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VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

2018
978-3-8233-9203-3
Gunter Narr Verlag 
Kirsten Adamzik
Mateusz Maselko

Variations- und Textlinguistik erfassen verschiedene Aspekte sprachlicher Vielfalt, für die mit spezischen Schwerpunkten, Methoden und Zielsetzungen Korrelationen und Erklärungen gesucht werden. Der vorliegende Band nimmt insbesondere die Schnittstellen der beiden Disziplinen in den Blick und erkundet dabei den heterogenen Charakter natürlicher Sprachen sowie die damit einhergehende Fülle von Realisierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten. Im Einzelnen geht es um dialektale, historische und stilistische Variation in den unterschiedlichsten Kommunikationsbereichen wie Verwaltung, Medizin, Wirtschaft oder Literatur, Presse und Schule. Dafür werden schriftliche, mündliche und digitale Korpora ausgewertet. Die für die Beiträge zentrale Textvariation bzw. Variation im Text betrifft sowohl makrostrukturelle als auch lexikalische und grammatische Phänomene.

VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 1 9 Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko (Hrsg.) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-8203-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Inhalt Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko Vorwort....................................................................................................................................7 Stefanie M. Moog Bericht zur Tagung Variationslinguistik trifft Textlinguistik (Ascona 2017) ......13 I Theoretische Perspektiven auf Variation(sforschung) Kirsten Adamzik Derselbe Text, aber anders. Was können Variations- und Textlinguistik von- und miteinander lernen? ........................................................................................19 Sarah Brommer Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln. Muster und Musterhaftigkeit aus korpuslinguistischer, textlinguistischer sowie stilistischer Perspektive.....................................................................................................61 II Regionale Variation Nina Bercko Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung im Stadt-Land-Vergleich..........................................................................................................83 Mateusz Maselko Unternehmenssprache: regional - national - global? Fallstudie zu Austrian Airlines im Vergleich mit Lufthansa und SWISS...................................105 III Variation in Internet-Auftritten Eva Gredel Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe . Eine text- und variationslinguistische Analyse der alemannischen Sprachversion der Wikipedia ........................................................................................161 Alessandra Alghisi Behördensprache im E-Government. Zu den kommunikativen Praktiken der Schweizer öffentlichen Verwaltung im digitalen Zeitalter............................183 IV Historische Variation in institutionellen Kontexten Bettina Lindner Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten am Beispiel des Kommunikationsbereichs Medizin..............................................................................227 Friedrich Markewitz Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens anhand der Textsorte ‚Schulprogramm‘. Eine systemtheoretisch-textsortenlinguistische Untersuchung ...................................247 Annika Vieregge Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen........................275 Daniel Mischa Helsper Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik am Beispiel der Adverbialien.........................................................................................301 AutorInnen der Beiträge .................................................................................................325 Abstracts und Keywords.................................................................................................329 6 Inhalt Vorwort Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko Die Beiträge dieses Bandes sind im Zusammenhang einer Tagung für den wis‐ senschaftlichen Nachwuchs entstanden (s. dazu den Tagungsbericht von S. M. Moog in diesem Band). Der Schwerpunkt liegt auf dem unweigerlich he‐ terogenen Charakter natürlicher Sprache(n), und zwar aus den Perspek‐ tiven der Variations- und Textlinguistik. Es geht also um Textvariation bzw. Variation in und von Texten: Einbezogen werden einerseits das ganze Spektrum sprachlicher Realisierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten, andererseits die verschiedensten sozio-kulturellen, pragmatisch-funktionalen und medialen Be‐ dingungen der Textproduktion und -verwendung. Dies entspricht der Entwick‐ lung der beiden Forschungsrichtungen, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Subdisziplinen der angewandten Linguistik etabliert, ihre Fragestellungen und Ausrichtungen im Laufe der Zeit aber nicht unerheblich weiterentwickelt und verändert haben. Sowohl die Variationsals auch Textlinguistik sind als interdisziplinär aus‐ gerichtete, weltweit betriebene Wissenschaftszweige zu betrachten, die pro‐ grammatisch einerseits Anregungen der linguistischen Subdisziplinen (wie etwa Medienlinguistik, Korpuslinguistik, Politolinguistik, Fachsprachfor‐ schung) und Nachbardisziplinen (wie etwa Soziologie, Psychologie, Geographie, Kommunikationswissenschaft, Theologie, Literaturwissenschaft) aufgreifen und andererseits selbst befruchtend auf diese einwirken. Daher werden sie oft als sog. Bindestrich-Disziplinen wahrgenommen. Festzuhalten ist jedoch, dass sie zwar eng mit anderen Wissenschaftszweigen zusammenarbeiten bzw. großteils den gleichen Gegenstandsbereich behandeln, sich aber Fragestel‐ lungen widmen, die jeweils eine spezielle sprachwissenschaftliche Ausrichtung implizieren. Neuere Entwicklungen innerhalb der Textlinguistik stellen sich häufig in den Kontext des sog. cultural turn. Diese kulturwissenschaftliche Orientierung impliziert meist einen handlungstheoretischen Ansatz (im Sinne der sog. pragmatischen Wende), hebt aber inzwischen die Bedeutung anderer Medien/ Modalitäten als der Sprache hervor, insbes. von Layout und Typografie, sprich Textdesign, Bild, Film (iconic turn) sowie Materialität von Texten (material turn). Dies betrifft auch die konkrete Lokalisierung von Texten (spatial turn), was einen Berührungspunkt zur Variationslinguistik konstituiert. Zugleich drohen dabei die sog. sprachinternen Merkmale ganz in den Hintergrund zu geraten bzw. auf textgrammatische Elementaria (Pronomina und Konnektoren) reduziert zu werden. Ferner besteht die deutliche Tendenz, mündlichen Sprach‐ gebrauch (wieder) auszuklammern. Schließlich wird der Geprägtheit makro‐ struktureller Muster (Textsorten, Gattungen) durch Kulturen/ Sprachen und damit auch der Normorientiertheit ein besonderes Gewicht beigemessen - mit dem Ergebnis, die intrakulturelle/ -linguale Heterogenität zu vernachläs‐ sigen. Diese bildet nun gerade den Hauptgenstand der Variationslinguistik, wobei selbstverständlich mikrostrukturelle Phänomene im Vordergrund stehen. Lag der Fokus zunächst auf der lautlichen (phonetisch-phonologischen) Ebene, so richtet sich das Interesse längst auch auf höhere Ebenen, insbes. Morphologie und Syntax. Die Textebene in Gestalt von komplexeren Sprachformen wird al‐ lerdings noch immer nur wenig berücksichtigt. Dass man heute von Variations‐ linguistik als einer Subdisziplin sprechen kann, erklärt sich daraus, dass hier diverse Spezialdisziplinen gewissermaßen zusammengewachsen sind, v. a. die auf areale Variation bezogene Dialektologie mit einer sehr alten Tradition und die seit den 1960er Jahren entstandene Soziolinguistik, die sich zunächst schichtenspezifischem Sprachgebrauch, dann allgemeiner Substandardvarietäten zuwandte. Eine weitere Quelle stellen die ebenfalls seit den 1960er Jahren entwickelten Ansätze zur Untersuchung gesprochener (Stan‐ dard-)Sprache dar. In der neueren Variationslinguistik geht es um die Variation in allen ihren Dimensionen, d. h. unter Einbeziehung des gesamten Varietä‐ tenspektrums, von kleinräumigen Dialekten über (regionale) Substandards bis hin zu ‚(supra-)nationalen‘ Standardvarietäten, wobei selbstverständlich auch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Mobilität, politische Orientierung usw. syste‐ matisch Berücksichtigung finden. Im Vordergrund der Variationslinguistik steht mündlicher Sprachgebrauch, während die Textlinguistik sich inzwischen wieder auf Schrifttexte konzentriert. Einen ‚natürlichen Treffpunkt‘ stellt die informelle Schriftlichkeit im In‐ ternet dar. Dieses Phänomen zieht derzeit so viel Forschungsenergie auf sich, dass bereits eine neue Subdisziplin, die Internetlinguistik, ausgerufen wurde, ebenso wie das spezielle Interesse an der Visualität sich in einer Bildlinguistik 8 Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko manifestieren soll. Gegenüber dieser Tendenz der Vermehrung von Subdiszi‐ plinen und einer damit notwendigerweise einhergehenden Überspezialisierung hatte die Tagung zum Ziel, Gemeinsamkeiten der Ansätze in den Vordergrund zu stellen und den gegenseitigen Austausch zu intensivieren. Beide Disziplinen erfassen verschiedene Aspekte sprachlicher Vielfalt, für die mit spezifischen Schwerpunkten, Methoden und Zielsetzungen Korre‐ lationen und Erklärungen gesucht werden. In der jüngeren Forschung lassen sich mehrere Schnittstellen zwischen beiden Bereichen finden. Dazu gehören die Fokussierung auf den tatsächlichen je nach Ort, Situation, Intention, Medium usw. variierenden Sprachgebrauch (auch aus sprachgeschichtlicher Sicht), die Erstellung und Auswertung von Korpora, situativ-funktionale und stilis‐ tisch-kontextuelle Fragestellungen, die Gegenüberstellung von Soll- und Ist- Normen sowie der Bezug auf die Prototypentheorie. Anwendungsbezüge sind vielfältig und betreffen Übersetzung(swissenschaft) inkl. innersprachlicher Ad‐ ressatenorientierung (Fachsprachen und Popularisierung) und Textoptimie‐ rung, Sprachtechnologie, mutter- und fremdsprachlichen Unterricht, Sprach‐ kultivierung usw. Das Konzept der Tagung, zwei Forschungsrichtungen zusammenzubringen, die oft wenig Kenntnis voneinander nehmen, hat sich durchgängig bewährt, zumal es der Überwindung von Einseitigkeiten entgegenkommt, die, wie ein‐ gangs angedeutet, auch innerhalb der beiden Bereiche mitunter als solche er‐ kannt wurden: Dazu gehört die scharfe Entgegenstellung von erstens quantita‐ tivem und qualitativem Ansatz sowie zweitens von Kommunikationsbereichen und -formen. Die verschiedenen Zugänge auf Variation(sforschung), die sich letzten Endes ohnehin nur analytisch klar unterscheiden lassen, sind im vorlie‐ genden Band nach den jeweiligen Schwerpunkten geordnet. Im ersten Block geht es um Theoretische Perspektiven (K. Adamzik, S. Brommer), wobei auch disziplingeschichtliche Aspekte und die Korpuslingu‐ istik zur Sprache kommen. Die empirischen Beiträge setzen im Prinzip bei der Variationsdimension mit der längsten Forschungstradition an: Regionale Va‐ riation (N. Bercko, M. Maselko). Gleichwohl behandeln die Aufsätze Themen‐ felder, die nicht gerade zum Kerngebiet der (traditionellen) Dialektologie ge‐ hören, sondern sich der (modernen) (interdisziplinären) Regionalsprachenforschung zuordnen. Zugleich kommt hier neben der mündlichen Interaktion schon die (betriebliche) Internetkommunikation in den Blick, der der dritte Teil, Variation in Internet-Auftritten, gewidmet ist (E. Gredel, A. Alghisi). Der erste Beitrag dieses Themenbereichs weist auf die substandardliche Dimension zurück, während der zweite überleitet zu institutionellen Kontexten, die im Vordergrund der nächsten Sektion stehen. Hier kommt auch die diachrone Per‐ 9 Vorwort spektive ins Spiel: Historische Variation in institutionellen Kontexten (B. Lindner, F. Markewitz). Dies führt wiederum auf theoretische Fragestel‐ lungen zurück. Der abschließende Block befasst sich mit sprachlichen Phäno‐ menen im grammatischen Bereich: Variation bei einzelnen sprachlichen Kategorien (A. Vieregge, D. M. Helsper). Die beiden Beiträge erweitern das thematische Spektrum nochmals, und zwar um aktuellen Sprachwandel und Normativität sowie didaktische Potenzen der Variationsforschung. Es hat sich ergeben, dass in diesem Band (anders als auf der Tagung) aus‐ schließlich der deutsche Sprachraum thematisiert wird. Bei der Folgeveranstal‐ tung VARIATIONist Linguistics meets CONTACT Linguistics (20.-23. Mai 2018) trafen Forscherinnen und Forscher sowie Forschungsprojekte zu unterschied‐ lichsten Sprach(varietät)en zusammen. Hierzu ist ein thematischer Band ge‐ plant, der 2019 erscheinen soll (hg. von M. Maselko und A. N. Lenz). Sowohl Vorschläge für Präsentationen als auch die diese erweiternden Auf‐ sätze unterlagen einem double-blind review und wurden jeweils von zwei ein‐ schlägigen Expertinnen und Experten begutachtet. Dem wissenschaftlichen Komitee gehörten außer den Veranstaltenden die folgenden Personen an: • Noah Bubenhofer (Universität Zürich, Schweiz) • Helen Christen (Universität Freiburg, Schweiz) • Christian Efing (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland) • Nicole Eller-Wildfeuer (Universität Regensburg, Deutschland) • Daniel Elmiger (Université de Genève, Schweiz) • Stephan Elspaß (Universität Salzburg, Österreich) • Jan Engberg (Aarhus Universitet, Dänemark) • Ingeborg Geyer (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Österreich) • Manfred Glauninger (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Österreich) • Eric Haeberli (Université de Genève, Schweiz) • Stefan Hauser (Pädagogische Hochschule Zug, Schweiz) • Michail L. Kotin (Uniwersytet Zielonogórski, Polen) • Alexandra N. Lenz (Universität Wien, Österreich) • Martin Luginbühl (Universität Basel, Schweiz) • Stefan Michael Newerkla (Universität Wien, Österreich) • Damaris Nübling ( Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland) • Gertjan Postma (Meertens Instituut, Niederlande) • Stefaniya Ptashnyk (Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Deutschland) • Christoph Purschke (Université du Luxembourg, Luxemburg) 10 Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko • Regula Schmidlin (Universität Freiburg, Schweiz) • Elena Smirnova (Université de Neuchâtel, Schweiz) • Alfred Wildfeuer (Universität Augsburg, Deutschland) Wir danken den Kolleginnen und Kollegen herzlichst für ihre wertvolle Mitar‐ beit und die hilfreichen Anregungen, die in die Bearbeitungen der publizierten Beiträge eingeflossen sind, und den Begutachteten dafür, die Änderungswün‐ sche auch tatsächlich berücksichtigt bzw. generell an diesem Sammelband mit‐ gewirkt zu haben. Selbstverständlich geht unser Dank auch an alle Vortra‐ genden, die nicht in diesem Band vertreten sind, für die wirklich variantenreichen Präsentationen und die regen Diskussionen. Ein herzliches Dankeschön sagen wir zudem unseren Hilfskräften Simona Devito und Virginie Gremaud, die nicht nur selbst Poster präsentiert haben, sondern auch rundum für das gute Gelingen gesorgt haben. Ferner sind wir zu großem Dank den Sponsoren verpflichtet, die uns die Austragung der Tagung ermöglicht haben: • Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich - Congressi Ste‐ fano Franscini (CSF) • Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) • Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) • Vereinigung für Angewandte Linguistik in der Schweiz (VALS-ASLA) • Conférence universitaire de Suisse occidentale (CUSO) Die Veröffentlichung wurde von unserem Hauptsponsor ETH-CSF großzügig finanziell unterstützt, wofür wir einen besonders herzlichen Dank aussprechen möchten. Infine, vorremmo ringraziare Chiara Cometta (CSF) e Liliana Cantoreggi (Fondazione Monte Verità) per la calorosa ospitalità e l’eccellente lavoro ammi‐ nistrativo. Kirsten Adamzik & Mateusz Maselko Genf, im August 2018 11 Vorwort Bericht zur Tagung Variationslinguistik trifft Textlinguistik (Ascona 2017) Stefanie M. Moog Vom 19. bis 22. März 2017 fand im Konferenzzentrum Monte Verità (Ascona, Schweiz) die Internationale Nachwuchstagung (CSF Workshop - GAL Research School) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik statt (s. die Veranstaltungswebseite www.unige.ch/ ascona2017). Dem Titel der Konferenz Rechnung tragend standen zwei linguistische Subdisziplinen im Fokus der Dis‐ kussion, deren Schnittstellen wie auch Gegensätze in der interdisziplinär ange‐ legten Veranstaltung herausgearbeitet werden sollten und dank der Offenheit der TeilnehmerInnen auch offengelegt werden konnten. Organisiert wurde die Tagung von Mateusz Maselko und Kirsten Adamzik, beide von der Universität Genf und beide Experte bzw. Expertin der in Kontakt tretenden Subdisziplinen. Insgesamt nahmen 23 NachwuchwissenschaftlerInnen aus fünf verschiedenen Ländern teil. Die Qualität der Einreichungen wurde über ein mehrstufiges Be‐ gutachtungsverfahren gewährleistet, an dessen Durchführung ein zahlreiche ExpertInnen umfassendes internationales Komitee beteiligt war (s. Vorwort). Vom Tagungshotel aus wurde bereits am Ankunftstag ein Stadtrundgang an‐ geboten. Anschließend trafen sich die TeilnehmerInnen zum Beisammensein und Kennenlernen im Hoteleigenen Restaurant, wo ein gemeinsames, mehr‐ gängiges Menü eingenommen wurde. Das wissenschaftliche Tagungsprogramm verteilte sich auf drei Tage und wurde durch den Vortrag von Kirsten Adamzik eröffnet, in dessen Fokus ‚Allo‐ texte‘ - Varianten von Texten/ Texttypen - als Ausgangspunkt für potentielle Berührungspunkte zwischen Variations- und Textlinguistik diskutiert wurden. Der von ihr eingeleitete und vor allem textlinguistische Aspekte umfassende thematische Block beinhaltete Vorträge zu historischen Textsorten (Thomas Sebastian Bertram, Bettina Lindner). Den zweiten thematischen Block des Tages bildeten drei Vorträge zum Thema grammatische Variation und der Frage nach dem Einfluss kontextuell-medialer Steuerungsfaktoren auf den Sprachgebrauch bzw. die Akzeptabilität grammatischer Varianten. Während der Hauptvortrag von Christian Efing, Bergische Universität Wuppertal, dieser Frage mehr allge‐ mein-theoretisch nachging, analysierten Annika Vieregge und Adam Tomas mit der Kasusvariation bei Sekundärpräpositionen im Deutschen bzw. mit dem am-Progressiv im Pennsylvaniadeutschen konkrete grammatische Phänomen‐ bereiche. Welche Texte, Daten, Materialien sich für welche variationsbzw. soziolin‐ guistische Fragestellungen eignen, wurde im ersten Themenblock des zweiten Konferenztages diskutiert, zunächst im Hauptvortrag von Alexandra N. Lenz, Universität Wien, mit Bezug auf den von ihr geleiteten, aktuell laufenden Spe‐ zialforschungsbereich zur deutschen Sprache in Österreich (Variation, Kontakt, Perzeption). Es folgten - ebenfalls vor dem soziolinguistischen Hintergrund Österreichs - Vorträge zur Verbal- und Nominalflexion (Nina Bercko, Christina Schrödl). Im nächsten Block zu Fachsprachen an der Schnittstelle von variations- und textlinguistischer Forschung wurden jene der Verwaltungssprache (Ales‐ sandra Alghisi) und des Wintersports (Rinat Jafarov) behandelt. Im dritten The‐ menblock des Tages wurden text- und variationslinguistische Analysen der alemannischen Sprachversion der Wikipedia (Eva Gredel) sowie diskursiv ver‐ handelte Varianten als Mittel zur Konstruktion sozial(räumlich)er Identität dis‐ kutiert (Alexandra Schiesser). Inwiefern auch dialektale Printtexte als Daten‐ basis für die Erforschung syntaktischer Variation in ‚Sprachinselvarietäten‘ dienen können, wurde abschließend in einer Art Werkstatteinheit durch die gemeinsame Analyse an einer hunsrückischen Textversion des Kleinen Prinzen erarbeitet (initiiert und moderiert durch Mateusz Maselko). Der dritte Tag wurde durch den vierten und letzten Hauptvortrag der Kon‐ ferenz von Noah Bubenhofer, Universität Zürich, eingeleitet, der sich mit kor‐ puslinguistischen Zugängen zur Varietätenlinguistik beschäftigte. Ihm schloss sich ein ebenfalls korpuslinguistisch ausgerichteter Beitrag zu textsortenspezi‐ fischer Variation und ihrer Ermittlung auf Basis korpuslinguistischer Zugänge an (Sarah Brommer). Welche Bedeutung textlinguistische Zugänge im Bereich der Grammatikdidaktik haben können und sollten, ist eine Frage, mit der sich den letzten Vormittag abschließend Daniel Mischa Helsper befasste. Die Vielfalt und Komplexität der interdisziplinären Bezüge zwischen Variations- und Text‐ linguistik wurde auch in den beiden letzten Präsentationen der Konferenz deut‐ lich, die sich mit Themen der Schriftsprachkompetenz bei Kindern (Pascale Schaller) bzw. textsemantischen Analysen mehrsprachiger Literatur ( Jana-Ka‐ tharina Mende) auseinandersetzten. Ein besonderes Highlight der Konferenz bildete die Postersession am Nach‐ mittag des ersten Tages, in deren Rahmen sechs Dissertations- und Postdocwie zwei Master-Projekte zu unterschiedlichen variations- und textlinguistischen 14 Stefanie M. Moog Aspekten präsentiert wurden, jeweils eingeleitet durch eine kurze mündliche Präsentation (Beitragende: Gerda Baumgartner, Simona Devito, Fabian Fleißner, Virginie Gremaud, Stefan Hartmann, Nesrin Limani, Friedrich Markewitz, Nicolas Wiedmer). Dank des traumhaften Wetters fand die Postersession im Freien, vor der wunderbaren Kulisse des Lago Maggiore statt. Wie das beste Poster wurde auch die beste Präsentation mit einem CSF Award gewürdigt: • Preisträger für den besten Nachwuchsvortrag: Daniel Mischa Helsper von der Universität Trier (Thema: Textsortenbasierte Gramma‐ tikdidaktik am Beispiel der Adverbialien), • Preisträgerin für das beste Poster: Gerda Baumgartner von der Uni‐ versität Freiburg im Üechtland (Thema: Variabler Genusgebrauch bei Ruf‐ namen in Dialekten der Deutschschweiz). Die Tagung wich in vielen Aspekten erfolgreich von üblichen Veranstaltungs‐ formaten der Linguistik ab. Besonders positiv wirkten die durch die Pro‐ grammstruktur bewusst großzügig eingeräumten Spielräume für Diskussi‐ onen. Zusätzlich zu einer sich sofort an jeden individuellen Vortrag anschließenden kurzen Diskussion gab es nach einem Block von zwei Vorträgen noch einmal eine längere Diskussionseinheit, in der insbesondere interdiszi‐ plinäre Aspekte der gehörten Inhalte zur Sprache kamen. Neben dieser pro‐ grammbezogenen Besonderheit trugen aber gerade das gemeinsame Wohnen in geschichtsträchtigem Ambiente, wie das gemeinsame Essen und Leben im Ta‐ gungszentrum auf dem Monte Verità zu einem persönlichen Kennenlernen und einer Intensivierung des interdisziplinären Austauschs bei, was gerade für eine Nachwuchskonferenz sicher eine einmalige und besonders wertvolle Erfahrung darstellt. So gab es auch Raum und Muße für vielfältige Gespräche zwischen den NachwuchswisenschaftlerInnen, aber auch zwischen ihnen und den eingela‐ denen und schon etablierten Hauptvortragenden. Wunderbarerweise wird die in mehrfacher Hinsicht sehr erfolgreiche Ver‐ anstaltung fortgeführt: Die Konferenz stellte den Auftakt einer neuen, von Ma‐ teusz Maselko initiierten Reihe zu VARIATIONist Linguistics meets … dar (für weitere Informationen s. Homepage des Begründers www.unige.ch/ lettres/ alm an/ de/ enseignants/ linguistique/ maselko/ konferenzen). Schon in der ersten Hälfte 2018 fand, wiederum auf dem einzigartigen Monte Verità, eine Folgever‐ anstaltung statt, die diesmal internationale WissenschaftlerInnen auf den Ge‐ bieten der Variations- und Kontaktlinguistik versammelte (s. Webseite der Ta‐ gung www.unige.ch/ ascona2018). 15 Bericht zur Tagung Variationslinguistik trifft Textlinguistik (Ascona 2017) Tagungsplakat (© UNIGE) und ausgewählte Tagungsbilder (© S. M. M. und A. T.): (von links oben) Gruppenfoto (Veranstalterin K. Adamzik in der zweiten Reihe von unten links), Konferenzzentrum und Bauhaushotel Monte Verità, Konferenzraum Eranos, Pos‐ tersession auf der Terrasse, Preisträgerin für das beste Poster G. Baumgartner und Preis‐ träger für den besten Vortrag D. M. Helsper jeweils mit Ch. Cometta (Congressi Stefano Franscini) und M. Maselko (Veranstalter) 16 Stefanie M. Moog I Theoretische Perspektiven auf Variation(sforschung) 1 Für weitere Varianten vgl.: http: / / www.familyair.de/ index.php? page=Thread&threadI D=1994 [letzter Zugriff: 13.10.2017]. 1 2 3 3.1 3.2 4 5 [1] Derselbe Text, aber anders Was können Variations- und Textlinguistik von- und miteinander lernen? Kirsten Adamzik Gliederung: Einleitung Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik? Die Notwendigkeit von Abstraktionen Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und eti‐ sche Texte Virtuelle Einheiten auf der Textebene Fazit 1 Einleitung Den folgenden Ausführungen sei ein sehr bekannter Text vorangestellt, aller‐ dings in anderer als der gewohnten Variante. Es handelt sich um Goethes Erl‐ könig: Kurzfassung 1 Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Is Papa mit Kind. Kommt böser Mann, Quatscht Papa an, Ob er den Bubi nicht haben kann. Papa verneint, Bubi weint. 2 Autor: Rüdiger Will; URL: http: / / blog.zeit.de/ zeit-der-leser/ ein-gedicht-klassische-lyrik / page/ 4/ [letzter Zugriff: 13.10.2017]. [2] Am nächsten Morgen große Not: Papa lebendig, Bubi tot. Solche Abwandlungen sind seit jeher übliche Arten des Umgangs mit vor allem literarischen Texten und unter Bezeichnungen wie Parodie, Travestie, Pastiche usw. bekannt. Diese Untertypen unterscheiden sich u. a. danach, ob der Inhalt des Ausgangstextes mehr oder weniger erhalten oder wenigstens wiederer‐ kennbar ist oder aber wesentliche Merkmale der Form und eventuell sogar ein‐ zelne wörtliche Bestandteile mit dem Original übereinstimmen, der Inhalt aber gänzlich abweicht. Hierfür stehe das Beispiel [2], das eine Variation zum selben Originaltext darstellt. Der Grünkohlverderber Wer hat denn so spät noch zur Mitternacht Den Kessel mit Grünkohl aufs Feuer gebracht? Es ist der Meister der Küchenkunst, Er werkelt geschäftig im Grünkohldunst! Er kocht ein gar köstliches Grünkohlgericht Und sieht wohl den Grünkohlverderber noch nicht. Der Grünkohlverderber, mit Paprika, Mit Curry und Minze, ist nämlich schon da! „Oh Meister, oh Meister, komm geh mit mir! Gar schöne Gewürze, die kauf ich dir. […]“ […] „Jetzt würz ich den Grünkohl, ihm fehlt noch Gehalt Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt! “ Dann geht er zum Kessel und fasst ihn an, Jetzt hat er dem Grünkohl was angetan! Dem Meister grauset‘s, er betet zu Gott, Und blickt ganz entsetzt auf den Grünkohlpott, Er rühret und rühret in seiner Not, Der Kohl war mal grün und jetzt ist er - rot! 2 20 Kirsten Adamzik Sprachspiele wie die genannten stehen in textlinguistischen Arbeiten nicht gerade im Vordergrund und werden dann unter dem außerordentlich breiten Themenfeld der Intertextualität abgehandelt (vgl. als Übersicht Adamzik 2016: Kap. 8). Zugleich sind sie ein besonders prägnantes Beispiel für funktionale Va‐ riation auf der Textebene. Von solchen Phänomenen ist aber auch in der Varia‐ tionslinguistik selten die Rede. Überhaupt sind die Beziehungen zwischen den auf dieser Tagung zusammengebrachten Forschungsrichtungen wenig entwi‐ ckelt. Im vorliegenden Beitrag geht es darum auszuloten, wo Berührungspunkte und Divergenzen liegen. Dabei ist das Ziel keineswegs, Kooperation zu for‐ cieren, darin liegt m. E. kein Wert an sich. Es scheint mir aber geraten, Teildis‐ ziplinen näher miteinander bekannt zu machen, die sich allzu oft gegenseitig als fremd bzw. abgelegen empfinden. Zugleich kann der Blick von einer anderen Warte auch zur Selbstreflexion beitragen, denn sowohl Variationslinguistik (oder Varietätenlinguistik? ) als auch Textlinguistik treten selbst in sehr ver‐ schiedenen Spielarten auf. 2 Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik? Auf den ersten Blick könnte man meinen, Variations- und Textlinguistik seien sozusagen natürliche Verbündete, die sich gleichermaßen die Untersuchung des Sprachgebrauchs zum Ziel setzen und sich damit gegen die sog. Systemlinguistik wenden; beide finden sich dieser auch regelmäßig entgegengestellt. Schon in den 1960er Jahren erschien die Textlinguistik allerdings den einen als Weiter‐ entwicklung des Strukturalismus, den anderen dagegen als Gegenbewegung dazu (vgl. Adamzik 2016: 7). Und auch heute noch sind die Vorstellungen dar‐ über, was aus der Sicht einer ‚Sprachwirklichkeitslinguistik‘ (vgl. Löffler 2016: 79) die Systemlinguistik eigentlich ausmacht, ziemlich vielfältig: Eine erste besteht darin, dass die Systemlinguistik sich überhaupt nicht mit tatsächlichen Äußerungen, der Saussure‘schen Parole, beschäftige, sondern nur mit Regeln für den Gebrauch sprachlicher Einheiten. Bei gewissen Publika‐ tionen drängt sich dieser Eindruck auch tatsächlich auf. Allerdings ist so etwas natürlich grundsätzlich nur möglich, wenn wir es mit bereits beschriebenen Sprachen zu tun haben, der Forscher sich mit dem entsprechenden Datenmate‐ rial begnügt und/ oder sich selbst als kompetenten Sprecher betrachtet. An‐ sonsten kommt man um das ‚sprachliche Rohmaterial‘ natürlich nicht herum: „[…] die aktuelle Ebene der Äußerung, des Diskurses/ Texts, auf der die sinnlich wahr‐ nehmbaren sprachlichen Materialien erscheinen, [ist] natürlich notwendig Ausgangs‐ punkt für alle sprachwissenschaftlichen Fragen nach den sprachlichen Techniken von 21 Derselbe Text, aber anders 3 Besonders bekannt ist in diesem Zusammenhang ein Sammelband geworden: Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? (Krämer / König 2002). Einzelsprachen oder auch Dialekten, den Diskurstraditionen und der Sprechtätigkeit“ (Oesterreicher 2010: 29; Hervorhebungen im Orig.). Zugleich wendet sich Oesterreicher aber sehr vehement gegen die „radikalen Korpuslinguisten und datenverliebten Variationslinguisten“, die „einem gra‐ vierenden wissenschaftstheoretischen Missverständnis“ (ebd.: 37) aufsäßen, wenn sie meinen, mit dem bloßen empirischen Material hätten sie schon ir‐ gendwelche linguistischen Fakten vor sich. Mit einem Motto unterstreicht Oesterreicher dieses ‚systemlinguistische‘ Credo, dass nämlich Einzeläuße‐ rungen nicht als solche interessieren, sondern nur als Grundlage für die Rekon‐ struktion sprachlicher Techniken: De singularibus non est scientia. Im geraden Gegensatz zu dieser Auffassung, nach der Abstraktionen über Einzelfällen notwendige Aufgabe sprachwissenschaftlicher Forschung sind, steht die Annahme, dass nur das jeweils Realisierte in seiner Materialität wirklich sei, das Sprachsystem also einer Schimäre gleichkomme. 3 Recht pro‐ minent ist eine solche Auffassung derzeit in diversen Ansätzen einer breit ge‐ fassten Textlinguistik, die neuen Formen der Multimedialität (oder Multimoda‐ lität) besonderes Interesse entgegenbringen und dabei die Bedeutung von Sprachlichem stark herabstufen oder gar die ,Existenz‘ abstrakter sprachlicher Einheiten bestreiten, die sich analytisch von ihrer Materialität trennen lassen: „Sprache ist […] auf konkrete Realisierungsformen angewiesen […]: Sprachliche Kommunikation existiert nur in mündlicher oder schriftlicher Form, als Vokalisierung oder Visualisierung. Sprache muss materialisiert sein, um als Medium fungieren zu können.“ (Hagemann 2013: 41; vgl. dazu Adamzik 2016: 67 und insgesamt ebd.: Kap. 2.5.1.-2.5.3. und 4.4.1.). Einer anderen Stoßrichtung entspricht das Argument, die Systemlinguistik be‐ schränke sich auf Innersprachliches und lasse insbesondere die kommunika‐ tive Funktionalität von Äußerungen außer Betracht. Diese eng mit der sog. pragmatischen Wende verbundene Auffassung ist in textlinguistischen An‐ sätzen sehr verbreitet, da man sich hier (besonders im deutschsprachigen Raum) speziell an die Sprechakttheorie anlehnt (vgl. Adamzik 2016: Kap. 5.3. und 365 ff.). Daraus ergibt sich eine Fragestellung, die selbst vor allem an Regeln und stark konventionalisiertem Sprachgebrauch interessiert ist. Es geht wesentlich um die Klassifikation von Textsorten als ‚konventionell geltenden Mustern für komplexe sprachliche Handlungen‘ (vgl. Brinker u. a. 2014: 139; zuerst Brinker 1985: 124), und zwar meist auf der Grundlage von Searles Sprechakttypologie. 22 Kirsten Adamzik Textsorten ließen sich „als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“ (ebd.). Wenn man sich darauf kon‐ zentriert, geläufige Muster zu beschreiben, blendet man aber die Variation ge‐ rade aus: „Die Texte und Gespräche, die aufgrund signifikanter Ähnlichkeiten als zusammen‐ gehörend wahrgenommen werden, zeichnen sich auf pragmatischer Ebene durch konsistente Routinen [! ] der Aufgabenbewältigung in bestimmten Lebenssituationen aus, also durch die prototypische Abfolge von Sprachhandlungen (z. B. beim Wetter‐ bericht darstellende Sprachhandlungen über Ist-Zustand und Prognose). Ausdrucks‐ seitig sind diese Routinen durch wiederkehrende Muster auf der Sprachoberfläche und ihre moderate [! ] Variation gekennzeichnet.“ (Felder 2016: 34) Man darf sich fragen, welchen Stellenwert diese Behauptung von der moderaten Variation von Texten hat. Soll damit unterstellt werden, dass dies für Textsorten schlechthin gilt? Dafür spricht, dass neben Fahrplanauskunft und Strafzettel u. a. auch die Vernehmung von Zeugen vor Gericht und Fachaufsätze als Beispiele angeführt werden. Es gehört allerdings schon zum Alltagswissen, dass die Be‐ wältigung dieser doch recht ungleichen Aufgaben unterschiedlich anspruchs‐ voll ist und dementsprechend die Variationsbreite - oder anders herum gesehen: der Standardisierungsgrad - ganz verschieden ausfallen. Selbst für Wetterberichte bedarf es keiner groß angelegten empirischen Untersuchung, um Folgendes feststellen zu können: Wetterberichte sind Serien‐ texte, die von bestimmten Institutionen periodisch produziert werden. Ihre Ge‐ stalt hängt zunächst wesentlich davon ab, welche medialen Ressourcen zur Ver‐ fügung stehen, ob sie nämlich in Zeitungen, im Radio, Fernsehen oder im Rahmen von Internetauftritten erscheinen. Auch bei gleichen Ressourcen kon‐ kurrieren jedoch verschiedene Anbieter miteinander und versuchen, eine Re‐ zipientenbindung herzustellen. Deswegen ist ihnen daran gelegen, sich (nicht nur beim Wetterbericht, aber z. B. auch durch dessen Gestaltung und Platzie‐ rung) jeweils ein eigenes, wiedererkennbares Gesicht zu geben. Es gilt daher nur für die Wetterberichte eines Anbieters, dass sie lediglich moderate Variation aufweisen - eventuell sogar mit Subtypen, z. B. je nach der Person, die den Wetterbericht präsentiert. Außerdem weisen sie diese relative Stabilität auch nur über eine bestimmte Zeit hin auf; für Medientexte ist es charakteristisch, dass gewisse Neuerungen abrupt erfolgen, man nämlich in mehr oder weniger großen Abständen das ganze ‚Design‘ umstellt. Verbindet man die textlinguistische mit einer variationslinguistischen Fra‐ gestellung, so ist anstelle des Musterhaften gerade relevant, worin sich die 23 Derselbe Text, aber anders Wetterbericht-Schemata verschiedener Anbieter und/ oder eines Anbieters zu verschiedenen Zeiten unterscheiden und welche Funktionen den Varianten zu‐ geschrieben werden können. Eine besteht gerade in der ‚Individualisierung‘ von Mustern; die periodische Neugestaltung soll u. a. das Bemühen um Modernität signalisieren. Beide Funktionen sind im Set der sprechakttheoretischen ‚Grund‐ funktionen‘ nicht vorgesehen und lassen sich am besten der Bühler‘schen Aus‐ drucks-/ Symptomfunktion zuordnen, die ja grundsätzlich für gezielte Vari‐ antenwahl eine große Rolle spielt. Für Strafzettel kommt eine solche Zusatzfunktion natürlich nicht in Frage. Sie werden zwar auch periodisch mo‐ dernisiert, es existieren hier aber (innerhalb eines Hoheitsgebiets) keine Va‐ rianten, die verschiedene Institutionen als miteinander konkurrierende Produ‐ zenten anbieten. Auch in anderer Hinsicht bleiben viele Textlinguisten Denkweisen ver‐ pflichtet, die sich mit systemlinguistischen Konzepten zumindest problemlos vereinbaren lassen. Das geschieht vor allem, wenn man annimmt, die Analyse der kommunikativen Funktion müsse zur Beschreibung der sprachlichen Gestalt von Texten zwar notwendig hinzutreten, ändere aber im Kern nichts an den Errungenschaften der transphrastischen Ausrichtung der Textlinguistik. Dieser Ansatz müsse weiterverfolgt bzw. in ein Gesamtkonzept ‚integriert‘ werden. Aus Sicht der Transphrastik, die besonders die 1960er und frühen 70er Jahre geprägt hat, wurde an der strukturalistischen Linguistik kritisiert, dass sie bei der Satz‐ ebene stehengeblieben sei. Übernimmt man diesen Topos, dann kann man - in konsequenter Fortführung der Tradition - Texte als (nach bestimmten Regeln verkettete) Folgen von Sätzen präsentieren. Damit geht allerdings eine fast voll‐ kommene Beschränkung auf die sog. (grammatischen) Kohäsionsmittel einher: Im Wesentlichen handelt es sich um Wiederaufnahme-Relationen, die durch Artikelwörter und Pronomina angezeigt werden, und Konnektoren. Tatsächlich steht die Beschreibung der Kohäsionsmittel - als Merkmale, die für alle Texte gelten - oft ziemlich unvermittelt neben den Ausführungen zu Textsorten, die Untergruppen des gesamten Textuniversums betreffen. Texte schlechthin ge‐ hören nach dieser Argumentation einer besonderen Beschreibungsebene an, und zwar einer, die oberhalb des Satzes liegt und die zugleich als höchste de‐ klariert wurde (mit Diskursen als Mengen von Texten sollte die neue Grenze dann später noch einmal überschritten werden). Auf der Grundlage dieser Ebenen-spezifischen Betrachtungsweise kann man so weit gehen anzunehmen, dass tiefere Ebenen, „Syntax (und erst recht: […] Morphologie und Phonologie)“, in der Textlinguistik „nicht in anderem Gewand noch einmal beschrieben werden [müssen]“ (Hausendorf / Kesselheim 2008: 15 f.). 24 Kirsten Adamzik Eine wohlverstandene Pragmatik sollte jedoch Texte nicht als regelgemäße Folgen von Sätzen betrachten, sondern als Vorkommen des Sprachgebrauchs. Diese stellen in erster Linie in sich strukturierte Ganzheiten dar, und wenn sie als solche beschrieben werden sollen, sind auch alle getroffenen Wahlen rele‐ vant, auf allen Ebenen. Gegen Regeln kann man im Übrigen auch mehr oder weniger massiv verstoßen. Bei literarischen Texten gilt dies als selbstver‐ ständlich, und diese sind wohl auch der dankbarste Gegenstand für die Unter‐ suchung der gezielten Auswahl sprachlicher Varianten. Dabei kommt es be‐ kanntlich gerade nicht auf die möglichst konventionelle, effiziente oder gar klare Signalisierung der kommunikativen Funktion des Textes an. Der Umstand, dass weder die Charakterisierung des kommunikativen Handlungszwecks noch die Untersuchung der Kohäsionsmittel ausreichen, um anspruchsvollen Texten ge‐ recht zu werden, hat allerdings selten zur Infragestellung oder Revision der Grundannahmen geführt, sondern zum (weitgehenden) Ausschluss literarischer Texte aus dem selbst gewählten Gegenstandsbereich. Privilegiert sind in der kommunikativ orientierten Textlinguistik jedenfalls eindeutig die Gebrauchs‐ texte. Festzuhalten ist, dass Spielarten der Textlinguistik, die nur an konventiona‐ lisierten oder gar routinisierten Formen des Sprachgebrauchs interessiert sind, selbst einer systemlinguistischen Ausrichtung zugeordnet werden müssen. In‐ sofern trifft auch sie, um die Übersicht über Einwände gegen die Systemlingu‐ istik abzuschließen, der zentrale Vorwurf, den Variationslinguisten vorbringen. Die Systemlinguistik werde nämlich der Heterogenität der Sprache nicht ge‐ recht. Diese Ausblendung tritt wiederum in verschiedenen Arten auf, von denen die folgenden hervorgehoben seien: Im Extremfall wird Heterogenität tatsächlich abgestritten. Das scheint mir das Charakteristische an dem generativistischen Topos zu sein, es sei erklä‐ rungsbedürftig, wieso alle Kinder einer Sprachgemeinschaft in relativ kurzer Zeit ‚dieselbe‘ Grammatik erwürben, obwohl sie ganz unterschiedlicher Sprach‐ erfahrung ausgesetzt seien. Dass alle Kinder zur selben Grammatik kommen, wird im Allgemeinen präsupponiert, und nicht etwa behauptet - denn in diesem Fall bestünde ja die Gefahr, dass jemand nachfragt, wie sich das überhaupt em‐ pirisch belegen lassen sollte. Völlig legitim ist es gegenüber einer solchen sprachtheoretisch (bzw. ideolo‐ gisch) fundierten Annahme, die Heterogenität als für die eigene Fragestellung irrelevant auszuklammern. Das dürfte die häufigste Strategie sein. Ihr ist de Saussure mit seiner Als-Ob-Idee gefolgt, wir hätten alle dasselbe Wörterbuch im Kopf, und auch das Konstrukt des idealen Sprechers/ Hörers lässt sich auf diese Weise rechtfertigen. Aber auch wer z. B. Textmuster zu Unterrichtszwe‐ 25 Derselbe Text, aber anders cken beschreiben will, tut wahrscheinlich (zumindest auf elementaren Stufen) gut daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die reale Heterogenität zunächst zu vernachlässigen. Mit der Ausblendung der Heterogenität realen Sprachgebrauchs ist also nicht notwendig eine bestimmte sprachtheoretische Position verbunden, eine solche kann auch aus rein pragmatischen Gründen erfolgen. Interessanter sind freilich Kontroversen, die mit grundlegend unterschiedli‐ chen Vorstellungen vom Funktionieren der Sprachen verbunden sind. Wie es nun in der Textlinguistik auch systemlinguistische Ausrichtungen gibt, so finden sich in der Variationslinguistik Strömungen, die dem Homogenitätspos‐ tulat verpflichtet bleiben. Dazu gehört insbesondere die Auffassung, die Ge‐ samtsprache sei heterogen, weil sie eine Menge von Varietäten (auch Subspra‐ chen genannt) umfasse. Diese könne man allerdings als in sich (weitgehend) homogen konzipieren; in einer anderen Fassung: die Heterogenität sei (sehr) geordnet. Es kehren bei diesem Ansatz dann dieselben Strategien wieder wie bei der elementaren Homogenitätsunterstellung: Äußerungen, die dem rekonstru‐ ierten (Sub-)System widersprechen, können als Performanzfehler eingeordnet oder Individuen zugeschrieben werden, die die Varietät (noch) nicht voll be‐ herrschen. Dies geht dann leicht mit einer mehr oder weniger ausgeprägt nor‐ mativen Haltung einher, speziell in Bezug auf die Standardvarietät, die sich ja dadurch definiert, das Variantenspektrum präskriptiv zu beschneiden. Sehr eindeutig zu einer am Homogenitätspostulat ausgerichteten Sicht be‐ kennt sich Ekkehard Felder: „Das Erkenntnisinteresse der Varietätenlinguistik […] richtet sich auf die Abgrenzung der Subsprachen als Ganzes oder ‚Sprachgebrauchssysteme‘ (Dittmar 1997: 175) aus sprachstruktureller Sicht unter Berücksichtigung außersprachlicher Faktoren. Die Varietätenlinguistik ist also erkenntnistheoretisch vorrangig auf die langue-Ebene fixiert und betrachtet die parole-Ebene [sic] vor allem zum Zwecke der exemplari‐ schen ‚Fütterung‘ der kontextabstrahierten Subsprachen (mit dem Erkenntnisinte‐ resse der nachvollziehbaren Systemgenerierung).“ (Felder 2016: 44 f.; Hervorhebung im Orig.) Sehr entschieden spricht sich demgegenüber Jürgen Erich Schmidt gegen die auf Varietäten übertragene Homogenitätsannahme aus: „[…] das Konzept einer homogenen Varietät [erweist sich] als empirisch leer und the‐ oretisch als falsch. […] Den Gegenstand heterogene Gesamtsprache als Komplex homogener Varietäten zu fassen, stellt theoretisch eine Vervielfältigung des Gegen‐ standsinadäquaten dar“ (Schmidt 2005: 62). 26 Kirsten Adamzik Felder rekonstruiert diese gegensätzlichen Positionen als „unvermeidbare Diskrepanz zwischen theoretischem Erkenntnisinteresse und empi‐ rischen Befunden der sogenannten [! ] Sprachwirklichkeit (Löffler 5 2016: 79). Auf der einen Seite befindet sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, nämlich eine plau‐ sible und Homogenität (Einheitlichkeit) implizierende Erklärungsfolie für Varianten‐ vielfalt darzulegen. Auf der anderen Seite steht die empirische Feststellung, dass jeg‐ liche Klassifizierung und Zusammenfassung diverser Sprachvarianten doch nicht zur vollständigen und restlosen Einteilung aller empirisch feststellbaren Phänomene ge‐ eignet ist. Dieser Widerspruch ist insofern kein Problem (sondern im Gegenteil er‐ kenntnisstiftend), als man sich die eigentliche Erklärungskraft von Kategorien vor Augen führt: Diese besteht nicht nur in dem wünschenswerten Ergebnis, möglichst viele Phänomene nach transparenten Kriterien in klar definierte ,Schubladen‘ (also Kategorien) einzuordnen, sondern auch darin, nicht kategorisierbare Phänomene möglichst genau zu beschreiben und ihre mangelnde Passfähigkeit in Bezug auf das bestehende Kategoriensystem präzise zu erfassen. Insofern lernen wir über die ‚wi‐ derspenstigen‘ (weil nicht 1: 1 kategorisierbaren) Phänomene sehr viel - und zwar dank und trotz des unvollständigen Kategorienapparats, der unter Umständen eben nicht zur Einordnung eines bestimmten Phänomens in der Lage ist.“ (Felder 2016: 78 f.) Dieser Argumentation kann sich natürlich nicht anschließen, wer die Homo‐ genität - sei es für Sprachen, Varietäten oder auch nur Idiolekte - als theoretisch falsch, als gegenstandsinadäquat, betrachtet. Das tun besonders diejenigen, die die Auswahl einer bestimmten Varietät oder auch einzelner Varianten nicht grundsätzlich als durch außersprachliche Faktoren bedingtes Sprachverhalten betrachten, sondern als teilweise gezielt eingesetzte Elemente. In dieser Sicht‐ weise wird vor allem stilistische Variation (vgl. Fix 2009a), die oft aus der Varietätenproblematik ausgeschlossen wird, (wieder) zu einer zentralen Di‐ mension (vgl. dazu u. a. die Beiträge von Dovalil und Androutsopoulos / Spreckels in Gilles u. a. 2010). Sie steht vor allem dialektalen Varietäten gegen‐ über, denen, wie Linke (2010: 256) es mit Peter Wunderli ausdrückt, Spre‐ cher(gruppen) unterliegen; sie haben nämlich in der Regel nicht die Wahl, diesen oder jenen Dialekt zu benutzen. Ganz anders dagegen, wenn es der Sprecher ist, der mehrere (normalerweise nach der primären Sozialisation erworbene) Va‐ rietäten oder wenigstens Varianten beherrscht, diese also funktional heranziehen kann. Eine einfache Dichotomie wird sich daraus jedoch gewiss nicht ableiten lassen, da die Kompetenzen in Sprachen wie in Varietäten unterschiedlich aus‐ gebaut sind und im Laufe des Lebens erweitert (oder auch abgebaut) werden können. 27 Derselbe Text, aber anders 4 Die Debatte darüber, ob sich Text oder Diskurs besser als Oberbegriff eignet, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Ich verstehe Text als medienunabhängige Größe, die ge‐ sprochen, geschrieben oder gebärdet realisiert sein kann, betrachte allerdings nur sprachliche Zeichen(folgen) als Texte (vgl. Adamzik 2016: Kap. 2). Bei ihrer Musterung verschiedener Disziplinen, die für die Variationslingu‐ istik wichtig waren oder sind, nennen Lüdtke / Mattheier (2005: 20) die Stilistik den „Bereich der Sprachwissenschaft, in dem Sprachvariation am intensivsten und wohl auch am differenziertesten thematisiert worden ist.“ Von der Textlin‐ guistik ist bezeichnenderweise nicht die Rede. Dazu passt, dass Ulla Fix (2009b: 13) in ihrer Bestandsaufnahme zur Textlinguistik Gestaltqualität bzw. Textstil als lange vernachlässigte Dimension ausgemacht hat. So ergibt sich als Fazit, dass Variations- und Textlinguistik allenfalls potenziell gemeinsamen Frage‐ stellungen nachgehen. Zu vielfältig sind in beiden Disziplinen die theoretischen und methodischen Prämissen, als dass sich ein klarer Überschneidungsbereich hätte herauskristallisieren können. Das derzeit real existierende Gemeinsame liegt damit nur darin, dass in jedem Fall Texte das Objekt der Bemühungen dar‐ stellen: „Variation spielt sich auf der Diskursebene ab“ (Lüdtke / Mattheier 2005: 15). 4 Und selbst das gilt nur dann, wenn die empirische Grundlage auch tat‐ sächlich aus natürlichen Äußerungen als Ganzheiten besteht. Schon in Groß‐ korpora erscheinen in der Regel nur Textfragmente. Greift man auf Befragungen oder elizitierte Äußerungen zurück, haben wir es nicht einmal mehr vorder‐ gründig mit demselben Gegenstand zu tun. 3 Die Notwendigkeit von Abstraktionen Bislang wurde der Gegensatz zwischen sprachwissenschaftlichen Ansätzen be‐ tont, die sich auf die Untersuchung der Langue oder aber der Parole konzent‐ rieren. Dabei kann leicht der Eindruck entstehen, beide stünden in geradezu unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Davon kann insofern keine Rede sein, als es sicherlich zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft gehört nachvoll‐ ziehbar zu machen, welche Leistungen Interaktanten bei der Entschlüsselung sprachlicher Botschaften erbringen (müssen). Wenn wir uns auf die Rezeptionsseite beziehen, so sind konkret gegeben zunächst nur Sinneswahrneh‐ mungen; das betrifft die Ebene der Parole. Die Verarbeitung besteht darin, sie diversen Kategorien zuzuweisen - diese entsprechen im Prinzip der Langue-Ebene. Die Frage ist allerdings, mit welchen Ebenen und Kategorien wir genau rechnen. Zunächst geht es darum zu erkennen, ob es sich überhaupt um Sprache han‐ delt. Das kommt sehr gut im Original der Eingangsbeispiele zum Ausdruck, wo 28 Kirsten Adamzik [3] die Protagonisten visuelle Wahrnehmungen unterschiedlich deuten und (in der mittleren Strophe) nur das Kind das Hörbare als sprachliche Äußerung auffasst: Erlkönig […] Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif ? - Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - […] Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - […] Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - Mein Sohn, mein Sohn ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. - […] Wenn etwas als sprachliche Botschaft kategorisiert ist, muss weiter ‚ent‐ schieden‘ werden, zu welcher Sprache oder Varietät die Einheiten gehören, zumal es ja vorkommt, dass in einer Äußerung verschiedene davon gemischt sind. Eine möglichst differenzierte Erfassung der menschlichen Lautprodukte (also der materiellen Seite), wie sie das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) erlaubt, ist dabei bekanntlich nicht einmal besonders nützlich - so genau will und muss man im Allgemeinen gar nicht wissen, wie sich eine Äußerung angehört hat, man muss nur erkennen, welches Element gemeint war. Deswegen sind gebräuchliche Schriftsysteme sehr viel undifferenzierter als das IPA. Die Einführung der abstrakten Kategorie Phonem, die Varianten, die Allophone, umfasst, stellte für die Systemlinguistik den entscheidenden Durchbruch dar. Ebenso effizient ist dieses Verfahren auf der morphologischen Ebene, wo auch Einheiten, die materiell nicht das Mindeste miteinander zu tun haben (wie die Suppletivformen sein, bin, war), als Repräsentanten derselben abstrakten Kate‐ gorie fungieren. Obwohl nun, wie Abschnitt 2 gezeigt hat, systemlinguistisches Denken in der Textlinguistik durchaus verbreitet ist, spielt die konsequente Übertragung strukturalistischer Analyseverfahren auf Texte dort fast keine Rolle, genauer gesagt wurde damit nur in der Anfangsphase experimentiert. Das schlägt sich 29 Derselbe Text, aber anders in Ausdrücken wie Textem und Allotext nieder, die sich aber nicht etabliert haben und nur sehr selten vorkommen. Stattdessen traten auf der Textebene bald sehr viel abstraktere Einheiten in den Vordergrund, vor allem Textsorten (oder auch -klassen, -typen etc.). Den frühen Versuchen soll in Kapitel 3.2 etwas genauer nachgegangen werden. Zunächst geht es jedoch darum, den unterschiedlichen Blickwinkel auf Texte gegenüber tieferen Rängen zu verdeutlichen. 3.1 Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen Als Ausgangspunkt drängt sich eine Formulierung von Brinker auf, die zu den meistzitierten in textlinguistischer Literatur gehört: „Nun ist ein konkreter Text aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; er repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., er ist ein Fernsehkommentar, eine Zeitungsnachricht, ein Kochrezept oder eine Werbean‐ zeige - um nur einige alltagssprachliche Namen für Textsorten zu nennen. [...] Der konkrete Text erscheint immer als Exemplar einer bestimmten Textsorte“ (Brinker u. a. 2014: 133; zuerst Brinker 1985: 118; Hervorhebungen K. A.). Bezogen auf unser Beispiel hieße das: Nun ist [3] aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., es ist ein Gedicht, genauer gesagt eine Ballade. Übertragen auf die Lautebene entspräche dem etwa die Aussage: • Nun ist ein konkretes Phon aber nicht nur eine Realisierung der allge‐ meinen Größe ‚Sprachlaut‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Lautsorte, d. h., es ist ein Vokal oder Konsonant, ein Nasal oder Plosiv - um nur einige der üblicherweise unterschiedenen Arten von Lauten zu nennen. Die Übertragung auf die Wortebene erlaubt diverse Varianten, weil man hier mit abstrakten Einheiten unterschiedlicher Kategorien rechnet, u. a.: • Nun ist ein konkretes Wort aber nicht nur eine Realisierung der allge‐ meinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Wortart, d. h., es ist ein Substantiv, Verb, Adjektiv, ... • Nun ist ein (komplexes) Wort aber nicht nur eine Realisierung der all‐ gemeinen Größe ‚Wort‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein be‐ stimmtes Wortbildungsmuster, d. h. es ist z. B. eine Ableitung aus einem Nomen, die Konversion eines Verbs, ... • Nun ist ein konkretes Textwort aber nicht nur eine Realisierung der all‐ gemeinen Größe ‚Wort‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine be‐ 30 Kirsten Adamzik [4] [5] stimmte Wortform, d. h. beispielsweise für Verben, es ist ein Infinitiv, Partizip, eine Vergangenheitsform, ... All diese abstrakten Kategorien sind für das Verständnis einer Äußerung aller‐ dings weniger wichtig, zentral ist die folgende Voraussetzung: • Nun ist ein konkretes Wort oder Syntagma aber nicht nur eine Reali‐ sierung der allgemeinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein bestimmtes Lexem. Ebenso möchte man auf der Textebene nicht in erster Linie wissen, welche Textsorte vorliegt, sondern welcher Text, jedenfalls wenn es um solche wie die hier zitierten geht, denn bei diesen handelt es sich um individuelle Größen, die als solche bekannt sind und überliefert werden. Auch bei den Textwörtern muss man allerdings differenzieren: Wenn wir nämlich Lexem als ‚Wörterbuch-Wort‘ auffassen, ist die genannte Voraussetzung nicht für alle gegeben, z. B. nicht für Grünkohlverderber. Es gibt Textwörter, die nicht im Wörterbuch stehen, oder anders formuliert: die nicht ins kollektive Gedächtnis der Sprachgemeinschaft eingehen. Für Syntagmen und Sätze gilt das natürlich noch viel mehr. Sofern diese komplexen Gebilde den phonologischen, morphologischen, Wortbildungs- und syntaktischen Regeln der Sprache folgen, lassen sie sich selbstverständlich trotzdem problemlos interpretieren. Dazu greift man eben auf das Regelwissen und nicht auf bereits fertig gespeicherte komplexe Einheiten zurück. Interpretierbar sind allerdings auch Ausdrücke, die den vertrauten Regeln nicht (ganz) folgen, z. B. [4] oder [5]: lichtung manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum (Ernst Jandl) Fallweise Liebe Ick liebe dir, ick liebe dich, Wie‘t richtig is, det weess ick nich Und is mich ooch Pomade. Ick lieb‘ dir nich im dritten Fall, Ick lieb‘ dir nich im vierten Fall, Ick liebe dir uff jeden Fall! (Autor unbekannt) 31 Derselbe Text, aber anders [4] und besonders [5] reichen in ihrer Bekanntheit sicher nicht an den Erlkönig heran; auch sie werden aber immer wieder als Ganzheiten reproduziert. Das gilt auch für die übrigen Beispiele, [2] verbreitet sich unter Grünkohlfreunden, [1] und [5] erscheinen mit leichten Variationen, z. B. den/ das Bubi oder ohne Artikel bzw. uff jeden Fall oder uff alle Fälle usw. Sie gehören damit ebenso wie Lexeme zum kollektiven Sprachgedächtnis. Bei der Größe ‚kollektives Gedächtnis‘ handelt es sich natürlich um ein Kon‐ strukt, das sich nur schwer präzise fassen lässt, als Kategorie ist es aber unver‐ zichtbar. Was die Lexemebene angeht, so liegen mit Wörterbüchern Versuche der Rekonstruktion der ‚Schätze‘ vor, die Sprachen und Varietäten ausmachen. Sie umfassen auch komplexe Ausdrücke bis hin zu Kurztexten (Sprichwörter, Redensarten), und es liegen seit langem auch spezialisierte Sammlungen wie etwa Büchmanns Geflügelte Worte ( 1 1864) vor. Wörterbücher oder sonstige Nachschlagewerke können prinzipiell nicht vollständig sein, zumal sie versuchen, ein genuin dynamisches Etwas zu fixieren. In der heutigen Zeit mit den immensen Möglichkeiten der Aufbereitung von Datenmengen führt das dazu, dass in relativ kurzen Abständen, nämlich oft in weniger als zehn Jahren, immer wieder aktualisierte Versionen erscheinen. Si‐ cher ist, dass die Auswahl, die sie jeweils treffen, nicht das Sprachwissen ir‐ gendwelcher Sprechergruppen oder gar das des Durchschnittsmenschen spie‐ gelt. Individuelle Wissensbestände umfassen vielmehr grundsätzlich nur einen sehr kleinen Teil des aufbereiteten Materials. Andererseits gehen sie aber auch darüber hinaus, denn gesellschaftliche Gruppen organisieren sich ja gerade über Wissen, das (nur) die Mitglieder teilen und das sie gegenüber anderen Gruppen bzw. gegenüber der Mehrheit oder einem Durchschnittsmenschen auszeichnet. Dazu gehören auch Wissensbestände, die sprachliche Varietäten betreffen. Von diesen gehen bestimmte Ausschnitte aber doch in umfassende Nach‐ schlagewerke ein, sie werden also auch zu (potenziellen) Wissensbeständen von Nicht-Mitgliedern gerechnet. So einfach ist es tatsächlich nicht, Teile des Sprachwissens bestimmten Trägergruppen zuzuordnen. Selbst die Versuche, wenigstens so etwas wie einen allgemein bekannten Grundwortschatz zu be‐ stimmen, führen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und letztlich zur Ein‐ sicht, dass auch ein solcher nicht klar bestimmbar ist. Ebenso gelingt es der Fachsprachenforschung höchstens theoretisch, Fachwortschätze und Gemein‐ sprache als klar abgrenzbare Konstrukte zu etablieren (vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.4.2.). Sicher ist zunächst, dass (sprachliche) Wissensbestände nicht bei auch nur zwei Individuen genau übereinstimmen können (vgl. dazu aus wissenssoziologischer 32 Kirsten Adamzik 5 Vgl. www.lachmeister.de/ lustiger-text/ 174/ wichtigmachausdruecke.html; [letzter Zu‐ griff: 22.11.2017]. [6] Perspektive Schütz / Luckmann 2017: Kap. IV C. und aus varietätenlinguistischer Sicht sehr nachdrücklich Schmidt / Herrgen 2011: Kap. 2). Das gilt besonders für eine hochdifferenzierte Gesellschaft wie die unsere. In ihr verfügen alle über Wissen in mehreren Sprachen und Varietäten. Oft beschränkt sich dieses allerdings auf wenige Elemente. So dürfte etwa für einen durchschnittlichen Sprecher des Deutschen [5] klar als berlinerisch identifizierbar sein; vielleicht gibt der Text auch Anlass, neu zu lernen, dass es ist mir/ mich Pomade/ pomade be‐ deutet ‚es ist mir gleichgültig‘. Auch Personen, die Berlinerisch als Erstsprache gelernt haben, wissen aber nicht unbedingt, dass dieser Ausdruck zurückgeht auf die Entlehnung des polnischen pomału (‚allmählich, gemächlich, nach und nach‘; erweitert im Sinne von ‚jemand hat es nicht eilig, es kommt ihm nicht darauf an‘). Daher bauen sie vielleicht Assoziationskomplexe zu dem aus romanischen Sprachen entlehnten Wort für Haarcreme auf, mit dem er tatsächlich vermischt wurde. Auch solche Assoziationskomplexe gehören zum individuellen Sprach‐ wissen. Ideen dazu, warum etwas so heißt, wie es heißt, kann man aber auch weitergeben, was dann zu den sog. volksetymologischen Ableitungen oder Ge‐ schichten führt. Manche kennen diese, andere nicht. Das geteilte Gruppenwissen überschreitet sowohl Varietätenals auch Sprachgrenzen. An sprachspielerischen Aktivitäten sind gerade solche beson‐ ders beliebt, in denen ein bekannter Text (z. B. die Weihnachtsgeschichte oder vertraute Märchen) in Varietäten anderer (! ) Sprechergruppen übertragen werden, und zwar nicht zuletzt, um sich über diese zu belustigen oder gar zu empören. Außerordentlich beliebt ist dies als Auseinandersetzung mit Jugend‐ sprache. Für Fachsprachen zieht man gern Sprichwörter heran, weil bei längeren Texten der Lustgewinn in keinem adäquaten Verhältnis mehr zum Verarbei‐ tungsaufwand stünde: Die Struktur einer ambivalenten Beziehung beeinträchtigt das visuelle und kognitive Wahrnehmungsvermögen extrem - oder wie man früher sagte: Liebe macht blind. 5 Schon hier, erst recht aber bei gewöhnlichen Übersetzungen, d. h. solchen in andere Sprachen, bleibt nur der Inhalt eines Textes - mindestens grosso modo - erhalten, nichts dagegen von seiner sprachlichen Gestalt, wenn man einmal von Namen absieht. Dennoch reden wir so, als hätten wir die Odyssee, Konfuzius, Dante, Don Quijote, Hamlet, Anna Karenina usw. gelesen, auch wenn es nur Übersetzungen waren. In einem ziemlich abstrakten Sinn handelt es sich eben 33 Derselbe Text, aber anders immer noch um denselben Text. Um die Behauptung zu rechtfertigen, dass man ihn ‚kenne‘, reicht es sogar aus, von seiner Existenz zu wissen und elementare Kenngrößen (Autor, Entstehungszeit, Plot) sowie Fragmente des Wortlauts kog‐ nitiv gespeichert zu haben (und bist du nicht willig, …; Sein oder nicht sein, … usw.). Zu diesen Wissensbeständen zu Texten kann man grob gesehen auf zwei‐ erlei Weisen kommen: Entweder man hat den Text tatsächlich ganz gelesen. Je länger dies zurückliegt, desto mehr hat man allerdings vergessen oder wie man heute lieber sagt: Es werden nur wenige Elemente im Langzeitgedächtnis ge‐ speichert, und zwar sowohl zentrale Inhaltselemente als auch charakteristische Formulierungen. Bei intensiver Lektüre werden diese vielleicht exzerpiert oder durch Anstreichungen usw. markiert, so dass man sie bei erneuter Konsultation schnell wiederfinden kann. Die zweite Möglichkeit besteht darin, gleich auf entsprechende Bearbeitungen anderer Rezipienten zurückzugreifen: Man schlägt in einem Werklexikon oder einer Enzyklopädie nach. In Wikipedia ist tatsächlich eine große Menge von Einzeltexten diverser Textsorten entspre‐ chend aufbereitet, allerdings gerade nicht solcher, die Brinker bei der Erläute‐ rung dieser Kategorie erwähnt, denn reine Gebrauchstexte haben keinen Über‐ lieferungswert. Das macht den Unterschied zwischen Wetterberichten und Bauernregeln aus. Auch die häufig behandelten Kochrezepte gibt es in überlie‐ ferungswürdigen Traditionen, und zwar einerseits solchen, die das Brauchtum bestimmter Regionen betreffen (vgl. dazu Gredel in diesem Band), andererseits solchen, die Familientraditionen entsprechen (bzw. dies vorgeben): Aus Groß‐ mutters Küche. Für Texte mit hohem Überlieferungswert muss man nun feststellen, dass sie ‚sich‘ im Laufe der Zeit auch selbst verändern. Liest man einen Text (in der Originalsprache), etwa die Klassiker der deutschen Literatur- und Geistesge‐ schichte, sogar jene aus der neuhochdeutschen Periode, hat man es nämlich nicht unbedingt mit der Fassung zu tun, die dem ersten Druck oder gar dem Manuskript entspricht: Anpassungen an orthografische und teilweise auch morphologische Entwicklungen werden in modernen Ausgaben stillschweigend vorgenommen. Außerdem existiert mitunter schon ‚das‘ Original in verschie‐ denen Fassungen. Das gilt nicht nur prinzipiell etwa für die mittelalterlichen Handschriften, sondern z. B. auch für Die Leiden des jungen Werthers/ Werther von Goethe oder Der grüne Heinrich von Gottfried Keller. Die Fassungen sind einander hinreichend ähnlich, um nicht als ganz verschiedene Texte, sondern als Versionen desselben Textes, aber auch hinreichend verschieden, um nicht als genau derselbe Text wahrgenommen zu werden. 34 Kirsten Adamzik Den entsprechenden Fragestellungen geht man in diversen Textwissen‐ schaften in Unterzweigen wie der (Editions-)Philologie, Entstehungs-, Überlie‐ ferungs- und Wirkungsgeschichte etc. ausführlich nach. Auch für die Varia‐ tionslinguistik, insbesondere die historisch ausgerichtete, sind sie zentral. In der Textlinguistik hat sich dieser Fragenkomplex dagegen (noch) nicht als rele‐ vantes Gebiet etabliert, obwohl es in der Anfangszeit durchaus Bemühungen in diese Richtung gab. 3.2 Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und etische Texte An der Wende von den 1960er zu den 70er Jahren verortet man (in der Bundes‐ republik Deutschland) einen sog. Linguistik-Boom. Seine wichtigste Wirkung bestand in der Reorganisation philologischer (zunächst vor allem germanisti‐ scher) Universitätsinstitute. Waren diese traditionell in eine Alte/ Ältere und Neue(re) Abteilung untergliedert, so kam jetzt als drittes Untergebiet die Lin‐ guistik hinzu. Im Rahmen solcher Prozesse sind nicht nur administrative, sondern auch be‐ stimmte Fachtexte besonders wichtig. Dazu gehörten in der Bundesrepublik zwei 1973 erschienene Werke, nämlich einerseits das Funk-Kolleg Sprache, an‐ dererseits das Lexikon der germanistischen Linguistik (LGL) (Althaus u. a. 1973). Beide beanspruchten, den Stand der modernen Linguistik im Überblick darzu‐ stellen. Dabei war wichtig, dass sie nicht nur die strukturalistische, sondern auch die (frühe) generativistische Schule einbezogen sowie Kommunikationsmodelle, Pragma-, Sozio- und Textlinguistik. Das Funk-Kolleg Sprache nimmt eine Sonderstellung ein. Es gehört zu einer Serie, in der Radiosender in Verbindung mit dem Deutschen Institut für Fernstu‐ dien an der Universität Tübingen (für Studien-Begleitbriefe) und Volkshoch‐ schulen (für Studien-Begleitzirkel) zusammengearbeitet haben, und zwar vor allem, um Menschen ohne Abitur den Zugang zum Studium zu ermöglichen. Entwickelt seit 1970, wurden die Sendungen ab September 1971 ausgestrahlt. Verbindlich eingeschrieben hatten sich dazu fast 17.000 Hörer, die Prüfungen ablegen konnten (organisiert durch die Kultusministerien von fünf Bundeslän‐ dern). Diese Zahl ist noch relativ bescheiden, gemessen am Erfolg, den dann die (im Gegensatz zum LGL sehr preiswerte) Taschenbuchausgabe von 1973 erzielen konnte. Deren Vorwort orientiert ausführlich über die damaligen Bedingungen, zu denen insbesondere gehört, dass man noch auf kein vorliegendes Curriculum hatte zurückgreifen können, sondern dieses erst zu entwickeln war. Im Hinter‐ grund standen folgende Voraussetzungen: 35 Derselbe Text, aber anders „In den nächsten Jahren ist eine grundlegende Neuordnung des Deutsch- und Fremd‐ sprachenunterrichts zu erwarten. Damit Hand in Hand geht eine Neuorientierung des herkömmlichen Philologiestudiums. Grund ist die moderne Linguistik, die nicht mehr nach den historischen Wandlungen der Einzelsprachen fragt, sondern nach den all‐ gemeinen Merkmalen und Strukturen des Zeichensystems Sprache.“ (Aus dem Para‐ text Über dieses Buch) Das Funk-Kolleg Sprache vertritt in besonders ausgeprägter Weise die oben ange‐ sprochene Variante, nach der systemlinguistische Ansätze zwar die Grundlage der ‚modernen Linguistik‘ bilden (müssen), diese jedoch einzubetten sind in einen kommunikationswissenschaftlich orientierten Rahmen. Das erste Hauptkapitel (von insgesamt fünf) ist betitelt: Kommunikation und Sprache. Der Textlinguistik kommt in diesem Buch (besonders im Verhältnis zur Soziolinguistik) keine be‐ sonders große Bedeutung zu. Mit dem Ausdruck Textem erfolgt jedoch eine quasi konsequente Parallelisierung zur Phonem- und Morphemanalyse. Im LGL erscheint dieser Begriff dagegen nicht (auch nicht in der stark bearbeiteten 2. Auflage von 1980). Dieses Handbuch wendet sich auch viel eher an die eta‐ blierten Kreise in den Universitäten und bespricht sehr ausführlich verschiedene Ansätze und einzelne Arbeiten aus der frühen Textlinguistik. Auch hier werden jedoch von Anfang an eine auf die Langue gegenüber einer auf die Parole bezo‐ gene Sichtweise unterschieden. Während bei der zweiten übereinstimmend mit dem Funk-Kolleg die Kommunikativität thematisiert wird, soll es jedoch bei der ersten um (die Gesamtheit von) Textbildungsregeln gehen, so dass hier nicht Phonologie und Morphologie als Vorbild fungieren, sondern die Syntax. Nun ist es relativ einfach, den Ausdruck Textem parallel zu Phonem und Mor‐ phem zu bilden, weniger klar ist allerdings, was man sich darunter vorzustellen hat. Im Glossar des Funk-Kollegs erscheinen die folgenden Erläuterungen: Text: Sprachliche Äußerung; Ergebnis der → Realisierung eines → Textems. Textem: Noch nicht realisierte sprachliche Struktur als Ergebnis der sprachlichen → Kodierung. Textstruktur (= Textem): strukturierte Ketten von Sprachzeichen als Ergebnis der sprachlichen Kodierung. Kodierung: vom Sprecher vorgenommene Umsetzung einer Vorstellung in eine sprachliche Äußerung. Sie zeigen klar, dass Text wie Phon und Morph als konkrete/ materielle Reali‐ sierung einer abstrakten (vorher nur kognitiv verfügbaren) Einheit konzipiert wird. Gewöhnlich bezeichnet man nicht materialisierte Ketten von Sprachzei‐ chen als Wortlaut, und zwar - ebenso wie bei Morphemen und Lexemen - unabhängig von der medialen Verfasstheit: Die Frage, ob ein Morphem einer 36 Kirsten Adamzik gesprochenen oder geschriebenen Einheit entspricht, stellt sich schlicht nicht; wir befinden uns auf einem Abstraktionsniveau, auf dem die Materialisie‐ rungsart keine Rolle spielt. Ein Schema (Abb. 1) zur Visualisierung wird als Versuchsanordnung bezeichnet, da alle Faktoren, die sich außerhalb des zentralen Kastens befinden, (und zusätzlich u. a. Intention, Wissens- und Sprachspeicher) „vorübergehend außer acht gelassen werden. Wohlgemerkt vorübergehend: Wenn die kausalen Beziehungen zwischen einem ideal homogenen denotativen Kode, der von einem idealen Sprecher aktiviert wird, zum produzierten Text analysiert und be‐ schrieben sind, werden nach und nach weitere Faktoren in die Analyse einbezogen; so wird Schritt für Schritt die Beschreibung der Komplexität des Sachverhalts ange‐ nähert. Genau wie die ideale Kompetenz kann man auch die soziale Rolle eines Spre‐ chers isolieren und dadurch idealisieren und fragen: Welche Merkmale X, Y und Z hat ein Text, der auf der Grundlage eines bereits beschriebenen Kodes in einer bestimmten sozialen Rolle produziert wird? Wir haben zu zeigen versucht, daß nur einschichtige homogene und also idealisierte Objekte einer präzisen Analyse zugänglich sind. Daraus folgt, daß die Komplexität re‐ aler Sachverhalte in einer wissenschaftlichen Beschreibung nur dann annähernd zu er‐ reichen ist, wenn man schrittweise analysiert und eine Menge elementarer Ergebnisse zu einer Gesamtbeschreibung zusammenfügt. Da wir die Aktivierung des Kodes durch einen Sprecher oder Hörer für das grundlegende Ereignis sprachlicher Kommunikation halten, beginnen wir die Gesamtuntersuchung mit der Analyse der idealen Kompetenz des idealen Sprechers/ Hörers.“ (Funk-Kolleg Sprache 1973: Bd. 1, 82 f.): Abb. 1: Reduziertes Faktorenmodell für die Textbildung (nach Funk-Kolleg Sprache 1973: Bd. 1, 82) Die Ausdrücke Lexem oder gar Lex kommen im Funk-Kolleg nicht vor, statt‐ dessen spricht man dort von Formativen. Auch für Sätze fehlt eine entsprechende 37 Derselbe Text, aber anders Parallele; sie werden als aus Konstituenten aufgebaut verstanden. Somit sind die Analogien auf den oberen Rängen doch nicht besonders konsequent durch‐ geführt. Auch kommt Textem außerhalb der zitierten Stelle nur noch einmal vor, und zwar in einem Sprachverhaltensmodell. Dieses sehr komplexe Schema setzt (im Rahmen der Studien zur gesprochenen Sprache in der Schule Hugo Stegers) Redekonstellationen und Textexemplare (statt wie früher Texte) in Bezie‐ hung (vgl. ebd.: Bd. 2, 196); weitere Erläuterungen zum Verhältnis von Text(exemplar) und Textem finden sich aber nicht. So ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass Textem nicht als gut etablierter Begriff gelten kann. Er erscheint zwar in manchen Fachwörterbüchern (vgl. dazu genauer Kolde 1999), u. a. bei Bußmann. Sogar Felder (2016: 34) benutzt ihn einmal; insgesamt bleibt er aber ebenso selten wie unklar. Was die meisten davon abhält, ihn überhaupt einzusetzen, erklärt sich na‐ türlich relativ einfach: Schon bei Sätzen rechnet man eigentlich nicht mit kon‐ kreten, d. h. im Wortlaut festgelegten Strukturen, die kognitiv gespeichert sind und in der Parole nur materialisiert werden, sondern mit viel abstrakteren Strukturen, nämlich allenfalls Satzschemata, die in Äußerungen gewissermaßen erst lexikalisch und grammatisch ‚gefüllt‘ werden. Erst recht ist es bei Texten die Ausnahme, dass sie bei der materiellen Realisierung direkt aus dem Ge‐ dächtnis abgerufen werden, dort also schon gespeichert sind. Für Morpheme gilt dagegen genau das. Diese sind mit ihrer Signifiant-Seite gewiss nicht angeboren (wie man es für syntaktische Kategorien ja teilweise unterstellt), sondern müssen einzeln gelernt werden. Sie können dann allerdings auch nach ab‐ strakten Regeln in neue Konstruktionen eingehen, d. h. in solche, die nicht schon im Lexikon überliefert sind. So ergibt sich die ‚traditionelle Arbeitsteilung‘ zwi‐ schen Lexikon - mit Einheiten, die auch über ein Lautbild im Sinne de Saussures verfügen - und Syntax, für die das nicht gilt. Die Parallelisierung von Morphem und Textem, so könnte man den Einwand zusammenfassend formulieren, un‐ terstellt eine Vergleichbarkeit, die schlichtweg nicht gegeben ist. Daher kann es auf der Textgenau wie auf der Satzebene nur darauf ankommen, nach abstrak‐ teren Größen, nämlich nach Satzbzw. Text-Bildungsregeln, zu suchen, statt zu unterstellen, dass bereits ‚kodierte‘ komplexe Einheiten im Gedächtnis gespei‐ chert sind. Anders gesagt: Morpheme gelten als virtuelle Einheiten, die immer wieder neu realisiert werden, Sätze und Texte dagegen als erst im Äußerungsakt jeweils neu erzeugte. Diese Vorstellung ist sehr verbreitet, entspricht aber m. E. einer Art denk‐ stilbedingten Blindheit (vgl. Fleck 1980 und dazu Adamzik 2018b: Kap. 5.2.) ge‐ genüber der sehr wohl möglichen Parallelisierung. Bevor dies in Kapitel 4 ge‐ nauer ausgeführt wird, sollen noch einige frühe textlinguistische Ansätze 38 Kirsten Adamzik 6 Statt der Unterscheidung von emischen und etischen Texten arbeitet man im Anschluss an de Beaugrande / Dressler (1981) - aber eigentlich gegen deren Intention (vgl. Adamzik 2016: Kap. 3.1.) - auch heute noch mit dem Konstrukt des Nicht-Textes. Der Vorschlag, die Komposita Parolevs. Langue-Satzbzw. -Text zu verwenden, um tat‐ sächlich gebildete von ‚wohlgeformten‘ Einheiten abzugrenzen (vgl. Adamzik 2010: Kap. 33 und 34), ist nicht aufgenommen worden. vorgestellt werden, die der Vorstellung von Texten als virtuellen Einheiten am nächsten kommen (vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2015: Kap. 2 und Adamzik 2016: Kap. 2.5.3.). Besonders darum bemüht, die Parallelen wirklich konsequent durchzuführen, ist Walter A. Koch (1969, 1973), der zu diesem Zweck einen eigenen Begriffs‐ apparat vorschlägt: Der Größe Wort entspricht darin ungefähr Logem, dem Satz ungefähr Syntaktem. Syntakteme sollen aus Subjekt und Prädikat bestehen, Texteme aus Topik, Thema und Komment - es handelt sich also nicht wie bei der ‚Kodierung‘ im Funk-Kolleg um eine spezifische Folge von Sprachzei‐ chen, sondern um hochabstrakte Strukturen und eine Analyse von oben nach unten. Roland Harweg geht dagegen umgekehrt vor und betrachtet die prono‐ minale Verkettung aufeinanderfolgender Sätze. Er benutzt nicht den Aus‐ druck Textem, sondern unterscheidet etische von emischen Texten. Dies ent‐ spricht einer gewollten „Abkehr von der Performanz- und […] Hinwendung zur Kompetenzorientiertheit“ (Harweg 1968, 2 1979: V), und zwar in dem Sinne, dass etische Texte dem Sprachgebrauch, nämlich real vorkommenden Einheiten, gleichzusetzen sind, während es sich bei emischen Texten um wohlgeformte Satzfolgen handeln soll, die sich durch ununterbrochene pronominale Verket‐ tung konstituieren. In diesen erkennt Harweg „ein textgrammatisches Ideal, ein Ideal, das die textuelle Wirklichkeit, die aktuell vorliegenden Texte, auch solche von sogenannten guten Autoren, nur in den seltensten Fällen erreicht“ (Harweg 1975: 377). Natürliche Texte erscheinen hier also nicht nur als Performanzphä‐ nomene, sondern als ‚schlechte‘, nämlich normalerweise (! ) nicht regelkonforme Sprachwirklichkeit. Harwegs Definition des emischen Textes und die damit verbundene Neude‐ finition der Kategorie Pronomen wurden bald zurückgewiesen. 6 Dennoch haben seine Arbeiten einen bedeutenden Einfluss gehabt, da er in sehr systematischer Weise Nominalgruppen danach differenziert, in welche Wiederaufnahme-Rela‐ tionen sie eingehen können. Solche Gliederungen bilden noch immer den Kern der Behandlung der Kohäsionsmittel (vgl. dazu weiter Adamzik 2016: Kap. 7.1.). Noch weniger Einfluss als Harwegs terminologische Neologismen haben die‐ jenigen von Koch gehabt. Die von ihm nur angedeutete Top-Down-Analyse 39 Derselbe Text, aber anders stellt jedoch die zweite wesentliche Methode in der Textlinguistik dar. Besonders bekannt sind die Vorschläge von Teun A. van Dijk, der zwischen Makro‐ strukturen und Superstrukturen differenziert. Die ersten operieren auf Propositionen, von denen in einem rekursiven Prozess mehrere zu Makropro‐ positionen zusammengefasst werden, bis sich auf der obersten Ebene eine Kurz‐ fassung des Textes ergibt. Die Grundlage bilden also konkrete Texte und das Vorgehen entspricht dem Bottom-Up-Modell. Superstrukturen stellen dagegen Schemata für den Grobaufbau von Textsorten dar. Allerdings stehen dabei nicht hochstandardisierte Kleinformen (Wetterbericht usw.) im Vordergrund, sondern potenziell sehr komplexe Einheiten - besonders häufig zitiert findet sich van Dijks Schema zu Erzähltexten (vgl. van Dijk 1980: 142). Die Superstrukturen van Dijks sind fast so abstrakt wie das Textem von Koch, der Inhalt ist nämlich überhaupt nicht spezifiziert. Makrostrukturen sind da‐ gegen am Inhalt orientiert, sollen diesen zusammenfassen; daher umfassen sie auch die besonders wesentlichen lexikalischen Elemente bzw. Themenwörter. Bei van Dijk erscheinen Makrostrukturen als Ergebnis wissenschaftlicher Ana‐ lyseverfahren. Er unterstellt allerdings, dass auch gewöhnliche Sprachteilhaber diese intuitiv anwenden, wenn sie Texte verarbeiten: „Wir müssen uns Einsicht verschaffen in das sehr wesentliche Vermögen des Sprach‐ gebrauchers, das ihm ermöglicht, auch bei sehr langen und komplizierten Texten Fragen zu beantworten wie ‚Wovon war die Rede? ‘, ,Was war der Gegenstand des Gesprächs? ‘ u. ä. Ein Sprachgebraucher kann das auch dann, wenn Thema oder Ge‐ genstand selbst als ganzes nicht explizit im Text erwähnt werden. Er muß also das Thema aus dem Text ableiten.“ (van Dijk 1980: 45; Hervorhebung im Orig.) Nun ist es allerdings gar nicht immer nötig, Themen ‚abzuleiten‘, weil bestimmte Themen, Motive, Stoffe, Topoi, … zum kollektiven Gedächtnis gehören und also immer wieder reproduziert werden, so dass man sie nur wiedererkennen muss. Das ist besonders an mündlich überlieferter (Volks-)Literatur, speziell Märchen, gezeigt worden. Solche Forschungen greift nun Koch (1971) in einem weiteren Aufsatz auf und erörtert an diversen Beispielen die Frage, wann es sinnvoll ist, hier von einem Textem und verschiedenen Allotexten zu sprechen und wann es angemessener erscheint, mit verschiedenen Textemen zu rechnen, die ja (im Sinne von Archetypen) auch unabhängig voneinander in verschiedenen Kul‐ turen erscheinen können. In vielen Fällen unterliegt es allerdings nicht dem geringsten Zweifel, dass es sich um Texte handelt, die überliefert werden, möglicherweise über Jahrhun‐ derte oder gar Jahrtausende. Wenn sie über einen sehr langen Zeitraum über‐ liefert werden, erscheint ‚derselbe‘ Text notwendigerweise in verschiedenen 40 Kirsten Adamzik Sprachstufen. Ferner ist erwartbar, dass er in verschiedenen Varietäten vorliegt, in oral geprägten Kulturen insbesondere regionalen, aber z. B. auch in konfes‐ sionellen, wenn man etwa an die Bibel als besonders variantenreich überlie‐ ferten Text denkt. Angesichts dessen ist es schon erstaunlich, dass in der Text‐ linguistik das Interesse an Mustern, Textsorten-Schemata, Diskurstraditionen, kommunikativen Gattungen, …, kurz gesagt: an Einheiten sehr hoher Abstrak‐ tionsebene das an der Überlieferung konkreter Texte und Wortlaute fast voll‐ ständig überlagert. 4 Virtuelle Einheiten auf der Textebene Mit mündlich tradierten Stoffen, insbesondere volkstümlichen, haben wir den Gegenstand vor uns, bei dem es unausweichlich ist, (bestimmte) Texte zu par‐ allelisieren mit (bestimmten) Wörtern, sie nämlich als Einheiten zu begreifen, die zum kollektiven Gedächtnis gehören und immer wieder neu realisiert werden, mitunter also auch in mehr als milliardenfacher Materialisierung. Bei solcher Reproduktion kann man von Performanz in besonders positivem Sinn sprechen, es kann sich nämlich durchaus um ,Aufführungen‘ handeln, in denen es um Virtuosität geht - für diese ist Variation konstitutiv. Solchen überlieferten, aber doch notwendigerweise immer wieder neu und jeweils mehr oder weniger anders realisierten Einheiten gilt die klassische Studie von André Jolles (1930) zu Einfachen Formen. Sie ist nicht nur in literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Arbeiten breit rezipiert, son‐ dern - allerdings recht spät - auch in der Textlinguistik aufgegriffen worden (vgl. dazu Fix 1996). Auf Jolles (neben vielen anderen Arbeiten zur oral poetry) bezieht sich auch Thomas Luckmann (1927-2016) in seinem wissenssoziolo‐ gischen Ansatz (vgl. besonders Luckmann 2002: 165 f.; und Auer 1999: Kap. 16). Während das gemeinsam mit Peter L. Berger (1929-2017) schon 1966 verfasste Buch auf ein außerordentliches Echo stieß und bald zum Klassiker aufstieg, sind Luckmanns zahlreiche seit den 80er Jahren entstandene Arbeiten (am besten zugänglich über die Aufsatzsammlungen von 2002 und 2007) weniger verbreitet. Dabei geht es in ihnen um nichts weniger als Das kommunikative Paradigma der ‚neuen‘ Wissenssoziologie. Dazu hat Luckmann einen Vortrag auf dem Sympo‐ sium New paradigms in contemporary sociology gehalten, kommentiert dies frei‐ lich folgendermaßen: „Ich möchte hier kein neues theoretisches Paradigma vorstellen. Im Grunde bin ich sogar sehr skeptisch, was Positionen angeht, die beanspruchen, neue Paradigmen zu präsentieren. Vertreter von Neuigkeiten leiden herkömmlich sowohl unter histori‐ scher Kurzsichtigkeit als auch unter dem Drang, Marginalitäten überzubewerten - 41 Derselbe Text, aber anders und großrednerische Prediger von Paradigmenwechseln haben in der Regel Kuhns Theorie […] völlig fehlinterpretiert. Dennoch möchte ich nicht bezweifeln, daß in einigen Teilen der Gesellschaftstheorie ein Wandel vollzogen wurde, der zu einer vermehrten theoretischen Beachtung der Kommunikation als einer wesentlichen sozialen Tatsache führte [… Bourdieu, Luh‐ mann, Habermas]. Ich möchte mich hier jedoch nicht mit diesen theoretischen Ent‐ wicklungen auseinandersetzen, sondern meine eigene Position vorstellen - eine Po‐ sition, die eine empirische Ausweitung des Versuchs darstellt, den Berger und ich […] vor mehr als einem Vierteljahrhundert unternommen haben: einige Schlüsselbegriffe der allgemeinen Soziologie im Sinne dessen neu zu definieren, was man als ,neue‘ Wissenssoziologie bezeichnet hat. Neben meiner Arbeit in der Religionssoziologie habe ich mich zunehmend auf die Entwicklung einer soziologischen Sprachtheorie und anschließend auf die detaillierte Analyse kommunikativer Formen konzentriert, in denen Wissen oder, allgemeiner, Sinn und moralische Orientierungen erzeugt, vermittelt und reproduziert werden.“ (Luckmann 2002: 201; Hervorhebungen K. A.) Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der kommunikativen Gattungen. Eingegangen ist dieses auch in diverse Unterprojekte des Konstanzer Sonder‐ forschungsbereichs Literatur und Anthropologie (SFB 511; 1996-2002), insbe‐ sondere in das Projekt Anthropologische Funktionen nicht-schriftlicher kommu‐ nikativer Formen und Gattungen: Thematisierung des Menschlichen, sekundäre Ästhetisierung und Fiktionalisierung (1996-1998). An diesem Projekt haben auch Susanne Günthner und Helga Kotthoff mitgewirkt; dies erklärt, dass das Kon‐ zept der kommunikativen Gattungen in der Gesprächs-/ Konversationsbzw. Interaktionsanalyse sehr prominent ist. Unter diesen Voraussetzungen könnte man erwarten, dass die außerordent‐ lich breit ausgerichtete - u. a. Literatur, Religion, Mythos, Wissenschaft und Alltagswelt zusammen denkende - Sichtweise Luckmanns auch zu einer bes‐ seren Verständigung einerseits zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft, an‐ dererseits innerhalb der letzten zwischen Text- und Gesprächslinguistik geführt hat. Davon kann aber (noch) keine Rede sein. Vielmehr geht die Tendenz der‐ zeit deutlich in Richtung auf immer spezialisiertere Subdisziplinen (bzw. ‚Para‐ digmen‘) und die Hervorhebung von Gegensätzen. Dazu gehört, dass viele Text‐ linguistInnen literarische Texte aus ihrem Objektbereich ausschließen (vgl. Adamzik 2017: bes. Kap. 4) und sich zunehmend auch wieder nur mit schriftlich Fixiertem auseinandersetzen wollen (für Nachweise vgl. Adamzik 2016: Kap. 2.5.2., Anm. 23). Dies führt zur Präsentation von Textsorten und kommunika‐ tiven Gattungen als konkurrierenden Konzepten (vgl. so auch Auer 1999: 176 f.): 42 Kirsten Adamzik „Die Termini ‚kommunikative Gattungen‘ und ‚Textsorten‘ sind nicht gleichzusetzen. Das Konzept der kommunikativen Gattung basiert auf der Annahme, dass eine dia‐ logische Kommunikation vorliegt, das Textsortenkonzept geht für den prototypischen Fall gerade nicht von dieser Annahme aus.“ (Dürscheid 2005) „Gattungen werden […] nicht etwa als homogene, statische Gebilde mit festgelegten formalen Textstrukturen betrachtet, sondern als Orientierungsmuster für die Produk‐ tion und Rezeption von Diskursen.“ (Günthner 2000: 21) In ihrer Rezension zu Günthner merkt Fix zu Recht an, „dass die Charakterisierung der Textlinguistik dem jetzigen Forschungsstand der Textsortenforschung, für die die Annahme beweglicher, prototypischer Textsorten und deren Einbettung in kommunikative Zusammenhänge doch mittlerweile selbst‐ verständlich ist, nicht ganz gerecht wird“ (Fix 2002: 292). Es wird aber m. E. auch das Potenzial nicht ausgeschöpft, das Luckmanns Wis‐ senssoziologie für die Textlinguistik bietet (vgl. im Ansatz so Heinemann / Heinemann 2002) - Textlinguistik hier verstanden in einem weiten Sinn, denn die Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit läuft dem Anliegen Luckmanns zuwider; sie passt ja auch nur schlecht zu den Titeln des Konstanzer SFB und des genannten Teilprojekts. Wenn Luckmann sich ausdrücklich den mündlichen Gattungen, der Face-to-Face-Kommunikation, zuwendet, so geschieht dies nicht etwa, weil er die schriftlichen Formen der „Tradierung und Vermittlung bestimmter gesell‐ schaftlich relevanter Wissensbestände“ - so bringt Auer (1999: 177) die Funktion von Gattungen auf den Punkt - für unwichtig hielte: Wenn eine Gesellschaft über Schrift verfügt, dann wird das Tradierenswerte auch schriftlich festge‐ halten. Er konstatiert jedoch ein Versäumnis der traditionellen Soziologie; diese habe nämlich „die Frage nach der kommunikativen ‚Urproduktion‘ von Sinn und Kultur im Gesellschaftszusammenhang entweder nur auf der ab‐ strakten Ebene von ,Geist‘ und ,Gesellschaft‘ gestellt oder ganz ausgeklammert“ (Luckmann 2002: 158 f.; Hervorhebungen K. A.). Kommunikative Urproduktion möchte ich dahingehend interpretieren, dass sich Gesellschaften (wie Sprachen) und gesellschaftliche Gruppen (wie sprachliche Varietäten) nur erhalten können, indem sie die relevanten Wissensbestände immer wieder neu aktuali‐ sieren, sie sich zu eigen machen und weiterbearbeiten. Dies geschieht am un‐ mittelbarsten in mündlicher Interaktion, in der die Teilnehmer auch körperlich beieinander sind (vgl. Luckmann 2002: 187). Die Einfachen Formen sind nun gewissermaßen der Inbegriff solcher münd‐ lichen Traditionen, und Jolles (1930 / 1999: 262) meint sogar, dass sie der Schrift „zu widerstreben scheinen“. Davon kann in einer Zeit, in der die Publikation 43 Derselbe Text, aber anders 7 Sie findet sich im zweiten Band der von Alfred Schütz (1899-1959) konzipierten Struk‐ turen der Lebenswelt, die Luckmann ab den frühen 60er Jahren für die Publikation be‐ arbeitet hat. Während der erste Band 1973 in englischer und 1975 in deutscher Sprache erschien, zog sich die Arbeit am zweiten Band, der „deutlicher die Handschrift des For‐ schungsprofils von Luckmann“ zeigt (Vorwort von Martin Endreß zu Schütz / Luck‐ mann 2017: 4) bis in die 80er Jahre hin (Erstveröffentlichung deutsch 1984, englisch 1989). von gesammelten Märchen, Sagen, Witzen, Sprüchen … einem florierenden Ge‐ schäft entspricht, eigentlich keine Rede sein; auch von den mittelalterlichen Le‐ genden wüssten wir allerdings nur wenig, wenn sie nicht auch aufgeschrieben worden wären. Die Bedeutung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Tradierung gesellschaftlich relevanten Wissens scheint also doch verwickelter. Dem soll unter Rückgriff auf die Ausführungen von Luckmann und Fix (2009 / 2013) zu Jolles und der Frage nachgegangen werden, wie stark kommunikative Gattungen bzw. Textsorten verfestigt sind - oder: wie viel Variation sie auf‐ weisen. In der wohl frühesten Erwähnung kommunikativer Gattungen bei Luck‐ mann 7 erfolgt der Rückgriff auf Jolles‘ Einfache Formen noch nicht explizit, es ist aber offensichtlich, dass sie im Hintergrund stehen: „In allen Gesellschaften werden Stileinheiten des Sinns als kommunikative Gattungen objektiviert und bilden Sinnsetzungstraditionen. In Schriftkulturen werden zusätzlich auch literarische Genres ‚bereitgestellt‘, die den einzelnen noch stärker von eigen‐ ständigen Sinnsetzungen und -findungen entlasten können. Kommunikative Gat‐ tungen reichen von alltäglichen Sprichwörtern bis zu Fabeln, von Fluch- und Schimpf‐ konventionen bis zu Heiligenlegenden.“ (Schütz / Luckmann 2017: 450) Eine Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Alltags- und Hoch‐ kultur ist nicht zu erkennen; ferner geht es offensichtlich nicht in erster Linie um Muster für die Lösung alltäglicher Kommunikationsaufgaben - in diese Richtung verflachen die Vorstellungen von Textsorten / kommunikativen Gat‐ tungen besonders leicht -, sondern um anthropologische Grundaufgaben der Sinnfindung. Diese stehen auch bei Jolles im Mittelpunkt (vgl. bes. den Aus‐ blick in Jolles 1930 / 1999: 262-268, wo er erwägt, ob sich die Einfachen Formen in allen Kulturen finden). Zumindest aus heutiger Sicht etwas befremdlich wirken die beiden zentralen Termini, mit denen Jolles arbeitet, nämlich Geistesbeschäftigung und Sprachge‐ bärde. Zum ersten hat Luckmann sich folgendermaßen geäußert: „Nach Jolles entwickeln sich diese kleinen Gattungen gewissermaßen von selbst aus der Sprache, wenn der Mensch der Welt mit einer bestimmten ‚Geistesbeschäfti‐ 44 Kirsten Adamzik gung‘ begegnet. Jeder einfachen Form ordnet Jolles die für sie spezifische und maß‐ gebliche Geistesbeschäftigung zu: dem Memorabile etwa die ‚Geistesbeschäftigung mit dem Tatsächlichen‘, dem Märchen dagegen die der ‚naiven Moral‘. Statt von Geistesbeschäftigung zu reden, würden wir heute eher, wie es H. R. Jauss vorge‐ schlagen hat, den Schützschen Begriff der ‚Subsinnwelt‘ verwenden. Die kleinen (vorliterarischen) Gattungen können soziologisch als Organisationsformen des All‐ tagswissens verstanden werden, die darauf angelegt sind, die intersubjektive Erfah‐ rung der Lebenswelt unter verschiedenen Sinnkriterien zu thematisieren, zu bewäl‐ tigen und zu vermitteln.“ (Luckmann 2002: 166; Anm. 16; Hervorhebungen K. A.) Für Schütz ist die Auffassung zentral, dass sich die Lebenswelt in verschiedene Wirklichkeitsbereiche mit jeweils eigener Sinnstruktur untergliedert: „alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, weisen einen be‐ sonderen Erlebnisbzw. Erkenntnisstil auf “ (Schütz / Luckmann 2017: 54; Hervorhebungen K. A.). Neben der alltäglichen Lebenswelt gehören dazu die Welt des Traums, der Literatur, der Religion und der Wissenschaft (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 2.4.). Wo Jolles von verschiedenen Geistesbeschäf‐ tigungen spricht, unterscheidet Luckmann Gattungsfamilien, mit denen kollek‐ tive ‚kommunikative Probleme‘ bearbeitet werden. „Die wichtigsten davon sind: Wie werden relevante Aspekte der Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt? Wie werden zukünftige Handlungen geplant und umgesetzt? Wie wird Allgemeinwissen oder Sonderwissen vermittelt? Wie werden Vorstellungen guten Lebens formuliert und gestützt? Offensichtlich sind Probleme dieser Art uni‐ versell.“ (Luckmann 2002: 184) Die dem zuerst genannten Problem geltenden rekonstruktiven Gattungen hält Luckmann (ebd.: 178) für „eine der wichtigsten sprachlich-kommunikativen Funktionen in menschlichen Gesellschaften“. Dabei bezieht er sich keineswegs jeweils auf Gesamtgesellschaften, sondern auf Formationen aller Art und auch auf Individuen. „Zu verstehen, wie eine Gesellschaft, eine Gruppe, eine Organisation, eine Institution, eine Person Ausschnitte und Gesamtheiten ihrer Vergangenheiten aufbereiten und vermitteln, heißt, Wesentliches über eine Gesellschaft, Gruppe, Institution, Person zu verstehen. Ein wesentlicher Teil der historischen gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit besteht erstens aus vielschichtigen kommunikativen Bearbeitungen von Vergangenheit und zweitens aus der Vermittlung der Ergebnisse solcher Bear‐ beitungen über Generationen hinweg. Über kommunikative Vorgänge und Gattungen hinaus, deren Hauptfunktion Vergangenheitsvergegenwärtigung ist, dürften sich re‐ konstruktive Funktionselemente auch in vielen anderen, vor allem zukunftspla‐ 45 Derselbe Text, aber anders 8 Es muss wie bei Günthner auch hier betont werden, dass nur bestimmte, allerdings einflussreiche Ausrichtungen (z. B. Brinker) annehmen, jeder Text folge einer Textsorte; vgl. 3.1. nenden, moralisch-pädagogischen und - auf personaler und Gruppenebene - iden‐ titätsstiftenden kommunikativen Vorgängen und Gattungen finden.“ (Luckmann 2002: 179; Hervorhebung K. A.) Der Hinweis auf die identitätsstiftende Funktion solcher Gattungen stellt die Verbindung zur Varietätenproblematik her, auf die Luckmann auch explizit ein‐ geht. Dies führt auf die Frage nach der Festigkeit von Gattungen und der Be‐ deutung verfestigter Formen überhaupt zurück. Auer (1999: 177) erkennt als Fortschritt von Luckmanns Gattungsbegriff gegenüber dem der Textsorten, 8 er werde „nicht so weit, daß er sinnlos würde: nicht alles Sprechen findet in Gat‐ tungen statt“. Bei Luckmann heißt es dazu: „Wenn man alltägliche kommunikative Interaktionen von Angesicht zu Angesicht betrachtet und anhört, wird offensichtlich, daß gattungsartig festgelegte Inter‐ aktionen wie Inseln im Fluß weniger streng strukturierter kommunikativer Prozesse auftreten. Zweifellos kann ein Individuum in einigen kommunikativen Handlungen einem selbstgewählten Ablauf kommunikativer Schritte folgen, um das Ziel zu errei‐ chen, das es sich selbst gesetzt hat. Die Wahlen sind eingeschränkt von morpho-pho‐ netischen, syntaktischen und lexikalischen Regeln und von klassen-, milieu-, ge‐ schlechts-, alters- und situationsabhängigen Regelungen des Sprachgebrauchs.“ (2002: 179; Hervorhebungen K. A.; vgl. auch ebd.: 198) Der Hinweis auf eine Skala von Vorstrukturiertheit und die Auflistung der Va‐ riationsparameter zeigen, dass Luckmann einen denkbar weiten Phänomenbe‐ reich im Auge hat; angesichts des Anspruchs, eine soziologische Sprachtheorie zu entwickeln, kann das auch nicht erstaunen. Es fragt sich allerdings, welchen Stellenwert die Rückbesinnung auf die Einfachen Formen eigentlich hat. Halten wir vorerst nur - als wenig spektakulären Hinweis - fest, dass neben den in der Variationslinguistik im Vordergrund stehenden phonetischen, grammatischen und lexikalischen Variablen selbstverständlich auch die Kenntnis und der Ge‐ brauch von Gattungen gruppenbzw. varietätenspezifisch sein können. Luck‐ mann (vgl. 2002: 167) spricht dabei von der Außenstruktur kommunikativer Gattungen, die insbesondere relevante soziale Milieus und Situationen betrifft. Auf die Binnenstruktur komme ich etwas später zu sprechen, weil sich hier m. E. der Vergleich zum Ansatz von Fix als interessant erweist. Fix geht es aus textlinguistisch-rhetorisch-stilistischer Sicht darum, Text‐ sorten danach zu gruppieren, inwiefern sie in ihrer Oberflächenstruktur fest‐ 46 Kirsten Adamzik gelegt sind bzw. wie viel und welche Variation sie zulassen. Sie unterscheidet zentral drei Gruppen (Abb. 2): Zwischen den in der Rhetorik als Verbrauchsrede bezeichneten Gebrauchstexten und den für die Überlieferung ausgearbeiteten Texten (Wiedergebrauchsrede) siedelt sie als Reproduziertexte eben jene nicht absichtlich gestalteten kleinen Gattungen an, die Jolles mit Jacob Grimm auch als Naturpoesie bezeichnet. Sie weisen (schon aus mnemotechnischen Gründen) eine gewisse ästhetische Formung auf, sind aber für Variation relativ offen, während die echten Kunstwerke Änderungen nicht zuließen. 1 Zitiertexte in jeder Hinsicht festgelegte ästhetisierte Form; Wiedergebrauchsrede Choral; literari‐ sche Texte 2 Reproduziertexte durchgehaltener ästhetischer Gestus Märchen; Ein‐ fache Formen 3 Mustertexte mit signalhaften, die Textsorte indizierenden Merkmalen ohne grundsätzlichen Ästhetisierungsanspruch; Verbrauchs‐ rede Gutachten; Ge‐ brauchstexte 4 Abweichungs‐ texte erkennbar intendierte Abweichung zu Texten vom Typ 1-3 Antisprich‐ wörter Tab. 1: Textsortengruppen (nach Fix 2009 / 2013: 188, 201; vgl. auch Fix 2009b: 17 f.) „Im Fall der literarischen Texte sind Änderungen nicht möglich bzw. gar nicht ange‐ strebt. Wo mehrere Fassungen eines Textes vorliegen, wird man immer bemüht sein, die ‚authentischste‘ (Erstfassung, Fassung letzter Hand) herauszufinden. Die ‚Wie‐ derverwendung‘ literarischer Texte besteht darin, dass sie immer wieder neu rezipiert werden können, jeweils bezogen auf dieselbe Textoberfläche, aber durchaus in sehr verschiedenen Lesarten. Was die Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft mit li‐ terarischen und rituellen Texten bleibend installiert hat, ist ja nicht (nur) das Text‐ muster (type), das hat sie mit der Herausbildung von Gattungen bereits geschaffen. Es ist vielmehr […] das Textexemplar (token) selbst: z. B. die Novelle ‚Immensee‘ von Storm, das Kunstmärchen ,Vom hässlichen jungen Entlein‘ von Christian Andersen, der Choral ,O dass ich tausend Zungen hätte‘ und die christlichen Losungs- und Se‐ genssprüche.“ (Fix 2009 / 2013: 198 f.) Die Abweichungstexte kommen in der eigentlichen Gliederung nicht vor, son‐ dern werden erst am Schluss erwähnt. Sie stehen quer zu den drei Hauptgruppen und können auf allen dreien operieren. In diese Gruppe gehören auch die Bei‐ spiele [1] und [2] vom Anfang dieses Beitrags, die ich als Sprachspiele bezeichnet 47 Derselbe Text, aber anders 9 Diese schließt Fix (vgl. 2009 / 2013: Anm. 9) nur aus Platzgründen aus der Betrachtung aus. habe, um ihren besonderen Stellenwert hervorzuheben: Es handelt sich um ein eigenes Sinngebiet bzw. eine ‚Subsinnwelt‘. Es scheint mir nun sinnvoll, die Vorstellungen von Fix zusammenzubringen mit Luckmanns Rede von der kommunikativen Urproduktion, zumal Fix sich bei den strikt fixierten Textsorten (Gruppe 1) auf die Rezeption als Form der Tradierung und auf Lesarten als Varianten beschränkt. Für nicht ganz überzeu‐ gend halte ich es, rituelle und literarische Texte zusammenzugreifen und sie als Zitiertexte zu bezeichnen. Für beide Gruppen ist das Zitieren nämlich eine un‐ typische oder jedenfalls sekundäre Form der Weiterbearbeitung. Charakteris‐ tisch ist das Zitieren vielmehr für Wissenschaftstexte, 9 also die Gattungen, die die Aufgabe bearbeiten, Sonderwissen weiterzugeben. Sie sind - nach unserem Wissenschaftsverständnis - auf die auszugsweise Wiedergabe angelegt, an die sich dann Zustimmung, Kritik, Korrektur, Weiterentwicklung o. Ä. anschließt. Zitieren kann man natürlich auch alle anderen Arten von Texten. Für rituelle Texte, Choräle und von den literarischen mindestens für Dramen ist aber das Aufführen die charakteristischste Weiterbearbeitung. Insofern handelt es sich also auch um Texte, die zur Reproduktion gedacht sind, und zwar in eben jener kommunikativen Urproduktion, die den Sinn der Texte wieder neu lebendig macht: Ein Glaubensbekenntnis zu zitieren (Geistesbeschäftigung bzw. Sinnge‐ biet: Wissensvermittlung), ist etwas ganz anderes, als es zu sprechen, um die Illokution für den Sprecher zu aktualisieren (Sinngebiet: Religionsausübung). Auch der Ausdruck Mustertexte für die dritte Gruppe scheint mir insofern problematisch, als man unter Mustertexten gewöhnlich solche versteht, die als Muster bzw. Vorlagen für neue Texte fungieren (z. B. Musterbriefe oder -ver‐ träge). Wiederum würde man dies dem Sinngebiet Wissensvermittlung zu‐ ordnen, genauer: dem Vertrautmachen mit Konventionen mittels exemplarischer Realisierungen. Solche ‚Rezepte‘ samt Proben finden wir für Ge‐ brauchswie auch für Kunstformen oder sonst anspruchsvollere Texte, sie sind keineswegs mit der Regelpoetik ausgestorben. Es gibt Kurse und Lehrbücher nicht nur für wissenschaftliches, sondern auch für literarisches Schreiben (vgl. z. B. text-manufaktur.de oder schreibszene.ch), für Verkaufsgespräche, Verhöre, Predigten, interkulturelle Begegnungen usw. Nur bei solchen Lehr- und Übungsformen scheint es mir überhaupt sinnvoll zu sein, von der Tradierung von Gattungen zu sprechen. Normalerweise werden Gattungen dagegen nur implizit tradiert, und zwar indem entsprechende Texte tradiert werden. Das kann man ganz analog zum elementaren Fremdsprachenerwerb sehen: Gram‐ 48 Kirsten Adamzik matische Regeln kann man zwar explizit formulieren, lehren und lernen, der rezeptive und produktive Gebrauch von Sprache ist aber bekanntlich erheblich bedeutsamer und vor allem wirksamer. Wenn es um ein hohes Niveau der Sprachbeherrschung geht, sagen wir die legendäre Stufe C2 des Referenzrah‐ mens, die sich auch in der Muttersprache nicht von selbst einstellt, lässt sich eigentlich kaum vorstellen, wie man sich die entsprechenden Kompetenzen bzw. Wissensbestände anders aneignen könnte als durch die Rezeption entspre‐ chender Texte. Dabei sollte man die Aufmerksamkeit auch auf die Form richten (vgl. in diesem Sinne das Lehrbuch von Graefen / Moll 2011 und Adamzik 2018b: 291 f.). Die klassifikatorische Herangehensweise, die Texte nur als Produkte in den Blick nimmt, stößt hier grundsätzlich an ihre Grenzen: Sie kann nicht erfassen, dass man mit Texten auch anders umgehen kann, als es der Produzent beab‐ sichtigt hat (vgl. dazu auch Adamzik 2016: Kap. 5.4.). So kann sich jeder selbst Texte zum Vorbild nehmen und sie nachahmen. Dazu gibt es eine interessante Passage bei Luckmann, in der er die Gegensätze zwischen oralen Gesellschaften und den heutigen Verhältnissen unterstreicht: „Sowohl strukturell als funktional als auch hinsichtlich der Trägerschaft, des Mi‐ lieus etc., herrschen im allgemeinen bei mündlichen Genres in ‚mündlichen‘ Kul‐ turen ziemlich klare Verhältnisse. Bei schriftlichen Genres in Schriftkulturen ist die Sache wegen ihrer Verfügbarkeit in Texten zwar einerseits einfacher, wegen des Nebeneinanders mündlicher und schriftlicher Genres aber zugleich auch unüber‐ sichtlicher. Bei mündlichen Gattungen haben wir es meist mit kommunikativen Formationen zu tun, die in literarischen Genres gar nicht oder nur in radikal ver‐ wandelten Entsprechungen auftreten. Sie werden aber von Menschen verwendet, die in einer massenhaft verschrifteten Kultur leben. So kommt es zu merkwürdigen Brechungen und Transformationen. Diese werden in modernen Gesellschaften durch die elektronischen Massenmedien noch vervielfacht. Nicht nur reden Leute nach der Schrift, manche führen Gespräche nach der Literatur, erzählen Witze nach Witzsammelbänden, führen Verkaufsgespräche nach Textbüchern, umwerben ihre Liebste nach filmischen Vorlagen, antworten in Interviews wie sie unzählige an‐ dere (Sportler, Schauspieler, Politiker, ‚repräsentative‘ Alltagsmenschen) in Fernseh-Interviews antworten gehört und gesehen haben.“ (Luckmann 2002: 173 f.; Hervorhebungen im Orig.) Texte, die einem Muster folgen (Fix‘ Gruppe 3), gehören der alltäglichen Le‐ benswelt an, in der ständig konkrete Einzelprobleme zu bearbeiten sind. Hier ist es besonders sinnvoll, von Routinisierung zu sprechen, die das Individuum entlastet, während rituelle Texte wie Glaubensbekenntnisse möglichst nicht 49 Derselbe Text, aber anders routinehaft realisiert werden sollten - das nähme ihnen ihren spezifischen Sinn. Auch rituelle Texte sind allerdings vor Variation nicht geschützt. Das ist uns nicht zuletzt aus der christlichen Tradition vertraut und wird gerade im Lu‐ therjahr anlässlich einer neuen Übersetzung viel diskutiert. Thomas Cramer berichtet in diesem Zusammenhang von einer regelmäßig misslingenden kom‐ munikativen Urproduktion. Er geht aus von einem subjektiven „Erlebnis, dass [sic] sich indessen, wie ein naturwissenschaftliches Experiment zu jeder beliebigen Zeit wiederholen lässt, indem man einem protestantischen Gottes‐ dienst beiwohnt. Gegen dessen Ende fordert der Pfarrer die Gemeinde auf, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Die Gemeinde erhebt sich und wartet darauf, ob der Vorbeter, wie angekündigt, das Vaterunser oder, wie meist, ein Unservater betet. Das gemein‐ same Gebet setzt so wie ein schlecht dirigiertes Orchester mit einer kleinen Stolper‐ kadenz ein. Das wäre abzufangen, stellten nicht die folgenden Worte völlig unter‐ schiedliche Lesarten dar: ,im Himmel‘, ,in dem Himmel‘, oder, wie ich es als Konfirmand gelernt habe: ,der du bist im Himmel‘, - und so geht es Satz für Satz, bis endlich die Variante ,erlöse uns von dem Übel,‘ [sic] bzw. ,Erlöse uns von dem Bösen‘ dem kakophonischen Gemurmel ein Ende macht, denn merkwürdigerweise bleibt die doxologische Formel unangetastet.“ (Cramer 2013: 123) Ähnliches kann man auch beobachten, wenn die (deutsche) Nationalhymne ge‐ sungen wird, während Mitglieder von Fußball-Fanclubs ihre Schlachtenlieder bestens beherrschen und vollster Überzeugung lautstark artikulieren. Der Ver‐ gleich dieser beiden Konstellationen, in denen die identitätsstiftende Kraft von Gruppentexten (vgl. Adamzik 2018a) ganz unterschiedlich gut funktioniert, ver‐ deutlicht m. E. besonders gut den Nutzen des Rückgangs auf die Mündlichkeit als kommunikative Urproduktion. Man muss Gottesdiensten beiwohnen und an Interaktionen unter Jugendlichen teilnehmen, um über das Funktionieren der jeweiligen Varietäten Aufschluss zu gewinnen. Da wir aber in einer massenhaft verschrifteten und außerdem noch durch elektronische Medien geprägten Kultur leben, ist es ganz abwegig, mündliche Gattungen und schriftliche Text‐ sorten einander entgegenzusetzen, statt sie aufeinander zu beziehen. So gesehen ist die Betonung der grundsätzlichen Flüchtigkeit mündlicher Interaktion (etwa im Sinne von Fiehler u. a. 2004) eigentlich kontraproduktiv und führt auch auf die Frage, wieso man denn eigentlich so viel Aufwand in die Untersuchung von Prozessen investieren sollte, die erklärtermaßen nur für den Moment gedacht sind und keinen darüber hinaus weisenden Sinn implizieren. Nach Luckmanns Ansatz sind die unzähligen Einzelinteraktionen ebenso wie fixierte Texte da‐ gegen als Elemente eines Kreislaufs zu verstehen, ohne die kollektiver Sinn eben nicht ‚erzeugt, vermittelt und reproduziert‘ (s. o.) werden kann. 50 Kirsten Adamzik Wir müssen nun noch auf die Sprachgebärde kommen. Fix interpretiert diese als eine die Form betreffende Kategorie: „Unter Sprachgebärde versteht Jolles den formulierenden, sprachlich gestaltenden Zu‐ griff auf die Welt, die spezifische Gestalt/ Gestaltetheit der Textoberfläche, […], die er für den spezifischen Fall der Einfachen Formen, für Typen mündlichen, aber sich in festen Bahnen bewegenden Erzählens und auch für schriftliche Texte beschreibt. Die Sprachgebärde, die Textlokution, meint alles das, was an einem Text sprachlich-for‐ mulativ nicht fehlen darf, damit der Text als bestimmte Einfache Form, z. B. als Mär‐ chen, erkannt wird. Das reicht von den sprachlichen Bildern bis hin zu allen lexika‐ lisch-morphologisch-syntaktischen Mitteln, die am Ausdruck des Gestus beteiligt sind.“ (Fix 2009 / 2013: 193; Hervorhebungen im Orig.) Bei Luckmann, der diesen Begriff nicht ausdrücklich kommentiert, ist die Sprachgebärde auf jeden Fall der Binnenstruktur von Gattungen zuzuweisen; diese besteht aus „Gesamtmustern recht verschiedenartiger Elemente: aus Worten und Phrasen, Ge‐ samtregistern, Formeln und formelhaften Blöcken, rhetorischen Figuren und Tropen, Stilmitteln wie Metrik, Reimschemata, Listen, Oppositionen, Lautmelodien, Handbe‐ wegungen, Körperhaltungen, Mienen.“ (Luckmann 2002: 167) Diese beiden Bestimmungen sind einander recht ähnlich. Bei der Erwähnung von Worten und Phrasen bzw. lexikalischen Mitteln, Tropen und Bildern kann man sich allerdings fragen, ob damit die Stilschicht/ der Typ gemeint ist oder aber konkrete Einheiten, anders gesagt: Geht es nur um die Mittel, an denen man z. B. erkennt, dass es sich um ein Märchen handelt, oder auch um die, die erkennen lassen, dass es Dornröschen ist? Wir kommen also wieder auf die am Ende von 3.2 erwähnten Makro- und Superstrukturen zurück. Greift man auf Jolles‘ Erläuterung dieses Begriffs zurück, so wird klar, dass es jedenfalls auch um (Makro-)Propositionen geht. Genauer gesagt, soll Sprachgebärde offensichtlich den Ausdruck Motiv ersetzen. Das ergibt sich aus einer im historischen Abstand (zumindest für Sprachwissenschaftler) schwer nachvollziehbaren Kritik an „der sogenannten Motivforschung“ ( Jolles 1930 / 1999: 268). Im Anschluss an Nietzsches Definition des musikalischen Motivs als ‚einzelner Gebärde des musikalischen Affekts‘ (vgl . ebd.: 45) wird einzelne Ge‐ bärde der Sprache oder kurz: Sprachgebärde als geeigneter Ersatzbegriff für Motiv bestimmt. So dunkel diese expliziten Hinweise bleiben, so dankbar ist man doch für die damit gegebene Orientierung. Sie bestätigt sich endgültig in der Bei‐ spieldiskussion, in der es um den Heiligen Georg geht: 51 Derselbe Text, aber anders „In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebärden: Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Erscheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand aus‐ streckt, Götter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzes unterwerfen, Götterbilder, die zerspringen und so weiter.“ ( Jolles 1930 / 1999: 46) Das Bild vom Heiligen Georg entwickelt sich weiter und es kommen als Sprach‐ gebärden/ Motive später vor allem noch Drachentöter und Befreier der Jungfrau hinzu. Inwiefern nun nicht nur der Inhalt, sondern auch die sprachliche Fassung (die allerdings in diversen Sprachen notwendigerweise verschieden ist) relevant für die Identifizierung einer Sprachgebärde ist, kann dahingestellt bleiben. Je‐ denfalls lässt sich mit Jolles die irritierende Praxis überwinden, viel von der Überlieferung von Mustern, aber kaum von der von Inhalten zu sprechen. Nur wenn beides zusammenkommt, kann die Parallelisierung von Texten mit Wör‐ tern greifen, wenn man also Gattungen auf einer Abstraktionsebene ansiedelt, die etwa der von Wortarten vergleichbar ist, während virtuelle Texte Lexemen entsprechen. Die Gattung Märchen wird überliefert, indem man einzelne Märchen erzählt, neue erfindet oder überlieferte Märchen neu erzählt, bebildert, aufführt, verfilmt usw. Dabei geht es zunächst um Inhalte. Wenn man das Märchen vom Rotkäpp‐ chen aktualisiert, dann muss darin eine Gestalt vorkommen, die man als Rot‐ käppchen (oder als Wiedergängerin von ihr) identifizieren kann, ferner der Wolf. Varianten könnten sein: eine gelbe oder grüne Kappe, rote Haare, rote Socken, Mensch namens Wolf(gang) usw. Für Rotkäppchen existieren tatsächlich be‐ sonders viele „Abweichungstexte“, die das Märchen in diverse Varietäten trans‐ ponieren und dabei teilweise dem Sprachgestus des Märchens vollständig zu‐ widerhandeln (vgl. Ritz 2013). Dann haben wir tatsächlich gar keine (echten) Märchen mehr vor uns, d. h. die Geistesbeschäftigung ist eine andere, z. B. das Spiel mit Tradiertem, mit dem man sich davon ironisch distanziert und es doch gleichzeitig ‚sich anverwandelt‘. Man könnte diese Versionen genauer untersu‐ chen, um festzustellen, welche Varianten vorkommen, was nötig, aber auch ausreichend ist, um den virtuellen Text wiederzuerkennen und ihn so im kol‐ lektiven Gedächtnis zu befestigen. Das Gleiche kann man nicht nur mit anderen Reproduziertexten, sondern auch Texten anderer Gruppen durchführen. Dabei ist immer zu beachten, dass Fragmente bzw. einzelne (Makro-)Propositionen, d. h. Bausteine aus der Ge‐ samtstruktur, ausreichen, um Texte in Erinnerung zu halten. Aus dem Kunst‐ märchen von Andersen ist ein Motiv in das kollektive Gedächtnis eingegangen, das in allen möglichen Texten wiederaufgenommen werden kann, nämlich das hässliche Entlein, das zum schönen Schwan wird; es eignet sich hervorragend für die moralische Gattungsfamilie. 52 Kirsten Adamzik Damit können wir zur Gegenüberstellung des Ansatzes von Fix und Luck‐ mann kommen. Fix ist näher bei den abstrakteren Ebenen: In aller wünschens‐ werten Deutlichkeit kennzeichnet sie sowohl Dornröschen als auch Vom hässli‐ chen jungen Entlein als tokens einer Gattung, eines types. Die potenziell variante Realisierung des Märchens Dornröschen (z. B. von Perrault oder Grimm, aber auch diverse Vorleseakte der Fassung von Grimm) steht nicht im Fokus - in diesem Fall werden die einzelnen Märchen, Fix‘ ,Textexemplare‘, verstanden als type (dazu, dass types und tokens auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden können, vgl. Adamzik 2015: Kap. 2.1). Luckmann äußert sich nach meinem Kenntnisstand zwar theoretisch nicht sehr klar zu der Frage, auf welcher Abstraktionsebene kommunikative Gat‐ tungen anzusiedeln sind. Es müssen aber sicherlich mehrere Niveaus unter‐ schieden werden, die Bearbeitungen sind eben vielschichtig (s. o.). Ob sich diese Niveaus klar gegeneinander abgrenzen lassen, sei dahingestellt: Ich möchte nur einige Beispiele nennen: Wenn man Klatsch als Gattung definiert, ist in erster Linie die Außenstruktur angesprochen. Inhaltlich können damit eigentlich nur allgemeiner bekannte, insbesondere moralische Topoi gemeint sein. Ein ‚Klatsch-Exemplar‘ im Sinne von Fix besteht dann aus (einer Serie von) Interaktionen, deren Inhalte (insbe‐ sondere die gemeinsam bekannten und besprochenen Personen und ihr bedenkliches Verhalten) identifikationsstiftend für ein relativ kleines Kollektiv sind. Was die nach Luckmann so wichtigen rekonstruktiven Gattungen angeht, so konstituiert die gemeinsame Kenntnis etwa der Gattung biografische Erzäh‐ lung wohl kaum ein relevantes Kollektiv. Eine Sonderform für das Minimal‐ kollektiv, nämlich ein Paar (Wie haben wir uns kennengelernt? ), ist allerdings insofern kulturspezifisch, als sie in vergleichbarer Form nicht vorkommen dürfte in Gesellschaften, in denen Eltern oder Verwandte Ehen vereinbaren. Stark identifikationsstiftend für die Paare ist aber auch bei uns nur die jeweilige Geschichte oder die ‚Sprachgebärde‘: der verpasste Zug, die verlorene Handtasche, der Autounfall usw. Das gemeinsame Erinnern an die Erstbegegnung oder auch an andere geteilte Erlebnisse (Weißt du noch …? ) kann rituellen Charakter an‐ nehmen und an Jahrestagen zelebriert werden o. Ä. Außerdem werden diese und andere zentrale Episoden aus der Familiengeschichte wie die Geburt der Kinder, der Tod von nahen Angehörigen, Feiern usw. über die Generationen weitergegeben und bevorzugt beim gemeinsamen Betrachten von Fotoalben (demnächst vielleicht eher Videos) erzählt. Dazu gehören auch familienspezifi‐ sche Wörter und Wendungen (Onkel Fritz sagte immer …), einschließlich der originellen Kreationen sprachlernender Kinder. Es ist aber nicht ausgeschlossen, 53 Derselbe Text, aber anders dass Derartiges auch eine weitere Verbreitung erfährt. Es gibt sogar einen Verlag für Kindermund (kindermund.de). Um auf die Erstbegegnung von Paaren zurückzukommen, so geht es auf einem mittleren Abstraktionsniveau etwa darum, ob es sich um einen Fall von Liebe auf den ersten Blick handelt oder gerade nicht, ob die Beziehung eigentlich als ,ausgemacht‘ galt, dann aber doch zu einer unerfüllten Jugendliebe wird (wie in Immensee) oder anders herum eine eigentlich undenkbare Beziehung doch noch zustande kommt (wie in einer anderen Novelle von Storm, Pole Poppen‐ späler). Schriftsteller verarbeiten Erlebtes oder auch Gehörtes/ Gelesenes (wie Goethe im Erlkönig, Flaubert in Madame Bovary) in literarischen Texten, Inter‐ preten spüren dann den diversen Bezügen nach, bestimmte Figuren werden zu Typen, die Haltungen, Leistungen oder sonst etwas repräsentieren (Robin Hood, Eulenspiegel, Obelix, Homer Simpson, Einstein, Cassius Clay, Marilyn Monroe, …) - kurz gesagt: Wenn Personen oder Ereignisse eine Bedeutung für eine Ge‐ meinschaft haben, gehen sie in Texte ein, und wenn Texte für eine Gemeinschaft Bedeutung haben, werden diese in verschiedenster Weise bearbeitet, so dass Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats auf vielerlei Art in Kollek‐ tiven zirkulieren. Sie gehen nur dann in deren Gedächtnis ein, wenn sie, um auf Luckmanns Ausdruck zurückzukommen, in kommunikativen Urproduktionen immer wieder aktualisiert werden bzw., um auch Dürscheids Redeweise aufzu‐ nehmen, wenn sie Bestandteil der dialogischen Prozesse bleiben, die allein Kol‐ lektive konstituieren können. Was Berühmtheiten aus verschiedenen Welten angeht, so geschieht dies nicht zuletzt auf Maskenfesten, in denen man in deren Gestalt schlüpft. Zu dieser Sichtweise passt natürlich die Auffassung nicht, dass es sich bei Texten (oder gar Gattungen) um statische Gebilde handelt, die fixiert wären. Selbstverständlich gibt es solche Fixierungen, genauer gesagt: virtuelle Texte (und ihre Bestandteile) werden immer wieder neu fixiert, materialisiert, und es ist auch sinnvoll, diese verschiedenen Fixierungen zu studieren, aber der Sprach‐ gebrauch besteht nicht in den Produkten, sondern den Prozessen ihrer Herstel‐ lung, Ver- und Weiterbearbeitung. Zum Abschluss soll noch auf die Gattung der Texte eingegangen werden, die der Vermittlung von Allgemein- und Sonderwissen dienen, speziell auf wis‐ senschaftliche Texte, also den Prototyp von ‚Zitiertexten‘ im engeren Sinn. Im Prinzip unterscheiden sie sich hinsichtlich der Überlieferung nicht von an‐ deren Texten (mit Überlieferungswert). Eine Besonderheit besteht allerdings darin, dass die kritische Prüfung und Weiterentwicklung ihrer Inhalte (in un‐ serer Gesellschaft) ausdrücklich vorgesehen sind, sie also immer nur bis auf Weiteres Geltung haben. Darüber, was zitierenswerte Texte sind, ‚entscheiden‘ 54 Kirsten Adamzik 10 Luckmann, für den Kanon und Zensur besonders relevante Phänomene der Aushand‐ lung des gesellschaftlich relevanten Wissens sind (vgl. Luckmann 2002: 157 und die dortigen Verweise), mag auch durch Jolles‘ Legenden-Kapitel inspiriert worden sein. Dort wird nämlich sehr ausführlich der Kanonisierungsprozess behandelt, also die strengen Regeln für Heiligsprechungen, zu denen gehört, dass mehrere Zeugen münd‐ lich aussagen müssen. Vgl. auch Adamzik (2016: 168) zur Bedeutung leiblicher Koprä‐ senz bei Zeremonien. Kollektive, sie bringen sie nämlich erst als solche hervor. Das geschieht wohl meist über die Unzahl unscheinbarer Akte, deren Ergebnis schließlich als Wirken einer unsichtbaren Hand erscheint, es kann aber auch formalisierte Verfahren umfassen. Im elementaren Sinne ist es für die Umwandlung eines virtuellen Textes, sei es in ein anerkanntes Kunstwerk, sei es in einen wissenschaftlichen Klassiker, für die Kanonisierung also, 10 notwendig, dass er veröffentlicht und immer wieder neu materialisiert wird. Ich beziehe mich auf die hier besprochenen Au‐ toren und damit Verwandtes: Jolles (1930) und Berger / Luckmann (1966) sind kontinuierlich (übersetzt und) wieder neu aufgelegt worden, die Aufsatzsamm‐ lung von Luckmann (2002), in der auch ältere Texte erstmals (auf Deutsch) pub‐ liziert sind, ist dagegen derzeit nicht mehr im Handel. Manche publizierten Werke geraten in Vergessenheit, werden aber später wiederentdeckt. Dazu ge‐ hört z. B. die einzige Monografie von Alfred Schütz, die schon zu seinen Leb‐ zeiten (nämlich 1932) erschienen ist und die heute als Klassiker gilt. Dasselbe lässt sich für Ludwik Fleck (1935) feststellen, dessen (höchst lesenswertes) Werk hier schon deshalb erwähnt werden muss, weil er selbst darin den Gedanken ausführt, dass auch (natur-)wissenschaftliche Tatsachen das Produkt von Denk‐ kollektiven darstellen (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 5.2.). Die wiederholte Materialisierung des virtuellen Texts (im vollständigen und unangetasteten Wortlaut) und selbst die breite individuelle Rezeption dieses Textes sind aber nicht einmal notwendig, um ihn dem kollektiven Gedächtnis bzw. dem Gedächtnis bestimmter Kollektive einzuverleiben. Das hat besonders Kuhn für die Naturwissenschaften hervorgehoben, in denen Lehrbücher (statt die Originalwerke der Heroen dieser Wissenschaft) eine herausragende Rolle spielen (vgl. Kuhn 1976: 177). Für die Kanonisierung sind viel entscheidender als die Lektüre des Textes durch alle Mitglieder des Kollektivs andere Formen der Weiterbearbeitung, eben das Zitieren, Besprechen, Erwähnen, Zusammen‐ fassen sowie alle Formen, in denen nur einzelne Bausteine aufgegriffen und wieder neu in den kommunikativen Haushalt eingespeist werden, seien es nun (Makro-)Propositionen, Begriffe (wie z. B. Geistesbeschäftigung, Denkstil, Sub‐ sinnwelt, Sprachgebärde, kommunikative Urproduktion usw.) oder charakteristi‐ 55 Derselbe Text, aber anders sche Formulierungen. Besonders wirksam ist es, wenn man das, was früher Sonderwissen war, zu Allgemeinwissen deklariert, indem man es auf (schuli‐ sche) Lehrpläne setzt und entsprechend in Lehrmaterial aufbereitet. Das betrifft sowohl wissenschaftliche als auch literarische Texte und beide werden dabei, sofern sie einen bestimmten Umfang überschreiten, nicht nur massiv gekürzt, sie können auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden (für Beispiele vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.2. und 5.5.). Man darf hoffen, dass das dann in kommu‐ nikativer Urproduktion, nämlich im Unterrichtsgespräch, wieder korrigiert wird. 5 Fazit Anliegen des Beitrags war es, den mit der Tagung angestoßenen Austausch zwischen der Variationslinguistik und anderen Subdisziplinen näher zu be‐ gründen, und zwar in einer Zeit, in der Interdisziplinarität eigentlich groß ge‐ schrieben wird, zugleich aber der Druck zu innovativer Spitzenforschung so stark ist, dass selbst an den ,gleichen Gegenständen‘ arbeitende und traditionell kooperierende Forschungsrichtungen sich leicht zu einer Menge hochspeziali‐ sierter Sonderzweige auseinanderentwickeln, denen (verständlicherweise) mehr an der eigenen Profilierung als an gemeinsamen Grundlagen und Zielen gelegen ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die getrennte Behandlung von Münd‐ lichkeit und Schriftlichkeit, die in der frühen Textlinguistik ausdrücklich zu‐ rückgewiesen wurde. Von weitem gesehen behandeln auch Variations- und Textlinguistik den‐ selben Gegenstand, nämlich den Sprachgebrauch, ein ausgeprägtes Bewusstsein der (potenziellen) Gemeinsamkeiten hat sich aber nie entwickelt. Wenn man die Untersuchung von Variablen und Varianten als Kern der Variationslinguistik betrachtet, so sind Untersuchungsansätze, die sich auf Texte als fixierte Produkte konzentrieren, von diesem Interessenschwerpunkt allerdings auch relativ weit entfernt. Hier wurde die Voraussetzung, beide Subdisziplinen wendeten sich gleicher‐ maßen gegen die Systemlinguistik, als nur vordergründige Gemeinsamkeit betrachtet, die einer antagonistischen Betrachtung von Langue vs. Parole ent‐ springt und zu wenig produktiven Extrempositionen verleitet. Die Rückbesin‐ nung auf weitere Nachbardisziplinen und Forschungstraditionen ist hilfreich, wenn nicht notwendig, um allzu verengte methodische Ansätze zu vermeiden. Diesem Vorgehen entsprechen die Arbeiten von Ulla Fix und Thomas Luck‐ mann, die beide mündlich tradierte Gattungen als Paradebeispiel für Texte mit 56 Kirsten Adamzik relativ großem Variationsspielraum behandeln und dabei auf die klassische Studie von André Jolles zurückgreifen. So erhellend die Ausführungen zu Reproduziertexten und kommunikativen Gattungen sind, so problematisch scheint es mir allerdings, sie anderen Arten von Texten scharf entgegenzustellen. Dies entspricht m. E. auch nicht der Ab‐ sicht Luckmanns, zumal die angestrebte soziologische Sprachtheorie ja unmög‐ lich die wichtigsten Werkzeuge hochentwickelter Gesellschaften außer Acht lassen könnte, mit denen Sinn produziert und tradiert wird, nämlich schriftliche Texte. Ein Desideratum der soziologischen Forschung hatte Luckmann darin gesehen, dass sie sich nicht mit der Frage befasst hat, wie sich diese Sinnerzeu‐ gung im Einzelnen vollzieht. Als Antwort auf diese Frage betrachte ich seine Metapher von der kommunikativen Urproduktion. Sie ist zugleich geeignet, der extremen Expansion des Kommunikationsbegriffs entgegenzutreten, die auch diesen sinnlos macht: „Nicht alles an menschlichen Begegnungen, ja nicht einmal alles, was für den einen oder anderen Beteiligten als sinnvoll erscheint, ist Kommunikation. Gedanken und Gefühle des einen können vor dem anderen verborgen werden. Überdies ist auch nicht jede Kommunikation sogleich kommunikative Interaktion. Gedanken und Gefühle können manchmal nicht vor dem anderen verborgen werden - und manchmal sollen sie das auch nicht. Wann immer menschliche Wesen kopräsent sind, bilden ihre Körper (mögliche) Ausdrucksfelder, und diese Ausdrücke können in vergleichsweise syste‐ matischer, wenn auch nicht immer sehr verläßlicher Weise gedeutet werden, und zwar auch dann, wenn sie nicht Teile von mimetischen, gestischen, taktilen oder olfakto‐ rischen Zeichensystemen sind. Die empirisch bedeutsamste Form der Kommunikation ist jedoch die soziale Interaktion.“ (Luckmann 2002: 187) Zentrale These dieses Beitrags ist, dass zum kollektiven (Sprach-)Gedächtnis bestimmter Gruppen nicht nur Lexeme, feste Wendungen und Muster diverser Ebenen gehören, sondern auch Texte. Diese müssen immer wieder aktualisiert werden, um die Identität des Kollektivs zu bestätigen und fortzuschreiben; dabei treten sie unweigerlich in vielen Varianten auf. Man könnte allerdings sagen, dass damit nur die Erkenntnis von Humboldt wiederholt wird: Sprache „selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“ (vgl. Luckmann 2002: 159). Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten 2010: Sprache: Wege zum Verstehen. Tübingen / Basel, 3., überarb. Aufl. 57 Derselbe Text, aber anders Adamzik, Kirsten 2015: Das Wort im Text. In: Ulrike Haß / Petra Storjohann (Hg.): Hand‐ buch Wort und Wortschatz. Berlin / Boston, 152-174. Adamzik, Kirsten 2016: Textlinguistik. 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Zum anderen ist es möglich, diese textsortenspezifische sprachliche Variation induktiv korpuslinguistisch zu ermitteln. Auf beide An‐ 1 Als prototypische kochrezeptdefinierende Verbform gilt auch die man-Konstruktion, der sogenannte adhortative Konjunktiv (z. B. Man nehme). Bemerkenswerterweise wird dieser jedoch korpuslinguistischen Untersuchungen zufolge nur selten verwendet. Daran zeigt sich, dass das „Prototypische nicht immer das Typische ist“ (Titel von Donalies 2012). nahmen soll im Rahmen dieser Einleitung genauer eingegangen werden, bevor ein kurzer Überblick über die weiteren Kapitel gegeben wird. Bei meinen Überlegungen zur textsortenspezifischen sprachlichen Variation gehe ich von einer Wechselbeziehung von Text, Stil und Situation aus: Unter Stil wird das situationsbedingte Wie einer sprachlichen Gestaltung verstanden. Stil manifestiert sich in Texten, und einzelne Texte, aber noch viel mehr Textsorten zeichnen sich durch einen typischen Stil aus (vgl. ausführlich Kap. 4.1). Texte wiederum sind immer in eine Kommunikationssituation eingebunden, entspre‐ chend ist auch der Stil eines Textes und einer Textsorte situativ determiniert. Die oftmals als vage empfundene Kategorie Stil wird im Aufsatz präzisiert durch die Verknüpfung von Stil und Typizität bzw. Musterhaftigkeit: Der Grund für die Wirkung und Wahrnehmbarkeit von Stil liegt in der Typizität von Texten und Textsorten und dem Vorhandensein wiederkehrender Muster. Wie lässt sich nun diesen Mustern nachspüren? Welche Muster kennzeichnen den Stil einer jewei‐ ligen Textsorte und weichen von den Mustern in einer anderen Textsorte ab? Denkt man an sprachlich stark konventionalisierte Textsorten wie das Märchen oder das Kochrezept, so fallen auf Anhieb typische sprachliche Muster ein wie Es war einmal … im Märchen oder der Infinitiv (z. B. Die Eier schaumig rühren) im Kochrezept. 1 Solche Muster sind im expliziten Wissen über textsortenspezifi‐ schen Sprachgebrauch verankert. Doch nicht nur sie kennzeichnen den typi‐ schen Sprachgebrauch einer jeweiligen Textsorte. Vielmehr ist davon auszu‐ gehen, dass es neben diesen augenfälligen, uns bewussten sprachlichen Mustern weitere Muster gibt, deren Musterhaftigkeit uns nicht bewusst ist. Solche Muster werden intuitiv verwendet, und ihre Musterhaftigkeit lässt sich auch nicht durch ein Reflektieren über den Sprachgebrauch erschließen. Denn diese Muster sind gerade aufgrund ihrer Alltäglichkeit unscheinbar (vgl. Linke 2011: 39; Sinclair 1991: 4; Steyer 2013: 13). Sie kennzeichnen den Sprachstil in einer Textsorte, ent‐ ziehen sich aber in ihrer Unauffälligkeit auch dem Blick von uns Forschenden und lassen sich mit einer deduktiven Herangehensweise nicht offenlegen. Sprachgebrauchsmuster in diesem Sinne zeichnen sich durch wiederkehrenden Gebrauch aus (Rekurrenz), sie sind konventionalisiert und an einen spe‐ zifischen Verwendungskontext, in diesem Fall die Textsorte, gebunden und für diesen Kontext (die Textsorte) typisch (vgl. Bubenhofer 2009). Sie lassen sich mittels einer induktiven korpuslinguistischen Analyse aufdecken. Diese Me‐ thode hat doppelten Nutzen: Neben der Analyse des musterhaften Sprachge‐ 62 Sarah Brommer 2 An dieser Stelle ist noch anzumerken, dass in vielen korpuslinguistischen Arbeiten nur mehrgliedrige Muster berücksichtigt werden, wenn es um musterhaften Sprachge‐ brauch geht (vgl. Bubenhofer 2009; Sanderson 2008; Steyer 2013; Tognini-Bonelli 2001). Sprachgebrauchsmuster werden dann aufgefasst als Verbindung aus mehreren (min‐ destens zwei) Einheiten. Das Kriterium der Mehrgliedrigkeit ist meines Erachtens aber kein notwendiges Kriterium für die Begriffsbestimmung. Denn mit Blick auf den mus‐ terhaften Sprachgebrauch einer Textsorte geht es nicht darum zu untersuchen, welche Wörter typischerweise gemeinsam auftreten. Das Interesse gilt vielmehr der Frage, was typisch für eine bestimmte Textsorte ist - und dies zu klären, ist auch für einzelne Wörter relevant; auch der Gebrauch einzelner Wörter kann musterhaft sein. brauchs einer einzelnen Textsorte lässt sich analysieren, worin sich der Sprach‐ gebrauch einer Textsorte vom Sprachgebrauch einer anderen Textsorte unterscheidet. Damit leistet die induktive korpuslinguistische Analyse von mus‐ terhaftem Sprachgebrauch einen Beitrag zur Bestimmung der textsortenspezi‐ fischen sprachlichen Variation. Im Folgenden wird nun zunächst die korpuslinguistische Perspektive auf Musterhaftigkeit dargelegt, um das methodische Vorgehen zu verdeutlichen (Kap. 2). Sodann werden Bezüge zur Textlinguistik (Kap. 3) und zur Stilistik (Kap. 4) aufgezeigt, welche die hier kurz angerissenen textlinguistischen und stilisti‐ schen Überlegungen vertiefen. Abschließend werden induktiv korpuslinguis‐ tisch ermittelte Muster als Grundlage der Text- und Stilanalyse beschrieben (Kap. 5). Eine kurze Zusammenfassung rundet den Beitrag ab. 2 Die Musterhaftigkeit von Textsorten korpuslinguistisch ermitteln Die Musterhaftigkeit einer Textsorte kann sich in verschiedener Hinsicht zeigen, bspw. in der Wahl des Mediums, der Art der Textstrukturierung und graphischen Gestaltung, der Adressatenorientierung und nicht zuletzt auf der Textober‐ fläche, im musterhaften Gebrauch einzelner Wörter und Wortverbindungen. All diese verschiedenen Arten von Mustern sind aus pragmatischer, sprachge‐ brauchsanalytischer Sicht relevant, wenn es darum geht, die Musterhaftigkeit von Textsorten zu beschreiben. Auch die Korpuslinguistik verfolgt diese sprach‐ gebrauchsanalytische Perspektive, indem sie davon ausgeht, dass erstens Muster als Sprachgebrauchsmuster an der sprachlichen Oberfläche zu verorten sind, dass sich zweitens musterhafter Sprachgebrauch in der für einen be‐ stimmten Sprachausschnitt typischen Verwendung von einzelnen Wörtern und Wortverbindungen zeigt und dass sich drittens diese Ausdruckstypik „als sta‐ tistisch messbare Kookkurrenz operationalisier[en]“ (Feilke 2012: 24) lässt (vgl. auch Bubenhofer 2009). 2 63 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln Mittels des Korpusvergleichs soll die Ausdruckstypik offengelegt bzw. ermit‐ telt werden, also der für den ausgewählten Sprachausschnitt im Vergleich zu einem anderen Sprachausschnitt musterhafte Sprachgebrauch. Das Vorgehen erfolgt weitestgehend automatisiert, indem der Computer möglichst viele vor‐ strukturierende Arbeitsschritte abnimmt. Musterhaftigkeit wird als statistische Signifikanz aufgefasst und mittels computerlinguistischer Methoden und Werk‐ zeuge ermittelt (s. Kap. 5). Die computergestützte Analyse ermöglicht es, große Textmengen auszuwerten und die Ergebnisse empirisch breit abzustützen. So lässt sich die Frage, was für eine bestimmte Textsorte musterhaft ist, losgelöst von subjektiven Einschätzungen und einzelnen Textexemplaren beantworten. Doch nicht nur lässt sich - mit Blick auf die synchrone Variation - ermitteln, was für eine bestimmte Textsorte im Vergleich zu einer anderen Textsorte mus‐ terhaft ist. Durch den Vergleich von Textsortenexemplaren aus verschiedenen Zeiten lässt sich auch offenlegen, wie sich der musterhafte Sprachgebrauch in‐ nerhalb der entsprechenden Textsorte gestaltet und ggf. verändert (hat). Auf diese Weise lässt sich diachrone Variation analysieren. Die Idee, musterhaften Sprachgebrauch korpuslinguistisch zu analysieren, lässt sich auch im Rahmen einer textlinguistischen und stilistischen Analyse fruchtbar machen. Denn das Konzept von Muster bzw. Musterhaftigkeit ist auch in der Textlinguistik und Stilistik verankert, wie die folgenden Ausführungen zeigen. 3 Bezüge zur Textlinguistik 3.1 Musterhaftigkeit von Texten und Textsorten Die Musterhaftigkeit von einerseits Texten und andererseits Textsorten äußert sich in vielfacher Weise. Bezogen auf Texte ist es notwendig, auf den Textbegriff und den Zusammenhang von Musterhaftigkeit und Prototypizität einzugehen. Hinsichtlich der Musterhaftigkeit von Textsorten sind zum einen Textsorte - Textmuster, zum anderen Textmuster - textuelles Muster voneinander abzu‐ grenzen. Relevant ist nicht zuletzt, dass die Musterhaftigkeit von Texten und von Textsorten Eingang in das individuelle und kollektive Sprachwissen findet und sich bspw. im Vorhandensein eines Textmusterwissens zeigt (s. u.). Was den Textbegriff angeht, so finden sich „nahezu tausend Textdefinitionen“ (M. und W. Heinemann 2002: 64; s. a. W. Heinemann 2000a), die sich teilweise überschneiden, teilweise aber auch auseinandergehen. Vereinfacht betrachtet lassen sich ein sprachsystematisch ausgerichteter Ansatz und ein kommunika‐ tionsorientierter Ansatz unterscheiden (vgl. Brinker u. a. 2014: 13-17). Im ersten Verständnis wird Text als kohärente Folge von Sätzen definiert und der Satz 64 Sarah Brommer somit als Struktureinheit von Texten angesehen. Dies hat zur Folge, dass sich die Textkohärenz auf die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen Sätzen bzw. sprachlichen Elementen in aufeinanderfolgenden Sätzen beschränkt und rein grammatisch gefasst wird. Im zweiten, kommunikationsorientierten Verständnis wird Text als komplexe kommunikative Handlung begriffen, mit der sich der Produzent eines Textes an den Rezipienten richtet. Im Zentrum des Interesses steht nicht die grammatische Abfolge von Sätzen, sondern die kom‐ munikative Funktion des Textganzen. Um der Komplexität von Texten und ihrer Analyse gerecht zu werden, ist ein Textbegriff notwendig, der den sprachsystematisch ausgerichteten und den kommunikationsorientierten Ansatz verbindet und Texte gleichermaßen als sprachliche wie auch kommunikative Einheiten beschreibt. Dieser integrative Textbegriff versteht unter Text eine „begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert“ (Brinker u. a. 2014: 17; ebenso Gansel / Jürgens 2007: 51). Jedoch entzieht sich die Kategorie Text einer merkmalsdefinitorischen Begriffs‐ bestimmung, mittels derer sich alle potenziellen Textexemplare erfassen und Texte von Nicht-Texten klar abgrenzen ließen (vgl. bspw. Gansel / Jürgens 2007: 33). Der Ausweg liegt in der Übernahme des Prototypenkonzepts für den Text‐ begriff (vgl. Sandig 2000, 2006: 310; s. a. Adamzik 2016: 41; für einen ausführli‐ chen Überblick über das Prototypenkonzept vgl. Löbner 2015: 318-356). Ent‐ gegen der Vorstellung einer Kategorisierung, die qualitativ erfolgt und kontradiktorisch angelegt ist (d. h. etwas ist einer Kategorie zugehörig oder nicht zugehörig), liegt der Prototypentheorie das Konzept einer graduellen Ka‐ tegorienzugehörigkeit zugrunde (d. h. etwas ist einer Kategorie mehr oder we‐ niger zugehörig). Es wird zwischen typischen und weniger typischen Vertretern einer Kategorie unterschieden, wobei Erstere durch das Erfüllen prototypischer Merkmale als Referenzfälle der Kategorisierung dienen. Bezieht man diese Vor‐ stellung der graduellen Kategorisierung auf den Textbegriff, kommt der Aspekt der Musterhaftigkeit ins Spiel. Denn die Vorstellung von Text als prototypischem Konzept geht mit der Musterhaftigkeit von Texten einher. Im individuellen wie auch kollektiven Sprachwissen existiert eine Vorstellung, wie ein Text typi‐ scherweise beschaffen ist. So gibt es unter den Textualitätskriterien zentrale, typische Kriterien, die auf die Mehrzahl von Texten zutreffen und demzufolge einen musterhaften Text auszeichnen, und es gibt weniger typische, eher peri‐ phere Kriterien. Entsprechend gibt es unter konkreten Textexemplaren - je nach Vorhandensein einzelner Textualitätskriterien und gemessen an dem mental gespeicherten Muster eines typischen Textes - prototypische und weniger pro‐ 65 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 3 Der Begriff Textmuster wird mehrheitlich (u. a. Fix 1999; W. Heinemann 2000b; Sandig 2000, 2006) und so auch hier im Sinne von Textsortenmuster verwendet: Es geht um die Musterhaftigkeit von Textsorte, nicht um die Musterhaftigkeit von Text. totypische, in diesem Sinne musterhafte und weniger musterhafte Textexem‐ plare (s. a. Sandig 2000: 108). Nicht nur bei der Kategorie Text, auch bei Textsorte handelt es sich um ein prototypisches Konzept (s. a. Sandig 1997: 29). Die Kategorie Textsorte lässt sich als Basiskategorie der wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Textklassifi‐ kation bezeichnen. Denn ein konkreter Text wird immer als Exemplar einer Textsorte wahrgenommen (vgl. Brinker u. a. 2014: 133; Thim-Mabrey 2005: 32 f.; W. Heinemann 2000b: 517). Das Verfassen sowie das Rezipieren und Bewerten von Texten und auch ihre Analyse erfolgen auf Basis des zugrundeliegenden Textsortenwissens und durch ein (unbewusstes) Abgleichen mit konventionell verankerten Mustern (W. Heinemann 2000b: 517 spricht von Textsortenkompe‐ tenz). An dieser Stelle ist es notwendig, die Begriffe Textsorte und Textmuster von‐ einander abzugrenzen, die beide den Sachverhalt erfassen, „dass wir aus unserer Alltagserfahrung heraus Wissen über Textkonventionen haben und Merkmale kennen, die Gruppen von Texten eigen sind“ (Fix 2008: 10; ebenso 1999: 16). Der Begriff Textsorte bezieht sich auf die Tatsache, dass sich konkrete Textexemplare aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale zusammenfassen lassen, der Begriff Textmuster bezeichnet die dahinterstehende mentale Größe, die als Referenz dient. 3 Die Begriffe werden also nicht gleichgesetzt, sondern in Anlehnung an Fix (2008: 10) „für die unterscheidende Bezeichnung zweier Seiten ein und der‐ selben Sache“ verwendet. Textsorten lassen sich als „Ergebnis der Musterhaftigkeit allgemeiner Tex‐ tualitätshinweise“ (Kesselheim 2011: 364, Hervorhebung im Orig.) beschreiben. Was Kesselheim unter musterhaften Textualitätshinweisen fasst, sind Muster auf Textebene (bspw. Gliederungshinweise und Formulierungsmuster), die im Folgenden zur Abgrenzung von Textmustern als textuelle Muster (s. u.) be‐ zeichnet werden. Das Vorhandensein einzelner textueller Muster führt dazu, dass sich Textsorten herausbilden. Die Musterhaftigkeit von Textsorten äußert sich wiederum im Vorhandensein zugrundeliegender Text(sorten)muster. Die einer Textsorte zugehörigen Textexemplare repräsentieren das ihnen zugrun‐ deliegende Textmuster oder anders gesagt: Die Textexemplare einer Textsorte folgen einem gemeinsamen Textmuster (vgl. auch W. Heinemann 2000b: 517). Das Typische, Musterhafte eines Textes als Vertreter einer Textsorte geht als Textmusterwissen in das Sprachwissen ein. Dieses mental gespeicherte Mus‐ terwissen ist sowohl individuell (als Teil des individuellen Sprachwissens eines 66 Sarah Brommer 4 Im Zuge dieser Orientierungsfunktion besitzen Textmuster gleichzeitig eine normative Wirkung (vgl. Brinker u. a. 2014: 139; Fix 2000: 56; Fleischer u. a. 1996: 35). 5 Ausgangspunkt einer derartigen Typologisierung ist, „was die Sprachteilnehmer ge‐ meinsam für die typischen […] Elemente einer Textsorte halten“ (Fix 1999: 15). jeden Sprachteilnehmers) als auch kollektiv (als gemeinsamer Wissensbestand einer Sprachgemeinschaft). Das Textmuster wirkt als „Richtschnur“ (Fix 2008: 12), wie Texte einer be‐ stimmten Textsorte prototypisch beschaffen sind. Es ist nicht als strikte Vorgabe zu verstehen, sondern als (gesellschaftlich akzeptierte) Orientierung, gewisser‐ maßen als eine Idealvorstellung, die prototypische Elemente und Freiräume enthält (vgl. Fix 1999: 16; Sandig 2000: 103; Fix u. a. 2003: 26; W. Heinemann 2000b: 517). 4 Damit handelt es sich sowohl bei Textsorte als auch bei Textmuster um ein prototypisches Konzept (vgl. Fix 2000: 56; Sandig 1997: 29). Textmuster vermitteln ein prototypisches Wissen über eine Textsorte. So haben Textsorten charakteristische und weniger charakteristische Eigenschaften. Dabei gibt es unter den einzelnen Textexemplaren prototypische Vertreter einer Textsorte mit hochgradiger Ausprägung der jeweils typischen Merkmale, und es gibt weniger typische Texte an der Peripherie. 3.2 Textuelle Muster und ihr textsortentypologisches Potential Die Musterhaftigkeit eines Textes zeigt sich im Vorhandensein textueller Muster. Diese sind sowohl auf Ebene des Gesamttextes anzusiedeln (Struktur- und Gliederungsmuster, musterhaftes Layout, Textlänge usw.; s. z. B. Kesselheim 2011: 364) als auch auf Ebene der Sprache selbst (musterhafte Lexik, Formulie‐ rungsmuster usw.). Die Musterhaftigkeit eines Textes wird also nicht erst sichtbar, wenn man die Sprache im Detail betrachtet, sondern bereits vorher. Wendet man diesen Musterbegriff auf die Klassifikation von Texten an, ergibt sich die Möglichkeit, diese Klassifikation empirisch nach dem Bottom-up- Prinzip vorzunehmen und nicht nach dem Top-down-Prinzip (so z. B. Brinker u. a. 2014: 139-147). Denn textuelle Muster lassen auf bestimmte Textsorten schließen und können so als Ausgangspunkt für textsortentypologische Über‐ legungen dienen. Die Idee, an das Alltagswissen anzuknüpfen und Textsortenbeschreibungen im Bottom-up-Verfahren zu erhalten, „indem man erfaßt, wie Sprachteilnehmer einzelne Texte (tokens) aufgrund jeweils dominierender Merkmale bestimmten Textsorten mit ihren Mustern (types) zuordnen“ (Fix 1999: 15), erscheint aller‐ dings wenig praktikabel und zugleich problematisch. 5 So ist es prinzipiell me‐ thodisch schwierig, authentisches Datenmaterial zum Alltagswissen über Sprache systematisch zu erheben: Vor allem die Validität, aber auch die Relia‐ 67 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 6 Zu diesen Formulierungsmustern rechnen Heinemann / Viehweger (1991: 166) „an be‐ stimmte Situationen gebundene Einzellexeme“, „charakteristische Verknüpfungen von lexikalischen Einheiten“ (ebd.), „typische syntaktische Konstruktionen“ (ebd.) und „ste‐ reotype Textkonstitutive“ (ebd.: 167), d. h. formelhaft geprägte Einheiten, die fest an bestimmte Phasen der Textkonstruktion gebunden sind (vgl. ebd.). 7 Die verschiedenen Erscheinungsformen textueller Musterhaftigkeit zeigen sich u. a. in thematischen Mustern (z. B. Brinker 1988), Sequenzmustern (z. B. Sandig 1997), For‐ mulierungsmustern (ebd.) und Vertextungsmustern (s. z. B. die Beiträge in Brinker u. a. 2000). bilität von empirischen Datenerhebungen, die auf Sprecherurteile gründen, sind kritisch zu sehen (s. a. Adamzik 2008: 147). Methodisch zuverlässiger und zu‐ gleich ergiebiger ist es, das Bottom-up-Verfahren auf die Texte selbst anzu‐ wenden, also die Textsortenbeschreibung auf Basis einer empirisch induktiven Auswertung entsprechender Textkorpora vorzunehmen (s. Kap. 5). Dabei ist es sinnvoll und beim Ziel einer umfassenden Analyse und Beschreibung von Text‐ sorten auch notwendig, alle textuellen Muster gleichermaßen zu berücksich‐ tigen. Denn es können nicht nur Formulierungen musterhaft sein, wie es Heine‐ mann / Viehweger (vgl. 1991: 166 f.) postulieren. 6 Auch thematische, strukturelle und funktionale Muster prägen eine Textsorte (so auch Fix 1999: 13). 7 Doch um textuelle Muster mit den Methoden der Korpuslinguistik erfassen zu können, ist es notwendig, den Musterbegriff auf kleinräumige sprachliche Einheiten zu beziehen. Nur diese nämlich können korpuslinguistisch analysiert werden. Auch wenn eine korpuslinguistische Analyse somit nur einen Teilbereich des Musterhaften erfassen kann, trägt sie gleichwohl zu einer (umfassenderen) Textsortenbeschreibung bei, bezogen auf die Musterhaftigkeit auf sprachlicher Ebene - Gleiches gilt für ihren Nutzen im Rahmen einer Stilanalyse. 4 Bezüge zur Stilistik 4.1 Anmerkungen zum Stilbegriff Der Stilbegriff unterliegt mitunter dem Vorwurf der Vagheit (vgl. Dönninghaus 2005: 313; Fix 2015: 127 f.; Ehlich 2002: 27), er werde als „Rest- und Papierkorb‐ begriff “ (Selting 2001: 3) verwendet. Die Ursache dieser Kritik liegt in der schwierigen Objektivierbarkeit von Stil. Entgegen dieser stilkritischen Perspek‐ tive ist Stil im alltäglichen Sprachgebrauch eine gängige Kategorie, wenn Ein‐ schätzungen, Bewertungen, Urteile zur Sprache kommen (vgl. guter Stil, schlechter Stil, kein Stil). In dieser selbstverständlichen alltagssprachlichen Ver‐ wendung korreliert Stil mit Musterhaftigkeit und Angemessenheit und ist an die allgemein verbreitete Vorstellung gebunden, wie etwas beschaffen sein 68 Sarah Brommer 8 So wie es sich beim Musterwissen teils um ein bewusstes, teils um ein unbewusstes Wissen handelt und musterhafter Sprachgebrauch teils intentional, teils inkrementell erfolgt, so kann sich auch die „Stilbildung auf einer Skala von mangelnder bis intensi‐ vierter Bewusstheit bewegen“ (Hoffmann 2009: 1327; s. a. Fix 2004: 43). sollte. Mit eben diesem Blick auf das Musterhafte lässt sich die Kategorie Stil auch für die Analyse und Beurteilung von Texten sinnvoll nutzbar machen. So wie musterhafter Sprachgebrauch ist auch Stil grundsätzlich kontextgebunden. Je nach Situation „stehen typische, erwartbare Mittel zur Verfügung, die man üblicherweise gebraucht, um bestimmten Redekonstellationen zu genügen“ (Fix 2004: 43). Stil äußert sich dann in einem für die jeweilige Kommunikationssi‐ tuation musterhaften Sprachgebrauch und manifestiert sich in der Tatsache, dass etwas typischerweise so ausgedrückt wird, obwohl es auch anders ausge‐ drückt hätte werden können. Die Frage, ob der musterhafte Sprachgebrauch bewusst oder unbewusst, in‐ tuitiv erfolgt, ist dabei aus Sicht der Stilistik irrelevant (vgl. z. B. Sandig 2006: 29). 8 Entscheidend für Stil ist die rezipientenseitige Wahrnehmung: Stil wird als „Performanz-Ergebnis“ (Sandig 2006: 31; ähnlich auch Krieg-Holz / Bülow 2016: 87) begriffen. Gerade aus produktorientierter Perspektive, wenn es um die Ana‐ lyse von Texten geht, sollte deshalb auf den Stilbegriff nicht verzichtet werden. Denn für „die Stiluntersuchung von Texten ist nicht ausschlaggebend, ob Auswahl und Kombination der Stilelemente durch die jeweiligen Textverfasser bewußt erfolgte, d. h. bei Kenntnis unterschiedlicher sprachlicher Ausdrucks‐ varianten […] und wohlüberlegter Entscheidung für eine dieser Varianten […] oder spontan, routinemäßig, ohne zu überlegen und abzuwägen, welche Vari‐ ante am angemessensten ist“ (Fleischer u. a. 1996: 74; ähnlich auch Sandig 2006: 29). Entscheidend ist letztlich, was stilistisch vorhanden (identifizierbar) ist - un‐ abhängig von der Art des Zustandekommens. So sind „alle Erscheinungen, die wir auf der Textoberfläche finden, […] von den Faktoren der Kommunikation bestimmt und an der Konstitution des Textstils beteiligt“ (Fix 2005: 48). Damit wird der Zusammenhang von Stil und Musterhaftigkeit ins Zentrum gerückt: Der Grund für die Wirkung und Wahrnehmbarkeit von Stil liegt im Vorhan‐ densein wiederkehrender Muster (und nicht in ihrer bewussten Verwendung). In diesem Verständnis wird unter Stil die „Menge in mehreren Exemplaren […] der gleichen Textsorte gemeinsam auftretender Muster“ verstanden und „das einzelne […] Textexemplar als Grundeinheit der Stilrekonstruktion“ aufgefasst (Bubenhofer / Scharloth 2012: 231; ebenso Scharloth / Bubenhofer 2011: 203; bereits auch Fleischer u. a. 1996: 35). Stil ist genauer als Textsortenstil (vgl. ebd.: 33; Fix 2005: 43, 45) oder Textmusterstil (vgl. Sandig 2006: 530) zu bezeichnen. 69 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 9 Fix (2005: 36 f.) argumentiert, dass „die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne einheitlichen Stil kann man die Textmusterbezogenheit eines Textes, allem voran seine Funktion nicht erkennen und daher seine Texthaftigkeit nicht bestätigt finden.“ Denn je nach Textsorte setzen sich dominierende Stilelemente durch, bedingt durch die Kommunikationssituation bzw. den Kontext. 4.2 Zusammenhang von Text, Stil und Situation Den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Stiltheorien haben be‐ reits Riesel / Schendels (1975: 15) wie folgt formuliert: „Stil ist immer das Wie einer Ausführung.“ Bei der Bestimmung von Textsortenstilen geht es um das Wie einer Ausführung in Texten einer Textsorte. Die Frage nach dem Zusam‐ menhang von Text und Stil ist dabei keineswegs banal: So werden die Stilge‐ bundenheit von Text und das Kriterium der stilistischen Einheit von Texten in der Textlinguistik und der Stilistik kontrovers diskutiert. Es ist nach wie vor eine offene Frage, welche Rolle der Stil für einen Text spielt (vgl. Püschel 2000: 479). Dabei gehe ich nicht so weit wie U. Fix, die die stilistische Einheit eines Textes für seine Texthaftigkeit zwingend voraussetzt (vgl. Fix 2005: 36, 42 f.). 9 Vielmehr folge ich - analog zum Konzept der Musterhaftigkeit - einem prototypischen Stilkonzept (so auch Fleischer u. a. 1996: 35; Sandig 2006: 535-537). Wie oben bereits angesprochen, fasse ich Textsortenstile als die Gesamtheit der Muster, die in mehreren Exemplaren der gleichen Textsorte gemeinsam auftreten. Im Gegensatz zur Idealvorstellung der stilistischen Einheitlichkeit von Texten wird das prototypische Stilkonzept der Tatsache gerecht, dass ein Text mehr oder weniger musterhaften Sprachgebrauch aufweisen kann, dass es also prototypi‐ sche und weniger prototypische Textexemplare gibt und Stil unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Ein einheitlicher Stil innerhalb eines Textes trägt zur Textmusterbezogenheit bei und dient dazu, diesen als einer Textsorte zugehörig zu kontextualisieren. Gleichzeitig festigen viele einzelne Texte, die dem gleichen Stil folgen, aufgrund ihrer Prototypizität das zugrundeliegende Textmuster. Während die Stilgebundenheit von Text im Wissenschaftsdiskurs im Detail unterschiedlich gewichtet wird, besteht innerhalb der verschiedenen Stilfor‐ schungen Konsens über die „Textgebundenheit von Stil“ (Fix 2009: 1313). Stil wird als „textkonstitutive[s] Mittel“ (ebd.) bezeichnet bzw. ihm wird eine text‐ konstitutive Funktion zugeschrieben. Unabhängig vom Inhalt macht demnach nicht zuletzt der Stil einen Text zu einem Vertreter der zugehörigen Textsorte. Die Frage, warum sich verschiedene Textsorten durch unterschiedliche Stile auszeichnen und es stilistische Variation gibt, führt zum Zusammenhang von Stil und Situation. So wie Musterhaftigkeit ist auch Stil grundsätzlich kontext‐ 70 Sarah Brommer 10 Aus Sicht der Interaktionalen Stilistik wird Stil erst in der Interaktion selbst konstituiert bzw. von den Interaktionspartnern ausgehandelt (vgl. Selting 1997; 2001; s. a. Fix 2009: 1311). In diesem Verständnis ist bspw. der Stil in wissenschaftlichen Aufsätzen ein Er‐ gebnis des wissenschaftlichen Austauschs, der auf den wissenschaftlichen Handlungs‐ feldern des Darstellens, Argumentierens, Belegens usw. beruht (vgl. hierzu ausführlich Brommer 2018). gebunden. Dies wird vor allem von der Funktionalen Stilistik explizit gemacht, wonach Stil „die funktionsgerechte, dem jeweiligen Sprachusus im schriftlichen und mündlichen Gesellschaftsverkehr angemessene Verwendungsweise des sprachlichen Potentials“ ist (Riesel / Schendels 1975: 16). Die Relevanz des si‐ tuativen Anpassens ist der Tatsache geschuldet, dass Texte (wie auch Äuße‐ rungen) der Alltagskommunikation nie singulär stehen (für künstlerische Texte gilt dies nicht gleichermaßen), sondern immer „in eine fest umrissene Kommu‐ nikationssituation eingebettet [sind], eine Situation, die bei der Produktion des Textes wie bei seiner Rezeption im Blick sein muss. Man weiß und hat zu be‐ rücksichtigen, wer sich zu wem, zu welchem Gegenstand, mit welchem Ziel, in welcher Textsorte äußert.“ (Fix 2004: 41 f.; s. a. Hoffmann 2009: 1320) Daraus geht erstens hervor, dass Stil immer in Bezug zur Situation betrachtet werden muss, und zweitens, dass die Auswahl stilistischer Mittel nicht beliebig ist, sondern durch den Kontext bestimmt wird (vgl. Hoffmann 2009: 1326 f.). Je nach Situation „stehen typische, erwartbare Mittel zur Verfügung, die man üb‐ licherweise gebraucht, um bestimmten [mündlichen wie schriftlichen] Rede‐ konstellationen zu genügen“ (Fix 2004: 43). Das situative Umfeld wirkt demnach stildeterminierend. 10 Aus soziolinguistischer Sicht können Stile deshalb als „An‐ passungen des Ausdrucks an die jeweiligen Redesituationen und -intentionen [betrachtet werden] und an die Rollen, die die Beteiligten in solchen kommu‐ nikativen Situationen üblicherweise auszufüllen haben“ (Fix 2004: 44; s. a. Hoff‐ mann 2009: 1321, der von einem „Situationsrahmen mit gegenseitigen Einschät‐ zungen, Erwartungshaltungen und Redeabsichten“ spricht). Die Tatsache, dass sich je nach Situation dominierende stilistische Mittel, bspw. typische Formu‐ lierungen, durchsetzen, führt zur Musterhaftigkeit von Stil, die sich wiederum korpuslinguistisch operationalisieren lässt (s. u.). Doch der Zusammenhang von Stil und Situation ist kein einseitiges Abhän‐ gigkeitsverhältnis. Denn auch stilistisches Handeln wirkt auf die Situation ein (vgl. Hoffmann 2009: 1329). Die Situation ist nicht als etwas Statisches, bereits Vorhandenes anzusehen, sondern als etwas Dynamisches, das von den Kom‐ munikationsteilnehmern gemeinsam hergestellt wird. Stil und Situation (bzw. Stilmerkmale und Situationsaspekte) stehen also in einem wechselseitigen Ver‐ hältnis zueinander, in einer Interdependenzbeziehung (vgl. Selting 1997: 12): 71 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 11 An anderer Stelle spricht Fix dagegen von Stilmustern als Formulierungsmustern (vgl. Fix 2005: 39), was einen sehr viel engeren Stilbegriff impliziert. Während einerseits die Situation bzw. der Kontext den Stil bestimmt und bspw. stilistische Entscheidungen beeinflusst oder bestimmte Stilmittel erwarten lässt, führt andererseits der Stil erst zur Situation und ist ein Mittel der Kontexther‐ stellung und Kontextualisierung (vgl. Gansel 2009: 1913). Die Trias Text, Stil und Situation ist folglich durch ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis be‐ stimmt. 4.3 Musterhaftigkeit von Stil und korpuslinguistische Operationalisierung Wie oben skizziert, bildet sich in Abhängigkeit von der Situation (und damit einhergehend in Abhängigkeit von der Textsorte) ein musterhafter Sprachge‐ brauch heraus, der den Stil einer Textsorte kennzeichnet. Die Operationalisie‐ rung der Kategorien Textsorte und Stil auf Grundlage der Musterhaftigkeit ver‐ knüpft die textlinguistische und die stilistische Perspektive auf Texte: Musterhaftigkeit im Stil und Musterhaftigkeit der Texte sind nicht zu trennen (vgl. Fix 2009: 1312, s. a. Fix 2005). Die Verknüpfung zeigt sich auch in der Be‐ grifflichkeit: So wie sich Textsorten durch ihre Musterhaftigkeit auszeichnen und einem zugrundeliegenden Textmuster folgen, so ist auch der Textsortenstil musterhaft und liegt ihm ein Stilmuster zugrunde. Grundsätzlich zählt alles, was zur Musterhaftigkeit eines Textes beiträgt, zum Stil. In diesem weiten Ver‐ ständnis von Stil, wie es auch die Pragmatische Stilistik vertritt, wird nicht nur Sprachliches relevant, sondern alles, was mit dem Musterhaften zu tun hat (vgl. Sandig 2006: 5). Das Wie der Ausführung eines Textes, der Textsortenstil, schließt „alle Erscheinungen […] auf der Textoberfläche“ (Fix 2005: 48) mit ein, auch typographische Aspekte, das Layout, die Medialität usw. 11 Mit Bezug auf die Textlinguistik habe ich jedoch bereits dargelegt, dass eine korpuslinguisti‐ sche Analyse nur Muster auf sprachlicher Ebene berücksichtigen kann. Ebenso verhält es sich mit der Beschreibung des Textstils. Die methodisch notwendige Eingrenzung schafft eine Verbindung zwischen dem Stilbegriff und korpuslin‐ guistisch fassbaren Sprachgebrauchsmustern: Textsortenstile lassen sich als Summe wiederkehrender Muster in Texten einer Textsorte fassen. Der Stil zeigt sich dabei als Differenz zum musterhaften Sprachgebrauch in anderen Text‐ sorten, also als Differenz zu anderen Stilmustern. Der Mustervergleich ist daher ein geeignetes Verfahren zur korpuslinguistischen Identifizierung von Stilen (vgl. Fix 2004: 44; Scharloth / Bubenhofer 2011: 203). Ist das Stilmuster erst einmal ermittelt, lässt sich der Grad der Musterhaftigkeit eines individuellen Textstils im Abgleich zum Stilmuster analysieren. 72 Sarah Brommer 12 Wenn zwei Korpora gleich groß sind (gemessen an der Anzahl Wörter / tokens), ist zu erwarten, dass ein Wort (oder eine Wortverbindung) in beiden Korpora gleich häufig auftritt. Ist dies nicht der Fall und weicht die tatsächliche Häufigkeit von der erwarteten Häufigkeit ab, ist dies auffällig, also signifikant. Wenn zwei Korpora unterschiedlich groß sind, wird die erwartete Häufigkeit in Relation zu den jeweiligen Korpusgrößen berechnet. Entscheidend für die Signifikanz ist die Differenz von den beobachteten zu den erwarteten Werten. Das Ausmaß der Signifikanz bemisst sich daran, wie sehr die tatsächliche und die erwartete Häufigkeit voneinander abweichen. Im Folgenden wird nun der Weg beschrieben, wie sich ausgehend von ein‐ zelnen Texten textsortentypische Muster ermitteln lassen, die in ihrer Gesamt‐ heit spezifisch für die entsprechende Textsorte sind und denen somit ein text‐ sortentypologisches Potential zukommt. 5 Induktiv korpuslinguistisch ermittelte Muster als Grundlage der Text- und Stilanalyse 5.1 Von den einzelnen Texten zu den textsortentypischen Mustern Das Anliegen der Korpuslinguistik besteht, wie bereits angesprochen, im auto‐ matisierten Auswerten umfangreicher Korpora. Nicht der Sprachgebrauch in Einzeltexten wird betrachtet, sondern Sprache wird hinsichtlich ihrer muster‐ haften Strukturen und Verwendungsweisen untersucht. Ein korpuslinguisti‐ sches Arbeiten im engeren Sinne ist dabei der Induktion verpflichtet. Das be‐ deutet, dass Sprache als Datensammlung aufgefasst und Sprachgebrauch, der statistisch auffällig ist, sichtbar gemacht wird. Diese Auffälligkeiten müssen nicht in absoluten Zahlen hochfrequent sein, sondern im untersuchten Sprach‐ ausschnitt (konkret: in den einer Textsorte zugehörigen Texten) nur überzufällig häufig auftreten. Das Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, dass es weitgehend frei von Vorannahmen, datengeleitet erfolgt (vgl. Tognini-Bonelli 2001: 84). Auf diese Weise wird gewährleistet, dass auch unauffällige und unvermutete Muster gefunden werden können (vgl. Kap. 1), die weder den Sprachbenutzern noch den Forschenden bewusst auffallen, die aber trotzdem - da statistisch auffällig - signifikant sind (vgl. Bubenhofer 2009: 16). Für die Berechnung der statistischen Signifikanz wird das beobachtete, tat‐ sächliche Vorkommen eines Musters in Beziehung gesetzt zum erwarteten Vor‐ kommen unter Berücksichtigung der jeweiligen Korpusgrößen. 12 Die Signifi‐ kanz basiert also immer auf einem Vergleich zwischen Untersuchungskorpus und Referenzkorpus. Mit Blick auf den textsortenspezifischen Sprachgebrauch ist einerseits ein Untersuchungskorpus bestehend aus Texten einer Textsorte (= Textsorten-Korpus) im Vergleich zu einem möglichst breit angelegten, das 73 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 13 Die Idee einer Textanalyse mithilfe statistischer Methoden ist als solche nicht neu (vgl. bspw. das Literaturverzeichnis in Schmitz (2000) mit Titeln zu dieser Thematik aus den 1960er Jahren); sie ist in der Textstatistik bzw. quantitativen Textlinguistik sowie in der quantitativen Stilistik zu verorten (für einen Überblick vgl. Mehler 2008). Die quanti‐ tative Textlinguistik und Stilistik verfolgen das Anliegen, quantifizierbare Eigen‐ schaften von Texten zu untersuchen. Zugrunde liegt die Annahme, dass sich quantita‐ tive Eigenschaften von Texten mit Hilfe deskriptiver statistischer Verfahren bestimmen lassen (vgl. Schmitz 2000: 196) und dass bspw. „stilistische Unterschiede von […] Text‐ sorten unter Rekurs auf die quantitativen Eigenschaften der betroffenen Texte ge‐ messen werden können“ (Mehler 2008: 339). Standarddeutsche repräsentierenden Referenzkorpus auszuwerten; anderer‐ seits sind das entsprechende Textsorten-Korpus und weitere Textsorten- Korpora vergleichend zu analysieren. Dieses doppelte Analyseverfahren ist sinnvoll, um verfälschenden Analyseergebnissen entgegenzuwirken. Denn hin‐ sichtlich der Aussagekraft des Signifikanzwerts ist zu bedenken: Wenn ein Muster als signifikant für eine bestimmte Textsorte ermittelt wird, bedeutet dies nichts anderes, als dass es in diesem Textsorten-Korpus häufiger als erwartet vorkommt - bzw. dass es im Referenzkorpus oder einem anderen vergleichend analysierten Textsorten-Korpus seltener auftritt, als zu erwarten wäre. Umge‐ kehrt wird nicht als Muster erkannt, was in den vergleichend analysierten Kor‐ pora vergleichbar häufig vorkommt. Unterschiedliche Vergleichskonstellati‐ onen bei der Analyse der einzelnen Textsorten-Korpora tragen dazu bei, die einzelnen für eine jeweilige Textsorte typischen Muster möglichst zuverlässig und umfassend aufdecken zu können. In diesem Zusammenhang ist auch noch auf den Unterschied von Typizität und Spezifik hinzuweisen. Ein einzelnes Muster ist immer typisch für den un‐ tersuchten Sprachausschnitt, also typisch für eine bestimmte Textsorte. Das Muster kommt aber nicht ausschließlich dort vor, es ist also nicht spezifisch für die Textsorte. Spezifisch ist erst die Summe aller für die untersuchte Textsorte typischen Muster, das sog. Typikprofil (s. u.). 5.2 Von den einzelnen Mustern zum textsortenspezifischen Typikprofil Wie oben beschrieben, kann die Musterhaftigkeit von Texten und Textsorten als Ausgangspunkt für textsortentypologische Überlegungen dienen. 13 Das Inte‐ resse gilt dann nicht mehr dem einzelnen Muster, sondern allen Mustern, die in ihrer Gesamtheit spezifisch für die Textsorte sind und das sogenannte Typik‐ profil der entsprechenden Textsorte bilden (vgl. Bubenhofer 2009: 152; ebenso Bubenhofer / Scharloth 2010: 91). Das Typikprofil als spezifisches Bündel von Mustern beschreibt den für die jeweilige Textsorte musterhaften Sprachge‐ brauch. Es ist davon auszugehen, dass das Typikprofil Teil des Textsortenmus‐ 74 Sarah Brommer 14 Vgl. das hierzu gegensätzliche Vorgehen, Textsorten unabhängig von den Oberflächen‐ eigenschaften zu bestimmen (vgl. Beaugrande / Dressler 1981: 191). 15 Zwei einzelne einer Textsorte zugehörige Textexemplare müssen also nicht zwingend die gleichen Muster aufweisen (die Textexemplare verbindet ihre sog. Familienähn‐ lichkeit, vgl. Löbner 2015: 325 f.). Da die korpuslinguistisch ermittelbaren Muster aber kleinräumig sind und in der Folge viele einzelne Muster zum Musterbündel beitragen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass zwei einzelne Texte keine gemeinsamen Muster auf‐ weisen - zumal manche Muster nicht lexikalisch (an das Wortmaterial gebunden), son‐ dern strukturell bestimmt sind (morphosyntaktische Muster). ters ist und der Textoberfläche eine textsortenkonstitutive Bedeutung zukommt. Diese Auffassung fügt sich in die in der Textlinguistik beobachtbare Entwick‐ lung hin zu einer „Rehabilitierung der Textoberfläche“ (Feilke 2000: 78): Die sprachliche Gestaltung - der „Sprachstil“ (Scharloth / Bubenhofer 2011: 202) oder auch „sprachliche Stil“ (Krieg-Holz / Bülow 2016: 236) - wird als eine (not‐ wendige) Dimension der Textsortenbeschreibung angesehen (s. z. B. Fandrych / Thurmair 2011; Krieg-Holz / Bülow 2016). 14 Den Sprachstil als Dimension der Textsortenbeschreibung anzusehen, wie es Krieg-Holz / Bülow (2016: 236) tun, impliziert dann aber auch, die Stilanalyse nicht auf die individuelle Analyse einzelner Texte zu beschränken (s. ebd.: 236-243), sondern das Erkenntnisinte‐ resse auf Textsortenstile zu richten und Einzeltextanalysen als Ausgangspunkt für Überlegungen auf Textsorten-Ebene zu verwenden. In diesem Zusammenhang ist auf den Doppelcharakter von Stil hinzuweisen: Stil bezieht sich nicht nur auf die sprachliche Gestaltung einer Gruppe von Texten (i. S. v. Textsortenstil), sondern auch auf die Gestaltung eines einzelnen Textes (i. S. v. Textstil). Mit dem hier beschriebenen Vorgehen einer induktiven korpuslinguistischen Analyse lassen sich beide Aspekte abdecken. Die Analyse gibt erstens Aufschluss über den Textsortenstil, den musterhaften Sprachge‐ brauch in der Textsorte. So lässt sich der Minimalkonsens zum Textsortenbegriff, Textsorten seien „Mengen von Texten mit bestimmten gemeinsamen Eigen‐ schaften“ (W. Heinemann 2000a: 11 und 2000b: 509), folgendermaßen konkre‐ tisieren: Textsorten sind Mengen von Texten desselben Typikprofils. Zweitens lassen sich auf Basis der korpuslinguistischen Analyse Aussagen zum Textstil machen, zum Grad der Musterhaftigkeit eines einzelnen Textexemplars. Jeder einzelne Text einer Textsorte ist durch eine spezifische Zusammenstellung ein‐ zelner dem Typikprofil zugehöriger Muster gekennzeichnet, durch ein textindi‐ viduelles Musterbündel. 15 Durch den Abgleich eines einzelnen Textes mit dem Typikprofil - dem Textsortenstil - lassen sich Übereinstimmungen und Abwei‐ chungen in der sprachlichen Gestaltung des einzelnen Textes aufdecken. Ein Typikprofil kann somit als Grundlage dafür dienen, die Textsortentypik eines einzelnen Textes zu bestimmen. Je mehr Muster eines Typikprofils in einem Text 75 Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln 16 Vgl. auch W. Heinemann (2000b: 513), der sich für eine „[a]pproximative Bestimmung von Textsorten“ ausspricht. vorkommen, desto mehr entspricht der Text dem Typikprofil und desto proto‐ typischer ist er für die entsprechende Textsorte (vgl. Bubenhofer 2009: 152; ebenso Bubenhofer / Scharloth 2010: 91 f.). Mit einem textsortentypologischen Anspruch lässt sich argumentieren, dass sich mit der beschriebenen Methode durch die Zusammenstellung entspre‐ chender Textsorten-Korpora Typikprofile für beliebige Textsorten erstellen lassen. Ein rein induktives Herleiten einer vollständigen Textsortentypologie, die sämtliche Textsorten umfasst und trennscharf voneinander abgrenzt, ist dabei zwar nicht möglich. Solch eine starre Typologie, wie sie vor allem in frü‐ heren Arbeiten angeregt wurde (vgl. bspw. Heinemann / Viehweger 1991: 133; ähnlich auch Fleischer u. a. 1996: 30; Gansel / Jürgens 2007: 64), kann aber auch nicht das Ziel sein, da sie dem prototypischen Textsorten-Konzept und dem Aspekt der Musterhaftigkeit von Texten nicht gerecht würde (ähnlich argu‐ mentiert auch Adamzik in der neusten Auflage ihrer Textlinguistik, vgl. Adamzik 2016: 327). Sinnvoller und dem Gegenstand angemessen ist eine Klassifikation mit fließenden Übergängen. 16 So ist anzunehmen, dass es Muster gibt, die für verschiedene Textsorten typisch bzw. signifikant sind, deren Signifikanz im De‐ tail aber unterschiedlich stark ausfällt. Ein jedes Typikprofil setzt sich also aus typischeren, die Textsorte stark prägenden und weniger, aber immer noch ty‐ pischen Mustern zusammen. Zwischen den einzelnen Typikprofilen kommt es dabei zu Überschneidungen, ein jedes Typikprofil ist aber in seiner Zusammen‐ setzung einzigartig und textsortenspezifisch. 6 Zusammenfassung Dem Beitrag liegt die Prämisse zugrunde, dass Textsorten durch einen jeweils spezifischen Sprachgebrauch gekennzeichnet sind. Zu diesem textsortenspezifischen Sprachgebrauch, dem Textsortenstil, gehören augenfällige, den Sprachverwendern bewusste sprachliche Muster und daneben weitere Muster, die intuitiv verwendet werden und deren Musterhaftigkeit weder den Textpro‐ duzenten noch den -rezipienten bewusst ist. Aufgrund ihrer Signifikanz für die jeweilige Textsorte lassen sich die Muster durch eine induktive korpuslinguis‐ tische Analyse offenlegen. Anhand von Vergleichsanalysen mit einem Refe‐ renzkorpus, das als repräsentativ für das Standarddeutsche gelten kann, und mit weiteren Korpora, die jeweils den Sprachgebrauch einer Textsorte repräsen‐ 76 Sarah Brommer 17 Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass sich das Konzept der Prototypizität gleichermaßen auch auf den Einzeltext anwenden lässt: Ein konkreter Text ist - je nach dem Grad seiner Musterhaftigkeit - ein mehr oder weniger typischer Vertreter der jeweiligen Textsorte. tieren, lassen sich die textsortentypischen musterhaften Wörter und Verbin‐ dungen von Wörtern ermitteln. Das Konzept der Prototypizität zieht sich dabei als roter Faden durch die textlinguistischen und stilistischen Überlegungen. Text wird als prototypisches Konzept verstanden, d. h. die Definition von Text geschieht anhand typischerer und weniger typischer Merkmale. Ebenso handelt es sich bei Textsorte um ein prototypisches Konzept, indem sich Textsorten mittels typischerer und weniger typischer Merkmale beschreiben lassen. Gleiches gilt für den Sprachstil einer Textsorte: Den Textsortenstil (= das Typikprofil) bilden typischere und weniger typische Sprachgebrauchsmuster. 17 Diese lassen sich mit dem beschriebenen Verfahren offenlegen. Auf diese Weise leistet die induktive korpuslinguistische Analyse einen Beitrag zur Bestimmung des textsortenspezifischen Sprachge‐ brauchs und - bezogen auf den Textsortenvergleich - einen Beitrag zur Be‐ stimmung textsortenspezifischer sprachlicher Variation. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten 2008: Textsorten und ihre Beschreibung. In: Nina Janich (Hg.): Text‐ linguistik. 15 Einführungen. Tübingen, 145-175. Adamzik, Kirsten 2016: Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin / Boston. 2., völlig neu bearb., akt. und erw. Aufl. 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Amsterdam. 80 Sarah Brommer II Regionale Variation 1 Substandard meint hier „die sprechsprachliche Gesamtheit unterhalb der normierten und kodifizierten Standardsprache“ (Lenz u. a. 2004: 7). 1 2 2.1 2.2 3 4 4.1 4.2 5 6 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung im Stadt-Land-Vergleich Nina Bercko Gliederung: Einleitung Der urbane Raum als Sprachlandschaft Ausdehnung städtischer Varianten auf das Umland Dialektausgleich und Dialekt-Standard-Kontinuum Untersuchungsgebiet und Korpus Ergebnisse - Konjunktiv II-Bildung Synthetische Formen Analytische Formen Fazit Zusammenfassung 1 Einleitung Die dialektologische Tradition lehrte lange Zeit - bis in die 1960/ 70-er Jahre hinein -, dass der Faktor Raum der entscheidende Parameter und das konstitu‐ tive Element von Varietäten darstellt, was allerdings eine eingeschränkte und eindimensionale Sicht zur Folge hatte. Der Fokus aktuellerer Variationsfor‐ schung hat sich in den letzten Jahrzehnten verlagert: von den lokalen Basisdi‐ alekten hin zu einem „variativen Spektrum des ‚Substandards‘“ (Lenz u. a. 2004: 7). 1 Es fließen zunehmend soziolinguistische Methoden wie auch regionale Va‐ riation in die Untersuchungen mit ein, was ein Feld für eine Interaktion von räumlichen und sozialen Bedingungen eröffnet und den Blick für einen „pluri‐ dimensionalen“ (Herrgen 2000: 50) Ansatz weitet. In der ‚modernen‘ Dialekto‐ logie gewinnen auch stadtsprachliche Varietäten an Bedeutung, denn Städte werden zunehmend als Orte wahrgenommen, die Zugang zur heterogenen Ge‐ sellschaft und Sprache bieten. Andererseits bleibt jedoch das Bild aufrecht, das Land als statisch und isoliert anzusehen bzw. „as an idyll of peace and tranquility rather than as composed of heterogeneous communities, of contact, of change and progress, and of conflict“ (Britain 2004: 607 f.). Von einer solchen, rein dichotomischen Behandlung von Stadt vs. Land kommt man mittlerweile zuse‐ hends ab und tendiert zu Betrachtungsweisen, bei denen die Abgrenzungen der Varietäten als fließend und kontinuierlich angesehen werden. Auch das Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das durch unterschiedliche Kommunikationsbedingungen, Domänen und Funktionen ge‐ kennzeichnet ist, spielt in der Untersuchung gesprochener Sprache eine Rolle. Gesprochene Sprache ist durch ihre starke Situationsbzw. Kontextgebunden‐ heit, eine raumzeitliche Nähe der Gesprächspartner und Flüchtigkeit gekenn‐ zeichnet, während die wesentlichen Charakteristika der Schriftlichkeit in ihrer Entbindung aus der Situation, ihrer raumzeitlichen Distanz und der dauerhaften Tradierung von Wissen liegen. Das Grundcharakteristikum gesprochener Sprache sehen Fiehler u. a. (2004: 130 f.) in ihrer Varianz, welche sich auf jeder sprachlichen Ebene niederschlägt. Trotz ihrer Varianz und Variabilität zeichnet sich gesprochene Sprache aber auch durch ihre Regelhaftigkeit und Rekurrenz aus, ohne die einer linguistischen Untersuchung die Basis fehlen würde, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf den verschiedenen Sprachebenen ab‐ zubilden. Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt im Verbalbereich auf der Kon‐ junktiv II-Bildung, anhand derer ein sprachliches Kontinuum vorgeführt werden soll. Hauptanliegen ist es zu zeigen, wie sich die unterschiedlichen Formen der Konjunktiv II-Bildung in ein Kontinuum einpassen lassen. Hierzu werden drei Teilkorpora herangezogen, wovon ein Teilkorpus Graz (TK G) städtische Variation und die beiden anderen Teilkorpora Weiz und Hartberg (TK WZ und TK HB) ländliche Variation repräsentieren. Die Teilkorpora sind durch unterschiedlich stark dialektale Färbungen charakterisiert, was für eine Gegen‐ überstellung und Beschreibung der Varianten von Bedeutung ist. Da es sich hierbei nicht um verschiedene Varietäten handelt, steht die Frage eines Stadt-Land-Vergleichs im Vordergrund. Bei der Zielsetzung sollen folgende Leitfragen die Richtung weisen: Welche Unterschiede zeigen sich zwischen den beiden Teilkorpora, die stärker dialektal geprägt sind und den Sprachgebrauch in ländlichen Regionen repräsentieren, im Vergleich zur weniger stark dialektalen Ausprägung im Teil‐ korpus, das die stadtsprachliche Region repräsentiert? 84 Nina Bercko Kann im Teilkorpus G eventuell eine stärkere Normierung als in den anderen beiden ausgemacht werden? Oder lässt sich ein Kontinuum zwischen den drei Teilkorpora ermitteln? Zeigen sich Unterschiede im verbalen Bereich - eventuell eine vermehrte Verwendung des Konjunktivs II in der Form i gebat/ gabat (‚geben‘) in ländlichen Regionen? 2 Der urbane Raum als Sprachlandschaft Die Stadt wird von der modernen Stadtsprachenforschung als „Konglomerat von zentripetal zur Mitte hin orientierten Sprachringen, repräsentiert durch Wohnquartiere, Außenquartiere und Umlandgemeinden“ (Löffler 2010: 136) be‐ trachtet. Die erwähnten Sprachringe besitzen eine vertikale Gliederung je nach sozialen Sprechergruppen und Situationen, wobei die einzelnen Übergänge von einer Varietät zur nächsten nicht trennscharf abgegrenzt werden können, son‐ dern eher stufenlos als Kontinuum verlaufen (vgl. ebd.). Auf welcher Beschrei‐ bungsebene man die distinkten Merkmale auch illustrieren möchte, Barbour / Stevenson (1998: 111) führen an, dass eine simple Beschreibung nicht mehr ge‐ nügt, sondern dass - mindestens zweidimensionale - Modelle erarbeitet werden sollen, „innerhalb derer Variation in Varietäten bzw. Kommunikationsgemein‐ schaften erklärt werden kann. Städte sind Siedlungsformen, die sich durch eine hohe soziale Komplexität auszeichnen; darüber hinaus besitzen sie eine lokale Gebundenheit, die sich auch sprachlich in Bezug auf die jeweilige Umgebung manifestiert (vgl. Krefeld 2008: 10). Mattheier (1982: 90) fasst die mit der Urbanisierung in Zusammenhang ste‐ henden Veränderungen und die Konzepte, die allgemein für die Stadt/ Umland- Beziehungen entwickelt worden sind, als „Modernisierung“ zusammen und konstatiert, dass Veränderungsprozesse zunächst in den Städten greifen und sich erst allmählich auf ländliche Regionen übertragen, wodurch sich ein gewisses Gefälle zwischen Stadt und Land herausbildet. Der Fokus der traditionellen Di‐ alektologie auf der Aufnahme und Konservierung lokaler Varietäten, und zwar bevorzugt mit ländlichen und älteren Informanten, verstärkte die Annahme, dass der ländliche Sprachgebrauch statisch und der städtische Sprachgebrauch innovativ sei (vgl. Vandekerckhove 2010: 316). Zwar wird die Stadt zunehmend als der Ort wahrgenommen, der Zugang zur heterogenen Gesellschaft und Sprache bietet, andererseits bleibt aber weiterhin das Bild aufrecht, dass das Land als statisch und isoliert angesehen wird (vgl. Britain 2004: 607 f.). Die vor‐ herrschende Dichotomie kann allerdings heutzutage nicht mehr aufrechter‐ halten bleiben, denn der Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung und 85 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 2 Auf die Diskussion des Begriffs Umgangssprache wird an dieser Stelle nicht einge‐ gangen, vgl. hierzu u. a. Munske (1983), Barbour / Stevenson (1998), Scheutz (1999), Sinner (2014). Umgangssprache, wie sie in diesem Beitrag verstanden wird, folgt der Definition von Munske (1983: 1002): „Umgangssprache [wird] einmal als eine an be‐ stimmte informelle, dialektologische Kommunikationssituationen gebundene Rede‐ weise verstanden, ohne dass hierbei zugleich eine spezifische Sprachform mitgemeint ist; zum anderen werden mit diesem Sammelbegriff die zahlreichen regionalen Va‐ rianten gesprochener Sprache bezeichnet, die nicht mehr Dialekt und noch nicht Hoch‐ sprache sind: Sprachformen mit weitgehend überregionaler Verstehbarkeit und doch zugleich erkennbarem regionalem Charakter.“ die damit einhergegangene gestiegene (geographische wie auch soziale) Mobi‐ lität macht eine regionale und überregionale Kommunikation möglich, was noch zusätzlich verstärkt wird durch das einsetzende Pendeln der Menschen in die Stadt oder aus der Stadt, um beispielsweise einer Arbeit oder anderen Aktivi‐ täten nachzugehen (vgl. Vandekerckhove 2010: 316). Viele Dörfer verschmelzen mit den angrenzenden Dörfern zu kleineren oder größeren Städten. All dies führt letztlich dazu, dass Dialekte miteinander in Kontakt treten, was wiederum Akkommodation auslösen kann. Vandekerckhove fasst das linguistische Inter‐ esse an dieser Entwicklung wie folgt zusammen: „The developments […] do not imply that the distinction between urban and rural or non-urban language varieties has been completely blurred in Europe. Nor does it mean that city dialects and non-urban varieties do not develop their own dynamics anymore. But their dynamics is often the product of contact between several varieties. Even in former times there was linguistic exchange between city and countryside on the one hand and between several cities on the other hand […], but this contact is more in‐ tensive today than ever. This might explain why recent research shows a major inte‐ rest in the interaction between urban and rural language and in the influence of urban varieties on their rural surroundings.” (Vandekerckhove 2010: 316 f.) 2.1 Ausdehnung städtischer Varianten auf das Umland Städte, als Zentrum für Handel, Wirtschaft und Kultur, werden häufig als pres‐ tigeträchtiger empfunden als Dörfer oder kleinere Städte am Land. Die Ein‐ wohner einer Stadt erlangen dadurch Prestige, dass sie am städtischen Lifestyle partizipieren (können). Dieses Prestige ist es dann auch, das die Menschen dazu antreibt - ob bewusst oder unbewusst - gewisse Dinge nachzuahmen, was sich unter anderem auch in der Sprachverwendung bemerkbar macht (vgl. Vande‐ kerckhove 2010: 317). Die Ausdehnung städtischer Umgangssprache 2 wurde vor allem im englischspracheigen Raum viel diskutiert (vgl. Milroy 1992; Taeldeman 2005) und es haben sich zwei unterschiedliche Modelle entwickelt: das ‚Wellen‐ 86 Nina Bercko 3 Nachgewiesen wurde dieser Effekt z. B. bei Trudgill (1983), Bailey u. a. (1993), Her‐ nández Campoy (1999). modell‘ (contagious diffusion model oder wave model) und das ‚Hierarchiemodell‘ (hierarchical diffusion model) (vgl. Britain 2004: 37). Die Idee des Wellenmodells ist die, dass die Ausbreitung unterschiedlicher sprachlicher Merkmale (auf welcher Ebene auch immer) sich wellenartig von den Städten aus in das Umland und weiter in das Hinterland hinein verbreitet (vgl. ebd.). Der entscheidende Parameter ist in diesem Modell die Distanz: Je größer die Distanz zwischen „the trend-setting city“ (Vandekerckhove 2010: 317) und der Sprachgemeinschaft in der ländlichen Region ist, desto länger dauert es klarerweise, bis die Ausbreitung Fuß fassen kann und desto stärker ist auch die Beteiligung derjenigen, die sozusagen ‚dazwischen‘ damit in Berührung kommen (vgl. ebd.). Beim zweiten Modell, dem Hierachiemodell, geht es darum, dass die Aus‐ dehnung sprachlicher Merkmale einem gewissen Muster bzw. einer „urban hierarchy“ (Britain 2004: 37) folgt: Ausgangspunkte sind (verhältnismäßig) große Städte, gefolgt von kleineren Städten, Gemeinden, Ortschaften bis zu einzelnen Dörfern, wobei die Entfernung eine untergeordnete Rolle spielt; so sind größere Städte früher betroffen als kleinere Ortschaften, selbst wenn letztere näher am Ausgangspunkt anzutreffen sind: 3 „The usual explanation for this finding is that whilst distance plays some role, inter‐ action between urban centres in modern societies is likely to be greater, and therefore a more frequent and effective channel for accommodation and transmission of innovations, than between urban and rural. Transportation networks tend to link urban with urban, the socio-economic and consumer infrastructure tends to be based in and oriented towards urban centres, with the ensuing consequences for employment and commuting patterns, and these obviously feed the hierarchical nature of diffusion.“ (Britain 2004: 37) Obwohl beide Modelle gerne für diverse Studien im Bereich der Erforschung von Stadt-Umland-Verhältnissen herangezogen werden, werden sie auch kriti‐ siert bzw. lassen sich natürlich nicht alle Phänomene auf diese Modelle zurück‐ 87 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 4 Kritisiert wurde unter anderem, dass jeder Sprachbenutzer die gleichen Kontaktmög‐ lichkeiten hat; unberücksichtigt bleibt hierbei jedoch, dass eine unterschiedliche Mo‐ bilität zwischen den Menschen herrscht und dass im Grunde nur für „the central classes of society“ die besten Kontaktmöglichkeiten bestehen (vgl. Britain 2004: 39 f., der auch weitere Literatur in Bezug auf andere Kritikpunkte aufführt). Daneben findet sich auch sog. „contrahierarchical diffusion“; hier ist der Ausgangspunkt nicht im städtischen Bereich anzusetzen, sondern im ländlichen und die Ausstrahlung verläuft genau um‐ gekehrt, also vom Land in Richtung Stadt (vgl. Vandekerckhove 2010: 326 ff.). führen. 4 Es lässt sich übereinstimmend jedoch festhalten, dass der Einfluss der städtischen Regionen sehr stark ist und durch dynamische Kräfte unterschied‐ liche Merkmale in ihr Umland (oder noch weiter) ausstrahlen, auch wenn sich - in unterschiedlichem Maße - durch das Eindringen standardsprachlicher Formen Kombinationen bzw. Kontinua herausbilden. 2.2 Dialektausgleich und Dialekt-Standard-Kontinuum Unter Dialektausgleich wird allgemein verstanden, dass markierte Dialektmerk‐ male zuerst abgebaut werden, wohingegen unmarkierte Merkmale erhalten bleiben (vgl. Kerswill 2003: 223). Es geht bei diesem Mechanismus in erster Linie um Akkommodation von Sprache, bei der sich die jeweiligen Gesprächspartner einander sprachlich anpassen bzw. annähern. Kerswill (vgl. ebd.) hält fest, dass sich Dialektausgleich im Unterschied zu den oben beschriebenen Modellen der Ausdehnung auf die Abnahme der Anzahl von (phonologischen, morphologi‐ schen, lexikalischen etc.) Varianten bezieht. Dialektausgleich ist also ein Prozess, der einen Varietätenwandel in Gang setzen oder auch neue Varietäten hervor‐ bringen kann, beispielsweise in Städten, wo viele Varietäten aufeinandertreffen, die sich nicht nur gegenseitig beeinflussen, sondern auch durch die Standard‐ varietät beeinflusst werden. Es ist davon auszugehen, dass nahezu jeder Dia‐ lektsprecher über ein (mindestens) bidialektales Repertoire verfügt, also zum Beispiel eine standardnähere Varietät neben einer regionalen Varietät, und dass er jede dieser Varietäten in jeweils eigenen Domänen benutzt (vgl. Malmberg / Nordberg 1994: 19). Die Abgrenzung der einzelnen Varietäten erfolgt freilich nicht trennscharf, sondern verläuft kontinuierlich. Löffler (2010: 79) weist in den Ausführungen zu seinem ‚Sprachwirklichkeitsmodell‘ darauf hin, dass „die Sprachwirklichkeit ein übergangsloses Kontinuum darstellt und dass alle Klassifizierungsversuche eine Frage des Standpunktes sind“. In diesem Dialekt-Standard-Kontinuum können „fast alle erdenklichen Übergänge zwischen ausgeprägtem Dialekt und Standarddeutsch“ (Ammon 2003: 166) auftreten. 88 Nina Bercko 5 Vgl. https: / / www.citypopulation.de/ php/ austria-steiermark_d.php [letzter Zugriff: 17.08.2017]. [1a] [1b] [1c] [1d] [1e] „Diese Übergangsstufen werden gebildet durch die Kombination von Formen des Dialekts und der Standardvarietät. Dabei sind allerdings keineswegs alle denkbaren Kombinationen gebräuchlich oder akzeptabel, jedoch sind die zulässigen Kombinati‐ onen so mannigfaltig, dass der Eindruck eines kontinuierlichen Übergangs entsteht. Man spricht deshalb auch vom Gradualismus zwischen Dialekt und Standardvarietät.“ (Ammon 2003: 166 f.) Diesen Gradualismus führt Ammon (ebd.: 167) anhand des Schwäbischen vor. Für den südmittelbairischen Raum wäre folgendes Beispiel denkbar: I warad gestan gean ins Kino gaungan I wea/ wa gestan gean ins Kino gongan I wea gestan gean ins Kino gangan I wea gestan gean ins Kino gangen Ich wea gestan gean ins Kino gangen Die Wahl der Sprachform ist dabei sozial, situativ und auch geographisch de‐ terminiert (vgl. ebd. und Kaiser / Ender 2015: 13). Soziale Faktoren können bei‐ spielsweise das Alter oder der Bildungshintergrund sein, situative Faktoren sind vor allem auf die Vertrautheit der Interaktionspartner sowie den Formalitätsgrad zurückzuführen und geographische Faktoren wären beispielsweise Stadt- Land-Differenzen. Bei letzteren spielt die Größe des Wohnortes bzw. die geo‐ graphische Lage eine wesentliche Rolle, so ist am Land - also in ländlicheren und kleineren Gebieten - der Dialekt stabiler, darüber hinaus ist „in den Städten das Standardsprechen mehr verbreitet als auf dem Land“ (Ammon 2003: 167). 3 Untersuchungsgebiet und Korpus Der Schwerpunkt der Untersuchung konzentriert sich auf kleine Gebiete inner‐ halb des bairischen Sprachraums, genauer gesagt innerhalb des südmittelbairi‐ schen Sprachraums (s. u.). Territorial betrachtet handelt es sich um drei Orts‐ punkte innerhalb der Steiermark, nämlich ihre Landeshauptstadt Graz (283.869 EW) und die beiden weiter östlich im ländlichen Raum gelegenen Gemeinden Hartberg (6.561 EW) und Weiz (11.508 EW). 5 89 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 6 Die abgebildete Karte ist in ihrer ursprünglichen Form (ohne die Markierungen der Aufnahmeorte) online abrufbar unter: http: / / www.oeaw.ac.at/ icltt/ dinamlex-archiv/ be arbeitungsgebiet.PNG [letzter Zugriff: 17.03.2017] 7 An dieser Stelle sei dem Team des Jugendsprache-Projekts - allen voran Melanie Lenz‐ hofer-Glantschnig und dem Projektleiter Prof. Dr. Arne Ziegler - mein herzlicher Dank für die Erlaubnis zur Nutzung der Daten ausgesprochen. Abb. 1: Der Sprachgebrauch in Österreich inkl. Aufnahmeorte (leicht veränderte Karte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2013) 6 Das Korpus beinhaltet Gruppengespräche bzw. spontane Freizeitkommunika‐ tion zwischen Erwachsenen, die für das Projekt ‚Jugendsprache‘ aufgenommen wurden und als Vergleichsdatengrundlage zu den Aufnahmen der Jugendlichen dienen und unter anderem Aufschluss darüber geben sollen, ob und in welchem Umfang altersbedingte Unterschiede im Sprachgebrauch der Jugendlichen auf‐ treten. 7 Die Informanten sind Erwachsene im Alter zwischen 35 und 60 Jahren, 90 Nina Bercko 8 Dieser Umstand, also die relativ starke morphologische Stellung des Konjunktivs im Bairischen, wurde schon in früheren Arbeiten immer wieder hervorgehoben (vgl. etwa Zehetner 1985; Wiesinger 1989). deren Herkunftsort Graz, Weiz oder Hartberg ist und deren Aufenthalt seit min‐ destens zehn Jahren an den jeweiligen Orten andauert. Das Korpus unterteilt sich demnach in die drei Teilkorpora G, WZ und HB mit jeweils zwei weiblichen und zwei männlichen - also insgesamt 12 - Informanten. Die Aufnahmen weisen eine Gesamtdauer von rund drei Stunden auf (G: 67 Min.; WZ: 61 Min.; HB: 51 Min.). Bei den Informanten handelt es sich um Sprecher des südmittel‐ bairischen Dialekts, die je nach Aufnahmeort unterschiedliche dialektale Aus‐ prägungen aufweisen - von weniger starkem Dialekt (TK G) über mittelstarken Dialekt (TK WZ) bis hin zu starker dialektaler Ausprägung (TK HB). Damit im Zuge der Datenerhebung eine größtmögliche Natürlichkeit der Kommunikation gewährleistet werden kann, ist es wichtig, eine möglichst in‐ formelle Situation zu schaffen; so wurden die Gespräche in einem informellen Setting ohne Beisein der Aufnahmeleitung aufgezeichnet (vgl. Lenzhofer- Glantschnig 2015: 28 f.). Die Bearbeitung des Materials erfolgte auf die Weise, dass die relevanten Stellen der Aufnahmen mit EXMARaLDA transkribiert und anschließend ana‐ lysiert wurden. Die Relevanz der einzelnen transkribierten Passagen ergibt sich aus den in ihnen enthaltenen Verbalformen, wobei nur jene Kontexte transkri‐ biert wurden, in denen der Konjunktiv II realisiert wird. 4 Ergebnisse - Konjunktiv II-Bildung In der Standardvarietät lassen sich folgende Arten des Konjunktivs ausmachen: der Konjunktiv I und Konjunktiv II sowie die analytisch gebildete Form mit würde + Infinitiv (nach dem Muster ich würde geben). Der Konjunktiv I spielt in der Standardvarietät kaum noch eine Rolle und ist in den bairischen Dialekten gänzlich verschwunden - abgesehen von einigen formelhaften Wendungen (vgl. Zehetner 1985: 102 f.; Merkle 1996: 69). Während also die Präsensform der Kon‐ junktivkonstruktion in den bairischen Dialekten (wie in den meisten anderen Dialekten auch - mit Ausnahme einiger alemannischer) quasi nicht mehr vor‐ handen ist, zeichnet sich der Konjunktiv II hingegen durch eine morphologische Vielfalt und eine breite Verwendung unter Bairischsprechenden aus (vgl. Don‐ hauser 1992: 227; Fischer 2001: 143). 8 Diese sieht Donhauser darin begründet, „dass der Konjunktiv die einzige verbale Kategorie des Bairischen [ist], die mit fle‐ xivischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden kann. Dabei steht […] im Bairi‐ 91 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 9 Hierzu muss jedoch angeführt werden, dass von den synthetisch gebildeten Formen des Indikativs Präsens und des (eher spärlich verwendeten) Präteritum abzusehen ist, die ebenfalls flexivische Eigenschaften aufweisen (vgl. Donhauser 1992: 226). 10 Dieser Umstand ist der sog. Endsilbenabschwächung seit dem späten Althochdeutschen geschuldet (vgl. Donhauser 1992: 226). schen insbesondere mit dem ursprünglich aus dem Präteritum der schwachen Verben übernommenen Suffix -at eine flexivische Kennzeichnung zur Verfügung, die ebenso wie die Reste der starken Bildung des Konjunktivs Präteritum in den meisten Subdialekten des Bairischen eine eindeutige Identifizierung der Kategorie ‚Konjunktiv‘ erlaubt.“ (Donhauser 1992: 226; Hervorhebung im Orig.) 9 Darüber hinaus hat die präteritale Form des Konjunktivs in den bairischen Dia‐ lekten ihre Tempus-Bedeutung verloren; die Formen des Präteritums Indikativ und Konjunktiv sind weitgehend ident und die Funktionsbereiche, die ur‐ sprünglich dem Indikativ Präteritum zukamen, werden nun vom Konjunktiv Präteritum abgedeckt (vgl. Donhauser 1992: 226 f.; Fischer 2001: 143). 10 Mit Abbau der temporalen Opposition ‚Präsens vs. Präteritum‘ verlagert sich im Bairischen der „Ausdruck temporaler Funktionen fast ausschließlich auf die Ebene analytischer Formen, wobei die Funktionen des alten synthetischen Präteritums nun von den [...] Bildungen mit haben und sein übernommen werden“ (Donhauser 2001: 227; Hervorhebungen im Original). Die morphologische Vielfalt der Konjunktiv II-Bildung im (Südmittel)Bairischen lässt sich mit folgender Tabelle zusammenfassen: 92 Nina Bercko synthetische Formen schwache Verben starke Verben (1) starke Form: Konjunktiv der starken Verben mit Ab‐ laut ohne Suffix at + Personalendung - i/ er kam, du kamst etc. (2a) schwache Form: Präsensstamm + Suffix at + Personalendung Sg. 1. u. 3. P.: at + ØSg. 2. P.: a(t) + st Pl. 1. P.: at + n/ ma Pl. 2. P.: at + s Pl. 3. P.: at + n i/ er måchat du måcha(t)st wia måchatn bzw. måchatma ihr/ es måchats sie måchatn i/ er kumat/ kemat du kuma(t)st wia kumatn bzw. kumatma ihr/ es kumats sie kumatn (2b) gemischte Form: Präteritumstamm + Suffix at + Personalendung Sg. 1. u. 3. P.: at + ØSg. 2. P.: a(t) + st Pl. 1. P.: at + n/ ma Pl. 2. P.: at + s Pl. 3. P.: at + n - i/ er kamat du kama(t)st wia kamatn bzw. kamatma ihr/ es kamats sie kamatn analytische Formen (3) tun-Periphrase: Konjunktivformen von tun + Infinitiv ohne Suffix at + Personalendung i/ er tat/ tät må‐ chen etc. i/ er tat/ tät kuman/ keman etc. (4) würde-Periphrase: Konjunktivformen von werden + Infinitiv ohne Suffix at + Personalendung - i/ er würd kuman/ keman etc. (5) Periphrase durch wär/ wa/ hätt: Konjunktivformen von haben u. sein + Par‐ tizip II ohne Suffix at + Personalendung i/ er hätt gmåcht etc. i/ er wa/ wär kuman/ keman etc. Tab. 1: Möglichkeiten der Konjunktiv II-Bildung im Südmittelbairischen (vgl. Donhauser 1992: 228; Lenzhofer-Glantschnig 2015: 232) Neben der Bildung mit Ablaut (z. B. i kam) kann im Bairischen der Konjunktiv II ebenso synthetisch mit dem Suffix -at gebildet werden, wobei dieses entweder an den Präsens- oder an den Präteritumstamm angehängt wird (z. B. i kumat bzw. i kamat). Die analytischen Konjunktiv II-Formen bilden sich einerseits mittels würd- + Infinitiv (z. B. i würd kuman), was auch in der gesprochenen standardnahen Kommunikation eine sehr frequente Form darstellt (vgl. Tab. 2), andererseits mithilfe der tun-Periphrase, also tat-/ tät- + Infinitiv (z. B. i tat/ tät 93 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 11 Letztere sieht sich v. a. in der Standardvarietät immer wieder sprachpflegerischer Kritik ausgesetzt (vgl. etwa Sick 2006: 66). 12 Aufgrund des Umfangs kann an dieser Stelle nicht das Gesamtkorpus dargestellt werden, sondern es erscheinen lediglich die zur Veranschaulichung dienlichen trans‐ kribierten Beispiele. kuman). 11 Die Periphrase mit der Konjunktivform mittels der Hilfsverben haben/ sein, also hätt-/ wär- + Partizip II (z. B. i hätt gmacht bzw. i wär/ wa kuman) stellt eine ebenso frequente Gebrauchsweise sowohl in der standardnahen wie auch in der dialektalen Kommunikation dar. Die folgende Tabelle soll die Konjunktiv II-Verteilung innerhalb der einzelnen Teilkorpora veranschaulichen: 12 TK G ab‐ solut TK G relativ (%) TK WZ ab‐ solut TK WZ relativ (%) TK HB ab‐ solut TK HB relativ (%) (1) starke Verben 0 0 % 0 0 % 0 0 % (2) Suffix -at 1 3,2 % 7 16,7 % 5 23,8 % (3) tat/ tät + Inf. 2 6,5 % 6 14,3 % 3 14,3 % (4) würd- + Inf. 10 32,3 % 1 2,4 % 0 0 % (5) wär/ wa/ hätt + Part. II 18 58,1 % 28 66,7 % 13 61,9 % Summe 31 100 % 42 100 % 21 100 % Tab. 2: Konjunktiv II-Varianten (absolute und relative Häufigkeiten) Im Folgenden wird auf die einzelnen Formen und ihre Verteilung näher einge‐ gangen. Den Tabellen 1 und 2 entsprechend werden in den nächsten Abschnitten zunächst die synthetischen Konjunktiv II-Formen und anschließend die analy‐ tischen Formen beschrieben und anhand von Beispielen aus den Teilkorpora dokumentiert. 4.1 Synthetische Formen 4.1.1 Typ (1): Starke Form Die Bildung nach Schema (1) mit Ablaut der starken Verben ist im stetigen Abbau begriffen und alle starken Konjunktivformen dieses Musters können durch schwache Formen ersetzt werden (mit Ausnahme von haben (i *hobat), sein (i 94 Nina Bercko 13 Bei Merkle (1996: 71) findet sich eine Liste aller starken Konjunktiv II-Formen inkl. ihrer schwachen und ggf. gemischten Entsprechungen (Bsp.: i kaam - i kemad - i kaamad ‚käme‘). Auch Zehetner (1997: 105) führt eine solche Liste an. 14 Diese Annahme wird auch durch die Untersuchung von Lenzhofer-Glantschnig (vgl. 2015: 240 f.) bestätigt, in der zwar jugendsprachliche Phänomene untersucht werden, allerdings zu Vergleichszwecken ein Kontrollkorpus mit erwachsenen Sprechern (Teil‐ korpus ED) herangezogen wird. In ihrer Analyse finden sich von insgesamt 62 Belegen lediglich fünf Belege des Typs (1). [2] *binat), können (i *kaunnat), tun (i *tuat)) (vgl. Merkle 1996: 70 f.). 13 Auch Wie‐ singer teilt diese Ansicht, wenn er schreibt, der Konjunktiv II mit Ablaut werde „nur mehr von wenigen starken Verben, und das bloß noch in einzelnen Ge‐ genden, gebildet“ (Wiesinger 1989: 56). Die synthetische Konjunktiv II-Bildung nach Typ (1) ist im vorliegenden Korpus nicht belegt. Leider kann in Bezug auf diesen Bildungstyp keine Aussage getroffen werden, außer dass das Vorkommen keines Belegs vielleicht ein Zei‐ chen dafür sein könnte, dass hier wirklich ein Rückgang zu verzeichnen ist bzw. die Konstruktion im gegenwärtigen Südmittelbairischen eher selten vorkommt oder auf andere Formen ausgewichen wird. Da keine Vollverben in dieser Gruppe belegt sind und nur durch diese eine gesicherte Aussage getroffen werden kann, muss Typ (1) von der Analyse ausgenommen werden. 14 4.1.2 Typ (2): Schwache und gemischte Form mit Suffix -at „Während die Hochsprache nur mehr für manche starke Verben noch eine eigene einfache Form des Konjunktivs II kennt (ich gäbe), kann die Mundart zu jedem Verbum, gleichgültig ob stark oder schwach flektiert, eine eigene unverwechselbare Konjunk‐ tivform bilden“ (Zehetner 1997: 117; Kursivierung im Orig.; Unterstreichungen im Orig. gesperrt). Dies geschieht mithilfe des Suffix -at [at] (Schema 2), das entweder an den Prä‐ sens- oder den Präteritumstamm (jeweils + Personalendung) angehängt wird (i måchat; du kamatst). Diese (schwache) Morphematik kann auf starke Verben übertragen werden und so zu einer gemischten Form führen (vgl. Typ 2a in Tab. 1). Diese Bildung ist auch in den drei Teilkorpora belegt, allerdings zeigen sich deutliche Unterschiede in der Frequenz, denn im TK G ist mit nur einem Beleg diese Form der Konjunktiv II-Bildung kaum vertreten, wohingegen im TK WZ mit sieben Belegen und im TK HB mit fünf Belegen diese Form deutlich vermehrt auftritt. (--)i glaub des gangat sogor [G, Z. 270] (‚Ich glaube, das ginge sogar‘) 95 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung 15 Nimmt man das TK G (im Vergleich zu den beiden anderen) als jenes des standard‐ näheren Sprachgebrauchs, dann deckt sich dieses Ergebnis auch mit den Ergebnissen der Untersuchung von Lenzhofer-Glantschnig (vgl. 2015: 240). In Bezug auf die Kon‐ junktiv II-Bildung mit tun-Periphrase nimmt in ihrem Teilkorpus ED diese Bildungs‐ variante bei Dialektsprechern eine mittlere Position ein. [3] [4] [5] [6] [7] (-)dass er so sogat; na waßt wos, des miaß ma jetzt oba mochn [WZ, Z. 124] (‚dass er so sagte: „Na weißt du was, das müssen wir jetzt aber machen“‘) die verkaiferin sultat des jo wissen; wer (.) wölche marken wie schneidet [HB, Z. 158] (‚Die Verkäuferin sollte das ja wissen, wer welche Marken wie schneidet‘) Die Beispiele belegen, dass das Suffix -at zur Markierung des Konjunktivs II sowohl für schwache (sogat; vgl. [3]) als auch für starke Verben (gangat; vgl. [2]) bzw. Modalverben (sultat; vgl. [4]) gebraucht wird. 4.2 Analytische Formen 4.2.1 Typ (3): tun-Periphrase Anhand des vorliegenden Korpus kann nicht bestätigt werden, dass die tun- Periphrase die bevorzugte Konjunktiv II-Bildungsvariante darstellt. In den Teil‐ korpora WZ und HB nimmt sie ungefähr eine Mittelstellung ein, während im TK G die Konjunktiv II-Bildung mit dieser Variante mit nur zwei Belegen eher wenig Verwendung findet. 15 Die Konjunktivform von tun kann im Südmittel‐ bairischen entweder mit oder ohne Umlaut realisiert werden (z. B. i tät måchen bzw. i tat kuman), wobei die Variante ohne Umlaut eher regional bedingt sein dürfte (vgl. folgende Bsp.). jetzt tu net so als tätst di auskennen [G, Z. 555] (‚Jetzt tu nicht so als tätest du dich auskennen! ‘) (-)stott dass des irgendwie so gleichmäßig a bissl verteilen tatn [WZ, Z. 387] (‚statt dass [sie] das irgendwie so gleichmäßig ein bisschen verteilen täten.‘) des tat mi interessieren [HB, Z. 268] (‚Das täte mich interessieren.‘) Die tun-Periphrase, als Konjunktiv II-Variante besonders im mittel- und ober‐ deutschen Sprachraum in Verwendung (vgl. Brinckmann / Bubenhofer 2012: 163, Abb. 1), lässt sich mit 14,3 % im TK WZ und TK HB etwa doppelt so oft nachweisen wie im TK G mit 6,5 %. 96 Nina Bercko [8] [9] [10] [11] [12] 4.2.2 Typ (4): würde-Periphrase Die Konjunktiv II-Bildung mit würd- + Infinitiv findet sich im TK G mit 32,3 % im Gegensatz zu TK WZ mit 2,4 % verhältnismäßig oft, während das TK HB keine Belege verzeichnet und somit diesbezüglich keine Aussage getroffen werden kann. i würd sogen es (.) sie san besser als rammstein [G, Z. 528] (‚Ich würde sagen, sie sind besser als Rammstein.‘) (--)wos do verlieren würden [WZ, Z. 321] (‚was [sie] da verlieren würden‘) Wie anzunehmen war, finden sich im TK G die meisten würde-Formen für den Konjunktiv II, was dadurch begründet werden kann, dass TK G, als Stadtspra‐ chenkorpus, stärker dem Einfluss standardsprachlichen Gegebenheiten unter‐ liegt, als es für ländliche Gemeinden der Fall ist. 4.2.3 Typ (5): Periphrase durch wär/ wa/ hätt Die letzte Form, in der im Korpus Konjunktiv II belegt ist, bildet die mit sein und haben in der Funktion als Hilfsverb in Verbalperiphrasen. Diese Bildung kommt im Korpus relativ häufig vor: im TK G mit 18 Belegen (58,1 %), im TK WZ mit 28 Belegen (66,7 %) und im TK HB mit 13 Belegen (61,9 %). jo aber es wär jo jetzt jänner wär gwesen; =oder? [G, Z. 164] (‚Ja aber, es [zweiter Geburtstermin] wäre ja jetzt Jänner wäre gewesen, oder? ‘) zu sowos wa_s sunst net kumman; =gö? [WZ, Z. 085] (‚Zu so etwas wäre sie sonst nicht gekommen, gell? ‘) wann_st hulzwänd gmocht hättst, =oda is jo wurscht wos mo- =sicher hätt_s a wos kost [HB, Z. 218 ff.] (‚Wenn du Holzwände gemacht hättest, oder ist ja Wurst was [du] ma[chst], sicher hätte es auch etwas gekostet.‘) Diese Form der Konjunktiv II-Bildung dient der Tempus-Funktion, was an diesen Beispielen auch nachvollzogen werden kann (alle Beispiele beziehen sich auf Vergangenes). Auch diese Gruppe kann nicht zur Analyse hinzugezogen werden (s. o.). Anhand dieses ersten Überblicks der einzelnen Gebrauchsweisen des Kon‐ junktivs II sollte ersichtlich geworden sein, wie vielfältig sich die Bildungs‐ varianten in gesprochener Sprache darstellen, besonders im Hinblick auf die in der Standardvarietät nicht existierende Form der synthetischen Bildung durch das Suffix -at sowie die zwar auch in der Standardvarietät existente, aber als „nicht korrekt“ (Duden 2011: 907) angesehene tun-Periphrase. Letztere gilt als 97 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung „umgangssprachliche und meist auch überflüssige Erweiterung des Prädikats. […] Bei links herausgestelltem Infinitiv, also wenn das Verb besonders hervorgehoben werden soll, ist die Erweiterung mit tun jedoch sinnvoll, weil dann das tun die syntaktische Funktion des Verbes übernehmen muss: Singen tut sie gern.“ (Duden 2011: 907; Her‐ vorhebungen im Orig.) 5 Fazit Für die Analyse hinsichtlich Stadt-Land-Differenzen interessant sind nach den vorangegangen Beschreibungen Typ (2), (3) und (4). Die Verteilung der ver‐ bleibenden Konjunktiv II-Varianten auf die jeweiligen Teilkorpora ergibt nun ein neues Bild, das eine klare Tendenz aufweist: TK G absolut TK G relativ (%) TK WZ absolut TK WZ relativ (%) TK HB absolut TK HB relativ (%) (2) Suffix -at 1 7,7 % 7 50 % 5 62,5 % (3) tat/ tät + Inf. 2 15,4 % 6 42,9 % 3 37,5 % (4) würd- + Inf. 10 76,9 % 1 7,1 % 0 0 % Summe 13 100 % 14 100 % 8 100 % Tab. 3: Konjunktiv II-Varianten (absolute und relative Häufigkeiten; modifiziert) Die Anzahl der Belege legt die Vermutung nahe, dass im TK HB, das sich durch eine stärker dialektale Ausprägung auszeichnet, der Konjunktivgebrauch einer‐ seits weniger frequent Verwendung findet und andererseits dabei auf andere Formen zurückgegriffen wird als im weniger dialektalen TK G. Diese Annahme wird durch TK WZ gestützt: Während im TK G 76,9 % der Äußerungen mit der würde-Form (Typ 4) und nur 7,7 % mit der synthetischen Suffix-Variante (Typ 2) realisiert werden, zeigt sich im TK WZ und im TK HB ein gegenteiliges Bild, nämlich nur 7,1 % (TK WZ) der Äußerungen fallen auf die würde-Periphrase (kein Beleg für TK HB) und 50 % (TK WZ) bzw. 62,5 % (TK HB) der Realisierungen auf die Suffix-Variante. In Bezug auf die Konjunktiv II-Bildung mit der tun-Pe‐ riphrase (Typ 3) finden sich die meisten Belege im TK WZ mit 42,9 %, gefolgt von TK HB mit 37,5 % und G mit 15,4 %. Die verschiedenen unterschiedlich stark dialektal geprägten Varianten lassen sich in einem Dialekt-Standard-Kontinuum nach folgendem Schema aufspannen: 98 Nina Bercko 16 Vgl. hierzu auch die Untersuchungsergebnisse von Lenzhofer-Glantschnig (2015: 240), welche für die würde-Form in Teilkorpus ED immerhin 3,23 % (zwei Belege) nachweisen. [13] Abb. 2: Konjunktiv II-Varianten zwischen Dialekt und Standard (Lenzhofer-Glantschnig 2015: 239) Bezugnehmend auf die oben angestellte Vermutung, dass womöglich einer Form gegenüber einer andern der Vorzug gegeben wird, sei mit folgendem Beispiel (13) der Gedanke weitergeführt: oba auf der onderen seiten tät er si scho a vielleicht sorgen mochen [WZ: 393] (‚Aber auf der anderen Seite täte er sich schon auch vielleicht Sorgen machen.‘) Es kann zwar anhand des Korpus keine gesicherte Aussage diesbezüglich ge‐ troffen werden, allerdings wirft Lenzhofer-Glantschnig hinsichtlich „distanz‐ stellungsfähigen Verben mit Inkorporierung des Substantivs“ (2015: 248; vgl. Bsp. 13) folgende Frage auf: „Falls in diesen oder ähnlichen grammatischen Kontexten eine analytische Konjunk‐ tivbildung begünstigt wird, stellt sich aber immer noch die Frage, warum dann der tätegegenüber der würde-Konsatruktion der Vorzug gegeben wird.“ (Lenzhofer- Glantschnig 2015: 248; Hervorhebungen im Orig.) Kritisiert wird in diesem Zusammenhang die Gleichsetzung der würdemit der tun-Periphrase aus dem Grund, dass die würde-Periphrase im „Aleman‐ nisch-Bairisch-Österreichischen nicht heimisch“ sei und „als standarddeutsches Identifikat vermieden [wird]“ (Abraham / Fischer 1998: 37). Die vorliegenden Daten stützen diese Behauptung jedoch nicht, denn wie der Tabelle 3 ent‐ nommen werden kann, sind im Gesamtkorpus 11 Äußerungen mit der würde-Variante belegt, trotz der im Dialekt zur Verfügung stehenden syntheti‐ schen Variante mit Suffix -at. 16 Ein möglicher Einflussfaktor, der generell für eine periphrastische Konjunktiv II-Bildung spricht, könnte Abraham / Fischer (1998: 43) zufolge in der „Vermeidung komplizierter morphologischer und phonotaktischer Bildungen, d. h. undurchsichtiger bzw. schwieriger Flexions‐ formen, ungünstiger Silbenstrukturen oder rhythmisch komplizierter Formen 99 Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung [14a] [14b] [liegen]“. Als Beispiel nennen die Autoren das Verb zittern, das in der syntheti‐ schen Form ziterat (nach Typ 2) und in der umschriebenen Form i tat zittern (nach Typ 3) lautet (vgl. ebd.). Auch Verben „deren Stammvokal auf -t auslautet“ (ebd.) weisen diesen morpho-phonologischen Effekt auf. Im vorliegenden Korpus findet sich leider kein Beleg, aber Lenzhofer-Glantschnig (2015: 249) führt das anhand eines südbairischen Beispiels aus dem ED-Korpus vor: na oba de tat sunscht ban [NAme] oben oarbeten [ED 4, Z. 1290] (‚Nein aber die täte sonst beim [Name] oben arbeiten.‘) de oarbetat sunscht ban [NAme] oben [MLG, konstruiert] (,Die arbeitete sonst beim [Name] oben.‘) Es ist in diesem Rahmen nicht zu klären, warum in Beispiel [14a] eben diese Form der synthetischen vorgezogen wird (bzw. ob es sich überhaupt um eine Präferenz handelt). Inwieweit solche Einflussfaktoren bestehen und ob diesbe‐ züglich funktionale Unterschiede auszumachen sind, kann nur mit einem an‐ gemessen großen Korpus untersucht werden. 6 Zusammenfassung Mit der vorliegenden Pilotstudie wurde die Konjunktiv II-Bildung im südmit‐ telbairischen Sprachraum hinsichtlich eines Stadt-Land-Vergleichs untersucht. Im Zentrum steht dabei keine wie auch immer geartete und welchen Wertkri‐ terien auch immer folgende Beurteilung von dialektalem Sprachgebrauch, son‐ dern eine deskriptiv-empirische Untersuchung. Zu diesem Zweck wurde eine korpusbasierte Analyse gesprochener Sprache von erwachsenen Dialektspre‐ chern am Land im Vergleich zu jenen in der Stadt durchgeführt. In Bezug auf die theoretische Fassung arealer Sprachvariation wurde ein prinzipiell varia‐ tionslinguistischer Standpunkt von Sprache verfolgt, in dem nicht von ‚der‘ homogenen Stadtsprache oder ‚der‘ Sprache am Land die Rede sein kann. Vari‐ etät wird dabei nicht als homogener Forschungsgegenstand begriffen, sondern als - um mit Berutto (2004) zu sprechen - ‚Verdichtung‘ in einem Kontinuum. Die Ergebnisse der empirischen Analysen seien im Folgenden in zusammenge‐ fasster Form noch einmal dargelegt. Zusammenfassend lassen die vorliegenden Daten hinsichtlich Konjunktiv II-Bildung darauf schließen, dass in stärker dialektal geprägten Gebieten auf andere Formen zurückgegriffen wird. So finden vermehrt synthetische Bil‐ dungsweisen der Form i gebat/ gabat Verwendung, ebenso wie analytische Formen, allerdings nicht nach dem standardsprachlich akzeptierten Schema i würd geben, sondern in Form der tun-Periphrase. Es zeigt sich generell eine 100 Nina Bercko entgegengesetzte Tendenz im Vergleich der Teilkorpora: Während im weniger stark dialektalen TK G die Tendenz in Richtung würde-Periphrase geht, sinkt diese Tendenz in den beiden anderen Teilkorpora. Im Hinblick auf die Nutzung der synthetischen Konjunktiv II-Form mit Suffix -at zeigt die Tendenz in die andere Richtung. So finden sich in den stärker dialektal geprägten Teilkorpora viele Beispiele für diese Form, im TK G findet sie kaum Verwendung. Im Ver‐ gleich zur Pluralbildung zeigen die Zahlen zumindest in eine gewisse Richtung, sodass eine Einpassung in das Dialekt-Standard-Kontinuum möglich ist. Ein‐ leuchtend scheint der von Ammon (2003) konstatierte Gradualismus, wobei die Wahl die Sprachform nicht nur geographischen Determinanten unterliegt, son‐ dern unter anderem auch durch das Maß an Vertrautheit der Interaktionspartner oder soziale Faktoren bestimmt wird. Für die Analyse soll abschließend festgehalten werden, dass sie auf statischen Daten beruht und somit nur eine Momentaufnahme innerhalb eines Prozesses abbilden kann. Aufgrund der geringen Datenmenge kann lediglich von Ten‐ denzen gesprochen werden, nicht von allgemeingültigen Gesetzen. Es sollte dennoch deutlich geworden sein, wie sich der Sprachgebrauch in der Stadt im Unterschied zu dem am Land darstellt, auch wenn sich durch diese Analyse viele Fragen aufgetan haben, die einer eingehenderen Untersuchung - in einem an‐ deren, vielleicht größeren Rahmen - bedürfen. Die vorliegende Pilotstudie kann als Zustimmung zur von Nübling (2005) gestellten Forderung einer vermehrten Beschäftigung mit dialektvergleichender Morphologie verstanden werden, da „[d]ie vergleichende Morphologie nicht nur der deutschen Mundarten [...] eine Herausforderung für die Dialektologie [bleibt]“ (Haas 1988: 64; zitiert nach Nübling 2005: 81). Literaturverzeichnis Abraham, Werner / Fischer, Anette (1998): Das grammatische Optimalisierungsszenario von tun als Hilfsverb. In: Karin Donhauser / Ludwig Eichinger (Hg.): Deutsche Gram‐ matik - Thema und Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Ge‐ burtstag. Heidelberg, 35-48. 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Fallstudie zu Austrian Airlines im Vergleich mit Lufthansa und SWISS Mateusz Maselko Gliederung: Einleitung Unternehmenssprache Wirtschaftskommunikation Begriffserklärung und -abgrenzung Ziele unternehmensspezifischer Sprache Betriebswirtschaftliche und linguistische Perspektive Die Lufthansa Group und ihr (Sprach-)Konzept Hintergrundinformationen und (sprach)soziologisches Interesse (Non-)‚Nationale‘ (Luftfahrt-)Marke(n) Austrian Airlines Vorbemerkungen zum Unternehmen und zur Methodologie Unternehmensleitbild ‚Austrian(n)ess‘(-Effekte)? ‚Nationale‘ Identität Mikrostrukturelle Elemente Conclusio 1 Einleitung Die naheliegendste Sichtweise auf ein Unternehmen ist sicherlich ökonomi‐ scher Natur und versteht darunter „eine wirtschaftlich-finanzielle und recht‐ liche Einheit […], für die das erwerbswirtschaftliche Prinzip konstituierend ist […] - im Gegensatz z. B. zu öffentlichen Betrieben“ (Haric / Berwanger 2018). Ein Unternehmen kann aber gleichzeitig unter anderem Blickwinkel betrachtet werden als „ein soziales Gebilde, in dem verschiedene Interessengruppen kommunikativ mit‐ einander agieren. Aus dieser Konstellation stellen sich zwangsläufig die […] Fragen nach den sozialen Praktiken des Sprechens, also danach, welche sozialen Gruppen warum/ wozu wie mit wem kommunizieren, wie sich Gruppen kommunikativ ge‐ genüber anderen kategorisieren, profilieren und positionieren […], wie sie sich kommunikativ abgrenzen oder wie sie kommunikativ koalieren“ (Efing 2018: 474). Der Kommunikation einer wirtschaftlichen Organisationseinheit, hier unter den Begriff Unternehmenssprache gefasst, geht der vorliegende Beitrag unter zwei Fragestellungen nach: Einerseits soll an einem konkreten Beispiel, nämlich Air‐ lines, die Alltagsrealität/ -kultur in der globalisierten Welt untersucht werden. Dabei kommen betriebswirtschaftliche, soziolinguistische und textlinguistische Aspekte zur Sprache. Andererseits geht es um ‚terminologische‘ Fragen, denn in diesem Feld konkurrieren sehr unterschiedliche Bezeichnungen, die zumin‐ dest teilweise mit weitreichenden programmatischen Positionen verbunden sind. Daraus ergibt sich folgende Struktur des Beitrags: In Kapitel 2 wird aus de‐ finitorischer und programmatischer Perspektive der Versuch unternommen, den Begriff und das Konzept von Unternehmenssprache innerhalb der Forschung zu verorten. Dabei sind notwendigerweise wirtschafts- und sprachwissenschaft‐ liche Zugänge, aber auch die Praxis von ‚Kommunikationsfirmen‘ einzube‐ ziehen. Diese propagieren nämlich Unternehmenssprache als zentrales Marke‐ tinginstrument und spezifizieren die damit verfolgten Ziele. In Kapitel 3 wird der größte Luftfahrtkonzern Europas, die Lufthansa Group, vorgestellt. Im Mit‐ telpunkt stehen die Marktstrategie-Modelle einzelner Fluggesellschaften dieser Gruppe, die sich darin unterscheiden, inwieweit sie auf die globale, nationale oder regionale Karte setzen. Kapitel 4 vertieft diese Frage für die Lufthansa- Tochtergesellschaft Austrian Airlines und setzt sich mit ihrer ‚nationalen‘ Iden‐ tität auseinander. Dabei geht es insbes. um die Frage, welche Bedeutung hier dem österreichischen Deutsch zukommt. Das Schlusskapitel reflektiert die be‐ handelten Inhalte und bietet einen Vorschlag für eine Definition von ‚Unter‐ nehmenssprache‘ an. 106 Mateusz Maselko 1 Dies spiegelt sich v. a. in der zunehmenden Anzahl an Fachpublikationen (zum Über‐ blick s. Mautner / Rainer 2017b). 2 Unternehmenssprache 2.1 Wirtschaftskommunikation In der Forschungslandschaft beobachtet man in letzter Zeit ein wachsendes In‐ teresse an Wirtschaftskommunikation, 1 zahlreiche (insb. englischsprachige) Arbeiten stammen allerdings aus anderen Wissenschaften als der Linguistik - etwa Wirtschaftswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre und Kommunikati‐ onswissenschaften: „[B]usiness communication remains underrepresented in standard handbooks and textbooks on applied linguistics, and, despite its day-to-day relevance, is often drowned out by studies of language in other social settings, such as politics, healthcare and education. Equally, across the disciplinary divide, in organizational, management and communication studies, the specifically linguistic aspects of business communi‐ cation are generally sidelined or completely ignored. Thus, while there is a strong trend towards research in business communication, that trend needs strengthening further, and in parts refocusing, especially where the contribution of linguistics is concerned.“ (Mautner / Rainer 2017b: 3) Auch wenn die sprachbezogenen Aspekte v. a. in nicht-linguistischen Publika‐ tionen eher ausgeblendet werden, steht außer Zweifel, dass der sprachliche Ausdruck im Zentrum der Wirtschaftskommunikation steht. „Business activity is, in general, constituted through language. All production pro‐ cesses are organized and mediated through language. Language - in both its written and spoken forms - must therefore be viewed as central to any work carried out in a business context.“ ( Janich 2017: 41) Das sprachliche Handeln im wirtschaftlichen Bereich wird im Englischen eini‐ germaßen konsequent Business Communication genannt. Manchmal wird auch im Deutschen auf diesen Begriff zurückgegriffen, was natürlich mit der Bedeutung der englischen Sprache in diesem Fachgebiet und der Wirtschaft ge‐ nerell zu tun hat. Daneben sind zwei deutsche Ausdrücke geläufig, die je nach dem Blickpunkt variieren: Wirtschaftskommunikation und Unternehmens‐ kommunikation (vgl. etwa Efing 2018; Mast 2016; Vogel 2012). Der Ausdruck mit dem Erstglied Unternehmenentspricht einer recht eindeutigen Betriebs‐ orientierung, zumal Unternehmen in (der deutschen Fassung von) Porters 107 Unternehmenssprache: regional - national - global? 2 Das Buch ist 1985 zuerst in englischer Sprache erschienen und bereits ein Jahr später ins Deutsche übersetzt worden. 3 „In terms of communicative practices in business, this means that, despite diverse ob‐ jectives/ work tasks, addressees and media, messages such as those relating to the com‐ pany’s values should not contradict one another at the level of content. Ideally, at the level of form, something approaching a consistent corporate style should also be re‐ cognizable.“ ( Janich 2017: 49 f.) Wert(schöpfungs)kette (Value Chain) verwendet wird (vgl. Porter 2014: 61 ff.). 2 Auf diese Kette nimmt auch die folgende Definition von Business Communica‐ tion Bezug: „Business communication can […] be understood as all linguistic-communicative pro‐ cesses and parts of activities that occur along such [value] chains, together with all supporting and management activities, as well as the interplay between these. […] Within the broad context provided by value chains, many varied contexts of interac‐ tion arise. Moreover, varied communication media (e. g., from printed texts to online texts) are interwoven in complex patterns with mutually referential and intertextual modes of communication (e. g., from spoken language to images). […] Companies face the challenge of making appropriate use of these increasing and increasingly diverse media options in order to create value. […] Thus, for business communication, ‚in‐ tegrated‘ means not just something like ‚consistent in terms of content and language‘ […], but also ‚coordinated and aligned among the different media‘. Achieving this requires management of a large number of new text types […] and forms of commu‐ nication“ ( Janich 2017: 51). Dem (abgestimmten) Sprachverhalten (eines Unternehmens) - oder wie es in der Betriebswirtschaftslehre heißt: integrierter Kommunikation  3 - kommt mithin eine wichtige Rolle zu. 2.2 Begriffserklärung und -abgrenzung Der für den vorliegenden Beitrag gewählte Ausdruck Unternehmenssprache findet in der (sozio)linguistischen Forschungslandschaft kaum Beachtung - so das grobe Ergebnis einer Literaturrecherche. Weder in den (neusten Auflagen der) zwei meist verbreiteten Lexika der Sprachwissenschaft, d. h. Bußmann (2008) und Glück / Rödel (2016), noch in den einschlägigen Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Soziolinguistik, Fachsprachen, Kon‐ taktlinguistik, Sprache - Kultur - Kommunikation) lässt sich dazu ein entspre‐ chender Eintrag finden. Auch außerhalb der Linguistik ist der Begriff bzw. das dahinterstehende Kon‐ zept nicht besonders verbreitet. Vogel (2012: 28) behauptet zwar, er werde „in‐ 108 Mateusz Maselko 4 Es wird lediglich im Eintrag zur Corporate Language auf die Unternehmenssprache ver‐ wiesen (allerdings ohne direkte Verlinkung), nämlich als umgangssprachliche Variante des englischen Ausdrucks (vgl. Wikipedia. Stichwort Corporate Language). Dass dies inhaltlich fragwürdig ist, wird im Folgenden gezeigt. 5 Die Grundlage bilden alle öffentlichen Korpora des Archivs W3 (April 2018). 6 Eine kontrastive Analyse der Google-Ergebnisse ergibt, dass im Vergleich zu Unterneh‐ menssprache (18.700) einige der englischen Begriffe häufiger vorkommen: Corporate Language (165.000), Corporate Speech (51.400), Corporate Wording (18.800), Corporate Tonality (337). Die Zahlen sind aber dennoch nicht sehr eindrucksvoll, v. a. wenn man den Verbreitungsgrad des Englischen mitberücksichtigt. nerhalb der Unternehmenskommunikation in Bezug auf Sprache bereits ver‐ wendet und in der relevanten Literatur entsprechend diskutiert […] (etwa bei Sauer 2002; Emmerling 2007)“, insgesamt finden sich jedoch nur relativ wenig Belege. Um einen groben Überblick zu gewinnen und zumindest Pauschalaus‐ sagen treffen zu können, sind die Online-Instrumente Wikipedia und Google konsultiert worden (Stand: April 2018). Unter einer imposanten Anzahl von 2.170.842 Wikipedia-Artikeln ist keiner zur Unternehmenssprache vorhanden. 4 Auch 18.700 eruierte Google-Ergebnisse sind nicht bes. beachtlich - v. a. ange‐ sichts der enormen Menge an Unternehmens(beratungs)-/ Werbe-/ Design-/ …- Agenturen, die sich heute (aktiv) am Markt beteiligen und eine bestimmte Lesart von Unternehmenssprache propagieren. COSMAS  5 schließlich liefert ganze 56 Belege, wovon die große Mehrheit (45) auf die Lesart entfällt, die Vogel (vgl. 2012: 27) als ‚Lingua franca in einem (internationalen) Unternehmen‘ fasst (so etwa in der Aussage Französisch ist Unternehmenssprache). „Damit wird Unter‐ nehmenssprache auf die interne Kommunikation beschränkt und der Terminus im Sinne einzelsprachlicher Ausprägungen verwendet“ (ebd.). Was AkteurInnen, die hier eine Marktlücke vermuten, unter dem Ausdruck verstehen, zeigt die Webseite einer der erwähnten Agenturen, die damit wirbt, Leistungen im Bereich der „Unternehmenssprache, Corporate Language, Cor‐ porate Wording, Corporate Speech, Corporate Tonality“ (Liebchen+Liebchen Kommunikation) anzubieten. Dabei setzt sie offensichtlich auf die (Quasi-)Syn‐ onymie, ohne sich für einen bestimmten Ausdruck zu entscheiden. Die ausge‐ prägte Konkurrenz der (zumindest theoretisch) zur Verfügung stehenden Be‐ griffe ist flagrant; unverkennbar (auch im obigen Agenturzitat) der enorme Einfluss des Englischen. 6 Für den geringen Verbreitungsgrad sind sicherlich mehrere Faktoren verant‐ wortlich. Tatsächlich weckt das sprachlich-ökonomische Konzept der Unter‐ nehmenssprache noch nicht bes. viel Interesse der (im deutschsprachigen Gebiet niedergelassenen) Betriebe (dazu konkreter in 2.3). Selbst Betriebswirtschafte- 109 Unternehmenssprache: regional - national - global? 7 In diesem Zusammenhang betont etwa Emmerling (vgl. 2007: 9 f.) in Bezug auf den Begriff Corporate Language, dass sich dieser in der Marketing-Landschaft noch nicht weiträumig etabliert hat. Zum populärwissenschaftlichen Einstieg in die Thematik s. zudem Sieber (2004). rInnen sprechen dem Begriff - oder im Allgemeinen dem Gesamtkonzept um ihn herum - kaum Mehrwert zu. 7 Außerdem ist der Ausdruck sowohl aufgrund seiner Etymologie und Morphologie (Verzicht auf Eurolatein) als auch Wortbil‐ dung stark deutsch ‚vorbelastet‘ und daher auf die deutsche Sprache einge‐ schränkt. Drittens stößt man auf terminologischer Ebene auf diverse Kompli‐ kationen. Die Fachliteratur ergibt, dass die obigen - dem Anschein nach synonymen - Begriffe funktional-situativ variieren (können) und nicht wie im zitierten Bei‐ spiel per se als ‚echte‘/ ‚stilistische‘ Varianten gleichzusetzen sind. Der deutsche Ausdruck Unternehmenssprache scheint prima facie dem englischen Ausdruck Corporate Language äquivalent zu sein. Dieser am Ende des 20. Jh. (von einem Deutschsprachigen und zunächst für den deutschsprachigen Raum) eingeführte Begriff ist allerdings auch nicht allgemein bekannt. „Corporate language denotes the total verbal communication with regard to form and content used by and in a company that serves to fulfil the company’s organizational goals by creating a unique corporate image both within and outside the company.“ (Beer 1996: 76 f.) Damit bezieht man sich mithin v. a. auf die Form bzw. (äußere) Gestaltung der Kommunikation in Hinblick auf ein einzigartiges Image, aber auch auf (lexika‐ lische) Schlüsselbegriffe und interne Fachbegriffe sowie ggf. die Rechtschrei‐ bung, die wiederum stark mit dem Stil in Verbindung stehen. Dabei beschäftigt man sich tendenziell weniger mit anderen Ebenen der Sprache wie der Syntax oder Morphologie (vgl. Buß 2006: 75; Vogel 2012: 26). Ähnlich wie Unternehmenssprache - auch wenn schwächer - betrifft Corpo‐ rate Language ebenfalls die Inhaltsebene. Dass sich sowohl der englische wie deutsche Terminus parallel auf die interne und externe Kommunikation be‐ ziehen können, ist als weitere Konvergenz zwischen den beiden zu konstatieren (vgl. Beer 1996: 79). Von den beiden Ausdrücken lädt der deutschsprachige Unternehmenssprache „wie andere Komposita auf -sprache […] in besonders starkem Maße zur Hyposta‐ sierung ein. […] Ganz wie es die Abbildtheorie bzw. die realistische Sprachauffassung nahelegt: Wenn Wörter die Wirklichkeit erfassen und es das (Fach-)Wort [Unterneh‐ menssprache] […] gibt, dann muss es auch ein reales Etwas geben, das dem korres‐ 110 Mateusz Maselko 8 In erster Linie handelt es sich hierbei selbstverständlich um potentielle KundInnen. Sie bilden in Masts (vgl. 2016: 109 ff.) (betriebswirtschaftlich orientierter) Klassifikation der unternehmerischen Kommunikationsfelder die erste Kategorie, genannt Zielgruppen (neben Kundschaft auch weitere AdressatInnen jeglicher Marketing- und PR-Aktionen eines Unternehmens wie z. B. Meinungsführer). Die zwei weiteren stellen dar Stake‐ holder (Anspruchsgruppen wie etwa AktionärInnen, KapitalgeberInnen, Lieferan‐ tInnen, Medien, MitarbeiterInnen, Regierungs- und Behördenorgane, interessierte Or‐ ganisationen und wiederum KundInnen) und Publics (soziale, gut organisierte Gruppen, die einem ähnlichen Problem gegenüberstehen und dieses erkennen). pondiert. Man ist also leichter geneigt, [Unternehmenssprache] […] als ein ‚existie‐ rendes Etwas‘ zu betrachten, und zwar als ein Etwas der Kategorie Sprache.“ (Adamzik 2018: 27; Hervorhebungen M. M.) Das liegt in außerlinguistischen Kreisen umso näher, als sich ohne Anstrengung bzw. Vorwissen Assoziationen mit anderen auf -sprache auslautenden Ausdrü‐ cken einstellen analog z. B. zu Umgangssprache, Jugendsprache, Schulsprache, Fachsprache, Predigtsprache und Nachrichtensprache. Diese Bezeichnungen gehen noch auf die vorsoziolinguistische Zeit zurück und sind nicht mit den modernen Determinata -varietät (vgl. Schmidt 2005) oder -lekt (vgl. Löffler 2010: 79 f.) versehen (worden). Für diese Arbeit und die Analysen des (ideologisch-sprachlichen) Konzepts der Airlines scheint der Begriff der Unternehmenssprache nicht zuletzt wegen seiner Vagheit geeignet zu sein. Dafür sprechen u. a. die Relevanz des Inhalts, Fokussierung auf die (werbende) Kommunikation mit der Kundschaft (und nicht etwa Texte juristischer Natur), Mitberücksichtigung von nicht nur lexikalischen Elementen (sondern auch den die anderen Bereiche der Sprache angehenden wie Morphologie, Syntax oder generell Grammatik). 2.3 Ziele unternehmensspezifischer Sprache Die Schaffung eines individualisierten Unternehmensimages über das Mittel der sog. integrierten Kommunikation dient der (sprachlichen) ‚Sichtbarmachung‘ einer Firma und soll letzten Endes zu wirtschaftlichem Erfolg führen. Dieses Anliegen wird in diverse (vermarktungstechnische wie ökonomische) (Teil-) Ziele zerlegt, die sowohl nach außen als auch nach innen wirken sollen, und sich wie folgt skizzieren lassen (vgl. Boenigk / Dopf 2012: 459 f.; Dunkl 2015: 19 f.; Efing 2018: 480 ff.; Vogel 2012: 26): Wiedererkennung: Erneute bzw. kontinuierliche Identifizierung der im Sprachgebrauch und Stil einheitlichen Unternehmenskommunikation seitens der adressierten Gesellschaftsgruppen. 8 111 Unternehmenssprache: regional - national - global? Differenzierung: Abgrenzung von der Konkurrenz durch einen auf der einen Seite einheitlichen (womöglich standardisierten) wie individualisierten und auf der anderen Seite qualitativ überdurchschnittlichen Sprachauftritt in der (zentral gesteuerten mündlichen wie schriftlichen) Kommunikation. Imageaufbau: Positive Beeinflussung des Firmenimages (Corporate Reputa‐ tion) durch Wertsteigerung der Leistungsangebote (Brand Value) und Stärkung der Unternehmenspersönlichkeit nach innen wie außen, welche u. a. auf der Kor‐ relation zwischen ‚Wort und Tat‘ basiert und in weiteren Phasen zum Erfolg der Integrationsaktivitäten in diversen Kommunikationsbereichen beitragen soll. Loyalität: Einerseits Treue der KundInnen und andererseits verstärktes Zu‐ sammengehörigkeitsgefühl (darunter auch Integration etwa von verschiedenen Fachabteilungen) und Solidarität mit der Firma bei eigenen MitarbeiterInnen durch die einheitliche Unternehmens(sprach)politik i. S. v. Corporate Behaviour. Kostensenkung: (Im Endeffekt) Reduzierung der Verwaltungs-, Vertriebs- und Marketingkosten durch regelmäßige und bewusste Umsetzung der Vor‐ gaben und Verwendung von Mustern. Das Wirkungspotential (von Sprache) wird allerdings von Betrieben eher ge‐ ringgeschätzt (vgl. Boenigk / Dopf 2012: 457; Winistörfer / Glas 2005: 2 f.). Nach einer Pilotstudie für die Schweiz von 2005 kennen beinahe 70 % der Kleinwie auch 56 % der Mittelgroß- und immerhin 40 % der Großunternehmen die Stra‐ tegien der integrierten Kommunikation wie Unternehmenssprache oder Corpo‐ rate Language nicht. Nur ein Teil der großen Unternehmen zeigt überhaupt In‐ teresse an der integrierten (Marketing-)Kommunikation bzw. Umsetzung einer gezielten Unternehmenssprache. Dagegen werden die Kommunikationsaktivi‐ täten von Schweizer (Mittelgroß-)Unternehmen primär formal (89 %), inhaltlich (67 %) und zeitlich (66 %) in Einklang gebracht. Lediglich 44 % der Firmen geben an, auf die sprachliche Abstimmung der Kommunikation zu achten. Unter ihnen sind jedoch nur 11 % mit ihren eigenen Leistungen auf diesem Gebiet zufrieden (vgl. Boenigk / Dopf 2012: 458 f.). Das mangelnde Interesse an Sprache beruht nach Winistörfer / Glas (2005: 3) u. a. auf der allenfalls relativen Sichtbarkeit direkten ökonomischen Profits aus gezieltem Umgang mit Sprache, denn „in einer Zeit, die von Schnelllebigkeit und starkem Wettbewerb geprägt ist, zählen prioritär finanzielle Resultate“. Einer der Leiter des oben genannten Projekts, Norbert Winistörfer, wird in einem Interview aus dem Jahre 2016 nach etwa zehn Jahren mit seinen damaligen Befunden konfrontiert und weist auf gewisse Verhaltensänderungen der Unternehmen beim Umgang mit der Sprache hin: „Die Bedeutung und das Wirkungspotenzial einer einheitlichen Unternehmens‐ sprache wird zunehmend erkannt. Das Problem ist eher: Es mangelt an den Voraus‐ setzungen. […] Will ich mir als Unternehmen eine Corporate Language zulegen, muss 112 Mateusz Maselko 9 So auch der Aufsatz Werbekommunikation aus betriebswirtschaftlicher Sicht II: Der An‐ satz der Integrierten Kommunikation und seine Erweiterungen (Boenigk / Dopf 2012). es Kommunikationsziele geben. Im Sinne von: Für was stehen wir? Wie positionieren wir uns? Wie wollen wir wahrgenommen werden? Diese Grundfesten müssen defi‐ niert sein, bevor ein Sprachkonzept erstellt werden kann. Hier jedoch sehe ich in vielen Unternehmen unglaubliche Lücken. Denn sind die Ziele nicht klar, bringt auch ein Sprachkonzept nichts.“ (extetera) 2.4 Betriebswirtschaftliche und linguistische Perspektive Um auf die zuvor aufgelisteten Ziele eines einheitlichen und bewussten Sprach‐ auftritts zurückzukommen, soll noch auf einen Aspekt eingegangen werden, den Efing (2018: 480) in seiner Analyse des aktuellen Forschungsstandes themati‐ siert. Nach seinen Ausführungen folgen die in 2.3 genannten Zielsetzungen eher der betriebsökonomischen Logik der Unternehmenskommunikation und we‐ niger der linguistischen: „Die BWL [= Betriebswirtschaftslehre] interessiert sich für Unternehmenskommuni‐ kation nicht im [sprachwissenschaftlichen] Sinne der Kommunikation innerhalb von Gruppen, sondern im Sinne der Kommunikation vom Unternehmen zu bestimmten Gruppen - und zwar vor allem mit einem Blick auf das strategische Kommunika‐ tionsmanagement und insbesondere die corporate identity und damit verbunden eine corporate communication eines Unternehmens. Kommunikation wird funktional als der Schlüssel zum Erfolg, als Wertschöpfungsmittel gesehen. Unternehmen sind hierfür mit ihren Anspruchsgruppen in ständiger Kommunikation, um kommunikativ soziales und symbolisches Kapital zu schaffen (Vertrauen, Reputation, Glaubwürdig‐ keit, Legitimität).“ (Efing 2018: 480) Abgesehen davon, dass beide Betrachtungsweisen, die der Betriebswirtschafts‐ lehre und die der Sprachwissenschaft, nur schwer voneinander zu trennen sind bzw. abgekoppelt werden können, wäre es auch bedauerlich, die ‚wirtschaftli‐ chen Aspekte‘ ganz der sprachfernen Disziplin zu überlassen. Daher wird hier nachdrücklich für ein überdisziplinäres linguistisch-betriebswirtschaftli‐ ches Verständnis von Unternehmenskommunikation plädiert (vgl. so auch Boenigk / Dopf 2012). 9 In diesem Sinne schreiben auch die HerausgeberInnen des Handbook of business communication in ihrer Einführung: „[B]usiness communication has attracted researchers from many disciplines apart from linguistics, such as management studies, communication studies, psychology and anthropology, to name just a few. […] There can be no doubt that a mature dis‐ 113 Unternehmenssprache: regional - national - global? 10 Weitere Anteile besitzt die Lufthansa bei der Sunexpress und (indirekt) der Edelweiss Air - der Schwestergesellschaft der SWISS. 11 Lufthansa Cargo ist eine Frachtfluggesellschaft und somit - im Gegensatz zu anderen abgebildeten Airlines - nicht im Bereich Passagierbeförderung tätig. cipline of business communication will eventually have to provide a grand synthesis of the insights provided from these different angles.“ (Mautner / Rainer 2017b: 3) 3 Die Lufthansa Group und ihr (Sprach-)Konzept 3.1 Hintergrundinformationen und (sprach)soziologisches Interesse Es dürften manche LeserInnen dieses Beitrags bereits einmal mit einer der zur Lufthansa Group gehörenden Airlines geflogen sein. Ob sich aber alle Passa‐ gierInnen der SWISS und Austrian Airlines (und ein paar anderer Fluglinien) bewusst waren, sich an Bord einer von der Deutschen Lufthansa AG übernom‐ menen Fluggesellschaft zu befinden, ist fraglich. Seit dem Jahre 2007 ist die ‚schweizerische‘ SWISS ein vollständiges Tochterunternehmen der Lufthansa, die ‚österreichische‘ Austrian Airlines seit 2009. Zu den beiden Fluggesell‐ schaften aus den Alpenländern ist ein paar Jahre später (2017) die ‚belgische‘ Brussels Airlines gekommen. Weiters sind die stark wachsende Billigfluglinie Eurowings und die in diese sukzessiv übergehende Germanwings wie auch die Frachtfluggesellschaft Lufthansa Cargo in die Lufthansa Group integriert. 10 Abb. 1: Drei Makrosegmente der Lufthansa Group(-Flotte) (Lufthansa Group. Unter‐ nehmen; Visualisierung M. M.) Inwiefern die SWISS sowie Austrian Airlines und ferner Brussels Airlines dem ‚nationalen‘ und ggf. regionalen Anspruch (s. Abb. 1, rote und gelbe Markie‐ rung 11 ) gerecht werden, der sich bei den zwei erstgenannten schon aus dem Namen ergibt, erweist sich aus mehrfacher - und somit auch nicht-linguisti‐ scher - Perspektive von Interesse. 114 Mateusz Maselko Abb. 2: Einteilung der zur Lufthansa Group gehörenden Airlines (Lufthansa Group. Pas‐ sagierbeförderung) (Visualisierung und Änderung M. M.) Der offizielle Auftritt der Lufthansa Group (www.lufthansagroup.com/ de/ home .html) teilt die zu ihr gehörenden Fluglinien nach dem Qualitäts- und Anteils‐ quotenprinzip in drei Gruppen ein (s. Abb. 2; Originalbild mit drei Kategorien im rosa Rahmen): • Muttergesellschaft bzw. ‚Qualitäts‘-/ Netzwerkairline: Lufthansa, • Tochtergesellschaften bzw. ‚Qualitäts‘-/ Netzwerkairlines: Austrian Air‐ lines, SWISS, • [auf rein touristische Destinationen ausgerichtete] Tochtergesellschaften bzw. ‚Billig‘-/ Punkt-zu-Punkt-Airlines, Gesellschaften mit strategischer Beteiligung und Charterairlines: Eurowings (inkl. Germanwings), Brus‐ sels Airlines, Edelweiss Air, Deutsche Sunexpress. Die von der Lufthansa Group bereitgestellte Dreier-Kategorisierung der betei‐ ligten Fluggesellschaften vermittelt eigentlich den Eindruck, es handle sich ent‐ sprechend um drei Gruppen, für die jeweils ein Merkmal als bes. hervorstechend gilt: entweder international oder national oder regional. Nur die originelle Zu‐ ordnung von Eurowings passt nicht optimal in dieses (Interpretations-)Schema. Es handelt sich nämlich um eine Airline, die schon allein von der Namengebung und der damit verbundenen politisch-geographischen Assoziation (international - supranational - kontinental - europäisch) her ganz oben platziert werden müsste: 115 Unternehmenssprache: regional - national - global? [1] Daher wird hier eine Modifikation vorgeschlagen (s. Abb. 2; geändertes Bild im lila Rahmen) - selbst wenn es klar ist, dass sich die Lufthansa Group gerade bei der Eurowings nach dem Faktor Qualität bzw. Streckennetzvariante gerichtet hat. Obgleich die Dreier-Einteilung nach arealen Kriterien (bis auf die Eurowings) einleuchtend und auch offensichtlich scheint, werden in der Übersicht über die Zielsetzung der gesamten Lufthansa Group die meso- und mikroarealen Aspekte ausgeblendet, um der (globalen) Makroebene den Vorzug zu geben: „Ziel der Lufthansa Group ist es, bei Kunden, Mitarbeitern, Aktionären und Partnern erste Wahl im Bereich Luftfahrt zu sein. So will die Lufthansa Group auch zukünftig den globalen Aviation-Markt wesentlich mitge‐ stalten. […] In einem sehr dynamischen Marktumfeld wird sich die Luft‐ hansa Group […] weiterhin erfolgreich als ein führender Aviation-Konzern positionieren. Diese Positionierung gilt es für die Zukunft abzusichern und profitabel auszubauen.“ (Lufthansa Group. Unternehmensprofil, Hervorhe‐ bungen M. M.) Wirft man einen Blick auf die zitierte Passage, wird deutlich, dass hier der welt‐ weite Erfolg im Vordergrund steht und die Identifizierung mit ‚nationalen‘ Werten oder generell Regionalem in Konflikt mit dem Image gerät, das sich der Konzernvorstand wünscht. Dieses soll schließlich für einen global bekannten und erfolgreichen bzw. sich dynamisch entwickelnden Konzern stehen, der heutzutage sowohl in Hinblick auf die ökonomischen Profite als auch die Mit‐ gestaltung der Personenbeförderungsbranche eine Pionierrolle einnimmt. 3.2 (Non-)‚Nationale‘ (Luftfahrt-)Marke(n) 3.2.1 SWISS(ness)-Strategie und Lufthansa-Konzept Der seit etwa Ende der 1990er Jahre existierende Scheinanglizismus Swissness dürfte nicht nur in wirtschaftlichen Kreisen ein Begriff sein, sondern auch sog. ‚DurchschnittsbürgerInnen‘ etwas sagen. Der für die Marke Schweiz stehende Begriff postuliert die Dachmarkenstrategie, die Schweiz ökonomisch als mo‐ derne und qualitätsreiche Marke zu positionieren, die u. a. Fairness, Präzision, Zuverlässigkeit und Spitzenqualität verbindet. Das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum schreibt dazu: „Der wirtschaftliche Wert von Schweizer Produkten und Dienstleistungen ist be‐ trächtlich. In einer zunehmend globalisierten Welt geniessen sie sowohl im Inals auch im Ausland einen hervorragenden Ruf: Schweizer Produkte und Dienstleistungen werden mit Exklusivität, Tradition und Qualität in Verbindung gebracht. Dieser gute Ruf erweckt Vertrauen, beeinflusst den Kaufentscheid der Konsumentinnen und Kon‐ 116 Mateusz Maselko sumenten und ist für Produzierende und Dienstleistungserbringende ein klarer Wett‐ bewerbsvorteil. Sie können mit der Schweiz in Verbindung gebrachte Produkte und Dienstleistungen in einem höheren Preissegment positionieren.“ (Eidgenössisches In‐ stitut für Geistiges Eigentum. Die „Swissness“-Gesetzgebung; Hervorhebungen M. M.) Das 2017 novellierte Markenschutzgesetz gestattet Dienstleistungsunter‐ nehmen, zu denen natürlich auch Fluggesellschaften zählen, in ihrer Werbung auf die Schweizer Herkunft zu verweisen. Das kann geschehen sowohl in tex‐ tueller Form bspw. mittels Made in Switzerland, Swiss made, Schweizer(isch), Swiss Quality als auch graphischer etwa durch die Abbildung des Schweizer‐ kreuzes, des Matterhorns oder Wilhelm Tells. Dies ist allerdings an bestimmte Bedingungen geknüpft, nämlich nur zulässig, „sofern das Unternehmen in der Schweiz einen tatsächlichen Sitz der Verwaltung hat. Am Ort der tatsächlichen Verwaltung werden massgebliche Tätigkeiten ausgeübt und massgebliche Entscheide getroffen, die direkt Einfluss auf die Dienstleistung haben.“ (Eidgenössisches Institut für Geistiges Eigentum. „Swissness“ kurz erklärt) Zieht man in Betracht, welches Ansehen die Marke Schweiz im In- und Ausland genießt, überrascht es kaum, dass auch die SWISS die Swissness-Strategie gezielt am Markt umsetzt und sich von ihr (wirtschaftliche) Profite erhofft. Die Fluglinie gibt dies zu erkennen, indem sie auf ihrer Webseite (www.swiss.com) - unab‐ hängig von der Sprachversion - unter dem zentral positionierten und somit nicht zu übersehenden Button Entdecken bewusst auf das realisierte (Marketing-)Kon‐ zept verweist. Die Schaltfläche Swissness ist in die Kategorie World of Swiss ein‐ gegliedert und dabei hierarchisch solch relevanten Faktoren wie Premium-Er‐ lebnis, Boden-Service-Hochqualität und Engagement im Kultur-, Sportsowie Sozialbereich vorangestellt (s. Abb. 3). Von höherer Bedeutung scheinen lediglich die zwei grundlegenden Kernaspekte der Luftfahrtpassagierbeförderung zu sein wie die Flotte zum Fliegen und die die Flüge operierenden Menschen. 117 Unternehmenssprache: regional - national - global? 12 In den objektsprachlichen Zitaten dieses Beitrags werden zur Differenzierung und Her‐ vorhebung die mit den Extrempolen Tradition und Modernität in Verbindung stehenden Elemente ausgezeichnet - die ersten durch Kursivierung, die zweiten durch Unter‐ streichung. [2] Abb. 3: Expliziter Hinweis auf die umgesetzte Swissness-Strategie auf der SWISS-Web‐ seite (Visualisierung M. M.) Zusätzlich werden vier Videoclips SWISS Traditions, SWISS Taste of Switzer‐ land, SWISS Schokolade und SWISS meets Caminada bereitgestellt. Die Swiss‐ ness-Strategie lässt sich ansonsten eindeutig aus einem kurzen Text ablesen: 12 „Zwischen Tradition und Moderne: Als Airline der Schweiz legen wir Wert darauf, unseren Gästen die facettenreiche Vielfalt der Schweiz näherzu‐ bringen. Traditionelle schweizerische Gastfreundschaft gehört für uns ebenso dazu wie die Zusammenarbeit mit Spitzenköchen, die hochwertige Produkte aus ihrer Region zu innovativen Gerichten verschmelzen lassen.“ (SWISS. Swissness; Hervorhebungen M. M.) Kurz resümierend: Tradition trifft Modernität, wie es bereits der ersten Zeile des wiedergegebenen Textes zu entnehmen ist und im weiteren Verlauf konse‐ quent durchgehalten wird. Das (ideal)typisch Schweizerische - wohl i. S. v. ‚ur‐ tümlich, unverfälscht, traditionsreich, anheimelnd und kleinräumig‘ - steht bei der SWISS im Einklang mit der modernen, globalisierten und grenzenlosen Welt. Bei der Lufthansa (www.lufthansa.com) findet sich dagegen von einer ‚natio‐ nalen‘ Komponente keine Spur; sie setzt ausschließlich auf die in Verbindung mit der Modernität, Innovation und Erstklassigkeit stehenden Aspekte. Erfolg‐ reich, profitabel, qualitätsreich, edel, erstklassig, preisgekrönt, modern, welt‐ führend in Sachen Digital Services und über die Flugzeuge der neusten Gene‐ 118 Mateusz Maselko ration verfügend - so stellt sich die Lufthansa in ihrem Internetauftritt nach außen dar. Für die SWISS scheint dagegen das von der Muttergesellschaft umgesetzte Konzept undenkbar zu sein: Man schließt zwar die auf die Modernität, Interna‐ tionalität und Innovation zielenden Argumente nicht aus, rückt diese aber nicht auf Kosten der gut zu vermarktenden Schweizer Identität (s. Abb. 4) ganz in den Vordergrund. Dies zeigen auch die Sponsoring-Initiativen der SWISS: Unter‐ stützt die Airline eine (Sportbzw. Kultur-)Veranstaltung finanziell, hat diese in der Schweiz stattzufinden, denn im Fokus stehen die Schweizer Werte. Auch das Sponsern der Schweizer Nationalmannschaft (sowohl im Fußball als auch Hand‐ ball und Hockey) fügt sich in das Gesamtkonzept der Airline ein. Das steht im Gegensatz zu Flugunternehmen wie Emirates, Etihad Airways, Qatar Airways, Turkish Airlines, die erfolgreiche ausländische Teams fördern. Ähnliches lässt sich im kulinarischen Bereich beobachten: Die preisgekrönten Highlight-Ge‐ richte, die den Gästen serviert werden, haben ihren Ursprung in der schweizerischen Küche und werden von Schweizer SterneköchInnen aus saisonalen und lokalen Zutaten höchster Qualität zubereitet. Die überdurchschnittliche Schweizer Qualität soll weiters in den an Bord angebotenen exklusiven Mar‐ kenprodukten ersichtlich sein - entweder als Amenity-Kit in der Business Class oder als Duty Free-Angebot. Dabei bleibt die für die Schweiz charakteristische regionale Vielfalt nicht unberücksichtigt, sondern Besonderheiten der einzelnen Kantone und der Sprachregionen - im geographisch-landschaftlichen, kulina‐ rischen, kulturellen oder Lifestyle-Bereich - werden gezielt thematisiert bzw. als Marketingmaßnahme herangezogen. 119 Unternehmenssprache: regional - national - global? Abb. 4: (Textuell-)Bildliche Umsetzung der Swissness-Strategie auf der SWISS-Website (in Auswahl) 4 Austrian Airlines 4.1 Vorbemerkungen zum Unternehmen und zur Methodologie Dem Konzept der beiden mit der Austrian Airlines verwandten Luftfahrtunter‐ nehmen Lufthansa und SWISS soll nun das der ‚österreichischen‘ Fluglinie ent‐ 120 Mateusz Maselko 13 Die (nicht auf den Verkauf ausgerichtete und daher v. a. betriebsorganisatorische As‐ pekte fokussierende) Internetseite der Aktiengesellschaft Austrian Konzernportal (www .austrianairlines.ag) wird nur punktuell herangezogen, um etwa das Leitbild des Un‐ ternehmens darzustellen. 14 Dies bestätigt die Leiterin der Marketingabteilung der Austrian Airlines, Isabella Reichl, in einem Interview von 2015 (s. u.). 15 Zu den Funktionen von Texten aus dem Bereich der Unternehmenskommunikation s. Janich (2017: 46 f.). gegengestellt werden: Die 1957 gegründete Austrian Airlines mit dem Hei‐ matflughafen Wien-Schwechat und Sitz in der österreichischen Hauptstadt ist die größte Fluggesellschaft der ‚Alpenrepublik‘ (Fluggastaufkommen im Jahre 2017: 12,9 Mio.). Sie betreibt heutzutage ein weltweites Streckennetz von ca. 130 Destinationen und konzentriert sich dabei auf Flüge zu den in Zentral- und Ost‐ europa liegenden Orten (35 Destinationen). Der Wiener Airport gilt durch seine günstige geographische Lage im Herzen Europas als optimales Drehkreuz zwi‐ schen dem Osten und Westen. Die Fluggesellschaft ist nicht nur, wie bereits erwähnt, ein Teil der Lufthansa Group, wohl des größten Airline-Verbunds in Europa, sondern auch eines der Mitglieder der Star Alliance (www.staralliance. com/ de/ member-airlines), die sich im Jahre 1997 als Luftfahrtallianz konstituiert hat und zu einer der bedeutendsten der Welt geworden ist (vgl. Austrian Kon‐ zernportal. Über Austrian). Die (kommerzielle) Webseite der Austrian Airlines (www.austrian.com), die der folgenden Analyse 13 zugrunde liegt und gleichzeitig das Hauptkommunika‐ tionsmedium mit potentiellen KundInnen darstellt, verzeichnet die beachtliche Anzahl von ca. 1,6 Mio. Visits pro Monat (vgl. Austrian Konzernportal. Werbe‐ möglichkeiten). Auf hohes Interesse ist auch die 2015 durchgeführte Kampagne myAustria (im Laufe der Zeit nicht ohne Grund in myAustrian umbenannt) gestoßen, auf die im vorliegenden Beitrag ebenfalls eingegangen wird: Insg. 10.147 Personen haben sich für die Aktion angemeldet und großteils auch aktiv daran teilgenommen. 14 Es ist zu beachten, dass der Internetauftritt bzw. diverse Online-(Kommuni‐ kations-)Kanäle einer Airline nur sekundär eine informative, primär aber eine persuasiv-kommerzielle Rolle erfüllen: 15 Beim Besuch der Startseite einer Air‐ line erscheinen keine flug- und servicebezogenen Informationen (die oft durchaus nützlich wären), sondern - neben den zu den Subseiten führenden Buttons - ausschließlich Werbeinhalte und v. a. eine Buchungsmaske. „First and foremost, they [= websites] offer functions suited as to every type of busi‐ ness […]: introducing the company, presenting its products and services, providing contact details, offering informative customer service (usage, processing and operat- 121 Unternehmenssprache: regional - national - global? 16 Auch die traditionelle Papierkorrespondenz ist bekanntlich mittlerweile praktisch voll‐ ständig durch E-Mail-Verkehr ersetzt (vgl. dazu v. a. Beer 2017). 17 Die Systeme finden Anwendung bei Buchung von Flügen, Hotels, Mietwagen, Fähren, Kreuzfahrten, Bahnen, Bussen und Pauschalreisen. ing instructions) and establishing feedback channels (e. g., for complaints). In essence, these functions provide information for (potential) customers and demonstrate ac‐ cessibility as the basis for customer retention. Depending on formal and procedural design, the emphasis can be shifted to explicit advertising. […] The second major area of website use is e-commerce. The net is also the delivery channel for […] all manner of bookings (e. g., tickets, hotels). For companies, the main side benefit lies in the opportunity to outsource a sizeable proportion of their business processes to consumers“ (Handler 2017: 175). Die Tatsache, dass es sich beim Webauftritt einer Fluglinie wesentlich um eine Verkaufsplattform handelt, übt selbstverständlich einen bedeutenden Einfluss auf die Inhalte und die Textgestaltung aus. Tatsächlich ist es zu einer beträcht‐ lichen Standardisierung der Webauftritte gekommen. Nicht nur hat ein weit‐ gehender Wechsel von händischer (Ticket-)Dokumentenausstellung in Reise‐ büros zu automatisierten Online-Buchungs-Systemen stattgefunden, 16 es werden auch weltweit dieselben Instrumente genutzt. In der Reisebranche 17 haben sich die Computerreservierungssysteme (CRS), auch genannt Globale Distributionssysteme (GDS), Amadeus, Sabre und Galileo durchgesetzt. Dass die meisten (Aviation-)Unternehmen standardisierte (Ticket-)Verkaufs‐ masken nützen, spricht natürlich gegen das Konzept vom individualisierten, einzigartigen und von der Konkurrenz divergierenden ‚Sprachgebrauch‘. Ein solcher widerspräche aber geradezu den Interessen der Airlines, die von der Kundschaft immer dieselben Informationen brauchen: Art der Reise (nur Hin‐ flug oder Hin- und Retourflug), Abflugsort, Zieldestination, Datum, Passagie‐ rInnenzahl, Reiseklasse (je nach angebotenem Produkt Economy, Premium Eco‐ nomy, Business, First). Ein einheitliches Design der Verkaufsmasken ist hilfreich, in einem gewissen Ausmaß wohl auch eine ‚allgemeine Verkaufs‐ sprache‘ (sales talk) im Luftfahrtbereich. Um (sprachliche) Individualisierung kann man sich also nur an anderen Stellen bemühen - und muss dabei selbst‐ verständlich auf die Übereinstimmung mit dem Unternehmensleitbild achten. 4.2 Unternehmensleitbild In dem 2012 entwickelten Unternehmensleitbild stellt die Austrian Airlines hohe Qualität in den Vordergrund und formuliert als Ziel, sich im europäischen Wettbewerb behaupten zu wollen. Dabei argumentiert sie einerseits mit der 122 Mateusz Maselko [3] starken Position auf dem österreichischen Markt und der festen Zugehörigkeit zu dem erfolgreichen (sowie den Zugang zu wirtschaftlichen Profiten verschaffenden) Lufthansa-Airlines-Verbund und andererseits mit dem attraktiven Netz‐ angebot und der innovativen Unternehmensphilosophie (vgl. Austrian Konzern‐ portal. Unternehmens Leitbild). Dies erinnert stark an die leitenden Werte des Mutterkonzerns (Stichwort: technische Zuverlässigkeit). Gleichwohl hebt sich die Austrian Airlines von der Konkurrenz ab als „ein zukunftsorientiertes und modernes Unternehmen, das die Geschichte [= Tradition] und das Knowhow [= Modernität] […] unter der starken, einheitlichen Marke […] vereint“ (ebd., Hervorhebungen M. M.). Etwas romantisierend (und die Fakten verschleiernd) mag die in demselben Dokument genannte Zielsetzung klingen, man habe vor, „auf einer wirtschaftlich gesunden Basis aus eigener [? ! ] Kraft zu wachsen“ (ebd., Hervorhebungen M. M.). Die Argumente wie moderne Technologie, Pünktlichkeit, Serviceorientie‐ rung, strategische Netzwerkplanung etc., die etwa die deutsche Muttergesell‐ schaft (und generell eine Qualitätsfluggesellschaft) kennzeichnen sollen, er‐ scheinen der österreichischen Tochter aber als (noch) nicht ausreichend, um bei der nächsten Flugbuchung gewählt zu werden: „[…] wir bieten noch mehr: Unter unserem Motto ‚Wir tragen Österreich im Herzen und immer mehr Kunden in die Welt‘ tun wir alles, damit sich unsere Kunden auf das nächste mal [sic! ] mit Austrian freuen.“ (Austrian Konzernportal. Unternehmens Leitbild; Hervorhebungen M. M.) Die auffällige Anhäufung der Pronomina der 1. Pers. Pl. innerhalb einer kurzen Textstelle (statt des Namens der Airline bzw. des zu erwartenden Subjekts der 3. Pers. Sg.) ist bezeichnend - unser kommt auch in allen vier Zwischenüber‐ schriften vor. Den Webseite-BesucherInnen wird damit nahegelegt, dass die Mit‐ arbeiterInnen der Austrian Airlines sich stark an die von ihr vertretenen Werte gebunden fühlen - hier insb. den österreichischen Charakter des Unterneh‐ mens - und sich (persönlich) mit ihnen identifizieren. Zum Schluss der Be‐ schreibung des Leitbilds heißt es in diesem Sinne: „Das ist das Leitbild der Aus‐ trian Airlines Group. 6.000 Mitarbeiter haben es 2012 gemeinsam gestaltet“ (Austrian Konzernportal. Unternehmens Leitbild; Hervorhebungen M. M.). Das kollektive Wir, auf das auch Handler (vgl. 2017: 188) eingeht, soll Vertrauen aufbauen und an Authentizität, Verantwortungsgefühl, gemeinsame Interessen bzw. gar Familiarität denken lassen. Die Angestellten bekommen dabei die Rolle zugesprochen, quasi als Österreich-BotschafterInnen aufzutreten. Welch rele‐ vanten Teil des konzeptuell-ideologischen Konstrukts das Team ausmacht, lässt sich einer weiteren Passage des publizierten Leitbilds entnehmen: 123 Unternehmenssprache: regional - national - global? 18 Dass sie sich der Schreibung nicht sicher sind, haben etwa 200 ZuhörerInnen einer Vorlesung(seinheit) zum Deutsch in Österreich in der Unternehmenskommunikation (Universität Wien, Wintersemester 2017/ 18) bestätigt. [4] „Unsere Mitarbeiter sind der entscheidende Grund, weshalb wir immer mehr Menschen für Austrian begeistern können. Sie leisten täglich hohen persönlichen Einsatz und bilden mit ihrer unterschiedlichen Geschichte ein starkes Team. Die Zusammenarbeit ist von Respekt und Wertschät‐ zung getragen. Unsere Führungskräfte sind dabei Vorbilder und Pulsgeber.“ (Austrian Konzernportal. Unternehmens Leitbild; Hervorhebungen M. M.) Idealerweise sollten die MitarbeiterInnen in der unternehmensspezifischen Sprache in Kontakt mit KundInnen treten, um, wie Dunkl (vgl. 2015: 19) her‐ vorhebt, dem Firmenimage nicht zu schaden, sondern es zeitgemäß zu unter‐ stützen. Es gibt bei der Austrian Airlines für Büro-, Boden-/ Flughafen- und v. a. Flugpersonal Vorschriften - vielleicht besser zu bezeichnen als Guidelines - für die Begrüßungs- und Anredeform im Kontakt mit (potentiellen) Fluggästen. Das haben das Flugpersonal und die Marketingabteilung der Fluglinie bestätigt. Al‐ lerdings sollen diese Materialien nicht an Dritte weitergegeben werden, sodass sie auch hier keine Berücksichtigung finden können. Der recht komplexen Frage, inwiefern die Austrian Airlines tatsächlich ver‐ sucht, dem Erstglied ihres Markennamens gerecht zu werden und Austrian zu sein/ werden, gelten die folgenden Ausführungen. 4.3 ‚Austrian(n)ess‘(-Effekte)? Das (bei der Austrian Airlines auf der personalen wie non-personalen Ebene breit vertretene) ‚Österreichische‘ tritt in dem Leitbild der rot-weiß-roten Air‐ line zumindest vermarktungstechnisch in den Vordergrund und wird zu einem Schlüsselaspekt. Ob dies aber ausreicht, um im Falle der Austrian Airlines bzw. im Allgemeinen von ‚Austrianness‘ bzw. ‚Austrianess‘ zu sprechen? Selbst die Unsicherheiten bei der Schreibung des an Swissness angelehnten Neolo‐ gismus 18 lassen Zweifel an der Eignung des Begriffs und erst recht am Konzept selbst. Das (englische) Wiktionary. The free dictionary (ebenso wie einige weitere weniger bedeutende Online-Wörterbücher) verzeichnet das Lexem Austrianness in der Bedeutung ‚the state or quality of being Austrian‘. Der Ausdruck ist aber nicht besonders verbreitet. Auch Google weist nicht viele Treffer auf; diese un‐ terscheiden sich immerhin klar in Bezug auf die Schreibung: 2.720 Ergebnisse mit dem Doppel-N und 390 mit dem einfachen N. Viel wichtiger ist jedoch die thematische Verteilung der gelieferten Web‐ seiten. Neben ein paar (populär)wissenschaftlichen Publikationen, die auf kultu‐ 124 Mateusz Maselko 19 Nach der Marketingabteilung der Austrian Airlines sei das Unternehmen autonom in Sachen Werbekonzept und erhalte diesbezüglich kaum Vorgaben bzw. Vorschriften sei‐ tens der deutschen Mutter Lufthansa. Abstimmungen innerhalb des Airline-Verbunds Lufthansa Group gebe es hauptsächlich im Bereich der Markenpositionierung und Pro‐ duktkonzeption. Hierbei sei die Differenzierung gegenüber Low-Cost-Arlines einer der wichtigsten programmatischen Punkte. [5] rellen und geschichtlichen Elementen aufbauen, stechen Materialien - Texte und Bilder - heraus, die in unmittelbarer Verbindung mit der Austrian Airlines stehen: Pressemitteilungen des Unternehmen, Beiträge auf dem offiziellen Aus‐ trian Airlines-Blog (s. www.myaustrianblog.at), die mit dem Tag austrianness versehen sind, sowie Texte der Werbeagentur PKP BBDO, die mit der österrei‐ chischen Fluglinie zusammenarbeitet. Dieses Unternehmen scheint tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Kreation ihres Marketingkonzepts gespielt zu haben: Es ist mit der 2014 ins Leben gerufenen FROM/ TO-Werbekampagne betraut worden, für die die Austrian Airlines als Konzeptionsrahmen folgende Schlüs‐ selworte vorgegeben hat: 19 Rot-Weiß-Rot, Individualität, Gastfreundschaft, Lä‐ cheln. Diese Kampagne hat sich als erfolgreicher Grundstein für das später groß angelegte myAustria(n)-Projekt erwiesen. Die Kampagne nimmt zwar das aus der Reisewelt allseits bekannte from … to … auf, lädt es aber neu auf. Das (Flug-)Reisen sei nicht als bloßer Transfer zwischen zwei Orten zu verstehen, sondern viel mehr als spezielles Ereignis: der Weg zum Wohlfühlen, Entspannen, Entdecken und Kennenlernen, Meinungs‐ austausch, Nachdenken usw. Am besten auf österreichische Art und Weise. Die Hervorhebung der österreichischen Identität versucht nicht nur unter einhei‐ mischen, sondern auch ausländischen Fluggästen zu punkten: Den mitflie‐ genden ÖsterreicherInnen wird die Möglichkeit gegeben, sich (fast) wie daheim an Bord zu fühlen und „[d]em ausländischen Fluggast wiederum wird ein Stück Österreich angeboten, noch bevor er österreichischen Boden betritt“ (Bosch / Schiel 1999: 237). Isabella Reichl, Marketing Director bei der Austrian Airlines, sagt in einem Interview mit einem österreichischen Aviatik-Portal: „Wir wollen mit der Kampagne in erster Linie Vertrauen schaffen und eine starke Identifikation mit der Marke Austrian Airlines erreichen. FROM: Airline ist Airline. TO: Das ist meine Austrian! Das ist unser oberstes Ziel. Wir möchten gerne eine ‚Mehrwert-Airline‘ für unsere Passagiere sein und die ‚First Choice‘ Airline in Österreich.“ (Austrian Aviation Net. From/ To: Hintergründe zur neuen AUA-Kampagne) In einem auf der Homepage veröffentlichten Werbespot aus dem Jahre 2014 heißt es: „Wir möchten Austrian wieder als Stück Österreich in den Herzen der 125 Unternehmenssprache: regional - national - global? Österreicher verankern“. Die österreichische Fluglinie strebt offensichtlich die Identifikation der potentiellen KundInnen mit der Marke Austrian an. Dabei setzt sie den Schwerpunkt auf den heimischen Markt, an dem aber auch die anderen Airlines intensiv interessiert sind. Stark präsent sind seit den letzten Jahren - womöglich noch intensiver nach dem Konkurs von Air Berlin (August 2017) - die zu anderen europäischen Luftfahrtkonzernen gehörenden Quali‐ tätsfluggesellschaften wie etwa British Airways und Iberia (International Air‐ lines Group) oder Air France und KLM (Air France-KLM Group). Eine immer stärkere Position nehmen auch die sog. Golfairlines aus dem Nahen Osten ein (bes. Emirates, Qatar Airways). Hinzukommen die Billigflieger easyJet, Norwe‐ gian und Vueling bzw. erst seit März 2018 Laudamotion in strategischer Koope‐ ration mit Ryanair und seit April desselben Jahres Wizz Air bzw. Juli LEVEL. Den Erfolg erhofft sich die Austrian Airlines offensichtlich durch die KundIn‐ nenbindung, und zwar v. a. im Konkurrenzkampf gegen die Airlines aus dem Persischen Golf, die nach diversen Rankings (wie z. B. dem prestigeträchtigsten World Airline Awards von Skytrax) die besten Fluggesellschaften der Welt sind. 4.4 ‚Nationale‘ Identität 4.4.1 Kulturnation Österreich und Österreichbewusstsein Das Streben nach einer Einheit bzw. einem ausgeprägten kollektiven Zusam‐ mengehörigkeitsgefühl erscheint Bruckmüller (vgl. 1996: 10), einem der an‐ erkanntesten Forscher auf den Gebieten der österreichischen Geschichte und Identitätsbildung, als ein unauflösbares Charakteristikum der heutigen Welt. Dieses Bewusstsein wird zwar in der Gegenwart hergestellt, geht allerdings auf die Geschichte und Traditionen einer sozialen Gruppe zurück. „Einheit wird primär durch das gemeinsame Erinnern an den Ursprung, an die Gründung, an militärische oder politische Erfolge gestiftet“ (ebd.). Vollzogen wird sie aller‐ dings durch die Kultur, welche einerseits Menschen im selben Zeithorizont durch einen gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum ver‐ bindet und andererseits das Gestern ans Heute bindet, indem Bilder und Ge‐ schichten einer anderen Zeit in das gegenwärtige Bild einfließen und dadurch die gemeinschaftliche Hoffnung und Erinnerung evozieren (vgl. ebd.: 16). Dabei nimmt die Sprache eine wichtige - wenn nicht sogar zentrale - Rolle ein (vgl. Gardt 2004: 369). Sie ist für die Identitätsstiftung einer sozialen Gruppe (zumin‐ dest) von so hoher Relevanz wie etwa „Namen, Gebäude, […] Zeichen (z. B. Wappen), Kleidung, Haartracht, Waffen, […] Rituale, Feste, Feiern“ (Bruckmüller 1996: 19). Auch Cillia geht davon aus, 126 Mateusz Maselko „dass Sprache/ n nicht nur die kommunikative Funktion hat/ haben, Informationen zu übermitteln, sondern - neben einer Reihe anderer, je nach theoretischem Zugang in der Literatur unterschiedlich beschriebenen - Sprachfunktionen auch eine wichtige Rolle in der Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten spielt/ spielen, also auch eine identitätsbildende Funktion erfüllt/ erfüllen.“ (Cillia 2015: 151) Die Differenzierung zwischen einer politisch-administrativ definierten Staats‐ nation und einer (wenigstens theoretisch) von den politischen Dimensionen ab‐ getrennten Kulturnation, welche in der Fachliteratur bereits seit mindestens einem Jahrhundert vorgenommen wird (prominent Meinecke 1908), scheint auch für die heutigen Verhältnisse aktuell zu sein. Das ‚national determinierte‘ Marketing, welches die SWISS und Austrian Airlines bewusst betreiben, operiert ja nur sekundär mit geopolitischen Werten. Primär greift man zu „Traditionen, Gebräuchen […] und Kulturgütern (etwa der Künste), […] einer gemeinsamen Sprache“ (Gardt 2004: 369). Das erinnert durchaus an Meinecke: „Der echte Nationalstaat […] geht wie eine eigenartige Blume aus dem besonderen Boden einer Nation hervor, der neben ihm auch noch manche andere […] Gebilde von ebenso kräftigem und originellem Gepräge tragen kann, und national ist und wird er nicht durch den Willen der Regierenden oder der Nation, sondern so, wie Sprache, Sitte, Glaube national sind und werden, durch das stille Wirken des Volksgeistes. […] Es ist also die Kulturnation […], die den Nationalstaat in diesem Sinne hervorbringt, und der Staat wird bei dieser Betrachtungsweise überhaupt nur als Produkt nationaler Kultur neben anderen angesehen.“ (Meinecke 1908: 12 f.) Gerade das Land, in dem die Austrian Airlines beheimatet ist, Österreich mit seiner nicht unkomplizierten Geschichte, zeigt sich als Paradebeispiel für die angesprochene Problematik. Das moderne, allerdings sich wohl immer noch im Entwicklungsprozess befindende Österreichbewusstsein ist ein nach 1945 ent‐ standenes (wandlungsfähiges) Konstrukt. Unter dem Begriff soll nach Bruck‐ müller (1998: 369) „ein kollektives Bewußtsein verstanden werden, das die Ös‐ terreicher als Wir-Gruppe begreift“. Dieses war zur Zeit der Habsburgermonarchie nicht existent, und auch in der Zeit der Ersten Republik bzw. des Anschlusses an das Deutsche Reich kann man kaum davon sprechen (zur ös‐ terreichischen Geschichte vgl. etwa Vocelka 2015). Gründe dafür waren nicht nur politischer, sondern auch sprachlich-kultureller Natur: Die Orientierung am ‚Deutschtum‘ und die Ausbildung konkurrierender sprachnationaler Einheiten (bes. innerhalb der Monarchie) hat sichtbare Spuren in der Entwicklung des Österreichbewusstseins hinterlassen. Das Wiederauftauchen Österreichs hat die neue Republik vor die Aufgabe gestellt, 127 Unternehmenssprache: regional - national - global? 20 Zur ausführlicheren Diskussion aus historischer Sicht vgl. u. a. Bruckmüller (1998: 275 ff.); Seebauer (2007: 18 ff.). Relevant scheint zudem ein Verweis auf das als Ergän‐ zung zum österreichischen EU-Beitrittsvertrag (1995) ausverhandelte Protokoll Nr. 10 über die Verwendung österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union, das aus 23 (Küchensprache-)‚Austriazismen‘ besteht, welche den ‚äquivalenten‘ bundesdeutschen Ausdrucksvarianten gleichgestellt werden (vgl. dazu ausführlicher Cillia 1997). Das Dokument beschränkt sich nur auf landwirtschaftliche Ausdrücke, da „eine Verankerung von in der österreichischen Rechtsordnung enthal‐ tenen, spezifischen Ausdrücken nur hinsichtlich jener Rechtssprache erforderlich ge‐ wesen sei, die in EG-Verordnungen zur Anwendung käme. Und so seien diese Aus‐ drücke eben vornehmlich im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik vorzufinden“ (Cillia 1997: 242). 21 Dem Thema Deutsch und Identität(en) widmet sich explizit in Bezug auf Österreich Cillia (2015). Weiters sei auf die Schrift Cillia / Wodak (2006) verwiesen. „jenen sozusagen vorpolitischen ‚Glauben‘, jenen Mythos zu schaffen, der staatlicher Existenz vorausgeht und diese erst als selbstverständlich begründet. Das alte deutsch-österreichische Bewußtsein war dafür nur zum Teil geeignet, da ‚deutsch‘ vor 1918 zwar meist ‚Deutschtum‘ im habsburgischen Österreich bedeutet, seither aber immer in starkem Maße die Vorstellung staatlicher Verbindung mit Deutschland mit‐ geschwungen hatte. Zweifellos war es in dieser Situation günstig, daß man hinsicht‐ lich der Staatssymbolik und […] des Verfassungsrahmens weitestgehend […] an die Erste [Republik] anknüpfte.“ (Bruckmüller 1998: 376) Gerade im Bereich der Sprache sind nach dem Kriegsende zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen worden, um sich (zumindest formal) von Deutschland abzu‐ grenzen und die Eigenständigkeit dem Nachbarn gegenüber zu beweisen - ganz nach einem Bonmot, das von Karl Kraus stammen soll: Der Österreicher unter‐ scheidet sich vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache. Relevante Maß‐ nahmen sind etwa die Umbenennung des Schulgegenstands Deutsch zu Unter‐ richtssprache, die Erarbeitung des Österreichischen Wörterbuchs bzw. die Propagierung der Bezeichnungen Österreichisch oder Sprache des Österreichers für die in Österreich verwendete Varietät des Deutschen. 20 ‚Die gemeinsame Sprache‘ (in erster Linie unterschieden vom sog. Bundes‐ deutsch) ist denn auch eine wichtige Identifikationsfigur, die 93 % der Be‐ fragten in einer Umfrage aus dem Jahre 1980 nennen (vgl. Bruckmüller 1998: 391). 21 Noch vor diesem Faktor stehen ‚landschaftliche Schönheit‘ (97 %), ,politi‐ scher und sozialer Friede‘ (96 %), ,Familie und Freunde wohnen hier‘ sowie die generelle Einschätzung ‚sympathische Menschen‘ mit je 94 %. Hohe Werte errei‐ chen ferner die Items ‚Neutralität‘ (87 %), ‚viele gute Musiker und Dichter‘ (79 %) sowie mit je 74 % ‚Zufriedenheit mit der Regierungspolitik‘ und ‚gutes Essen‘. Nur 67 % empfinden Österreich in diesem Jahre als eine Nation, ein Wert, der konti‐ 128 Mateusz Maselko nuierlich ansteigt, von 47 % im Jahre 1964 auf immer noch nur 80 % im Jahre 1993. Erfragt worden sind auch gezielt Leistungen Österreichs, auf die man als Landsmann bzw. -frau stolz sein kann. Diesen Daten Bruckmüllers lassen sich die von Haller / Gruber (1996) und Seebauer (2007) gegenüberstellen (s. Tab. 1). Da einige von Bruckmüllers Dimensionen später nur noch kompakt - hyper‐ onym - mitberücksichtigt worden sind, sind diese hier mit einem Asteriskus versehen. Dimensionen 1980 1987 1995 2004 Populäre Musik 3 1 5* 10 Medizin 2 2 4* 3* Klassische Musik 7 3 5* - Darstellende Kunst 4 4 5* 7* Wissenschaft und Technologie 5 5 4* 3* Sport 1 6 1 9 Bildende Kunst 8 7 5* - Literatur 7 8 5* 7* Staatspolitik/ Einfluss in der Welt 6 9 9 6 Sozialstaatliche Leistungen - - 2 2 Geschichte - - 2 8 Wirtschaft - - 6 5 Demokratie - - 7 - Gleichbehandlung - - 8 - Bundesheer - - 9 - Landschaft - - - 1 Umweltschutz - - - 4 Tab. 1: Stolz auf österreichische Leistungen zu verschiedenen Zeitpunkten. Quelle für 1980 und 1987: Bruckmüller (1998: 391), für 1995: Haller / Gruber (1996: 110 ff.), für 2004: Seebauer (2007: 22 ff.) Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass sich im Laufe eines Vierteljahrhunderts nicht nur die einzelnen Gegenstände des österreichischen Nationalstolzes, son‐ dern auch deren Hierarchie in den Köpfen der ÖsterreicherInnen nicht grund‐ 129 Unternehmenssprache: regional - national - global? 22 Um herauszufinden, was v. a. ÖsterreicherInnen unter Österreich verstehen bzw. wel‐ ches Bild sie von ihrem eigenen Land haben, ist seitens der Austrian Airlines eine un‐ terschwellige Aktion ins Leben gerufen worden. Nach Ablauf der ersten Projektphase im August 2015 hat die Austrian Airlines jedoch offiziell mitgeteilt bzw. bestätigt, hinter der Initiative zu stecken. Die Motivation für dieses Projekt war eine Zeitlang den In‐ halten der Webseite zu entnehmen: „Als österreichische Fluglinie haben wir myAustria gestartet, weil Österreich so viel mehr ist, als die Welt von uns kennt und für jeden von uns etwas ganz anderes bedeutet. Für die einen sind Schloss Schönbrunn und Falco typisch österreichisch, für die anderen unsere Gastfreundschaft und Offenheit. Für viele bedeutet Österreich Heimat, für andere ist es der Ort, wo ihre Freunde sind. Diese Vielfalt möchten wir mit myAustria zeigen und in die ganze Welt tragen“ (Austrian Airlines. myAustria; Hervorhebungen M. M.). 23 Die Austrian Airlines selbst - freilich in Gestalt vom versteckten Initiator der myAustria-Kampagne - ‚definiert‘ auf der Befragungsseite die Alpenrepublik folgen‐ dermaßen: „Österreich ist mehr, als die Welt von uns kennt. Es sind die Eigenheiten, die uns ausmachen. Die Gewohnheiten, die wir so lieben. Die Momente, die unser Herz erfreuen. Egal wo wir sind und woher wir kommen. Österreich ist, was uns verbindet“ (Hervorhebungen M. M.). Der (ziel-)bewusste Einsatz von diversen Pronomina der 1. Pers. Pl. liegt hier auf der Hand und soll allfällig einerseits auf die kulturelle, soziale und ideologische ‚Einheit‘/ ‚Einstimmigkeit‘ unter ÖsterreicherInnen und andererseits auf Gemeinsamkeiten zwischen dem Herausgeber der Plattform und ihren BesucherInnen hindeuten. legend verändert haben. Leistungen in den Bereichen Wissenschaft, Soziales, Wirtschaft und klassische Musik sind für österreichische BürgerInnen seit Jahren Gründe dafür, stolz auf ihre eigene Heimat zu sein, wohingegen die Be‐ deutung von Geschichte und populärer Musik mit der Zeit schwächelt. Sport‐ liche Leistungen haben zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Wir‐ kung auf die österreichische Bevölkerung, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass in den jeweiligen Jahren Erfolge bei großen Sportveran‐ staltungen erzielt worden sind (oder nicht). Wohl aufgrund einer leicht verän‐ derten Fragestellung („Worauf sind Sie in Ihrem Land besonders stolz? “), die nicht explizit die Aufzählung von Leistungen im engeren Sinne erfordert, belegt bei Seebauer (vgl. 2007: 23) die landschaftliche Schönheit den Rang 1. Dass diese aber bereits vor 25 Jahren als wichtigste Identifikationsfigur fungiert hat, ist oben schon angesprochen worden. Abschließend sei auf die (zunächst geheime) (Werbe-)Kampagne myAustria (www.my-austria.at) eingegangen, die die Austrian Airlines zwischen Mai und November 2015 durchgeführt hat 22 und die mit ähnlichen Fragen arbeitet. In dieser Zeit trat ein gewisser ‚Karl‘ ziemlich regelmäßig mit Registrierten in Ver‐ bindung und bat sie u. a., ‚ihm‘ zu verraten, was denn Österreich überhaupt für sie bedeutet. 23 Dafür ist ein Tool eingerichtet worden, in dem man durch An‐ klicken von beschrifteten Bildern bzw. manuelle Eingabe die im (intendierten) 130 Mateusz Maselko ‚Dialekt‘ formulierte Phrase myAustria is mei… ‚myAustria ist mein(e)…‘ ver‐ vollständigen hat können. Der Einsatz von Non-Standards hatte - ebenso wie die gewählte Anrede per du - wahrscheinlich den Zweck, einen Nähe-Effekt hervorzurufen und dadurch nicht nur vertraulicher zu wirken, sondern auch zum Mitmachen zu ermutigen. Die Initiative stieß auf größeres Interesse, als man bei der österreichischen Fluggesellschaft ursprünglich erwartet bzw. er‐ hofft hatte. Dafür spricht, dass die Aktion nicht nur intern für Marketingzwecke genützt worden ist, wie dies heutzutage bei vergleichbaren Initiativen nicht selten der Fall ist, sondern kommuniziert worden ist. Wenngleich die Daten natürlich nicht öffentlich zugänglich sind, kann man davon ausgehen, dass eine (große) Mehrheit der über 10.000 Angemeldeten tatsächlich an der Umfrage teilgenommen hat. Etwa einen Monat nach der Freischaltung hat man ‚voller Freude‘ die (Zwischen-)Ergebnisse verkündet: „Wir sind sehr stolz, dir heute die meistgenannten Begriffe aus der Kategorie myAustria is mei... vorzustellen.“ Wie aus Abbildung 5 hervorgeht, handelt es sich um Begriffe, die sich den Dimen‐ sionen Vertrautheit, Landschaft, Kulinarik und Gastlichkeit sowie Sprache zu‐ weisen lassen. 131 Unternehmenssprache: regional - national - global? 24 Zu verweisen ist auf zusätzliche Divergenzen. Cillia (2015: 151) schreibt in diesem Zu‐ sammenhang, „dass es [in Österreich] die eine nationale Identität nicht gibt, sondern dass vielmehr je nach Individuum, je nach Öffentlichkeit, nach Kontext unterschied‐ liche Identitäten konstruiert werden.“ Abb. 5: Teilergebnisse der Befragung zu myAustria is mei Als sprachliche Varietät erscheint nur der Dialekt. Dies gibt Anlass, auf die These hinzuweisen, dass linguistische Laien im Vergleich zu Fachleuten ein anderes Konzept davon haben, was ‚Österreichisch(es Deutsch) / Deutsch in Ös‐ terreich‘ ausmacht (s. Abb. 6). Während SprachwissenschafterInnen in erster Linie an die ‚nationale‘ Standardvarietät denken, assoziieren (nicht linguistisch ausgebildete) SprecherInnen damit den eigenen Dialekt, mithin eine kleinräu‐ migere areale Sprachform (vgl. Glauninger 2015: 50; Soukup 2015: 63). Das Non-Standardsprachliche stellt dabei eine wichtige Komponente für das Sprach(identitäts)konzept der ÖsterreicherInnen dar. 24 132 Mateusz Maselko Abb. 6: Konzepte der deutschen Sprache in Österreich Die Endergebnisse der Erhebung zu myAustria is mei… sind in die finale Ge‐ samtübersicht über die myAustria-Einzelaktivitäten vom Ende November 2015 gemündet (s. Abb. 7). Auffallend ist, dass keiner der bei den Teilergebnissen (nach Abschluss der eigentlichen Befragungsperiode) aufgeführten Begriffe in der exakt gleichen Form vorkommt. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, es seien Generalisierungen vorgenommen, d. h. Hyperonyme wie Landschaft oder Lifestyle gewählt worden. Brettljausn ‚verschiedene Wurstbzw. Fleischsorten (dünn geschnitten) auf einem Holzbrett‘ könnte etwa stellvertretend für die Ka‐ tegorie Essen stehen. 133 Unternehmenssprache: regional - national - global? Abb. 7: Endergebnisse der Befragung zu myAustria is mei… im Gesamtüberblick über die myAustria-Einzelaktivitäten 134 Mateusz Maselko 4.4.2 Product Branding mit Landesbezug 4.4.2.1 Österreich-Vermarktung Assoziationen zu einem Land (positive wie negative) stellen sich freilich nicht nur bei Einheimischen, sondern auch bei ‚Fremden‘ ein. Diese gezielt zu steuern, ist mittlerweile weltweit Aufgabe zahlreicher (staatlicher) Institute und Agen‐ turen. Ohne ausführlicher werden zu können, sei doch kurz der Begriff Nation Branding erwähnt, der eben für Maßnahmen steht, (im modernen marken‐ technischen Sinne) einem Staat ein Image zu verschaffen, das mit dem einer Handelsmarke vergleichbar ist (vgl. hierzu Dinnie 2008; Fan 2006). „However, a nation is not a product in the conventional sense. A nation brand offers no tangible product or service; instead, it represents and encompasses a wide variety of factors and associations: • place - geography, tourist attractions; • natural resources, local products; • people - race, ethnic groups; • history; • culture; • language; • political and economic systems; • social institutions; • infrastructure; • famous persons (the face); • picture or image.“ (Fan 2006: 7) Für Österreich ist in diesem Zusammenhang zu nennen die 2011 in die Wege geleitete Initiative des Bundesministeriums für Digitalisierung und Wirtschafts‐ standort Competitive Identity Project / Nation Brand Austria. Eine längere Tra‐ dition haben die Österreich-Institute, -Bibliotheken und -Informationszentren (Kultur und Bildung) und der Verein Österreich Werbung (Tourismus; seit 1955). Aufbauend auf den Erkenntnissen des Österreich-Image-Forschers Schweiger (1992) schreibt Friederes komprimiert zur Wahrnehmung Österreichs im Aus‐ land: „Es sind vor allem die klassische Musik (W. A. Mozart, Johann Strauss), Kultur und Tradition (Wiener Hofreitschule, Museen, Volksfeste, Trachtenmusiker) und seine Geschichte (KuK-Monarchie [= Kaiserliche und königliche Monarchie Österreich-Un‐ garn])[,] die das Image Österreichs in der Welt bestimmen. Die Verhaftung in der Vergangenheit, das wenig Moderne stellen für das Image des Landes keinen Nachteil dar. Österreich und die Österreicher gelten als gastfreundlich, romantisch, charmant 135 Unternehmenssprache: regional - national - global? und freundlich. Kompetenz gesteht man der Alpenrepublik vor allem bei der Produk‐ tion von Skiern und der Herstellung von Süßwaren zu. Österreichische Weine sind in Mitteleuropa ein Begriff.“ (Friederes 2006: 124; Hervorhebung M. M.) Die meisten dieser (zugegebenermaßen recht klischeehaften) Bestandteile des internationalen Österreich-Images entsprechen nicht nur den in den oben zi‐ tierten Arbeiten erfassten Identitätsdimensionen, sondern münden zudem - wohl nicht unerwartet - in die (Werbe-)Inhalte der Austrian Airlines. Beabsich‐ tigt wird hierbei natürlich ein aus der Marketingforschung bekannter Country-of-Origin-Effekt (vgl. dazu vertiefend Friederes 2006), dessen Fun‐ dament vielfach in erfolgreicher Nation Branding-Politik liegt. 4.4.2.2 Österreich-Marker auf der Austrian Airlines-Webseite Da auf Internetseiten zurückgegriffen wird, treten Österreich-Marker, wie die genannten Elemente hier zusammenfassend bezeichnet werden, sowohl im bild‐ lichen als auch im textuellen Bereich auf. Für dieses Medium - hier im digital-technischen Sinne aufgefasst -, über das Inhalte einem breiten und viel‐ fältigen Publikum zugänglich gemacht werden, das auch ethnisch-kulturell di‐ vergiert (vgl. Handler 2017: 193), ist der parallele Einsatz von diversen Kom‐ munikationsformen (Text im engeren Sinne, Bild, Animation, Ton, Video) prototypisch: „[S]ites incorporate more and more images, and more and more complex media mixtures“ (ebd.: 178). Denkt man an die überdurchschnittliche Aussagekraft und Triftigkeit von Bildern, die sowohl als Begleitung wie auch als Ersatz für rein sprachliche Zei‐ chen/ Kommunikationsinstrumente fungieren (können), ist es verständlich, dass man ihnen heute besondere Aufmerksamkeit schenkt (vgl. die einschlägige Dis‐ kussion in Adamzik 2016: 55 ff.). Es sollte indes nicht ausgeblendet werden, dass Text und Bild zusammenwirken müssen: „The proliferation of images begs the question of how they should interact with text. Pictures are deployed because they can communicate in ways that are not possible with language; at the same time, words remain a key element because images cannot do everything. Ideally the two will work together, with each type of code contributing its own properties as required.“ (Handler 2017: 185) Bei dieser Diskussion ist natürlich auch die eingenommene Analyseperspektive signifikant: „First, from a semiotic viewpoint, images are iconic and thus easily perceptible, while language is arbitrary and so harder to perceive. Second, images are perceived simul‐ taneously and holistically, language gradually and in a linear manner. Third, the se‐ 136 Mateusz Maselko mantic potential of images is vague and indeterminate, while that of language is (or at least tends to be) precise and definite. Finally, in pragmatic terms, images portray well the relative locations of objects within a space; by contrast, language can explain the logical connections between elements.“ (Handler 2017: 185) Auf der Austrian Airlines-Homepage sind keine Audios und nur wenige Videos anzutreffen (etwa bei der Vorstellung des Business- und Premium Economy-Pro‐ dukts). Die Zahl der Photographien ist jedoch beachtlich. Sieht man von dem in den Landesfarben gehaltenen Design der Austrian Airlines-Internetseite (bzw. dem Firmenlogo) ab, finden sich u. a. folgende einschlägige Motive, die hier in Auswahl zusätzlich als Abbildung 8 abgedruckt werden: • eine über den verschneiten Alpen fliegende Maschine in ‚nationalen‘ rot-weiß-roten Farben, • das Alpenpanorama an der Wand der VIP-Flughafenlounge, • die Gloriette im Schlosspark Schönbrunn (ein touristisches ‚Must-See‘ in Wien), • ein auf der Dachterrasse mit Blick auf den Wiener 1. Bezirk (u. a. den Stephansdom - ‚das‘ Wahrzeichen Österreichs) einen Kaffee trinkender Mann, • ein in der Wiener Senator Lounge hängender Ausschnitt des Gemäldes Tod und Leben von Gustav Klimt, • eine Sachertorte mit Schlagobers samt der Wiener (Milch-)Kaffeespezia‐ lität Melange, • sich beim traditionellen österreichischen Essen und Glaserl Wein im Flugzeug unterhaltende Menschen, • einer zufriedenen Passagierin der Business Class Wein und Essen servie‐ rendes gastfreundliches Flugpersonal, • ein verliebtes Paar in regionaler Tracht, • eine durch das Fenster eines (Wiener? ) Business Centers hinausscha‐ dende Wirtschafterin mit einem Austrian-Flugzeug am Himmel, 137 Unternehmenssprache: regional - national - global? 25 Wie Reichl verrät, sei es das erste Konzept gewesen, das ursprüngliche Hellblau am Bauch der Flugzeuge durch Begrüßungsformeln in verschiedenen Sprachen zu ersetzen. Dies sei allerdings an finanziellen Faktoren gescheitert. Weiters habe das Unternehmen das sprachlich(-pragmatisch)e Potential von Servus erkannt, das auch im Ausland be‐ kannt sei und - trotz arealer Überschneidung mit Bayern - als typisch österreichischer (und herzlicher) Willkommensgruß wahrgenommen werde. Dieser solle zudem der ös‐ terreichischen (‚National-‘)Airline den mit Österreich fest assoziierten Gastfreund‐ schafts- und Gastgebercharakter (nach außen) verleihen. Die (linguistische) Kategorie Begrüßungsformeln ist apropos auch zum Thema der myAustria-Kampagne geworden. Analog zu anderen Aktionen hat ‚Karl‘ per Mail dazu aufgerufen, an einer Befragung mitzuwirken: „[I]n unserer Sprache zeigt sich auch die Vielfalt Österreichs, vor allem mit unseren vielen unterschiedlichen Dialekten. So grüßt z. B. jeder und jede auf seine ganz persönliche Art und Weise. Ich verwende zumeist ein einfaches ‚Hallo! ‘, meine Kollegin sagt dagegen ‚Servus! ‘. Wir von myAustria sind heute auf der Suche nach dem typisch österreichischen Gruß. Verrate uns jetzt, welchen Gruß du mit Österreich verbindest und welcher in deinem Umfeld am häufigsten ver‐ wendet wird. Vote jetzt mit! “ (Hervorhebungen M. M.) - eine Aufgabe so gut wie aus einem echten (sozio)linguistischen Fragebogen. ‚InformantInnen‘ sind auf der eigent‐ lichen Befragungsseite (erneut) (quasi im variationslinguistischen Sinne) auf (poten‐ tielle) areal und sozial determinierte Unterschiede im Gebrauch von Grußformeln auf‐ merksam gemacht worden: „Österreich steht für vieles und diese Vielfalt zeigt sich auch in unseren verschiedenen Begrüßungsformeln. Oftmals von Bundesland zu Bundesland oder auch von Ort zu Ort unterschiedlich. Ältere Personen sagen etwas anderes als junge Teenager. Die Tiroler etwas anderes als die Wiener“ (Hervorhebungen M. M.). Wie aus den Ergebnissen dieser Umfrage hervorgeht, gilt Servus auch unter (teilnehmenden) ÖsterreicherInnen als der typischste österreichische Gruß. Diesem folgen - jedoch mit eindeutig niedrigeren Prozentsätzen - zwei weitere vorgegebene Antworten Grias di und Hallo. Hinzuweisen ist zudem auf die manuell eingegebenen Begrüßungsmöglich‐ keiten Grüß Gott und Habe die Ehre. • ein Austrian-Flieger mit der typisch österreichischen Grußformel Servus in kräftigem Rot am Bauch, 25 • Matthias Mayer, Olympiasieger im Nationalsport Ski Alpin, der gerade das traditionelle einheimische Schnitzel genießt, • Opernstar Anna Netrebko, die in männlicher Begleitung an Bord der Austrian Airlines-Business Class reist; beide bekommen eine Tasse Cap‐ puccino serviert - einmal mit (Kakao-)Herz auf dem Milchschaum und einmal mit Musiknote. Die beiden letzten Bilder stammen aus der Anfangsphase der FROM/ TO-Kampagne und greifen aktuelle Ereignisse auf. Dabei kommen wie auch sonst Mischformen vor, bei denen sprachliche Elemente in den bildlichen Be‐ reich hineinreichen. Bes. relevant sind hier (Dialekt-)Austriazismen in diversen (Werbe-)Aufschriften, so z. B. Schifoan ‚Schifahren‘, deppert ‚blöd, einfältig‘ oder 138 Mateusz Maselko wie kurz zuvor erwähnt Servus ‚freundschaftlicher Gruß zur Begrüßung bzw. beim Abschied‘ (s. Abb. 8). Abb. 8: (Textuell-)Bildliche Österreich-Marker auf der Austrian Airlines-Website (in Aus‐ wahl) 139 Unternehmenssprache: regional - national - global? [6a] [6b] [6c] [7a] [7b] [7c] [8a] Auf textueller Ebene findet man Beispiele (Hervorhebungen M. M.), die sich hinsichtlich des vertretenen (Herkunftsmarktbzw. Positionierungs-)Konzepts drei groben Kategorien zuordnen lassen: Austrianness - Inhalte mit klarem nationalem Bezug „Typisch österreichisch - Das neue Premium Economy Class Amenity Kit. Es ist klein. Es ist hübsch anzusehen. Es ist rot-weiß-rot. Es ist voller Gemütlichkeit. Ein bisschen so wie Österreich: Das praktische Premium Economy Class Amenity Kit.“ „In unserem Kaffeehaus über den Wolken werden zehn typisch österrei‐ chische Spezialitäten wie Einspänner oder Melange serviert. Mit österrei‐ chischem Charme und Gastfreundlichkeit möchten wir Ihre Flugreise so angenehm wie möglich gestalten.“ „Erleben Sie [bei Langstreckenflügen] auf Ihrer Reise dorthin Wien! Zum Beispiel in der romantischen Vorweihnachtszeit auf einem der magischen Christkindlmärkte, machen Sie einen Ausflug in den Wienerwald oder planen Sie einen Skitrip in die Alpen! “ Internationale Austrianness - Inhalte mit parallelem nationalem und internationalem Bezug „In der Austrian Business Class wird jeder Gang einzeln angerichtet und individuell serviert. Als Weinbegleitung haben wir eine Auswahl an ex‐ zellenten österreichischen und internationalen Weinen.“ „Wien ist nur einen Stopp entfernt! Lassen Sie [sic! ] jetzt auf Ihrer Reise nach Bangkok oder Hongkong vom Charme Österreichs verzaubern - so kombinieren Sie zwei Destinationen zum Preis von einer.“ „Österreichische Marken wie Meinl am Graben, Café Sacher oder Spar Gourmet bieten ihre qualitativ hochwertigen Produkte ebenso an wie internationale Premium Labels z. B. Dolce & Gabbana, Hugo Boss, Ralph Lauren, Puma oder Gant.“ Non-Austrianness - Inhalte mit klarem internationalem Bezug bei Aus‐ blendung des Nationalen „2013 hat Austrian die Kabinenausstattung der gesamten Langstrecken‐ flotte modernisiert. Neben dem neuen Design sorgt nun auch ein neuer ergonomischer Sitz mit einer einzigartigen Relax-Funktion für noch mehr Komfort in der Economy Class.“ 140 Mateusz Maselko 26 Um dessen Perspektive kennenzulernen, haben Manfred M. Glauninger und Mateusz Maselko am 23. Oktober 2015 ein Interview mit Isabella Reichl, Marketing Director bei der Austrian Airlines, durchgeführt. Im Folgenden werden ihre Aussagen wiederge‐ geben. [8b] [8c] „Im modernen luxuriösen Ambiente bieten wir Ihnen... - eine große Aus‐ wahl an kalten und warmen sowie alkoholischen Getränken - Köstlich‐ keiten von DO & CO - kostenloses WLAN - zahlreiche Unterhaltungs‐ möglichkeiten wie Fernsehen, Zeitungen und Magazine - Badezimmer mit Dusche - abgetrennte Relax Zonen“ „Das 150.000 m² grosse Terminalgebäude wird ein neues Reiseerlebnis und eine neue Qualität für unsere Passagiere bringen: Im Terminal er‐ leben Reisende eine moderne Architektur mit lichtdurchfluteten Räumen, kurze Umsteigewege und ein hohes Shopping- und Gastrono‐ mieangebot mit 31 Shops und 19 Restaurants.“ Gleichzeitig stellt die Austrian Airlines sich vor als moderne, luxuriöse und hochwertige, exklusive, trend- und modebewusste, innovative sowie nicht zu‐ letzt internationale Fluglinie, die sich überdurchschnittlicher Leistungen auf den Gebieten Kulinarik, Mode, Einrichtung und Technik rühmt. Auf der Hand liegt hier eine Parallele zu den in 3.2.1 skizzierten Leitsätzen zweier weiterer Mit‐ glieder der Lufthansa Group: Das erste Image entspricht in hohem Maße dem der Schweizer SWISS, das zweite korreliert dafür vollkommen mit jenem der deutschen Lufthansa. Diese drei Konzepte stehen mehr oder weniger gleichbe‐ rechtigt nebeneinander. Erkennen lässt sich allenfalls eine leichte Präferenz für den zweiten Typus, das ‚internationale Österreich‘, der die zwei gegensätzlichen Pole ja ohnehin miteinander vereint. Diese ,Sowohl-als-auch-Strategie‘ entspricht ganz den Intentionen des Managements. 26 Einerseits wolle man, wie vom breiten in- und ausländischen Publikum erwünscht, auf unterschiedlichste Art und Weise das für die Alpen‐ republik Kennzeichnende hervorheben und quasi als österreichischer Gastgeber bzw. Botschafter auftreten, andererseits spiele das Moderne und Innovative eine durchaus wichtige Rolle, und zwar nicht nur für die Airline selbst, sondern, wie unternehmensinterne Marktanalysen zeigen, auch für die österreichische Be‐ völkerung. Der Anteil und die Auswahl von Österreich-Markern im Auftritt der Austrian Airlines hänge vom Markt ab; die Recherchen zeigen: „Je weiter weg von Österreich, desto traditioneller wird das Bild der Alpenrepublik“. Speziell für Österreich und (deutschsprachige) Nachbarländer dürfe das (Marketingwie Sprach-)Konzept nicht allzu konservativ, herkömmlich und altertümlich wirken. Gerade ÖsterreicherInnen wünschten sich im (Österreich-)Image der Austrian 141 Unternehmenssprache: regional - national - global? Airlines die modernen Komponenten und demzufolge Vermarktung der eigenen Heimat(fluglinie) als innovativ, reich, wirtschaftlich solide und hoch entwickelt. Für deutsche BürgerInnen stelle Österreich in erster Linie ein gastfreundliches und gemütliches Nachbarland dar, das ein vielseitiges (Kurz-)Reiseangebot be‐ reitstellt. Personen aus Italien und Frankreich schätzten im Alpenstaat neben einer Palette an modernen bzw. in gutem Zustand befindlichen touristischen Einrichtungen mannigfaltige Einkaufsmöglichkeiten und atemberaubende Na‐ turlandschaften. Die aufgeführten Faktoren seien für fernere (anderssprachige und insb. interkontinentale) Handelsmärkte dagegen kaum relevant. Diese wiesen zwar interne Unterschiede auf, griffen aber generell auf das Traditionelle - Stichwort typische Identitätsfiguren bzw. Außenmarker - zu‐ rück: So sei Österreich bspw. in den USA nach wie vor das Land des ‚Sound of Music‘, in Japan jenes der Donaumonarchie, im Nahen Osten der grünen und bergigen Landschaft und in Russland der Gastfreundlichkeit und des Reichtums. Im Österreich-Faktor, und zwar dem je nach Region möglichst verschieden zu interpretierenden (bzw. facettenreichen, ‚universellen‘ Gesamtbild) sehe die Austrian Airlines ihre Chancen auf dem von starker (internationaler) Konkur‐ renz geprägten Markt. Dieser gelte als Erfolgsschlüssel oder zumindest Poten‐ tial, da es in Hinblick auf Qualitätsstandards schwierig sei, sich gegen andere Airlines abzugrenzen, denn jede Fluggesellschaft biete Flüge ‚von A nach B‘ an zu ungefähr gleichen Konditionen, mit gleichen Flugzeugen und ziemlich glei‐ cher Ausstattung wie Serviceleistung. Das Österreich-Image ist eine durchaus dynamische Größe, sodass darauf ausgerichtete Marketingmaßnahmen fortwährend überprüft werden müssen, wie Bosch / Schiel schon vor zwei Dekaden hervorgehoben haben: „Das ausgeprägte Österreichimage von Austrian Airlines muß ständig gepflegt werden und in der Kommunikationspolitik berücksichtigt werden, will man auch künftig vom ‚Österreichbonus‘ profitieren und sich auf diesem Weg eine Unique Sel‐ ling Proposition (USP) verschaffen.“ (Bosch / Schiel 1999: 235) Dies geschieht laut Reichl auch tatsächlich: Alle zwei-drei Jahre werde in den für die Austrian Airlines wesentlichsten Märkten D-A-CH, Italien, Russland, Japan, China und dem Nahen Osten eine Brand-Tracking-Studie durchgeführt, die es der Fluggesellschaft ermögliche, das aktuelle Image bzw. Erwartungen zu erheben und das eingesetzte Konzept zu überprüfen. 142 Mateusz Maselko 27 Vgl. dazu ausführlicher die Masterarbeit (Maselko 2015), die sich darum bemüht, bis auf den lautlichen Bereich alle sprachlichen Ebenen (Lexik, Grammatik, Orthographie und Pragmatik) einzubeziehen. Hier können nur die wichtigsten Ergebnisse vorgestellt werden. Das Korpus besteht aus dem (nach Relevanz) vorselektierten Sprachmaterial, das innerhalb von zwei zweiwöchigen Perioden (05.-18. Mai 2014 und 04.-17. August 2014) gesammelt worden ist. Die Auswahl umfasst gut 40 A4-Seiten. 4.5 Mikrostrukturelle Elemente In diesem abschließenden Kapitel geht es um sprachliche Österreich-Marker im engeren Sinne, also Austriazismen. 27 Das ausgeprägte Bewusstsein für die Be‐ sonderheit des eigenen Deutsch lässt sich ja ‚betriebsstrategisch‘ ausbeuten und als Instrument nützen, um sich von Konkurrenten zu unterscheiden (vgl. Em‐ merling 2007: 13 f.). Explizit in diesem Sinne äußert sich die schon mehrfach zitierte Marketingleiterin von Austrian Airlines, Isabella Reichl. In einem On‐ line-Interview vom Mai 2014 sagt sie: „Das typisch Österreichische […] soll auch […] in unserer Sprache erlebbar sein“ (Austrian Airlines red|blog). Nun führt der Rückgriff auf österreichisches Deutsch ja allenfalls insoweit zu einer unternehmensspezifischen Sprache, mit der man sich von anderen Marken absetzen kann, als die Austrian Airlines keinen (äquivalenten) inländischen Kon‐ kurrenten hat, sodass sie sich als die nationale Airline positioniert. Die vorangehenden Kapitel haben allerdings gezeigt, dass dies nur eine Facette des Images sein soll. Zugleich setzt sie nämlich auf Internationalität. Man könnte nun ver‐ muten, dass dies sprachlich durch die vielen Anglizismen realisiert wird. Wie Beispiel [6a] mit dem Premium Economy Class Amenity Kit zeigt, scheut man auch nicht vor der unmittelbaren Nebeneinanderstellung zurück. (Premium) Economy Class, Lounge, Boarding, operated by usw. sind im Reisebusiness aller‐ dings allgegenwärtig und es fragt sich, ob man darauf überhaupt verzichten kann. Von anderen Ausdrücken mag man sich tatsächlich eine größere Wirkung auf die zu begeisternde Kundschaft erhoffen, etwa von Amenity Kit statt Kul‐ turbeutel oder Annehmlichkeitsausrüstung, red|guide statt rot(er)|Reiseführer und offenbar sogar von Austrian (und Swiss). Die englischbasierten Lexeme werden jedenfalls nicht verwendet, weil es keine deutschen ‚Äquivalente‘ gäbe. Der Frage, ob und wie sich Fluglinien im Umgang mit Anglizismen unterscheiden, könnte eine eigene Untersuchung gewidmet werden; ihr kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Die folgende Darstellung beschränkt sich ganz auf Österreich-Marker. Gesondert behandelt werden allerdings standardsprach‐ liche Austriazismen und dialektale/ substandardsprachliche, weil sie, wie in 4.4.1 gezeigt, einen sehr unterschiedlichen pragmatischen Stellenwert haben. 143 Unternehmenssprache: regional - national - global? 28 Da hier schriftliches Material ausgewertet wird und die Homepage nur sehr wenig Audiomaterial umfasst, kann diese Ebene hier nicht berücksichtigt werden. Die für (linguistische) Laien auffallendste Merkmalgruppe stellt neben der Lautung 28 zweifellos die Lexik dar. Bekanntlich ist die regionale Zuordnung nicht immer einfach: Manche Ausdrücke sind im gesamten oberdeutschen Raum gebräuchlich, andere nur in (Teilen) Österreichs, wieder andere Wörter und Sa‐ chen (z. B. Sachertorte und Kaiserschmarren) kommen zwar aus Österreich, sind aber weltbekannt. In der ausführlichen Arbeit Maselko (2015) sind alle Aus‐ drücke entsprechend der sehr differenzierten Gliederung von Wiesinger (vgl. 2008: 15 ff.) gruppiert und ihre Gebräuchlichkeit in diversen Nachschlagewerken überprüft worden. Hier werden sie alle zusammengenommen, weil es nur darum geht, einen groben Überblick über den funktionalen Einsatz von Austriazismen im Webauftritt der Austrian Airlines zu gewinnen. Was die Standard-Ausdrücke betrifft, so ist mit 110 Vorkommen der Anteil von typisch österreichischem Vokabular nicht allzu hoch. Die Belege verteilen sich auf 44 Lexeme; 19 davon kommen mehrfach vor. Dabei handelt es sich überwiegend um solche aus dem Verwaltungsbereich: Allein 23 Belege entfallen auf den Monatsnamen Jänner. Zahlreich sind die, die den Geschäfts- und Bank‐ verkehr betreffen, allein 21 Belege aus der Wortfamilie refund* (v. a. refun‐ dieren, Refundierung, refundierbar). Daneben gibt es vier Belege mit der bundes-/ gemeindeutschen Entsprechung erstatt*; diese kommen alle in unmittelbarer Umgebung (innerhalb einer Phrase) der refund*-Belege vor. Sie dienen also of‐ fensichtlich entweder der Verständnissicherung oder der stilistischen Variation (Vermeidung von Wortwiederholungen). Dasselbe lässt sich für Geldbehälter unmittelbar neben Geldtasche konstatieren: Verschiedene ‚nationale‘ Varianten werden nebeneinander benützt. In den Bereich des Geschäfts- und Geldverkehrs gehören auch Annullierung (7) und annullieren (1), einheben (6), Stornospesen (3). Weitere wie Kassa, beheben, lukrieren kommen nur einmal vor. Diese Ausdrücke (abgesehen vielleicht von Jänner) sind wohl wenig geeignet, das angestrebte Österreich-Bild aufzurufen. Das leisten v. a. 19 verschiedene Lexeme aus dem kulinarischen Bereich, inkl. Kaffeehaus. Abgesehen von Röster und Nockerln (je 3) kommen sie alle nur einmal vor. Einen Österreich-Effekt dürften ferner noch heuer und heurig erzielen (zus. 5). Spätestens nach der myAustria(n)-Kampagne, in der die InformantInnen überwiegend Dialektismen (bloshappat ‚bloßfüßig‘, Grundbirn ‚Kartoffel‘, Gu‐ gascheckn ‚Sommersprossen‘, Huanausa ‚Hornisse‘, Zwidawurzn ‚mißlauniger Mensch‘) als typisch österreichische Ausdrücke angegeben haben, ist sich auch das Marketing bewusst, dass Substandard-Ausdrücke nicht ausgeklammert 144 Mateusz Maselko werden sollten. So lässt es den oben zitierten ‚Karl‘ in ‚seinem‘ Mail an die myAustria(n)-Community sagen: „[I]n unserer Sprache zeigt sich auch die Viel‐ falt Österreichs, vor allem mit unseren vielen unterschiedlichen Dialekten“ (19. Juni 2015). Es wird also - primär in den werbenden Texten und Graphiken - die stark ausgeprägte innere Mehrsprachigkeit der ÖsterreicherInnen angespro‐ chen und auch dia-/ regiolektaler Wortschatz gebraucht. Die im alltäglichen Kontext unmarkierten/ neutralen Ausdrücke werden „unter dem nicht zu unterschätzenden Einfluss der Standard- und Schriftvarietäten einem Markierungs-/ (Neu-)Kontextualisierungsprozess, sprich einer pragmatischen Po‐ tenzierung unterzogen. Diese Entwicklung besteht in der Transformation der kom‐ munikativen Funktion bzw. Domänenpräferenz einer durch standardsprachliche Formen immer stärker substituierten Varietät. […] In der Sprachpraxis kommt die Grammatopragmatikalisierung zum Ausdruck in der Bedeutungsverlagerung von Konstruktionen und Bezeichnungen weg von einer primär alltagssprachlichen hin zu einer diskursiven Ebene. Unmarkierten Formen werden damit grammatopragmatika‐ lisierte gegenübergestellt, die durch ihre sprachliche Auffälligkeit, Andersartigkeit und Kontrastivität usw. wie auch soziale, symbolische und identitätsstiftende Funk‐ tion des Auffällig-, Andersartig- und Kontrastivmachens usw. […] markiert sind“ (Maselko 2018: 660; Hervorhebung M. M.). Genau solche Ausdrücke wie Bist du deppert? sollen unter LeserInnen bestimmte Gefühle bzw. Reaktionen hervorrufen. Meist geht es um Ironie, Sarkasmus, Em‐ pörung, Verwunderung, Lachen etc. (vgl. Löffler 2010: 143). Im Übergangsbereich von Lexik und Wortbildung bzw. Morphologie liegt der Einsatz von Diminutiven auf -erl, welche für Österreich bzw. den bairi‐ schen Sprachraum kennzeichnend sind. Recht oft handelt es sich hierbei um ‚unechte‘ - teils bereits lexikalisierte - Diminuierungen, die gar nicht über das semantische Merkmal ‚klein‘ verfügen (z. B. Hühnerschnitzerl, Stockerl, Ta‐ scherl). Sie dienen aber sehr gut als regionale Marker, die auch eine gewisse (sprachliche) Nähe zwischen (mit ihren Texten auf den Verkauf abzielenden) SchreiberInnen und (zu potentiellen KundInnen gehörenden) LeserInnen der Austrian Airlines-Webseite erzeugen (sollen). Während das -erl sehr bewusst eingesetzt werden kann, um einen Öster‐ reich-Effekt zu erzielen, ist ein anderes Phänomen der Wortbildung anders zu beurteilen, nämlich das Fugen-s. Die Literatur (vgl. z. B. Duden. Die Grammatik 2016: 726 f.; Ebner 2008: 38; Wiesinger 2008: 13) nennt die Verwendung der Fuge als sehr charakteristisches Unterscheidungsmerkmal für österreichisches Deutsch. Im Allgemeinen wird dort - anders als im Gemeindeutschen - nach Gaumenlauten ([g] <g>, [k] <k>, [x] <ch>) ein -sgesetzt, während bei einigen 145 Unternehmenssprache: regional - national - global? wenigen Komposita, die im Bundesbzw. Gemeindeutschen ein Fugenelement haben, im österreichischen Deutsch kein verbindendes -sauftritt. Dies gilt bspw. für Zusammensetzung mit dem Erstglied Advent- (z. B. Adventkalender) sowie Schaden- (z. B. Schadenersatz). Dieser Unterschied ist jedoch für die SprecherInnen nicht in derselben Weise salient wie das -erl, d. h. die jeweilige Form wird als normale (korrekte) Form eingeschätzt, und es fällt nur auf, wenn diese Normalitätserwartung enttäuscht wird: ÖstereicherInnen wundern sich über Ausdrücke wie Gepäckausgabe, Ad‐ ventskalender usw., während Nicht-ÖsterreicherInnen irritiert auf Ausdrücke wie Spitalsaufenthalt, Unfallsversicherung, Zugsverspätung usw. reagieren. Im Korpus kommen die verschiedenen Formen nebeneinander vor, die nicht-österreichi‐ schen Varianten lassen sich v. a. in Ausdrücken finden, die sozusagen branchen‐ spezifisch sind (z. B. Gepäck- und Abflug-). Die beispielhafte Verteilung für Kom‐ posita mit dem Erstglied Gepäckzeigt Abbildung 9. Hier überwiegen eindeutig die österreichischen Varianten, lediglich bei dem hochfrequenten Gepäckstück ist die Variante ohne -sviermal so häufig: Das Gleiche gilt für die niedrigfre‐ quenten Komposita mit -beschädigung, -ermittlung und -versicherung. Abb. 9: Einsatz vom Fugen-s in den eruierten Komposita mit dem Erstglied Gepäck- Offensichtliche Hyperkorrekturen liegen dafür in Handsgepäck und Obhutsge‐ päck vor. Die Google-Onlinerecherchen ergeben, dass beide Formen (auch) in Österreich bzw. auf den Webseiten mit dem Landeskürzel *.at nur ganz selten verwendet werden. Die entsprechenden fugenlosen Varianten weisen eine ein‐ deutig höhere Frequenz auf. Im Bereich der Wortgrammatik wirkt auf SprecherInnen deutscher Varie‐ täten bes. salient die Variation im Bereich des Genus von Substantiven. Nach Wiesinger (vgl. 2008: 12 f.) ist die unterschiedliche Realisierung hauptsächlich 146 Mateusz Maselko für Fremdwörter kennzeichnend. Die Duden-Grammatik geht auf areale Varia‐ tion nur punktuell und ohne Hinweis auf ‚nationale‘ Variation ein: „Beispiele für neuere Schwankungsfälle: die E-Mail (eher in der Mitte und im Norden), das E-Mail (eher im Süden); der/ das Laptop“ (Duden. Die Grammatik 2016: 171; Kursi‐ vierung M. M.) Tatsächlich herrscht schon innerhalb eines (‚nationalen‘) Sprachgebiets Varia‐ tion, auch wenn eine gewisse Präferenz für eines der Genera beobachtbar ist. Dies zeigt überzeugend die Webseite der Austrian Airlines. Dort finden sich fünf einschlägige Substantive, die - wie Tabelle 2 zu entnehmen - in (modernen) variationslinguistisch ausgerichteten Wörterbüchern areal, aber auch stilistisch unterschiedlich markiert sind. Wort ÖWB DUDÖ VWB 2004 VWB 2016 DUDon A A D, CH A D, CH A D, CH A D, CH E-Mail N. = F. N., fachs. öfter F. F. meist N. D: meist FCH: F. = N. F., auch N. D: F. CH: F., auch N. F., auch N. D: F. CH: F., auch N. SMS F. = N. N. F. meist N. D: meist F. CH: meist N. meist N. D: meist F., CH: meist N. F., auch N. D: F. CH: F., auch N. Service M. = N. N. M. M., auch N. M. M. = N. M. = N. M., auch N. M. Flair N. - - - - - - N., auch M. Schranke(n) M. M. (-n) F. M. (-n) F. öfter M. (-n) als F. F. M. (-n) F. Tab. 2: Wörterbuchangaben zum grammatischen Geschlecht bei den eruierten Substan‐ tiven mit (areal bedingter) Genusschwankung Vergleicht man die zwei Auflagen des Variantenwörterbuchs des Deutschen, scheint in Österreich bei drei der genannten Wörter die Verwendung von ge‐ mein-/ bundesdeutschen Genusvarianten kontinuierlich zuzunehmen, bei E-Mail dürfte sich das Femininum sogar weitgehend durchgesetzt haben. Dies 147 Unternehmenssprache: regional - national - global? bestätigt die These von Glauninger (2013), der vor dem Hintergrund der Glo‐ balisierung, des Europäischen Binnenmarkts und der Öffnung der nationalen Märkte sowie der in den letzten Jahrzehnten stark veränderten außersprachli‐ chen bzw. geopolitischen Verhältnisse Deutsch als supranationale Sprache be‐ trachtet. Auch wenn die Nachschlagewerke, die ohnehin nur Tendenzaussagen machen können, eine der Genusvarianten einer anderen gleichstellen, schließt das nicht aus, dass eine von ihnen als österreichisch wahrgenommen wird. Das heißt, die ‚national‘ bezogene Salienz eines Ausdrucks oder grammatischen Merkmals muss nicht notwendigerweise mit höherer Frequenz einhergehen. Wort A-‚sa‐ lient(er)‘ ntotal Maskulinum Femininum Neutrum n % n % n % E-Mail N. 41 19 61,3 % 12 38,7 % SMS N. 11 7 63,6 % 4 36,4 % Service N. 40 11 27,5 % 29 72,5 % Flair M. 3 2 66,7 % 1 33,3 % Schranke(n) M. 5 5 100,0 % 0 0,00 % Tab. 3: Gebrauch des grammatischen Geschlechts bei den eruierten Substantiven mit (areal bedingter) Genusschwankung Die Belege für E-Mail und Service sind etwa gleich häufig (s. Tab. 3). Für beide gilt Neutrum als salient(er) für den österreichischen Sprachgebrauch. Sie un‐ terscheiden sich jedoch darin, mit welchem Genus sie konkurrieren. Die Daten erlauben die folgende Hypothese: Stehen Neutrum und Femininum nebenein‐ ander, so wird häufiger zum Femininum gegriffen - dafür spricht auch die Ge‐ nusverteilung bei SMS. Gibt es dagegen Varianz zwischen Neutrum und Mas‐ kulinum wie bei Service, so bleibt es bei der österreichischen Präferenz. Für Flair sind wegen einer zu geringen Belegzahl die Daten nicht aussagekräftig. Für Schranke(n) gibt es immerhin fünf Belege (ausschließlich Maskulinum). Es han‐ delt sich aber um einen Sonderfall, sowohl wegen der morphologischen Struktur als auch wegen der indigenen Herkunft. Es wäre durchaus interessant, andere Korpora unter dieser Frage auszuwerten. Areal bedingte Divergenzen im Bereich der Syntax sind im Gegensatz zu den lexikalischen und morphologischen einerseits nicht auffällig und andererseits auch nicht so zahlreich. Ebner (vgl. 2008: 45) zählt zu den syntaktischen Spezifika des österreichischen Deutsch u. a. den abweichenden Gebrauch von Präpo‐ 148 Mateusz Maselko sitionen. Im Korpus ist bes. bemerkenswert die Präposition bei Preisangaben - sei es in Verbindung mit Verben wie kaufen, verkaufen, anbieten etc. oder in verblosen Phrasen. Während im österreichischen Alltag (Verkaufsinterakti‐ onen, Werbung, Presse) um die eigentlich einzig übliche Variante ist, wird im Material der Austrian Airlines relativ häufig auf für zurückgegriffen (13 vs. 10 Belege, d. h. 56,5 % vs. 43,5 %). Hier darf man wohl einen Einfluss des Bundesbzw. Gemeindeutschen unterstellen. 5 Conclusio Im Schlusskapitel sollen resümierend der hier angewandte Begriff der Unter‐ nehmenssprache und die Umsetzung dieses Konzepts durch die Austrian Airlines zum Thema werden. Der gewählte Ausdruck mag etwas problematisch wirken: Auf der einen Seite kommt er nur eingeschränkt (im deutschsprachigen Raum) zum Einsatz, er ist relativ vage und weist schließlich mehrere Lesarten auf, von denen sich u. a. die der ‚Lingua franca eines Unternehmens‘ bes. im non-wissenschaftlichen Bereich weitgehend etabliert hat. Auf der anderen Seite scheint er nicht zuletzt wegen der Parallele mit anderen auf -sprache auslautenden Bezeichnungen für Varie‐ täten, die in der Alltagssprache und bei linguistischen Laien weitverbreitet sind, gut geeignet, um im germanophonen Gebiet verwendet zu werden. Genau des‐ wegen greifen etwa zahlreiche (und einflussreiche) ‚Beratungs‘-Agenturen auf ihn zurück, um ein neues ‚Produkt‘ auf den Markt zu bringen, nämlich eine unternehmensspezifische Art des Kommunizierens. Vorgeschlagen wird hier die folgende Definition von Unternehmens‐ sprache: Es handelt sich um eine (imaginierte) Komponente der Business Com‐ munication bzw. eine (auf ökonomische Profite ausgerichtete) (Wunsch-) Konzeption, die sowohl verbale als auch nonverbale Elemente der (betriebsspe‐ zifischen und individualisierten) Interaktion vonseiten eines Unternehmens nach außen und innen betrifft. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings auf der externen Kommunikation (insb. mit potentieller Kundschaft, ferner Betrieben, Institutionen, Kontrahenten etc.). Dabei geht sowohl um die vermittelten Inhalte als auch die Vermittlungsformen. Im verbalen Bereich müssten dementsprechend die diversen sprachlichen Ebenen berücksichtigt werden: nicht nur die im (Marketing-)Fokus stehende Lexik, sondern auch die Phonetik, Orthographie, Morphologie, Syntax, Se‐ mantik, Pragmatik. Im paraverbalen Bereich wären typographische Elemente im weitesten Sinne einzubeziehen. Eine allzu enge Begrenzung auf Bilder ist nicht angezeigt. Eine besondere Bedeutung kommt vielmehr den Mischformen 149 Unternehmenssprache: regional - national - global? zu, die v. a. moderne Technologien und Formate bzw. sog. Neue Medien möglich machen. Abgesehen von den diversen Zeichensystemen, die ohnehin eine interdiszi‐ plinäre Perspektive erfordern, ist für eine funktionale Interpretation der einge‐ setzten Mittel die Perspektive der (Betriebs-)Wirtschaft notwendig. Betrachtet man Unternehmenssprache als eine Art Varietät, so muss, wie bei allen anderen Varietäten auch, den außersprachlichen Faktoren Rechnung getragen werden, sodass ein linguistisch-betriebswirtschaftliches Konzept anzustreben ist. Die Relevanz des Zusammenspiels ganz unterschiedlicher Ebenen, die ein Unternehmen selbst als identitätsstiftend begreifen kann, lässt sich auch am analysierten Material der Austrian Airlines ablesen. Ob dieses Konzept die er‐ wünschte Wirkung erzielt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall hat man mit einem komplexen Konstrukt zu tun, das großteils sehr bewusst geschaffen wird. Die vier wichtigsten interagierenden (Wirkungs-)Komponenten seien kurz zu‐ sammengefasst: Was das Konzeptuelle angeht, so folgt die Marketingsstrategie im Sinne der Positionierung auf dem Markt einem ‚A-la-carte‘-Konzept, das Internationales/ Innovatives/ Modernes mit Nationalem/ Qualitätsvollen/ Traditionellem ver‐ bindet. Zur plastischen Darstellung eignet sich gut das Essen-an-Bord-Angebot, nach dem Gästen zum einen „ein Schnitzel auf […] Flug […] nach Wien“ und zum anderen „eine Auswahl an Tapas, Meze oder japanischen Köstlichkeiten auf […] Reise nach Amsterdam“ (Hervorhebungen: M. M.) offeriert wird. Im Vergleich zu anderen Airlines der Lufthansa Group vereint die Austrian Airlines die Faktoren International und National, während die Lufthansa nur auf die erste Komponente setzt und die SWISS auf das Nationale bzw. Regionale fokussiert und dem das Internationale unterordnet bzw. dieses fast nur im schweizerischen Kontext darstellt. Berge, Wintersport, Musik, Essen und Trinken, Sehenswürdigkeiten, Trachten usw. repräsentieren das Stereotype, welches die Austrian Airlines massiv einsetzt. Es handelt sich dabei um allgemeingültige und weltweit be‐ kannte (positive) Assoziationen mit Österreich, deren Einsatz jedoch auf Grund‐ lage von einschlägigen Umfragearbeiten je nach Land bzw. Verkaufsmarkt vari‐ iert. Das Heterostereotyp von Österreich korrespondiert allerdings nicht selten mit dem Autostereotyp bzw. den sog. Identitätsfiguren. Alleine im rot-weiß-roten Layout der Webseite zeigt sich die Bedeutung und (potentielle) Wirkungskraft, die das Visuelle mit sich bringt. Die v. a. nach dem Wunschbild ausgewählten und in dieser Hinsicht natürlich professionell bear‐ beiteten Graphiken und Photographien dienen nicht nur zur Unterstützung der textuellen Ebene, sondern kommen vermehrt auch als selbstständige und aus‐ 150 Mateusz Maselko sagekräftige Elemente vor. Im Speziellen bei neueren Bordprodukten wird ferner in Form von Videoclips oder Animationen auf bewegte Bilder zurückgegriffen. Das Sprachliche charakterisiert sich durch starke Variation auf allen Systemebenen. Für die Philosophie des österreichischen Luftfahrtunternehmens spielt selbstverständlich der areale Faktor eine der bedeutendsten Rollen. Die österreichisch-‚nationalen‘ (sowie partiell -dialektalen) Varianten tauchen meist neben den bundesbzw. gemeindeutschen auf. Das quantitative Verhältnis zwi‐ schen den räumlich bestimmten Formen divergiert allerdings nach Phänomen bzw. Bereich. Dies ist aber aus mehreren Gründen nicht so signifikant: Erstens ist die Variation an einigen Stellen - im unmittelbaren Kotext - als stilistischer Eingriff zu interpretieren. Zweitens werden von linguistisch nicht geschulten RedakteurInnen einige Varianten unbewusst eingesetzt, weil sie quasi die einzige ‚korrekte‘ Möglich‐ keit darstellen. Das betrifft in hohem Maße etwa das Fugen-s, welches für Spre‐ cherInnen des österreichischen Deutsch durchaus zur (Sprach-)Normalität ge‐ hört und bes. bei Zweifelsfällen eher verwendet als beseitigt wird - im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Ländern gilt österreichweit der Fugeneinsatz als nicht auffallend. Drittens handelt es sich bei der Austrian Airlines um ein international agie‐ rendes Unternehmen, das sich nicht nur im Ausland zu positionieren versucht, sondern auch in seinem Wiener Headquarter ausländisches Personal einstellt. Damit sind auch oder sogar v. a. MitarbeiterInnen aus Deutschland gemeint, was ja auch Isabella Reichl, Marketing Director, im Interview bestätigt hat. Die Sprache sei nicht explizit ein Thema unter Angestellten, es gebe auch kein Wor‐ ding für die interne Kommunikation. Man habe sich aus österreichischer Sicht mittlerweile an die bundesdeutsche Varietät gewöhnt und übernehme z. T. Teu‐ tonismen bzw. gemeindeutsche Formen. Für Mitarbeitende aus Deutschland seien dafür Austriazismen eher (charmante) Befruchtung als Störung oder gar Anlass zur Belustigung. Viertens kommen nach Reichl immerhin bis zu 20 % der publizierten Texte aus der deutschen Zentrale der Lufthansa Group. Dies dürfte allerdings nicht die Werbetexte betreffen. Fünftens - zu guter Letzt und womöglich sogar am wichtigsten - bildet die imposante bzw. gar homogene Frequenz kein notwendiges Kriterium, um als spezifisch österreichisch wahrgenommen zu werden. Ganz im Gegenteil: Der gelegentliche, gezielte und seitens der LeserInnen unerwartete Einsatz von Ös‐ terreich-Markern kann das damit verbundene grammatopragmatikalische Po‐ tential durchaus stiften oder verstärken. Gerade im Bereich der dafür gut prä‐ disponierten Lexik reichen nur ein paar wenige bewusst ins Spiel gebrachte 151 Unternehmenssprache: regional - national - global? Ausdrücke, um im Ausland (aber teils auch im Inland) salient zu wirken und beachtet zu werden. Für den grammatischen Bereich bedeutet dies: Der öster‐ reichische Charakter der (Unternehmens-)Sprache wird unter keinen Um‐ ständen dadurch aufgehoben, dass für die Alpenrepublik spezifische Varianten möglicherweise seltener gebraucht werden als gemeindeutsche, wie es etwa bei der Genuskonkurrenz zwischen Neutrum und Femininum der Fall ist. Markiert‐ heit und Salienz hängen somit mehr vom pragmatischen bzw. kontextualisierten Einsatz ab als von der Häufigkeit des Vorkommens. Quellenverzeichnis Austrian Airlines. URL: https: / / www.austrian.com/ ? sc_lang=de&cc=AT [letzter Zugriff: 10.06.2018] [diverse Unterseiten]. Austrian Airlines. myAustria. URL: https: / / www.austrian.com/ Info/ AustrianIn/ myAustr ia.aspx? sc_lang_de&cc=AT [letzter Zugriff: 27.08.2015]. Austrian Konzernportal. Unternehmens Leitbild. URL: https: / / www.austrianairlines.ag/ AustrianAirlinesGroup/ Profil/ MissionStatement.aspx? sc_lang=de [letzter Zugriff: 20.01.2018]. Austrian Konzernportal. Über Austrian. 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III Variation in Internet-Auftritten 1 2 2.1 2.2 3 4 5 5.1 5.2 5.3 5.4 6 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe Eine text- und variationslinguistische Analyse der alemannischen Sprachversion der Wikipedia Eva Gredel Gliederung: Einleitung Sprachliche Vielfalt und Variation im Social Web Online-Enzyklopädie Wikipedia Deutsche und alemannische Wikipedia Datenstruktur, Textsortenüberlegungen und Korpuserstellung Theoretischer Rahmen: Kohärenz in Hypertexten Empirische Analyse Strategien der Kohärenzsicherung im Teilkorpus 1 „Hauptseiten“: Glo‐ bale Kohärenz Lokale Kohärenz im Teilkorpus 1 „Hauptseiten“ Globale Kohärenz im Teilkorpus 2: Interlinguale Kohärenz über Inter‐ wiki-Links Lokale Kohärenz im Teilkorpus 2: Realisierung von Textmustern Diskussion und Fazit 1 Einleitung Ein Blick in die Forschungsliteratur legt nahe, dass die Kombination text- und variationslinguistischer Ansätze in der Linguistik ein ergiebiges Arbeitsfeld darstellt (vgl. Adamzik 2016: 291). Dies ist auch im Fall des in den letzten Jahren sprachwissenschaftlich viel beachteten Untersuchungsgegenstandes der Wiki‐ pedia so, da die Struktur der Online-Enzyklopädie eine Engführung text- und variationslinguistischer Aspekte ermöglicht. Allerdings liegen bisher nur text‐ linguistische bzw. textlinguistisch orientierte Arbeiten (vgl. Storrer 2008 und 1 Rogers differenziert zwischen born-digital data (bzw. natively digital data) und digitized data. Er formuliert die folgende Unterscheidung: „An ontological distinction may be made between the natively digital and the digitized, that is, between the objects, content, devices, and environments that are ‚born‘ in the new medium and those that have ‚migrated‘ to it“ (Rogers 2013: 19). 2012; Fandrych / Thurmair 2011; Kallass 2015; Mederake 2016) sowie im wei‐ teren Sinne kontrastiv bzw. vergleichend konzipierte Arbeiten (vgl. Ensslin 2011; Bedijs / Heyder 2012; Arendt / Dreesen 2015; Augustin 2016; Gredel 2016) vor. Die oben angesprochene Kombination text- und variationslinguistischer Ansätze wird bisher nicht systematisiert. Diesem Desiderat wendet sich der vorliegende Beitrag zu. Die Wikipedia mit ihren 290 Sprachversionen stellt nicht nur eines der er‐ folgreichsten Projekte im Web 2.0 dar, sondern ist auch als einzigartige Sprach‐ ressource zu verstehen, die den heterogenen Charakter natürlicher Sprachen eindrucksvoll belegt. Die über Links verknüpften Sprachversionen der Wiki‐ pedia werden in diesem Beitrag als hypertextuell und thematisch zusammen‐ hängende (Sprach-)Daten genutzt. Aufgrund ihres hypertextuellen Charakters greift es bei der textsortenspezifischen Einordnung der Wikipedia zu kurz, diese als Variante von Printenzyklopädien zu verstehen und ihre Spezifika wie Nicht-Linearität, Multimodaltität und Multilingualität zu marginalisieren. Viel‐ mehr machen diese Spezifika der Wikipedia insgesamt drei grundlegende Er‐ weiterungen textlinguistischer Überlegungen notwendig: Zunächst gilt es, die hypertextuellen Spezifika der Wikipedia ernst zu nehmen, wie dies im Programm einer Hypertextlinguistik (vgl. Storrer 2008) bereits formuliert wurde. Born-digital Data 1 wie Links führen dazu, dass text‐ linguistische Konzepte wie Kohärenz unter neuen Vorzeichen diskutiert werden müssen. Die Möglichkeit, Bilder, Tonmaterial und Videos in Artikel der Wikipedia zu integrieren, macht multimodale Analysen der Wikipedia notwendig und wirft u. a. die Frage nach Text-Bild-Relationen auf. Die Sprachversionen der Wikipedia sind über Links (Interwiki-Links) eng miteinander verbunden, was die multilinguale Dimension der Wikipedia kon‐ stituiert. Da die verlinkten Artikel der Wikipedia in verschiedenen Sprachver‐ sionen zumeist keine reinen Übersetzungen darstellen, kann die Wikipedia auch als Ressource zum Sprach- und Kulturvergleich genutzt werden. Der oben zuletzt genannte Aspekt konstituiert zugleich die Schnittmenge der variationsmit den textlinguistischen Aspekten in diesem Beitrag. Nach einer kurzen Charakterisierung der alemannischen Sprachversion der Wikipedia geht der Beitrag auf folgende Fragen ein: 162 Eva Gredel • Welche Strategien der Kohärenzsicherung finden sich in einem als dyna‐ misch zu verstehenden Hypertext, wie ihn die Wikipedia darstellt? • Unterscheiden sich diese Strategien in der deutschen und der alemanni‐ schen Sprachversion der Wikipedia? • Ist das in der Textsorte „online-enzyklopädischer Lexikonartikel“ zu Er‐ wartende realisiert oder gibt es Abweichungen? Wenn es Abweichungen gibt, wie sind diese zu interpretieren? Um diese Forschungsfragen zu beantworten, werden in Kapitel 2 Überlegungen zur sprachlichen Vielfalt und Variation im Social Web (Kap. 2.1) und speziell in der Wikipedia (Kap. 2.2) angestellt. Kapitel 3 liefert Kennzahlen der beiden be‐ trachteten Sprachversionen der Wikipedia sowie Informationen zur Daten‐ struktur und Korpuserstellung. In Kapitel 4 wird die Erweiterung des Konzepts der Kohärenz diskutiert und nach der empirischen Analyse (Kap. 5) schließt der Beitrag mit einem Fazit (Kap. 6). 2 Sprachliche Vielfalt und Variation im Social Web Vielfach wurden bereits linguistische Überlegungen dazu angestellt, inwiefern das Internet und hier v. a. das Social Web die sprachliche Vielfalt und Variation befördert oder beschränkt. Da an dieser Stelle nicht die gesamte Diskussion nachgezeichnet werden kann, sollen die für die folgende Analyse zentralen As‐ pekte genannt werden: „In der Tat hat das Konzept des Cyberspace mit dem des Dialekts gemein, dass beide den Aspekt des Räumlichen in ihrer Bedeutung haben: Dialekt als räumlich gebundene Sprachvarietät, Cyberspace als künstlicher oder virtueller Raum, in dem im Prinzip alles Platz haben kann, was auch im wirklichen Raum Platz hat“ (Hofer 2004: 181). Die von Hofer sehr positiv beschriebene Offenheit des Cyberspace und der Hy‐ pertexte dort relativiert Weber (2001: 166), indem er zwei mögliche Zukunfts‐ szenarien kontrastiert: Bei der Cyber-Globalisierung geht es um die Dominanz von Nationalsprachen und einer schwindenden Rolle von Regionalsprachen und Dialekten auf digitalen Informations- und Kommunikationsmärkten, wohin‐ gegen die Cyber-Regionalisierung vom gegenteiligen Effekt des Internets für sprachliche Vielfalt ausgeht: „Der regionale Cyberraum erhöht die Chance, daß mehr Menschen des regionalen Raumes aktiv und passiv mit den Regionalsprachen in Berührung kommen. Es wird sich gleichzeitig die Vernetzung der Regionalsprache [...] erhöhen“ (Weber 2001: 166). 163 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe 2 Interface Design ist die Gestaltung einer Benutzeroberfläche digitaler Plattformen, die die Interaktion zwischen Maschine und Nutzer ermöglicht. In seinen folgenden Ausführungen stellt Weber v. a. auf das zweite Szenario der Cyber-Regionalisierung ab und beschreibt den „Prozeß der Vergemeinschaf‐ tung“ (ebd.: 167) von Sprecherinnen und Sprechern „kleiner Sprachen“ (ebd.). Deren Zusammenhalt ergibt sich gemäß Weber über gemeinsame Interessen und die „Interaktivität“ auf digitalen Plattformen, „denn mit den neuen Medien kann ein interaktiver Kommunikationsraum gebildet werden, in dem nicht nur Informationen zur Verfügung gestellt werden“ (ebd.). Bedijs / Heyder (2012: 441) halten bei ihrer Analyse metadiskursiver Aushandlungen des Frankoprovenza‐ lischen in der Wikipedia fest, dass die Online-Enzyklopädie „diese Chance einer interaktiven Kooperation bietet“. Dieser Feststellung soll im Folgenden anhand der Wikipedia und im Besonderen anhand der alemannischen Sprachversion nachgegangen werden. 2.1 Online-Enzyklopädie Wikipedia Die zentrale Idee der Wikipedia ist es, freies Wissen für alle zugänglich zu ma‐ chen und grundsätzlich jedem zu ermöglichen, zum Projekt einer freien On‐ line-Enzyklopädie beizutragen. Den Grundprinzipien der Wikipedia entspricht es dabei, dass auch Sprecher von Dialekten und Regionalsprachen mit eigenen Sprachversionen der Online-Enzyklopädie vertreten sind. Bei der Einrichtung neuer Sprachversionen spielen Faktoren eine Rolle wie die Größe der Sprechergemeinschaft, Meinungs- und Redefreiheit sowie eine enzyklopädische Tradition (van Dijk 2009: 1). Neue Sprachversionen können beim Language Committee der Wikimedia Foundation beantragt werden und nach einer Test‐ phase im Inkubator in die Systematik der Wikipedia integriert werden. Dieses standardisierte Verfahren haben mittlerweile rund 290 Sprachversionen erfolg‐ reich durchlaufen. Auf den ersten Blick scheint somit eine „Gleichberechtigung von Sprachen“ (Weber 2001: 163) realisiert zu sein. Ensslin geht dieser Frage nach dem Zusammenspiel und den Relationen ver‐ schiedener Sprachversionen der Wikipedia in einer empirischen Analyse nach, um die multilingual policy der Wikipedia medienlinguistisch anhand der „me‐ talinguistic practice and implicit metapragmatics“ (Ensslin 2011: 543) zu re‐ konstuieren. Auf der Basis ihrer Untersuchung des Interface Design  2 stellt Ensslin kritisch fest: „The implicit metapragmatics of Wikipedia’s interface design, its logo and the Babel user language templates conveys that the realities of implementing an idealistic, ega‐ 164 Eva Gredel litarian multilingualism are skewed towards neo-liberalist, corporate Anglocentrism“ (Ensslin 2011: 554). Ensslin macht deutlich, dass visuelle und verbale Elemente der Benutzerober‐ fläche der Wikipedia eine vollkommene Gleichberechtigung von Sprachen nicht gewährleisten, sondern über variierende Ausgestaltungen kulturelle Diffe‐ renzen der einzelnen Sprachversionen befördern. Dieses Ergebnis ist für die folgende empirische Analyse aus einer text- und variationslinguistischen Pers‐ pektive interessant, da die Gestaltung der Benutzeroberfläche maßgeblich zu Kohärenzsicherung in komplexen Hypertexten beiträgt (s. Kap. 4). Im folgenden Abschnitt soll nun jedoch zunächst besprochen werden, welche metasprachli‐ chen Aushandlungen in den beiden betrachteten Sprachversionen stattfinden. 2.2 Deutsche und alemannische Wikipedia Hinsichtlich der Relationen verschiedener Sprachversionen in der Wikipedia zu‐ einander liefert van Dijk als Wikipedia-Autor einen entscheidenden Hinweis: „Zwar ist das Grundkonzept stets dasselbe, in den Regeln oder Gepflogenheiten kommt es teilweise zu erheblichen Unterschieden. Unterschiedlich sind auch die Inhalte, also die Artikel zu einzelnen Themen“ (van Dijk 2009: 1). Der Verweis auf die Vielzahl präskriptiv wirkender Regeln und Grundprinzipien, die die Wikipedia zu einer „heavily-policed environment“ (Giles u. a. 2015: 48) machen, ist auch für linguistische Analysen zentral: So gibt es in der deutschen Sprachversion zwei Meta-Seiten, die präskriptiv wirken, indem sie Vorgaben zur Orthographie und zur makrostrukturellen „Soll-Norm“ (Adamzik 2016: 290) des enzyklopädischen Kerns, also der Wikipedia-Artikel, aufweisen. In der deutschen Sprachversion wird den Autoren vorgegeben, dass die Artikelseiten gemäß geltenden orthographischen Regeln verfasst werden müssen (Wikipedia 2017a). Auf der korrespondierenden alemannischen Meta-Seite werden dazu folgende Angaben gemacht: „Mer orientiere üs nooch de traditionele Schrybige i dr Literatur un nooch de neuri Schrybempfeelige wie dr Dieth Schrift oder Orthal. Eigni Erfindige un bsunders eigni Schriftzeiche yzfüere isch nüt erwünscht! E paar vo de Sache wo do unte ufglischtet sin sin numme Empfeelige, andri sin erwünscht bzw nüt erwünscht“ (Wikipedia 2017b). Zwar sind hier zwei Referenzen (Dieth 1938; Zeidler / Crévenat-Werner 2008) zur Standardisierung der Verschriftlichung der Dialekte Schweizerdeutsch und Elsässisch als Soll-Norm genannt. Tatsächlich wird jedoch nicht reguliert, in welchem Dialekt des alemannischen Sprachraums ein Artikel verfasst wird und wie dieser zu verschriftlichen ist. Dies zeigt der folgende Diskussionsbeitrag, der auf die Frage antwortet, in welchem Dialekt themenübergreifende Texte zu verfassen sind: 165 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe 3 Lediglich unter 1 % der alemannischen Wikipedia werden als in Allgäuer und italieni‐ schen Dialekten verfasst angegeben (Wikipedia 2017d). „Im Dialekt des jeweiligen Autors bzw. der Autoren, da gibt es keine Regel, das können also ganze verschiedene Dialekte sein. Und wenn mehrere Autoren an einem Artikel mitgeschrieben haben, kann sogar der Dialekt innerhalb eines Artikels wechseln“ (Wikipedia 2017c). Vertreten sind laut Angaben der Statistiken tatsächlich mehrere Dialekte des alemannischen Raums. Darunter finden sich das Schweizerdeutsche (52 %), Süd‐ badisch (32 %), Elsässisch (10 %), Schwäbisch (6 %) sowie Dialekte aus dem Gebiet Vorarlberg / Fürstentum Liechtenstein (1 %) (Wikipedia 2017d). 3 Die Meta-Seite der deutschen Sprachversion unter dem Titel Wie ich gute Artikel schreibe liefert Vorgaben zur Soll-Norm der Makrostruktur online-enzyklopädischer Lexikon‐ artikel der Wikipedia (Wikipedia 2017e). In der alemannischen Wikipedia gibt es kein Pendant zu diesem Artikel. Wie sich dies auf die makrostrukturelle Ge‐ staltung der Artikel auswirkt, wird die empirische Analyse in Kapitel 5 zeigen. Zunächst folgt die Beschreibung der Datengrundlage. 3 Datenstruktur, Textsortenüberlegungen und Korpuserstellung Rund zwei Stunden wird das Internet durchschnittlich genutzt (vgl. ARD/ ZDF 2016), wobei die Internetnutzer aus unterschiedlichsten Gründen über Smart‐ phones, Tablets und Notebooks auf verschiedene digitale Plattformen zugreifen und auf die Wikipedia durchschnittlich 24 Minuten Nutzungsdauer täglich ent‐ fallen (vgl. ebd.). Tabelle 1 zeigt, wie viele angemeldete Nutzer insgesamt auf die Online-Enzyklopädie zugreifen: Deutsche Sprachversion Alemannische Sprachver‐ sion Artikel 2.100.000 23.000 Nutzer 180.000 58.000 Aktive Nutzer 5.967 71 Gründung Mai 2001 November 2003 Tab. 1: Kennzahlen zur deutschen und zur alemannischen Wikipedia. Quelle: Wikipedia 2017 f und g 166 Eva Gredel Die Unterschiede bei den Kennzahlen der deutschen und der alemannischen Sprachversion sind dabei erwartungsgemäß signifikant. Im Vergleich mit an‐ deren Sprachversionen der Online-Enzyklopädie belegt die alemannische Wi‐ kipedia hinsichtlich der Zahl der Artikel Rang 110 und hinsichtlich der Zahl der registrierten Nutzer Rang 68 unter den Sprachversionen der Wikipedia. Vor dem Hintergrund, dass die schriftliche Produktion von Dialekt häufig als „Ausnah‐ meaktivität“ (Christen 2004: 71) dargestellt wird, belegen die Kennzahlen aller‐ dings, dass die alemannische Wikipedia - im Vergleich zu anderen digitalen Plattformen mit dialektalem Charakter - ein Projekt beachtlichen Ausmaßes ist. Auf der Grundlage dieser hohen Nutzungszahlen weist Ulrike Haß (2016: 15) Enzyklopädien und insbesondere der Wikipedia die folgende Rolle zu: „Sie dienen der Gesellschaft als Dokumentation und Archiv allen Wissens und sind oft die erste Anlaufstelle für Wissensfragen“. Diese gesellschaftliche Relevanz hat den Untersuchungsgegenstand Wikipedia in den Fokus linguistischer Ana‐ lysen gerückt und zu Überlegungen geführt, wie online-enzyklopädische Lexi‐ konartikel als Textsorte einzuordnen sind: Fandrych / Thurmair (2011: 106), die Wikipedia-Artikel als Variante von (gedruckten) Lexikonartikeln betrachten, halten fest, dass „Wikipedia [...] viele Merkmale einer typischen Enzyklopädie auf[weist]“. Ihren Ausführungen zur Wikipedia stellen sie die folgende Veror‐ tung von Lexikonartikeln voran: „Wir betrachten Lexikonartikel als eigene Textsorte; zusammen mit einer größeren Anzahl anderer Lexikonartikel sowie Hilfstexten [...] konstituieren sie einen Textver‐ bund. Gründe für die Einstufung als Textsorte (und gegen die Annahme einer Großtextsorte Lexikon) sehen wir darin, dass Lexikonartikel in sich vergleichsweise auto‐ nome Einheiten darstellen, deren Textfunktion auch an jedem Einzeltext festzuma‐ chen ist. [...]. Die Art, wie die einzelnen Lexikonartikel angeordnet, vernetzt und in einen Verbund eingegliedert sind, bezeichnen wir als ‚Architektur‘“ (Fandrych / Thur‐ mair 2011: 89). Dass die Meinungen zur Einordnung online-enzyklopädischer Lexikonartikel der Wikipedia nicht einheitlich sind, zeigen verschiedene Belege. So stimmt Augustin (2016: 10) den bereits zitierten Ausführungen von Fandrych / Thumrair zu. In demselben Projekt kommt Fabricius-Hansen auf der Basis grammatikali‐ scher Analysen sehr viel deutlicher zu dem Schluss, dass „Wikipedia-Texte eine eigene Textsorte zu bilden [scheinen], die nicht unbedingt mit sonst vergleich‐ baren Textsorten übereinstimmt“ (Fabricius-Hansen 2016: 78). Zu dieser Hal‐ tung passt auch die (hyper-)textlinguistische Betrachtung der Wikipedia durch Mederake, die den Aufbau eines Wikipedia-Artikels folgendermaßen beschreibt: 167 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe 4 Unter dem Begriff Affordanz werden Funktionalitäten digitaler Plattformen verstanden, die den Umgang mit dieser Plattform und in der Folge auch die Möglichkeiten sozialer Interaktion auf dieser Plattform determinieren. „1) Artikelstichwort bzw. Lemma 2) Begriffsdefinition und Einleitung 3) Inhaltsverzeichnis, das ab drei Überschriften automatisch angelegt wird 4) Zwischenüberschrift 5) Inhaltsbelege in Form von Fußnoten 6) Assoziative Verweise 7) Externe Links mit weiterführenden Informationen 8) Kategorienzuweisung 9) Infobox (fakultativ) mit grundlegenden Daten“ (Mederake 2016: 86). Die so auf der Basis deskriptiver Untersuchungen skizzierte „Ist-Norm“ (Adamzik 2016: 290) zur makrostrukturellen Ausgestaltung von Wikipedia-Ar‐ tikeln zeigt deutlich die Notwendigkeit, zwischen Text und Hypertext zu diffe‐ renzieren: Aufgrund technischer Affordanzen 4 der Software MediaWiki gibt es Textelemente, die automatisch generiert werden (s. o., Punkt 3) und auch Links spielen eine zentrale Rolle (s. o., Punkt 7). Hypertextuelle Merkmale der On‐ line-Enzyklopädie wie Nicht-Linearität, Interaktivität und Multimodalität (Storrer 2008: 318 ff.) sollten somit ins Zentrum textlinguistischer Analysen rü‐ cken. Das wichtigste Kriterium ist das der Nicht-Linearität: Storrer (2008: 318) de‐ finiert Hypertexte als „nicht-linear organisierte Texte, die durch Computer‐ technik verwaltet werden“. Die Besonderheit ist dabei, dass der „Autor eines Hypertextes [...] seine Daten auf mehrere Module - im WWW werden solche Module üblicherweise als Seiten bezeichnet - [verteilt]“ (ebd.: 319). Bei der Wi‐ kipedia finden sich eine ganze Reihe verschiedener Linkarten: Neben externen Links auf andere Internetseiten gibt es Interwiki-Links, die verschiedene Sprach‐ versionen der Wikipedia verknüpfen, und Wikilinks, die Artikelseiten ver‐ binden. Diese Linkarten bedingen die nicht-lineare Natur der Wikipedia, da sie den Nutzern individuelle Lesepfade ermöglichen, die sich klar von der üblichen (zumeist linearen) Rezeption gedruckter Texte unterscheiden. Diese Links stellen je nach Blickwinkel technische Affordanzen des Systems oder auch Grenzen der individuellen Beiträge in der kollaborativen Wissenskonstruktion dar: „Bei der Produktion von Hypertexten ist der Spielraum von Hypertextautoren we‐ sentlich determiniert von der Funktionalität des Hypertextsystems, insbesondere von 168 Eva Gredel den vom jeweiligen System unterstützten Strukturierungskonzepten und von den Navigations- und Orientierungswerkzeugen, die dem Nutzer für die Rezeption ange‐ boten werden“ (Storrer 2008: 320). Die hier erwähnten Navigations- und Orientierungswerkzeuge sind als neue Strategien zur Kohärenzsicherung zu verstehen, die in textlinguistischen Ana‐ lysen berücksichtigt werden müssen (siehe Kap. 4). Während die Artikelseiten den enzyklopädischen Kern der Online-Enzyklopädie darstellen und sich durch textorientiertes Schreiben auszeichnen (Storrer 2012: 277), gibt es neben den korrespondierenden Diskussionsseiten auch andere Namensräume - etwa die bereits in Kapitel 2.2 erwähnten Meta-Seiten. Dieses Zusammenspiel verschie‐ dener Namensräume und der dort auszumachenden Vielzahl verschiedener Textsorten bezeichnet Herring (2013: 5) als Text-Text-Konvergenz. Da sich diese Textsorten teilweise durch netztypische Besonderheiten des interaktionsorien‐ tierten Schreibens auszeichnen (Storrer 2012: 277) und ihre Analyse interak‐ tionsanalytischer Kategorien bedarf (vgl. Beißwenger 2016), wird der Fokus der folgenden Analyse auf dem enzyklopädischen Kern der Wikipedia liegen. Neben der bereits genannten Text-Text-Konvergenz fördert die Wikipedia zudem die Text-Bild-Konvergenz durch die Integration unterschiedlicher semiotischer Ressourcen, was die zunehmend multimodale Verfasstheit (s. o. Multimodalität) der Wikipedia bedingt: Die Autoren können Bild-, Ton- und Videomaterial ein‐ bringen, um Artikelseiten auszugestalten. Die multimodale Dimension der Wi‐ kipedia kann hier jedoch nur ansatzweise diskutiert werden, stellt aber für kom‐ mende Analysen eine lohnenswerte Ebene dar. Die Datengrundlage für die vorliegende Studie setzt sich aus den folgenden vier Teilkorpora zusammen: Zunächst sollen die Hauptseiten der zwei betrach‐ teten Sprachversionen analysiert werden. Diese Auswahl ist durch die Promi‐ nenz der Hauptseiten begründet, die auf jeder Artikelseite über einen Hyperlink verknüpft sind und eine zentrale Funktion zur Orientierung der Nutzer haben: „Die Einstiegsseite ist [...] als ein ‚Advance Organizer‘ für Online-Angebote auf‐ zufassen“ (Bucher 2001: 50). Zudem wurden die 25 Einträge der Kategorie Bachwar (standard-dt. Backwaren) in der alemannischen Wikipedia sowie die dazu verlinkten 21 Einträge der deutschen Wikipedia ausgewählt. Begründen lässt sich diese Datenauswahl damit, dass Essen und Trinken als anthropologi‐ sche Grundkonstante verstanden werden können (vgl. Dingeldein / Gredel 2017b: 4) und zugleich Auskunft über alltagsästhetische Ausrichtungen und Identität von Akteuren geben (Gredel 2017: 189). Die folgenden Lemmata sind der Kategorienseite Bachwar (Wikipedia 2017h) zugeordnet: 169 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe 1a) 1b) 2a) 2b) Appezäller Biber Badener Stei* Bagel Baklava S Basler Laibli Basler Läckerli Brot Weckli Brunsli* Fasnachtschüechli Fasnetküchle Flàmmeküeche Kugelhopf Holzofenbrot* Hutzelbrod* Guetzli Chueche Luxemburgerli Maagebrot Rüeblitorte Schwäbischa Bibelkuacha Schwarzwälder Kirschtorte Schpanisch Brötli Sprengerle Zopf Die vier durch Asterisk (*) gekennzeichneten Lemmata sind nur in der aleman‐ nischen Wikipedia vertreten und nicht in der deutschen. Damit ergeben sich die folgenden vier Teilkorpora: Hauptseite der deutschen Sprachversion Hauptseite der alemannischen Sprachversion Die 25 Wikipedia-Einträge der alemannischen Kategorienseite Bachwar Die 21 Wikipedia-Einträge der damit verlinkten Einträge in der deutschen Sprachversion Vor der empirischen Analyse sind nun jedoch zunächst die notwendigen Er‐ weiterungen des Konzepts der Kohärenz zu diskutieren. 4 Theoretischer Rahmen: Kohärenz in Hypertexten Kohärenz wird als eines der zentralen Kriterien für Textualität beschrieben und häufig als „Tiefenstruktur“ (Fix 2008: 22) eines Textes gefasst. Etabliert wurde dieser textlinguistische Terminus mit Blick auf lineare Texte. Das bedingt, dass für die Analyse von Strategien zur Kohärenzsicherung in Hypertexten mit ge‐ nuin digitalen Daten (z. B. Links) das textlinguistische Konzept der Kohärenz unter neuen Vorzeichen diskutiert werden muss. Insgesamt sollen drei Erwei‐ terungen bzw. Präzisierungen für die Beschäftigung mit Hypertexten für die in Kapitel 5 folgende empirische Analyse berücksichtigt werden: Bucher (2001: 47) differenziert die textuelle versus operationale Dimension von Kohärenz, Storrer (2004: 277) nimmt mit Blick auf Hypertexte die Differenzierung lokaler und glo‐ baler Kohärenz vor und Sandrini (2012: 246) beschäftigt sich anhand mehrspra‐ chiger Internetauftritte mit der interlingualen Kohärenz. Zur Unterscheidung von zwei Dimensionen der Kohärenz im Hypertext ge‐ langt Bucher im Zusammenhang mit Rezeptionsbefunden zur Online-Nutzung: „Erstens eine textliche Dimension, in der die typischen sprachlichen Merkmale wie Verweise, Substitution, explizite Wiederaufnahme, Tempusabfolgen, Thema-Rhema- 170 Eva Gredel Strukturen oder Sequenzmuster für sprachliche Handlungsformen kohärenzsichernd eingesetzt werden. [...] Und zweitens eine operationale Dimension, in der ein Zei‐ chensystem aus Frames, Links, Buttons, Typografie, Navigationsleisten, Textdesign, Überschriften oder Orientierungstexten für die Kohärenzsicherung non-linearer Kommunikationsangebote sorgen soll“ (Bucher 2001: 47). Die textliche (im Folgenden: textuelle) Dimension der Kohärenz bezieht sich somit auf den herkömmlichen Kernbereich der Textlinguistik und greift auf tra‐ dierte Fachtermini zurück. Die operationale Dimension stellt dagegen eine in‐ novative Perspektive für textlinguistische Studien dar, die aber aufgrund der Einbettung der Texte in ein Interface Design notwendig ist. Sehr zentral ist auch die von Storrer getroffene Unterscheidung in lokale und globale Kohärenz, da sich die einzelnen Artikel v. a. über die Dimension der globalen Kohärenz zum Textverbund der Online-Enzyklopädie zusammenfügen und sich die Textarchitektur über diese Dimension ergibt: „Lokale Kohärenz besteht zwischen benachbarten Textteilen [...]. In einem auf Text-Bild-Texte und Hypertexte erweiterten Sinne kann lokale Kohärenz auch zwischen räumlich benachbarten semiotischen Einheiten bestehen, also z. B. auch zwischen einem Bild und einer Bildunterschrift. [...] Globale Kohärenz bezeichnet den Zusammenhalt von Textkonstituenten, der durch eine übergreifende thematische Ge‐ samtvorstellung und durch die Funktion des Textes in einem größeren Kommunika‐ tionszusammenhang gestiftet wird“ (Storrer 2004: 277). Die im Zitat oben zusätzlich getroffene Erweiterung unter Berücksichtigung von Bildern ist in der Textlinguistik für lineare Texte längst anerkannt (vgl. z. B. Stöckl 2004; Eckkrammer / Held 2006) und sollte aufgrund der multimodalen Dimension von Hypertexten auch bei deren Analyse berücksichtigt werden, wie Storrer dies hier vorschlägt. Für die folgende Analyse ist auch die von Sandrini behandelte Sonderform der globalen Kohärenz von besonderer Relevanz: „Die Sprachnavigation manifestiert sich als eine spezifische Form der globalen Kohä‐ renz, da hiermit der thematische Gesamtzusammenhang über Sprachen hinweg ge‐ kennzeichnet wird. [...] Die Möglichkeit des Benutzers zwischen den Sprachversionen eines einzelnen Hypertextknotens oder des gesamten Webauftrittes wählen zu können, bedingt die interlinguale Kohärenz“ (Sandrini 2012: 248). Diese „interlinguale Kohärenz“ ist, wie bereits beschrieben, Ausgangspunkt für die Korpuserstellung und wird in Kapitel 5 noch einmal näher analysiert. 171 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe 5 Empirische Analyse 5.1 Strategien der Kohärenzsicherung im Teilkorpus 1 „Hauptseiten“: Globale Kohärenz Was die globale Kohärenz innerhalb der Wikipedia - also die Einbettung der Lexikon-Artikel in den übergreifenden Kommunikationszusammenhang der Online-Enzyklopädie - angeht, spielen die vertikale Navigationsleiste links und die horizontale Navigationsleiste oben eine zentrale Rolle. Die horizontale Na‐ vigationsleiste hat die wichtige Funktion, den Nutzer auf andere Namensräume der Wikipedia zu verweisen: In der deutschen Sprachversion sind hier Verweise zur jeweiligen Diskussionsseite, zum Quelltext und zur Versionsgeschichte im‐ plementiert. In der alemannischen Sprachversion sind alle Elemente auf der operationalen Ebene parallel zur deutschen Hauptseite realisiert. Nur auf der textuellen Ebene gibt es Unterschiede, da fast alle Link-Beschreibungen in einen alemannischen Dialekt übersetzt wurden (z. B. Quelltext anschauen = Quelltext aaluege oder nicht angemeldet = nit aagmäldet). Die visuellen Elemente des in der Navigationsleiste ebenfalls angebrachten Wikipedia-Logos (Weltkugel im Puzzle-Muster) sind in beiden Sprachversionen identisch. Lediglich der verbale Zusatz ist in der alemannischen Version übersetzt (Di frei Enzyklopedy). Die vertikale Navigationsleiste links enthält in der deutschen Sprachversion die folgenden zehn ersten Link-Anzeiger: Hauptseite - Themenportale - Von A bis Z - Zufälliger Artikel - Artikel verbessern - Neuen Artikel anlegen - Autoren‐ portal - Hilfe - letzte Änderungen - Kontakt (Wikipedia 2017i). Kontrastiert man dazu die ersten zehn Link-Anzeiger der alemannischen Sprachversion werden zwei saliente Unterschiede sichtbar: Houptsyte - Gemeinschaftsportal - Zufalls‐ artikel - Inhaltsverzeichnis - Kategorie - Mach mit - Froge? - Kontaktsyte - Stammtisch - Artikel wo fähle (Wikipedia 2017j). Dem klar inhaltlich orientierten Themenportal der deutschen Sprachversion steht in der alemannischen Sprach‐ version das sogenannte Gemeinschaftsportal gegenüber. Wie der Name an‐ deutet, geht es hier um die Bildung einer Gemeinschaft: Nutzer sollen hier durch die Listung verschiedener Beweggründe zur Mitarbeit an der kollaborativen Wissenskonstruktion motiviert werden. In der alemannischen Sprachversion gibt es zusätzlich den Link Stammtisch, dem aus einer funktionalen Perspektive das Autorenportal in der deutschen Sprachversion entspricht. Stammtisch ist hier deutlich als Metapher zu verstehen, bei dem der Quellbereich aus nicht-digitalen Lebenswelten auf den Zielbereich der kollaborativen Wissensproduktion in der Online-Enzyklopädie projiziert wird. Storrer beschreibt den Einsatz von Meta‐ phern als Strategie zur Kohärenzsicherung in Hypertexten folgendermaßen: 172 Eva Gredel „Auch Metaphern eignen sich als Orientierungsrahmen für die Navigation in größeren Hypernetzen. [...] Das durch die Metapher aktivierte Vorwissen steuert die Vorerwar‐ tung an bestimmte Handlungsabläufe“. (Storrer 2004: 287) Bereits hier wird deutlich, dass die alemannische Sprachversion der Wikipedia sehr viel stärker auf ,Vergemeinschaftung‘ ausgelegt ist als die deutsche Sprach‐ version. Die Metapher vom Stammtisch aktiviert Vorwissen zu regelmäßigen und geselligen Tischgesprächen unter Freunden. Der Begriff Autorenportal im Deutschen aktiviert ein solches Vorwissen nicht. Auch wenn die fokussierten Elemente auf den beiden kontrastierten Hauptseiten, die zur Sicherung der glo‐ balen Kohärenz eingesetzt werden, recht standardisiert sind, zeigt das Beispiel, dass es Variation bei der textuellen Ausgestaltung und präziser bei den Strate‐ gien zur Kohärenzsicherung gibt. 5.2 Lokale Kohärenz im Teilkorpus 1 „Hauptseiten“ Die lokale Kohärenz auf der Hauptseite der alemannischen Wikipedia ist durch eine weitere Navigationsleiste im Zentrum der Hauptseite gekennzeichnet, deren Gestaltung an einen Karteikasten erinnert. Die verschiedenen Reiter ver‐ weisen auf die vier am stärksten vertretenen Dialekte (s. Kap. 2.2). Aktiviert man die Links zu den jeweiligen Reitern findet sich ein Begrüßungstext verfasst in Schwyzerdütsch, Badisch, Elsässisch und Schwäbisch: Schwyzerdütsch Grüezi, grüessech und willkomme uf der alemannische Wiki‐ pedia! Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe. Badisch Guete Dag un willkumme uf dr alemannische Wikipedia! Di frej Enzyklopedi, wu alli kenne mitschaffe. Elsässisch Buschur un wìllkumma uf dr àlemànnischa Wikipedia! D frei Enzyklopedi, wo àlla känna mìtmàche. Schwäbisch Griaß Godd elle midanand ond härzlich willkomma uf dr ale‐ mannischa Wikipedia! D frei Enzyklopedi, wo elle midmacha kennad. Tab. 2: Begrüßungstexte für die Nutzer der vertretenen alemannischen Dialekte. Quelle: Wikipedia 2017j. Dieses Element der Hauptseite stellt für den dort ankommenden Nutzer ein Identifikationsangebot und einen Hinweis auf die in der Wikipedia willkom‐ menen Dialekte des alemannischen Sprachraums dar. Zugleich rückt das Ele‐ ment diese sprachliche Vielfalt an prominenter Stelle in den Vordergrund. Die 173 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe parallele Formulierung stellt zudem eine Strategie zur Kohärenzsicherung dar. Dieses Element ist in der deutschen Sprachversion erwartungsgemäß nicht zu finden. An anderer Stelle der Hauptseite in der alemannischen Sprachversion heißt es zur Begrüßung der Nutzer: „D alemannischa Wikipedia isch a Enzyklopedi en de Dialäkt vom alemannischa Sprochraum, also von dr Deitscha Schweiz, vom Elsaß, vo Liechtaschtoi, vo Oberbade, vom Schwoabaland ond aus Vorarlberg und Westtirol. [...] Bringed Eier Wisse ei, ond hälfed so mit, s Alemannisch z pfläge, ufzwärte ond z erhalte. D erschte Schritt send ganz oifach! Wer mir vu dr Alemannischa Wikipedia sin un was mer welled, findsch in onserem Brofil“ (Wikipedia 2017j; Hervorhebungen E. G). Auffällig ist, dass die NutzerInnen im Plural angesprochen werden (z. B. Bringed Eier Wisse ei). Ferner sprechen die Wikipedia-Autoren in diesem Text auch von sich selbst im Plural (z. B. Wer mir vu dr Alemannischa Wikipedia sin). In der deutschen Sprachversion lautet der parallele Text: „Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten, zu dem du mit deinem Wissen beitragen kannst“ (Wikipedia 2017i). In beiden Versionen werden NutzerInnen in der Vertrautheitsform angesprochen, was sprachlich eine soziale Nähe konstruiert. Dass in der alemannischen Sprachversion die bereits aktiven Wikipedia-Autoren im Plural von sich sprechen, belegt sprachlich, dass die „Vergemeinschaftung“ (Weber 2001: 167) in der alemannischen Sprachversion besonders relevant gesetzt wird. 5.3 Globale Kohärenz im Teilkorpus 2: Interlinguale Kohärenz über Interwiki-Links Anhand des Teilkorpus 2 zur Kategorie Bachwar soll nun die interlinguale Ko‐ härenz in den beiden kontrastierten Sprachversionen näher betrachtet werden. Interlinguale Kohärenz wird v. a. über die sog. Interwiki-Links hergestellt: „Die Verbindung von einem Artikel zu einem Artikel in einer anderen Sprachversion nennt man ‚Interwiki-Link‘ oder kurz Interwiki“ (van Dijk 2010: 115). Auf den Meta-Seiten werden die Wikipedia-Autoren zur gezielten Herstellung interlin‐ gualer Kohärenz durch das Setzen solcher Links aufgefordert und dazu auch angeleitet (Wikipedia 2017k). Dennoch ergeben sich für die kontrastierten Aus‐ schnitte der beiden Versionen beachtliche Unterschiede: Für die alemannischen Seiten der Kateogrie Bachwar beträgt die durchschnittliche Zahl an Inter‐ wiki-Links 5,3, für die deutschen dagegen 25,3. Die Herstellung interlingualer Kohärenz über viele Interwiki-Links spielt also in der Dialektversion eine ge‐ ringere Rolle als in der standarddeutschen. Dieser quantitative Unterschied 174 Eva Gredel kann so gedeutet werden, dass es für die Gemeinschaft der Autoren in der ale‐ mannischen Wikipedia keine hohe Relevanz hat, Verweise auf andere Sprach‐ versionen zu setzen. 5.4 Lokale Kohärenz im Teilkorpus 2: Realisierung von Textmustern Zuletzt soll nun der Blick auf die textuelle Dimension und die Strategien zur lokalen Kohärenzsicherung im Teilkorpus 2 gerichtet werden. Für die deutsche Sprachversion der Wikipedia macht die Meta-Seite Wie ich gute Artikel schreibe präskriptive Vorgaben zum makrostrukturellen Aufbau eines prototypischen Wikipedia-Artikels und somit zur Soll-Norm. Tabelle 3 stellt die vorgeschriebene Soll-Norm der von Mederake empirisch eruierten Ist-Norm gegenüber: 1. Begriffsdefinition und Einleitung 2. Hauptteil mit Überschriften und Ab‐ sätzen 3. Links 4. Literaturhinweise und Belege 1. Artikelstichwort bzw. Lemma 2. Begriffsdefinition und Einleitung 3. Inhaltsverzeichnis, das ab drei Über‐ schriften automatisch angelegt wird 4. Zwischenüberschrift 5. Inhaltsbelege in Form von Fußnoten 6. Assoziative Verweise 7. Externe Links mit weiterführenden Informationen 8. Kategorienzuweisung 9. Infobox (fakultativ) mit grundle‐ genden Daten Tab. 3: Soll- und Ist-Norm zu online-enzyklopädischen Lexikon-Artikeln in der Wiki‐ pedia. Quelle: Wikipedia 2017e und Mederake (2016: 86) Die Liste von Mederake ist zwar detaillierter, die Soll- und Ist-Norm stimmen aber grundsätzlich überein. Auch der hier analysierte Datenausschnitt der deut‐ schen Sprachversion weist einen hohen Standardisierungsgrad auf: Die 21 Ein‐ träge des Teilkorpus 2b) orientieren sich stark an der Soll- und Ist-Norm. Die Makrostruktur der Texte des Teilkorpus 2a) stellt sich ganz anders dar. Die re‐ alisierten Textelemente sind sehr viel heterogener ausgestaltet: Insgesamt 32 % der Seiten im alemannischen Teilkorpus (= acht Seiten) weisen nämlich Text‐ elemente auf, die - mehr oder weniger ausgeprägt - makrostrukturellen Merk‐ malen von Kochrezepten entsprechen und somit stark von der Erwartung an Lexikonartikel abweichen. Dass die Umsetzung bestimmter Textmuster für Ko‐ härenzsicherung relevant ist, erklären Linke u. a. mit dem Konzept des Text‐ musterwissens: 175 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe „Es handelt sich immer um ein Wissen über bestimmte konventionalisierte, wieder‐ erkennbare und auch erwartbare Muster des Sprachgebrauchs. Das betrifft sowohl Auswahl und Häufigkeit bestimmter Textbausteine, die formale und inhaltliche Struktur und Gliederung sowie die Verwendung bestimmter ritualisierter Floskeln. [...] Textmusterwissen trägt folglich auch zu einem kohärenten Textverständnis bei: Einzelne Textelemente müssen nicht in jedem Einzelfall aus sich heraus interpretiert und mit den umgebenden Textelementen in Zusammenhang gebracht werden, son‐ dern können vor dem Hintergrund gegebener Muster als Repräsentanten erwartbarer Einheiten ausgedeutet und somit auch rasch kohärent verstanden werden“ (Linke u. a. 2004: 284). Die im Teilkorpus 2a) eruierten Muster decken sich nicht mit den erwarteten und sind sehr eindeutig als Elemente von Kochrezepten identifizierbar, stellen diese doch eine „stark normierte Textsorte“ (Liefländer-Koistinen 1993: 136) dar. Nübling u. a. führen die zentrale Dreiteilung aus Überschrift, Zutatenliste und Handlungsanleitung in Kochrezepten an und erwähnen auch die Variations‐ armut bei den Verbformen: „Zusammenfassend ist für Kochrezepte ein rigider Standardisierungsprozess festzu‐ stellen, der sich in der dreiteiligen Makrostruktur, der Variantenreduktion in Über‐ schriften und Verbformen sowie der zunehmenden Explizitheit von Überschriften, Zutatenlisten und Handlungsschritten manifestiert“ (Nübling u. a. 2013: 204). Im Teilkorpus 2a) finden sich genau diese Charakteristika wieder. So weisen sechs Artikel die charakteristische Dreiteilung von Kochrezepten auf. Bei drei Artikeln ist zudem die Zutatenliste typographisch abgesetzt, wie dies norma‐ lerweise in Kochrezepten realisiert wird. Bei der zentralen Handlungsanleitung sind die nach Nübling u. a. (2013: 199 ff.) erwartbaren Verbformen gesetzt, wie die dritte Spalte der Tabelle 4 zeigt: Dreiteilung Zutatenliste typographisch abgesetzt Textgrammatik: Verbform in der Handlungsanleitung S Basler Laibli - - Passivkonstruktionen Brot - - - Brunsli X - man-Konstruktionen Fasnetküchli X - man- und Passivkonstruk‐ tionen Hutzelbrod X X man-Konstruktionen 176 Eva Gredel Rüblitorte X X Infinitiv-Konstruktionen Bibelkuchen X X 2. Person Singular Kirschtorte X - man-Konstruktionen Tab. 4: Wikipedia-Artikel aus dem Teilkorpus 2a) mit makrostrukturellen Elementen, die Kochrezepten ähneln Die konkrete Ausgestaltung der Texte des Korpus 2a) sei hier exemplarisch an‐ hand des Eintrags Rüeblitorte illustriert: Abb. 1: Ausschnitt aus dem Wikipedia-Artikel Rüeblitorte. Quelle: Wikipedia 2017l Obwohl der Eintrag Rüeblitorte mit den über die Soll- und Ist-Norm vorge‐ schriebenen Elementen Einleitung und Definition beginnt und auch ein Inhalts‐ verzeichnis vorhanden ist, folgt an zweiter Stelle ein umfangreiches Textele‐ 177 Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe ment, das mit der Überschrift Rezäpt Rüeblitorte überschrieben ist. Das entsprechende Textelement erfüllt tatsächlich auch die oben beschriebenen Kri‐ terien der Textsorte Kochrezept: Neben der Überschrift (ergänzt durch den Zu‐ satz: Nach emene Rezäpt vo de Grossmuetter) folgt die typographisch abgesetzte Zutatenliste mit Mengenangaben und schließlich die Handlungsanleitung, die hier durch Infinitivkonstruktionen in Stichpunkten vorgenommen wird. Der Aufbau dieser Einträge, der hinsichtlich der makrostrukturellen Gestal‐ tung klar von der Soll- und Ist-Norm online-enzyklopädischer Lexikonartikel in der deutschen Sprachversion abweicht, ist trotz metasprachlicher Thematisie‐ rung auf den Diskussionsseiten bislang nicht verändert worden. Die Gemein‐ schaft der alemannischsprachigen Wikipedia-Autoren akzeptiert also diese Va‐ riation der Ist-Norm. Die Autoren haben somit - zumindest für den analysierten Datenausschnitt - keine rein enzyklopädischen Interessen bei ihrer Beteiligung an der kollaborativen Wissenskonstruktion. Sie haben vielmehr das zusätzliche Ziel der Brauchtumspflege, das sie durch die Aufzeichnung von Rezepten über‐ wiegend regionaler Spezialitäten verfolgen. 6 Diskussion und Fazit Im vorliegenden Beitrag wurden text- und variationslinguistische Ansätze kom‐ biniert, um die deutsche und die alemannische Wikipedia kontrastiv hinsichtlich der dort realisierten Strategien zur Kohärenzsicherung zu analysieren. Mit dem Ziel, diese Strategien dem hypertextuellen Gegenstand angemessen beschreiben zu können, wurden drei Erweiterungen des Konzepts Kohärenz vorgenommen: Neben der Differenzierung der operationalen und der textuellen Dimension von Kohärenz ging es um die lokale und globale Kohärenz im Textverbund der On‐ line-Enzyklopädie Wikipedia. Zentral war zudem die interlinguale Kohärenz zwischen den beiden betrachteten Sprachversionen. Bereits die Datengrundlage orientierte sich an der Textarchitektur der Wikipedia, die zur Kohärenzsiche‐ rung im komplexen Hypertext beiträgt: Anhand der Analyse der Teilkorpora 1a) und 1b), die die Hauptseiten der beiden betrachteten Sprachversionen als ,Advance-Organizer‘ fokussierte, wurden erste Differenzen deutlich: Ver‐ schiedene Metaphern dienten hier als Linkanzeiger auf den Navigationsleisten der Hauptseite. Vor allem die Differenz zwischen Autorenportal (deutsche Hauptseite) und Stammtisch (alemannische Hauptseite) zeigt, dass der Aspekt der „Vergemeinschaftung“ (Weber 2001: 167) in der Dialektversion eine sehr viel größere Rolle spielt als in der standarddeutschen. Die Unterschiede beim Einsatz von Personalpronomina im Begrüßungstext der beiden Hauptseiten bestätigen diesen Eindruck: Durch den Einsatz der wir-Form konstruieren die Autoren an 178 Eva Gredel dieser prominenten Stelle der alemannischen Wikipedia sprachlich eine Ge‐ meinschaft. Die Unterschiede bei der Zahl der Interwiki-Links in den Teilkorporpora 2a) und 2b) zeigen, dass die Autoren in der alemannischen Sprachversion zumindest im betrachteten Datenausschnitt sehr viel weniger Wert auf die Herstellung interlingualer Kohärenz legen als die Autoren in der deutschen Sprachversion. Dieser Unterschied kann so gedeutet werden, dass der Verlinkung nach außen innerhalb der Gemeinschaft der alemannischen Wikipedia-Autoren keine große Relevanz beigemessen wird. Die Analyse der Teilkorpora 2a) und 2b) zum Thema Bachwar hat zudem ergeben, dass die deutsche Sprachversion sehr viel stärker an der Soll- und Ist-Norm online-enzyklopädischer Lexikonartikel orientiert ist als die alemannische. Das von der Textsorte zu Erwartende ist in der aleman‐ nischen Sprachversion nur in Teilen realisiert. Stattdessen finden sich in meh‐ reren Einträgen makrostrukturelle Elemente, die Strukturen von Kochrezepten umsetzen. Die Idee, enzyklopädisches Wissen kollaborativ zu erarbeiten, wird in der alemannischen Wikipedia somit durch den Aspekt der Brauchtumspflege ergänzt. Dass diese Einträge über einen längeren Zeitraum bestanden und be‐ stehen, zeigt, dass die sprachliche Vielfalt und Variation auf makrostruktureller Ebene in der Wikipedia akzeptiert wird. Aufgabe kommender text- und variationslinguistischer Studien wird es sein, die hier anhand einer qualitativen Untersuchung gefundene Evidenz anhand quantitativer Analysen zu überprüfen. Darüber hinaus könnten text- und varia‐ tionslinguistische Analysen ergiebig sein, die die multimodale Dimension der Wikipedia erfassen und beispielsweise Bildinventare sowie Text-Bild-Rela‐ tionen in verschiedenen Sprachversionen der Wikipedia kontrastieren. Literaturverzeichnis Quellen Wikipedia 2017a: Rechtschreibung. URL: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wikipedia: Recht schreibung [letzter Zugriff: 03.08.2017]. Wikipedia 2017b: Schrybig. URL: https: / / als.wikipedia.org/ wiki/ Hilfe: Schrybig [letzter Zugriff: 31.07.2017]. Wikipedia 2017c: Diskussionsseite zur Hauptseite der deutschen Sprachversion. URL: ht tps: / / als.wikipedia.org / wiki/ Wikipedia_Diskussion: Houptsyte [letzter Zugriff: 15.07.2017]. Wikipedia 2017d: Statistische Auswertungen zur Dialektverteilung. 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Dieser führt zu Verstehensproblemen und Kommunikationsschwierig‐ keiten, die auf der Wissensasymmetrie zwischen den Kommunikationspartnern beruhen - einerseits den Behörden, die das öffentliche Leben gestalten; ande‐ 1 Unter Durchschnittsbürger wird hier ein Mensch verstanden, „dem zwar wenigstens eine normale Schulbildung nach heutigem Standard zugemutet werden kann, der aber im Bereich des Rechts nicht erfahren ist“ (Fonsén 2014: 109). 2 Wegen des begrenzten Spielraums bei der sprachlichen Optimierung normativer Texte spricht Biere (1991) in Anlehnung an Heringer (1979) von einer Gratwanderung zwi‐ schen den widerstreitenden Maximen der Informativität und der Verständlichkeit: „Die Funktion eines Textes ist besonders im Bereich normativer Texte […] relativ eng mit bestimmten sprachlichen Formen verbunden, die genau dieser Funktion angemessen sind, so daß der Spielraum für das Verständlicher-Machen bestimmter Texte nicht be‐ liebig groß ist. Das Verständlicher-Machen ist demnach so etwas wie eine Gratwande‐ rung zwischen zwei konfligierenden Maximen: (1) Sage, was zu sagen ist und (2) Rede bzw. schreibe so, daß dein Partner dich versteht […], zwischen Wahrheit / Wahrhaftig‐ keit, Relevanz, Informativität auf der einen und Klarheit, Einfachheit, Verständlichkeit auf der anderen Seite“ (Biere 1991: 9). rerseits den Bewohnern eines Rechtsstaats, die zwar in ihrem Alltagsleben ständig in Kontakt mit dem Rechts- und Verwaltungsbereich kommen, dabei allerdings meist unkundig sind. In diesem Kontext stand in der Diskussion lange das Problem der Schwerverständlichkeit von Gesetzen und Behörden‐ schreiben sowie Formularen für den Durchschnittsbürger 1 im Vordergrund (vgl. Lerch 2004; Eichhoff-Cyrus / Antos 2008). Dies hat Anlass zu Textoptimie‐ rungsansätzen gegeben, die auf eine Vereinfachung der Fachtexte setzen, wobei insbesondere in die Sprachoberfläche - vor allem durch Reduktion syn‐ taktischer Komplexität und Vermeidung ungewöhnlicher Wörter - eingegriffen wird (vgl. etwa Ebert 2006; Fluck / Blaha 2010). Aufgrund der engen Verbindung zwischen Form und Funktion, die besonders Normtexte prägt und die Interven‐ tionsmöglichkeiten einschränkt, 2 hat man im Lauf der Zeit immer häufiger auf die Potentiale einer Textoptimierung hingewiesen, die sich als Kombination unterschiedlicher Textsorten und Zeichensysteme darstellt (vgl. etwa Göpferich 1998; 2006; Kastberg 2005; Nussbaumer 2017). Statt also an den sprachlichen Merkmalen der Primärtexte zu arbeiten, bietet es sich an, Sekundärtexte zu er‐ arbeiten. Diese sollen die Inhalte der Ersteren auf eine Weise wiedergeben, die die Merkmale und Bedürfnisse der Adressaten berücksichtigt. Zur Umsetzung dieses Ansatzes haben die technologischen Entwicklungen der letzten Jahr‐ zehnte beigetragen: Informations- und Kommunikationstechnologien machen zum einen den Kontakt bzw. Austausch zwischen Kommunikations‐ teilnehmern unmittelbarer und einfacher. Zum anderen bieten das Internet und die dafür typische Integration verschiedener Medien leichten Zugang zu viel‐ fältigen, mehr oder weniger komplexen Informationen bzw. Inhalten. Das Hy‐ pertext-System erleichtert ein aktives Rezeptionsverhalten, d. h. punktuelle, se‐ lektive Lektüre, bei der Themen und Inhalte je nach den kommunikativen Bedürfnissen vertieft werden. 184 Alessandra Alghisi 3 Steger (1989: 126) nennt Verfahrensfestigkeit als besonderes Charakteristikum im Rechts- und Verwaltungsbereich. Die Verfahrensfestigkeit ist auch für andere Kommu‐ nikationsbereiche typisch, wie etwa die Domänen Wirtschaft und Handel, deren „key requirements“ Janich folgendermaßen bestimmt: „procedural certainty, procedural rules and the creation of institutional realities“ ( Janich 2017: 47, in Anlehnung an Hundt 2000: 645). 4 Der Sprache der Schweizer Behörden galt ein inzwischen abgeschlossenes Forschungs‐ projekt der Universität Genf (vgl. http: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ de/ recherche/ spr achpolitik/ [letzter Zugriff: 11.01.2018]). In dessen Rahmen habe ich mein Dissertati‐ onsprojekt konzipiert, von dem die Überlegungen dieses Beitrags ausgehen (vgl. Alghisi i. V.). Die neuen kommunikativen Praktiken, die aus den geänderten medialen Be‐ dingungen resultieren, sind in Analyseraster der Textlinguistik eingegangen. Diese hat in den letzten Jahrzehnten dem Phänomen der Intertextualität und der Textbeziehungen immer größere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. etwa Adamzik 2001; 2011 und 2016b: Kap. 8). Dabei hat man allmählich einen klassi‐ fikatorischen Ansatz aufgegeben und sich einer Perspektive zugewandt, die die Vernetzung sowie das Zusammenspiel verschiedener Textsorten in gewissen Kommunikationsbereichen ins Zentrum rückt und die für bestimmte gesell‐ schaftliche Gruppen relevanten Textrelationen in Betracht zieht (vgl. z. B. Adamzik 2011; Janich 2017). In den Vordergrund tritt die inhaltliche Varia‐ tion, die die miteinander verbundenen Textsorten kennzeichnet. Neben der schon lange berücksichtigten Beschreibungskategorie Funktion wird nun an‐ deren Dimensionen wie Thema/ Inhalt und situativem Kontext - besonders der Rolle der Interaktionsteilnehmer und der Medien - immer mehr Rechnung ge‐ tragen. Für die Textbeschreibung stellt sich die Frage, inwiefern sich die Aus‐ prägungen solcher Dimensionen im Sprachgebrauch bzw. in den verwendeten sprachlichen Mitteln niederschlagen. Textvernetzungen sind für den Bereich Rechtswesen und Verwaltung beson‐ ders charakteristisch. Rechts- und Verwaltungstexte beziehen sich ständig aufeinander. Dabei ist die Reihenfolge, in der Texte entstehen, häufig vorher fest‐ gelegt und die Einhaltung bestimmter Verfahren ist bei der Textproduktion ver‐ bindlich. 3 Dieser „sachlich ohnehin konstitutiven und außergewöhnlichen Ver‐ netztheit“ (Adamzik 2018b) kommen nun das Hypertext-System und die im Netz verfügbaren Dokumente entgegen. Hyperlinks entsprechen sozusagen einer Materialisierung der Textrelationen und gewinnen beim Transfer von Wissens‐ inhalten zunehmend an Bedeutung. Im Zuge der Verbreitung rechts- und ver‐ waltungsrelevanter Informationen und Inhalte im Internet hat sich ein neues Konzept etabliert, das E-Government. Dieses steht im Mittelpunkt des vorlie‐ genden Beitrags, 4 der sich auf den Sprachgebrauch und kommunikative Praxen 185 Behördensprache im E-Government 5 http: / / www.oecd.org/ gov/ digital-government/ [letzter Zugriff: 09.08.2017]. der öffentlichen Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung konzentriert. Be‐ zogen sind die Ausführungen auf den Kulturraum der föderalistischen, mehr‐ sprachigen Schweiz. Zunächst wird der Begriff E-Government thematisiert (Kap. 2 und 3). Nach der Darstellung der Kommunikationsformen, die den heu‐ tigen Sprachgebrauch der Schweizer Behörden prägen (Kap. 4), werden die Er‐ gebnisse einer Fallstudie vorgestellt. Dabei geht es um Seiten des Behördenpor‐ tals ch.ch, die dem Thema Einbürgerung in der Schweiz gewidmet sind (Kap. 5). 2 E-Government Der Begriff Digital oder E-Government bezieht sich auf die Ausbreitung von Behördenleistungen in digitalen Medien. Dabei geht es allgemein um die Aus‐ nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstüt‐ zung der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit eines Staates: „Digital government explores how governments can best use information and com‐ munication technologies (ICTs) to embrace good government principles and achieve policy goals“. 5 Das E-Government gilt heute als Synonym für Verwaltungsmodernisierung und geht mit dem Wandel einher, den Regierung und öffentliche Verwaltung erlebt haben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene Sichtweisen auf die Verwaltungsarbeit entwickelt, wobei diverse Konzeptionen des Verwal‐ tungshandelns und des Verhältnisses zwischen Behörden und Bürgern aufein‐ ander gefolgt sind. In der Verwaltungswissenschaft spricht man von einem Pa‐ radigmenwechsel in der Verwaltungsführung, der von einer Phase der Bürokratie über das Management bis zum Paradigma der Governance geführt hat (vgl. Hablützel 2013). Während in der bürokratischen Phase die Auffassung im Mittelpunkt steht, „dass staatliches Handeln ausschliesslich als Vollzug ins Recht gefasster konditionaler Regeln zu verstehen sei“ (ebd.: 95), setzt das Manage‐ ment-Paradigma auf die Anwendung privatwirtschaftlicher Prinzipien in der öffentlichen Verwaltung (New Public Management). In der Governance-Phase, die sich seit den 2000er-Jahren abzuzeichnen anfängt, besteht das erklärte Ziel in der aktiven Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder an der Gestaltung des Gemeinwesens. Diesem Grundsatz liegt die Einsicht zugrunde, dass dem mo‐ dernen Staat „eine Moderationsrolle zwischen den gesellschaftlichen Funk‐ tionssystemen und ihren divergierenden Interessen“ zukomme (ebd.: 102). Die verschiedenen Verwaltungsführungskonzeptionen stehen heute nebeneinander 186 Alessandra Alghisi 6 Zu den Entwicklungen in den Konzeptionen des Verwaltungshandelns vgl. auch Adamzik (2016a: 230-234). und werden als einander ergänzend angesehen (vgl. Hablützel 2013; Villeneuve 2013). Zentral sind Begriffe wie Effizienz, aktive Beteiligung der Bürger und Transparenz, die zur Richtschnur des Regierungs- und Verwaltungshandelns geworden sind. 6 Die Effizienz im Sinne von Kostensowie Aufwandsabbau und Beschleuni‐ gung der Regierungs- und Verwaltungsprozesse wird heute u. a. durch das E-Government angestrebt, das neben dem Geschäftsverkehr zwischen Behörden und Bürgern (Government-to-Citizen, G2C) auch beim Austausch der Behörden untereinander (Government-to-Government, G2G) und zwischen öffentlicher Verwaltung und Unternehmen (Government-to-Business, G2B) eingesetzt wird (vgl. Stürmer / Myrach 2016). In erster Linie kommt es auf Angebote hoher Qualität für die Öffentlichkeit an, wobei der Bürger in der Rolle des ,Kunden‘ von behördlichen Dienstleistungen auftritt (vgl. Villeneuve 2013). Überdies geht es um eine administrative Entlastung, die besonders für Bevölkerung und Be‐ triebe in einer Reduktion des Aufwands - verstanden als Zeit- und Geldinves‐ tition sowie psychologischer Belastung - bei behördlichen Angelegenheiten besteht. Dabei wird auf eine erhöhte Zufriedenheit mit dem Staat und seinen Dienstleistungen abgezielt. Besonders der Pflege der Beziehung mit dem Bürger, der heute als ,Partner‘ der Institutionen das öffentliche Leben aktiv mitgestaltet (vgl. ebd.), wird immer größere Bedeutung beigemessen. Überall gilt das Gebot der Bürgernähe - der Annäherung an die Bürger und der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse sowie des Abbaus aller Diskriminierungs- und Zugangsbar‐ rieren. Diese nimmt programmatischen Charakter an: „,Bürgernähe‘ bedeutet […] nicht nur die Einforderung von verständlicher Sprache, sondern auch Aufbau und Pflege einer verständigen und umgänglichen Klientel, wes‐ halb es nun nicht mehr um Anweisungshandeln sondern um den Dialog zwischen Amt und Bürger gehen muß (Grosse 1980, 12). Die ethischen Forderungen nach ver‐ ständlicher Verwaltungssprache bzw. Ansprache des Bürgers sind also gepaart mit dem Handlungsziel der Verwaltung bei ihrem notwendigerweise komplexen, mehr‐ schichtigen Vorgehen, Friktionen, vor allem aber Unverständnis, Mißverständnis oder Widerständigkeit zu vermeiden“ (Knoop 1998: 871). Die Sicherstellung des Dialogs zwischen Institutionen und Bürgern bzw. der Abbau der Stereotype und Entfremdungsgefühle gegenüber staatlichen Orga‐ nisationen gehört heute zu den zentralen Funktionen, denen die Kommunika‐ tion der Verwaltung und der öffentlichen Organisationen nachzukommen hat 187 Behördensprache im E-Government 7 Das Prinzip der Transparenz bzw. die Informationsrechte reicht ins 18. Jahrhundert zu‐ rück: Das erste Informationsfreiheitsgesetz wurde nämlich 1766 in Schweden verab‐ schiedet (vgl. Stürmer / Myrach 2016). 8 Zum Öffentlichkeitsprinzip gibt es natürlich Ausnahmen. Der Zugang zu behördlichen Dokumenten kann eingeschränkt werden, wenn durch seine Gewährung die Sicherheit des Staats oder die Privatsphäre eines Individuums beeinträchtigt werden (vgl. ausführ‐ lich Art. 7 des Schweizer Öffentlichkeitsgesetzes von 2004). (vgl. Pasquier 2013: 401 ff.). Dazu zählen zugleich die Verteidigung der Werte des modernen Rechtsstaates sowie die Förderung eines verantwortlichen Verhaltens bei den Bürgern. Die wichtigste Funktion in einer modernen Demokratie ist aber die Information der Öffentlichkeit, die mit der Begründung und Erklärung von Entscheiden der Behörden Hand in Hand geht (vgl. ebd.). Dem Bedürfnis der Bürger nach Information über die sie betreffenden Behördengänge oder allge‐ mein über die Staatsführung kommt das besonders seit den 1990er Jahren in vielen demokratischen Staaten rechtlich verankerte Prinzip der Transparenz (auch als Öffentlichkeitsprinzip bekannt) entgegen. 7 Dieses verlangt, dass der Staat Rechenschaft über Regierungs- und Verwaltungsprozesse ablegt und allen den Zugang zu behördlichen Informationen und Dokumenten gewährt. Wir haben es hier mit einer Form demokratischer Kontrolle zu tun, wodurch das staatliche Handeln durchschaubar und nachvollziehbar wird. Damit soll die Akzeptanz des demokratischen Rechtsstaats bei der Bevölkerung gesteigert und dessen Existenz zugleich legitimiert werden. Das Transparenzgebot liegt besonders dem Konzept des Open Government zugrunde, das mit E-Government eng verbunden ist bzw. sich begrifflich damit zum Teil überschneidet. Es geht um die Bereitstellung und Zugänglichkeit be‐ hördlicher Daten und Inhalte. Open Government „beschreibt den Ansatz, dass Verwaltungen ihre Prozesse und Entscheidungen trans‐ parent gestalten und auf die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung ausrichten“ (Stürmer / Myrach 2016: 213). Der Unterschied zwischen E- und Open Government betrifft die jeweilige Pers‐ pektive: Während bei E-Government das Mittel im Vordergrund steht - d. h. Ver‐ netzungstechnologien, die bei Interaktionen zwischen Behörden und Bevölke‐ rung Effizienzgewinne ermöglichen - liegt bei Open-Government der Akzent auf dem Zweck. Letzterer schlägt sich im Anliegen der Regierung und der Verwal‐ tung nieder, „sich gegenüber der Bevölkerung und der Wirtschaft [zu] öffnen“ (Stürmer / Myrach 2016: 214). Insofern bezeichnet Open Government ein aktives Vorgehen des Staates, der mittels Internetanwendungen der Allgemeinheit Da‐ tenbestände und Dokumente des öffentlichen Sektors ohne Einschränkung 8 frei 188 Alessandra Alghisi 9 Vgl. https: / / ec.europa.eu/ digital-single-market/ en/ news/ ministerial-declaration-egove rnment-tallinn-declaration [letzter Zugriff: 05.02.2018]. 10 Dabei handelt es sich übrigens um die mit E-Government verbundenen Themen, die bei der Bevölkerung die größten Bedenken auslösen (vgl. dazu etwa Initiative D21 / fortiss 2017). zugänglich macht. Durch die Anwendung digitaler Technologien trägt somit dieses Konzept zur Umsetzung der Public Governance bei, wonach der Staat „durch nichthierarchische, kooperative und horizontale Formen gesellschaftli‐ cher Selbststeuerung funktioniert“ (Stürmer / Myrach 2016: 214): „Amongst others, the digital transformation can strengthen the trust in governments that is necessary for policies to have effect: by increasing the transparency, respon‐ siveness, reliability, and integrity of public governance“ (Tallinn Declaration on eGo‐ vernment 2017: 2). 9 Weitere Begriffe, für die es Überschneidungsbereiche mit E-Government gibt, sind E-Business (d. h. die elektronische Abwicklung der Geschäfte überhaupt) und E-Democracy. Letzterer bezieht sich auf die aktive, aus eigener Initiative gesteuerte Partizipation der Bürger am politischen Leben und unterscheidet sich vom E-Government insofern, als dieses nur auf Top-Down-Aktionen der Be‐ hörden zur Förderung der bürgerlichen Beteiligung bezogen ist (vgl. z. B. das E-Voting). Mit E-Government hängt schließlich das Anliegen des E-Privacy zu‐ sammen, das Fragen der Datensicherheit und des Datenschutzes betrifft. 10 Solche Fragen stellen heute erhöhte Anforderungen an die Authentifizierung und verlangen die Einführung eindeutiger Identifizierungsmodalitäten bzw. einer zuverlässigen, überprüfbaren elektronischen Identität (E-ID). 3 Das E-Government in der Schweiz Die kleine, über große ökonomische Ressourcen verfügende Schweiz zählt heute zu den Ländern, die gute Voraussetzungen aufweisen, um E-Government-Dienst‐ leistungen voranzutreiben. Mit seinem sicheren politisch-regulatorischen System, ausgebautem Breitbandanschluss und hoher Innovationskapazität gehört das Land zu den Spitzenreitern des ,Digitalisierungsrankings‘, einer Rangliste des World Economic Forum, die anhand eines Index, des sogenannten Network Readi‐ ness Index (NRI), die ,Netzwerkfähigkeit‘ eines Landes beschreibt: 189 Behördensprache im E-Government 11 http: / / reports.weforum.org/ global-information-technology-report-2016/ [letzter Zu‐ griff: 08.05.2017]. 12 Zur Zeit verfügt das Portal über 2751 Datensätze. Vgl. https: / / opendata.swiss/ de/ [letzter Zugriff: 17.01.2018]. 13 Vor kurzem (November 2017) haben die für E-Government verantwortlichen Füh‐ rungskräfte beschlossen, die Strategie früher als geplant zu erneuern, um die Heraus‐ forderungen zu bewältigen, die „sich im Zuge der Weiterentwicklung der Rahmenbe‐ dingungen wie Interoperabilität und Datensicherheit oder der Basisinfrastruktur wie elektronische Identität stellen“. Vgl. https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ dokumentatio n/ medienmitteilungen.msg-id-68474.html [letzter Zugriff: 18.01.2018]. „the Networked Readiness Index […] assesses the factors, policies and institutions that enable a country to fully leverage information and communication technologies (ICTs) for increased competitiveness and well-being“. 11 Die Schweiz hat seit 2007 eine E-Government-Strategie, die auf die Zusam‐ menarbeit zwischen den Schweizer politischen Ebenen (Bund, Kanton, Ge‐ meinde) beim Angebot elektronischer behördlicher Leistungen setzt. Im Vor‐ dergrund steht einerseits die Berücksichtigung der für die dezentralisierte Staatsstruktur typischen Kompetenzaufteilung; andererseits kommt es auf die Koordination aller politischen Niveaus und die Ausrichtung ihrer Bestrebungen auf gemeinsame Ziele an. Seit 2014 verfügt die Schweizerische Eidgenossen‐ schaft zugleich über eine Open-Government-Data-Strategie, in deren Mit‐ telpunkt die offene Zugänglichkeit und freie Wiederverwendung von Behör‐ dendaten stehen und die seit 2016 durch den Betrieb des Portals opendata.swiss umgesetzt wird. 12 Die Umsetzung der E-Government-Strategie ist stattdessen in einer öffent‐ lich-rechtlichen Rahmenvereinbarung festgeschrieben, die die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden beschreibt. Seit dem Jahr 2016 ist eine neue Rahmenvereinbarung in Kraft, die bis 2019 gültig ist, 13 während sich die erste Vereinbarung über die Zeitspanne 2008-2015 er‐ streckte. Im Allgemeinen obliegt der nationalen Ebene die Schaffung der Grund‐ lagen und Standards für E-Government-Umsetzungen; die lokale Ebene ist hin‐ gegen für „die technische Umsetzung sowie die Einbettung in die bestehenden Verwaltungsabläufe“ (Stürmer / Myrach 2016: 205) zuständig. Geregelt werden in der Rahmenvereinbarung u. a. die Organisation der Koordinationsgremien für E-Government Schweiz und das Budget für die Strategieumsetzung. Zu den Gremien zählen ein Steuerungsausschuss, der aus Vertretern des Bundes, der Kantone und der Gemeinden besteht und für die Umsetzung der Strategie ver‐ antwortlich ist; ein Planungsausschuss, der sich aus Experten zusammensetzt und die Strategieumsetzung kontrolliert sowie eine Geschäftsstelle, die Koor‐ 190 Alessandra Alghisi 14 Seit November 2017 ist das E-Government-Portal für Unternehmen EasyGov.swiss im Netz zugänglich. Interessant ist auf der Portals-Einstiegsseite das Video, das das Po‐ tenzial des Portals und den Nutzen beschreibt, den Unternehmen daraus ziehen können. Dort werden die aus der Verwendung des Portals hervorgehenden Vorteile mit dem Nutzen einer Reise im Flugzeug verglichen. Die elektronische Abwicklung eines Be‐ hördengangs entspreche einem Flug, dessen Pilot das Unternehmen sei. Vgl. https: / / ww w.easygov.swiss/ easygov/ #/ [letzter Zugriff: 18.01.2018]. 15 Vgl. https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ dokumentation/ medienmitteilungen.msg-id -69564.html [letzter Zugriff: 25.01.2018]. 16 Vgl. https: / / www.egovernment.ch/ de/ umsetzung/ schwerpunktplan/ [letzter Zugriff: 18.01.2018]. dinations- und Kommunikationsaufgaben übernimmt. Die Rahmenvereinba‐ rung legt ferner die Grundzüge des Schwerpunktplans fest, des Umsetzungs‐ instruments der E-Government-Strategie, das strategische Projekte und Leistungen enthält, jährlich geprüft und je nach Bedarf aktualisiert wird. Zu den aktuellen Projekten gehört der Betrieb eines Transaktionsportals für Wirt‐ schaft, 14 die schweizweite elektronische Umzugsmeldung (eUmzugCH) und die Ausbreitung des elektronischen Stimmkanals (Vote électronique). Vor kurzer Zeit ( Januar 2018) erschienen ist das Webportal arbeit.swiss, „die zentrale Informa‐ tions- und Servicedrehscheibe rund um das Thema Arbeit für Stellensuchende, Arbeitgeber, Arbeitsvermittler, Institutionen und Medien“. 15 Unter den strategi‐ schen Leistungen ist besonders die Vereinfachung des Zugangs zu elektroni‐ schen Behördenleistungen für die Bevölkerung zu erwähnen. Ihr Leitmotiv lautet: „Informationen zur Verwaltungstätigkeit sowie zu elektronischen Behördenleis‐ tungen aller Staatsebenen einfach zugänglich machen“. 16 Hier steht das Zugänglichmachen des Verwaltungsangebots für die Öffentlich‐ keit im Fokus. Dabei geht es in Anlehnung an das Transparenzgebot in erster Linie um den physischen Zugang: Texte sollen in die Wahrnehmungsreich‐ weite der Bürger gebracht werden. Zugleich kommt es aber auch darauf an, die Bürger in die Lage zu versetzen, Verwaltungstexte zu rezipieren und geistig zu verarbeiten, sie also in die eigene Rezeptions- und Verstehensreichweite zu bringen (vgl. dazu Adamzik 2016a: 238 f.). Der Kern der hier im Mittelpunkt stehenden strategischen Leistung ist das Behördenportal ch.ch, „der Einstiegspunkt zur offiziellen Schweiz im Web“ (BK 2016: 20). Dieses wird seit 2005 von der Schweizer Bundeskanzlei (BK) be‐ trieben und ist in den vier Landessprachen der Schweiz - Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch - sowie auf Englisch verfügbar. Im Jahr 2012 wurde das Portal inhaltlich und formell erneuert, was 2013 zu einem Relaunch 191 Behördensprache im E-Government 17 Vgl. https: / / www.egovernment.ch/ de/ umsetzung/ schwerpunktplan/ zugang-zu-elektro nischen-behordenleistungen/ [letzter Zugriff: 18.01.2018]. 18 Vgl. https: / / www.ch.ch/ de/ wahlen2015/ [letzter Zugriff: 18.01.2018]. 19 Es gab auch ein offenbar in didaktischer Absicht eingerichtetes Quiz Mach dich staats‐ kundig. Leider funktioniert der Link dazu nicht mehr. 20 Vgl. https: / / www.ch.ch/ de/ demokratie/ [letzter Zugriff: 10.08.2017]. des Webauftritts geführt hat. Im Zentrum des ch.ch-Konzepts steht heute das Bemühen um eine Orientierung am Nutzer. Dies schlage sich in der Verwen‐ dung einer anschaulichen Informationsstruktur sowie in der Vorwegnahme und Beantwortung potentieller Fragen der Bürger nieder: „Das Informationsangebot, die Sprache, die Struktur, das Design und die Qualitätssi‐ cherung sind […] an die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtet. ch.ch bietet heute rasch auffindbare und verständliche Antworten auf Fragen an die Be‐ hörden“. 17 Was das Informationsangebot angeht, wird in dem Informationsportfolio ch.ch (BK 2016: 23) zwischen drei Inhaltstypen unterschieden, die auf dem Portal ver‐ mittelt werden. Zum einen handelt es sich um „Informationen über Behörden‐ leistungen“. Wir haben es hier mit praxisorientier Information zu tun, die die Dienstleistungen betrifft, von denen die Bürger Gebrauch machen, wenn sie Rechte geltend machen möchten oder staatlich auferlegten Pflichten nach‐ kommen müssen. Geboten wird „die systematische Präsentation der Leistungen, eine hinreichende Beschreibung der Leistungen und die Adresse des Leistungs‐ erbringers“ (ebd.). Zu den Wahlen für die Erneuerung des Schweizer Parlaments, die 2015 stattfanden, wurde z. B. die Wahlplattform Wahlen 2015 eingerichtet, die praktische Informationen zum Urnengang enthielt. Diese wurden um allgemeine Kenntnisse u. a. zum Funktionieren des Parlaments und zu den Voraussetzungen für eine Kandidatur ergänzt. Solche Informationen sind auch nach dem Ablauf der Wahlperiode beibehalten worden und die Plattform umfasst seit 2016 Seiten mit staatskundlichen Informationen über die Schweiz. 18 Damit gehen wir über zum zweiten Inhaltstyp von ch.ch, der eben in staatsbürgerlichen Informationen besteht. Dazu gehören Inhalte über „die Organisation des Staates, die politischen Prozesse und die politischen Rechte etc.“ (ebd.) sowie „Angebote zur staatspoliti‐ schen Bildung“ (ebd.). 19 Ein typisches Beispiel dafür sind die Portalseiten, die ge‐ sammelt unter dem Label Demokratie über das Funktionieren des politischen Sys‐ tems der Schweiz informieren. 20 Der dritte Inhaltstyp wird schließlich als Behördenkommunikation bezeichnet und betrifft die „Tätigkeiten der öffent‐ lichen Hand, die Modernisierung der Verwaltung“ (ebd.). Dabei geht es in Erfül‐ lung der Rechenschaftspflicht um die aktualisierte Darstellung der neuesten Ver‐ 192 Alessandra Alghisi 21 Vgl. Adamzik (2016a) und eine Medienmitteilung der BK vom 12.06.2017 (www.admin. ch [letzter Zugriff: 10.08.2017]). 22 Was letzteren Punkt angeht, ist nun ein Gesetz zur elektronischen Identität in Vorbe‐ reitung, das bis Mitte 2018 vorliegen soll. waltungsaktivitäten. Abgesehen vom Inhalt, der auf ch.ch zur Verfügung steht, diene die Bereitstellung von Information im Portal besonders der Entlastung der Behörden bei der Beantwortung von Bürgeranfragen: „[Es] sollten häufig gestellte und unmissverständlich zu beantwortende Fragen haupt‐ sächlich mittels des Webangebots beantwortet werden. Dies entlastet andere, teurere Kanäle, namentlich E-Mail, Telefon und die Schalter in den Ämtern“ (BK 2016: 26). Insgesamt ist das Portal im Laufe der Jahre auf ein positives Echo gestoßen und stellt heute eins der bestgenutzten Informationsangebote der Schweizer Insti‐ tutionen dar mit einer Besucheranzahl von etwa 10 Millionen Personen pro Jahr. 21 Selbstverständlich befindet es sich in Dauerentwicklung. Die Verwalter verfügen allerdings nur über beschränkte Ressourcen und müssen eine extrem große Menge an Themen bewältigen. Je nach ihrer gesellschaftlichen Brisanz wird eine Angelegenheit mit mehr oder weniger großer Sorgfalt behandelt: „Die Präsentation der Informationen (Was ist auf der Startseite? ) und die Tiefe der Bearbeitung richtet sich nach den Bedürfnissen der User, nach der politischen Planung und nach der politischen Aktualität. Dort, wo wir feststellen, dass ein Thema auf grosses Interesse stösst, leisten wir mehr redaktionellen Input als dort, wo eine In‐ formation einfach der Vollständigkeit halber vorhanden sein muss. Eigenleistungen werden soweit erbracht, wie dafür Ressourcen zur Verfügung stehen“ (BK 2016: 23 f.). In Dauerentwicklung sind natürlich auch die Infrastrukturen und Technologien zur Implementierung des E-Government. In diesem Punkt weist die Schweiz trotz optimaler Rahmenbedingungen noch Nachholbedarf auf, wie einige Stu‐ dien kürzlich gezeigt haben (vgl. Buess u. a. 2017 und European Commission 2017). Danach betrifft der Aufholbedarf an erster Stelle die Einführung sicherer Datenregister sowie die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für den Schutz und die Sicherheit von Daten und Persönlichkeitsrechten. 22 4 Die Verwaltungskommunikation in der Schweiz Wie im Kapitel 3 bereits angeführt, will ch.ch „Behördensprache in Bürger‐ sprache“ übersetzen (BK 2016: 31) sowie allfällige Barrieren abbauen, seien sie nun physischer oder geistiger, technischer oder inhaltlicher Natur. Es handelt sich also um fachexterne Rechts- und Verwaltungskommunikation, die sich sowohl 193 Behördensprache im E-Government 23 Mit Bezug auf die informationsorientierte Vermittlung in der Rechtsdomäne spricht Eng‐ berg (2017) von Popularisierung. Dieser Begriff wird in der Forschung zum Wissens‐ transfer im Rechts- und Verwaltungsbereich unterschiedlich verwendet. In seinen Stu‐ dien über wissensvermittelnde Texte im Rechtswesen bezeichnet Fonsén (2008; 2014) Popularisierung etwa als „die Art und Weise, in der die Gesetzestexte paraphrasiert werden, um das Verständnis zu erleichtern“ (Fonsén 2008: 469). Aufgrund der Verschrän‐ kungen zwischen Alltag und Rechtsbzw. Verwaltungsbereich neigen einige Autoren dazu, in diesem Kontext nicht den Begriff Popularisierung zu benutzen, sondern ihn auf den Wissenstransfer im Rahmen der (Natur-)Wissenschaft und Technik einzuschränken (vgl. z. B. Becker 2001). Hauptargument ist, dass es sich dabei wesentlich um verschie‐ dene Ausprägungen der Wissensvermittlung handle: Während Bürger freiwillig und von Interessen geleitet in Kontakt zur Welt der Wissenschaft kommen, handeln sie im Fall der Rechts- und Verwaltungssprache gewöhnlich notgedrungen. Sie haben es mit dem Rechtswesen insofern zu tun, als sie in ihrem Alltagsleben bestimmte Pflichten erfüllen müssen oder ihre Rechte geltend machen möchten. Preite (2012: 167) spricht diesbezüg‐ lich von divulgazione non scientifica (,nicht-wissenschaftliche Popularisierung‘). 24 Die Unterscheidung der drei Akteursgruppen beruht auf der Aufgliederung der haupt‐ sächlichen Adressatengruppen der Verwaltungskommunikation, die sich in Adamzik (2016a: 234 ff.) findet. als primär informationsorientierte Vermittlung als auch als verhaltens‐ beeinflussender Wissenstransfer interpretieren lässt. Die erste Vermittlungsart zeichnet sich dadurch aus, dass „der Sender dem Empfänger Einsicht in einen juristischen Sachverhalt verschaffen möchte“ (Engberg 2017: 127). 23 Davon un‐ terscheidet sich der zweite Vermittlungstyp insofern, als es dabei „nicht um eine gewünschte Beeinflussung der politischen Haltung der Empfänger [geht], sondern eher darum, dass sie sinnvoll agieren und dabei auch tatsächlich ihre Rechte wahrnehmen“ (Engberg 2017: 130 f.). Hier kommt es darauf an, den Rezipienten zum Handeln im Rahmen seiner Rechte zu befähigen, die Wissensvermittlung hat also in erster Linie einen prak‐ tischen Nutzen. Hauptsächlicher Adressat ist in diesem Fall die Wohnbevöl‐ kerung, d. h. alle in einem Staat ansässigen Leute (auch anderer Nationalität). Prototypische Adressatengruppe der informationsorientierten Vermittlung ist hingegen die Öffentlichkeit schlechthin, nämlich alle Personen, die an einem Staat und seinen Angelegenheiten interessiert sind. Die Öffentlichkeitsgruppe lässt sich in zwei Untergruppen teilen: Auf der einen Seite die Leute, die sich über aktuelle Ereignisse und Entscheidungen informieren möchten; auf der an‐ deren diejenigen, die sich über das Funktionieren des Staats unterrichten. Eine Schnittstelle nimmt schließlich eine dritte Adressatengruppe ein: das Volk als Souverän, also die Bürger eines Staats, die Wahl- und Stimmrechte haben. 24 Das Portal ch.ch hat diese drei Adressatengruppen zugleich im Visier. Die Schweizer Behörden produzieren allerdings auch andere Textsorten und ziehen 194 Alessandra Alghisi 25 Bei Formularen spricht Adamzik von Prozipiententexten, weil an ihrer Bearbeitung so‐ wohl Produzenten als auch Rezipienten beteiligt sind (vgl. Adamzik 2016b: 149). Kommunikationsformen heran, die jeweils besonders eine der Gruppen fokus‐ sieren bzw. die Adressaten hauptsächlich in einer der genannten Akteur-Rollen ansprechen. Mit solchen Texten und Textsorten, die heute meist auf den be‐ hördlichen Webauftritten zugänglich sind, ist ch.ch gelegentlich direkt verlinkt. Eine Textsorte, wo der Fokus auf den Menschen liegt, die als Bewohner eines Landes Dienstleistungen des Staats in Anspruch nehmen oder Pflichten erfüllen, ist das Merkblatt. Dieses enthält - gewöhnlich in einer für den Durchschnitts‐ menschen fassbaren Form - Erläuterungen etwa zum Ausfüllen eines Formu‐ lars. Dieses repräsentiert den Verwaltungstext schlechthin, eine „der ty‐ pischsten und schwierigsten Erscheinungsformen der Verwaltungssprache“ (Gülich 1981: 328 f.). Von Formularen machen die Behörden Gebrauch, wenn sie Inhalte zu einem bestimmten Geschäft erheben müssen. Es handelt sich um stark standardisierte Lückentexte, die von den betroffenen Individuen vervollständigt werden. 25 Die Datenerhebung und -bearbeitung durch die Verwaltung führt zu einer Stellungnahme, die in einen Bescheid mündet und ebenfalls Einzelper‐ sonen und -fälle betrifft. Die Medienschaffenden, die die Öffentlichkeit über die Regierungs- und Ver‐ waltungstätigkeit auf dem Laufenden halten, stellen den Hauptadressaten der Medienkonferenzen dar. Medienkonferenzen finden in der Schweiz etwa nach jeder Sitzung des Bundesrats (der Schweizer Regierung) statt. Damit verbunden, aber eine andere Kommunikationsform darstellend, sind Medienmitteilungen (Nachrichten für die Medien). Diese bilden einen wesentlichen Bestandteil der Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Schweizer Behörden, die landesweit von der Bundeskanzlei koordiniert wird (vgl. Stücheli-Herlach 2016). Als Teile von Hypertexten sind sie häufig mit den in einem bestimmten Kontext relevanten Texten direkt verknüpft, wobei sich die ausgeprägte Vernetztheit der Rechts- und Verwaltungstexte hier besonders gut zeigt. Ein zentrales Medium der öf‐ fentlichen Kommunikation stellen ferner Soziale Netzwerke dar wie z. B. Twitter. Dort haben sowohl der Bundesratssprecher (Regierungssprecher) als auch die Bundesräte (Regierungsmitglieder) offizielle Accounts, wodurch sie in Realzeit die Öffentlichkeit informieren. Die am politischen System der Schweiz interessierte Öffentlichkeit wird be‐ sonders in gewöhnlich aufwendig und ansprechend gestalteten Informations‐ broschüren adressiert, die normalerweise sowohl in digitaler als auch in Druckfassung bereitstehen. Broschüren sind häufig durch „eine massive inhalt‐ liche Reduktion“ (vgl. Adamzik 2016a: 241) gekennzeichnet, enthalten zwar die 195 Behördensprache im E-Government 26 In den 1990er und 2000er Jahren waren externe Agenturen für den Inhalt und die Ge‐ staltung von Der Bund kurz erklärt zuständig. Seit 2014 liegt das Broschürenkonzept wieder in der Verantwortung der Bundeskanzlei (Sektion Kommunikationsunterstüt‐ zung). 27 Die Schweiz ist eine direkte Demokratie, d. h. die Bürger haben Volksrechte (Referen‐ dumsrecht, Initiativrecht), die ihnen ermöglichen, in politische Sachfragen direkt ein‐ zugreifen und abschließend über die Vorlagen abzustimmen. 28 Auf die Popularität des Bundesbüchleins beim Schweizer Volk weist auch ein 2014 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienener Artikel hin, wo das Abstimmungsbüchlein als der Bestseller der Bundesverwaltung bezeichnet wird. Vgl. https: / / www.nzz.ch/ schweiz/ der-rote-bestseller-aus-der-bundesverwaltung-1.18423118 [letzter Zugriff: 15.02.2018]. allerwesentlichsten Informationen zu einem gewissen Thema, bieten zugleich aber auch Vertiefungsmöglichkeiten durch intertextuelle Verweise bzw. weiter‐ führende Links an, die in den elektronischen Versionen direkt angeklickt werden können. Eine der populärsten Publikationen ist die Broschüre Der Bund kurz erklärt, die seit 1979 jährlich von der Bundeskanzlei 26 veröffentlicht wird und heute elektronisch sowie in Papierform (kostenlos zu beziehen) zur Verfügung steht. Der Bund kurz erklärt enthält landeskundliche Informationen über die Schweiz und wird im Schulunterricht benutzt. Mit rund 300.000 gedruckten Exemplaren in fünf Sprachen ist die Broschüre heute eine der auflagenstärksten Publikationen der Schweizer Bundesverwaltung. In ihrer Rolle als Volk, das die souveräne Macht innehat, werden die Adres‐ saten von Behördentexten in Wahlunterlagen angesprochen. Prototypisch sind hier die Abstimmungserläuterungen - auch Abstimmungsbüchlein oder Bun‐ desbüchlein (für Texte der Schweizer Bundesregierung) genannt. Dabei handelt es sich um von der Verwaltung (auf Bundesebene von der Bundeskanzlei) he‐ rausgegebene Heftchen, die Stimmberechtigte ungefähr drei Wochen vor einem Abstimmungstermin ins Haus zugeschickt bekommen und die Erläuterungen über die zur Abstimmung stehenden Gesetzesvorlagen enthalten. 27 Abstim‐ mungsbüchlein erscheinen seit Ende der 1970er-Jahre in den drei Schweizer Amtssprachen (seit 1985 auch auf Rätoromanisch) und sind heute sehr bekannt, stellen tatsächlich „das Leitmedium in einem großen Chor von Texten im Ab‐ stimmungskampf “ (Nussbaumer 2017: 366) dar. 28 Sie haben sich im Laufe der Jahre in Form und Inhalt allmählich entwickelt und weisen nun eine stark stan‐ dardisierte Struktur auf (vgl. Adamzik 2016a: 241 f.): „Die Erläuterungen zu den einzelnen Vorlagen folgen einem strengen Aufbaumuster und bestehen einerseits aus sachlichen Informationen über die Vorlage, was die will und was ihre Auswirkungen sind, und andererseits aus Argumenten der Regierung für oder gegen die Vorlage. Die Referendums- und Initiativkomitees haben jeweils eine Seite für ihre Argumente zur Verfügung. Den Erläuterungen angefügt ist immer 196 Alessandra Alghisi 29 Zugänglich über den Youtube-Kanal der Schweizer Regierung: https: / / www.youtube.co m/ channel/ UCh4VTxoTL79TpMBg3yBqSPQ [letzter Zugriff: 20.12.2017] . 30 Vgl. eine Medienmitteilung vom 07.09.2017: https: / / www.admin.ch/ gov/ de/ start/ doku mentation/ medienmitteilungen.msg-id-68025.html [letzter Zugriff: 20.12.2017] . 31 Vgl. https: / / www.parlament.ch/ de/ %C3%BCber-das-parlament/ parlamentsw%C3%B6rt erbuch/ parlamentsw%C3%B6rterbuch-detail? WordId=24 [letzter Zugriff: 21.12.2016]. auch der Text im Wortlaut (Gesetz, Verfassungsbestimmung, Bundesbeschluss), über den das Volk abzustimmen hat“ (Nussbaumer 2017: 366 f.). Auch in diesem Fall haben wir es mit Informationsreduktion zu tun, die gestuft ist, so dass „man auf unterschiedlichem Vertiefungsniveau in die Materie ein‐ steigen kann“ (Adamzik 2016a: 242). Seit ein paar Jahren stehen Erläuterungen der Schweizer Regierung auch im Videoformat zur Verfügung. Dabei handelt es sich um einige Minuten dauernde Kurzfilme, 29 die aus einer Kombination von Ton (Off-Stimme), Bild (Zeichentrickfiguren, Abbildungen, Grafiken) und Schrift bestehen. Seit September 2017 sind für Hörbehinderte auch Film-Versi‐ onen in Gebärdensprache anzutreffen. Solche Video-Angebote unterstreichen die Orientierung der Schweizer Behörden an einer möglichst barrierefreien Kommunikation. 30 Die Abstimmungserläuterungen entsprechen Sekundärtexten, die zur Ver‐ mittlung primärer Fachtexte für ein Laienpublikum produziert werden. Bei letzteren handelt es sich um normative Texte, in der Schweiz Erlasse genannt, die prinzipiell ein Beispiel für fachinterne Kommunikation in fachex‐ ternen Kontexten sind (vgl. Engberg 2017). Normative Texte werden nämlich von Juristen verfasst und richten sich auch in erster Linie an Juristen (vgl. etwa Nussbaumer 2007 und 2017), betreffen aber die Allgemeinheit und müssen beim alltäglichen Handeln von allen beachtet werden. In der Schweiz werden Erlasse in der Amtlichen und in der Systematischen Sammlung des Bundesrechts veröf‐ fentlicht. Die Amtliche Sammlung (AS) enthält Normtexte wie die Bundesver‐ fassung, die Bundesgesetze, die Verordnungen der Bundesversammlung (Schweizer Parlamentskammern), die Verordnungen des Bundesrates (Schweizer Regierung) und andere rechtsetzende Erlasse. Die Systematische Sammlung (SR) ist „eine bereinigte, nach Sachgebieten geordnete und laufend nachgeführte Sammlung“ (vgl. Publikationsgesetz von 2004) der Texte, die in der AS publiziert werden. Die ganze Vorbereitungsarbeit, d. h. alles, bevor die Erlasse in Kraft treten, sowie alles, das daraus folgt, nachdem sie in Kraft sind, wird im Bundesblatt (BBl) dokumentiert. Dies ist „das allgemeine Mitteilungs‐ blatt der Eidgenossenschaft“. 31 Inhalt, Merkmale und Erscheinungsformen der drei Publikationsgefäße regelt das Publikationsgesetz (PublG) von 2004 und die entsprechende Publikationsverordnung (PublV). Beide Erlasse wurden kürzlich 197 Behördensprache im E-Government 32 Bei präzisen Normen ist es normalerweise leicht, mit Blick auf einen als gültig erklärten Kodex die Frage nach richtig oder falsch zu beantworten (etwa bei orthographischen Re‐ geln). Umgekehrt ist es bei offeneren Normen wie diejenigen, die stilistische Güte und Angemessenheit betreffen (vgl. etwa das Gebot der Verständlichkeit), ausgesprochen schwierig, festzustellen, ob eine gewisse Vorgabe (wie: man soll den Text einfach formu‐ lieren) in einem Text eingehalten wird oder nicht. Zur Reichweite, Verbindlichkeit und Präzision von Normen vgl. Adamzik / Alghisi (2015; 2017). Für einen Überblick über die Metatexte der Schweizer Bundesverwaltung vgl. Adamzik (2018b). geändert. Bei den revidierten Bestimmungen, die 2016 in Kraft traten, ging es hauptsächlich um einen Primatwechsel, nämlich den Übergang der rechtli‐ chen Maßgeblichkeit von der gedruckten auf die elektronische Publikation. Es ist also die digitale Version eines Erlasses, die nun rechtsverbindlich ist. Die Texte, die in den Sammlungen des Bundesrechts und im Bundesblatt er‐ scheinen, stellen die amtlichen Texte im engeren Sinn dar. Sie werden am strengsten sprachlich geregelt und am sorgfältigsten kontrolliert. Dabei spielen Metatexte eine wichtige Rolle. Dies sind Leitfäden und Anweisungen verschie‐ dener Art, die besonders an Verwaltungsmitarbeiter adressiert sind und sozu‐ sagen den Rahmen für die Kommunikationsprozesse der Verwaltung abstecken. Es gibt Metatexte unterschiedlicher Reichweite: Sie können für verschiedene po‐ litische Ebenen gelten und eine oder mehrere Textsorten fokussieren bzw. text‐ sortenunspezifisch sein. Sprachliche Vorgaben können verschiedene Sprach‐ ebenen (lexikalisch, syntaktisch, textuell) betreffen und in mehr oder weniger offenen Normen bestehen. Auch der Verbindlichkeitsgrad der Normen variiert. 32 Metatexte stellen ein Beispiel für verwaltungsinterne Kommunikation im engeren Sinn dar. Diese erfolgt, wenn die behördlichen Einheiten überwiegend untereinander interagieren, und lässt sich durch Textsorten verschiedenster Art verwirklichen. Zu erwähnen sind hierzu die Kreisschreiben, die die Bundesbe‐ hörden u. a. beim sogenannten Vernehmlassungsverfahren - das in der Schweiz institutionell verankerte Verfahren, wodurch die Stellungnahmen der wich‐ tigsten Akteure des öffentlichen Lebens zu einem bestimmten Geschäft einge‐ holt werden - an die Kantonalregierungen adressieren. Dazu gehören aber auch Handbücher, die Hinweise darauf enthalten, welchen Abläufen bei bestimmten Behördengängen zu folgen bzw. wie dabei vorzugehen ist. Die verschiedenen Texte, Textsorten und Kommunikationsformen der Be‐ hörden beziehen sich aufeinander und hängen miteinander zusammen, so dass wir ein vielschichtiges, vernetztes Textuniversum vor uns haben (Abb. 1). Die grobe Sortierung in drei Gruppen (intern, intern im externen Kontext, extern) soll mit einigen Beispielen visualisiert werden. 198 Alessandra Alghisi Abb. 1: Textsorten und Kommunikationsformen der öffentlichen Verwaltung - hier un‐ terteilt nach Hauptadressaten; Legende: 1. Handbuch; 2. Leitfaden; 3. Gesetz; 4. Verord‐ nung; 5. Medienmitteilung; 6. Informationsbroschüre; 7. Abstimmungsbüchlein; 8. For‐ mular; 9. Behördlicher Webauftritt 199 Behördensprache im E-Government 33 Die Textauswertung basiert auf dem Stand der Webseiten im August 2017. 5 Fallstudie: Die Einbürgerung in der Schweiz Nach einem Überblick über die kommunikativen Praktiken der Schweizer Be‐ hörden sollen exemplarisch die Ergebnisse einer Fallstudie zum konkreten Sprachgebrauch der öffentlichen Verwaltung im Netz präsentiert werden. Die Analyse wird in textlinguistischer Perspektive durchgeführt und konzentriert sich auf die ch.ch-Seiten, die das Thema Einbürgerung in der Schweiz behan‐ deln. 33 Hier wird der Frage nachgegangen, auf welche Wissensinhalte eine Person trifft, die sich in die Schweiz einbürgern lassen möchte und sich auf den behördlichen Webauftritten darüber informiert. Den rechtlichen Bezugspunkt bildet das Bürgerrechtsgesetz, das die Bedingungen zum Erwerb und Verlust der Schweizer Nationalität festlegt und somit den rechtlichen Rahmen zum Thema Einbürgerung absteckt. Bei der Analyse richtet sich das Augenmerk u. a. darauf, welche Wissenselemente auf den an Laien gerichteten Webseiten im Vergleich zum Normtext beibehalten und wie sie dargeboten werden, welcher Unterschied zwischen Ausgangs- und Zieltext besteht bzw. wie der Sprachgebrauch in situativ-funktional verschiedenen, thematisch aber äquivalenten Textsorten bzw. Kommunikationsformen variiert. 5.1 Methodik Der empirischen Untersuchung liegt eine Art alltagshermeneutisches Verfahren zugrunde, das zunächst die Perspektive des betroffenen Bürgers einnimmt, der in das Land eingebürgert werden möchte und daher im Netz gezielt nach praktischen Informationen sucht. Bei der linguistischen Analyse der Sucher‐ gebnisse - d. h. aller ,Zieltexte‘, auf die die Suche im ch.ch-Portal geführt hat - musste die Perspektive gewechselt werden, damit auch die rechtlich verbindli‐ chen ,Ausgangstexte‘, insbesondere das Schweizer Bürgerrechtsgesetzes (BüG) von 1952, Berücksichtigung finden. Bei der Auswertung des vermittelnden Hy‐ pertextes wurde also auch der fachinterne Text herangezogen. Das entspricht der Perspektive des Wissenschaftlers, der den Rechtstext (BüG) und den Vermittlungstext (ch.ch) miteinander vergleicht. Dabei ging es v. a. darum zu ermitteln, welche Inhaltselemente bei der sprachinternen Übersetzung über‐ nommen und wie sie versprachlicht wurden. 5.2 Linguistische Beschreibung von ch.ch Der Behandlung der Seiten zur Einbürgerung seien zunächst einige allgemeine Informationen zu den (strukturellen) Merkmalen von ch.ch vorangestellt. Das 200 Alessandra Alghisi Portal präsentiert sich in Form einer horizontal ausgerichteten Webseite, auf der etwa 40 unterschiedlich große, bunte Kästchen erscheinen. Die Kästchen weisen knappe Texte auf, die aus einer fettgedruckten Überschrift - gewöhnlich einem einzelnen Wort (Arbeit) oder einer Nominalphrase (Ausländer in der Schweiz) - und einem kurzen Satz bestehen. Manchmal finden sich auch Bilder oder Videos (kurze Zeichentrickfilme), die thematisch zum Text passen. Jedes farbige Qua‐ drat entspricht einer Art kleiner Tür, die an die Einstiegsseite zu einem gewissen Thema heranführt. Diese enthält ihrerseits weitere Kästchen. Insgesamt besteht der Webauftritt aus gut 2500 Seiten (Stand: 2015; vgl. BK 2016). ch.ch ist extrem dynamisch und wird periodisch aktualisiert. Je nach Jahreszeit und unter Be‐ rücksichtigung der administrativen Fristen, die für das Leben eines Durch‐ schnittsbürgers jeweils relevant sein könnten (z. B. die Frist für die Steuerer‐ klärung), ändern sich die Themen, die - durch die Vergrößerung der Kästchen oder ihre priorisierte Präsentation - in den Vordergrund gestellt werden: Abb. 2: ch.ch-Startseite (Stand: August 2017) Innerhalb des Portals spielt die Suchfunktion selbstverständlich eine wichtige Rolle. Dies schlägt sich in der oberen, zentralen Stellung nieder, die die Such‐ maske einnimmt sowie in der hervorgehobenen Position, die das Glossar und die Sitemap haben. Links neben dem Suchfeld findet sich der ch.ch-Logo. Dieser wird im unteren Teil der ch.ch-Startseite, im sogenannten Footer, wieder aufge‐ nommen. Diesmal begleitet ihn der Satz Eine Dienstleistung des Bundes, der Kan‐ tone und Gemeinden, der als Slogan fungiert. Die Formulierung fokussiert die Zusammenarbeit zwischen den Schweizer politischen Ebenen bzw. den die Staatsebenen übergreifenden Charakter des Behördenportals. Im Footer finden 201 Behördensprache im E-Government [1] [2] [3] [1it] sich desweiteren Verlinkungen zu den Social Media-Accounts (Twitter, Youtube, Blog ch.ch) und der das Schweizer Wappen enthaltende, mehrsprachige Bun‐ deslogo. Das Wappen und die Logos sind nach den Empfehlungen zur Gestaltung von nationalen E-Government-Portalen (2017), einem für diese Kommunikati‐ onsform spezifischen Metatext, erstellt. Er betrifft in erster Linie Markenele‐ mente und soll Schweizer Portalen eine visuelle Identität verleihen sowie für Einheitlichkeit beim behördenseitigen Online-Angebot sorgen. Dadurch wird Vertrauenswürdigkeit sowie die Vermittlung von Werten wie Bürgernähe, Transparenz und Qualität angestrebt. Im unteren Teil der Webseite gibt es außerdem einen Link zur rechtlichen Haftung des Portals. Danach achte letzt‐ eres zwar mit aller Sorgfalt auf die Korrektheit der dargebotenen Informationen, übernehme aber keine Gewähr für die Richtigkeit der Inhalte. Die Seitenarchitektur soll das Portal auch für die Lektüre mit Mobilgeräten tauglich machen. Dabei dienen Farben und die Kombination verschiedener Zei‐ chensysteme (Sprache, Bild, Video) zur Leserorientierung und Auflockerung. Sie geben ch.ch eine attraktivere Gestaltung. Zur Attraktivität von ch.ch trägt auch die extrem große sprachlich-stilistische Variation bei, die schon bei den kurzen Texten der Kästchen der ch.ch-Startseite auffällt. Man wechselt - auch innerhalb eines und desselben Kästchens - ständig ab etwa zwischen einem persönlichen und unpersönlichen, verbalen und nominalen, ausformulierten und elliptischen Stil. Man gewinnt den Eindruck, dass man der schlichten Logik des klassischen Prinzips variatio delectat folgt: Arbeit Arbeitszeit, Arbeitskonflikte, Selbständigkeit, Absenzen vom Arbeitsplatz, Mindestlohn, Arbeitszeugnis. Steuererklärung Steuererklärung ausfüllen: Wie machen und was Sie beachten müssen? Drohnen Darf ich überall meine Drohne fliegen lassen? Die sprachlich-stilistische Abwechslung scheint auch die anderen Sprachfas‐ sungen des Webauftritts zu prägen. Dabei handelt es sich zwar um Überset‐ zungen der deutschen Version, die Nähe zur Ausgangssprache kann aber mehr oder weniger groß sein und häufig sind Anpassungen an die sprachkulturellen Gewohnheiten und Sensibilitäten der Zielsprache anzutreffen. Dazu italienische Textbeispiele, die stark am Ausgangstext orientiert sind: Lavoro Tempo di lavoro e assenze, lavorare come indipendente, salario minimo, certificato di lavoro 202 Alessandra Alghisi 34 Zu bemerken ist hier, dass in [1it] die it. Übersetzung von Arbeitskonflikte sowie die Interpunktion am Satzende fehlen. Das Kästchen, in das [2it] eingebettet ist, verlinkt mit der fr. Version der Seite. Da die Webseiten der Schweizer Behörden nicht immer in allen vier Landessprachen zur Verfügung stehen, könnte man hier denken, dass dies Absicht ist. In diesem Fall handelt es sich aber offenbar um einen Fehler, da auch eine it. Fassung der Seite verfügbar ist. [2it] [3it] Dichiarazione delle imposte Compilare la dichiarazione d’imposta: come fare e a che cosa dovete fare attenzione? Droni Posso volare ovunque con un drone? 34 5.3 Einbürgerung Die Eingabe des Begriffs Einbürgerung in die ch.ch-Suchmaske führte unmit‐ telbar auf die relevante thematische Einstiegsseite. Diese Seite und die damit verlinkten Module, auf die das Thema Einbürgerung verteilt ist, verlinken nicht direkt mit dem primären Bezugstext, nämlich dem Bürgerrechtsgesetz (BüG) von 1952. Es findet sich auch kein Hinweis darauf, dass demnächst neue ge‐ setzliche Bestimmungen gelten werden. Wegen inhaltlicher und sprachlicher Unstimmigkeiten, die im Laufe der Zeit durch Teilrevisionen des Gesetzes ent‐ standen waren, aber auch wegen der Abstraktheit des Textes und im Bemühen darum, noch offenen Fragen befriedigend nachzugehen sowie die gesetzlichen Bestimmungen mit dem geltenden Recht - besonders dem neuen Ausländerge‐ setz von 2005 - zu harmonisieren, wurde das BüG in den letzten Jahren nämlich einer Totalrevision unterzogen (vgl. BR 2011). Das Revisionsverfahren ist in ein Bürgerrechtsgesetz im neuen Gewand (BüG von 2014) gemündet, das am 1.1.2018 in Kraft getreten ist. Das z. Z. (August 2017) gültige Gesetz von 1952 unterscheidet zwei Typen des Erwerbs des Schweizer Bürgerrechts: den Bürgerrechtserwerb von Ge‐ setzes wegen und den Erwerb durch behördlichen Beschluss. Die erste Er‐ werbsart bezieht sich auf diejenigen Fälle, bei denen eine Person automatisch das Bürgerrecht erhält. Dies geschieht, wenn zumindest ein Elternteil Schweizer ist. Gefolgt wird dabei dem Prinzip der mütterlichen oder väterli‐ chen Abstammung (ius sanguinis). Danach ist das Kind von Schweizer Eltern mit der Geburt Schweizer Bürger. Beim zweiten Erwerbstyp ist hingegen ein administratives Verfahren vorgesehen, das mit dem Einreichen eines Gesuchs einsetzt und mit einem behördlichen Beschluss endet, wobei gewisse gesetz‐ liche Voraussetzungen (Wohnsitzfristen und Integrationserfordernisse) erfüllt sein müssen. Nur in diesem Fall handelt es sich um eine Einbürgerung. Das 203 Behördensprache im E-Government BüG unterscheidet zwischen drei Einbürgerungsarten: der ordentlichen Ein‐ bürgerung, der erleichterten Einbürgerung und der Wiedereinbürgerung. Die or‐ dentliche Einbürgerung stellt die klassische Einbürgerungsart für Ausländer dar. In den Genuss einer erleichterten Einbürgerung können in erster Linie ausländische Ehepartner von Schweizer Bürgern kommen. Die Wiedereinbür‐ gerung betrifft Personen, die das Schweizer Bürgerrecht früher besaßen und es verloren haben. Zu erwähnen ist schließlich, dass sich das Bürgerrecht der Schweiz auf drei Niveaus bezieht: Man besitzt gleichzeitig das Bürgerrecht einer Gemeinde, eines Kantons und der Eidgenossenschaft. Wenn man sich in die Schweiz ein‐ bürgern lassen möchte, muss man sich daher um das Bürgerrecht auf den drei Ebenen bewerben; die Zuständigkeiten verteilen sich also auf die föderalisti‐ schen Einheiten. Daher ist die Schweizer Gesetzgebung zur Einbürgerung ziem‐ lich kompliziert und die gesetzlichen Bestimmungen und Praxen sind auf den unteren Staatsebenen landesweit uneinheitlich. Die Forderung nach der Har‐ monisierung der Verfahren innerhalb des Landes war auch einer der Gründe, die zur totalen Revision des Bürgerrechtsgesetzes geführt haben. Die Ausführungen zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts seien überblicks‐ artig in der folgenden Tabelle zusammengefasst: Schweizer Bürgerrecht: Erwerbsarten (vgl. BüG von 1952) Von Gesetzes wegen Durch behördlichen Beschluss Durch Abstammung (ein Elternteil ist Schweizer) Bei Findelkindern Durch Adoption Durch Ordentliche Einbürgerung: klassische Art, betrifft u. a. den ausländi‐ schen eingetragenen Partner eines Schweizers Durch Erleichterte Einbürgerung: be‐ trifft u. a. den Ehegatten eines Schweizers, das Kind eines eingebürgerten Elternteils, das Kind eines Elternteils, der das Schweizer Bürgerrecht verloren hat Durch Wiedereinbürgerung: betrifft Personen, die das Schweizer Bürgerrecht vorher verloren haben Tab. 1: Erwerbsarten des Schweizer Bürgerrechts 204 Alessandra Alghisi 5.4 Textlinguistische Analyse der ch.ch-Seiten zur Schweizer Einbürgerung Bei der Analyse der ch.ch-Seiten zur Schweizer Einbürgerung gilt das Interesse besonders den folgenden Aspekten: formale und thematische Textstruktur der Webseiten, inhaltliche Variation der Portalseiten im Vergleich zum primären Normtext und - mit Blick auf die Sprachoberfläche - Bezug auf Personen. Der letzte Punkt ist insofern relevant, als die Behörden durch die Auswahl verschie‐ dener sprachlicher Referenzformen den Adressaten gegenüber entweder grö‐ ßere Nähe oder Distanz zeigen. Die Art und Weise, wie der Personenbezug her‐ gestellt wird, zeigt zugleich, inwiefern der Forderung nach sprachlicher Gleichbehandlung der Geschlechter Genüge getan und wie sie konkret um‐ gesetzt wird. Besonders die Verwendung femininer Formen, die Frauen im Text sichtbar machen, zielt auf die Beseitigung aller Diskriminierungsformen in der Sprache ab und hängt somit mit dem Gebot der Bürgernähe eng zusammen. Jeder der folgenden Abschnitte ist einer der Webseiten gewidmet, auf die das Thema Einbürgerung im Portal ch.ch sich verteilt. 5.4.1 Einstiegsseite Einbürgerung So wie die ch.ch-Startseite ist auch die Einstiegsseite zur Einbürgerung einfach und anschaulich aufgebaut: Unter der Seitenüberschrift Einbürgerung gibt es einen kleinen Text sowie vier zentral angelegte, verlinkende Kästchen. Dabei handelt es sich sozusagen um die Makrokapitel, aus denen sich der Teil Einbür‐ gerung im Portal zusammensetzt. So fungiert die Einstiegsseite als eine Art In‐ haltsverzeichnis, das an die relevanten Subthemen weiterleitet. Auf der rechten Spalte finden sich zwei weitere bunte Verweise: Einer verbindet mit einem zu‐ sammenhängenden Thema (Ausländer in der Schweiz), beim anderen geht es um den Kontakt mit den Behörden (Ihre Mitteilung an ch.ch): 205 Behördensprache im E-Government Abb. 3: Einstiegsseite zur Einbürgerung auf ch.ch Drei der vier zentralen Kästchen sind je einer der im BüG festgelegten Einbür‐ gerungsarten gewidmet (ordentliche und erleichterte Einbürgerung sowie Wie‐ dereinbürgerung). Das vierte Kästchen verweist stattdessen auf die Bedin‐ gungen, die bei einer ordentlichen Einbürgerung erfüllt werden müssen. Mit diesen beschäftigt sich ein eigenes, separates Makrokapitel. Dieses Unterthema ist dem Teil ordentliche Einbürgerung hierarchisch eigentlich untergeordnet. Die Seitenarchitektur platziert dieses Subthema an eine prominente Stelle und setzt es den drei Einbürgerungstypen strukturell gleich. Dieser ‚Verstoß‘ gegen die Themenlogik lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass die Einbürge‐ rungsvoraussetzungen ein für eine einbürgerungswillige Person besonders re‐ levantes Inhaltselement darstellen. Der kleine Text, der auf der Einstiegsseite in das Thema einführt, ist eher dicht. In einem Elementarsatz werden verschiedene, durch Nominalisierungen 206 Alessandra Alghisi 35 Bei seinen Ausführungen zur Paraphrase lehnt sich Fonsén (2014) an Ungeheuer (1969) an. [4] ausgedrückte Begrifflichkeiten gebündelt, die im BüG separat behandelt werden: Das Schweizer Bürgerrecht kann durch Abstammung, Adoption oder durch ordentliche oder erleichterte Einbürgerung erworben werden. (im Orig. in Fettdruck) Nicht erkennbar ist, dass Abstammung und Adoption einerseits und ordentliche und erleichterte Einbürgerung andererseits zwei verschiedenen Typen des Er‐ werbs des Schweizer Bürgerrechts entsprechen, zwischen denen im Gesetz un‐ terschieden wird. Tatsächlich fällt der Erwerb durch Abstammung und Adoption begrifflich nicht unter Einbürgerung. Insofern besteht bei diesen Ausdrücken kein Bezug zum Titel der Seite. Es wird mit [4] ein großer Zusammenhang her‐ gestellt - alles, was das Bürgerrecht betrifft - der dann allerdings nicht weiter behandelt wird. Da das Bürgerrecht durch einen einfachen Satz zusammenge‐ fasst wird, könnte man mit Fonsén (2014: 96) von „Paraphrase mit Maximalva‐ riation“ sprechen. 35 Die „kurze Wiedergabe eines langen Textes“ (ebd.), eben des Bürgerrechtsgesetzes, ist allerdings gewissermaßen dysfunktional, da die Er‐ wähnung für einen Einbürgerungswilligen nicht unmittelbar relevanter Infor‐ mationen (Abstammung, Adoption) Fragen aufkommen lässt: Inwiefern gehört Abstammung ins Thema „Einbürgerung“? Welcher Unterschied besteht eigentlich zwischen Abstammung, Adoption und Einbürgerung? Hier scheinen die Verfasser in erster Linie einen anderen Adressatenkreis und eine andere als die praxis‐ orientierte Information im Blick zu haben, nämlich nicht eine Person, die ein‐ gebürgert werden möchte, sondern die Öffentlichkeit allgemein, die am Thema Einbürgerung in der Schweiz interessiert ist. Dies entspricht der oben genannten Funktion der informationsorientierten Vermittlung staatsbürgerlicher Kennt‐ nisse. 5.4.2 Seite Ordentliche Einbürgerung Anders als die Einstiegsseite sind die Seiten, auf denen die Subthemen behandelt werden, linear organisiert. Dabei ist die Content-Zone der Seiten überwiegend mit Fließtext besetzt. Dieser wird häufig durch fettgedruckte Überschriften in Abschnitte gegliedert. Manchmal finden sich Listen mit eingerückten Spiegel‐ punkten. In den Text sind weiterhin mit fettgedruckten Überschriften verse‐ hene, verborgene Links eingefügt, die auf portalexterne Dokumente führen. 207 Behördensprache im E-Government 36 Wenn nicht anders angegeben, stammen die Hervorhebungen in den Zitaten aus Ver‐ waltungstexten aus dem Original. [5] Die Subthemen-Seiten weisen zwar graphische Elemente auf, die zur visu‐ ellen Orientierung dienen und den Rezipienten durch die Seiten führen sollten, ihre Struktur entspricht allerdings oft nicht einer logisch erwartbaren Progres‐ sion der Themen und die semantische Kohärenz zwischen den Textteilen sowie die Relevanz der Informationen (für eine einbürgerungswillige Person) sind nicht immer unmittelbar evident. Auf der Seite zur Ordentlichen Einbürgerung ist beispielsweise bemerkenswert, dass man zuerst sagt, was eine erleichterte Einbürgerung ist, bevor man sich mit der ordentlichen Einbürgerung beschäf‐ tigt: Ordentliche oder erleichterte Einbürgerung? 36 Eine erleichterte Einbürgerung ist zum Beispiel dann möglich, wenn Sie mit einer Schweizerin bzw. einem Schweizer verheiratet sind oder Kind einer Schweizerin oder eines Schweizers sind. Die erleichterte Einbürgerung betrifft in erster Linie die ausländischen Ehe‐ partner von Schweizer Bürgern. Da im Gesetz zwischen Abstammung und Ein‐ bürgerung unterschieden wird, kommt der Hinweis, dass auch Kinder von Schweizern erleichtert eingebürgert werden können, unerwartet und kann nur mit einigem Vorwissen interpretiert werden. Die erleichterte Einbürgerung bei Kindern betrifft nämlich nur gewisse Ausnahmefälle, die im Gesetz festge‐ schrieben werden (vgl. etwa Art. 31a des BüG Kind eines eingebürgerten Eltern‐ teils und 31b Kind eines Elternteils, der das Schweizer Bürgerrecht verloren hat). Auch interessant am Beispiel [5] ist der Vergleich mit den anderen Sprach‐ versionen (in der unteren Tabelle nebeneinander gestellt): Deutsch Italienisch Französisch Ordentliche oder er‐ leichterte Einbürge‐ rung? Eine erleichterte Einbür‐ gerung ist zum Beispiel dann möglich, wenn Sie mit einer Schweizerin bzw. einem Schweizer verhei‐ ratet sind oder Kind einer Schweizerin oder eines Schweizers sind. Naturalizzazione age‐ volata La naturalizzazione age‐ volata è riservata ai co‐ niugi stranieri di cittadini svizzeri come pure ai figli di un genitore svizzero. Ul‐ teriori informazioni al punto. Naturalisation ordinaire ou facilitée? Une naturalisation facilitée est par exemple possible si votre conjoint ou l’un de vos parents est citoyen suisse. Tab. 2: Vergleich zwischen Sprachversionen (Hervorhebungen A. A.) 208 Alessandra Alghisi 37 Für das Italienische gibt es die Guida al pari trattamento linguistico di donna e uomo nei testi ufficiali della Confederazione (BK 2012). Auf Französisch gilt der Guide de formu‐ lation non sexiste des textes administratifs et législatifs de la Confédération (BK 2000). Der wichtigste Unterschied zwischen der deutschen und französischen Sprach‐ fassung einerseits und der italienischen andererseits ist hier ein inhaltlicher: Während man im Deutschen durch zum Beispiel (fr. par exemple) darauf hin‐ deutet, dass es noch weitere Fälle gibt, auf die sich das erleichterte Einbürge‐ rungsverfahren anwenden lässt, fehlt dieser Hinweis im Italienischen. Die ita‐ lienische Version ist somit nicht richtig, weil sie den Eindruck vermittelt, dass eine erleichtertere Einbürgerung ausschließlich bei den hier erwähnten Fällen möglich ist. Sprachlich unterscheidet sich das Italienische von der deutschen Fassung in‐ sofern, als es einen unpersönlicheren Stil bevorzugt. Statt eines elliptischen Fra‐ gesatzes findet sich im Titel eine ,nüchternere‘ Nominalgruppe (Naturalizza‐ zione agevolata). Anstelle direkter Ansprache wird eine Passivform verwendet. Es gibt außerdem eine elliptische Formulierung, die darauf hinweist, dass man an der dem Thema gewidmeten Stelle weitere Informationen finden wird (Ul‐ teriori informazioni al punto). Es gibt hier allerdings keine direkte Verlinkung, so dass man selber herausfinden muss, wo die relevanten Inhalte innerhalb der Webseite erscheinen. Der größte sprachliche Unterschied betrifft aber die Verwendung der Perso‐ nenbezeichnungen. In der deutschen Version wird der Adressat angesprochen (Sie), man benutzt geschlechtsabstrakte Ausdrücke (Kind) und Doppelformen (einer Schweizerin bzw. einem Schweizer). Im Italienischen wird auf Paarformen verzichtet und man verwendet stattdessen generische Maskulina (coniugi, cit‐ tadini, figli). Das generische Maskulinum ist auch in der französischen Version anzutreffen (conjoint, l’un, citoyen). Wie im Deutschen wird der Rezipient hier aber direkt angesprochen (votre, vos). Die Abweichungen beim Gebrauch von Paarformen bzw. generischen Mas‐ kulina exemplifizieren die verschiedenen, ja sogar gegensätzlichen Sprach‐ normen, die in den Schweizer Sprachgemeinschaften bei der Umsetzung ge‐ schlechtergerechter Sprache gelten. Dabei stellt das generische Maskulinum eine der umstrittensten Sprachformen dar. Seine Verwendung wird im Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren im Deutschen (2009) geregelt, der sich v. a. an Verwaltungsmitarbeiter richtet. 37 Dort heißt es, dass generisch gemeinte Maskulina im Deutschen prinzipiell ungemessen seien: „Sobald die Personen […] mit geschlechtsspezifischen Ausdrücken bezeichnet werden, muss man sie mit solchen bezeichnen, die beide Geschlechter nennen; generische 209 Behördensprache im E-Government Formen gibt es nicht, und die Nennung nur des einen Geschlechts würde dieses rele‐ vant setzen und das andere irrelevant“ (BK 2009: 70 f.). Dementsprechend wird vorgeschlagen, Texte nach dem Prinzip der „kreativen Lösung“ zu formulieren: „Kreative Lösung bedeutet: die vorhandenen sprachlichen Mittel kombinieren und sie so verwenden, dass ihre Vorteile voll zum Tragen kommen und ihre Nachteile minimiert werden“ (BK 2009: 41). Zu den sprachlichen Mitteln, die bei der Formulierung geschlechtergerechter Texte kombinierbar sind, gehört eigentlich auch das generische Maskulinum. Dass maskuline Bezeichnungen mit generischer Bedeutung in der Praxis ver‐ wendet werden (müssen), wird im Leitfaden nicht verleugnet. Wichtig sei dabei jedoch, dass man einem einheitlichen, konsequenten Sprachgebrauch folge: „Gleiches muss immer gleich benannt werden Dieser Grundsatz bedeutet aus dem Blickwinkel der geschlechtergerechten Formu‐ lierung, dass einmal gewählte Personenbezeichnungen […] konsequent verwendet werden müssen. Das heisst nicht nur, dass beispielsweise Antragstellerinnen und An‐ tragsteller nicht plötzlich zu Gesuchstellerinnen und Gesuchstellern werden dürfen, sondern dass Paarformen […] nicht neben Formen im generischen Maskulinum […] stehen dürfen. Denn wenn neben einer Paarform eine einzelne männliche Form auf‐ taucht, muss diese als Bezeichnung einer männlichen Person interpretiert werden“ (BK 2009: 68). Im Allgemeinen rät der Leitfaden von der Verwendung des generischen Mas‐ kulinums ab. Er verbietet es aber ausdrücklich für Rechtstexte (Erlasse). Da dieses Verbot um die Jahrhundertwende eingeführt wurde, wird es in neueren Erlasstexten angewandt. Ältere Erlasse, die in Zeiten verfasst wurden, wo die Diskussion zur sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter noch nicht im Fokus stand, weisen stattdessen gewöhnlich generisch gemeinte Maskulina auf. Dabei sind die Normtexte, die im Laufe der Jahre teilrevidiert wurden, besonders problematisch. Dort stehen häufig unterschiedliche Formen (generische Mas‐ kulina und Paarformen) nebeneinander und man verstößt also gegen das Ein‐ heitlichkeitsprinzip. Dies hat zur Folge, dass sich Schwierigkeiten bei der In‐ terpretation der Personenbezeichnungen ergeben. Hinzukommt, dass Maskulina selbst in Texten, wo v. a. generische Formen auftreten, manchmal in ihrer spezifischen Bedeutung benutzt werden, was wiederum die Textausdeu‐ tung schwieriger macht (vgl. die Beispieldiskussion in 5.4.5). Der deutschen Sprachnorm über generische Maskulina stehen die Sprach‐ normen und Praxen für das Italienische und Französische entgegen, die in 210 Alessandra Alghisi 38 Zu diesem Thema vgl. ausführlich Adamzik (2016a; 2018b); Adamzik / Alghisi (2015 und 2017) sowie die Ergebnisse des schon erwähnten Forschungsprojekts der Univer‐ sität Genf. 39 Zur Beschreibungskategorie Navigations-Zone vgl. Djonov / Knox (2014: 178): „Navi‐ gation zones typically have a dual purpose of providing navigation links and classifying the content of the website. The more prominent a navigation zone is, the more impor‐ tant the second of these purposes. Navigation zones typically appear on all pages of a website in the same, or a similar, format and location“. Rechtstexten den Gebrauch von Doppelformen verbieten und hier tatsächlich das generische Maskulinum als Standardvariante einsetzen. Die Sprachgemein‐ schaften in der Schweiz zeichnen sich in dieser Hinsicht durch eigene Sprach‐ normierungskulturen und Gewohnheiten aus, die auch stark voneinander ab‐ weichen können. 38 5.4.3 Seite Bedingungen Auf der Seite zur Ordentlichen Einbürgerung stehen die Einbürgerungsvoraus‐ setzungen nicht im Fokus. Dafür gibt es einen Link in der rechten Spalte der Seite, der für portalinterne Links bestimmten Navigations-Zone. 39 Die Bedin‐ gungen-Seite weist nun ein wichtiges Inhaltselement auf, das man an eine pro‐ minentere Stelle innerhalb der ch.ch-Einbürgerungsseiten - etwa auf die Ein‐ stiegsseite - hätte platzieren können, die Tatsache nämlich, dass der Erwerb des Bürgerrechts in der Schweiz auf drei politischen Ebenen (Bund, Kanton, Ge‐ meinde) angesiedelt ist. Über die Einbürgerungsvoraussetzungen wird nur mit‐ geteilt, dass diese auf eidgenössischer Ebene identisch sind, aber je nach Wohnort variieren können. Da für diesen Inhalt auf eine Tabelle zurückgegriffen wird, in der Kanton und Gemeinde in einer Zeile zusammengefasst sind, ist die Kerninformation - es gibt drei Ebenen - nicht einmal visualisiert: Abb. 4: ch.ch-Tabelle zu den Einbürgerungsbedingungen 211 Behördensprache im E-Government [6] Weitere Vertiefungen werden dann den untenstehenden, nicht unmittelbar sichtbaren, sondern verborgenen Verlinkungen überlassen, die zu den Web‐ seiten der zuständigen föderalen oder kantonalen/ kommunalen Behörden führen: Abb. 5: Verlinkungen in der Content-Zone der ch.ch-Seite zu den Einbürgerungsbedin‐ gungen Für die Bedingungen auf nationaler Ebene leitet ch.ch an die Seite des Staatsse‐ kretariats für Migration (SEM) - einer föderalen Verwaltungseinheit - weiter, die Häufig gestellte Fragen (abgekürzt mit dem Englischen FAQ) zum Thema enthält. Auf dieser Seite wird ein Frage-Antwort-Muster benutzt, das potentielle Fragen eines einbürgerungswilligen Menschen antizipiert und beantwortet. Dies führt zum Gebrauch von ich, das zwar der Perspektive von Einbürgerungs‐ willigen besonders gut entspricht, den Rezipienten aber die Umstellung von der Perspektive des Angesprochenen (Sie) abverlangt, die in ch.ch erscheint: Wann kann ich ein Einbürgerungsgesuch stellen? Ich kann ein Einbürgerungsgesuch stellen, wenn ich seit mindestens zwölf Jahren in der Schweiz wohne. Die Zeit zwischen der Vollendung des 10. und des 20. Altersjahres wird dabei doppelt gerechnet. Bedingung für die Einbürgerung ist, dass ich in der Schweiz sozial und kulturell integriert 212 Alessandra Alghisi 40 Vgl. https: / / www.sem.admin.ch/ content/ sem/ de/ home/ themen/ buergerrecht/ faq.0002. html#a_0002 [letzter Zugriff: 08.09.2017]. bin, die schweizerische Rechtsordnung beachte und die innere oder äus‐ sere Sicherheit der Schweiz nicht gefährde. 40 Damit man ein Einbürgerungsgesuch stellen kann, wird ein Aufenthalt von zu‐ mindest 12 Jahren in der Schweiz verlangt. Überdies muss man in die Schweizer Gesellschaft integriert sein. Die Verwendung des Personalpronomens ich und der Verben in der ersten Person - anstelle der dritten Person des Gesetzestextes - deutet zwar auf den Versuch hin, Nähe zum Bürger herzustellen, indem seine Perspektive berücksichtigt wird. Der SEM-Text nimmt allerdings ansonsten die gesetzlichen Bezugsbestimmungen wörtlich auf und weist damit die - für Normtexte typische - semantische Vagheit auf (vgl. Abb. 6). Abb. 6: Art. 14 und 15 (Abs. 1 und 2) des BüG So wie der Gesetzestext wirkt auch der SEM-Text eher vage. Was ,in der Schweiz integriert sein‘ in behördlicher Perspektive konkret bedeutet, bleibt völlig offen. Direkte Verlinkungen zu einer eventuellen Erläuterung sind auch nicht vor‐ handen. 213 Behördensprache im E-Government [7] [8] • • • 5.4.4 Seite Erleichterte Einbürgerung Auf der Bedingungen-Seite von ch.ch findet sich ein Inhaltselement, das für die fachunkundige, nach praktischen Informationen suchende Person irreführend ist und zu falschen Vermutungen Anlass gibt. Am Seitenende wird nämlich ge‐ sagt, dass u. a. für eingetragene Partner besondere Voraussetzungen gelten. Dort erscheint ein Link zur Seite Erleichterte Einbürgerung. Danach muss man ver‐ muten, dass so wie Ehepartner auch Personen in eingetragener Partnerschaft durch ein erleichtertes Verfahren eingebürgert werden können. Die erleichterte Einbürgerung ist allerdings für eingetragene Partner nicht möglich. Dies ist das Einzige, was dazu auf der Seite Erleichterte Einbürgerung mitgeteilt wird: Aus‐ ländische eingetragene Partner der Schweizer müssen ein normales, ordentli‐ ches Einbürgerungsverfahren durchlaufen, wenn sie Schweizer werden möchten: Einbürgerung von eingetragenen Partnerinnen und Partnern Im Gegensatz zur Heirat ermöglicht die eingetragene Partnerschaft keine erleichterte Einbürgerung für die ausländische Partnerin einer Schwei‐ zerin bzw. für den ausländischen Partner eines Schweizers. Erwähnung findet nicht einmal, dass eingetragene Partner immerhin kürzere Wohnsitzerfordernisse erfüllen müssen (vgl. Art. 15 Abs. 5 BüG). 5.4.5 Seite Wiedereinbürgerung Die informationsorientierte Vermittlung, die primär die allgemeine Öffentlich‐ keit und nicht den vom Einbürgerungsverfahren Betroffenen adressiert, prägt auch die Seite zur Wiedereinbürgerung. Dort wird die möglichst alle Angele‐ genheiten und Erscheinungsformen berücksichtigende Perspektive des Ge‐ setzes aufgenommen und seine semantische Offenheit im besonderen Maße deutlich. Aufgelistet werden zunächst die Fälle, auf die die Wiedereinbürgerung anwendbar ist. Sie werden durch einen typografisch hervorgehobenen Fragesatz eingeleitet, der zur Leserorientierung dienen sollte: Wer kann wiedereingebürgert werden? Wiedereingebürgert werden kann, wer das Schweizer Bürgerrecht aus einem dieser drei Gründe verloren hat: aus gesetzlichen Gründen, durch sogenannte ,Verwirkung‘, wenn Sie ein Gesuch um Entlassung gestellt haben oder durch Heirat mit einem Ausländer vor dem Jahr 1992. Die ersten zwei Punkte weisen zwei Fachwörter (Verwirkung, Entlassung) auf, denen keine direkte Erläuterung beigefügt wird. Von diesen ist nur das erste 214 Alessandra Alghisi [9a] • • [9b] • • Wort durch Anführungszeichen markiert - d. h. als solches kenntlich gemacht, obwohl das zweite eine prominentere Stelle im entsprechenden Gesetz hat. Während der Entlassung ein bestimmter Gesetzesabschnitt gewidmet ist und das Wort auch als Abschnittstitel erscheint, kommt das Wort Verwirkung nur einmal in der Marginalie eines Gesetzesartikels vor, sonst wird im Fließtext das Verb verwirken benutzt. Der dritte Punkt enthält ein Datum, dessen Relevanz nicht spezifiziert ist. Man wird sich also fragen, welche Rolle das Jahr 1992 ei‐ gentlich spielt. Diesen Wissensinhalt stellt die Seite aber nicht zur Verfügung, man muss ihn sich anderweitig beschaffen: Relevant ist die Tatsache, dass bis 1992 Folgendes galt: Schweizerinnen, die Ausländer heirateten, verloren auto‐ matisch ihr Schweizer Bürgerrecht und konnten es nur durch Unterzeichnung einer Erklärung beibehalten. Hier ist ferner zu bemerken, dass die männliche Personenbezeichnung Ausländer in geschlechtsspezifischer Bedeutung ver‐ wendet wird. Dies ist allerdings nicht unmittelbar evident, da innerhalb der Portal-Seiten Maskulina in der Regel geschlechtsübergreifend benutzt werden (vgl. etwa das generische Maskulinum Ausländer in der Schweiz auf der Einbür‐ gerung-Einstiegsseite). In dieser Hinsicht sind das inkonsequente Alternieren zwischen Maskulina und Paarformen im Portal und der entsprechende Verstoß gegen das im Leitfaden festgelegte Einheitlichkeitsprinzip dysfunktional, da sie das Verständnis erschweren (vgl. oben 5.4.2). Der kurzen Auflistung folgt ein Hinweis auf das Vorgehen im Fall einer Wie‐ dereinbürgerung (Wiedereinbürgerung: so gehen Sie vor); seine Behandlung wird allerdings durch einen Link der Seite der zuständigen Behörde überlassen. Die ersten zwei Punkte werden unten wieder aufgenommen und zwei verschie‐ denen Kategorien zugeordnet. Die im BüG vorgenommene Unterscheidung zwischen dem Verlust des Bürgerrechts aus gesetzlichen Gründen und aufgrund eines behördlichen Beschlusses erscheint wiederum ohne ,Übersetzung in Bür‐ gersprache‘: aus gesetzlichen Gründen (sogenannte ,Verwirkung‘): wenn das Kindesverhältnis zu jenem Elternteil aufgehoben wird, durch das ein Kind das Schweizer Bürgerrecht erhalten hat; bei Geburt im Ausland, sofern bis zur Vollendung des 22. Lebensjahres keine Meldung bei einer schweizerischen Behörde erfolgt. durch behördlichen Beschluss: Wenn Sie ein Gesuch um Entlassung gestellt haben durch Entzug des Bürgerrechts bei einer Doppelbürgerin oder einem Doppelbürger, wenn ihr oder sein Verhalten den Interessen oder dem Ansehen der Schweiz erheblich nachteilig ist. 215 Behördensprache im E-Government Das Thema Verwirkung wird mit den gesetzlichen Gründen verbunden. Es spaltet sich weiter in zwei Elemente, die die Tatbestände darstellen, bei deren Vorhan‐ densein die Rechtsfolge der Verwirkung eintritt. Die zwei ch.ch-Sätze, die als Erläuterungen des Begriffs fungieren sollten, nehmen die Art. 8 und 10 Abs. 1 des BüG auf und geben deren Wortlaut in leicht geänderter, knapperer Form - durch Auslassung von Elementen und/ oder Änderung ihrer Reihenfolge bzw. ihrer syntaktischen Struktur - wieder: Abb. 7: Auszüge aus dem BüG Die abstrakten Formulierungen in [9a] widerspiegeln die Abstraktheit der For‐ mulierungen der entsprechenden Gesetzesartikel. Man braucht etwa einiges Nachdenken, um darauf zu kommen, dass es beim ,Aufheben des Kindesver‐ hältnisses zu einem Elternteil‘ wohl um Vaterschaftsklagen gehen muss. Die Entlassung ist unter durch behördlichen Beschluss anzutreffen. Der Begriff wird hier aber nicht erläutert, seine Behandlung erfolgt nämlich im unteren Teil der Wiedereinbürgerung-Seite. Stattdessen findet sich eine Wiederholung der vorangehenden, oberen Formulierung. Auf diese folgt ein neuer Punkt, der ebenfalls ein Fachwort enthält. Es handelt sich dabei um den rechtlichen Begriff des Entzugs, der im BüG als einer der Gründe für den Verlust der Schweizer Nationalität behandelt, der aber im oberen Teil der ch.ch-Seite nicht erwähnt wird. Eine Wiedereinbürgerung ist nämlich im Fall eines Entzugs nicht möglich. Dies ist allerdings nicht unmittelbar ersichtlich, da der Begriff auf der Wieder‐ einbürgerung-Seite eben auch erscheint. Beim Entzug geht es um den Verlust der Schweizer Staatsangehörigkeit von Doppelbürgern. Ihnen kann das Bür‐ gerrecht entzogen werden, wenn ihr Verhalten den Interessen oder dem Ansehen 216 Alessandra Alghisi der Schweiz erheblich nachteilig ist. Auch bei diesem Satz wird die abstrakte For‐ mulierung des Gesetzes unverändert aufgegriffen (vgl. Art. 48): Abb. 8: Auszug aus dem BüG Der Entzug des Bürgerrechts ist nur bei Doppelbürgern möglich, da Personen mit nur einer Staatsbürgerschaft sonst staatenlos würden. Mit dem Thema Dop‐ pelbürgerrecht ist der Punkt inhaltlich verbunden, der im oberen Teil der Wie‐ dereinbürgerung-Seite (vgl. [8]) als dritter erscheint. Dieser wird allerdings nicht weiter ausgeführt. Wie im Hinblick auf die Einstiegsseite im Allgemeinen bereits angemerkt, zeichnet sich der Bezug auf Personen auch bei der Seite zur Wiedereinbürgerung - und bei den ch.ch-Seiten zur Einbürgerung überhaupt - schließlich durch ex‐ trem große sprachliche Variation aus. Auch hier wird innerhalb derselben kurzen Texte zwischen unpersönlichen Formulierungen des Typs Wer ..., der …, direkter Ansprache durch Sie und Übernahme der Rolle des Rezipienten mit‐ tels ich ständig abgewechselt. Diese uneinheitliche Verwendung bzw. Vermi‐ schung der Strategien zur Personenreferenz folgt zwar dem schon erwähnten Stilprinzip der variatio delectat, könnte innerhalb desselben thematischen Kon‐ textes allerdings teilweise verfremdend wirken und ist gewissermaßen dys‐ funktional. Wird durch die direkte Rezipientenansprache größere Nähe zum Bürger hergestellt - da man sich direkt an ihn richtet, schaffen die inkonsequent eingesetzten unpersönlichen Formulierungen, die übrigens den für die Geset‐ zessprache typischen unpersönlichen Stil nachahmen, mehr Distanz. Die Seite zur Wiedereinbürgerung nimmt also gesetzliche Bestimmungen des BüG auf und gibt sie fast unverändert und ohne klare oder explizite inter- und intratextuelle Bezüge wieder. Auf sie trifft also die Charakterisierung „Para‐ phrasen mit Minimalvariation“ (vgl. Fonsén 2014: 96) zu, die „nur geringe lexi‐ kalische oder syntaktische Abweichungen dem ursprünglichen Text gegenüber“ (ebd.) enthalten. Ihre Textstruktur hilft auch nicht zu verstehen, welche Ele‐ mente inhaltlich womit verbunden sind. Das Resultat ist eine schwer „scanbare“ Seite (vgl. Antos u. a. 2011: 650 f.), auf der die Inhaltselemente nicht in thema‐ tischen Blöcken, sondern zerstreut behandelt werden. 217 Behördensprache im E-Government 5.5 Schlussbemerkungen Die linguistische Textanalyse des Behördenportals ch.ch hat gezeigt, dass diese Seiten von dem Bemühen zeugen, den fachunkundigen Adressaten rechts- und verwaltungsspezifische Inhalte näherzubringen. Dabei spielen ästhetisch an‐ spruchsvolle graphische Gestaltung, sprachstilistische Variation und multime‐ diale Elemente eine sehr wichtige Rolle. Was die Seiten zur Einbürgerung angeht, so scheint die primär informati‐ onsorientierte Vermittlung staatsbürgerlicher Informationen zu dominieren. Dementsprechend ist es besonders die informierende, alle Gesetzesfälle abde‐ ckende Funktion, die im Vordergrund steht. Angesprochen wird daher in erster Linie die interessierte Öffentlichkeit. Die handlungsanweisende Funktion, die dem betroffenen Rezipienten genau zeigt, wie er handeln soll, damit er seine Rechte geltend machen kann - etwa damit er in die Schweiz eingebürgert werden kann -, prägt hingegen die portalexternen Webseiten (wie das erwähnte SEM), an die das Portal weiterleitet. Die Inhaltsvermittlung ist durch die partielle Übernahme der gesetzlichen Bestimmungen und die Auslassung bestimmter Elemente gekennzeichnet. Solche Verfahren der Informationsreduktion sind allerdings suboptimal einge‐ setzt, da es einiger Navigation bedarf, bevor man sich zurechtfindet bzw. die Verbindungen zwischen den verschiedenen Inhaltselementen verstehen kann. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass man den Vermittlungstext (die Por‐ talseiten) nur dann völlig nachvollziehen kann, wenn man auch den Bezugstext (das Bürgerrechtsgesetz) konsultiert hat. Hinzukommt, dass Fachbegriffe nur durch die fast wörtliche Wiedergabe des Gesetzes präsentiert und nicht durch konkretere Beispiele erläutert werden. Dieser Befund erinnert an die Feststellung, dass Vermittlungstexte vorwie‐ gend „Aushängeschildfunktion“ haben können, zu der Bock (vgl. 2015: 122) an‐ lässlich der Untersuchung von Texten in ,Leichter Sprache‘ gekommen ist. Dabei geht es in erster Linie darum zu demonstrieren, dass das behördliche Handeln vom Prinzip der Bürgerfreundlichkeit geleitet ist bzw. die Bedürfnisse von Men‐ schen mit Behinderung beachtet werden. Der Funktion, emotionale Hürden ge‐ genüber den staatlichen Institutionen abzubauen, kommt daher die größte Be‐ deutung zu (vgl. Engberg 2017). Die Frage, ob komplexe Sachverhalte dabei wirklich hilfreich vermittelt werden, scheint hingegen in den Hintergrund zu treten. Die hier hervorgehobenen Schwachstellen der ch.ch-Seiten zur Einbürgerung entsprechen den Ergebnissen der linguistischen Analysen von Ferrari (2013). Mit Bezug auf die italienischsprachigen Medienmitteilungen der Bundesver‐ waltung weist die Autorin etwa darauf hin, dass diese durch inkohärente Text‐ 218 Alessandra Alghisi strukturen, unangemessene Hierarchisierung der Inhalte sowie durch den un‐ zusammenhängenden sprachlichen Ausdruck der Verbindungen zwischen den Inhaltselementen gekennzeichnet seien: „In special modo per quanto riguarda lo stile e l’elaborazione della testualità, abbiamo visto così emergere problematiche quali la presenza troppo elevata della nominaliz‐ zazione sintagmatica, o ancora un controllo approssimativo della testualità, in molte sue componenti: segmentazione del testo nelle sue unità costitutive, loro gerarchiz‐ zazione ed espressione linguistica della loro connessione“ (Ferrari 2013: 40). Die vorliegende Auswertung bestätigt überdies die Ergebnisse anderer, nicht linguistisch orientierter Studien über die elektronische Kommunikation der Schweizer Behörden. In einer psychologisch ausgerichteten Untersuchung über den Zugang der Bürger zu den Behördenleistungen heben Heinz u. a. (2016: 1) hervor, dass die „Online-Prozesse […] aktuell teilweise zu kompliziert aufgebaut, schlecht verständlich und nicht standardisiert“ sind. Unterstellt wird hier, dass Standardisierung - eigentlich das Gegenteil von variatio delectat - ein sinnvolles Prinzip von Online-Kommunikation ist. Aus der schon erwähnten demoskopischen Studie zum E-Government in der Schweiz (Buess u. a. 2017; vgl. oben Kap. 3) hat sich schließlich ergeben, dass ein Anteil sowohl der Bevölkerung als auch der Unternehmen Schwierigkeiten hat, „die passenden Angebote der Behörden zu finden“ (ebd.: 58), und dass sich daher „eine übersichtliche Darstellung und gezielte Bekanntmachung von (be‐ stehenden) Angeboten“ (ebd.) anbietet. 6 Fazit Dank der massiven Verbreitung behördlicher Webseiten haben sich für die in‐ stitutionellen Akteure im Rechts- und Verwaltungsbereich neue Möglichkeiten des Wissenstransfers eröffnet. Fachspezifische Inhalte können heute einfach im Netz zur Verfügung gestellt werden. Damit das Potential der digitalen Entwick‐ lungen ausgeschöpft wird, müssen Wissenselemente und inhaltliche Zusam‐ menhänge auf Webauftritten so vermittelt werden, dass diese für die anvisierten Adressaten (Wohnbevölkerung, Öffentlichkeit, Stimmvolk) sowohl auffindbar als auch nachvollziehbar sind. Hypertexte müssen also Inhalte nicht nur in die Wahrnehmungs-, sondern auch in die Rezeptions- und Verstehensreichweite eines Laien bringen. Dabei handelt es sich allerdings um eine vielschichtige, extrem anspruchsvolle Aufgabe, die unterschiedlichen, teilweise sogar gegen‐ sätzlichen Anforderungen gerecht werden muss. Ebenso wenig wie der schlichte Eingriff in die Oberflächenmerkmale die Verständlichkeit bei Rechtstexten er‐ 219 Behördensprache im E-Government höht, bilden Informationsreduktion, syntaktische Vereinfachung oder die Kom‐ bination verschiedener Medien ein Wundermittel. Demnach kann eine erfolg‐ reiche fachexterne Vermittlung von Wissensinhalten im Internet nur dann zustande kommen, wenn man sich auf ein durchdachtes Konzept stützt, das alle Ebenen der Sprachen berücksichtigt, verschiedene Zeichensysteme bzw. Medien funktional miteinander kombiniert und auch Fragen der Usability (vgl. Antos u. a. 2011) der Webseiten sowie ihrem Textdesign (vgl. Bucher 2007) Aufmerk‐ samkeit schenkt. Dabei können die analytischen Instrumente der Textlinguistik einen Beitrag leisten zur Ermittlung der problematischen Aspekte, die den Aus‐ tausch zwischen Teilnehmern mit verschiedenen Wissensbeständen erschweren können (vgl. dazu Engberg / Luttermann 2014). Von den in diesem Kontext ge‐ wonnenen Erkenntnissen könnten die Behörden profitieren, indem sie diese beim Ausbau ihres E-Government-Angebots und bei der Weiterentwicklung an Bürger gerichteter, informativer Portale heranziehen und anwenden. Solche Er‐ kenntnisse könnten bei den jetzt häufig stattfindenden Relaunches von Web‐ seiten Berücksichtigung finden, die heute neue Verständnisprobleme aufwerfen. Diese hängen mit der Verwirrung und Orientierungslosigkeit zusammen, die die ständige Umstrukturierung von Hypertexten bei den Rezipienten bewirken kann. Literaturverzeichnis Quellen Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) vom 29. 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Das liegt vor allem daran, dass die meisten Textsor‐ tenbeschreibungsmodelle gegenwartsbezogen und damit nicht oder nur be‐ grenzt für die Analyse historischer Textsorten geeignet sind. Ein für sprachhistorische Kontexte passendes Beschreibungsinstrumenta‐ rium vorzustellen, ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Leitend soll dabei die Frage sein, wie es gelingen kann, eine historische Textsortenanalyse so an‐ zulegen, dass einerseits charakteristische Merkmale einer Textsorte herausge‐ arbeitet werden und andererseits gleichzeitig interessante Abweichungen und Variationen nicht unter den Tisch fallen. Dafür werden in einem ersten Schritt einige der bisherigen Beschreibungs‐ ansätze betrachtet und auf ihre Passung für historische Kontexte hin untersucht (Kap. 2). Aus den Ergebnissen dieser Betrachtung soll in einem zweiten Schritt 1 Einen detaillierten und aktuellen Überblick zur Geschichte der Textlinguistik, gängiger Ansätze und zum Stand der Forschung bietet Adamzik (2016). ein für historische Textsorten ausgelegtes Modell abgeleitet werden (Kap. 3). Dessen Beschreibungsdimensionen werden nacheinander dargestellt und je‐ weils direkt im Anschluss anhand einer historischen Fachtextsorte, nämlich medizinischen Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts, exemplifiziert. 2 Bisherige Ansätze Seitdem sich die Textlinguistik Ende der 1960er Jahre als eigener Forschungs‐ zweig etablieren konnte, bestand auch ein Interesse daran, verschiedene Klassen von Textexemplaren zu beschreiben und zu erfassen. Neben die synchrone trat bald auch die diachrone Perspektive und man forderte, Textsorten auch in der Sprachgeschichte stärker zu berücksichtigen (vgl. Schenker 1977). Doch auch 40 Jahre nach der erstmaligen Formulierung dieses Desiderats ist man noch weit davon entfernt, eine Sprachgeschichte als Textsortengeschichte entwerfen zu können. Der Schwerpunkt der Forschung liegt nach wie vor in der Gegenwart und es sind bisher nur wenige Arbeiten in der historischen Textlinguistik er‐ schienen (vgl. u. a. Fleskes 1996; Bendel 1998; Barz u. a. 2000; Ziegler 2003; Braun 2004; Pfefferkorn 2005; Bieberstedt 2007; Fritz 2013, 2016). Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur. Am schwersten wiegen wohl die methodischen Schwie‐ rigkeiten: Lässt sich das Phänomen ‚Text‘ schon für die Gegenwart nur sehr schwer erfassen, potenzieren sich diese Probleme unter historischen Vorzeichen noch, denn im Vergleich zur Gegenwart begegnet man hier einem noch größeren Variationsspektrum. Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Forschende nicht mehr auf die eigene Sprachkompetenz verlassen kann, sondern sich den sprach- und kulturhistorischen Horizont erst mühsam erarbeiten muss. Dieser Erschlie‐ ßungsprozess gestaltet sich umso aufwendiger, je weiter die Sprachstufe von der Gegenwart entfernt ist. Da bisher auch nur in sehr begrenzter Zahl ent‐ sprechend aufbereitete historische Textkorpora zur Verfügung standen, mussten Forschende außerdem viel Zeit und Mühe in den Aufbau eines eigenen Korpus investieren. Und schließlich dürfte auch die Gegenwartszentriertheit bisheriger Textsortenbeschreibungsmodelle hemmend gewirkt haben. Welche Faktoren müssen bei der Beschreibung von Textsorten berücksichtigt werden? Werfen wir dafür zunächst einen Blick auf bisherige Modelle. 1 Gängige 228 Bettina Lindner 2 Zu den am weitesten verbreiteten Definitionen zählen die von Klaus Brinker und Wolf‐ gang Heinemann, vgl. Brinker u. a. (2014: 139) und Heinemann (2000a: 513). Daneben existiert eine Reihe von alternativen Bezeichnungen für den Gegenstand, z. B. Texttyp, Textart, (kommunikative) Gattung oder v. a. in der romanistischen Linguistik Diskurstradition, vgl. auch Adamzik (2016: 327-333). 3 Vgl. zu den verschiedenen, z. T. widersprüchlichen Ansätzen Adamzik (2016: 173-206). Um den Widersprüchen und Unstimmigkeiten der verschiedenen Konzepte zu ent‐ gehen, hat Adamzik sehr plausibel vorgeschlagen, den Begriff Funktion / funktional möglichst weit zu fassen: „Darunter soll hier nämlich alles als subsumierbar gelten, was eine sinnvolle Antwort auf die Frage ist, wozu Texte produziert und rezipiert werden oder was Sprachbenutzer mit Texten machen.“ (Adamzik 2004: 111). Textsortendefinitionen 2 beschreiben Textsorten als eine begrenzte Menge von Textexemplaren mit spezifischen Gemeinsamkeiten auf mehreren Ebenen. Diese sind zugleich auch die zu berücksichtigenden Beschreibungsdimensionen. Dazu zählen die situativen Bedingungen, also die Kommunikationssituation im engeren Sinne, d. h. Kommunizierende (wer mit wem? ), soziale Rollen (in wel‐ chem Verhältnis zueinander? ), Medium (mündlich oder schriftlich? ) sowie die räumlich-zeitliche Orientierung der Kommunikation. Darüber hinaus soll die Textfunktion 3 Berücksichtigung finden, genauso wie Thema und Themenent‐ faltung (auch Vertextungsstrategie), Struktur- und Formulierungsmuster (welche Textstrukturen sind typisch, welche Formulierungen kehren regel‐ mäßig wieder? ) sowie die äußere Textgestalt bzw. das Layout. Hinsichtlich der Berücksichtigung und Abbildung von Variationen er‐ scheinen diese Ansätze weniger geeignet. Sie sind darauf ausgelegt, das Typi‐ sche, allen Textexemplaren Gemeinsame herauszuarbeiten. Variationen werden als Abweichungen vom Typischen bewertet und sogar als Problem angesehen. So schreiben Heinemann / Viehweger bedauernd: „Im Grunde gleicht kein Text einem anderen. Selbst bei mehrmaliger Gestaltung der‐ selben kommunikativen Aufgabe durch denselben Textproduzenten (unter annähernd gleichartigen situativen Bedingungen) entsteht nur in extremen Ausnahmefällen die‐ selbe einzelsprachliche Textformulierung. Daraus ist abzuleiten, daß sich Textformu‐ lierungen im Grunde einer Verallgemeinerung, einer Typen- oder Musterbildung ent‐ ziehen.“ (Heinemann / Viehweger 1991: 164) Genauso wenig sind Textproduzenten aber völlig frei in ihren Formulierungen. Aus diesem Umstand schließen die Verfasser, dass es, bei aller Variation, eben doch so etwas wie Muster der Textformulierung geben müsse (vgl. ebd.: 164 f.). Um diese Muster, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Formulieren zweier unterschiedlicher Vertreter derselben Textsorte bedingen, erfassen und 229 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten 4 Vgl. hierzu Janz (1995). erklären zu können, müssen die metakommunikativen Wissensbestände der Kommunizierenden berücksichtigt werden. So fordert Heinemann: „Jede Typologie (auch eine Klassifikation mit nur geringem Geltungsbereich) sollte an das konventionelle Alltagswissen der Kommunizierenden über Textsorten an‐ knüpfen, mit ihm kompatibel, zumindest aber darauf beziehbar sein (da dieses Text‐ musterwissen des Alltags kondensierte Erfahrungen der Handelnden bei der erfolg‐ reichen Bewältigung kommunikativer Aufgaben reflektiert“ (Heinemann 2000b: 537). Betrachtet man die oben genannten, für die Beschreibung von Textsorten als relevant akzentuierten Beschreibungsdimensionen, stellt man aber fest, dass dort die metakommunikativen Wissensbestände nicht als eigene Beschrei‐ bungsdimension vorgesehen sind. In den meisten Untersuchungen spielt dieser Aspekt denn auch keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das liegt ver‐ mutlich daran, dass die meisten Untersuchungen, wie schon erwähnt, gegen‐ wartsorientiert sind und dass die untersuchenden Wissenschaftler über zumin‐ dest (teil-)identische metakommunikative Wissensbestände verfügen wie die Textproduzenten und -rezipienten der untersuchten Textsorten. Es liegt des‐ wegen nicht sehr nahe, dies zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. In historischen Kontexten stellt sich die Situation aber anders dar, so dass gerade bei diesem Punkt, das sei vorweggenommen, wichtige Modifikationen in einem Modell für historische Textsorten notwendig erscheinen. 3 Das Modell Die Abbildung 1 veranschaulicht das hier vorgestellte Beschreibungsmodell. Liest man von links oben nach rechts unten, gleicht die Beschreibung einem Heranzoomen an den Gegenstand. Die Verwendung des Begriffs prototypisch verdeutlicht, dass von Textsorten als Prototypen 4 ausgegangen wird, d. h. nicht jeder Vertreter der Textsorte muss alle Merkmale aufweisen. Ziel des hier vor‐ gestellten Modells ist es, sowohl das ,Typische‘ herauszuarbeiten als auch das Variantenspektrum auf den einzelnen Beschreibungsebenen hinreichend zu be‐ schreiben. Anders als es die hier gewählte Darstellung vielleicht nahelegt, sind die einzelnen Beschreibungsebenen nicht immer so deutlich voneinander zu trennen. Sie überlappen und bedingen sich wechselseitig, was die Pfeile zwi‐ schen den Dimensionen andeuten sollen. 230 Bettina Lindner 5 Zu den mannigfaltigen Problemen bei der Zusammenstellung eines Korpus für histo‐ rische Fragestellungen vgl. Niehaus (2016: 34-39); weiterführende Überlegungen zur Balance, Repräsentativität und zu Korpusgrößen sind an anderer Stelle überzeugend angestellt worden, vgl. z. B. Schulz (2007); Bubenhofer (2013) oder Lemnitzer (2015). Abb. 1: Modell zur Beschreibung historischer Textsorten Die Basis aller Untersuchungen, egal ob mit quantitativer oder primär qualita‐ tiver Ausrichtung, sollte, hier in der Mitte des Modells angesiedelt, ein Korpus konkreter Textexemplare sein. 5 Forschende stehen allerdings vor nicht zu un‐ terschätzenden methodischen Problemen beim Korpusaufbau: Zwar gibt es durchaus Textsorten, die bis in die Gegenwart existieren und sich strukturell wie funktional kaum oder gar nicht verändert haben, wie beispielsweise (Koch- 231 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten 6 Für eine ausführliche Analyse der Textsortenklasse vgl. Lindner (2018). 7 Den Ausführungen liegen die Begriffsdefinitionen von Wolfgang Heinemann (2000a: 513 f.) zu Grunde. 8 Solche Fallsammlungen sind von (medizin-)historischer Seite gut erforscht. Einen ersten Überblick zu den Spezifika bietet der Medizinhistoriker Michael Stolberg (2007). Vor allem die Geschichts- und Literaturwissenschaft haben diese Texte in den letzten Jahren als wichtige Quellen für unterschiedliche Fragestellungen entdeckt, vgl. z. B. Fischer-Homberger (1988); Geyer-Kordesch (1990); Lorenz (1999); Müller / Fangerau (2010); Pomata (2010); Daston (2011); Daston / Lunbeck (2011); Berndt / Fulda (2012); Behrens / Zelle (2012); Wübben / Zelle (2013); Düwell / Pethes (2014). oder Arzneimittel-)Rezepte. Hier erscheint es unproblematisch, sich bei der Textauswahl vom modernen Textverständnis leiten zu lassen. Viele Textsorten existieren in der Sprachgeschichte aber nur für einen bestimmten Zeitraum, verändern sich funktional-strukturell oder gehen in anderen Textsorten auf, so‐ bald sich die kommunikativen Verhältnisse ändern und die Sprachteilnehmer sie nicht mehr für die Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben heran‐ ziehen. Zu denken wäre hier beispielsweise an Ablassbriefe, Pesttraktate oder Mirakelbücher. Hat man es mit einer solchen Textsorte zu tun, hilft es, sich an den Hinweisen zu orientieren, die uns die Zeitgenossen hinterlassen haben: Welche alternativen, gegebenenfalls auch fremdsprachigen Textsortenbenen‐ nungen finden sich, nach denen anschließend recherchiert werden kann (z. B. in den Texten selbst oder in den Titeln der herausgebenden Werke)? Welche intertextuellen Bezüge lassen sich feststellen? Ab dem 17. Jahrhundert finden sich nämlich immer mehr Verweise auf andere Texte, in deren Tradition sich die Verfasser sehen, die sehr oft auch derselben oder einer nah verwandten Text‐ sorte zuzurechnen sind. Welche Texte wurden gemeinsam publiziert, weil sie als zusammengehörig empfunden wurden? Auf diese Weise kann eine rein auf modernen Kategorien basierende Textauswahl vermieden werden. Im Folgenden sollen nun die einzelnen Beschreibungsdimensionen in den Blick genommen werden. Die theoretischen Überlegungen werden im An‐ schluss an den jeweiligen Kapitelabschnitt exemplifiziert. Als Beispiel dienen medizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, eine vollständige Analyse zu bieten, 6 sondern es sollen die Möglichkeiten des obigen Modells aufgezeigt werden. Vorab erscheinen einige Bemerkungen zur Wahl dieser Textsortenklasse 7 angebracht. Medizinische Gutachten empfehlen sich in gleich mehrerer Hin‐ sicht für eine historische Textsortenanalyse. Sie sind in großer Zahl auf uns gekommen, denn viele Ärzte dieser Zeit veröffentlichten Fallsammlungen, 8 in denen sie ihnen relevant und lehrreich erscheinende Fälle und die dazugehö- 232 Bettina Lindner 9 Den Begriff der Paratexte hat der Literaturwissenschaftler Gérard Genette für Texte wie Titelblätter, Indices, Widmungen, Vorworte und Nachworte etabliert; erst durch sie werde „ein Text zum Buch“ (Genette 2008: 10); allerdings legt er ein sehr weites Be‐ griffsverständnis zu Grunde, das auch Texte außerhalb des Buches umfasst, wie z. B. Rezensionen und Werbung. renden Gutachten zusammenstellten. Die Überlieferung in dieser Form hat gleich mehrere Vorteile. Der gewichtigste ist, dass es sich dabei um ein Text‐ korpus sui generis handelt. Es sind allein die Zeitgenossen, die diese Texte als zusammengehörig bewertet und zusammengestellt haben. Dadurch ergeben sich keine der eben beschriebenen methodischen Probleme, die durch eine mo‐ derne, im Nachhinein durch den Forscher vorgenommene Zuschreibung ent‐ stehen könnten. Solche Sammlungen waren von ihren Herausgebern, meist akademisch gebildeten Ärzten aus dem ostmitteldeutschen Raum, als Lehrwerke für junge Ärzte konzipiert, d. h. die so publizierten Texte können als typische, den Vorstellungen der Zeitgenossen entsprechende Exemplare der Textsorte gelten. In den Paratexten 9 der Sammlungen, also in Vorworten und Glossaren und in den Kommentaren zu den Gutachten finden sich außerdem teilweise recht ausführliche Einlassungen über deren ideale sprachliche Ausgestaltung, die in die sprachwissenschaftliche Analyse einbezogen werden können. Die Zeitgenossen unterscheiden drei verschiedene Textsorten, die Ende des 18. Jahrhunderts den medizinischen Gutachten zugerechnet werden, nämlich erstens Berichte, das sind Texte, die die im Auftrag der Obrigkeit durchgeführte Untersuchung eines Leichnams oder eines Kranken dokumentieren; zweitens Gerichtsgutachten, in denen Mediziner Auskunft zu konkreten Fragen von Richtern geben und diesen eine Entscheidungsgrundlage bieten, und drittens Consilia, das sind an Patienten adressierte Ratschläge, die Strategien zur Heilung eines Leidens oder zur Ansteckungsvermeidung vermitteln wollen. Die Zuord‐ nung zu einer dieser Textsorten ist nicht immer eindeutig, es ergeben sich zahl‐ reiche Überschneidungen, und Mehrfachzuordnungen sind möglich. 3.1 Kulturhistorischer Kontext Als erster Schritt einer Textsortenbeschreibung erscheint die (kurze) Darstel‐ lung des kulturhistorischen Kontextes sinnvoll. Um diesen Aspekt nicht unnötig aufzublähen, empfiehlt es sich, dabei wirklich nur oder vor allem solche Aspekte zu berücksichtigen, die dem Verständnis der Textsorte dienen und/ oder Aus‐ wirkungen auf die Kommunikation haben. Für das Verständnis medizinischer Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts ist es beispielsweise unerlässlich zu wissen, dass die Medizin der Zeit noch an den antiken humoralpathologischen Vorstellungen orientiert ist, also die Viersäfte‐ 233 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten 10 Vgl. zur Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts die Überblicksdarstellungen von Pfeifer (2000) und Eckart (2011). lehre eines Hippokrates und Galens vertritt. Einflussreiche Ärzte der Zeit sind im deutschsprachigen Raum u. a. Georg Ernst Stahl und Friedrich Hoffmann, die auch medizinische Gutachten verfasst haben. Relevant sind diese Informa‐ tionen deshalb, weil in diesem außersprachlichen Bereich oft die Gründe für in den Textsorten vorkommende Variationen liegen: So waren die beiden eben er‐ wähnten Mediziner Stahl und Hoffmann Vertreter unterschiedlicher medizinischer Strömungen. Stahl war Animist und vertrat die Ansicht, die Seele be‐ wege den Körper, Hoffmann dagegen war Anhänger der Iatrophysik und be‐ fürwortete ein Konzept, das den Körper als Maschine begreift (z. B. die Lunge als Blasebalg, die Leber als Sieb etc.). 10 Beide Strömungen entwickelten eigene Terminologien und in zur selben Textsorte gehörenden Textexemplaren finden sich durchaus gravierende Unterschiede in der (Fach-)Lexik. Wichtig für das Textsortenverständnis ist auch die Tatsache, dass die Ärzte‐ dichte im Untersuchungszeitraum sehr gering war und weite Teile des deutsch‐ sprachigen Raumes medizinisch nur unzureichend versorgt waren. Die schrift‐ liche Konsultation war deswegen weit verbreitet und Ferndiagnosen wurden, anders als heute, nicht als problematisch bewertet, da die Behandlung nach zeitgenössischem Verständnis nicht die physische Anwesenheit des Patienten voraussetzte. Darüber hinaus waren studierte Ärzte im Untersuchungszeitraum nicht wie heute weitgehend unumstrittene Experten ihres Faches, sondern standen in einem Konkurrenzverhältnis zu einer Reihe handwerklicher Heil‐ kundiger, gegen die sie sich durchsetzen mussten. Dieser Umstand hatte bei‐ spielsweise Auswirkungen auf die Wahl der Vertextungsstrategie und führte dazu, dass sich die Mediziner in den Gutachten genötigt sahen, immer wieder durch verschiedene textliche Verfahren die eigene Kompetenz zu betonen. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts konnten Ärzte im Zuge der zunehmenden Medi‐ kalisierung ihre Position auf dem Gesundheitsmarkt ausbauen und festigen. All diese Umstände gilt es, bei der weiteren Analyse zu beachten. 3.2 Kommunikationssituation Den nächsten Analyseschritt stellt die Beschreibung der Kommunikationssi‐ tuation dar. Im Verhältnis zu den gegenwartsorientierten Modellen fällt dieser Aspekt hier deutlich umfangreicher aus. Neben den ‚klassischen‘ Beschrei‐ bungskriterien von Produzent und Rezipient, deren sozialen Rollen und medi‐ alen Aspekten sind hier zusätzlich die metakommunikativen Wissensbestände angesiedelt. Leitend sollten dabei Fragen danach sein, welche Kriterien geltend 234 Bettina Lindner gemacht werden, um einen ‚guten‘ von einem ‚schlechten‘ Vertreter einer Text‐ sorte unterscheiden zu können. Welche Prinzipien leiten die Textproduktion? Welche stilistischen Merkmale werden als vorbildlich akzentuiert? Welche Er‐ wartungen hat der Textrezipient? Es stellt sich natürlich generell die Frage, wie solche metakommunikativen Wissensbestände überhaupt greifbar werden. Hier erweist es sich als großer Vorteil, dass die historische Textproduktion und Textrezeption stark von den Prinzipien der klassischen Rhetorik geleitet waren. Die ars bene dicendi erfuhr zwar immer wieder Modifikationen und Transformationen (vgl. u. a. Till 2004), behielt aber bis in das 19. Jahrhundert hinein ihre Geltung. Allgemeine anleitende Texte wie Rhetorikhandbücher, Sprachlehrbücher oder Briefsteller ermöglichen daher Einblicke in die jeweils zu einer Zeit favorisierten Stilideale. Das heißt freilich nicht, dass nicht auch andere Prinzipien die Textgestaltung beeinflusst haben. Hier gilt es, sich nicht nur auf die Rhetorik zu beschränken, sondern den Blick auch für andere Aspekte offen zu halten: So finden sich nicht selten metakommunikative Äußerungen in den Text‐ sorten selbst oder in Paratexten, also in Vorworten, Nachworten, Kommentaren, Lexika oder Rezensionen. Die Untersuchung dieser Äußerungen verspricht wichtige Informationen über die die Textproduktionen leitenden Regeln, Inten‐ tionen und Erwartungen. Als einen weiteren möglichen Ansatzpunkt empfiehlt Klein in seinen zunächst auf die Gegenwartssprache bezogenen Überlegungen Textsortenanleitungen: „Das Wissen über den (üblichen, prototypischen) Aufbau einer Textsorte wird gele‐ gentlich in Textsortenanleitungen explizit gemacht und dadurch bis zu einem ge‐ wissen Grad auch normiert. […] In Textsortenanleitungen kann man demgemäß ko‐ difizierte Normen sehen, in denen sprachliche Regularitäten aufgegriffen und verfestigt werden. Solche Anleitungen werden in der Regel nicht von Sprachwissen‐ schaftlern, sondern von (Pseudo-? )Experten aus dem jeweiligen Kommunikationsbe‐ reich verfasst. Sie zielen offensichtlich darauf ab, dass bei ihrer Lektüre die Textsor‐ tenkompetenz der Leser gestützt und reflexiv ausgebaut wird.“ (Klein 2012: 14) Arbeiten wie etwa Konopka (1996) und Takada (1998), die diese berücksich‐ tigten, würden zeigen, dass sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Sprachentwicklung haben - und das durchaus auch in historischer Dimension (vgl. Klein 2012: 16). Die Existenz von Textsortenanleitungen ist außerdem ein wichtiges Indiz dafür, dass sich eine Textsorte etabliert hat. Ähnlich aufschlussreiche Erkenntnisse verspricht sich die historisch orien‐ tierte Forschung von der Analyse zeitgenössischer Textsortenbenennungen. Der Rückgriff auf sie sei, so Hertel, vor allem deswegen wichtig, 235 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten „weil sich aus ihrem Vorkommensspektrum Antworten auf wichtige sprachgeschicht‐ liche Fragen finden lassen. Die Schreiber/ Verfasser agierten auf der Basis ihrer auf durchaus unterschiedlichem Wege erlangten Textsortenkompetenz und geben uns damit etwas vom Textsortenwissen ihrer Zeit preis, sie öffnen uns ein Fenster und gestatten uns einen Blick in ihre Textwelt. Sie eröffnen uns gleichzeitig einen Blick auf ihre Adressaten und deren Sprachwissen, denn mit der Verwendung bestimmter Textsortenbezeichnungen ist ja die Erwartung verbunden, daß diese den Adressaten bekannt sind und ihnen eine allgemeine Orientierung über den Umgang mit dem Text geben können.“ (Hertel 2000: 323) Schon um fragwürdige Übertragungen gegenwartssprachlicher Benennungen zu vermeiden, erscheint eine eingehende Analyse der zeitgenössischen Bezeich‐ nungen sinnvoll. Wie lassen sich nun die kommunikativen Bedingungen für die Produktion medizinischer Gutachten beschreiben? Typischerweise wurden die Gutachten in Auftrag gegeben, es sind also reaktive Textsorten. Als Verfasser fungierten sowohl einzelne Ärzte als auch Autorenkollektive, die sich aus Angehörigen medizinischer Fakultäten oder Collegia Medica konstituierten. Charakteristisch ist die zeitliche und räumliche Trennung zwischen Emittent und Rezipient, was nicht zuletzt mit der schon erwähnten geringen Ärztedichte zu tun hat. Die Frage nach den sozialen Rollen ist bei den Gutachten gar nicht so leicht zu be‐ antworten und bedarf des Rückgriffs auf den kulturhistorischen Kontext. Wie schon kurz angedeutet, ist der studierte Arzt im 18. Jahrhundert noch nicht un‐ bestrittener Experte, sondern steht in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen, eher handwerklich orientierten Heilkundigen. Der textproduzierende Medi‐ ziner ist finanziell sehr abhängig von seinen Patienten und muss den Rezipienten von seinem Vorschlag und seiner Haltung überzeugen. Nur berühmte Mediziner, wie die schon erwähnten Hallenser Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl, konnten aus einer überlegenden Position heraus kommunizieren. Die metakommunikativen Wissensbestände lassen sich folgendermaßen skizzieren: Wie die gesamte Textproduktion der Vormoderne sind auch die Gut‐ achten vor allem rhetorisch geprägt, denn die ars bene dicendi ist fester Be‐ standteil des universitären Curriculums und rhetorische Prinzipien kommen sowohl auf makroals auch mikrostruktureller Ebene zum Tragen. Dass die allgemeinen Rhetoriklehrwerke den medizinischen Kommunikationsbereich durchaus mitbedacht haben, zeigt ein Zitat aus der primär für Theologen kon‐ zipierten Anweisung zur Verbesserten Oratorie Andreas Hallbauers von 1725: 236 Bettina Lindner 11 Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon ist das umfangreichste enzyklopädische Werk des 18. Jahrhunderts in Europa. „[e]in Medicus kann die Oratorie nicht nur brauchen, wenn er dem Patienten die bittere Arʒeneyen durch ſuͤſſe Worte einſchwatʒet; ſondern vornemlich, wenn er von der Beſchaf‐ fenheit der Kranckheit einen Bericht aufſetʒen ſoll.“ (Hallbauer 1725: 208) Oft bieten diese anleitenden Texte schon Anhaltspunkte hinsichtlich textlicher Variationen. So führt beispielsweise Hallbauer in seiner Oratorie in lapidarer Form aus: „Das exordium [d. i. die Einleitung, Anm. B. L.] kann da oder nicht da ſeyn: oft wird es beſſer ſeyn, gleich mit dem Vortrage auf eine pathetiſche und unvermuthete Art anʒufangen.“ (Hallbauer 1725: 460) Im 17. und 18. Jahrhundert werden die rhetorischen Stilideale der ‚Kürze‘, ‚Deut‐ lichkeit‘ und ‚Klarheit‘ bevorzugt. Die Begriffe wirken erst einmal recht vage und sind auch nicht ganz leicht zu konkretisieren. ‚Kürze‘ bezieht sich nicht nur auf die Gesamtlänge des Textes, sondern auch auf die Satzlänge in Abgrenzung zur ausufernden barocken Syntax. ‚Deutlichkeit‘ und ‚Klarheit‘ betreffen sowohl die Textstrukturierung als auch die Lexik. Diese Gütekriterien werden auch auf die Gutachten angewandt, d. h. in den zahlreich überlieferten Textsortenanlei‐ tungen und Vorworten empfiehlt man, die Gutachten kurz, deutlich und klar zu verfassen, und man behauptet auch von sich selbst als Herausgeber oder Ver‐ fasser der Gutachten, dass die eigene Schreibart kurz, gut und deutlich ist: So charakterisiert Friedrich Hoffmann (1728: Vorrede, unpaginiert) seine ei‐ gene Schreibart als „kurtʒ, deutlich und gruͤndlich […] ohne weitlaͤufftige allegata und rationes nihil concludentes“ und ermahnt seine Leser in der Vorrede zur Sammlung seines Schülers Christian Gottlieb Troppanneger (1733: Vorrede, un‐ paginiert): „[Der Arzt muss] [...] die Antwort darauff deutlich, kurtʒ, wohlgegruͤndet, und bewieſen abfaſſen, keine Argumenta probabilis anfuͤhren, oder aus Opinionibus und Allegatis die Sache decidiren.“ Neben diesen vagen, sehr allgemein gehaltenen Hinweisen zur Ausgestaltung medizinischer Gutachten finden sich aber auch erstaunlich konkrete und de‐ taillierte Mustertexte wie im folgenden, sehr ausführlichen Artikel in Zedlers Universallexikon, 11 in dem ein idealer Beispielbericht präsentiert wird. Dass medizinische Gutachten hier überhaupt erscheinen, zeugt von deren Bedeutung im Wissensgefüge der frühmodernen Gesellschaft: 237 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten 12 Vgl. https: / / www.zedler-lexikon.de/ index.html? c=blaettern&id=33783&bandnummer= 03&seitenzahl=0760&supplement=0&dateiformat=1%27); [letzter Zugriff 01.08.2017]. Im originalen Beitrag ist der Bericht jeweils am linken Rand der Zeilen durch Anfüh‐ rungszeichen als Zitat markiert, jedoch ohne Angabe einer Quelle. Der besseren Les‐ barkeit wegen sind diese hier getilgt. 13 Eine detaillierte Analyse bietet Lindner (2018). „Demnach ſcheinen die vornehmſten Stuͤck eines Atteſtats oder Berichts dieſe ӡu ſeyn: nemlich die rechtmaͤßige Erforderung; eine genaue Section des Coͤrpers; eine ӡulaͤngliche Beſchreibung der Wunde; ein ungefaͤlſchtes Urtheil uͤber deren Beſchaffenheit und ei‐ genhaͤndige Unterſchrifft; alſo, daß die Formul eines ſolchen Atteſtates ſo eingerichtet werden kann, wie folget: Auf beſchehene Requiſition der Obrigkeit (hier muß die Obrigkeit des Orts benennet werden) haben wir ӡu End genannte heute dato N.N. Welcher an einer empfangenen Wunde, (Schlage, Schuſſe) geſtern Abend (oder wenn es ſonſt geſchehen) verſtorben, beſichtiget, und bey Eroͤffnung des Coͤrpers befunden, daß demſelben in die lincke Bruſt, ӡwiſchen der fuͤnft und ſechſten Rippe, untern der Wartӡe, ein Stich, aͤuſſer‐ lich eines Gliedes lang, beygebracht worden, welcher durch die Muſculis Thoracis, Pleuram, Pulmones, und Pericardium, in den Siniſtrum cordis ventriculum, und durch denſelben bey der ſechſten Vertebra Thoracis wieder herausgegangen, wobey denn eine groſſe Menge Gebluͤts in dem Thorace ӡu finden geweſen. Weil nun durch dieſen Stich ӡufoͤrderſt das Hertӡ, als das edelſte Glied menſchlichen Leibes, ſehr tief verwundet, und hierdurch nicht allein ſeiner Subſtantӡ nach heftig verletӡet, ſondern auch der Siniſter ventriculus durchſtochen, und dahero das Hertӡ=Gebluͤte, nebſt denen Lebens=Geiſtern haͤuffig extravaſirt und entgangen, ſolches auch durch kein Mittel ӡu ſtillen geweſen: Als iſt ſolche Wunde, denen Grundſaͤtӡen der Anatomie und Chirurgie gemaͤß, pro ſimplici-ter & abſolute lethali ӡu halten, und hat der Verwundete nothwendig daran umkommen und ſterben muͤſſen, welches wir hiermit unter unſerer eige-ner Hand adteſtiren, und beӡeugen wollen. So geſchehen rc.rc.rc. N.N. Med. Doctor. N.N. Barbirer und Wund=Arӡt.“  12 Aufschlussreich ist auch die Auswertung der Textsortenbenennungen in Samm‐ lungstiteln, zeitgenössischen Lexika, Vorworten, Textsortenanleitungen und im Korpus. Die tabellarische Darstellung aller vorgefundenen Textsortenbezeich‐ nungen veranschaulicht bereits das breite Spektrum an Variation. 13 Eine diese Variationen abbildende Herangehensweise ermöglicht so auch Erkenntnisse über den Etablierungsprozess von Textsorten(benennungen). Die Entwicklung der Gutachten darf als typisch gelten: Am Anfang des Untersuchungszeitraumes konkurrieren sehr viele unterschiedliche Textsortenbenennungen miteinander, v. a. bei den Berichten ist das sehr augenfällig. Mit der zunehmenden Etablierung der Textsorte setzt sich dann aber gegen Ende des Untersuchungszeitraumes Gutachten für alle Textsorten der Textsortenklasse als Benennung durch. Das Variantenspektrum verringert sich also deutlich . 238 Bettina Lindner 14 Vgl. beispielsweise Elspaß (2005), der dies am Alltagsdeutsch in Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts gezeigt hat. Berichte Gerichtsgutachten Consilia Chirurgische Berichte, Wund=Zettel, Relatio, Entſchuldi‐ gungsberichte, Taxirungsberichte, Obductions-Atteſta, Sentiment, Gut‐ achten, Obductions-Receſſe, Beſich‐ tigungs=Zeugniß, Viſum repertum, Wundſchein, Fundſchein, Obducti‐ onsbericht, Iudicium Medicum, Sec‐ tions=Gutachten Bedencken, Reſponſum, Gutachten, Sentiment, Iudi‐ cium medicum Bedencken, Reſponſum, Gut‐ achten, Conſilium, Iudicium Tab. 1: Textsortenbenennungen für medizinische Gutachten 3.3 Prototypische Textsortenmerkmale Kommen wir nun zu den beiden letzten Beschreibungsaspekten des Modells, die das Kernstück darstellen: den prototypischen Textsortenmerkmalen. Zu berück‐ sichtigen sind zwei Teilbereiche, nämlich makrostrukturelle und mikrostruktu‐ relle Formulierungsmuster. Unter Formulierungsmuster verstehen wir mit Heinemann / Viehweger (1991: 166) „alle sprachlichen Einheiten […], die als ‚vorgegebenʻ, ‚vorformuliertʻ bzw. ,beispielhaftʻ verstanden werden können“. Der Schreibstil der Bevölkerung ist bis weit in das 19. Jahrhundert hinein konventioneller und musterhafter gewesen als heute. 14 Will man diesem Um‐ stand gerecht werden, müssen Textmuster und formelhafte Wendungen als konstituierende Merkmale historischer Textsorten in den Analysen hoch ge‐ wichtet werden. Da, so Stein (vgl. 1995: 301), das Verfassen von Texten dem Verfasser schöpferische Aktivitäten, einen Problemlöseprozess, abverlangt, ver‐ schafft der Einsatz von Formulierungsroutinen kognitive Entlastung. Dieser Einsatz könne sowohl im Rekurs auf fertige Formulierungen als auch in der Aktivierung eines Textkompositionsmusters bestehen. Stein (ebd.) schlägt vor, zwischen sprachlichen Routinen und konzeptionellen Routinen zu unterscheiden. Erstere seien mikrostrukturelle, letztere makrostrukturelle Verfestigungen. 239 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten 15 Ein vergleichbares, nicht weniger plausibles Konzept hat z. B. Gerd Fritz (vgl. 2013: 35- 43) mit den „funktionalen Textbausteinen“ vorgelegt. Auch hier ist die Idee leitend, dass bestimmte kommunikative Aufgaben / Handlungen immer wieder auftreten und mittels unterschiedlich großer sprachlicher Einheiten, den besagten funktionalen Textbausteinen (Abschnitt, Paarsequenzen von Sätzen, Satz, Ausdrücke unterhalb der Satz‐ ebene) erfüllt werden können. Dieser Ansatz würde sich gleichermaßen für die Analyse historischer Textsorten eignen, wird hier aber nicht weiterverfolgt. Dieses Konzept, das nur eines von mehreren möglichen darstellt, 15 kommt nun bei der Untersuchung der Textexemplare zur Anwendung: Alle Texte des Korpus werden in diesem Schritt miteinander verglichen und auf makro- und mikro‐ strukturelle Routinen hin untersucht. Dabei sollte auch das zwischen ihnen be‐ stehende Dependenzverhältnis berücksichtigt werden. Die Ergebnisse aus den anderen Beschreibungsdimensionen können dabei wichtige Anhaltspunkte geben: Entsprechen die vorgefundenen Verfestigungen dem Textsortenideal der Zeit oder ergeben sich Abweichungen? Welche Routinen sind der Kommuni‐ kationssituation im engeren Sinne geschuldet und z. B. mit dem Verhältnis von Textproduzent und Rezipient zu erklären? In der Grundausrichtung ist das vor‐ gestellte Modell also korpusbasiert gedacht. Mit den immer zahlreicher zur Ver‐ fügung stehenden historischen Korpora ist aber auch eine Corpus-driven-Her‐ angehensweise denkbar, also eine Methode, bei der induktiv aus dem Beobachteten Regeln abgeleitet werden. So hat Bubenhofer (2009: 303) anhand mehrerer, allerdings gegenwartsorientierter Analysen von Zeitungskorpora ge‐ zeigt, dass „sich eine Vielzahl von Mustern der Textoberfläche als typisch für bestimmte Textsorten erweist.“ Zukünftige Studien werden zeigen, wie gut diese Vorgehensweise auch in historischen Kontexten angewandt werden kann. Wie grob- oder feinkörnig eine Analyse dabei sein muss, lässt sich nicht pauschal sagen. Auf allen sprachlichen Ebenen sind typische Merkmale denkbar. Auch diese Überlegungen sollen am Beispiel der medizinischen Gutachten veranschaulicht werden. Wir beschränken uns hier aus Platzgründen auf einen Aspekt der Analyse, nämlich die Makrostrukturen medizinischer Gutachten. Bei den medizinischen Gutachten handelt es sich im Allgemeinen um öffentliche, im Verwaltungsbereich verfasste Schreiben. Die Textproduzenten orientierten sich also an den rhetorischen Dispositionsschemata für Urkunden und Briefe, die in Formularbüchern und Briefstellern beschrieben und vermittelt wurden (vgl. hierzu auch Furger 2010). Die Makrostrukturen aller hier untersuchten Textsorten weisen sowohl Ele‐ mente aus dem rhetorischen Dispositionsschema des Briefes als auch aus dem der idealen Urkunde auf. Augenfällig ist, dass nicht ein gültiges Schema ange‐ wandt wurde, sondern wir verschiedenen Varianten auch innerhalb einer Text‐ 240 Bettina Lindner sorte begegnen. Dabei lassen sich aber Präferenzen und Tendenzen ausmachen: Je offizieller der Charakter der Texte ist und je stärker sie in institutionelle Zu‐ sammenhänge eingebunden sind, desto deutlicher ist die Nähe zur Urkunde - deren ideales Schema freilich kein gerichtsmedizinisches Gutachten und kein Bericht jemals ganz erfüllt. Umgekehrt gilt: Je persönlicher ein Gutachten aus‐ fällt, desto mehr orientieren sich die Texte am brieflichen Dispositionsschema. Um dieses Variationsspektrum angemessen abbilden zu können, empfiehlt sich eine skalare Darstellung wie in Abbildung 2. Abb. 2: Skala der Dispositionsschemata medizinischer Gutachten Das Dispositionsschema für Urkunden begrenzt die Skala nach links, das für Briefe nach rechts, dazwischen sind die prototypischen Schemata für die Gut‐ achten angesiedelt, wie sie der Vergleich der Texte im Korpus ergeben hat. Jeder Text des Korpus kann auf der Skala einsortiert werden. Die Berichte weisen dabei die größte Nähe zum Dispositionsschema der Ur‐ kunden auf. Ihre Verfasser bevorzugen typischerweise deskriptive Vertextungs‐ muster. Die Gerichtsgutachten hingegen, die sehr oft als Entscheidungsgrund‐ lage für den Richter fungierten, sind schon stärker argumentativ-bewertend 241 Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten geprägt und daher weiter rechts auf der Skala verortet. Die Consilia schließlich, die einen einzelnen Patienten anweisen wollen, weisen einen engen Adressa‐ tenbezug auf (z. B. durch eine Begrüßungsformel) und sind damit sehr nahe am Dispositionsschema für Briefe. Dass die einzelnen Beschreibungsdimensionen idealerweise ineinander‐ greifen, soll abschließend mit der Tabelle 2 angedeutet werden, die einen Aus‐ schnitt eines typischen Sektionsberichts darstellt. Den in der linken Spalte auf‐ geführten Makrostrukturelementen, wie sie auch im Skalenmodell erscheinen, sind typische Formulierungsmuster zugeordnet, sowie die Angabe, ob es sich um ein fakultatives oder ein obligatorisches Element handelt. Während medi‐ zinische Berichte nicht unbedingt eine Begrüßungsformel (Salutatio) aufweisen müssen, ist die Narratio, mit der in der klassischen Rhetorik der Hörer/ Leser kurz über den Sachverhalt informiert wird, obligatorisch. Die Ärzte bedienen sich dabei so gut wie immer des Formulierungsmusters „Auf Requisition von x […]“, das schon Zedler (s. o.) in seinem Musterbericht als vorbildlich gekenn‐ zeichnet hat. Metakommunikative Äußerungen und die im Korpus vorgefun‐ denen Daten entsprechen einander hier also. Strukturelement Obligat./ fakult. Formulierungsmuster Salutatio Fakult. − Narratio Obligat. Auf Requisition von x haben wir Endes ge‐ nannte E Akk + Lokalangabe + Temporal‐ angabe seziert und befunden Tab. 2: Ausschnitt Dispositionsschema Sektionsbericht Neben den typischen Formulierungsmustern sollten aber auch Varianten und weitere sprachliche Merkmale beschrieben werden. So existieren zu unserem Beispiel der Narratio auch Varianten, in denen Requisition durch Partizipial- und Adjektivattribute erweitert oder durch Ersuchen ersetzt wird. Hat man das Korpus, wie hier nur kurz skizziert, auf allen Ebenen untersucht und verglichen und führt anschließend alle Ergebnisse der einzelnen Beschrei‐ bungsdimensionen zusammen, ergibt sich ein recht umfassendes Bild der zu untersuchenden Textsorte und ihrer typischen Merkmale. 4 Schluss Im vorliegenden Beitrag wurde ein Modell zur Beschreibung historischer Text‐ sorten vorgestellt, das die üblichen Beschreibungsdimensionen modifiziert und 242 Bettina Lindner um wichtige Kategorien erweitert. Als besonders fruchtbar erweist sich dabei die Berücksichtigung metakommunikativer Wissensbestände. Nur durch deren Untersuchung und Einbeziehung gelingt es nämlich, das zunächst fehlende Sprachgefühl für die zu untersuchenden Texte zumindest teilweise zu kompen‐ sieren. So zeigt die beispielhafte Anwendung des Modells auf medizinische Gut‐ achten des 17. und 18. Jahrhunderts, dass die zeitgenössischen Stilideale und Erwartungen nicht nur in Rhetoriklehren, Paratexten, Textsortenanleitungen und Textsortenbenennungen ihren Niederschlag fanden, sondern auch die kon‐ krete Textproduktion auf makro- und mikrostruktureller Ebene stark beein‐ flusst haben. Auch um Variationen innerhalb der Textsorte zu erklären, bieten metakommunikative Äußerungen oft Anhaltspunkte. Wo es die Quellenlage zulässt, sollte dieser Aspekt also unbedingt in die Analyse historischer Text‐ sorten einfließen. 5 Literaturverzeichnis 5.1 Quellen Hallbauer, Friedrich Andreas 1725: Anweisung zur Verbesserten Teutschen Oratorie Nebst einer Vorrede von den Mängeln Der Schul=Oratorie. Jena. Hoffmann, Friedrich 1728: Medicina Consultatoria, Worinnen Unterschiedliche über ei‐ nige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia auch Responsa Facultatis Medicae ent‐ halten, Und in Fünff Decurien eingetheilet, Dem Publico zum Besten heraus gegeben. Sechster Theil. 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Der moderne Lehrer muss über eine Viel‐ zahl an Kompetenzen verfügen, um seinen schulischen Alltag konstruktiv zu gestalten. So unterscheidet z. B. Winfried Böhm im Wörterbuch der Pädagogik verschiedene Kompetenzbereiche: einen primären Bereich, bestehend aus As‐ 1 Im Rahmen dieser Analyse wird der textsortenlinguistische Begriff des Kommunikati‐ onsbereiches als soziales System im Sinne der Systemtheorie Niklas Luhmanns kon‐ zeptualisiert (s. u. Kap. 3). pekten des Unterrichtens, des Erziehens, der Planung, der Beurteilung und der Korrektur sowie einen sekundären, der u. a. die Teilnahme an Konferenzen, Klassenfahrten und Elternabenden umfasst. Zudem verweist er noch auf Bera‐ tungs- und Innovationsfunktionen (vgl. Böhm 2005: 398). Nun ist das heutige Lehrerbild keineswegs statisch; veränderte Vorstellungen können jederzeit an die Akteure herangetragen werden, ebenso wie diese ihren Funktions- und Aufgabenumfang z. T. unterschiedlich auslegen. Dieser Zustand ist nicht nur auf synchroner Ebene bemerkbar, sondern trifft auch auf der dia‐ chronen Ebene zu. Das bedeutet, „dass Schule mit ihrem jeweiligen unterschied‐ lichen Umfeld ihrer Zeit und den Erwartungshaltungen ebendieses interagiert, d. h. sich unterschiedlich darauf einstellt und sich dabei stabilisiert“ (Binder / Osterwalder 2011: 59). Auch die Rollenvorstellungen und Selbstinszenierungen haben sich so im Laufe der Geschichte verändert (vgl. Böhm 2005: 397 f.). Das 19. Jahrhundert ist für Fragen der Rollenvorstellungen und -inszenie‐ rungen der Lehrenden insofern besonders interessant, als es als das pädagogi‐ sche Jahrhundert gilt. Während dieser Zeit kam es zu einer „beispiellose[n] Ver‐ dichtung, Professionalisierung und Effektivierung aller Erziehungsbereiche“ (Oelkers 2006: 71). Dies betraf auch die Lehrerausbildung sowie die Konstitution und Festigung möglicher sowie eingenommener Rollenbilder, wobei von einer Oszillation zwischen den Polen ‚Gelehrter‘ und ‚Erzieher‘ sowie ‚Didaktiker‘ auszugehen ist. Der im 18. Jahrhundert sozial, materiell und gesellschaftlich ge‐ ring angesehene Lehrberuf erfuhr im Rahmen verschiedener Reformen ent‐ scheidende Aufwertungen. Gleichzeitig wuchs der Legitimationsdruck auf die Lehrer, ihre Profession darzustellen und von anderen Rollen abzugrenzen. Das Verhältnis zwischen Erziehungs- und Wissenschaftssystem ist daher von Pro‐ zessen der Annäherung, aber auch Abstoßung geprägt. All dies wirkte sich auf die Rolleninszenierungen der Lehrenden ebenso wie auf ihre Verortung inner‐ halb eines Kommunikationsbereiches aus. 1 248 Friedrich Markewitz 2 Wichtig ist der Hinweis, dass die historische Textsorte ,Schulprogramm‘ nicht mit der im modernen Erziehungssystem beheimateten Textsorte desselben Namens identisch ist und auch ein In-Beziehung-Setzen problematische Implikationen mit sich bringt. Wesentliche Unterschiede bestehen darin, dass das moderne Schulprogramm ein schul‐ formunabhängiges präskriptives Steuerungsinstrument ist, über das alle schulischen Akteure gemeinsame Zielvorgaben hinsichtlich des schulischen Miteinanders fest‐ legen, während das historische Schulprogramm als schulformspezifisches, sowohl deskriptives als auch präskriptives Medium der Reflexion und Auswertung schulischer, aber auch bildungspolitischer und -systemischer Zusammenhänge verstanden werden kann, das von den Lehrenden des Höheren Schulwesens verfasst wurde. Aus Platz‐ gründen kann auf das Verhältnis beider nicht genauer eingegangen werden, so dass diese wenigen Hinweise genügen müssen. 3 Zunächst wurden die Abhandlungen als freie wissenschaftliche Tätigkeit der Lehrenden konzeptualisiert. Daher war es den Autoren überlassen, wie sie ihre Texte the‐ matisch-inhaltlich oder strukturell-stilistisch anlegten. Die Abhandlungen wurden z. T. als Vorläufer eines größeren Werkes betrachtet (vgl. Ullrich 1908: 418-420) und konnten auch „ohne bedeutende Veränderungen in gelehrten Zeitschriften verwendet [werden]“ (Bechstein 1864: 14). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sollten sie nicht länger nur der Partizipation der Lehrenden an fachwissenschaftlichen Diskursen dienen, sondern stattdessen einen größeren öffentlichen sowie schulnahen Adressatenkreis erreichen. Daher fand eine thematisch-inhaltliche Verschiebung zugunsten schulnaher Themen statt (vgl. Jung 1985: 89). Die historische Textsorte ‚Schulprogramm‘ 2 ist ein ideales Medium zur Ana‐ lyse dieser Kontexte: Vom ausgehenden 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sie die Prozesse der Konstitution und Ausdifferenzierung des Bildungswe‐ sens im deutschsprachigen Raum begleitet. Während ihrer Anfänge ähnlich einer Informationsbroschüre verwendet, um Schulaufführungen, -prüfungen oder -feste öffentlich zu machen, erweiterten sich rasch Adressatenkreise, Funk‐ tionszusammenhänge und Bedeutungsdimensionen - vor allem die 1824 er‐ folgte Normierung durch die preußische Bildungsbehörde hat diese Prozesse maßgeblich befördert (vgl. Kirschbaum 2007: 27). So avancierte die Textsorte zu einem wichtigen Aushängeschild der Lehranstalten, zu einem Rechenschafts‐ bericht gegenüber den Behörden, zu einem Demonstrationsmittel, um das wis‐ senschaftliche Niveau der Lehrer anzuzeigen, sowie zu einem Verbindungsglied zwischen Schule und Elternhaus, Schule und anderen Schulen sowie Schule und gesellschaftlicher Öffentlichkeit (vgl. Markewitz 2016: 85 f.). Als Textsorte kann das Schulprogramm in seiner prototypischen Ausprägung durch seine Zweitei‐ lung beschrieben werden: Es bestand einerseits aus einer Abhandlung, die von den Lehrenden und Direktoren der jeweiligen Schule verfasst wurde und - re‐ lativ themenoffen - einen gelehrten Gegenstand von allgemeinem Interesse für die höheren Stände der Gesellschaft zum Thema haben sollte, 3 und andererseits aus den Schulnachrichten, in denen, meist in tabellarischer Form, das vergan‐ 249 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens 4 Die Zweiteilung der Textsorte und spätere Ausdifferenzierung hat die Frage aufge‐ worfen, inwiefern das Schulprogramm als Gesamttextsorte beschreibbar ist (vgl. z. B. aus bibliothekswissenschaftlicher Sicht: Wieckhorst 2013: 1). In Übereinstimmung mit vorhergehenden Analysen (vgl. Gansel 2016: 81 f.) wird auch in dieser Arbeit von der einenden Hauptfunktion als Textsorte der Reflexion ausgegangen und daher an der Bestimmung als (Gesamt-)Textsorte festgehalten. gene Schuljahr rekapituliert wurde. Die Schulnachrichten wurden stets vom Direktor verfasst, der als Herausgeber des Schulprogramms als Ganzes fun‐ gierte. Neben ihrer Polyfunktionalität und heterogenen Adressatenorientierung war eine zentrale Funktion der Textsorte die der Reflexion. Es stand den Lehrenden als Medium der Konstitution, Reflexion sowie Archivierung von bil‐ dungsbzw. schulpolitischen Fragen, Überlegungen hinsichtlich der Organisa‐ tion ihres Lehralltages und auch im Kontext ihres beruflichen Rollenbzw. Selbstverständnisses zur Verfügung: „In den Schulprogrammen geht es im wahrsten Sinne des Wortes darum, ausgewählte Inhalte zu reflektieren“ (Gansel 2016: 80). Die offene Ausrichtung der Abhandlungen sowie die Polyfunktionalität und heterogene Adressatenorientierung erschweren Zuordnungen zu einem Kom‐ munikationsbereich bzw. System (vgl. Markewitz 2017: 235). Im Laufe der Ge‐ schichte der Textsorte kam es daher auch zur Ausdifferenzierung bzw. Loslösung beider Teile, so dass Abhandlung und Schulnachrichten unter alternativen Be‐ titelungen (Beilage für die Abhandlungen und Jahresberichte für die Schulnach‐ richten) vertrieben wurden. 4 Die angedeuteten Prozesse der Konstitution, Festigung und Reflexion von Rollenbildern sowie Inszenierungsmöglichkeiten schlagen sich nun auch in der Textsorte ‚Schulprogramm‘ nieder und lassen sie zu einem geeigneten Unter‐ suchungsgegenstand werden, um das berufliche Rollenbild der Lehrenden zu analysieren. Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, auf welche Art und mit welchen Zuordnungen zu den verschiedenen Rollenbildern sich die Lehrenden des 19. Jahrhunderts in der historischen Textsorte selbst inszeniert und reflektiert haben. Als Korpus dienen 22 Texte. Dabei werden nur die Ab‐ handlungen herangezogen, um die beruflichen Rollenbzw. Selbstinszenie‐ rungen der Lehrenden zu analysieren. Kapitel 2 gibt eine knappe Darstellung der Situation der Lehrer im 19. Jahr‐ hundert hinsichtlich ihres beruflichen Selbstverständnisses. Daran schließt sich in 3 eine Charakterisierung des theoretisch-methodischen Unterbaus und die 250 Friedrich Markewitz 5 Eine wichtige Unterscheidung besteht zwischen den Lehrenden des Höheren und Nie‐ deren Schulwesens. Da das Schulprogramm größtenteils eine Textsorte des Höheren Schulwesens war und auch der Abgrenzung gegenüber den verschiedenen Formen des Niederen Schulwesens diente, wird im weiteren Verlauf ausschließlich auf die Ent‐ wicklungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens eingegangen. 6 Dies bedeutet nicht, dass diese Rollen nicht auch schon in früherer Zeit ausgeprägt bzw. präfiguriert waren (vgl. Knoop / Schwab 1999: 45-48). Vorstellung des Korpus an. Das vierte Kapitel gilt den Ergebnissen der Korpus‐ untersuchung. 5 2 Zum beruflichen Selbstbild bzw. Rollenverständnis der Lehrenden im 19. Jahrhundert Insgesamt lassen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts drei Lehrertypen unter‐ scheiden: die Volksschullehrer des Niederen Schulwesens, die Realschullehrer, die als ‚Lehrer des Volkes‘ galten, und die Gymnasiallehrer, die sich als ‚Lehrer der Gebildeten‘ verstanden (vgl. Enzelberger 2001: 51). Insbesondere letztere identifizierten sich stark mit den Gelehrten des Universitätswesens und hatten zumeist vor, nach oder neben ihrer Tätigkeit als Lehrer noch ein wissenschaft‐ liches Karriere-Standbein (vgl. Groppe 2006: 53). In dieser Hinsicht ist die Rolle des Lehrenden als Gelehrten im 19. Jahrhundert zentral (vgl. Stichweh 1994: 323). Grund für diese Ausrichtung ist einerseits die Professionalisierung des Be‐ rufes: Es kam zu grundlegenden Neuerungen der nun wissenschaftlich fundierten Ausbildung der Lehrenden sowie zu Professionsreflexionen und Bemü‐ hungen, den Lehrerberuf zu vereinheitlichen sowie materiell, gesellschaftlichsozial wie auch politisch aufzuwerten und zu festigen (vgl. Tenorth 2010: 93; 110 f.). Andererseits suchten die Lehrer nach beruflichen Vorbildern, durch die sie ihr neues Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer Professionalität nach außen tragen konnten. Die gefestigte und prestigeträchtige Rolle des universitären Gelehrten erschien naheliegend, auch durch die Verflechtung von Schul- und Universitätswesen (vgl. Zimmer 2008: 129). Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand aber auch eine zunehmende Abkopplung des Schulwesens vom Universitätswesen statt (vgl. Lohbeck 2005: 58) und auch im Erziehungssystem kam es zu weiteren Entwicklungen und Ausdifferenzie‐ rungen. Damit einhergehend sind Reflexionen zur Rolle des Lehrers auszuma‐ chen, wobei neben der Rolle als Gelehrter immer stärker auch die des Erziehers und die des Didaktikers hinzukamen. 6 Ergänzt wurden diese Prozesse durch ein stärker werdendes Bedürfnis der Rollenreflexion, die den Lehrerberuf auch im weiteren Verlauf seiner Geschichte prägte (vgl. Luhmann 2002: 150). So kam es 251 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens 7 Erziehung wird im Sinne u. a. Böhms verstanden als ein intentionales Einwirken, mit dem Ziel der Veränderung von Verhalten (von SchülerInnen) (vgl. Böhm 2005: 186). 8 Didaktik ist in „einem sehr weiten Sinne […] die Theorie des Lehrens und Lernens in allen möglichen Situationen und Zusammenhängen; in einem engeren Sinne die Theorie des (schulischen) Unterrichts“ (Böhm 2005: 155). Dazu gehören ebenfalls die von Böhm benannten Aufgaben des Unterrichtens, des Planens, der Beurteilung und der Korrektur (vgl. ebd.: 398). zur schrittweisen Ablösung von der Rolle als Gelehrter. Dies hängt schließlich mit der inzwischen einsetzenden Festigung des Berufes zusammen: Der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vorherrschende Legitimationsdruck hatte nachgelassen, das Bildungswesen seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt und seine Akteure genossen nicht nur materielles, sondern auch gesellschaftli‐ ches Ansehen (vgl. Kraus 2008: 98). Daher ist eine Verschiebung beruflicher Orientierungen nicht überraschend, sondern unterstreicht die Festigung der Lehrerprofession. Auf der Grundlage der skizzenhaften Charakterisierung der Ausbildung und Entwicklung des Lehrerbildes und Rollenverständnisses dieser Zeit werden vier Rollenbilder differenziert, die in Kapitel 4.2 wieder aufgenommen werden sollen: • der Lehrer als Gelehrter bzw. Fachwissenschaftler • der Lehrer als Erzieher 7 • der Lehrer als Didaktiker 8 • der Lehrer in einer Metarolle, in der die Akteure ihre Funktionen reflek‐ tieren und sich in erziehungssystemischen Kontexten verorten. 3 Theoretisch-methodische Grundlagen und Charakterisierung des vorliegenden Korpus Nachdem die Textsortenlinguistik den Gegenstandsbereich der Linguistik über den Satz hinaus auf die Textebene erweitert hat, hat sich die Disziplin im Laufe ihrer Entwicklung zunehmend den Textsorten einrahmenden kulturell-gesell‐ schaftlichen Kontexten zugewandt und Beschreibungsdimensionen konstitu‐ iert, um situative Entstehungssowie Entwicklungszusammenhänge zu analy‐ sieren. Textsorten sind dabei zu verstehen als kulturell bzw. gesellschaftlich geprägte sowie prägende Phänomene. Allerdings wird die Textsortenlinguistik in dieser Ausrichtung vor ein entscheidendes methodisch-theoretisches Pro‐ blem gestellt: der Überkomplexität der Wirklichkeit Herr zu werden und diese für Analysen zu operationalisieren. Wurde in früheren Arbeiten auf das Konzept des Kommunikationsbereiches zurückgegriffen, so wird in letzter Zeit auf die Produktivität der Implementierung soziologischer Theorien verwiesen, allen 252 Friedrich Markewitz 9 In meiner Dissertation wird das Anbindungsverhältnis der Textsorte zum Erziehungssowie Wissenschaftssystem mit einem wesentlich größeren Korpus (bestehend aus 336 Texten) aufgearbeitet. Der Aufsatz gibt also nur exemplarische Einblicke in die Analyse. 10 Jedes System hat ein spezifisches symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (z. B. das System der Religion Glaube, das System der Wirtschaft Geld etc.), das durch den systeminternen Code (siehe Anm. 11) genauer definiert wird und dazu dient, „eine bestimmte unbestimmte Vielfalt von Kommunikationen [zu] ermöglichen“ (Krause 2005: 193). Das systemspezifische Medium dient so der Begrenzung und dem Wahr‐ scheinlich-Machen von innersystemischer Kommunikation. 11 Jedes System verfügt über einen spezifischen Code. Diese Codes „sind immer zwei‐ wertig, haben einen positiven und einen negativen Wert“ (Krause 2005: 132) und dienen als systeminterne Leitdifferenz der Einordnung sowie Verarbeitung von Kommuni‐ kation(en). voran der Diskurstheorie oder der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In dieser Analyse soll auf letztere zurückgegriffen werden, um den die Textsorten ein‐ rahmenden Kontext handhabbar zu machen. Dabei wird der Forschungsper‐ spektive Christina Gansels gefolgt, die den textlinguistischen Begriff des Kom‐ munikationsbereiches zu dem systemtheoretischen des Systems in Beziehung setzt bzw. ihn dadurch ersetzt (vgl. Gansel / Jürgens 2009: 74-80). Sie geht davon aus, dass „Textsorten […] explizit mit der Operation der sozialen Systeme, ihrer Kommunikation, verbunden [sind]“ (Gansel 2011: 23; im Orig. fett) und sich einzelnen gesellschaftlichen Systemen zuordnen lassen. Das Schulprogramm erweist sich als systemisch heterogene Textsorte, „die zwischen verschiedenen Teil- und Subsystemen verortbar ist“ (Markewitz 2017: 235). Zunächst evoziert der Produktions- und teilweise Rezeptionsort ‚Schule‘ die Zuordnung zum Funktionssystem Erziehung. Gleichzeitig wurde schon da‐ rauf verwiesen, dass sich viele Lehrer auch als Gelehrte verstanden und so Ver‐ bindungen zum Wissenschaftssystem herzustellen versuchten. Somit ist die Frage der systemischen Anbindung des Programms zu stellen. Ziel dieses Bei‐ trages ist es, historische Verschiebungen der Textsorte im Verhältnis zu den Systemen Erziehung und Wissenschaft herauszuarbeiten. 9 Der Rekurs auf die Systemrationalität, also die Funktionalität der Systeme Wissenschaft und Erziehung, dient als Zugriff, um mögliche wie realisierte An‐ bindungen in den Blick zu nehmen. Jedes System ist zunächst gleich aufgebaut und hat eine innersystemische Funktion, eine nach außen gehende Leistung für die Gesellschaft, ein spezifisches Medium 10 sowie einen Code, 11 durch den die innersystemische Kommunikation organisiert wird. Darüber hinaus beinhaltet jedes Funktionssystem hierarchisch niedrigere Systemebenen - die Organisa‐ tions- und Interaktionssysteme. Schematisiert für das Erziehungs- und Wissen‐ schaftssystem ergibt sich folgendes Bild: 253 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens 12 In der systemtheoretischen Forschung ist die Konzeptualisierung von Kind als Medium nicht unumstritten. Hinsichtlich der Validität der getroffenen Zuordnung, insbesondere aus historischer Perspektive, sei auf den konstitutiven Aufsatz Luhmanns verwiesen, der sich darin explizit zum Kind als Medium der Erziehung äußert (vgl. Luhmann 2004). 13 http: / / digisam.ub.uni-giessen.de/ schulprogramme.html [letzter Zugriff: 29.01.2018]. Funktions‐ system Organi‐ sations‐ system Inter‐ akti‐ ons‐ system Funk‐ tion Leis‐ tung Me‐ dium Code Erziehung Schule Unter‐ richt Er‐ ziehen gesell‐ schaft‐ lich rele‐ vantes Können aus‐ bilden Kind 12 -besser/ schlechter -vermittelbar/ nicht vermit‐ telbar -Lob/ Tadel Wissen‐ schaft Univer‐ sität Se‐ minar neues Wissen produ‐ zieren neues Wissen dar‐ stellen Wahr‐ heit wahr/ falsch Tab. 1: Systemrationalität des Erziehungs- und Wissenschaftssystems (nach Krause 2005: 50 f.; Reese-Schäfer 2011: 186 f.). Um die systemischen Anbindungen zu überprüfen, soll untersucht werden, ob und wie thematisch-inhaltliche Bezüge zu der Systemrationalität der Systeme Wissenschaft und Erziehung anhand der tabellarisch angeführten Aspekte vor‐ genommen und entsprechende Verortungen evoziert werden. Analysiert wurden die Betitelungen der Abhandlungen als paratextuelle Hinweissignale systemischer Orientierung, die verhandelten Themen bzw. Inhalte und einzelne Lexeme (wie Schule, Kind oder Unterricht), die sich zur Systemrationalität in Beziehung setzen lassen. In einem weiteren Schritt wird dann die systemische Anbindung mit den Rolleninszenierungen der Lehrer in Verbindung gebracht. Das dieser Analyse zugrunde liegende Korpus besteht aus 22 Schulpro‐ grammen (s. Quellenverzeichnis). Alle Texte stammen aus der digitalisierten Schulprogrammsammlung der Universität Gießen. 13 Dabei wurden Schulpro‐ gramme ausgewählt, deren Abhandlung Themen der Grammatikforschung (inkl. Fragen der Orthographie) betrifft. Hintergrund der Entscheidung war der Versuch, erziehungssowie wissenschaftssystemische Annäherungen zu unter‐ suchen. Grammatik- und Orthographiefragen sind und waren sowohl für den wissenschaftlichen als auch schulischen Kontext von Bedeutung und so können 254 Friedrich Markewitz auch erziehungs- und wissenschaftssystemische Anbindungen sowie damit zu‐ sammenhängende Rolleninszenierungen untersucht werden. 4 Auswertung 4.1 Systemische Verortung 4.1.1 Systemische Zuordnung des Schulprogramms Zunächst soll die systemische Zuordnung im Mittelpunkt stehen: Auf das Korpus bezogen lässt sich eine leichte Favorisierung des Wissenschaftssystems ausmachen; 57 % der Texte sind diesem zuzuordnen. Die nachfolgende Tabelle veranschaulicht dieses Verhältnis und ermöglicht zudem die Zuordnung von Text und System: 255 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens 14 Hainebachs Abhandlung besteht aus drei unabhängigen Texten, die einzeln auf ihre systemische Anbindung hin untersucht wurden. Text Datum Autor Systemische Zu‐ ordnung 1 1840 Bellinger WissSyst 2 1842 Fuldner ErzSyst 3 1843 Steffenhagen ErzSyst 4 1848 Wackernagel WissSyst 5 1858 Kehrein WissSyst 6 1862 Kehrein WissSyst 7 1863 Wedewer WissSyst 8 1864 Möller WissSyst. 9 1865 Kehrein ErzSyst 10 1866 Hainebach ErzSyst (a) 14 WissSyst (b, c) 11 1870 Geiger ErzSyst 12 1872 Wagner WissSyst 13 1873 Landmann ErzSyst 14 1874 Helm WissSyst 15 1874 Leimbach ErzSyst 16 1886 Bauder ErzSyst 17 1890 Ottmann WissSyst 18 1893 Zergiebel ErzSyst 19 1892 Winkler WissSyst 20 1894 Winkler WissSyst 21 1898 Schädel ErzSyst 22 1906 Reis WissSyst Tab. 2: Systemische Verortung der Abhandlungen 256 Friedrich Markewitz [1] [2] [3] [4] [5] [6] 4.1.2 Titelanalyse Hinsichtlich der Rekurse auf die Systemrationalität wurden zunächst die Titel der Abhandlungen herangezogen. Der Rekurs auf die Titel ist insofern erkennt‐ nisfördernd, als Titel der Präfiguration zentraler Themen eines Textes dienen und so als Orientierungshilfe zu verstehen sind. Untersucht wurden Lexeme, über die auf die Systemrationalität geschlossen werden kann, da die Produ‐ zenten in den Titeln ihrer Texte auf die verschiedenen Systemebenen (z. B. das Organisationssystem Schule oder das Interaktionssystem Unterricht) ver‐ weisen, um so systemische Zusammenhänge einzugrenzen. Auffällig ist, dass gerade die erziehungssystemischen Abhandlungen durch ihre Titel eine Nähe zum System anzeigen: Von den zehn Abhandlungen lassen sich bei sieben auf‐ grund des Titels Hinweise ausmachen. Insbesondere wird auf das Organisati‐ onssystem Schule verwiesen (1-3), in geringerer Ausprägung auch auf das In‐ teraktionssystem Unterricht (4-5): „Über deutsche Schulgrammatik“ (Steffenhagen 1843; Hervorhebung F. M.) „Ueber deutsche Grammatik als Lehrgegenstand an deutschen Schulen“ (Geiger 1870; Hervorhebung F. M.) „Die Behandlung der deutschen Grammatik an den höheren Lehran‐ stalten“ (Bauder 1886; Hervorhebung F. M.) „Der linguistische Rationalismus mit Rücksicht auf die Zwecke des Gym‐ nasialunterrichts“ (Fuldner 1842; Hervorhebung F. M.) „Gliederung des deutschen Sprachunterrichts in der Elementarschule“ (Kehrein 1865; Hervorhebung F. M.). Eine solch explizite systemische Anbindung ist bei den Titeln der wissenschafts‐ systemischen Abhandlungen nicht auszumachen. 4.1.3 Inhaltsanalyse der erziehungssystemischen Abhandlungen Rekurse auf das Organisations- und Interaktionssystem finden sich auch in den Abhandlungen selbst. Untersucht wurde das Thema der Texte mit entspre‐ chender Beachtung der systemischen Themensowie Begriffshinweise (vgl. auch: Hausendorf / Kesselheim 2008: 167). Zusätzlich wurde auf die schon in der Titelanalyse hinzugezogenen systemischen Lexeme geachtet. Dabei sind drei Strategien der systemischen Anbindung auszumachen: Zunächst wird das In‐ teraktionssystem Unterricht bzw. seine inhaltliche Ausrichtung thematisiert: „Doch scheint es, als wenn der Gewinn, der aus jenen Forschungen [des linguistischen Rationalismus] für den Sprachunterricht auf den verschie‐ denen Lehranstalten gezogen werden kann, entweder nicht auf die rechte 257 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens [7] [8] [9] Art oder nicht in dem gehörigen Maasse gesucht werde […]. Noch weniger aber ist die Frage, ob die allgemeine Grammatik ein Gegenstand des Gym‐ nasial-Unterrichts sein könne, oder welcher Theil derselben vorzügliche Aufmerksamkeit verdienen möchte, einer befriedigenden Lösung entge‐ gengeführt worden. Wir wollen hierzu einen Beitrag zu liefern versuchen“ (Fuldner 1842: 3 f.; Hervorhebungen F. M.). Darüber hinaus wird die Bedeutung des Schulwesens oder einzelner Unter‐ richtsfächer betont und so die Leistung des Systems für die Gesellschaft her‐ vorgehoben: „Eine Reform der nhd. Schreibung kann nur von der Schule ausgehen“ (Landmann 1873: 52; Hervorhebung F. M.). Schließlich finden Abgrenzungen zu anderen Systemen - vor allem dem der Wissenschaft - statt: „Wenn in der vorliegenden Darstellung der Versuch gemacht wird, einen der heikelsten Puncte in der deutschen Rechtschreibung vom Standpuncte der Sprachvergleichung mit Rücksicht und Beschränkung auf die Zwecke der Schule zu beleuchten, so erhebt dieselbe von vornherein keinen An‐ spruch darauf, etwas Neues zu bieten, oder auch nur wesentlich neue Ge‐ sichtspuncte aufzustellen, sowie sie auch auf die Vorführung des ge‐ sammten wissenschaftlichen Apparates verzichten muß“ (Landmann 1873: 26). Nun ist gerade die Produktion und Darstellung neuen Wissens die zentrale Funktion und Leistung des Wissenschaftssystems, so dass Landmann eine sys‐ temische Abgrenzung vornimmt, wenn er darauf verweist, dass er „keinen An‐ spruch darauf [erhebt], etwas Neues zu bieten“ und seine Darstellung „auf die Zwecke der Schule“ beschränkt. Auch Wilhelm Bauder verweist auf Unterschiede von Wissenschafts- und Erziehungssystem. So referiert er zunächst Forschungsmeinungen der dama‐ ligen Zeit, dass deutsche Grammatik kein Gegenstand für die Schule sei, wider‐ spricht diesen im weiteren Verlauf aber und bestimmt die Grammatik explizit als unterrichtlichen Gegenstand, bei dem lediglich die Frage nach der geeigneten Methode zu stellen sei: „Nach dem Gesagten kann deshalb die Frage, ob die deutsche Grammatik ein Unterrichtsgegenstand auf den höheren Lehranstalten sein solle oder nicht, als endgültig erledigt betrachtet werden. Es handelt sich vielmehr 258 Friedrich Markewitz [10] [11] nur um die Aufstellung und Durchführung einer bestimmten Methode“ (Bauder 1886: 6). Alle Strategien, aber insbesondere die dritte, korrelieren mit Beschreibungen der Entwicklung des Erziehungssystems, das unter einem Legitimationsdruck stand und daher versuchte, seine Relevanz nachzuweisen sowie sich von der Einflussnahme anderer Systeme abzugrenzen. Notwendige Importe aus anderen Systemen, wie z. B. bei Fragen der Grammatik aus dem Wissenschaftssystem, wurden zwar aufgenommen, aber erziehungssystemisch verarbeitet, in dieser Hinsicht neu codiert, entsprechend didaktisiert und somit nur „mit Rücksicht und Beschränkung auf die Zwecke der Schule […] beleuchte[t]“ (Landmann 1873: 26). 4.1.4 Inhaltsanalyse der wissenschaftssystemischen Abhandlungen Auch die wissenschaftssystemischen Abhandlungen zeichnen sich durch Ab‐ grenzungen aus, die vornehmlich das Erziehungssystem betreffen. So heben sich die wissenschaftssystemisch verorteten Autoren z. B. bewusst von bestimmten Lehrerrollen ab oder kritisieren schulische Verhältnisse: Joseph Kehrein z. B. problematisiert die Qualität von Lehrbüchern: „Ein wahrer Wirrwarr herrscht im Gebrauche der grammatischen Kunst‐ ausdrücke, besonders in den Lehrbüchern, welche für die Elementar‐ lehrer und Elementarschulen verfaßt sind“ (Kehrein 1858: 16). In einer weiteren Abhandlung wendet sich der Autor zudem gegen die Imple‐ mentierung grammatischer Systeme in der Schule: „In die Elementarschule gehört kein grammatisches System, überhaupt keine Grammatik, sondern nur Einzelnes aus der Grammatik“ (Kehrein 1862: 21). Auffällig ist die unterschiedliche Art der systemischen Abgrenzung. Die erzie‐ hungssystemischen Abhandlungen arbeiten inkludierend und reflektieren Im‐ porte anderer Systeme. Im Gegensatz dazu heben wissenschaftssystemische Abhandlungen die Problematik der Übernahme wissenschaftssystemischer Themen in andere Systeme hervor. Das System ist deutlich geschlossener und rekurriert selbstgenügsam(er) auf den eigensystemischen Einzugsbereich. Daher finden sich auch vermehrte Verweise auf Funktion, Leistung, Medium sowie den Code des Wissenschaftssystems. 259 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens [12] [13] [14] [15] So rekurriert Hans Reis auf die Funktion, neues Wissen zu produzieren, indem er die Neuartigkeit seiner Analyse hervorhebt: „Die Wortfolge der deutschen Umgangssprache unterscheidet sich nicht stark von dem Gebrauch der Schriftsprache, jedoch sind die Wortstel‐ lungsregeln in letzter noch nicht hinreichend erforscht […]. Daher dürfte eine Untersuchung nicht überflüssig sein“ (Reis 1906: 5). Auch Heinrich Winkler (1892: 3) bezieht sich auf die Neuartigkeit des Wissens, das es noch zu explizieren gilt, indem er auf das reichhaltige „vom Verfasser selbst aus der lebendigen Sprache geschöpfte Quellenmaterial“ verweist, das seiner Analyse zugrunde liege. Darüber hinaus wird auf den wissenschaftssystemischen Code wahr/ unwahr verwiesen, wenn die Autoren ihre Meinungen oder Ableitungen als richtig dar‐ stellen oder bestehende Forschungen als unwahr aburteilen: „Die Beispiele, welche mit vollster Deutlichkeit beweisen, dass diese Auf‐ fassung die einzig richtige ist, sind sehr zahlreich und verschidenster Art“ (Winkler 1894: 13). Diese apodiktische Ausrichtung schlägt sich z. T. auch auf sprachlicher Ebene im Gebrauch des Modalverbs müssen nieder. „Im Neuhochdeutschen muss streng unterschieden werden zwischen der Schriftsprache und der Umgangssprache […]. Um die Grundlagen der Wortfolge herzustellen, muss man auf die einfachsten Sätze zurückgehen“ (Reis 1906: 5 f.; Hervorhebungen F. M.). Schließlich wird auch auf das wissenschaftssystemische Medium ‚Wahrheit‘ Bezug genommen: „Der Dativ wurde von Delbrück als der Casus der Neigung nach etwas hin, von Hübschmann als der der Beteiligung gefasst; beide kommen auf ihre Weise der Wahrheit nahe, näher noch Hübschmann, ohne sie jedoch zu erreichen“ (Winkler 1892: 10; Hervorhebung F. M.). 4.1.5 Zwischenfazit hinsichtlich der systemischen Verortung Erkennbar wird der Unterschied der systemischen Anschlüsse von erziehungs- und wissenschaftssystemischen Abhandlungen, die sich aus Entwicklung und Status beider Systeme ableiten lassen: Das Erziehungssystem als junges System (vgl. Luhmann / Schorr 1988: 24) steht unter größeren Legitimationszwängen als das der Wissenschaft. Die Neuorganisation des Bildungswesens zu Beginn 260 Friedrich Markewitz 15 Im Rahmen meiner Dissertation nimmt der Aspekt der Rolleninszenierung einen we‐ sentlich umfangreicheren Platz ein. Daher stellen die Ergebnisse dieses Schrittes nur einen Ausschnitt dar. Hinsichtlich der Methodik der Erschließung der Rollenbilder sei auf den konstitutiven Aufsatz Felix Steiners (2002) verwiesen, der Autorschaftsfiguren in naturwissenschaftlichen Texten um 1800 untersucht hat und dessen Methodik ich so‐ wohl in diesem Aufsatz als auch im Rahmen meiner Dissertation gefolgt bin. des 19. Jahrhunderts zwang zur Öffentlichkeitsarbeit und Darstellung der Legi‐ timität des Schulwesens. In dieser Hinsicht wird auch die Relevanz der Organi‐ sations- und Interaktionssysteme reflektiert. Dabei lassen sich auch Prozesse der Abgrenzung gegenüber dem Wissenschaftssystem ausmachen, was den Versuch der systemischen Schließung und das Bemühen um systemische Ei‐ genständigkeit indiziert. Das Wissenschaftssystem ist in dieser Hinsicht gefes‐ tigter, hat seinen systemischen Einzugsbereich deutlicher abgegrenzt und so ist der häufigere Rekurs auf diesen wenig verwunderlich. Die Abgrenzung gegen‐ über dem System der Erziehung erwächst aus der systemischen Irritation, mit anderen systemischen Codierungen auf ähnliche Gegenstände konfrontiert zu sein. So erklärt sich auch das Hervorheben der Inadäquatheit des Erziehungs‐ systems in den wissenschaftssystemischen Abhandlungen. 4.2 Analyse der Rollenbilder Die systemischen Anbindungen sollen nun zu den Rollenbildern und Inszenie‐ rungen der Lehrer in Beziehung gesetzt werden. Untersucht wurde, wie sich die Textproduzenten in den Abhandlungen dargestellt haben, z. B. durch die Anti‐ zipation eines Rollenbildes oder entsprechende Abgrenzungen. Insbesondere Einleitungen und Schlussworte sind dabei bedeutsam, da die Autoren dort oft neben einer Einführung in das Thema auch ihren Zugang bzw. ihre Position kommunizierten. Haben sich die Autoren also eher als Gelehrte wahrgenommen und dies ver‐ sprachlicht, z. B. durch Abgrenzungen vom Lehrerberuf oder Schulbetrieb, haben sie sich didaktisch zu Fragen der Unterrichtskonzeption und -inhalte oder aber erzieherisch, im Sinne der Einflussnahme auf die Schüler, ihre geistige Entwicklung etc. positioniert oder eine Metarolle eingenommen und die eigene Profession reflektiert? 15 Dabei konnten durchaus auch mehrere Rollen einge‐ nommen werden. Schematisch aufbereitet ergeben sich folgende Rollenbilder bzw. Selbstinszenierungen: 261 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens Text Autor Lehrer als Gelehrter Lehrer als Erzieher Lehrer als Didaktiker Metare‐ flexionen 1 Bellinger x - - - 2 Fuldner x x - 3 Steffenhagen - x - 4 Wackernagel x - x 5 Kehrein x - - - 6 Kehrein x - - - 7 Wedewer x - - - 8 Möller x - - - 9 Kehrein x x 10 Hainebach x (b, c) x (a) - 11 Geiger x x - 12 Wagner x - - - 13 Landmann x x - 14 Helm x - - - 15 Leimbach x x - 16 Bauder x x - 17 Ottmann x - - - 18 Zergiebel x x - 19 Winkler x - - - 20 Winkler x - - - 21 Schädel x x - 22 Reis x - - - Tab. 3: Rolleninszenierungen innerhalb der Abhandlungen des Analysekorpus 4.2.1 Der Lehrer als Gelehrter Übereinstimmend mit den systemischen Anbindungen ist die Rolle des Lehrers als Gelehrter die dominanteste Inszenierungsform. So inszenieren sich die Au‐ toren als fachkundige Gelehrte und grenzen sich von anderen Lehrerrollen ab, 262 Friedrich Markewitz [16] [17] [18] [19] z. B. in der Abhandlung Helms, in dem dieser Leben und Wirken Jacob Grimms darstellt und darauf verweist, dass er „keinem Lehrer zumuthen [will], […] ein Werk, wie die Grimm’sche Grammatik, förmlich durch[zu]studieren“ (Helm 1874: 19) - etwas, das er in seiner Rolle als Gelehrter getan hat und nun „den Lehrern“ eine gelehrte Hilfestellung an die Hand geben möchte. Auch die Be‐ wertung seiner Ausführungen ist Lehrern mit ähnlichem Rollenverständnis vorbehalten: „Ob ich das Richtige getroffen habe, mögen wissenschaftlich gebil‐ dete Schulmänner entscheiden“ (Helm 1874: 18; Hervorhebungen F. M.). Durch Rekurse auf wissenschaftliche Diskurse (vgl. Wackernagel 1848: 1 f.) oder andere Forscher (vgl. Möller 1864: 3) nehmen die Lehrer die Rolle des fachwissen‐ schaftlich geschulten Gelehrten ein, der aktiv die Entwicklung seiner Disziplin verfolgt und an fachwissenschaftlichen Diskursen partizipiert. Diese Inszenie‐ rung als Gelehrte wirkt sich auch auf den gewählten Stil aus, was durch die Autoren z. T. explizit gemacht wird: „Was die Form der Darstellung betrifft, so habe ich mich einer elemen‐ taren und populären Klarheit und Deutlichkeit bestrebt, ohne darum den wissenschaftlichen Stil aufzugeben“ (Helm 1874: 18; Hervorhebungen F. M.). Neben direkten Hinweisen auf den Stil weisen auch die anderen Texte viele Charakteristika wissenschaftlicher Prosa des 19. Jahrhunderts auf. Dies sollen die folgenden Beispiele aufzeigen, anhand derer der komplexe Satzaufbau, der Rekurs auf fachliche Lexik sowie weitere Merkmale wie der Gebrauch von De‐ finitionen und die starke Gliederung der Texte deutlich werden: „Man hat mit grossem Aufwande von Gelehrsamkeit, die dem Gebiete von der Philologie fern liegenden Wissenschaften angehört, namentlich der Akustik, Anatomie und Physiologie die Lautbildung erklären und auf ‘s Reine bringen wollen. Tief gehende Untersuchungen sind angestellt worden über den ganzen Stimm-Apparat, über absolute und relative Quantität des Stimmschalles, über geschlechtliche, klimatische, nationale Qualität eben desselben, über Wirksamkeit des Kehlkopfes, der Stimm‐ ritze, der Stimmritzenbänder, der Rachenhöhle u.s.w.“ (Fuldner 1842: 4). „Der Buchstab, Buchstabe […] bedeutet ursprünglich einen Stab (Zweig) der Buche, auf welchen ein Runenzeichen eingeritzt war“ (Kehrein 1862: 6). „Die Eintheilung, die ich machte, um in das Ganze eine klare und leicht‐ verständliche Uebersicht zu bringen, wird wohl, wie ich hoffe, nicht ganz unpassend befunden werden“ (Helm 1874: 18). 263 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens [20] [21] Wichtig ist der Hinweis, dass trotz unterschiedlicher Selbstinszenierungen und Zuordnungen zu verschiedenen Rollenbildern und systemischen Anbindungen sich der Stil der Abhandlungen konstant der Wissenschaftssprache zuordnen lässt, ein klares Indiz für das Ausmaß der Orientierung der Schulmänner an wissenschaftssystemischen Zusammenhängen. Diese Kontexte können hier nur exemplarisch behandelt werden und verdienen weiterführende Bearbeitungen. 4.2.2 Der Lehrer als Didaktiker Neben der Rolle als ausschließlicher Gelehrter findet sich noch die Rolle des reinen Didaktikers - aber nur in einem relativ geringen Prozentsatz der Texte (in nur zwei Abhandlungen). Diese zeichnet sich durch Rekurs auf die metho‐ dische Ausgestaltung des Unterrichts aus: „Gewiss fühlt jeder von uns, daß es ein Uebelstand ist, wenn Lehrer der‐ selben Anstalt in Bezug auf deutsche Orthographie in ganz verschiedener Weise verfahren; wenn der eine, mag er sich auch noch so schonend aus‐ drücken, das verwirft, was der andere billigt, und so in den Köpfen der Schüler Zweifel und Verwirrung entstehen. Diesem Uebelstande abzu‐ helfen, müßen wir ernstlich bemüht sein, und an dem Gelingen ist nicht zu zweifeln, wenn jeder zur Sache den redlichen Willen mitbringt. Es fragt sich nun, welcher Weg einzuschlagen sei, um zu dem ge‐ wünschten Ziele zu gelangen. Bekanntlich gibt es auf diesem Gebiete zwei Richtungen. Die eine hält an dem herkömmlichen fest, die andere huldigt mehr oder weniger streng den Resultaten der neueren, histori‐ schen Sprachforschung“ (Hainebach 1866: 1). 4.2.3 Der Lehrer als Erzieher oder in der Metarolle Die Rolle des Lehrers als Erzieher sowie als Träger einer Metarolle findet sich nur in Verbindung mit weiteren Rollen und nur in einem geringen Umfang. Die Metarolle ist einmal im Zusammenhang mit der Rolle des Lehrers als Gelehrter und einmal mit der des Lehrers als Didaktiker auszumachen. In der zweiten Konstellation stellt Kehrein seinen Lehrplan für den Sprachunterricht an Ele‐ mentarschulen vor und wertet eigene Lehrerfahrungen sowie vorhergehende Anstellungen an verschiedenen Schulformen aus, um diesen zusammenzu‐ stellen. „In dem Gesagten liegt die Veranlassung zu der nachfolgenden Gliede‐ rung des deutschen Sprachunterrichts in der Elementarschule […]. Ich darf wol, ohne unbescheiden zu erscheinen, auch in etwas auf meine ei‐ gene Erfahrung mich beziehen, da ich seit 1829 bis heute zuerst in einigen 264 Friedrich Markewitz 16 Die Frage der Methode ist in den untersuchten Abhandlungen ein zentrales Thema - insbesondere in diesen Kontexten inszenieren sich die Lehrenden in der Rolle des Di‐ daktikers und verweisen auf die von ihnen verwendete Methode bzw. stellen diese in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen (vgl. auch Bauder 1886: 6 f.). [22] [23] Familien, dann in vier Mädcheninstituten, in drei Gymnasien und im hie‐ sigen Schullehrerseminar deutschen Sprachunterricht ertheilt und als Schulinspektor von 1855 bis heute mir einen Einblick in das Elementar‐ schulwesen zu verschaffen gesucht habe“ (Kehrein 1865: 1). In der ersten Konstellation reflektiert Wackernagel die Funktion und Rolle der Schulprogramme als Medium wissenschaftlicher Kommunikation und beklagt ihre fehlende Beachtung: „Denn obwohl mir nie klar geworden, zu welchem zwecke eigentlich den programmen abhandlungen beigegeben werden, warum namentlich seit menschenaltern sich hier so vile grundgelerte untersuchungen haben verbergen müssen […]“ (Wackernagel 1848: 2). Die Rolle des Lehrers als Erzieher in Kombination mit der des Didaktikers findet sich ebenfalls in zwei Abhandlungen. An dieser Stelle sei auf die Abhandlung Zergiebels verwiesen. Einerseits thematisiert dieser die Umgestaltung des fremdsprachlichen Unterrichts und rekurriert auf Aspekte der Planung, Durch‐ führung und der geeigneten Methodik: 16 „Für wenige andere Untersuchungsgegenstände liegen die Bausteine so reichlich im Schüler, wie für diesen, wenige bieten so angenehmen Un‐ tergrund für lebendige gemeinsame Arbeit, mit einem Worte, bietet sich die Induktion so ungezwungen dar, wie hier. Je grösser aber die Möglichkeit der Induktion, um so fruchtbringender der Unterricht. Soll der Unterricht in der fremdsprachlichen Grammatik lebendig gemacht werden, so muß er das Muster für seinen Betrieb in der wohlverstandenen grammatischen Unterweisung in der Muttersprache suchen“ (Zergiebel 1893: 6). Andererseits kommt er aber auch auf den Aspekt des Erziehens seiner Schüler zu sprechen und verweist sowohl auf den höheren geistigen Reifegrad von Kin‐ dern, die mit dem Erlernen einer fremden Sprache beginnen als auch auf das „Herumtummeln“ von Kindern, dem durch das systematische schulische Er‐ lernen einer Fremdsprache entgegengewirkt wird: 265 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens [24] [25] „Der Nachteil wird aber, wenn auch nicht aufgehoben, so doch abge‐ schwächt dadurch, daß die Kinder, welche die Erlernung der fremden Sprache beginnen, geistig viel reifer sind als die, welche anfangen, ihre Muttersprache zu erlernen, und ferner dadurch, daß jene systematisch geleitet, unterrichtet werden, während sich diese vor ihrer Schulzeit meist frei herumtummeln“ (Zergiebel 1983: 9 f.). 4.2.4 Der Lehrer als Didaktiker Die Inszenierung als Didaktiker ist mit neun Texten neben der des Gelehrten die wichtigste. Dass sich die Lehrenden somit eher auf ihre eigenen Aufgaben konzentrieren und weniger den kindbezogenen Aspekt ihrer Arbeit hervor‐ heben, steht in Übereinstimmung mit bisherigen Analysen (vgl. auch Luhmann / Schorr 1988: 145). Die Dominanz der Rollen des Lehrers als Gelehrter sowie Didaktiker bestätigt sich auch hinsichtlich der Kombination beider Rollen, die insgesamt die zentrale Mischform darstellt. Auch in dieser Form rekurrieren die Lehrenden in ihrer didaktischen Rolle auf Themen des Unterrichts, allen voran auf Planungs- und methodische Aspekte. Da sie aber in oft umfangreichem Maße auf Forschungsfragen zu ihrem Thema eingehen, inszenieren sie sich eben auch in der Rolle des Gelehrten, der kenntnisreich und fachkundig zu den Diskursen seines Fachgebietes Stellung beziehen kann (vgl. z. B. Leimbach 1874: 3-21). Dabei wird ersichtlich, dass sich die Akteure zwar als fachlich geschult dar‐ stellen und so ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, sich aber in schuli‐ schen Kontexten verorten und Forschungsfragen dementsprechend aufbereiten bzw. den Bedingungen, aber auch Bedürfnissen des Organisationssystems Schule sowie dem Interaktionssystem Unterricht anpassen - zu sehen z. B. an den Schlussbemerkungen Landmanns: Dieser rekurriert zunächst auf damalige Forschungen, die Grammatik und das Wörterbuch Grimms, betont aber die Notwendigkeit, diese für schulische Kontexte aufzubereiten: „Vorbedingung zur Einführung der auf diese Weise zu Stande zu brin‐ genden Rechtschreibung in den Schulen ist die Abfaßung einer auf his‐ torischer Grundlage beruhenden, aber nach pädagogischen Rücksichten aufzubauenden Lautlehre, in welche sodann der Schwerpunct des for‐ mellen Theiles des deutschen Sprachunterrichts zu legen wäre“ (Land‐ mann 1873: 52; Hervorhebungen F. M.). 4.2.5 Zum Wandel der Rollenbilder Insgesamt erscheint die Rolle des Lehrers als Gelehrter am stärksten ausgeprägt, daran schließt sich die Mischform aus Didaktiker und Gelehrter sowie die Rolle 266 Friedrich Markewitz des Lehrers nur als Didaktiker an und zuletzt finden sich, gering ausprägt, an‐ dere Konstellationen. Darüber hinaus kann diachron die Beobachtung gemacht werden, dass sich im Laufe des Untersuchungszeitraums die Rollenbilder mehr und mehr verengen bzw. fast nur noch die drei dominanten Formen zu finden sind. Dies mag zwei Gründe haben: Zunächst ist es dadurch zu erklären, dass sich das Selbstbild der Lehrenden im Laufe des 19. Jahrhunderts gefestigt hat. Gleichzeitig zeigt die Konzentration bestimmter sowie kanonisierter Misch‐ formen (insbesondere die des Lehrers als Gelehrter und Didaktiker) eine Ten‐ denz an, den Lehrerberuf mit heterogenen Funktionen und Kompetenzen aus‐ zustatten, so dass der Lehrer, wie es auch aus dem heutigen Schulwesen bekannt ist, in mehreren Kontexten und unterschiedlichen Rollen aufzutreten hat. 5 Schlussbemerkungen „Textsorten [… sind] mit der historischen Entwicklung von sozialen Systemen, vor allem den Funktionssystemen […] eng verbunden“ (Gansel 2011: 110). Die Untersuchung der Anbindung der Lehrenden an die Systeme Wissenschaft und Erziehung durch die Textsorte Schulprogramm sowie die in dieser vorgenom‐ menen Rolleninszenierungen verweist auf diese komplexen Prozesse der Aus‐ bildung, Entwicklung sowie Ausdifferenzierung und Festigung der verschie‐ denen Rollen der Lehrenden im 19. Jahrhundert. Dabei ist insgesamt eine Oszillation zwischen dem System der Erziehung und dem der Wissenschaft zu beobachten, die sich auf die Rolleninszenierung der Lehrer auswirkte. Einerseits ist eine Ausrichtung am Bild des Gelehrten feststellbar, indem sich die Textpro‐ duzenten innerhalb wissenschaftlicher Diskurse verorten, Forschungsdeside‐ rate identifizieren sowie aufarbeiten und deutlich auf innersystemische Prozesse und Paradigmen des Wissenschaftssystems verweisen - insbesondere auf die Funktion und Leistung des Systems, neues Wissen zu produzieren und der Ge‐ sellschaft zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig finden sich Hinweise auf Prozesse der Vermischung, Ausdiffe‐ renzierung sowie Kanonisierung von Kombinationen verschiedener Rollen, die im Erziehungssystem zu verorten sind. Deutlich werden Verbindungen zwi‐ schen der Rolle als Didaktiker und Gelehrter, aber auch zwischen der des Er‐ ziehers und Didaktikers. Im ersten Fall rekurrieren die Textproduzenten zwar auch auf wissenschaftssystemische Aspekte und stellen so ihre Gelehrsamkeit unter Beweis, betonen aber die Instrumentalisierung bzw. Didaktisierung dieser Zusammenhänge für erziehungssystemische Zwecke. Im zweiten Fall wird dif‐ ferenziert zwischen einer Orientierung auf den Lehrer selbst und damit didak‐ tische Fragestellungen und auf erzieherische Überlegungen, die deutlich auf den 267 Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens 17 Die Heterogenität der Quellenangaben ist der Tatsache geschuldet, dass für einige Texte nicht die vollständigen Namen der Herausgeber und Textproduzenten eruiert werden konnten. Schüler und dessen Erziehung rekurrieren. Dabei orientieren sie sich weiterhin an einem wissenschaftssystemischen sprachlichen Gestus. Gerade die Misch‐ form der Selbstinszenierung als Gelehrter und Didaktiker zeigt, dass sich die Lehrenden an schon gefestigten Rollen für die Konstitution ihres Berufes ori‐ entieren, diese Zuordnungen aber erziehungssystemisch funktionalisiert haben, um eigene Bereiche und Themen aufzubauen sowie abzugrenzen. Auch deuten sich Prozesse der stabilisierenden Verengung der Rollenbilder im Laufe des Un‐ tersuchungszeitraumes an. Diese bedürfen aber weiterführender Untersu‐ chungen. Schließlich zeigt die Analyse die Produktivität des Schulprogramms als Quelle systemischer Aushandlungsprozesse im 19. Jahrhundert an. Literaturverzeichnis Quellen 17 Bauder, Wilhelm 1886: Die Behandlung der deutschen Grammatik an den höheren Lehr‐ anstalten. In: W. Goepel (Hg.): Programm der Realschule und des Progymnasiums zu Homburg von der Höhe, mit welchem zu der öffentlichen Prüfung am 12. und 13. April 1886 im Namen des Lehrer-Collegiums ehrerbietigst einladet Professor W. Goepel, Direktor. 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Während des Telefonats macht sie Notizen. Der Umsatz stieg dank dem Wachstum stark an. Der Umsatz stieg dank des Wachstums stark an. Dabei weisen die beiden Varianten keinerlei semantische Unterschiede auf. Aus grammatikalisierungstheoretischer Sicht ist zu erwarten, dass solche Sekundär‐ präpositionen wie während, die ursprünglich den Genitiv regieren, im Laufe ihrer Entwicklung die Dativrektion typischer, primärer Präpositionen wie mit oder zu anstreben. Es sind jedoch auch Tendenzen von der Dativzur Genitiv‐ rektion beobachtbar, wie bspw. im Falle von dank, die mit diesem Ansatz nicht vollständig erklärt werden können. Die zentrale Hypothese, die dieser Beitrag verfolgt, ist, dass dieses Phänomen durch die Indexikalisierung der beiden Rek‐ 1 Auch der Akkusativ wird als Präpositionalkasus vermutlich abgewertet. Der vorlie‐ gende Beitrag konzentriert sich aber auf die Betrachtung der Dativ- und Genitivrektion. tionsvarianten erklärt werden kann. Der präpositionale Genitiv wird als Kasus formeller Register und gebildeter SprecherInnen konzeptualisiert, während der Dativ als Präpositionalkasus indexikalisch mit informeller Kommunikation ver‐ bunden wird. 1 Diese sprecherseitige Konzeptualisierung der Rektionsvarianten hat einen Einfluss auf die Wahl der Rektionskasus und die Entwicklung der sprachgeschichtlich jungen Präpositionen. Um dies zu zeigen, wird im Fol‐ genden zunächst auf die diachrone Entwicklung der Präpositionen und an‐ schließend auf das Konzept der Indexikalisierung und die Indexikalität der Prä‐ positionalkasus sowie auf die Rolle von Registerunterschieden eingegangen. Der Fokus liegt in diesem Beitrag auf den ursprünglichen Dativpräpositionen dank und gegenüber und den ursprünglichen Genitivpräpositionen während und wegen, für die hier eine Indexikalisierung in unterschiedlichem Maße ange‐ nommen wird. Um der Frage nachzugehen, ob SprecherInnen die Rektionsva‐ rianten bei diesen vier Präpositionen tatsächlich mit unterschiedlichen Regis‐ tern und unterschiedlichen Sprechertypen assoziieren und ob dies die Wahl und die Akzeptabilität von Dativ- und Genitivrektion bei Sekundärpräpositionen beeinflusst, wurde eine Onlineumfrage mit 352 SprecherInnen des Standard‐ deutschen verschiedener Alters-, Berufs- und Bildungsgruppen durchgeführt. Der Fragebogen enthält unter anderem Fragen zu Assoziationen mit Beispielen wie wegen dem Konto oder gegenüber des Lehrers sowie einen Produktionstest und einen Akzeptabilitätstest. Ziel der Studie, die im Kapitel 3 vorgestellt wird, ist es, bisherige diachron oder synchron ausgerichtete variationslinguistische Studien zu den Sekundär‐ präpositionen im Standarddeutschen um die Perspektive der Sprachbenutze‐ rInnen und damit um relevante soziolinguistische bzw. sprachideologische Fragestellungen zu ergänzen. Dabei können dank der großen Datenmenge qua‐ litative und quantitative Auswertungsmethoden miteinander kombiniert werden. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass sowohl die Produktion als auch die Akzeptabilität von Dativ- und Genitivrektion registerabhängig ist. Die Aus‐ wertung der Assoziationen, die SprecherInnen in der Befragung zu den beiden Varianten äußern, macht deutlich, dass dies die Indexikalisierung der Rektions‐ varianten widerspiegelt: Dem Genitiv werden Merkmale wie Bildung und Pro‐ fessionalität zugeschrieben, der Dativ hingegen gilt vielen SprecherInnen als inkorrekt, aber auch als sympathischer. Die Kasus können also einen Einfluss auf die Wahrnehmung des Registers haben und werden dementsprechend als 276 Annika Vieregge 2 Wechselpräpositionen wie unter oder zwischen, die je nach Semantik den Dativ oder den Akkusativ regieren, werden hier nicht weiter thematisiert, da es um nicht seman‐ tisch gesteuerte Kasusvariation gehen soll. Kontextualisierungshinweise genutzt. Prestige und Stigmatisierung nehmen somit als sprachideologische Steuerungsfaktoren Einfluss auf den Sprach‐ wandel im Bereich der Sekundärpräpositionen. 2 Variierende Kasusrektion bei Präpositionen im Deutschen Um die Variation im Bereich der Präpositionen zu erklären, ist ein grammati‐ kalisierungstheoretischer Blick in die Diachronie der schwankenden Präposi‐ tionen nötig: Die sprachhistorisch neuen, wenig grammatikalisierten Sekun‐ därpräpositionen befinden sich im Wandel und ändern dabei häufig auch ihre Rektion (vgl. Di Meola 2011: 224). Synchron ergibt sich dadurch, dass die Vari‐ ation zwischen verschiedenen Rektionskasus bei Sekundärpräpositionen im Standarddeutschen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Sprachhistorisch alte, stark grammatikalisierte Primärpräpositionen wie mit, auf oder in schwanken hingegen nicht in ihrer Kasuswahl. 2 2.1 Entwicklungsrichtungen der Sekundärpräpositionen Schaut man sich das System der Präpositionen des Deutschen an, so lässt sich ein Prototyp erkennen. Zu diesem Prototyp gehören Präpositionen wie in, mit, von oder an, die alle sehr tokenfrequent sind (vgl. u. a. Lindqvist 1994: 15 f.; Di Meola 2001: 69; Szczepaniak 2011: 94). Diese sogenannten Primärpräpositionen regieren alle den Dativ oder den Akkusativ und teilen außerdem weitere Eigen‐ schaften wie Einsilbigkeit und Nicht-Segmentierbarkeit (vgl. Lehmann / Stolz 1992; Di Meola 2011: 214). Primärpräpositionen sind schon sehr lange in Ge‐ brauch und stark grammatikalisiert. Ein hoher Grammatikalisierungsgrad geht bei Präpositionen also mit Dativbzw. Akkusativrektion einher (vgl. Lehmann / Stolz 1992: 16). Neben den Primärpräpositionen findet sich eine Gruppe historisch neuerer, weniger grammatikalisierter Präpositionen, der Sekundärpräpositionen (vgl. u. a. Di Meola 2009: 200). Hier lassen sich zwei Typen unterscheiden: Erstens gibt es Präpositionen, die aufgrund ihrer Wortherkunft ursprünglich den Ge‐ nitiv regieren, z. B. wegen oder während. Die heute sehr geläufige Präposition wegen bspw. entstand aus der Präpositionalphrase von X wegen wie etwa in von des Mannes wegen (vgl. Braunmüller 1985: 304; Meibauer 1995: 50; Szczepaniak 2011: 98). Nachdem die vorangestellte Präposition von wegfiel, blieb die nach‐ 277 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen gestellte Dativform wegen als Postposition, die aber immer häufiger vorange‐ stellt wurde (vgl. Di Meola 2003: 215). Zweitens gibt es Präpositionen, die aufgrund ihrer Wortherkunft ursprüng‐ lich den Dativ bzw. Akkusativ regieren. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf Sekundärpräpositionen mit ursprünglicher Dativ- oder Genitivrektion, weshalb die Akkusativrektion hier nicht thematisiert wird. Zu den Präposi‐ tionen, die ursprünglich nur den Dativ regierten, gehört z. B. die Präposition dank, die vermutlich auf die Konstruktion Dank sei dem Herrn zurückgeht (vgl. Duden 2016: 207). Das ursprünglich nachgestellte gegenüber regiert ebenfalls zunächst den Dativ (vgl. Szczepaniak 2011: 95). Im Laufe ihrer Grammatikalisierung nähern sich die Sekundärpräpositionen den prototypischen Primärpräpositionen nach und nach an (vgl. Lindqvist 1994: 17; Lehmann / Stolz 1992: 38; Szczepaniak 2011: 97). Diese Annäherung betrifft neben Eigenschaften wie der Ausdruckskürze und der Kleinschreibung auch die Rektion. Die erwartbare Entwicklung im Fall der ursprünglichen Genitivrektion ist daher, dass die Präposition im Laufe ihrer Grammatikalisierung den Kasus wechselt und Dativ statt Genitiv wählt. Dies lässt sich etwa bei wegen beob‐ achten (vgl. Duden 2016: 1012 f.). Lindqvist (1994: 38 f.) beschreibt eine schritt‐ weise Veränderung, bei der der Dativ zunächst fakultativ wird und somit als Variante neben der Genitivrektion besteht, bevor diese immer seltener und die Dativrektion schließlich obligatorisch wird. Ursprüngliche Dativpräpositionen hingegen können ihren Kasus auch bei fortschreitender Grammatikalisierung behalten, da sie dem Prototyp in der Rek‐ tion bereits entsprechen. Studien etwa von Becker (2011) oder Di Meola (2000; 2004; 2011) zeigen je‐ doch, dass es im Bereich der Präpositionen noch eine andere Entwicklungsrich‐ tung gibt, die dem Streben nach prototypischen Eigenschaften widerspricht: Zahlreiche Sekundärpräpositionen, die ursprünglich den Dativ regierten (etwa dank), lassen auch die Genitivrektion zu. Di Meola (2011: 226) spricht in diesem Zusammenhang von einer völlig überraschenden Tatsache, die dem in Wissen‐ schaft und Öffentlichkeit viel besprochenen Genitivschwund entgegensteht. In einem von Becker (2011) durchgeführten Produktionsexperiment sollten Pro‐ bandInnen einen formellen, fachsprachlichen und einen alltagssprachlichen Lü‐ ckentext ausfüllen und entschieden sich unabhängig vom durch den Lückentext vorgegebenen Register sowohl bei ursprünglichen Dativals auch bei ursprünglichen Genitivpräpositionen häufiger für den Genitiv als für den Dativ. Dieses Ergebnis zeigt zweierlei: Erstens lässt sich eine deutliche Tendenz der ursprünglichen Dativpräpositionen in Richtung Genitivrektion erkennen, die mit der erwarteten Annäherung an den Prototyp nicht erklärbar ist. Das zeigt 278 Annika Vieregge 3 Auch die überwiegende Zahl der Sekundärpräpositionen, die ursprünglich den Akku‐ sativ regieren, kommt mit Genitiv vor, so z. B. betreffend, inbegriffen und wider (vgl. Di Meola 2009: 214). [3] sich z. B. daran, dass selbst die laut dem Zweifelsfälleduden (Duden 2016: 355) wenig schwankende Dativpräposition gegenüber in Beckers Studie zu 54 % mit dem Genitiv verwendet wurde (vgl. Becker 2011: 211). Zweitens kommen die ursprünglichen Genitivpräpositionen in diesem experimentellen Setting of‐ fenbar wenig bis kaum mit Dativrektion vor, zeigen also kaum Tendenzen zum Prototyp. Ähnlich zeigt sich dies auch in einer Korpusuntersuchung von Di Meola (2000): Er untersucht Fachtexte, Pressetexte, Belletristik, Sachtexte und Unter‐ haltungsliteratur und beobachtet, dass der Trend zur neuen Genitivrektion stärker ausgeprägt ist als der zur neuen Dativrektion (vgl. Di Meola 2000: 215 f.). In den Fachtexten liegt der Anteil der neuen, ,abweichenden‘ Genitivrektion bei über 20 %, in allen anderen Textsorten sogar bei über 40 % (vgl. Di Meola 2000: 211). Selbst für prototypische Präpositionen wie seit oder nach lassen sich Belege mit Genitivrektion finden, wie Di Meola in einer weiteren Korpusunter‐ suchung im DeReKo feststellt (vgl. Di Meola 2004: 172): nach des Umbaus (St. Galler Tagblatt, 30.11.1998, Beispiel aus Di Meola 2004: 172) Das ist erstaunlich, widerspricht es doch der Erwartung, dass die stark gram‐ matikalisierten Primärpräpositionen auf Dativ- oder Akkusativrektion festge‐ legt sind und hier keinerlei Schwankungen vorkommen. Allerdings handelt es sich bei den von Di Meola (2004) angeführten Beispielen lediglich um Einzel‐ belege, die keinesfalls auf einen schwankenden Kasusgebrauch hindeuten. Hier könnte nur eine genauere Auswertung der Belege Aufschluss über deren Status geben. Dennoch lässt sich aus Di Meolas Beobachtungen schließen, dass Spre‐ cherInnen offenbar eine große Menge an Präpositionen mit dem Genitiv ak‐ zeptieren, auch wenn diese ursprünglich den Dativ regiert haben. 3 Auch einige vollständig zum Genitiv übergegangene ursprüngliche Dativpräpositionen wie inmitten zeigen, dass es neben der Annäherung an den Prototyp noch eine an‐ dere Entwicklungsrichtung, die Annäherung an die Genitivrektion, gibt (vgl. Di Meola 2004: 170). Die Entwicklung in Richtung einer neuen Genitivrektion zeigt sich in Di Me‐ olas Untersuchung sogar stärker als der Wechsel zur prototypischen Dativrek‐ tion. Das Vorkommen von ursprünglichen Genitivpräpositionen mit Dativrek‐ tion variiert in den Textsorten zwischen 7 % in der Fachliteratur und 41 % in der Unterhaltungsliteratur (vgl. Di Meola 2000: 210). Auch in einer stärker diachron 279 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen angelegten Untersuchung, in der er das Rektionsverhalten der Präposition wegen zwischen 1750 und 1920 mit dem in heutigen Texten vergleicht, beob‐ achtet Di Meola (2003: 218 f.) eine verzögerte Entwicklung in Richtung des Da‐ tivs. Für die Präpositionen während und innerhalb stellt Di Meola (2000: 239) fest, dass die auf einen geringeren Grammatikalisierungsgrad hindeutende Ge‐ nitivrektion wieder zunehmend in Gebrauch ist. Abbildung 1 fasst die Entwicklungsrichtungen im Bereich der Präpositionen im Standarddeutschen zusammen. Abb. 1: Entwicklungsrichtungen von Sekundärpräpositionen im Deutschen Sowohl für die Entwicklung von der Dativzur Genitivrektion als auch für das lange Beibehalten der Genitivrektion müssen andere Gründe als die Gramma‐ tikalisierung verantwortlich sein. Offenbar wirkt hier neben dem Grammatika‐ lisierungsdruck eine andere Kraft, die den Wechsel zur Dativrektion bremst und den Wechsel zur Genitivrektion vorantreibt. Zwar erklärt Di Meola (2000; 2003; 2006) den Übergang von der Dativzur Genitivrektion damit, dass sich die sprachhistorisch neuen Präpositionen im Zuge ihrer Grammatikalisierung vom Spenderlexem abgrenzen und diese Dif‐ ferenzierung über den Kasuswechsel anzeigen; die Differenzierungshypothese kann jedoch weder die verzögerte Annahme des Dativs bei den ursprünglichen Genitivpräpositionen erklären noch die hohe Akzeptanz und sehr schnelle Ver‐ breitung des abweichenden Genitivs im Vergleich zum abweichenden Dativ. Bezogen auf dank plus Genitiv etwa stellen Baumann / Dabóczi (2014: 257) „eine - für die normale Sprachentwicklung - sehr rasche Verbreitung“ fest. 280 Annika Vieregge „Als Vergleich sei hier an die Entwicklung von wegen + Dativ erinnert, das zum ersten Mal bereits im 17. Jahrhundert belegt wurde, heute jedoch immer noch nur im münd‐ lichen Sprachgebrauch als legitime Variante anerkannt wird.“ (Baumann / Dabóczi 2014: 257) Für die verschiedenen Entwicklungsrichtungen der Präpositionen müssen also unterschiedliche Ursachen verantwortlich sein, wie auch Lehmann / Stolz fest‐ stellen: „[D]er Wechsel von der Dativzur Genitivrektion bei deutschen Adpositionen findet nur unter Einflüssen wie Analogie oder normativem Druck, der Wechsel von der Ge‐ nitivzur Dativrektion jedoch spontan als Begleiterscheinung der Grammatikalisie‐ rung statt.“ (Lehmann / Stolz 1992: 38) 2.2 Indexikalisierung von Dativ und Genitiv Der von Lehmann / Stolz (1992) konstatierte normative Druck scheint für die beobachtete Entwicklung entscheidend zu sein. Sie verstehen darunter vor allem die kodifizierte Norm der Grammatiken, die den Genitiv als Präpositionalkasus vorziehen und damit die Kasuswahl der SprachbenutzerInnen beeinflussen (vgl. ebd.: 36). Allerdings geht der Druck nicht nur von Grammatiken aus, sondern entsteht durch die Bewertung der Varianten durch die SprecherInnen. Was Leh‐ mann / Stolz als normativen Druck bezeichnen, lässt sich daher deutlicher mit dem Konzept der Indexikalisierung beschreiben (vgl. Silverstein 2003). Mit In‐ dexikalisierung ist gemeint, dass sprachliche Formen als Marker für außer‐ sprachliche Merkmale wie Herkunft, Bildung oder sozialen Status fungieren (vgl. Spitzmüller 2013: 265). Irvine / Gal formulieren es so: „It has become a commonplace in sociolinguistics that linguistic forms, including whole languages, can index social groups. As part of everyday behavior, the use of a linguistic form can become a pointer to (index of) the social identities and the typical activities of speakers.“ (Irvine / Gal 2000: 36) Silverstein (2003: 195 f.) beschreibt zwei Seiten einer indexikalisierten Form, die er presupposition und entailment nennt: Zum einen verfügt die Form über eine gewisse Angemessenheit und somit Erwartbarkeit in einem bestimmten Kon‐ text. Zum anderen wird durch ihre Verwendung in einer Situation diese in einen bestimmten Kontext gesetzt, was sich wiederum auf die Angemessenheit und Erwartbarkeit anderer sprachlicher Formen auswirkt. Die Indexikalisierung verläuft laut Silverstein in drei Stufen: Auf der ersten Stufe, der first order in‐ dexicality, ist eine Form in bestimmten soziokulturellen Kontexten häufiger be‐ obachtbar. Den SprachbenutzerInnen ist dieser Unterschied in der Verteilung 281 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen der Form aber nicht bewusst. Dies ist etwa der Fall, wenn sich korpuslinguistisch Unterschiede in der Frequenz eines Merkmals feststellen lassen, die den Sprach‐ benutzerInnen aber nicht auffallen. Auf der zweiten Stufe, der second order in‐ dexicality, ist den SprachbenutzerInnen die Kontextspezifizität der Form be‐ wusst, sodass die Form als Kontextualisierungshinweis fungieren kann (vgl. Auer 1986: 24; Spitzmüller 2013: 266). Sie verweist auf Außersprachliches wie soziokulturelle Merkmale oder Kommunikationssituationen. Dabei muss die Verweiskraft der Form auf eine soziale Gruppe, ein Register etc. nicht die tat‐ sächliche Verteilung der Form widerspiegeln (vgl. Spitzmüller 2013: 266). Auf der dritten Stufe kann die indexikalisierte Form im Sinne eines Labov‘schen Stereotyps zur Stilisierung verwendet werden, bspw. um auf eine bestimmte Personengruppe oder kommunikative Praktik zu verweisen (vgl. Labov 1978: 308 f.; Silverstein 2003: 220). So wird etwa die Koronalisierung von [ç] in ich oder dich als ein typisches Merkmal in Äußerungen jugendlicher SprecherInnen aus einem multikulturellen, großstädtischen Milieu gesehen und dazu ver‐ wendet, diese Gruppe zu konstruieren und stereotyp darzustellen (vgl. An‐ droutsopoulos 2011: 110 ff.). Auch im Bereich der Morphologie bzw. Morpho‐ syntax finden sich zahlreiche Beispiele für third order indexicality. Harnisch (2004: 524) nennt etwa genderneutrale Partizipialformen wie Studierende, die für politische Korrektheit und Feminismus stehen, und spricht von einer „starken Empfindlichkeit der Morphologie für soziale Faktoren“, da Variation in diesem Bereich meist deutlich wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 522 f.). Tabelle 1 stellt eine Übersicht über die Indexikalisierungsstufen bei Silverstein (2003) dar. First order indexicality Kontextabhängige Verteilung beobachtbar, den SprecherInnen aber nicht bewusst Second order indexicality SprecherInnen deuten Variante als Kontextualisierungshinweis Third order indexicality Variante wird zur Stilisierung eingesetzt präsupponiert präsupponiert Tab. 1: Indexikalisierungsstufen bei Silverstein (2003) Was die Verteilung der Rektionsvarianten bei Sekundärpräpositionen angeht, macht Elspaß (2005) in seiner Untersuchung von Auswandererbriefen aus dem 282 Annika Vieregge 19. Jahrhundert die Beobachtung, dass der Genitiv bei geübten, gebildeteren Schreibenden häufiger auftritt als bei ungeübten Schreibenden. Diese ver‐ wenden eher den Dativ oder, in bestimmten Dialektgebieten, den Akkusativ. Er stellt fest, dass Genitivpräpositionen im 19. Jahrhundert in der Alltagssprache selten verwendet werden und ein „Merkmal gebildeter Schreibender“ sind (vgl. ebd.: 321). Der Zweifelsfälleduden überprüft die Verteilung der Kasusrektion von wegen im schriftsprachlichen und im gesprochensprachlichen Korpus und stellt einen Unterschied in den beiden Äußerungsmedien fest: „Nach der Präposition wegen steht im geschriebenen Standarddeutsch normalerweise der Genitiv [...]. Im gesprochenen Standarddeutsch hat sich daneben auch der Ge‐ brauch mit dem Dativ etabliert - beide Formen sind hier korrekt.“ (Duden 2016: 1020 f.) Es lassen sich also kontextbzw. sprecherspezifische Präferenzen für die Dativ- und Genitivrektion erkennen, die die erste Stufe der Indexikalisierung dar‐ stellen. Die zweite Stufe der Indexikalisierung lässt sich bei den Rektionsvarianten zum Beispiel in sprachpflegerischen Publikationen wie denen von Bastian Sick beobachten. Er schreibt etwa: „Welch wohlklingende Wortwahl: wegen des Winterwetters! Und dagegen nun der schnöde Dativ: wegen dem Winterwetter. Was klingt besser? “ (Sick 2006: 101). Hier wird bereits deutlich, dass dem Genitiv mehr Prestige zugeschrieben wird, während der Dativ stigmatisiert wird. Der Dativ wird als Hinweis auf außersprachliche Merkmale wie niedrige Bildung gesehen, der Genitiv gilt hingegen als gehoben, korrekt, ‚bildungssprachlich‘. Der Buchtitel Der Genitiv ist dem Streber sein Sex von Markus Barth (2013) bspw. zeigt, dass dieser Kasus für SprecherInnen einen Hinweis auf bestimmte Perso‐ nengruppen darstellt, die sich etwa durch Bildung und Angepasstheit aus‐ zeichnen. Davies / Langer (2006) stellen fest, dass die Stigmatisierung des Dativs als Präpositionalkasus bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Auch in Aussagen von Grammatikern aus dem 18. oder 19. Jahrhundert zeigt sich, dass der Dativ als Hinweis auf außersprachliche Merkmale wie niedrige Bildung gesehen wird, während der Genitiv als gehoben und bildungssprachlich gilt. In Theodor Mat‐ thias‘ Sprachleben und Sprachschäden, das zum ersten Mal Ende des 19. Jahr‐ hunderts herausgegeben wurde, heißt es zu den Präpositionen ohne und wegen etwa: „Durchaus gebührt ohne der vierte Fall: ohne dich, ohne das Kind, und wegen der zweite: wegen des Vergehens oder des Vergehens wegen. Die ursprünglichere Form von - wegen mit zwischengestelltem Genetiv kommt der Schriftsprache nur noch in den Formeln: von Amts wegen, von Rechts wegen zu; dagegen hüte man sich, die volksmäßige Ver‐ 283 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen 4 Dieser Beleg wurde über die Würzburger Datenbank sprachlicher Zweifelsfälle (ZweiDat) des Lehrstuhls für deutsche Sprachwissenschaft der Universität Würzburg (Leitung: Wolf Peter Klein) gefunden, die über folgende URL zugänglich ist: http: / / kall imachos.de/ zweidat. unstaltung: mit jemand von wegen einem Vorkommnisse reden müssen u. ä. nach‐ zuahmen.“ (Matthias 1929 [1892]: 141) 4 Gegenüber der Verwendung des Genitivs nach den Präpositionen dank und trotz, die beide ursprünglich den Dativ regieren, ist der Sprachratgeber tole‐ ranter: Der Genitiv wird als neue Rektionsvariante nicht stigmatisiert und im Falle der Präposition trotz sogar neben dem Dativ akzeptiert (vgl. ebd.: 142). In den besprochenen metalinguistischen Äußerungen zeigen sich vor allem sozialsymbolische Verweise auf bestimmte Sprechergruppen (etwa gebildete SprecherInnen). Daneben werden für das Vorkommen von Genitiv- und Dativ‐ rektion immer wieder Registerunterschiede angenommen. Die Genitivrektion wird dabei formelleren, die Dativrektion informelleren Registern zugeordnet (vgl. etwa Zifonun u. a. 1997; Elter 2005; Becker 2011). Das Register ist ein Ein‐ flussfaktor, der gerade nicht von der Person, sondern von der Situation, in der diese sich befindet, abhängig ist: „The register is what a person is speaking, determined by what he is doing at the time“ (Halliday / Kirkwood 1978: 110). Biber (1994: 33) verfolgt einen weniger deterministischen Ansatz und betont, die Beziehung zwischen Situation und sprachlichen Mitteln sei insofern bidi‐ rektional, als nicht nur die Situation die sprachliche Form beeinflusst, sondern SprachbenutzerInnen durch die Wahl bestimmter sprachlicher Merkmale auch den Charakter der Situation gestalteten. Zudem handele es sich eher um ein Kontinuum als um scharf abgrenzbare Einzelregister (vgl. ebd.: 36). Als Para‐ meter, die das Register beeinflussen, sieht Biber (ebd.: 40 f.) etwa die Adressaten und ihre Rollen, die Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer, den Bereich, in dem die Kommunikation stattfindet (also etwa geschäftlich oder privat), das Medium, die Beziehung einer Person zum Text, die Intention und das Thema. Für die vorliegende Untersuchung sind Registerunterschiede auf einem recht abstrakten Niveau von Interesse, weswegen hier lediglich zwischen formellen und informellen Registern differenziert wird (vgl. ebd.: 34). 3 Onlinebefragung zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten Die Beobachtungen zur Entwicklung der Sekundärpräpositionen und zur In‐ dexikalisierung der Rektionskasus führen zu folgenden Fragestellungen: 284 Annika Vieregge Wie stark sind die Varianten indexikalisiert, d. h., wie stark sind Einstel‐ lungen, wie wir sie gerade bei Sick, Matthias und Barth gesehen haben, und Registerzuschreibungen im Bewusstsein der SprachbenutzerInnen verankert? Kann diese Indexikalisierung für die Entwicklung der Sekundärpräpositionen entgegen der Grammatikalisierung verantwortlich sein? Um diesen Fragestellungen nachzugehen, wurde eine Onlineumfrage mit SoSci Survey (Leiner 2014) konzipiert. Der Fragebogen umfasst insgesamt sechs Teile, von denen für den vorliegenden Beitrag nur drei von Relevanz sind: • ein Produktionsexperiment, bestehend aus zwei Lückentexten, • ein Akzeptabilitätstest, • Fragen nach möglichen Assoziationen mit Dativ- und Genitivrektion. Außerdem wurden Metadaten der ProbandInnen abgefragt, darunter das Alter, das Geschlecht und der Beruf. An der Onlinebefragung nahmen insgesamt 352 SprecherInnen des Deutschen teil. Die regionale Herkunft der fast ausschließ‐ lich bundesdeutschen SprecherInnen war relativ ausgewogen: 129 Befragte kamen aus norddeutschen Bundesländern, 101 aus süddeutschen, 88 aus west‐ deutschen und 28 aus ostdeutschen Bundesländern. Lediglich 3 Befragte gaben an, nicht aus Deutschland zu kommen. Unter den Befragten waren 213 Proban‐ dinnen und 129 Probanden, 2 mit einer anderen Geschlechtsidentität und 8, die keine Angabe hierzu machten (im Fragebogen konnte zwischen „weiblich“, „männlich“, „anderes“ und „keine Angabe“ gewählt werden). Die große Mehr‐ heit der Befragten war zwischen 18 und 35 Jahre alt (240 ProbandInnen), 81 waren zwischen 36 und 65 Jahre alt und nur 13 Befragte gaben an, über 65 Jahre alt zu sein. Die übrigen 18 Befragten machten keine Angabe zu ihrem Alter. Die Befragten sind zum größten Teil sehr gebildet: 84 geben als höchsten Abschluss das Abitur an, 208 haben einen Hochschulabschluss, 23 sind promoviert oder habilitiert. Nur 32 haben kein Abitur, 5 geben einen anderen Abschluss an. Im Folgenden sollen zunächst die Ergebnisse des Produktionsexperiments und des Akzeptabilitätstests vorgestellt werden. Anschließend wird auf die As‐ soziationen eingegangen, die Befragte zu den Rektionsvarianten geäußert haben. 3.1 Kasuswahl im Produktionsexperiment Das Produktionsexperiment im Fragebogen besteht aus zwei Lückentexten, die beide in randomisierter Reihenfolge von allen Befragten ausgefüllt wurden. Die Aufgabe besteht darin, in die Lücken jeweils den Definitartikel und die entspre‐ chende Form eines in Klammern vorgegebenen Substantivs einzutragen. Die Substantive wurden so ausgewählt, dass sie keine Kasussynkretismen auf‐ 285 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen weisen. Beide Texte repräsentieren unterschiedliche Register: Der erste Lü‐ ckentext ist einer informellen Textnachricht nachempfunden und enthält zahl‐ reiche Mündlichkeitsmarker wie Apokopen. Zur Unterstreichung der Informalität sind außerdem Emoticons in den Text eingeflochten. Der zweite Lückentext ist einem klassischen Bewerbungsschreiben nachempfunden und repräsentiert somit ein formelleres Register. Abgefragt wurden die Präposi‐ tionen wegen, während, dank und gegenüber. Abbildung 2 zeigt die Wahl des Rektionskasus im informellen und im for‐ mellen Register in absoluten Zahlen. Unter „Sonstiges“ sind Fälle zusammen‐ gefasst, in denen ein anderer Kasus oder ein anderes Substantiv eingetragen wurde. Abb. 2: Kasuswahl im Produktionsexperiment Die ursprüngliche Dativpräposition dank ist offenbar tatsächlich schon so gut wie vollständig zur Genitivrektion übergegangen. Ein Faktor, der die Wahl des Genitivs begünstigen könnte, ist, dass die Präposition selbst einem eher for‐ mellen Register angehört und somit auch den informell konzipierten Lückentext auf ein formelleres Register anhebt (vgl. Kap. 2.2). Es sind aber dennoch hoch‐ signifikante Unterschiede zwischen den Registern erkennbar: Die Präposition 286 Annika Vieregge 5 Da die Kategorie „Sonstiges“ bei der Durchführung des Unterschiedstests nicht von vornherein ausgeklammert werden kann, die erwarteten Werte hier aber unter fünf liegen und somit keinen Chi-Quadrattest zulassen, wurde zunächst ein Fisher‘s Exact-Test für die gesamte Tabelle inklusive der Kategorie „Sonstiges“ gerechnet. An‐ schließend wurde ein Fisher‘s Exact-Test nur für die Kategorien „Dativ“ und „Genitiv“ gerechnet. Die Ergebnisse dieses zweiten Tests werden hier angegeben. [4] wird im formellen Lückentext hochsignifikant häufiger mit dem Genitiv ge‐ braucht (Fisher‘s Exact: p<0,001) 5 (R Core Team 2016). Offenbar begünstigt das informelle Register also tatsächlich die Dativrektion. Die Effektstärke ist aller‐ dings nur schwach (odds ratio=2,34). Gegenüber ist zwar mit dem Genitiv möglich, kommt aber in beiden Lücken‐ texten deutlich häufiger mit dem Dativ vor. Es gibt keine erkennbaren Unter‐ schiede zwischen der Wahl des Rektionskasus im informellen und im formellen Register (Fisher‘s Exact: p>0,05). Das Produktionsexperiment bestätigt also, dass diese Präposition (noch) kaum schwankt. Betrachtet man die Ergebnisse der ursprünglichen Genitivpräpositionen wegen und während, fällt zunächst auf, dass - wie im Falle von dank - auch hier die Genitivrektion in beiden Lückentexten überwiegt. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass bei den Rektionsvarianten der Sekundärpräpositionen bereits die third order indexicality (vgl. Silverstein 2003) erreicht ist: In einer „Testsitua‐ tion“ wählen viele Befragte lieber die Genitivrektion, die als gebildeter, formeller und professioneller gilt. Dass die Befragung von einigen als Testsituation auf‐ gefasst wurde, zeigen zahlreiche Anmerkungen, die am Ende des Fragebogens abgegeben wurden, wie etwa: Gibt es ein Lösungsblatt? Trotzdem sind die Unterschiede zwischen dem formellen und dem informellen Lückentext für beide Präpositionen hochsignifikant (Fisher‘s Exact für wegen: p<0,001; für während: p<0,001). Im informellen Text wird die Dativrektion so‐ wohl bei wegen als auch bei während deutlich häufiger gewählt als im formellen Text. Es zeigt sich eine mittlere Effektstärke (odds ratio wegen=2,71; odds ratio während=3,52). Das heißt, wir können trotz der Testsituation, die die Ergebnisse mit Sicherheit verzerrt, einen Effekt des Formalitätsgrades beobachten. In na‐ türlichen Kommunikationssituationen ist dieser Effekt wahrscheinlich noch stärker. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass die Verweiskraft der Varianten einen Einfluss auf ihre Verwendung hat: Die Dativrektion wird eher in infor‐ mellen Kontexten gewählt, die Genitivrektion hingegen wird in formellen Kon‐ texten bevorzugt. Ob es sich tatsächlich um einen bewussten Einsatz der Rek‐ tionsvarianten und somit die dritte Stufe der Indexikalisierung handelt, soll im 287 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen Folgenden anhand der Ergebnisse des Akzeptabilitätstests und der von den Be‐ fragten geäußerten Assoziationen überprüft werden. 3.2 Akzeptabilität in formellen und informellen Kontexten Mithilfe des Akzeptabilitätstests in der Onlinebefragung soll ermittelt werden, inwiefern die Einbettung der Rektionskasus in unterschiedliche Register zu un‐ terschiedlichen Bewertungen der Rektionsvarianten führt. Der Akzeptabilitäts‐ test besteht daher aus einer formellen und einer informellen Kondition. In der formellen Kondition werden die Befragten gebeten, sich vorzustellen, dass sie einen formellen Brief korrigieren, den ein Freund an ein Amt geschrieben hat. In der informellen Kondition hingegen sollen sie sich vorstellen, in einem mündli‐ chen Gespräch mit einem Freund zu sein. Den Befragten wird jeweils ein Bei‐ spiel mit Sekundärpräpositionen präsentiert, das sie zunächst nach Korrektheit und anschließend nach Angemessenheit in der entsprechenden Situation be‐ werten sollen. Für den Akzeptabilitätstest wurden die Befragten in vier Gruppen aufgeteilt, sodass in jeder Gruppe ca. 80 Befragte waren. Die ersten beiden Gruppen be‐ werteten die ursprünglichen Dativpräpositionen dank und gegenüber, die an‐ deren beiden die ursprünglichen Genitivpräpositionen wegen und während. Gruppe 1 und 2 (Dativpräpositionen) bzw. 3 und 4 (Genitivpräpositionen) un‐ terschieden sich untereinander nur darin, in welcher Kondition welche Präpo‐ sition präsentiert wurde. Alle Präpositionen wurden jeweils mit der neueren Rektionsvariante präsentiert, sodass dank und gegenüber mit dem Genitiv, wegen und während mit dem Dativ standen (für die Testsätze vgl. Abb. 3 und 4). Abbildung 4 zeigt zunächst die Ergebnisse des Akzeptabilitätstests zu den ursprünglichen Dativpräpositionen. Dargestellt ist für jedes Beispiel aus dem Akzeptabilitätstest jeweils, wie viele Befragte (in absoluten Zahlen) es als kor‐ rekt und wie viele es als angemessen einstufen. 288 Annika Vieregge Abb. 3: Akzeptabilität der Genitivrektion bei ursprünglichen Dativpräpositionen Die Akzeptabilitätswerte zeigen, dass der Genitiv bei der noch kaum schwankenden Präposition gegenüber (s. Kap. 2.1) interessanterweise recht akzeptiert ist. Das gilt insbesondere für den formellen Kontext: Hier wird das Beispiel gegenüber des Sachbearbeiters von knapp 40, also von ca. der Hälfte der Befragten in dieser Gruppe, als korrekt und angemessen angesehen. Das entspricht unge‐ fähr dem Anteil, den Becker (2011) in ihrem oben besprochenen Produktions‐ experiment für gegenüber mit dem Genitiv erhält. Im informellen Teil des Ak‐ zeptabilitätstests sehen weniger Befragte - aber immerhin noch mehr als 25 - gegenüber mit Genitivrektion als korrekt und angemessen an. Die Unterschiede zwischen der Bewertung im informellen und der im formellen Register bei ge‐ genüber sind laut Chi-Quadrattest nicht signifikant (p>0,05). Interessant ist bei gegenüber auch die Diskrepanz zwischen Akzeptabilität und Produktion: Obwohl in beiden Lückentexten beinahe von allen Befragten die Dativrektion gewählt wurde (s. Kap. 3.1), wurde die Genitivrektion im Ak‐ zeptabilitätstest in beiden Konditionen von mindestens einem Viertel der Be‐ fragten akzeptiert. 289 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen Bei dank wird der Genitiv sehr stark akzeptiert. Beinahe alle Befragten sehen ihn sowohl im informellen als auch im formellen Register als korrekt an. Auch die Bewertung der Angemessenheit dieser Variante unterscheidet sich in den beiden Kontexten kaum: Im informellen Kontext bewerten 19 Befragte dank mit Genitivrektion als unangemessen, im formellen Kontext sind es 14. Sowohl in der Bewertung der Korrektheit als auch in der Bewertung der Angemessenheit gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Registern, wie der Chi-Quadrattest zeigt (p jeweils >0,05). Wie schon im Produktionstest, zeigt sich also auch im Akzeptabilitätstest, dass dank größtenteils zum Genitiv überge‐ gangen ist. Abbildung 4 zeigt die Akzeptabilitätswerte der Dativrektion bei den ursprünglichen Genitivpräpositionen wegen und während. Hier zeigen sich deut‐ liche Unterschiede zwischen der Bewertung im informellen und im formellen Kontext. Abb. 4: Akzeptabilität der Dativrektion bei ursprünglichen Genitivpräpositionen Bei wegen wird gut sichtbar, dass selbst die Beurteilung der Korrektheit von der Kommunikationssituation abhängen kann, in der eine Form bewertet werden 290 Annika Vieregge [5a] [5b] soll: Hier unterscheidet sich die Anzahl derer, die die Dativrektion als korrekt ansehen, laut Chi-Quadrattest sehr signifikant zwischen dem informellen und dem formellen Kontext (p<0,01). Die Effektstärke ist allerdings gering (Phi=0,2). Während mit Dativrektion hingegen wird in beiden Kontexten ungefähr gleich‐ häufig bzw. gleichselten als korrekt beurteilt. Hier ergibt ein Chi-Quadrattest keinen signifikanten Unterschied (p>0,05). Dass gerade die Korrektheit von wegen mit Dativ so unterschiedlich bewertet wird, liegt vermutlich an zwei Eigenschaften dieser Präposition: Sie ist erstens relativ stark grammatikalisiert und kommt daher vor allem in informellen Registern bereits häufig mit dem Dativ vor. Zweitens hat diese Präposition eine große Prominenz im Diskurs erreicht und ihre Rektionsvarianten sind besonders stark indexikalisiert. Große Unterschiede zwischen formellem und informellem Register zeigen sich im Akzeptabilitätstest zu den ursprünglichen Genitivpräpositionen vor allem in Bezug auf die Angemessenheit. Bei beiden Präpositionen sind die Un‐ terschiede hier hochsignifikant und es zeigen sich mittlere bis hohe Effekt‐ stärken (Chi-Quadrat-Test wegen: p<0,001, Phi=0,66; während: p<0,001, Phi=0,55). Dadurch ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Bewertung der Korrektheit und der Bewertung der Angemessenheit der Va‐ rianten im informellen Register: Die Dativrektion bei den ursprünglichen Ge‐ nitivpräpositionen wird zwar von vielen Befragten als nicht korrekt angesehen, sie beurteilen sie aber dennoch als angemessen. Im formellen Register ist das Bild ein anderes: Der Dativrektion wird hier stets noch etwas seltener Ange‐ messenheit als Korrektheit zugesprochen. Im Vergleich zur Akzeptabilität mit der neuen Genitivrektion bei dank und gegenüber zeigt sich deutlich, dass die Dativrektion weniger gut von den Be‐ fragten aufgenommen wird. Obwohl wegen mit Dativ verbreiteter ist als gegen‐ über mit Genitiv (vgl. Duden 2016: 618 f.), wird gegenüber des Sachbearbeiters im formellen Kontext von ca. 40 Befragten akzeptiert, wegen dem Konto aber nur von ca. 10. 3.3 Assoziationen mit Dativ- und Genitivrektion Im Assoziationsteil des Fragebogens wurden die TeilnehmerInnen nach Asso‐ ziationen gefragt, die sie zu zwei Varianten eines Satzes haben. Die beiden Va‐ rianten unterschieden sich nur im Rektionskasus der Präposition. Sie wurden den TeilnehmerInnen untereinander präsentiert, wie in [5] dargestellt. Ich bin wegen dem Starkregen zu spät gekommen. Ich bin wegen des Starkregens zu spät gekommen. 291 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen Die Assoziationen konnten von den Befragten frei in ein Textfeld eingetragen werden. Um Reihenfolgeeffeke zu vermeiden und den Fragebogen kurz zu halten, bekamen alle Befragten jeweils nur zwei Satzvarianten mit einer der Präpositionen. Dafür wurden die Befragten erneut auf vier Gruppen verteilt. Bei der Auswertung der geäußerten Assoziationen wurde das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet (vgl. Mayring 2010; Schreier 2014). Zu‐ nächst wurden bei einer ersten Durchsicht der Antworten induktiv Kategorien abgeleitet. In diese wurden die Antworten der ProbandInnen anschließend ein‐ geordnet, wobei als Kategorisierungseinheit immer die gesamte Antwort he‐ rangezogen wurde. Im Zuge der Kodierung der induktiv gebildeten Kategorien wurden zusätzlich Subkategorien gebildet. Tabelle 2 gibt einen Überblick über das so entstandene Kategoriensystem. Kategorien Subkategorien Register formell informell Person Bildung Charakter Sympathie bestimmte Gruppe Varietät Standard Dialekt Umgangs-/ Alltagssprache Sprachwandel natürlicher Wandel Sprachverfall Ästhetik Ästhetisch Nicht ästhetisch Bedeutung und Verständlichkeit Korrektheit richtig falsch Nicht kasusbezogen Tab. 2: Kategoriensystem für die Analyse der Assoziationen Vor allem die Assoziationen, die sich auf die Registerzugehörigkeit beziehen, und diejenigen, die sich auf die Person beziehen, die eine solche Variante äußert, werden recht häufig geäußert und scheinen daher relevant zu sein (vgl. auch Kap. 2.2). Daher sollen diese beiden Kategorien hier in den Blick genommen werden. Als Registerassoziationen wurden Aussagen kodiert, die eine be‐ 292 Annika Vieregge [6] [7] [8] stimmte Kommunikationssituation beschreiben (etwa ein Bewerbungsge‐ spräch), ein konkretes Äußerungsmedium nennen (etwa schriftliche Kommu‐ nikation), eine spezifische Adressatengruppe nennen (etwa die Familie) oder durch Adjektive wie formell oder offiziell ein Register charakterisieren. Hier wurde auf der Ebene der Subkategorien lediglich zwischen formell und informell unterschieden. In der Kategorie Person wurden Aussagen kodiert, die die Spre‐ cherin oder den Schreiber der präsentierten Variante in den Blick nehmen. Diese Antworten wurden untergliedert in solche, die sich auf die Bildung der Person beziehen, solche, die einer Person eine bestimmte Charaktereigenschaft zu‐ schreiben, solche, die eine Person als sympathisch oder unsympathisch ein‐ stufen, und solche, die eine Variante einer konkreten Sprechergruppe zuordnen. Die Antworten, die die Varianten mit dem Konzept eines bestimmten Regis‐ ters in Verbindung bringen, zeigen, dass der Genitiv insbesondere mit formellen Kommunikationssituationen assoziiert wird. Dabei ist diese Assoziation kaum davon abhängig, ob es sich bei der Präposition um eine ursprüngliche Genitiv- oder eine ursprüngliche Dativpräposition handelt. Zum Genitiv bei der Dativ‐ präposition dank (dank des Brückentags konnte ich ihn besuchen) wird bspw. fol‐ gendes geäußert: formelle Unterhaltung, z. B. mit Vorgesetzten oder anderen weniger ver‐ trauten Personen, die einen gewissen Respekt verdienen (Doktorandin chi‐ nesische Literatur, 25, zu dank mit dem Genitiv) Das Register wird von der Befragten hier recht genau eingegrenzt, was den Bereich (Gespräch bei der Arbeit), die Rolle der AdressatInnen und die Bezie‐ hung, in der die Beteiligten stehen (Angestellte und Vorgesetzter bzw. Respekts‐ person), angeht. Der Dativ gilt im Gegensatz dazu als informellen Registern zugehörig. Auch diese Assoziation wird sowohl in Bezug auf die ursprünglichen Genitivpräpo‐ sitionen (s. [7]) als auch in Bezug auf die ursprünglichen Dativpräpositionen (s. [8]) geäußert. eher umgangssprachlich, mündlich, private Kommunikation (Angestellte, 28, zu während mit dem Dativ) mündliche oder eher informelle Nachricht (Student, 25, zu dank mit dem Dativ) In den Antworten der Befragten wird deutlich, wie sie Register konzeptuali‐ sieren. Insbesondere zwei wichtige Aspekte, die Register konstituieren können, werden angesprochen (vgl. Biber 1994: 40 f.): Auf der einen Seite werden Un‐ terschiede deutlich, was mediale bzw. konzeptionelle Gegebenheiten wie etwa 293 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen [9] [10] [11] [12] [13] Formalität oder Mündlichkeit angeht (vgl. auch Koch / Oesterreicher 2007). Auf der anderen Seite werden typische AdressatInnen für die Beispielsätze genannt. Offenbar verweisen die Rektionsvarianten also auf verschiedene Registerkon‐ zepte und führen dazu, dass Beispielsätze einem Register zugeordnet werden. Wie spezifisch das von den Befragten assoziierte Register ist, ist dabei unter‐ schiedlich. Auch in der Kategorie Person und deren Subkategorien, also in Bezug auf die Sprechertypen, die mit den beiden Rektionsvarianten verknüpft werden, er‐ geben sich interessante Unterschiede zwischen den Kasus. Die Varianten mit Genitivrektion werden als Verweise auf hohe Bildung gesehen, wie etwa diese zu während geäußerte Assoziation zeigt: gebildeter Gesprächspartner (Realschullehrerin, 61, zu während mit dem Genitiv) Der Dativ wird von den Befragten als Zeichen für geringe Bildung gesehen: eher ungebildet (Sozialversicherungsfachangestellter, 25, zu wegen mit dem Dativ) Schaut man sich alle 20 Antworten an, die in der Subkategorie Bildung kodiert wurden, ergibt sich ein eindeutiges Bild: Zum Dativ finden sich ausschließlich Aussagen, die diese Rektionsvariante mit geringer Bildung assoziieren, alle As‐ soziationen mit einem hohen Bildungsgrad beziehen sich auf Varianten mit Ge‐ nitivrektion. Die einzigen beiden Äußerungen, die die Genitivrektion mit ge‐ ringer Bildung verbinden, finden sich zu gegenüber mit dem Genitiv. Bei dieser Präposition gibt es auch keine Antworten, die die Dativrektion ungebildeten SprecherInnen zuschreiben. Neben den Assoziationen mit einem hohen oder niedrigen Bildungsstand finden sich Aussagen, die die Varianten mit konkreten Charaktereigenschaften in Verbindung bringen. Arroganz, Selbstgefälligkeit (Studentin Medizin, 23, zu dank mit dem Ge‐ nitiv) genau und kleinlich (Ingenieur, 84, zu wegen mit dem Genitiv) netter Kerl (Student Musik, 22, zu während mit dem Dativ) Offenbar deuten einige Befragte den Genitiv als Hinweis auf Arroganz oder Pedanterie, der Dativ gilt hingegen einigen als sympathisch. Die Nennungen von konkreten Persönlichkeitsmerkmalen zeigen, dass allein der Rektionskasus sehr spezifische Assoziationen hervorrufen kann. So werden die Varianten teil‐ 294 Annika Vieregge 6 Für die gewinnbringende Diskussion zu diesem Aspekt danke ich Alexandra Schiesser. [14] weise auch bestimmten Personengruppen oder Stereotypen zugeordnet, wie die folgende Assoziationsäußerung zeigt: Arbeiter (Studentin Geographie, 25, zu während mit dem Dativ) Die Antworten der Befragten machen die second order indexicality deutlich, über die die Rektionsvarianten der hier untersuchten Sekundärpräpositionen ver‐ fügen. Genitiv- und Dativrektion werden als Kontextualisierungshinweise ver‐ standen und interpretiert und verschiedenen Registern und Sprechertypen zu‐ geschrieben. Die Verweiskraft der Rektionsvarianten, die die Assoziationen der Befragten offenlegen, lässt sich gut mit Eckerts Konzept der Indexical fields beschreiben: 6 Eckert (2008: 457) geht davon aus, dass eine Variante, sobald sie einmal von den SprachbenutzerInnen bemerkt und mit sozialsymbolischer Be‐ deutung aufgeladen wird, das Potenzial entfaltet, mit dem Wissen um die In‐ dexikalität wieder verwendet zu werden und so weitere Bedeutungsfacetten anzunehmen. So lässt eine sprachliche Form nicht mehr nur eine Interpretation zu, sondern verfügt über ein Set von sozialsymbolischen Bedeutungsaspekten, die je nach Verwendungskontext und beteiligten AkteurInnen aktiviert werden. Welcher Aspekt in den Vordergrund rückt, ist dabei sowohl von der Hörerin bzw. dem Leser als auch vom Kotext und dem Inhalt der Äußerung abhängig (vgl. ebd.: 466). Wie die Ergebnisse des Assoziationstests zeigen, kommt es im Falle der Rektionsvarianten bei Sekundärpräpositionen zu einer recht differenzierten Bewertung der Varianten, die hier beispielhaft an den Kategorien Re‐ gister und Person gezeigt wurde. Die Genitivrektion deutet für die Befragten auf ein formelles Register hin, die Dativrektion ordnen sie in ein informelles Register ein. Zudem verbinden sie die Rektionsvarianten mit unterschiedlichen Sprechermerkmalen: Die Genitivrektion wird mit hoher Bildung und Prestige assoziiert, die Dativrektion hingegen mit geringerer Bildung und der Arbeiter‐ klasse. Die Antworten, die in den Subkategorien Charakter und Sympathie ko‐ diert wurden, zeigen, dass der Genitiv mit Arroganz verbunden wird, während die Dativrektion als vertraut und sympathisch empfunden wird. 4 Resümee und Ausblick Die Rektionsvarianten der hier untersuchten Sekundärpräpositionen wegen, während, dank und gegenüber werden sozialsymbolisch aufgeladen. In den As‐ soziationen, die Befragte zu den Varianten äußern, kann eine differenzierte Auf‐ gliederung in unterschiedliche indexikalische Felder (vgl. Eckert 2008) beob‐ 295 Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen achtet werden. Dabei verweisen die Varianten sowohl auf verschiedene Registerkonzepte (formell - informell) als auch auf verschiedene, zum Teil sehr konkrete Sprechereigenschaften wie geringe Bildung, Arroganz, Pedanterie oder Sympathie. Interessant wäre hier sicherlich ein Blick auf eventuelle regio‐ nale Unterschiede in der Indexikalität der Varianten. Eine detailliertere Kate‐ gorisierung der erhobenen Assoziationen ist notwendig, um das gesamte inde‐ xikalische Potenzial der Rektionsvarianten zu erfassen. Dennoch lassen die ausgewerteten Assoziationen in Verbindung mit den Ergebnissen aus dem Pro‐ duktions- und dem Akzeptabilitätstest erkennen, dass die Rektionsvarianten der Sekundärpräpositionen bereits die third order indexicality erreicht haben: Die Verweiskraft der Varianten ist den SprecherInnen bewusst und wirkt sich nicht nur auf die Akzeptabilität, sondern auch auf die Wahl des Rektionskasus aus. Im Akzeptabilitätstest zeigt sich die Indexikalität insbesondere in der je nach Register unterschiedlichen Bewertung der Angemessenheit. Bei beiden Geni‐ tivpräpositionen wird die Dativrektion im informellen Register von der Mehr‐ heit der Befragten als angemessen bewertet, im formellen Register hingegen empfindet nur ein sehr kleiner Teil diese Variante als angemessen. Bei wegen mit Dativrektion beeinflusst das Register, in dem die Variante präsentiert wird, aber auch die Beurteilung der Korrektheit. Im Produktionsexperiment zeigt sich, dass die Befragten die Rektionsvarianten bewusst einsetzen. Offenbar führt die Testsituation, als die viele die Befragung empfinden, dazu, dass der Genitiv be‐ vorzugt wird, mit dem man sich als gebildet stilisieren kann. Bei allen Präposi‐ tionen bis auf gegenüber überwiegt diese Rektionsvariante deutlich. Es machen sich bei wegen, während und dank aber Registereffekte bemerkbar, die zu hoch‐ signifikanten Unterschieden in der Kasuswahl führen. Insgesamt lässt sich also schließen, dass die starke Indexikalisierung der Genitiv- und Dativrektion bei Sekundärpräpositionen einen deutlichen Einfluss auf die Verteilung der Va‐ rianten hat. Die sozialsymbolische Aufladung der Kasus führt zu einer funkti‐ onalen Differenzierung, die die beobachteten Entwicklungstendenzen im Be‐ reich der Sekundärpräpositionen erklärt. 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Ziel ist die funktionale Vermittlung grammatischen Wissens anhand au‐ thentischer Textsorten. Dazu bedient sich die textsortenbasierte Grammatikdi‐ daktik der holistischen Beschreibungsmodelle (sog. „Mehr-Ebenen-Modelle“) der Textsortenlinguistik (vgl. z. B. Adamzik 2016; Bachmann-Stein 2004; 2006; 2009; Heinemann / Heinemann 2002; Stein 2004; 2016). Mehr-Ebenen-Modelle gehen von einem komplexen Zusammenspiel textinterner und textexterner Merkmale bei der Textkonstitution aus. Sie dienen der ganzheitlichen Betrach‐ tung und Analyse von Textsorten unter Berücksichtigung beschreibungsrele‐ vanter Parameter auf der sprachlichen, inhaltlichen und kontextuellen Ebene. Grammatische Phänomene werden im Rahmen einer textsortenbasierten Gram‐ matikdidaktik in ihrer Funktionalität für den Text als Vertreter einer Textsorte erfahrbar, indem sie im Zusammenhang mit den Parametern der jeweils vorlie‐ genden Textsorte betrachtet werden. Textsorten (und ihre Beschreibungsmo‐ delle) liefern damit kommunikativ-funktionale Erklärungen für das Auftreten grammatischer Mittel und Strukturen in konkreten Texten, weil sie „einen kom‐ munikativen Rahmen [schaffen], innerhalb dessen grammatische Strukturen ihre je spezifische Wirkung entfalten“ (Thurmair 2011: 414). Unter einer Textsorte versteht die jüngere textlinguistische Forschung die sprachliche bzw. textuelle Realisierung eines konventionalisierten Musters für die Bewältigung wiederkehrender kommunikativer Aufgaben (vgl. z. B. Brinker 2010: 125). Die textsortenbasierte Grammatikdidaktik macht sich das funktio‐ nale Textsortenverständnis zu Nutze, indem sie die sprachliche (insbesondere grammatische) Ebene auf die inhaltlich-thematische, situative und funktionale Ebene holistischer Textsortenbeschreibungsmodelle bezieht. Sie bewegt sich damit im Vergleich zur Textsortenlinguistik in umgekehrter Analyserichtung, beschreitet sozusagen den Rückweg vom Sprachlichen zum Außersprachlichen, indem sie die sprachliche Ausgestaltung eines Textes unter Rückgriff auf tex‐ tuelle und kontextuelle Beschreibungsdimensionen funktional erklärt. Gram‐ matische Phänomene werden so für die Lerner überhaupt erst greifbar: „Da die sprachliche Ausgestaltung von konkreten Textsorten überwiegend aus ihren kommunikationssituativen und funktionalen Charakteristika heraus erklärt werden kann und - umgekehrt betrachtet - die Auswahl bestimmter sprachlicher Möglich‐ keiten (etwa grammatischer Strukturen) den spezifischen Zwecken und Charakteris‐ tika der Textsorte geschuldet sind, eignen sich Textsorten auf ausgezeichnete Weise dazu, sprachliche Mittel in Funktion für den Lerner sichtbar zu machen und zu ver‐ mitteln.“ (Thurmair 2015: 380) Die textsortenbasierte Grammatikdidaktik macht die funktionale Beziehung zwischen sprachlicher Gestaltung und Textsorte für die Vermittlung gramma‐ tischen Wissens nutzbar. Der Begriff Textsorte ist in diesem Kontext stets spezifisch gebraucht (vgl. Adamzik 1995: 16 f.), als prototypische Kategorie auf vergleichsweise niedrigem Abstraktionsniveau mit konstituierenden und dif‐ ferenzierenden Merkmalen (vgl. Stein 2004: 186-188). Auch wenn der hier skizzierte Ansatz bislang überwiegend innerhalb der Fremdsprachenforschung entwickelt und rezipiert worden ist, bietet er nicht nur ein fremdsprachendidaktisches, sondern vielmehr ein allgemein sprachdi‐ daktisches Potenzial. Textsortenbasierte Grammatikarbeit ist insbesondere auch für den auf die Professionalisierung des eigenen Sprachgebrauchs zielenden 302 Daniel Mischa Helsper schulischen Deutschunterricht von Nutzen. Grammatikunterricht findet dort meist unter der Überschrift „Reflexion über Sprache“ statt (vgl. z. B. Gornik 2010; 2014). Sprachreflexion beinhaltet ein Nachdenken über Sprache, das über den traditionellen Grammatikunterricht hinausgeht, beispielsweise auch kommunikativ-pragmatische Überlegungen einschließt, und die Lernenden für Ver‐ wendungsweisen von Sprache und damit letztlich für den eigenen Sprachge‐ brauch sensibilisieren soll. Erklärtes Ziel ist die Ausbildung von Sprachbewusst‐ heit (vgl. dazu auch den Begriff der Language Awareness im Kontext der Mehrsprachigkeitsforschung, z. B. Oomen-Welke 2016). Gemeint ist „die Ver‐ fügbarkeit einer kognitiven Orientierung beim Sprachgebrauch“ (Andresen / Funke 2006: 439). Diese beinhaltet „ein bewusst analytisches Verhältnis zu Phä‐ nomenen einer Sprache“ (Eichler 2007: 33) ebenso wie ein bewusstes „Monito‐ ring“ (Ossner 2010: 135) des eigenen Sprachhandelns. Sprachbewusstheit dient damit dem übergeordneten Lernziel eines reflektierten Sprachgebrauchs (vgl. Budde u. a. 2012: 33-35). Anders ausgedrückt: „Wer seine Sprachbewusstheit entwickelt hat, macht nicht nur Gebrauch von Sprache, sondern er tut dies ge‐ zielt und mit Blick auf mögliche sprachliche Alternativen - also reflektiert“ (Gornik 2010: 233). Vor diesem Hintergrund entfaltet die textsortenbasierte Grammatikdidaktik ihr spezifisches Potenzial. Textsortenbasierte Grammatikarbeit erfolgt stets kontextbezogen, weil sie die für eine Textsorte typischen grammatischen Mittel und Strukturen im Zusammenhang mit inhaltlich-thematischen, situativen und funktionalen Charakteristika der jeweils vorliegenden Textsorte reflektiert. Grammatik wird nicht isoliert, sondern an authentischem Textmaterial und in textsortenspezifischen Funktions- und Verwendungszusammenhängen vermit‐ telt. Im Vordergrund stehen die textuellen und kommunikativ-pragmatischen Leistungen von Sprache im Allgemeinen und von Grammatik im Besonderen. Textsortenbasierter Grammatikunterricht fragt nicht einfach, welche gramma‐ tischen Mittel und Strukturen in einem Text auftreten, sondern warum diese dort auftreten und vor allem mit welchen textuellen und kommunikativ-prag‐ matischen Funktionen. Auf diese Weise erhält der schulische Sprachunterricht eine - aus Sicht funktionaler und situativer Grammatikansätze sinnvolle und überfällige - „textpragmatische Fundierung“ (Ziegler 2006: 33). Dies bietet Chancen für die Ausbildung von Sprachbewusstheit und den integrierten Er‐ werb sprachlicher Formulierungs- und Textsortenkompetenz. Gerade das Zu‐ sammenspiel der beiden letztgenannten Kompetenzen ist im Kontext des Er‐ werbs von Fach- und Bildungssprache von besonderer Bedeutung. 303 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik 1 Nicht zu den Situativadverbialien zählen die sog. Kommentaradverbialien, welche sich weder auf das Prädikat noch auf den dargestellten Sachverhalt, sondern auf die Äuße‐ rung selbst beziehen (vgl. Wöllstein 2016: 794-797). Auch freie Dative und die Agens‐ phrase beim Passiv zählen hier nicht zu den Adverbialien. Eine Berücksichtigung textsortenbasierter Grammatikansätze in der Schule erscheint daher aus linguistischer Perspektive naheliegend und aus didaktischer Perspektive sinnvoll. Allerdings lässt sich auch weiterhin konstatieren, „[…] dass in der Sprachwissenschaft wie in der Didaktik noch zu wenig empirisch fundierte, umfassende textsortenbezogene Untersuchungen vorliegen, auf deren Grundlage etwa die typische Funktionsbreite bestimmter grammatischer oder lexi‐ kalischer Mittel beschrieben werden könnte“ (Fandrych / Thurmair 2011a: 84). Der vorliegende Beitrag möchte hier Abhilfe leisten, indem er das Adverbiale bzw. die adverbiale Bestimmung als schulgrammatisches Satzglied unter text‐ sortenbasierter Perspektive untersucht und beschreibt. Der Begriff Adverbiale bezeichnet in der Schulgrammatik die Satzgliedfunktion einer syntaktischen Konstituente, die sich durch strukturelle Selbstständigkeit (Vorfeldfähigkeit, Substituierbarkeit) auszeichnet und weder formal noch semantisch durch das prädikatbildende Verb festgelegt ist. Ihre inhaltliche Funktion besteht in der Spezifizierung eines im weiteren Sinne situativen Kontexts, innerhalb dessen die Verbhandlung oder der im Satz dargestellte Sachverhalt anzusiedeln sind. Man spricht daher häufig auch von „Situativadverbialien“ (Wöllstein 2016: 795). 1 Sie bilden einen festen Bestandteil des schulischen Grammatikunterrichts und haben einen festen Platz in den meisten Curricula und Lehrwerken. Tex‐ tuelle und kommunikativ-pragmatische Leistungen der Adverbialien stehen je‐ doch selten im Vordergrund, ebenso wenig wie die Frage, in welchen Texten und Textsorten sie bevorzugt auftreten. Dabei eignet sich das Adverbiale als „die heterogenste unter den gebräuchlichen syntaktischen Relationen“ (Eisenberg 2006: 49) in besonderem Maße für eine textsortenbasierte Untersuchung, steht es doch zu erwarten, dass sich seine formale und semantische Vielfalt in unter‐ schiedlichen Textsorten unterschiedlich niederschlägt. Die bislang im Rahmen textsortenbasierter Grammatikansätze beschriebenen grammatischen Phänomene reichen vom Passiv über das Tempus zur Attribu‐ tion (vgl. insbesondere die Arbeiten von Christian Fandrych und Maria Thur‐ mair, z. B. Fandrych / Thurmair 2011b). Eine umfassende Untersuchung der Ad‐ verbialien in unterschiedlichen Textsorten steht jedoch noch aus. Aus der Perspektive der textsortenbasierten Grammatikdidaktik steht die Frage nach textsortenspezifischen Unterschieden im Vorkommen und in der Funktionsweise der Situativadverbialien im Vordergrund. Ziel des vorliegenden 304 Daniel Mischa Helsper 2 Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrags basieren auf einer Untersuchung, die ich im Rahmen meiner Masterarbeit im Fach Germanistische Linguistik an der Universität Trier durchgeführt habe. Für Anregungen und Kommentare zum vorliegenden Beitrag danke ich Stephan Stein. Beitrags ist ein Ausschnitt des textsortenbasierten Funktionsspektrums der ad‐ verbialen Bestimmung in unterschiedlichen Textsorten und eine Diskussion des sich daraus ergebenden didaktischen Potenzials. Konkret geht es um die Beant‐ wortung der folgenden Untersuchungsfragen: • Unterscheiden sich die ausgewählten Textsorten hinsichtlich des Vor‐ kommens bestimmter Adverbialien? • Unterscheiden sich die textuellen und kommunikativ-funktionalen Leis‐ tungen der Adverbialien in den ausgewählten Textsorten? • Und schließlich: Welches didaktische Potenzial ergibt sich daraus für die Vermittlung im schulischen Deutschunterricht? Der Beitrag verfolgt damit sowohl ein linguistisches wie auch ein didaktisches Erkenntnisinteresse. Die Beantwortung der Untersuchungsfragen erfolgt auf der Grundlage eines eigens erstellten und manuell annotierten Textkorpus im Umfang von ca. 40.000 Wörtern. Berücksichtigt wurden vier verschiedene Text‐ sorten. 2 2 Methodik Das der Untersuchung zugrundeliegende Textkorpus basiert auf den vier Text‐ sorten Hausordnung, Kochrezept, Leitartikel und Spielbericht. Leitprinzip bei der Textauswahl war die Identifikation von Textsorten, in denen verschiedene Adverbialien „spezifisch funktional“ (Thurmair 2013: 329) vorkommen. Die aus‐ gewählten Texte sind zum Teil online verfügbar, zum Teil liegen sie in Druck‐ form vor. Sie bestehen aus den Hausordnungen von neun rheinland-pfälzischen Gymnasien, Kochrezepten aus vier deutschsprachigen Foodblogs, Leitartikeln aus der Printausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel und auf den Web‐ seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Sportmagazins Kicker ver‐ öffentlichten Spielberichten zum ersten Spieltag der Fußballbundesligasaison 2016/ 17. Pro Textsorte wurden so viele Texte ausgewählt, dass ein Gesamtkorpus von ca. 40.000 orthographischen Wörtern und vier Subkorpora mit einem Um‐ fang von jeweils ca. 10.000 Wörtern resultierten. Insgesamt enthält das Text‐ korpus 63 Texte. Einen Überblick bietet Tabelle 1. 305 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik Textsorte Anzahl Wörter Anzahl Texte Textlänge Textlänge Mittelwert Median Hausordnungen 10.842 9 1.205 1.189 Kochrezepte 10.255 20 513 459 Leitartikel 10.449 16 653 664 Spielberichte 10.822 18 601 640 Gesamtkorpus 42.368 63 Tab. 1: Aufbau des zugrundeliegenden Textkorpus Alle Texte wurden manuell im Rahmen einer Satzgliedanalyse auf Situativad‐ verbialien untersucht. Neben einer quantitativen Auswertung wurden die ein‐ zelnen Textexemplare des Korpus einer qualitativen Durchsicht und Analyse auf textsortenspezifische Verwendungsweisen der Adverbialien unterzogen. Die Annotation erfolgte nach den Prinzipien der schulgrammatischen Satz‐ gliedlehre, um sicherzustellen, dass sowohl die Identifikation als auch die Klas‐ sifikation der Adverbialien auf Kriterien beruhen, nach denen auch Lernende im schulischen Deutschunterricht bei der Satzgliedanalyse vorgehen können. Konkret bedeutet dies eine Annotation auf Basis grammatischer Proben. Dieses Vorgehen ergibt sich aus dem didaktischen Hintergrund des vorliegenden Bei‐ trags. Als Adverbialien wurden diejenigen syntaktischen Konstituenten anno‐ tiert, welche die folgende operationale Definition erfüllen: Ein Adverbiale ist eine syntaktische Konstituente, die strukturell selbstständig ist, d. h. im Verbzweitsatz alleine das Vorfeld besetzen kann (Umstellprobe, Vorfeldprobe), und eine adverbiale Funktion realisiert. Eine adverbiale Funktion liegt dann vor, wenn die betreffende syntaktische Konstituente semantisch und formal unab‐ hängig ist (Substitutionsprobe), sich als Angabe auf das Prädikat oder den dar‐ gestellten Sachverhalt bezieht oder als Ergänzung eine Valenzstelle des prädi‐ katbildenden Verbs füllt (Paraphrasierungsprobe) und eine kontextuelle (will heißen: situative) Spezifizierung des dargestellten Sachverhalts leistet (Ergän‐ zungsfrageprobe). Nach dieser Definition handelt es sich bei den mit eckigen Klammern versehenen Konstituenten in [1] um Adverbialien: 306 Daniel Mischa Helsper 3 URL: http: / / www.kicker.de/ news/ fussball/ bundesliga/ vereine/ 658750/ artikel_bayern-f uehrt-werder-zum-auftakt-vor.html [letzter Zugriff: 30.08.2016]. [1] Müller flankte [auf den zweiten Pfosten], [dort] verlängerte Lewandowski den Ball [artistisch] [ins Tor]. (Kicker: Internettext) 3 Eine ausführliche Beschreibung der syntaktischen Eigenschaften der Adverbi‐ alien kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Stattdessen sei auf die entsprechenden Beschreibungen in den einschlägigen Grammatiken des Gegenwartsdeutschen verwiesen (vgl. z. B. Boettcher 2009; Wöllstein 2016; Eisenberg 2006; Helbig / Buscha 2001; Hentschel / Weydt 2013; Zifonun u. a. 1997). Sie bilden den theo‐ retischen Hintergrund für die hier vorgenommene Operationalisierung. Her‐ vorzuheben ist, dass der Satzgliedbegriff und damit auch das Adverbiale in diesem Beitrag ausschließlich für „Konstituenzrelationen“ (Hennig 2010: 102) verwendet werden. Gemeint sind damit syntaktische Relationen zwischen Kon‐ stituenten auf der propositionalen Ebene eines Satzes. Kommentarglieder wie Modalwörter und Satzadverbien (z. B. wahrscheinlich, glücklicherweise) zählen hier nicht zu den Adverbialien (vgl. dazu auch die Gegenüberstellung von „Si‐ tuativ- und Kommentaradverbialien“ in Wöllstein 2016: 794-797). Statt einer inhaltlichen (propositionalen) Funktion erfüllen sie eine kommentierende (me‐ tapropositionale) Funktion. Insgesamt wurden die folgenden sechzehn semantischen Untergruppen in‐ nerhalb der Situativadverbialien unterschieden (jeweils illustriert mit einem kurzen Beispiel): a. Lokaladverbiale (LOK): Sie wohnt [in Trier]. b. Direktionaladverbiale (DIR): Er kommt [aus Berlin]. c. Expansivadverbiale (EXP): Der Stau reicht [bis zur Auffahrt]. d. Temporaladverbiale (TEMP): Das Spiel beginnt [am Abend]. e. Frequenzadverbiale (FREQ): [Jedes Jahr] gibt es Ärger. f. Durativadverbiale (DUR): Sie feiern [die ganze Nacht]. g. Modaladverbiale (MOD): Das Essen schmeckt [hervorragend]. h. Instrumentaladverbiale (INST): Er wischt die Tafel [mit dem Schwamm]. i. Komitativadverbiale (KOM): Sie fährt [mit ihrem Freund]. j. Quantitätsadverbiale (QUAN): Das Essen kostet [200 Euro]. k. Kausaladverbiale (KAUS): [Weil es regnet,] bleiben sie zuhause. l. Konditionaladverbiale (KOND): [Wenn die Sonne scheint,] grillen sie im Garten. m. Konzessivadverbiale (KONZ): [Trotz des Lärms] haben die Nachbarn Ver‐ ständnis. 307 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik n. Konsekutivadverbiale (KONS): Die Frist ist abgelaufen, [sodass eine Be‐ werbung aktuell nicht möglich ist]. o. Finaladverbiale (FIN): Er trägt sein bestes Hemd, [um sie zu beeindrucken]. p. sonstige Adverbialien (SONS, z. B. Adversativsätze): [Während die einen spülen,] putzen die anderen die Küche. Eine möglichst feingliedrige Unterscheidung der Adverbialien ist für Analyse‐ zwecke sinnvoll, muss jedoch unter Umständen für die didaktische Anwendung reduziert werden. Auch basiert die hier vorgenommene Einteilung nicht auf formal-syntaktischen, sondern auf semantischen Kriterien, genauer: auf der morphosyntaktischen Substituierbarkeit durch adverbiale Pro-Formen. Einzelfallentscheidungen waren bei der Annotation des Textmaterials nicht vollständig zu vermeiden. Die Abgrenzung von Adverbialien und Kommentar‐ gliedern ist nicht immer eindeutig. Auch bestehen nicht alle traditionell als Ad‐ verbialien gewerteten Konstituenten jede der beschriebenen grammatischen Proben. Bestimmte Adverbien in adverbialer Funktion wie dennoch lassen sich beispielsweise nicht erfragen, wohl aber durch erfragbare Adverbien wie trotzdem ersetzen. In solchen Fällen, in denen eine Annotation als Adverbiale im konkreten Verwendungskontext trotz des Nicht-Bestehens einzelner gram‐ matischer Proben plausibel erschien, wurde dennoch ein Adverbiale annotiert. Die quantitativen Ergebnisse sollten daher nicht absolut, sondern als ein heu‐ ristisches Mittel verstanden werden. Sie bieten einen ersten Einblick in das textsortenspezifische adverbiale Vorkommen und die dahinter stehenden Muster und sind durch die qualitative Analyse zu ergänzen. Aufgrund der Be‐ schränkung auf vier Textsorten kann außerdem kein vollständiges Bild des theoretischen Funktionsspektrums der Adverbialien gegeben werden. Nichts‐ destotrotz unterscheiden sich die ausgewählten Textsorten in hinreichendem Maße, um textsortenspezifische Unterschiede im Vorkommen und in der Ver‐ wendungsweise der Adverbialien dokumentieren und den Nutzen eines text‐ sortenbasierten Grammatikansatzes illustrieren zu können. 3 Didaktisches Potenzial einer textsortenbasierten Betrachtung der Adverbialien 3.1 Textsortenbasierte Profile: Ergebnisse der quantitativen Auswertung Unabhängig von der jeweiligen semantischen Untergruppe wurden im Rahmen der manuellen Satzgliedanalyse 3.845 Adverbialien identifiziert. Mit 1.300 Ad‐ verbialien enthält das Subkorpus mit den Spielberichten die meisten Adverbia‐ lien. Die Kochrezepte folgen auf dem zweiten Rang mit insgesamt 1.012 Adver‐ 308 Daniel Mischa Helsper bialien. In den Leitartikeln wiederum finden sich 788 und in den Hausordnungen 745 Adverbialien. Insgesamt basiert die hier vorgenommene textsortenbasierte Untersuchung der Adverbialien somit auf einer empirischen Basis von annä‐ hernd 4.000 Beispielen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über das Vorkommen der Adverbialien in den untersuchten Textsorten. Die Gesamtzahl an Adverbialien pro Textsorte ist als Summe der absoluten Häufigkeiten der unterschiedenen semantischen Untergruppen in der letzten Zeile der Tabelle zusammengefasst. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden die jeweiligen absoluten Häufigkeiten zusätzlich als prozentualer Anteil an der Gesamtzahl der pro Textsorte ermit‐ telten Adverbialien normiert. Die Normierung erfolgte als prozentualer Anteil an der Gesamtzahl der pro Textsorte ermittelten Adverbialien (und nicht etwa pro 1.000 oder 10.000 Wörter), da Adverbialien grundsätzlich unterschiedlicher Länge sein können - vom einzelnen Wort bis zu einem vollständigen Gliedsatz -, sodass eine Normierung anhand einer bestimmten Anzahl an Wörtern wenig aussagekräftig wäre. Hausord‐ nungen Kochrezepte Leitartikel Spielberichte Gesamt‐ korpus abs. proz. abs. proz. abs. proz. abs. proz. abs. proz. TEMP 220 29,53 166 16,40 201 25,51 451 34,69 1.038 27,00 FREQ 5 0,67 43 4,25 43 5,46 80 6,15 171 4,45 DUR 14 1,88 115 11,36 20 2,54 25 1,92 174 4,53 LOK 184 24,70 158 15,61 120 15,23 134 10,31 596 15,50 EXP 0 0,00 3 0,30 6 0,76 3 0,23 12 0,31 DIR 42 5,64 80 7,91 43 5,46 121 9,31 286 7,44 MOD 64 8,59 213 21,05 126 15,99 202 15,54 605 15,73 KOM 18 2,42 26 2,57 2 0,25 16 1,23 62 1,61 INST 16 2,15 48 4,74 25 3,17 77 5,92 166 4,32 QUAN 2 0,27 26 2,57 5 0,63 9 0,69 42 1,09 KAUS 27 3,62 28 2,77 44 5,58 33 2,54 132 3,43 KOND 107 14,36 42 4,15 83 10,53 14 1,08 246 6,40 KONZ 2 0,27 11 1,09 14 1,78 18 1,38 45 1,17 KONS 4 0,54 2 0,20 3 0,38 14 1,08 23 0,60 309 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik FIN 31 4,16 42 4,15 17 2,16 26 2,00 116 3,02 SONS 9 1,21 9 0,89 36 4,57 77 5,92 131 3,41 ∑ 745 100 1.012 100 788 100 1.300 100 3.845 100 Tab. 2: Absolute und prozentuale Häufigkeiten der Situativadverbialien in den unter‐ suchten Textsorten Betrachtet man die Häufigkeiten der semantischen Untergruppen im Gesamt‐ korpus, zeigt sich, dass das Temporaladverbiale mit 1.038 Treffern (27,00 %) das bei weitem häufigste Adverbiale in den untersuchten Texten darstellt. Danach folgen das Modaladverbiale und das Lokaladverbiale mit 605 (15,73 %) bezie‐ hungsweise 596 Treffern (15,50 %). Ähnlich verhält es sich auch beim Blick auf die einzelnen Textsorten: Wenig überraschend gehören Temporal-, Lokal- und Mo‐ daladverbialien in allen vier Textsorten zu den häufigsten Adverbialien. In drei von vier untersuchten Textsorten führt das Temporaladverbiale als häufigstes Adverbiale die Rangordnung der Adverbialien an. Eine Ausnahme stellen die Kochrezepte dar, in denen das Modaladverbiale mit 213 Treffern (21,05 %) das häufigste Adverbiale bildet. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich weitere interes‐ sante Unterschiede: Temporaladverbialien sind beispielsweise in Spielberichten (451 Treffer; 34,69 %) und Hausordnungen (220 Treffer; 29,53 %) besonders häufig, während sie in Kochrezepten (166 Treffer; 16,40 %) eine vergleichsweise geringe Rolle zu spielen scheinen. Lokaladverbialien wiederum sind besonders häufig in Hausordnungen anzutreffen (184 Treffer; 24,70 %). In den Spielberichten, der Textsorte mit den insgesamt meisten Adverbialien, spielen sie hingegen im Ver‐ gleich mit den anderen Textsorten die geringste Rolle (134 Treffer; 10,31 %). Das Modaladverbiale ist, wie bereits erwähnt, vor allem in den Kochrezepten hoch‐ frequent, während es in den Hausordnungen nur 8,59 % der Adverbialien (64 Treffer) ausmacht. Dafür ist das Konditionaladverbiale mit 107 Korpusbelegen (14,36 %) in den Hausordnungen am häufigsten belegt. Neben den Modaladverbialien ist in den Kochrezepten insbesondere die Häu‐ figkeit der Durativadverbialien markant. Sie machen 11,36 % der Adverbialien (115 Treffer) in dieser Textsorte aus - ein Wert, der deutlich über den 1-3 % der übrigen Textsorten liegt. Offensichtlich ist, dass in Kochrezepten wiederholt die Dauer bestimmter Tätigkeiten oder Vorgänge angegeben wird. Auch das Di‐ rektionaladverbiale gehört mit 80 Treffern (7,91 %) zu den wichtigsten Adver‐ bialien in den Kochrezepten. Zusätzlich ist das Instrumentaladverbiale hier ein‐ schlägig. Es macht knapp 5 % der Adverbialien in diesem Subkorpus aus. Zusammen mit den Modal-, Komitativ- und Quantitätsadverbialien kommt die 310 Daniel Mischa Helsper Großgruppe der modal-instrumentalen Adverbialien sogar auf knapp 31 % aller Adverbialien in den untersuchten Kochrezepten. Kochrezepte besitzen somit aus adverbialer Sicht einen stark modalen Charakter. Sie beschreiben, wie ein bestimmtes Gericht zubereitet wird. Überraschend ist zudem die vergleichs‐ weise große Häufigkeit der Finaladverbialien in den Hausordnungen (31 Treffer; 4,16 %). Als Untergruppe der kausal-konditionalen Adverbialien würde man Fi‐ naladverbialien möglicherweise eher in argumentativen Texten wie dem Leit‐ artikel erwarten, in dem es allerdings nur auf 17 Treffer beziehungsweise 2,16 % aller Adverbialien kommt. Dennoch treten kausal-konditionale Adverbialien (d. h. Kausal-, Konditional-, Konzessiv-, Konsekutiv- und Finaladverbialien) in den Leitartikeln mit einer im Textsortenvergleich etwas größeren Häufigkeit auf, was zumindest in Ansätzen auf ein argumentatives Vertextungsmuster schließen lässt. Insgesamt zeichnet sich ab, dass die untersuchten Textsorten charakteristi‐ sche adverbiale Profile besitzen. Hausordnungen, Kochrezepte, Leitartikel und Spielberichte unterscheiden sich hinsichtlich des quantitativen Vorkommens bestimmter Situativadverbialien. Die hier nur im Ansatz umrissenen Profile werden im qualitativen Teil der Analyse mit Beispielen belegt und auf textsor‐ tenspezifische Funktionen und Verwendungsweisen untersucht. Im Vorder‐ grund stehen dabei die textuellen und kommunikativ-pragmatischen Leis‐ tungen der jeweiligen Adverbialien in den vier untersuchten Textsorten. Im Nachvollziehen dieser textsortenspezifischen Leistungen liegt das Potenzial für eine textsortenbasierte Grammatikdidaktik. 3.2 Textsortenbasierte Verwendungsweisen: Ergebnisse der qualitativen Auswertung 3.2.1 Hausordnungen In kommunikativ-pragmatischer Perspektive dienen Hausordnungen in erster Linie dazu, bestimmte Verhaltensweisen innerhalb der Räumlichkeiten einer Institution (hier: der Institution Schule) festzulegen. Sie erfüllen eine Appell‐ funktion mit dem Ziel der Verhaltensbeeinflussung (vgl. Brinker 2010: 101). Rolf (1993: 229 f.) ordnet sie den bindenden direktiven Textsorten mit Kontrollgewalt auf Seiten des Textproduzenten zu. Mit anderen Worten: Hausordnungen er‐ teilen Verbote, Gebote und (seltener) Erlaubnisse darüber, was innerhalb der jeweiligen Institution zu tun bzw. nicht zu tun ist. Im Zentrum steht „die Fest‐ legung eines Rahmens für Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Rezi‐ pienten in einer bestimmten, von der Institution kontrollierten Domäne“ (Fan- 311 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik 4 URL: http: / / www.ksgandernach.de/ www2/ service/ hausordnung2015.pdf [letzter Zu‐ griff: 26.07.2016]. 5 URL: http: / / www.thg-lu.de/ sites/ default/ files/ images/ Schule/ hausordnung.pdf [letzter Zugriff: 26.07.2016]. [2] [3] drych / Thurmair 2011b: 194). Adverbialien leisten hierzu einen entscheidenden Beitrag. Sie spezifizieren den in Hausordnungen festgelegten Handlungsrahmen in zeitlicher, räumlicher und konditionaler Hinsicht und erfüllen darüber hinaus wichtige Funktionen für die Rechtfertigung des vorgeschriebenen Verhaltens. Insbesondere dienen Temporal- und Lokaladverbialien dazu, den zeitlichen und räumlichen Geltungsbereich der getroffenen Regelungen festzulegen. Sie stehen häufig im Vorfeld und spannen einen situativen Rahmen über den im Satz dargestellten Sachverhalt. Meist handelt es sich dabei um Verhaltensregeln in Form von Geboten und Verboten, bisweilen aber auch um Ausnahmerege‐ lungen: [Während des gesamten Schultages] TEMP sind technische Mobilgeräte auszu‐ schalten und sicher zu verstauen. […] [In den MSS-Aufenthaltsräumen] LOK ist der Audio-Betrieb technischer Geräte mit Kopfhörern und das Telefonieren erlaubt, [wenn niemand gestört wird.] KOND (KSG Andernach: Internettext) 4 In vielen Fällen reicht der Bezugsbereich dieser Adverbialien weit über den ein‐ zelnen Satz hinaus, etwa wenn das betreffende Adverbiale im Vorfeld des ersten Satzes eines neuen Absatzes steht. Die so verwendeten Temporal- und Lokal‐ adverbialien konstituieren dann einen situativen Rahmen für den gesamten nachfolgenden Abschnitt. So dienen Temporal- und Lokaladverbialien auch der Textstrukturierung durch Markierung inhaltlicher Sinnabschnitte. Typisch ist zudem die Angabe von Bedingungen für die Gültigkeit bestimmter Regelungen durch Konditionaladverbialien (vgl. den Konditionalsatz in Beispiel [2]). Konditionaladverbialien erfüllen darüber hinaus jedoch häufig auch eine den Temporal- und Lokaladverbialien ähnliche Funktion. Stehen sie im Vorfeld, dienen sie meist dazu, bestimmte hypothetische Szenarien und Situationen im Schulalltag zu antizipieren und das Verhalten in diesen Situationen festzulegen. Dafür sind insbesondere konditionale Präpositionalphrasen mit bei sowie kon‐ ditionale Verberstsätze charakteristisch (vgl. Fandrych / Thurmair 2011b: 207 f.): [Bei entstandenen Schäden] KOND kann gegebenenfalls die private Hausrat‐ versicherung eingeschaltet werden. [Ist der Schädiger bekannt,] KOND sollte eine Regulierung der Kosten durch dessen Versicherung angestrebt werden. (THG Ludwigshafen: Internettext) 5 312 Daniel Mischa Helsper 6 URL: http: / / mpg-trier.de/ PDFs/ Hausordnung.pdf [letzter Zugriff: 26.07.2016]. [4] Konditionaladverbialien wie in [3] markieren ebenfalls den Geltungsbereich der in ihrem Satz getroffenen Regelungen. Der Unterschied zu den Temporal- und Lokaladverbialien besteht darin, dass Konditionaladverbialien vorrangig zur Antizipation hypothetischer, aber nicht zwingend eintretender Szenarien dienen, während sich Temporal- und Lokaladverbialien meist auf konkrete Situ‐ ationen im Schulalltag beziehen (z. B. Unterrichtspausen). Dazu zählt auch, dass Konditionaladverbialien meist verkürzte Sachverhalte, Temporal- und Lokalad‐ verbialien hingegen bestimmte zeitliche und räumliche Umstände bezeichnen. Die Angabe von Bedingungen wie in [2] und die Antizipation hypothetischer Szenarien wie in [3] erklären auch, warum das Konditionaladverbiale im Text‐ sortenvergleich in den Hausordnungen am häufigsten vorkommt. Temporal-, Lokal- und Konditionaladverbialien dienen in Hausordnungen dazu, einen si‐ tuativen und hypothetischen Geltungsbereich für das in der Hausordnung fest‐ gelegte Verhalten zu definieren. Zusammen machen sie fast 69 % aller Adver‐ bialien in dieser Textsorte aus. Neben der Aushandlung des Geltungsbereichs von Regeln und Verboten dienen Adverbialien in Hausordnungen jedoch auch der Begründung und Recht‐ fertigung des vorgeschriebenen Verhaltens. Eine solche Begründung erfolgt primär mit Finaladverbialien wie in [4]: Vor der 1. Stunde müssen die Klassenräume offen stehen, [um der Aufsicht einen direkten Einblick zu gewährleisten.] FIN (MPG Trier: Internettext) 6 Insbesondere finale Infinitiv- und Gliedsätze kommen hier zum Einsatz. Sie lie‐ fern ein Explanans für das im Hauptsatz befindliche Explanandum. Dass es sich dabei oft um eine erklärungsbedürftige Forderung handelt, ergibt sich aus kommunikativ-pragmatischen Überlegungen: Hausordnungen schränken die Freiheiten und das Verhalten der sich innerhalb einer Institution befindenden Individuen ein. Daraus ergibt sich für den Textproduzenten ein Rechtferti‐ gungsdruck. Es zählt zu den mit der Textsorte Hausordnung verbundenen Kon‐ ventionen, dass der Textproduzent (die jeweilige Institution) Erklärungen und Rechtfertigungen für die mit der Hausordnung verbundene Einschränkung der individuellen Freiheit abgibt. Das Auftreten und die Verwendungsweise bestimmter Adverbialien in Haus‐ ordnungen lassen sich also mit Blick auf die Textsorte als Bezugsrahmen funk‐ tional erklären. Hausordnungen dienen dazu, das Verhalten der Rezipienten innerhalb einer Institution zu regeln. Adverbialien leisten dazu einen entschei- 313 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik 7 URL: http: / / www.zuckerzimtundliebe.de/ 2016/ 08/ rezept-fuer-bananenkuchen-mit-sch okoladen-erdnussbutter-ganache-banana-cake-with-chocolate-peanut-butter-ganache / [letzter Zugriff: 16.08.2016]. 8 URL: http: / / cucinapiccina.de/ melonen-gurken-salat-mit-shrimps/ [letzter Zugriff: 16.08.2016]. [5] [6] denden Beitrag, indem sie den Geltungsbereich der Regelungen definieren und Begründungen für die damit verbundenen Einschränkungen liefern. 3.2.2 Kochrezepte Kochrezepte stellen ihren Rezipienten ein Handlungswissen bereit, das es er‐ möglicht, durch Befolgen der angegebenen Handlungsschritte (Instruktionen) zum gewünschten Kochergebnis zu gelangen. Sie erfüllen eine Appellfunktion mit dem Ziel der Instruktion (vgl. Brinker 2010: 103). Rolf (1993: 231) spricht in diesem Zusammenhang von einer bindenden direktiven Textsorte mit Legisla‐ tionsgewalt auf Seiten des Textproduzenten. Der Textproduzent informiert den Rezipienten über die notwendigen Handlungsschritte zum Herstellen eines be‐ stimmten Gerichts unter der stillschweigenden Annahme, dass der Rezipient dieses Gericht auch tatsächlich zubereiten möchte. Adverbialien dienen dabei in erster Linie der präzisen Beschreibung der ein‐ zelnen Handlungsschritte. Typisch sind insbesondere längere Aneinanderrei‐ hungen mehrerer Adverbialien (adverbiale Sequenzen) wie in den Beispielen [5] und [6], welche die auszuführenden Handlungsschritte in mehrfacher Hinsicht näher charakterisieren. Dabei handelt es sich möglicherweise nicht einfach um ein textsortenspezifisches, sondern gar um ein textsortenkonstitutives Merkmal der Textsorte Kochrezept: Bananenmus, Öl, Eier und Zucker [in einer Rührschüssel] LOK [mit einem Schneebesen] INST [gut] MOD vermengen. (Zucker, Zimt und Liebe: Internet‐ text) 7 Die Garnelen [mitsamt der Schale] KOM [in einer Pfanne] LOK [im heißen Öl] LOK [von beiden Seiten] MOD [ca. 3-4 Minuten] DUR braten, alternativ [auf dem Grill] LOK [von beiden Seiten] MOD braten. (Cucina Piccina: Internettext) 8 Die Adverbialien in [5] und [6] leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum kom‐ munikativen Gelingen eines Kochrezepts: Sie beschreiben die auszuführenden Handlungen unter anderem hinsichtlich der Art und Weise ihrer Durchführung (modal), ihrer Dauer (durativ) und der zu verwendenden Kochinstrumente (in‐ strumental). So erklärt sich auch der in quantitativer Hinsicht stark modale Charakter der Kochrezepte. Bemerkenswert ist außerdem, dass viele Lokalad‐ verbialien in Kochrezepten ebenfalls modalen Charakter besitzen, denn sie be‐ 314 Daniel Mischa Helsper 9 URL: http: / / www.gourmetguerilla.de/ 2016/ 06/ pikante-suedafrikanische-tarte-capetow n-mit-suesskartoffeln-und-erdnuss/ [letzter Zugriff: 16.08.2016]. [7] schreiben häufig Kochutensilien (z. B. Schüsseln, Backöfen), die bei der Zube‐ reitung eines Gerichtes Verwendung finden. Auffällig ist ebenfalls die vergleichsweise große Auftretenshäufigkeit der Durativadverbialien. Ihre Funktion besteht mehrheitlich darin, die Dauer ein‐ zelner Handlungsschritte und Kochvorgänge anzugeben: Die Sahne angießen und zugedeckt [ca. 5 Minuten] DUR köcheln lassen. (Gourmet Guerilla: Internettext) 9 Insbesondere Durativadverbialien in Form einer Nominalphrase sind hochfre‐ quent. Tatsächlich sind insgesamt 8,40 % aller Adverbialien in den untersuchten Kochrezepten als Nominalphrase realisiert. In acht von zehn Fällen handelt es sich dabei um ein Durativadverbiale (ca. 86 %). Bemerkenswert ist daran, dass als Nominalphrase realisierte Adverbialien in den übrigen Textsorten eher selten anzutreffen sind. In Kochrezepten und hier insbesondere in Backrezepten sind sie jedoch einschlägig. Als Durativadverbialien leisten sie einen weiteren wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Realisierung der kommunikativen Funktion von Kochrezepten: Ohne die Angabe der zeitlichen Dauer der durchzuführenden Handlungsschritte und Kochvorgänge ist das Nachkochen eines Kochrezepts nur schwer vorstellbar. Die kommunikative Funktion - die Bereitstellung eines Handlungswissens zur Zubereitung eines Gerichts - wäre schlichtweg nicht erfüllt, die mitzuteilenden Informationen unvollständig. Auch in der Textsorte Kochrezept erfüllen die Adverbialien somit textsor‐ tenspezifische und teilweise sogar textsortenkonstitutive Funktionen. Der Blick auf die Textsorte als Erklärungsrahmen erweist sich auch hier als lohnenswert. 3.2.3 Leitartikel Als Pressetext stellt der Leitartikel eine zentrale journalistische Textsorte dar. Die Autoren eines Leitartikels gelten meist als Experten, die ihre Meinung zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema oder Ereignis vermitteln und unter Umständen auch verbreiten wollen. Die kommunikativ-pragmatische Funktion eines Leitartikels bewegt sich daher zwischen einer meinungsbetonten Infor‐ mationsfunktion und einer auf Meinungsbeeinflussung abzielenden Appell‐ funktion, je nachdem wie stark das jeweilige Textexemplar auf die Übernahme der dargelegten Meinung zielt (vgl. Brinker 2010: 98-102). Rolf (1993: 202) spricht von einer disputierenden assertiven Textsorte aus aktuellem Anlass. Textsortentypisch ist ein argumentatives Vertextungsmuster, denn „[e]s wird 315 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik [8] [9] Wissen bereitgestellt, von dem angenommen wird, dass es beim Rezipienten nicht umstandslos akzeptiert wird“ (Fandrych / Thurmair 2011b: 30). Die beiden zentralen Funktionen des Informierens und Argumentierens schlagen sich auch im Gebrauch der Adverbialien nieder. Insbesondere zu Be‐ ginn eines Leitartikels oder zu Beginn neuer thematischer Abschnitte finden sich Temporal- und Lokaladverbialien, die das im Fokus stehende gesellschaft‐ liche Ereignis zeitlich und räumlich situieren: [Am Donnerstag] TEMP verkündete Merkel [in Berlin] LOK einen Neun-Punkte-Plan gegen den Terror, maßvoll und kompiliert aus bereits be‐ kannten oder beschlossenen Elementen. (Der Spiegel: Nr. 31, 30.07.2016) Die Kombination aus einem Temporaladverbiale im Vorfeld und einem Lokal‐ adverbiale im Mittelfeld ist typisch und erinnert an den Meldungs- und Nach‐ richtenstil. Während die Lokaladverbialien vor allem Schauplätze gesellschaft‐ licher Ereignisse benennen, versehen im Vorfeld stehende Temporaladverbialien das geschilderte Ereignis mit einem zeitlichen Bezug. So lässt sich der Text zu‐ sätzlich inhaltlich gliedern. Ähnlich wie in den untersuchten Hausordnungen werden Konditionaladver‐ bialien, vor allem in Form konditionaler Gliedsätze, häufig zur Einführung hy‐ pothetischer Szenarien und (denkbarer) zukünftiger gesellschaftspolitischer Ereignisse eingesetzt. Sie spezifizieren dann hypothetische Situationen, die aus Sicht des Textproduzenten im Falle ihres Eintretens die im Hauptsatz enthal‐ tenen Konsequenzen nach sich ziehen: [Wenn aber nach dem Brexit ein Frexit oder Öxit drohen würde,] KOND wäre die Europäische Union am Ende. (Der Spiegel: Nr. 26, 25.06.2016) Dabei handelt es sich oftmals um Prognosen in Bezug auf die weitere Entwick‐ lung gesellschaftspolitischer Ereignisse. Dies ist einerseits thematisch bedingt. Leitartikel beschäftigen sich häufig mit spekulativen Themen (z. B. dem Aus‐ gang demokratischer Wahlen). Andererseits geht es in Leitartikeln aber auch darum, die Konsequenzen bestimmter gesellschaftspolitischer Ereignisse für die Zukunft zu bewerten. Konditionalgefüge erlauben es dem Textproduzenten, hypothetische Szenarien und deren Konsequenzen gedanklich durchzuspielen und in ihrer Bedeutung zu diskutieren. Kausaladverbialien in Form kausaler Gliedsätze wiederum erfüllen meist eine explizit argumentative Funktion, indem sie Begründungen für die im Hauptsatz enthaltenen Thesen des Autors liefern. Hier zeigt sich das argumentative Ver‐ textungsmuster des Leitartikels am deutlichsten: 316 Daniel Mischa Helsper [10] [Weil aber niemand vorhersagen kann, was genau geschehen würde, falls das Abkommen offiziell gekündigt wird,] KAUS muss die EU eine eigene Lö‐ sung für den Umgang mit Flüchtlingen finden. (Der Spiegel: Nr. 32, 06.08.2016) Im Allgemeinen sind adverbiale Gliedsätze im Textsortenvergleich in den Leit‐ artikeln am häufigsten belegt. Sie kommen hier auf 13,32 % aller Adverbialien (im Vergleich zu 7,07 % im Gesamtkorpus). Leitartikel informieren über die Meinung der Redaktion eines journalisti‐ schen Nachrichtenmediums zu einem aktuellen, gesellschaftspolitisch rele‐ vanten Thema oder Ereignis. Adverbialien dienen in Leitartikeln zum einen dazu, das jeweilige Ereignis in situative Zusammenhänge einzuordnen (Tem‐ poral- und Lokaladverbialien) und dessen gesellschaftspolitische Konsequenzen unter bestimmten (hypothetischen) Bedingungen einzuschätzen (Konditionaladverbialien). Zum anderen leisten sie einen zentralen Beitrag zur Argumenta‐ tion, indem sie die Gründe für die vom Textproduzenten vertretenen Thesen liefern (Kausaladverbialien). Insbesondere kausale Gliedsätze sind in den un‐ tersuchten Leitartikeln im Vergleich zu den übrigen Textsorten einschlägig. 3.2.4 Spielberichte Auch Spielberichte zählen zu den journalistischen Textsorten. Genauer gesagt handelt es sich um eine journalistische Textsorte im Bereich der Sportbericht‐ erstattung. Die zugrundeliegende Kommunikationssituation darf man sich fol‐ gendermaßen vorstellen: Der Textproduzent verfolgt als journalistischer Beob‐ achter das jeweilige Fußballspiel und fasst das Geschehen für den Rezipienten in einem Spielbericht zusammen. Der Rezipient, der das Fußballspiel mögli‐ cherweise nicht selbst verfolgt hat, möchte sich anhand des Spielberichts über den Spielverlauf und den Ausgang des Spiels informieren. Der Textproduzent steht vor der Herausforderung, das Spielgeschehen auf die wichtigsten Ereig‐ nisse zu reduzieren, gleichzeitig aber diese so darzustellen, dass sich der Rezi‐ pient ein anschauliches Bild davon machen kann. Der Kommunikationssituation entsprechend besitzen Spielberichte primär eine sachbzw. ereignisbetonte In‐ formationsfunktion (vgl. Brinker 2010: 98-101), wobei sich auch kommentie‐ rend-bewertende Elemente nicht abstreiten lassen. Nach Rolf (1993: 184 ff.) han‐ delt es sich um eine registrierende assertive Textsorte, in der der Textproduzent als ,Vermittler‘ der beobachteten Ereignisse auftritt. Das Vertextungsmuster be‐ wegt sich zwischen berichtend-referierender und narrativer thematischer Ent‐ faltung. 317 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik 10 URL: http: / / www.kicker.de/ news/ fussball/ bundesliga/ spieltag/ 1-bundesliga/ 2016-17/ 1 / 3317250/ spielbericht_1-fc-koeln-16_sv-darmstadt-98-98.html [letzter Zugriff: 30.08.2016]. 11 URL: http: / / www.faz.net/ aktuell/ sport/ fussball/ bundesliga/ 2-0-in-augsburg-wolfsbur ger-auswaertssieg-zum-auftakt-14407906.html [letzter Zugriff: 30.08.2016]. [11] [12] [13] Die meisten der in Spielberichten vorkommenden Adverbialien lassen sich danach unterscheiden, ob sie der zusammenfassenden Darstellung des Spielge‐ schehens (raffende Funktion) oder der detaillierten Schilderung einzelner Spiel‐ szenen (beschreibende Funktion) dienen. Beispielsweise besitzen Frequenzad‐ verbialien wie in [11] häufig eine ereignisraffende Funktion, während adverbiale Reihungen aus Modal- und Instrumentaladverbialien in Kombination mit Lokal- und Direktionaladverbialien wie in [12] der konkreten Veranschaulichung ein‐ zelner Spielszenen dienen: Hector schaltete sich über links [immer wieder] FREQ in die Offensive ein, Bittencourt tauchte [auch mal] FREQ zentral auf und stellte Darmstadt damit vor große Herausforderungen. (Kicker: Internettext) 10 Und der aus Stuttgart gekommene Spielmacher drosch den Ball [mit seinem starken linken Fuß] INST [aus 15 Metern] DIR [unhaltbar] MOD [ins obere To‐ reck.] DIR (FAZ: Internettext) 11 Adverbiale Reihungen wie in [12] erinnern dabei stark an die adverbialen Se‐ quenzen der Kochrezepte. Sie dienen hier dazu, einzelne Spielzüge so zu be‐ schreiben, dass diese für den Rezipienten konkret nachvollziehbar sind. Sie leisten damit eine Orientierung des Lesers im Spielgeschehen und auf dem Spielfeld. Auch quantitativ machen Modal- und Instrumentaladverbialien (21,46 %) sowie Lokal- und Direktionaladverbialien (19,62 %) einen erheblichen Teil der Adverbialien in den Spielberichten aus. Raffendes und narratives Vertextungsmuster wechseln sich in Spielberichten kontinuierlich ab. Charakteristisch ist insbesondere der fokussierende Wechsel von der allgemeinen, überblicksartigen Perspektive auf das Spielgeschehen zum spezifischen Blick auf einzelne (zentrale) Ereignisse. Häufig wird dieser Wechsel durch einen Doppelpunkt explizit angezeigt: Die größte Chance vergaben die Fohlen [direkt zu Beginn dieser Phase: ] TEMP Raffael scheiterte [zunächst] TEMP [mit einem harten wie zu zentralen Schuss] INST an Leno, der sich [hernach] TEMP [voll] MOD [in den Nachschuss 318 Daniel Mischa Helsper 12 URL: http: / / www.kicker.de/ news/ fussball/ bundesliga/ spieltag/ 1-bundesliga/ 2016-17/ 1 / 3317252/ spielbericht_borussia-mgladbach-15_bayer-leverkusen-9.html [letzter Zu‐ griff: 30.08.2016]. 13 URL: http: / / www.faz.net/ aktuell/ sport/ fussball/ bundesliga/ 2-0-in-augsburg-wolfsbur ger-auswaertssieg-zum-auftakt-14407906.html [letzter Zugriff: 30.08.2016]. 14 URL: http: / / www.faz.net/ aktuell/ sport/ fussball/ bundesliga/ 2-0-in-augsburg-wolfsbur ger-auswaertssieg-zum-auftakt-14407906.html [letzter Zugriff: 30.08.2016]. [14] [15] von Wendt] DIR warf und [mit dem Gesicht] INST das 0: 1 aus Leverkusener Sicht verhinderte. (Kicker: Internettext) 12 Gewissermaßen erfolgt hier ein durch sprachliche Mittel bewirktes „Scharf‐ stellen“ der Perspektive auf das Spielgeschehen: Der Blick wird vom Spielge‐ schehen als Ganzes (globale Perspektive) auf eine konkrete Spielszene (spezifi‐ sche Perspektive) gelenkt. Je nach vorliegender Perspektive unterscheidet sich auch der Gebrauch der Adverbialien. Textsortentypisch sind außerdem attributiv erweiterte Adverbialien (meist in Form adverbialer Präpositionalphrasen). Sie dienen der Informationsverdich‐ tung durch Einführung zusätzlicher Hintergrundinformationen: Der neue FCA-Coach Dirk Schuster konnte [bei seiner misslungenen Heim‐ premiere vor 26.172 Zuschauern] TEMP allein mit dem Engagement seiner Mannschaft zufrieden sein. (FAZ: Internettext) 13 Daniel Caligiuri flankte von links, der von Sporting Lissabon umworbene Angreifer Bas Dost legte [in seinem möglichen Abschiedsspiel] TEMP fein auf Didavi ab. (FAZ: Internettext) 14 Besonders deutlich zeigt sich diese Funktion in [15]. Die temporale Präpositio‐ nalphrase leistet hier keine im engeren Sinne zeitliche Situierung des im Satz dargestellten Sachverhalts, sondern stellt dem Leser zusätzliche Informationen über einen der beteiligten Spieler zur Verfügung. Temporaladverbialien scheinen für das Einflechten solcher zusätzlichen Informationen besonders ge‐ eignet, da sie eine relativ allgemeine zeitliche Situierung erlauben. Insgesamt lassen sich damit auch den Spielberichten textsortenspezifische Funktionen und Verwendungsweisen der Adverbialien attestieren. Sie dienen unter anderem der anschaulichen Beschreibung des Spielgeschehens und der Einbindung von Hintergrundinformationen in den Spielbericht. 319 Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik 4 Fazit und Ausblick Der vorliegende Beitrag rückt den Ansatz der textsortenbasierten Grammatik‐ didaktik in den Kontext des schulischen Sprachunterrichts und beschreibt das Adverbiale als schulgrammatisches Satzglied aus textsortenbasierter Perspek‐ tive. Zu diesem Zweck wurden vier verschiedene Textsorten - Hausordnungen, Kochrezepte, Leitartikel und Spielberichte - hinsichtlich des Vorkommens und der Verwendungsweise der Situativadverbialien analysiert. Auf der Grundlage der vorgestellten Ergebnisse lässt sich das didaktische Potenzial einer textsor‐ tenbasierten Behandlung der Adverbialien im Sprachunterricht erkennen. Die untersuchten Textsorten zeigen textsortenspezifische adverbiale Profile und Verwendungsweisen. Sie unterscheiden sich sowohl quantitativ hinsichtlich des Vorkommens bestimmter Adverbialien (Untersuchungsfrage 1) als auch quali‐ tativ hinsichtlich ihrer kommunikativ-pragmatischen Funktionen und Verwen‐ dungsweisen (Untersuchungsfrage 2). Damit sind die grundlegenden Voraus‐ setzungen für eine textsortenbasierte Vermittlung der Adverbialien gegeben. Der textsortenbasierte Grammatikansatz lässt sich mit Gewinn auf das Adver‐ biale als schulgrammatisches Satzglied anwenden. Aus didaktischer Sicht lassen sich die vorgestellten Ergebnisse für einen sprachreflexiven Grammatikunterricht nutzen (Untersuchungsfrage 3). Das di‐ daktische Potenzial besteht in der Untersuchung der textuellen und kommunikativ-pragmatischen Leistungen der Adverbialien in unterschiedli‐ chen Textsorten durch die Lernenden, ähnlich wie es hier am Beispiel der Text‐ sorten Hausordnung, Kochrezept, Leitartikel und Spielbericht illustriert und vorgestellt worden ist. Die Analyse der Adverbialien erschöpft sich auf diese Weise nicht in der formalen und semantischen Bestimmung. Stattdessen stehen die inhaltlich-funktionalen, textuellen und kommunikativ-pragmatischen Leis‐ tungen der Adverbialien im Vordergrund. Das Ziel besteht dann nicht bloß im Rekonstruieren der Bauweise von Sätzen und Texten, sondern vielmehr im Nachvollziehen ihrer Funktionsweise. Auf der Basis eines ganzheitlich-funkti‐ onalen Textsortenkonzepts lassen sich sprachreflexive Überlegungen über die textuellen und kommunikativ-pragmatischen Leistungen grammatischer Mittel und Strukturen in konkreten Texten anstellen. So bietet die textsortenbasierte Grammatikdidaktik neue Perspektiven für die Ausbildung von Sprachbewusst‐ heit im Deutschunterricht, die praktisch erprobt und in weiterführenden For‐ schungsarbeiten empirisch überprüft werden könnten. Exemplarisch lässt sich das Potenzial textsortenbasierter Analysen am Bei‐ spiel der Kochrezepte illustrieren. Auch wenn Adverbialien aus syntaktischer Perspektive häufig ohne Konsequenzen für die Grammatikalität eines Satzes 320 Daniel Mischa Helsper getilgt werden können, sind sie aus kommunikativ-pragmatischer Perspektive in der Textsorte Kochrezept keineswegs weglassbar, sondern steuern wesent‐ liche (vielleicht sogar die wichtigsten) Informationen zur erfolgreichen Reali‐ sierung der Textfunktion bei. Die Funktionalität der Adverbialien für die Text‐ sorte lässt sich durch eine didaktische Verfremdung des Materials sichtbar machen. Lässt man die Adverbialien weg, dürften die Lernenden dem Scheitern der intendierten Kommunikationsfunktion schnell auf die Spur kommen. Von einer präzisen Handlungsanweisung wie Das Risotto bei niedriger Hitze ca. 15 Minuten unter ständigem Rühren quellen lassen bliebe dann nämlich nichts als ein syntaktisches Grundgerüst übrig: Das Risotto quellen lassen. Dieses infor‐ miert zwar über die durchzuführende Handlung, nicht jedoch über die Art und Weise ihrer Durchführung. Es ist daher kaum vorstellbar, wie ein Rezept ohne Adverbialien funktionieren könnte. Im Anschluss an diese Erkenntnis ließe sich die funktionale Leistung der Adverbialien für die Textsorte anhand authenti‐ scher Beispiele reflektieren. Die konkrete didaktische Umsetzung einer textsortenbasierten Grammatik‐ arbeit in der schulischen Praxis bedarf sicherlich weiterer Überlegungen. Auch ist zu prüfen, ob der vorgestellte Ansatz tatsächlich als grammatikdidaktisches Konzept für alle im schulischen Kontext relevanten grammatischen Themen oder doch nur für ausgewählte Themen mit ausreichender textsortenbasierter Variation geeignet ist. Der vorliegende Beitrag soll dazu beitragen, auf das di‐ daktische Potenzial einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik für den schu‐ lischen Deutschunterricht aufmerksam zu machen und dieses Potenzial anhand eines dafür geeigneten grammatischen Phänomens und einer Auswahl von vier Textsorten zu illustrieren. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten 1995: Textsorten - Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster. Adamzik, Kirsten 2016: Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin / Boston, 2., völlig neu bearb., akt. und erw. Neuaufl. Andresen, Helga / Funke, Reinold 2006: Entwicklung sprachlichen Wissens und sprach‐ licher Bewusstheit. In: Ursula Bredel / Hartmut Günther / Peter Klotz / Jakob Ossner / Gesa Siebert-Ott (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 1. Teilbd. Pa‐ derborn u. a., 2., durchges. Aufl., 438-451. Bachmann-Stein, Andrea 2004: Horoskope in der Presse. Ein Modell für holistische Text‐ sortenanalysen und seine Anwendung. 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Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno 1997: Grammatik der deutschen Sprache. Berlin / New York, 3 Bde. 324 Daniel Mischa Helsper AutorInnen der Beiträge Prof. Dr. Kirsten Adamzik Université de Genève Département de langue et de littérature allemandes Rue De-Candolle 5 1205 Genève Schweiz kirsten.adamzik@unige.ch Alessandra Alghisi, M. A. Université de Genève Département de langue et de littérature allemandes Rue De-Candolle 5 1205 Genève Schweiz alessandra.alghisi@unige.ch Nina Bercko, BA. MA. Universität Graz Institut für Germanistik Mozartgasse 8/ I 8010 Graz Österreich nina.bercko@uni-graz.at Dr. des. Sarah Brommer Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 8001 Zürich Schweiz brommer@ds.uzh.ch Dr. Eva Gredel (B.Sc.) Universität Mannheim Seminar für deutsche Philologie Schloss, Ehrenhof West 68131 Mannheim Deutschland eva.gredel@phil.uni-mannheim.de Daniel Mischa Helsper, M.Ed. Universität Trier Zentrum für Lehrerbildung Universitätsring 15 54286 Trier Deutschland helsper@uni-trier.de Dr. Bettina Lindner Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft Universitätsallee 1 85072 Eichstätt Deutschland bettina.lindner@ku.de Dr. Friedrich Markewitz Universität Paderborn Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Warburger Straße 100 33098 Paderborn Deutschland friedrich.markewitz@upb.de Mateusz Maselko, BA MA MA Université de Genève Département de langue et de littérature allemandes Rue De-Candolle 5 1205 Genève Schweiz mateusz.maselko@unige.ch 326 AutorInnen der Beiträge Dr. Stefanie M. Moog Universität Wien SFB Deutsch in Österreich Universitätsring 1 1010 Wien Österreich dr.s.moog@gmx.at Annika Vieregge, M.A. Otto-Friedrich-Universität Bamberg Institut für Germanistik Hornthalstraße 2 96045 Bamberg Deutschland annika.vieregge@uni-bamberg.de 327 AutorInnen der Beiträge Abstracts und Keywords Derselbe Text, aber anders Was können Variations- und Textlinguistik von- und miteinander lernen? Kirsten Adamzik (19-60) Der Beitrag lotet die Berührungspunkte zwischen Variations- und Text‐ linguistik aus, geht dabei disziplinären Entwicklungen seit den 1960er Jahren nach und greift frühe Versuche auf, auch auf der Textebene mit virtuellen Elementen zu rechnen (Texteme und Allotexte parallel zu Pho‐ nemen/ Morphemen und Allophonen/ -morphen). Diese Sichtweise drängt sich auf bei mündlich überlieferten volksliterarischen Texten (Einfache Formen nach A. Jolles), die auch in der Wissenssoziologie Beachtung ge‐ funden haben. In der Textlinguistik befasst man sich bislang vor allem mit konventionalisierten Mustern (Textsorten, Gattungen usw.). Der Beitrag betont demgegenüber die - identitätsstiftende - Funktion überlieferter Texte, Motive usw., die zum geteilten Wissensvorrat kleinerer oder grö‐ ßerer Gemeinschaften gehören. Keywords: (kollektives) Sprachgedächtnis, Textüberlieferung, Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, Wissenssoziologie, Wissenschaftsgeschichte Behördensprache im E-Government Zu den kommunikativen Praktiken der Schweizer öffentlichen Verwaltung im digitalen Zeitalter Alessandra Alghisi (183-224) Der Beitrag fokussiert am Beispiel der Schweiz die kommunikativen Prak‐ tiken der öffentlichen Verwaltung im digitalen Zeitalter. Im Mittelpunkt steht das Konzept von E-Government. Dies bezieht sich auf die Ausbrei‐ tung rechts- und verwaltungsbezogener Informationen und behördlicher Dienstleistungen in digitalen Medien. Durch die physische Zugänglichkeit behördlicher Texte wird heute zwar größere Bürgernähe hergestellt. Damit die fachexterne Kommunikation erfolgreich zustande kommt, müssen Behördentexte allerdings auch in die Rezeptions- und Verstehens‐ reichweite der Bürger gebracht werden. Dabei bietet es sich an, die Dar‐ stellungsformen und Vertiefungsmöglichkeiten des Hypertext-Systems auszuschöpfen. Die Umstellung der öffentlichen Verwaltung auf das In‐ ternet entspricht jedoch einer großen Herausforderung. Keywords: Behördensprache, E-Government, Bürgernähe, fachinterne vs. -externe Kommunikation, Textlinguistik Südmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung im Stadt-Land-Vergleich Nina Bercko (83-104) Die Vorstellung von Varietäten als streng voneinander abgrenzbaren, homogenen Gebilden war lange Zeit vorherrschend in der linguistischen Forschung und führte zu einer dichotomischen Behandlung von gespro‐ chener Sprache in der Stadt gegenüber jener auf dem Land. Aufgrund der Annahme eines sprachlichen Kontinuums, innerhalb dessen sich unter‐ schiedliche Sprachrealitäten von standardnaher Sprechweise bis hin zu ausgeprägtem Dialekt ausmachen lassen, rückte man von einem rein dichotomischen Ansatz weitgehend ab. Die im Beitrag präsentierte Pilot‐ studie widmet sich der Verbalflexion und präsentiert Unterschiede hin‐ sichtlich des Sprachgebrauchs in städtischer und ländlicher Umgebung in möglichst natürlicher Alltagskommunikation südmittelbairischer Spre‐ cherinnen und Sprecher zwischen 35 und 60 Jahren. 330 Abstracts und Keywords Keywords: Dialekt-Standard-Achse, Kontinuum, Konjunktiv II, Verbalflexion, Südmittelbairisch Textsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln Muster und Musterhaftigkeit aus korpuslinguistischer, textlinguistischer sowie stilistischer Perspektive Sarah Brommer (61-80) Der Beitrag verknüpft korpuslinguistische, textlinguistische und stilisti‐ sche Perspektiven auf das Konzept Muster bzw. Musterhaftigkeit. Text‐ sorten zeichnen sich durch einen musterhaften Sprachgebrauch, einen ty‐ pischen Stil aus. Aus korpuslinguistischer Perspektive lassen sich Textsorten als jeweils spezifische Zusammensetzung von sprachlichen Mustern beschreiben. Offenlegen lassen sich diese Muster anhand von in‐ duktiven korpuslinguistischen Analysen. Durch die Zusammenstellung entsprechender Korpora und vergleichende Analysen ist es möglich, den musterhaften Sprachgebrauch jeder beliebigen Textsorte zu ermitteln. Die Methode dient somit zur Textsortenbeschreibung und Stilanalyse und - mit Blick auf den Textsortenvergleich - zur Beschreibung textsortenspe‐ zifischer sprachlicher Variation. Keywords: induktiv, korpuslinguistisch, Muster(haftigkeit), Textsorte(nstil), Stil Di Alemannischi Wikipedia - Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe Eine text- und variationslinguistische Analyse der alemannischen Sprachversion der Wikipedia Eva Gredel (161-182) 331 Abstracts und Keywords In diesem Beitrag werden text- und variationslinguistische Ansätze bei der Analyse textueller Muster in verschiedenen Sprachversionen der Wiki‐ pedia zusammengebracht: Die zentrale Frage ist dabei, ob es Abwei‐ chungen bei den Strategien zur Kohärenzsicherung in der deutschen und der alemannischen Sprachversion der Wikipedia gibt, die als sprachliche Variation auf textueller Ebene zu verstehen sind. Zudem fragt der Beitrag, wie diese Abweichungen zu deuten sind. Zunächst wird die Wikipedia als Ressource zum Sprach- und Kulturvergleich vorgestellt, die den hetero‐ genen Charakter natürlicher Sprachen umfassend belegt. Dann folgen theoretische Überlegungen zur Kohärenzsicherung im dynamischen Hy‐ pertext; der Beitrag schließt mit der empirischen Analyse eigens erstellter Korpora. Keywords: Wikipedia, Alemannisch, Hypertext, Kohärenz, Variation Linguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik am Beispiel der Adverbialien Daniel Mischa Helsper (301-324) Ziel der textsortenbasierten Grammatikdidaktik ist die funktionale Ver‐ mittlung grammatischen Wissens anhand authentischer Textsorten, indem grammatische Phänomene im Zusammenhang mit textuellen und kontextuellen Parametern holistischer Textsortenbeschreibungen be‐ trachtet werden. Das in diesem Beitrag interessierende grammatische Phänomen ist das Satzglied Adverbiale. Im Vordergrund stehen textsor‐ tenspezifische Unterschiede im Vorkommen und in der Verwendungs‐ weise der Situativadverbialien. Anhand eines manuell annotierten Text‐ korpus wird das Vorkommen der Adverbialien in vier Textsorten untersucht. Es zeigt sich, dass sich das Auftreten bestimmter Adverbialien mit Blick auf die jeweils vorliegende Textsorte funktional erklären lässt. Daraus ergeben sich neue Perspektiven für die Sprachdidaktik. 332 Abstracts und Keywords Keywords: textsortenbasierte Grammatikdidaktik, Textlinguistik, Sprachdi‐ daktik, Adverbialien, Sprachreflexion Zur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten am Beispiel des Kommunikationsbereichs Medizin Bettina Lindner (227-246) Ziel des Beitrags ist es, ein für die Analyse historischer Textsorten geeig‐ netes Beschreibungsinstrumentarium vorzustellen. Auf der Basis gängiger textlinguistischer Ansätze wird ein Modell entwickelt, das die üblichen Beschreibungsdimensionen (situative Bedingungen, kommunikative Funktion, inhaltlich-thematische Aspekte, charakteristische Struktur- und Formulierungsbesonderheiten, äußere Textgestalt) modifiziert und um wichtige Kategorien erweitert (kulturgeschichtlicher Kontext, metakom‐ munikative Wissensbestände, Textsortenbenennungen und prototypische Textsortenmerkmale auf makro- und mikrostruktureller Ebene). Beson‐ dere Aufmerksamkeit gilt dabei den metakommunikativen Wissensbe‐ ständen. Exemplifiziert wird das Modell anschließend anhand medizini‐ scher Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts. Keywords: historische Textsorten, textlinguistisches Beschreibungsmodell, Sprachgeschichte als Textsortengeschichte, metakommunikative Wissensbe‐ stände, Textsortenbenennungen Systemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens anhand der Textsorte ‚Schulprogramm‘ Eine systemtheoretisch-textsortenlinguistische Untersuchung Friedrich Markewitz (247-272) 333 Abstracts und Keywords Die historische Textsorte ‚Schulprogramm‘ harrt seit ihrem Untergang Anfang des 20. Jahrhunderts der Wiederentdeckung. Mit dieser Untersu‐ chung soll ein Beitrag zu ihrer Visibilisierung geleistet und ihre Relevanz für historische Forschungen unterstrichen werden. Anhand eines ausge‐ wählten Korpus werden mögliche Rollenbzw. Selbstinszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens analysiert, um so Zuschreibungs‐ prozesse hinsichtlich der beruflichen Rollensowie Selbstbilder innerhalb des 19. Jahrhunderts exemplarisch nachzuzeichnen. Zugleich ordnet sich der Beitrag als Teil einer durch systemtheoretische Paradigmen fundierten Textsortenlinguistik zu und stellt die Produktivität dieser Verbindung unter Beweis. Keywords: Textlinguistik, historische Textsorten, Schulprogramm, Systemthe‐ orie, Rolleninszenierungen Unternehmenssprache: regional - national - global? Fallstudie zu Austrian Airlines im Vergleich mit Lufthansa und SWISS Mateusz Maselko (105-157) Der Beitrag beschäftigt sich aus interdisziplinärer Perspektive mit dem Konzept der Unternehmenssprache. Zum Thema werden notwendiger‐ weise sowohl betriebswirtschaftliche als auch variations- und textlingu‐ istische Aspekte, wobei die letzten in den Vordergrund rücken. Einer the‐ oretisch-terminologischen Debatte folgt eine empirische Studie zur Austrian Airlines, in der die Frage nach der Umsetzung ‚der‘ Unterneh‐ menssprache bzw. ihrer konzeptuellen Ausrichtung (international - nati‐ onal - regional) nachgegangen wird. Dies erfolgt im Vergleich zu zwei anderen Fluggesellschaften der Lufthansa Group: der Lufthansa und SWISS. Im letzten Schritt wird der Webauftritt der österreichischen Flug‐ linie einer sprachlichen Analyse unterzogen: Dieser zeichnet sich durch starke Variation auf allen den schriftlichen Bereich betreffenden System‐ ebenen der Sprache aus. 334 Abstracts und Keywords Keywords: Unternehmenssprache, Aviatik, (regionale, nationale, globale) Iden‐ tität, areale Variation, Deutsch in Österreich Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen Annika Vieregge (275-299) Der Beitrag präsentiert erste Ergebnisse einer Onlinebefragung zur Be‐ wertung und Wahl von Rektionsvarianten bei Sekundärpräpositionen im Standarddeutschen. Die zentrale Hypothese ist, dass es zu einer Indexi‐ kalisierung von Genitiv und Dativ als Präpositionalkasus kommt: Es zeigt sich, dass dem Genitiv sowohl bei ursprünglichen Genitivpräpositionen als auch bei ursprünglichen Dativpräpositionen Merkmale wie Formalität und Bildung zugeschrieben werden, während der Dativ vielen Spreche‐ rInnen als ungebildet, aber auch als sympathischer gilt. Produktion und Akzeptabilität von Dativ- und Genitivrektion spiegeln dies wider. Die In‐ dexikalisierung kann somit die aus grammatikalisierungstheoretischer Sicht überraschende Tendenz der Sekundärpräpositionen zur Genitivrek‐ tion erklären. Keywords: Präpositionen, Genitiv, Sprachwandel, Indexikalisierung, Online‐ umfrage 335 Abstracts und Keywords