduktionsfähigkeit ihrer Laute. Die Phase der korrekten Phonetik geht in die Phase des Nachsprechens über, vor die ich didaktisch immer eine Phase des „Hemmungsverlierens“ setzen würde. Während nämlich die Lesephase ohne Lernhemmung geschieht, verlangt das Sprechen von den Lernern, sich zu „exponieren“. Es ist sinnvoll, diese Hemmschwelle durch „schauspielerische“ Aktivitäten zu entschärfen, ihr das Angstpotential zu nehmen. Der Sprecheinstieg in eine neue verwandte Sprache ist erfahrungsgemäß am einfachsten, wenn man sich getraut, munter darauf los zu parlieren. Im Vertrauen darauf, dass ein Muttersprachler oder eine Lehrperson zu laufenden Hilfestellungen bereitsteht und 433 92. Latein-einWegzurMehrsprachigkeit?  das semantische Voranschreiten gegenüber den Korrekturen noch die Oberhand behält. Der Unterricht an der Universität muss diese Sprechsituation, die sich natürlich im Land selbst am leichtesten ergibt, im Sprachkurs so gut wie möglich herzustellen versuchen, am besten auch mit Seminarexkursionen in das entsprechende Land oder durch WhatsApp- oder Skype-Anbindungen an korrespondierende Studierende in Katalonien (Lerntandem). Auch in „kleineren“ romanischen Sprachen wie dem Katalanischen haben die Studierenden eine reelle Chance, eine gute Sprachkompetenz mithilfe interkomprehensiver Verfahren zu erreichen. Probe aufs Exempel: Man versuche in folgendem Text zu jedem katalanischen Wort ein Wort zu finden, das einem aus dem Französischen oder Spanischen bekannt ist (↗ Art. 64, 67, 76). Man achte auf den positiven Aha-effekt. La riquesa dels museus. Voleu saber una dada sorprenent referent a un país petit com Catalunya? Tenim més de trescents museus oberts al públic, alguns dels quals conserven col·leccions molt valuoses d’interès universal. A Barcelona, a la muntanya de Montjuïc, podeu visitar el Museu Nacional d’Art de Catalunya que té la millor col·lecció mundial de pintura romànica. Literatur Clua, E., , Estelrich, P., Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2003): EuroComRom - Els-set sedassos: Aprendre a llegir les llengües romàniques simultàniament . Aachen. Dörnyei, Z. (2001): Motivational Strategies in the Language Classroom. Cambridge. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können. Aachen. Mallart i Navarra, J. (2008): Fonamentació i didàctica de la motivació a l’àmbit de les llengües. In: Revista Catalana de Pedagogia 6/ 2007-2008, 102-129. Stegmann, T. D. & Moranta, S. (2007): Katalanisch express: sofort Katalanisch lesen durch Ihre Brückensprache. Aachen. Stegmann, T. D. (2008): La importància del plurilingüisme en l’educació dels joves europeus. In: Revista Catalana de Pedagogia 6, 63-76. Stegmann, T. D. (Hrsg.) (1979): Diguem no - Sagen wir nein! Lieder aus Katalonien . Berlin. Tilbert D. Stegmann 92. Latein - ein Weg zur Mehrsprachigkeit? Latein wird an deutschen Schulen als zweite oder - seltener - dritte Fremdsprache gelernt, i. d. R. mindestens bis zum Ende der Sekundarstufe I bzw. zum Latinum. Das Fach hat im letzten Jahrzehnt Aufwind erfahren: 2017/ 18 lernten laut Statistischem Bundesamt/ Destatis (2018, Tab. 3.6.1) 7,3% aller Schüler Latein, nach Englisch (85,3%) und Französisch (17,3%) und vor Spanisch (5,3%). An den Sekundarschulen mit Abiturziel belegten es 16,2%, nach Englisch (89,5%) und Französisch (28,4%) und vor Spanisch (11,2%). Innerhalb eines Jahrgangs dürften zwischen 20 % und 30 % der Gymnasiasten und Gesamtschüler Latein wählen. Dem Lateinlernen haften in der Vorstellung vieler Menschen große Vorzüge an: Es fördere das analytische oder logische Denkvermögen, 434 ChristianeNeveling das differenzierte Denken, die Urteilskraft und die Konzentration (z. B. Spangenberg 2008). Diese Aussagen können allerdings nicht empirisch belegt werden (Ortner 2011: 80), sie sind gesellschaftlich tradiert und den Subjektiven Theorien, englisch bezeichnenderweise ‚ beliefs ‘, zuzuordnen. Hierzu gehört auch die Behauptung, Latein sei Studienvoraussetzung für zahlreiche Studiengänge. Dabei fordert seit Jahrzehnten keine Universität in Deutschland für die Aufnahme eines Medizin- oder Jurastudiums den Nachweis von Lateinkenntnissen. Diese sind nur für bestimmte Studiengänge und Abschlüsse (z. B. Theologie, Alte Geschichte, Altphilologie, oft für den Dr. phil,) erforderlich (vgl. die immer noch aktuelle Liste von Meißner & Schöpp 2003). Seit der Bologna-Reform im Jahre 1999 und der damit verbundenen Verkürzung der Regelstudienzeit hat sich die Tendenz, auf Lateinkenntnisse zu verzichten, deutlich verstärkt. Aus lernpsychologischer Sicht scheint es plausibel, dass der Lateinunterricht dank des mikroskopischen Lesens, d. h. Analysierens und exakten Übersetzens ins Deutsche, die Fähigkeit zur Satzbildung trainiert und das Verständnis lateinbasierter Fremdwörter fördert. In den Studien von Haag & Stern (2003) schnitten Lateinschüler in Orthografie und Syntax sowie in der komplexen Sprachproduktion im Deutschen besser ab als Nicht-Lateiner. Das Projekt Pons Latinus untersucht und unterstützt die DaZ-Entwicklung von Schülern nicht-deutscher Herkunft durch Übersetzungen (Große 2015). Seit etwa hundert Jahren wird die Rolle von Latein als Transferhilfe für die modernen Fremdsprachen diskutiert. Aufgrund der vor allem lexikalischen Ähnlichkeiten mit den romanischen Sprachen (↗ Art. 64, 67) und dem Englischen sowie der auch im Lateinunterricht praktizierten Sprachreflexion halten Fachvertreter Latein für die optimale Brückensprache (z. B. Kipf 2008: 186). Ob Latein tatsächlich ein sprachliches Modell für andere Sprachen darstellt und die language awareness und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) stärker fördert als moderne Sprachen, ist indes umstritten. Generell lässt sich sagen, dass die romanischen Schwestersprachen einander viel stärker ähneln als der lateinischen „Großmutter“ (die „Mutter“ ist ein Protoromanisch oder Vulgärlatein). Deshalb halten die romanischen Schwestersprachen füreinander viel mehr Transferbasen bereit. Hinzu kommt, dass die Ziele des Lateinunterrichts die Kompetenzen, die den kommunikativ ausgerichteten modernen Fremdsprachenunterricht konstituieren, gar nicht berühren. Aufgrund der fehlenden face to face -Situationen (↗ Art. 103) können das Hörverstehen, das Hörsehverstehen, das Sprechen, das Schreiben sowie das Sprachmitteln und die interkulturelle Kompetenz im Unterricht einer Alten Sprache nur sehr eingeschränkt ausgebildet werden (↗ Art. 43). Nicht einmal die für das Leseverstehen relevanten Strategien werden daher durch die Fähigkeit des mikroskopischen Lesens gefördert. Die im Lateinunterricht ausgebildeten Kompetenzen wie das Verstehen historischer Bedeutungen lösen also keine Transfereffekte für den Erwerb moderner Fremdsprachen aus. Teile der Englischdidaktik betrachten Latein als komplementär und hilfreich für das Englischlernen (vgl. das Projekt ELiK, Doff & Kipf 2013). Gleiches lässt sich über das Verhältnis aller (europäischen) Schulsprachen untereinander sagen. In einem umfassenden Sprachenvergleich belegte Klein (2002), dass Französisch als die „optimale Brückensprache“ für den Erwerb der romanischen Sprachen sowie des Englischen fungiere; umgekehrt können Englischkenntnisse auch bei 435 92. Latein-einWegzurMehrsprachigkeit?  der Entwicklung von Französischkenntnissen Transferbasen (↗ Art. 64) liefern. Meißner (z. B. 2016; 2018) argumentiert lernpsychologisch: Transfer kann nur stattfinden, wenn Lernende über prozeduralisierte Transferbasen verfügen. Eine flüssige Beherrschung der Brückensprache Latein wird aber im schulischen Lateinunterricht kaum angesteuert. Dass indes exzellente rezeptive und produktive Lateinkenntnisse für den interlingualen Sprachtransfer hilfreich sein können, ist unbestritten (Müller-Lancé 2006: 467). Dies zeigt auch eine Interview-Studie, in der nur die Lehrkräfte an einer Hochbegabtenschule angeben, dass Latein eine regelmäßig genutzte Basissprache sei (Neveling 2013). Zwar können Lehrkräfte Sprachvergleiche vorgeben, aber eigener interlingualer Transfer ist von den meisten Lateinschülern nicht zu erwarten, solange sie noch nicht über den lateinischen Lernwortschatz verfügen, der für das Verständnis konkreter Vokabeln nötig ist (vgl. die Gegenüberstellung in Neveling 2006 sowie die Studie von Stern & Haag 2000). Ob Lateinlehrwerke auf die kommunikative Progression moderner Fremdsprachen angepasst werden können, ist mehr als fraglich. Aus sprachenpolitischer Sicht besteht eine (deutsche) Besonderheit im europäischen Vergleich durch den Status von Latein als Alternative zu den lebenden Fremdsprachen. Das Postulat des Europarats, neben der Muttersprache in mindestens zwei weiteren Sprachen kommunizieren zu können (↗ Art. 12), wurde 2017/ 18 nur von 26,9% der Schüler insgesamt bzw. 52,8% an höheren Schulen (incl. Latein! ) erfüllt; nur 6 % lernen drei Sprachen (Statistisches Bundesamt/ Destatis 2018, Tab. 3.6.2). Der Status von Latein verschafft sprachlich weniger Interessierten ein Schlupfloch, erzeugt Konkurrenz zu den modernen Fremdsprachen und blockiert die Entwicklung von Mehrsprachigkeit im modernen europäischen Sinne. Hierfür müssten mehr Kommunikationssprachen gelernt und Latein neu verortet werden. Sprachenübergreifend konsensuell wird z. B. das Modell des (obligatorischen) Beginns in Klasse 5 neben der ersten Fremdsprache mit Option auf eine Fortsetzung empfohlen (Müller-Lancé 2006: 469 f.; Neveling 2006: 9; Kipf 2008: 188). Die positive Öffnung der Lateindidaktik zu Deutsch/ DaZ und Englisch lässt hoffen, dass sie sich auch als „Serviceleister“ (Kipf 2008: 187) für die europäische Mehrsprachigkeit (↗ Art. 9) etwa in Form von unterstützendem Lehrmaterial engagiert und empirische Studien über die noch offenen Fragen und unbelegten Subjektiven Theorien durchführt. Literatur Doff, S. & Kipf, S. (Hrsg.) (2013): English Meets Latin: Schulfremdsprachen vernetzen - Unterricht entwickeln . Bamberg. Große, M. (2015): Pons Latinus - Modellierung eines sprachsensiblen Lateinunterrichts. In: J. Stiller & C. Laschke (Hrsg.): Berlin-Brandenburger Beiträge zur Bildungsforschung 2015: Herausforderungen, Befunde und Perspektiven interdisziplinärer Bildungsforschung . Frankfurt a. M., 261-281. Haag, E. & Stern, L. 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Trotz dieser beeindruckenden Fakten wird Portugiesisch als Fremdsprache wenig gelernt, weshalb es auch als „unbekannte Weltsprache“ bezeichnet wird (Reimann 2014). 1. Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Portugiesischen: eine mehrsprachige Geschichte Seit seiner Entstehung befand sich das Portugiesische („galaico-português“) im ständigen Kontakt mit anderen Sprachen. Seinen Ursprung hat es im Vulgärlatein, das zwischen 218 v. Chr. und 409 n. Chr. auf der iberischen Halbinsel keltisches und iberisches Substrat überdeckte. Die Besetzung der Halbinsel durch die Mauren zwischen 711 und 1297 erklärt den starken arabischen Einfluss, insbesondere im Wortschatz ( alface, almofada, alguidar-… ). Mit den überseeischen Entdeckungen trat 437 93. Portugiesisch das Portugiesische mit zahlreichen weiteren Sprachen in Kontakt und wurde durch überseeische Einflüsse bzw. Adstrate bereichert. Wie andere Kolonialsprachen hat das Portugiesische zur Entstehung zahlreicher Kreolsprachen beigetragen. 2. Intralinguistische Vielfalt Die Lusophonie umfasst verschiedene Länder mit ihren eigenen Varietäten. Zurzeit gibt es zwei weltweit anerkannte Sprachnormen: das europäische und das brasilianische Portugiesisch. Einige Sprachwissenschaftler sprechen im Falle des europäischen und des brasilianischen Portugiesisch gar von verschiedenen Sprachen (wie Bagno 2018). Daneben bestehen natürlich regionale Varietäten, etwa in Angola, Mozambik und weiteren. Die jeweilige Standardnorm dominiert den Gebrauch. So ist das Portugiesische nach der Klassifizierung von Clyne (2012) eine plurizentrische Sprache. Die deskriptive Linguistik des Portugiesischen beschreibt Muster phonetischer, lexikalischer und morphosyntaktischer Varianten, z.T. auch subjektive Theorien (vgl. Silva et al. 2011). Die Varianz kann zu Verständnisschwierigkeiten zwischen den Sprechern der verschiedenen Varietäten führen. 3. Gesellschaftliche und individuelle Mehrsprachigkeit Während das Portugiesische die Muttersprache der meisten Brasilianer (daneben die indigenen Varietäten des Guaraní, Makú, Tupi und Gês) und der Portugiesen ist, greift es in den verschiedenen Ländern, die ihre Mehrsprachigkeit mit dem Portugiesischen teilen, unterschiedlich weit. So koexistieren in Angola Portugiesisch, Kimbundu, Umbundu und eine Vielzahl weiterer Sprachen; auf Kap Verde ist neben Portugiesisch auch ein regionales Kreol verbreitet (Pinto & Melo-Pfeifer 2018, für weitere Einzelheiten zur Sprachpolitik in unterschiedlichen portugiesischsprachigen Ländern). Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit der Lusophonen wird ergänzt durch individuelle Mehrsprachigkeit (↗ Art. 2). Die Auswanderung erklärt die Koexistenz von Portugiesisch als Herkunftssprache mit der jeweiligen Nationalsprache, etwa in Luxemburg, Frankreich, Deutschland usw. und Australien. Die Kompetenz der Kinder mit Migrationshintergrund ist i. d. R. im Mündlichen ausgeprägter als in der Literalität (↗ Art. 110). 4. Konsequenzen für das Portugiesische als spät einsetzende Fremdsprache Eine Didaktik des Portugiesischen muss selbstverständlich von den Lernern ausgehen: ihrer Motivation, ihren lernrelevanten Vorkenntnissen und ihren Lernzielen. Als erstes stellt sich wie bei anderen plurizentrischen Sprachen die Frage nach den zu erlernenden Varietäten und der Herstellung von Verknüpfungen zwischen diesen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der herkunftssprachliche Unterricht vom regulären Fremdsprachenunterricht zu unterscheiden ist, wobei im Fremdsprachenunterricht viele Lerner Portugiesisch bereits als Herkunftssprachen beherrschen. Grund dafür ist ein Mangel an spezifischen Kursen für lusophone Einwanderer. Diese Mischung von sprachlichen Profilen trägt zu einer hohen Lerngruppenheterogenität zu. Als Fremdsprache in Deutschland ist Portugiesisch überwiegend dadurch charakteri- 438 SílviaMelo-Pfeifer siert, dass es als eine dritte oder vierte Fremdsprache angeboten wird. Die Schüler und Schülerinnen verfügen i. d. R. über Deutschkenntnisse, evtl. über Kenntnisse in weiteren Sprachen sowie über schulische Englisch-, eventuell über Französisch-, Spanisch- oder Lateinkenntnisse. Um von diesem Vorwissen zu profitieren, sollen die kognitiven und affektiven Vorteile des Tertiärspracherwerbs (↗ Art. 86) genutzt werden. Die zweite Gruppe betrifft erwachsene Lerner. Sie ist sehr heterogen und umfasst Novizenwie Expertenlerner. Liegen Spanischkenntnisse, fast immer gepaart mit Englisch- und Französischkenntnissen und eine umfassende Kenntnis des deutschen Bildungswortschatzes vor, so ist Portugiesisch in seiner Schriftform von vornherein eine ziemlich transparente Zielsprache, wobei seine mündliche Form eher Schwierigkeiten bietet (z. B. im Hörverstehen oder in der Produktionen der nasalen Vokalen, wie, z. B., „-es“, „ões“). Die Steuerung muss dies berücksichtigen. In diesen Fällen sollten die Vorteile der Interkomprehensionsdidaktik (↗ Art. 80) genutzt werden, wobei es neben der Sprachbiographie auch von der jeweiligen Lernsituation abhängt, welche Sprache ein Individuum als Brückensprache verwendet. Wenn Spanisch als primäre Brückensprache fungiert, so ist die Transparenz des Portugiesischen höher (vgl. Meißner 2018). Im deutschsprachigen Raum liegt ein konkretes Muster in Gestalt des Kurses von Arntz & Ré (2007) vor. Für interkomprehensives Lernen von romanischen Sprachen bestehen mehrere Anleitungen (z. B. EuroComRom, Eurom4 und 5, Interlat, Interrom), die überwiegend das Leseverstehen berücksichtigen (↗ Art. 67). Zusammenfassend empfiehlt es sich erstens, den Unterricht entsprechend anzupassen, wenn die Lerngruppe beispielsweise Spanischsprachige (mit erweiterten, vor allem Lesekompetenzen) umfasst. Zweitens bliebe die Besonderheit der vor allem erwachsenen Portugiesischlerner zu berücksichtigen. Es handelt sich um ein Publikum, das oft auf das Sprachenlernen „spezialisiert“ ist und dementsprechend sprachliche und sprachlernbezogene Transferbasen zu nutzen weiß. Generell sollten spät einsetzende Portugiesischkurse (↗ Art. 72) daher ein Curriculum aufweisen, das nach folgendem Prinzipien verfährt: 1.) Nutzung der lernrelevanten Vorkenntnisse zur sehr raschen Entwicklung von Lesekompetenz, 2.) Entwicklung der produktiven Kompetenzen sowohl auf der Grundlage der erhöhten Sprachlernbewusstheit (z. B. durch Sprachenvergleich) als auch der bewussten Steuerung des Lernprozesses nach Transparenz/ Opazität- und Frequenzkriterien von pädagogisch relevantem Wortschatz. Literatur Arntz, R. & Ré, A. (2007): Kontrastsprache Portugiesisch-- ein neuer Weg zum Portugiesischen auf der Grundlage des Spanischen . Wilhelmsfeld. Bagno, M. (2018): Duas línguas, quantas políticas. In: P. F. Pinto & S. 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Verbreitung und Bedeutung Die russische Sprache ( русский язык ) gehört zu den ostslawischen Sprachen und stellt die am häufigsten gesprochene slawische Sprache (↗ Art. 95) dar. Ca. 165 Mio. Menschen sprechen Russisch als Erstsprache. Davon leben ca. 130 Mio. in Russland, ca. 26 Mio. in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, wo Russisch als lingua franca ( jazyk mežnacional’nogo obščenija ) fungiert, ca. 6 Mio. in den USA und Kanada, ca. 4,5 Mio. in Deutschland und etwa 1,5 Mio. in Israel. In Deutschland gehört Russisch zu den meistgesprochenen Migrantensprachen (↗ Art. 108). Insgesamt wird Russisch weltweit von etwa 260 Mio. Menschen gesprochen und ist damit die am siebthäufigsten gesprochene Sprache weltweit. Russisch ist die Amtssprache mehrerer wichtiger internationaler Organisationen wie der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Vereinten Nationen, einschließlich IAEA, UNESCO, WHO. Obwohl nach dem Zerfall der Sowjetunion in vielen Ländern Russisch von der zweiten Muttersprache, dominierenden Staats-, Unterrichts-, sowie Verkehrssprache zu einer Minderheitssprache wurde (↗ Art. 10), ist das Russische immer noch ein wichtiges Verständigungsmittel unter verschiedenen Nationalitäten und „behauptet […] einen festen Platz innerhalb einiger zentraler Bereiche wie Medien und Internet, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“ (Stepanov 2018: 193). Zudem verfügt das Russische weiterhin über ein hohes Ansehen und wird „als Sprache einer Weltliteratur, eines multinationalen Staates mit großem internationalen Einfluss und langer Geschichte […] wahrgenommen“ (Wingender 2008: 198). 440 AnastasiaDrackert 2. Lernkontexte Russisch ist eine typische Tertiärsprache (↗ Art. 86) und wird in Deutschland sowohl an Schulen als auch in der Erwachsenenbildung (an Universitäten, Hochschulen und privaten Sprachschulen) als zweite, dritte oder vierte Fremdsprache gelernt und gelehrt. In Deutschland wird Russisch in allen Bundesländern außer dem Saarland als Schulfach angeboten (↗ Art. 21). In den neuen Bundesländern, die ca. 70 % der Russischlerner auf sich vereinen, wird Russisch oft als zweite Schulfremdsprache gelernt, in den alten Bundesländern in der Regel als dritte oder vierte Fremdsprache. Nur wenige Schulen mit speziellem Profil (z. B. in Berlin) oder Waldorfschulen bieten Russisch bereits als erste Fremdsprache an. Im Schuljahr 2017/ 18 wurde Russisch von 106.028 Schülerinnen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen und 11.447 Jugendlichen an beruflichen Schulen gelernt (Statistisches Bundesamt 2018). Somit nimmt das Russische den 5. Platz der gelernten Fremdsprachen und den 4. Platz der gelernten lebenden Sprachen (also ohne Latein) ein. Einen großen Teil der Lerner sowohl im schulischen als auch im universitären Russischunterricht machen so genannte Herkunftssprachensprecher (↗ Art. 110) aus, die Russisch als Familiensprache sprechen bzw. gelernt haben und es in unterschiedlichem Ausmaß beherrschen. Diese Situation stellt die Russischlehrkräfte vor die große Herausforderung, in sehr heterogenen Gruppen unterrichten zu müssen. Dies ist eine Besonderheit des Fremdsprachenunterrichts Russisch und tritt bei keiner anderen Fremdsprache in diesem Umfang auf. Die Gegebenheiten und Perspektiven des Russischunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland werden im Bericht der Kultusministerkonferenz zur „Situation des Russischunterrichts“ dargelegt (vgl. KMK 2014). 3. Besonderheiten beim Erlernen der russischen Sprache Die erste Herausforderung im Anfangsunterricht Russisch ist das Meistern der kyrillischen Schrift, die sowohl Ähnlichkeiten mit dem griechischen als auch dem lateinischen Alphabet aufweist. Das russische Alphabet besteht aus 33 Buchstaben: sechs davon (к, а, е, о, т, м) werden ähnlich wie im Deutschen ausgesprochen und geschrieben; sechs Buchstaben (у, н, х, в, р, с), werden zwar wie im Deutschen geschrieben, aber anders ausgesprochen, sind also sogenannte „falsche Freunde“; sieben Buchstaben kommen aus dem griechischen Alphabet (г, д, ж, з, л, п, ф, э) und 14 Buchstaben sind komplett neu für die Lerner (б, и, й, ё, ж, ш, щ, ц, ч, ъ, ь, ы, ю, я), d. h. es gibt sie weder im Deutschen, noch in den zuvor erlernten Schulfremdsprachen. Auch wenn für viele Außenstehende das russische Alphabet als große Lernhürde betrachtet wird, kann es von Erwachsenen i. d. R. innerhalb einiger Stunden und von Schulkindern innerhalb weniger Wochen erlernt werden. Die meisten Russischlerner verfügen bereits über vorausgehende Sprachlernerfahrungen, so dass schon die Einführung in die russische Sprache mit Ansätzen der sprachenübergreifenden Interkomprehension (↗ Art. 82) beginnen kann (Mehlhorn 2014). So werden im Anfangsunterricht Russisch gezielt Internationalismen und Fremdwörter in kyrillischer Schrift erschlossen ( какао , рюкзак , маршрут , шанс , гараж , пицца ), was zur Verringerung der wahrgenommenen Distanz zwischen dem Russischen und anderen europäischen Sprachen und eventuell zur Erhöhung der Lern- 441 94. Russisch motivation beiträgt. Generell wird für den Russischunterricht empfohlen, mit systematischen Vergleichen zwischen dem Russischen und vorher gelernten (Fremd)sprachen zu arbeiten und Angebote zum entdeckenden Lernen für die Lernenden zu machen, damit ihre Sprachlernkompetenz und Sprachenbewusstheit (↗ Art. 22) ausgebaut werden können. Durch seine komplexe Morphologie als flektierende Sprache steht das Russische im Ruf, eine schwierige Sprache zu sein. Es verfügt über sechs Kasus, drei grammatische Geschlechter, zwei Numeri und zudem über die Kategorie der Belebtheit, die für die Deklination der Nomen relevant ist. Die Herausforderung beim Lernen russischer Verben besteht darin, dass sie zwei unterschiedliche Formen haben, um eine Handlung im Zeitgeschehen als vollendet oder unvollendet zu spezifizieren (perfektiver und imperfektiver Verbalaspekt). Trotz der in der modernen Fremdsprachendidaktik herrschenden Kompetenzorientierung (↗ Art. 43) wird daher im Russischunterricht noch immer großer Wert auf die Beherrschung der Grammatik gelegt. 4. Forschungsstand Die Anwesenheit von Herkunftssprechern im regulären Russischunterricht führte dazu, dass die Untersuchung von Lernprozessen und spezifische Besonderheiten dieser Lernergruppe ins Zentrum der fachdidaktischen und linguistischen Forschung rückte. Einen umfangreichen Überblick der Forschungserkenntnisse zur Herkunftssprache Russisch (↗ Art. 108) findet sich in Brehmer & Mehlhorn (2015). Ein weiterer wichtiger Forschungszweig ist die Untersuchung von Möglichkeiten sprachenübergreifenden Lernens im Russischunterricht, das sowohl aus der Lehrer- (Mehlhorn & Neveling 2012) als auch der Lernerperspektive (Mehlhorn 2014) untersucht wurde. Seit kurzer Zeit nehmen die Bereiche Testen sprachlicher Kompetenzen (Drackert & Stadler 2017) sowie aufgabenbasiertes Lernen (Drackert 2018) in der Russischdidaktik an Bedeutung zu. Einen Überblick über die Forschung zu wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Russischdidaktik der letzten zehn Jahre gibt Mehlhorn (2019). Literatur Brehmer, B. & Mehlhorn, G. (2015): Russisch als Herkunftssprache in Deutschland. Ein holistischer Ansatz zur Erforschung des Potenzials von Herkunftssprachen. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 26/ 1, 85-123. Drackert, A. 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Polnisch und Tschechisch sind für Deutschland Nachbarsprachen und werden daher v. a. in den grenznahen Bundesländern als wahlobligatorische zweite oder dritte Schulfremdsprachen gelernt (↗ Art. 101). In Berlin und den Grenzregionen gibt es einige wenige Schulen mit einem bilingualen Profil, in denen polnische bzw. tschechische und deutsche Schüler gemeinsam lernen und an bilingualem Sachfachunterricht teilnehmen. Bis auf das Sorbische, das als deutsche autochthone Minderheitensprache häufig Erst- und Zweitsprache ist (↗ Art. 124), gelten die slawischen Sprachen in Deutschland als typische Tertiärsprachen (↗ Art. 86), die oft erst im Jugend- oder Erwachsenenalter - an Gymnasien, Berufsschulen, Hochschulen und Volkshochschulen - gelernt werden. Die meisten slawischen Sprachen stellen gleichzeitig Herkunftssprachen (↗ Abschnitt M) dar, wobei Polnisch und Russisch in Deutschland die höchsten Sprecherzahlen aufweisen, während Bosnisch-Kroatisch-Serbisch (BKS), Slowakisch, Slowenisch und Tschechisch häufig gelernte Herkunftssprachen in Österreich darstellen. In den Slawistikinstituten in Deutschland werden am häufigsten Russisch, Polnisch, 443 95. Weitereslawische Sprachen Tschechisch und BKS studiert. Die Universität Greifswald verfügt zudem über ein ausgebautes Angebot in der Ukrainistik. Die Slawinen Bulgarisch, Slowakisch und Slowenisch werden sehr selten angeboten. Ein Studium der Ostslawistik (z. B. an der Universität Leipzig) sieht die Aneignung metalinguistischer Kenntnisse und rezeptiver Kompetenzen im Weißrussischen oder Ukrainischen auf der Grundlage ausgebauter Russischkenntnisse vor (↗ Art. 27). 3. Gemeinsamkeiten der slawischen Sprachen Die slawischen Sprachen haben sich aus einer gemeinsamen Protosprache, dem Urslawischen, entwickelt, die der ältesten bekannten slawischen Schriftsprache, dem Altkirchenslawischen, zeitlich am nächsten kommt. Die drei Hauptzweige Ost-, West- und Südslawisch sind vermutlich in der Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. aus dem Urslawischen entstanden. Die starke Ähnlichkeit der slawischen Sprachen untereinander, insbesondere in ihrer morphologischen Struktur und im Grundwortschatz, wird auf die langsame Veränderung der lautlich-grammatischen Strukturen des Slawischen sowie die späte Entstehung der einzelnen Schriftsprachen im 18./ 19. Jhd. zurückgeführt (Tafel et al. 2009: 43). Der panslawische Wortschatz umfasst Wörter, die in mehreren slawischen Sprachen vorkommen, z.B. (1) "Kopf": russ. головá (golova), ukr. головá (golova), poln. głowa , tsch. hlava , BKS glava , bulg. глава (glava) (2) "kaufen": russ. купить (kupit’), ukr. купити (kupiti), poln. kupić , tsch. koupit , BKS kupiti , slowen. kupiti Innerhalb besonders eng verwandter Slawinen kann spontane Interkomprehension z. B. zwischen Tschechen und Slowaken beobachtet werden. Weißrussen und Ukrainer verstehen in der Regel auch Russisch, umgekehrt ist das jedoch nicht selbstverständlich (↗ Art. 78, 82). 4. Forschungsstand Da die slawischen Sprachen in Deutschland in Bezug auf die Lernerzahlen als sog. ,kleine Sprachenʻ gelten (↗ Art. 7), gibt es zu ihnen weniger Forschung und auch ein geringeres Angebot an Lehrwerken und Lernmaterialien (als zu den romanischen Sprachen). An Volkshochschulen kommen häufig nur Anfängerkurse zustande; selten können Sprachzertifikate auf höheren Kompetenzniveaus erworben werden. Polnisch ist neben Russisch die einzige slawische Sprache, die über einen eigenen Verband (Bundesvereinigung der Polnischlehrkräfte in Deutschland) sowie eine Zeitschrift ( Polski w Niemczech / Polnisch in Deutschland) verfügt und für die regelmäßig Lehrerfortbildungen und fachdidaktische Konferenzen angeboten werden. Für die beiden am häufigsten gelernten slawischen Sprachen liegen Berichte der Kultusministerkonferenz (KMK 2014; 2017) zum Status quo mit Empfehlungen zur weiteren Förderung des Fremdsprachen- und Herkunftssprachenunterrichts (↗ Art. 106) vor. Das Konzept zur Interkomprehension innerhalb der slawischen Sprachen (EuroCom- Slav) - mit dem Ziel des rezeptiven Verstehens weiterer slawischer Sprachen aufgrund einer zuvor gelernten Slawine - wurde nicht so weit ausgearbeitet wie EuroComRom und Euro- ComGerm (↗ Art. 67, 68). Es gibt jedoch ande- 444 GritMehlhorn re Arbeiten mit ähnlicher Zielstellung. Sowohl Tafel et al. (2009) als auch Heinz und Kuße (2015) gehen im Gegensatz zu EuroComSlav (u. a. Zybatow 2003) davon aus, dass Russisch nicht die einzige Brückensprache für slawische Interkomprehension darstellt, sondern der weitere Spracherwerb von jeder bekannten slawischen Sprache aus gesteuert werden kann. Heinz und Kuße (2015) nutzen historische Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten der slawischen Sprachen, besonders ihre gemeinsame Basis im Gemeinslawischen vor der Ausdifferenzierung in die ost-, west- und südslawischen Sprachen. Ergebnisse der komparatistischen und sprachhistorischen Forschung werden so weit in die Sprachpraxis eingebunden, wie sie zur Verbesserung der Verstehensleistung beitragen (ebd.: 5 f.). Die aktuelle Forschung im Bereich der slawistischen Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 85) befasst sich u. a. • mit dem Polnischen als schulische Folgefremdsprache und Möglichkeiten der Interkomprehension im Polnischunterricht (Zawadzka 2011; 2013), • mit Sprachenbewusstheit und Mehrsprachigkeit von Herkunftssprechern sowie der Entwicklung einer ressourcenorientierten Didaktik für den Herkunfts- und Fremdsprachenunterricht am Beispiel russischer und polnischer Herkunftssprecher (BMBF-Verbundprojekt an den Universitäten Leipzig und Greifswald, 2017-2019), • mit der Übertragbarkeit von Lehr- und Lernprinzipien aus der Praxis des Erlernens der ,großenʻ Sprachen für den Einsatz im Unterricht einer ,kleinenʻ Sprache am Beispiel des Kroatischen (Sabo 2017), • mit dem Nachbarspracherwerb des Polnischen von der Kita bis zum Schulabschluss und der Entwicklung sprachlicher und interkultureller Kompetenzen in der deutsch-polnischen Grenzregion (Interreg-Projekt an den Universitäten Greifswald und Stettin/ Polen, 2018-2020). Dabei werden vorzugsweise qualitative Forschungsmethoden (z. B. Interviews, Aktionsforschung) angewendet, Lernmaterialien entwickelt sowie Lehrerfortbildungen konzipiert. 5. Besonderheiten beim Erlernen slawischer Sprachen Lernende, die mit einer Slawine als zweite, dritte oder vierte Schulfremdsprache konfrontiert werden, können an die bereits im Deutsch- und Englischunterricht vermittelten Kenntnisse und Lernstrategien (↗ Art. 22) anknüpfen. So haben bspw. die aus dem Deutschen bekannten vier Kasus in den slawischen Sprachen sehr ähnliche Funktionen, so dass die Rektion vieler Verben (z. B. jemandem- Dativ etwas- Akkusativ schenken ) in die Zielfremdsprache übertragen werden kann - immer vorausgesetzt, die Schüler verfügen auch über metasprachliches Wissen aus dem Deutschunterricht. Mehlhorn (2011) zeigt Beispiele für Sprachvergleiche und Möglichkeiten des positiven Transfers (↗ Art. 64) aus zuvor gelernten Sprachen in eine slawische L3. Ein Format für sprachenübergreifendes Lernen im schulischen Kontext stellt die sog. ,Slawiniadeʻ dar - eine seit 2014 alle zwei Jahre stattfindende Veranstaltung, bei der Schülerinnen und Schüler, die eine slawische Schulfremdsprache lernen, in gemischtsprachigen Teams sprachenübergreifende Aufgaben in zuvor noch nicht gelernten slawischen Sprachen lösen, bspw. ein Polnisch-, Russisch- und Sorbischlernender gemeinsam einen tschechischen Text erschließen (vgl. Mehlhorn 2016). Sie erkennen dabei die Ähnlichkeiten zwi- 445 95. Weitereslawische Sprachen schen den Sprachen und dass bereits ihre eine gelernte slawische Sprache ein Potenzial zum Verstehen weiterer Slawinen darstellt. Viele Erwachsene erlernen eine slawische Sprache aus biografischen Motiven, z.B. um mehr über die eigenen Wurzeln, die Sprache und Kultur ihrer Eltern und Großeltern, zu erfahren. Bei einem Slawistikstudium werden meist zwei oder mehr slawische Sprachen nacheinander gelernt. Aufgrund ihrer Vorkenntnisse aus der ersten gelernten Slawine können Lernende sich mithilfe der Interkomprehension weitere slawische Sprachen zumindest rezeptiv schneller erschließen (↗ Art. 72). Dabei helfen v. a. Panslawismen, Lautentsprechungen und grammatisch ähnliche Phänomene in Bezug auf Kasusfunktionen und -endungen, Genusmarkierung, Verben der Bewegung, die Kategorie der Belebtheit, Verbalaspekt und Wortfolge (vgl. Tafel et al. 2009: Kap. IV-VII). Phonetisches Wissen, artikulatorische Fertigkeiten und eine durch Sprachlernerfahrungen erworbene Sprachenbewusstheit können zudem die Sprachproduktion in einer weiteren slawischen Sprache erleichtern, bspw. die Aussprache palatalisierter Konsonanten im Polnischen, wenn dieses Phänomen bereits im Russischen beherrscht wird, oder die panslawische regressive Assimilation der Stimmbeteiligung (Mehlhorn 2008: 135-138). Das Potenzial einer bereits gelernten Slawine als Brückensprache wird im Slawistikstudium, z. B. in Lesekursen zum Ausbau der Strukturkenntnisse und rezeptiven Kompetenzen einer weiteren Slawine, gezielt als positiver Transfer (↗ Art. 64) genutzt. Hier erfolgt auch eine Bewusstmachung von Interferenzen und der zahlreichen ,falschen Freundeʻ innerhalb der slawischen Sprachen, z.B. (7) russ. zapominát’-/ zapómnit’ (sich etwas merken, im Gedächtnis behalten) poln. zapominać-/ zapomnieć (vergessen) Sprachlernerfahrene Slawisten empfinden seltener die ,Fremdartigkeitʻ einer neuen Sprache, wie es bei der ersten Slawine häufig der Fall ist, sondern Neugier auf das Entdecken von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Selbstvertrauen in die eigenen Sprachlernfähigkeiten und die Freude am Erschließen von Regeln und logischen Zusammenhängen in einer verwandten Sprache. Der in die erste Slawine investierte Lernaufwand zahlt sich beim Erlernen einer slawischen Folgefremdsprache mehrfach aus, wenn erlernte grammatische Phänomene, phonetische Regeln und lexikalische Einheiten übertragen werden können. Das kognitive Erfassen und intuitive Verstehen von Strukturen in einer zuvor noch nicht gelernten verwandten Slawine hält dabei Aha-Erlebnisse bereit, wie sie beim Erlernen einer ersten Fremdsprache noch nicht möglich sind. Auch die kyrillische Schrift mit ihren Ähnlichkeiten zum lateinischen und griechischen Alphabet stellt dann keine Einstiegshürde für eine neue Slawine dar, da sie von erfahrenen Sprachenlernenden in wenigen Stunden erfasst werden kann. Das unterschiedliche Vorwissen von Lernenden aus verschiedenen Slawinen muss im Unterricht weiterer slawischer Sprachen gezielt berücksichtigt werden. So sollten Lehrende an Hochschulen neben Zielsprachenkompetenzen auch über Strukturkenntnisse weiterer slawischer Sprachen verfügen und sich in diesem Bereich regelmäßig fortbilden (vgl. Art. 84). Literatur Heinz, C. & Kuße, H. (2015): Slawischer Sprachvergleich für die Praxis. Lern- und Erschließungsstrategien, Floskeln für den Alltag, 446 GritMehlhorn Grammatik, Wörterverzeichnis, Hörmaterialien. München u. a. KMK (2014): Zur Situation des Russischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, Bonn. KMK (2017): Zur Situation des Polnischunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, Bonn. Mehlhorn, G. (2008): Russisch nach Englisch, Polnisch nach Russisch. Überlegungen zu einer Mehrsprachigkeitsdidaktik der slavischen Sprachen aus phonetischer Sicht. In: L. Geist & G. Mehlhorn (Hrsg.): XIV. JungslavistInnentreffen in Stuttgart. München, 117-145. Mehlhorn, G. 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Von ihnen leben 47 Mio Muttersprachler (Instituto Nacional de Estadística 2018) in Spanien, knapp 300 Mio in Lateinamerika und ungefähr 41 Mio in den USA. Auch als Fremdsprache hat Spanisch einen weltweiten Aufschwung zu verzeichnen. Trotz seiner globalen Bedeutung ist Spanisch an bundesdeutschen Schulen aber erst seit der Reformierung der Gymnasialen Oberstufe (1972 bis 1978) reguläres Schulfach (↗ Art. 21). Seit den 1990er Jahren ist der Zuwachs steigend, doch wird es letztlich nur von 5,3% der Schüler aller Schularten belegt (vgl. Englisch 85,3%, Französisch 17,3%, Latein 7,3%) bzw. von 11,2% aller Sekundarschüler (vgl. Englisch 89,5 %, Französisch 28,4%, Latein 16,2%; Statistisches Bundesamt 2018, Tab.1.1 und 3.6.1). Allerdings ist die durchschnittliche Belegzeit von Spanisch- 447 96. Spanisch unterricht im Durchschnitt kurz; wie das Fach Französisch kennt auch Spanisch eine zu frühe Abwahl des Unterrichts (Meißner 2011). Vor allem in den neuen Bundesländern und Bayern wird Spanisch noch vorrangig als dritte Fremdsprache (↗ Art. 86) unterrichtet, während es in Hamburg und Bremen Französisch als 2. Fremdsprache überflügelt hat. Mit 8,3% der Belegungen im Programmbereich Fremdsprachen ist Spanisch auch an Volkshochschulen relativ stark verbreitet (vgl. Englisch 20,4% und Französisch 6,2%; Huntemann & Reichart 2017: 44). Mit über 2000 Mitgliedern ist der Deutsche Spanischlehrerverband (DSV) der größte Einzelsprachenverband. Spanischlerner aller Altersstufen können mit dem Diploma de Español como Lengua Extranjera (DELE) des spanischen Kultusministeriums und des Instituto Cervantes ihre Sprachkenntnisse zertifizieren lassen. Mittlerweile wird in Anlehnung an den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (2001: 17) in allen Spanischlehrplänen eine Vernetzung der Schulsprachen befürwortet (↗ Art. 18), z.B.: „Das Lehren und Lernen des Spanischen steht in einem engen Zusammenhang mit dem gesamten Fremdsprachenkanon und dem muttersprachlichen Unterricht. Dies ermöglicht Synergieeffekte […] und fördert den Transfer von Wissen“ (Sächsisches Staatsministerium 2004: 3). Spanisch ist eine typische Tertiärsprache mit einem mehrsprachigen Lernerprofil: Muttersprache zumeist Deutsch, oft zudem eine Sprache der Familie und Kenntnisse in mindestens zwei zuvorbzw. parallelgelernten Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Russisch, Latein). 2. Spanisch als Tertiärsprache Mehrsprachigkeitsdidaktische Verfahren erleichtern, beschleunigen und effektivieren den Tertiärsprachenerwerb. Sprachlernbewusstheit durch entdeckendes Lernen und Reflexion beim Sprachenvergleich stehen dabei im Fokus (↗ Art. 22). Die Interkomprehensionsdidaktik (u. a. Meißner et al. 2011), das den Vernetzungsgedanken aufnehmende Faktorenmodell (u. a. Hufeisen 2003) und vor allem die Thüringischen Schulprojekte im Rahmen des sprachenübergreifenden Lernens (Behr 2007) gründen auf dem Prinzip, dass Lernende einer später einsetzenden Sprache ihr lernrelevantes Vorwissen aktivieren, auf neuen Lernstoff und die neuen Lernsituationen transferieren und sich eine ‚neue‘ Sprache erschließen können (↗ Art. 56, 64, 67). So können Spanischlernende stark von den Transferbasen der schulischen Fremdsprachen Englisch und Französisch profitieren: zum einen von Englisch als von fast allen gelernte und i. d. R. mental am tiefsten verankerte Fremdsprache mit vielen Internationalismen (en. administration , fr. administration , sp. administración, it. administrazione, dt. Administration ) und ähnlichen Grammatikphänomenen wie der Verlaufsform ( progressive ~ estar + gerundio ); zum anderen von Französisch als optimale romanische Brückensprache (↗ Art. 67) mit seinem umfassenden Lautsystem, seinem Wortschatz von 5540 kernwortschatzlichen formkongruenten Wörtern (Meißner 2018) und panromanischen Grammatikphänomenen wie etwa dem subjonctif ~ subjuntivo (Klein 2002). Außerdem umfasst das Lerner-Vorwissen die auf den Spanischerwerb transferierbaren Lern- und Kommunikationsstrategien, die Fähigkeit zur Sprachreflexion, zum interkulturellen Handeln und zur Nutzung affektiver Lernerfahrungen wie der Mo- 448 ChristianeNeveling tivation und dem Umgang mit Sprechangst oder sprachlichen Defiziten. 3. Mehrsprachigkeitsdidaktische Forschung Zahlreiche empirische Arbeiten zur Interkomprehension entstanden im frankophonen Raum aus dem Forschungsverbund Galatea / Galanet (www.e-gala.eu/ , galanet@u-grenoble3.fr, vgl. auch Meißner et al. 2011). Im deutschsprachigen Raum seien exemplarisch die Arbeiten von Bär (2009; Einstiegsmodul Spanisch als 3. Fremdsprache), Mordellet- Roggenbruck (2011; Textverständnis im Spanischen durch Französischstudierende), Morkötter (2016; frühe Interkomprehension: in Klasse 6 und 7) und Neveling (2017; Einschätzungen von Lehrkräften und Schülern bzgl. deren interlingualen Transferverhaltens) genannt. Alle Studien bestätigen den häufigen unterrichtlichen Einsatz von Sprachvergleichen und Bewusstmachungen beim Erwerb der sprachlichen Mittel und der Fertigkeiten sowie beim inhaltlichen und (inter-)kulturellen Lernen (↗ Art. 69, 70, 71). Insbesondere wird die interkomprehensive Lesekompetenz (↗ Art. 76) mit der Brücke einer anderen romanischen Sprache schnell erreicht, ebenso wie eine steilere Progression im Spanischlehrgang (vgl. auch Meißner et al. 2011). Bär (2009) beobachtet eine größere Wertschätzung der Brückensprache mit dem Effekt der positiven Selbstwirksamkeitserfahrung. Selbst initiierter Transfer von Anfang an gelänge nur bei hohem Kenntnisstand oder hoher Sprachlerneignung, 7 % der Schüler fanden Sprachvergleiche gar „verwirrend“ (Neveling 2017; vgl. auch Behr 2007: 89 ff.), während Morkötter (2016: 528 ff.) ein schülerseitig eigenständiges Entwickeln von vielfältigen Strategien nachwies. Interkomprehension gelingt umso besser, je höher die intrinsische Motivation, je größer die typologische Nähe zwischen Brücken- und Zielsprache, je tiefer die Verarbeitungstiefe und die konkrete Verfügbarkeit des Vorwissens (Bär 2009: 524; Mordellet-Roggenbruck 2011: 229) und je exakter die Anleitung zum Sprachenvergleichen ist (Bär 2009: 524). Für den Spanischerwerb bietet das Französische die meisten Transferbasen (Lexik, Morphosyntax, Aussprache). Spanisch selbst liefert die meisten Transferbasen für die iberischen Nachbarsprachen Portugiesisch und Katalanisch (Meißner et al. 2011: 86). 4. Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktische Lehr- und Lernmaterialien Im interkomprehensiven Unterricht kommen authentische Materialien mit alltäglichen Themen und zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen bzw. kulturspezifischen Transferbasen zum Einsatz (↗ Art. 77). Die Anleitung zum Sprachenvergleich löst inferenzielle Verständnisprozesse aus, die die Lernenden zur Erstellung einer Hypothesengrammatik führen (z. B. Meißner et al. 2011). Unter den zahlreichen Methoden und Übungen (vgl. im Detail Meißner et al. 2011: 98 ff.) ist die Laut-Denk-Methode hervorzuheben, denn neben der Inferierung von Wort- und Satzbedeutungen steigert sie die Speicherintensität und die Selbst- und die Sprachreflexion und hilft der Lehrkraft beim Diagnostizieren. Die konkreten Unterrichtsvorschläge greifen zunehmend auf das Englische als vorgelernte Sprache zurück und leiten zu einer Hypothesengrammatik an, eingebettet in Realsituation in Rollenspielen (z. B. Leitzke-Ungerer 2012; Rückl 2015). Text- und Medienarbeit 449 96. Spanisch zum Thema Migration als Sprach produktion bieten Vences (2016: la Torre de Babel ) und Kräling & Stamenkovic (2018: ein marrokanisches Mädchen in Barcelona). Spanisch im Erwerbskontext der Herkunftssprachen Griechisch und Türkisch (↗ Art. 109) bearbeitet Reimann (2017). Das erste interlingual ausgerichtete Lehrwerk von Holzinger et al. (2012) bietet einen Gesamtlehrgang an, der Lernprozesse stark bewusstmacht und die Selbstständigkeit ins Zentrum stellt (2012: Xff.). Durch Sprachvergleiche mit bekannten Sprachen (inkl. der Muttersprache) wird zum Bedeutungserschließen von Lexik (bei einer fiktiven Reise nach Madrid, bei einer Kennlernsituation) und zum Regelentdecken von Aussprache und Grammatik angeleitet. Das Lehrwerk (↗ Art. 77) geht von einer individuellen, emotional geprägten Lernhaltung aus. Es bietet ein 4-sprachiges Glossar an (sp., dt., it., fr.), Lösungen zu allen Übungen, regelmäßige Selbstevaluationen und Anregungen zum Reflektieren eigener und zielsprachiger, kulturell bedingter Verhaltensmuster. Mehrsprachig gefördert werden alle Fertigkeiten, nicht mehr nur die rezeptiven. Literatur Bär, M. (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen. Behr, U. (2007): Sprachenübergreifendes Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I . Tübingen. Europarat (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen . München, Berlin. Holzinger, G., Seeleitner, I., Castillo de Kastenhuber, C. et al. (2012): Descubramos el español. Spanisch interlingual . Wien. Hufeisen, B. (2003): Kurze Einführung in die linguistische Basis. In: B. Hufeisen & G. Neuner (Hrsg.): Mehrsprachigkeitskonzept - Tertiärsprachen - Deutsch nach Englisch . Strasbourg, 7-11. 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Kachru beschreibt die Verbreitung des Englischen mit Hilfe von drei konzentrischen Kreisen: Zum „inner circle“ gehören die englisch-muttersprachlichen Länder wie die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Zum englisch-zweitsprachlichen, dem „outer circle“ zählen vor allem solche Länder, in denen das Englische zusätzlich zur Erstsprache dieser Länder einen offiziellen Status, z. B. als Schulsprache im Bildungsbereich oder in der Veröffentlichung von Gesetzestexten und anderen staatlichen Dokumenten, erreicht hat. Das gilt vor allem für frühere britische Kolonien wie Ghana, Indien, Kenia, Malaysia oder Singapur, in die das Englische aus Großbritannien ‚exportiertʻ wurde. Der „expanding circle“, der äußerste der drei Kreise, umfasst Länder wie China, Deutschland, Japan, Niederlande oder Russland, die historisch gesehen keine gewachsene Beziehung zum Englischen haben, die das Englische ‚importiert‘ haben, in denen das Englische als Fremdsprache gelehrt wird und es nicht als offizielle Sprache anerkannt ist. Auch wenn es offensichtlich schwierig ist, genaue Sprecherzahlen zu ermitteln, so kann man heute von 2 Milliarden zweit- und fremdsprachigen Sprechern und etwa 330 Millionen Muttersprachlern des Englischen ausgehen (vgl. Baker 2015: 5 f.). Das heißt, dass ein Großteil der auf Englisch geführten Kommunikation als Lingua fran- K Englisch und Mehrsprachigkeit 452 ClausGnutzmann ca-Kommunikation stattfindet. Unter einer Lingua franca versteht man traditionell ein sekundär erworbenes Sprachsystem, das als Kommunikationsmittel zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen dient (vgl. Gnutzmann 2013). Gemäß dieser Definition gibt es in einer Lingua franca-Kommunikation keine Muttersprachler der als Lingua franca verwendeten Sprache. Das bedeutet folglich, dass Muttersprachler des Englischen von einer Englisch als Lingua franca (ELF)-Kommunikation ausgeschlossen sind und diese Mitgliedern des äußeren und expandierenden Kreises vorbehalten ist. Es kann als ein Mangel des Kachruschen Modells angesehen werden, dass es die zahlenmäßig größte Sprechergruppe der ELF-Sprecher nicht explizit berücksichtigt. Das Verhältnis von Sprache und Kultur (↗ Art. 1) hat in vielen Epochen der Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik eine hervorgehobene Rolle gespielt. Dem Humboldtschen Denken verpflichtete „Relativisten“ wie Whorf oder Sapir (vgl. Mandelbaum 1984) nehmen an, dass mit dem Erwerb der Muttersprache wie wohl auch weiterer Sprachen eine bestimmte Weltsicht erworben wird und Sprachen die mit ihr assoziierte Kulturen widerspiegeln. Auch Schröder (2009: 72) betont, dass Sprache als Wort gewordene Kultur zu betrachten ist. 2. Problemaufriss und Forschungsstand Durch die dynamische Entwicklung der Kulturwissenschaften ist die Komplexität und Aktualität des ursprünglich aus römischer Zeit stammenden Kulturbegriffs in jüngerer Zeit weiter verdeutlicht worden. Nünning (2017: 179) definiert Kultur „als die vom Menschen durch die Bearbeitung der Natur mithilfe von planmäßigen Techniken geschaffene Welt der geistigen Güter, materiellen Kunstprodukte und sozialen Einrichtungen, also die im Zuge der Sozialisation erworbenen Voraussetzungen sozialen Handelns“. Bei diesem weit gefassten Kulturverständnis wird die ehemals grundlegende Unterscheidung zwischen „high“ und „low culture“, also zwischen einem bildungsorientierten Kulturbegriff, der Literatur, Musik, Theater, Kunst, Malerei etc. einschließt, und einem alltagsorientierten Kulturbegriff, der auch Ess- und Trinkkultur, Wohnkultur etc. und Phänomene der Popkultur berücksichtigt, weitgehend aufgehoben. Ein bildungsorientierter Kulturbegriff spielt in einem pragmatisch-kommunikationsfokussierten, an ELF ausgerichteten Fremdsprachenunterricht (↗ Art. 30) eine eher untergeordnete Rolle. Sprache und Kultur werden seit ein paar Jahrzehnten auch im Fremdsprachenunterricht, zunächst ausgehend von einer stärkeren Berücksichtigung der Landeskunde (↗ Art. 35) bis hin zum kulturellen inter- und transkulturellen Lernen (↗ Art. 32, 41) zusammengedacht. Daraus ergibt sich fremdsprachendidaktisch die Forderung, dass Fremdsprachen mit Bezug zu ihren (sozio-) kulturellen Kontexten und denen ihrer Kommunikatoren vermittelt werden sollten. Die Frage inwieweit Sprache/ n, in unserem Fall die verschiedenen „Englishes“, als Zugänge zu verschiedenen Kulturen fungieren, kann mit Bezug auf das Kachru-Modell in etwa wie folgt beantwortet werden. Die Rezeption und Verarbeitung von literarischen und sachbezogenen Texten des „inner circle“ setzt für nicht-muttersprachliche und natürlich ebenfalls muttersprachliche Benutzer des Englischen eine fundierte Kenntnis der englischen Standardvarietät/ en voraus. Vergleichbare Voraussetzungen gelten für dem „outer circle“ zuzuordnende schriftliche Texte, wobei dort 453 97. English as a gateway to cultures noch spezifische lexikalische und grammatische Spezifika dieser „Englishes“ zur Erschließung kultureller Inhalte zu berücksichtigen sind. Hinsichtlich des Gebrauchs von ELF, der sich in erster Linie auf die mündliche Kommunikation erstreckt, gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es sich bei ELF um einen kulturneutralen Gebrauch von Sprache handelt oder mit ELF auch kulturelle Inhalte transportiert und erschlossen werden. Da in der gegenwärtigen Forschung überwiegend von einer engen Beziehung zwischen Sprache und Kultur ausgegangen wird, kann diese Beziehung insgesamt betrachtet ebenfalls für ELF angenommen werden, wenngleich mit Besonderheiten. Allerdings stellt die einseitige, auf dem Argument einer fortschreitenden Integration der EU-Mitgliedsländer (↗ Art. 9) in die Wirtschaft und Kultur einer US-beherrschten Welt basierende Charakterisierung von ELF als „lingua frankensteinia“ (Phillipson 2008) in der Forschung keine Mehrheitsmeinung dar. Immerhin steigt die Zahl der weltweit Englischlernenden unaufhörlich, wobei dieser Lernprozess seitens der Lernenden generell nicht als Unterwerfungsprozess unter anglo-amerikanische Normen verstanden wird. Vielmehr dient er der weltweiten interkulturellen Verständigung, weil mit Hilfe von ELF auch andere Kulturen bzw. kulturelle Hintergründe der ELF-Kommunikatoren vermittelt werden können (↗ Art. 33). Häufig geschieht dies, wenn ELF-Sprecher vor dem Hintergrund von Erfahrungen und Ereignissen ihrer eigenen Kultur kommunizieren. Der bisher gängigen Definition von ELF widerspricht Seidlhofer (2011: 7), wenn sie ELF definiert als „any use of English among speakers of different first languages for whom English is the communicative medium of choice, and often the only option“ und somit englische Muttersprachler als Teilnehmer von ELF-Kommunikation einschließt. Eine solche Auffassung erscheint nicht nur deshalb fragwürdig, weil sie sich außerhalb der Tradition der Lingua franca-Forschung stellt, sondern auch, weil sie eine kommunikative Gleichheit zwischen Mutter- und Nichtmuttersprachler suggeriert, die empirisch nicht gegeben ist. Bei einer Lingua franca handelt es sich um eine Hilfssprache, was ihrer ursprünglichen Verwendung als Kommunikationsmittel in bestimmten, eingeschränkten Kontexten entspricht. Auch wenn englische Muttersprachler hinsichtlich der Sprecherzahl eine Minderheit darstellen und das Englische zu einem erheblichen Teil als Lingua franca (ELF) verwendet wird, gilt es zu bedenken ist, dass ELF-Sprecher das Englische generell weniger häufig und in weniger Funktionen verwenden als Muttersprachler des Englischen. 3. Praxisrelevanz Wenn man dem Fremdsprachenunterricht einen von der Vielfalt der Kulturen ausgehenden Kulturbegriff zugrunde legt, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit, von einem weiten Textbegriff auszugehen, der, so Nünning (2017: 180) „sowohl vernachlässigte Gattungen und Textsorten als auch Formen von Popkultur und Produkte der Massenmedien in den Unterricht“ einbezieht. Durch die vielfältige Verbreitung des Englischen, insbesondere in seiner Funktion als globale lingua franca, ist hinsichtlich des Verhältnisses von Sprache und Kultur eine neue Situation entstanden. Diese lässt sich u. a. dahingehend charakterisieren, dass, verbunden mit der Diversifizierung des Englischen, neben ein eher eindimensional gefasstes Verhältnis von englischer Sprache und anglophoner Kultur ein eher komplexes Verhältnis von Sprache und 454 ClausGnutzmann Kultur (↗ Art. 1) getreten ist. Dieses sieht den Gebrauch von ELF und die damit einhergehende interkulturelle Kommunikation als eine grundsätzlich andere Beziehung an als die zwischen einer National-/ Regionalsprache und der mit ihr assoziierten Kultur. In der mündlichen, ohne englische Muttersprachler stattfindenden ELF-Kommunikation ergibt es wenig Sinn, diese und in der Folge den Englischunterricht vorrangig an der bzw. den Kulturen des „inner circle“ auszurichten, auch wenn diese im schulischen Englischunterricht weiterhin ihren Platz hat. Aufgabe eines mehrsprachigkeitssensiblen Englischunterrichts sollte es sein, den Lernenden die Vielfalt der Bezugsräume des Englischen zu vermitteln. Des Weiteren ist zu bedenken, dass bei Teilnehmern der ELF-Kommunikation durchaus ein anglo-amerikanischer Bezugsrahmen vorhanden sein kann, je nachdem wie ihre englisch(fremd)sprachige Sozialisation verlaufen ist. Auch wenn kulturelle Aspekte des „inner circle“ nicht zentral sind, so können diese ‚mitschwingen‘ und sollten deshalb den ELF-Sprechern nach Möglichkeit in Grundzügen vertraut gemacht werden. Eine kulturelle Orientierung kann darüber hinaus durch die Kultur jedes an der ELF-Kommunikation Beteiligten erfolgen, z. B. durch Aushandlung eines gemeinsamen interkulturellen Kommunikationsrahmens. Ein sich an den Zielen einer mündlichen ELF-Kommunikation orientierender Englischunterricht legt weniger Wert auf sprachliche Korrektheit und die Vermittlung anglo-amerikanischer Kultur, sondern bemüht sich um die Schaffung eines fehlertoleranten Lernklimas und macht die Reflexion eigener kultureller und interkultureller Verhaltensweisen zum Unterrichtsgegenstand (↗ Art. 30). Letzteres bedeutet, dass Lernende sich der Vielfalt und der Komplexität des Verhältnisses von Sprache und Kultur bewusst werden (vgl. hierzu auch Baker 2009; 2015). 4. Perspektiven Der Gebrauch des Englischen als weltweite Linga franca erfordert seitens der Kommunikatoren eine erhöhte Sensibilität für die inter- und transkulturellen Rahmenbedingungen dieser Kommunikation. Um sich als ELF-Sprecher behaupten zu können, sollten diese insbesondere über solide und reflektierte Kenntnis der eigenen Kultur verfügen wie auch über Kenntnisse der Kulturen der Gesprächspartner, wie dies z. B. Wen (2016) verlangt. Gerade der Erfüllung der letzten Forderung sind in der realen ELF-Kommunikation allerdings Grenzen gesetzt, wenn man etwa mit Sprechern vieler unterschiedlicher Kulturen zu tun hat. Insofern erhalten die Vermittlung und der Erwerb von Prinzipien der interkulturellen Kommunikation und die Schaffung interkultureller Bewusstheit gerade für den ELF-basierten Unterricht weiterhin eine sehr hohe Priorität, zumal davon auszugehen ist, dass der Anteil der ELF-Kommunikation weiter steigen wird. Durch die Abkühlung in den politischen Beziehungen zwischen Europa und den USA („America first“) und Großbritannien („Brexit“) wird, so ist anzunehmen, die Attraktivität der englischen Sprache als Träger anglo-amerikanischer Kultur wahrscheinlich an Einfluss verlieren, ihre Verwendung als globale Lingua franca aber weiterhin zunehmen. Literatur Baker, W. (2009): The Cultures of English as a Lingua Franca. In: TESOL Quarterly 43/ 4, 567-592. 455 98. EnglischalseuropäischeBrückensprache Baker, W. (2015): Culture and Identity through English as a Lingua Franca. Rethinking Concepts and Goals in Intercultural Communication . Berlin, Boston. Gnutzmann, C. (2013): Lingua Franca. In: M. Byram. & A. Hu (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning . 2. Aufl. London, New York, 413-416. Kachru, B. B. (1985): Standards, Codification, and Sociolinguistic Realism: The English Language in the Outer Circle. In: R. Quirk & H. Widdowson (Hrsg.): English in the World: Teaching and Learning the Language and the Literature. Cambridge, 11-30. Mandelbaum, D. G. (Hrsg.) (1984): Selected Writings of Edward Sapir in Language, Culture, and Personality . Berkeley, Los Angeles. Nünning, A. (2017): Kultur. In: C. Surkamp (Hrsg.): Metzler Lexikon der Fremdsprachendidaktik. Ansätze -Methoden - Grundbegriffe . 2. Aufl. Stuttgart, 179-180. Phillipson, R. (2008): Lingua Franca or Lingua Frankensteinia? World Englishes 27/ 2, 250- 267. Seidlhofer, B. (2011): Understanding English as Lingua Franca . Oxford. Schröder, K. (2009): Englisch als Gateway to Languages . In: C. Fäcke (Hrsg.): Sprachbegegnung und Sprachkontakt in europäischer Dimension . Frankfurt a. M., 69-85. Wen, Q. (2016): Teaching Culture(s) in English as a Lingua Franca in Asia. In: Journal of English as a Lingua Franca 5/ 1, 155-177. Claus Gnutzmann 98. Englisch als europäische Brückensprache 1. Das Englische in Europa und der Welt Englisch ist rund um den Globus die Muttersprache von ca. 340 Millionen Menschen, es ist die häufigste Zweitsprache und die bei Weitem meistgelernte Fremdsprache. Weltweit sprechen weitaus mehr als eine Milliarde Menschen Englisch; die Sprache hat sich in zahlreichen Ländern als Verkehrssprache, z.T. als Amtssprache, neben der jeweiligen Landessprache der Bevölkerung etabliert. Auch in Europa steht es als Fremdsprache an der Spitze: 38% der Europäer benutzen Englisch als Fremdsprache, weitere 25% verfügen über passive Englischkenntnisse. Vor allem für jüngere Europäer ist Englisch die zumeist nützlichste Fremdsprache. Sie haben im Durchschnitt deutlich bessere Englischkenntnisse als ältere Mitbürger; 2014 lernten 97,3 Prozent aller europäischen Sekundarschüler Englisch (EU 2017: 2). Und dennoch vermag Englisch allein es nicht, in allen Situationen das Gelingen der interkulturellen Kommunikation zu gewährleisten, wie z.B. die britische ELAN-Studie (CILT 2006) oder die working group ET „Languages for Jobs“ zur Wirtschaftskommunikation belegen. Weder in seiner Rolle als Europasprache (↗ Art.12) noch als international language oder lingua franca kann Englisch außerhalb des anglophonen Kulturkreises zur nationalen Identitätsstiftung beitragen (↗ Art. 90, 98), d.h.: seine Funktionsbreite bleibt für alle anderen Sprach- und Kulturgemeinschaften reduziert (Art. ↗8). „English only, everywhere, with everybody and at every time“ geht mit schweren Nachteilen für die Bevölkerungen einher. 456 ChristinaReissner Dennoch ist das Englische für gesellschaftliche Teilhabe und berufliches Fortkommen in einer von weltweiter Mobilität und kultureller Heterogenität geprägten postmodernen Gesellschaft unverzichtbar. Pädagogische Mehrsprachigkeitsmodelle dürfen daher Englisch nicht außen vorlassen, sondern müssen es in ihre Konzepte einbeziehen. „Englisch und Mehrsprachigkeit“ stehen keineswegs nur additiv nebeneinander, vielmehr können Englischkenntnisse zur Konstruktion einer integrativ verstandenen Mehrsprachenkompetenz genutzt werden. Das Englische erfordert ein Bildungskonzept, „das der weltweiten Bedeutung der englischen Sprache Rechnung trägt, ohne dabei alle anderen Sprachen zu marginalisieren“ (Kurtz 2010: 119). 2. Mehrsprachigkeitskompetenz als Bildungsziel Mehrsprachigkeit gilt spätestens seit den Homburger Empfehlungen (1980) als (gymnasiales) Bildungsziel und hat Eingang in die nationalen sprachenpolitischen Dokumente der meisten europäischen Staaten gefunden; so auch in die deutschen Bildungsstandards. Für den Mittleren Bildungsabschluss sollen demgemäß mit der ersten Fremdsprache auch methodische Kompetenzen „als Grundlage für den Erwerb weiterer Sprachen, für das lebenslange Sprachenlernen und den Ausbau der mutter- und fremdsprachlichen Kompetenzen“ in Klasse 10 vorhanden sein (KMK 2003: 6). Der Unterricht in der 1. Fremdsprache soll ein solides Fundament schaffen, „das im Hinblick auf das Erlernen weiterer Fremdsprachen vor allem affektiv nachhaltig tragfähig, aber auch […] sprachlich-kognitiv anschlussfähig und für mehrkulturelle Perspektivenwechsel offen“ ist (Kurtz 2010: 125). Dies betrifft insbesondere die aufzubauende Sprachlernkompetenz. Von Anfang an ist daher die fächerübergreifende Bedeutung der Vermittlung des sprachlichen Könnens und Wissens „mitzudenken“. Es ist überfällig, den Englischunterricht entsprechend zu modernisieren. Bei der Vermittlung des Englischen sind nicht nur die Ausgangssprachen der Lerner im Sinne eines sprachensensiblen Unterrichts einzubeziehen, sondern auch die Potentiale des Englischen als Brücke hin zu anderen Sprachen und Kulturen zu verdeutlichen und zu nutzen, unabhängig davon, ob diese schon vorhanden sind, parallel oder erst zukünftig erlernt werden. Auf diese Weise kann der Englischunterricht reichhaltige Ressourcen und Potentiale zur Ausbildung mehrsprachiger Individuen weiterbauen und ausschöpfen. Die Erfolge der vielfältigen Beispiele guter Praxis belegen die Effektivität entsprechender Herangehensweisen (↗ Art. 98, 100). Sie bleiben bisher jedoch bedauerlicherweise auf nur punktuelle Initiativen beschränkt. Die Englischlehreraus- und -fortbildung gewinnt hier eine zentrale Rolle für eine Neuausrichtung des Unterrichts. Dabei sind neben dem entsprechenden Fachwissen die Einstellungen und Attitüden der Lehrkräfte entscheidend für die Umsetzung in der Praxis (↗ Art. 24, 25). 3. Das Englische als Brücke für das sprachenvernetzende Lernen Aus linguistischer Perspektive bietet das Englische große Potentiale für den Erwerb und die Vermittlung von Mehrsprachigkeit. Hierzu sollte man wissen, dass der gemeinsame deutsch-englisch-romanische Anteil morphosemantischer Transferbasen an dem aus vier 457 98. EnglischalseuropäischeBrückensprache romanischen Zielsprachen gebildeten romanischen Kernwortschatz (KRM) einen Umfang von 50,37 Prozent erreicht (Meißner 2018: 38; ↗ Art. 68). In diesem Sinne lässt es sich als Gateway oder Tor in die Welt anderer Sprachen bezeichnen (u.a. Neuner 2005). Die Prozentzahl beziffert zugleich die Bedeutung des Versäumnisses eines Fremdsprachenunterrichts, der unsensibel für die Nutzung von Transferbasen ist. Dies betriff sowohl das Englische als Zielals auch als potentielle Brückensprache zu anderen europäischen, nicht nur romanischen, Sprachen. Für die Eurokomprehension (↗ Art. 8) hält Englisch vielfältige Ressourcen bereit. Als germanische Sprache weist es ungezählte Transferbasen auf, die etwa im Rahmen des EuroComGerm- (↗ Art.98) oder Deutsch als Fremdsprache nach Englisch-Ansatzes (DaFnE) (↗ Art.88) genutzt werden; auch für den interkomprehensiven Zugang zu den romanischen Sprachen bestehen, wie erwähnt, vielfältige Anknüpfungspunkte (Klein & Reissner 2006; Reissner 2012). Geschichte: Das germanisch geprägte Altenglische entstand aus den Sprachen der aus dem heutigen Dänemark und Deutschland eingefallenen Angelsachsen und später der Wikinger. Die auf der Insel vorhandenen keltischen Varietäten wurden weitgehend verdrängt; auch das gesprochene Latein der römischen Invasoren (43 n.Chr.). Mit den römischen Missionaren fanden im 6. Jahrhundert Hunderte lateinische Wörter Eingang in die Sprache (Crystal 2005: 24). Der Sieg des Normannenherzogs Wilhelm des Eroberers über Harald II. im Jahr 1066 markiert den Beginn einer neuen gesellschaftlichen und sprachlichen Ära in Britannien. Das normannische Französisch wurde nun über 150 Jahre zur Sprache des Rechts, der Verwaltung, aber auch der Literatur, Erziehung und aller kirchlichen Belange. Es prägte das Mittelenglische nachhaltig. Auch wenn es in der Folgezeit an Bedeutung einbüßte, blieb der Wortschatz vor allem in den genannten Bereichen vom Französischen gekennzeichnet. In der Renaissance brachten die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft, die Reformation neuen Wortschatz aus dem Französischen, vor allem aus dem Italienischen, sodann dem Spanischen und Portugiesischen (ebd.: 60). Später kamen Entlehnungen aus den Kolonien hinzu. Entscheidend für den interlingualen Re-Identifikationstransfer ist beim ersten erschließenden Lesen die Transparenz der Lexeme; die bedeutungsadäquate Reihe fr. esprit - sp./ pt. espírito - it. spirito - rum./ en. spirit ist beispielsweise hochgradig transparent und damit interlingual verständlich. Schwieriger ist es, Elemente, die ein höheres Maß an Opazität aufweisen, in fremden Sprachen zu erkennen. Allerdings sind auch viele der Abweichungen interlingual systematisch und kehren regelmäßig wieder; diese morphosemantischen Korrespondenzen werden systematisch in den Sieben Sieben (↗ Art. 67) beschrieben. Bei pt. perfeito , it. perfetto , sp. perfecto etwa wird erkennbar, dass die auch in en. perfect enthaltene Konsonantengruppe -ct- (< lat. perfectus ) im Portugiesischen als -it- und im Italienischen als -tt- auftritt. Ähnliche interphonologische Regularitäten bestehen bei den meisten graphischen Korrespondenzen. Auch die Kenntnis der Aussprache ist hilfreich. So ist etwa zum Erkennen von en. match in rum. meci das Wissen über die Aussprache der Endung rum. ci als [∫] förderlich. Auch kann das Wissen um die unterschiedlichen orthographischen Darstellungen des Lautes [nj] oder [lj] als -gn , ñ , nh , ny bzw. ll , gl , lhinterlingual den Identifikationstransfer erleichtern. 458 ChristinaReissner In morphosyntaktischer Hinsicht weist das Englische, wie gesagt, ebenfalls umfangreiche Potentiale für den interlingualen Transfer zu den romanischen Sprachen auf (Grzega 2005; Leitzke-Ungerer et al. 2012; Reissner 2012). Betroffen sind etwa funktional Relativ- und Konditionalsätze oder die Hypotaxe, die „romanische“ Steigerung, die Pluralbildung nach dem Muster der westromanischen Sprachen durch -s oder die Kennzeichnung der adverbialen Funktion durch eine entsprechende Form ( -ly ). Auch die Bildung des Genitivs und des Dativs lassen sich funktional über das Englische erschließen, ebenso die Konstruktion des Gerundiums oder des Partizips Perfekt. Insgesamt stellt das Englische also nicht nur lexikalisch eine breite Basis für das Erlernen romanischer Sprachen dar. Allerdings versagt es weitgehend im morphologischen Bereich. So haben die Relativpronomen who, what, where, that … z.B. keine englischen Formadäquanzen; ebenso wenig die Adverbial- oder die Steigerungspartikel. Dennoch gilt didaktisch: Die Aktivierung und Nutzbarmachung der (auch) über das Englische erworbenen Transferbasen erleichtert den Verstehensprozess (nicht nur) in den romanischen Sprachen und das Einüben interkomprehensiver Strategien. Die Vernetzung neuer Zielsprachen mit dem nutzbaren Vorwissen beschleunigt das Sprachenwachstum in den - vermeintlich - unbekannten Sprachen. Das Englische hilft bei der germanischen und romanischen und wohl auch slawischen Interkomprehension, wie die Sieben Siebe des EuroComGerm beweisen oder EaG. Es hilft vor allem aufgrund seiner globalen Bekanntheit. 4. Fazit: Englisch als europäische Brückensprache Das Englische hat für mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle inne. Es liefert nicht nur linguale Transferbasen für die romanischen und germanischen, sondern auch für die slawischen Sprachen (Meißner 2018: 102ff.; Reissner 2015). Für das Erlernen des Deutschen als Fremdsprache haben aus dem Englischen bekannte Kognaten eine große Bedeutung (Hufeisen & Marx 2014; ↗ Art. 60, 88). Als Gebersprache für eine beeindruckende Zahl von Neologismen umfasst es überdies wichtige lexikalische Ressourcen für den internationalen Wortschatz (↗ Art. 68). Nicht zuletzt aufgrund der Verbreitung in allen Lebensbereichen liegt eine lernökonomische Nutzung von Englischkenntnissen als konstitutives Element der individuellen Mehrsprachigkeit auf der Hand. Hier ist insbesondere eine adäquate Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte des Englischen gefragt. Ebenso bedarf es einer Überarbeitung (nicht nur) der Englisch-Lehrwerke, die immer noch die Mehrsprachigkeitsdidaktik zu sehr ausblenden und damit die großen Potentiale des Englischen als europäische Brückensprache ungenutzt lassen. Da der Identifikationstransfer immer in zwei Richtungen wirkt - im Hinblick auf die Zielsprache und auf die Kenntnisse der Brückensprache zurück - kann in diesen Fällen auch der Englischunterricht nur von den Vorteilen des Mehrsprachenansatzes profitieren. 459 99. VerfahrenderMehr sprachigkeitsförderungimEnglischunterricht Literatur CILT. The National Centre for Languages (2006): ELAN Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft . EU-Kommission/ EACEA/ Eurydice (2017): Key Data on Teaching Languages at School in Europe - 2017 Edition . Eurydice Report. Grzega, J. (2005): The Role of English in Learning and Teaching European Intercomprehension Skills. In: Journal for EuroLinguistiX 2, 1-18. Hufeisen, B. & Marx, N. (Hrsg.) (2014): EuroComGerm. Die sieben Siebe. Germanische Sprachen sofort lesen lernen . Aachen (2. Aufl.). Klein, H. G. & Reissner, C. (2006): Basismodul Englisch - Englisch als Brückensprache in der romanischen Interkomprehension . Aachen. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Die Sieben Siebe - Romanische Sprachen sofort lesen können . Aachen. KMK, Kultusministerkonferenz (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Bildungsabschluss . Beschluss vom 4.12.2003. Darmstadt. Kurtz, J. (2010): Zur Bedeutung und Funktion des Englischunterrichts für den Erhalt und die Förderung von Mehrsprachigkeit in der Schule. In: A. Bogner, K. Ehlich, L. Eichinger et al. (Hrsg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies 36, 119-132. McCann, W. J., Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2002): EuroComRom - The Seven Sieves: How to Read All the Romance Languages Right Away . Aachen. Meißner, F.-J. (2018): Die Vermessung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeit . GiF: on 11, 2018. http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: hebis: 26-opus-135898 Neuner, G. (2005): Zur Rolle des Englischen in einem europäischen Konzept von Mehrsprachigkeit. In: S. Duxa, A. Hu & B. Schmenk (Hrsg.): Grenzen überschreiten. Menschen, Sprachen, Kulturen. Festschrift für Inge Christine Schwerdtfeger zum 60. Geburtstag . Tübingen, 163-177. Reissner, C. (2012): Den Sprachenunterricht vernetzen: Das Englische als Brückensprache zum Spanischen. In: E. Leitzke-Ungerer, G.Blell & U. Vences: English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht . Stuttgart. Reissner, C. (2015): Das Vorwissen im Fremdsprachenunterricht nutzen - Beispiele aus der Praxis schulprojektübergreifender Projektseminare. In: E. Amann, A.Kropp & J. Müller-Lancé (Hrsg.): Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen . Berlin, 207-230. Working group (ET 2020): Languages for Jobs. Providing multilingual communication skills for the labour market. Report . European Strategic Framework for Education and Training. Christina Reissner 99. Verfahren der Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht 1. Mehrsprachigkeitssensibler Englischunterricht Englischunterricht spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Englisch ist in der Regel die erste Fremdsprache, der Schülerinnen und Schüler in schulischen Kontexten begegnen, und Englisch ist ein Fach, das sie zumeist bis 460 JennyJakisch zum Ende ihrer schulischen Ausbildung, oft darüber hinaus, begleitet. Die Stellung des Englischen als globale lingua franca sowie das Prestige, das mit dieser Sprache verbunden ist, wirken sich förderlich auf die Akzeptanz des Faches und die Bereitschaft zum Lernen des Englischen aus (↗ Art. 13, 97, 98). Mehrsprachigkeitssensibler Englischunterricht ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die Kompetenzentwicklung im Englischen im Vordergrund steht, sondern darüber hinaus die Vermittlung plurilingualer Kompetenzen (↗ Art. 7) angestrebt wird. In einem solchen Unterricht haben weitere Sprachen und Kulturen einen festen Platz und werden didaktisch-methodisch so angesprochen, dass daraus Ressourcen für das Sprachenlernen entstehen. Das heißt konkret, dass ggf. bereits vorhandene Sprachkenntnisse für die Aneignung des Englischen genutzt und Anschlussstellen für den Erwerb weiterer Sprachen geschaffen werden. Solche Ressourcen liegen vor allem im Bereich der Sprachlernkompetenz: Die Kinder lernen nicht nur Englisch, sondern damit auch das Lernen des Lernens von Englisch bzw. einer fremden Sprache. Diese Erweiterung der Zielperspektive des Englischunterrichts erscheint nicht nur aufgrund der Erkenntnisse aus der Forschung zur Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) notwendig, sondern sie ergibt sich aus der veränderten Ausgangslage für den Englischunterricht, der auf die sprachliche Heterogenität vieler Lerngruppen reagieren muss (↗ Art. 110). So können mehrsprachig aufwachsende Schüler mit Deutsch als Zweitsprache Vorteile beim Erwerb des Englischen und weiterer Sprachen haben, sofern sie über gut ausgebaute Kompetenzen in ihrer L1 und der schulischen Majoritätssprache sowie einen hohen Grad an Sprachenbewusstheit verfügen (Hopp et al. 2017). Eine solche mitgebrachte Mehrsprachigkeit wirkt allerdings nicht per se lernförderlich, sondern muss durch geeignete Verfahren gezielt angesprochen werden. Der Englischunterricht muss daher schon früh beginnen, Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) zu befördern. 2. Mehrsprachigkeit in curricularen Vorgaben und Materialien für den Englischunterricht Der Rolle des Englischunterrichts als „gateway to languages“ (Schröder 2009) und „zusätzliche Schubkraft“ für multiples Sprachenlernen (Kurtz 2011: 71) wird in den geltenden curricularen Vorgaben insofern Rechnung getragen, als auf Mehrsprachigkeit verwiesen wird. Das ist allerdings für sich genommen zu wenig. Die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache beschreiben Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Realität (KMK 2003: 11) und weisen der ersten Fremdsprache die Aufgabe zu, die Lernenden angemessen auf das „Handeln in mehrsprachigen Situationen“ (ebd.) vorzubereiten. Es wird jedoch nicht genauer skizziert, was diese auszeichnet und in welcher Form der Unterricht auf sie vorbereiten kann. Die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012) sind diesbezüglich deutlich weiter, da sie das reflexive Sprachenlernen in Gestalt der Sprachlernkompetenz betonen (↗ Art. 43). Während Lehrwerke für den Englischunterricht traditionell auf die Kompetenzentwicklung im Englischen abzielen und kaum Bezug auf andere gängige Schulsprachen, geschweige denn auf weitere Sprachen, nehmen (Thaler 2016), gibt es erste Zusatzmaterialien, die Vorschläge zur Öffnung des Englischunterrichts für weitere Sprachen bieten (z. B. Behr 2005; Preker-Franke & Preker 2011). Die 461 99. VerfahrenderMehr sprachigkeitsförderungimEnglischunterricht aus der Migration stammenden Herkunftssprachen (↗ Art. 106) sind dabei allerdings unterrepräsentiert, und es fehlt an Leitlinien für eine systematische unterrichtliche Implementierung. Lehrkräfte sind zunehmend dafür sensibilisiert, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler das Englische unter anderen Voraussetzungen erlernen als ihre monolingual aufwachsenden Mitschüler ( Cutrim Schmid & Schmidt 2017). Sie verfügen aber oft nicht über das nötige didaktisch-methodische Repertoire, um angemessen darauf reagieren zu können (ebd.). 3. Möglichkeiten der Förderung von Mehrsprachigkeit im Englischunterricht Der Englischunterricht hat in der schulischen (Fremd-)Sprachenentwicklung der Schüler eine wichtige Scharnierfunktion. Zum einen müsste er die vorhandene lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) der Kinder aufgreifen und so nutzbar machen, dass sich Lernzuwächse für mehrsprachige Lerner, aber auch für ihre monolingualen Mitschüler, ergeben. Zum anderen kann das Fach Englisch für diejenigen, die mit dem Deutschen aufwachsen, eine noch zu entwickelnde schulische Mehrsprachigkeit dadurch anbahnen, dass bereits durch die Auseinandersetzung mit der ersten Fremdsprache Ausblicke auf weitere (Schul-)Fremdsprachen gegeben und Grundlagen für den Erwerb weiterer Sprachen gelegt werden (↗ Art. 97). Englisch nimmt als „Konstante innerhalb heterogener Sprachlernbiografien“ (Schöpp 2015: 50) nicht zuletzt deshalb eine Schlüsselrolle ein, als es sich abzuzeichnen scheint, dass Englisch bei interlingualen Vergleichen auch dann die präferierte Brückensprache ist, wenn andere typologisch nahverwandte Sprachen ebenfalls beherrscht werden (ebd.) (Art. 99). Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, um Verfahren der Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht zu etablieren, die dieser doppelten Zielsetzung gerecht werden (vgl. z. B. Elsner 2010; Neuner 2005; Schröder 2009; Vollmer 2001; auch Klein & Reissner 2006 für die romanische Mehrsprachigkeit; Meißner 2018). Sie lassen sich den folgenden fünf Dimensionen zuordnen, die als Anregung zur Gestaltung von mehrsprachigkeitsförderlichem Englischunterricht zu verstehen sind und sich z.T. überlappen (vgl. Jakisch 2015: 91-93): 3.1. Die sprachlich-kognitive Dimension Mehrsprachigkeitssensibler Englischunterricht animiert die Lerner dazu, bei der Begegnung mit neuem sprachlichen Input alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu aktivieren und nach lexikalischen und grammatikalischen Vergleichsgrößen in ihren anderen (entweder parallel gelernten oder schon mitgebrachten) Sprachen zu suchen. Der Anteil englischer Transferbasen (↗ Art. 64) beläuft sich beispielsweise innerhalb des romanischen Kernwortschatzes auf jeweils 52 (Italienisch) bzw. 54 Prozent (Französisch, Portugiesisch, Spanisch) (vgl. Meißner 2018: 42). Mehrsprachige Erschließungsstrategien bieten sich v. a. bei Internationalismen und Kognaten an, können jedoch prinzipiell für jedes zielsprachliche Wort bzw. jede zielsprachliche Struktur erprobt werden ( „Do you know this word/ sentence in another language ? “ ) . Wichtig ist dabei, derartige Impulse bewusst offen zu halten und an die gesamte Lerngruppe zu richten, um das Herausstellen ausgewählter (mehrsprachiger) Lerner und die Hervorhebung einzelner Sprachen zu vermeiden. 462 JennyJakisch Um das verbindende Moment zwischen den oft als sehr unterschiedlich wahrgenommenen Unterrichtsfächern für die Lerner stärker transparent zu machen, wäre zudem die Nutzung einer einheitlichen Terminologie in den Sprachenfächern sinnvoll. 3.2. Die affektiv-motivationale Dimension Es liegt auf der Hand, dass eine Haltung der Aufgeschlossenheit für andere Sprachen und Kulturen nur dann entwickelt werden kann, wenn die Begegnung mit der ersten schulischen Fremdsprache freudvoll und motivierend ist und das Unterrichtserlebnis Selbstwirksamkeitserfahrungen mit der neuen Sprache ermöglicht, die ihrerseits ‚Lust auf mehr‘ machen. Die MES-Studie zeigt, dass es dem Englischunterricht zwischen den Klassen 5 und 9 gelingt, die Motivation der Lerner auf hohem Niveau zu halten (Morkötter et al. 2010). Zentral dafür ist eine angstfreie Lern- und Arbeitsatmosphäre, in der Fehler als selbstverständlicher Teil des Lernprozesses gesehen und die Lernenden zum Experimentieren mit Sprache(n) ermuntert werden. Mehrsprachigkeitssensibler Englischunterricht bestärkt Kinder und Jugendliche in ihrer (mehr-)sprachlichen Identität (↗ Art. 1, 4) und führt ihnen durch einen wertschätzenden Umgang mit sprachlicher Vielfalt immer wieder vor Augen, dass andere Sprachen und Kulturen sowohl für den Einzelnen als auch die Lerngruppe eine wertvolle Ressource sind. 3.3. Die interkulturelle Dimension Um Schülerinnen und Schülern interkulturelle Kompetenzen (↗ Art. 43, 44) zu vermitteln und sie zur Teilhabe an mehrsprachigen Diskursen (Hallet & Königs 2010: 305) zu befähigen, ist eine Öffnung des Englischunterrichts für weitere Sprachen unabdingbar (Art. 98). Das Aufgreifen der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) bzw. weiterer Fremdsprachen bietet sich insbesondere an, um die bipolare Opposition zwischen Erst- und Fremdsprache zu durchbrechen und die Bedeutungsaushandlung in mehrsprachigen Begegnungssituationen (↗ Art. 103) (einschließlich lingua franca-Kommunikation ) zu trainieren. Darüber hinaus müssten die Lernenden für die innere Vielfalt der anglophonen Bezugsländer sowie die Rolle des Englischen in nicht-anglophonen Ländern sensibilisiert werden. Gerade im Bereich der Textarbeit geben die Globalität und die linguistische sowie kulturelle Plurizentrik der Zielsprache dem Englischunterricht eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Beförderung von Fremdverstehen (↗ Art. 31, 36). 3.4. Die methodische Dimension Der methodischen Dimension wird in Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien in den letzten Jahren verstärkt Bedeutung beigemessen, und der Erwerb von Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) ist ein wesentliches Ziel mehrsprachigkeitssensiblen Fremdsprachenunterrichts. Die im Unterricht der ersten Fremdsprache gesammelten Sprachlernerfahrungen müssen den Lernenden bewusst gemacht werden und sind dann gemeinsam mit den bereits erworbenen Lernstrategien und Arbeitstechniken eine wertvolle Ressource, die sie für ihr weiteres Fremdsprachenlernen nutzen können. Die erste Fremdsprache ist somit Vorreiter bei der Frage nach dem Lernen des Lernens von Sprachen, die vertiefend behandelt werden kann, wenn monolinguale und mehrsprachige Lerner reflektieren, welche Lernwege und -strategien sich für sie als hilfreich erwiesen haben. Ziel ist es, Grund- 463 99. VerfahrenderMehr sprachigkeitsförderungimEnglischunterricht lagen für lebensbegleitendes autonomes Sprachenlernen zu schaffen, die im Bedarfsfall zur eigenständigen Aneignung weiterer Sprachen genutzt werden können. 3.5. Die inhaltlich-thematische Dimension Die mit der Kompetenzorientierung verbundene inhaltliche Offenheit bietet Gestaltungsspielräume für die Förderung von Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7). So sollten die Schüler vom ersten Lernjahr an dafür sensibilisiert werden, dass English only nicht ausreicht, um im (fremd-)sprachlichen Alltag zu bestehen. Dies kann insbesondere dann gelingen, wenn ihre Mitschüler mit anderssprachigem Hintergrund zu Wort kommen und Gelegenheit zum Kennenlernen mehrsprachiger Lebenswelten und Biographien mehrsprachiger Personen besteht. Darüber hinaus lassen sich, angepasst an den jeweiligen Lernstand, Potenziale und Risiken der lingua franca Englisch sowie Gründe für das Erlernen weiterer Sprachen diskutieren. Zu thematisieren wären ferner die Besonderheiten der europäischen Situation ( unity in diversity ) und die damit einhergehende individuelle fremdsprachliche Verantwortung der Lerner (Muttersprache + mindestens 2). 4. Ausblick Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsprofile zu fördern, ohne selbst über (als ausreichend empfundene) Kenntnisse der jeweiligen Sprachen zu verfügen. Den hier vorgestellten Verfahren ist gemein, dass sie gerade nicht nach einer lehrerseitigen Korrektur verlangen. Vielmehr liegt der Fokus auf der Förderung von language (learning) awareness , und es ist von nachgeordneter Bedeutung, ob die von den Schülern entwickelten Lösungen in jedem Fall ‚fehlerfrei‘ sind. Pädagogischer Zugriffspunkt sind die Lernersprache und die Disambiguierung von englischen Strukturen in Bezug zu form- oder bedeutungsähnlichen Schemata aus anderen Sprachen. Da die meisten Schüler Englisch über eine lange Zeit belegen, sind dabei nicht nur die zuvor erworbenen Herkunftssprachen im Spiel, sondern ebenso die parallel zum Englischen gelernten Fremdsprachen. Es sind häufig die Lerner selbst, die derartige Verbindungen herstellen - die jedoch auch zugelassen werden müssen. Auf diese Weise kann das im Englischunterricht erworbene Selbstwirksamkeitserlebnis auf andere Sprachen übertragen bzw. ausgedehnt werden. Es bleibt allerdings zu klären, wie das derzeit noch vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Kompetenzaufbau im Englischen und Entwicklung von Mehrsprachigkeit in ein Gleichgewicht gebracht werden kann. Voraussetzung dafür ist ein Umdenken bei den Beteiligten (↗ Art. 25) und die Integration des Themas Mehrsprachigkeit in die verschiedenen Phasen der Englischlehrerbildung (↗ Art. 27, 28). Literatur Behr, U. (Hrsg.) (2005): Sprachen entdecken - Sprachen vergleichen. Kopiervorlagen zum sprachenübergreifenden Lernen Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein . Berlin. Cutrim Schmid, E. & Schmidt, T. (2017): Migration-Based Multilingualism in the English as a Foreign Language Classroom: Learners’ and Teachers’ Perspectives. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 28/ 1, 29-52. Elsner, D. (2010): „Ich habe was, das du nicht hast...“ - oder, welchen Mehrwert hat die 464 JennyJakisch Mehrsprachigkeit für das Fremdsprachenlernen? In: IMIS Beiträge 37, 99-120. Hallet, W. & Königs, F. 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In der Zwischenzeit wird als Synonym auch „migrantische Mehrsprachigkeit“ verwendet (vgl. Engin 2018). Besondere Relevanz erhält der Begriff durch die seit den 1960er Jahren anhaltende Migration nach Deutschland und der damit verbundenen Zunahme an Schülerinnen und Schülern, welche beim Eintritt in die Bildungsinstitutionen Kompetenzen in mehreren Sprachen aufweisen (↗ Art. 16). In einer „lebensweltlichen Mehrsprachigkeit“ befinden sich - neben Migrationskindern - auch Mitglieder autochthoner Minderheiten (in Deutschland: Dänen, Friesen, Sorben) (vgl. de Cillia 2010: 248); ihre (Minderheiten-)Sprachen können im Unterschied zu den meisten Sprachen der Migration in Schul-/ Unterrichtskontexten gelehrt und gelernt werden (↗ Art. 121, 122, 124). Inhaltlich abzugrenzen von der „lebensweltlichen Mehrsprachigkeit“ ist der Begriff der „fremdsprachlichen bzw. schulischen Mehrsprachigkeit“ (de Cillia 2010: 247 ff.), welche zur Beschreibung der Sprachpraxis von Schülerinnen und Schülern verwendet wird, die in ihrem Alltag nur eine Sprache gebrauchen, aber in Bildungsinstitutionen eine oder mehrere Sprachen als Fremdsprachen lernen. 2. Forschungsstand Die Erforschung des Phänomens der lebensweltlichen bzw. migrationsbedingten Mehrsprachigkeit wurde in den zurückliegenden Jahren maßgeblich durch die Fremdsprachen- und Tertiärsprachenforschung vorangetrieben, deren Erkenntnisinteresse im Wesentlichen auf die Frage fokussiert, welchen Einfluss Migrationssprachen auf das Erlernen L Vielsprachige Umwelten und individuelle Mehrsprachigkeit 466 HavvaEngin schulischer Fremdsprachen haben (↗ Art. 51, 85). In diesem Zusammenhang durchgeführte Untersuchungen zeigen auf, dass lebensweltliche Mehrsprachigkeit tatsächlich Effekte auf den schulischen Fremdspracherwerb hat, so dass verschiedene Modelle des multiplen Spracherwerbs diskutiert werden (vgl. z. B. Hu 2004). 3. Problemaufriss 2016 hatte nach Angaben des Mikrozensus 33 % der Schülerschaft in Deutschland einen Migrationshintergrund und wuchs potenziell mehrsprachig auf. In der Altersgruppe 4-6 Jahre liegt der Anteil bundesweit bei 64 %, wobei die größte Zahl (88,7%) in Offenbach/ Hessen lebt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Das Recht, eingewanderte Familiensprache(n) zu lernen und zu sprechen, ist in internationaler Perspektive durch die UN-Menschenrechtsbzw. UN-Kinderrechtskonvention abgesichert (vgl. Vereinte Nationen 1948; Vereinte Nationen 1989). Auf europäischer Ebene (↗ Art. 9, 12) ist lebensweltliche Mehrsprachigkeit als Ziel im Beschluss der Europäischen Kommission von 2008 festgelegt: „Das Erlernen einer einzigen Lingua franca reicht nicht aus. Jeder europäische Bürger sollte sich außer in seiner Muttersprache in mindestens zwei anderen Sprachen gut verständigen können.“ (Europäische Kommission 2003: 4) Untersuchungen über die Sprachpraxis migrationsbedingt mehrsprachiger Kinder (↗ Art. 3, 52) zeigen auf, dass eine zunehmende Zahl an Kindern und Jugendlichen im Alltag mindestens zwei Sprachen benutzt und schulisches Lernen für sie in mehrsprachigen Kontexten stattfindet (vgl. Statistisches Bundesamt 2017). Die abwechselnde Verwendung unterschiedlicher Sprachen im Alltag stellt für die lebensweltlich Mehrsprachigen die Normalität dar (↗ Art. 5). Sie verwenden bewusst verschiedene Sprachen in unterschiedlichen Lebens- und Bildungskontexten und reflektieren differenziert über ihr wechselndes Sprachverhalten gegenüber privaten und institutionellen Bezugspersonen. Die Aufteilung der Lebenswelt nach verschiedenen Sprachen prägt sich mit zunehmendem Alter weiter aus. Tracy weist darauf hin, dass auch die Lebensumstände eine Rolle für „Verwendungsgelegenheiten und -häufigkeiten“ spielen (vgl. Tracy 2008: 50 f.). Während „fremdsprachliche Mehrsprachigkeit“ hohe gesellschaftliche und bildungspolitische Anerkennung besitzt, wurde migrationsbedingte Mehrsprachigkeit lange Zeit als Gefahr für die Sprachentwicklung gesehen und grammatikalisch fehlerhafte Sprachproduktion als „doppelte Halbsprachigkeit“ ( semi bilingualism ) bewertet (vgl. Stölting 1980). Da Bildungsinstitutionen bisher auf das Phänomen der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit nicht nennenswert reagierten, finden Migrationssprachen in unterrichtlichen Lehr-/ Lernkontexten kaum Beachtung (↗ Art. 107, 108, 109). Die Gründe liegen hauptsächlich in der fehlenden politischen Anerkennung von Migrationssprachen als Bildungssprache und ihrem geringen Prestige in der deutschen Gesellschaft. Nach Franceschini bringen hiesige Bildungsinstitutionen lebensweltlich mehrsprachige Schülerinnen und Schüler durch Ausblenden ihrer Familiensprachen „zuerst zur ortsüblichen ‚richtigen‘ Einsprachigkeit“ (Franceschini 2009: 65 f.), um sie dann - über den Weg des Fremdsprachenunterrichts - zusammen mit den anderen anerkannt mehrsprachig zu machen. An der schulischen Ausblendung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und damit der 467 100. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit Aufrechterhaltung des „monolingualen Habitus“ (vgl. Gogolin 1994) von Schule äußerte sich in der Vergangenheit vielfach Kritik; auch weil Studien nachweisen, dass Migrationssprachen ein großes gesellschaftliches Potenzial darstellen. So belegen Untersuchungen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), dass in vielen Berufsfeldern migrantische Sprachen eine wichtige Rolle spielen und bei den Auszubildenden und Berufstätigen nachgefragt werden, obwohl ihre Vermittlung in der Ausbildung nicht vorkommt (vgl. Riehl 2017: 4). 4. Praxismodelle Angesicht der anhaltenden Zuwanderung nach Deutschland und der Zunahme migrantischer Mehrsprachigkeit (vgl. Massumi et al. 2015) wird der Ruf nach Berücksichtigung dieser in schulisch-unterrichtlichen Kontexten im Sinne einer „integrativen Mehrsprachigkeit“ (vgl. Kurtz 2011) lauter - auch mit Verweis auf bereits existierende Modelle (↗ Art. 2, 3). Zu den bekanntesten gehört der „language awareness Ansatz“, der ins Deutsche mit „Sprachbegegnung“ („Begegnungssprachen“), „Sprachensensibilisierung“ oder „Sprachenbewusstheit“ übersetzt wird (vgl. Oomen-Welke 2010). In der schulischen Praxis zielt er darauf ab, die von den Schülerinnen und Schülern mitgebrachten (Familien-)Sprachen in das Lernen einzubinden, beispielsweise durch den Vergleich der Schriftsysteme, Einübung von Ausspracheregeln oder der Betrachtung unterschiedlicher sprachlicher Metaphern mit dem Ziel, Sprachaufmerksamkeit zu fördern und Akzeptanz für Migrationssprachen zu gewinnen. In Nordrhein-Westfalen kommt ein weiteres Modell zum Einsatz, in dessen Rahmen im naturwissenschaftlichen Fachunterricht Migrationssprachen aktiv verwendet werden. Erste vorliegende Ergebnisse machen deutlich, „dass Lernende, die zweisprachig (Deutsch-Türkisch) aufwachsen, in der Lage sind, Sprachkompetenzen zwischen den beiden Sprachen zu übertragen“ (vgl. Akin & Bülbül 2017), d. h. fachliches Wissen in beiden Sprachen aufzubauen. Translanguaging stellt einen dritten Ansatz dar, migrantische Mehrsprachigkeit in das unterrichtliche Lernen einfließen zu lassen (↗ Art. 5). Das Modell wird erfolgreich an US-amerikanischen Schulen erprobt; es liegt eine umfangreiche Handreichung für Lehrkräfte vor, die didaktisch-methodische Ansätze wie ‚multilingual reading partners‘, ‚multilingual writing partners‘ oder die mehrsprachige Umsetzung von Mapping-Verfahren enthält (vgl. Gantefort & Sánchez Oroquieta 2015). 5. Perspektiven Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen ist prospektivisch festzuhalten, dass auch zukünftig eine bedeutende Zahl von Kindern und Jugendlichen lebensweltlich viel- und mehrsprachig aufwachsen wird und die Ausblendung gesellschaftlicher Viel- und Mehrsprachigkeit in Bildungskontexten einer Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen gleichkommt. Benötigt wird die Entwicklung einer Didaktik und Methodik migrantischer Mehrsprachigkeit sowie geeigneter Lehr-/ Lernmaterialien. Hierfür müssen seitens der Politik und der Bildungsadministration angemessene Sach- und Personalmittel für die flächendeckende Umsetzung in allen Schularten bereitgestellt werden. Mit diesem Schritt ist die Chance gegeben, migrationsbedingte bzw. le- 468 HavvaEngin bensweltliche Mehrsprachigkeit als Bildungsressource aufzuwerten und für alle Lernenden zu öffnen. Literatur Akın, S. & Bülbül, N. (2017): Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen. Eine empirische Interventionsstudie zur Wirksamkeit von schreibfördernden Konzepten im Fachunterricht und im Herkunftssprachenunterricht Türkisch. [https: / / www.profale.uni-hamburg.de/ congress/ 6-timetable/ abstracts-barrier-free/ 2-3-buelbuel-nur-akin-sinan.docx]. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016 . 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Beispiel: das Sorbische, das in Sachsen als autochthone Minderheitensprache unterrichtet wird und das als Brückensprachen zu anderen slawischen Sprachen genutzt werden kann (↗ Art. 124). Grenzregionen sind Gegenstand interdisziplinärer Forschungen ( transfrontalier ) und finden zunehmendes wissenschaftliches Interesse ( border studies ). Zu den Zielen der Regionen gehört es durchweg, die Kenntnis der Nachbarsprachen zu fördern. Unter Nachbarsprachendidaktik im engeren Sinne verstehen wir speziell die Befassung mit den Sprachen der Nachbarregionen und im weiteren Sinne die Didaktik aller an der betreffenden Grenze einbezogenen Sprachen. Grenzregionen fördern die Nachbarsprachendidaktik unterschiedlich. Nachbarsprachenkompetenz in Grenzregionen ist Teil einer umfassenderen Kompetenz, die wir als der Grenzkompetenz bezeichnen: die Fähigkeit, unter den spezifischen Bedingungen der Grenznähe zu leben und tätig zu sein (Raasch 2008). Grenze und Grenzregion weisen neben ihrer Denotation auch unterschiedliche und variierende konnotative Merkmale auf, deren Inhalte und Änderungen beobachtet werden sollten, um die Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen kontinuierlich zu aktualisieren. Wir konzentrieren uns hier auf die deutsche Seite der Grenzregionen (vgl. Geiger-Jaillet 2010) und skizzieren grenzdidaktische Besonderheiten. 2. Problemaufriss Grenzregionen haben gemeinsame Merkmale, die für die Begründung einer Didaktik der Grenzregionen und die Förderung von Grenzkompetenz relevant sind. Allen Regionen sind gewisse Ziele gemeinsam: • die Pflege gut nachbarschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen und den Institutionen der Region • die Förderung der Kenntnis der Nachbarsprache und der Nachbarkultur • die Förderung der Zusammenarbeit in Wirtschaft und Kultur • die Interpretation der regionalen Förderungsmaßnahmen als ein Beitrag zum Zusammenwachsen Europas (↗ Art. 12) 470 AlbertRaasch Im Kontext der "geolinguistischen" Dimension ist die Didaktik der Grenzregion eine grenzregionale Sprachen- und Kulturdidaktik. Diese muss sich nach den jeweils spezifischen Bedingungen der Grenzregionen ausrichten (weitere Informationen über die Webseite: https: / / sites.google.com/ site/ raaschalbert/ nachbarsprachen-in-europischen-grenzregionen). 3. Charakteristika der Grenzregionen aus didaktischer Sicht Im Folgenden seien die Besonderheiten der einzelnen Europaregionen vorgestellt: 3.1. Grenzregion zu Polen: Mecklenburg-Vorpommern Das Interesse an der Nachbarsprache ist eher gering. Die Zahl der Lerner im Vorschul- und Schulalter wächst jedoch nicht zuletzt durch den Zuzug polnischer Familien. Das Polnische ist für einen Teil der Schülerinnen und Schüler eine Fremdsprache, für den anderen die Familiensprache. Das gemeinsame Lernen verlangt eine spezielle didaktische Steuerung und bietet erhebliche Vorteile - nicht zuletzt für das interkulturelle Lernen. Auf kommunaler Ebene werden Förderungsprogramme wie „Nachbarspracherwerb von der Kita bis zum Schulabschluss“ angeboten (↗ Art. 52, 53, 54). 3.2. Grenzregion zu Polen: Brandenburg In Brandenburg hat die Zusammenarbeit mit Polen Verfassungsrang (Art. 1, Abs. 2 der Landesverfassung). Die Breite der Förderung der Nachbarsprache und -kultur reicht vom Kindergarten bis zu Hochschule. Zu den wichtigsten Akteuren gehören die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und das mit der Posener Universität gemeinsam betriebene Collegium Polonicum in Słubice. Zum Auftrag der Viadrina gehören neben der Förderung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kultur und der europäischen Integration die Vermittlung sprachlicher und zielbzw. interkultureller Kompetenzen. Das Sprachenzentrum führt u. a. Projekte zur Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) durch. Unterrichtssprachen sind neben Deutsch: Englisch, Französisch, Polnisch und Spanisch. Für die regionale Entwicklung besonders interessant ist das Zentrum für interdisziplinäre Polenstudien (www.zip.europa-uni.de/ de/ index.html). Die Universität ist europäisch und weltweit mit zahlreichen Universitäten verbunden. Dementsprechend bietet sie ihren Studierenden ein breites Spektrum an Möglichkeiten, fremde Sprachen zu erlernen oder zu pflegen. Hierzu zählt auch die Durchführung modularer Angebote im UNIcert®-System. Ein weiterer Schwerpunkt betrifft die Förderung der Nachbarsprachen im Rahmen von Kitas. Die Länder Brandenburg und Berlin streben einen „gemeinsamen deutsch-polnischen Verflechtungsraum“ für das Jahr 2010 an. 3.3. Grenzregionen zu Polen und Tschechien: Sachsen, Bayern, Thüringen Das Friedrich-Schiller-Gymnasium Pirna ist das einzige deutsch-tschechische Gymnasium in Deutschland. Sachsen und Bayern beteiligen sich mit Tschechien an dem Interreg- Projekt "Nachbarwelten" (2016-2020): Ziel des Angebots Ich zeig‘ dir meine Welt ist es, Kindern, Eltern und Fachkräften Berührungsängste vor der Nachbarsprache oder dem 471 101. Didaktikder Grenzregionen Nachbarland zu nehmen. In Sachsen besteht ein Schwerpunkt in der Förderung zweisprachiger Kitas. Geplant sind auch die weitere Zusammenarbeit zahlreicher Institutionen und der Ausbau des Tschechisch-Angebots sowie der Ausbau beruflicher Praktika beiderseits der Grenze. 3.4. Grenzregion zur Schweiz und zu Frankreich: Oberrhein (TRiRhena) Ziel ist die Schaffung einer kulturellen und wirtschaftlichen trinational-bilingualen Identität in der Bevölkerung des Oberrheins. Zum Leben in dieser Region gehört selbstverständlich der Erwerb der anderen Sprache, insbesondere auch zur Nutzung des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes. Dabei steht die Konzentration auf das Französische im Vordergrund. Der Ausbau des bilingualen Sachfachunterrichts (↗ Art. 111) ist ein erfolgversprechender Weg (Schlemminger et al. 2015). 3.5. Grenzregion zu Frankreich, Belgien und Luxemburg: Großregion (Saar-Lor-Lux) Das Französisch-Angebot ist im Saarland vielfältig (vgl. die Frankreichstrategie, Feuille de route II ). Neben deutsch-französischen Kitas verfügt das Saarland über ein differenziertes Schulsprachenangebot im Bereich der weiterführenden Bildungsgänge, wo Französisch als erste Fremdsprache breit belegt wird. Ziel der Frankreich-Strategie der Landesregierung ist es, möglichst viele Saarländerinnen und Saarländer mehrsprachig zu machen (↗ Art. 2, 21). Französisch kann dabei eine zweite Verkehrssprache werden. In der Tat lässt sich statistisch belegen, dass Schüler, deren fremdsprachlicher Bildungsgang mit Französisch einsetzte, operable Kenntnisse in mehr als einer modernen Fremdsprache (Englisch) erwerben, als solche, deren Fremdsprachenbiographie mit Englisch oder Latein beginnen. Das Saarland nutzt diesen Vorteil, wie Daten aus dem Jahre 2001 belegen (Meißner & Lang 2005). Bislang sind die langfristigen Folgen der so geförderten Mehrsprachigkeit (und der erwarteten höheren Kompetenzen im Bereich Sprachen und europäischer Mobilität) nicht erforscht. Auch die Universität des Saarlandes ist - ähnlich wie die Viadrina für Polen - ein ‚Leuchtturm‘; hier, was Frankreich und die Frankophonie betrifft. Schwerpunkte in der Lehre liegen auch hier in der Mehrsprachigkeitsdidaktik, Interkomprehensionsdidaktik und Austauschdidaktik (↗ Art. 27, 28). Es überrascht nicht, dass das Saarland die Zusammenarbeit mit Institutionen pflegt und entsprechende Maßnahmen bereithält oder unterstützt (Frankreichzentrum; border studies , trinationale konsekutiver Masterstudiengang, DFJW., die Nachbarregion zur gemeinsamen Ausbildung für Französisch-Lehrkräfte und zur Rekrutierung muttersprachlicher Erzieher und Erzieherinnen zum Einsatz im Saarland). Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Verwaltung sollen Sprach- und Kulturkenntnisse bei ihrer Einstellung vorweisen bzw. begleitend zu ihrer Tätigkeit erweitern. Das Saarland will seine Rolle als Brücke von und nach Frankreich ausbauen. Dem Ziel der Mehrsprachigkeit dient das EU-Projekt Trilingua (↗ Art. 12). 3.6. Grenzregion zu den Niederlanden: die Euregio Maas-Rhein Die Region mit den Zentren Aachen, Maastricht, Eupen/ Lüttich ist eingebettet in einen differenzierten Großraum. In Bezug auf die Fremdsprachen ist die Förderung des Niederländischen hervorzuheben, das in seiner all- 472 AlbertRaasch tagssprachlichen Varietät gelehrt werden soll (van der Kooi et al. 2000). 3.7. Grenzregion zu Dänemark: Schleswig-Holstein Hier überschneiden sich Nachbar-, Regional- und verschiedene Minderheitensprachen. Betroffen ist die Sprache der nationalen dänischsprachigen Minderheit, sodann die der Friesen, der Roma und Sinti sowie der Sprecher des Plattdeutschen (↗ Art. 121, 122, 123, 125). Die Landesregierung stärkt dieses einzigartige Profil mit einer eigenständigen Sprachenpolitik für die Regional- und Minderheitensprachen Schleswig-Holsteins. „Wir streben an, eine breitere Öffentlichkeit und ein tieferes Bewusstsein für den Wert und die Bedeutung von Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit zu erreichen“, so der Ministerpräsident des Landes (Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein 2015: 5). Nach seiner Einschätzung werden „Dänischkenntnisse (…) künftig im gesamten Land an Bedeutung gewinnen. (…) insbesondere für die berufliche Bildung“ (ebd.: 9). Die Minderheit fördert das Dänische: Im Landesteil Schleswig gibt es zahlreiche dänische Kindergärten und Schulen, darunter 2 Gymnasien. Die deutschen Schulen in Schleswig bieten z.T. Dänischunterricht an. Die Zahl der Belegungen ist niedrig (nimmt aber leicht zu). Erwartungsgemäß ist die Grenznähe ein positiver Faktor für die Wahl des Dänischen, doch gibt es zu wenig Dänischlehrer. Dänisch als Brückensprache zu den skandinavischen Sprachen steht nicht ernsthaft zur Diskussion (↗ Art. 59). Literatur Geiger-Jaillet, A. (Hrsg.) (2010): Lehren und Lernen in deutschsprachigen Grenzregionen. Frankfurt. Landesregierung des Saarlandes (s. d.): Frankreich-Strategie, Feuille de route II, 2017-2019. Saarbrücken. Meißner, F.-J. & Lang, A. (2005): Fremdsprachenunterricht in Deutschland in der Jahrgangsstufe 12 des Gymnasiums im Europäischen Jahr der Sprachen (2000/ 1). In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 16/ 2, 187-216. Ministerium für Bildung des Saarlandes (2011): Kernlehrplan Französisch, Grundschule, Klassenstufen 3/ 4. Saarbrücken. Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2015): Handlungsplan Sprachenpolitik der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung im Kontext von Regional- oder Minderheitensprachen für die 18. Legislaturperiode. Kiel. Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2016): Grünbuch: Landesentwicklungsstrategie Schleswig-Holstein 2030 . Kiel. Putsche, J. & Faucompré, C. (2017): Lehrkontext Grenzregion: Affekt und Kognition von FremdsprachenlehrerInnen der Nachbarsprache. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 22/ 2, 143-154. [https: / / tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/ index.php/ zif/ article/ view/ 865/ 866]. Raasch, A. (2008): Grenzkompetenz. Eine Qualifikation für Europa. In: U. Schwarz (Hrsg.): Projekt : Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen . Brüssel, 6-10. Schlemminger, G., Le Pape-Racine, C. & Geiger-Jailler, A. (2015): Sachfachunterricht in der Fremdsprache Deutsch oder Französisch. Methodenhandbuch zur Lehreraus- und -fortbildung . Hohengehren. Université de la Grande Région/ Universität der Großregion: Master in Border Studies [http: / / www.uni-gr.eu/ de/ Master_Border_Studies]. 473 102. DieaudiovisuelleGestaltvonSprachenundihreBedeutungfürdenSpracherwerb van der Kooi, A., Sassen, D. & Spicker-Wendt, A. (Red.) (2000): Euregionale schoolcontacten. Vademecum voor Nederlands-Duitse schoolpartnerschappen / Schulbegegnungen. Vademecum für deutsch-niederländische Schulpartnerschaften. [https: / / vdocuments.mx/ vademecum-voor-duits-nederlandse-schoolpartnerschappen-uit-2000.html]. Albert Raasch 102. Die audiovisuelle Gestalt von Sprachen und ihre Bedeutung für den Spracherwerb 1. Zur audiovisuellen Gestalt von Sprache Die audiovisuelle Gestalt von Sprache umfasst Sprachverwendung, wie sie in audiovisuellen Medien entgegentritt. Sie ist stets Ausdruck von in situ realisierter Mündlichkeit. Demgemäß erfolgt die Sprechsituation durch das Zusammenspiel des akustischen und des visuellen Kanals. Die audiovisuelle Sprachverarbeitung kennt als weiteres Kennzeichen neben den aktivierten Kanälen die Unterscheidung zwischen der Opposition von geplanter und spontaner Rede. Demgemäß nennen Söll & Hausmann (1985) vier Arten der Mündlichkeit: phonisch-graphisch (spontan/ verschriftet) phonisch-akustisch (spontan voziert), graphisch-geschrieben (rein nicht-voziert gelesen) und graphisch-akustisch (voziert, laut vor- oder abgelesen). Die wichtige Unterscheidung umfasst noch nicht die die verbalen Zeichen umgebende Sprechsituation mit ihren wesentlichen Komponenten von Symptom, Appell und Darstellung im Sinne Bühlers (1934) bzw. den Makrodeterminanten von Ich-Hier-Jetzt (Sprechabsicht, Code-Wahl, Adressat). Im Modell von Koch & Oesterreicher (1985) lassen sich demgemäß konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit einerseits und das benutzte Medium andererseits unterscheiden. Die mediale Perspektive beschreibt, ob ein Text schriftlich oder akustisch realisiert wird. Die konzeptionelle Perspektive beschreibt die stilistische Realisierungsart einer Äußerung, welche unterschiedlich stark mündlich oder schriftlich ausgeprägt sein kann. Es gibt also mündlich vorgetragene Texte, deren Sprechplanung trotzdem konzeptionell schriftlich ist (beispielsweise Vorträge oder Predigten), und medial mündliche Texte, die auch konzeptionell mündlich sind (simultaner Dialog, Polylog, z. B. Schimpfen). Während konzeptionell schriftliche Äußerungen eine orthographische Oberfläche und i. d. R. grammatisch akzeptable Satzstrukturen aufweisen, ist die Sprachverwendung in konzeptionell mündlichen Texten durch kommunikative Nähe geprägt und zeichnet sich durch Wiederholungen, Abbrüche sowie unvollständige und grammatisch abweichende oder (gemessen an der Schriftnorm) fehlerhafte Äußerungen aus. Im Unterschied zu gesprochener Sprache, bei der sich die Kommunikationspartner ‚face to face‘ am gleichen Ort befinden (↗ Art. 103), ist durch Medien übertragene Sprache von dieser primären gemeinsamen Situiertheit der Dialoganten entbunden. Audiovisuelle Medien können allerdings einen Teil der fehlenden gemeinsamen Situiertheit zwischen Sender und Empfänger kompensieren, indem sie die Sprechsituation visuell abbilden und Sprechen an Auge und Ohr bringen; so wie Video-Tele- 474 KatrinBiebighäuser fonie, wie sie z. B. in interkulturellen Lerntandems (↗ Art. 45) genutzt wird. Der Informationsaustausch geschieht hier quasi synchron. Anders ist dies beim Ansehen eines Films oder einer Fernsehsendung, wobei hier die Realisierung von Sprache spontan (Talkshow) oder geplant (Weihnachtsrede des spanischen Königs) sein kann. Somit können Rezipienten unterschiedliche sprachliche Register durch audiovisuelle Medien kennenlernen. 2. Das Verstehen audiovisuell gebotener Sprache Um erfolgreich audiovisuelle Sprache (‚Spreche‘) rezipieren zu können, ist eine ausreichend ausgebildete Kompetenz des Hörverstehens sowie des Hörsehverstehens erforderlich. Diese umfassen die Verfügbarkeit der sprachlichen Mittel einschließlich der sie begleitenden extraverbalen Signale und den quasi simultan ablaufenden, evtl. anschließenden Verarbeitungsprozess, bei dem dem Gehörten Sinn zugeschrieben wird. Nach Grotjahn (2012: 75) besteht der Hörverstehensprozess aus drei Komponenten. Die metakognitive Komponente überwacht den Hörprozess. Hierzu definiert sie beispielweise, mit welchem Ziel man etwas hört (Hinhören, Zuhören, Mithören) und wählt dementsprechend eine geeignete Hörstrategie aus. Die zentrale Verarbeitung umfasst den verbalen Input. Hierbei werden Wortgrenzen erkannt, das Gehörte mit gespeicherten Einheiten des mentalen Lexikons abgeglichen, syntaktisch analysiert und einer Plausibilitätsprobe zugeführt. Das Verstehen wird in dieser Phase auch durch die Prosodie des Textes unterstützt. Für die Auswahl von Hörtexten ist es wichtig, dass Wort- und Satzakzente richtig gesetzt sind, die Intonation, Satzmelodie und Rhythmus des Gesagten korrekt sind und Pausen an entsprechenden Stellen gemacht werden. Damit Input zu Intake umgeformt werden kann, wird eine weitere Wissenskomponente benötigt. Diese stellt kulturspezifisch-thematisches und allgemeines Wissen bereit. Es dient dazu, dem Gehörten über die schon erwähnten Plausibilitätsproben hinaus eine konkrete kulturelle Deutung zuzuordnen. Die mitgelieferten visuellen Informationen können bei audiovisuellen Medien wie auch in einem face to face -Gespräch das Verstehen der Sprachstromes ebenso unterstützen wie weitere akustische Signale (Hintergrundgeräusche, Musik). Die Fähigkeit, zusätzliche visuelle Informationen zu verarbeiten und mit dem sprachlichen Input zu verbinden, umfasst das Hörsehverstehen. Durch die Darstellung des kommunikativen Kontexts, durch metasprachliche Informationen, die die Sprecher in einem audiovisuellen Beitrag liefern ( face work , Gestik, Mimik) kann der Verstehensprozess unterstützt werden (↗ Art. 33). Rezipienten können aber auch Strategien für die Verbesserung des Hör- und Hörsehverstehens identifizieren und ihr Hörseh-Verhalten adaptieren. Insbesondere für den letzten Bereich ist die Möglichkeit, einen kurzen Filmausschnitt mehrere Male anzusehen und anzuhören, eine große Hilfe. Während des Hörverstehensprozesses laufen parallel zwei Teilprozesse ab: Top down -Prozesse verlaufen von der Lautkette zur Identifikation der semantischen Einheiten ( data driven ). Bottom up -Prozesse verlaufen von der Analyse der in der Sprechsituation zutage tretenden Informationsabsicht (des Senders) zu den erkannten Sprachdaten der Signifikanten-Ebene ( concept driven ). Beide Verarbeitungsrichtungen greifen stark ineinander. Zu beachten ist allerdings, dass beide Prozesse in angemessener Weise miteinander interagieren müssen. Starke Mitteilungserwartung 475 102. DieaudiovisuelleGestaltvonSprachenundihreBedeutungfürdenSpracherwerb können zu Lücken und Missverständnissen führen, bei zu starker Fokussierung auf die Dekodierung des Sprachflusses kann dieser zwar entsprechend segmentiert, aber nicht semantisch und inhaltlich verstanden werden. Auch können fehlendes Wort- und Kulturwissen das Verstehen im weiteren Verlauf beeinflussen. Je unvertrauter ein Hörer mit der Sprache und Sprechsituation ist, desto stärker muss er top down -Prozesse einsetzen. Hierdurch verläuft der Verstehensprozess langsamer, und ein Verstehen wird erschwert, da der Hörer keine Zeit hat, über ‚schwierige‘ Stellen nachzudenken (vgl. Aguado in Vorb.). Das Hörverstehen fällt in diesem Fall aus dem engen Zeitfenster, das der weiterlaufende Redefluss setzt. Bei aufgezeichneten Inhalten hingegen können diese mehrmals wiederholt angesehen oder auch pausiert werden. Shadowing (Nachsprechen in der Reichweite des echotischen Gedächtnisses) erlaubt die Fokussierung auf die sprachliche Oberfläche und das Verständnis, ein weiterer Rezeptionsdurchgang die Konzentration auf das inhaltliche Verstehen und dessen Deutung. Beides sind Aspekte, die das Verstehen fördern und es erlauben, auf einzelne Aspekte der audiovisuellen Sprachverwendung besondere Aufmerksamkeit zu richten. 3. Die Rolle der audiovisuellen Sprache für den Spracherwerb Sprachliche Oberflächenmerkmale (Wörter, Akzente, Sprechgeschwindigkeit u. a. m.) sowie ungewohnte Laute und Lautkombinationen innerhalb eines flüssig gesprochenen Textes identifizieren zu können sind nur wenige Beispiele für die Ansprüche an das Hörverstehen. Stetige und vielfältige Wiederholungen in den verschiedenen Formaten zur Schulung des Hör- und Hörsehverstehens sind erforderlich (hierzu auch Kurtz 2014; Meißner 2015); nicht zuletzt um Lernende mit den entsprechenden Strategien bekannt zu machen. Durch die wiederholte und am besten regelmäßige Rezeption fremdsprachlicher audiovisueller Medien, auch in Situationen, in denen kein explizites Sprachenlernen stattfindet, kann die Herausbildung dieser Hörkompetenzen und der hierfür benötigten Hörverstehensroutinen unterstützt werden, wird doch die Hör- und Hörsehkompetenz mit jeder gelungenen Dekodation gefestigt. Lernende haben bei der Rezeption von audiovisuellen Medien in der Fremdsprache die Möglichkeit, authentische Sprachverwendung zu beobachten (und zu verarbeiten), ohne dabei in die Situation zu kommen, als Gesprächspartner unmittelbar auf das Gehörte reagieren zu müssen. Hierdurch können sie ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Bereiche, beispielsweise auf die sprachliche Oberfläche, die Sprachverwendung, die Intonation des Gesagten und die Diskursstrategien richten. Die sprachlichen Vorbilder in audiovisuellen Medien sind authentisch, meist handelt es sich um das Sprechen von Muttersprachlern, bei professionellen Produktionen von Menschen mit entsprechender Sprecherausbildung. Lernende können so verschiedene sprachliche Vorbilder rezipieren und auch interpersonale sowie dialektale und diastratische registerspezifische Unterschiede kennenlernen. Der Einsatz audiovisueller Medien im Fremdsprachenunterricht wird didaktisch befürwortet und verschiedene Lernpotenziale werden hierzu benannt. So beschreibt Schwerdtfeger (2001, 1025) für Übungen mit Filmen im DaF-Unterricht, dass diese „die in den Filmen gesprochene Sprache also nicht isoliert im Zentrum, sondern immer nur eingebunden in das Gewebe aller anderen filmischen Zeichen“ thematisieren sollen, um eine 476 KatrinBiebighäuser filmspezifische Wahrnehmung zu schulen. Henseler et al. (2011,8) betonen ebenfalls die Wahrnehmung von Filmen als „eigenständige Kunstwerke“, deren Behandlung im Unterricht das Ziel beinhalte, dass Lernende zu kompetenten Leserinnen und Lesern bewegter Bilder werden, „indem sie mit den spezifischen Darstellungsverfahren von audiovisuellen Medien wie Kameraperspektive, Schnitt und Montage vertraut [gemacht werden]“ (ebd.). Auf den Spracherwerb mit Hilfe audiovisueller Medien bezogene Studien sind bislang selten (↗ Art. 51). Unter den wenigen vorhandenen Studien wird vor allem der Zuwachs an rezeptivem oder produktivem Wortschatz durch den Konsum audiovisueller Medien fokussiert, zudem sind vor allem Vorschulkinder die erforschten Rezipienten in den Studien (vgl. z. B. Linebarger 2001; Kirch & Speck-Hamdan 2007; Kirch 2009). Fisch (2004) beschreibt in seinem Capacity-Modell, dass Edutainment-Formate im Fernsehen narrative und edukative Elemente beinhalten. Der Zuschauer muss Inhalte auf beiden Ebenen im Arbeitsgedächtnis verarbeiten. Wenn ihn diese Aufgabe überfordert, werden das Lernen sowie das Nachvollziehen der Handlung erschwert. Förderlich sei für die Verarbeitung sowohl der narrativen als auch der edukativen Ebenen, wenn diese nah beieinanderliegen, sich also gegenseitig bedingen, sowie wenn die Passung des Programms zu den Fähigkeiten, Vorkenntnissen und Interessen des Lernenden möglichst groß ist. In ungesteuertem Hörsehverstehen können Rezipienten selbst wählen, welche fremdsprachlichen audiovisuellen Medien sie konsumieren möchten. Dies führt dazu, dass sie solche Beiträge auswählen, welche für sie thematisch relevant sind. Die subjektive Bedeutsamkeit von gewähltem Input verbessert dessen Verarbeitung und erhöht die Bereitschaft des wiederholten Ansehens. Insgesamt sind die sofortige und weltweite Zugänglichkeit audiovisueller Beiträge in diversen Sprachen und die direkte Kommunikation über das Internet zentrale Charakteristika der Möglichkeiten des gegenwärtigen Fremdsprachenerwerbs, die unsere Welt und auch den Spracherwerb beeinflussen und sicher weiterhin Gegenstand der Forschung sein werden. Literatur Aguado, K. (in Vorb.): 17. Sprachliche Teilkompetenzen (1): Mündlichkeit. In: C. Altmayer, K. Biebighäuser, S. Haberzettl & A. Heine (Hrsg.): Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache . Stuttgart. Bühler, K. (1934): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache . Stuttgart. Fisch, S. M. (2004): Children’s Learning. From Educational Television, Sesame Street and Beyond . Mahwah, NJ. Grotjahn, R. (2012): Hörverstehen: Konstrukt und Messung. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 41/ 1, 72-86. Henseler, R., Möller, S. & Surkamp, C. (2011): Filme im Englischunterricht. Grundlagen, Methoden, Genres. Seelze. Kirch, M. & Speck-Hamdan, A. (2007): One two three mit Dora, Elefant & Co. Englischlernen im Vorschulalter - Sendungskonzepte im Vergleich. In: TelevIZIon 20/ 1, 18-13. Kirch, M. (2009): Englisch lernen mit dem Fernsehen. Eine Studie über die Eignung des Fernsehens im Rahmen des frühen Fremdsprachenerwerbs am Beispiel der Sendung Something Special . Münster. Koch, P. & Oesterreicher, W. (1985): Sprache der Nähe, Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld 477 103. MehrsprachigeKommunikation face to face  von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 48, 15-43. Kurtz, J. (2014): Transformative Mündlichkeit: Eine Frage des Taktes. In: E. Burwitz-Melzer, F. Königs & C. Riemer (Hrsg.): Perspektiven der Mündlichkeit. Arbeitspapiere der 34. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen, 117-126. Linebarger, D. L. (2001): Summative Evaluation of Dora the Explorer. Part 1: Learning Outcomes. Kansas City. Meißner, F.-J. (2015): Hör- und Hörsehverstehen fördern, messen, prüfen. In: E. Klein & F.-J. Meißner (Hrsg.): Hör- und Hörsehverstehen fördern und prüfen. Akten des Aachener GMF-Tages 2014 . Giessener Fremdsprachendidaktik: online 5, 15-63. [http: / / geb. uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2016/ 11822/ pdf/ GiFon_5.pdf]. Schwerdtfeger, I. C. (2001): Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts. In: G. Helbig, L. Götze, G. Henrici & H.-J. Krumm (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch , Berlin, New York, 1017-1028. Söll, L. & Hausmann, F. J. (1985): Gesprochenes und geschriebenes Französisch . 3. Aufl. Berlin. Katrin Biebighäuser 103. Mehrsprachige Kommunikation face to face 1. Begriffliches Sowohl aus der Perspektive des sprachlichen Lernens als auch der mehrsprachigen Praxis kommt der Kommunikation im face to face -Modus ein zentraler Platz zu. In diesem Modus drückt sich die Unmittelbarkeit des persönlichen Kontakts und die wechselseitige Wahrnehmung dadurch aus, dass die Interaktionsbeteiligten über das Sprechen hinaus auch die Gestik und Mimik, die Körpersprache, die Kleidung, den Habitus sowie die Handlungen wahrnehmen und für das Verstehen des Gesagten - oder auch des Nichtgesagten - heranziehen. Face to face -Kommunikation bedeutet, dass die an der Interaktion Beteiligten situativ miteinander verbunden sind (zur historischen und sprachphilosophischen Dimension, vgl. Gessinger 1994). Die Situation des Zusammentreffens, bestimmt durch Ort, Zeit, Umstände und Motive, Hierarchie-Verhältnisse, Genderaspekte, Eloquenz, gestische Akzentuierungen etc., ist in einen auch kulturell und/ oder institutionell geprägten Handlungsrahmen eingebettet, der wiederum das Sagbare - ob mit Lautsprache oder mit Gebärden - , das Verstehbare, die kommunikativen Rituale und die Gesprächsorganisation (z. B. turn -Wechsel, Eröffnung, Abschluss des Gesprächs, Direktheit etc. (vgl. Henne & Rehbock 1995, Dausendschön-Gay et al. 2015) maßgeblich strukturiert. Mehrsprachige face to face -Kommunikation kann als prototypisch für Situationen mehrsprachiger Erziehung angesehen werden, wie sie in mehrsprachigen familiären Kontexten erfolgt (vgl. Hélot 2007). Für mehrsprachige face to face -Kommunikation ist konstitutiv, dass die 478 JürgenErfurt Beteiligten - in mehr oder weniger gleicher Weise - ebenfalls mehrsprachig sind oder sie zumindest in der Lage sind, Gesprächsstrategien zu mobilisieren (Art. 42), die die Verständigung über sprachliche Grenzen hinweg ermöglichen. 2. Theoretische Grundlagen In theoretischer Hinsicht sind für die mehrsprachige Kommunikation im face to face -Modus drei Betrachtungsweisen von Bedeutung: die Sprachtheorie des Psychologen Karl Bühler (1879-1963), die face -/ Imagetheorie des Soziologen Erving Goffman (1922-1982) und die Theorie sprachlicher Interaktion des Soziolinguisten John Gumperz (1922-2013). In dem 1934 erschienen Werk „Sprachtheorie“ entwickelt Bühler sein Organon-Modell der Sprache ( organon , griech. für Werkzeug, Instrument), mit welchem er sowohl die Funktionen von Sprache - Ausdruck, Appell, Darstellung - identifiziert als auch ein Modell menschlicher Kommunikation entwirft, in welchem das „Zeigefeld der Sprache“ (die Situation des hier-jetzt-ich -Systems) und das „Symbolfeld der Sprache“ (der Kontext) die beiden Quellen darstellen, aus denen die Interpretation der sprachlichen Äußerung gespeist wird (vgl. S. 149). Seit den 1950er Jahren befasste sich der Soziologe Erving Goffman mit der Interaktion von Menschen. Von den Grundelementen ihres Verhaltens im Zusammensein wie Blicke, Gesten, Haltungen und sprachliche Äußerungen ausgehend, widmet er sich mit dem Band „Interaction Ritual“ (1967, dt. 1971) dem menschlichen Verhalten in direkter Kommunikation. Darin nimmt das Konzept von face hinsichtlich der Gesichtswahrung bzw. der Imagepflege einen zentralen Platz ein. In Hinblick auf die mehrsprachige Dimension von face to face -Kommunikation können die Forschungen von John Gumperz zur sprachlichen Interaktion und zum Codeswitchen als bahnbrechend angesehen werden. Mit den Bänden „Discourse Strategies“ (1982) und „Language and Social Identity“ (1982) legte er in begrifflicher wie methodischer Hinsicht einflussreiche und inzwischen als klassisch zu bezeichnende Untersuchungen zur mehrsprachigen Praxis vor (↗ Art. 33). 3. Manifestationen und Prozesse mehrsprachiger face to face- Kommunikation 3.1. Sprachenlernen und sprachlicher Ausbau Sowohl der Anthropologe M. Tomasello (2008) als auch der Sprachwissenschaftler U. Maas (2008) zeigen anhand ihrer jeweiligen Erkenntnisse und Daten auf, wie sich Kinder im Kontakt mit ihren Bezugspersonen Sprache und Sprachen aneignen (↗ Art. 51, 52). Face to face -Kommunikation, mit Stimme, Sprache, Gesten und Mimik, ist hierbei die elementare Form sprachlichen Lernens im Kontext dessen, was Tomasello als ‚kooperative Kommunikation’ bezeichnet. Maas (2008) wiederum zeigt, wie die sprachlichen Ressourcen des Menschen im Verlauf der Sprachbiographie ausgebaut werden und die verschiedenen Artikulationsformen der Sprache mit Domänen der Sprachpraxis korrelieren. Grundsätzlich - und zugleich vergröbernd - ist davon auszugehen, dass der Ausbau der sprachlichen Ressourcen auf die Differenzierung von sprachlichen Registern ausgerichtet und ein intimes (familiales), ein informell-öffentliches und ein formelles Register zu unterscheiden sind (Maas 2008: 23). Während im intimen 479 Register die Mündlichkeit in Form der face to face -Kommunikation dominiert, erfolgt in differenzierten Gesellschaften der schriftkulturelle Ausbau im formellen Register (ebd.). Der sprachliche Ausbau erstreckt sich auf ein hoch komplexes Zusammenspiel von sprachlichen und nonbzw. paraverbalen Zeichen, die innerhalb von Gemeinschaften in einem hohen Maße konventionalisiert sind (vgl. Morris 1994, Bührig & Sager 2005). Beim mehrsprachigen Ausbau des intimen Registers, z. B. in zwei-/ mehrsprachigen Familien, lernen die Kinder die redebegleitende Gestik und Mimik als Zeichen aus den jeweiligen sprachlichen Situationen heraus zu verstehen und in ihre (Körper-)Sprache zu inkorporieren. Hingegen sind dem Erlernen dieser Zeichen im Fremdsprachenunterricht, der in erster Linie auf den Ausbau des formellen Registers ausgerichtet ist, deutliche Grenzen gesetzt. 3.2. Code-switchen Das Code-Switching (↗ Art. 5) ist als geradezu exemplarischer Ausdruck von mehrsprachiger face to face -Kommunikation anzusehen. Ob es sich um einen Wechsel zwischen Schwyzerdeutsch und Standarddeutsch oder um ein Changieren zwischen Französisch und Deutsch handelt, immer stellt das Code-switchen eine spezifische Kompetenz dar, Sprachen zu mischen und mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Codeswitchen als spezifische Praxis mehrsprachiger Menschen bedeutet, dass äquivalente Ressourcen, mehr oder weniger ausgebaut und mehr oder weniger virtuos genutzt, in beiden Sprachen verfügbar werden und die Sprecher somit zwischen anderssprachigen Alternativen umschalten können. In diesem Sinne unterscheidet sich das Codeswitchen von ‚sprachlichen Mischungen‘, die dadurch entstehen, dass in einer der beiden Sprachen ein bestimmtes Wort entweder nicht zur Verfügung steht (z. B. Eigennamen wie Arbeitsamt in einem Gespräch zwischen türkischsprachigen Personen in Deutschland) oder als fremdsprachliche Einheit entlehnt wird („ wart mal, ich hol mir’n Kaffee to go“). 3.3. Gebärdensprachen und Mehrsprachigkeit In der Kommunikation von und mit gehörlosen Personen treten die Gebärdensprachen an die Stelle der „Lautsprachen“. Für gehörlose Kinder und für Kinder von gehörlosen Eltern ist die jeweilige Gebärdensprache die oder eine Erstsprache (vgl. Delamotte 2016). In der Kommunikation mit der sprachlichen Mehrheitsgesellschaft erlernen die Gehörlosen, mit der hier dominanten Sprache umzugehen, weshalb gehörlose Personen in der Regel zwei- oder mehrsprachig sind und so auch in face to face -Situationen kommunizieren. Als weitere Sprache kommt bei Gehörlosen jene hinzu, die sie für die schriftsprachliche Kommunikation nutzen. 4. Strategien der Überwindung von Kommunikationsblockaden Was aber passiert, wenn sich Personen begegnen, die sich in ihren Sprachen nicht oder nicht ohne Weiteres verständigen können? Wie die Forschungen zur rezeptiven Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und Interkomprehension (↗ Art. 56) zeigen (vgl. Klein & Stegmann 2000), ist es möglich, sich für das Verstehen von Äußerungen in anderen Sprachen beim Hören (↗ Art. 75), und noch mehr beim Lesen (↗ Art. 76), eine Reihe von Brücken zu bauen, die je nach dem Grad der Verwandtschaft der Sprachen zumindest näherungsweise 103. MehrsprachigeKommunikation face to face  480 JürgenErfurt eine Verständigung ermöglichen. Eine andere Strategie als die rezeptive Sprachverarbeitung stellt die Kommunikation in einer lingua franca dar. Dabei handelt es sich um eine für bestimmte Zwecke funktionierende Verkehrssprache, wie sie beispielsweise für die Häfen des Mittelraums seit dem Mittelalter belegt ist. Dass die Idee einer lingua franca auch heute noch attraktiv ist, zeigen die Sprachdiskussionen in der Schweiz (↗ Art. 118). In Anbetracht wachsender Probleme der Verständigung zwischen den Bewohnern der verschiedenen Sprachregionen halten zahlreiche Schweizer Kantone und Wirtschaftsunternehmen die Einführung von Englisch als lingua franca , sozusagen als fünfte Landessprache in der bisher viersprachigen Schweiz, für geboten (↗ Art. 13, 97, 98). Die wohl am weitesten verbreitete Strategie der Überwindung von Blockaden in der face to face- Kommunikation besteht in Form des Dolmetschens von Gesprächen, wie es beispielsweise im Begleit- und im Flüsterdolmetschen auf simultane oder konsekutive Art praktiziert wird. Das Hinzuziehen einer sprachvermittelnden Person ist keineswegs nur eine Angelegenheit für Spezialisten, sondern nicht selten auch die Aufgabe von Kindern der zweiten Generation von Migranten, die die Eltern bei Behördengängen oder Arztbesuchen begleiten. Literatur Bühler, K. (1978): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache . Frankfurt a. M. Bührig, K. & Sager, S. F. (Hrsg.) (2005): Nonverbale Kommunikation im Gespräch . Duisburg. Dausendschön-Gay, U., Gülich, E. & Krafft, U. (Hrsg.) (2015): Ko-Konstruktionen in der Interaktion. Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen . Bielefeld. Delamotte, R. (2016): Education langagière dans des contextes de surdité. In: C. Hélot & J. Erfurt (Hrsg.): L'éducation bilingue en France: Politiques linguistiques, modèles et pratiques . Limoges, 265-272. Gessinger, J. (1994): Auge-& Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen; 1700- 1850 . Berlin, New York. Goffman, E. (1967/ dt. 1971): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation . Frankfurt a. M. Gumperz, J. J. (1982): Discourse Strategies . Cambridge. Gumperz, J. J. (1982): Language and Social Identity . Cambridge. Hélot, C. (2007): Du bilinguisme en famille au plurilinguisme à l'école . Paris. Henne, H. & Rehbock, H. (1995): Einführung in die Gesprächsanalyse . Berlin u. a. Klein, H. G. & Stegmann, T. D. (2000): Euro- ComRom ‒ Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können . Aachen. Maas, U. (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension . Göttingen. Morris, D. (1994): Bodytalk. The Meaning of Human Gestures . New York. Tomasello, M. (2008): Origins of Human Communication . Cambridge, Mass. Jürgen Erfurt 104. Critical Incidents Eine deutsche Gastdozentin geht über den Campus ihrer chinesischen Hochschule. Eine Chinesin, die ihr begegnet, fragt, ob sie denn nicht friere, was die Dozentin verneint. Nach kurzer Zeit begegnet ihr eine andere chinesische Bekannte und fragt sie wieder, ob sie denn nicht friere. Wieder verneint 481 104. CriticalIncidents sie. Als ihr aber schließlich noch von einer dritten Chinesin dieselbe Frage gestellt wird, ist sie total verunsichert und weiß überhaupt nicht mehr, was sie denken soll. 1. Grundlage und Anwendungen Critical Incidents sind kleine Erlebnisse oder Episoden in interkulturellen Situationen, in denen zumindest einer der Partner ein Problem sieht, wo ihm etwas unangenehm aufgefallen ist, wo er eine Reaktion oder einen Verlauf unerwartet empfand, was er auf kulturelle Differenzen zurückführt. Die Grundidee der Critical Incidents allgemein stammt von John C. Flanagan (1954) und wurde im Bereich von Flugsystemen und der Ausbildung von Piloten entwickelt. Mit dieser Methode sollte ein Fundus geschaffen werden für eine Analyse und eine Kategorisierung der Probleme am Arbeitsplatz. Im Wesentlichen kamen drei Verfahren zur Anwendung: • Beobachter berichteten über das Verhalten von Probanden, • Probanden wurden in strukturierten Interviews befragt, • Crewmitglieder berichteten über auffällige Vorkommnisse, sei es mit Kollegen oder mit Maschinen. Wichtig war: Es sind Erlebnisse einzelner Personen und einzelne Vorkommnisse. Voreilige Verallgemeinerungen sollte es nicht geben. Die Methode war besonders für die Beurteilung komplexer Situationen gedacht. Sie hat in verschiedenen Bereichen Anwendung gefunden, besonders im Bereich (interkultureller) Kommunikation (↗ Art. 33). Insbesondere ging es darum, Interaktionen und Abläufe zu optimieren, um Reibungsverluste zu minimieren. Heutzutage wird die Critical Incidents-Methode auch in den Bereichen Medizin, Lehrerausbildung, Flugausbildung, Beratung und Organisationsentwicklung verwendet. Fiedler et al. (1971) übernahmen schon in den 1970er Jahren die Methode in die interkulturelle Interaktionsforschung. In ganz entsprechender Art und Weise hat in Deutschland Alexander Thomas (2005; auch schon Markowsky & Thomas 1995) Critical Incidents erhoben. In seiner empirischen Forschung wurden Personen zu ihren Erfahrungen in interkulturellen Begegnungen befragt. In seiner Analyse und Auswertung konstruierte er aus diesen Daten sog. Kulturstandards, im Grunde Stereotype für eine Kultur (↗ Art. 32). Kommunikationsbezogene interkulturelle Critical Incidents werden vor allem didaktisch genutzt. Fruchtbar für Trainingszwecke wurden Critical Incidents, die konfliktreich und zugleich rätselhaft sind, die aber trotzdem ziemlich eindeutig interpretiert werden könnten. Fiedler et al. (1971) und Triandis (1995) konzipierten eine Trainingsmethode, die auf der Analyse von Critical Incidents basierte, den culture assimilator . Für ein solches Trainingsprogramm wurden verschiedene Formate entwickelt. Einen Überblick gibt Dadder (1987). Das gängigste Format ist die Aufarbeitung mit Multiple-Choice-Fragen in folgenden Entwicklungsschritten: 1. Experten sichten erhobene Critical Incidents und unterziehen sie einer eingehenden Analyse. Zu jedem Critical Incident geben sie ein Urteil in Form einer eigenen Reaktion oder Erklärung ab. Aus diesen Reaktionen werden Leitfragen und typische Erklärungen entwickelt, die die Experten wiederum beurteilen. 482 HansJürgenHeringer 2. Aus den destillierten Fragen werden drei oder vier für den Multiple Choice ausgewählt. 3. Zu jeder Frage wird ein erklärender Text als Reaktion entworfen. 4. Für die korrekte Lösung erhalten die Lerner einen ausführlichen Kommentar als sog. Background. Je nach didaktischer Absicht kann ein Critical Incident modifiziert und didaktisiert werden. Wie weit das didaktisch zu verantworten ist, bleibt fraglich. 2. Kritik und Weiterführungen Ein Critical Incident ist oft ein vielschichtiges Beispiel, das in solch einem Training auf einen Punkt getrimmt wird. Eine mögliche Antwort wird präferiert und als die richtige hingestellt. Für die didaktische Nutzung werden die Critical Incidents öfter konstruiert oder entstellt oder - entgegen dem Grundkonzept - gar nur erfunden. In realer Kommunikation geht es aber immer darum, Alternativen für die Deutung zu gewinnen und realistisch zu beurteilen. Ein Critical Incident liegt uns immer als Text vor, meistens als eine Erzählung. Er hat einen Erzähler, der erzählt ‒ hinterher. Weniger wichtig ist dabei, ob er sich korrekt erinnert (auf Faktizität kommt es nicht in erster Linie an, eher auf didaktische Fruchtbarkeit). Ein offener, adäquater, didaktischer Umgang mit Critical Incidents ist die gemeinsame Interpretation in der Lerngruppe. Sie sollte nicht das Rätselhafte eskamotieren, sondern eine Art Klärung suchen im methodischen Bewusstsein, dass es um Textdeutung geht. So wird das didaktische Potenzial der Critical Incidents erst richtig ausgeschöpft. Dazu einige methodische Gesichtspunkte: 1. Wer erzählt jeweils? Der Erzähler verbindet eine Intention mit seiner Erzählung. • Er möchte vielleicht vom Partner Teilnahme und Rat. • Er möchte den Fall über die Erzählung klären. • Er möchte vielleicht ◦ sich in der Erzählung rausstreichen. ◦ in gutem Licht erscheinen. ◦ zeigen, dass die übrigen Beteiligten irgendwie Fehler machen usw. 2. Erzählungen haben einen Aufbau und eine konventionelle Form. Beides ist kulturgeprägt. Beides bestimmt den manifesten Critical Incident: • Er könnte eine orientierende Einleitung und einen moralbietenden Schluss enthalten. • Er könnte in einer bestimmten Erzählsprache gehalten sein, in einem typischen Tempus usw. • Er soll vielleicht auf eine Pointe hinführen. In der Erzählung fehlen authentische Elemente der Originalkommunikation und meist, was voranging und was folgte. Das Setting mag irgendwie vorkommen, aber genügt es für die Deutung? Erzählungen haben nur einen Erzähler. Er kann ein Beteiligter sein. Aber die anderen Beteiligten bleiben stumm. So bleiben gerade ihre Perspektiven im Dunkeln. In der Kommunikation ist aber das gemeinsame Wissen ( common grounds ) entscheidend. Besonders kritisch in der didaktischen Nutzung, wenn der Incident aus der Perspektive eines Dritten dargestellt ist. Qua Erzählung liegt ein Critical Incident in Form eines geschlossenen Texts vor. Darin ist nur zu finden, was darin geschrieben steht. 483 104. CriticalIncidents Jede reale Situation ist um ein Vielfaches komplexer, als es ein geschriebener Incident je sein könnte. Alles Fehlende müssen Rezipierende oder Lernende im Geiste auffüllen. Jedes gute Verständnis muss über den Text hinausgehen und ist nur im Zusammenhang möglich. Dazu muss ein Zusammenhang erarbeitet werden, vor allem wenn das Verstehen fraglich ist. Im realen Erleben kann ein Lerner Neues entdecken, etwas, das ihm vorher entgangen ist, was er vergessen hat, was ihm unwichtig erschien. Im Critical Incident muss er dies konstruieren. In diesem Schritt steckt viel Potenzial für interkulturelles Lernen (↗ Art. 32). In der textuellen Abgeschlossenheit haben die Critical Incidents durchaus etwas gemeinsam mit dem realen Erleben. Um etwas zu verstehen, sind wir immer angewiesen auf unser eigenes Wissen. Und wir wenden es unbewusst im Verstehensprozess an. In ungewöhnlichen Fällen, wenn Verstehen nicht wie selbstverständlich funktioniert, sind wir auf Vermutungen (Hypothesen) angewiesen. Darum ist Vermutungskompetenz für die interkulturelle Kommunikation so wichtig (↗ Art. 33). 3. Erweiterungen Didaktische Critical Incidents sind klassischerweise die Critical Incidents anderer. Für das individuelle Lernen muss man sich nicht darauf beschränken. Lernende wie Lehrende können sich ihre eigene Sammlung anlegen. Dies setzt allerdings ein Minimum an Sensibilität gegenüber Fremdheit voraus (↗ Art. 36). Zu den Critical Incidents können sie durch Befragung kommen oder nach eigenem Erleben. Zu beachten könnten folgende Kriterien sein: • Begegnung und erwarteter Verlauf sind für einen Partner oder für beide bedeutsam. • Ein Partner erlebt öfter solche unerwarteten Verläufe. • Die Partnerreaktionen sind mit den vertrauten kulturellen Schemata nicht mehr zu verstehen. • Der Partner reagiert auf die eigenen Handlungen und auf Verständigungsversuche nicht adäquat, weil er sie vielleicht nicht versteht. • Ein Handelnder fühlt sich unsicher in einer Situation, in der seine gewohnte Orientierung, seine Verhaltensroutinen nicht mehr greifen. Für die didaktische Aufbereitung von Critical Incidents kann man diesen einen sprechenden Titel geben, eine Art Slogan, der das Ganze auf den Punkt bringt. Außerdem wären diesem Critical Incident Lernziele zuzuordnen, die zu erreichen sind. Es gibt auch zarte Versuche, individuelle Critical Incidents im Storytelling zu behandeln. Dies scheint aber methodisch noch nicht ausgereift, bleibt eher im Alltagswissen (Heringer 2015, 9.4). Lehrreich kann es sein, Critical Incidents zu provozieren durch „Garfinkeln“, einer gewagten Methode des Soziologen Garfinkel, die besonders für die Ethnomethodologie entwickelt wurde: Man verletzt eine akzeptierte Regel oder Norm und schaut, was passiert (Rafalovich 2006): • Wie fühlen Sie sich, wenn Sie es tun? • Wie reagieren die anderen? • Sie befragen nach Schluss die Beteiligten, wie sie sich gefühlt haben. Lehrreich ist: Wie wird kommunikativ mit Abweichungen oder Ausrutschern umgegangen? In interkulturellen Darstellungen und Programmen recht dramatisch. Tatsächlich - 484 HansJürgenHeringer vor allem, wenn jemand Ausländer ist - aber lockerer. Die kommunikativen Heilmittel sind schon vorgesehen. Literatur Cushner, K. & Brislin, R. W. (1996): Intercultural Interactions: A Practical Guide . Thousand Oaks. Dadder, R. (1987): Interkulturelle Orientierung. Analyse ausgewählter interkultureller Trainingsprogramme . Saarbrücken. Fiedler, F. E., Mitchell, T. & Triandis, H. C. (1971): The Culture Assimilator. An Approach to Cross-Cultural Training. In: Journal of Applied Psychology 55/ 2, 95-102. Flanagan, J. C. (1954): The Critical Incident Technique. In: Psychological Bulletin 51/ 4. [https: / / www.apa.org/ pubs/ databases/ psycinfo/ cit-article.pdf]. Heringer, H. J. (2015): Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte . 5. Aufl. Tübingen. Markowsky, R. & Thomas, A. (1995): Studienhalber in Deutschland. Interkulturelles Orientierungstraining für amerikanische Studenten, Schüler und Praktikanten . Heidelberg. Rafalovich, A. (2006): Making Sociology Relevant: The Assignment and Application of Breaching Experiments. In: Teaching Sociology 34, 156-163. Thomas, A. (2005): Kultur und Kulturstandards. In: A. Thomas, E. Kinast & S. Schroll-Machl (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation , Bd. 1, Grundlagen und Praxisfelder . Göttingen, 19-31. Triandis, H. C. (1995): Individualism and Collectivism . San Francisco. Hans Jürgen Heringer 105. Deutschkenntnisse und Integration Vor dem Hintergrund großer Migrationsbewegungen ist es für die Integration in die nationalen Bildungssysteme und Arbeitsmärkte der aufnehmenden Länder von besonderer Bedeutung, dass die Einwandererinnen und Einwanderer die Sprache der aufnehmenden Gesellschaft beherrschen. Denn vor allem dann gelingt es ihnen, den eigenen Bildungserwerb vorteilhaft zu gestalten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen (Esser 2006). Als belastbares Ergebnis verschiedener Bildungsvergleichsstudien kann konstatiert werden, dass zwei-, manchmal dreisprachige Lerner - im statistischen Mittel und ohne Differenzierung nach Sprachbzw. Herkunftsgruppen - schlechter abschneiden als die deutschsprachige Bevölkerung: So zeigen sich in der formalen Bildung Disparitäten zu Ungunsten von Lernerinnen und Lernern mit (sprachlichem) Migrationshintergrund (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). 1. Integration und Sprachkompetenzen - Zwei zentrale Begrifflichkeiten Der Zweitsprachenerwerb kann daher als eine notwendige Bedingung für gelingende Integration gelten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) definiert Integration als einen langfristigen Prozess des Ankommens und Einlebens in Deutschland sowie des Deutschlernens und als umfassende gesellschaftliche Teilhabe zum beiderseitigen Vorteil. Dabei können zur Gestaltung der Beziehung zwischen den Menschen aus der jeweiligen Herkunfts- und der Aufnahmekultur unterschiedliche Akkulturationsstrategien verfolgt werden. Nach Berry (u. a. 2001) wird in Abgrenzung zu Assimilation, Segregation und Marginalisierung von Integration bei Identifikation und Kontakt mit beiden Kulturen - Herkunfts- und Aufnahmekultur - gesprochen. Der Akkulturationsprozess ist komplex und wird von vielen verschiedenen Faktoren auf Individual- und Gruppenebene beeinflusst (z. B. Schmitt-Rodermund 2008): Zweifellos erleichtern schon vorhandene Kompetenzen in der Mehrheitssprache Deutsch Akkulturationsprozesse (↗ Art. 3, 4). M Herkunftssprachen und DaZ 486 AndreasSander,TheresaSchlitter-&Nele-McElvany Als Verständigungsmedium zwischen Migrantinnen und Migranten verschiedener Herkunftssprachen dient in Deutschland vorrangig Deutsch, und zwar in allen vier Teilkompetenzen (Sprechen und Schreiben, Hörverstehen und Lesen). Neben der zentralen Bedeutung von Sprachkompetenz (↗ Art. 106) für den Erfolg in Bildung und auf dem Arbeitsmarkt können solche Kompetenzen selbst auch als Ressourcen wirken, weiteres Lernen zu fördern und die gesellschaftliche Integration zu unterstützen (Esser 2006). Jedoch weisen in Deutschland (wie auch in Frankreich und in anderen Ländern der EU) Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund durchschnittlich geringere Sprachkompetenzen in der Sprache des aufnehmenden Landes auf als solche ohne Migrationshintergrund. Dies kann eine bedeutsame Ursache für Ungleichheiten bezüglich des Bildungserfolgs sein (z. B. Kempert et al. 2016). 2. Skizze des Forschungsstandes: Bildungserfolg und Sprachkompetenz bei migrationsbedingter Mehrsprachigkeit Der Bericht der Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016) beleuchtet auf empirischer Basis die Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund verschiedener Altersklassen. Demnach besuchten Kinder mit Migrationshintergrund durchschnittlich später und kürzer als ihre deutschsprachigen Peers den Kindergarten als erste für den Deutscherwerb bedeutsame Bildungsetappe. Auch in höheren Schulformen sind sie unterrepräsentiert. Gründe hierfür werden auch in den familiären sozioökonomischen Rahmenbedingungen gesehen. Die Disparität zeigte sich ebenfalls in den Schulabschlüssen. Der Hochschulbereich liefert ebenfalls einen vergleichbaren Befund. Auch in standardisierten Tests wiesen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wiederholt durchschnittlich niedrigere Kompetenzen auf. So stellte bspw. der Bildungstrend 2016 von Viertklässlerinnen und -klässlern mit Migrationshintergrund im Durchschnitt ein geringeres Kompetenzniveau im Lesen, Hörverstehen und in der Orthographie fest. Insbesondere war dies bei Kindern der ersten und zweiten Einwanderergeneration der Fall. Zugleich ergab sich sowohl nach Herkunftsländern als auch nach Bundesländern getrennt ein differenzierteres Bild (Rjosk et al. 2017). Ein ähnlicher Befund konnte im Deutschen bei Jugendlichen der neunten Jahrgangsstufe im Bildungstrend 2015 festgestellt werden. Dieser wird auch durch die ebenfalls regelmäßig stattfindenden international vergleichenden Untersuchungen wie der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) oder dem Programme for International Student Assessment (PISA) unterstützt. Für die IGLU-Studie ließen sich die Leistungsunterschiede im Leseverstehen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund am Ende der Grundschulzeit auf die Differenz von etwa einem Schuljahr quantifizieren (Wendt & Schwippert 2017). Begründet werden die Kompetenzunterschiede mit der unzureichenden Beherrschung des Deutschen (Kempert et al. 2016). Dies kann eine Erklärung dafür sein, dass eine Teilnahme am Unterrichtsgeschehen nur eingeschränkt möglich ist. Die fehlenden Deutschkenntnisse bestimmen natürlich auch das Leistungsprofil in anderen Fächern mit (z. B. Prediger et al. 2015, zur Bedeutung für die Mathematikleistungen). Die Betrachtung von integrationsbegünstigenden Faktoren haben motivationale Fakto- 487 105. DeutschkenntnisseundIntegration ren für den Erwerb des Deutschen und für die Integration in die deutsche Kultur in den Blick gerückt (z. B. Schotte et al. 2018). El-Khechen et al. (2016) zeigten bspw. einen positiven Zusammenhang zwischen der Nutzensbewertung der mehrheitlichen Umgebungs- und Schulsprache und der Lesekompetenzen auf. Die qualitative Studie von Mogli & Papadopoulou (2018) gibt Hinweise darauf, dass die Nützlichkeitsbewertung insbesondere im Hinblick auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt motivierend wirkte. Neben den Auswirkungen individueller Faktoren muss jedoch auch die Qualität des Kontaktes mit Deutsch und den Deutschsprachigen von der Alltagsbis zur Unterrichtskommunikation gesehen werden. Insgesamt ist somit festzuhalten, dass der Erwerb der deutschen Sprache von zentraler Relevanz ist und sowohl von individuellen als auch strukturellen Bedingungen, insbesondere in den Schulen, abhängt. 3. Praxisrelevanz Die Schulen gehen unterschiedlich mit Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) um. Neben verschiedenen Ansätzen, die nicht-deutschen Muttersprachen in den Regelunterricht einzubinden (z. B. submersiv, transitiv; Überblick: USDOE 2012), existieren Konzepte, die zusätzliche Sprachförderstunden und/ oder eine schrittweise Integration in den regulären Schulunterricht vorsehen. Seit einigen Jahren werden auch vermehrt sogenannte Vorbereitungs- oder Willkommensklassen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche eingerichtet. Zur Förderung der Sprachkompetenz können verschiedene Ansätze angewandt werden. Als ein auf rezeptive Kompetenzen gerichteter impliziter Förderansatz gilt nach Nakanishi (2015) das Extensive Reading : Lernende sollen selbstgesteuert, mithilfe der Lektüre von niedrigschwellig-schwierigen Texten ihre Lesekompetenz verbessern. Andere Studien verwiesen auch auf das didaktische Potential einer Kombination aus impliziten und expliziten Fördermaßnahmen (z. B. Stanat et al. 2012). Auch unabhängig von konkreten Sprachfördermaßnahmen ist die integrierende Wirkung von Schule und anderen Bildungseinrichtungen hervorzuheben. Insbesondere folgt hieraus lernerseitig eine Positivierung der Einstellungen gegenüber Bildung und die Reduktion von Stereotypisierungen (↗ Art. 34). Daneben leistet dies einen Beitrag zur sozialen Einbindung (↗ Art. 3, 4, 5) der Migrationsbevölkerung (Aktionsrat Bildung: vbw 2016: 258). 4. Diskussion und Perspektiven Die empirischen Befunde zeigen ein sowohl pädagogisch als auch gesellschaftlich zu beachtendes Handlungsfeld. Die sprachliche Seite der Integration ist ein Katalysator für die soziale Integration selbst, abgesehen von der Bedeutung für den schulischen und beruflichen Erfolg. Die frühestmögliche und wirksame Unterstützung (↗ Art. 52, 53, 54) erscheint als eine notwendige Vorrausetzung, um Disparitäten zu Lasten von Lernerinnen und Lernern mit sprachlichem Migrationshintergrund im Bildungssystem zu reduzieren. Verschiedene Gutachten und Studien sehen daher die sprachliche Integration auch als primäres Ziel des Bildungssystems (z. B. Aktionsrat Bildung: vbw 2016: 255). Analog sollten natürlich auch für erwachsene Einwanderinnen und Einwanderer zeitnah Sprachkurse in ausreichendem Umfang und bestmöglicher Qualität bereitgestellt werden. Wenngleich die Deutschkompetenzen eine besondere Bedeutung für die Integration von 488 AndreasSander,TheresaSchlitter-&Nele-McElvany Menschen mit Migrationshintergrund aufweisen, sollte dabei auch der gesellschaftliche und individuelle Mehrwert von herkunftssprachlicher Plurilingualität hinsichtlich identifikatorischer und sozialer Aspekte nicht außer Acht gelassen werden (↗ Art. 1). Dies empirisch zu analysieren, könnte eine Aufgabe zukünftiger Forschung sein. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration . Bielefeld. Berry, J. W. (2001): A Psychology of Immigration. In: Journal of Social Issues 57/ 3, 615-631. El-Khechen, W., Ferdinand, H. D., Steinmayr, R. & McElvany, N. 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(2015): Sprachkompetenz und Mathematikleistung - Empirische Untersuchung sprachlich bedingter Hürden in den Zentralen Prüfungen 10. In: Journal für Mathematik-Didaktik 36/ 1, 77-104. Rjosk, C., Haag, N., Heppt, B. & Stanat, P. (2017): Zuwanderungsbezogene Disparitäten. In: P. Stanat, S. Schipolowski, C. Rjosk et al. (Hrsg.): IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich . Münster, 239-275. Schmitt-Rodermund, E. (2008): Immigration und Akkulturation. In R. K. Silbereisen & M. Hasselhorn (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Jugendalters . Göttingen, 777-805. Schotte, K., Stanat, P. & Edele, A. (2018): Is Integration Always Most Adaptive? The Role of Cultural Identity in Academic Achievement and in Psychological Adaptation of Immigrant Students in Germany. In: Journal for Youth Adolescence 47, 16-37. Stanat, P., Becker, M., Baumert, J. et al. 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Herkunftssprachenunter richt und Deutsch als Zweitsprache 1. Begriffsdefinition Herkunftssprachenunterricht ist im deutschsprachigem Raum die Bezeichnung für ein schulisches Angebot, das sich an Migrationsschüler richtet und in der Sprache des Herkunftslandes, aus dem die Familie emigriert ist, stattfindet. In der Anfangsphase, d. h. in den 1980er Jahren, noch als „Muttersprachenunterricht“ bzw. „muttersprachlicher Ergänzungsunterricht“ bezeichnet, wurde der Name ab Mitte der 1990er Jahre zu „Herkunftssprachenunterricht“ abgewandelt, da in immer stärkerem Maße der soziologisch-biografische Aspekt bzw. das „kulturell-sprachliche Erbe“ der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler in den Fokus rückte (vgl. König 2016: 275). 2. Historische Entwicklung Historisch geht Herkunftssprachenunterricht auf das Jahr 1970 zurück, als der Europarat eine Resolution über die Schulbildung der Kinder von Wanderarbeitnehmern verabschiedete und einforderte, die zugewanderten Kinder innerhalb der jeweiligen nationalen Schulsysteme gesondert zu fördern, um ihre sprachlichen und kulturellen Verbindungen zu den Herkunftsländern - für den Fall der Rückkehr - zu wahren (vgl. Baur 2001: 45 f.). Sieben Jahre später wurde die Forderung mit der „Richtlinie über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern“ entsprechend präzisiert (vgl. Europarat 1977): • Die Aufnahmeländer bieten für die Migrantenkinder Unterricht in deren Herkunftssprachen an. Der Unterricht umfasst sowohl sprachliche als auch landeskundliche Lernziele (↗ Art. 35) und soll die Verbindungen zum Herkunftsland stärken. • Muttersprachlicher Unterricht und Regelunterricht sollen in Inhalten und Methoden aufeinander abgestimmt sein. • Die Aufnahmeländer treffen Maßnahmen für die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte, die den Muttersprachlichen Unterricht in den Herkunftssprachen erteilen. Gemäß der Richtlinie wurden in verschiedenen europäischen Ländern mit Gastarbeiterpopulationen schulische Angebote für Muttersprachenunterricht eingerichtet. 3. Muttersprachenunterricht in Österreich und in der Schweiz In Österreich wird „Muttersprachlicher Unterricht“ seit seiner Einrichtung in den 1970er Jahren unverändert in der Verantwortung des österreichischen Bildungsministeriums als „Wahlfach mit Teilnahmebescheinigung“ oder als „Wahlfach mit Benotung“ im Umfang von wöchentlich zwei bis fünf Stunden von staatlich angestellten Lehrkräften erteilt; er konzentriert sich hauptsächlich auf die Klassenstufen 1 bis 4 der Volksschule und wird in 25 Migrationssprachen angeboten (vgl. Reich 2016: 3). In der Schweiz heißt der Muttersprachenunterricht „Kurs in heimatlicher Sprache und Kultur - HSK“ und wird nicht staatlich verantwortet. Das bedeutet, dass für den Sprachunterricht die jeweiligen Sprachgemeinschaf- 490 HavvaEngin ten als Träger fungieren; diese sind - neben Einstellung und Bezahlung der Lehrkräfte - in Übereinkunft mit dem Schulträger bzw. der Bildungsadministration auch für die Koordination des Unterrichtsumfangs und der Unterrichtszeiten verantwortlich, da das Angebot zumeist außerhalb der regulären Unterrichtszeiten angeboten wird (vgl. Reich 2016: 3). Seit 2014 sind jedoch die „Kantone (…) durch Beschluss der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz verpflichtet, die Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur auch durch eigene Maßnahmen zu unterstützen. Diese Hilfen können (…) in offizieller Anerkennung der Kurse, im Erlass von Rahmenlehrplänen, in der Fortbildung von Lehrkräften, in der Überlassung von Räumen und Materialien, in der Information der Eltern und der weiteren Öffentlichkeit [bestehen].“ (Reich 2016: 3 f.). Die HSK-Kurse haben den Status eines ergänzenden Angebots zum Volksschulunterricht inne; die erbrachten Leistungen werden auf dem Zeugnis vermerkt. Insbesondere in den Großstädten sind die HSK-Kurse sehr gut nachgefragt; in Basel wird in 35, in Bern in 24 und Zürich in 27 Sprachen unterrichtet (vgl. Reich 2016: 3f.). 4. Mutter-/ Herkunftssprachenunterricht in Deutschland Auch in Deutschland (↗ Art. 11) wurde auf der Grundlage der Richtlinie von 1977 Muttersprachenunterricht eingeführt, jedoch nicht bundeseinheitlich, sondern jedes Bundesland traf landesspezifische Absprachen mit den konsularischen Vertretungen der Entsendeländer, was zur Ausbildung unterschiedlicher schulorganisatorischer Modelle führte, die in zwei Gruppen zusammenzufassen sind (Deutscher Bundestag 2017: 4). 4.1. Unterricht in Verantwortung der Entsendeländer In der ersten Gruppe befinden sich die Bundesländer Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein, welche den Unterricht personell und inhaltlich in die konsularische Verantwortung der Entsendeländer gaben. Dies bedeutet, dass die inhaltlich-organisatorische Ausgestaltung und die Lehrkräftezuweisung in der jeweiligen Verantwortung der Herkunftsländer liegt und nicht der staatlichen Schulaufsicht des Bundeslandes untersteht. Der zeitliche Umfang des Unterrichtsmodells beträgt zwischen zwei bis fünf Stunden; teilnehmende Schülerinnen und Schüler erhalten - auf der Grundlage von Bildungsplänen der Herkunftsländer - neben den Herkunftssprachen, auch eine Einführung in die Kultur des jeweiligen Landes. Da der Unterricht außerhalb der staatlichen Aufsicht und Stundentafel stattfindet, ist seine Teilnahme auf dem Zeugnis unter „Bemerkungen“ aufgeführt. 4.2. Unterricht in Verantwortung des jeweiligen Bundeslandes Im Unterschied zur ersten Ländergruppe führten die Länder Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz einen Muttersprachenunterricht in staatlicher Verantwortung ein. Hierzu wurden spezielle schulorganisatorische Regelungen getroffen, damit Lehrkräfte eingestellt und entsprechende Lehr-/ Lernmaterialien entwickelt wurden. Diese Bundesländer begründen ihr Angebot mit der zunehmenden Zahl an lebensweltlich vielsprachigen Kindern (↗ Art. 100) und mit dem Bildungsauftrag, dass Herkunftssprachenunterricht die Aufgabe erfülle, „die herkunftssprachlichen Fähigkeiten in Wort und 491 106. Herkunftssprachen unterrichtundDeutschalsZweitsprache Schrift zu erhalten, zu erweitern und wichtige interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln.“ (Reich 2014: 5) 5. Rechtliche und organisatorische Ausdifferenzierungen Reich spricht von zwei Entwicklungsphasen des Herkunftssprachenunterrichts. Die erste (d. h. die 1980er Jahre) wird als Zeitraum der Konsolidierung und des curricularen Ausbaus bezeichnet (vgl. Reich 2016: 5), als Bundesländer wie Rheinland-Pfalz, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen begannen, den Unterricht in staatlicher Verantwortung anzubieten und diesbezügliche Bildungspläne und Lehr-/ Lernmaterialien zu entwickeln. Das Bundesland Berlin ging einen eigenen Weg und installierte Mitte der 1980er Jahre - neben dem Konsulatsunterricht - einen Modellversuch „Türkisch als Herkunftssprache anstelle der ersten bzw. zweiten Fremdsprache“ als schulisches Regelfach (↗ Art. 109). Es wurde an mehreren Schulen erprobt, konnte sich als erstes Fremdsprachenangebot gegenüber Englisch und Französisch jedoch nicht durchsetzen und blieb nur als zweite Fremdsprache auf einige Schulen beschränkt (vgl. Reich 2016: 6). Die zweite Phase begann Anfang der 1990er Jahre und markierte den Beginn weiterer konzeptioneller Ausdifferenzierungen in verschiedenen Bundesländern, wie in Berlin die Gründung bilingualer Staatlicher Europaschulen ab 1992 u. a. mit den Sprachkombinationen Deutsch-Italienisch, Deutsch-NeuGrounded , Deutsch-Polnisch, Deutsch-Portugiesisch, Deutsch-Russisch, Deutsch-Spanisch und Deutsch-Türkisch - und damit der Aufnahme von Migrationssprachen ins schulische Regelangebot (↗ Art. 115). Ebenfalls in den 1990er Jahren entschieden die Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen, Herkunftssprachen ab der Sekundarstufe I ins schulische Fremdsprachenangebot aufzunehmen (vgl. Reich 2016: 6). In diesem Zusammenhang begann Nordrhein-Westfalen ab 1996 an der Universität Duisburg-Essen mit der Ausbildung von Lehrkräften (↗ Art. 27, 28) für das Fach Türkisch; Hamburg richtete im gleichen Jahr ebenfalls einen entsprechenden Lehramtsstudiengang ein (vgl. Neumann & Häberlein 2001: 175). Eine gegenteilige Entwicklung vollzog sich dagegen in Bayern und Hessen: Sie stellten ihr Herkunftssprachenunterricht-Angebot ein und überließen den Unterricht den Entsendeländern (vgl. Reich 2016: 6). Einzig Baden-Württemberg beließ die rechtlichen und schulorganisatorischen Rahmenbedingungen bis heute unverändert, nämlich in der Verantwortung der Entsendeländer (Engin 2018: 47). 6. Aktuelle Ausdifferenzierungen Seit 2016 nahmen die öffentlichen Diskussionen um den bildungs- und integrationspolitischen Stellenwert von Herkunftssprachenunterricht an Intensität zu. Mit Verweis auf die lebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) einer zunehmenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern fordern die Gewerkschaft GEW sowie Migrantenselbstorganisationen die Bundesländer auf, Herkunftssprachenunterricht als Regelangebot zu installieren und allen Interessierten zu öffnen. Sie bemängeln insbesondere die bestehende Praxis hinsichtlich des Konsulatsunterrichts und den Umstand, dass die Lehrkräfte weiterhin aus dem Ausland kommen und dadurch weder auf die spezifische sprachliche (zweisprachige) und soziokulturel- 492 HavvaEngin le (bikulturelle) Situation der Migrantenkinder vorbereitet sind noch Methoden einsetzen, um eine Kooperation mit dem Regelunterrichts umzusetzen (vgl. Engin 2018: 47). Als Folge der Kritik am Konsulatsmodell haben die Bundesländer Berlin und Saarland ab Schuljahr 2018/ 19 begonnen, Herkunftssprachenunterricht in staatlicher Verantwortung anzubieten und Lehrkräfte einzustellen. In Berlin wird an 20 Grundschulen Herkunftssprachenunterricht realisiert (↗ Art. 54, 55) und soll auf weitere Schulstandorte ausgeweitet werden (Martens 2018: 8). Im Saarland wird staatlich verantworteter Herkunftssprachenunterricht für die Klassenstufen 6 bis 8 in den Sprachen Russisch, Polnisch, Türkisch, Arabisch und Neugriechisch angeboten (vgl. Ministerium für Bildung und Kultur Saarland 2018). 7. Herkunftssprachenunterricht unter Legitimationsdruck Der Herkunftssprachenunterricht hat knapp vierzig Jahre nach seiner Einführung - sei es als Konsulatsunterricht oder staatlich verantwortet - seine Sonderstellung behalten und steht unter Legitimationsdruck. Seine Gegner argumentieren, dass er den Deutscherwerb erschwere (vgl. Hopf 2005). Obwohl diese Position durch Studien widerlegt wurde (vgl. Krompàk 2015: 69 ff.), hält sie sich weiterhin in öffentlichen Diskussionen, auch weil die Herkunftssprachen „als Bedrohung des Deutschen angesehen [werden]“ (Reich 2016: 11 f.). Für Krompàk erhält die Position durch die „Überbetonung der Wichtigkeit des Deutschen als Schlüssel zum Bildungserfolg“ (Krompàk 2015: 72) seitens der Bildungspolitik seine Legitimationsgrundlage, verbunden mit dem Argument, dass Herkunftssprachenunterricht eine integrationshemmende Wirkung habe, welche die Identifikation mit der hiesigen Gesellschaft erschwere (vgl. Looden 2016). 8. Perspektiven Angesichts anhaltender Legitimationsdiskurse verlangen Wissenschaftler (↗ Art. 16) einen Perspektivwechsel und fordern, Herkunftssprachenunterricht bildungspolitisch und pädagogisch aufzuwerten, um damit ein Signal in Richtung Überwindung des ethnozentrischen und monolingualen Habitus der deutschen Schule zu setzen (vgl. Krompàk 2015; Fürstenau 2011; Reich 2016). Die Aufnahme von Herkunftssprachenunterricht in den Regelkanon sieht die Forschung als langfristige Perspektive gegeben und nur im Rahmen eines gesamteuropäischen Kontextes realisierbar, in den Migrationssprachen neben den Nationalsprachen sowie Regional- und Minderheitensprachen ihren gleichberechtigten Platz erhalten (vgl. Reich 2016: 11). Angesichts anhaltender Deutschprobleme von zugewanderten Schülern gewannen in den 1990er Jahren Fragestellungen hinsichtlich neuer sprachdidaktischer Zugänge für den Deutschunterricht mit dieser Schülerklientel an Bedeutung, die um die Jahrtausendwende in die Entwicklung von Sprachstandsdiagnoseinstrumenten, DaZ-Handreichungen und Unterrichtsmaterialien mündeten, auch weil die Bildungsadministrationen in den Bundesländern - angesichts gestiegener Schülerzahlen mit Migrationshintergrund erkannten - dass dringender Handlungsbedarf in den Schulen entstanden war. Bis in die Gegenwart hinein liegt daher der bildungspolitische Hauptfokus auf der Sicherstellung angemessener schulunterrichtlicher Rahmenbedingungen für den DaZ-Unterricht. Gemäß seiner didaktisch-methodischen Ausrichtung 493 106. Herkunftssprachen unterrichtundDeutschalsZweitsprache fokussiert DaZ auf das Erlernen von Deutsch als Zweitsprache, ohne dass eine substanzielle Einbeziehung der Erst-/ Herkunftssprachen gegeben bzw. vorgesehen ist. Insofern kann mit Recht festgehalten werden, dass im deutschsprachigen Raum die entscheidenden Forschungsimpulse zur Rolle von Herkunftssprachen beim Zweit-/ Fremd-Sprachenerwerb seitens der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) erfolgten. Literatur Baur, R. S. (2001): Die Didaktik der Herkunftssprachen in zweitsprachlicher Umgebung als Aufgabe der Lehrerbildung an deutschen Universitäten. In: EliSe: Essener Linguistische Skripte - elektronisch 1, 45-58. Deutscher Bundestag (2017): Türkischer Konsulatsunterricht. Dokumentation WD 8-300-038/ 17. 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In 25 Ländern Asiens und Afrikas ist es offizielle Amtssprache. Des Weiteren spielt das Arabische in allen islamisch geprägten Ländern eine große Rolle. Aufgrund der politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Nahen Osten und der damit verbundenen Flucht- und Migrationsbewegungen hat sich das Arabische in Deutschland zu einer der meistgesprochenen Minderheitensprachen entwickelt. Die Anzahl der arabischsprachigen Personen in Deutschland kann nur aus Statistiken zur ausländischen Bevölkerung abgeleitet werden. Mittlerweile liegt sie bei über einer Million (eigene Schätzung aufgrund der Angaben des Statistischen Bundesamtes 2018). Die meisten von ihnen stammen aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Nach 2015 hat sich die Zahl der Arabischsprachigen mindestens verdoppelt. Alleine die Anzahl der seit 2011 aus Syrien stammenden neu Zugewanderten betrug im Jahr 2018 rund 800.000, darunter 36 Prozent Kurden (Mediendienst). Die Syrer stellen somit nach den türkisch- und polnischstämmigen Migranten die drittgrößte Migrantengruppe in Deutschland. Die Migration der letzten Jahre hat das Arabische auf den zweiten Platz der meistgesprochenen Migrantensprachen in Deutschland nach dem Türkischen (↗ Art. 109) geführt. Diese Ausgangslage hat sprachlich und kulturell zu massiven Verschiebungen der Migrationsbevölkerung geführt. Arabisch stellt nun die häufigste Herkunftssprache in jenen Bildungsbereichen dar, wo der Erwerb des Deutschen eine elementare Rolle spielt. Während das Türkische bis 2016 als die verbreitetste Herkunftssprache von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in allgemeinbildenden und beruflichen Schulen galt, stellt das Arabische mittlerweile mit ca. 300.000 Schülern (das entspricht rund einem Drittel der Schülerschaft mit Migrationshintergrund) die häufigste Herkunftssprache im deutschen Schulsystem (↗ Art. 105, 106) dar. Ein weiterer relevanter Bildungsbereich neben allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sind die Integrationskurse. Auch hier hat sich die Anzahl der Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer aus dem europäischen Raum in Richtung arabischer Migration verschoben (BAMF 2018). Die Vielfalt der Herkunftsländer, aus denen die meisten arabischsprachigen Personen stammen, erklärt die mannigfaltige und nuancenreiche Sprachenlandschaft, die sich aber auf den ersten Blick nicht zeigt. Dies birgt vielerlei Implikationen für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7), worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird. 2. Varietäten des Arabischen im deutschen Bildungssystem Trotz des vermeintlich einheitlichen sprachlichen Hintergrunds der Arabischsprachigen ist die sprachliche Situation aufgrund der breiten Palette an Dialekten, der Diglossie sowie der unterschiedlichen schriftsprachlichen und der mündlichen Kompetenzniveaus sehr heterogen. Obwohl in den arabischen Staaten eine normierte Standardsprache (Fusha) als offizielle Sprache deklariert wird, dominiert 495 107. Arabisch in den meisten arabischen Ländern eine Vielzahl an landestypischen Sprachvarietäten, die sich stark voneinander unterscheiden. Insofern ist Arabisch nicht als einheitliche Sprache zu verstehen. Insgesamt werden fünf große Varietätenräume unterschieden, etwa die Dialektvarianten des nordafrikanischen Raumes und der Levante, die in den meisten Lebensbereichen als Verkehrssprache benutzt werden (Behnstedt & Woidich 2005). Im Gegensatz dazu wird das Hocharabische als konzeptionelle Schriftsprache in der Belletristik, den Print- und Onlinemedien sowie in Bildungskontexten und religiösen Kontexten verwendet, findet aber außerhalb dieser Bereiche kaum Anwendung. Der Unterschied zwischen den einzelnen Dialekten und dem Hocharabischen ist syntaktisch, morphologisch und phonologisch größer als z. B. der zwischen den skandinavischen Sprachen. Dies sorgt somit neben einer disparaten sprachlichen Vielfalt in der ganzen arabischen Welt für eine ausgeprägte Diglossie, die sich in den sprachlichen Hintergründen von Deutsch lernenden Schülerinnen und Schülern widerspiegelt (↗ Art. 2, 3, 5). Wenngleich Arabisch als eine einheitliche Sprache der Schüler mit arabischem Hintergrund erscheint, ist aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft eine große sprachliche Heterogenität anzunehmen. In 2018 stammen die meisten von ihnen aus neun arabischen Ländern. Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit, bei der das Arabische als Ausgangssprache der Lernenden herangezogen wird, sollte die damit verbundene sprachliche Diversität, wenn möglich, berücksichtigen. Das Arabische hat Eingang in das deutsche Schulwesen gefunden. So wird es beispielsweise in einigen Bundesländern im optionalen Herkunftssprachenunterricht als Ersatz für die zweite Pflichtfremdsprache angeboten (Reich 2008). Allerdings liegen keine deutschlandweit gültigen Angaben zu den Schülerzahlen im arabischen Herkunftssprachenunterricht vor. Bouras-Ostmann (2016) merkt am Beispiel von Nordrhein-Westfalen an, dass sich, trotz des rasanten Rückgangs der Schülerzahlen zwischen 2002 und 2014 im herkunftssprachlichen Unterricht (↗ Art. 100, 106), die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Arabischunterricht nur um ein Fünftel verringerte. Aufgrund der steigenden Zahl von Schülerinnen und Schülern aus den arabischen Ländern ist eine höher werdende Nachfrage in den nächsten Jahren zu erwarten. Die Förderung des Arabischen als Herkunftssprache bringt mehr Komplikationen mit sich, als es bei anderen Minderheitensprachen, wie Türkisch, Polnisch etc., der Fall ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass bei der Vermittlung von sprachlichen Kompetenzen im Arabischen vom Standardarabischen ausgegangen wird, das als Norm für den Unterricht gilt. Der Erwerb des Standardarabischen gleicht jedoch aufgrund der großen Distanz zu den verschiedenen Dialekten der Lernenden dem Erwerb einer Fremdsprache. Als wichtiger Baustein bei der Förderung von Mehrsprachenkompetenz soll der arabische Herkunftssprachenunterricht die in den Familien und im Migrationskontext erworbenen Sprachvarietäten im Sprachunterricht berücksichtigen. 3. Zur Zukunft des Arabischen in der Mehrsprachigkeitsdidaktik Arabisch als Herkunftssprache stellt das deutsche Bildungssystem und die Zweitbzw. Fremdsprachenerwerbsforschung vor erhebliche Herausforderungen, birgt jedoch auch Potenziale. Die meisten Studien sind auf den Fremdsprachenunterricht bezogen und 496 MohcineAitRamdan fokussieren einzelne sprachliche, vorwiegend grammatische Themen (Kassem & Riedner 2010). Die Ergebnisse weisen aufgrund der linguistischen Unterschiede zwischen dem Arabischen und dem Deutschen auf bestimmte Besonderheiten hin, die beim Erwerb des Deutschen bei Lernenden mit Arabisch als L1 bemerkbar sind. Aufgrund der großen Zahl arabischsprachiger Kinder sind der Erwerb und die Vermittlung basaler Lese- und Schreibkompetenzen im Deutschen ein aktueller Forschungsgegenstand (Sigel & Ramdan 2018). Die Phonologie und die schriftlichen Register sind die größten Stolpersteine. Unerforscht ist bisher das Arabische als Ausgangs- oder Brückensprache für den Erwerb von (weiteren) Fremdsprachen. Trotz der großen Distanz zwischen dem Arabischen und den herkömmlichen deutschen Schulfremdsprachen weisen diese Transferbasen auf, um die Potentiale des Arabischen stärker in den Fokus zu setzen und diese zu nutzen. Literatur BAMF (2018): Alphabetisierung und Deutscherwerb von Geflüchteten. Deutschkenntnisse und Förderbedarfe von Erst- und Zweitschriftlernenden in Integrationskursen. Ausgabe 1|2018 der Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge . Verfasserin: Jana A. Scheible. [http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Publikationen/ Kurzanalysen/ kurzanalyse10_ iab-bamf-soep-befragung-gefluechtete-alphabetisierung.pdf ? __blob=publicationFile]. Behnstedt, P. & Woidich, M. (2005): Arabische Dialektgeographie: Eine Einführung . Leiden, Boston. Bouras-Ostmann, K. (2016): Arabisch. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Aufl. Tübingen, 531-538. Ethnologue: Languages of the World . [https: / / www.ethnologue.com/ language/ ara]. Kassem, N. & Riedner, R. (2010): Kontrastive Analyse Arabisch - Deutsch. In: H.-J. Krumm, C. Fandrych, B. Hufeisen & C. Riemer (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch . New York, 484-487. 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Begriffliches Russisch gehört mit ca. 3 bis 4,5 Millionen Sprechern (Witzlack-Makarevich & Wulff 2017: 11) neben Türkisch und Polnisch zu den am weitesten verbreiteten Herkunftssprachen in Deutschland. Eine Herkunftssprache wird unmittelbar nach der Geburt als Erstsprache (L1) erworben. Doppelter Erstspracherwerb (2L1) bzw. simultan erworbene Zweisprachigkeit liegt vor, wenn ein Elternteil die Umgebungssprache Deutsch in die Familienkommunikation einbringt. Setzt der Erwerb des Deutschen erst mit deutlichem zeitlichem Verzug nach der Herkunftssprache ein, spricht man von Zweitspracherwerb (↗ Art. 51). Deutsch kann für Herkunftssprecher also sowohl L1 als auch sukzessiv erworbene L2 (DaZ) sein. Russisch als allochthone Minderheitensprache wird meist nur in bestimmten Funktionsbereichen (v. a. als Familiensprache) eingesetzt. Spätestens mit dem Eintritt in Bildungsinstitutionen wie Kindergarten oder Schule, in denen die Sprache der Mehrheitsgesellschaft als Kommunikationsmedium dominiert, lässt sich ein zunehmender Wechsel zur Umgebungssprache beobachten (↗ Art. 52, 53, 54). So entwickelt sich die Herkunftssprache zur schwächeren Sprache und mit zunehmendem Alter bilden sich deutliche Unterschiede in der Sprachbeherrschung im Vergleich zu gleichaltrigen, in einem russischsprachigen Land monolingual aufgewachsenen Sprechern heraus. Um die große Variabilität in den Kompetenzen einer Herkunftssprache zu erfassen, unterscheiden Polinsky und Kagan (2007) • akrolektale Sprecher mit Kompetenzen im Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben, • mesolektale Sprecher mit rezeptiven Fertigkeiten in der Herkunftssprache (sog. rezeptiver Bilingualismus) und • basilektale Herkunftssprecher, bei denen gering ausgeprägte Kompetenzen bis zum völligen Verlust der Herkunftssprache vorliegen können. Generell sind bei den meisten Herkunftssprechern schriftsprachliche Kompetenzen geringer entwickelt als die mündlichen Fertigkeiten. 2. Besonderheiten des Russischen als Herkunftssprache Die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland setzt sich aus russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern und ihren Familienangehörigen, jüdischen Immigranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und einer dritten Gruppe von Zuwanderern zusammen, die aus anderen Gründen (Arbeit, Studium, Heirat etc.) dauerhaft nach Deutschland übergesiedelt sind (Brehmer & Mehlhorn 2015: 85 f.). Sie umfasst nicht nur Zuwanderer aus der Russischen Föderation, sondern auch aus allen anderen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion. Der überwiegende Teil der Zuwanderung erfolgte bis zur Mitte der 1990er Jahre. Viele Menschen mit russischem Hintergrund wurden bereits in Deutschland geboren, weisen selbst keine Migrationserfahrung auf und gehören als Vertreter der zweiten und dritten Generation zum Kreis der (potenziellen) Herkunftssprecher des Russischen in Deutschland. 498 GritMehlhorn Durch den Erwerb der Herkunftssprache unter den Bedingungen begrenzten sprachlichen Inputs - meist stehen nur wenige Gesprächspartner im familiären Kontext zur Verfügung -, entwickelt sich das Herkunftsrussisch in Deutschland zu einer Varietät, die durch Transfer aus der Umgebungssprache (Interferenzen), aber auch Code-Switching (↗ Art. 5) und zahlreiche Entlehnungen aus dem Deutschen gekennzeichnet ist. Der reduzierte bzw. mit steigendem Alter oft schwindende Input in der Herkunftssprache reicht u. U. nicht aus, um das Regelwissen bzgl. einzelner, z. B. spät erworbener oder seltener Strukturen fest zu verankern. So kommt es zu nicht abgeschlossenem Erwerb, Fossilisierungen und Verarbeitungsschwierigkeiten (Brehmer & Mehlhorn 2018: Kap. 3). Hörverstehen und Sprechen sind bei nicht-akrolektalen Herkunftssprechern deutlich besser ausgeprägt als Lesen und Schreiben; längst nicht alle russischen Herkunftssprecher sind alphabetisiert. Ihr Russisch weist z.T. deutliche Abweichungen in der Kasusmorphologie, Genuszuweisung und -kongruenz sowie der Definitheit im nominalen Paradigma auf; in der Verbgrammatik sind z. B. die Personalkongruenz, der Verbalaspekt und der Modus betroffen. Im Bereich der Aussprache und einiger früh erworbener syntaktischer Phänomene, z. B. Wortstellungsregularitäten, nähern sich jedoch viele Herkunftssprecher im Vergleich zu Fremdsprachenlernenden des Russischen deutlich den Kompetenzen monolingualer Sprecher an (ebd.). 3. Forschungsstand Untersuchungen zum Sprachgebrauch (Strobel & Kristen 2015) zeigen, dass Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion die Herkunftssprache seltener als andere aus diesen Gebieten stammende Zuwanderer verwenden. Gleichzeitig nutzen Russischsprachige ihre Herkunftssprache häufiger als Migranten aus Polen, aber seltener als türkischsprachige Herkunftssprecher. Aktuelle Forschung befasst sich neben dem Deutscherwerb der Zugewanderten mit der Entwicklung des Russischen als Herkunftssprache (vgl. Brehmer & Mehlhorn 2015: 87 f.). Dabei dominieren • soziolinguistische Studien, die sich mit Fragen der Spracheinstellungen und Identität (↗ Art. 1), Sprachbiografien und außersprachlichen Faktoren befassen, die den Spracherhalt des Russischen untersuchen (u. a. Burkhardt et al. 2018), • psycholinguistische Studien, die v. a. den simultanen und sukzessiven Erwerb des Russischen und Deutschen sowie den Sprachverlust ( attrition ) im Russischen bei Kindern aus zweisprachigen Familien in den Blick nehmen (u. a. Anstatt 2011), und • kontaktlinguistische Studien, die die wechselseitige Beeinflussung der beiden Sprachen und Abweichungen von monolingualen Sprechern auf verschiedenen sprachlichen Ebenen behandeln (u. a. Böhmer 2015). Die Entwicklung einer Herkunftssprachendidaktik steht noch am Anfang (für einen ersten Überblick vgl. Brehmer & Mehlhorn 2018: Kap. 5). 4. Unterricht für russische Herkunftssprecher Im Vergleich zu anderen Migrantengruppen ist unter Russischsprachigen das Interesse am Erhalt und Ausbau der Herkunftsspra- 499 108. RussischalsHerkunftssprache che ihrer Kinder recht hoch. Neben staatlich organisiertem Herkunftssprachenunterricht (↗ Art. 106) nach einem festen Curriculum und Unterricht an Konsulatsschulen wird Herkunftssprachenunterricht auch von Elterninitiativen und kulturellen Vereinen angeboten, z. B. Azbuka (Russischsprachiger Verein für Bildung, Kultur und Integration e. V. in Hamburg, MITRA e. V., eine interkulturelle Vereinigung russischsprachiger Eltern und Pädagogen in Berlin). Auch Privatunterricht ist keine Seltenheit. Lehrende im Herkunftssprachenunterricht sind in der Regel russische Muttersprachler, jedoch nicht immer für die Vermittlung des Russischen ausgebildet (vgl. Mehlhorn 2017). Häufig wird strikt einsprachig mit Lehrwerken für den muttersprachlichen Unterricht in Russland (↗ Art. 78) unterrichtet, wobei sich die Vermittlungsmethoden an den Lerntraditionen der Elterngeneration orientieren. Der schulische Fremdsprachenunterricht Russisch zeichnet sich aufgrund der gleichzeitigen Anwesenheit von Herkunftssprechern und Fremdsprachenlernenden in besonderer Weise durch Heterogenität aus. Auch wenn die Vorkenntnisse von Herkunftssprechern nicht von allen Beteiligten am Fremdsprachenunterricht als Potenzial wahrgenommen werden, schlägt sich die Erkenntnis, „dass Schülerinnen und Schüler mit einem herkunftssprachlichen Hintergrund andere Lernbedürfnisse als Lernende ohne Vorkenntnisse haben“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2018: 9), nach und nach auch in Curricula und Lernmaterialien nieder. So weist die neue Lehrwerkgeneration für Russisch als Schulfremdsprache „ Dialog “ (Adler et al. 2016 ff.) systematisch Differenzierungsangebote für Herkunftssprecher aus. Durch Binnendifferenzierung im Russischunterricht können Herkunftssprachensprecher einerseits als Experten (bspw. als Aussprachevorbild oder beim Erklären unbekannter Lexik) eingesetzt und andererseits gezielt gefördert werden, insbesondere bei der Ausdifferenzierung ihres Wortschatzes hinsichtlich standardsprachlicher Normen und Bildungssprache sowie in den schriftsprachlichen Kompetenzen (Orthographie, Morphologie, Registerkenntnisse, strukturierte Textproduktion). Für erwachsene Lernende gibt es in der Regel keinen spezifischen Herkunftssprachenunterricht, so dass russische Herkunftssprecher aufgrund ihres Interesses an der Sprache und Kultur ihrer Eltern häufig Fremdsprachenunterricht in ihrer HS besuchen. In den Slawistikinstituten in Deutschland stellen sie die überwiegende Mehrheit der Russistikstudierenden dar. Einige Sprachenzentren bieten inzwischen das Zertifikat UNIcert® Herkunftssprachen für Russisch an, das Studierenden mit biografisch bedingten Vorkenntnissen eine gezielte Form der Ausbildung mit Fokus auf schriftliche Kompetenzen oder wissenschaftliches Schreiben ermöglicht. Literatur Adler, I., Birzer, S., Böhmer, J. et al. (2016 ff.): Dialog. Lehrbuch für den Russischunterricht. Berlin. Anstatt, T. (2011): Sprachattrition. Abbau der Erstsprache bei russisch-deutschen Jugendlichen. In: Wiener Slawistischer Almanach 67, 7-31. Böhmer, J. (2015): Biliteralität. Eine Studie zu literaten Strukturen in Sprachproben von Jugendlichen im Deutschen und im Russischen. Münster, New York. Brehmer, B. & Mehlhorn, G. (2015): Russisch als Herkunftssprache in Deutschland. Ein holistischer Ansatz zur Erforschung des Poten- 500 GritMehlhorn zials von Herkunftssprachen. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 26/ 1, 85-123. Brehmer, B. & Mehlhorn, G. (2018): Herkunftssprachen. Tübingen. Burkhardt, J., Mehlhorn, G. & Yastrebova, M. (2018): Spracheinstellungen in polnisch- und russischsprachigen Familien in Deutschland. In: G. Mehlhorn & B. Brehmer (Hrsg.): Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Tübingen, 165-183. Mehlhorn, G. (2017): Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/ 1, 43-55. Niedersächsisches Kultusministerium (2018): Kerncurriculum für das Gymnasium Russisch. Hannover. Polinsky, M. & Kagan, O. (2007): Heritage Languages: In the ‘Wild’ and in the Classroom. In: Language and Linguistics Compass 1/ 5, 365-395. Strobel, B. & Kristen, C. (2015): Erhalt der Herkunftssprache? Muster des Sprachgebrauchs in Migrantenfamilien. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18, 125-142. Witzlack-Makarevich, K. & Wulff, N. (Hrsg.) (2017): Handbuch des Russischen in Deutschland. Migration - Mehrsprachigkeit - Spracherwerb. Berlin. Grit Mehlhorn 109. Türkisch 1. Türkisch als Herkunfts- und Fremdsprache in Deutschland Das Türkische gehört mit ca. 2,5 Millionen Sprecherinnen und Sprechern zu einer der am häufigsten gesprochenen Minderheitensprachen in Westeuropa (Küppers & Schroeder 2016: 561). Die größte Sprecherzahl außerhalb der Türkei lebt in Folge der „Gastarbeiter”-Zuwanderung in den frühen 1960er Jahren, Familiennachzug, Geburt und Heirat in erster, zweiter und dritter Generation in Deutschland. Neben dem Zugang über TV-, Hörfunk- und Printmedien prägt das Türkische mündlich und schriftlich den (urbanen) öffentlichen Raum, was die besonders in Deutschland ausgeprägte ethno-linguistische Vitalität des Türkischen stärkt und dazu führt, dass es auch in dritter Generation nicht verloren geht bzw. überwiegend als Erstbzw. Familiensprache erworben wird. Für diese Sprechergruppe gibt es zudem herkunftssprachliche Unterrichtsangebote (↗ Art. 106), welche überwiegend außerhalb des Regelunterrichts stattfinden und entweder durch die Bundesländer oder das türkische Konsulat bzw. privat getragen werden (Löser & Woerfel 2017). Türkisch kann aber auch in institutionellen Einrichtungen (z. B. türkisch-deutsche Kitas, KOALA- Grundschulen, spät beginnende Fremdsprachenangebote im Sekundarbereich, Sprach-/ Volkshochschulen und Universitäten) durch Sprecherinnen und Sprecher mit anderen Erstsprachen erworben werden (↗ Art. 52, 53, 54). Wenngleich durch das föderale Schulsystem und bedingt durch die verschiedenen Zuständigkeiten in den Bundesländern hinsichtlich des Herkunftssprachenangebots konkrete Zahlen schwer zu ermitteln sind, 501 109. Türkisch schätzen Küppers & Schroeder (2016: 563) die aktuelle Zahl der Türkisch Lernenden auf 100,000-120,000. 2. Türkisch in zweisprachigen Erwerbskonstellationen - ein Streitfall Trotz der skizzierten unterschiedlichen Zugänge zum Türkischen und der verhältnismäßig großen Sprecherzahlen ist das Türkische im deutschen Bildungssystem ziemlich unterrepräsentiert. Dies lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass dem Türkischen (wie auch anderen Migrantensprachen) ein niedriges Prestige in der öffentlichen Wahrnehmung zugeschrieben wird, zum anderen zählt die türkischsprachige Schülerschaft im Vergleich zu anderen Sprechergruppen wiederholt zu den „Verlierern“ in Bildungsvergleichsstudien. In diesem Zusammenhang wird der Einbezug des Türkischen in das Regelschulsystem häufig skeptisch betrachtet, da hier ein Hindernis für den Erwerb des Deutschen gesehen wird. In der medialen Diskussion wird dieser Hintergrund reduziert („Risikogruppe“), die angesprochene Gruppe stigmatisiert („türkische Schülerschaft“) und wenig haltbare Empfehlungen gegeben („Sprechen Sie zu Hause Deutsch! “). Daraus folgt, dass sich auch Eltern gegen die Teilnahme ihres Kindes an einem herkunftssprachlichen Angebot aussprechen. Und schließlich klagen die Herkunftssprachenlehrkräfte über die Türkischkompetenz ihrer überwiegend in Deutschland aufgewachsenen Schülerschaft (↗ Art. 2, 3) . Der Diskussion über die sprachlichen Kompetenzen liegt jedoch eine starke Orientierung an einer einsprachigen Norm zugrunde (die der Schul- und Unterrichtssprache Deutsch und die des Türkei-Türkischen), der die zweisprachige Schülerschaft aufgrund ihrer lebensweltlichen Zweisprachigkeit und den damit verbundenen sprachlichen Besonderheiten oder wegen ihres sozio-ökonomischen Hintergrunds häufig nicht gerecht werden kann. Grundsätzlich geht aus dem Dargelegten hervor, dass die Potentiale des Türkischen im schulischen Kontext kaum genutzt werden. Im Folgenden werden einige Anregungen gegeben, die Türkisch-Kenntnisse nicht als Handicap, sondern als Bildungswert zu begreifen (Wiese 2012: 186). 3. Potentiale des Türkischen in zwei- und fremdsprachigen Erwerbskonstellationen Im Vergleich zu vielen Schülerinnen und Schülern, deren Erst- und Zweit-/ Fremdsprachen sehr eng verwandt sind (z. B. weil sie indoeuropäische Sprachen wie Englisch oder eine romanische Sprache lernen), haben türkisch-deutsch Bilinguale mit dem Türkischen eine nicht-indoeuropäische Sprache und „damit eine viel größere sprachliche und grammatische Weitläufigkeit“ (Wiese 2012: 185) erworben. Denn das Türkische weist durch seinen agglutinierenden Satzbau einen großen Kontrast auf; so wird bspw. die grammatische Funktion durch das Anfügen von Affixen kenntlich gemacht: 502 TillWoerfel-&SedaYilmazWoerfel (1) Vejetaryen-leş-tir-eme-dik-ler-imiz-den mi-siniz? Vegetarier-VB-VB-NEG-DIK.NOMLZ-PL-POSS.1PL-ABL Q-2.PL Vegetarier-werden-machen-nicht-können-die-unsere-vonetwa-Sie? ‚GehörenSiezudenen,diewirnichtzuVegetariernhabenmachenkönnen? ‘ (Schroeder-&Şimşek2014: 123) Ein kontrastiver Einbezug solcher Besonderheiten im Unterricht erhöht nicht nur das metasprachliche Bewusstsein der bilingualen, sondern schärft auch die Sprachlernbewusstheit einsprachig aufgewachsener Schülerinnen und Schüler (Küppers & Schroeder 2017: 64 f.). Beispiele wie der sprachenvernetzende Französischunterricht in Thiele (2015) sowie das Verbundprojekt zum mehrsprachigen reziproken Lesen im Sachunterricht (Gantefort & Oroquieta Sánchez 2015) zeigen, dass sich das Türkische im Unterricht für eine ein- und zweisprachige Schülerschaft gleichermaßen als Ressource nutzen lässt und somit eine Aufwertung erfährt, was sich positiv auf die Handlungsprodukte auswirkt. Das Türkische hat auch über Dimensionen der Interkomprehension (↗ Art. 56, 64) Potential für den Erwerb weiterer Sprachen, z. B. auf der Ebene des Wortschatzes. Hier lassen sich z. B. nominale Entlehnungen aus dem Arabischen ( hata ‚Fehler‘ oder fikir ‚Gedanke / Meinung‘) und Persischen ( șehir ‚Stadt‘ und șeker ‚Zucker‘) beobachten, vor allem aber verfügt der türkische Wortschatz durch das hohe Prestige des Französischen als Bildungssprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert über zahlreiche Lehnwörter aus dem Französischen (tr. parașüt , fr. parachute ‚Fallschirm’; tr. makyaj , fr. maquillage ‚Make-up’; tr. asansör , fr. ascenseur ‚Fahrstuhl’) (Schroeder & Şimşek 2014: 128). Da sich ähnliche Laute bei korrekter Aussprache im Türkischen diskriminieren lassen, lässt sich die korrekte Bedeutung in beiden Sprachen von Türkisch- und Französisch-Sprechenden auf einer auditiven Ebene assoziieren (Thiele 2015: 139). Unabhängig davon, dass zweisprachig aufwachsenden Sprecherinnen und Sprechern ein allgemeiner Vorteil beim Erwerb weiterer (Fremd-)Sprachen zugewiesen wird, liegt das Potential des Türkischen aber auch grundlegend beim Erwerb weiterer agglutinierender Sprachen (z. B. Baskisch, Koreanisch, Japanisch, Finnisch, Quechua, Swahili). Da die schulischen Angebote für diese Sprachen in Deutschland überschaubar sind, gilt es im Fremdsprachenunterricht zu berücksichtigen, dass türkisch-deutsche Bilinguale beim Erwerb der ersten Fremdsprache (L3) tendenziell auf die dominante (in der Regel die Schul-/ Unterrichtssprache) und typologisch nähere Sprache zurückgreifen. In der L3 Englisch finden sich somit ähnliche nicht-zielsprachliche Muster wie bei einsprachig aufwachsenden Schülern, die auf den Einfluss des Deutschen zurückzuführen sind (Hopp 2018). Last but not least genießt das Türkische eine besondere Bedeutung für die Turksprachen und zum Teil für deren Bevölkerungen (Massakova 2014). 4. Perspektiven des Türkischen in Bildungsinstitutionen Um den dargestellten Problemstellungen auch im Hinblick auf eine Nutzbarmachung der Potentiale des Türkischen zu begegnen, sind verschiedene Herangehensweisen möglich: • Entwicklung einer modernen Türkischdidaktik für den Primarbereich mit einer 503 109. Türkisch Fokussierung auf interkulturelle Ansätze (↗ Art. 32), die methodisch zweisprachig bzw. im Sinne eines modernen Fremdsprachenunterrichts sind (Küppers & Schroeder 2017) und den didaktischen Fokus auf Inhalte, Textsorten und lernbereichsspezifischen Arbeitsweisen des Sachunterrichts legen; • Etablierung und Verbesserung kooperativer Konzepte im Sekundarbereich, die den herkunftssprachlichen Unterricht mit dem Fachunterricht durch ein abgestimmtes pädagogisch-fachliches Konzept verbinden (↗ Art. 105, 106); • Herausstellen des Bildungswerts (auch für eine einsprachige Schülerschaft) durch Einbeziehung des Türkischen in den Regel- und Fremdsprachenunterricht, z. B. in Translanguaging -Ansätzen oder sprachsensiblen Konzepten; • Verstärkung deutsch-türkischer Programme zur Aufwertung des Türkischen als eine der am häufigsten gesprochenen Minderheitensprachen in Deutschland (vgl. das Programm mit dem Ziel der interkulturellen Öffnung in einer multiethnischen Nachbarschaft in Hannover, Küppers & Yağmur 2014). Interlinearisierungsabkürzungen (nach Leipzig Glossing rules): VB= Verbalisierer NEG= Negation DIK.NMLZ= Nominalisierung mit dik PL=Plural POSS=Possessiv 1PL=1. Person Plural Q=Fragepartikel 2PL=2. Person Plural ABL=Ablativ Literatur Gantefort, C. & Oroquieta Sánchez, M. (2015): Translanguaging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis der Gesamtsprachigkeit. In: Transfer Forschung ↔ Schule 1/ 1, 24-37. Hopp, H. (2018): Cross-Linguistic Influence in the Child Third Language Acquisition of Grammar: Sentence Comprehension and Production among Turkish-German and German Learners of English. 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Krifka, J. Błaszczak, A. Leßmöllmann et al. (Hrsg.): Das mehrsprachige Klassenzimmer . Berlin, 115-133. Thiele, S. (2015): Was ist französisch an türkisch duş? Allochthone Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht nutzen. In: E. M. Fernández Ammann, A. Kropp & J. Müller- Lancé (Hrsg.): Herkunftsbedingte Mehr- 504 TillWoerfel-&SedaYilmazWoerfel sprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen . Berlin, 137-158. Wiese, H. (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht . München. Till Woerfel-& Seda Yilmaz Woerfel 110. Unterrichten in vielsprachigen Lerngruppen 1. Problemaufriss Dass die Schülerschaft an allen Schulformen vielsprachig ist, kann mittlerweile in den deutschsprachigen Ländern nahezu als Regelfall betrachtet werden; dass diese Vielsprachigkeit auch im Unterricht wertgeschätzt und entsprechend sicht- und nutzbar gemacht wird, trifft aber (noch) nicht durchweg zu. Dabei liegen zahlreiche didaktische Konzepte vor, die darauf abzielen, den „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 2008) aufzubrechen und Mehrsprachigkeit als Ressource in Lehr-Lern-Szenarien einfließen zu lassen. Der vorliegende Beitrag geht zunächst kurz auf die Vielsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler im deutschen Schulsystem (↗ Art. 2, 100) ein und stellt anschließend unterschiedliche aktuelle Ansätze eines stärkeren Einbezugs weiterer Sprachen neben dem Deutschen in den Regelunterricht sowie einer durchgängigen Sprachbildung für alle Schülerinnen und Schüler aus der Perspektive des Deutschen als Zweitsprache überblicksartig vor. 2. Mehrsprachigkeit als Heterogenitätsdimension Wenngleich viele bildungswissenschaftliche Large-Scale -Studien eher auf die Variable Migrationshintergrund , andere auf Herkunftsländer fokussieren und wieder andere zwar Familiensprachen erfragen, aber mit wenig konsistenten Angaben wie z. B. Syrisch als vermeintliche Sprachenbezeichnung zu kämpfen haben, liegen nichtsdestotrotz Daten aus einigen Projekten vor, die einen Eindruck von der Vielsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler im deutschen Schulsystem geben können (z. B. die Spracherhebung Essener Grundschulen [SPREEG, Chlosta et al. 2003]) oder das Projekt Mehrsprachigkeit an Thüringer Schulen (MaTS, Ahrenholz & Maak 2013). Deutlich wird insgesamt, dass es große regionale Unterschiede sowie migrationshistorisch bedingte Schwankungen in der Zusammensetzung der Schülerschaft gibt. Während psycholinguistische Studien zeigen können, dass Mehrsprachigkeit (↗ Art. N Mehrsprachigkeit im bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe 506 JuliaSettinieri 7) einen Vorteil bspw. für den Erwerb weiterer Sprachen, aber auch für die Plastizität des Gehirns darstellen kann (↗ Art. 51), dokumentieren bildungswissenschaftliche Studien tendenziell eine Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die auf das Wirken diskriminierender Prozesse im Schulsystem hindeutet (↗ Art. 38). Gleichzeitig kann auch belegt werden, dass Sprach- und Fachkompetenz korrelieren (vgl. bspw. Frank & Gürsoy 2015 für Mathematik), so dass sprachbildende Maßnahmen einen möglichen Weg, bildungsbenachteiligte Gruppen zu fördern, darstellen. Dass Fach- und Sprachlernen sehr eng miteinander verknüpft sind, erklärt sich daraus, dass Sprache das Medium allen Lernens ist und dass fachliche Inhalte sowohl sprachlich vermittelt als auch abgeprüft werden, was zur Konsequenz hat, dass Sprache entweder eine Brücke oder ein Hindernis für den Erwerb von Fachkompetenzen darstellen kann (vgl. genauer bspw. Tajmel 2010). 3. Language Awareness Sprache ist aber nicht nur ein wichtiges Medium jeglichen Lernens, sondern spielt auch für das Individuum und die Gesellschaft eine gewichtige Rolle. Entsprechend fordert auch das Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG; Hervorhebung J.S.): „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die hohe Relevanz der Sprache in vielen Lebensbereichen versucht das Konzept der language awareness (vgl. einführend z. B. Gürsoy 2010) stärker in den Fokus zu rücken. Neben dem eigentlichen Unterricht wird dabei auch das schulische Leben insgesamt in den Blick genommen. Durch den Einbezug vieler Sprachen soll auf kognitiver, affektiver, sozialer und strategischer Ebene versucht werden, Mehrsprachigkeit sichtbar zu machen, wertzuschätzen und zu fördern, sprachanalytische Fähigkeiten durch kontrastive Sprachenvergleiche auszubauen sowie die manipulative Kraft von Sprache in der Gesellschaft kritisch zu untersuchen. Insbesondere die kognitive Dimension der language awareness ist in unterschiedlichen didaktischen Ansätzen erkennbar, wie bspw. der Interkomprehension (↗ Abschnitt H) oder dem Gesamtsprachencurriculum (↗ Art. 14). Der Einbezug mehrerer Sprachen ist dabei nicht nur eine Aufgabe der Unterrichts-, sondern auch der Schulentwicklung. Das Schulsystem in den deutschsprachigen Ländern räumt unterschiedlichen Sprachen hier aus Kosten-Nutzen-Gründen traditionell unterschiedlich großen Raum ein, wenn man Schulsprachen wie bspw. Englisch, Französisch, aber auch Latein mit bspw. Türkisch, Russisch oder auch Chinesisch vergleicht. Verschiedene schulorganisatorische Modelle, wie z. B. bilinguale Schulen, koordinierte Alphabetisierungsprogramme, Herkunftssprachenunterricht usw. (vgl. Kniffka & Siebert-Ott 2012: Kap. 5 für einen Überblick), haben sich zum Ziel gesetzt, weiteren Sprachen, insbesondere auch Familiensprachen, in Schulen eine größere Bedeutung als bisher beizumessen. 4. Durchgängige Sprachbildung Über eine generelle Sensibilisierung hinaus sind im Schulalltag konkrete didaktische Konzepte erforderlich, die den heterogenen sprachlichen Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schüler bestmöglich Rech- 507 110. Unterrichteninviel sprachigenLerngruppen nung zu tragen versuchen. Alle vorliegenden Konzepte gehen grundlegend davon aus, dass Sprach- und Fachlernen untrennbar miteinander verknüpft sind (s. o.) und dass jeder Fachunterricht entsprechend ganz explizit nicht nur fachliche, sondern auch die damit verbundenen sprachlichen Lernziele formulieren und verfolgen sollte. Übergreifendes Ziel ist dabei der kumulative Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen (hier insbesondere in den Bereichen Leseverstehen und Textproduktion), die als zentral für den Bildungserfolg angesehen werden können. Die Grundidee der sog. durchgängigen Sprachbildung (Lange & Gogolin 2010) besteht darin, dass diese Kompetenzen sowohl über die gesamte Bildungsbiographie (vertikale Dimension), über verschiedene Sozialisationskontexte und Bildungseinrichtungen (horizontale Dimension) sowie über alle Fächer und Sprachen hinweg aufgebaut werden sollten. Durchgängige Sprachbildung erfordert folglich per Definition Kooperation zwischen unterschiedlichen Bildungsakteuren und richtet sich grundsätzlich an alle Schülerinnen und Schüler, d. h. nicht etwa nur an mehrsprachig aufwachsende (↗ Art. 52). In Bezug auf den Schulunterricht beziehen sich die einschlägigen Konzepte auf die Bereiche Bedarfsanalyse, Diagnostik, Unterrichtsplanung sowie Unterrichtsinteraktion. Ein Modell, das alle vier Bereiche integriert und die aktuelle Fachdiskussion in besonderem Maße prägt, ist das Scaffolding -Modell. Gibbons (2002) fasst Bedarfsanalyse, Lernstandanalyse und Unterrichtsplanung unter Makro -, Unterrichtsinteraktion unter Mikro-Scaffolding . Zentraler Gedanke ist der systematische Aufbau sprachlicher Hilfen, die sukzessive wieder abgebaut werden, bis die Schülerinnen und Schüler schließlich selbständig in der Lage sind, bildungssprachliche Anforderungen des Fachunterrichts zu bewältigen. Zur Vorbereitung sprachbildenden Unterrichts wird darüber hinaus der sog. Planungsrahmen (vgl. genauer Tajmel & Hägi-Mead 2017) eingesetzt, der auf die oben angesprochene integrierte Planung von Fach- und Sprachlernen zielt. Einen Methodenkoffer, der unterschiedliche Scaffolding -Methoden (u. a. das Fünf-Phasen-Schema und den Wechsel der Darstellungsform) für den Einsatz im sprachensensiblen Fachunterricht exemplarisch vorstellt und theoretisch begründet, liefert Leisen (2013). Er diskutiert analog zum Mikro-Scaffolding auch das Interaktionsverhalten der Lehrerinnen und Lehrer, worauf auch Schmölzer-Eibinger et al. (2013) in ihren Überlegungen zum sprachaufmerksamen Fachunterricht einen besonderen Schwerpunkt legen. Wichtige Aspekte sprachlichen Lehrerverhaltens sind dabei bspw. Authentizität, Kontextualisierung, Lerneraktivierung, Verlangsamung, Sprachreflexion und vor allem Modellierung. Neuere didaktische Ansätze beziehen auch stärker die sprachlichen Interaktionen der Schülerinnen und Schüler untereinander in die Überlegungen ein und untersuchen bspw. die Effekte der Nutzung von Familiensprachen im Fachunterricht (vgl. bspw. die Publikationen zum Projekt MuM-Multi - Sprachenbildung im Mathematikunterricht unter Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit unter www.mathematik. uni-dortmund.de/ ~prediger/ projekte/ mum/ tp- MuM-Multi.shtml). Weniger erforscht ist bislang der Bereich der Bedarfsanalysen. Zwar sind typische sprachliche Anforderungen einzelner Fächer bereits recht klar herausgearbeitet worden (bspw. Mathematik oder Sachunterricht); andere Fächer wurden hingegen bislang kaum oder wenig untersucht (bspw. Musik oder Chemie). Und auch das Feld der mehrsprachigen Diagnostik steht weiterhin vor beachtlichen Heraus- 508 JuliaSettinieri forderungen. Den individuellen Sprachstand einzelner Lernerinnen und Lerner in all ihren Sprachen zu modellieren und davon ausgehend erwartbare Erwerbsverläufe zu skizzieren, erscheint alles andere als trivial. Dies ist letztlich aber notwendig, um bspw. zuverlässig zwischen Spracherwerbsverzögerungen, wie sie unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit regulär vorkommen, und Spracherwerbsstörungen differenzieren zu können, aber auch um ausgehend von lernersprachlichen Systemen, die in der Regel stark von Erstsprachen geprägt sind, didaktisch gezielt ansetzen zu können (vgl. Jeuk & Settinieri 2019 für einen Überblick). 5. Perspektiven Abzuwarten bleibt, inwiefern die unterschiedlichen didaktischen Konzepte tatsächlich ihren Eingang in die Schulpraxis finden werden. Eine große Herausforderung wird weiterhin die individuelle Passung bleiben, zumal jede Schülerin und jeder Schüler nicht nur unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen und Potenziale mitbringt, sondern es mit Blick auf eine inklusive Schule vielmehr zahlreiche weitere Heterogenitätsdimensionen ebenfalls zu beachten gilt (vgl. Riemer 2017 zur Verortung des Deutschen als Zweitsprache im Inklusionsdiskurs). Und nicht zuletzt steht eine Evaluation der oben skizzierten didaktischen Konzepte noch weitgehend aus. Insbesondere das aktuell so prominente Scaffolding -Modell erscheint zwar unmittelbar eingängig, bedarf jedoch noch einer empirischen Prüfung zentraler Grundannahmen. Literatur Ahrenholz, B. & Maak, D. (2013): Zur Situation von SchülerInnen nicht‐deutscher Herkunftssprache in Thüringen unter besonderer Berücksichtigung von Seiteneinsteigern. Abschlussbericht zum Projekt „Mehrsprachigkeit an Thüringer Schulen (MaTS)“ . 2. Aufl. [http: / / www.daz-portal.de/ images/ Berichte/ bm_ band_01_mats_bericht_20130618_final.pdf]. Chlosta, C., Ostermann, T. & Schroeder, C. (2003): Die „Durchschnittsschule“ und ihre Sprachen: Ergebnisse des Projekts Sprachenerhebung Essener Grundschulen (SPREEG). In: Essener Linguistische Skripte 3/ 1, 43-139. [https: / / www.uni-due.de/ imperia/ md/ content/ elise/ ausgabe_1_2003_spreeg.pdf]. Frank, M. & Gürsoy, E. (2015): Sprachliches Verstehen im Mathematikunterricht - Studien zum Umgang mit Textaufgaben in der Sekundarstufe I und Perspektiven für die Lehrerbildung. In: C. Benholz, M. Frank & E. Gürsoy (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Konzepte für Lehrerbildung und Unterricht. Stuttgart, 135-161. Gibbons, P. (2002): Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth, NH. Gogolin, I. (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. 2. Aufl. Münster. Gürsoy, E. (2010): Language Awareness und Mehrsprachigkeit. [https: / / www.uni-due.de/ imperia/ md/ content/ prodaz/ la.pdf]. Jeuk, S. & Settinieri, J. (Hrsg.) (2019): Handbuch Sprachdiagnostik Deutsch als Zweitsprache. Berlin. Kniffka, G. & Siebert-Ott, G. (2012): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und Lernen. 3. Aufl. Paderborn. Lange, I. & Gogolin, I. (2010): Durchgängige Sprachbildung. Eine Handreichung. Unter Mitarbeit von Dorothea Grießbach. Münster. Leisen, J. (2013): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in 509 111. BilingualerSachfachunterrichtundMehrsprachigkeit der Praxis. Grundlagenteil/ Praxismaterialien. Stuttgart. Riemer, C. (2017): DaZ und Inklusion - Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein fachpolitischer Positionierungsversuch aus der Perspektive des Fachs DaF/ DaZ. In: M. Becker-Mrotzek, P. Rosenberg, C. Schroeder & A. Witte (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung . Münster, New York, 171-186. Schmölzer-Eibinger, S., Dorner, M., Langer, E. & Helten-Pacher, M.-R. (2013): Sprachförderung im Fachunterricht in heterogenen Klassen. Stuttgart. Tajmel, T. (2010): Physikunterricht als Lernumgebung für Sprachlernen. In: W. Knapp & H. Rösch (Hrsg.): Sprachliche Lernumgebungen gestalten. Freiburg i. B., 139-154. Tajmel, T. & Hägi-Mead, S. (2017): Sprachbewusste Unterrichtsplanung. Prinzipien, Methoden und Beispiele für die Umsetzung . Münster. Julia Settinieri 111. Bilingualer Sachfachunterricht in der Perspektive von vorhandener und weiterzubauender Mehrsprachigkeit 1. Begrifflichkeit: Bilingualer Sachfachunterricht als eine Form von CLIL Bilingualer Sachfachunterricht wird verstanden als Sachfachunterricht, der in einer Schulfremdsprache erteilt wird, also etwa Geschichte auf Englisch. In jüngerer Zeit wird er - insbesondere auf europäischer Ebene - als Form von Content and Language Integrated Learning (CLIL) betrachtet (Eurydice 2006). Bilingualer Sachfachunterricht ist im deutschen Modell als späte Teilimmersion angelegt, bei der auf einen intensivierten Fremdsprachenunterricht (als „Vorlauf “ bezeichnet) in den Klassen 5 und 6 folgend, bis zu drei Sachfächer parallel im Medium einer Fremdsprache unterrichtet werden. Auf sachfachlicher Seite gibt es nach wie vor ein Übergewicht geisteswissenschaftlicher Fächer. Dies kontrastiert mit der Situation in anderen Ländern, in denen die Naturwissenschaften in CLIL stärker berücksichtigt werden oder sogar ein Übergewicht haben (vgl. Rüschoff et al. 2015). 2. Problemaufriss: Bilingualer Sachfachunterricht/ CLIL und Mehrsprachigkeit - verwandt, distant, aber in Bewegung Der bilinguale Sachfachunterricht wurde mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag 1963 zunächst als praktisches Werkzeug der Völkerverständigung ins Leben gerufen - die Zielsprache (überwiegend Französisch) wurde dementsprechend als Partnersprache bezeichnet. Mit Einführung des europäischen Binnenmarkts und zunehmend spürbarer Globalisierung ist der bilinguale Sachfachunterricht geradezu explodiert, und Englisch wurde die mit Abstand am meisten verwendete Fremdsprache (KMK 2013). Parallel fand eine Umorientierung zu einem Primat des fremdsprachlichen Kompetenzerwerbs gegenüber der kulturellen Bildung statt: die „Partner“wurde zur „Arbeits“-sprache. Bilingualer Sachfachunterricht wird nach wie vor überwiegend an Gymnasien unterrichtet, wenngleich der relative Anteil dieser Schul- 510 AndreasBonnet form aufgrund des Ausbaus von Angeboten in Grundschulen und im beruflichen Bereich leicht rückläufig ist (vgl. KMK 2013). Gleichzeitig wurde der bilinguale Sachfachunterricht immer wieder programmatisch mit Mehrsprachigkeit in Verbindung gebracht. Die wissenschaftlichen und unterrichtspraktischen Diskussionen zum bilingualen Sachfachunterricht/ CLIL, zu interkultureller Pädagogik und zu Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7, 16) haben sich aber jeweils nur am Rande berücksichtigt oder sogar voneinander abgegrenzt. Durch diese Trennung blieb lange unbeachtet, dass der bilinguale Sachfachunterricht in der Regel der Perspektive einer doppelten Einsprachigkeit und damit einem doppelten monolingualen Habitus folgt: Er wird als Immersion in die Zielsprache (nach wie vor zumeist Englisch oder Französisch) durchgeführt, und man geht von einer weitgehend homogenen Schülerschaft mit Deutsch als Erstsprache aus, von der man annimmt, dass sie von den Lernern am besten beherrscht wird. Zwei Entwicklungen brechen diese Sicht zunehmend auf. Erstens ist durch den Ausbau des bilingualen Sachfachunterrichts in den letzten Jahren dessen Schülerschaft sprachlich und sozio-ökonomisch heterogener geworden. Zweitens wurde in Forschung und Unterrichtsentwicklung im letzten Jahrzehnt zunehmend auffällig, dass Ansätze wie „sprachsensibler Fachunterricht“ oder „durchgängige Sprachbildung“ und bilingualer Sachfachunterricht denselben unterrichtsmethodischen Konzepten folgen. Sie werden zunehmend als komplementäre Formen von CLIL betrachtet, so dass man davon sprechen kann, dass die wissenschaftlichen und unterrichtspraktischen Diskurse konvergieren. 3. Forschungsstand: Die Mehrsprachigkeit des bilingualen Sachfachunterrichts/ CLIL Aus dieser Situation resultieren zwei Fragen. Die erste Frage ist, zu welcher Art von Mehrsprachigkeit bilingualer Sachfachunterricht führt. Man kann empirisch gesichert davon ausgehen, dass Absolventinnen und Absolventen von CLIL Angeboten gegenüber Absolventen monolingualer Bildungsgänge über höhere fremdsprachliche Kompetenzen verfügen. Dies belegen zahlreiche internationale Studien, und in Deutschland bestätigt sich dieses Ergebnis sowohl für den bilingualen Sachfachunterricht als auch für die immersiven Grundschulen (vgl. Literatur bei Bonnet 2016). Die erhöhte Sprachkompetenz betrifft sowohl Lexis und Syntax als auch Diskursivität und Pragmatik. Diese Effekte sind nicht nur der inhaltsorientierten Inszenierung des Unterrichts zuzuschreiben, sondern ergeben sich auch aus insgesamt erhöhter Kontaktzeit, sprachlichem Vorlauf und Selektionseffekten (Rumlich 2015). Obwohl es auch im Bereich der language awareness Anzeichen für einen erhöhten Kompetenzerwerb gibt, ist dies nicht in gleicher Weise wie bei anderen fremdsprachlichen Kompetenzen empirisch belegt (↗ Art. 43). Man kann daher resümieren, dass CLIL sicher zu erhöhter Sprachkompetenz und vermutlich auch zu erhöhter language awareness führt. Offen hingegen ist, inwieweit bilingualer Sachfachunterricht / CLIL auch dazu führt, dass es zu einer verbesserten meta - und v. a. epilinguistic awareness kommt, so wie sie für additiv mehrsprachige Menschen typisch ist (vgl. Beiträge in Bonnet & Siemund 2018). Die zweite Frage ist, inwiefern der bilinguale Sachfachunterricht überhaupt lebensweltliche Mehrsprachigkeit bzw. Vielsprachigkeit berücksichtigt (↗ Art. 100). Zu dieser Frage sind 511 im deutschsprachigen Raum nur minimale empirische Daten zu finden. Der didaktische Diskurs zum bilingualen Sachfachunterricht ist seit seinem Entstehen von der Orientierung auf eine monolingual deutsche Schülerschaft geprägt (vgl. Breidbach 2007). Daher ist die Annahme sehr plausibel, dass im bilingualen Sachfachunterricht lebensweltliche Vielbzw. individuelle Mehrsprachigkeiten nicht und schon gar nicht systematisch berücksichtigt werden. Die einzige vorliegende Studie - zu Politikunterricht im bilingualen Sachfachunterricht - bestätigt diese Annahme auch in Bezug auf kulturelle Bezüge, so dass sich homogenisierende Kulturkonzepte (↗ Art. 1) durchsetzen (Schneider 2018). 4. Praxisrelevanz und Perspektiven: Wie finden bilingualer Sachfachunterricht/ CLIL und plurilinguale Ansätze zueinander? Dadurch verschenkt der bilinguale Sachfachunterricht ein großes Potenzial. Bereits 2007 hat Hasberg für das Sachfach Geschichte - zweifelsohne polemisch, aber sehr konsequent - darauf hingewiesen, dass das Ziel interkultureller Bildung v. a. dann zu erreichen sei, wenn im bilingualen Sachfachunterricht die verschiedenen Perspektiven auch durch verschiedene Sprachen repräsentiert würden (↗ Art. 112). Da der Sprachvergleich hinsichtlich fachlicher Begriffe durch Vergleich verschiedenster Quellen (z. B. Bilder, Filme, Statistiken, Texte) von Anfang an zu den Lernzielen des bilingualen Sachfachunterrichts und zur CLIL-Didaktik gehört und in vielen Modellen (z. B. Coyles 4Cs Modell, Coyle, Hood & Marsh 2010: 27-47, vgl. Art. 116) und für mehrere Unterrichtsfächer dessen Potenzial beschrieben wurde, wäre es nur konsequent, wenn sich der bilinguale Sachfachunterricht den Herkunftssprachen öffnen und auch gezielt jeweils andere Schulfremdsprachen berücksichtigen würde. Dadurch könnten mindestens drei Effekte erreicht werden: (1) Vertiefung des begrifflichen Lernens durch Verbreiterung sprachvergleichender Kontrastierungen in den Sachfächern; (2) Vertiefung des Erwerbs von Sprachen- und Kulturenbewusstheit, so dass sie sich ggf. weiter in die im Kontext von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit mögliche metalinguistic awareness entwickeln könnte; (3) Ermöglichung sinnstiftender eigensinniger und authentisch biographischer Anschlüsse mehrsprachiger Lernender, die die interkulturelle Bildung der gesamten Lerngruppe vertiefen und das investment der Mehrsprachigen erhöhen könnten. Um dieses Potenzial zu realisieren, müssten im bilingualen Sachfachunterricht plurilinguale Methoden der Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 6, 7) eingesetzt werden. Dazu einige Beispiele: (1) Spontane Sprachvergleiche jenseits der Mehrheitssprache Deutsch sollten zugelassen, systematische Sprachvergleiche sogar geplant werden. Dies ist besonders im naturwissenschaftlichen Unterricht relevant. Eine zentrale Herausforderung ist es dort, die alltagssprachlich repräsentierten Konzepte der Lernenden in Richtung fachlicher Konzepte weiterzuentwickeln. Je nach Herkunftssprache können dabei erschwerende Interferenzen auftreten, wenn in der jeweils herkunftssprachlichen Alltagssprache Begriffe anders als im Deutschen und konträr zur fachsprachlichen Begrifflichkeit verwendet werden (Vögeding 1995); (2) Das Prinzip der mehrsprachigen Gestaltung, so wie es bei mehrsprachigen Bilderbüchern etabliert ist, kann dabei gezielt auf typische Textsorten wie z. B. das Versuchsprotokoll übertragen werden. Methoden zur Verknüpfung von 111. BilingualerSachfachunterrichtundMehrsprachigkeit 512 AndreasBonnet bildlichen und textlichen Repräsentationen im Sinne eines Wechsels der Darstellungsformen, wie z. B. der Filmstreifen, können dabei genutzt werden, um naturwissenschaftliche oder historische Prozesse zu verstehen (↗ Art. 31). Dazu können auch im Bereich mehrsprachigen Schreibens etablierte elektronische Plattformen wie scrib-jab erprobt werden; (3) Linguistic landscaping in der Klasse, in der Schule und im Quartier bietet sich als geographie-propädeutische Aktivität im Vorlauf in den Klassen 5 und 6 und vielleicht sogar im Geographieunterricht selbst an (↗ Art. 113). Umgekehrt kann aber auch die Mehrsprachigkeitsdidaktik den wichtigen Impuls des bilingualen Sachfachunterrichts/ CLIL aufnehmen und stark auf inhaltsorientierte Konzepte von Fremdsprachenunterricht setzen. Dies haben Hufeisen & Schlabach aktuell aufgegriffen (2018) und dies ist in der Interkomprehensionsdidaktik ebenfalls schon länger etabliert. Damit bewegen sich die Diskussion zum bilingualen Sachfachunterricht/ CLIL und die Mehrsprachigkeitsdidaktik weiter aufeinander zu. Somit geht es sowohl in der Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern als auch in der Forschung darum, die Schnittmengen der Didaktiken zum bilingualen Sachfachunterricht/ CLIL und Mehrsprachigkeit herauszuarbeiten und so Unterrichts- und Forschungspraxen intensiver aneinander anzunähern und miteinander in Beziehung zu setzen. Literatur Bonnet, A. & Siemund, P. (Hrsg.) (2018): Foreign Language Education in Multilingual Classrooms. Amsterdam, Philadelphia. Bonnet, A. (2016): Two for the price of one? - Das Verhältnis von sachfachlicher und fremdsprachlicher Bildung beim Content and Language Integrated Learning. Sprachliches und Sachfachliches Lernen im Bilingualen Sachfachunterricht. In: B. Diehr, G. Preisfeld & L. Schmelter (Hrsg.) Bilingualen Unterricht weiterentwickeln und erforschen . Frankfurt a. M., 37-56. Breidbach, S. (2007): Bildung, Kultur, Wissenschaft - Reflexive Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht. Münster. Coyle, D., Hood, P. & Marsh, D. (Hrsg.) 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Begrifflichkeit Dem Sachfach Geschichte kommt neben den Fächern Geographie (↗ Art. 113) und Gemeinschaftskunde traditionell eine herausgehobene Rolle in den bilingualen Unterrichtsangeboten zu, was auf die Genese des bilingualen Unterrichts als politisches Projekt im Rahmen der deutsch-französischen Aussöhnung in den 1960er Jahren zurückgeht. Die seitdem entstandene begriffliche Vielfalt entsprechender Lehr- und Lernangebote weicht national und international mehr und mehr dem Oberbegriff Content and Language Integrated Learning (CLIL, Eurydice 2006). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in CLIL (↗ Art. 111) allgemein und im bilingualen Geschichtsunterricht im Besonderen können in Bezug auf normative und organisationale Dimensionen (Zielsprachen, Organisationsformen, Lehrpläne, Aufgaben), lernerbiografische (Herkunftssprachen und -kulturen), konzeptuelle sowie sozial-interaktionale Dimensionen modelliert werden. Im Folgenden werden nach einem kurzen Abriss über die Entwicklung der Konzeption des bilingualen Geschichtsunterrichts schwerpunktmäßig Forschungsstände zur Konzeptbildung vorgestellt, da diese besondere Relevanz im Hinblick auf die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz beanspruchen (Finkbeiner et al. 2018). 2. Problemaufriss Bei der Entstehung deutsch-französischer bilingualer Zweige in den 1960er Jahren betrachtete man die Fächer Geographie und Geschichte als prädestiniert dafür, den Gedanken der deutsch-französischen Aussöhnung mit einem bilingualen Bildungskonzept zu verbinden. Die beiden Sprachen Deutsch und Französisch wurden allerdings zunächst mit einem monolingualen Vermittlungskonzept unterrichtet, d. h. in bilingualen Zweigen, in denen die Zielsprache zugleich Unterrichtssprache war und möglichst die komplette Unterrichtskommunikation in dieser Sprache bewältigt werden sollte. Auch eine Sprachenbewusstheit im heutigen Sinne war damit noch nicht verbunden (↗ Art. 22). Sie entwickelte sich erst ab der Mitte der 1980er Jahre (Hawkins 1984; James & Garrett 1991; Fairclough 1997; 2001). Ähnliches gilt für die Kulturvorstellungen (↗ Art. 1). Diese waren dem allgemeinen Stand der konzeptuellen Entwicklung des Kulturbegriffs zunächst noch einem normativen bzw. totalitaristischen Konzept (vgl. Reckwitz 2004) verpflichtet, das Kulturen als relativ homogene an Staaten und Gesellschaften gebundene Entitäten betrachtete, deren sich 514 BerndTesch wandelnde Geschichte, Werte und Normen im Unterricht zu rekonstruieren war (↗ Art. 10). Die fachdidaktische Theorie konzipiert den bilingualen Geschichtsunterricht neuerdings auf einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Grundlage (Deutsch 2016; Finkbeiner et al. 2018). Die Mehrsprachigkeit wird hier sowohl zielsprachlich (z. B. Englisch, Französisch), quellensprachlich (z. B. englisch-, französisch-, spanischsprachige Quellen) und herkunftssprachlich (zu Hause gesprochene Sprachen) modelliert. Analog dazu werden auch Kulturen nicht mehr in ihrer historischen Differenz zueinander, sondern auch in ihrer gegenseitigen Beeinflussung erfasst. Diese Sichtweise ist für die Fremdsprachendidaktiken noch relativ jung - sie setzte erst mit dem Aufkommen einer interkulturellen Didaktik (↗ Art. 32) in den 1990er Jahren ein (z. B. Byram 1997). Für die Geschichtsdidaktik ist sie mit dem Begriff der Mehrperspektivität konstitutiv. Die normative und organisationale Dimension des bilingualen Geschichtsunterrichts, wie sie sich u. a. in den Lehrplänen spiegelt, sieht die Möglichkeit vor, in praktisch allen Schulfremdsprachen bilingualen Geschichtsunterricht anzubieten. Die Lehrpläne geben überdies Hinweise zu den Arbeitssprachen (in der Regel Englisch oder Französisch). Die Einbeziehung von Herkunftssprachen wird nicht thematisiert. 3. Forschungsstand Die mehrsprachige und mehrkulturelle Dimension des bilingualen Geschichtsunterrichts wird u. a. von Finkbeiner et al. (2018) modelliert. Die Autorinnen und Autoren beziehen in ihrem Kriterienraster für Aufgaben Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität explizit mit ein. Konkret ist darunter die mehrsprachige Konzeptbildung auf Basis außerunterrichtlicher Muttersprachen zu verstehen, wie sie von Pavlenko (2009) modelliert wurde. Pavlenko unterscheidet drei Kategorien: L1-spezifische Kategorien, geteilte Kategorien sowie L2-spezifische Kategorien. Demzufolge werden bestimmte Konzepte im bilingualen Sachfachunterricht genauso verwendet, wie sie in der Muttersprache, z. B. Türkisch oder Russisch, angelagert wurden und zwar abweichend von den Zielsprachen. Geteilte Konzepte hingegen stimmen in der Muttersprache und den Zielsprachen überein. Die L2-spezifischen Konzepte schließlich sind in der Muttersprache gar nicht vorhanden und müssen daher in den Zielsprachen neu angelegt werden. Dieses Modell wurde allerdings nicht im Hinblick auf den Sprachenunterricht entwickelt und beinhaltet also nicht die Kongruenzen und Differenzen zwischen der Verkehrs- und der/ den Fremdsprache/ n. Noch komplexer fällt die Modellierung im Hinblick auf Quellendokumente aus, die neben den beiden Zielsprachen weitere Sprachen beinhalten, z. B. deutsche, englische und französische Quellen. Damit ist die konzeptuelle Dimension des bilingualen Geschichtsunterrichts generell angesprochen. Sie lässt sich durch einen doppelten Konzeptwechsel (z. B. Posner et al. 1982) kennzeichnen. Zunächst einmal werden Alltagskonzepte in akademische Konzepte transformiert. Diese wiederum lassen sich nach Lee (2004) in substantive concepts (auch first order concepts ) und second order concepts differenzieren. Unter substantive concepts sind Konzepte und Begriffe aus einer bestimmten Epoche zu verstehen. Pflüger (2016) nennt das Beispiel der poilu , der französischen Bezeichnung für französische Soldaten im ersten Weltkrieg. Second order concepts dagegen sind akademische oder wissenschaftliche Konzepte über eine be- 515 stimmte Epoche oder ein bestimmtes Phänomen, Konzepte also, die mit einem zeitlichen Abstand entstanden sind, beispielsweise die Bezeichnung „Stunde Null“ für die Zeit unmittelbar nach Kriegsende 1945. Ein Blick auf die Literalitätsforschung zeigt, dass dort zwischen einer allgemeinen bildungssprachlichen Diskursfähigkeit (Vollmer & Thürmann 2013) und einer fachsprachlichen Diskursfähigkeit ( Cognitive academic language proficiency , CALP, Cummins 1979; 1984; Schmölzer-Eibinger 2013; Zydatiß 2013) unterschieden wird, während eine weitergehende Position auch noch eine dem spezifischen fachlichen Denken entsprechende fachliche Literalität (Shanahan & Shanahan 2008) postuliert. First und second order concepts gehören somit zur Sachfachliteralität. Die Herausforderung des bilingualen Geschichtsunterrichts liegt darin, die Alltagskonzepte und ihre Grenzen für das historische Verstehen bewusst zu machen und einen doppelten Konzeptwechsel hin zu substantive concepts , sowie den first und second order concepts, anzubahnen (vgl. Maset 2015). 4. Praxisrelevanz Die praktische Relevanz der o. g. sachfachlichen Literalitätsforschung bezogen auf den bilingualen Geschichtsunterricht ergibt sich vor allem im Hinblick auf die Herausforderungen an historisches Lesen, Schreiben und allgemein historisches Denken (ibd.). Der erhoffte Konzeptwechsel von Alltagszu wissenschaftsnahen Konzepten und damit die Herausbildung einer vertieften Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz (↗ Art. 7, 8) lässt sich empirisch allerdings bisher nicht stützen; es kommt lediglich zu sprachlichen Zuwächsen in der Zielsprache (Zydatiß 2007). Die interaktionale Ebene des bilingualen Sachfachunterrichts (Bonnet 2007) sowie die kognitiven Herausforderungen bei der Anbahnung historischen Denkens (Maset 2015) werden nicht selten unterschätzt, Praxisstudien zum bilingualen Geschichtsunterricht stellen ein Desiderat dar. Bonnet (2005) folgend beeinflussen soziale (Beziehungs- und Partizipationsaspekt) sowie metakognitive (Organisations- und Argumentationsaspekt) Dimensionen gleichermaßen die erfolgreiche Bedeutungsaushandlung in kooperativen Lernumgebungen, was ein spezifisches und dem Komplexitätsgrad der Aufgaben angemessenes methodisches Training erforderlich macht. Schneider (2017) weist gar als Ergebnis einer empirischen Studie im Fach Politikwissenschaft daraufhin, dass die Durchsetzung einer fachdidaktischen Norm - der Aufgabenorientierung - im Verbund mit einer affirmativen und gerade nicht reflexiven interaktionalen Praxis kulturelle Bildungsprozesse verhindert. 5. Perspektiven In der Zusammenschau wird deutlich, dass die Förderung einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz im bilingualen Sachfach Geschichte keinem Automatismus folgt, sondern ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren und Aspekte voraussetzt, die gemeinsam dazu beitragen, dass mehrsprachige und mehrkulturelle Konzepte entwickelt werden können. Neben alle Aspekte berücksichtigenden sorgfältig ausgearbeiteten Aufgabenstellungen scheinen die Praxis und Gewohnheit des bewussten sprachlichen Vergleichens, des Perspektivenwechsels, des kontroversen Argumentierens und der Reflexion von Diskurspraktiken diese Fähigkeiten zu befördern (vgl. Maset 2015). 112. GeschichtealsbilingualesSachfachundMehrsprachigkeit 516 BerndTesch Literatur Bonnet, A. (2007): Fach, Sprache, Interaktion - Ein Drei-Säulen-Modell für CLIL. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 36, 126-141. Cummins, J. (1984): Bilingualism and Special Education: Issues in Assessment and Pedagogy . 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Immerhin beschäftigt es sich doch mit anderen Ländern und Regionen, den Kulturen der dort lebenden Menschen, ihren Gesellschafts- und Kommunikationsformen sowie ihren Arbeits- und Wirtschaftsweisen. Nicht von ungefähr ist das Potenzial des bilingualen Geographieunterrichts für eine ‚internationale Erziehung‘ früh herausgestellt worden (Weber 1993), die auf Aspekte der Völkerverständigung und Friedenssicherung (↗ Art. 39) abzielt. Vertieftes Wissen über andere Völker ebenso wie die Möglichkeit zum kommunikativen Austausch mit ihren Menschen, so die Grundannahme, die Weber durch erste empirische Erkenntnisse belegen konnte, verringere die Gefahr von Stereotypenbildung (↗ Art. 32, 34) und trage zu einer größeren interkulturellen Offenheit bei. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings klar, dass diese Überlegungen ebenso wie einige der frühen Vorschläge zur Reflexion fach(sprach)licher Konzepte im bilingualen Unterricht (vgl. die Beispiele zur Völkerwanderung/ migration des barbares oder zur Reichsprogromnacht/ Night of the Broken Glass in Finkbeiner & Fehling 2002: 19 f.) mindestens aus heutiger Sicht auf einem verengten Kulturbegriff (↗ Art. 1) basieren. Dieser läuft Gefahr, einer vorschnellen Gleichsetzung von Sprache, Kultur, Land und Nation zu erliegen und so zu einem verkürzten Verständnis der Begriffe ‚Mehrkulturalitätskompetenz‘ und ‚Mehrsprachigkeitskompetenz‘ beizutragen. 2. Der Raum als Kernbegriff der Geographie Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Geographie ist der Raum, der einerseits als physische Entität, andererseits als soziales, ökonomisches und/ oder politisches Konstrukt (einschließlich damit verbundener Machtstrukturen) analysiert wird. Wichtiger als eine getrennte Betrachtungsweise natürlicher und anthropogener Faktoren ist die Analyse der Wechselwirkungen beider Dimensionen: Wie ermöglichen die physiogeographischen Gegebenheiten die Lebens- und Wirtschaftsweisen der Menschen und wie beeinflussen sich diese Dimensionen gegenseitig? Der Raumbegriff wird dabei ähnlich komplex diskutiert wie beispielsweise der Kulturbegriff in den sozial- und kulturwissenschaftlichen oder philologischen Fächern: ein physisch-materielles Verständnis des Raumkonzepts, welches sich auf die mess- und kartierbaren Aspekte bezieht, wird einem subjektiv-konstruktivistischen Raumbegriff gegenübergestellt. Dieser bezieht sich auf die individuellen Wahrnehmungen eines Raumes sowie auf die Frage, wie über diesen kommuniziert wird (vgl. Hemmer & Uphues 2012). Der Raum kann dabei auch in Form staatlicher Territorien betrachtet werden und so in die Nähe des Nationenbegriffs geraten, ist aber nicht auf diesen begrenzt. 518 BrittaViebrock Räume können durch die jeweilige thematische Fokussierung auch sehr viel kleiner (z. B. bei der Untersuchung der Wanderungsbewegungen eines Stadtteils, vgl. ibid.) oder größer (z. B. bei der Betrachtung plattentektonischer Phänomene, die ganze Kontinente betreffen) dimensioniert sein. 3. Raumbegriffe im fremdsprachendidaktischen Diskurs Der Raumbegriff ist mit anderer Bedeutung auch im fremdsprachendidaktischen Diskurs verwendet worden, z. B. als ‚third place‘ (Kramsch 1993). Er geht nur am Rande von einer geographischen Verortung aus, sondern beschreibt, basierend auf einem grundsätzlich dichotomen Kulturbegriff, ein Dazwischen im Prozess der interkulturellen Kommunikation, welches durch die Fähigkeit von Perspektivübernahme und kritischer Reflexion des Eigenen (↗ Art. 36) gekennzeichnet ist. Eine Weiterentwicklung dieses Raumbegriffs stellen Hallets (2002) Konzepte des ‚hybriden Raums‘ für den fremdsprachlichen Unterricht bzw. des ‚interkulturellen Diskursraums‘ (Hallet 2004) für den bilingualen Unterricht dar. Beide sind in ihren Grundannahmen nahezu deckungsgleich und gehen zunächst von einem zwar dichotomen, aber partizipatorischen Kulturbegriff aus, der insbesondere durch seine Diskursivität und Prozesshaftigkeit, zu der auch die Lerner durch ihr Handeln im Klassenraum beitragen, flexibler und dynamischer wird. Grundsätzlich interagieren drei miteinander in Beziehung stehende Diskurssphären (ähnlich auch schon in Hallets bilingual triangle [1998: 119]): eine eigenkulturelle, eine fremdkulturelle und eine übergreifende, transkulturelle Diskurssphäre (↗ Art. 41). Insbesondere die letztgenannte Sphäre basiert auf komplexen geographischen Verortungen und überschreitet (im Hinblick auf Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdiskurse problematische) die Eigen-Fremd-Dichotomie. Die transkulturelle Diskurssphäre fokussiert Themen, die „nicht in einer der Zielkulturen lokalisierbar und nur begrenzt einzelkulturell determiniert“ (Hallet 2002: 45) sind. 4. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im bilingualen Geographieunterricht Die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Raumbegriffs in den Disziplinen weisen als Gemeinsamkeit die Diskussion um die Begrenzung und Repräsentation von Räumen einerseits und die Überwindung ebensolcher Grenzen andererseits sowie die Bezugnahme auf Konzepte der Inter- und Transkulturalität auf (↗ Art. 41). Dabei ist jeweils das Verhältnis der verwendeten Begriffe (z. B. Raum, Kultur, Diskurssphäre) zueinander zu bestimmen. Auf dieser Grundlage ist dem bilingualen Geographieunterricht durchaus das Potenzial zuzuschreiben, zu einer erweiterten Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätskompetenz beizutragen. Das von Coyle et al. (2010: 41) entworfene 4Cs Modell (das, wenn man den Kontext mitbetrachtet, genau genommen 5Cs heißen müsste) eignet sich als grundsätzliche Rahmung für solche Reflexionsprozesse, wenn man die Begriffe etwas abstrakter versteht, als Coyle et al. es tun. In ihrem Modell sind Content , Cognition und Communication die zentralen Merkmale des Unterrichts, der kulturell gerahmt ist ( Culture ) und in einem spezifischen Context stattfindet. Im Einzelnen bezeichnet Content den Fachinhalt, der immer sprachlich vermittelt ist und im Medium der Fremdsprache gelernt wird ( Communication ). Cognition 519 bezieht sich auf die dafür notwendigen kognitiven Prozesse. Culture wird bei Coyle et al. (ibid.: 41) verstanden als “intercultural understanding and global citizenship”, allerdings auf der Basis eines ungeklärten Interkulturalitäts- und Citizenship-Begriffs. Context bezeichnet die individuellen und spezifischen Kontexte, in denen Lernen im bilingualen Unterricht inszeniert wird. Sowohl Culture als auch Context sind unmittelbar anschlussfähig an die hier vorgestellten Raumkonzepte, die sich einerseits auf geographische Räume, andererseits auf den Unterrichtsraum und die darin agierenden Lernenden mit ihren Lebenswirklichkeiten beziehen sowie an Zielvorstellungen globaler Erziehung (vgl. Viebrock 2015) anknüpfen (↗ Art. 37). Sie eignen sich insbesondere im Sinne einer reflexiven Didaktik (Breidbach 2007) als Ausgangspunkt zur Thematisierung von Hybriditätsdimensionen und so zu einer differenzierten Ausbildung von Mehrkulturalitäts- und ggf. auch Mehrsprachigkeitskompetenz. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass empirische Befunde auf besondere Herausforderungen an dieser Stelle hinweisen: Schneider (2018: 380 ff.) kann belegen, dass der bilinguale Unterricht schon der Anforderung nach einer Ausbildung von bilingual literacy (Königs 2013: 37), also der Fähigkeit, sich fachsprachlich sowohl in der Fremdsprache als auch im Deutschen auszudrücken, nicht nachkommt und keine „aufeinander bezogene begriffliche und konzeptuelle fachbezogene kognitive Entwicklung in und durch zwei Sprachen“ (ibid.: 36) stattfindet, ebenso wenig wie „kognitive Konzeptbildung in beiden (oder mehr) beteiligten Sprachen“ (ibid.) erfolgt. Insbesondere werden auch die Herkunftssprachen der Lerner in der Regel nicht einbezogen, sodass sich Mehrsprachigkeitskompetenz bestenfalls durch die Addition der verwendeten Arbeitssprache zum vorhandenen Sprachenportfolio ergibt. Im Hinblick auf kulturelle Bildung weist Schneider (2018: 393) eine „starke Tendenz zur Homogenisierung“ sowie kollektive Distanzierungs- und Abgrenzungstendenzen nach, die Hybriditätsreflexionen entgegenstehen. Diese sind also nicht, wie vielfach postuliert, automatisch in der Struktur des bilingualen (Geographie-)Unterrichts angelegt, sondern müssen sorgfältig inszeniert werden. Literatur Breidbach, S. (2007): Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht . Münster. Coyle, D., Hood, P. & Marsh, D. (2010): CLIL: Content and Language Integrated Learning . Cambridge. Finkbeiner, C. & Fehling, S. (2002): Bilingualer Unterricht: Aktueller Stand und Implementierungsmöglichkeiten im Studium. In: C. Finkbeiner (Hrsg.): Bilingualer Unterricht. Lehren und Lernen in zwei Sprachen . Hannover, 9-22. Hallet, W. (1998): The Bilingual Triangle. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 45/ 2, 115-125. Hallet, W. (2002): Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen: Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik . Trier. Hallet, W. (2004): Bilingualer Sachfachunterricht als interkultureller Diskursraum. In: A. Bonnet & S. Breidbach (Hrsg.): Didaktiken im Dialog. Konzepte des Lehrens und Wege des Lernens im bilingualen Sachfachunterricht . Frankfurt a. M., 141-152. Hemmer, M. & Uphues, R. (2012): Abwanderung aus der Großwohnsiedlung Berlin-Marzahn. Eine Analyse mittels der vier Raumperspektiven der Geographie. In: Praxis Geographie 1, 22-27. 113. GeographiealsbilingualesSachfachundMehrsprachigkeit 520 BrittaViebrock Königs, F. G. (2013): Mehrsprachigkeit und Bilingualer Unterricht/ CLIL: Die Begriffsvielfalt von Mehrsprachigkeit. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Bilingualer Unterricht. Content and Language Integrated Learning . Seelze, 32-39. Kramsch, C. (1993): Context and Culture in Language Teaching . Oxford. Schneider, E. 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Dabei werden Rezeption und schriftliche bzw. mündliche Produktion von Texten stets miteinander verknüpft. Ausgehend von der Auswertung von fremdsprachlichen und muttersprachlichen Texten werden sachfachlich relevante Informationen schriftlich oder mündlich verbalisiert. 1. Die Auswahl der Texte Im bilingualen Sachfachunterricht (↗ Art. 111) werden sehr vielfältige Sorten kontinuierlicher und nicht-kontinuierlicher Texte eingesetzt. Lehrkräfte, die bilingualen Fachunterricht durchführen wollen, suchen Texte nach Kriterien wie fachlicher Aussagegehalt, inhaltliche Relevanz, Anschaulichkeit bzw. Abstraktionsgrad der Darstellung, inhaltlicher und sprachlicher Schwierigkeitsgrad sehr sorgfältig aus, nach Möglichkeit authentische Texte, die von Muttersprachlern für Muttersprachler konzipiert sind. Dazu zählen Gebrauchstexte, aber auch Materialien z. B. aus Erdkunde- und Geschichtsbüchern. Diese werden im heutigen bilingualen Sachfachunterricht in ihrer Originalsprache eingesetzt. Dabei ist auch der komplementäre Einsatz mutter- und fremdsprachlicher Texte sinnvoll. Übersetzungen von Originaltexten, z. B. politischen Reden und Quellentexten, werden eher im Vergleich mit der Originalquelle behandelt und mögliche Konnotationen und Fremdperspektiven herausgearbeitet und besprochen. Die unterschiedlichen Sichtweisen ermöglichen Perspektivierungen von Lebenswirklichkeiten und wichtigen Gegebenheiten. Hierbei wird die fachliche Arbeit durch besondere Förderung des multikulturellen und sprachlichen Lernens, besonders der Sprachmittlungskompetenzen (↗ Art. 6) bereichert. 521 114. MehrsprachigeTextarbeitimbilingualenUnterricht(CLIL) 2. Scaffolding Das besonders gravierende Problem des bilingualen Fachunterrichts sieht E. Thürmann „in der Diskrepanz zwischen den fremdsprachlichen und den kognitiven Möglichkeiten der Lernenden in den Sachfächern. Besonders im bilingualen Anfangsunterricht sind die Texte mit angemessenem sachfachlichen Aussagegehalt sprachlich recht schwierig und können zur Überforderung insbesondere von schwächeren Schülern führen. Wenn sie sprachlich angemessen sind, sind sie sachfachlich häufig zu wenig aussagekräftig, zu oberflächlich und nicht differenziert genug. Deshalb ist die Bereitstellung von Scaffolds unabdingbar (vgl. Thürmann 2010: 143 f.). Beim Scaffolding wird sprachliches Handeln so unterstützt, dass die von der jeweiligen Aufgabe gestellten kognitiven und metakognitiven Operationen für die Lernenden leistbar sind. Das Input-Scaffolding bietet Hilfen zur Erschließung fremdsprachlichen Materials (z. B. Annotationen, Anleitungen, Denkanstöße, andere verbale/ visuelle, inhaltliche/ sprachliche oder methodische Hilfestellungen wie die Angabe von Kernthesen, Hervorhebungen, Teilüberschriften, Tabellen, Strukturskizzen, Schaubilder) an, mit dem Ziel des Verstehens und der Restrukturierung von in Texten enthaltenen Informationen. Beim Output-Scaffolding werden Hilfen zur Verbalisierung von Inhalten zur Vorbereitung von Schülerdarstellungen angeboten. Dabei zu berücksichtigen sind Anforderungen, die die Aufgabe an die Lernenden stellt und Unterstützungsmaßnahmen, die Lernende benötigen, um die Aufgabe selbstständig erfolgreich bewältigen zu können. Um Lernende mit unterschiedlichen Herkunftssprachen, Sprachständen und Leistungsniveaus angemessen zu unterstützen, bietet sich der Einsatz binnendifferenzierender Maßnahmen an. 3. Strategien zur Texterschließung im bilingualen Unterricht Im bilingualen Sachfachunterricht (↗ Art. 111) haben sich folgende Strategien zur selbstständigen Texterschließung besonders bewährt: Fragen zum Text beantworten, Fragen an den Text stellen und sie selbst beantworten, den Text strukturieren, den Text farborientiert markieren, den Text in eine andere Darstellungsart übertragen (Skizze, Bild, Tabelle, Strukturdiagramm, Prozessdiagramm, Mindmap), Schlüsselwörter suchen und den Text zusammenfassen, in den Anfangsphasen auch das Ausfüllen von Lückentexten, das Arbeiten mit einem Textpuzzle, die Beschriftung von Zeichnungen und Bildern mit Begriffen aus dem Text, das Füllen eines Thesentopfes, eines Auswertungsgitters, eines Diagramms, einer Grafik oder eines Bildes mit Textinformationen (vgl. Leisen 2001; Krechel 2010). Im Kontext der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist das Inferieren von Wortbedeutungen besonders wichtig. Das Erschließen der Bedeutungen unbekannter Wörter aus dem sprachlichen Vorwissen (L1 und L2, später auch L3…) und mit Hilfe des Kontextes erweist sich als besonders effektiv. Erleichternd ist die Tatsache, dass beim Vokabular der sachfachrelevanten Ausdrucksweise relativ viele Wörter Internationalismen darstellen und Stammkongruenzen oder -ähnlichkeiten aufweisen, so dass die Bedeutungen von Wörtern in Texten relativ häufig mit Hilfe des sprachlichen Vorwissens und des Kosowie Kontextes hergeleitet werden können, wie z. B. das Vocabularium geographicum mit etwa 3.100 wichtigen Begriffen der Geographie zeigt: Formkongruenz und Bedeutungsadäquanz zeigen sich bei vielen Simplexen und Wortverbindungen (vgl. Quencez 1968; Krechel 1998) (Art. 61). Das Inferieren von Wortbedeutungen muss 522 Hans-LudwigKrechel im Fremdsprachenunterricht gut vorbereitet sein: Erkennen von Wortstämmen, Kenntnisse der Wortbildung, Kenntnisse der Bedeutungen wichtiger Präfixe und Suffixe, Fähigkeiten der Wortsegmentierung. Allerdings stellt sich häufig das Problem, dass heutige Schüler bereits die Bedeutungen von Fachbegriffen und Internationalismen in der Muttersprache nicht kennen. Phonetische, orthographische und morphologische wie semantische Kontraste müssen ihnen bewusstgemacht, sie dafür sensibilisiert werden. Auf Wörterbücher sollten Lernende bei der selbstständigen Textarbeit zurückgreifen, wenn das Erschließen mit Hilfe des sprachlichen Vorwissens und des Kontextes nicht möglich sind. Im Kontext der Mehrsprachigkeitsdidaktik werden im Umgang mit Texten aus verschiedenen Herkunftskontexten zweisprachige Wörterbücher im bilingualen Unterricht häufig eingesetzt. Das schnelle Erfassen der Bedeutung auch durch Kontextvergleich, das schnelle Ermitteln muttersprachlicher und fremdsprachlicher Äquivalenzen bei sachfachrelevanten Begriffen und das Übertragen von Textaussagen in andere Sprachen sind wichtige Verfahren. Die Arbeit mit einsprachigen Wörterbüchern ist besonders am Anfang des bilingualen Unterrichts weniger sinnvoll. Die Definitionen im einsprachigen Gebrauchswörterbuch (20.000 bis 30.000 Lemmata) sind häufig nicht präzise genug und sind sachfachlich wenig auswertbar. Anders ist die Arbeit mit fremdsprachlichen Fachwörterbüchern zu beurteilen, besonders bei der Bedeutungserfassung wichtiger Schlüsselwörter, deren Bedeutungen in L1 und L2 kontrastieren. Mit diesen Wörterbüchern kann allerdings erst bei fortgeschrittenem Sprachstand der Schüler in der Oberstufe gearbeitet werden. 4. Fachliche Fokussierungen Fremdsprachlich relevante Methoden der Texterschließung, Arbeitstechniken und Leseaufgaben sollten aber nicht einfach additiv in den bilingualen Sachfachunterricht übertragen, sondern in die eigene, auf das Sachfach ausgerichtete Lesedidaktik integriert werden. Dabei sind unterschiedliche fachliche Fokussierungen besonders wichtig. Entscheidend ist, dass die Lerner Sinnbezüge herstellen und das Gelesene mit bereits erworbenen Kennnissen verknüpfen und kombinieren. Zum strategischen Lesen gehört das Organisieren von Gedanken, das Problemlösen, das Vergleichen, die Deskription, die Ursachenanalyse, das Schlussfolgern und Bewerten. Dabei wird das Lesen des Textes auf bestimmte sachfachrelevante inhaltliche Orientierungen fokussiert. Beim Lesen von historischen Quellen im bilingualen Geschichtsunterricht beispielsweise muss darauf geachtet werden, dass der Einsatz von Makrostrategien bei der Texterschließung nicht zu kurz kommt. Denn um einen Quellentext adäquat erschließen und die Textaussagen fachlich angemessen bewerten zu können, bedarf es der Berücksichtigung des kulturellen, sozioökonomischen und politischen Hintergrundes dieses historischen Quellentextes. Deshalb muss der Prozess des Textverständnisses durch bewusstes systematisches Hinzuziehen und Erweitern des historischen Vorwissens ablaufen. Literatur Helbig, B. (2001): Das bilinguale Sachfach Geschichte. Eine empirische Studie zur Arbeit mit französischsprachigen (Quellen-)Texten . Tübingen. Krechel, H.-L. (1998): Sprachliches Lernen im bilingualen Unterricht: ein Vehikel zur Mehr- 523 115. ÖffnungbilingualerBildungsgängezurMehrsprachigkeit sprachigkeit. In: F.-J. Meißner & M. Reinfried (Hrsg.) (1998): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Sprachen. Tübingen, 121-130. Krechel, H.-L. (2010): Lern- und Arbeitstechniken im bilingualen Unterricht. In: S. Doff (Hrsg.): Bilingualer Sachfachunterricht in der Sekundarstufe. Eine Einführung . Tübingen, 154-168. Leisen, J. (Hrsg.) (2001): Methoden-Handbuch. Deutschsprachiger Fachunterricht (DFU). Bonn. Quencez, G. (1968): Vocabularium Geographicum . Strasbourg. Thürmann, E. (2010): Zur Konstruktion von Sprachgerüsten im bilingualen Sachfachunterricht: In: S. Doff (Hrsg.): Bilingualer Sachfachunterricht in der Sekundarstufe . Tübingen, 137-153. Hans-Ludwig Krechel 115. Öffnung bilingualer Bildungsgänge zur Mehrsprachigkeit 1. Problemaufriss Bilinguale Bildungsgänge stellen sich in vielfältigen Organisationsformen dar (Hallet & Königs 2013). Institutionell verankert sind bilinguale Züge mit durchgehender Verwendung einer Fremdsprache in wechselnden Sachfächern. Dies kann in das deutsch-französische Abitur ( abi-bac ) oder in ein internationales Abitur münden. Der Schwerpunkt bilingualer Züge liegt an Gymnasien und erreicht damit eher leistungsstarke Lerner (Zydatiß 2007: 90 ff.). In bilingualen Zügen in Deutschland findet ein in großen Teilen einsprachiger Unterricht statt, zumal es keinen bilingualen oder mehrsprachigen gesellschaftlichen Bezug gibt wie in vielen außereuropäischen Kontexten (z. B. kanadische Immersionsmodelle). Der Begriff „bilingual“ wird daher oft durch CLIL ( Content and Language Integrated Learning ) ersetzt. Bilingualer Unterricht (↗ Art. 111) wurde jedoch unter zwei Zielvorstellungen in Deutschland eingeführt. Zum einen sollte er eine europäische Maßnahme zur Mehrsprachigkeitsförderung (Art. 6) im Sinne des Erwerbs von mindestens zwei weiteren Sprachen neben einer L1 darstellen. In der Regel jedoch wird der Erwerb einer Sprache (zumeist Englisch) auf hohem Niveau angestrebt. Zum anderen verfolgte man mit der Einrichtung der ersten deutsch-französischen Züge das politische Ziel der Völkerverständigung und interkulturelles Lernen (↗ Art. 32). Auch hier ist der Fokus bilateral und im Grunde nicht auf Mehrsprachigkeit gerichtet. Das Ziel der Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (Art. 7) durch bilinguale Züge wurde daher kritisch hinterfragt (Deutsch 2016). 2. Bilinguale Bildungsgänge mit dem Fokus auf Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität Mehrsprachigkeitsdidaktische Ziele, aber auch Gründe wie Zeitökonomie, Schulorganisation oder Schulprofil, veranlassten zur Entwicklung weiterer bilingualer Bildungsgänge. Das Format der bilingualen Module als fremd- und dezidiert mehrsprachiger Unterricht in einer oder aufeinanderfolgenden Lerneinheiten stellt eine Alternative dar. Der Grundgedanke ist die Auswahl unterrichtlicher Inhalte, die 524 DagmarAbendroth-Timmer zur Multiperspektivität anregen. Es werden daher im Hinblick auf Mehrkulturalität relevante Themen in verschiedenen Fächern für epochale Module ausgewählt. Die Wahl der Arbeitssprache/ n richtet sich nach den Inhalten und beschränkt sich nicht auf eine Sprache. Gerade Herkunftssprachen finden Berücksichtigung. Hier setzt die Staatliche Europa-Schule Berlin an. Die Klassen werden zur Hälfte von Lernern mit der Ausgangssprache Deutsch bzw. mit einer anderen Herkunftssprache besucht. Angeboten werden die Sprachen Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch. Es kommt so zur Begegnung mindestens zweier Sprachgemeinschaften. Zentral ist die Förderung der Herkunftssprachen als ein Ziel von Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7). Von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (↗ Art. 8) kann die Rede sein, wenn darüber hinaus andere als die beiden Ausgangssprachen der Klassengemeinschaft gelernt werden. Als Europaschule können sich weiterhin Schulen zertifizieren lassen, die bilinguale Bildungsgänge, ein erweitertes Fremdsprachenangebot, unterrichtliche Inhalte mit Europabezug und interkulturelle Projekte anbieten. In diese Richtung geht das Zertifikat Certilingua. Es verfolgt das Ziel, dass mehr Schüler eine zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe II weiterwählen sowie bilinguale und interkulturelle Kompetenzen nachweisen. Hierbei werden bilinguale Module gestärkt. 3. Forschungsstand Während bilinguale Züge den Anspruch höchster Sprachkompetenzen in einer Sprache haben, zielen andere bilinguale Bildungsangebote auf die Breite des Sprachenangebots und die inhaltliche Mehrperspektivität. In der Forschung stellen sich Fragen nach Sprachlernmotivation, sprachlichem Fähigkeitsselbstkonzept und kultureller Identität (↗ Art. 1). Die Zielkategorie Mehrsprachigkeit scheint Lehrenden und Lernenden jedoch nicht bewusst. Oft wird ein hohes Kompetenzniveau in der Arbeitssprache angestrebt (Deutsch 2016: 247 f.). Ein mehrsprachigkeitsdidaktisches Potential liegt aber in der Förderung von Authentizität, Motivation und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22), z. B. über die Herstellung kultureller Bezüge an außerschulischen Lernorten (ebd.: 248 ff.). Die Einbeziehung verschiedener Sprachen in Sachfächer ermöglicht es Lernenden, sich dort mit anderen Kompetenzen darzustellen. Für die Staatliche Europa-Schule Berlin wurde nachgewiesen, dass die neben dem Deutschen gleichberechtigte Einbeziehung einer Herkunftssprache integrative Effekte hat (Meier 2016: 349). Grundsätzlich sind Lernende gewillt, mehrere Sprachen in der Schule zu lernen und sind gerade die Jüngeren offen für andere Lernformen (Abendroth-Timmer 2010: 126). Speziell für das Englische (↗ Art. 13, 97, 98) kann ein hohes Interesse verzeichnet werden. Romanische Sprachen bedienen das Neugier-, Klang-, Wissens- und Stolzmotiv (ebd.). Die Sprache ist zudem nicht unbedingt Ursache für Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Modulen (Verriere 2014: 251 f.). Auf jeden Fall können bilinguale Module Autonomie fördern, wenn kooperative Arbeitsformen durch die Mehrsprachigkeit erforderlich sind. Hingegen wird sprachliche Entwicklung verhindert, wenn aufgrund hoher Diversität der Sprachlernbiographien kaum in einer gemeinsamen Fremdsprache kommuniziert wird. Hingegen ist ein vertieftes Verständnis für die Herkunftskultur zu vermuten (Abendroth-Tim- 525 115. ÖffnungbilingualerBildungsgängezurMehrsprachigkeit mer 2010: 127, 135). Auch die Erhöhung der Sprachenbewusstheit ist Ergebnis bilingualen Unterrichts (↗ Art. 111), was bestenfalls zu Mehrsprachigkeit durch bessere Transferstrategien und höhere Lernmotivation führt (Deutsch 2016: 263 f.). 4. Praxisrelevanz Im Hinblick auf eine mehrsprachige Schülerschaft sollten durch bilinguale Module mehr Sprachen im Unterricht eine Rolle spielen. Informationen aus herkunftssprachlichen Texten durch Lernende selbst einbringen zu lassen, birgt wohl das Problem der fachlichen Absicherung der Inhalte, wenn die Lehrkraft die entsprechende Sprache selbst nicht spricht (↗ Art. 27, 110). Umgekehrt zeigt die Forschungslage, dass die Einbeziehung herkunftskultureller Informationen Lernende in ihrer Identität stärken kann. Die Entwicklung von Erschließungsstrategien und Toleranz gegenüber dem Nicht-Verstehen ist ein wichtiges mehrsprachigkeitsdidaktisches Ziel, insbesondere in Sprachen, in denen Lernende ein geringeres Kompetenzniveau entwickeln und leichter demotiviert sind. Ferner liefert die Analyse sprachlicher Darstellungsweisen der Fachinhalte wertvolle Lerngelegenheiten (Schmelter 2012: 45). Zu denken ist an virtuelle Projekte, in denen mehrere Sprachen lingua franca sind und Lehrende mehrerer Länder mit ihren Lerngruppen jeweils Materialien, Aufgabenstellungen und ihre spezifischen Sichtweisen und Sprachenkenntnisse einbringen (z. B. Englisch- und Französischlernende aus Deutschland, der Türkei, Griechenland u. a.). Im Rahmen des binationalen Schüleraustausches spielen wiederum die Partnersprachen eine Rolle. Ein Austausch kann mit Begegnungsprojekten an historischen Stätten verbunden, im Geschichts- oder Geographieunterricht (↗ Art. 112, 113) in Kooperation der Lehrkräfte vorbereitet werden und den authentischen Sprachgebrauch fördern (Deutsch 2016: 258). Zunehmend wird auch ein sprachensensibler Unterricht eingefordert, welcher die Entwicklung von fachlicher Bildungssprache und Fachkommunikation in allen Fächern anzielt. Es geht um Sprache im Bildungsprozess und die Bewusstmachung der Rolle der Sprache/ n der Lernenden (Leisen 2017). 5. Perspektiven Ein Verständnis von separat unterrichtbaren Fächern und Sprachen steht im Kontrast zu einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Schülerschaft. Bilinguale Bildungsgänge zielen auf Sprachenförderung, bestenfalls auf ein breiteres fremdsprachliches Angebot und die Berücksichtigung der Sprachen der Lernenden. Schulische Strukturen sind hin zu einem flexibleren mehrsprachigen und mehrkulturellen Curriculum oder einer integrativen Didaktik (Art. 6) aufzubrechen und zu Bildungsräumen umzugestalten. Bilinguale Module reflektieren auf sprachlich-kulturelle Vielfalt. Nachhaltigkeit ist über schulinterne Curricula und über Zertifikate zu sichern. Sollen mehr (Herkunfts)sprachen eine Rolle spielen, ist eine Zusammenarbeit in mehrsprachigen Lehrerkollegien und in internationalen Projekten erforderlich. Theoretische, bildungspolitische und unterrichtspraktische Konzepte zur Integration verschiedener Sprachen in allen Fächer sind stärker aufeinander zu beziehen und in eine internationalisierte Lehreraus- und -weiterbildung einzubringen. 526 DagmarAbendroth-Timmer Literatur Abendroth-Timmer, D. (2010): Schülerinnen und Schüler im bilingualen Sachfachunterricht. In: S. Doff (Hrsg.): Studienbuch: Bilingualer Unterricht in der Sekundarstufe: eine Einführung . Tübingen, 124-136. Deutsch, B. (2016): Mehrsprachigkeit durch bilingualen Unterricht? : Analysen der Sichtweisen aus europäischer Bildungspolitik, Fremdsprachendidaktik und Unterrichtspraxis . Frankfurt a. M. Hallet, W. & Königs, F. (Hrsg.) (2013): Handbuch Bilingualer Unterricht. Content and Language Integrated Learning. Seelze. Leisen, J. (2017): Handbuch Fortbildung: Sprachförderung im Fach - Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis . Stuttgart. Meier, G. (2016). Zweiwegintegration durch zweisprachige Bildung? Ergebnisse aus der Staatlichen Europa-Schule Berlin. In: International Review of Education 3/ 58, 335-352. [http: / / rdcu.be/ mEBl]. Schmelter, L. (2012): Bilingualer Geschichtsunterricht - (fremd)sprachliche Herausforderungen bilingualen historischen Lernens. In: B. Diehr & L. Schmelter (Hrsg.): Bilingualen Unterricht weiterdenken. Programme, Positionen, Perspektiven . Frankfurt a. M., 37-54. Verriere, K. (2014): Bilinguale Module im Mathematikunterricht und ihr Einfluss auf die Lernbereitschaft der Schüler/ innen für das Sachfach . Trier. Zydatiß, W. (2007): Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL). Eine Evaluation des bilingualen Sachfachunterrichts an Gymnasien . Frankfurt a. M. Dagmar Abendroth-Timmer 116. Ausbildung von Lehrkräften für den Sachfachunterricht aus Sicht der Mehrsprachigkeitsdidaktik 1. Einleitende Bemerkungen In Deutschland werden die Studierenden an den Universitäten bivalent in zwei Fächern ausgebildet, z. B. in Romanistik oder Anglistik in Kombination mit Geographie oder Geschichte oder Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Bis in die 1990er-Jahre unterrichteten bilinguale Sachfachlehrer, ohne dass sie eine spezifische Ausbildung für bilingualen Sachfachunterricht erfahren haben (↗ Art. 27, 111). Das Zweifächerstudium an der Hochschule und die Ausbildung in zwei Fächern nebeneinander im Rahmen der Referendarausbildung reichen aber bei der Ausweitung des bilingualen Unterrichts nicht aus, um künftige Lehrkräfte für bilingualen Unterricht auszubilden. Mittlerweile werden junge Kolleginnen und Kollegen speziell für bilingualen Unterricht in der 1. und 2. Phase der Lehrerbildung ausgebildet. Für die Erteilung von bilingualem Sachfachunterricht ist es zweifellos unerlässlich, dass die Unterrichtenden neben erweiterten Kompetenzen der Sachfachdidaktik (↗ Art. 112, 113), vertiefte Kenntnisse über Kultur und Zivilisation des anderen Landes (↗ Art. 35), aber auch vertiefte Kenntnisse der Strukturen der Fremdsprache sowie Kenntnisse und Kompetenzen im Bereich der Fremdsprachen- und Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7) erwerben. Eine solche Ausbildung fokussiert auf die Entwicklung spezifischer Kompetenzen und Kenntnisse, und zwar auf: 527 116. MehrsprachigkeitsdidaktikundAusbildungvonLehrkräftenderSachfächer • Kenntnisse über die lernpsychologischen Voraussetzungen eines auf Bilingualismus und Mehrsprachigkeit abzielenden Unterrichts und den theoretischen Hintergrund einer bilingualen und mehrsprachigen Erziehung • allgemeinsprachlich und sachfachspezifisch besonders hoch entwickelte Kompetenzen in einer Schulfremdsprache (C1) sowie die Fähigkeit, die Fremdsprache als Unterrichtssprache des jeweiligen bilingualen Sachfachs angemessen zu verwenden • Kompetenzen der bilingualen Sachfachdidaktik bei der inhaltsbezogenen Spracharbeit, dem funktionalen Einsatz von Fremdsprachen, Muttersprache und Herkunftssprachen, der Nutzung von bereits erworbenen Kenntnissen in den Fremdsprachen und Herkunftssprachen (↗ Art. 106) und deren sinnvolle Integration in den Unterricht sowie Maßnahmen des Scaffolding • Fähigkeiten zur Planung, Durchführung und Evaluation von bilingualem Sachfachunterricht und bilingual orientiertem Fremdsprachenunterricht • Fähigkeiten zur Entwicklung, Erprobung und Evaluation von adressatenspezifischen Lehr- und Lernmaterialien • besondere interkulturelle Kompetenzen, die es erlauben, interkulturelles Lernen stärker in den Sachfachunterricht zu integrieren (↗ Art. 32) • spezifische Kenntnisse des soziokulturellen Hintergrundes, vor dem sich das Sachfach in der fremdsprachlichen Kultur entwickelt hat • Fähigkeiten zur Entwicklung, Implementierung und Evaluation von adressatenspezifischen Curricula und Lehrplänen für bilingualen Unterricht (↗ Art. 21) • spezifische Beurteilungskompetenzen in angemessener Gewichtung von sprachlicher und fachlicher Leistung • Fähigkeiten zur Beratung von Schülern und Eltern mit Blick auf bilinguale Bildungsangebote. 2. Ausbildung für bilingualen Sachfachunterricht in der 1. Phase der Lehrerausbildung Seit Mitte der 1990er Jahre wurden an einer Reihe von Hochschulen in Deutschland Zusatzstudiengänge zur Ausbildung von Sachfachlehrern für bilingualen Unterricht entwickelt und erfolgreich erprobt. Diese unterscheiden sich in dem Grad der Differenziertheit des Angebotes, in den Schwerpunktsetzungen sowie in den Organisationsstrukturen, nicht aber im Hinblick auf die allgemein zu entwickelnden Kompetenzen und Kenntnisse der Studierenden. Meist wurden diese Studienangebote von Fremdsprachendidaktikern bzw. Sprachlehrforschern initiiert, aber fast immer in enger Zusammenarbeit mit Hochschullehrern der Sachfachrichtungen. Gemeinsam für die verschiedenen Ausbildungsangebote ist, dass hier in interdisziplinären Ausbildungsveranstaltungen (Sachfächer + Fremdsprachen) folgende Aspekte vermittelt werden: • lernpsychologische, psycholinguistische und soziolinguistische theoretische Voraussetzungen der kollektiven und individuellen Zwei- / Mehrsprachigkeit (meist im Rahmen einer Vorlesung) (↗ Art. 2) • bilinguale Didaktik: Formen von bilingualem Unterricht, die Wirksamkeit des Einsatzes von Fremdsprachen, Muttersprache und Herkunftssprachen sowie spezifische Methoden und Arbeitsmaterialien im bilingualen Unterricht (meist 528 Hans-LudwigKrechel in sprach- und sachfachübergreifenden Seminarveranstaltungen) (↗ Art. 114), • sachfachbezogene Sprachkenntnisse (in sprachpraktischen Übungen, nach Fremdsprachen getrennt) • Beobachtung und Evaluation von bilingualem Unterricht sowie erste Erprobung von bilingualem Unterricht (im Rahmen von schulpraktischen Studien, eventuell auch im Ausland). Die Studierenden verfassen in der Regel eine Hausarbeit zu einem Thema aus den Themenschwerpunkten, und zwar nach Möglichkeit in der Fremdsprache, und erwerben einen qualifizierten Studiennachweis. Die Didaktik des bilingualen Unterrichts ist häufig Gegenstand der schriftlichen und mündlichen Abschlussprüfungen. Im Wahlpflichtbereich werden in den fremdsprachlichen Fächern oft zusätzliche Lehrveranstaltungen angeboten, z. B. Kontrastive Linguistik, Vergleichende Literaturwissenschaft, Kontrastive Landeskunde. Zudem wird den Studierenden an den meisten Hochschulen empfohlen, besonders in den Sachfächern Geschichte, Sozialwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Geographie, Kunst oder Pädagogik Lehrveranstaltungen zu landeskundlich relevanten Aspekten des Ziellandes zu besuchen. Ein Sachfachstudium im Ausland und Unterrichtstätigkeiten im Zielland (im Rahmen der Tätigkeit als Lehrassistenten oder im Rahmen von Auslandspraktika) werden von einigen Hochschulen gefordert, um den Studierenden Einblicke in unterschiedliche Fachkulturen und Bildungskontexte der Zielländer zu ermöglichen. Zusätzlich bieten einige Hochschulen forschungsorientierte Kolloquien und innovative, interdisziplinäre Projekte zum bilingualen Lehren und Lernen sowie Kooperationsprogramme mit ausländischen Hochschulen an. Diese Zusatzstudiengänge bereiten die Studierenden auf die Ausbildung für bilingualen Unterricht im Referendariat vor. 3. Lehrerausbildung für bilingualen Unterricht in der 2. Phase Seit etwa 20 Jahren wird in einigen Bundesländern an Ausbildungsstätten der Zweiten Phase eine Ausbildung für bilingualen Sachfachunterricht organisiert (Kuhfuß 1994: 74 ff.; Raue 1996: 306 f.; Krechel 2000: 169 f.). Den Auszubildenden, die die Fächerkombination Englisch oder Französisch und Sachfach (Erdkunde, Geschichte, Sozialwissenschaften-Politik, Biologie) haben, wird der Erwerb eines Zertifikates als Ergänzung zum Zweiten Staatsexamen ermöglicht, und zwar wenn sie folgende Voraussetzungen erfüllen: Die Auszubildenden sind einer Ausbildungsschule mit bilingualem Bildungsgang zugeordnet, führen Unterrichtseinheiten im bilingualen Sachfachunterricht mit Unterrichtsbesuchen durch die begleitenden Fachleiter/ -innen durch, nehmen am Fachseminar Geschichte, Erdkunde, Politik teil, sind in die Ausbildungseinheiten der bilingualen Sachfachdidaktik integriert und führen eine unterrichtspraktische Prüfung im bilingualen Sachfachunterricht durch (↗ Art. 112, 113). Zudem sind Fragen des bilingualen Lehrens und Lernens Teilthema des Kolloquiums im Rahmen der Zweiten Staatsprüfung. Im Vorbereitungsdienst in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen wurden Versuche unternommen, die europäische Dimension von Lehrerausbildung stärker zu übernehmen und zusätzlich Aspekte der Mehrsprachigkeitsdidaktik in das Ausbildungsprogramm zu integrieren. Zudem wurden Ausbildungsmodule entwickelt, in denen u. a. Themen wie mehrsprachiges Lernen und Dimensionen 529 des interkulturellen Lernens im Fachunterricht, Einsatz von Methoden des Scaffolding im mehrsprachigen Fachunterricht behandelt werden, ferner mehrsprachige fachübergreifende und fächerverbindende Projekte sowie adäquate Unterrichtsmaterialien entwickelt und erprobt werden (vgl. Memo-Projekt: Krechel 2000: 169 f.; 2001: 204 ff.). Literatur KMK (Kultusministerkonferenz) (2013): Konzepte für den bilingualen Unterricht - Erfahrungsbericht und Vorschläge zur Weiterentwicklung. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 17.10.2013). [https: / / www. kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2013/ 201_10_17-Konzepte-bilingualer-Unterricht.pdf]. Krechel, H.-L. (2000): Techniques d’apprentissage et de travail dans les classes bilingues - une formation particulière des enseignants. In: Le français dans le monde. Numéro spécial: Janvier 2000 , 160-170. Krechel, H.-L. (2001): Europa und Mehrsprachigkeit als Thema der Lehrerausbildung in der zweiten Phase. In: Neusprachliche Mitteilungen 2001/ 4, 204-210. Kuhfuß, W. (1997): Ausbildung bilingualer Sachfachlehrerinnen und -lehrer in der 2. Phase der Lehrerausbildung (das Modell Rheinland-Pfalz). In: M. Wendt & W. Zydatiß (Hrsg.), 273-280. Raue, H. (1996): Lehrerausbildung mit bilingualer Profilbildung. In: I. Buchloh, H. Christ, E. Klein & N. Mäsch (Hrsg.): Konvergenzen. Fremdsprachenunterricht: Planung-Praxis-Theorie. Festschrift für Ingeborg Christ . Tübingen, 304-319. Wendt, M. & Zydatiß, W. (1997): Fremdsprachliches Handeln im Spannungsfeld von Prozess und Inhalt. Dokumentation des 16. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF); Halle, 4.-6. Oktober 1995. Bochum. Wolff, D. & Krechel, H.-L. (1997): Das Studienangebot Bilingualer Unterricht an der Bergischen Universität-Gesamthochschule Wuppertal. In: M. Wendt & W. Zydatiß (Hrsg.), 268-272. Hans-Ludwig Krechel 116. MehrsprachigkeitsdidaktikundAusbildungvonLehrkräftenderSachfächer 117. Autochthone Mehrsprachigkeiten: Europa 1. Begrifflichkeit Nach der Beruhigung der Konflikte, die im Laufe der Regionalismusbewegungen der 1960er und 70er Jahre manifest wurden (Mintzel 1997) und insbesondere seit der Jahrtausendwende ist autochthone Mehrsprachigkeit an den Rand des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt. Für die Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) im Allgemeinen ist sie aber nach wie vor von großem Interesse: In den vielfältigen Kontexten autochthoner Mehrsprachigkeit haben sich eine erfahrungsbasierte Expertise sowie Verfahren und Praktiken herausgebildet, die für mehrsprachige Bildung im Allgemeinen zeitgemäße Entwicklungsmöglichkeiten bereitstellen. Autochthone Mehrsprachigkeit bezieht sich auf diverse und zeitweise unscharfe Erscheinungsformen. In Europa wurde sie hervorgebracht und weitgehend geprägt von nationalstaatlicher und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch transnationaler Sprachenpolitik, was zur Herausbildung charakteristischer Eigenschaften beigetragen hat (↗ Art. 2, 10, 11). Vorwiegend wird autochthone Mehrsprachigkeit gegenwärtig in Europa als Verwendung zumindest einer solchen Sprache definiert, die historisch in einem bestimmten Gebiet oder von einer bestimmten Gruppe benutzt wird und die sich von der (den) offiziellen Mehrheitssprache(n) eines Staates oder einer Region unterscheidet. Für die autochthone Mehrsprachigkeit kennzeichnenden Sprachen finden sich in der Literatur Bezeichnungen, die different und nicht unumstritten sind: autochthone weniger verwendete ( lesser-used ) Sprachen (Mercator-Netzwerk), Regional- und Minderheitensprachen (Charta Europarat), Sprachen nationaler Minderheiten (Rahmenübereinkommen) oder nicht-dominante Sprachen. Bezüglich des Begriffs Minderheit herrscht insoweit Einigkeit, dass nicht nur notwendigerweise eine zahlenmäßige, wohl aber die soziale Unterlegenheit gemeint ist (Schjerve- Rindler 2004: 480). Diskutiert wird die Unterscheidung zwischen alten und neuen Minderheiten, wobei alt mit autochthon, indigen O Autochthone Mehrsprachigkeiten 532 EvaVetter und historischer Verankerung assoziiert wird, während sich neu auf zugewanderte Minderheiten und deren Sprachen bezieht. Offen bleibt hier die Einordnung nicht territorial verankerter Sprachen wie Jiddisch und Romani (↗ Art. 123) und die Frage, wie die Grenze zwischen historisch verankert und neu zugewandert gezogen werden soll. Relevant sind diese problematischen Kategorien insofern, als die europäischen sprachenpolitischen Instrumente wie die Charta (Council of Europe 1992) und das Rahmenübereinkommen auf den Schutz autochthoner Minderheiten mit territorialem Bezug (Council of Europe 1995) abzielen. Nicht-territoriale Minderheiten werden von diesen Instrumenten teilweise, eingewanderte Minderheiten gar nicht erfasst. Im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte ( International Covenant on Civil and Political Rights) werden hingegen allen Menschen, auch jenen von Minderheiten, Rechte und Grundfreiheiten zugesichert. Staatliche Verpflichtungen wie der Unterricht in der Minderheitensprache sind darin im Unterschied zu den europäischen Schutzinstrumenten nicht enthalten (Eide 2014: 27). Abgesehen von den rechtlichen Grundlagen lassen sich nicht-dominante Sprachen auch bezüglich ihrer (sozio)linguistischen Merkmale (Typologie, Status, Prestige, Verbreitung) voneinander unterscheiden. Sie können mit der Mehrheitssprache nahe (z. B. Friesisch in den Niederlanden) oder gar nicht (z. B. Bretonisch in Frankreich) verwandt sein, bzw. auf eine Dachsprache verweisen (z. B. Deutsch in Südtirol) oder nicht (z. B. mochenische und zimbrische Sprachinseln in Südtirol und Italien). In seltensten Fällen sind nicht-dominante Sprachen als offizielle Staatssprachen anerkannt (z. B. Irisch, Letzeburgisch und Maltesisch). Im Normalfall zeichnen sie sich durch einen niedrigeren Status und ein niedrigeres Prestige aus und sind weniger verbreitet als jene Sprachen, mit denen sie in Kontakt stehen. Sie können eine Minderheitensprache (z. B. Sami in Finnland, Norwegen, Schweden und Russland) oder Mehrheitssprache in einem Nachbarstaat (z. B. Slowenisch in Österreich, Deutsch in Frankreich) darstellen und mehr (z. B. Baskisch in Spanien) oder weniger (z. B. Baskisch in Frankreich) politisch unterstützt werden. Gemeinsam ist nicht-dominanten Sprachen heute, dass sie im Kontext von Mehrsprachigkeit auftreten. Monolinguale Sprecherinnen und Sprecher sind im heutigen Europa kaum mehr anzutreffen: Fast alle verwenden eine oder mehrere Sprachen zusätzlich. Die Forschung berücksichtigt dies insofern, als sie sich von einzelsprachlichen Themen zu in den mehrsprachigen Zusammenhang eingebetteten Fragen verschiebt und sich somit autochthoner Mehrsprachigkeit zuwendet (z. B. Gardner-Chloros 2007; Cenoz & Gorter 2017: 903). 2. Problemaufriss Forschung zu autochthoner Mehrsprachigkeit positioniert diese häufig in einem sprachenrechtlichen Rahmen und verweist damit international auf die Tradition der Sprachenrechtebewegung (Skutnabb-Kangas & Phillipson 1995). Das Recht auf die eigene Sprache als Menschenrecht ist in der 2009 in Kraft getretenen EU-Grundrechtecharta (OJ 2000) verankert. In Europa ist autochthone Mehrsprachigkeit eng mit der Herausbildung der Nationalstaaten verknüpft (↗ Art. 11, 12): Verankert in der monolingualen Orientierung der Romantik, die sich der Einheit von Sprache, Gemeinschaft und Territorium verschreibt, schufen oder wählten Nationalstaaten eine 533 117. AutochthoneMehrsprachigkeiten: Europa Nationalsprache, wobei die nicht-dominanten Sprachen und Varietäten ihre Legitimität als Staatssprache verloren (Canagarajah 2013: 20 ff.). Seit der zweiten Hälfte des 20. Jhs. wird diese Ordnung in Frage gestellt. Infolgedessen wurden Sprachen häufig zum Symbol für wirtschaftliche und soziale Unterdrückung. Als Folge der Regionalkonflikte werden seit den 1980er Jahren verschiedene Instrumente zum Schutz und zur Förderung autochthoner Minderheiten bzw. ihrer Sprachen vorbereitet. Hauptakteur ist der Europarat. Seit den 1990er Jahren konkretisiert sich das institutionalisierte Bekenntnis Europas zu autochthoner Mehrsprachigkeit und Vielfalt in einem weltweit einzigartigen Regelwerk, in dessen Zentrum die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Council of Europe 1992) und das Rahmenübereinkommen zum Schutz der nationalen Minderheiten (Council of Europe 1995) stehen. 1998 trat die Charta (SEV Nr. 148) mit den ersten fünf Ratifizierungen in Kraft. 20 Jahre später haben 25 Staaten das weltweit einzige rechtlich bindende Instrument zum Schutz und zur Förderung von „geschichtlich gewachsenen Regional- und Minderheitensprachen“ unterschrieben. Die Charta zielt auf die Erhaltung und Weiterentwicklung der kulturellen Traditionen und des Kulturerbes Europas ab, sowie auf die öffentliche und private Verwendung der Regional- und Minderheitensprachen. Die unterzeichnenden Staaten wählen 35 Maßnahmen aus und nennen jene Sprachen, auf die diese anzuwenden sind. Im Unterschied zur Charta betrachtet das Rahmenübereinkommen des Europarats (SEV Nr. 157) nationale Minderheiten als Rechtssubjekt. Es ist das erste rechtsverbindliche und multilaterale Instrument Europas, das völkerrechtliche Grundsätze zum Schutz und zur Förderung nationaler Minderheiten enthält. Auch das Rahmenübereinkommen trat 1998 in Kraft, 20 Jahre danach haben es 39 Staaten ratifiziert. Beide Instrumente werden im Monitoringverfahren im Hinblick auf die Verwirklichung ihrer Ziele überprüft. Die Politik des Europarats verbindet sich mit der Sprachenpolitik der Europäischen Union (↗ Art. 12) und ihrer Vorformen. Von Anfang an war die Gemeinschaft der sprachlichen Vielfalt verpflichtet, wobei sie damit zunächst die Vielfalt der Nationalsprachen meinte. Seit der Jahrtausendwende umfasst der inklusive Ansatz der EU auch die nicht-dominanten Sprachen. Für den Beitritt zur EU gelten seit 1999 die strengen Bestimmungen des Minderheitenschutzes. Für die sogenannten alten EU-Staaten gelten sie indes nicht, wodurch doppelte Standards geschaffen wurden: Die ost- und zentraleuropäischen Beitrittsstaaten haben das Rahmenübereinkommen ratifiziert, während etwa das Gründungsmitglied Frankreich nicht unterzeichnet hat. Nach einer aktiven Phase an Mehrsprachigkeit orientierter EU-Sprachenpolitik (Devise Muttersprache + (mindestens) 2, Council Resolution [Council of the European Union 2002]) dominieren seit 2010 andere Prioritäten die politische Agenda. Es machen sich zudem Re-Nationalisierungstendenzen bemerkbar, die sich möglicherweise in Zukunft auch auf autochthone Mehrsprachigkeit auswirken werden. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass auch die EU und ihre Vorgänger Instrumente geschaffen haben, die autochthone Mehrsprachigkeit nachhaltig unterstützen, wie z. B. das Mercator Netzwerk (www. mercator-network.eu). Dieses europäische Bekenntnis zu sprachlicher Vielfalt und Mehrsprachigkeit hat in vielen Staaten politischen Druck erzeugt und ein Bewusstsein für autochthone Mehrsprachigkeit geschaffen. 534 EvaVetter 3. Forschungsstand Drei miteinander verwobene Spannungen machen zentrale Diskussionen und Forschungsergebnisse sichtbar: intergenerationelle und institutionelle Weitergabe, „im Vertrauten zu Hause sein“ und „in der Welt zu Hause sein“, monoglossische und heteroglossische Ansätze. Sie zeigen die Diversität und Widersprüchlichkeit autochthoner Mehrsprachigkeit in Europa auf. Lange Zeit wurden nicht-dominante Sprachen vor allem zwischen den Generationen weitergegeben. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese Weitergabe gefährdet oder sogar abgebrochen (z. B. Bretonisch in Frankreich). Zu den Gründen zählen die Auswirkungen einer repressiven nationalen Sprachenpolitik ebenso wie geänderte kommunikative Bedürfnisse. Eine Folge ist der Rückgang an jüngeren und der Anstieg an älteren Sprecherinnen und Sprechern. Dieser demographische Trend hat sich im 21. Jahrhundert abgeschwächt oder sogar umgekehrt. Grund dafür ist die zunehmende Bedeutung institutioneller Weitergabe: So haben bereits Ende der 1970er Jahre untereinander gut vernetzte Initiativen Schulformen zur Förderung nicht-dominanter Sprachen entwickelt (z. B. Ikastolak für Baskisch, Diwan für Bretonisch, Calandreta für Okzitanisch, La Bressola für Katalanisch, Gaelscoileanna für Irisch). Auch wenn diesbezüglich nach wie vor Desiderate offen sind, haben sich die aus der Graswurzelbewegung hervorgegangenen Modelle als Bestandteile der nationalen Schulsysteme etabliert (↗ Art. 11, 21). Zudem begann auch das öffentliche Schulwesen die Förderung nicht-dominanter Sprachen als notwendig anzusehen und schuf entsprechende Schulformen (z. B. bilinguale Schulen in Frankreich). Auch im Bereich der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen wurden in den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Inwiefern die Zunahme an jungen Lernenden die Situation der Sprachen stabilisieren kann, wird sich in Zukunft zeigen. Das Büro für die bretonische Sprache (Office public de la langue bretonne 2018) hält im Bericht zum Schuljahr 2017/ 18 kritisch fest, dass angesichts des hohen Anteils der über 60-jährigen Bretonischsprachigen die Frage offen ist, inwiefern die wachsende Zahl der Lernenden in den bilingualen Schulen (2018 mehr als 18.000) in Zukunft geeignete soziale Bedingungen für den Gebrauch des Bretonischen vorfinden wird. Nicht jede autochthone Mehrsprachigkeit lässt sich über die Entwicklung von intergenerationeller zu institutioneller Weitergabe beschreiben. So sind Italienisch und Deutsch, nicht allerdings Ladinisch, in Südtirol jedenfalls seit Ende des 2. Weltkriegs im Schulsystem verankert, ohne an die Aktivitäten der Graswurzelbewegung geknüpft zu sein. Eine zweite Spannung ist jene zwischen „im Vertrauten“ und „in der Welt“ zu Hause zu sein (Wiater 2006: 23). Das Lernen nicht-dominanter Sprachen führt immer seltener zu „Vertrautem“ und bringt häufig die Aneignung von Neuem mit sich. Evident ist dies bei revitalisierten Sprachen wie dem Kornischen: Die letzte Sprecherin starb im 18. Jahrhundert. Die unterschiedlichen Kodifizierungen des Kornischen wurden erst im 21. Jahrhundert überwunden. Das Vereinte Königreich hat zwar sowohl die Charta als auch das Rahmenübereinkommen unterschrieben, Kornisch als vermeintlich künstliche Sprache aber nicht in die Liste der Sprachen aufgenommen. Im 21. Jahrhundert wächst die Anzahl der Sprecherinnen und Sprecher. Sie wird 2017 auf 2000 gut gebildete Mittelklasseangehörige geschätzt. Kornisch kann in Primar- und Sekundarschulen 535 117. AutochthoneMehrsprachigkeiten: Europa auf Wunsch von Eltern oder Lehrpersonen unterrichtet werden. Identitäre und kulturelle Argumente spielen für die Sprachwahl eine große Rolle, auch wenn den Lernenden Kornisch nicht vertraut ist. 2014 wurde die kornische Minderheit als nationale Minderheit in das Rahmenübereinkommen aufgenommen. Heute stellt sich die Frage, wie Kornisch in Zukunft alle Gesellschaftsschichten erreichen kann. Dass autochthone Mehrsprachigkeit zu einer Angelegenheit der gebildeten Mittelschicht wurde, ist eine Folge der zunehmenden institutionellen Weitergabe bei sinkender sozialer Verwendung der Sprachen und der Beliebtheit mehrsprachiger Schulstandorte. Die dritte Spannung betrifft die Dichotomie zwischen monoglossischen und heteroglossischen plurilingualen Ansätzen. Alle transitionalen Modelle, die den Übergang von einer Sprache zu einer anderen vorsehen, basieren auf der Annahme, dass jede Sprache alle kommunikativen Anforderungen erfüllen kann und soll. Die samische Minderheit in Norwegen, Finnland, Schweden und Russland war lange Zeit mit assimilationistischen Praktiken konfrontiert. Heute wird Samisch in verschiedenen, darunter auch transitionalen Modellen gefördert. Diese beginnen meist schon in der Vorschule mit Samisch, wobei der Samisch-Anteil von der Vorschule bis zur Sekundarstufe kontinuierlich abnimmt und auf der Sekundarstufe 2 Samisch auf den Sprachunterricht und beispielsweise den Handwerksunterricht für Samischsprachige reduziert ist. Der Einstieg in die Schule über Samisch führt letztlich zur Mehrheitssprache, die alle kommunikativen Bedürfnisse abdeckt. Parallel existieren Modelle, in denen Samisch durchgängig bis zur Universität verwendet wird, die Studiengänge in Samisch ermöglicht. Die Vorstellung der umfassenden Funktionalität der Sprache/ n trifft auch auf Spracherhaltungsmodelle zu, die auf eine balancierte Zweisprachigkeit von Mehr- und Minderheitensprache abzielen. Im assoziativen Modell von Diwan steht die Immersion in die Minderheitensprache Bretonisch am Anfang, um die soziale Dominanz der Mehrheitssprache auszugleichen. Programmatisch wird Zweisprachigkeit über einen monolingualen Zugang und integriertes Sachlernen hergestellt. Im Laufe der Schulzeit nimmt der Anteil an Französisch und anderen Sprachen kontinuierlich zu und mehrere Sprachen werden als Unterrichtssprache verwendet. Das Modell ist im nationalen Wettbewerb höchst erfolgreich (Vetter 2013). Die zunehmend heterogenen sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden und die kommunikativen Anforderungen einer globalisierten Welt führen dennoch zu einer Hinterfragung der monoglossischen Grundannahmen. Heteroglossische Verfahren gehen von der strikten Sprachentrennung ab und beziehen das gesamte sprachliche Repertoire der Lernenden ein (s. Translanguaging, Interkomprehension) (↗ Art. 5, 56). Sie zielen auf dynamische Mehrsprachigkeit (García 2009) oder Plurilingualismus (Europarat) ab. Am Beispiel des Gesamtsprachencurriculums für Südtirol zeigt sich, dass dies die Öffnung für Konzepte wie rezeptive Mehrsprachigkeit oder Brückensprachen und das Zulassen der Gleichzeitigkeit von Sprachen mit sich bringt. Unsicher ist, ob damit eine Abkehr von bewährten Konzepten eingeleitet wird oder bestehende Modelle erweitert werden. 4. Praxisrelevanz Forschungen zu autochthoner Mehrsprachigkeit leisten einen zentralen Beitrag zu Theorie und Praxis von Schule und Mehrsprachigkeit 536 EvaVetter im Allgemeinen. Sie liefern den Beweis, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht als Nachteil, sondern als potenzieller Vorteil gesehen werden muss. Die Vielfalt der Modelle für die institutionelle Entwicklung autochthoner Mehrsprachigkeit bietet Erkenntnismöglichkeiten dazu, welche Wirkungen sich in spezifischen Kontexten entfalten. Seit Jahrzehnten wird Immersion, also das Eintauchen in das Sprachbad, als curricularer Ansatz praktiziert. Die Frage der Überlegenheit eines bestimmten Modells ist nicht entschieden. Die Erfahrungen zeigen aber, dass die Verwendung mehrerer Sprachen als Unterrichtssprachen nicht zu geringerer Sprach- oder Sachfachkompetenz führt. Die guten Ergebnisse der mehrsprachigen Schulen belegen auch die Transferierbarkeit literaler Fertigkeiten - wer in einer alphabetischen Sprache lesen und schreiben gelernt hat, muss in einer zweiten Sprache, die dasselbe Schriftsystem nutzt, nicht neu anfangen. Das Studium autochthoner Mehrsprachigkeit hat zu Konzepten geführt, die breit rezipiert wurden, ein Beispiel dafür ist Translanguaging. Als Übersetzung des Walisischen trawsieithu bezeichnet Translanguaging die pädagogische Praxis des Sprachwechsels zwischen Informationsaufnahme (z. B. Lesen) und Anwendung (z. B. Diskussion zum Gelesenen [Williams 1994]). Dieser Wechsel fördert nicht nur das Sachlernen, sondern stützt auch die Verwendung der nicht-dominanten Sprache. Ausgehend vom walisischen Kontext hat sich die Bedeutung von Translanguaging zu einem didaktischen Verfahren mit transformatorischem politischen Anspruch entwickelt (García 2009). 5. Perspektiven Die politischen Perspektiven sind divers wie die Erscheinungsformen autochthoner Mehrsprachigkeit in Europa (↗ Art. 118, 119, 120). Während sich der soziale Gebrauch mancher nicht-dominanter Sprachen verändern wird und eine Stabilisierung unsicher ist (z. B. Bretonisch), ist von anderen Sprachen (z. B. Baskisch in Spanien) eine zunehmend aktive Rolle zu erwarten. Die Mechanismen des Monitorings der europäischen Schutzinstrumente stellen zuverlässiges Wissen dazu bereit. Autochthone Mehrsprachigkeit könnte sich als realistische Option im Sinne der Trilinguismus-Deklaration (Council Resolution [Council of the European Union 2002]) entwickeln (z. B. Mehrheitssprache + nicht-dominante Sprache + Fremdsprache/ n). Fraglich ist allerdings, ob das gesamteuropäische Bekenntnis zu Mehrsprachigkeit weiterhin einen sicheren Grundkonsens darstellt. Wissenschaftlich ist auf eine stärkere Annäherung zwischen autochthonen und anderen Mehrsprachigkeiten zu hoffen, bestehen doch Anknüpfungspunkte zu den zentralen Themen wie integriertes Sprachen- und Fachlernen, Bildungssprache, Interkomprehension, Literalisierung und Strategien für eine moderne Mehrsprachigkeit. Literatur Canagarajah, A. S. (2013): Translingual Practice: Global Englishes and Cosmopolitan Relations . Abingdon, New York. Cenoz, J. & Gorter, D. 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Schweiz Die Sprachenvielfalt in der Schweiz ist bemerkenswert (Lüdi & Werlen et al. 2005). Gemäß dem Bundesamt für Statistik (BfS) (2018) wurden 2016 von der ständigen Wohnbevölkerung folgende Hauptsprachen genannt: (a) Landessprachen: Deutsch oder Schweizerdeutsch 62.8%, Französisch 22.9%, Italienisch 538 GeorgesLüdi oder Tessiner / Bündner-italienischer Dialekt 8.2%, Rätoromanisch 0.5%; (b) Nicht-Landessprachen: Englisch 5.1%, Portugiesisch 3.7%, Albanisch 3.1%, Serbisch/ Kroatisch 2.4%, Spanisch 2.3%, Andere Sprachen 7.5% (das Total übersteigt 100 %, weil die befragten Personen mehrere Hauptsprachen angeben konnten). Die Schweizer Sprachenlandschaft hat sich in der Völkerwanderungszeit herausgebildet und blieb über die Jahrhunderte relativ stabil, wenn man vom dramatischen Rückgang des Rätoromanischen und der massiven Zunahme der Nicht-Landessprachen in den letzten Jahrzehnten absieht. Seit dem Mittelalter bis zur Französischen Revolution war Deutsch in der Schweiz der 13 Kantone alleinige Amtssprache. Erst der verfassungsgebende Prozess von 1848 und die nachfolgenden Revisionen etablierten die auf dem Territorialprinzip beruhende Viersprachigkeit. Im Wortlaut der Bundesverfassung von 1999: Art. 70: Sprachen 1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes. 2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten. 3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften. 4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben. 5 Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache. (Schweizerische Eidgenossenschaft 1999: 20) Die institutionelle Viersprachigkeit führt keineswegs automatisch zu verbreiteter individueller Mehrsprachigkeit (↗ Art. 2); sie soll im Gegenteil in den Landesteilen grundsätzlich ein einsprachiges Leben in der lokalen Landessprache ermöglichen. „Die Schweizer kommen gut miteinander aus, weil sie sich nicht verstehen“, sagte ein ehemaliger frankophoner Bundesrat und meinte damit, dass die verschiedensprachigen Landesteile eher nebeneinander als miteinander leben. In der Tat dominieren im Alltag die Landessprachen in der deutschen, französischen und italienischen Sprachregionen jeweils zu weit über 90 % (für die Rätoromanen liefert die Strukturerhebung des BfS keine verlässlichen Werte); als Berufs- und Wissenschaftssprache folgt an zweiter Stelle in der Regel Englisch. Von Hause aus zwei- oder mehrsprachig sind deutlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund als Autochthone. Frühkindliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 52, 100) in den Landessprachen ist eher selten (cf. Pandolfi et al. 2016). Dazu kommt, dass besonders die deutschsprachige Schweiz von einer Diglossie Standarddeutsch / lokale Dialekte geprägt ist, wobei die Dialekte namentlich im familiären Umfeld gegenüber dem Standarddeutschen sehr deutlich überwiegen. Vor diesem Hintergrund muss eine Reihe von sprachpolitischen Maßnahmen angesprochen werden. Auf Bundesebene sprachen sich die Stimmbürgerinnen und Staatsbürger 1996 für die Aufnahme des erwähnten Sprachenartikels in die Bundesverfassung aus. 2007 folgte ein „Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften“ mit dem Zweck, „die indivi- 539 118. Schweiz duelle und institutionelle Mehrsprachigkeit in den Landessprachen [zu] fördern“ (Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft 2007: 1). Dazu gehören namentlich schulische Massnahmen. Allerdings liegt die (Volks-)Schule gemäss Verfassung im Zuständigkeitsbereich der Kantone. Koordiniert von der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) tragen sie die Verantwortung für die Schaffung eines schweizerischen Bildungsraumes. Die EDK hatte den Kantonen bereits 1975 die Einführung des Unterrichts in einer zweiten Landessprache ab dem 5. Schuljahr empfohlen. 1998 schlug eine Expertengruppe ein Gesamtsprachenkonzept (↗ Art. 14) vor mit dem Ziel, „aufbauend auf den vorhandenen ein- oder mehrsprachigen Kompetenzen (…) die Repertoires der Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer integrierten Sprachpädagogik ohne Erhöhung der Gesamtbelastung in Richtung einer funktionalen Mehrsprachigkeit [zu erweitern].“ (Interkomprehension) (Expertengruppe Gesamtsprachenkonzept 1998: 4) Dazu sollten namentlich der Beginn des Fremdsprachenunterrichts vorverlegt und ab der Primarstufe sowohl eine zweite Landessprache als auch Englisch unterrichtet werden, wobei die Reihenfolge sprachregional koordiniert werden sollte. 2004 beschloss die EDK auf der Basis dieser Eckwerte eine entsprechende Sprachenstrategie (das sogenannte Modell 3/ 5) und legte 2011 nationale Bildungsziele für die zweite Landessprache und Englisch fest. Mit allerlei kreativen Argumentationsmustern aus der Pädagogik (Überforderung der Lernenden und Lehrenden, Qualität der Bildung), aus dem kulturellen Diskurs (Sprache als Identitätsfaktor) und aus dem politischen und ökonomischen Bereich (Englisch als bedeutender Faktor für Ökonomie und Wissenschaft) wurde zwar versucht, die Kinder vor einem angeblichen Übermass an anderen Sprachen zu schützen. In der deutschen Schweiz sollten Schweizerdeutsch gegenüber Standarddeutsch privilegiert, Sprachen der Migration aus den Schulhöfen verbannt und als Fremdsprache - wenn überhaupt - die englische Sprache zum Zuge kommen, weil sie einen grösseren ökonomischen Nutzen bringe (↗ Art. 13, 97, 98). Allerdings wurden mehrere diesbezügliche kantonale Initiativen in Volksabstimmungen verworfen; trotz einer gewissen Müdigkeit bezüglich des Unterrichts der zweiten Landessprache an der Primarschule wird die Sprachenstrategie der EDK heute in 23 Kantonen umgesetzt (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 2004). Daten über den Gebrauch von Fremdsprachen in der Arbeitswelt belegen den ökonomischen Nutzen nicht nur von Englisch, sondern auch der anderen Landessprachen (z. B. Grin & Sfreddo 2010). Allerdings ist die Wirksamkeit des Sprachenunterrichts weiterhin nicht optimal, weshalb die EDK immer wieder neue Anläufe zur Verbesserung unternimmt, zuletzt mit den Empfehlungen vom 26. Oktober 2017. Dies hat viele Gründe. Zunächst ist es offensichtlich nicht ausreichend, mit dem Fremdsprachenunterricht in homöopathischen Dosen früher zu beginnen. Auch ist das stufenübergreifende Sprachenlernen von der Grundstufe bis zur Berufsausbildung bzw. Hochschule nach wie vor nicht gewährleistet. Zudem sind die Formen der Evaluation der erworbenen Kenntnisse weiterhin umstritten. Schließlich wird auch die sprachpolitische Rolle des Erwerbs einer dritten Landessprache erst ansatzweise wahrgenommen. Dies führt zu Überlegungen bezüglich Mehrsprachigkeitsdidaktik (↗ Art. 7), bi-/ plurilingualem Unterricht (↗ Art. 111), Austauschpädagogik und Sprachaufenthalten. Im Gegensatz zu verbreiteten sozialen Vorstellungen werden (Fremd-)Sprachen in der Tat 540 GeorgesLüdi nicht einzeln und getrennt voneinander erworben; Forschungsergebnisse weisen im Gegenteil auf die Existenz integrierter mehrsprachiger Kompetenzen hin. Offensichtlich ist das menschliche Gehirn für Mehrsprachigkeit eingerichtet und gibt es so etwas wie einen „plurilingual asset“ beim Sprachenlernen (Bono & Stratilaki 2009), der mit geeigneten didaktischen Instrumenten ausgenutzt werden kann. Dies führt nicht zuletzt auch zu einer Neubewertung der Rolle der Herkunftssprachen von Kindern mit Migrationshintergrund, obwohl deren Einbezug in eine integrierte Sprachendidaktik in einem fremdenfeindlichen Klima politisch nicht einfach vermittelbar ist (↗ Art. 106). Ein gutes Beispiel liefert der Kanton Basel-Stadt, dessen Regierung bereits 2002 „die Bedeutung der Muttersprache als Grundlage von Identifikation und Integration sowie für den Erwerb der deutschen Sprache (und weiterer Sprachen) (…) erkannte“ und für welche Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen heute zum anerkannten Bildungsgut gehören. Seit der Änderung des Basler Schulgesetzes vom 22. Oktober 2014 hat der Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur eine rechtliche Grundlage (§ 134b): 1 In Ergänzung zum staatlichen Unterricht können fremdsprachige Schülerinnen und Schüler Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) besuchen. (Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt (2017: 4) Unterricht in HSK ist denn auch in den beiden Halbkantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft ein anerkanntes außerschulisches Angebot von rund 50 Trägerschaften, das in Basel-Stadt von 2600 Schülerinnen und Schülern genutzt und von insgesamt 160 Lehrpersonen erteilt wird. Aber auch autochthone Schülerinnen und Schüler sollen sich mit der sprachlichen Vielfalt vertraut machen können. Das geschieht in vielen Schweizer Kantonen unter den Stichworten „ELBE (Begegnung mit Sprachen)“ (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 2005) bzw. „EOLE (Education et ouverture aux langues à l’école)“ oder auch „JALING ( Janua Linguarum)“ (weitere Informationen über die Webseiten: http: / / eole.irdp.ch/ eole/ index.html und https: / / home.ph-freiburg.de/ jaling/ ). Dabei wird die Mehrsprachigkeit der Gesellschaft sowohl als wichtiges Potenzial als auch als anspruchsvolle Herausforderung für unsere Bildungssysteme betrachtet, wobei eine wirksame Sprachenförderung sprachenübergreifend und fächerübergreifend ausgerichtet sein sollte. Namentlich sollen — unter Einbezug der Schulsprachen, Fremdsprachen und Herkunftssprachen — sprachvergleichende, sprachreflexive Aktivitäten in den Regelunterricht von Kindergarten und Primarschule integriert und über die ganze obligatorische Schulzeit hin entwickelt werden. Als Resultat der demographischen Entwicklung und angesichts der Herausforderungen der Globalisierung ist die Schweiz mit anderen Worten auf dem Weg, über ihre autochthone Viersprachigkeit hinaus ihre tatsächliche Vielsprachigkeit als Wert zu anerkennen und zu fördern. Literatur Bono, M. & Stratilaki, S. (2009): The M-Factor, a Bilingual Asset for Plurilinguals? 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Im Jahre 1992 wurden auch die 1956 nach Österreich geflüchteten Ungarn in Wien anerkannt. Der nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehandelte Staatsvertrag 1955 stellte eine wesentliche Grundlage dar, in dem allerdings nur die Rechte der Kärntner Slowenen, der Steirischen Slowenen und der Burgenländischen Kroaten geregelt wurden. U. a. sei das Recht auf den Gebrauch der eigenen Sprache, auf den „Elementarunterricht“ sowie auf eine „verhältnismäßige Anzahl eigener Mittelschulen“ beschränkt. Baumgartner & Perchinig (1995: 15) weisen darauf hin, dass das 542 GeorgGombos auffallendste Merkmal der österreichischen Minderheitenpolitik darin besteht, dass sie in den verschiedenen Bundesländern völlig unterschiedlich gehandhabt wird. In Kärnten und im Burgenland gibt es jeweils eine eigene Minderheitenschulgesetzgebung, welche für einen bestimmten territorialen Bereich des Bundeslandes gilt. 2. Demographische und gesellschaftspolitische Situation 2001 fand die letzte Volkszählung statt, die zur Umgangssprache folgendes Ergebnis brachte: rund 14.600 gaben Slowenisch in Kärnten an, Burgenlandkroatisch im Burgenland rund 16.300, Ungarisch im Burgenland rund 6.600, Romanes (↗ Art. 123) im Burgenland rund 300, während in Wien Slowakisch von rund 4.700, Tschechisch von rund 7.800 und Ungarisch von rund 15.400 Personen angegeben wurde (Statistik Austria 2001). Diese Zahlen werden im Allgemeinen als zu niedrig eingestuft - nicht zuletzt aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, die Herkunftssprache zu verheimlichen. Insgesamt kann gesagt werden, dass Deutsch sich als dominante Sprache ständig weiter durchsetzt und die Sprachkenntnisse in den Minderheitensprachen rückläufig sind. Der stärkste Assimilationsdruck war bzw. ist in Kärnten wahrnehmbar. Dieser äußerte sich u. a. dadurch, dass die slowenische Sprache immer wieder als Sprache des Feindes ( Jugoslawien) bezeichnet wurde und die Sprecherinnen und Sprecher als Landesverräter diskriminiert wurden. Die Sprache in der Öffentlichkeit zu verwenden konnte bzw. kann vereinzelt noch abwertende Äußerungen nach sich ziehen. Die politischen Veränderungen (Zerfall des Ostblocks und Jugoslawiens, EU-Mitgliedschaft Sloweniens) und die Einigung über die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln (56 Jahre nach dem Staatsvertrag! ) haben zu einer Beruhigung beigetragen. Es bleibt allerdings, dass Slowenisch mit diesem politischen Hintergrund und auch als zahlenmäßig kleine Sprache einen niedrigen Status besitzt und mit Sprachen mit hohem Status wie Englisch oder der Nachbarsprache Italienisch kaum konkurrieren kann. Der Jahrzehnte anhaltende, wenn auch jetzt etwas abgeschwächte Assimilationsdruck hat dazu geführt, dass die slowenische Sprache in den Familien immer seltener gesprochen wird, sie immer seltener den nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Die gesellschaftspolitische Entwicklung für die burgenländischen Sprachen Kroatisch, Ungarisch und Romanes ist vergleichsweise weniger konflikthaft verlaufen. Aber auch hier ist ein starker Rückgang der Sprachkompetenzen merkbar. Während es im Geltungsbereich der Sprachen sowohl Kroatischwie auch Ungarischunterricht gibt, der auch von den Eltern angenommen wird, ist es nicht gelungen, den Romanesunterricht nachhaltig zu verankern (vgl. Halwachs 2012). In Wien können Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch von einzelnen Schulen bei Bedarf als unverbindliche Übungen angeboten werden. 3. Herausforderungen Als zentrale Herausforderungen heute und für die Zukunft sind folgende Punkte zu nennen: Lückenhafter Spracherwerb über den gesamten Bildungsverlauf, Qualität der Lehreraus- und -fortbildung, Stärkung des Selbstbewusstseins und Evaluierung bzw. Ausbau erfolgreicher Modelle. Was die Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler in den Minderheitensprachen betrifft, so sind diese 543 119. Österreich rückläufig. Dies führt dazu, dass (Elementar-) Pädagoginnen und Pädagogen es mit sprachlich sehr heterogenen Zielgruppen zu tun haben (↗ Art. 110). Zum Thema Spracherwerb über den gesamten Bildungsverlauf ist zu sagen, dass viele Jahre lang der vorschulische Bereich vernachlässigt wurde. Dies konnte in den letzten Jahrzehnten einerseits durch private zweisprachige Kindergärten (insbesondere in Kärnten für Deutsch und Slowenisch - vgl. Gombos 2013) bzw. in einigen Fällen in öffentlichen Kindergärten (auch im Burgenland - vgl. Baumgartner 2000: 120) behoben werden (↗ Art. 53). Problematisch bleibt, dass in vielen Fällen eine kontinuierliche Bildungskarriere in der bzw. auch mit der Minderheitensprache nicht möglich ist. Über die Volksschule (Grundschule, 4 Jahre) hinaus gibt es im Bereich der Neuen Mittelschulen (Schuljahre 5-8) nur sehr eingeschränkt das Angebot der jeweiligen Minderheitensprache. Da diese Schulform von den meisten Kindern gewählt wird, ist hier eine erhebliche Lücke festzustellen. Die Matura (Abitur) kann man in Kärnten in Slowenisch, im Burgenland in Kroatisch bzw. Ungarisch ablegen. Alle autochthonen Minderheiten haben mit dem Rückgang ihrer jeweiligen Sprache zu kämpfen. Dies geschieht laufend, schleichend und bringt mit sich, dass immer weniger Personen - und damit auch potentielle Lehrerinnen und Lehrer - ihre Sprache gut beherrschen, was die Lehreraus- und -fortbildung vor große Herausforderungen stellt. Zu diesem Befund gehört auch der Hinweis, dass das jahrzehntelange, abwertende gesellschaftliche Klima diesen Sprachen gegenüber negative Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein der Minderheitenangehörigen hat. Dadurch treten Lehrerinnen und Lehrer den Schülerinnen und Schülern geschwächt gegenüber und vermitteln (meist unbewusst) den Eindruck, dass sie ihnen die jeweilige Sprache weder zumuten noch zutrauen. Darunter leidet nicht nur die Unterrichtsqualität (reicher, sinnvoller sprachlicher Input), sondern auch das Prestige der Sprache für die Schülerinnen und Schüler. Eine weitere, herausfordernde Besonderheit aller autochthoner Minderheitensprachen in Österreich ist, dass sie sich von der jeweiligen Hochsprache unterscheiden und auch in verschiedene dialektale Varianten aufgesplittert sind. 4. Perspektiven Trotz der genannten Widrigkeiten sei auf einige erfolgreiche Entwicklungen verwiesen: Zum einen die bereits erwähnten privaten zweisprachigen Kindergärten in Kärnten, die den öffentlichen erfolgreich Konkurrenz machen und sie in qualitativer Hinsicht, was die Sprachweitergabe angeht, unter Druck setzen. Im Burgenland wurde 1989 der zweisprachige Unterricht im Kindergarten von 25 Orten eingerichtet (vgl. Baumgartner 2000: 120). Die Umsetzung des sprachpädagogischen Prinzips „eine Person, eine Sprache“ erfolgt weitgehend. Im Volksschulbereich in Kärnten wurden Modelle erfolgreich erprobt, in denen die Schülerinnen und Schüler über längere Zeiträume hinweg in einer Sprache unterrichtet werden (↗ Art. 54). Es gibt das Modell des tageweisen Sprachwechsels und jenes des wochenweisen Wechsels. Besonders bei letzterem konnten die Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler in beiden Sprachen wesentlich besser gefördert werden, als bei den herkömmlichen Modellen (vgl. Wakounig 2017). Die Anmeldungen zum zweisprachigen Unterricht im Geltungsbereich des Minderheitenschulwesens steigen nach wie vor von Jahr zu Jahr (vgl. LSR-K). In 544 GeorgGombos beiden Gymnasien (Klagenfurt, Kärnten mit Slowenisch und Oberwart, Burgenland mit Burgenlandkroatisch bzw. Ungarisch) erfolgen erhebliche Teile des Unterrichts in der jeweiligen Minderheitensprache. Im Bundesgymnasium und Bundesgymnasium für Slowenen ist Slowenisch die Unterrichtssprache. Das Gymnasium bietet auch einen viersprachigen Zweig mit Slowenisch, Deutsch, Italienisch und Englisch an. Dabei werden auch abwechselnd verschiedene Fächer in einer der Sprachen unterrichtet (CLIL). Literatur Baumgartner, G. & Perchinig, B. (1995): Minderheitenpolitik in Österreich - die Politik der österreichischen Minderheiten. In: G. Baumgartner: 6x Österreich. Geschichte und aktuelle Situation der Volksgruppen. Mit einem Geleitwort von Franz Vranitzky. Hrsg. von Ursula Hemetek für die Initiative Minderheiten. Klagenfurt/ Celovec, 15-23. Baumgartner, G. (2000): Die Minderheitensprache Kroatisch in Österreich und ihre Bildungseinrichtungen. In: H. van Uffelen & C. van Baalen (Hrsg.): Europa der Regionen, Wiener Broschüren zur niederländischen und flämischen Kultur 11, 112-140. Gombos, G. (2013): Zwei- und Mehrsprachigkeit von klein auf fördern. Sprachpädagogische Konzepte für zwei- und mehrsprachige Kindergärten in Kärnten. In: Erziehung und Unterricht 7-8, 682-689. Halwachs, D. W. (2012): Romani Teaching in Austria. In: Journal of Ethnic Studies 68, 34-51. LSR-K: Landesschulrat für Kärnten, Abteilung 7, Minderheitenschulwesen. Jahresberichte . [http: / / www.2sprachigebildung.at/ ]. Statistik Austria, Volkszählung (2001): Hauptergebnisse I-- Österreich, Tabelle 5, Bevölkerung nach Umgangssprache und Staatsangehörigkeit , 61. [http: / / statistik.at/ wcm/ idc/ idcplg? IdcService=GET_NATI- VE_FILE&RevisionSelectionMethod=LatestReleased&dDocName=007139]. Wakounig, V. (2008): Der heimliche Lehrplan der Minderheitenbildung. Die zweisprachige Schule in Kärnten. Klagenfurt/ Celovec. Wakounig, V. (2017): Überschreiten der Sprachgrenzen? Prekoračenje jezikovnih meja? Erfahrungen und Perspektiven für die zweisprachige Bildung in Mehrheit-Minderheitengebieten. In: H.-K. Peterlini (Hrsg.): Jenseits der Sprachmauer. Erinnern und Sprechen von Mehrheiten und Minderheiten in der Migrationsgesellschaft . Klagenfurt/ Celovec, 67-80. Georg Gombos 120. Deutschland 1. Definition Als autochthone (von griech. autós „selbst“, chthōn „Erde“) Minderheitensprachen werden auf europäischer Ebene Sprachen bezeichnet, „i. die herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates, ii. die sich von der (den) Amtssprache(n) dieses Staates unterscheiden“ (vgl. Europarat 1992: Art. 1a). Die Bundesregierung fügt dieser Definition den Aspekt einer gruppenspezifischen kulturellen Identität hinzu (vgl. BMI 2012: 10). Der Begriff schließt darüber hinaus Varietäten der Nationalsprache sowie die Sprachen von Migranten (allochthone Sprachen) explizit aus. 545 120. Deutschland In Deutschland gelten laut der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM) Dänisch und Nordfriesisch in Schleswig-Holstein, Ost- und Saterfriesisch in Niedersachsen sowie Sorbisch in der Lausitz als autochthone Minderheitensprachen (↗ Art. 121, 122, 124). Aus historischen Gründen zählt hierzu auch Romanes (die Sprache der Sinti und Roma), obwohl seine Sprecher im 14. bzw. 19. Jahrhundert auf das Territorium der heutigen Bundesrepublik eingewandert sind und über keine traditionellen Siedlungsgebiete dort verfügen (↗ Art. 123). Es steht in ganz Deutschland unter Schutz. Zudem ist das Niederdeutsche ebenfalls auf dem gesamten Bundesgebiet als autochthone Regionalsprache anerkannt (↗ Art. 125). Das Bundesministerium des Innern schätzt dabei folgende Sprecherzahlen: ca. 50.000 Angehörige der dänischen Minderheit, 60.000 Friesen, 60.000 Sinti, 10.000 Roma, 60.000 Sorben und rund 9 Millionen Niederdeutschsprecher (vgl. BMI 2012). Bei den Angaben handelt es sich um Näherungswerte, die auf freiwilliger Selbstzuschreibung zu der entsprechenden Minderheitengruppe beruhen. Sie geben nicht die tatsächliche Sprachvitalität wider, die statistisch nicht erfasst wird. 2. Geschichtlicher Kontext Seit der Gründung europäischer Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert sowie im Zuge der Industrialisierung (Urbanisierung, Allgemeine Schulpflicht, Allgemeine Wehrpflicht, Entstehung neuer Berufe) verfolgten die Nationalstaaten eine Politik zugunsten der Einheit von Staat, Staatsvolk und Sprache. Damit etablierten sie eine Rangordnung der auf ihren Territorien gesprochenen Sprachen (vgl. Krüger-Potratz 2011: 54). Die Eingliederung autochthoner Minderheiten in den Nationalstaat sollte über die Nationalsprache und das Erziehungswesen erfolgen. Legitimiert erschien dieses Vorgehen durch das Bestreben, die Vertreter der Minderheiten zu „tauglichen“ (ebd.) Bürgern des jeweiligen Staates machen zu wollen, indem man deren nationalsprachliche Eingliederung erzwang. Dies hatte die Bekämpfung der Minderheitensprachen zur Folge. In Deutschland entspannte sich die Lage für autochthone Minderheiten und deren Sprachen für kurze Zeit nach Gründung der Weimarer Republik (vgl. ebd.: 62), was ihnen erneut Unterricht in dem eigenen autochthonen Idiom ermöglichte. Erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erhielten auch die sprachlichen Minderheiten in den beiden neu gegründeten deutschen Staaten größtenteils ihre Sprachenrechte zurück. Diese wurden in der ECRM auf europäischer Ebene offiziell festgehalten. 3. Schutz durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Bei der ECRM handelt es sich um einen im Jahr 1992 vom Europarat initiierten Vertrag, dessen Ziel es ist, autochthone Regional- und Minderheitensprachen Europas zu schützen, zu erhalten sowie zu fördern und das Recht der Sprecher zu achten, ihre Sprachen im öffentlichen Leben und im privaten Bereich zu gebrauchen (vgl. Europarat 1992: Präambel). Der Schutz und der Erhalt von Regional- und Minderheitensprachen sind in einem umfassenden Maßnahmenkatalog definiert und richten sich auf das Bildungswesen, auf Justiz- und Verwaltungsbehörden, öffentliche Dienstleitungsbetriebe, Medien und kulturelle Aktivitäten, das soziale sowie wirt- 546 HelenaOlfert-&AnkeSchmitz schaftliche Leben und den grenzüberschreitenden Austausch (↗ Art. 9, 10, 11, 12). Die ECRM verpflichtet die Vertragspartner, mindestens 35 Paragraphen oder Absätze aus dem Maßnahmenkatalog umzusetzen. Ferner sind in der Ratifizierungsurkunde von den Beteiligten alle in ihrem Hoheitsgebiet verbreiteten Regional- oder Minderheitensprachen anzugeben, die unter Schutz gestellt werden sollen (↗ Art. 2). Die Anwendung der Charta wird durch Berichte dokumentiert und von einem Sachverständigenausschuss regelmäßig geprüft (↗ Art. 15). Deutschland hat die Charta 1992 unterzeichnet und 1998 ratifiziert. In der ECRM beziehen sich Maßnahmen zur Förderung von Minderheitensprachen primär auf ihre Unterrichtung. So verpflichtet sich jede Vertragspartei, die jeweilige Sprache in den entsprechenden Territorien in den schulischen Sprachenkanon aufzunehmen. Der Umfang des Unterrichts kann dabei von einer Komplettbeschulung bis zum Einrichten einzelner Unterrichtsstunden bei genügender Anfrage variieren (vgl. Gogolin & Oeter 2011: 34). 4. Spracherhalt Trotz der durch die ECRM angestoßenen Schutzmaßnahmen sind autochthone Minderheitensprachen oftmals von Sprachverlust bedroht. Ihr Erhalt unterliegt zahlreichen sozialen, historischen, linguistischen und prestigebezogenen Kontextfaktoren (vgl. Tsunoda 2006). Eine günstige Ausgangsposition diesbezüglich weisen in Deutschland Dänisch und Romanes auf, die sich durch einen hohen Grad an Sprachvitalität auszeichnen. Für andere Minderheitensprachen werden Spracherhaltungsprogramme angebahnt oder Revitalisierungsmaßnahmen bemüht. Solche Bestrebungen reflektieren auch die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu dieser Thematik. Über 80 % der Befragten gaben in einer repräsentativen Studie an, sich den Erhalt autochthoner Minderheitensprachen in Deutschland zu wünschen und diese als wertvolles kulturelles Erbe zu betrachten (vgl. Gärtig et al. 2010: 227). Literatur Bundesministerium des Innern (BMI) (2012): Nationale Minderheiten. Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland . Berlin. Europarat (1992): Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen . [https: / / www.coe.int/ de/ web/ conventions/ full-list/ -/ conventions/ rms/ 090000168007c089]. Gärtig, A.-K., Plewnia, A. & Rothe, A. (2010): Wie Menschen in Deutschland über Sprache denken. Mannheim. Gogolin, I. & Oeter, S. (2011): Sprachenrechte und Sprachminderheiten. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 59, 30-44. Krüger-Potratz, M. (2011): Mehrsprachigkeit. Konfliktfelder in der Schulgeschichte. In: S. Fürstenau & M. Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit . Wiesbaden, 51-68. Tsunoda, T. (2006): Language Endangerment and Language Revitalization. Berlin. Helena Olfert-& Anke Schmitz 547 121. DänischinDeutschland 121. Dänisch in Deutschland 1. Die Sprachsituation Die Sprachsituation in Schleswig nördlich und südlich der seit 1920 bestehenden Landesgrenze zeichnet sich dadurch aus, dass diese Region traditionell ein mehrsprachiger Raum ist, in dem drei angestammte Regionalsprachen (Sønderjysk, Niederdeutsch und Nordfriesisch) sowie zwei Standardsprachen (Hochdeutsch und Standarddänisch) im Gebrauch sind (↗ Art. 122). Für die beiden nationalen Minderheiten bedeutet diese Situation, dass keine 1: 1-Übereinstimmung zwischen der nationalen Gesinnung (die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ideologisch implementiert wurde) und der Alltagssprache vorausgesetzt werden kann. Bei der deutschen und dänischen Minderheit handelt es sich um Gesinnungsminderheiten. Oft stimmen offizielle Institutionssprache und Familiensprache nicht überein: Viele Kinder sprechen in ihren Familien die jeweilige Majoritätssprache oder - wie bei der deutschen Minderheit - die Regionalsprache Sønderjysk. Eine typische Sprachverteilung bei der deutschen Minderheit in Nordschleswig (DK) sieht wie folgt aus: Erstsprache Sønderjysk und Zweitsprache Deutsch (bzw. die Kontaktvarietät Nordschleswig: deutsch). Die Drittsprache ist dann Standarddänisch. Bei einer typischen Sprachverteilung in der dänischen Minderheit im Landesteil Schleswig (D) bildet Deutsch die Erstsprache, Dänisch (bzw. die Kontaktvarietät Südschleswigdänisch) die Zweitsprache. Die Reihenfolge der Sprachen kann auch anders sein; einige Kinder haben zwei Erstsprachen (Fredsted 2013). 2. Sprachkonzepte Kinder, die eine Institution der Minderheiten besuchen, entwickeln sich überwiegend früh sukzessiv bilingual (↗ Art. 101), da sie vor ihrer Schulzeit fast ausnahmslos eine Kita besuchen, in der sie mit der offiziellen Sprache der Minderheit in Berührung kommen. Beide Minderheiten verfügen über ein voll ausgebautes System von Kitas und Schulen (↗ Art. 53, 54). Kinder können ihren gesamten Bildungsweg in diesem System verbringen. Den gymnasialen Abschluss bildet das deutsch-dänische Doppelabitur, das eine Studienberechtigung für beide Länder bedeutet. Diese institutionelle Situation ermöglicht eine kontinuierliche sprachliche Ausbildung und kulturelle Prägung. Es geht aus der Zielsetzung der Schulträger hervor, dass es Aufgabe der Schulen ist, die Sprache und Kultur des jeweiligen Referenzlandes zu vermitteln, gleichzeitig aber die Kinder zu befähigen, in der Mehrheitsgesellschaft zu leben. Allerdings wird klar festgelegt, dass die Unterrichtssprache die offizielle Minderheitssprache sein soll. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es sich um Bildungseinrichtungen handelt, die zwei Sprachen auf hohem Niveau vermitteln wollen. Konkret sieht die Organisation des Unterrichts bei der dänischen Minderheit so aus, dass die offizielle Minderheitssprache (Dänisch) in allen Fächern Unterrichtssprache ist, während Deutsch im Sprachunterricht als Unterrichtsgegenstand fungiert. Die Minderheitsschulen sind also - mit Einschränkungen - vom Grundsatz her einsprachige Schulen (↗ Art. 101). 548 ElinFredsted 3. Sprachnormen Ziel des schulischen Sprachunterrichts (im weitesten Sinne) ist demnach ein doppelter Monolingualismus, der eine funktionale Trennung der Sprachen bei gleichzeitiger hoher Kompetenz in beiden Sprachen zum Ziel hat. Bilingualer Sprachgebrauch, z. B. Code-Switching, wird als ein nicht adäquater Sprachmodus während des Unterrichts angesehen (↗ Art. 5). Außerhalb des Unterrichts, aber auch in Verbindung mit Gruppenarbeit in der Klasse, wechseln viele Schüler dennoch die Sprache zu einem bilingualen Sprachmodus, in dem sie ihre sprachlichen Ressourcen gleichzeitig ausschöpfen (Grosjean 2001: 1 ff.). Unter den älteren Schülern wird die eigene Zwei- oder Mehrsprachigkeit bewusst eingesetzt: Im schulischen Kontext schafft exzessives Code-Switching ein Register mit einer spezifischen Wertigkeit, die sich pragmatisch (z. B. subversiv-humorvoll) einsetzen lässt (Fredsted 2008; 2016). 4. Schriftspracherwerb Die angestrebte sprachliche Norm der Schulen steht jedoch in einem gewissen Widerspruch zur Tatsache, dass die jeweilige Landesbzw. eine Regionalsprache die dominierende Erstsprache einer Vielzahl von Kindern ist. Im Schriftsprachenunterricht geht man jedoch weitgehend von der Prämisse aus, dass die Kinder sich die noch zu erlernende (Schrift-) Sprache im Vorschulalter bereits (mündlich) angeeignet haben. Allerdings wird von beiden Schulträgern anerkannt, dass Alphabetisierung allein in der offiziellen Sprache der Minderheit erschwert ist, weil am Anfang der Schulzeit bei vielen Kindern der Wortschatz zu begrenzt und die Wortbedeutungen zu unklar sind. Lehrkräfte sprechen davon, dass die Sprachkenntnisse der Kinder für den Fachunterricht in der Zweitsprache oft nicht ausreichen und ein ‚vor-fachliches Verständnis‘ nicht vorhanden sei. Eigene Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Schriftspracherwerb in der schwächeren Zweitsprache eine zusätzliche konzeptuelle Verknüpfung braucht, indem die Lautform eines Wortes und seine Bedeutung mit Rückkoppelung über die Erstsprache erst noch erlernt werden müssen. Hierdurch entsteht allmählich eine Verbindung zwischen der Wortform in der Zweitsprache und dem semantischen Konzept. Es sind Maßnahmen ergriffen worden, um diese Sprachsituation zu berücksichtigen. Eine Initiative (seit Mitte der 1990er Jahre) stellt der sog. ‚koordinierte Unterricht‘ dar, bei dem die Schüler ab der ersten Klasse sowohl in ihrer Zweitals auch in ihrer Erstsprache Lese- und Schreibunterricht erhalten. Bis 2009 fanden zwei unterschiedliche Praktiken in Bezug auf den Schriftspracherwerb Anwendung: In einigen Schulen wurde de facto Immersionsunterricht erteilt, indem in den ersten beiden Klassenstufen nur die offizielle Minderheitssprache als Schriftsprache unterrichtet wurde. Andere Schulen koordinierten jedoch den Schriftspracherwerb in beiden Sprachen. Im dänischen Schulsystem (in D) wurde 2009 ein ‚gemeinsamer Anfang‘ der beiden Schriftsprachen ab Klasse 1 verpflichtend eingeführt. Bis dahin war es jedoch möglich, zwei unterschiedliche Sprachenfolgen und Methoden vergleichend zu beobachten. Untersuchungen in den Jahren 2007-2008 zeigten einen Vorsprung der Schüler mit koordiniertem Schriftspracherwerb (Kühl & Westergaard 2009). An den Schulen der deutschen Minderheit in Nordschleswig (DK) gibt es keine feste Richtlinie, jedoch überwiegt der koordinierte Unterricht. 549 122. Friesisch Defizite in Bezug auf die schriftsprachliche Kompetenz der Absolventen in Verbindung mit den schulischen Abschlussprüfungen in beiden Sprachen sind weder statistisch noch wissenschaftlich belegt. Literatur Dansk Skoleforening: www.skoleforeningen.org Deutscher Schul- und Sprachverein: www.dssv.dk Fredsted, E. (2008): We Make such a Mishmash. In: M. Pütz & J. Neff van Aertselaer (Hrsg.): Contrastive Pragmatics: Interlanguage and Cross-Cultural Perspectives. Berlin, New York, 181-207. Fredsted, E. (2013): Multilingualism and Longitudinal Language Contact in the German-Danish Border Region. In: Sprachtypologie und Universalienforschung 66/ 4, 331-353. Fredsted, E. (2016): Language Contact in the German-Danish Border Area in the Twenty-First Century. In: Sprachtypologie und Universalienforschung 69/ 3, 437-465. Grosjean, F. (2001): The Bilingual’s Language Modes. In J. Nicol (Hrsg.): One Mind, Two Languages: Bilingual Language Processing. Oxford, 1-22. Kühl, K. & Westergaard, A. (2009): Schriftspracherwerb in einer Zweitsprache . Flensburg. Elin Fredsted 122. Friesisch Friesisch ist eine eigene westgermanische Sprache und kein deutscher, dänischer oder niederländischer Dialekt. Es bildet gemeinsam mit dem Englischen das Nordseegermanische (↗ Art. 68, 70). Die Verwandtschaft mit dem Englischen lässt sich noch heute an zahlreichen Wörtern ablesen. Im Friesischen der Insel Sylt zum Beispiel heißt ‚hören‘ hiir, ‚lassen‘ let und ‚Mittwoch‘ winjsdai. Friesisch ist zwar eine eigenständige, aber keine einheitliche Sprache. Es gilt unter den germanischen Sprachen als das am stärksten aufgegliederte Idiom mit drei Zweigen: West-, Ost- und Nordfriesisch. Das Westfriesische (Frysk) wird in der niederländischen Provinz Fryslân von über 400.000 Menschen gesprochen und ist als zweite Reichssprache anerkannt. Sehr viel kleiner sind die friesischen Sprachgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland: Saterfriesisch in Niedersachsen und Nordfriesisch in Schleswig-Holstein. 1. Ostfriesisch, Saterfriesisch Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert fungierte das „Altfriesische“ als offizielle Schriftsprache. Seine Ausstrahlungskraft büßte das Friesische ein, als die Friesen, das bis dahin führende Handelsvolk im Nordseeraum, von der Hanse mit ihrer niederdeutschen Geschäftssprache abgelöst wurden. So war in der 1464 gebildeten Reichsgrafschaft Ostfriesland von Anfang an nicht Friesisch, sondern Niederdeutsch die Amtssprache. Sie drängte das Friesische auch als Volkssprache zurück. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg starb der letzte Ostfriesisch-Sprecher. In der Gegenwart werden ab und zu Ostfriesisch-Kurse angeboten, und zwar auf der Basis des Saterfriesischen. Denn die ostfriesische Sprache lebt, aber außerhalb Ostfrieslands: im oldenburgischen Landkreis Cloppenburg. Hier sprechen in den vier Ortschaften der Gemeinde Saterland knapp 2000 der 11.000 Einwohner das 550 ThomasSteensen Seeltersk . Das von weiten Moorflächen umgebene Gebiet wurde spätestens im elften Jahrhundert von Ostfriesen besiedelt und war lange Zeit weitgehend von der Außenwelt abgeschirmt. Wie auch Nordfriesisch ist Saterfriesisch in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die von Deutschland 1998 ratifiziert wurde, als Minderheitensprache anerkannt. Seit einigen Jahren wird die Sprache auf freiwilliger Basis in Kindergärten und Schulen berücksichtigt; es gibt Wörterbücher, Sprachlehren und Druckschriften, darunter eine Übersetzung des Neuen Testaments und der Psalmen. Der lokale Sender Ems-Vechte-Welle bringt auch friesische Beiträge. Die Ortsschilder der Saterländer Ortschaften sind zweisprachig ausgezeichnet, z. B. Scharrel / Skäddel. 2. Nordfriesisch Das Nordfriesische besteht aus zwei Dialektgruppen mit verschiedenen Varietäten: Festlands- und Inselnordfriesisch. Die Unterschiede gehen vor allem auf die verschiedenen Zeitpunkte der Besiedlung zurück. Sylt, Amrum, Föhr, Helgoland und das westliche Eiderstedt nahmen Friesen von der südlichen Nordseeküste her um 700 in Besitz. Die weiten Marschgebiete des Festlandes dagegen wurden erst im 11. Jahrhundert in großem Stil besiedelt. Zu einer Vereinheitlichung kam es nicht mehr. Es fehlte ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum für ganz Nordfriesland. Höchstens 10.000 Menschen beherrschen heute Nordfriesisch, weitaus mehr können es verstehen. Einzelne Dialekte werden nur noch von wenigen alten Menschen gesprochen. Andernorts ist Friesisch weiterhin die erste Sprache auch für Kinder. Die „Hochburgen“ finden sich auf dem Festland in der Bökingharde sowie vor allem im Westteil Föhrs. Durch die Jahrhunderte war Friesisch die allgemein gebräuchliche Sprache in der Familie, im Dorf und im Nahbereich. Als Amts-, Kirchen- und Schulsprache herrschte jedoch spätestens seit der Reformation das Niederdeutsche, seit dem 17. Jahrhundert Hochdeutsch. Menschen, die ausschließlich Nordfriesisch sprechen, gibt es schon lange nicht mehr. Alle beherrschen auch Hochdeutsch, viele Niederdeutsch, manche auch Dänisch, die Sprache des Nachbarlandes und der seit 1945 in der Region etablierten dänischen Minderheit (↗ Art. 121). Im Nordosten des Gebiets wird außerdem vereinzelt Süderjütisch gesprochen, ein dänischer Dialekt. Im Norden des Kreises Nordfriesland, in der Wiedingharde, gibt es noch einzelne Menschen, die alle fünf Idiome sprechen können. Mit dieser Vielfalt autochthoner Sprachen und Dialekte nimmt Nordfriesland weithin eine Sonderstellung ein (↗ Art. 120). Nordfriesisch blieb lange Zeit auf den mündlichen Gebrauch beschränkt. Das erste gedruckte Buch erschien 1809. Seitdem ist eine recht breite und vielfältige Literatur entstanden. Die seit dem 19. Jahrhundert aufkommende friesische Bewegung hat es sich zum Ziel gesetzt, friesische Sprache und Kultur zu bewahren und fortzuentwickeln. Lange Zeit wurden diese Bestrebungen jedoch von der heftigen nationalen Auseinandersetzung zwischen Deutsch und Dänisch überlagert und überschattet. Mehrere Vereine und Institutionen setzen sich für die Förderung der friesischen Sprache ein, so der 1902 gegründete Nordfriesische Verein und die 1923 gebildete Friisk Foriining. Die friesischen Vereine leisten viel ehrenamtliche Arbeit für die friesische Sprache, zum Beispiel durch Theatergruppen, Kinder- und 551 122. Friesisch Jugendfreizeiten oder eine jährliche „Herbsthochschule“. Als übergreifendes Gremium wirkt der Frasche Rädj, die nordfriesische Sektion des 1956 gebildeten Friesenrats (heute: Interfriesischer Rat). Als zentrale wissenschaftliche Einrichtung für die Förderung und Erforschung der friesischen Sprache, Geschichte und Kultur dient seit 1965 das Nordfriisk Instituut in Bredstedt (friesisch: Bräist). An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel besteht eine Friesisch-Professur, an der Europa-Universität Flensburg eine für Nordfriesisch und Minderheitenforschung. Über ein eigenes Schulwesen verfügen die Nordfriesen - im Unterschied zur dänischen Minderheit in Süd- und zur deutschen Minderheit in Nordschleswig - nicht. Stattdessen wird an den staatlichen Schulen sowie an einzelnen Schulen der dänischen Minderheit auch etwas Friesisch unterrichtet, zumeist nur in Grundschulen mit zwei Wochenstunden auf freiwilliger Grundlage. Berücksichtigt wird es auch in einigen Kindergärten. In den Medien ist Friesisch spärlich vertreten. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird das Nordfriesische so geringfügig beachtet wie kaum eine andere Sprache in Europa. Viel Anklang finden aber die vom Norddeutschen Rundfunk gemeinsam mit dem Nordfriisk Instituut ausgerichteten friesischen Erzählwettbewerbe „Ferteel iinjsen! “. Der friesischen Volksgruppe wird seit 1990 in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein „Schutz und Förderung“ zugesichert. Seit dies 1997 erlaubt wurde, haben mehrere Gemeinden ihre Ortstafeln deutsch-friesisch gestaltet. Friesische Straßenschilder gibt es schon länger. 2004 beschloss der Schleswig-Holsteinische Landtag das Gesetz zur Förderung des Friesischen im öffentlichen Raum (Gesäts fort stipen foont friisk önj e öfentlikhäid) , das u. a. eine auch friesische Beschilderung öffentlicher Einrichtungen vorsieht. Das Finanzamt Nordfriesland heißt zum Beispiel „Stüüråmt Nordfriislon“. Literatur Århammar, N. (1976): Historisch-soziolinguistische Aspekte der nordfriesischen Mehrsprachigkeit. In: Friesisches Jahrbuch , 55-76. Munske, H. H., Arhammar, N., Faltings, V. F. et al. (Hrsg.) (2001): Handbuch des Friesischen-/ Handbook of Frisian Studies . Tübingen. Sjölin, B. (1969): Einführung in das Friesische . Stuttgart. Steensen, T. (Hrsg.) (2000): Das große Nordfriesland-Buch . Hamburg. Steensen, T. (Hrsg.) (2006): Die Frieslande . Bräist / Bredstedt. Steensen, T. (2013): Friesisch und das „Sprachenland Nordfriesland“. In: T. Steensen: Heimat Nordfriesland. Ein Kanon friesischer Kultur . Bräist / Bredstedt, 52-73. Walker, A. (2015): North Frisian. The North Frisian Language in Education in Germany . 3. Aufl. Ljouwert / Leeuwarden. Wilts, O. (1978): Dänisch, Nordfriesisch, Hoch- und Niederdeutsch in Schleswig-Holstein. In: P. S. Ureland (Hrsg.): Sprachkontakte im Nordseegebiet . Tübingen, 149-166. Wilts, O. & Fort, M. C. (1996): Friesisch zwischen Meer und Moor . Brüssel. Thomas Steensen 552 DieterHalwachs 123. Romanes 1. Begrifflichkeit Romanes , auch Romani , wird seit dem frühen 15. Jh. auf dem Territorium des heutigen Deutschlands gesprochen; ein Rechnungsvermerk im Hildesheimer Stadtarchiv von 1407 scheint der älteste Beleg für dessen Anwesenheit (↗ Art. 29). Während es sich bei Romani um ein substantiviertes Adjektiv - Romani čhib / ‚Roma(ni) Sprache / Zunge‘ - handelt, ist Romanes ein adverbiales Substantiv - Džanes Romanes? / ‚Kannst du Roma(ni)? ‘. Letzteres wird fast nur im Deutschen gebraucht, weshalb Rómanes oft nur die Sprache der Sinti meint. Beide Bezeichnungen stehen für die europäisierte indoarische Sprache der Calé/ Ka(a)le, Manouche-/ Sinti, Roma-/ Romanichal , die meist mit anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen pejorativ als ‚Zigeuner‘ bezeichnet werden (↗ Art. 38). Man geht heute von mindestens 3.5 Millionen Sprechern in Europa und um die 500.000 in Übersee aus. Schätzungen zu Deutschland nennen 50.000 bis 200.000 Sprecher. Deren korrekte Bezeichnung - Sinti und Roma - ist historisch bedingt. Als Sinti bezeichnen sich heute die Erstankömmlinge im deutschsprachigen Raum. Fälschlicherweise häufig mit der pakistanischen Provinz Sindh in Beziehung gesetzt, ist die Etymologie dieses Neologismus unklar. Bis ins 17. Jh. ist die Eigenbezeichnung Kale (< rom. kalo ‚schwarz‘) in Verwendung; heute u. a. noch bei den Calé , den Ersteinwanderern auf die iberische Halbinsel, und den finnischen Kaale . Die Relevanz der lokal-nationalen Definitionen verdeutlicht die interne Differenzierung zwischen Gadžkane Sinti als ‚Deutsche‘ und Lalere Sinti als ‚ Böhmen‘. Von den zumeist erst ab dem 20. Jhdt. aus Ost- und Südosteuropa gekommenen Roma ist die Abgrenzung bei weitem deutlicher. Als ‚Einheimische‘ vom Genozid der Nationalsozialisten wohl am stärksten betroffen, dominieren die deutschen Sinti heute den politischen Diskurs. 2. Problemaufriss und Praxisrelevanz Andere Ersteinwanderer wie die skandinavischen Resande , die britischen Romanichal , oder die iberischen Calé sprechen heute, wenn überhaupt, nur noch Pararomani; dies sind Varietäten bzw. Ethnolekte der jeweiligen Mehrheitssprache mit einzelnen Lexemen aus dem Romanes. Vereinzelt lässt sich dieser Sprachwechsel auch bei Sinti feststellen. Solange jedoch Romanes bzw. Sintitikes, wie es von seinen Sprechern auch genannt wird, den Familienalltag prägt und als primäres Kommunikationsmittel im Kontakt mit anderen Sinti verwendet wird, ist es eine vollwertige und vitale ‚Sprache‘. Im Repertoire seiner Sprecher fungiert es fast ausschließlich nur in privat-informellen Domänen, während das Deutsche sowohl öffentlich-formelle Domänen als auch den Inter-Group-Alltag dominiert; eine funktionale Distribution nicht nur bei Sprechern des Romanes, sondern generell bei Verwendern dominierter Sprachen. Strukturell weist das Sintitikes ebenfalls die allgemeinen Merkmale des Romanes auf. Während die Morphologie nach wie vor weitestgehend dem indoarischen Muster entspricht, sind Syntax und Phonetik stark von europäischen Kontaktsprachen, primär vom Deutschen geprägt. Ähnlich das Lexikon, das sich neben einem zahlenmäßig kleinen, voreuropäischen indoarischen Basiswortschatz mit frühen Entlehnungen aus dem Persischen, Armenischen und Byzantinisch-Griechischen hauptsächlich aus europäischen Entlehnun- 553 123. Romanes gen, vor allem aus dem Deutschen zusammensetzt. Ebenso sind Phraseologie und Idiomatik stark deutsch geprägt; wiederum Ergebnis der erwähnten funktionalen Distribution im Repertoire der Sprachverwender. Eine detaillierte Beschreibung des Romanes bietet Matras (2002). Das Sintitikes ist schon relativ früh und mittlerweile ausführlich dokumentiert: vom Wörterbuch von Sowas (1898) und dem Lehrbuch Fincks (1903) bis zur Diskursgrammatik Holzingers (1993) und linguistischen Analysen (u. a. Igla 2005). Die ‚Sprache‘ der Sinti interessiert schon früh Polizei und Gerichtsbarkeit. Mobile Tätigkeiten als Hausierer, Schausteller etc. drängen Sinti an den Rand der Gesellschaft und stigmatisieren sie als potentiell kriminell; eines der zentralen Vorurteile, das Diskriminierung und Verfolgung zu legitimieren versucht. Diskriminierung (↗ Art. 38) seitens weiter Kreise der Bevölkerung sowie Registrierung und Verfolgung durch die Behörden sind quasi die Basis wissenschaftlicher Forschungen der Nazizeit, die im Genozid münden. Neben der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt ist auch die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe der SS am Völkermord an Sinti und Roma maßgeblich beteiligt. Dass dabei die Romaneskenntnisse der sogenannten Forscher eine tragende Rolle spielen, ist im kollektiven Gedächtnis der Sinti bis heute präsent und prägt die allgemeine Spracheinstellung. Die eigene ‚Sprache‘ darf als quasi tabuisierter In-Group-Marker nicht an Außenstehende weitergegeben werden. Sintitikes fungiert bis heute fast nur in gruppeninterner Kommunikation, u. a. auch im Sprachgebrauch junger Sinti in sozialen Medien, die jedoch oft auch Außenstehenden zugänglich sind. Junge Sinti sind zwar liberaler als die etablierten Generationen, respektieren jedoch deren ‚Geheimhaltungsforderung‘. Die wenigen Ausnahmen öffentlich-schriftlichen Sprachgebrauch bleiben symbolisch; z. B. deutsche Informationstexte auf der Website des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit Romanesüberschriften. Im Bildungsbetrieb ist das Sintitikes überhaupt nicht präsent. Im Gegensatz zu den Sinti ist die Spracheinstellung der aus Ost- und Südosteuropa eingewanderten Roma kaum tabubehaftet. Deren Romanesvarietäten fungieren folglich, wenn auch selten, als Hilfssprache im Regelschulbetrieb. Zudem werden Sprachkurse angeboten, wobei das außerschulische Angebot das schulische bei weitem übertrifft. Unterrichtsaktivitäten resultieren jedoch immer aus Einzelinitiativen, Aktivitäten seitens Behörden bleiben die Ausnahme. Die Anerkennung des Romanes der deutschen Sinti und Roma als offizielle Minderheitensprache und deren Schutz unter der Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats bestehen folglich nur nominell, nachhaltige Maßnahmen zum Schutz der Sprache oder gar deren Integration in den Kultur- und Bildungsbetrieb bleiben Desiderata. 3. Ausblick Um die formelle Anerkennung des Romanes in die Praxis umzusetzen, bedarf es sowohl eines Umdenkens innerhalb der Sinti als auch seitens der Öffentlichkeit und der Behörden. Sollten letztere ihren monolingualen Habitus ablegen und die plurilinguale gesellschaftliche Realität zur Entscheidungsgrundlage machen, wäre es ein Einfaches, Romanes bedarfsadäquat im Kultur- und Bildungsbetrieb zu verankern. Mit Romanes sozialisierte Kinder würden ihren kognitiven Fähigkeiten entsprechend in ihrer Sprache alphabetisiert, eingeschult und integ- 554 DieterHalwachs riert. Sprachunterricht unter gleichzeitiger Geschichtsvermittlung könnte nicht nur Kindern der autochthonen Sinti die Kultur ihrer Vorfahren vermitteln, sondern auch der Jugend der Mehrheitsbevölkerung Einblick gewähren; ein integratives Modell sowohl zum Kulturerhalt als auch zum sozialen Zusammenhalt. Dafür bedarf es jedoch auch der Öffnung der Sinti gegenüber der Mehrheitsbevölkerung, die mit dem aus zunehmendem Assimilationsdruck resultierenden Sprachwechsel zum Deutschen nicht unmöglich scheint. Eine pluralistische Bildungs- und Kulturpolitik vorausgesetzt, könnte das Romanes folglich durchaus zu dem werden, was es eigentlich ist: ein integraler Bestandteil der deutschen Kultur. Literatur Finck, F. (1903): Lehrbuch des Dialekts der deutschen Zigeuner . Marburg. Holzinger, D. (1993): Das Rómanes. Grammatik und Diskursanalyse der Sprache der Sinte . Innsbruck. Igla, B. (2005): Sinti-Manuš. Aspects of Classification. In: B. Schrammel, D. Halwachs & G. Ambrosch (Hrsg.): General and Applied Romani Linguistics . München, 23-42. Matras, Y. (2002): Romani. A Linguistic Introduction . Cambridge. von Sowa, R. (1898): Wörterbuch des Dialekts der deutschen Zigeuner . Leipzig. Internet Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: http: / / zentralrat.sintiundroma.de/ tumengi Dieter Halwachs 124. Sorbisch 1. Begrifflichkeit Sorbisch, Eigenbezeichnungen serbšćina bzw. serbska rěč (obersorbisch), serbska rěc (niedersorbisch) ist eine in Sachsen und in Brandenburg gesprochene Minderheitensprache und gehört neben Tschechisch, Slowakisch, Polnisch und Kaschubisch zur westslawischen Sprachgruppe (↗ Art. 82). Es wird zwischen Niedersorbisch und Obersorbisch unterschieden. Das Sorbisch der Gegenwart wird durch die Sprachvarietäten Schriftsprache, Umgangssprache und Dialekt repräsentiert (Schön & Scholze 2014: 373 f.). Die Anzahl der Sorben wird mit ca. 50.000 bis 60.000 beziffert, von denen die Sprecherzahl etwa die Hälfte beträgt (Schön & Scholze 2014: 370). 2. Problemaufriss Alle Sprecher des Sorbischen sind heute zweisprachig. Sie bilden in der Lausitz - ihrem Siedlungsgebiet - bis auf eine kleine katholisch geprägte Region, zwischen Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda in Sachsen, die Minderheit. Sorbisch wird diglossisch gebraucht und konkurriert als Kommunikationsmittel mit dem Deutschen, wobei es sich auf die Domänen Dorfgemeinschaft, Familie, Kirche und Schule konzentriert. Obgleich als Amtsbzw. Verwaltungssprache gesetzlich festgeschrieben, wird es in der Öffentlichkeit weitaus seltener verwendet, in der Regel auf zweisprachigen Beschilderungen, Ortstafeln sowie in formalen Bekanntmachungen. Gesetzliche Bestimmungen regeln den Schutz und die Förderung des Sorbischen. Das „Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderhei- 555 124. Sorbisch ten“ (Europarat 1995) sowie die „Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ (Europarat 1992) auf europäischer Ebene und sogenannte Sorbengesetze auf Landesebene schaffen Rahmenbedingungen u. a. für das Bildungswesen. Sorbisch ist im Land Brandenburg Zweit- oder Fremdsprache, im Freistaat Sachsen Mutterbzw. Erstsprache, Zweit- oder Fremdsprache. Hohe Erwartungen ruhen auf dem 1998 begründeten Witaj-Modell, einem Revitalisierungsprojekt, bei dem langfristig aktive Sprecher des Sorbischen gewonnen werden sollen. Aktuell lernen ca. 1.300 Kinder in 37 Kindertagesstätten (Schulz 2015: 11) unter Anwendung der partiellen bzw. totalen Immersionsmethode, wonach Kinder Sorbisch von frühester Kindheit an zusätzlich zu ihrer Erstsprache erwerben. Auf dem Witaj-Modell bauen schulische Curricula in Sachsen und Brandenburg auf (↗ Art. 21). In Sachsen ist seit dem Schuljahr 2002/ 03 die „Schulartenübergreifende Konzeption 2 plus“ (abgekürzt: 2 plus) verbindlich. 3. Forschungsstand Sowohl Mehrsprachigkeitsals auch Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) sind bislang Desiderata in der sorabistischen Forschung. Die an der einzigen universitären sorabistischen Hochschuleinrichtung, dem Institut für Sorabistik der Universität Leipzig, angebundene Fachdidaktik Sorbisch sowie die sorabistische kulturwissenschaftliche Ausbildung werden unter Beachtung mehrsprachiger und plurikultureller Aspekte als Einzeldisziplinen gelehrt. Schulische Angebote in Sachsen und Brandenburg erfolgen in der Regel nach Sprachen getrennt; Sorbisch wird in Sprachgruppen differenziert nach Mutter-, Zweit- oder Fremdsprache unterrichtet. Die Aufhebung dieser Trennung und das Unterrichten in heterogenen Lernergruppen erfolgt erst ansatzweise und zeigt sich u. a. in der Anwendung von kooperativen Lehr- und Lernmethoden, wie dem Team-Teaching. 4. Praxisrelevanz Nach erfolgreicher Evaluierung von „2 plus“ nehmen aktuell ca. 4.000 Schülerinnen und Schüler am Sorbischunterricht in Sachsen und Brandenburg teil, etwa ein Drittel von ihnen am bilingualen Sach-/ Fachunterricht. Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen oder ein Gesamtsprachencurriculum bleiben Desiderata. Einzelne Projekte zum sprachübergreifenden Lernen sind in Sachsen stattfindende Sprachwettbewerbe, wie die Slawiniade oder Bohemiade. Interkomprehensionsdidaktik wird in der Praxis trotz Nähe zu anderen slawischen Sprachen eher sporadisch umgesetzt. In schulischen Curricula ist diese zwar im Sinne von Sprachbegegnung festgeschrieben, wird jedoch in der Unterrichtspraxis noch zu selten genutzt. Mit dem Ziel einer stärkeren Kompetenzentwicklung bei L1-Lernern wird in jüngster Zeit der Ansatz der integrativen Sorbischdidaktik verstärkt umgesetzt, bei dem die einzelnen im Lehrplan ausgewiesenen Lernbereiche integrativ miteinander in Verbindung gesetzt werden, aufeinander bezogen und im Unterricht sachgerecht miteinander verknüpft werden. Sorbisch-Unterricht als auch bilingualer Sach-/ Fachunterricht (↗ Art. 111) sind bislang nur ansatzweise in eine Mehrkulturalitätsdidaktik eingebunden. Kulturdidaktik erfolgt additiv bzw. kontrastiv zum Deutschen. Im schulischen Primarbereich wird sie zumeist in den Sach-/ Fachbzw. den fremdsprachlichen Unterricht integriert oder bleibt auf einzelne 556 InesKeller-&JanaSchulz Projekte beschränkt. Erst ab Sekundarstufe I/ II werden auch Zusammenhänge mit anderen Regional- und Minderheitensprachen thematisiert. Interkulturelle Kompetenzen werden eher punktuell und in Abhängigkeit von der Lehrerpersönlichkeit vermittelt. 5. Perspektiven-/ Ausblick Lehrerinnen und Lehrer sind die entscheidende Instanz bei der Auswahl konkreter Lerninhalte. Wenn es stärker als bislang gelänge, sie für Fragen transkultureller Vielfalt (↗ Art. 41), Diversität und Mehrsprachigkeit zu sensibilisieren, könnte diese Sensibilität an Schulen weitergetragen werden. Dieser Aspekt ist insofern wichtig, da eine bloße „Minderheitenkunde“ im Sinne einer Wissensvermittlung eher zur Verfestigung von feststehenden Kulturbegriffen und Vorstellungen von Minderheiten führen dürfte. Ziel sollte es stattdessen sein, Minderheiten als Bestandteil lebendiger, autochthoner Kulturen im 21. Jahrhundert wahrzunehmen (Neumann 2011: 151). Literatur Europarat (1992): Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen . [https: / / rm.coe.int/ 168007c089]. Europarat (1995): Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten . [https: / / www.nationaleminderheiten.eu/ rahmenuebereinkommen-zum-schutz-nationaler-minderheiten-9238/ ]. Neumann, M. (2011): Schule, Tracht und Rassenwahn. Zu der Schwierigkeit, „Minderheitenkulturen“ jenseits von Stereotypen in Schulen zu thematisieren. In: E. Tschernokoshewa, & I. Keller (Hrsg.): Dialogische Begegnungen. Minderheiten - Mehrheiten aus hybridologischer Sicht. Münster u. a., 127-153. Schön, F. & Scholze, D. (Hrsg.) (2014): Sorbisches Kulturlexikon . Bautzen. Schulz, J. (2015): Bilingualer Spracherwerb im Witaj-Projekt. Bautzen. Schulz, J. (2016): Sorbisch. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Aufl. Tübingen, 550-553. Ines Keller-& Jana Schulz 125. Niederdeutsch 1. Begrifflichkeit Die niederdeutsche Sprache (wir verwenden Niederdeutsch und Plattdeutsch synonymisch) ist die historische Regional- und Alltagssprache, die in Norddeutschland neben dem Hochdeutschen verwendet wird und mit diesem eine Form der diglossischen Mehrsprachigkeit ausgebildet hat. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war sie die Sprachform, die in weiten Teilen Norddeutschlands nördlich der sog. Benrath-Magdeburger Linie, die ihren Namen von einem Stadtteil Düsseldorfs erhalten hat, als Sprache in der Familie, unter Freunden, aber auch in öffentlichen Kontexten gebraucht wurde. 2. Problemaufriss Seit Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass das Niederdeutsche in Norddeutschland zunehmend durch das Hochdeutsche als Alltagssprache verdrängt 557 125. Niederdeutsch wird. Beginnend in den bürgerlichen Kreisen der Städte wurde das Hochdeutsche aus unterschiedlichen Gründen als vorteilhaft im Vergleich zum Niederdeutschen betrachtet. U. a. ist es als Sprache von Goethe und Schiller eine auch international beachtete Literatur- und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auch bedeutende Wissenschaftssprache. Sie ermöglicht eine überregionale Kommunikation und wurde nicht zuletzt deshalb als aufstiegsfördernd angesehen. Die Vorteile des Niederdeutschen, die insbesondere in der Nähekommunikation in der Familie und unter Freunden deutlich werden und die sich aus seiner historischen Bedeutung als Regionalsprache ergeben, wurden zwar oft gesehen, kamen jedoch erst in der sog. „Dialektrenaissance“ (1960er und 1970er Jahre) zum Tragen und führten zu einer Rückbesinnung zu den historisch in den Regionen gesprochenen Dialekten. Eine Konsequenz dieser Dialektrenaissance ist eine verstärkte Kulturarbeit, wie sie z. B. in der Vielzahl von plattdeutschen Theater-AGs deutlich wird, die bis heute in weiten Teilen Norddeutschlands flächendeckend zu finden sind. Eine recht beachtliche Literaturproduktion ist ebenfalls ein deutliches Zeichen des gestiegenen Interesses am Niederdeutschen als Kultursprache. Eine zweite Konsequenz aus der „Dialektrenaissance“ ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob das Niederdeutsche als gesprochene Alltagssprache durch gezielte Impulse neu belebt werden kann. Der beobachtbaren Tendenz, dass die Sprachkompetenz in den jüngeren Generationen deutlich gemindert ist und es seit den 1970er Jahren selbst auf dem Land nur noch selten eine Weitergabe des Niederdeutschen als Erstsprache an die Kindergeneration gibt, sind Bemühungen zur Vermittlung aktiver Kenntnisse des Niederdeutschen geschuldet, die sowohl Erwachsene (Kurse als Volkshochschule, Selbstlernkurse im Buchhandel) als auch Kinder und Jugendliche ansprechen sollen. In den Bundesländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen sind im Zusammenhang mit der 1998 vom Bundestag ratifizierten EU-Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Europarat 1992) Maßnahmen zum Schutz der Regionalsprache Niederdeutsch ergriffen worden, die zum Teil auch den Gebrauch und den Erwerb der Sprache an Schulen mit einbeziehen (↗ Art. 21). 3. Praxisrelevanz Die Sprachencharta legt fest, wie eine Förderung der Chartasprachen zu erfolgen hat. Nach Teil III der Charta wird das Niederdeutsche in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gezielt in unterschiedlichen, in der Charta definierten Bereichen (u. a. Bildung, Medien, Gebrauch des Niederdeutschen in Behörden) gefördert. Die Förderung in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt erfolgt lediglich nach Teil II der Charta, der die Anerkennung des Niederdeutschen als Regionalsprache sichert und allgemeine, wenig konkrete Aussagen u. a. zur Förderung von Maßnahmen enthält, die zur „Erleichterung des Gebrauchs“ und zur „Bereitstellung von Einrichtungen“ beitragen, die den Erwerb des Niederdeutschen ermöglichen (Europarat 1992: Artikel 7). In der Folge wurde Niederdeutsch in Hamburg als Schulfach an einigen Grundschulen 2010 eingeführt. Bremen und Schleswig-Holstein schlossen sich diesem Beispiel 2014 und Mecklenburg-Vorpommern 2016 an. Die Kultusministerkonferenz erkannte Niederdeutsch 2017 als mündliches und schriftliches Abiturprüfungsfach an. Allerdings hat bisher 558 Hans-JoachimJürgens-& Helmut- Spiekermann nur Mecklenburg-Vorpommern den dazu notwendigen Unterricht in der Sekundarstufe II eingeführt (vgl. Bundesministerium des Inneren 2017: Absatz D. IV). In Niedersachsen wird durch die Gewährung von Entlastungsstunden an 71 (Stand: 2017) sog. Starter- oder Projektschulen die Umsetzung des Erlasses „Die Region und ihre Sprachen im Unterricht“ unterstützt, der den Gebrauch des Niederdeutschen im regulären Unterricht ermöglicht (Bundesministerium des Inneren 2017: 46). Als besonders problematisch erweist sich für das Fach Niederdeutsch, dass nur sehr wenige Fachlehrerinnen und Fachlehrer vorhanden sind. Lediglich an den Universitäten Greifswald, die durch die Einrichtung des „Kompetenzzentrums für Niederdeutschdidaktik“ eine besonders wichtige Stellung eingenommen hat, Kiel (resp. Flensburg) und Oldenburg kann Niederdeutsch seit einigen Jahren als eigenständiges Unterrichtsfach bzw. im Rahmen von Zertifikatsstudiengängen studiert werden (vgl. Bundesministerium des Inneren 2017: 108, 114). Die Universitäten in Rostock, Hamburg, Paderborn, Münster und Magdeburg bieten zumindest Anteile innerhalb des Germanistikstudiums. Der derzeit an vielen Schulen in Form von Plattdeutsch-AGs angebotene Unterricht wird in der Regel von engagierten, nicht speziell für diesen Unterricht ausgebildeten Lehrkräften in Eigenregie durchgeführt. Eine koordinierte und ortsübergreifende Vermittlung des Niederdeutschen wurde bislang nicht zuletzt durch fehlendes didaktisch aufbereitetes und den dialektalen Umständen in den Regionen angepasstes Unterrichtsmaterial erschwert. Einige Materialien sind online verfügbar, z. B. unter www.plattolio.de. In Plattdeutsch-AGs greifen Lehrkräfte sehr oft auf selbsterstellte Materialien zurück. Ein von einer Autorengruppe aus Schleswig-Holstein entwickeltes Lehrwerk für die Grundschule ist „Paul un Emma un ehr Frünnen“ (Uni Flensburg 2018; vgl. auch: Institut für Niederdeutsche Sprache 2015), das im Sinne moderner Fremdsprachdidaktik systematisch einen plattdeutschen Grundwortschatz aufbaut und Textbausteine für eine Alltagskommunikation bereithält. Das Lehrwerk ist auch über Schleswig-Holstein hinaus in Gebrauch. Für das Münsterländische haben Jürgens & Spiekermann (2017) ein Unterrichtskonzept für Grundschulen entworfen, das dem Prinzip der Sprachbegegnung folgend, Grundschülern im Rahmen eines Schulversuchs der Bezirksregierung Münster eine Begegnung mit dem Niederdeutschen im Kontext des Sachunterrichts erlaubt. 4. Perspektiven Gegenwärtig wird diskutiert, eine standardisierte Form des Niederdeutschen in Unterrichtsmaterialien zu verwenden. Als Grundlage hierfür wird u. a. die in Gestalt eines Wörterbuchs und einer Grammatik existierende Norm nach Johannes Saß (2011a; 2011b) diskutiert, die schon im Lehrwerk „Paul un Emma“ (s. o.) Anwendung gefunden hat. Für die Verwendung einer einheitlichen Form des Niederdeutschen würde sprechen, dass Unterrichtsmaterialien in unterschiedlichen niederdeutschen Gebieten verwendet werden könnten. Auch die Ausbildung von Lehrkräften ließe sich vereinheitlichen und damit effektiver gestalten (↗ Art. 27). Außerdem könnten nicht nur Lehrwerke, sondern ggf. auch andere Texte (Belletristik, Sachliteratur) in größeren Auflagen gedruckt und damit kostengünstiger angefertigt werden. Gegenargumente sind vor allem die historische Vielfalt der niederdeutschen Dialekte, 559 126. Dialekte die durch eine einheitliche Form des Niederdeutschen unberücksichtigt bliebe. Ein standardisiertes Niederdeutsch würde den Verlust der dialektalen Vielfalt unter Umständen noch beschleunigen, wodurch ein Ziel des Niederdeutsch-Unterrichts, nämlich die Erhaltung bzw. Wiederbelebung des Platt und damit die Stärkung der historischen Mehrsprachigkeit, nicht erreichbar wäre. Literatur Bundesministerium des Innern (2017): Sechster Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 15 Absatz 1 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen . Berlin. [https: / / rm.coe.int/ germanypr6-de/ 168077b6b6]. Europarat (1992): Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen . Straßburg. [https: / / rm.coe.int/ 168007c089]. Institut für niederdeutsche Sprache (Hrsg.) (2015): Paul un Emma snackt plattdüütsch . Hamburg. Jürgens, H.-J. & Spiekermann, H. (2017): Niederdeutsch in der Grundschule. Unterrichtsmaterialien für die 3./ 4. Klasse an Grundschulen im Münsterland . Münster. Saß, J. ( 2 2011a): Plattdeutsche Grammatik . Neumünster. Saß, J. ( 6 2011b): Plattdeutsches Wörterbuch . Neumünster. Uni Flensburg, Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Europa-Universität Flensburg (Hrsg.) (2018): Paul un Emma un ehr Frünnen . Lehrbook för Plattdüütsch in de Grundschool . Hamburg. Hans-Joachim Jürgens-& Helmut-Spiekermann 126. Dialekte 1. Problemaufriss und Begrifflichkeit Zunächst ist mit Blick auf Mehrsprachigkeit in Deutschland zu differenzieren zwischen Mehrsprachigkeiten, die vor allem aufgrund von Zuwanderung im 20. und 21. Jahrhundert entstanden (allochthone Mehrsprachigkeit) und solchen, die in der Sprachgeschichte begründet sind (autochthone Mehrsprachigkeit). Diese Trennung ist vor allem eine chronologische, da auch autochthone Mehrsprachigkeit (↗ Art. 117) durch Wanderungsbewegungen entstanden ist. Beispielhaft kann hier auf die Sorben in Ostdeutschland verwiesen werden (↗ Art. 124), deren rezentes Sprachgebiet aufgrund der Ausdehnung deutschsprechender Bevölkerungsteile seit dem 12. Jahrhundert stark geschrumpft ist (König 2001: 75). Relikte autochthoner Mehrsprachigkeit stellen zudem Sprachen dar, die in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen als schützenswert benannt sind (↗ Art. 121- 125). Darüber hinaus ist Deutschland durch eine vielfältige innere Mehrsprachigkeit geprägt, die im jahrhundertelangen Nebeneinander von Dialekten und der Ausbildung einer Standardsprache auf Basis mittel- und süddeutscher Dia- und Regiolekte begründet ist. Unter innerer Mehrsprachigkeit „versteht man das Nebeneinander mehrerer Varietäten, die von einer Normsprache […] überdacht werden und zudem in einer engen sprachverwandtschaftlichen Beziehung stehen“ (Wildfeuer 2009: 61). Beispiele sind die diatopischen Varietäten Alemannisch, Bairisch oder Kölsch. Zur inneren Mehrsprachigkeit zählen zudem diastratische Varietäten wie Jugend- und Fachsprachen. 560 AlfredWildfeuer Das Konzept, die Varietäten des Deutschen als eine Form von Mehrsprachigkeit aufzufassen, geht zurück auf Wandruszka, der die Erstsprache als ein „dynamisches Polysystem“ bezeichnete (Wandruszka 1979: 314). Wandruszka stellt heraus, dass ein Mensch über unterschiedliche Varietäten, über eine Mehrsprachigkeit innerhalb einer Sprache verfügt. Henne führte 1979 den Terminus „Innere Mehrsprachigkeit“ in die Forschung ein, indem er ein Konzept aufgriff, das schon 1854 bei Jacob Grimm erkennbar ist (Henne 1979: 306-308). In neueren Publikationen wurde der Terminus innere Mehrsprachigkeit und dessen Begrifflichkeit mehrfach aufgegriffen, differenziert und etabliert (z. B. Riehl 2014: 16). 2. Forschungsgeschichte und Forschungsstand Die Erforschung der diatopischen Varietäten weist in Deutschland eine lange Tradition auf. 1689 erschien beispielsweise das Glossarium Bavaricum von Johann Ludwig Prasch. Weitere wegweisende Projekte stellen Johann Andreas Schmellers (1785-1852) Grammatik und vor allem sein Wörterbuch (1827-1837) zum Bairischen dar. Die Varietätenvielfalt geriet ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen des Deutschen Sprachatlas (DSA) stärker in den Fokus (König 2001: 139). Neben einer zunehmend umfassenderen Darstellung der diatopischen Variation ermöglichte die lange Forschungsgeschichte eine Konzeptualisierung in Form der Dialektgruppen Oberdeutsch (Alemannisch, Bairisch, Ostfränkisch), Mitteldeutsch (z. B. Rheinfränkisch, Hessisch, Obersächsisch) und Niederdeutsch (z. B. Niedersächsisch, Westfälisch, Brandenburgisch). Bis heute stellt die Untersuchung der diatopischen Aspekte der inneren Mehrsprachigkeit ein bedeutendes Feld der Linguistik dar, obwohl sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Schwerpunkt z. T. verschoben hat in Richtung sozio- und perzeptionslinguistischer und sprachdidaktischer Fragestellungen. Aktuelle Forschungen analysieren z. B. den Zusammenhang zwischen Dialektverwendung und Identität oder widmen sich didaktischen Fragestellungen, wie dem Aufbau und dem Erhalt der inneren Mehrsprachigkeit und die Verankerung in Bildungsstandards und Lehrplänen. Die Erforschung diastratischer Variation (z. B. Jugendsprache, „Gastarbeiterdeutsch“) setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Zuletzt hat sich die Linguistik auch ethnolektalen Varietäten (z. B. Kiezdeutsch, Wiese 2012) gewidmet. 3. Innere Mehrsprachigkeit in der Schule Innere Mehrsprachigkeit hat Einzug in die Bildungsstandards und Lehrpläne gefunden (↗ Art. 21). So heißt es in den Standards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife im Kompetenzbereich Sprache und Sprachgebrauch reflektieren: „Strukturen und Funktionen von Sprachvarietäten beschreiben“ (Kultusministerkonferenz 2012: 20). Eine zunehmend positive Wahrnehmung der inneren Mehrsprachigkeit, die in der Folge der Sprachbarrierendiskussion der 1970er Jahre zunächst als nachteilig für die sprachliche und gesellschaftliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufgefasst wurde, basiert darauf, dass die Forschung inzwischen belegt, dass Mehrsprachigkeit sowohl mit deutlichen kognitiven als auch gesellschaftlichen Vorteilen verbunden ist. Richtungsweisend sind hier u. a. die Forschungen von Bialystok (z. B. Bialystok, Craik & Luk 2012), die zeigen, dass 561 126. Dialekte Mehrsprachigkeit u. a. zu einer Zunahme von kognitiven Fähigkeiten führt. Auch in Bezug auf den DaF- und DaZ-Unterricht wird eine bloße Fixierung auf eine Standardnorm zunehmend problematisiert (z. B. Neuland 2006: 17) und es findet in Ansätzen eine Öffnung für sprachliche Variation statt. Einige wenige aktuelle DaF- und DaZ-Lehrwerke thematisieren innere Mehrsprachigkeit und weisen auf Variation und Regionalität in der Standardsprache hin (vgl. Eller-Wildfeuer & Wildfeuer 2018). Im Sinne einer wirklichkeitsadäquaten sprachlichen Förderung von DaF- und DaZ-Lernern besteht hier jedoch noch Nachholbedarf. 4. Perspektiven Anhand der online publizierten Sprachkarten des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) (Elspaß & Möller 2003 ff.) wird deutlich, dass diatopische Variation in Phonetik, Lexik und Grammatik nicht auf dialektale Verwendungsformen beschränkt bleibt. Die Standardsprache weist ebenfalls Variation auf. Dies stellt auch das aktuelle Aussprachewörterbuch aus dem Duden-Verlag fest. Es nimmt zahlreiche Varianten auf und bewertet diese als standardsprachlich (Duden-Aussprachewörterbuch 2015: 29-31). Die Einsicht, dass sprachliche Variation bis in die Standardsprache hineinreicht, das Konzept einer inneren Mehrsprachigkeit auch hier greift, kann zum Abbau des Prestige-Gefälles zwischen den unterschiedlichen Varianten und Varietäten beitragen. Ein reflektierter und wirklichkeitsadäquater Umgang in Linguistik und Sprachdidaktik ist nötig, der sich vom Konzept einer vermeintlichen sprachlichen Homogenität löst und zu einem Normenpluralismus hinführt. Literatur Bialystok, E., Craik, F. I. M. & Luk, G. (2012): Bilingualism. Consequences for Mind and Brain . In: Trends in Cognitive Science 16/ 4, 240-250. Duden (2015): Das Aussprachewörterbuch . 7. Aufl. Berlin. Eller-Wildfeuer, N. & Wildfeuer, A. (2018): Denken in Kontinua. Überlegungen zum Umgang mit Norm und Variation im DaF- und DaZ-Unterricht. In: Zielsprache Deutsch 1/ 2018, 3-30. Elspaß, S. & Möller, R. (2003 ff.): Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) . [http: / / www.atlas-alltagssprache.de]. Henne, J. (1979): Fachidiome. In: W. Mentrup (Hrsg.): Fachsprachen und Gemeinsprache. Jahrbuch 1978 des Instituts für deutsche Sprache . Düsseldorf, 302-216. KMK (Kultusministerkonferenz) (2012): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). [https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf]. König, W. (2001): dtv-Atlas Deutsche Sprache . 13. Aufl. München. Neuland, E. (2006): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Unterricht. In: E. Neuland (Hrsg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht . Frankfurt a. M., 9-27. Riehl, C. M. (2014): Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt. Wandruszka, M. (1979): Die Mehrsprachigkeit des Menschen . München. Wiese, H. (2012): Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht . München. Wildfeuer, A. (2009): Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht. In: C. Ferstl (Hrsg.): „Dem Dorfschullehrer sein neues Latein …“ - Beiträge zu Stellenwert und Bedeutung des 562 AlfredWildfeuer Dialekts in Erziehung, Unterricht und Wissenschaft . Regensburg, 60-78. Alfred Wildfeuer Akkulturation 32, 34f., 98, 485 Albanisch 538 Alltagssituationen - in Lehrwerken 243 Alphabet - lateinisches, kyrillisches 373 - russisches 440 Alphabetisierung 295 - Doppelalphabetisierung 275 - zweisprachige 211 ALTE 108 Alterität 189, 214, 221, 377 Amtssprache 65f., 76f., 299, 365, 428, 436, 439, 455, 494, 538, 549 Anfangsunterricht 281 Antirassismus, s. auch Rassismus 14, 55, 181, 205f. Arabisch 162, 248, 297, 298, 415, 494 Arabisch u. Deutsch 496 Arbeitsformen - kooperative 524 Arbeitsgedächtnis 313, 326 Arbeitssprache 67, 72, 81, 509, 517 - im bilingualen Unterricht 524 Asociación de Academias de la Lengua Española 73 Assessment 107, 251, 402 Assessment interkultureller Kompetenz 251 Assimilation 34, 54f., 92, 98, 202, 205, 485 Association of Language Testers in Europe 108 Audiolingualer/ Audiovisueller Ansatz 166, 315 audiovisuelle Gestalt von Sprache 473 Aufgaben 45, 76, 91, 118, 127, 140, 224ff., 235, 247, 261f., 348ff., 370, 402 Aufgaben der Lehrkräfte - und Mehrsprachigkeit 140 Ausbausprache 297 Ausbauvolumen - didaktisches 416 Ausbildung 279 Ausländerpädagogik 97, 201, 202 Aussprache 281, 282, 302, 314, 326, 432 Austauschdidaktik 191, 471 Auswanderung, s. auch Migration 29 - aus Italien 428 - und Zweisprachigkeit 437 authentische Texte 348, 432 Authentizität 215, 216, 507, 524 autochthone Mehrsprachigkeit 531, 536 autochthone Sprachen, s. Sprachen autonomes Lernen, s. Lernerautonomie Autostereotyp, s. auch Stereotyp BBaden-Württemberg 284, 285, 286, 490, 491 Basler Schulgesetz 540 Bayern 156, 447, 470, 490, 491 Bedeutungsadäquanz 261, 304, 323, 335, 521 Bedeutungsexotismen 305 Begegnungs- und Austauschdidaktik 191, 471 Behaviorismus 148, 268, 321, 377 Begriffsregister 564 Begriffsregister beliefs 152, 434 Berlin 442, 470, 490, 491, 492, 524 berufliche Bildung 76, 472 Beurteilung 251, 256, 481 - Tests u. Schülerarbeiten 92 Beurteilungskompetenz 527 Bewusstheit - kulturelle 187 Bewusstmachung 131, 383, 390, 396 - der Bedeutung von Sprache 525 - Notwendigkeit der 522 - sprachliche 351, 527 Bikulturalität 30, 52, 121 Bildung - vs. Erziehung 96 Bildungsbenachteiligung 506 Bildungserfolg 183, 277, 486, 492 Bildungsniveau 280 Bildungsnotstand 141 Bildungspolitik 34, 86, 93, 141 Bildungssprache 466, 499, 536 Bildungsstandards 12, 110, 123, 181, 256, 325 Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss 121, 225 Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife 118, 226 Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife 225 Bildungswortschatz 291, 349, 438 - deutscher 8 bilinguale Bildungsgänge 8, 281, 506, 513, 523, 547 bilingualer Sachfachunterricht, s. CLIL bilinguale Studiengänge 360 Bilingualismus, s. Zweisprachigkeit 35, 409 - früher 272 - lebensweltlicher 466 - sukzessiver 273 bilingual literacy 519 bilingual triangle 518 Biliteralität 422 Binnendifferenzierung 499, 521 Blended Learning 246, 248 Bologna Reform 434 Bootstrapping-Hypothese 267 border studies 469, 471 borrowing , s. code mixing 37 Bosnisch 397 Bosnisch-Kroatisch-Serbisch (BKS) 442 Brabant 158, 161 Brandenburg 470, 554, 555, 557 Bremen 447, 490, 557 Bretonisch 534, 535 British Council 73 Brückensprache 39, 44, 148, 291, 303ff., 381, 385, 386, 418, 424f., 434 (optimale), 469 - Aktivierung der 318 - Englisch 418 - Französisch als optimale 425 - Russisch 398 - slawische Sprachen generell 398 - Wertschätzung 448 Buchwort 305 Bulgarisch 397, 443 Bundesgesetz über die Landessprachen 538 Bundeswettbewerb Fremdsprachen 404 Burgenlandkroatisch 544 Burstall-Bericht 285 CALP, s. cognitive academic language proficiency 515 CAN DO-statements - ALTE 108 Capacity-Modell 476 CEFR, s. GeR 107 Certilingua 8, 524 Charta der Grundrechte der Europäischen Union 76, 534 Charta der Regional- und Minderheitensprache, s. Europäische Charta der... Chinesisch 346, 415, 446 Chomsky 325 circle - inner / outer / expanding 451 citizenship 4, 90, 94, 201ff., 209, 211, 519 CLIL, Content and Language Integrated Learning 367f., 509ff., 513ff., 517ff., 520ff., 523ff. code mixing 37 565 Begriffsregister Code-Switching 37, 248, 314, 317, 330, 479, 498, 548 Cognitive academic language proficiency 515 Common Curriculum 354 Common European Framework of Reference for Languages , s. GeR common grounds 62, 81, 234, 330, 346, 372, 482 Communicative Language Teaching 166 Companion Volume 55, 58, 74, 91, 107, 112, 113, 132, 183, 256, 257, 258 comprehensible input 391 concept driven 318, 474 Content and Language Integrated Learning , s. CLIL Content, Cognition, Communication 518 CRITERIA 232 Critical Incidents 115, 182, 186, 243, 253, 481, 482, 483 critical period hypothesis 267 crosslinguistic influence 268, 269 crosslinguistic interaction 39 culture 519 - high / low context culture 452 culture assimilator 481 Curricula 47, 58, 91, 107, 110, 120ff., 131, 141f., 155f., 199, 344, 416, 491 Curriculum Mehrsprachigkeit 50, 212, 360 DDachsprache 295, 296, 532 DaF 72, 162, 374, 396, 418, 420, 477, 563 DaF/ DaZ 243, 418, 485ff., 489ff., 497, 561 DaFnE 41, 410, 416 DaFnE/ F 412, 417, 422 Dänisch 301, 342, 395, 415, 472, 545, 546, 550 - in Deutschland 547 - Standarddänisch 547 Darstellung/ Exposition 473 DaZ 359, 495, 563 Defizite deutscher Abiturienten - bzgl. des mehrsprachigen Minimums 435 Defizithypothese 200 Dekomposition - Strategie zur Identifikation von Bedeutungen 304 Dekonstruktion 181 - überkommener Kulturkonzepte 21 Délégation Générale à la langue française et aux langues de France 72 Demokratisierung 298 - bzw. diastratische Verbreitung 295 Denglish 37 DESI-Studie 12, 258 Deutsch 55, 85, 393, 417, 424, 532, 537, 544 - als Brückensprache 422 - als Zweitsprache 280 - in der Wirtschaft 134 Deutsch als Fremdsprache nach Englisch 417 Deutsch als Fremdsprache nach Französisch, s. DaFnE/ F Deutsch als Zweitsprache 409 - Zusatzqualifikation 359 Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife 560 Deutsch in Südtirol 532 Deutschkenntnisse 486 Deutschland 7, 30, 161, 377, 490 Deutschprobleme von zugewanderten Schülern 492 Diagnostik 507 - mehrsprachige 507 diagnostisches mehrsprachiges Schreiben 150, 262, 351, 405ff. Dialekt 9, 295, 538, 543 Dialekte verstehen 301 Dialektkontinuum 295 Dialektrenaissance 557 Dialoge verstehen 158, 214, 399 Diasporakonflikt 33 didactique du pluriculturalisme 2 didactique du plurilinguisme in der Romania 50 Didaktik des Fremdverstehens 195, 220, 234 didaktische Steuerungsfehler - z.B. im Italienischunterricht 430 Differenz 200 Diglossie 38, 494, 538 Dimensionen der Diversität 202 Direkte Methode 166 Disambiguierung 351 Diskriminierung 204, 208 Diskursbegriff 169 Diskursbereiche 266 566 Diskurse - mehrsprachige 462 Diskurskonventionen 185 Diskursraum - interkultureller 518 Distanz-Kommunikation 32 diversifizierte und abgestufte Mehrsprachigkeit 375 Diversität 54, 89, 215 - ethnische und kulturelle 4 - kulturelle 1 - Pädagogik der 93 Diversitätshypothese 202 Dokumentationsfunktion 130 Dolmetschen 480 Doppelabitur - deutsch-dänisches 547 doppelte Halbsprachigkeit 2, 466 dritter Ort 170, 203, 221, 520 Dynamic Model of Multilingualism 125, 268 EEaG, s. English after German 291, 410, 412, 416, 420, 421, 423 Early Language and Intercultural Acquisition Studies (ELIAS) 278 Edutainment 476 Egalitätshypothese 200 Ehe - Heiratsmigration 33 - zwischen heterokulturellen Personen 98 Ehrbegriff 207 Eigenkulturbewusstsein 100 Einbezug vieler Sprachen 506 eine Person, eine Sprache 543 einheitliche Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung 225 Einsprachigkeit 18, 30, 34, 67, 210, 248, 289, 335 doppelte 548 Einstellungen 11, 85, 90, 114f., 143ff., 154, 181, 202, 226, 235, 252, 356 Einstellungs- und Verhaltensänderung 98 Einwanderungsgesellschaft 29 Einzelgänger-Hypothese 266 ELAN-Studie 135 ELF 453f. ELIAS-Projekt 278 Elysée-Vertrag von 1963 424 Empathie 154, 180, 199, 221 empathisches Lesen 222 Englisch 8, 55, 58, 68, 72, 74, 78, 145, 156, 160, 225, 245, 285, 287, 319, 324, 340, 360, 396, 420, 429, 446, 451, 491, 502, 524, 538, 544, 549 Englischdidaktik - u. Mehrsprachigkeit 153 Englisch-Didaktik für Englisch als internationale Sprache 82 Englischkenntnisse 28, 135, 428 Englischlehrerbildung 463 Englischunterricht 145, 175 - an Migranten 421 - mehrsprachigkeitssensibler 459 English 67 English after German , s. EaG English as a Gateway to Languages 68 Englishes 73, 81, 451 English only 463 Enkulturation 9, 33, 36, 97 EPA 225 epilinguistic awareness 510 Erbwörter 304, 305 ERFA-Wirtschaft-Sprache 135 Ergänzungsunterricht - muttersprachlicher, s. Herkunftssprachenunterricht 489 Erschließen - von grammatischen Regeln 445 - von Texten 300 - von Wörtern 399 - von Wortschatz 340 Erschließungsstrategien 318, 394, 395, 399, 400, 422, 432, 461, 525 Erstsprache 39, 228, 268, 269, 275, 278, 313, 314, 374, 402, 479, 497 Erstsprachen - zwei 272 Erstsprachenerwerb 167, 267, 273, 372 Erwachsenenbildung 110, 241, 411, 429, 430 Erzählen von Geschichten 20, 274 Begriffsregister 567 Erziehung 31, 62, 96, 519 - identitätsstiftende 62 - interkulturelle 201 - mehrsprachige 477, 527 Erziehungswesen 5, 26, 63 ESP 130, 131, 132 Ethnizität 93, 201, 205 Etyma 304 EU 48, 57, 58, 59, 60, 61, 63, 66, 68, 70, 76, 77, 78, 81, 82, 117, 247, 285, 302, 365, 367, 424, 533, 557 - Sprecher und Zahlen 77 Euregio Maas-Rhein 471 EuroCom 7, 151, 248, 317, 360, 394 - u. Englischunterricht 248 EuroComDidact 337 EuroComGerm 85, 335, 340ff., 384, 443 EuroComRom 42, 335, 343, 398, 438, 441, 443 EuroComSlav 397, 398, 443, 444 EuroComTranslat 336 Eurodeutsch 262, 349, 352 Eurokomprehension 48, 78, 302, 324, 346, 417 Eurom 4 u. 5 7, 50, 438 Euro-Mania 50 Europa der Regionen 69 Europa der Vaterländer 68 Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen 65, 69, 74, 76, 532, 533, 545, 550, 555, 559 Europaschule 136, 491, 524 Euroregion 469 Evaluation 182, 251 Eveil aux langues 2, 47, 117, 286, 343 Exemplarität 3 Expat/ Impat-Bewegungen 135 Extensive Reading 487 FFacebook-Gruppe 248 face to face-Kommunikation 479 face work 294, 474 Fachdidaktik - romanistische 41 Fachkommunikation 525 - mehrsprachige 366 Fachsprache 82, 366, 525 Fachterminologie 367 Fachunterricht 174 - sprachensensibler 507 Fähigkeiten - non-verbale 36 Fähigkeitsselbstkonzept 524 fake news 61 Faktorenmodell 269 falsche Freunde 262, 289, 322, 419 Familiensprache 36, 279, 440, 497, 500, 505, 506 Färöisch 301 Federalists-Papers - zum Menschenbild der Demokratie 59 Fédération Internationale des Professeurs de Français (F.I.P.F.) 49 Fehlerprophylaxe 127, 160, 289, 322, 350 Finnland 69 Flandern 158, 161 Fokus - bilateraler 523 Folgefremdsprache 400 Förderungswürdigkeit der Mehrsprachigkeit 279 formale Bildung 34 Formseite - sprachliche 371f. Fossilisierung 498 Französisch 8, 42, 72, 74, 156, 160, 163, 225, 285, 286, 415, 417, 424, 429, 447, 491, 524, 535, 537 - 1. oder 2. Fremdsprache 424 - als Grundschulfremdsprache 286 - Bildungssprache 502 - Brückensprache 305, 428 - Partnersprache 509 - „schwere“ Sprache 426 Französischkurse - in internationalen Unternehmen 134 Französischunterricht 49, 73, 163, 180, 194, 224, 319, 344, 410, 424ff., 457, 504 - sprachenvernetzender 502 Fremdartigkeit einer neuen Sprache 445 Fremdheit 97, 191, 200f., 214 Fremdsprache 214 Begriffsregister 568 Fremdsprachenlernen - frühes 47, 285f. - lebensbegleitendes 47, 228, 357, 463 Fremdsprachenunterricht 158 - Aufgabe von 41 - der Nationalstaaten 61 Fremdsprachenverbände 13 Fremdverstehen 30, 189, 196, 201, 330, 462 Friedenserziehung 202, 209ff., 519 Friedensforschung 63, 181 Friesisch 549 Frysk 549 Fusha 495 GGalanet 248, 330 Galatea 7, 50 Gastarbeiterdeutsch 560 gateway to languages 460 Gebärdensprache 39, 77, 479 gelehrte Sprache 162 Gender 54, 214, 216 Genuesisch 298 Geographie 214, 513, 517, 521, 526 GeR, Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen 5, 26, 41, 58, 74, 90, 104, 107, 108, 110, 112, 117, 126, 130, 133, 181, 183, 186, 194, 224, 257, 258, 354, 384, 430 germanische Sprachen 153, 159, 303, 319, 340, 343, 384, 386, 393, 396, 549 Germanistik 359, 396, 558 Gesamtsprachencurriculum 2, 40, 47, 84, 122, 354, 360, 506, 535, 541 Gesamtverband Moderne Fremdsprachen 13 Geschichte 513, 526 Geschichtsunterricht 514 - bilingualer 513, 514, 515 Gestik 294, 317, 474, 477, 479 Gewalt 29, 181, 205, 206, 209, 210 Gießener Graduiertenkolleg 102, 180, 185, 195 global awareness 202 Global Education 180, 201f. Globalesisch 81 Globalisierung 27, 55, 63, 68, 102, 134, 144, 179, 187, 193, 202, 212, 217, 222, 509, 540 Goethe-Institut 73, 107 Grammatik 277, 281, 282 Grammatiken - für Französisch, Italienisch, Spanisch, Slavisch, Russisch 308 - mehrsprachige 159, 160 Grammatik-Übersetzungsmethode 44 Grammatikunterricht 159, 162 Grenzkompetenz 70, 469 Grenzregionen 136, 442, 444, 469 Grenz(sprachen)didaktik 27 Griechisch 162, 524 Grundschule 35, 82, 280, 281 Grundschulfremdsprache 284, 286 Grundwortschatz 336, 356 - Plattdeutsch 558 Guaraní 437 HHamburg 156, 447, 490, 491, 557 Hamburger Abkommen 345 Hamburger Integrationskonzept 156 Handlungsfähigkeit (skills) - kommunikative 114 Handlungsorientierung 243, 284 Hebräisch 162, 297 heritage language 31 Herkunftsländer 174, 486, 489, 490, 494, 505 Herkunftssprache 31, 34, 175, 271, 276, 442, 494, 497, 498, 499, 524 Herkunftssprachen, s. auch Migrantensprachen 112, 211, 280, 345, 409, 442, 461, 468, 491, 493, 511, 524 Herkunftssprachendidaktik 498 Herkunftssprachenlehrkräfte 501 Herkunftssprachensprecher 440 Herkunftssprachenunterricht 48, 149, 211, 437, 443, 489ff., 495, 499ff., 506 Herkunftssprecher 441, 497, 498, 499 - polnische/ russische 444 Hermeneutik 213, 214 Hessen 355, 490, 491 Heterogenität 215, 499, 508, 510 - der Bevölkerung 102 - der EU-Bevölkerung 48 - der Gesellschaft 55 - der Lerngruppen 426, 460 - der Schülerschaft 104 Begriffsregister 569 - des Klassenzimmers 103 - sprachliche u. kulturelle 157 Heterostereotyp 189, 190 Hilfssprache im Regelschulbetrieb 553 Hindi 446 Hochdeutsch 66, 159, 303, 547, 550 - Schweizer 65 Hochschulunterricht 357, 393 Homburger Empfehlungen 49, 68, 124 Homogenität 105 Hörsehverstehen 369, 370, 475f. Hörverstehen 113, 117, 262, 278, 284, 289, 291, 317, 326, 369, 370, 371, 373, 393, 434, 475, 486, 498 - argumentatives 263 - Aufgaben 262 - metakognitive Komponente 474 - Portugiesisch 438 - Shadowing 475 - Vorlagen 475 Hybridität 19, 22, 23, 203, 217, 519 - von Kulturen 22, 34, 102, 216f. Hypothesen 126, 148, 214, 318, 351, 364, 388, 393, 394, 406, 407, 483 Hypothesenbildung 125, 174, 267, 291, 321, 378, 394 Hypothesengrammatik 124, 150, 261, 262, 290, 318, 323, 326, 349, 351, 379, 388, 390, 403, 432, 448 Hypothesengrammatik-Modell 268 IIAEA 439 Identifikationstransfer, s. auch Transfer 49, 290, 304, 322, 347, 369, 389, 431 Identität 17, 18, 19, 23, 25, 36, 39, 77, 100, 105, 154, 170, 190, 221, 462, 478, 498, 544 - europäische 131, 425 - hybride 20 - interkulturelle 149 - kulturelle 218, 252, 524 - mehrkulturelle 93, 221 - nationale 93 - trinationale 471 - u. Dialekt 560 Imagetheorie 478 Immersion 31, 252, 277, 281, 509, 510, 523, 535, 536, 555, 557 - frühe 278 Induktion 319 Inferenz 124, 316, 319, 327, 378, 412 inferenzielles Lernen 448 Inferieren von Wortbedeutungen 521 Inferierstrategien 364 Inhaltsorientierung - und Zielsprachenkompetenz 510 Inhaltstransfer 323 inhibitory control model 268 Inklusion 39, 54, 94, 98, 104, 142, 203, 215, 508 Innovation - als empfundene Drohung 411 Innsbrucker Modell der Fremdsprachendidaktik (IMoF) 360 Input 18, 139, 267, 273, 278, 313, 322, 325f., 347, 461, 474, 476, 498, 521, 543 - authentischer 278 - enhanced 326 - komprehensibler 355 - unstrukturierter 125, 331 - wiederholter 327 Inputoptimierung 326, 337f. Inputorientierung 225 Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 224f. Instituto Cervantes 73, 447 Intake 337, 355, 391, 476 Integration 29, 30, 33, 34, 48, 54, 92, 98, 149, 182, 202, 211, 268, 485, 487 - durch Assimilation 55, 221 - Kitas 277 - sprachliche, von erwachsenen Migranten 58 - Verläufe 33 Integrationskurse 195, 494 Integrationspädagogik, s. Ausländerpädagogik 97 integrative Ansätze 277 integrative Didaktik 2, 48, 51, 236, 281, 354, 417, 525, 540 - didactique intégrée 117 integrative Mehrsprachigkeit 467 Begriffsregister 570 intelligent guessing 389 Interaktionsforschung - interkulturelle 481 intercompréhension 49 - (Erstbeleg) 295 intercompréhension intégrée 411 intercultural sensitivity 258 intercultural speaker 185, 197 interest 59 - Interesse 60, 62 Interferenz 39, 74, 148, 152, 162, 289, 314, 321, 327, 328, 445, 498, 511 - motivationale 145, 347, 412 - syntaktische 164 Interferenzrisiko 322 Interkommunikation 292, 293, 411 Interkomprehensibilität 295, 316, 317, 411 Interkomprehension 7, 41ff., 61, 117, 236, 248, 294, 295, 297, 299, 300, 305, 316, 317, 319, 329ff., 346, 349, 363, 380, 384, 393, 409, 425, 433, 440, 443f., 479, 502, 506, 535, 539 - Begriff 42 - germanische 291, 393, 394 - interaktionale 293 - slawische, s. Russisch, slawische Sprachen - sprachfamilienübergreifende 380, 381 - über die Familie der eigenen Muttersprache hinaus 8 - u. Tertiärsprachen 49 Interkomprehensionsdidaktik 6, 47, 162, 290, 291, 299, 321, 322, 323, 338, 352, 354, 355, 356, 357, 366, 368, 377, 403, 412, 471, 555 Interkomprehensionsforschung 293 Interkomprehensionshandlung 124, 324, 354, 387, 389, 390 Interkomprehensionsmethode, s. Interkomprehensionsdidaktik 124, 328, 348, 349, 391 - Vorteile der 386 Interkomprehensionsunterricht 322, 350, 388, 390 Interkulturalität 30, 53, 89, 90, 102, 154, 179, 182, 183, 200, 201, 217, 220, 222, 225, 234, 330, 359 - Begriff 89 - in der EU 55 - Klammerbegriff 53 interkulturelle Aufmerksamkeit 258 interkulturelle Kommunikation 12, 21, 25, 57, 61, 110, 148, 154, 155, 156, 179, 180, 184, 186ff., 190, 201, 209, 231, 232, 233, 302, 317, 322, 344ff., 356, 357, 409, 410, 419, 454, 483, 518 - Bereitschaft zur 233 - Deskriptoren 254 interkulturelle Kompetenz 2, 30, 53, 55, 92, 100, 121, 124, 134, 151, 153, 156, 175f., 181, 182, 183, 198, 201, 207, 220, 222, 225f., 251ff., 256ff., 366, 438, 470, 491, 524, 540 - u. Lateinunterricht 434 interkulturelle Pädagogik 205 interkulturelles Lernen 2, 12, 36, 117, 156, 168, 179, 182, 186, 191, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 201, 202, 217, 219, 220, 236, 240, 329, 345, 348, 375, 376, 523, 529 interkulturelles Verstehen 220f. Interlanguage 4, 18, 76, 148, 296, 324, 355 Interlat 7, 438 Interlexem 304, 305, 379 - des modernen Lebens 305 Interligalex 305, 350, 375 - didaktisches Potential 337 Interlinearübersetzung 174, 261, 263, 351 internationale Erziehung 517 Internationalismen 42, 304, 381, 382, 403, 440, 447, 461, 521, 522 Internet 245, 246, 247, 252, 263, 292, 365, 439, 476 Interrom 7, 438 intersociety 6, 81 Intersynonymie 304 Intertextualität 198, 222 IQB, s. Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen 224f. Isländisch 301, 342 Italienisch 42, 74, 156, 160, 163, 285, 298, 308, 345, 352, 364, 415, 428, 429, 461, 524, 537, 544 - als erste Fremdsprache 429 JJALING 540 Janua Linguarum 68 Jiddisch 532 Begriffsregister 571 Jokersprache - Englisch 81 Jugendsprache 560 KKaale - auch Kale 552 Kanada 30, 35 Kärnten 543, 544 Katalanisch 70, 298, 346, 365, 431, 433, 448, 534 Kernwortschatz 336 - englische Transferbasen 356 - romanischer 290, 304, 305, 379 Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit, s. KRM Kimbundu 437 Kinderbücher 247, 363 Kindergarten 94, 97, 272, 277, 280, 486, 540, 543, 544 Kindergartensprachen 378 Kindertageseinrichtungen 276 Kita 271, 274, 276, 277, 470, 471, 547 - deutsch-türkische 500 - zweisprachige 277, 278 Klassenarbeit, s. Test 182, 260, 261 Klassenraum 518 Klassenraumdiskurs 151 KMK, s. Kultusministerkonferenz 107, 120, 123, 141, 155, 211, 224ff., 287, 345, 456, 509 Ko-Aktivierung - von Kognaten 313 KOALA-Grundschulen 500 Kognaten, s. Internationalismen, Interlexeme 262, 304, 312, 317, 319, 327, 341, 342, 349, 356, 381, 382, 395, 400, 419, 461 Kognitionspsychologie 312, 313, 314, 315 Kolonialismus 30, 181 Kommunikation 81, 83, 151, 167, 239, 257, 278, 394, 453 - Aufrechterhaltung der 331 - berufliche 114, 134, 135 - Binnenu. Außenin Unternehmen 135 - face to face 295, 297, 473, 477, 479, 480 - globale in Englisch 82 - in der Familie 31, 34 - in der Fremdsprache 167 - in Englisch als lingua franca 451 - innerskandinavische 301 - interdialektale 298, 303 - internationale 48 - kooperative 478 - monolinguale 248 - multilinguale 45 - mündliche 239 - Nähe- 32 - schriftliche 239, 316 - synchrone u. asynchrone 238 - verbale 98, 294 - zwischen Europäern 83 Kommunikationsbedarfe - internationale 134 Kommunikationsbewusstheit 322 Kommunikationsfähigkeit 231 - interkulturelle 57 Kommunikationsgemeinschaft 63, 234 - fremde 63 Kommunikationskompetenz - und GER 74 Kommunikationsmodus 395 Kommunikationsprobleme - dänisch-schwedische 302 Kommunikationsstrategien 39, 127, 231, 232, 233, 234, 236, 240, 416, 447 kommunikative Kompetenz 243, 325 - Chomsky 168 kommunikative Nähe 473 kommunikativer Radius 6, 49, 410 kommunikative Wende 166 Kompensationsstrategien 233 Kompetenz 57f., 90f., 107ff., 112ff., 117f., 225f., 252, 316, 325 - bildungssprachliche 507 - demokratische 253 - integrative, mehrsprachige u. plurikulturelle 104 - interkomprehensive 433 - interkulturelle, s. interkulturelle Kompetenz - plurilinguale und plurikulturelle 112, 254, 460 - produktive 291 - strategische 231 Begriffsregister 572 Kompetenzniveaustufen nach GeR 91, 108, 130, 256 Kompetenzorientierung 12, 123, 139, 155f., 198, 224ff., 348, 357, 441, 463 Kompetenzstufe - von CLIL-Absolventen 510 Komponentenmodelle 256 Konkordanzer 351 Können 11, 117 Konnotationen 82 Konsonanten 342 Konsonantenwechsel 399 konstruktivistische Spracherwerbs- und Lerntheorie 167 Kontaktvarietät 547 Kontinuität des Lernens 284 Kontrastive Linguistik 528 Kontrastive Lingustik 317 Kontrastmangel 327 Konventionen 10, 80, 115, 214, 233, 234 Kornisch 534, 535 Körpersprache 21, 234, 477 Korpusplanung 71 Korrespondenzgrammatik - interlinguale 261, 387, 388, 389, 390 Kreolsprachen 298, 437 Kritikfähigkeit 11, 99, 101, 151 KRM, Kernwortschatz der romanischen Mehrsprachigkeit 305, 336ff., 457 Kroatisch 397, 444, 538, 541 Kultur 17, 20, 21, 23, 52, 81, 102, 452 Kulturalität 17 Kultur als Humanitätsentwurf 96 Kulturbegriff - verengter 517 Kulturdidaktik 193, 194 kulturelle Gewalt 63, 80, 181, 210 kulturelle Prägung 98 kulturelles Lesen 222 Kulturen - kontextabhängige/ -unabhängige 201 Kulturenbewusstheit 511 Kulturkunde 179 Kulturraum 98, 100, 330 Kulturraumstudien 194 Kultursprache 72 Kulturstandards 481 Kulturstudien 193 Kulturwissenschaften 194 Kulturzugehörigkeit 200 Kultusministerkonferenz, s. KMK 120, 155, 440, 443, 557, 560 Kurs in heimatlicher Sprache und Kultur - HSK 489 kyrillische Schrift 445 L L2 Motivational Self System 170 Ladinisch 534 Landeskunde 102, 179f., 190f., 192ff., 197, 217, 253, 344, 528 - kulturwissenschaftliche 191 landeskundliches Grundlagenwissen - u. Mehrsprachigkeit 142 Landessprache - zweite (Schweiz) 539 language acquisition device 25 language awareness 467, 506, 510 Language crossing 38 language (learning) awareness 393, 463 language management skills 40 language switches models 268 languaging 18 langues de France 77 langues fédérées 7 Large-Scale-Studien - bildungswissenschaftliche 505 Latein 8, 66, 72, 297, 304, 307, 319, 344, 415, 429, 434f., 488 (Transferbasen) Lateingrammatik 158 Lateinkenntnisse 428 Lateinlernen 307 Lateinunterricht 158, 307 Latino maccheronico 298 Latinum 433 Laut-Denk-Protokoll 125, 150, 175, 326, 350, 387 Lautentwicklung 363 lebenslanges Fremdsprachenlernen 131 Lebenswelten - fremdsprachliche u. fremdkulturelle 242 Begriffsregister 573 lebensweltliche Mehrsprachigkeit 4, 8, 85, 150, 187, 359, 461, 465, 466, 468, 491, 510 Lehnwörter 502 Lehrerbildung 141, 153, 156, 211, 525 Lehrerkollegien - mehrsprachige 525 Lehrerrolle 239 Lehrkompetenz 139, 430 Lehrkräfte 139, 490 - für Herkunftssprachen 489 Lehrmaterial 245 - Auswahl und Präsentation 42 Lehrpersonal - für autochthone Sprachen 543 Lehrplan 120 Lehrstrategie 40 Lehr- und Lernmaterialien 153 Lehrwerk 74, 161, 216, 242, 298, 383, 384, 449 Lehrziele 410 Leistungen 280 Leistungsstudien 12 Leitsprache 66 Lern-Apps für mehrsprachige Lesekompetenz 379 Lernaufgaben 224, 425 Lernen, s. Sprachenlernen 25, 33 - entdeckendes 381 - lebensbegleitendes 352 - reflexives Lernen, s. Reflexivität - sprachenübergreifendes 121, 381, 444 - transkulturelles 217, 244 - von Inhalten 174 Lerner 169 - autonome, mehrsprachige 125 Lernerautonomie 43, 49, 123ff., 132, 147, 174, 239, 319, 328, 338, 390, 463, 526 Lernerbewusstheit 126, 127 Lernerfahrungen 12, 123 Lernerfolge 281, 285, 431 Lernergrammatiken 351 Lernerkontingente - der Schulfremdsprachen 429 Lernerorientierung 139, 344 Lernerrolle 239 Lernersprache, s. Interlanguage 82, 226, 262, 290, 291, 321, 322, 351, 388, 410 - Identifikation 412 Lernertyp 314 Lernerzentrierung 170 Lerngruppe - mehrsprachige und mehrkulturelle 244 Lernhandlungsplan 263, 334 Lernmonitoring 352 Lernmotivation, s. Motivation Lernökonomie 162, 347, 377, 404, 431 Lernplan 262, 351, 388, 391, 406 Lernprozessbewusstheit 126, 127 Lernstrategien, s. Strategien 40, 247, 284, 327, 409 Lerntandem 433 Lernziele 50, 125 Lernziel Mehrsprachigkeit 6 Lesedidaktik 522 Leseforschung 374, 376, 402f. Lesekompetenz 144, 355, 375, 393, 507 - mehrsprachige 354 Lesekurse - DaF 396 - slawische Mehrsprachigkeit 381, 399 Lesen 325, 344, 372, 373, 486 - als konstruktiver Prozess 402 - aufsuchendes 403 - globales 403 - interkomprehensives 355, 364, 373 - mehrsprachiges 347, 502 - mikroskopisches 434 - strategisches 522 - von Polnisch 382 Lesen von historischen Quellen 522 lesser used languages 531 Lexemklassen und Transferreichweiten 305 Lexikon - mentales 315 Liechtenstein 180 lingua franca 81, 105, 480 - Russisch 439 Lingua franca 452 lingua franca-Kommunikation 462 lingua frankensteinia 453 Begriffsregister 574 linguicism 210 Linguistic landscaping 512 Literaturdidaktik 220 Loi Deixonne 77 Lückentexte 261, 521 Lusophonie 437 Luxemburg 273 MMachtinteressen 22 Makedonisch 397, 398, 442 Makrostrategien 522 Makú 437 Marginalisierung 32, 98, 485 markedness -Hypothese 374 Masterstudien zu Mehrsprachigkeit 361 materiale von mentalen Prozessen 334 Materialien - didaktische 44, 73, 118 Materialverwendungsforschung 352 Matrix Language Frame Model 38 Mecklenburg-Vorpommern 470, 557 Medialität 473 Mediating Concepts 114 Mediation 91, 109ff., 112ff., 254, 258 mehrebenenanalytische Modelle 98 Mehrfachidentität 93 Mehrheitsmeinung 59 Mehrheitssprache 69, 359, 531, 532, 535, 536, 552 - Deutsch 485, 511 Mehrkulturalität 3, 47, 50, 52ff., 89ff., 95ff., 102ff., 107, 120f., 139, 153f., 179f., 192f., 204f., 220f., 224f., 242f., 330, 359f., 430, 515, 518, 525f. Mehrkulturalitätsdidaktik 6, 52ff., 153ff., 245, 359ff., 531 - Begriff 52f. - (Sorbisch) 555 Mehrkulturalitätskompetenz 517, 518 mehrkulturell 3, 5 mehrkulturelle Zielsetzungen 242 Mehrperspektivität 514 Mehrsprachenerwerb 25, 265 - simultaner 265 Mehrsprachenerwerbsforschung 265 Mehrsprachen-Kernwortschatz 336 Mehrsprachenkompetenz 154, 373 Mehrsprachenmonitor - didaktischer, s. Monitor Mehrsprachenunterricht 125, 177 Mehrsprachenzertifikat 402 mehrsprachiges diagnostisches Schreiben 291, 349 mehrsprachiges mentales Lexikon 318 mehrsprachiges Minimum 1, 12, 57, 124, 150, 287, 428, 466, 523, 533, 535 mehrsprachige Textarbeit, s. Textbasis- Satelliten-Arrangement Mehrsprachigkeit 2, 34, 38, 41, 76, 89, 90, 107, 117, 126, 141, 144, 149, 229, 294, 299, 355, 408, 505, 506, 513, 536 - additive 47, 74, 160, 228, 345 - allochthone/ autochthone 533, 559 - als Investition in die Zukunft 77 - angestrebte 356 - autochthone Zwei- oder 150 - Begriff 1, 41, 333 - der Lerner 388 - diglossische 556 - diversifizierte und abgestufte 47, 57, 77, 162, 355, 373 - echte 2, 84 - Förderung der 132 - fremdsprachliche/ schulische 465, 466 - in den Bildungsstandards 227 - individuelle 538 - innere 559, 560, 561 - institutionelle 367 - integrative 410 - lebensweltliche, s. lebensweltliche Mehrsprachigkeit - lernerseitige 411 - pädagogische Definition 3 - retro und proaktive 78 - rezeptive, s. rezeptive Mehrsprachigkeit 60, 64, 247, 301, 355, 393ff., 417, 535 - rezeptive germanische 393 - stufenübergreifende 85 - visuelle 274 Mehrsprachigkeit als Heterogenitätsdimension 505 Begriffsregister 575 Mehrsprachigkeitsdidaktik 40, 41, 47, 48, 49, 50, 51, 148, 245, 299, 366, 408, 460, 471, 510, 511, 512, 524, 526, 531, 539 - Anfänge einer 161 - integrative, s. integrative Didaktik 160 Mehrsprachigkeitskompetenz 235, 333, 519 Mehrsprachigkeitsprofile 2, 416 Mehrsprachigkeit und Macht 209 Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - Verknüpfung von 330 Mehrsprachigkeit und Unterricht 140 mehsprachige Textarbeit, s. Textbasis- Satelliten-Arrangement Meinungsbildung in der vielsprachigen EU- Demokratie 60 Menschenbildung - Zweck der 100 Menschenrechte 532 - Allgemeine Erklärung der 11 - Kairoer Erklärung der 11 mentales Lexikon 47,148, 289, 290, 312-316, 318, 322, 388, 428, 474 MES-Studie 13, 357, 462 Metakognition 43, 126, 322 metalinguistic awareness 511 Metastereotyp 189 Methode - fragend-forschende 352, 389 Methodenkompetenz 124 Migranten 29, 56, 105, 149, 194, 206, 409, 428, 480, 486, 494, 498, 544 Migrantensprache - Russisch in Deutschland 439 Migrantensprachen, s. auch Herkunftssprachen 1, 9, 34, 48, 78, 108, 150, 494, 501, 532, 539 migrantische Mehrsprachigkeit 465 Migrationsbevölkerung 494 Migrationsforschung 29, 33 Migrationshintergrund 50, 97, 98, 100, 149, 155, 176, 201, 206, 276, 278, 280, 423, 437, 466, 485, 486, 488, 494, 505, 506, 538, 540 - arabischer 494 Mimik 317, 474, 477, 479 Minderheit - dänische 545 - deutsche 547 - Gesinnungsminderheiten 547 - kornische 535 - samische 535 Minderheiten 67, 69, 548 - autochthone 465 - autochthone, migratorische 210 - autochthone (Österreich) 541 Minderheitensprache - Romanes 553 - Sorbisch 554 - Sorbisch oder Friesisch 469 Minderheitensprachen 27, 36, 48, 50, 65, 66, 69, 77, 78, 150, 210, 472, 494, 495, 500, 503, 532, 535, 542, 543, 544, 545, 546, 550 - allochthone 497 - autochthone 544, 545 Minimum, s. mehrsprachiges Minimum - mehrsprachiges 124, 287 Miranda u. Tabuzonen 62 MIRIADI 7 Mobilisierungskompetenz von Ressourcen, s. RePa 125 Modernismen 305 Monitor - didaktischer mehrsprachiger 327 Monitoring 124, 318, 390 monokulturelle Sichtweisen in Lehrwerken 242 monolinguale Ausrichtung - des Fremdsprachenunterrichts 426 monolingualer Habitus der deutschen Schule 27, 41, 50, 210, 467, 492, 505 Monolingualismus, s. Einsprachigkeit Morpheme 262, 312, 314, 327 Morphologie 289, 304, 326, 388, 396, 499, 552 Motivation, s. Interferenz 19, 25, 127, 145, 191, 318, 347, 375, 387, 388, 395, 421, 431, 441, 448, 462, 524 - durch interkomprehensiven Ansatz 431 - instrumentelle für Englisch und andere Fremdsprachen 426 - intrinsische 124 motivationale Interferenz, s. Interferenz 145 Begriffsregister 576 Motivationssteuerung 305, 323, 324 Motivationsstrategie 431 mots savant , s. Buchwort mots savants 304 Multiethniziät 243 Multiethnizität 182 multi-kulti 3 Multikulturalismus 30, 53, 54, 200 Multikulturalismuskonzept 218 Multikulturalität 1, 53, 89, 209, 217, 281 multikulturell 3, 5 multikulturelle Gesellschaft 96 multilingual factor 125 Multilingualismus 28, 276 multilinguisme , s. Vielsprachigkeit, Multilingualismus 23, 28 Multiliteralität 104, 171 Multiperspektivität 524 Mündlichkeit 473, 479 Münsterländisch 558 Mustererkennung 374 Muttersprache 1, 9, 151 Muttersprache + mindestens zwei, s. mehrsprachiges Minimum 463 Muttersprachenunterricht, s. Herkunftssprachen 489, 490 Muttersprachler 239, 266 NNachbarsprachen 45, 64, 82, 108, 136, 161, 296, 301, 302, 345, 375, 428, 442, 448, 469, 470 Nachhaltigkeit 203, 349, 351, 390, 391, 525 Nachsprechen 432, 475 Nähekommunikation 557 Nähe- und Distanzsprachen 346 Narrative 20 Nation 209, 409, 517 nationale Identität, s. Identität Nationalsprachen 5, 66, 83, 437, 492, 533, 544, 545 Nationalstaaten 26, 59, 63, 66, 69, 80, 96, 150, 302, 363, 426, 532, 545 native speaker 18, 26, 57, 154, 266, 369, 410, 425 Neolatinismen 159 Neutralität 56, 208 - kulturelle 81 New Historicism 55 Niederdeutsch 301, 545, 547, 550, 556, 557 Niederdeutschdidaktik 558 Niederländisch 342, 393, 415 Niedersachsen 490, 545, 549, 557, 558 Niveaustufe 91, 111, 114, 115, 116, 254, 258, 384, 523, 547 Nordfriesisch 545, 547, 550 Nordfriisk Instituut 551 Nordrhein-Westfalen 177, 355, 467, 490, 491, 528, 557 Nordschleswig - deutsch 547 Nordseegermanisch 549 Normen 9, 38, 81, 83, 98f., 114, 213, 215, 453, 499 Norwegisch 301, 302, 342 Nulltransfer 321 OOberflächenmerkmale 372, 374, 475 Okzitanisch 363, 365, 534 Online-Kommunikation 109 Opazität - interlexikalische 305 Organisation internationale de la Francophonie 72 Organon-Modell 478 Orthographien 375 Österreich 50, 117, 180, 211, 352, 377, 442ff., 489, 541, 543 - Minderheitenpolitik 544 Österreichisches Sprachdiplom 107 Ostfriesisch 549 Othering , s. Fremdheit 214 Output 313 Outputorientierung 198, 225 PPädagogik der Vielfalt 97, 202, 214 Panslawismen 381, 445 Panslawismus 398 Parallelwerke - für mehrere Sprachen 159, 352 Performanz 233, 252, 316, 325, 430 - von Lernern 109 Perspektivenübernahme 219ff., 235 Perspektivenwechsel 11, 90, 180, 198, 202, 220, 221, 227, 234, 425, 515 Begriffsregister 577 phonologische Schleife 313 Plattdeutsch 472, 556, 557 Plausibilitätsprobe 369, 371, 389, 474 PlurCur 84 PlurE 86 Plurikulturalität, s. Multikulturalität 54, 104, 105, 110, 111, 112 (im GeR), 113, 114 plurikulturelle Interaktionssituationen 188 plurikultureller Raum 113 plurilingual comprehension 113 plurilinguale u. plurikulturelle Kompetenz 109, 113 Plurilingualität, s. Mehrsprachigkeit plurizentrische Sprachen, s. Sprachen, plurizentrische 72 Polnisch 415, 442, 524 Polnischlehrkräfte 443 Popular Culture Studies 55 Portfolio 130, 132, 258, 259 Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung 157 Portugiesisch 415, 436, 437, 438, 524, 538 Portuñol 37 postkoloniale Literatur 222 Postkolonialismus 25 Postkolonialität 214 Postmoderne 53, 181, 213 Potential - mehrsprachigkeitsdidaktisches 524 Pragmalinguistik 127, 215 Prestige 209, 532, 542 - des Französischen 502 - von Englisch 73, 81, 460 - von Migrantensprachen 34, 149, 466 - von Sprachen 273, 543, 561 Primarstufe 284, 285, 378, 539 Priming 313 Produktion 45, 520 Produktionsstrategien 122 Produktionstransfer 322 Produktions u. Rezeptionsprozesse - Untrennbarkeit von 293 Produktion u. Rezeption 329 Produktivität - beim Spracherwerb 372 Proficiency Guidelines des American Council on the Teaching of Foreign Languages 253 Profilwörter 305, 350, 382 Progression 121, 218, 242, 257 (zyklische), 291, 305 (steile), 370, 383, 389, 391, 394, 416, 435, 448 Progressionsmodell 256, 258, 259 projet Didenheim 281 Prozesse - proaktive/ retroaktive 364 psychic income 9, 83 Psychoanalyse 214 QQuechua 410 Questione della lingua 297 RRahmenlehrpläne 120 Rahmenübereinkommen zum Schutz der nationalen Minderheiten 533 Rassismus, s. auch Antirassismus 181, 205, 206, 210 Rätoromanisch 247, 538 Raum - hybrider 518 - Kernbegriff der Geographie 517f. Raumkonzepte 519 Real Academia Española de la Lengua 73 Realienkunde 156, 179, 190, 192 Realitätsferne - von Lehrwerken, s. Lehrwerke 242 reason 59f., 92 Redinter 7 Referenzniveaustufen 108 Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen, s. RePA reflexive Didaktik 175, 519 reflexives Fremdsprachenlernen 131, 156, 306 Reformierte Gymnasiale Oberstufe 415 Regionalu. Minderheitensprachen 67f., 69f., 76f., 363, 365, 492, 531, 533, 545, 547, 556 Register - sprachliches 31, 41, 271, 295, 356, 370, 474, 478, 479 Reisen 83, 384 Rekodierung - phonologische 374 Begriffsregister 578 Religion 54, 93, 205, 206, 297 Religion oder Weltanschauung 100 RePA 47, 90, 104, 114, 117, 122, 125, 151, 228, 235, 236, 258, 346, 354, 379, 416 RePA-Deskriptoren 118, 222 Resilienz 96, 263, 387, 388 Ressourcen 118, 235, 478, 486 - fremdsprachliche 23 - heteroglossische 18, 23 - Konstituenten von Kompetenz 47, 92, 114, 123, 128, 174, 235, 267, 274, 286, 346, 347, 357, 394 - volitionale 11, 346 Rezeption 45, 63, 115, 222, 312, 313, 316, 325, 351, 355, 356, 374, 393, 452, 475, 520 Rezeptionsästhetik 214 Rezeptionskompetenz - mehrsprachige 322 Rezeptionsstrategien 122 Rezeption u. Produktion 45 Rezirkulation 326, 327 Rheinland-Pfalz 490, 491, 528 Richtlinien, s. auch Curricula 26, 120, 122, 347, 355, 409, 416 Richtlinie über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern 489 Romanes 532, 541f., 545, 546, 552 Rumänisch 262 Russisch 72, 126, 415, 429, 439, 440, 442, 497, 524 - Brückensprache 444 - lingua franca 439 - Unterricht 499 Russischdidaktik 441 Russischlerner 440 Russland 7, 161 SSaami 532 Saarland 72, 284, 285, 440, 471, 490, 492 Saar-Lor-Lux 136, 471 Sachfach 513, 523 Sachfachdidaktik - bilinguale 527, 528 Sachfachkompetenz 174, 536 Sachfachlehrer für bilingualen Unterricht 527f. Sachfachliteralität 515 Sachfachstudium 528 Sachfachunterricht 526, 528 - bilingualer 173, 174, 175, 367, 442, 509, 510, 511, 514, 520, 521, 522, 527, 528 Sachsen 285, 469, 470, 491, 554, 555 Sachsen-Anhalt 557 Sandwich-Technik 44 Saterfriesisch 545, 549 Scaffolding 147, 176, 390, 507, 521, 527, 529 Schleswig-Holstein 472, 490, 545, 549, 551, 557 Schlüsselkompetenz 58 Schlüsselwörter 521, 522 Schreiben 344, 406, 407, 408, 412, 434 - kollaboratives 406 - mehrsprachiges diagnostisches 262, 351, 407 - mehrsprachiges kollaboratives 406 Schrift 442 - kyrillische 381, 398, 440 - lateinische 442 Schriften 373 Schriftlichkeit 273, 275, 296, 308 - mehrsprachige 274 Schriftregister 304 Schriftzeichen 274 Schufremdsprachenangebot 357 Schulabschlüsse - bei Migrantenkindern 486 Schulentwicklung 50, 93, 120, 224, 506 Schüleraustausch 182, 186 Schulfremdsprachen 42, 44, 148, 151, 380, 409, 415, 416, 440, 442, 496, 511, 514 - Status 7 - traditionelle 425 Schullaufbahnberatung 13 Schulsprachen 378, 451, 460, 487 - Vernetzung der 447 Schwedisch 69, 301, 342, 394 - Brückensprache für DaF 418 Schweiz 180, 489 Schweizerdeutsch 537, 539 Segregation 91, 98, 485 Sekundarstufe 121, 283, 284, 287, 354, 377, 491 Sekundarstufe I 128, 242, 378, 395, 415, 433 Sekundarstufe II 123, 124, 378, 394 Begriffsregister 579 Selbstassessment 251 Selbsteinschätzung - Kompetenzen 110 Selbstkorrektur 351 Selbstmonitoring 349 Selbstwirksamkeit 324, 354, 462 Serbisch 69, 206, 397, 442, 538 Serie 175, 304, 305, 349, 350 - bedeutungsadäquate 304 - opake lexikalische 305 sexuelle Orientierung 54, 205, 206 Siedlungsräume 69 Silbe - offene 349 Sinti 552 Sintitikes 552, 553 Situation 478 Skandinavien 393 skandinavische Sprachen 300 Skript - kultureller 175 Slawinen 381, 397, 398, 400, 443, 445 Slawiniade 400, 444 slawische Mehrsprachigkeit 397 slawische Sprachen 398, 399 (Wortbindung), 439, 445 Slawistikstudium 399 Slowakisch 442, 443, 541, 542 Slowenen 541 Slowenisch 397, 442, 443, 532, 541, 544 social support system 25 social turn 170 Sønderjysk 547 Sorabistik 555 Sorbengesetze 555 Sorbisch 442, 545, 554 Sorbischunterricht 555 Sowjetunion 439, 497 - Nachfolgestaaten 398 - Spätaussiedler u. Einwanderer aus der 497 soziale Netzwerke 249 Sozialisation 9, 33, 98, 154, 193, 221, 452 - mehrkulturelle 155 Spanisch 8, 42, 55, 72, 73, 77, 156, 160, 175, 248, 351, 352, 356, 365, 410, 415, 425, 426, 429, 433, 438 (als Brückensprache), 446, 447, 524, 538 Spontangrammatik 268, 364 Sprachaufenthalte 539 Sprachaufmerksamkeit 48, 50, 124, 389, 467 Sprachbegegnung 467, 555, 558 Sprachbildung - durchgängige 506 Sprachcurricula 149, 356 Sprache 23, 93 - als In-group-marker 553 - als symbolische Ordnung (Foucault) 169 - ‚kleine‘ 431 - plurizentrische 72, 437 - Wesen der 20 Sprachen - agglutinierende 502 - allochthone 544 - autochthone 150f., 211, 465, 531ff. - gefährdete 69 - nicht-dominante 532 - revitalisierte 534 - skandinavische 396 - slawische 398, 399, 439, 442, 445, Sprachenbedarf 7, 135 Sprachenberichte der KMK 346 Sprachenbewusstheit 25, 44, 47, 85, 117, 123, 126, 127, 144, 228, 229, 236, 248, 267, 272, 273, 281, 286, 317, 325, 326, 338, 347, 355, 399, 412, 422, 441, 444, 445, 460, 467, 513, 525 Sprachen der Zugewanderten, s. Migration, Migrantensprachen 211 Sprachenfolge 13, 145, 286, 287, 290, 324, 344, 346, 347, 357, 419, 548 Sprachenlernen, s. Metakognition 18, 76, 239 - autonomes, lebensbegleitendes 463 - Geschlecht u. Alter 54 - im Lerntandem 240, 241 - reflexives, s. Reflexivität 121, 128, 460 - stufenübergreifendes 539 - u. Einstellungen 330 - u. Identität 36 - u. klassische Bildung als Lehrziel 166 - u. lernrelevantes Vorwissen 265 - vernetzendes 6, 47, 61, 410 Begriffsregister 580 Sprachenmarkt 6, 365 Sprachenpass 130 Sprachenpflege 25 Sprachenpolitik 1, 6, 27, 71, 211, 285 - der EU 61, 74, 78, 83, 130, 176, 285, 534 Sprachenpolitik der EU 1 Sprachenprofil 13, 316, 411 Sprachenrecht - europäisches 68, 210, 532 Sprachenrechte 68, 210, 532 Sprachenrepertoire 18, 26, 36, 265, 267, 418 sprachenteilige Gesellschaft 68, 124 sprachenübergreifende Ansätze 143, 145 sprachen- und fächerübergreifendes Lernen 117, 447 Sprachenvergleich, s. Vergleichen von Sprachen Sprachenwachstum 3, 8, 25, 290, 305, 389, 391 - Interkomprehension 289 - qua Hörverstehen 371 Sprachenwahl 13 - beim Code-Switching 38 - Welche Sprache lernen? 163 Spracherhaltungsprogramme 546 Spracherlebnis 18 Spracherwerb 33, 239, 265, 271, 327, 372 - multipler 466 Spracherwerbsbiografien 378 Spracherwerbsforschung 272 Spracherwerbsstörung 508 Sprache u. Kultur 22, 452 Sprache u. Nation 26, 66, 309 Sprache u. Recht 65 Sprache u. Staat 65 Sprachförderangebote - Kita 277 Sprachförderstunden 487 Sprachgebrauch 34, 71, 73, 134, 273, 308, 498 Sprachgemeinschaft 18, 38, 63, 96, 150, 294, 295, 307 Sprachgesetzgebung 65 Sprachhandeln 168, 325 Sprachkompetenz, s. Kompetenz 219, 278, 289, 296, 325, 486, 487, 510, 557 - berufsbezogene 134 - Dynamik, Interlanguage 296 - interkomprehensive 433 - rezeptive 326, 365 Sprachkontakt 25, 27, 28, 247, 273 sprachkontrastives Arbeiten, s. auch interkomprehensiver Ansatz 282 Sprachlehrbewusstheit 145 Sprachlenkung 7, 49, 71 Sprachlernberatung 12 Sprachlernbewusstheit 50, 118, 121, 124, 144, 145, 173, 174, 328, 384, 391, 412, 447, 502 Sprachlernbiographien 360 Sprachlernerfahrungen 124, 170, 282, 290, 318, 322, 375, 400, 411, 412, 416, 421, 440, 445, 462 Sprachlernerlebnis 324, 347, 411, 412 Sprachlernkompetenz 7, 8, 12, 49, 51, 118, 121, 123, 124, 126, 128, 144, 145, 148, 167, 173, 174, 228, 229, 260, 263, 284, 291, 322, 324, 325, 331, 335, 338, 344, 346, 347, 348, 349, 352, 354, 355, 356, 357, 360, 378, 388, 389, 391, 412, 416, 433f., 441, 460, 462, 524 Sprachlernmotivation 170, 524 Sprachlernprozess 17, 228, 284, 325 Sprachlernstrategien 232, 360 sprachliche Oberfläche - Fokussierung auf die 475 sprachliches Handeln 168 Sprachlichkeit 17, 18 Sprachloyalität 32, 149 Sprachmittlung 43, 44, 110, 113, 114, 117, 230, 292, 434, 520 Sprachmittlungsaufgaben 45, 352 Sprachökologie 26 Sprachpflege 66 Sprachpolitik 5, 6, 29, 71, 72, 73, 74, 80, 437 Sprachpraxis 31, 32, 444, 465, 466, 478 Sprachregelungen 65 sprachsensibilisierende Ansätze 286 Sprachtest 277, 325, 401 Sprachu. Kommunikationserlebnis 373 Sprachu. Kulturmittlung 191 Sprachvergleich, s. Vergleichen von Sprachen 74, 399, 444, 511 Sprachvergleiche 145, 511 - in Grammatiken und Lehrwerke 309 Begriffsregister 581 Sprachverlust 498 - (Attrition) 296 Sprachwechsel 249, 297, 314, 536, 552, 554 - rezeptiver 247 - u. Identität 39 Sprachwissen 14, 124, 287, 312, 351, 388, 399, 432, 445 Sprachwissenschaft 298, 308, 325 Sprechen 432, 434, 473ff., 477, 486, 498 Sprecher - makrolektale/ mesolektale/ basilektale 497 - mehrsprachiger und interkultureller 57 Sprechplanung 473 Sprechsituation 371, 433, 473 - Hörverstehen 475 Status 71, 532 - als Fremdsprache 346 - non-native speaker 169 - sozioökonomischer von Familien mit Migrationshintergrund 280 - von Fremdsprachen 166 - von Migrantensprachen 105 Stereotyp, s. Autostereotyp, Heterostereotyp, Metastereotyp 100, 172, 179, 180, 188, 189, 190, 191, 204, 214, 244, 481, 487 Stereotypenbildung 517 Stilbücher 73 Strategie, s. Sprachlernstrategien 8 - der Sprachlernbewusstheitsförderung 352 Strategien 317, 334, 352, 355, 371, 374, 384, 385, 390, 391, 405, 411, 412, 430, 434, 475, 521, 536 - metakognitive 124, 232 - soziale 232 - volitionale 236 - zum Hörverstehen 474 - volitionale 235 Strukturalismus 148 Studiengänge 396, 429, 527 Studium - Mehrsprachigkeitsu. Mehrkulturalitätsdidaktik im 359 Stufenmodelle 256 Stuttgarter Thesen 194 Subjektive Theorien 434 Subjektvorstellung 19, 20 Submersion 31 substantive concepts 514 Suchbreite 318 Suchroutinen - lexikalische 352 Süderjütisch 550 Südschleswigdänisch 547 symbolic competence 171 Symptom - bei Bühler 473 Synergieeffekte 121, 230, 404 - beim Erlernen von Spanisch 447 Synergien 13, 47, 247, 404 Szientismen 305 TTandemlernen 182, 238ff. Task Based Learning 147, 390 Teilkompetenzen, s. Hörverstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben 199, 226, 228, 325, 344, 486 - Erwerbstempo 410 Tertiärsprachen 49, 265, 345, 355, 398, 415, 416, 430, 442 Tertiärsprachenforschung 415, 418, 421, 438, 440, 442, 447, 465 Tertiärsprachenlinguistik 418 Tertiärsprachenunterricht 174, 416, 430 tertiary socialisation 102 Tessiner / Bündner-italienischer Dialekt 538 Test 108, 109, 261, 385, 403 - Hypothesengrammatik entwerfen 403 - interlingualer Transfer 403 - Lesekompetenz 402 - von mehrsprachiger Lesekompetenz 402 Tests 108, 110, 111, 198, 227, 254, 277, 325, 401, 441 - Cambridge English language, DELF usw. 402 - formative 261, 402 - standardisierte 486 - summative 402 Testverfahren u. Testaufgaben 326 Textbasis-Satelliten-Arrangement 175 Texte 520 - Auswahl 175 - authentische 520 - Gebrauchstexte 520 Begriffsregister 582 - lateinische 163 - muttersprachliche/ zielsprachliche 520 Texterschließung 521 Textkohärenz 327 Textsortenwissen 290 Themen 58, 81, 151, 176, 186, 202f., 373, 425, 426, 448, 496, 524, 528 - interkulturelle 182, 194, 198 - kulturspezifische 157, 204 - literarische 154 - prüfungsrelevante 155 - spezifische im Rahmen von Nationalsprachen 82 - u. ihre Wirkung 59 - u. Inhalte 52 - wie Gerechtigkeit, Gleichheit usw. 99 - des kollektiven Gedächtnisses 62 - u. Symbolwörter 62 Theorie der sozialen Identität 190 Theorie des Subjekts 169 Theorie sprachlicher Interaktion 478 Thüringen 121, 285, 470, 505 Training u. Trainingsprogramme 187, 326, 327, 354, 481, 515 - interkulturelles 482 Transfer 232, 314, 321, 325, 352, 378, 388, 406, 412, 444, 498 - didaktischer 49, 125, 232, 323 - interlingualer 49, 125, 403, 435 - lexikalischer 418 - morphosyntaktischer 323 - negativer 39, 42, 374 - negativer/ positiver 321 - positiver 45, 124, 383, 419, 445 Transferauslöser 322 Transferbasen 45, 150, 151, 174, 262, 291, 351, 370, 375, 388, 389, 391, 409, 416, 434, 447, 496 - deutsche u. englische 425 - didaktische 290, 356, 438 - englische 247, 461 - germanische 411 - kulturspezifische 448 - lateinische, s. Latein - lexikalische 262 - prozedurale Verfügbarkeit von 435 - romanische 448 - Verfügbarkeit germanischer 395 Transferbasis 6, 49, 162, 290, 291, 304, 322, 327, 347, 349, 350, 374, 394, 398, 403, 432, 479 Transferdiskussion 42 Transferdomänen 364 Transfereffekte 47, 323, 418, 422 Transferforschung 315 Transferierbarkeit 306, 536 Transferoperationen 291, 351 Transferphänomene 418 Transferpotential 356 Transferprodukt 322 Transferprozess - proaktiv/ retroaktiv 315, 323 Transferreichweite 305 Transferrichtung 322 Transfersprache, s. Brückensprache Transferstrategien 525 Transfertypologie 49, 322, 323 Transfer von Wissen 447 Transferziel 389 Transkulturalität 53, 89, 181, 183, 187, 203, 206, 214, 216, 217, 218, 221, 222, 317, 518 Transkulturalität 5 transkulturelles Lernen, s. Lernen Translanguaging 23, 39, 467, 503, 535 Transparenz - serielle interlexikalische 305 Transversaldidaktik 6 Tschechien 470 Tschechisch 285, 415, 442, 541, 542 tun können ( can do ) 254, 416 Tupi 437 Türkisch 206, 410, 415, 422, 494, 500, 524 - Lehrkräfte 491 Türkisch als Herkunftssprache anstelle der ersten bzw. zweiten Fremdsprache 491 Türkischdidaktik 502 Turksprachen 7, 48, 502 U Begriffsregister 583 Überforderung 521 - durch Mehrsprachigkeit 539 - durch zweisprachige Erziehung 272 Übergangsdidaktik 283 Übersetzen 41, 43, 44, 81, 111, 262, 316, 371, 405 Übersetzung 43, 45, 247, 312f. - Begriff 43 Übersetzungsäquivalent 313 Übersetzungsdidaktik 45, 348, 366 Übersetzungswissenschaft 366 Übungsformate 290, 348, 350, 352, 356, 370, 385, 411 UdSSR, s. Sowjetunion Umbundu 437 Umgebungssprache 41, 48, 85, 135, 271, 272, 276, 278, 280, 286, 497 UNESCO 203, 211, 363, 428, 439 Ungarisch 299, 541, 542, 544 UNIcert 470, 499 Union Latine 410 UN-Kinderrechtskonvention 466 Unterricht - bilingualer, s. Sachfachunterricht - kompetenzorientierter - mehrsprachiger 161 - sprachensensibler 525 Unterricht einer dritten Fremdsprache, s. Tertiärsprache Unterrichtsinteraktion 507 Unterrichtskommunikation 513 Unterrichtsmaterial 558 Unterrichtsplanung 507 Urteilsfähigkeit - politische 61 USA 30, 32, 39, 54, 59, 68, 131, 243, 254, 451, 454 Varietäten 26, 50, 65, 73, 144, 229, 295, 296, 297, 301, 303, 316, 346, 363, 370, 437, 544, 550, 552, 560 - des Arabischen 494f. - diatopische 370, 371, 559, 560 - Hörverstehen lehren 369 - umgangssprachliche 425 - von Migrantensprachen 48 Verbot von Sprachen 66 Vergleichen von Sprachen 7, 44, 47, 49, 50, 125, 148, 163, 247, 278, 316, 354ff., 391, 441, 522 - interlinguales 42, 121, 127, 434, 438 - intralinguales 447, 448 Vergleichsstudien zu Deutschleistungen in der Grundschule 280 Verkehrssprache 81, 211, 439, 471, 480, 495 - internationale 210, 424 Verlust von Diskursdomänen 82 Vermeidungsstrategie 327 Vermutungskompetenz - in interkultureller Kommunikation 483 vernetzendes Sprachenlernen 2, 148, 360 Vernetzung - von Ressourcen 47 - von Sprachen 49, 159, 318, 355, 365, 425, 447 Vernetzungspotential 290 Verstehen 97 Verstehenssicherung 233 Vertrag von Amsterdam 76 Vertrag von Lissabon 76 Viadrina 470 Vielkulturalität 14, 48, 153, 155 f. Vielsprachigkeit 1, 9, 50, 57, 68, 77, 107, 112, 153, 209, 271, 299, 345, 409 - im Unterschied zu Mehrsprachigkeit 2 - lebensweltliche 149, 510 Viersprachigkeit - institutionelle - der Schweiz 538 VOICE.Projekt 82 Volitionalität 11, 114, 118, 124, 127, 228, 235, 252, 412 Volitionalität/ attitudes, s. Resilienz 117 Völkerwanderung/ migration des barbares 517 Volksgruppengesetz 541 Volkshochschulen 7 Volkssouveränität 60 Volkssprachen 297 f., 307 f., 377 Volkswille 59 Vorurteil 189 f., 197, 244, 409 Vorwissen 304, 316, 325, 356, 378, 382, 385, 401 f., 404, 407, 411, 417, 438, 445, 447 f., 521 f. - lernrelevantes 317 - Relevanz des 140 Begriffsregister 584 Wales 67 Wanderungsbewegungen 29, 297, 518, 559 Weitergabe einer Sprache - intergenerationelle und institutionelle 534 Weltliteratur 222, 439 Weltverständigungssprache 57 f. Weltwissen 124, 268, 312, 318, 327, 364, 381, 403, 432 Werte 9 ff., 55, 58, 72, 97-100, 155, 203 f., 207, 244, 514, 538 Wir-Gefühl 62, 346 Wir-Gruppen 10 Wissen 11, 117, 369, 474 - kulturspezifisches 372, 517 - lexikalisches 370 - mehrsprachiges 123, 385 - metakognitives 379 - prozedurales 391 - sachfachliches 467 - Steuerungs- 379, 387, 405 f. - träges 391 Wissensgesellschaft 144, 147 Wissenslücken 351, 405 Wortanfang 364 Wörterbuch 315, 326 f., 400, 558 - mehrsprachiges persönliches 290, 349-352 - zweisprachiges 402 Wörterbuchdidaktik 263 Wörterbücher 162, 298, 309, 351, 377, 406, 522, 550 Wortpuzzle 261 Wortschatz 109, 277, 281 f., 289, 326, 350 - Aufbau eines mehrsprachigen 377 - des Alltags 102 - panromanischer 42 Wortschatzerwerb 266, 273, 314 Wortschatzu. Textarbeit 175 Wortsuperioritätseffekte 374 Wortverwandtschaft 327 Zeichen 39, 214, 274, 313, 372, 392, 473 - extraverbale 294, 479 Zeitfenster - flexibles, beim Lesen 291 - Formseite der Zeichen 371 Zielkulturen 154, 156, 425, 518 Zigeuner - (pejorativ) 552 Zusatzqualifikation - mehrsprachige Rezeptionskompetenz 404 zweisprachige Erziehung 271 Zweisprachigkeit, s. auch Mehrsprachigkeit 30, 228, 271 f., 294, 409, 466, 497 - echte 2 - frühkindliche 35 f. - in heterokulturellen Ehen o. Partnerschaften 36 - Kitas, s. Kitas 276 - kognitive Vorteile der 35 - lebensweltliche 501 Zweisprachigkeit/ Bilingualismus 18, 31 f. Zweisprachigkeit Deutsch/ Englisch 429 Zweitsprache 6, 314, 548 Zweitsprachensprecher 83, 296 Begriffsregister Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Dagmar Abendroth-Timmer Universität Siegen Didaktik der französischen und spanischen Sprache und Kultur Mohcine Ait Ramdan, M.A. Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsch als Fremdsprache Prof. (i.R.) Dr. Cristina Allemann-Ghionda Universität zu Köln Vergleichende Erziehungswissenschaft Mag. Dr. Elisabeth Allgäuer-Hackl Universität Innsbruck und LehrerInnen- Weiterbildung Forschungsgruppe DyME, Institut für Anglistik Dr. Daniela Anton Bunsen-Gymnasium Heidelberg Prof. Dr. Camilla Badstübner-Kizik Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, Polen Institut für Angewandte Linguistik Dr. Sandra Ballweg Universität Bielefeld Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Lennart Bartelheimer M. A. Technische Universität Darmstadt Fachgebiet Sprachwissenschaft - Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Mark Bechtel Universität Osnabrück Didaktik der romanischen Sprachen Dr. Christine Beckmann Technische Hochschule Mittelhessen, Gießen Englisch und Spanisch Dr. Ursula Behr Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien Bad Berka Jun.Prof. Dr. Katrin Biebighäuser Pädagogische Hochschule Heidelberg Deutsch als Fremdsprache Maik Böing Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Köln Geographie/ Geographie bilingual deutsch-französisch Prof. Dr. Andreas Bonnet Universität Hamburg Englischdidaktik Prof. Dr. Dr. h.c. Kurt Braunmüller Universität Hamburg Skandinavistik Prof. Dr. Stephan Breidbach Humboldt-Universität zu Berlin Fachdidaktik Englisch 586 DieAutorinnenundAutoren Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer Justus-Liebig-Universität, Gießen Teaching English as a Foreign Language Prof. em. Michael Byram University of Durham, England, UK School of Education Univ.-Prof. Dr. Daniela Caspari Freie Universität Berlin Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen Prof. (i.R.) Dr. Inez De Florio Universität Kassel Fremdsprachenlehr- und -lernforschung Jun.-Prof. Dr. Anastasia Drackert Ruhr-Universität Bochum Seminar für Slavistik / Lotman-Institut, Fachdidaktik des Russischen Dr. Jan-Oliver Eberhardt Pädagogische Hochschule/ Fachhochschule Nordwestschweiz Fachdidaktik Französisch Sekundarstufe I und Berufspraktische Studien Sekundarstufe Dr. Karl-Heinz Eggensperger Universität Potsdam, ZESSKO Testentwicklung (UniCert), Sprachandragogik, Fachsprachen Prof. Dr. Sabine Ehrhart Universität Luxemburg Ethnolinguistik Prof. Dr. Yüksel Ekinci Fachhochschule Bielefeld Erziehung und Bildung - Bildungsbereich Sprache Prof. Dr. Havva Engin Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Jürgen Erfurt Goethe-Universität Frankfurt a. M. Institut für Romanische Sprachen und Literaturen Prof. Dr. Christiane Fäcke Universität Augsburg Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen Prof. (i.R.) Dr. Elin Fredsted Europa-Universität Flensburg Dänisches Seminar Prof. Dr. Britta Freitag-Hild Universität Potsdam Didaktik der Anglistik und Amerikanistik Prof. Dr. Hermann Funk Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Interkulturelle Studien Prof. em. Dr. Claus Gnutzmann Technische Universität Braunschweig Institut für Anglistik und Amerikanistik Ao.Univ.Prof. Mag. Dr. Georg Gombos Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Allgemeine Erziehungswissenschaft und diversitätsbewusste Bildung Ass.-Prof. Mag. Dr. phil. Dieter W. Halwachs Karl-Franzens-Universität Graz Plurilingualism Research Unit / treffpunkt sprachen 587 DieAutorinnenundAutoren Prof. Dr. Claudia Harsch Universität Bremen, Sprachlehr- und -lernforschung / Fremdsprachenzentrum der Hochschulen im Land Bremen Prof. em. Dr. Hans Jürgen Heringer Universität Augsburg Deutsch als Zweit- und Fremdsprache Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Hinger Universität Innsbruck Didaktik der Sprachen Prof. Dr. Adelheid Hu Universität Luxemburg Multilingualism in Education Prof. Dr. Britta Hufeisen Technische Universität Darmstadt Sprachwissenschaft - Mehrsprachigkeit Dr. Jenny Jakisch Technische Universität Braunschweig Institut für Anglistik und Amerikanistik Prof. Dr. Ulrike Jessner Universität Innsbruck, Institut für Angewandte Sprachwissenschaft Pannonische Universität, Ungarn Forschungsgruppe DyME, Institut für Anglistik Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Jürgens RWTH Aachen University Fachdidaktik Deutsch Dr. Ines Keller Sorbisches Institut Bautzen Prof. Dr. Frank G. Königs  Philipps-Universität Marburg Informationszentrum für Fremdsprachenforschung (IFS) Dr. Hans-Ludwig Krechel Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Bonn Univ.-Prof. (em.) Dr. Hans-Jürgen Krumm Universität Wien Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Dr. Anta Kursiša Universität Helsinki Department of Languages Prof. i.R. Dr. Lutz Küster Humboldt-Universität zu Berlin Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen Prof. (em.) Dr. Georges Lüdi Universität Basel Mehrsprachigkeit, Fremdsprachenerwerb, Französische Sprachwissenschaft Prof. Dr. Christiane Lütge Ludwig-Maximilians-Universität München Didaktik der englischen Sprache und Literatur Prof. (em.) Dr. Madeline Lutjeharms Vrije Universiteit Brussel Psycholinguistik, Fremdsprachenerwerb, Deutschdidaktik Prof. Dr. Hélène Martinez Justus-Liebig-Universität Gießen Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen 588 Prof. Dr. Nicole Marx Universität zu Köln Sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache Prof. Dr. Nele McElvany Technische Universität Dortmund Institut für Schulentwicklungsforschung Prof. Dr. Grit Mehlhorn Universität Leipzig Didaktik der slawischen Sprachen Prof. (em.) Dr. Franz-Joseph Meißner Justus-Liebig-Universität Gießen Didaktik der romanischen Sprachen Prof. Dr. Sílvia Melo-Pfeifer Universität Hamburg Didaktik der romanischen Sprachen PD Dr. Sylvie Méron-Minuth Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Fachdidaktik Romanistik Prof. Dr. Jürgen Mertens Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Didaktik der französischen Sprache und ihrer Literatur Prof. Dr. Robert Möller Université de Liège Deutsche Sprache und Linguistik Prof. Dr. Isabelle Mordellet-Roggenbuck Pädagogische Hochschule Freiburg Französische Sprachwissenschaft und Didaktik der romanischen Schulsprachen Prof. Dr. Steffi Morkötter Universität Rostock Fremdsprachendidaktik (Anglistik und Romanistik) Prof. Dr. Johannes Müller-Lancé Universität Mannheim Romanisches Seminar Prof. Dr. Christiane Neveling Universität Leipzig Didaktik der romanischen Sprachen Dr. Göran Nieragden, M.A. Universität zu Köln Englisches Seminar II Dr. Helena Olfert Westfälische Wilhelms-Universität Münster Centrum für Mehrsprachigkeit und Spracherwerb Univ.-Prof. Christian Ollivier Université de La Réunion Forschungsgruppe Icare Prof. Dr. Thorsten Piske Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Fremdsprachendidaktik mit Schwerpunkt Didaktik des Englischen Jun.-Prof. Dr. Jochen Plikat Technische Universität Dresden Didaktik der romanischen Sprachen Jun.-Prof. Dr. Gregory J. Poarch Westfälische Wilhelms-Universität Münster English Department DieAutorinnenundAutoren 589 DieAutorinnenundAutoren Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann Universität des Saarlandes (Saarbrücken) Romanische Sprachwissenschaft Dr. Tanja Prokopowicz Abendschule für Erwachsene, Kassel Englisch und Französisch Prof. i.R. Dr. Jürgen Quetz Goethe-Universität Frankfurt a. M. Institut für England- & Amerikastudien Prof. (em.) Dr. Albert Raasch Universität des Saarlandes (Saarbrücken) Fachrichtung Romanistik Prof. Dr. Marcus Reinfried Friedrich-Schiller-Universität Jena Didaktik der romanischen Schulsprachen Dr. Christina Reissner Universität des Saarlandes (Saarbrücken) Romanische Sprachwissenschaft Prof. (em.) Dr. Dietmar Rösler Justus-Liebig-Universität Gießen Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Zentrum für Medien und Interaktivität Ass.-Prof. Dr. Michaela Rückl Universität Salzburg Fachbereich Romanistik Dr. Senem Şahin Universität Augsburg Didaktik des Englischen Dr. Andreas Sander Westfälische Wilhelms-Universität Münster Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Methoden der empirischen Bildungsforschung Prof. Dr. Birgit Schädlich Georg-August-Universität Göttingen Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen (Schwerpunkt Französisch) Theresa Schlitter, M.A. Technische Universität Dortmund Institut für Schulentwicklungsforschung Dr. Anke Schmitz Universität zu Köln Institut für deutsche Sprache und Literatur II Prof. (em.) Dr. Konrad Schröder Universität Augsburg Didaktik des Englischen Anna Schröder-Sura Universität Rostock Fremdsprachendidaktik, romanische Sprachen Dr. Jana Schulz Sorbisches Institut, Bautzen Institut für Sorabistik, Universität Leipzig Prof. (em.) Dr. Adelheid Schumann Universität Siegen Didaktik der französischen und spanischen Sprache und Kultur Prof. Dr. Julia Settinieri Universität Paderborn Deutsch als Zweit- und Fremdsprache Prof. Dr. Karim Siebeneicher Brito Unespar - Universität des Bundeslandes Paraná, Brasilien Didaktik der englischen Sprache 590 Prof. Dr. Helmut H. Spiekermann Westfälische Wilhelms-Universität Münster Sprachwissenschaft (Schwerpunkt Niederdeutsch) Prof. (i.R.) Dr. Thomas Steensen Nordfriisk Institut Europa-Universität Flensburg Prof. Dr. Tilbert Dídac Stegmann Goethe-Universität Frankfurt a. M. Romanistik Dr. Anja Steinlen Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Fremdsprachendidaktik Dr. Jochen Strathmann Helmholtzschule, Frankfurt a. M. Spanisch Prof. Dr. Bernd Tesch Universität Tübingen, Romanisches Seminar Romanistische Fachdidaktik Prof. Dr. Thomas Tinnefeld Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes Angewandte Sprachen Dr. Christoph Vatter Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Romanische Landes- und Kulturwissenschaften Univ.-Prof. Dr. Eva Vetter Universität Wien Fachdidaktik / Sprachlehr- und -lernforschung Prof. Dr. Britta Viebrock, Goethe-Universität Frankfurt a. M. Didaktik der englischen Sprache und Literatur Prof. Dr. Laurenz Volkmann Friedrich-Schiller-Universität Jena Englische Fachdidaktik Dr. Stefanie Wagner Universität Potsdam Institut für Romanistik, Linguistik und angewandte Sprachwissenschaft Prof. (em.) Dr. Dr. Werner Wiater Universität Augsburg Schulpädagogik Prof. Dr. Alfred Wildfeuer Universität Augsburg Variationslinguistik und DaZ/ DaF/ Forschungszentrum FORUMOST Prof. (i.R.) Dr. Werner Wintersteiner Alpen-Adria Universität Klagenfurt Germanistik Dr. Till Woerfel Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Universität zu Köln Seda Yilmaz Woerfel, M.A. Universität zu Köln Psycholinguistik und Sprachpsychologie DieAutorinnenundAutoren ISBN 978-3-8233-8200-3 Dieses Handbuch bietet erstmals einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung und zur Praxis der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Die über 120 Artikel behandeln u. a.: Sprachenpolitik (national und EU), Interkomprehension, Erst-, Zweit- und Mehrsprachenerwerb, Tertiärsprachendidaktik, lebensweltliche Vielsprachigkeit, Herkunftssprachen, bilingualen Sachfachunterricht, autochthone Mehrsprachigkeiten, Kompetenzorientierung, Didaktik der Grenzregionen, interkulturelles Lernen, Translanguaging, Unterricht in mehr- oder vielsprachigen Lerngruppen u. v. a .m. C. Fäcke / F.-J. Meißner (Hrsg.) Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner (Hrsg.) 18200_Umschlag.indd Alle Seiten 26.08.2019 14: 55: 11