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Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation

2020
978-3-8233-9223-1
Gunter Narr Verlag 
Kirsten Adamzik
Mikaela Petkova-Kessanlis

Der Band widmet sich der Funktionenvielfalt von Stilwechseln in Textsorten und Kommunikationsformen der schriftlichen Fach- bzw. Wissenschaftskommunikation zwischen Experten, zwischen Experten und Semiexperten sowie zwischen Experten und Laien. In ihren korpusbasierten Untersuchungen beleuchten die Autorinnen und Autoren das Thema von verschiedenen Seiten: Stilwechsel wird aufgefasst als stilistischer Sinntyp, als Normverletzung oder als Ergebnis von Medienwechsel. Behandelt werden Textsorten und öffentliche Kommunikationsformen aus unterschiedlichen fachlichen Kommunikationsbereichen, in erster Linie in synchroner Sicht. Die Vielfalt der Untersuchungsansätze führt zu einem Erkenntnisgewinn, der weit über die Beschreibung einzelner Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation hinausreicht und Schlussfolgerungen über wissenschaftliche Handlungsfelder, wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung und Denkstile erlaubt.

Europäische Studien zur Textlinguistik Stilwechsel und ihre Funktionen Kirsten Adamzik, Mikaela Petkova-Kessanlis (Hrsg.) in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Steffen Pappert (Duisburg-Essen) Nina-Maria Klug (Vechta) Georg Weidacher (Graz) Band 20 Kirsten Adamzik / Mikaela Petkova-Kessanlis (Hrsg.) Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-8223-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9223-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0096-0 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 15 53 75 111 147 189 241 271 Inhalt Zur Einleitung in den Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung. Ein exemplarischer Vergleich von wissenschaftlicher Grammatik, Grammatik- Lehrbüchern für das Studium und Grammatikhilfen für die Schule und den Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ines-A. Busch-Lauer Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR. Wie man über die Smarte Welt und Virtuelle Realität kommuniziert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Fix Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft. Zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patricia A. Gwozdz Feld und Stil. Textsoziologische Anmerkungen zum Stilwechsel im Subfeld erweiterter akademischer Wissensproduktion der Populär/ Wissenschaft am Beispiel der Life Sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Meiler Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens. Wissenschaftskommunikation in diskursiven Kommunikationsformen . . . Mikaela Petkova-Kessanlis Unterhaltsames I N F O R MI E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen . Annely Rothkegel Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil: die Internetplattform der Wissenschaftsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ Zur Überprüfbarkeit normativer Einstellungen zum wissenschaftssprachlichen Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 331 357 393 399 403 Thomas Tinnefeld Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler alltäglicher Fachkommunikation - am Beispiel der Online-Textsorte Forumsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Venohr Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs. Interkulturelle Schreibpraxen und Stilwechsel am Beispiel von Lernertexten französischer Studierender im Deutschen als fremder Wissenschaftssprache (Universität der Großregion/ UniGR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Ylönen Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens am Beispiel der Entwicklung von Zitationskonventionen in medizinischen Originalarbeiten . . . . . . . . . . . . . . Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Zur Einleitung in den Band Stil ist ein heterogenes Phänomen, das sich durch eine funktionale Vielfalt aus‐ zeichnet, die sich erst in und mit der Realisierung in konkreten Texten entfaltet und entsprechend fassbar wird. Aufgrund unseres stilistischen Wissens haben wir an Texte aus verschiedenen Handlungsbereichen bestimmte stilistische Er‐ wartungen. Konkrete Texte, denen wir in unserer Kommunikationspraxis be‐ gegnen, können diesen stilistischen Erwartungen mehr oder weniger entspre‐ chen oder mehr oder weniger stark davon abweichen. Fachbzw. Wissenschaftsstil gelten als relativ standardisiert. Konstitutiv für den wissenschaftlichen Stil sind Stilprinzipien wie Unpersönlichkeit, Abstrakt‐ heit, Neutralität, Sachlichkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit, Genauigkeit, Öko‐ nomie. Bei Veränderung des Handlungstyps, z. B. wenn wissenschaftliche In‐ halte einer anderen Adressatengruppe (Studierenden, Laien etc.) vermittelt werden sollen, also für sog. fachexterne Texte, gelten teilweise andere Stilprin‐ zipien. So wird in der Fachsprachenforschung häufig zwischen dem theoretischwissenschaftlichen, dem populärwissenschaftlichen und dem didaktischen Fachstil unterschieden. Stilwechsel kommen freilich auch innerhalb von (Fach-)Texten vor. Er‐ wartbar ist dies etwa zwischen verschiedenen Teiltexten (Behandlung eines Beispiels) oder bei Intertextualität (Zitate). Als weniger erwartbar und eher in‐ dividuell gelten dagegen z. B. der Wechsel der Kommunikationsmodalität (ernst versus scherzhaft), der Stilebene (hochsprachlich versus umgangssprachlich) usw. Stilkonventionen und -erwartungen unterliegen allerdings selbstverständ‐ lich historischen Veränderungen, und gerade heutzutage vermutet man zuneh‐ mende Nähesprachlichkeit auch in fachlichen Kontexten. Dazu tragen die technischen Entwicklungen erheblich bei, nicht zuletzt mit den Möglichkeiten, die sich auch ‚Laien‘ bieten, in den öffentlichen Diskurs einzugreifen. Damit wächst zugleich der Druck auf Wissenschaft und Bildungs‐ wesen, Politik, Verwaltung und Medien, nicht nur die Zugänglichkeit von In‐ formationen zu erleichtern, sondern auch Partizipation und Dialog zu ermögli‐ chen. Den damit nur grob angedeuteten verschiedenen Facetten des Phänomens Stilwechsel unter ausgewählten Fragestellungen nachzugehen, war das An‐ liegen dieses Bandes. Die Beiträge decken eine große Bandbreite von Produ‐ zenten-/ Rezipienten-Instanzen, Kommunikationsformen, Themen und Aus‐ drucksmitteln ab: Der Schwerpunkt liegt auf der Kommunikation im deutschsprachigen Be‐ reich, in zwei Beiträgen kommen aber auch kontrastive Aspekte in den Blick: Während Elisabeth Venohr ein Projekt für grenzüberschreitende Mehrspra‐ chigkeit unter Studierenden im deutsch-französischen Grenzraum vorstellt, geht Patricia A. Gwozdz am Beispiel der Life Sciences, speziell des prominenten Evolutionsbiologen Richard Dawkins, nationalspezifischen Ausprägungen po‐ pulärer Wissenschaftskommunikation nach. In einem breit angelegten textso‐ ziologischen Zugriff erläutert sie die Bedeutung der historischen Genese von Denkkollektiven in der Auseinandersetzung mit ‚externen‘ Akteuren wie etwa dem Verlagswesen und dem Buchmarkt. Dabei greift sie auf Bourdieus Konzept sozialer Felder zurück und geht speziell auf den Transfer zwischen verschie‐ denen Kapitalsorten ein. Während wissenschaftsintern der institutionelle Status zählt, verleiht die gleichzeitige Rezeption außerhalb dieses Feldes intellektuelles Prestige. Dies geht mit der Ausbildung bzw. Umwandlung typisch fachinterner Textsorten, insbesondere dem wissenschaftlichen Artikel, zu neuen Formen einher. An solchen neuen Formen hat man den book-length scholarly essay und die interdisciplinary inspirational monograph identifiziert, die Gwozdz näher vorstellt. Wenn ein renommierter Wissenschaftler zugleich als Popularisierer auftritt und dabei geradezu neue Textsorten kreiert, widerspricht dies natürlich überkom‐ menen Erwartungen. Dies stellt zwar in diversen sprach- und nationalspezifischen Konstellationen gleichermaßen ein relevantes Faktum dar, wirkt sich allerdings nicht in allen Kontexten auf die gleiche Weise aus. Denn in jedem Fall treffen auch neuere Entwicklungen auf die zweite relevante Schnittstelle zwischen fachinterner und -externer Kommunikation, die Weitergabe des Wissens an den Nachwuchs, d. h. das didaktische Feld. Wie weit hier die Gewohnheiten und Erwartungen selbst in benachbarten Regionen divergieren können, zeigen - gerade im Vergleich zur Untersuchung von Gwozdz - die Ausführungen von Venohr. Auch den Unterrich‐ tenden sind die Unterschiede nicht einmal unbedingt bewusst. Vor allem aber fragt es sich, inwieweit die Anpassung an ‚fremde‘ Üblichkeiten in der ‚eigenen‘ Gemein‐ schaft überhaupt akzeptiert wird. Diesen Sachverhalt aufgreifend plädiert Venohr im Hinblick auf das Studium in mehrsprachigen Studiengängen für einen Perspek‐ tivenwechsel, bei dem sowohl die Textsorten- und Stilkompetenz in der L1-Sprache (unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Wissenschaftskulturen) als auch Cross-cultural-Schreiberfahrungen produktiv genutzt werden. Problematisch erscheint damit die Praxis der präskriptiven zielsprachlichen Produktorientierung, die u. a. Stilwechsel sanktioniert. Diese Umorientierung soll die Entstehung und 8 Zur Einleitung in den Band Entwicklung von mehrsprachigen sowie Cross-cultural-Diskursgemeinschaften begünstigen. Der Frage, wie man in mehrsprachigen und multikulturellen Kontexten auf Spuren divergenter Konventionen reagiert, noch vorgelagert ist das Problem, wie sich normative Einstellungen zum wissenschaftlichen Stil (und eventuelle Verschiebungen in diesem Bereich) überhaupt eruieren lassen. Diesem Prob‐ lemkomplex widmen sich Christiane Thim-Mabrey und Maria Thurmair, die ein Projekt-Seminar „Wissenschaftliches Schreiben bewerten“ durchgeführt haben. Nach der Musterung von Stilratgebern und Resultaten vorliegender Befra‐ gungen entwickelten die Studierenden selbst einen Fragebogen für Lehrkräfte aus verschiedenen Fächern. Insgesamt lassen die Ergebnisse zwar darauf schließen, dass es gewisse verbreitete Stereotype über Gütemerkmale (Sach‐ lichkeit, Klarheit usw.) und Mängel wissenschaftlichen Stils gibt - nicht zufällig nennen die Autorinnen den Schachtelsatz schon im Titel. Befragungen dieser Art und ihre Auswertung erweisen sich aber methodisch als sehr schwierig. Unverkennbar ist immerhin, dass ein und dasselbe Phänomen zu gegensätzli‐ chen Bewertungen Anlass geben kann. Zu dieser Einschätzung kommt auch Mikaela Petkova-Kessanlis, die Einfüh‐ rungen in die Linguistik bzw. linguistische Teildisziplinen auf unterhaltsame ‚Attraktivmacher‘ untersucht und damit der These von zunehmender Nähe‐ sprachlichkeit im didaktischen Feld nachgeht. Angesichts der Divergenzen in Einstellungen zu stilistischen Charakteristika und Stilwechseln bleibt noch offen, inwieweit der Trend zur Aufweichung rigider stilistischer Normen sich als längerfristige historische Entwicklung durchsetzen wird. Unabhängig davon, ob sich dieser Trend etablieren wird oder nicht, stellt sich die Frage, in welche Richtung dieser Trend geht. Einen Eindruck davon vermit‐ teln neben Petkova-Kessanlis auch Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein. Der erstgenannte Beitrag zeigt, dass in didaktisch aufbereiteten wissenschaftlichen Texten Unterhaltsamkeit zum Zwecke der Erkenntniserleichterung und Rezipientenbeeinflussung erzeugt wird und dem übergeordneten Ziel dient, diese Texte für die Adressatengruppe der Studierenden attraktiv zu machen. Unter‐ haltsamkeit ist jedoch ein Gestaltungsmerkmal, das für den populärwissen‐ schaftlichen Stil charakteristisch ist und für genuin wissenschaftliche Texte atypisch. Dies hat verschiedene auffällige Stilwechsel zur Folge, die entweder dem unterhaltenden Informieren dienen oder lediglich dem Unterhalten, d. h. die die Vermittlung fachlicher Inhalte nicht unterstützen. Bachmann- Stein /  Stein stellen auch in Grammatik-Einführungen eine Reihe von Stilwech‐ seln fest, die die Funktion erfüllen, die Texte für Studienanfänger attraktiv und somit verständlich zu machen. Sie gehen allerdings nicht von einem Trend aus, 9 Zur Einleitung in den Band sondern von einer Randerscheinung und betonen die Notwendigkeit detaillier‐ terer Untersuchungen, um auszuschließen, dass diese Stilwechsel auf Individu‐ alstile zurückzuführen sind. Im Unterschied zu derartigen Entwicklungstrends von ungewisser Dauer und somit mit offenem Ausgang sind historische Veränderungen, die auf technische Entwicklungen zurückgehen und die in mehreren Beiträgen zur Sprache kommen, unverkennbar: Multikodalität, d. h. neben sprachlichen Ausdrucks‐ mitteln der Einsatz diverser Arten von Abbildungen und Farbe sowie aufwen‐ diges Seitenlayout, hat sich auch in Druckmedien durchgesetzt (vgl. Bachmann- Stein /  Stein, Kap. 3; Petkova-Kessanlis, Kap. 4.10). Ungleich einschneidender ist jedoch das Aufkommen von Webauftritten, Blogs und Foren. Wie sehr mit diesen Kommunikationsformen auch der Anspruch verbunden wird, die Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu überwinden, zeigt Annely Rothkegel mit ihrer Analyse der Internet-Plattform zu den Wissen‐ schaftsjahren (im Zeitraum 2010-2018). Eingerichtet vom deutschen Bundes‐ ministerium für Bildung und Forschung, verfolgt dieses Projekt das Ziel, zu einem „Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern“ zu kommen, der ein konstruktives Miteinander von Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen soll. Auf der Makroebene diagnostiziert Rothkegel einen „stillosen Stil“: Ein einheitliches modisches Webdesign gewährleistet eine gewisse Konsistenz, diese kann den Mangel an inhaltlicher Kohärenz aber kaum kompensieren. Auf der Mikroebene, d. h. innerhalb einer einzelnen, einem bestimmten Thema gewidmeten Website, werden die differenten Perspektiven dagegen weniger überwunden als durch „semantisches Jonglieren“ verdeckt, das die Unterschiede zwischen fachlichen, nicht-fachlichen und alltagssprachlichen Ausdrücken verschwimmen lässt. Mit dem engeren Feld der Popularisierung, in dem als Produzenten in der Regel weniger Wissenschaftler, sondern Journalisten als Mittler beteiligt sind, beschäftigt sich Ines-A. Busch-Lauer. Ausgehend von der These, dass das In‐ ternet als interaktive Plattform für den Wissensaustausch die Distanz zwischen Wissenschaft als Theoriegebäude mit Spezialwissen und Gesellschaft als Pra‐ xisraum verringert, leitet Busch-Lauer stilistische Tendenzen ab, die auf den Einfluss des Mediums Internet zurückzuführen sind. Sie weist sie nach anhand einer exemplarischen Analyse von Texten aus Online-Wissenschaftsmagazinen und Blogtexten, die wissenschaftlich-technische Neuerungen zum Gegenstand haben. Eine dieser Tendenzen ist der Wechsel von schriftsprachlichem zum mündlichen Stil, der Merkmale des publizistischen Stils aufweist. Diese Gestal‐ tungstendenz entspricht der von der Autorin konstatierten Multifunktionalität: Die von ihr untersuchten Texte erfüllen gleichzeitig eine informative, eine po‐ pularisierende und eine werbende Funktion. 10 Zur Einleitung in den Band Bei Busch-Lauer kommt auch ein Stilmerkmal popularisierender Texte zur Sprache, das unabhängig vom Medium ist, nämlich die Personalisierung. Sie kann Betroffene, die Interaktanten oder auch die Wissenschaftler betreffen, von denen die Rede ist. Sie steht in besonders starkem Kontrast zum Stil in Wissen‐ schaftstexten, da dort eben Unpersönlichkeit die Norm ist. Das bedeutet freilich nicht, dass der Beziehungsaspekt in der Wissenschaftskommunikation gar keine Rolle spielte. Hier ist das Medium insofern von Bedeutung, als in diskursiven Kommunikationsformen, insbesondere bei Kopräsenz, die Bearbeitung des Be‐ ziehungsaspekts explizit realisiert wird, und zwar vor allem an den Rändern kommunikativer Episoden (im Sinne einer Rahmung), während sie in textuellen Kommunikationsformen eher implizit erfolgt. Diesem Fragenkomplex ist der Beitrag von Matthias Meiler gewidmet. Da in wissenschaftlichen Texten der primäre kommunikative Zweck in der Bearbeitung des wissenschaftlichen Wis‐ sens besteht, kommt es durch die kommunikative Bearbeitung der domänen‐ spezifischen professionellen Kontaktnahme und Beziehungspflege zu Stilwech‐ seln. Ausgehend von einem Beispiel aus einem Wissenschaftsblog präsentiert Meiler den Forschungstand zum Thema und kommt zu dem Schluss, dass die relevanten Stilwechsel im wissenschaftsinternen Diskurs das Prinzip der Un‐ persönlichkeit nicht außer Kraft setzen bzw. im Sinne einer historischen Ent‐ wicklung schwächen, sondern im Gegenteil dazu dienen, die Gültigkeit der Konventionen interner Wissenschaftskommunikation zu bestätigen. Die Bandbreite von interaktiver Internetkommunikation ist sowohl hinsicht‐ lich der situativen Faktoren als auch der stilistischen Ausprägungen sehr groß. Während Meiler fachinterne Diskurse behandelt, die die geltenden Normen (weitgehend) respektieren und reproduzieren, behandelt Thomas Tinnefeld den entgegengesetzten Pol, nämlich (vor allem am Beispiel des bekannten Portals Gute Frage) Forumsbeiträge, die von Rat suchenden Laien initiiert und daher erwartbar von „alltags-fachsprachlichen Stilwechseln“ geprägt sind. Ausge‐ wählt wurden Fragen zu juristischen Problemen, die in der Regel ohne Anspruch auf sprachliche (oder gar fachliche) Korrektheit formuliert sind. Als Antwor‐ tende treten ‚Experten‘ auf, die sich selbst einen Wissensvorsprung zuschreiben und charakteristischerweise versuchen, das Anliegen mit fachlichen Begriffen zu reformulieren, oder auch Versatzstücke aus dem Fachdiskurs (wie etwa Ge‐ setze) zitieren, um sie dann ggf. wieder in laientaugliche Sprache zu übersetzen. Auf diese Weise kommt es zu (teilweise sehr komplexen) Stilwechseln auch in‐ nerhalb eines Beitrags. Diese Stilwechsel haben nach Tinnefeld teilweise eine sachorientierte Funktion (Streben nach inhaltlicher Exaktheit oder - bei direkter Übernahme von fachlichen Formulierungen - nach Enkodierungsökonomie). Im Vordergrund seiner Ausführungen stehen jedoch Stilwechsel, die sich aus 11 Zur Einleitung in den Band emotionaler Beteiligung ergeben, so etwa wenn der ‚Experte‘ diese Rolle aufgibt und, gewissermaßen als Privatperson, das Verhalten des Fragestellers (mora‐ lisch) wertet, ihm praktische Ratschläge gibt oder sich mit ihm solidarisiert. Einen Umschlag von der sachlichen auf die emotional-persönliche Ebene stellen auch Bachmann-Stein /  Stein fest, und zwar in Internetforen zu Gram‐ matikfragen (Kap. 4). Sich selbst eine Expertenrolle zuzuschreiben ist hier in‐ sofern einerseits einfacher, andererseits heikler als bei juristischen Fragen, als sich weit mehr Personen als kompetent in Bezug auf die eigene Sprache be‐ trachten und nicht davor zurückschrecken, eine solche Kompetenz anderen Personen abzusprechen. Dies ist aus dem laienlinguistischen Diskurs gut be‐ kannt, nimmt aber bei Beteiligung von Personen ohne jeden auch nur halboffiziellen Expertenstatus (wie er z. B. Bastian Sick zukommt) leicht besonders krasse Züge an, die die Forenbetreiber mitunter dazu veranlassen, explizit die Einhaltung der Netiquette-Regeln einzufordern. Auf Internetforen gehen Bachmann-Stein /  Stein nur kursorisch ein, der Ver‐ gleich mit Stilwechseln, die in didaktisch konzipierten Grammatikdarstellungen (Kap. 2) vorkommen, und schließlich mit solchen, die sich in den verschiedenen Auflagen der (Wissenschaftlichkeit beanspruchenden) Duden-Grammatik (Kap. 3) beobachten lassen, zeigt aber besonders gut, mit welcher Vielfalt an Gestal‐ tungsmitteln und Funktionen bei ‚derselben‘ kommunikativen Aufgabe zu rechnen ist. In überwiegend an Studierende gerichteten Darstellungen dienen Stilwechsel (weg vom Sachlich-Neutralen) vor allem der Aufmerksamkeitsstei‐ gerung und Rezeptionsförderung. Je breiter das Publikum (Schüler und eine di‐ sperse Gruppe von Sprachinteressierten), desto unterschiedlicher (aber tenden‐ ziell geringer) werden Vorwissen und Lernbereitschaft eingeschätzt, was zum Einsatz typisch popularisierender Mittel führt: Die Textproduzenten zeigen Ver‐ ständnis für Probleme angesichts der notorisch unbeliebten Grammatik, ver‐ zichten gänzlich auf konkrete Verweise auf den Fachdiskurs, treten als Mittler zur nur abstrakt genannten (Sprach-)Wissenschaft auf, sprechen Leser direkt an und erteilen konkrete Ratschläge. Angezielt wird damit die zeitweise Aufhebung der Wissens-Asymmetrie und somit die Verringerung der Distanz zu den Rezi‐ pienten. Dass sich in den Auflagen der Duden-Grammatik sehr markant die Gestal‐ tungsveränderungen niederschlagen, die durch die technischen Entwicklungen verursacht sind, wurde schon oben bemerkt. Die Ausweitung des Einsatzes von grafisch-visuellen Mitteln dient der Lese- und Zugriffsfreundlichkeit. Daneben registrieren die Autoren eine Verdoppelung des Umfangs, was in bemerkens‐ wertem Gegensatz zur angezielten Erweiterung des Adressatenkreises steht (auch Rezipienten mit niedrigeren Wissensvoraussetzungen werden als Nutzer 12 Zur Einleitung in den Band in Betracht gezogen); denn die vergleichend behandelten ‚popularisierenden‘ Darstellungen zeichnen sich gerade durch massive Umfangsreduktion und Simplifizierungstendenzen aus. Einer sehr viel tiefer gehenden Änderung entspricht der Wandel der Duden- Grammatik von einer eher präskriptiven zu deskriptiver Haltung sowie der Stil‐ wechsel beim Exemplifizieren: Er besteht in dem zunehmenden Verzicht auf literarische Belege und der Aufnahme von Beispielen, die der authentischen mündlichen Kommunikation entstammen. Hier haben wir es weit eher mit dem Wandel von Denkstilen zu tun. Dies führt einerseits zurück auf die Ausfüh‐ rungen von Gwozdz und unterstützt deren Forderung, Stilwandel auch im text‐ soziologischen Kontext zu untersuchen und externe Akteure zu berücksich‐ tigen. Die exponierte Stellung des Duden(-Verlags) im deutschsprachigen Raum verdient dabei besondere Beachtung und Bachmann-Stein /  Stein zeigen über‐ zeugend, wie sehr auch die in der Stilanalyse selten berücksichtigten Gram‐ matik-Darstellungen Aufmerksamkeit verdienen. Ein besonders enger Anknüpfungspunkt besteht andererseits zu dem Beitrag von Ulla Fix, die den Wandel von Denkstilen in den Mittelpunkt stellt. Sie be‐ handelt denselben zeitlichen Ausschnitt (nämlich grob die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts), wählt aber als Textsorte den auch sonst besonders oft unter‐ suchten (sprach-)wissenschaftlichen Aufsatz. Fix stellt das Kategorieninventar von Ludwik Fleck vor und versucht den Denkstil je eines Denkkollektivs aus den Perioden des Neoidealismus, des Strukturalismus und der Pragmalinguistik zu charakterisieren. Für eine Übersicht über Stilzüge und typische Stilelemente wissenschaftlicher Aufsätze greift sie auf die Funktionalstilistik zurück. Ihre empirische Analyse gilt - im Sinne einer exemplarischen Untersuchung - je einem Aufsatz der jeweiligen Periode. Während die letzten beiden Richtungen, wenn auch in charakteristisch verschiedener Ausprägung, die erwarteten Stil‐ züge klar erkennen lassen, weicht der Vertreter des Neoidealismus, Leo Spitzer, davon stark ab, insofern bei ihm Bestimmtheit (statt vorsichtiger Differenzie‐ rung und Vorläufigkeit) sowie Subjektivität dominante Stilzüge darstellen. Ge‐ rade dies entspreche allerdings dem Denkstil seines Denkkollektivs, trage also bei aller individualstilistischen Spezifik durchaus überindividuelle Züge. Ebenfalls essentiell historisch ausgerichtet ist der Beitrag von Sabine Ylönen, die sich gleichermaßen mit Aufsätzen beschäftigt, allerdings solchen aus der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Ihre Untersuchung deckt den umfang‐ reichsten Zeitraum ab (1884 bis 1999) und arbeitet mit einem umfangreichen Korpus. Außerdem nimmt sie eine besonders enge Phänomeneingrenzung vor, geht nämlich in diesem Aufsatz nur auf Zitationskonventionen ein. Angesichts des verbreiteten Topos von den Charakteristika der (Natur-)Wissenschaften ist 13 Zur Einleitung in den Band besonders bemerkenswert, wie spät (nämlich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) sich hier ein standardisiertes Verfahren etabliert hat. Trotz der auf den ersten Blick auf rein Formales gerichteten Analyse von Phänomenen, die sich auch besonders gut auszählen lassen, kann Ylönen aufzeigen, dass damit doch paradigmatische Änderungen des Wissenschaftsverständnisses - anders gesagt: Denkstilwechsel - verbunden sind. Insgesamt lässt sich festhalten: Stilwechsel sind ein facettenreiches, gesell‐ schaftlich und kommunikationsgemeinschaftlich relevantes Phänomen, das so‐ wohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht temporäre und /  oder bereits etablierte Stilveränderungen innerhalb von Textsorten, Kommunikations‐ formen, Texttypen und Diskursen indiziert. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass die Erforschung der Funktionenvielfalt der Stilwechsel - gerade im Bereich der als eher wandelresistent geltenden Wissenschaftskommunikation - ein loh‐ nenswertes Unterfangen darstellt, deuten aber gleichzeitig auf weiteren For‐ schungsbedarf hin. *** Als Herausgeberinnen danken wir herzlich allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihr Interesse am Thema, für ihre Mitwirkung an diesem Band und insbe‐ sondere für die Geduld, die sie bis zum Abschluss der Veröffentlichung aufge‐ bracht haben. Genf/ Athen, im September 2020 Die Herausgeberinnen 14 Zur Einleitung in den Band 0 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 3 4 4.1 4.2 4.3 5 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung Ein exemplarischer Vergleich von wissenschaftlicher Grammatik, Grammatik-Lehrbüchern für das Studium und Grammatikhilfen für die Schule und den Alltag Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein Gliederung Vorbemerkungen Theoretische Grundlagen Das Stilkonzept textpragmatischer und interaktionaler Provenienz Einheitlichmachen und Wechseln von Stil als textstilistische Handlungsmuster Stil und Stilwechsel in Wissenschaftstexten Textmuster- und Stilwandel Stilwechsel im synchronen Vergleich von Grammatik-Darstellungen Zielgruppenidentische Grammatik-Darstellungen Zielgruppendifferente Grammatik-Darstellungen Stilwandel im diachronen Vergleich zielgruppengleicher Grammatik- Darstellungen Kursorischer Blick auf Stilphänomene in Grammatikforen Allgemeines zur Beziehungsgestaltung Beleidigen Ironisieren Fazit 1 Verwiesen sei für diese Fragen auf Hennig /  Lotzow (2016; dort auch weitere Literatur‐ hinweise) und ihre empirischen Untersuchungen zu einer Grammatikbenutzungsfor‐ schung. 0 Vorbemerkungen Man weiß es ja: Allein schon die Bezeichnung „Grammatik“ ruft bei vielen Menschen Abwehrhaltungen und -reaktionen hervor. Und man darf annehmen, dass Grammatiken oder auch generell Texte, die grammatische Themen behan‐ deln, nicht zur bevorzugten Lektüre des durchschnittlichen Sprachteilhabers gehören, sondern nur dann konsultiert werden, wenn bestimmte Umstände es sinnvoll oder unumgänglich erscheinen lassen (z. B. Behandlung grammatischer Themen in Schule und Studium, Klärung grammatischer Probleme und Zwei‐ felsfälle im Alltag). 1 An diesem weit verbreiteten Negativimage dürfte auch das mittlerweile beträchtliche Angebot an Grammatikdarstellungen und -hilfen, die für bestimmte Adressaten- und Zielgruppen konzipiert sind und einen spezifi‐ schen Nutzerzuschnitt aufweisen, wenig ändern. Umso lohnenswerter erscheint es, einmal unter die Lupe zu nehmen, inwiefern versucht wird, die Attraktivität von Texten mit grammatischen Themen (im Weiteren kurz: Grammatik-Dar‐ stellungen bzw. -Texte) durch bestimmte Weisen des Gestaltens zu steigern. 1 Theoretische Grundlagen 1.1 Das Stilkonzept textpragmatischer und interaktionaler Provenienz Für die hier verfolgte Fragestellung bietet es sich an, von einem (text)pragma‐ tischen und einem interaktionalen Stilverständnis und Stilkonzept auszugehen, wie es maßgeblich durch Arbeiten von Sandig (vgl. insbesondere Sandig 1986 und 2006) und Selting (vgl. z. B. 2001) geprägt worden ist. Diesem Begriffsver‐ ständnis zufolge ist Stil als sozial relevante Art der Handlungsdurchführung (vgl. Sandig 2006: 9) zu fassen, ist Äußerungen und Texten stilistischer Sinn zuzuschreiben und können Typen stilistischen Sinns (ebd.: 17) ermittelt und unterschieden werden: „Stil ist also die sozial bedeutsame Art der Durchführung einer kommunikativen Handlung, wobei diese Art der Handlungsdurchführung und die Handlung selbst und /  oder das Thema als solches indizieren kann, wobei weiter die Handlungsdurch‐ führung erkennbar bezogen sein kann auf die Art der an der Handlung Beteiligten und ihre Beziehung und /  oder auf verschiedenartige Handlungsvoraussetzungen wie Kanal, Textträger, Medium, Institution, umfassendere Handlungsbereiche … Durch die Art der Handlungsdurchführung können außerdem Einstellungen /  Haltungen zu 16 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 2 Das Grundlegende dieses Gedankens zeigt schon Eggers (1973: 7) in seinen Überle‐ gungen zu „Grammatik und Stil“ auf. den verschiedenen Aspekten des Handelns mit ausgedrückt werden. Stile sind be‐ zogen auf ihre historische Zeit und eingebunden in bzw. Ausdruck von (Sub)Kulturen.“ (Sandig 2006: 17) Auf dieser Grundlage ist im Blick auf Grammatik-Texte zu fragen, inwiefern das Thema bzw. der Gegenstand (Grammatik) eine bestimmte Art der Handlungs‐ durchführung nahelegt und erwartbar macht, inwiefern sich aber im Blick auf die an der Handlung Beteiligten auch Unterschiede in der Art der Handlungs‐ durchführung erkennen lassen und inwiefern sich dadurch für die Rezipienten bzw. Nutzer sowohl erwartbzw. generalisierbare als auch individuelle Stilwir‐ kungen ergeben. Solche Stilwirkungen sind maßgeblich durch stilistisches Wissen geprägt, d. h. durch die Kenntnis der Konventionen darüber, wie typi‐ scherweise in bestimmten Handlungsbereichen Stilgestalten hergestellt werden. 1.2 Einheitlichmachen und Wechseln von Stil als textstilistische Handlungsmuster Vor diesem hier nur äußerst knapp skizzierten Hintergrund textstilistischer Grundannahmen gewinnen die Fragen an Bedeutung, auf welche Weise die Handlungsdurchführung in Grammatik-Texten erfolgen kann, inwieweit stilis‐ tische Einheitlichkeit erwartbar und gegeben ist sowie ob und gegebenenfalls welche Arten von Stilwechsel(n) erkennbar sind. Diese Fragen können bezogen auf eine bestimmte konkrete Darstellung gestellt werden, sie gewinnen aber an Relevanz, wenn verschiedene zielgruppenorientierte Darstellungen einander gegenübergestellt oder wenn in diachroner Perspektive verschiedene zielgrup‐ pengleiche Darstellungen verglichen werden. Im Mittelpunkt stehen dafür „textstilistische Handlungsmuster“, d. h. „stilre‐ levante Teilhandlungstypen für Texte“ (Sandig 2006: 147), die für die Produktion und Rezeption von Stilelementen zur Verfügung stehen. Für das Durchführen einer (komplexen) Handlung können als allgemeine stilistische Handlungstypen nach Sandig (ebd.: 150) das Gestalten und das Re‐ lationieren angesetzt werden. Das Gestalten - Püschel (1987: 143) zufolge das „zentrale Stilmuster“ schlechthin: „Die Form, das Aussehen, die Gestalt einer Sprachhandlung /  eines Textes ist ihr /  sein Stil“ (ebd.) 2 - ist in erster Linie ein auf Einheitlichkeit ausgerichtetes sprachliches Handeln (vgl. Fix 1996: 318). Dass Texte ein und desselben Themen- und Gegenstandsbereichs wie auch einzelne Texte und Textpassagen unterschiedlich gestaltet werden können und dass die Einheitlichkeit des Stils in der Sprachwirklichkeit nicht aufrechterhalten 17 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 3 Nur nebenbei muss man darauf hinweisen, dass in Arbeiten, die im weitesten Sinne textstilistische Fragen behandeln, weder eine einheitliche noch eine trennscharfe Un‐ terscheidung von relevanten textstilistischen Handlungsmustern zu finden ist: So un‐ terscheidet Sandig (2006: Kap. 4) beispielsweise „allgemeine textstilistische Handlungs‐ typen und Verfahren“, zu denen Abweichen, Verdichten, Mustermischen sowie Einheitlichmachen und Wechseln zählen, „generelle textstilistische Muster“ wie Kon‐ trastieren, Dialogisieren u. a., „weitere generelle stilistische Handlungsmuster“ (u. a. Generalisieren, Hervorheben, Anschaulichmachen) und „komplexe stilistische Hand‐ lungsmuster“ wie Bewerten, Emotionalisieren, Verständlichmachen. werden muss, sondern intentional oder auch unbedacht durchbrochen oder dass gar das Aufgeben von Einheitlichkeit selbst zu einem stilbildenden Prinzip werden kann (vgl. ebd.: 318), gehört zu den Alltagserfahrungen im Umgang mit literarischen Texten wie auch mit zweckorientierten Gebrauchstexten; gegebe‐ nenfalls erkennbare Unterschiede sind vor allem auf die jeweilige Art des For‐ mulierens, die jeweilige Präferenz für bestimmte Sprachhandlungen, den Rück‐ griff auf andere als sprachliche Zeichen und das Maß der Typisierung der Handlungsdurchführung zurückzuführen. Voraussetzung ist dabei, wie bereits angedeutet, eine auf Geltung bestimmter Konventionen beruhende Interpreta‐ tionsgrundlage für alle Kommunikationsbeteiligten (Textproduzent und Text‐ rezipient): „Wichtig ist, daß […] die für die Beteiligten in der Situation per Kon‐ vention erwartbaren Handlungen, Handlungsinhalte und Durchführungsarten angenommen werden; stilistischer Sinn und Stilwirkung des Textes […] ent‐ stehen in Relation dazu“ (Sandig 1986: 124). Das Einheitlichmachen und das Wechseln von Stilelementen zählen - neben z. B. Abweichen, Verdichten und Mustermischen - zu den grundlegenden sti‐ listischen Handlungsmustern: 3 „Einheitlichkeit entsteht durch FORTFÜHREN stilistisch gestaltbildender Mittel, so dass dieses FORTFÜHREN zur Interpreta‐ tion des stilistischen Sinns beitragen kann“ (Sandig 2006: 174; Hervorhebungen im Orig.). Die Konstanz des stilistischen Sinns als Folge gleichbleibender und insofern redundanter Stilelemente (wie gleiche oder ähnliche Stilebenen, pro‐ positionale Gehalte und /  oder Teilhandlungen) kann im Anschluss an ethno‐ methodologisch geprägte Konzepte der Interaktionsanalyse als Kontextualisie‐ rungsverfahren bzw. -hinweis interpretiert werden (vgl. dazu etwa Auer 1986 und 1992; Selting 1989): Dem Rezipienten wird zu verstehen gegeben bzw. „mit‐ geteilt: Es ist noch dieselbe Handlung (im Unterschied zu anderen möglichen), noch dasselbe Thema (im Unterschied zu anderen möglichen), noch dieselbe Beziehung zwischen den Interagierenden (in Relation zu anderen …), noch die‐ selbe Situationsinterpretation […]“ (Sandig 1986: 118). Das Einheitlichmachen und die Einheitlichkeit des Stils sind funktional also darauf angelegt, Ände‐ 18 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein rungen in der Handlungsdurchführung (z. B. Themenwechsel, Wechsel der Handlungstypen usw.) durch Stilwechsel zu kontextualisieren: „Eine Konsequenz der Funktion der Einheitlichkeit des Stils ist es, daß bei Übergängen zu anderen Handlungen, auch Teilhandlungen, der Stil gewechselt wird, auch bei Übergängen zu anderen Themen, bei einem Wechsel der Interagierenden, bei einer Änderung der Beziehung, der Situationsdefinition usw. […] So zeigen die Stilwechsel mit ihren Funktionen die Verflechtung von stilistischer Textstruktur einerseits und den Handlungsvoraussetzungen, auf die die Handlungsdurchführung bezogen ist, an‐ dererseits“ (Sandig 1986: 119). Versteht man Einheitlichkeit des Stils als „generelles Postulat“ (ebd.: 122) bei kon‐ stanter Sprachgestaltung, konstanter Handlungsart und konstantem Thema, liegt es nahe, in Stilwechseln aufgrund ihrer Leistung als Kontextualisierungsverfahren Indikatoren für Veränderungen in der Art der Handlungsdurchführung zu sehen und ihnen Stilwirkung(en) zuzusprechen: Sie lassen sich als Instrument dafür deuten, die Textrezeption attraktiv(er) - z. B. abwechslungsreich(er) oder le‐ bendig(er) - zu machen, und können als Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung in‐ terpretiert werden (vgl. ebd.: 122). Denn grundsätzlich lassen sich Wechsel, wie sie beispielsweise durch auffällige Veränderungen in der lexikalischen und /  oder syn‐ taktischen Gestaltung oder in der thematischen Struktur fassbar werden, mithilfe der Figur-(Hinter-)Grund-Relation erfassen: „Bei Stilwechsel wird der bisherige Stil zu Grund, der neue Stil zu Figur […]“ (Sandig 2006: 73; vgl. auch ebd.: 202-205), wodurch er sich vom bisherigen Grund abhebt. Man kann darin durchaus auch eine Ausprägung eines anderen allgemeinen textstilistischen Handlungstyps, nämlich des Abweichens, sehen (vgl. dazu ebd.: 153-157), wodurch der Zusammenhang zwischen Existenz (und Kenntnis) von Gestaltungskonventionen und dem Ver‐ stoßen dagegen deutlicher hervortritt: „[D]ie Mitglieder von Kommunikationsgemeinschaften [bilden] im Laufe ihrer kom‐ munikativen Sozialisation Erwartungen aus über die Erwartbarkeit bestimmter Stile in bestimmten Kommunikationskontexten. Diese fungieren als Normalformerwar‐ tung, von der jedoch zum Zwecke der Nahelegung bestimmten [! ] Bedeutungen und Interpretationen jederzeit abgewichen werden kann“ (Selting 2001: 5). Darauf, dass damit auch Gefahren verbunden sein können, wird üblicherweise meist aus einer eher normativ-ästhetischen Sicht auf Stil und Stilphänomene aufmerksam gemacht; Fleischer u. a. (1993: 66) etwa verweisen im Blick auf Stil‐ wechsel, die sie primär im Zusammenhang mit thematischen Veränderungen sehen, auf „Akzeptanzgrenzen“ und damit auf die Erfahrung, dass auffällige Veränderungen in der Verwendung insbesondere phonetischer, graphemati‐ 19 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 4 Hier kann und muss auf die Vielzahl an Arbeiten zur Fachsprachen- und Fachtextfor‐ schung sowie insbesondere zur Wissenschaftssprache verwiesen werden, insbesondere auf jüngere Studien, die pragmatische Aspekte von Wissenschaftlichkeit und sprach‐ liche bzw. grammatische Merkmale von Wissenschaftssprachlichkeit in einen Zusam‐ menhang bringen und Wissenschaftsgrade nach Gruppen von Teilnehmenden (wie Wissenschaftler ↔ Wissenschaftler, Wissenschaftler ↔ Studierende, Wissen‐ schaftler ↔ Laien) differenzieren (vgl. dazu Czicza /  Hennig 2011; Czicza u. a. 2012). scher, lexikalischer und morphosyntaktischer Elemente (vgl. ebd.: 21) zu stilis‐ tischen Fehlleistungen führen können, die rezipientenabhängig u. U. als Stil‐ brüche oder Stilblüten wahrgenommen werden. 1.3 Stil und Stilwechsel in Wissenschaftstexten Auch wenn natürlich nicht alle Grammatik-Texte ohne Weiteres dem Kommu‐ nikationsbereich und Funktionalstil der Wissenschaft zugerechnet werden können und sich die globale Charakterisierung von Texten als „wissenschaft‐ lich“ als viel zu grob erweist, gehen wir in starker Vereinfachung der im Sprach‐ gebrauch vorhandenen sprachlichen und textsortenbezogenen Differenzierung in der Behandlung wissenschaftlicher Themen von einem durch die „Dominanz der Erkenntnisvermittlung“ (Fix u. a. 2001: 34) geprägten Anspruch in Verbin‐ dung mit adressatengerechter Textgestaltung aus. Das entsprechende Spektrum an Texten bedarf aufgrund seiner Heterogenität einer differenzierten Betrach‐ tung der dominierenden Stilelemente und Stilzüge, die - im Zusammenspiel mit textlinguistischen Analysemodellen - als Textsorten- oder Textmusterstile er‐ fasst werden können. Aus funktionalstilistisch-textsortenlinguistischer Per‐ spektive ist davon auszugehen, dass verschiedene Stilelemente auf bestimmte Weise kombiniert werden und in ihrem Zusammenspiel im Hinblick auf die wesentliche Wirkungsabsicht funktionalisiert sind. 4 Wenn z. B. der Funktional‐ stil der Wissenschaft durch Stilzüge wie „sachlich, folgerichtig, klar /  fasslich, abstrakt, dicht /  gedrängt, genau, unpersönlich“ (ebd.: 35, vgl. auch ebd., 75-78) charakterisiert werden kann, besteht die Aufgabe der Textanalyse darin zu überprüfen, in welchem Maße und mit welchen sprachlichen Mitteln solche Stilzüge jeweils realisiert sind: „Die Bestimmung von Stilelementen und Stil‐ zügen bezieht sich immer auf ein ‚Stilganzes‘. Damit ist die Bedingung und Ein‐ heitlichkeit des stilbildenden Handelns gemeint“ (ebd.: 35). Für die konkrete textstilistische Analyse konkurrieren zwar unterschiedliche Modelle und Konzepte mit teilweise unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche Texteigenschaften und welche Merkmale der Kommunikationssituation für die Analyse berücksichtigt werden sollen (vgl. für einen Überblick ebd.: 52- 56), in der grundlegenden Auffassung herrscht jedoch Einigkeit: 20 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein „Die bei der Analyse eines Textes ermittelten Stilzüge konstituieren den Stil des Textes, also die Art und Weise (das WIE), mit der das Mitzuteilende (das WAS) im Hinblick auf einen Mitteilungszweck (das WOZU) [und, so muss man ergänzen: im Hinblick auf die Adressatengruppe (das FÜR WEN)] - gestaltet wird“ (Fix u. a. 2001: 52; Hervorhebungen im Orig.). Dass die Ausrichtung auf die jeweilige Adressatengruppe - bei mehr oder we‐ niger konstanter Wirkungsabsicht - einen wichtigen Faktor für die gestalteri‐ schen Entscheidungen des /  der Textproduzenten darstellt, liegt auf der Hand (vgl. dazu z. B. Biere 1996; Becker-Mrotzek u. a. 2014) und ist empirisch ohne großen Aufwand zu belegen (vgl. z. B. Eroms’ [2008: 119-121] kurzen Vergleich von Texten, die zum einen für Angehörige der Fachgemeinschaft bzw. Experten, zum anderen für ein breiteres Publikum bzw. Laien konzipiert sind und die je‐ weils typische, aber einheitlich eingesetzte stilistische Mittel aufweisen). Vor diesem Hintergrund sind intendierte Stilwechsel in Wissenschaftstexten, die für einen breiteren und eventuell fachlich (noch) nicht versierten Adressaten‐ kreis konzipiert sind (populäre Fachtexte und Sachprosa), eher bzw. in anderer Weise erwartbar als in Wissenschaftstexten, die sich dezidiert an ein Fachpu‐ blikum richten (Fachtexte). Diesen an sich naheliegenden Zusammenhang bestä‐ tigen die Analyseergebnisse von Petkova-Kessanlis (2017) zur wissenschaftlichen Textsorte „Einführung“ (in ein bestimmtes linguistisches Gebiet): Der Einsatz von Stilwechseln dient der sozialen Differenzierung, da der Textproduzent von Ein‐ führungen nicht in erster Linie als Teil der Wissenschaftlergemeinschaft agiert, sondern darum bemüht ist, eine „Nähe-Beziehung“ (ebd.: 179) zur Adressaten‐ gruppe der Studierenden herzustellen, d. h. den Wissenstransfer den Rezeptions‐ möglichkeiten einer Zielgruppe mit geringerem Wissensstand anzupassen (vgl. ebd.). Man kann darüber streiten, ob solche Stilwechsel wirklich zum Text‐ muster(wissen) linguistischer Einführungen gehören, wenn sie aber auftreten, weichen die Texte spürbar vom üblichen Wissenschaftsstil (mit dort beobacht‐ baren konventionellen Stilwechseln wie z. B. auf bestimmte Art und Weise Zi‐ tieren oder Exemplifizieren) ab; anhand ausgewählter Beispiele stellt Petkova-Kes‐ sanlis (ebd.: 181-186) als einführungs-typische Stilwechsel das Zitieren (auch aus nicht-wissenschaftlichen Texten), das Markieren von Übergängen und von Wech‐ seln zwischen Alltagssprache und Fach- /  Wissenschaftssprache (z. B. bei der Ein‐ führung neuer Termini) als Realisierung des Musters Akademischmachen, das Simplifizieren (Reduktion von Fachsprachlichkeit durch geringere semantische und syntaktische Komplexität), das Dialogisieren, das Wechseln der Interaktions‐ modalität und das Wechseln der Stilebene (insbesondere zugunsten umgangs‐ 21 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 5 Aus Sicht von Überlegungen zur (Verbesserung der) Textverständlichkeit und Textopti‐ mierung für bestimmte Adressatengruppen wie auch aus Sicht der Entwicklung von Schreib- und Textproduktionskompetenz kann dem Dialogisieren ein besonderer Stellen‐ wert zugeschrieben werden, weil es - im Fahrwasser einer langen sprachphilosophischen Tradition - den Wissenstransfer auch bei schriftbasierter Kommunikation in einer für mündliche Kommunikation charakteristischen Weise als Frage-Antwort-Abfolge zu kon‐ zipieren erlaubt und gleichzeitig auf der vorauszusetzenden Fähigkeit zur konzeptuellen Übernahme der Perspektive der Rezipienten /  Adressaten (sich als Textproduzent in die Rolle des Lesers versetzen und Fragen des Lesers antizipieren) beruht. sprachlicher Ausdrücke) heraus. 5 Generell kann man in solchen - meist allerdings nur sporadisch verwendeten und dadurch umso auffälligeren - Stilwechseln aufmerksamkeitssteigernde und durch das Anschaulich- und Lebendigmachen von Inhalten rezeptionsfördernde und verständniserleichternde Strategien sehen und sie als Phänomene des Übergangs von einem fachwissenschaftlichen zu einem fachdidaktischen Stil verstehen. 1.4 Textmuster- und Stilwandel Fasst man wissenschaftliche Darstellungsformen wie Einführung bzw., allge‐ meiner, Monographie als Textsorten auf, lässt sich aus den Anforderungsprofilen mehrdimensionaler bzw. holistischer Modelle für die Untersuchung von Text‐ sorten ableiten, dass auf der Ebene der Formulierung bzw. Formulierungsadäquat‐ heit u. a. auch die stilistischen Handlungsmuster relevant sind, soweit sie für den Handlungstyp charakteristisch sind (vgl. etwa Sandig 2006: 489); sie gehören zum Textmuster(wissen) und zeichnen - bei konventioneller Textgestaltung - die Ex‐ emplare der jeweiligen Textsorte insofern als prototypisch aus, als sich auf der Ebene der Formulierung Musterhaftes zeigt: Dazu zählen neben typischen lexi‐ kalischen Mitteln und syntaktischen Strukturen auch Formulierungsmuster und Gestaltungsweisen, kurz: alle für die Textsorte charakteristischen sprachlichen Mittel und Strukturen, „die zusammen den charakteristischen Stil eines Textmus‐ ters ausmachen“ (ebd.: 499). Die damit bei Sandig (ebd.: 481 u. ö.) als „Textmus‐ terstil“, in sonstiger textlinguistischer Tradition meist als „Textsortenstil“ be‐ zeichnete Ebene meint den „charakteristische[n] Zusammenhang von Handlungsbereich, Sprecher /  Rezipient(-Beziehung), Kanal, evtl. Medium, Hand‐ lungsqualitäten und Sequenzpositionen einerseits mit Formulierungseigen‐ schaften andererseits“ (Sandig 1996: 363). Dieser Zusammenhang stellt des‐ wegen eine wesentliche Facette der Beschreibung von Textsorten dar (vgl. dazu z. B. Krieg-Holz 2017), weil (nur) dabei der Spielraum für die zwischen Typisieren und Unikalisieren changierende Gestaltung einzelner Textexemplare fassbar wird und weil er eine geeignete Angriffsfläche für die Beschreibung und Erklä‐ rung des Wandels (sprich: der Historizität) von Textmustern bzw. Textsorten 22 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 6 Alle Belege werden mit den jeweils im Original enthaltenen Hervorhebungen zitiert - mit Ausnahme der Unterstreichungen, die wir zur Kennzeichnung der für unsere Zwecke wichtigsten Passagen ergänzt haben. (1) (2) (3) (4) (5) (6) bietet. Insofern kann auch im Hinblick auf die Ebene der Formulierungsadä‐ quatheit von „Stilwandel“ gesprochen werden, d. h. von einem „Textmuster‐ wandel mit der je konventionellen Variationsbreite bei der Musterrealisierung“ (Sandig 1996: 370) infolge veränderter soziokultureller Bedingungen. 2 Stilwechsel im synchronen Vergleich von Grammatik- Darstellungen 2.1 Zielgruppenidentische Grammatik-Darstellungen Auffällige Unterschiede in der Art der Handlungsdurchführung lassen sich auf der Grundlage eines exemplarischen Blicks auf Grammatik-Darstellungen, die sich an ein breites und unter Umständen grammatisch nicht oder nur in Teilen versiertes Publikum richten, nicht ohne Weiteres ausmachen, d. h. bei Stilwech‐ selphänomenen scheint es sich eher um eine Randerscheinung zu handeln. An‐ ders ausgedrückt: Grammatik-Texte erscheinen und wirken stilistisch - mehr oder weniger - einheitlich und homogen. Umso mehr allerdings springen (Teile von) Darstellungen ins Auge, in denen Stilwechsel vergleichsweise häufig als Gestaltungsmittel genutzt werden; wir verdeutlichen diese Form stilistischer Heterogenität an ausgewählten Belegen aus Musan (2009), Heringer (2013) und Habermann u. a. (2015), d. h. an drei für den Einsatz in der Hochschullehre kon‐ zipierten und speziell an Studienanfänger gerichteten Grammatik-Einfüh‐ rungen: 6 Wir müssen also höllisch aufpassen. (Musan 2009: 14) Die Grundidee klingt glasklar. (Musan 2009: 15) Eine rein flexivische Basierung müsste vieles in einen Topf werfen, […]. […] Man muss nicht gerade böswillig sein, […]. (Heringer 2013: 15) Häufiger als Modalverben […] ist in Lehrplänen Modalität auf dem Tapet. (Heringer 2013: 47) Aber über die Frage, ob es die Nutella oder das Nutella heißt, sollen schon ganze Beziehungen zu Bruch gegangen sein. (Musan 2009: 15) Die Bausteine zwischen Wort und Satz, zwischen Himmel und Erde so‐ zusagen, heißen Satzglieder. (Habermann u. a. 2015: 53) 23 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung (7) (8) (9) (10) Das wäre so, als würde man jemandem, der zu einer Party Chili con carne mitbringt, nach dem ersten Löffel sagen, das sei aber eine grotten‐ schlechte Pizza. (Musan 2009: 37) Wenn Sie meinen, dies sei immer der Fall, dann irren Sie sich. (Ha‐ bermann u. a. 2015: 112) Es ist sehr wichtig, dass Sie sich spätestens an dieser Stelle noch einmal klar machen, […]. (Musan 2009: 24) Angesichts der Daten oben haben Sie sich sicher schon gefragt, […]. (Musan 2009: 29) In diesen und ähnlichen Fällen liegen unterschiedliche Arten von Stilwechseln vor: Wechsel der Stilebene durch Verwendung umgangsbzw. alltagssprachli‐ cher Ausdrücke und Wendungen (Beispiele 1-4), Illustration an alltagsnahen Vergleichen (Beispiele 5-7) und direkte Rezipientenansprache (Beispiele 8-10). Man kann solchen Darstellungsweisen, zumal sie sich bei der Lektüre längerer Textpassagen in der Regel spürbar vom jeweiligen Kotext und vom konventio‐ nellen Grammatikwissenschaftsstil abheben und dadurch auffallen, zweifellos vergleichbare Stilwirkungen und Funktionen zuschreiben, wie sie von Petkova- Kessanlis (2017) an Beispielen auch aus anderen linguistischen Einführungen diagnostiziert worden sind: das Bemühen darum, die Texte für die Zielgruppe attraktiver zu machen, anschaulich und verständlich zu sein (und zu bleiben), die Informationsmenge den Wissensbeständen und -voraussetzungen der Leser anzupassen und so eventuell auch auf eine Reduzierung kommunikativer Dis‐ tanz hinzuwirken, kurz: die Aufmerksamkeit zu steigern und die Rezeptionsbe‐ reitschaft zu fördern. So sehr es - im Sinne der knappen Vorbemerkungen - einleuchtet, dass Gram‐ matik-Texte in besonderem Maße auf attraktivitätsförderndes Gestalten angelegt sein müssten, und so sehr sich dieser Eindruck auch im Blick auf die Häufigkeit und Intensität, mit der Stilwechsel in den drei genannten Darstellungen auszumachen sind, unweigerlich aufdrängt, so sehr bedarf es doch detaillierter Untersuchungen auf breiterer Materialbasis, um auszuschließen, dass es sich um individualstilisti‐ sche Gestaltungsweisen und -vorlieben handelt, und um dem Eindruck entgegen‐ zuwirken, dass an einzelnen Darstellungen beobachtbare Phänomene charakteris‐ tisch für Darstellungen im gesamten Sachverhaltsbereich „Grundwissen über deutsche Grammatik“ sein könnten (vgl. dazu Abschnitt 2.2). Vergleicht man etwa die Grammatikdarstellungen von Heringer (1989a, 1989b und 2013), fällt oft auf, dass als autortypische Gestaltungsstrategien die direkte Adressatenansprache und /  oder ein Wechsel des Sprachhandlungstyps erfolgt, wenn aus darstellenden und erklärenden Ausführungen Ratschläge abgeleitet werden, wenn auf ‚Fallen‘ und 24 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein (11) (12) (13) (14) (15) Probleme bei der grammatischen Analyse aufmerksam gemacht und wenn ein Per‐ spektivwechsel von der Vermittlung des Wissens an angehende Deutschlehrkräfte hin zur Weitergabe des Wissens an (z. B. schulische) Lernende vorgenommen wird: Ratschläge für Lerner: Das finite Verb ist ein erster Zugang zum Satz. […] Darum: Bestimme das finite Verb! […]. (Heringer 1989a: 70) Relativsätze kannst du anhängen und ausklammern. Aber aufgepaßt: Der Bezug muß deutlich bleiben. (Heringer 1989b: 333) In der jüngsten Darstellung wird dabei außerdem das Dialogisieren als stilisti‐ sches Handlungsmuster genutzt: Dass ein Numerale sogar aus zwei Wörtern bestehen kann, ist doch miss‐ lich. Oder? Und wieso sind kein und niemand indefinit? (Heringer 2013: 16) Allerdings bringt auch das gewisse Probleme. Haben sie ein festes Genus? Welches denn? (Heringer 2013: 17) Auch ohne unbedingt immer gleich Antworten zu liefern, nimmt Heringer auf diese Weise die Leserperspektive ein und legt dem Leser gleichsam Fragen in den Mund, die sich bei der Lektüre und der Reflexion wie auch der Anwendung erläuterter Sachverhalte stellen können. Dem Leser mag auf diese Weise das Gefühl vermittelt werden, als Adressat ernst genommen und mit potenziellen Schwierigkeiten nicht allein gelassen zu werden. Sandig schreibt dem Dialogi‐ sieren in monologischen Handlungen ein noch weiterreichendes Funktionspo‐ tenzial zu: „authentisch MACHEN, EMOTIONALISIEREN, Reflexion AN‐ ZEIGEN, lebendig MACHEN, GESTALTEN einer Nähebeziehung“ (2006: 215; Hervorhebungen im Orig.). Ins Auge springt auch das gelegentliche Wechseln der Interaktionsmodalität: Es taucht [in Lehrplänen] Modalität als pures Stichwort auf, wohl in dem Glauben, damit sei alles gesagt. […] Das trifft sich mit einem Kuriosum des Schülerduden 2010, wo übers Register auf […] verwiesen wird und deren Überschrift auch tatsächlich verspricht, es gehe um Modalsätze und Modalität. Tatsächlich kommt Modalität in dem ganzen Abschnitt nicht vor. Netterweise folgt aber eine Übung, in der Sätze unterstrichen werden sollen, die Modalität ausdrücken. (Heringer 2013: 47) Es kann jedoch auch vermutet werden, dass Heringer gelegentlich der Versu‐ chung nicht widerstehen kann, den neutralen Duktus kurzzeitig aufzugeben, wenn er nämlich, wie in Beispiel (15), Schwachpunkte in anderen Grammatik- Texten nicht nur erwähnt, sondern ironisierend moniert. 25 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 2.2 Zielgruppendifferente Grammatik-Darstellungen Vergleicht man die für Studierende und Lehrende gedachten einführenden Grammatik-Darstellungen mit solchen, die sich jeweils an ein mehr oder we‐ niger bestimmtes, zum Teil auch wesentlich breiteres Publikum wenden, stehen die Autoren u. a. vor dem Problem, eine heterogen zusammengesetzte Ziel‐ gruppe erreichen zu wollen, deren Wissensstand kaum adäquat eingeschätzt werden kann und sich, so darf man vermuten, nicht unerheblich unterscheiden wird. Eine gute entsprechende Vergleichsgrundlage bietet eine Reihe von im Duden-Verlag erschienenen Grammatik-Texten, die sich wie die unter 2.1 her‐ angezogenen Darstellungen an die Zielgruppe der Germanistik- /  Deutschstu‐ dierenden richten (Habermann u. a. 2015), die im Unterschied dazu jedoch auch gezielt für Schüler(innen) gedacht sind (Dudenredaktion 2017) oder ein di‐ sperses Publikum adressieren, sprich: die Masse an Sprachverwendern, die sich entweder für Grammatik interessieren oder aber sich mit ihr beschäftigen müssen (Steinhauer 2015 und Hoberg /  Hoberg 2016). Grammatik-Texte für diese zumindest partiell unterschiedlichen Adressaten‐ gruppen unterscheiden sich nicht nur in der Breite und Tiefe der behandelten grammatischen Gegenstände - was zu vertiefen durchaus lohnenswert wäre, hier aber ausgeblendet werden muss -, sondern sie zeigen untereinander, vor allem aber im Vergleich mit Grammatik-Darstellungen, die dezidiert einen wis‐ senschaftlichen Anspruch erheben wie die ‚eigentliche‘ Duden-Grammatik (vgl. dazu Abschnitt 3), Unterschiede im Gestalten. Gemeinsam ist den genannten Darstellungen zunächst, dass sie auf die mit dem Zitieren verbundene Art von Stilwechsel gänzlich verzichten, jedenfalls soweit es um Zitate aus (anderen) wissenschaftlichen Arbeiten geht; zitiert wird dagegen aus literarischen Texten und aus Gebrauchstexten wie Pressetexten, Studienordnungen usw., was eben‐ falls dazu dient, Sachverhalte anschaulich zu machen, Interesse zu wecken und geeignete Anknüpfungsmöglichkeiten für die Adressatengruppe zu bieten. Mehr noch aber lassen sich andere Erscheinungsformen von Stilwechseln als Indikatoren dafür deuten, dass die Autoren nicht als Angehörige der Wissen‐ schaftlergemeinschaft, soweit sie sich mit grammatischen Themen beschäftigt, agieren. Vielmehr betätigen sie sich als Mittler zwischen dieser Wissenschaft‐ lergemeinschaft und spezifischen Nutzergruppen, auch wenn diese teilweise (wie Studierende) an Wissenschaftskommunikation teilhaben, überwiegend aber das Ziel verfolgen, sich auf die Vermittlung grammatischen Wissens in Bildungsinstitutionen oder seine Anwendung im Berufsleben, in der Alltags‐ kommunikation usw. vorzubereiten. Zuweilen werden daher direkte Hand‐ lungsanweisungen gegeben, die für den (Berufs-)Alltag der Rezipienten gedacht sind: 26 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein (16) (17) (18) (19) (20) In Vorträgen, Protokollen oder Arbeitsberichten sollten Sie einen zu starken Nominalstil vermeiden, weil dies die Lesbarkeit und Verständ‐ lichkeit beeinträchtigt. (Steinhauer 2015: 35) Dass auf diese Weise mehr oder weniger stark ausgeprägte Gestaltungsweisen des Didaktisierens fachwissenschaftlicher Gegenstände entstehen, ist bekannt und liegt auf der Hand; bereits die hier zugrunde gelegte schmale Vergleichs‐ grundlage lässt erkennen, dass es naheliegend ist, nicht nur von einem „Über‐ gang […] vom theoretisch wissenschaftlichen zum didaktischen Fachstil“ (Pet‐ kova-Kessanlis 2017: 186) zu sprechen, sondern im Bereich didaktischen Fachstils von einem Kontinuum auszugehen und zielgruppenorientiert ver‐ schiedene Grade der Didaktisierung anzusetzen. Sie schlagen sich nicht nur in didaktisch motivierter Reduktion von Komplexität der Substanz nieder, sondern manifestieren sich auch in der quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Nut‐ zung von Stilwechseln und verdeutlichen, wie der Gegenstand „Grammatik“ den Rezeptionsbedürfnissen und -fähigkeiten von Zielgruppen mit heterogenen Wissensvoraussetzungen angepasst werden kann; dazu trägt zunächst das be‐ reits erwähnte Dialogisieren und der damit bezweckte Abbau sozialer Distanz bei: Vielleicht haben Sie unter den Interrogativsätzen auch Sätze wie Sie reist heute ab? vermisst? (Habermann u. a. 2015: 105) Wir wollen in diesem Kapitel zeigen, dass dies eine sehr betrübliche Fehl‐ einschätzung ist, und bitten Sie, uns durch die folgenden Überlegungen zu begleiten. (Habermann u. a. 2015: 143) Wie gesprochene Sprache mehr ist als ein Strom von Lauten, so ist ge‐ schriebene Sprache mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Was gibt es noch für Elemente in der Schrift? Auf die folgenden Elemente soll hier kurz eingegangen werden: […]. (Dudenredaktion 2017: 26) Ähnliches bewirkt das Bemühen, vom ‚harten‘ Wissenschaftsstil dadurch ab‐ zuweichen, dass als Handlungen Wissen-Zuschreiben und Loben vollzogen werden. Mit diesen Handlungen bemühen sich die Textproduzenten ebenfalls um eine persönlichere Kommunikationsebene und um Distanzabbau, da zu‐ mindest kurzzeitig die Asymmetrie, die durch die unterschiedlichen Wissens‐ bestände gegeben ist, verringert erscheint: Sie wissen zum Beispiel, dass Nebensätze von Hauptsätzen abhängig sind und nicht umgekehrt. Ein solches Wissen ist wichtig! (Habermann u. a. 2015: 112) 27 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung (21) (22) (23) (24) (25) (26) Dieser Test umfasst alle Bereiche der Grammatik, die in diesem Übungs‐ buch behandelt wurden, sodass Sie nun Ihr Wissen zu allen Themen komprimiert überprüfen können. (Steinhauer 2015: 105) Der bereits genannte Verzicht auf Zitate aus wissenschaftlichen Arbeiten zieht Formulierungsweisen nach sich mit Verbalausdrücken wie nennt man, heißen, werden bezeichnet usw.: Wörter haben nicht nur eine „objektive“ Bedeutung (Wörterbuchbedeu‐ tung), sondern gleichsam auch einen „Beigeschmack“. In der Sprachwis‐ senschaft spricht man hier von Konnotationen. (Dudenredaktion 2017: 458) Ein Wort ist also eine Einheit aus Ausdruck und Inhalt, eine Verbindung von Lauten bzw. Buchstaben und einer Bedeutung (die Lehre von den Bedeutungen heißt Semantik). (Hoberg /  Hoberg 2016: 69) Vordergründig entsprechen sie dem sachlichen und unpersönlichen Duktus von Wissenschaftstexten, in Textsorten des didaktischen Fachstils dienen sie aber in erster Linie dazu, sich auf eine nicht genannte fachwissenschaftliche Autorität und Tradition zu berufen (in der Sprachwissenschaft) und in Fragen der ge‐ wählten grammatischen Terminologie eine wie auch immer geartete Verbrei‐ tung und Akzeptanz zu suggerieren. Gleichzeitig drücken sie im Blick auf die favorisierte Weise des Gestaltens aus, dass entsprechende Belege und Nachweise für die Sachverhaltsdarstellung als verzichtbar anzusehen sind und womöglich von den Rezipienten aufgrund des nicht erkennbaren Nutzens als ‚Störung‘ empfunden werden könnten. Das Akademischmachen (z. B. durch Verweis auf Grammatik-Darstellungen bestimmter Autoren) ist daher allenfalls indirekt zu beobachten. Auch hier wird praktisch niemals - außer von Linguisten - hinterfragt, ob es die Einheit Satz überhaupt gibt. (Habermann u. a. 2015: 51) Allgemeinsprachlich versteht man unter einem Satz eine eigenständige, in sich geschlossene Redeeinheit […]. In der grammatischen Fachsprache wird hier differenziert. (Hoberg /  Hoberg 2016: 338) In vielen Grammatiken wird nicht zwischen Präpositionalobjekt und prä‐ dikativer Präpositionalgruppe unterschieden; beide werden dann als Prä‐ positionalobjekt bezeichnet. (Dudenredaktion 2017: 378) Das Stilganze, das sich in der Art der Handlungsdurchführung ergibt, zeichnet sich also gerade durch einen gering(er)en Fachsprachlichkeitsgrad aus. Auf Stil‐ wechsel in Form des Rückgriffs auf Ausdrücke der unterneutralen Stilebene 28 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein (27) (28) (29) (Umgangs-, Alltagssprache) wird weitgehend verzichtet, stilistisch markiert ist allerdings der kurzfristige Wechsel von der neutralen und um Objektivität be‐ mühten Sachverhaltsdarstellung zu einer Bewertung. Zu beobachten ist das, wenn bestimmte grammatische Phänomene verbal, zum Teil auch durch gra‐ phische Mittel wie Smileys als (in)adäquat gekennzeichnet werden: Der Teilsatz 4-1 wird in der Alltagssprache allenfalls von Mitarbeitern in Behörden gebraucht. Wir können ihn „in normales Deutsch“ übersetzen: […] Sie sehen also, wie einfach man es sich machen kann! (Habermann u. a. 2015: 189) Nicht zu viel Passiv verwenden! Sätze im Passiv sind typisch für einen bürokratischen Stil und wirken meist nicht sehr ansprechend. Versuchen Sie, sie zu vermeiden: […]. (Steinhauer 2015: 24) Es ist unnötig und stilistisch unschön, derselbe anstelle eines Personal- oder Possessivpronomens zu gebrauchen: ☹ ☺ Als er das Auto gewaschen hatte, fuhr er dasselbe in die Garage. …, fuhr er es in die Garage. (Hoberg /  Hoberg 2016: 248 f.) Auffällig ist dabei, dass Geschmacksurteile weder durch Argumente gestützt noch durch den Verweis auf Normautoritäten und normsetzende Instanzen be‐ gründet werden. Ein weiteres Kennzeichen zunehmender Didaktisierung von Fachstilen ist ein Frequenzanstieg in der Nutzung des Handlungsmusters Simplifizieren. Auch dabei könnte man geneigt sein, Vereinfachungsstrategien hauptsächlich auf die Qualität der vermittelten grammatischen Substanz zu beziehen, gemeint ist aber das Bemühen um eine der Rezipientengruppe entsprechende Formulierungs‐ weise (z. B. im Sinne grammatischer und semantischer Komplexität) mit ange‐ messenem Grad an Fachsprachlichkeit. Die folgenden Beispiele zur grammati‐ schen Kategorie „Modus“ (Indikativ) zeigen, dass im Vergleich der zugrunde gelegten Grammatik-Texte erkennbar Komplexitätsreduktion erfolgt: Die an Erwachsene adressierte kleine Duden-Grammatik (vgl. Hoberg /  Hoberg 2016: 6 [Vorwort]) weist, wie zu erwarten, komplexere grammatische Strukturen auf als beispielsweise der Schülerduden. Dort finden sich wesentlich mehr Beispiel‐ sätze zur Illustration, die dazu dienen sollen, die Verstehbarkeit der abstrakten 29 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung (30) (31) (32) (33) Ausführungen zu gewährleisten, für die Erwachsenen-Zielgruppe dagegen wird der Bedarf an Beispielsätzen geringer eingeschätzt, wie die folgenden längeren Belege verdeutlichen: Der Indikativ (die Wirklichkeitsform) ist der neutrale Modus, die Nor‐ malform sprachlicher Äußerungen, von der sich die spezifischen Modi Konjunktiv und Imperativ abheben. Der Indikativ stellt einen Sachverhalt als gegeben dar. Das muss nicht bedeuten, dass es sich um ein reales, tatsächliches Geschehen handelt. Auch „unwirkliche“ Begebenheiten (etwa in Träumen oder Märchen) werden im Indikativ formuliert, wenn sie für den Sprecher Geltung haben, z. B.: Ich stürzte in ein tiefes schwarzes Loch (- und wachte auf). (Hoberg /  Ho‐ berg 2016: 128) Der Indikativ ist der neutrale Modus des Verbs. Von ihm heben sich die anderen Modi ab. Man gebraucht ihn vor allem, um etwas ohne irgend‐ welche zusätzliche Schattierungen darzustellen: Stockholm ist die Hauptstadt von Schweden. Gestern hat es den ganzen Tag geregnet. He, du stehst auf meinem Fuß! Der Indikativ kann nicht nur in Aussagen, die sich auf Wirkliches be‐ ziehen, gebraucht werden. Man kann mit ihm auch Pläne oder Fantasie‐ vorstellungen möglichst neutral darstellen: [zwei Beispielsätze zur Illus‐ tration] Der Indikativ kann aber auch zum Ausdruck von (eher unfreundlich ge‐ meinten) Aufforderungen verwendet werden […]. (Dudenredaktion 2017: 78) Indikativ (du kommst) ist der neutrale Modus des Verbs, der am häu‐ figsten anzutreffen ist. (Habermann u. a. 2015: 16) Der Indikativ ist die Normalform sprachlicher Äußerungen. Er drückt aus, dass ein Sachverhalt gegeben ist. Ein Tag hat 24 Stunden. Rom ist die Hauptstadt Italiens. (Steinhauer 2015: 7) Wie erkennbar, ist neben geringerer grammatischer und semantischer Komple‐ xität mit geringerem Grad an Fachsprachlichkeit das Exemplifizieren eine we‐ sentliche Realisierungsmöglichkeit für das Simplifizieren: die Illustration und das Erläutern von Sachverhalten an nachvollziehbaren Beispielen, die für den 30 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 7 Lohnenswert wäre ein Auflagenvergleich auch unter dem Gesichtspunkt, wie sich die Auflagen konzeptionell, d. h. im Zuschnitt und der Ordnung der grammatischen Inhalte wie auch in der Differenzierung und Verfeinerung der Beschreibung durch Berücksich‐ tigung von Forschungsergebnissen etwa aus den Bereichen Gesprochene-Sprache-For‐ (34) (35) (a) (b) Nutzer Erkenntnisgewinn und Souveränitätszuwachs ermöglichen und ihm die Übertragung auf andere sprachliche Äußerungen erleichtern sollen. Dabei fällt auf, dass sich die Textproduzenten auch bei der Auswahl und Gestaltung der Beispiele in Teilen an der Lebenswelt und am Alter der Rezipienten orientieren: So beziehen sich etwa die Beispielsätze für den Crashkurs Grammatik (Stein‐ hauer 2015) häufig auf die Bereiche „Beruf “ und gelegentlich „Freizeit“: Substantivierte Verben sind als Sub‐ stantiv gebrauchte Verben. Auch zu‐ sammengesetzte Verben können sub‐ stantiviert werden. Das tägliche Arbeiten nervt mich sehr. Ich genieße das Zugfahren sehr. Das Sichgehenlassen im Urlaub ist nicht mein Ding. (Steinhauer 2015: 28) In ähnlicher Art der Rezipientenorientierung finden sich im Schülerduden oft Beispiele aus der Lebenswelt von Schülern - Es gibt auch zusammengezogene Teilsätze. Im folgenden Beispiel ist der Hauptsatz (a) zusammengezogen: Thomas rudert im Klub und hat trotzdem Zeugnisnoten, die weit über dem Durchschnitt liegen. (Dudenredaktion 2017: 320) - und es ist sicher kein Zufall, dass die Autoren bzw. der Verlag im Interesse des Attraktivmachens auch auf Beispiele aus „moderner Lyrik und Rap“ (Vermerk auf der ersten Umschlagseite) zurückgreifen. 3 Stilwandel im diachronen Vergleich zielgruppengleicher Grammatik-Darstellungen Im Folgenden wird ein kursorischer Blick auf Stilwandelphänomene in der Grammatikschreibung bzw. Grammatikographie geworfen. Die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, die als Duden-Grammatik erstmals 1959 er‐ schienen ist und mittlerweile in 9. Auflage vorliegt, bietet dafür u. E. einen ge‐ eigneten Anknüpfungspunkt. 7 Vergleicht man die bisher vorliegenden neun 31 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung schung, Text(sorten)linguistik, pragmatische Syntax u. a. verändert haben. Mit anderen Worten: Der Vergleich der verschiedenen Auflagen über einen Zeitraum von sechs De‐ kaden kann als ‚Spiegel‘ der modernen Grammatikschreibung verstanden werden. Auflagen, springen zunächst Veränderungen ins Auge, die den Umfang und das Layout betreffen: So hat sich der Umfang der Duden-Grammatik von ursprüng‐ lich knapp 700 Seiten auf aktuell 1.340 Seiten fast verdoppelt. In der Auflagen‐ historie fällt außerdem insbesondere das Bemühen um Verbesserung der Über‐ sichtlichkeit auf; dazu gehört, dass Gliederungs- und Aufzählungsverfahren leserfreundlicher gestaltet werden, dass - erkennbar schon seit der 3. (1973), verstärkt aber seit der 4. Auflage (1984) - Inhalte zunehmend mit Tabellen auf‐ bereitet und dass typographische Hervorhebungen eingesetzt werden, dass ferner mit der 7. Auflage (2005) zweifarbiger Druck eingeführt worden ist und dass seit der 8. Auflage (2009) an zentraler Stelle, den Umschlaginnenseiten, Benutzungshinweise aufgenommen worden sind. Und auch die Modernisierung der Schriftart ist im Zusammenhang mit Gestaltungsstrategien zu sehen, die die Übersichtlichkeit und die schnelle Orientierung fördern und in Typographie und Layout einen rezipientenfreundlichen Eindruck hervorrufen sollen. Dass erstmals mit der 4. Auflage ein Literaturverzeichnis Teil der Duden- Grammatik ist, kann als (vordergründiges) Zeichen des Anspruchs auf Wissen‐ schaftlichkeit als Stilmerkmal interpretiert werden. Dieser Anspruch wird da‐ durch etwas relativiert, dass die angegebene Sekundärliteratur seit der 6. Auflage (1998) als „Auswahl“ bezeichnet wird, wenn auch - als Folge vermutlich auch der ‚Flut‘ an Forschungsliteratur zur deutschen Grammatik - die Zahl auf‐ geführter Referenzwerke stark angewachsen ist (von z. B. 157 Titeln in der 4. Auflage von 1984 und 159 Titeln in der 5. Auflage von 1995 auf 431 Titel in der 9. Auflage von 2016). Mag ein (anwachsendes) Literaturverzeichnis möglicher‐ weise Wissenschaftlichkeit suggerieren, so verdeckt das allerdings etwas den Umstand, dass das für eine wissenschaftliche Arbeitsweise charakteristische und für das damit verbundene Erfüllen von Lesererwartungen vermutlich be‐ deutsamere Einarbeiten von und das Verweisen auf einschlägige Forschungsli‐ teratur im Laufe der Zeit erkennbar reduziert worden ist. Auch darin allerdings kann man eine weitere Konsequenz aus dem Bemühen um rezipientenfreund‐ liche Gestaltung für einen sehr breiten und nicht notwendigerweise mit Kon‐ ventionen der Gestaltung von Wissenschaftstexten vertrauten Adressatenkreis erkennen. Zu diesen ersten recht augenfälligen Befunden - Stärkung von Übersicht‐ lichkeit als Stilmerkmal und quantitativ zwar zunehmendes (Literaturmenge), qualitativ aber abnehmendes (Zitate, Verweise usw.) Wissenschaftlichmachen in der textlichen Darstellung - kommt die mit dem Anspruch und zugleich Aus‐ 32 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 8 Für nicht explizit aufgelistete Kapitel der ersten drei Auflagen zeichnen der Bearbeiter Paul Grebe und die Dudenredaktion verantwortlich. weis von Expertenschaft verbundene Angabe der jeweiligen Autorenteams, die in den Anfängen hinter der Angabe des leitenden Bearbeiters, später dann des verantwortlichen Dudenredakteurs bzw. der Dudenredaktion als Herausgeberin sichtbar werden: 8 Auflage Bearbeiter / Herausgeber Autorinnen und Autoren Zuständigkeit 1 (1959) 2 (1966) Paul Grebe Max Mangold Der Laut Dieter Berger Das Wort: Die Wortbildung Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes Rudolf Köster Das Wort: Wortarten Paul Grebe Der Satz Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes 3 (1973) Paul Grebe Max Mangold Der Laut Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes Wolfgang Mentrup Das Wort: Die Wortarten (in Teilen) Paul Grebe Der Satz Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes 4 (1984) Günther Drosdowski Max Mangold Der Laut Gerhard Augst Der Buchstabe Hermann Gelhaus Die Wortarten Hans Wellmann Die Wortbildung 33 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung Helmut Gipper Der Inhalt des Wortes und die Gliederung der Sprache Horst Sitta Der Satz Christian Winkler Die Klanggestalt des Satzes 5 (1995) 6 (1998) Günther Dros‐ dowski bzw. Dudenredak‐ tion Peter Eisenberg Der Laut und die Laut‐ struktur des Wortes, Der Buchstabe und die Schrift‐ struktur des Wortes Hermann Gelhaus Die Wortarten Hans Wellmann Die Wortbildung Helmut Henne Wort und Wortschatz Horst Sitta Der Satz 7 (2005) 8 (2009) 9 (2016) Dudenredaktion bzw. Angelika Wöll‐ stein / Dudenre‐ daktion Peter Eisenberg Phonem und Graphem Jörg Peters Intonation Peter Gallmann Was ist ein Wort? , Gramma‐ tische Proben, Die flektier‐ baren Wortarten (außer: Das Verb), Der Satz Cathrine Fabricius- Hansen Das Verb Damaris Nübling Die nicht flektierbaren Wort‐ arten Irmhild Barz Die Wortbildung Thomas A. Fritz Der Text Reinhard Fiehler Gesprochene Sprache 34 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein Die Übersicht macht die jeweilige (unterschiedlich umfangreiche) Zusam‐ mensetzung der Autorenteams und die Verteilung der Zuständigkeiten deutlich, außerdem ist erkennbar, wie sich die Struktur der Grammatik und der Zuschnitt einzelner Teile im Laufe der Zeit gewandelt hat. Abgesehen von in der Natur der Sache liegenden Veränderungen in der Zusammensetzung und Verantwort‐ lichkeit (stellvertretend sei auf die konzeptionellen und darstellerischen Verän‐ derungen des Wortbildungs-Kapitels im Übergang der Zuständigkeit von Hans Wellmann [4.-6. Auflage] zu Irmhild Barz [seit der 7. Auflage] verwiesen) ist hier vor allem das Bemühen um Kontinuität, aber auch die Erweiterung der Autorenteams bemerkenswert, da durch die damit verbundene Arbeitsteilung der Anspruch auf Expertenschaft zusätzlich bekräftigt wird. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist nun weitergehend nach Ver‐ änderungen des anvisierten Adressatenkreises und nach den Zielsetzungen der Duden-Grammatik zu fragen. Dabei darf man davon ausgehen, dass eine im Selbstverständnis und mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Darstellung konzipierte Grammatik in stilistischer Einheitlichkeit durch die für Wissen‐ schaftstexte üblichen und erwartbaren Gestaltungsmerkmale geprägt ist und nicht auf attraktivitätssteigernde und die Rezeptionsbereitschaft fördernde Stra‐ tegien angewiesen sein müsste. Dennoch nach Stilwechseln und nach Verän‐ derungen bei ihrer Verwendung im Laufe der 60-jährigen Bestehenszeit zu fragen, gründet sich darauf, dass die Duden-Grammatik bereits seit der 3. Auf‐ lage (1973) mit dem Anspruch auftritt, „[u]nentbehrlich für richtiges Deutsch“ zu sein. Ohnehin ist ein Vergleich der Buchtitel und Titelseiten sehr aufschluss‐ reich: Auflage Titel Untertitel bzw. Werbezusatz Zusatztext (vordere Um‐ schlagseite) 1 (1959) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache - braucht jeder, um Wortformen und Satzbau zu beherrschen Die Hauptkapitel des Buches: Der Laut, die Wortarten, die Wortbildung, der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes, der Satz. Zahl‐ reiche praktische Beispiele und ein Sach- und Wortregister mit ca. 10000 Stichwörtern. 35 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 2 (1966) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache - Die Hauptkapitel des Buches: Der Laut, die Wortarten, die Wortbildung, der Inhalt des Wortes und die Gliederung des Wortschatzes, der Satz. Zahl‐ reiche praktische Beispiele und ein Sach- und Wortregister mit ca. 10000 Stichwörtern. 3 (1973) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache Unentbehrlich für richtiges Deutsch (vordere Umschlagseite) Ausführliche Darstellung des Aufbaus unserer Sprache • Vom Laut über das Wort zum Satz • Zahlreiche Beispiele für Wort‐ bildung, Konjugation, Deklina‐ tion und alle anderen Bereiche der Sprache 4 (1984) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort zum Satz. Mit zahlreichen Bei‐ spielen, übersichtlichen Ta‐ bellen und Registern. 5 (1995) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort zum Satz. Mit zahlreichen Bei‐ spielen, übersichtlichen Ta‐ bellen und ausführlichem Re‐ gister. 6 (1998) Duden - Gram‐ matik der deutschen Gegenwartssprache Das unentbehr‐ liche Standard‐ werk für rich‐ tiges Deutsch (vordere Um‐ schlagseite) Der Aufbau der deutschen Sprache in umfassender Dar‐ stellung mit zahlreichen Bei‐ spielen, anschaulichen Tabellen und einem ausführlichen Re‐ gister 36 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 7 (2005) Duden - Die Gram‐ matik Unentbehrlich für richtiges Deutsch (vordere Umschlag- und innere Titelseite) Umfassende Darstellung des Aufbaus der deutschen Sprache vom Laut über das Wort und den Satz bis hin zum Text und zu den Merkmalen der gespro‐ chenen Sprache Mit zahlreichen Beispielen, übersichtlichen Tabellen und Grafiken sowie ausführlichem Register 8 (2009) Duden - Die Gram‐ matik 9 (2016) Duden - Die Gram‐ matik Der Aufbau der deutschen Sprache vom Laut über das Wort und den Satz bis hin zum Text und zu den Merkmalen der gesprochenen Sprache Besonders fällt auf, dass die Duden-Grammatik mit Erscheinen der 7. Auflage auf die spezifizierende und womöglich als einschränkend rezipierbare Angabe des Gel‐ tungsbereichs („Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“) verzichtet und mit dem Titel „Die Grammatik“ einen allgemeineren und umfassenderen Geltungsan‐ spruch erhebt, der sich zudem in zwei grundverschiedenen Weisen auffassen lässt: Auf der einen Seite spiegelt sich darin, wie es auch in der Veränderung der Zusatz‐ texte zum Ausdruck kommt, die - in Anpassung an und Reaktion auf die jewei‐ ligen wissenschaftsgeschichtlichen Neuerungen vollzogene - Ausweitung der Be‐ schreibungsgegenstände nicht nur um ein Text-Kapitel (seit der 5. Auflage), sondern vor allem um ein Kapitel zur „Gesprochene[n] Sprache“ (seit der 7. Auflage) in Ver‐ bindung mit einem zunehmenden Verzicht auf literarische Belege zugunsten von authentischen Beispielen aus geschriebenen Gebrauchstexten, vor allem aber auch aus dem Bereich der Mündlichkeit. Betont wird so die Legitimation des An‐ spruchs, eine grammatische Darstellung der geschriebenen wie auch der gespro‐ chenen (Standard-)Sprache zu liefern und alle relevanten Beschreibungsebenen zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite kann man die Titelverkürzung und die Verallgemeine‐ rung des Gegenstands auch als eine den Untertitel bzw. den Werbezusatz „Un‐ entbehrlich für richtiges Deutsch“ verstärkende Nutz- und Zuständigkeitsbe‐ hauptung deuten, wie sie etwa auf der hinteren Umschlagseite der 9. Auflage explizit angegeben ist, wenn die typischen Groß-Verwendungsbereiche („Das 37 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 9 Dieser Anspruch erscheint allerdings beispielsweise vor dem Hintergrund der allseits beklagten und nach unserer Einschätzung aus vielen Lehrveranstaltungen zur deut‐ schen Grammatik auch zutreffenden defizitären und oftmals desaströsen Wissensbe‐ stände großer Mehrheiten unter den Germanistikstudierenden in diesem Bereich (auch und vor allem bei der traditionellen Grammatik) alles andere als realitätsnah. bekannte Standardwerk für Schule, Universität und Beruf “) genannt werden. Dass solche recht markigen Ansprüche dem Bemühen um Absatzförderung ge‐ schuldet sind, liegt zwar auf der Hand, sie verdeutlichen aber, dass die Gram‐ matik nicht allein ein fachwissenschaftliches, sondern ein wesentlich weiter gefasstes Publikum von Sprachinteressierten ansprechen und erreichen möchte: So „[…] wird der heutige Stand des Wissens über Formen und Funktionen der deutschen Standardsprache in einheitlicher und verständlicher Terminologie gebündelt und be‐ schrieben. Damit ist diese Grammatik zum einen für den Einsatz an Schulen und Universitäten bestimmt, zum anderen richtet sie sich als praktischer Helfer an Nutzer, die sich in ihrem Berufsalltag viel mit der deutschen Sprache beschäftigen oder ein persönliches Interesse an sprachlichen Fragen haben. Ein besonderes Anliegen der Herausgeberin sowie der Autorinnen und Autoren ist es auch, auf die speziellen Bedürfnisse von Lehrenden und Lernenden des Deutschen als Fremdsprache einzugehen, sodass sich die Grammatik gewinnbringend im Unterricht und im Selbststudium einsetzen lässt.“ (Wöllstein /  Dudenredaktion 2016: 5 [Vorwort zur 9. Auflage]) 9 Dass sich die Duden-Grammatik gleichsam als Allzweck-Handbuch und Nach‐ schlagewerk versteht, lässt sich auf jeden Fall ab der 4. Auflage von 1984 zwar nicht in ausdrucksgleichen Formulierungen, aber in der inhaltlich weitgehend übereinstimmenden Charakterisierung der Zielgruppe belegen: „In dieser Situation [Verbreitung neuer Sprachtheorien und Grammatikmodelle seit den 1970er Jahren] kommt der Neuauflage der Duden-Grammatik in besonderem Maße die Aufgabe zu, eine Orientierung für Lehrende und Lernende in einer Zeit widerstreitender sprachwissenschaftlicher Schulen und Richtungen zu sein. […] Hauptziel der Neubearbeitung war es, durch eine noch übersichtlichere und verständ‐ lichere Darstellung die Benutzbarkeit der Duden-Grammatik zu verbessern. Auch der sprachlich interessierte Laie, der sich über den Aufbau unserer Sprache unterrichten will oder Rat sucht bei grammatischen Zweifelsfällen, soll diese Grammatik benutzen können. Nicht zuletzt soll die Duden-Grammatik auch ein praktisches Handbuch für den Unterricht der deutschen Sprache als Fremdsprache sein.“ (Drosdowski 1984: 5 [Vorwort zur 4. Auflage]) 38 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein Vom Anspruch her trifft das auch auf die ersten drei Auflagen (1959, 1966 und 1973) zu, die allerdings wesentlich stärker durch die Orientierung an und die Auseinandersetzung zunächst mit der seinerzeit noch bedeutsamen Inhaltbe‐ zogenen Grammatik, später dann mit den Einflüssen aus dependenz- und va‐ lenzgrammatischer sowie generativ-grammatischer Sicht geprägt sind, doch auch hier richtet sich die Grammatik an „den breitesten Benutzerkreis“ (Grebe 1973: 5 [Vorwort zur 3. Auflage]) bzw. versteht sie sich sogar als „Volksgram‐ matik“ (Vorwort zur 1. Auflage, zitiert nach Grebe 1966: 7). Angesichts derartiger Nutzbarkeitsambitionen erscheint die Frage nach At‐ traktivmachern vor allem insofern berechtigt, als man erwarten könnte, dass insbesondere für potenzielle Nutzer mit weniger soliden Wissensvorausset‐ zungen gestalterische Mittel wie etwa Stilwechsel eingesetzt werden. Um das zu prüfen und eventuelle Unterschiede im Gestalten für einen so breit gedachten Rezipienten- und Nutzerkreis exemplarisch zu illustrieren, vergleichen wir in Teilen die Ausführungen zur grammatischen Kategorie „Ellipse“: Funktionalstilistisch betrachtet, fällt im Hinblick auf den Duktus der Darstellung zunächst auf, dass bestimmte Ausdrucksmittel und -weisen favorisiert und häufig mit‐ einander kombiniert werden, um die bereits genannten, für den Kommunikati‐ onsbereich „Wissenschaft“ typischen Stilzüge wie Objektivität, Genauigkeit, Differenzierung oder Unpersönlichkeit zu realisieren und so stilistische Ein‐ heitlichkeit und Geschlossenheit zu erreichen: Dieses Stilganze resultiert vor allem aus der Verwendung charakteristischer Stilelemente: lexikalische Ein‐ heiten für die Sachverhaltsbeschreibung (treten auf, kommen vor, ist / sind üb‐ lich, gelten für / bei, sich handeln um, ansehen / auffassen als, eingehen auf u. a.) und für die Personenreferenz (Verwendung von Indefinitpronomina: Man be‐ achte auch […]) sowie grammatische Konstruktionstypen, insbesondere Passiv‐ konstruktionen ([…] darf nicht erspart werden, wenn […]) und Passivumschrei‐ bungen ([…] lassen sich in zwei Gruppen einteilen), Modalverbkonstruktionen (Zu […] kann […] gezählt werden, […] können weggelassen werden), Wenn- dann-Satzgefüge (Wenn […] eingespart werden, spricht man von […]). Stilwechsel in der zuvor für andere Grammatik-Darstellungen beschriebenen Weise sind hier nicht zu beobachten, vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass man es bei der Duden-Grammatik mit einem Paradebeispiel für Wissenschaftsstil zu tun hat. 39 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 10 Bei allen in Monospace-Schrift gedruckten Passagen in der Übersicht handelt es sich um Zitate. Betrachtet man allerdings die Ellipsen-Kapitel im Auflagenvergleich, lassen sich dennoch - nicht nur, wie zu erwarten, auf der Substanzebene anzusiedelnde - bemerkenswerte Unterschiede erkennen: 10 Auflage 2. Aufl. (1966: 606-610) 4. Aufl. (1984: 636-639) 5. Aufl. (1995: 682-686), 6. Aufl. (1998: 709-713) 7. Aufl. (2005: 909-919), 9. Aufl. (2016: 905-916) Kapitel‐ über‐ schrift Die Ersparung von Redeteilen (Ellipse) Die Ersparung von Redeteilen (Ellipse) Ellipse (Ersparung von Redeteilen) Die Ellipse Allge‐ meines Die Ersparung von Redeteilen (Ellipse) ist ebenso eine Abweichung von der grammatischen Norm […]. Es wäre aber falsch anzunehmen, daß dem Sprechenden bei dieser Abweichung von den grammatischen Grundverhältnissen immer die voll ausgeformte syntaktische Form vorschwebt, aus der er dann bewußt einzelne Teile ausläßt. […] Nicht immer müssen die syntaktischen Strukturen, die wir in den vorangehenden Kapiteln behandelt haben, ganz ausgefüllt werden. Vielmehr können Ersparungen auftreten, die sich in erster Linie nach pragmatischen (den Redezusammenhang betreffenden) und grammatischen Gesichtspunkten unterscheiden lassen. Nicht immer müssen die abstrakten syntaktischen Strukturen, die wir in den vorangehenden Kapiteln behandelt haben, in konkreten Sätzen auch ganz gefüllt werden. Vielmehr können - aus unterschiedlichen Gründen - verschiedene Positionen unbesetzt bleiben. Die Ellipse ist ein Mittel, die Kommunikation von störender Redundanz zu entlasten. Der Fachausdruck geht auf ein altgriechisches Wort zurück, das mit „Auslassung“ übersetzt werden kann. Diese Übersetzung ist allerdings missverständlich, wenn man „Auslassung“ normativ auffasst: Elliptische Äußerungen sind nicht in dem Sinne „unvoll- 40 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein ständig“, dass man sie eigentlich vervollständigen müsste. […] exem‐ plari‐ scher Vorkom‐ mensfall In gewählter Sprache wird gelegentlich auch um des Wohlklangs willen das Hilfszeitwort ausgelassen: [Bei‐ spiele] […] Dichter verwenden diese Auslassung [von Satzteilen] gern als Stilmittel: [Beispiele] In der Literatur werden Redeteile häufig aus stilistischen Gründen erspart. Vor allem wird die Auslassung des pronominalen Subjekts und des Hilfsverbs gern als Stilmittel verwendet: [Beispiele] Ellipsen in diesem Sinn [nichtbesetzte und vom Sprach‐ teilhaber als Aus‐ lassung empfun‐ dene Position eines Satzbau‐ plans] liegen z. B. in folgenden - literarischen - Beispielen vor: […] Hier ist das pronominale Subjekt bzw. das Hilfsverb aus stilistischen Gründen ausgelassen. [Der Verweis auf Ellipsen in litera‐ rischen Texten fehlt ab der 6. Auflage, in der auf das häufige Vorkommen in dialogischer Rede hinge‐ wiesen wird.] [Der Verweis auf Ellipsen in litera‐ rischen Texten fehlt in den beiden jüngsten Auflagen, in der 9. Auflage werden Ellipsen in Dialogen, El‐ lipsen bei No‐ tizen, Kurznach‐ richten oder bei Überschriften und andere El‐ lipsen in gespro‐ chener Sprache behandelt.] (lexikali‐ sche) Re‐ zep‐ tionssteue‐ rung Beachte: […] Beachte noch: […] Beachte aber noch: […] Man beachte hier: […] Hier ist allerdings zu beachten: […] […] sind einige Regeln zu beachten: […] Man beachte, dass […]. Besondere Fälle: […] 41 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung (36) Die Unterschiede, die im Auflagenverlauf einen Stilwandel erkennbar machen, betreffen vor allem die Handlungsmuster Akademischmachen und Exemplifi‐ zieren. Wie man sieht, markiert vor allem der Übergang von der 4. zur 5. Auflage einen grundlegenden Perspektivwechsel: Schon der Vergleich der Überschriften verdeutlicht eine andere Gewichtung im Anspruch auf Fachsprachlichkeit und fachwissenschaftliche Genauigkeit, da in den jüngeren Auflagen der gramma‐ tische Gegenstand „Ellipse“ ohne vorherige Erläuterung (z. B. als Suchbegriff) als bekannt vorausgesetzt, im Blick auf die Begriffsgeschichte und die damit verbundenen Implikationen aber reflektiert wird. Ungeachtet dessen wird durchgehend in hohem Maße auf grammatische und in Teilen auch sonstige sprachwissenschaftliche Terminologie zurückgegriffen und von ihrer Beherr‐ schung ausgegangen. Unterschiede zeigen sich des Weiteren darin, dass bis zur 4. Auflage unter anderem auf das Vorkommen von Ellipsen in literarischen Texten verwiesen wird und Ellipsen auch als Stilmittel ausgewiesen und ge‐ kennzeichnet werden. Darin kommen zum einen der lange Zeit in der Gram‐ matikschreibung übliche Rückgriff auf literarische Vorbilder (mit dem Ver‐ weisen auf bzw. Illustrieren an literarischen ‚Vorzeigetexten‘) und zum anderen die rhetorisch-stilistische Begriffstradition, die das Verständnis ebenfalls lange Zeit dominiert oder zumindest mitgeprägt hat, zum Ausdruck. Die jüngeren Auflagen, die auf Ellipsen als Stilmittel (z. B. in literarischen Texten) nicht (mehr) hinweisen, sind erkennbar um wesentlich mehr Differenzierung im Blick auf den Sprachgebrauch bemüht, was sich auch im Exemplifizieren durch die Ver‐ wendung authentischer Belege aus Gebrauchstexten, also in einem stärkeren Bezug zur Lebenswirklichkeit - und damit vermutlich auch in besserer Nach‐ vollziehbarkeit für die Rezipienten - niederschlägt. Man kann die hier erkennbaren Veränderungen insofern als Stilwandel auf‐ fassen, als sich der charakteristische Textmusterstil zumindest partiell durch Bemühungen um Genauigkeit und Differenzierung nach Bestimmtheitsgraden von Aussagen im Laufe der Zeit verändert - eine Entwicklung, die gegenstands‐ bezogen vor allem durch die Berücksichtigung auch gesprochener Sprache und der Beziehungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie durch Ein‐ flüsse aus der Text(sorten)linguistik, methodisch vor allem durch korpuslingu‐ istische Analysen bedingt ist. Im Blick auf das Gestalten manifestiert sich dieser Textmusterwandel darin, dass das Bemühen um angemessene sprachgebrauchs‐ bezogene Differenzierung auf der Ausdrucksebene angezeigt wird, wie es etwa folgende Beispiele aus der 9. Auflage erkennen lassen: […] ist die Akzeptanz dieser Konstruktion allerdings etwas geringer. (Wöllstein /  Dudenredaktion 2016: 910) 42 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein (37) Wenn […], schwankt die Beurteilung. So lehnen manche die Einsparung von Pluralformen ab; stattdessen würden sie die ausformulierte Version verwenden oder eine ganz andere Konstruktion wählen. (Wöllstein /  Du‐ denredaktion 2016: 910) Solche Weisen des Gestaltens sind auf das aus der jeweiligen Art der Gestaltung erschließbare Selbstverständnis, mit dem Grammatik dargestellt und vermittelt werden soll, zu beziehen. Sie belegen die deskriptive Grundhaltung, mit der dem Nutzer und Sprachteilhaber Unterschiede im Sprachgebrauch und in der Beur‐ teilung von Akzeptabilität und Angemessenheit verdeutlicht werden. Dabei fällt im Vergleich mit früheren Auflagen der Duden-Grammatik auf, dass die Auto‐ renteams in der Einstellung zu Normfragen und Zweifelsfällen bis Ende der 1990er Jahre mit einem explizit formulierten normativen Anspruch auftreten. Dass z. B. im Vorwort zur 1. Auflage noch von „Sprachpflege“ gesprochen oder im Vorwort zur 3. Auflage als Aufgabe genannt wird, „die Zweifelsfälle aus dem Systemzusammenhang zu erklären und zu werten“ (Grebe 1973: 5 [Vorwort]), dürfte kaum überraschen, aufschlussreich ist aber, wie dieses anfänglich sprach‐ pflegerisch-wertende Selbstverständnis sukzessive zugunsten einer deskrip‐ tiven Haltung aufgegeben wird. Im Vorwort zur 4. Auflage beispielsweise heißt es: „Dem Umstand, daß das sprachliche System nicht homogen und stabil ist, versucht die Duden-Grammatik durch eine differenzierte, der unterschiedlichen Strukturiert‐ heit entsprechende Darstellung und eine offene Norm gerecht zu werden. […] Das Bekenntnis zu einer grundsätzlich deskriptiven Orientierung bedeutet auf der anderen Seite keinen Verzicht auf normative Geltung […]. Die Duden-Grammatik führt auch die präskriptive Tradition fort, sie bleibt nicht bei der Deskription stehen, sondern klärt […] auch Normunsicherheiten und wirkt den Zentrifugalkräften in der Sprache entgegen.“ (Drosdowski 1984: 8 f. [Vorwort]) Fast identisch findet sich diese Positionierung auch im Vorwort zur 5. Auflage, allerdings an der aus heutiger Sicht nicht mehr haltbaren Stelle („[…] führt auch die präskriptive Tradition fort, […]“) leicht abgeschwächt: „[…] führt somit die sprachkulturelle Aufgabe fort, […]“ (Drosdowski 1995: 9 [Vorwort]). Noch weiter abgeschwächt heißt es im Vorwort zur 6. Auflage: „Sie [die Duden- Grammatik] schreibt keine strenge Norm vor, sondern strebt an, einer offenen Norm gerecht zu werden, […]. Dies bedeutet allerdings keinen Verzicht auf eine gewisse normative Geltung“ (Dudenredaktion 1998: 5 [Vorwort]). In den Vor‐ worten zu den jüngeren Auflagen ab 2005 sind Begrifflichkeiten wie „präskrip‐ tive Tradition“ oder „normative Geltung“ verschwunden. Solche Rückschlüsse 43 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung auf das Selbstverständnis und das fortschreitende Bekenntnis zu Toleranz und Offenheit im Umgang mit Normproblemen sind deshalb bedeutsam, weil sie, wie exemplarisch aufgezeigt, Konsequenzen für das Gestalten von Grammatik nach sich ziehen. Ein Vergleich der Positionierung in den jeweiligen Vorworten gibt darüber hinaus Aufschluss über weitere wesentliche Aspekte des Gestaltens: So wird, wie bereits angesprochen, der Geltungsanspruch für geschriebene und später dann auch gesprochene Standardsprache betont, die Breite des gewünschten Nutzerkreises unterstrichen, die synchrone Perspektive herausgestellt und es werden - gleichsam als Spiegel der wissenschaftshistorischen Entwicklung und der Etablierung (neuer) grammatiktheoretischer Ansätze - die von der Duden- Grammatik jeweils aufgenommenen bzw. berücksichtigten Strömungen thema‐ tisiert. En passant erfährt der Leser auch etwas über den Umgang mit der Frage der sprachlichen Gleichbehandlung der Geschlechter, was seit der 4. Auflage schon aufscheint, wenn dort im Vorwort des Wissenschaftlichen Rats der Du‐ denredaktion von „Orientierung für Lehrende und Lernende“ die Rede ist (Dros‐ dowski 1984: 5), ansonsten aber, wie auch in den jüngeren Auflagen, Aus‐ drucksformen des generischen Maskulinums bevorzugt und, wie in den Vorworten der Dudenredaktion und der Autorinnen und Autoren zur 7., 8. und 9. Auflage, explizit mit Platzmangel und dem Bemühen um eine flüssig(er)e Darstellung begründet werden; man muss zwar genau hinschauen, aber auch hier sprechen die geringfügigen (zur Verdeutlichung unterstrichenen) Unter‐ schiede, die sich in der Gegenüberstellung der einschlägigen Passagen aus der 7. und aus der 9. Auflage zeigen, für sich: „In der Dudengrammatik werden die Formen ‚Sprecher‘ und ‚Hörer‘ bzw. ‚Leser‘ und ‚Schreiber‘ verwendet. Selbst‐ verständlich beziehen sie sich immer auf männliche und auf weibliche Personen. Lediglich aus Gründen des Platzes und des flüssigeren Schreibstils wurde darauf ver‐ zichtet, jeweils weibliche und männliche Formen anzuführen.“ (Dudenredaktion 2005: 6) „In der Dudengrammatik werden die Formen ‚Sprecher‘ und ‚Hörer‘ bzw. ‚Leser‘ und ‚Schreiber‘ verwendet. Selbst‐ verständlich beziehen sie sich immer gleichzeitig auf weibliche und männliche Personen. Lediglich aus Gründen des Platzes und des flüssigeren Schreibstils wurde darauf verzichtet, jeweils feminine und maskuline Formen anzuführen.“ (Wöllstein /  Dudenredaktion 2016: 6) Kurz zusammengefasst, manifestiert sich Stilwandel im Vergleich der Duden- Grammatik-Auflagen also im Stilganzen, da sich in der Art der Handlungs‐ 44 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein durchführung die Veränderung im Anspruch und im Selbstverständnis der Du‐ denredaktion zeigt. 4 Kursorischer Blick auf Stilphänomene in Grammatikforen 4.1 Allgemeines zur Beziehungsgestaltung Grammatik-Texte auf Plattformen, die vornehmlich dazu dienen, Grammatik‐ wissen nachzuschlagen und einzuüben (vgl. stellvertretend grammis.de, meindeutschbuch.de, grammatikdeutsch.de, lernpfad.at) weisen, wie eine strichpro‐ benartige Durchsicht gezeigt hat, in ähnlicher Weise Stilwechselphänomene auf, wie sie sich in konventionellen Printdarstellungen auch finden. Die Behandlung von Grammatikthemen in Foren (vgl. stellvertretend deutschboard.de, fehlerhaft.de, konjugation.de), in denen Ratsuchende ihre Fragen stellen können, die dann von kompetenten oder sich zumindest so fühlenden Usern beantwortet werden, dagegen zeigen, dass in längeren thematischen Threads durchaus auf‐ fällige Stilwechsel eine Rolle spielen können. Es ist dabei davon auszugehen, dass - wie für die bisherigen textbzw. produktbezogenen Überlegungen - auch für die schriftbasierte Forenkommunikation gilt, dass „mit der Art der Hand‐ lungsdurchführung […] auch die Beziehung als solche gestaltet [wird]“ (Sandig 2006: 27). Um das zu verdeutlichen, eignet sich Forenkommunikation deshalb besonders, weil der dialogische Charakter der Beiträge erkennbar machen kann, nicht nur wie ein Thema bearbeitet und wie ein Sachverhalt gestaltet wird, son‐ dern auch wie die Akteure sich gegenseitig einschätzen und welche Stilwir‐ kungen mit der Sachverhaltsdarstellung verbunden sein können. Es ist nahe‐ liegend, dass gerade in Fällen, in denen die Kommunikationsdurchführung nicht (mehr) den üblichen Höflichkeitsstandards usw. genügt, die Ebene der Sach‐ verhaltsdarstellung an Gewicht einbüßt und entsprechende Rückschlüsse auf die Art der Beziehungsgestaltung möglich sind. Wie generell in Forenkommu‐ nikation ist es auch hier meist nicht möglich, die fachliche, sprich: grammatische Kompetenz und die Fähigkeit, Grammatikprobleme souverän zu lösen, einzu‐ schätzen. Daher ist es auch zumindest nicht auszuschließen und in bestimmten Foren sogar oft der Fall, dass sich Laien mit unzureichenden oder fragwürdigen Grammatikkenntnissen an den thematischen Threads beteiligen und lediglich vorgeben, kompetente Ansprechpartner zu sein. Im Ergebnis führt das u. U. zu thematischen Verschiebungen, die mitunter auch den Charakter von Unsinns‐ diskussionen annehmen können. Wir illustrieren die Verwendung entsprechender stilistischer Handlungs‐ muster exemplarisch an Ausschnitten aus zwei Threads in verschiedenen Foren. Ausgangspunkt ist jeweils ein grammatisches Problem eines Ratsuchenden, der 45 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung (38) (39) im Forum um eine Lösung bittet und damit die Mitglieder des Forums als Fach‐ leute anerkennt. Deren Antworten zeigen, dass sie sich selbst die Kompetenz zuschreiben, die gestellte Frage adäquat zu beantworten. 4.2 Beleidigen Kommt es in solchen Threads zu Diskussionen über eine vermeintlich richtige oder falsche Antwort, werden häufig über Handlungen, die dem eigentlichen Gestalten (der Problemlösung) dienen, hinaus Bewertungshandlungen wie Loben oder Kritisieren vollzogen und es zeigen sich Verstöße gegen die Kom‐ munikationsmaximen, wenn z. B. Beleidigungen ausgesprochen werden und die Redaktion sich unter Umständen zu Zensureingriffen veranlasst sieht. In dem Thread „der /  die Autobahn“ im Forum deutschboard.de ist eine falsche Antwort der Anlass dafür, dass die beteiligten Akteure von der Inhaltsebene auf die Be‐ ziehungsebene wechseln und dass begründet erscheinende Kritik um Hand‐ lungen des Beleidigens erweitert wird. Ausgangspunkt ist folgende Frage: „[…] Es ist ‚die Autobahn‘. Aber in dem Satz ‚wir sind auf der Autobahn gefahren‘ wird aus die Autobahn der Autobahn. […]“. Auslöser der angedeuteten Kontro‐ verse ist die Antwort des Mitglieds „Gast11022013“: […] Ja, der bestimmte Artikel von „Autobahn“ ist „die“, Autobahn ist also feminin. Wenn Du ein Substantiv (hier: Autobahn) jedoch in einen Satz einbaust, musst Du den Artikel je nach Fall und Kontext anpassen. In Deinem Satz („Wir fahren auf der Autobahn.“) ist „Autobahn“ was für ein Objekt? Antwort: Akkusativobjekt [Frage: Wen oder Was? Auf wen oder was fahren wir? ] Hier sind nun im inhaltlichen Kontext zwei Möglich‐ keiten, um auf diese Frage zu antworten: 1.) Wir fahren auf die Autobahn. 2.) Wir fahren auf der Autobahn. Im Fall 1.) bedeutet das inhaltlich, dass wir uns noch nicht auf der Autobahn befinden und gerade auf sie herauf‐ fahren. Im Fall 2.) bedeutet der Satz inhaltlich, dass wir schon auf der Autobahn sind und auf ihr fahren. Die Problematik ist hier also, dass „Autobahn“ als Akkusativobjekt inhaltlich zwei Formen zulässt. […]. Forumsmitglied „Dummdödel“ ist offensichtlich so über diese Antwort verär‐ gert, dass er das Mitglied „Gast11022013“ persönlich angreift: Zitat: Die Problematik ist hier also, dass „Autobahn“ als Akkusativobjekt inhaltlich zwei Formen zulässt. […] Dennis, woher hast du deine Weisheiten? Es wären ja nicht nur „in‐ haltlich“ zwei Formen, wenn der Akkusativ „die“ und „der“ Autobahn zulässt. 46 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 11 www.deutschboard.de/ htopic,4670,erstemal.html (31.05.2019). (40) (41) Zitat: In Deinem Satz („Wir fahren auf der Autobahn.“) ist „Autobahn“ was für ein Objekt? Antwort: Akkusativobjekt [Frage: Wen oder Was? Auf wen oder was fahren wir? ] *zensiert* Nach einigen weiteren Beitragswechseln zeigt sich die Vermischung von In‐ halts- und Beziehungsebene auch bei „Gast11022013“ besonders deutlich: Bevor Du dieses Forum und mich beleidigst, solltest vielleicht DU erstmal nachdenken! Es handelt sich hier definitiv nicht um ein Dativobjekt, son‐ dern um ein Akkusativobjekt. Also, Freundchen, sei ein bisschen vor‐ sichtiger! Das Dativobjekt antwortet auf die Frage: Wem? Und Du willst hier wohl nicht ernsthaft behauptet, man würde hier fragen: Auf wem fahren wir? So ein Blödsinn! Natürlich fragt man hier: Auf wen oder was fahren wir? Also handelt es sich um ein Akkusativobjekt, das man in‐ haltlich verschieden deuten kann (auf die Autobahn herauffahren oder schon auf ihr befindlich sein)! Ich buche DIR also gerne ein Ticket zurück in die 3. Klasse! Und Dein Kommentar (Stichwort: Migrationshintergrund) ist einfach unmöglich! Ich finde, für den sollte man Dich sperren. Was hat bitte ein Migrations‐ hintergrund damit zu tun, ob man Grammatik kann oder nicht? Was für eine überaus blöde Bemerkung! ! Der in der Fachkommunikation erwartbare und übliche Stilzug der Sachlichkeit spielt in solchen Fällen ersichtlich keine Rolle mehr, die Diskussion spitzt sich zu und nimmt mehr und mehr polemische Töne an. Dass Forumsmitglieder auf adäquate Gestaltung auch auf der Beziehungsebene Wert legen, zeigt sich vor allem darin, dass die Einhaltung von Höflichkeitsstandards gefordert wird: […] aber ich möchte daraufhin verweisen, dass das Deutschboard seinen Anspruch und einen guten Ruf waren will und das wir, die Helfer, uns freuen würden, wenn die Fragesteller sich ein wenig ordentlicher aus‐ drücken würden! Wir bitten freundlichts darum, gerade weil wir auf einem Deutschboard sind, eine vernünftige Anfrage zu stellen! […] Vielen Dank! […] 11 4.3 Ironisieren Stilwechsel können dann zum Einsatz kommen, wenn wie im folgenden Thread- Auszug das stilistische Handlungsmuster Ironisieren verwendet und ebenfalls die Interaktionsmodalität gewechselt wird. Ausgangspunkt ist eine Frage zur 47 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung 12 www.fehler-haft.de/ forum/ viewtopic.php? f=5&t=21949&sid=11c986f13796c4c54aa2b9 7c4ebc940f (31.05.2019). (42) (43) (44) Groß- und Kleinschreibung, die dann im grammatischen Kontext der Wortbil‐ dung beantwortet wird: 12 Jan: Werden die Verben „schwimmen“, „radfahren“ und „laufen“ im fol‐ genden Satz groß oder klein geschrieben? Das bedeutet: 20 Tage lang täglich 3,8 km schwimmen, 180 km radfahren und 42,2 km laufen. Die Frage wird von User „Qwerty“ beantwortet und es kommt zu zwei zusätz‐ lichen Beiträgen von „Jan“ und „Qwerty“. Bei der Beispielsanalyse verkürzt „Qwerty“ dann den ursprünglichen Beispielsatz, was folgende Reaktion eines weiteren Users verursacht: Vollprofi: „20 Tage lang Schwimmen /  schwimmen“, das geht, […] Wow, Qwerty! Da bewundere ich echt deine Ausdauer! Kann man sich das mal irgendwo anschauen? Der hier erkennbare Ebenenwechsel hin zur Beziehungsebene erfolgt durch die Ironisierung, wobei der Wechsel zu einer unernsten Interaktionsmodalität mit Smileys zusätzlich verdeutlicht wird. „Qwerty“ schließt sich dem Ebenen‐ wechsel an, indem er/ sie auf die Äußerung von „Vollprofi“ mit Humor reagiert: […] Ja ne? Da kannste nicht mithalten. […] Zitat: Kann man sich das mal irgendwo anschauen? Hihi, na klar. In jedem besseren Zoo, Delfinarium etc. Liebe Grüße Qwerty Wie die Beispiele zeigen, agieren die Forumsmitglieder zuweilen ausschließlich auf der Ebene der Beziehungsgestaltung, als unbeteiligter Rezipient kann man zum „Zeugen eines kleinen verbalen Duells“ (Sandig 2006: 283) werden oder sich am negativen oder positiven Bewerten durch Ironie erfreuen. 5 Fazit Die exemplarischen Überlegungen haben verdeutlicht, dass Grammatik-Texte für die Analyse von Stilwechseln und ihren Wirkungen einen geeigneten Un‐ tersuchungsgegenstand darstellen, da sich bei gleichbleibendem Gegenstand Anpassungen z. B. an bestimmte Adressatengruppen vergleichen lassen. Fest‐ halten lässt sich insbesondere, 48 Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein 1. dass sich im Vergleich zielgruppendifferenter Darstellungen zielgrup‐ 1. penspezifische Formen des Gestaltens ausmachen lassen, zu denen auch bestimmte Arten von Stilwechseln gehören, und dass insofern die Ana‐ lyse von Stilwechseln als Beitrag zur Verortung von Texten zwischen maximaler und minimaler Wissenschaftlichkeit verstanden werden kann: Vor dem Hintergrund des ausgeprägten Negativimages, mit dem das Thema „Grammatik“ behaftet ist, lässt sich erkennen, dass die Textpro‐ duzenten vor allem in einführenden Darstellungen und in solchen für Adressatengruppen mit heterogenem, insbesondere auch eher niedrigem Wissensniveau Stilwechsel einsetzen, um den Texten Attraktivität zu verleihen und die Rezeptionsbereitschaft zu steigern; 2. dass sich im Vergleich zielgruppengleicher Darstellungen, deren Er‐ 2. scheinen sich über einen größeren Zeitraum erstreckt, weniger Unter‐ schiede in Gestalt von Stilwechseln beobachten lassen, sondern vielmehr bei gleichbleibendem (Wissenschaftlichkeits-)Anspruch Anpassungen an veränderte Rahmenbedingungen im Bereich der Grammatikforschung, die vor allem das Selbstverständnis und die Positionierung zwischen Prä‐ skription, Normierung und Deskription betreffen, sich aber zwangsläufig auch in der Art und Weise des Gestaltens niederschlagen und insofern einen Stilwandel sichtbar werden lassen; 3. dass die Art der Handlungsdurchführung und die primär im Rahmen des 3. Gestaltens anzusiedelnden Stilwechsel durch Handlungen, die in erster Linie die Beziehungsgestaltung betreffen, ergänzt, zuweilen auch unter‐ brochen oder außer Kraft gesetzt werden können, wie es die exemplari‐ schen Beobachtungen zur Behandlung von Grammatikthemen und -fragen in der Forenkommunikation offengelegt haben. Literatur Quellen Drosdowski, Günter (Hg.) 1984: Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. In Zusammenarbeit mit Gerhard Augst u. a. Mannheim u. a., 4., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Drosdowski, Günter (Hg.) 1995: Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. In Zusammenarbeit mit Peter Eisenberg u. a. Mannheim u. a., 5., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Dudenredaktion (Hg.) 1998: Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Be‐ arbeitet von Peter Eisenberg u. a. Mannheim u. a., 6., neu bearb. Aufl. 49 Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung Dudenredaktion (Hg.) 2005: Duden - Die Grammatik. 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Aufgrund des enormen Wissenszuwachses im Technologiebereich zeichnen sich zwei Ten‐ denzen ab: Zum einen spezialisieren sich Fachgebiete und zum anderen nimmt die Interdisziplinarität zu (z. B. in der Mensch-Maschine-Interaktion). In der Folge kommt es zu einer stärker spezialisierten vs. fachübergreifenden Fach‐ kommunikation, die beide für Laien oft genug unverständlich bleiben. Durch das Internet als interaktive Plattform für den Wissensaustausch nimmt jedoch der Abstand zwischen Wissenschaft als Theoriegebäude mit Spezial‐ wissen einerseits und Gesellschaft als Praxisraum andererseits ab und die Rolle des Wissenschaftsjournalismus wächst. Zudem ist der Publikations- und Popu‐ larisierungsdruck für neue Erkenntnisse hoch, so dass das Medium Internet in diesem Kontext sehr gut geeignet ist, eine zeitnahe und unkomplizierte Be‐ richterstattung sowohl für Fachleute als auch für Laien zu ermöglichen. Neben Open Access-Wissenschaftsmagazinen mit allgemeinem Charakter etablierten 1 Vgl. https: / / wissenschaftkommuniziert.wordpress.comTest. 2 Vgl. www.wissenschaftskommunikation.de/ format/ augmented-reality/ sich in den vergangenen Jahren insbesondere themenspezifische Blogs (z. B. ScienceBlogs), deren Einträge nicht nur Wissen vermitteln, sondern die über die Kommentarfunktion Diskussionen in Echtzeit anregen. Während Wissenschaft‐ lerdiskurs früher über persönliche Briefe und in Journalen über Leserbriefe ge‐ führt wurde, bieten Blogs und Webinare sowie Kommunikationsplattformen wie Twitter und Instagram heute einer multiplen Leser- /  Zuschauerschaft die Option der unmittelbaren, auch anonymen Teilhabe an Entwicklungen, der Be‐ wertung und Reaktion auf Veröffentlichtes. Zudem werden Social Media häufig für die Veröffentlichung von neuen Erkenntnissen genutzt. 1 Die Multimodalität der neuen Medien eröffnet eine weitgehend barrierefreie Kommunikation. Texte können automatisch über Software vorgelesen werden und Programme werden inzwischen auch über Sprecheingaben gesteuert. Zudem reichern Bilder, grafi‐ sche Elemente und die weiterführende Verlinkung die Darstellung von Erkennt‐ nissen und Prozessen an. Im Zuge der Entwicklung neuer fachlicher Konzepte, wie der Mensch-Maschine-Interaktion, entstehen auch neue sprachliche Inter‐ aktionsmuster, z. B. die Interaktion mit Chatbots, die sich einer künstlichen, standardisierten Sprachmusterkommunikation bedienen. Über neuronale Netz‐ werke und künstliche Intelligenz werden Computer immer lernfähiger. In naher Zukunft wird Wissenschaft auch durch Augmentierte Realität mit 3D-Optionen noch besser verständlich. 2 Zudem wird es schwieriger zwischen natürlicher und computerbasierter Sprache bzw. Texten zu unterscheiden. Smartphones und Kommunikationsdienste führen ihre Nutzer zu einer verkürzten, schnellen In‐ teraktion. Geschriebene (getippte) Kommunikation wirkt gesprochensprach‐ lich, d. h. sie ist informell, durch Kurzformen charakterisiert und durch Emoti‐ cons symbolhaft. Insgesamt ist festzustellen, dass durch den technischen Fortschritt der Kom‐ munikationsmedien auch deutliche Stilwechsel begründet sind: Zum einen der Übergang vom einfachen gedruckten Text zu digitalen Texten, die über techni‐ sche Optionen der Informationserweiterung verfügen, die eine barrierefreie Kommunikation ermöglichen, die stärker visualisiert sind und zugleich die Echtzeitkommunikation zwischen Autoren und Rezipienten herstellen können. Zum anderen Texte mit Informationseingrenzung durch ‚Chatstrukturen‘ und Symbole, die einen schnellen Informationsaustausch zwischen Sender und einem Rezipienten bzw. der Rezipientengemeinschaft ermöglichen. Die Kom‐ munikation wird stärker adressatenwirksam gesteuert. 54 Ines-A. Busch-Lauer (1) (2) (3) Während die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in ge‐ drucktem Material gut erforscht ist (vgl. z. B. Adamzik 2010; Auer /  Baßler 2007; Berg 2018; Conein u. a. 2004; Koskela 2002; Niederhauser 1999), liegen zur digi‐ talen (Fach-) Kommunikation, z. B. zu Blogs, noch verhältnismäßig wenige lin‐ guistische Studien vor (u. a. Mauranen 2013; Enderli 2014; Moss /  Heurich 2015; Meiler 2018; Schach 2015). Das Forschungsfeld Verständlichkeit von digitaler Wissenschaftskommunikation wurde erstmals durch die Beiträge des Sammelbandes von Bonfadelli u. a. (2016) mit einem Überblick zu den For‐ schungsfeldern (u. a. Public Understanding of Science) thematisiert und die Dis‐ kursqualität von Online-Wissenschaftskommunikation unter den Schlagwör‐ tern Science for all und Scientific Literacy. Mit den Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung auf die deutsche Sprache befasste sich im Jahr 2014 eine forsa-Befragung (forsa 2014) unter 100 Sprachwissenschaftlern. Danach geht die Mehrheit der befragten Sprachwis‐ senschaftlerInnen (62 %) davon aus, dass die zunehmende digitale Kommunika‐ tion einen großen Einfluss auf die deutsche Sprache hat. Zu den Bereichen mit besonders starken Auswirkungen gehören: die Lexik (22 % der Befragten verweisen auf die vermehrte Nutzung von Abkürzungen, Floskeln und neuen Wörtern), die Vermischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (22 %) sowie die Veränderung der Grammatik, Rechtschreibung und Interpunktion (19 %). Dass es zu Veränderungen des Kommunikationsverhaltens kommen wird, glauben 17 % der Befragten; weitere 17 % gehen auch von einem stärker informellen und kreativen Sprachgebrauch aus und die Verwendung von Anglizismen betonen 6 %. Insgesamt 39 % der Befragten meinen, dass sich die Satzstrukturen vereinfachen; 20 % sehen vermehrt gesprochensprachliche Strukturen und 14 % vermuten Ver‐ änderungen in der Groß- und Kleinschreibung, weniger Interpunktion sowie ver‐ mehrt Kürzungen von Endungen und die Nutzung von Abkürzungen (vgl. forsa 2014: 4-6). Betrachtet man die Lexik genauer, so gehen 26 % der Befragten davon aus, dass die digitale Kommunikation in diesem Bereich durch die stärkere Nut‐ zung von Neologismen, Anglizismen und von Akronymen geprägt sein wird. Zudem ist von einer Informalisierung und einer Nutzung von mehr bildlichen Sprachelementen (z. B. Symbole, Emoticons) auszugehen. Leider sehen 27 % der Befragten auch die Gefahr, dass sich durch die Nutzung digitaler Medien die Schreib- und Lesefähigkeit verschlechtern könnte; 29 % der Befragten gehen hingegen eher von einer Verbesserung aus, aber 34 % sind dies‐ bezüglich noch unentschieden. 55 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR Betrachtet man zusammenfassend die Ergebnisse der Befragung, so erscheint es notwendig, die geäußerten Meinungen durch Textanalysen aus verschie‐ denen digitalen Genres zu verifizieren. Zugleich ist es erforderlich, Stilwechsel als Ausdruck von Sprachdynamik auf den einzelnen Sprachebenen zu doku‐ mentieren. Aus diesem Grund betrachtet der vorliegende Beitrag exemplarisch, welche stilistischen Tendenzen sich in digital veröffentlichten Texten ab‐ zeichnen. Dazu wurde ein Korpus aus Texten von Wissenschaftsmagazinen und von Blogtexten zu den Themen ‚Smart Technology‘ und ‚Virtuelle Realität‘ be‐ trachtet. 2 Technikentwicklung und Begriffswelt - Alles smart, oder …? Naturwissenschaft und Technik sind heute allgegenwärtig und ihre Erkennt‐ nisse oft für fachliche Laien zu komplex. In Zeiten eines starken wissenschaft‐ lich-technischen Umbruchs, der das Leben der Menschen nachhaltig beeinflusst, entsteht ein besonderer Bedarf, Erkenntnisse verständlich in die breite Öffent‐ lichkeit zu transferieren, auch um Ängsten vor diesen Entwicklungen vorzu‐ beugen. Eine solche qualitativ neue Phase der Technikentwicklung wurde durch die Digitalisierung und Automation eingeleitet, über die besonders im Internet berichtet wird und deren Berichterstattung viele Züge der Computerfach‐ sprache und des Journalismus trägt. Die Sprache der Informatik ist schnelllebig, von vielen Neologismen, Anglizismen und Symbolen geprägt; der Sprachstil ist sachlich, kurz und präzise. Im Gegensatz dazu ist die Sprache im Journalismus durch Vergleiche, direkte und indirekte Rede, Beispiele und Metaphern ange‐ reichert, was sich auf die Gestaltung der Berichterstattung über IT-Entwick‐ lungen überträgt. Auf der Online-Plattform www.heise.de werden die neuesten Entwicklungen im Bereich Computer und Digitalisierung vorgestellt, wobei die Informationen häufig auf englischsprachigen Quellen beruhen. Teilweise erscheinen die dort verbreiteten Mitteilungen auf weiteren Portalen in modifizierter Form, teilweise über unterschiedliche Genres. Oft werden die englischen Fachbegriffe (für die es keine Äquivalente im Deutschen gibt) ins Deutsche übernommen. Ein eng‐ lischer Fachbegriff gilt als kürzer (daher ökonomischer), ist prestigeträchtiger und der breite Leserkreis (vom Experten zum interessierten Laien) stuft die Darstellung auch so als verständlich ein. Zudem sind die popularisierenden Texte auf deutschsprachigen Online-Portalen bzw. in Online-Ausgaben von Wissenschaftsmagazinen (z. B. Spektrum der Wissenschaft und bild der wissen‐ schaft) häufig Übersetzungen aus dem Englischen. Diese übernehmen aus den oben genannten Gründen auch oft englischen Fachwortschatz, was gegenwärtig 56 Ines-A. Busch-Lauer 3 Fettdruck in allen Beispielen I.-A. B.-L. (A) besonders in Texten zu den Themenbereichen Smart World, Virtuelle Realität, Künstliche Intelligenz und Robotik zu beobachten ist. Beispiele dafür sind: In‐ ternet of Things (IoT), IIoT (Industrial Internet of Things - Industrie 4.0), Smart City, Artificial Intelligence (AI), Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR), Mixed Reality (MR). Die (englischen) Neologismen dringen über die Berichter‐ stattung sukzessive in den Alltag der Menschen vor und bestimmen als Schlag‐ wörter die Art und Weise der Kommunikation über und mit den Dingen. Die Begriffe sind zwar ‚in aller Munde‘, aber hinterfragt man das Verständnis zu einem solchen neuen Begriff, dann offenbaren sich oft Vagheiten und Wissens‐ lücken, weil Neologismen häufig (noch) nicht klar definiert sind. Als Beispiel kann hier der Begriff Big Data genannt werden, der zwar seit einigen Jahren etabliert ist, aber als Schlagwort einem kontinuierlichen Wandel in Bedeutung und Beschreibung unterliegt. Diese Vagheit wird an Textbeispiel (A) deutlich, in dem sprachlich auf das Verständnisdefizit und die Prozesshaftigkeit von Big Data verwiesen wird (vgl. die durch Fettdruck markierten Textstellen). Der Be‐ griff Big Data scheint nicht ins Deutsche übersetzbar zu sein und er durchläuft noch immer den Prozess der Präzisierung /  Terminologisierung. Deshalb werden zu seiner Charakterisierung Vagheitsausdrücke (z. B. prinzipiell, eventuell, idea‐ lerweise) verwendet, die zudem auch Ausdruck der Unsicherheit des Autors im Umgang mit dem Begriff sind. Big Data ist nach einer Reihe logischer Entwicklungsstufen im In‐ ternet, wie der Individualisierung, der Verlagerung von Daten in die Cloud und des rapide steigenden Wunsches nach (Digitaler) Mobilität, das neue kontrovers diskutierte Thema. […] Prinzipiell geht es darum, unter‐ schiedliche Datenmengen mit den neuen Datensätzen zu kombinieren, eventuelle Muster in diesen kumulierten Daten mit intelligenten Soft‐ wareprogrammen aufzuspüren, um anschließend die richtigen (mög‐ lichst wirtschaftlich lukrativen) Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen. Einmal erhobene Primärdatensätze können zu unterschiedlichen Zwe‐ cken und für unterschiedliche Akteure zweit-, dritt-, oder x-fach ausgewertet werden. Dadurch erweisen sich die Daten einerseits als Quelle für Innovation, Kreativität sowie „Out-of-the-box-Denken“ und münden idealerweise in neuen Geschäftsideen, Produkten oder Dienst‐ leistungen. (Big Data - Die ungezähmte Macht, 04.03.2014: 3-4, www.dbr esearch.de [letzter Zugriff: 31.01.2019]) 3 57 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR 4 Vgl. Oxford Learners’ Dictionary, <http: / / www.oxfordlearnersdictionaries.com/ defini‐ tion/ english/ smart_1> [Zugriff: 31.01.2019]. (1) (2) (3) (4) (5) (6) Welche fachlichen Konzepte scheinen die Kommunikation derzeit besonders zu prägen? Bei der Durchsicht deutscher Blogtexte fällt insbesondere das Adjektiv smart auf, das auch im Deutschen inzwischen zu einer ganzen Begriffswelt ge‐ führt hat und als Konzept das Leben der Menschen nachhaltig beeinflussen wird. Ursprünglich bezog sich das Adjektiv smart nach Angaben des Oxford Learners’ Dictionary auf Menschen „clean and neat; well dressed in fashionable and /  or formal clothes“; auf Sachen „clean, neat, and looking new and attractive“; und im amerikanischen Englisch intelligent, (z. B.: … the smartest thing I ever did); modern, modisch („fashionable“); schnell („quick“). Mit der Automarke Smart (seit 1998) und der Smart Card (Chipkarte mit Bezahl- und Wiederaufladefunktion, seit ca. 2001) begann der Boom von smart als „clever“, „intelligent“. Bezogen auf Technik /  Computer bedeutet das Adjektiv laut Oxford Learners’ Dictionary gesteuert, intelligent kontrolliert. 4 „controlled by a computer, so that it ap‐ pears to act in an intelligent way“. Durch die technischen Entwicklungen ist die Bedeutung des Adjektivs (vgl. 6, „gesteuert, intelligent kontrolliert“) nunmehr dominant und profitiert auch von der Auffassung „clean and neat“ für Personen und Sachen (vgl. 1 und 2). So wird das Smartphone mit all seinen gehirnerleichternden Funktionen als unabdingbar und positiv wahrgenommen und darauf aufbauend auch weitere internetfähige tragbare Geräte. Der Begriffsumfang von smart hat sich zwar verengt, aber gleichzeitig eine ganze Reihe von Neologismen produziert: Smartphone, smart meter (‚intelligenter Stromzähler‘), Smart TV (‚Hybrid-TV-Gerät‘), Smart Grid (‚intelligentes Stromnetz‘), Smart Home, Smart City. Diese Prominenz von smart wurde in deutschen Techniktexten erstmals durch das Themenheft 09/ 2014 von Technology Review über folgende Textüber‐ schriften sichtbar: Die neue Intelligenz im Haus. Sinn und Unsinn des Smart Home; Smart Homes - Wohnen im Computer; Alle reden vom Smart Home, aber was haben wir wirklich davon? ; 58 Ines-A. Busch-Lauer (B) (C) (D) Alles auf Android? Häuser werden smart, bleiben aber etwas kommunikationsscheu - noch ist das Angebot von vielen inkompatiblen Standards geprägt; Feindliche Übernahme. In vielen Smart Homes stehen die virtuellen Türen sperrangelweit offen. Braucht künftig auch die Waschmaschine Anti-Viren-Software? ; Smart genug für Oma? In Hamburg testen Senioren Wohnungen, die lange Eigenstän‐ digkeit bieten sollen. Der Fußboden meldet jeden Sturz, und der Wäschekorb informiert die Reinigung. Smart steht also für ‚intelligent, schlau, vernetzt‘. Die Textbeispiele B-D veran‐ schaulichen die durch smart entstandene Begriffswelt: smart home, smart‐ watch, smart suitcase. Sie eröffnen gleichzeitig einen Blick auf den verwendeten Sprachstil. Die Prozessbeschreibung in (B) ist am Alltag der Rezipienten orien‐ tiert und wirkt dadurch vertraut. Die Smartwatch in (C) wird durch das positiv konnotierte Adjektiv erfolgreich im Kontrast zu totgeglaubt charakterisiert. Textbeispiel (D) nutzt Alltagssprache (auf sich aufpassen, allerlei, das gute Stück, sich selbst einchecken). Wenn es draußen regnet, schließt das kluge Haus die Fenster. Fängt der Bewohner an zu frösteln, schaltet es die Heizung an. Fährt er weg, schließt es Tür und Garage. Smart wird das Haus also. (Technology Review 9/ 2014: 74). Pebble, Wiedergeburt der Smartwatch - Bis heute ist die Smartwatch mit dem E-Ink-Display mit zehn Millionen Dollar Seed-Investorensumme das erfolgreichste Crowdfunding-Projekt aller Zeiten. Das Erstaunliche aber ist, dass sie auch die erste erfolgreiche Smartwatch überhaupt war und das schon totgeglaubte Genre der Wearables neu belebte. (Technology Review, 5/ 2014: 41.) Ein Koffer passt auf sich auf - Der Flugzeughersteller Airbus hat zu‐ sammen mit T-Systems und dem Gepäckhersteller Rimowa einen smarten Reisekoffer entwickelt. Der Bag2Go besitzt allerlei Sensor‐ technik, einen integrierten Minirechner sowie ein Funkmodul samt GPS- Satellitennavigation. Der Besitzer soll stets wissen, wo sich das gute Stück befindet und es per App jederzeit orten können. Ein Display an der Au‐ ßenseite zeigt zudem einen aktuellen Barcode, der schon bei der Buchung vergeben werden kann. Der Koffer kann darüber - oder einen ebenfalls eingebauten RFID-Chip - auch direkt mit Gepäcksystemen an Flughäfen interagieren und sich selbst einchecken, da kein Label mehr ausgedruckt werden muss. (Technology Review 5/ 2014: 17). 59 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR Betrachten wir die Beispieltexte (C) und (D), so fällt auf, dass weitere engli‐ sche Begriffe Eingang in die deutschen Texte gefunden haben: E-Ink-Display, Seed-Investorensumme, Crowdfunding-Projekt, Wearables, Bag2Go, App, Barcode, Display, RFID-Chip, checken, Label. Einige davon sind fest etabliert, so dass sie von der Sprachgemeinschaft nicht mehr als fremd wahrgenommen werden (z. B. Wearable, Crowdfunding, Label, Barcode, Display) und inzwischen Bestandteil der Alltagssprache sind. Die Texte sind sehr umgangssprachlich formuliert, was ihre Verständlichkeit verstärkt und auch eine gewisse Glaubwürdigkeit impli‐ ziert, die Vorbehalten gegenüber neuen technischen Entwicklungen entgegen‐ wirkt. Das exemplarisch vorgestellte Konzept smart zeigt, dass es im Zuge der auf Englisch publizierten technischen Entwicklungen zu einer Übernahme von eng‐ lischen Begriffen und damit zur Anglisierung des Wortschatzes im Deutschen kommt. Smartphone und Smartwatch wurden direkt übernommen und sind Standard. Ob ein Smart Home ein ‚intelligentes‘, ‚schlaues‘ oder ‚vernetztes‘ Haus oder doch nur ein ‚Zuhause‘ ist und eine Smart City die ‚überwachte‘ oder die ‚vernetzte‘ Stadt, wird die Sprachgemeinschaft noch entscheiden (müssen). Wie smart (unübersetzt oder übersetzt) in Zukunft im Deutschen verwendet wird, ist noch nicht klar entschieden. Zumindest ist smart als positiv konno‐ tiertes Adjektiv auch in technischer Hinsicht akzeptabel für die Sprachgemein‐ schaft. Es bleibt allerdings offen, ob dies eine durchgängige Tendenz ist. Eine ähnliche Entscheidung steht z. B. auch für das Internet der Dinge (in deutschen Texten häufig Internet of Things oder abgekürzt: IoT) aus. Artificial Intelligence hingegen konkurriert in den deutschen Texten nicht mit der ansonsten häufig verwendeten Form Künstliche Intelligenz (KI), ebenso werden oft VR und AR anstelle von Virtual Reality und Augmented Reality genutzt. Es ist folglich Auf‐ gabe der Fach- und der Sprachgemeinschaft hier adäquate Verwendungsent‐ scheidungen zu treffen. 3 Online-Texte, ihre Makrostruktur und Stilmerkmale Im folgenden Abschnitt betrachten wir anhand von Beispielen, wie populari‐ sierende Texte, Newsticker und Blogtexte zum Thema ‚smart‘ und ‚Virtuelle Realität‘, aufgebaut sind und durch welche Stilmerkmale sie sich auszeichnen. Textbeispiel (E) ist ein Blogeintrag auf einem Firmenblog und scheint dem Konzept smart gewidmet. Nach einer einleitenden erklärenden Passage des Be‐ griffes offenbart sich die tatsächliche Intention des Autors: Es ist ein Werbetext für das Unternehmen Panasonic, das durch seine Art des Umgangs mit dem Konzept smart im Kontext von Business-to-Business (B2B)-Geschäftsmodellen 60 Ines-A. Busch-Lauer (E) das Unternehmen selbst auf sehr positive Weise als modern und zukunftsori‐ entiert darstellt. Der Text besteht aus 14 relativ kurzen Absätzen. Diese sind so angeordnet, dass der Text am Computer gut lesbar und optisch überschaubar ist. Der als Frage gestaltete Titel zieht die Aufmerksamkeit der Leser auf sich, da smart noch immer ein Schlagwort ist, das zukünftige technische Entwick‐ lungen bestimmen wird. Was heißt eigentlich „smart“? Heutzutage ist fast alles „smart“. Smart Cities, Smart Homes, Smart TVs … Die Liste ist endlos. Das Wörtchen „smart“ ist allgegenwärtig. Es be‐ zeichnet die zunehmende Anzahl vernetzter Technologien, die uns das Leben leichter machen. Da jedoch heute praktisch alles vernetzt ist, verliert der Begriff an Bedeutung. Laut Definition von Gartner beschreibt „smart“ Maschinen, die lernen, sich automatisch anpassen und ihr Verhalten auf das Umfeld einstellen können. Diese Definition von „smart“ geht weit über die reine Internetverbindung hinaus. Aber sind die Geräte, Maschinen und Konzepte, die wir als „smart“ be‐ zeichnen, wirklich so „smart“? Die Verbraucher genießen heute eine Fülle an smarten Technologien. Wir können unser Zuhause aus der Ferne überwachen und per Mobile App Türen, Beleuchtung und Heizung steuern, während Smart TVs mehr und mehr On-Demand-Inhalte bieten und mühelos weitere Apps und Funk‐ tionen integrieren. In beiden Beispielen werden dem Nutzer bessere oder „smartere“ Ent‐ scheidungen ermöglicht. Lässt sich dies auf unsere B2B-Welt übertragen? Wir denken schon. Bei Panasonic haben wir „smart“ neu definiert: „Wenn der Kunde un‐ serer Kunden eine Verbindung mit der Technologie herstellt und diese ihm persönliche Entscheidungen ermöglicht, sodass er letztlich selbst über seine Erfahrung bestimmt“. Zum Beispiel könnte in einer Einzelhandelsumgebung ein LinkRay-fä‐ higes Display im Schaufenster als „smart“ bezeichnet werden. Mithilfe der LinkRay-App können Käufer zu einem Outfit auf dem Bildschirm Infor‐ mationen oder gleich ein Angebot auf ihr Smartphone herunterladen, was sie zu einem direkten Einkauf animiert. Gekoppelt mit Technologien zur Alters- und Geschlechtserkennung lässt sich der Inhalt am Bildschirm auf die jeweilige Person - z. B. After-Shave für den Herrn und Parfüm für die Dame - mit jeweils altersgerechten Marken zuschneiden. Für uns bedeutet das, dass wir den Kunden unserer 61 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR Kunden selbst dann relevante Informationen bereitstellen können, wenn ein Laden geschlossen ist. So werden Schaufensterbummler außerhalb der Öffnungszeiten zu eCommerce-Kunden. Ich denke, dass viele Technologien, wie wir [sic] als Industrie bisher ent‐ wickelt haben, diese Definition von „smart“ nicht bestehen würden. Kos‐ teneinsparung … Ja. Risikominderung … Ja. Aber selbst wenn unsere Kunden erhebliche Vorteile genießen, erreichen wir nicht das Maß an Ver‐ bindung mit den Kunden unserer Kunden, das eine Lösung wirklich „smart“ machen würde. Schließlich steht im Mittelpunkt der geschäftlichen Ziele für viele unserer Kunden ein positives Kundenerlebnis. Niemand weiß das besser als die Bahngesellschaften. Ein Beispiel hierfür sind die zahlreichen Passagierin‐ formationssysteme im britischen Schienenverkehr, die zwar hilfreiche In‐ formationen liefern, aber ausschließlich über diese eine Reise. Ein wirklich „smartes“ System müsste den Kunden jedoch zusätzlich noch personali‐ sierte Informationen über weitere Fahrten im Verlauf ihrer Reise und sonstige nützliche Services liefern, und zwar in Echtzeit auf ihr Smart‐ phone oder ein anderes Endgerät ihrer Wahl. Die B2B-Welt lechzt genauso nach „smart“ wie das B2C-Geschäft. Es reicht nicht mehr aus, technologische Probleme zu lösen und Produkte bereit‐ zustellen, die womöglich einen Bedarf decken. Wenn wir „smart“ in dieser Weise neu definieren, sehen wir, dass unab‐ hängige, oft isolierte Technologien diese Anforderungen nicht erfüllen können. „Smart“ ist nur dann wirklich „smart“, wenn die Technologien über den gesamten Kundenweg harmonisiert und integriert sind. Darin liegt der wahre Mehrwert dieser Technologien für die Unternehmen. Wir bei Panasonic arbeiten eng mit unseren Kunden zusammen, um „smart“ neu zu definieren und schließlich die Unternehmenslösungen der nächsten Generation zu entwickeln, die einen echten, spürbaren Mehrwert für die Kunden unserer Kunden bedeuten. Diese Verbesserungen und die Möglichkeit, dass die Kunden unserer Kunden selbst über ihre Erfahrung entscheiden, sollten die Grundlage für „smarte“ Technologien von heute sein. Wir sind überzeugt, dass ein solcher Ansatz die Integration und Innovation in Zukunft anregen wird. (https: / / business.panasonic.de/ loesungen/ news/ was-hei-t-eigentlich-sma rt/ [letzter Zugriff: 31.01.2019]) Interessant ist die Struktur des Blogeintrags. Der Autor knüpft bereits zu Beginn an das Vorbzw. Nichtwissen der Leser an („smart“ erscheint überall, aber was 62 Ines-A. Busch-Lauer bedeutet das? ) und thematisiert das Verständnisproblem zum Begriff im ersten Absatz durch Bezug auf die Alltagserfahrung der Rezipienten. Dann beginnt er mit einer Erklärung /  Quasi-Definition des Begriffs (ähnlich wie in einem wis‐ senschaftlichen Text zu Textbeginn). Über eine rhetorische Frage zur Umsetzung von „smart“ in der Praxis und der Nennung von Situationen, in denen Verbrau‐ cher smarte Technologien heute bereits nutzen können, geht er - erneut über eine rhetorische Frage - auf die Bedeutung von „smart“ für das Unternehmen Panasonic ein (Lässt sich dies auf unsere B2B-Welt übertragen? Die Antwort: Wir denken schon. leitet zur Werbepassage für Panasonic über: Bei Panasonic haben wir „smart“ neu definiert. Dieser Kontrast soll den Lesern die Innovationsfähig‐ keit des Unternehmens verdeutlichen und wie sich das Unternehmen dadurch von den Wettbewerbern abhebt. Die im Blogeintrag eingebauten Beispiele, z. B. für Einzelhandelskäufe von Kunden (After-Shave für den Herrn und Parfüm für die Dame), machen den Text anschaulich und sensibilisieren die Leser für die beschriebene Problematik. Gleichzeitig wirkt die Darstellung durch Beispiele überzeugend und die Argumentation stringent. Die Sprache ist einfach und leicht verständlich. Es entsteht der Eindruck, dass Panasonic mit den smarten Technologien umgehen kann. Gekonnt umgeht der Autor durch Technologien zur Alters- und Geschlechtserkennung das Thema Gefahr der Verletzung der Pri‐ vatsphäre des Kunden und hebt lediglich die Vorzüge dieser Systeme hervor. Verstärkt wird die Wirkung des Textes durch den Wechsel von der „wir- / uns“- und der „Kundenperspektive“ zur Position des Autors (Ich denke) und seiner Kommentierung des Prozesses in einer Art Selbstgespräch (Kosteneinsparung … Ja. Risikominimierung … Ja.). Schließlich rundet der Blogschreiber seine ein‐ gangs gestellte Frage (nach dem „smarten B2B“) durch einen argumentierenden Kommentar im finalen Absatz des Textes ab. Der Rückgriff auf wir stellt das Unternehmen als Einheit dar, mit der sich der Autor klar identifiziert. Der Absatz verbindet Alltagsstil (lechzt genauso nach, womöglich) mit fachlichen Kontexten („smart“, Kundenweg, Mehrwert) und wirkt nachhaltig durch wiederholende Passagen (in dieser Weise neu definieren, um „smart“ neu zu definieren). Die Aneinanderreihung von kommunikativen Mehrfachfunktionen (Infor‐ mieren, Werben, Kommentieren, Argumentieren und Bewerten) scheint für Blogtexte relativ typisch zu sein, zumindest konnte sie mehrfach im unter‐ suchten Textmaterial, auch in Blogs von Online-Zeitschriften und von Organi‐ sationen, nachgewiesen werden. Zudem sind Passagen mit zitatähnlichem Cha‐ rakter (d. h. es wird durch das Zitat vermeintlich auf eine Person als Referenzquelle Bezug genommen) als Stilmittel für die Meinungsbildung emo‐ tionaler und überzeugender. Dieses auch in Pressemitteilungen genutzte Stil‐ mittel wirkt authentisch und spricht den Leser besonders an. Die Textsorte Blog 63 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR 5 URL: https: / / wissenswerft.net/ das-internet-of-things-ploetzlich-ist-alles-smart/ 6 URL: www.welt.de/ newsticker/ dpa_nt/ infoline_nt/ netzwelt/ article168056137/ Virtuell e-Realitaet-in-der-Forschung-auf-dem-Vormarsch.html [Letzter Zugriff: 31.01.2019]. (F) veranschaulicht den Übergang von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit im Me‐ dium Internet. Die personalisiert anmutenden Äußerungen lassen den Leser den Gedankengang des Autors leicht nachvollziehen, können aber auch Repliken und Kommentare provozieren. Somit entsteht ein Wechselspiel von Interaktion des Bloggers mit einer teilweise anonymen Leserschaft. Die im smart-Textbeispiel (E) vorgestellte Textstruktur (Information - Wer‐ bung - Kommentierung - Argumentation) lässt sich auch in Blogtexten, in denen es z. B. um The Internet of Things  5 oder Virtuelle Realität (VR) 6 geht, ver‐ folgen. Um technisch-wissenschaftliche Konzepte alltagstauglich verständlich zu machen, bedarf es offenbar eines Stilwechsels von der abstrakten, sachlichen, unpersönlichen Darstellungsebene zur bildlichen, emotionalen, persönlichen Darstellung. Fachinterne Inhalte werden auf das Alltagswissen der Leser und ihre persönlichen Erfahrungen gespiegelt. Dies gelingt in den neuen Medien, z. B. auch durch Bilder und Hypertextoptionen, die wiederum in ein Informati‐ onskontinuum von Intertextualität fließen. Die entstehenden Texte tragen den Charakter der Mündlichkeit, u. a. durch Nutzung alltagssprachlicher Redewen‐ dungen. Sie scheinen das Ergebnis eines laut gesprochenen Gedankenmonologs zu sein und wirken dadurch besonders überzeugend. Die sprachlichen Bilder und animierte Episoden komplettieren den Informationstext ebenso wie Meta‐ phern und Beispiele, die das Vorstellungsvermögen des Lesers über die Spiege‐ lung der eigenen Erfahrungen des Autors anregen. Typographische Mittel wie Font, Schriftgröße und Schriftfarbe werden im Internet zudem gezielt als Mittel zur Verstehenssicherung eingesetzt. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden. Das Textbeispiel (F) ist Spektrum der Wissenschaft neo mit dem Titel „Die Welt im Jahr 2050“ entnommen. Dabei handelt es sich um ein Wissenschaftsmagazin für Jugendliche, das in Print- und Onlineversion erscheint. Die Online-Version bietet über eine Abo-Funktion weiterführende Informationen in Form von Vi‐ deos, Webinaren und auch einen Blog zur Interaktion mit den Lesern. Wenn Kühlschränke im Internet surfen Schon heute sind viele von uns pausenlos online. In der Zukunft wird sich das Internet noch stärker in unseren Alltag und in unsere Umgebung ein‐ fügen als bisher. Selbst Haushaltsgegenstände werden dann selbstständig ins Netz gehen! Wer es lustig findet, wenn Menschen heute auf der Straße scheinbar Selbst‐ gespräche führen - weil sie über Kopfhörer und ein kaum sichtbares Mi‐ 64 Ines-A. Busch-Lauer krofon telefonieren -, für den wird es in den nächsten Jahrzehnten noch viel amüsanter: Dann wird es nämlich Leute geben, die in Parks oder am Strand wie wild in der Luft herumfuchteln, als würden sie nach nicht vor‐ handenen Dingen greifen! Diese Leute sind keine Tagträumer, sondern im Internet der Zukunft un‐ terwegs. Sie nehmen gerade in virtuellen Kaufhäusern Waren in die Hand oder besuchen Museen, als wären sie real vor Ort. Experten schätzen, dass Mobilfunknetze schon in 20 bis 30 Jahren schnell genug sein werden, um nicht mehr nur Webseiten auf die Handys der Zukunft zu übertragen, son‐ dern ganze 3-D-Welten. Fragt sich bloß, wie der Internetsurfer die dreidimensionalen Objekte überhaupt sieht, wenn er nur ein Smartphone dabei hat? Dessen kleines Display wird dazu nicht ausreichen - selbst wenn man es in Zukunft viel‐ leicht auf die vierfache Größe auseinanderfalten kann, Viel realistischer wird das 3-D-Erlebnis mit Hilfe spezieller Brillen, in die zwei kleine Pro‐ jektoren eingebaut sind. Die werfen ihr Bild jeweils punktgenau in die Augen. Der Betrachter sieht die virtuellen Welten unmittelbar vor sich, als wären sie echt! Wenn noch eine Gestikerkennung eingebaut ist, ähnlich wie sie heute die Microsoft Kinect-Systeme enthalten, dann kann er auch nach Objekten greifen, sie bewegen und drehen. Mit einem Computer‐ handschuh, der winzige Vibrationen erzeugt, kann er schließlich sogar spüren, wie sich die Dinge anfühlen, die er da in der Hand hält. (Spektrum neo, Die Welt im Jahr 2050: 26). Unter Bezugnahme auf das Vorwissen der potenziellen Adressaten, in diesem Fall das Alltagswissen der Jugendlichen (jeder kennt einen Kühlschrank, jeder surft im Internet), wird in Beispiel (F) durch die Überschrift Wenn Kühlschränke im Internet surfen die Neugier auf den futuristisch anmutenden Text geweckt. Das Futuristische der Textüberschrift wird durch ein sehr buntes Bild rechts der Überschrift verstärkt, das die Küche der Zukunft zeigt. Wie in einer Raumsonde ist die Küchenzeile kreisförmig arrangiert und auf den Arbeitsflächen sind Mo‐ nitore angebracht, die mit dem Internet und untereinander kommunizieren können (auch mit dem Kühlschrank). Solche Bilder sind den Jugendlichen aus Science-Fiction-Filmen durchaus bekannt. Der Text knüpft also mit Bildinfor‐ mation, Typographie und Sprache an die Alltagserfahrung der Jugendlichen an: pausenlos online sein. Dass Haushaltsgegenstände auch selbstständig online gehen können, ist jedoch neu. Dieser Kontrast bildet einen Rezeptionsanreiz im ersten Absatz. Er wird infolge durch Reflexion auf weitere Beispiele aufrecht‐ erhalten. Wie in einem alltäglichen journalistischen Text wird das Interesse des 65 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR (G) Rezipienten geweckt: pausenlos online sein, selbstständig ins Netz gehen, die Be‐ obachtung, dass Leute scheinbar Selbstgespräche führen, versetzt den Leser in die digitale Welt. Bildhafte Ausdrücke, z. B. wie wild in der Luft herumfuchteln, sind stark alltagssprachlich geprägt. Sie leiten über zum Thema virtueller Kauf‐ häuser. Nach diesen amüsant anmutenden Beispielen wird der Text ernst und fasst die bisherigen Informationen zusammen: Diese Leute sind keine Tagträumer, sondern im Internet der Zukunft unterwegs. Einen ‚wissenschaftlichen‘ Rahmen erhält der Text dann durch Experten schätzen und den Fachbegriff 3-D-Welten sowie die Problematisierung der Darstellung von Waren durch spezielle Brillen, die virtuelle Realität ermöglichen. Die Funktionsweise der Brillen und des Com‐ puterhandschuhs werden kurz, aber klar verständlich erklärt. Typographisch interessant ist, dass im gesamten Text das Ausrufezeichen (kursiv) als Stilele‐ ment genutzt wird. Einerseits wird dadurch das Erstaunen über das technisch Mögliche verkörpert (quasi als Ausruf! ) und zugleich der Stolz dargestellt, was technisch bereits möglich ist! Das vorgestellte Beispiel kann als sehr typisch für die Einleitung eines Textes angesehen werden, der sich an jugendliche Adres‐ saten richtet und Innovation im Computerbereich beschreibt. Das Textbeispiel (G) ist dem Newsticker des Portals www.heise.de ent‐ nommen. Es stellt den Nutzen der Virtuellen Realität vor. […] Der Angstschweiß ist echt. Eigentlich steht Moritz Kuhn gerade sicher in einem Keller in Immenstadt im Allgäu. Doch wenn der 20-Jährige nach vorn schaut, blickt er in den Abgrund eines Hochhauses in 160 Meter Höhe - denn er trägt eine VR-Brille. Moritz hat spürbare Angst, nach unten zu fallen - dabei sieht er nur eine Simulation. Rund 30 Prozent der Besucher trauen sich nicht, einen Schritt zur Seite in den Abgrund zu machen, sagt Christian Bendlin. Seit März betreibt der IT- Berater in Immenstadt einen Virtual-Reality-Erlebnisraum. Moritz springt am Ende doch. „Ich war richtig zittrig in den Beinen“, sagt er. […] Auch in der Neurologie wird zu dem Thema geforscht. Schlaganfall-Pati‐ enten kann die Technik helfen. Werden Bewegungen virtuell gezeigt, steuert das Gehirn auch in echt die Muskelpartien an. „Da ist nachge‐ wiesen, dass dadurch die Regionen, die geschädigt sind, wieder aufgebaut werden können“, sagt Mathias Müller. Er ist Geschäftsführer einer Firma, die virtuelle Realitätssysteme entwickelt, und kooperiert mit dem psy‐ chologischen Institut der Uni Würzburg. Dort arbeitet Lehrstuhlleiter Paul Pauli an einer Zulassung für den Einsatz von Virtual Reality am Patienten. 66 Ines-A. Busch-Lauer Denn in den Arztpraxen sei die Technik noch nicht angekommen, sagt Pauli. […] Oft werde vor der Gefahr gewarnt, dass der Unterschied zwischen virtu‐ eller Welt und Alltagswelt verschwimme und sich Spieler in der virtuellen Realität verlieren könnten, meint der Wissenschaftler [Tobias Holischka von der Uni Eichstätt-Ingolstadt; im vorangehenden Absatz eingeführt]. Das hält er aber für überzogen: „Wenn der Magen knurrt oder die Blase drückt, ist sehr schnell klar, in welcher Welt wir zuhause sind.“ (www.heise.de/ newsticker/ meldung/ Virtuelle- Realitaet-in-der- Forschun g-auf-dem-Vormarsch-3813685.html [letzter Zugriff: 31.01.2019]) Auch hier lässt sich das bereits beschriebene Muster der episodenhaften Einlei‐ tung eines popularisierenden Textes verfolgen. Nach einem auffälligen Bild (zeigt einen Nutzer mit rotem Sweater und blauer VR-Brille), das als Leseanreiz dient, beginnt der Text unter der Überschrift Virtuelle Realität in der Forschung auf dem Vormarsch mit einer durch Fettdruck hervorgehobenen Zusammenfas‐ sung (zwei Sätze), die gleichzeitig als Texteinleitung dient. An dieser Stelle können die Leser bereits entscheiden, ob sie weiterlesen möchten oder nicht, denn der (hier ausschnitthaft zitierte) Textkörper beginnt erst unter dem Bild. Damit ein weiterer Leseanreiz geschaffen wird, folgt unter dem Bild eine für VR-Brillennutzer leicht nachvollziehbare Episode. In kurzen Sätzen wird das Szenario (Erfahrung der Angst vor einem tiefen Abgrund durch einen VR-Bril‐ lenträger) beschrieben. Die Authentizität der Schilderung wird durch die direkte Rede der Akteure unterstrichen. Nach der Episodenschilderung wird das Textthema vorgestellt: Es geht um den Virtual-Reality-Erlebnisraum in Immenstadt. Dann folgen kurze Textab‐ sätze, die den Durchbruch der VR-Brillen in verschiedenen Anwendungsfeldern skizzieren; teilweise gibt es Hyperlink-Querverweise zur weiteren Lektüre. Überschriften mit Leseanreiz, wie z. B. Nische vor dem Durchbruch? ; Werkzeug für die Medizin; Helfen dank VR lenken die Leser zu speziellen Themen. Der Abschnitt Helfen dank VR weist auf den Nutzen von VR in der Neurologie hin. Typisch sind wieder kurze Sätze, direkte und indirekte Rede aus (vermeintli‐ chen) Zitaten der Kommunikationsakteure, die auf Ort, Zeit und Geschehen hindeuten. Jeder Absatz weist in sich eine thematische Abgeschlossenheit auf, zeigt aber auch sprachliche Signale der Einbettung in einen Gesamtkontext (Auch in der Neurologie …: Denn in den Arztpraxen sei … noch nicht ange‐ kommen). Diese Art der Berichterstattung ist typisch für allgemeinverständli‐ chen, episodenhaft berichtenden Online-Journalismus: viel Information auf 67 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR (H) wenig Raum andeuten und über Querverlinkung mit mehr Informationen ver‐ sehen. Die Onlinetexte regen durch ihre relative Kürze und die Querverweise dazu an, sich weitere Texte zu erschließen bzw. detaillierte Informationen gezielt zu suchen. Der Text schließt mit der Frage nach der Fähigkeit zur klaren Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt. Die potentiell bestehende Angst wird zu‐ nächst durch wiedergegebene Rede im Konjunktiv thematisiert. Das dann auf‐ geführte Beispiel des knurrenden Magens versucht den Rezipienten die viel‐ leicht durch die Textlektüre aufkeimende Angst vor der Macht der virtuellen Realität zu nehmen und führt sie zurück auf den Boden der Tatsachen. Betrachten wir abschließend die Reaktion von Rezipienten auf den Blogtext. Es wurden fünf Kommentare veröffentlicht. Drei setzen sich besonders mit dem letzten Abschnitt, also der Verwischung von realer und virtueller Welt durch Kinder auseinander. Während ein Kommentar auf eine wissenschaftliche Studie dazu verweist und zu dem Schluss kommt: Bei Kindern ist das nicht so einfach. Sehr sehr heißes Eisen, wird in einer Antwort darauf erklärt, dass VR-Brillen offiziell nicht für Kinder geeignet sind, ohne dass eine entsprechende Quelle genannt würde. Deshalb ist VR sowieso nichts für Kinder - immerhin auch bereits offiziell. Die aktuellen Brillen (also VIVE und Rift) sind ab 12. Das „Phä‐ nomän“ ist kein neues und auch weithin bekannt. Kinder bis ca. 10 haben das Problem, Realität und Fiktion korrekt zu trennen. Weshalb Gruselfilme und brutale Actionkracher auch nichts für die Kleinen sind. Man könnte sagen: Alles wie erwartet. Kinder haben in der VR nix verloren. Die brauchen eben ein paar Jahre, um in der realen Welt anzukommen. (www .heise.de/ forum/ heise-online/ News-Kommentare/ Virtuelle-Realitaet-in -der-Forschung-auf-dem-Vormarsch/ Re-Naja/ posting-30941620/ show/ [Letzter Zugriff: 31.01.2019]) Somit erfüllt sich das Ziel des Blogtextes, zu informieren und gleichermaßen zu einer kritischen Reflexion anzuregen. Der Kommentartext zeichnet sich durch den Charakter eines sonst mündlich geäußerten Statements aus. Das bestätigt indirekt den Übergang von Schriftsprache zu einer schriftlich fixierten münd‐ lichen Äußerung, die in dieser Form nur digital möglich ist. Vergleicht man gedruckte Texte zur Popularisierung von Wissenschaft (z. B. in Wissenschaftsmagazinen) mit online publizierten Texten, so wird - wie ex‐ emplarisch gezeigt - sehr schnell ein Stilwechsel in Richtung Mündlichkeit, Kürze und Anschaulichkeit deutlich. Der Zeitdruck der Redakteure und Blogger, Informationen im Netz dar- oder vorzustellen, scheint zudem dazu zu führen, 68 Ines-A. Busch-Lauer (I) dass Texte auch einen gewissen Flüchtigkeitscharakter erhalten. Was heute ak‐ tuell ist, kann über einen Kommentar bereits morgen nicht mehr relevant sein und von weiteren Entwicklungen zu VR und AR bereits überholt sein. Diese schnelllebige Berichterstattung wird uns auch in den kommenden Jahren weiter begleiten und ist auch Ausdruck von Veränderungen in der popularisierenden Darstellung von Fachinhalten, die teilweise einen oberflächlichen Charakter tragen und dadurch unter Umständen auch unter den Verdacht von Fake News geraten. Eine weitere Möglichkeit, Wissen anschaulich zu vermitteln, ist der ‚persön‐ liche‘ Bericht /  die Erzählung, d. h. Wissen wird über eine wahre /  fiktive Er‐ folgsgeschichte und Zitate eines ‚Wissenspioniers‘, vermittelt. Beispiel (I) ist sehr typisch für dieses oft in englischen Texten verwendete Format, das aber durch die zunehmende Übersetzung von Wissenschaftstexten auch Eingang in die deutsche Vermittlungskultur findet. Nach einer rhetorischen Frage: Was wäre die Welt ohne ‚Star Trek‘? und einer fiktiven Antwort: Möglicherweise eine ohne Mobiltelefone und Trikorder. Und nun kommt vielleicht auch bald noch das Holodeck - dank dem Enthusiasmus eines 20-Jährigen, beginnt die Erzählung: Palmer Luckey ist in der realen und der virtuellen Welt groß geworden. Ob „Star Trek“-Holodecks, die „Matrix“, der Cyberspace aus dem „Rasenmä‐ hermann“ oder Neal Stephensons genreprägender Cyberpunk-Roman „Snow Crash“: „Ich bin mit diesen ganzen Einflüssen aufgewachsen und habe immer davon geträumt, einmal Videospiele mit VR-Technologie spielen zu können“, sagt er. So etwas muss es doch schon geben, dachte sich der junge Luckey. Auf seiner Suche häufte er die mittlerweile weltgrößte Sammlung soge‐ nannter Head-Mounted-Displays (HMD), also Virtual Reality-Brillen, an. Und erkannte dabei: Die VR befand sich in einem erbärmlichen Zustand. „Selbst die Headsets im Profibereich, zu Preisen von mehreren Zehntausend Dollar, boten nicht mal annähernd die Performance, die ich suchte.“ Luckey nimmt die Sache selbst in die Hand, geht an das Institute for Crea‐ tive Technologies der University of Southern California und fängt gleich‐ zeitig in seiner Garage an zu basteln. […]. (Technology Review 2014/ 1, S. 34; www.heise.de/ tr/ artikel/ Aufbruch-ins-Holodeck-2155346.html [Letzter Zugriff: 31.01.2019]) Durch dieses Beispiel wird die ‚Alltagsnähe‘ von Wissenschaft vermittelt (jeder kann ein Forscher werden), zum anderen die Authentizität durch die Geschichte eines ‚Experten‘. Die wörtliche Rede (auch wenn diese vielleicht nur journalis‐ tisch produziert wurde) vermittelt eine relative Glaubwürdigkeit, die sich dann 69 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR 7 Vgl. http: / / textakademie.de/ index.php? id=125f [Letzter Zugriff: 31.01.2019]. auf die technische Beschreibung der Entwicklung von 3-D-Spielen und Daten‐ brillen überträgt. Termini wie Head-Mounted-Display werden bereits als bekannt vorausgesetzt und nicht weiter erläutert. Der Textverlauf nach der Episodenschilderung gleicht einem Wissenschafts‐ artikel, der immer wieder auf Palmer Luckey und seine Erfolge Bezug nimmt. Er folgt in der Beschreibung der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse: Definition von VR, Nutzen und Anwendungsfelder von VR, Beschreibung von Experimenten und deren Ergebnissen. Die vorgestellten Textbeispiele stellen relativ typische Makrostrukturen von popularisierenden Texten aus dem Computerbereich vor. Es wird ersichtlich, dass es in einem - im weitesten Sinn - als Wissenschaftsjournalismus zu ver‐ stehenden popularisierenden Genre darum geht, technische Neuerungen ver‐ ständlich und interessant darzustellen. Es kommt zu einem Stilmix aus Alltagssprache, Fachsprache und Journalismus. Besonders in den digital veröf‐ fentlichten Texten wird ein sehr starker Übergang von Schriftsprache zu Münd‐ lichkeit (z. B. durch episodenhafte Erzählungen) und zu Alltagssprachgebrauch deutlich. Es ist zu vermuten, dass diese Art der Versprachlichung mit der Ver‐ einfachung von komplexen Sachverhalten durch die Suche nach Analogien, Vergleichen und den Lesern vertrauten Situationen zusammenhängt. Makro‐ strukturell wird auch versucht, verschiedene Genres zu vereinen (Bericht, Er‐ zählung, Interview), was eine deutliche Abweichung von der Stringenz einer wissenschaftlichen Abhandlung darstellt und für Stilwechsel auf der Textebene spricht. 4 Fazit Die exemplarische Analyse von Texten, die sich mit wissenschaftlich-techni‐ schen Neuerungen auseinandersetzen, hat zunächst gezeigt, dass neue Tech‐ nikkonzepte (z. B. smart, IoT) und die damit im Zusammenhang stehenden Fach‐ begriffe häufig aufgrund fehlender Übersetzungen direkt aus dem Englischen in deutsche (popularisierende) Texte übernommen werden. Da ihr Begriffsum‐ fang, ihre Definition und ihr Verständnis meist noch einer fachlichen Präzisie‐ rung bedürfen, bleiben sie oft vage und werden auch in Blogtexten zum Gegen‐ stand der Auseinandersetzung. Es gibt derzeit keine klare Tendenz, ob die aus dem Englischen stammenden Fachbegriffe besser übernommen werden sollten oder ob es besser verständnisfördernde Übersetzungen geben sollte. Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, Autoren die von der Textakademie 7 formulierten 70 Ines-A. Busch-Lauer (1) (2) (3) drei Faustregeln für die Verwendung von englischen Wörtern an die Hand zu geben: Verwenden Sie ein englisches Wort, wenn es im Deutschen keinen pas‐ senden Ersatz gibt. Nutzen Sie ein englisches Wort, wenn ihr Produkt global gedacht und ver‐ marktet wird. Setzen Sie nur auf ein englisches Wort, wenn Sie sicher sind, Ihre Ziel‐ gruppe versteht dieses Wort oder kann es - bei Marken und Produktnamen - zumindest richtig aussprechen. Betrachtet man den Textaufbau und die Funktion der untersuchten Texte, lässt sich feststellen, dass sie in der Regel eine kommunikative Mehrfachfunktion erfüllen. Sie liefern Informationen zu neuen Entwicklungen, versuchen zur Ver‐ ständlichkeit von Fachbegriffen beizutragen und aufzuklären, aber werden auch dazu genutzt, indirekt Werbung für eine Entwicklung, ein Unternehmen oder einen Prozess zu machen und diesen entsprechend über Argumentationsketten positiv zu vermarkten. Bei der Darstellung von Neuentwicklungen, die einen komplexen Charakter tragen oder Ängste provozieren (könnten), vollzieht sich in der Regel ein Stilwechsel vom Schriftsprachstil zum mündlichen Kommuni‐ kationsstil, der eine Vielzahl journalistischer Züge trägt: Überspitzte Über‐ schriften, die als Leseanreiz dienen; Bilder, die durch Größe, Abstraktheit, Farb‐ kombination auffallen; reale oder fiktive Episoden und /  oder Interviews, die in direkter /  indirekter Rede wiedergeben werden; veranschaulichende Beispiele, Vergleiche zum Alltag und Verlinkung zu multimedialen Elementen (Anima‐ tionen, Videos) als Zusatzinformationen und Hypertextverknüpfungen. Die zeitnahe Reflexion von wissenschaftlichen Informationen führt zudem zu einer neuen Qualität des (populär-)wissenschaftlichen Austauschs, wobei die Akteure für die sprachlich-stilistischen Veränderungen nicht so stark sensibilisiert zu sein scheinen, was sich z. B. im Gebrauch von Jargonausdrücken und Alltags‐ sprache äußert. In ihrer Summe wirken die Sprach- und Stilmittel auch als Ausdruck von Bildungssprache, d. h. zur Vermittlung zwischen Fachlichem und Alltäglichem. Die im Internet veröffentlichten Blogtexte helfen bei der Rezeption von Fach‐ inhalten, können aber nicht als deren Ersatz dienen, da die teilweise auch ver‐ kürzt dargestellten Informationen zu Halbwissen über Sachverhalte beitragen können. Folglich sind die Leser aufgefordert, das Rezipierte auch kritisch zu hinterfragen und über weitere Informationsquellen den Wahrheitsgehalt in Zeiten der Informationsflut zu überprüfen. 71 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR Die in der forsa-Umfrage (2014) benannten Auswirkungen der Digitalisierung auf die deutsche Sprache scheinen sich durch die exemplarische Analyse der Texte in diesem Beitrag tendenziell zu bewahrheiten. Um reliabel Aussagen treffen zu können, sind jedoch erheblich größere Datenmengen zu untersuchen und ihre Ergebnisse zu dokumentieren. Damit erschließt sich für die Ange‐ wandte Linguistik ein interessantes Forschungsfeld zur Auswirkung von Digi‐ talisierung auf die Sprache und auf Texte sowie das Texten und die Rezeption. Insgesamt ist festzustellen, dass der Facettenreichtum der Kommunikation über Wissenschaft und Technik über Medialisierung, Digitalisierung und auch Kommerzialisierung deutlich gewachsen ist. Es wird daher auch weiterhin Auf‐ gabe des Wissenschaftsjournalismus und der Linguistik sein, diese Prozesse entsprechend zu begleiten und sowohl quantitativ als auch qualitativ zu be‐ werten. Literatur Adamzik, Kirsten 2010: Wissenschaftstexte im Kulturvergleich. Probleme empirischer Analysen. In: Marina Foschi Albert / Marianne Hepp / Eva Neuland / Martine Dalmas (Hg.): Text und Stil im Kulturvergleich. München, 137-153. Auer, Peter / Baßler, Harald (Hg.) 2007: Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frank‐ furt a. M. Berg, Helene 2018: Wissenschaftsjournalismus zwischen Elfenbeinturm und Boulevard. Eine Langzeitanalyse der Wissenschaftsberichterstattung deutscher Zeitungen. Wies‐ baden. Bonfadelli, Heinz / Fähnrich, Birte / Lüthje, Corinna / Milde, Jutta /  Rhomberg, Markus /  Schäfer, Mike S. (Hg.) 2017: Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Wiesbaden. Conein, Stephanie / Schrader, Josef / Stadler, Matthias (Hg.) 2004: Erwachsenenbildung und die Popularisierung von Wissenschaft: Probleme und Perspektiven bei der Ver‐ mittlung von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik. Bielefeld. Enderli, Samuel 2014: Weblogs als Medium elektronischer Schriftlichkeit. Eine system‐ theoretische Analyse. Hamburg. forsa 2014: Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung auf die deutsche Sprache. Ergebnisse einer Befragung von Sprachwissenschaftlern. Berlin. Göpferich, Susanne 1995: Textsorten in Naturwissenschaft und Technik. Pragmatische Typologie - Kontrastierung - Translation. Tübingen. Koskela, Merja 2002: Ways of representing specialized knowledge in Finnish and Swedish science journalism. In: LSP & Professional Communication 2, Heft 1. URL: https: / / rau li.cbs.dk/ index.php/ LSP/ article/ viewFile/ 1942/ 1945 [31.01.2019]. 72 Ines-A. Busch-Lauer Mauranen, Anna 2013: Hybridism, edutainment, and doubt: Science blogging finding its feet. In: Nordic Journal of English Studies 13, Heft 1, 7-36. Meiler, Matthias 2018: Eristisches Handeln in wissenschaftlichen Weblogs. Medienlin‐ guistische Grundlagen und Analysen. Heidelberg. Moss, Christoph / Heurich, Jill-Catrin 2015: Weblogs und Sprache: Untersuchung von linguistischen Charakteristika in Blog-Texten. Wiesbaden. Niederhauser, Jürg 1999: Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermitt‐ lung. Tübingen. Schach, Annika 2015: Advertorial, Blogbeitrag, Content-Strategie & Co. Neue Texte der Unternehmenskommunikation. Wiesbaden. 73 Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR 1 2 2.1 2.2 2.3 3 4 5 6 6.1 6.2 6.3 7 7.1 7.2 7.3 8 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft Zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ulla Fix Gliederung Vorhaben Ludwik Fleck: Denkstil, Denkkollektiv, denksoziale Formen Zum Denkstil Zum Denkkollektiv Zu den denksozialen Formen Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ Diskurslinguistisches Vorgehen: EIN-Text-Diskursanalyse Kommunikationsbereich / Funktionalstil Charakterisierung der Denkkollektive und Denkstile Neoidealismus: Immanente Werkanalyse und Stilistik Strukturalismus: Der Text als strukturelle Einheit Pragmalinguistik: Der Text als kommunikative Einheit Textanalyse Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied Fucks / Lauter: Mathematische Analyse des literarischen Stils Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs Fazit 1 Vorhaben Das Thema des vorliegenden Bandes Stilwechsel und ihre Funktionen in Text‐ sorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation legt neben anderen Ansätzen 1 Nach linguistischem Verständnis: Textsorten. 2 Die Bestimmung ist nicht ganz eindeutig. Spitzer, der Autor eines der hier untersuchten Aufsätze, wird üblicherweise als Literaturwissenschaftler angesehen. Er fordert aber, „daß Sprach- und Literaturforschung nicht getrennt, sondern wenigstens in einer Per‐ sonalunion vereint werden sollten“ (Spitzer 1961: 3). Das sieht er für sich gegeben. Vgl. auch Aschenberg (1984: 113). auch den nahe, sich auf Überlegungen Ludwik Flecks zu Denkstil, Denkkollektiv und denksozialen Formen 1 (Fleck 1980; 1983; 2011) zu besinnen und aus dieser Perspektive den Blick auf den Wechsel von Denk- und damit auch von Sprach‐ stilen zu richten. Das lässt sich z. B. an sprachwissenschaftlichen Texten 2 nach‐ vollziehen, wobei es sich anbietet, Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts zu betrachten, also aus einer nicht so weit zurückliegenden, noch von Zeitzeugen erlebten und bis heute nachwirkenden Periode. Ein solches Vor‐ gehen verspricht zweierlei: Zum einen bedeutet es natürlich einen Gewinn für die Sprachwissenschaft selbst: Man kann einen − wenn auch sehr begrenzten − Einblick gewinnen in die Entwicklung des textsorten- und textstilbezogenen Zweigs der Sprachwissenschaft im genannten, von verschiedenen Denkstilen geprägten Zeitraum und damit wissenschaftsgeschichtliche Aufschlüsse er‐ langen. Zum anderen ergibt sich, indem man den Blick aus der Perspektive von Denkstil und Denkkollektiv auf den Text selbst richtet, diesen also als denk- und sprachstilgeprägte Äußerung betrachtet, auch ein erkenntnistheoretischer Ge‐ winn. Diesem Ansatz will ich folgen. In der mittlerweile vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Fleck’schen Ge‐ dankengut hat das Interesse vorrangig der theoretischen Beschäftigung mit den von Fleck eingeführten Kategorien gegolten. Selten aber hat man sich, soweit ich sehe, der Betrachtung von Texten selbst mit Blick auf deren Denkstilgebun‐ denheit, die sich am typischen Textsorten- und Stilcharakter der Texte zeigen müsste, zugewandt (vgl. Andersen u. a. 2018). Dabei lag und liegt es eigentlich nahe, das Phänomen eines Denkstilwechsels an den Textformen, wie sie für bestimmte Forschungsperioden mit deren Denkstilen typisch sein können, zu verfolgen. Genau das will ich nun versuchen, indem ich mich der Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ zuwende, die auch in der Sprachwissenschaft eine zentrale Rolle spielt. Ich gehe davon aus, dass Veränderungen, die sich im Laufe der Entwicklung der Sprachwissenschaft bei dieser wie bei anderen Textsorten ergeben haben, Zeugnisse von Denkstilwandel sind. In diesem Zusammenhang wird die Fleck’sche Kategorisierung von Textsorten, also von „denksozialen Formen“ (Fleck 1980: 148), im Wissenschaftsbereich eine besondere Rolle spielen. Diese Kategorisierung wird zunächst vorgestellt und durch einen text‐ 76 Ulla Fix 3 Eine vollständige Wiedergabe ist im Rahmen dieses Aufsatzes aus Umfangsgründen leider nicht möglich. linguistischen Blick auf die Kategorien ‚Text‘ (Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘) und ‚Stil‘ (‚Funktionalstil‘) ergänzt. Es folgt als erster, sicher noch unzulänglicher Versuch − der aber immerhin ein Anfang ist − eine knappe Charakterisierung des Denkstils je eines Denk‐ kollektivs aus den Perioden des Neoidealismus, des Strukturalismus und der Pragmalinguistik. Im empirischen Teil des Beitrags soll das zuvor theoretisch Entwickelte am Fall eines wissenschaftlichen Aufsatzes der jeweiligen Periode im Sinne der EIN-Text-Analyse (vgl. Fix 2015) überprüft werden. Die Ergebnisse der textstilistischen Analyse werden - in Auszügen 3 − auf das jeweilige Denk‐ kollektiv und die „denksoziale Form“ des Aufsatzes bezogen. Es handelt sich um drei sprachwissenschaftliche Aufsätze, die man − mit aller Vorsicht − als typisch für eine Denkstilperiode ansehen kann. Es sind: Leo Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied (1960), Wilhelm Fucks /  Josef Lauter: Mathematische Analyse des lite‐ rarischen Stils (1965) und Barbara Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kogni‐ tiven Zugangs (2001). 2 Ludwik Fleck: Denkstil, Denkkollektiv, denksoziale Formen 2.1 Zum Denkstil Fleck prägt „als konzeptionelle Instrumente“, so Schäfer /  Schnelle in ihrer Ein‐ leitung zur Neuauflage, „die Begriffe des Denkkollektivs und des Denkstils. Ersterer bezeichnet die soziale Ein‐ heit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, letzterer die denkmäßigen Voraussetzungen, auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude aufbaut. Dahinter steht das epistemologische Konzept, dass Wissen nie an sich, sondern immer nur unter der Bedingung inhaltlich bestimmter Vorannahmen über den Gegenstand möglich ist.“ (Schäfer /  Schnelle 1980: XXV; Hervorhebungen im Orig.) Der Denkstil, so Fleck, legt fest, was innerhalb des Kollektivs als wissenschaft‐ liches Problem, evidentes Urteil oder angemessene Methode angenommen wird. Was als Wahrheit gelte, könne nur in der „stilgemäßen Auflösung von Pro‐ blemen“ (Fleck 1980: 131) bestimmt werden. Es geht ihm nicht um die Gestalt der Sprache, also den Sprachstil. Nicht die „Färbung der Begriffe“, so sagt er, und ihre Verknüpfung machen den Denkstil aus, sondern „ein bestimmter Denk‐ zwang“ und „das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“ (ebd.: 85). Dieser Zwang evoziert und prägt die wissenschaftlichen Tatsachen. 77 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 4 „Worte, früher schlichte Benennungen, werden Schlagworte; Sätze, früher schlichte Feststellungen, werden Kampfrufe. Dies ändert vollständig ihren denksozialen Wert; sie erwerben magische Kraft, denn sie wirken geistig nicht mehr durch ihren logischen Sinn − ja oft gegen ihn − sondern durch bloße Gegenwart. Man vergleiche die Wirkung der Worte ‚Materialismus‘ oder ‚Atheismus‘, die in einigen Ländern sofort diskredi‐ tieren, in anderen freilich erst kreditfähig machen.“ (Fleck 1980: 59) 5 Zum Beispiel: „In diesem Fall wäre das Leben, d. h. der Stoffwechsel […] nicht die Ver‐ brennung; es fände dann ein symbolisches Bild, z. B. in einem Bach oder Strom.“ (Fleck 1983: 102) Fleck erwähnt in dem Kontext aber auch − wenngleich nicht systematisch − den Gebrauch der Sprache. 4 So heißt es grundsätzlich: „Der Stil wird sich nach außen in einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Institutionen, ähnlicher Klei‐ dung, Häusern, Werkzeugen usw. realisieren“ (Fleck 1983: 170). Im Einzelnen geht es ihm dann z. B. um den Aufbau der Sprache, der schon etwas über den Denkstil aussage (Fleck 1980: 58), um Wörter und ihre Schärfe bzw. Unschärfe (Fleck 1983: 95 ff.), um den Gebrauch als ‚Schlagworte‘ (Fleck 1980: 59), um bild‐ liches Sprechen 5 und vor allem um die Verwendung der Sprache als ‚Wissen‐ schafts-‘ oder ‚Populärsprache‘ (vgl. ebd.: Kap. 4.4). Hier knüpfe ich an: Fleck zeigt am Sprachgebrauch, besonders an dem der Wissenschaftssprache, den Einfluss, den sprachliche Zeichen auf das Denken und die Herausbildung von Denkkollektiven haben können. An dieser Stelle kommt nun die Kategorie ‚Denkkollektiv‘ als „soziale Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches“ (Schäfer /  Schnelle 1980: XXV) ins Spiel. Den Denkstil, so heißt es, „cha‐ rakterisieren gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv in‐ teressieren, […] Urteile, die es als evident betrachtet, […] Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet“ (Fleck 1980: 130). Weiter: „Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems“ (ebd.). Diese Er‐ kenntnis hat Fleck aus der Beobachtung seiner eigenen Forschungstätigkeit, vor allem bei der kollektiven Arbeit im Labor, gewonnen. So kommt er zu der Auf‐ fassung, dass jede wissenschaftliche Tatsache ein historisch und kulturell be‐ dingtes Phänomen sei und nicht einfach vorliege, sondern sich aus unterschied‐ lichen Diskursen ergebe. Fazit: Denkstile sind zeittypisch und kulturell-sozial geprägt - als Denk- und Sprachformen, über die Kollektive in einer bestimmten Zeit verfügen. Zum wissenschaftlichen Denkstil gehören „eine gewisse formelle und inhaltliche Abgeschlossenheit, […] manchmal besondere Sprache, oder we‐ nigstens besondere Worte“, die „formal, wenn auch nicht absolut bindend, die Denkgemeinde ab[schließen]“ (ebd.: 136). 78 Ulla Fix 6 Es wird nicht ganz klar, ob Fleck referiert wird oder Möller‘sche Gedanken wiederge‐ geben werden. In beiden Fällen sind sie überzeugend. 2.2 Zum Denkkollektiv Wissenschaftliches Denken ist also nach Fleck mehrfach bestimmt: erstens durch die soziale Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, zweitens durch die sich daraus ergebende kollektiv bestimmte Sicht auf die Probleme sowie deren Darstellung und drittens durch die Umstände der Zeit, in der das Kollektiv agiert. Nicht übersehen werden darf, dass ein Denkkollektiv für Fleck nicht eine „fixe Gruppe oder Gesellschaftsklasse“ ist, sondern ein „sozusagen mehr funktioneller als substantieller Begriff, dem Kraftfeldbegriff der Physik z. B. vergleichbar“ (Fleck 1980: 135). Ein Denkkollektiv kann von geringerem oder größerem Umfang sein und bereits dann entstehen, „wenn zwei oder meh‐ rere Menschen Gedanken austauschen“ (ebd.). Dies sind dann „momentane, zu‐ fällige Denkkollektive, die jeden Augenblick entstehen und vergehen“ (ebd.). Daneben aber „gibt es stabile oder verhältnismäßig stabile: sie bilden sich be‐ sonders um organisierte soziale Gruppen“ (ebd.; Hervorhebung im Orig.). Hierzu gehören zweifellos die Kollektive von Wissenschaftlern. In Gruppen von Wissenschaftlern als (relativ) stabilen Denkkollektiven verfestigt sich ein Denk‐ stil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sach‐ lichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (ebd.: 130). Stabile Denkkollektive bilden einen spezifischen Denkstil mit zum Teil spezifischen Wörtern und tech‐ nischen Termini aus. „Stabilisiert sich ein Denkstil über Generationen hinweg, wird dieser innerhalb des Denkkollektivs durch Schulung, Erziehung und be‐ sondere Zeremonien der Aufnahme […] an die nachfolgenden Generationen weitergegeben“ (Möller 2007: 399; Hervorhebungen U. F.). 6 Bei Fleck spielt das Horizontale, das Nebeneinander der Denkkollektive die bestimmende Rolle, während die vertikale Über- und Unterordnung von Denkkollektiven für ihn weniger präsent zu sein scheint. Sicher muss man aber auch diese hierarchische Ordnung einbeziehen, die mit Blick auf den Denkstil zu Stufen von Kollektivität führt. Je nachdem auf welcher Ebene man sich befindet, wird der Grad der kol‐ lektiven Zusammengehörigkeit und damit die Übereinstimmung im Denkstil und der Bestand der gemeinsamen Denkfiguren und Argumentationsmuster größer sein. Blickt man auf die hier vorgestellte Hierarchie der Geisteswissen‐ schaften, so wird klar, dass sich die Denkkollektive auf unteren Ebenen (4, 5) bilden. Hier vollzieht sich Denkstilwandel. Daran wird anzuknüpfen sein. 79 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft (1) Wissenschaft │ (2) Geisteswissenschaften │ (3) Sprachwissenschaft │ (4) Sprachtheorie, Grammatik, Stilistik u. a. │ (5) Richtungen innerhalb der Teildisziplinen 2.3 Zu den denksozialen Formen Auch innerhalb eines Denkkollektivs findet man Hierarchisierung: Fleck un‐ terscheidet hier einen esoterischen (inneren) und einen exoterischen (äußeren) Kreis. „Dabei entspricht der esoterische Kreis der Elite eines Denkkollektivs. Dies sind die ‚Eingeweihten‘, die für das Fortentwickeln des Wissensbestandes durch Diskussion und Veröffentlichungen von Bedeutung sind. Entsprechend gehören relativ wenige Personen diesem Kreis an. Im Gegensatz dazu bildet die Mehrheit eines Denkkollektivs den exoterischen Kreis. Hierzu gehören die Laien und die MitläuferInnen. Sie haben ihre Bedeutung in der Annahme des vom esoterischen Kreis veröffentlichten Wissens und in dessen Bewertung.“ (Brühe /  Theis 2008) Bei dieser Unterscheidung nach Kreisen von Denkkollektiven hat Fleck auch deren denksoziale Formen − in der linguistischen Terminologie die ‚Textsorten‘ − im Blick, die dem jeweiligen Publikum auf unterschiedliche Weise Wissen vermitteln. Die Textsorten wissenschaftlichen Denkstils, mit denen Fleck sich befasst hat, sind ‚Zeitschriftenartikel‘, ‚Handbuch‘ und ‚populäre Wissenschaft‘ (Fleck 1980: 148). Die ‚Zeitschriftwissenschaft‘ und die ‚Handbuchwissenschaft‘ bilden nach Fleck die denksozialen Formen des esoterischen Kreises. Ihre Inhalte sind für den Rest der Gesellschaft kaum verständlich. Erst durch die ‚populäre Wissenschaft‘ wird der exoterische Kreis der „allgemein gebildeten Dilettanten“ (ebd.) erreicht. Die Zeitschriftwissenschaft, sagt Fleck, trägt „das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen“ (ebd.: 156). Das heißt, der Autor befindet sich noch im Prozess der Erkenntnis. Für alles ist er allein verantwortlich. Nicht alles ist schon abgesichert. Vielmehr: Nichts wird je völlig abgesichert sein. Das äu‐ ßert sich u. a. in der Vorsicht bei Formulierungen. „Fast immer“, so Fleck, will der Autor „seine Person verschwinden lassen“ (ebd.: 157), indem er sich unper‐ sönlich ausdrückt. Zur Zeitschriftwissenschaft gehören die Texte, die in diesem Aufsatz betrachtet und von denen drei analysiert werden. Es zeigt sich u. a. in 80 Ulla Fix den Arbeiten von Brommer (2018) und Klammer (2017), dass diese Haltung auch heute noch gilt. Bei Fleck heißt es: „Die Zeitschriftwissenschaft trägt […] das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen […] Hierzu gehört […] die spezifische Vorsicht der Zeitschriftarbeiten; sie ist er‐ kennbar an den charakteristischen Wendungen wie: ‚ich habe nachzuweisen ver‐ sucht, daß …‘‚ ‚es scheint möglich zu sein, daß…‘, oder auch negativ: ,es konnte nicht nachgewiesen werden, daß …‘ […] Das zweite Merkmal, das Persönliche der Zeitschriftwissenschaft, steht in gewissem Zusammenhange mit dem ersten. Die Fragmentarität der Probleme, Zufälligkeit des Materials (z. B. Kasuistik in der Medizin), technische Einzelheiten, kurz die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser. Dessen ist sich jeder Forscher bewusst und fühlt zugleich das Persönliche seiner Arbeit als ihren Fehler“ (Fleck 1980: 156 f.; Hervorhebungen im Orig.). Anders ist das in der Handbuchwissenschaft, die eine „kritische Zusammenfas‐ sung“ gesicherten Wissens vieler Forscherpersönlichkeiten „in ein geordnetes System“ verlangt, d. h. hier muss nicht mehr zögernd und abwägend geschrieben werden, sondern der Duktus kann, ja soll sicher und bestimmt sein. Termini werden festgelegt und verbindlich gemacht. „Aus der vorläufigen, unsicheren und persönlich gefärbten, nicht additiven Zeit‐ schriftwissenschaft, die mühsam ausgearbeitete, lose Avisos eines Denkwiderstandes zur Darstellung bringt, wird in der intrakollektiven Gedankenwanderung zunächst die Handbuchwissenschaft.“ (Fleck 1980: 157 f.) „Die entstandenen Begriffe werden tonangebend und verpflichten jeden Fachmann: aus dem vorläufigen Widerstandsaviso wird ein Denkzwang, der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird.“ (ebd.: 163) In populären Darstellungen dagegen geht es um „[v]ereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft“ (ebd.: 149), um die zweifelsfrei erscheinende, an den exoterischen Kreis gerichtete Darstellung von Wissen. Charakteristisch sei, dass hier nicht strittige Meinungen gegeneinander gehalten werden, son‐ dern dass „eine künstliche Vereinfachung“ (ebd.) erreicht werden muss, die nicht der Einführung in die Wissenschaft entspricht. „Gewöhnlich [besorgt nämlich] nicht ein populäres Buch, sondern ein Lehrbuch die Einführung“ (ebd.). Fol‐ gende Merkmale gibt Fleck außerdem für die an exoterische Kreise gerichtete Darstellung an: „künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung“ und „apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte“ (ebd.). 81 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 7 „Aus dieser Einschätzung spricht ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der natür‐ lichen Sprache, die als dunkel und zweideutig und damit letztlich als erkenntnishin‐ dernd erscheint.“ (Drescher 2003: 56) 8 Im Neoidealismus mit dem großen Stellenwert, der dort dem Individuum zukommt, sieht das etwas anders aus (vgl. Kap. 7.1 zu Spitzer). 9 Die Tendenz zu einer Änderung des Stils der Zeitschriftenaufsätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften hin zum Persönlicheren und Direkteren sei angemerkt. Es lässt sich fragen, ob das auf den Einfluss englischsprachiger Wissenschaftstexte zurückzu‐ führen ist. Was Fleck hier entwickelt, deckt sich auf verblüffende Weise mit dem, was wir heute zu Sprachgebräuchen in den Wissenschaften feststellen. Als Beispiel sei das wohl unreflektiert befolgte Stilprinzip der Geistes- und Sozialwissen‐ schaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für wissenschaftliche Texte genannt (vgl. dazu Fix 2014). Es lautete: weg von der ‚schönen‘, anschaulichen, metaphorischen, eleganten, auch subjektiven Sprache wissenschaftlicher Dar‐ stellungen, hin zu rationaler, eindeutiger, sachbezogener, expliziter, konsis‐ tenter, ökonomischer, entpersönlichter Sprache. In Anlehnung an Kretzenba‐ cher (1994) spricht Drescher (2003: 56) in dem Zusammenhang vom ‚Ich-Tabu‘, ‚Erzähl-Tabu‘ und ‚Metaphern-Tabu‘. Die Sprache und damit der Autor sollen ganz hinter den Gegenstand zurücktreten. Damit wird Wissenschaft aufgefasst „als ein vom historischen, sozialen und kulturellen Umfeld sowie vom Subjekt und seinem Erleben entbundener Raum. Dies lässt sich auch auf ihre [die der Wissenschaft, U. F.] sprachlichen Ausdrucksformen übertragen, denn aus dem geltenden Wissen‐ schaftsverständnis, das Objektivität als höchstes forschungsleitendes Prinzip ansetzt, ergibt sich unmittelbar die Forderung nach einer […] rationalen und sachbezogenen Sprache.“ (Drescher 2003: 55) Vereinfacht könnte man diese Eigenschaften als Stilmerkmale des auch gegen‐ wärtig noch vorherrschenden Gruppenstils der Geistes- und Sozialwissen‐ schaften in Deutschland betrachten. 7 Bezieht man Textsorten ein, d. h. spezifi‐ ziert man seinen Blick, wird die Sache komplizierter, aber − mit Fleck − auch wieder einfacher; denn die von Drescher beschriebene Situation trifft tatsächlich auf Zeitschriftenbeiträge 8 völlig zu, nicht aber auf Handbuchliteratur. Unter‐ suchte man erstere nach ihrem Stil, fände man in vielen Fällen eine Situation vor, die sich nach wie vor mit Flecks Beschreibung deckt. 9 Es zeigt sich, dass es sich lohnen würde, diese Auffassung in Beziehung zu setzen zu dem kulturell und sozial bestimmten Wissenschafts- und Denkstil-Begriff von Fleck. Woran sich ein eher objektiver oder subjektiver Stil, ein esoterischer oder exoterischer sprachlich festmachen lässt, kann die Sprachwissenschaft zeigen. Was haben 82 Ulla Fix 10 Vgl. hierzu den Überblick in der Arbeit von Brommer (2018: 61-85). Textlinguistik und Stilistik zur Wissenschaftssprache, speziell zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ zu sagen? 3 Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ Ebenso wie Fleck betrachtet die Textsortenlinguistik Texte als soziokulturelle Phänomene, als Instrumente der Bewältigung lebensweltlicher Probleme. Es ist aus beider Sicht gleichsam lebensnotwendig, dass Kultur- und Kommunikati‐ onsgemeinschaften mit ihren Textsorten über Handlungsmuster verfügen, mit deren Hilfe sie auf die Wirklichkeit zugreifen, sie gestalten und bewältigen können. So gibt es Textsorten, die der Lösung lebenspraktischer Probleme dienen, und es gibt solche, die für die emotive Bewältigung von Lebenssitua‐ tionen (Trauer, Freude) geeignet sind, sowie andere, die die reflexiv-rationale Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, also die Wissenschaft, ermöglichen. Bedingung für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und den Austausch darüber ist, dass es kollektiv vereinbarte Textmuster mit ihren Gestaltungs- und Verbreitungsformen gibt, wie z. B. den wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsatz, die Thesen zu einer wissenschaftlichen Arbeit, das Abstract, die Monographie, die Disputation - Textsorten, die eben der reflexiv-rationalen Auseinanderset‐ zung mit der Wirklichkeit dienen. Im Anschluss an Berger /  Luckmann (1966) hat Adamzik mit der Einführung der Kategorie der ‚Welt‘ im Sinne von „Be‐ zugswelt als Referenzsystem“ (Adamzik 2016: 116) eine grundsätzliche Klärung für den Umgang mit Texten herbeigeführt, indem sie die verschiedenen Welten, in denen Texte gebraucht werden und „in der die Interaktanten sie situieren“ (ebd.: 114), benennt und erörtert. Es sind die ‚Standardwelt‘, ‚Welt des Spiels /  der Fantasie‘, ‚Welt der Sinnfindung‘, ‚Welt des Übernatürlichen‘, ‚Welt der Wissen‐ schaft‘. Wir haben es in unserem Fall mit der Welt der Wissenschaft zu tun. Textsorten existieren zunächst unhinterfragt, als lebensweltliche Selbstver‐ ständlichkeit mit ihrer typischen Form, mit ihrem vereinbarten Weltbezug und mit ihrer Funktion - immer gebunden an eine Gemeinschaft, sodass sich ihre Spezifik auch immer nur aus der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft mit ihrer bestimmten Kultur erschließen lässt. Selten werden sie einmal reflektiert: Die Fachsprachenforschung wie die Wissenschaftstheorie und -geschichte und an‐ satzweise die Textlinguistik und -stilistik aber tun das. 10 Durch die analytische Erfassung der Textsorten und ihrer Stile wird deutlich, über welche Möglich‐ keiten der praktischen wie reflexiven kommunikativen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wir verfügen. Hier knüpfe ich wieder an Fleck an. Seine Be‐ 83 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 11 „Bei den zugehörigen Textexemplaren handelt es sich um informierende wie auch per‐ suasive Texte, die thematisch auf das jeweilige Fachgebiet bezogen der fachinternen Experten-Kommunikation dienen. Die Texte sind aufgrund der limitierten Textlänge auch vom inhaltlichen Umfang beschränkt und werden typischerweise in einer Fach‐ zeitschrift veröffentlicht (print oder online), finden sich aber auch in Sammelbänden oder Handbüchern“ (Brommer 2018: 75). schreibung des Denkstils, z. B. in der Zeitschriftwissenschaft als „Gepräge des Vorläufigen“ und „Vorsichtigen“ (Fleck 1980: 156), lässt sich auf Textsortenstile und deren Traditionen übertragen. Aus welchem Grunde konzentriere ich mich auf die Textsorte ‚wissenschaft‐ licher Aufsatz‘? Die Antwort liegt zum einen in Flecks Charakterisierung dieser Textsorte, die zeigt, dass das Schreiben von Aufsätzen den Kern wissenschaft‐ lichen Arbeitens ausmacht (s. o.). Zum anderen finde ich in der induktiven kor‐ puslinguistischen Analyse Brommers (2018), die jüngere wissenschaftliche Texte hinsichtlich ihrer sprachlichen Musterhaftigkeit untersucht und dabei dem wissenschaftlichen Aufsatz den zentralen Platz einräumt, 11 eine aktuelle linguistische Bestätigung der zentralen Rolle des wissenschaftlichen Aufsatzes, wie sie Fleck darstellt. Es heißt bei ihr: „Ziel [des wissenschaftlichen Aufsatzes] ist das Verbreiten von neuem Wissen und das Überzeugen der Wissenschaftsgemeinde. Dies unterscheidet den wissenschaftli‐ chen Aufsatz bspw. von der bewertenden Rezension, von dem vorhandenes Wissen ordnenden und zusammenfassenden Handbuchartikel, aber auch von allen didakti‐ sierenden Textsorten wie dem Lehr‐ oder Einführungsbuch, bei denen die Vermittlung des vorhandenen Wissens im Vordergrund steht.“ (Brommer 2018: 72) „[…] mit Blick auf die verschiedenen Realisierungsformen der wissenschaftlichen Kommunikation [lässt sich] festhalten, dass vor allem dem wissenschaftlichen (Zeitschriften‐)Aufsatz ein hoher Stellenwert im Wissenschaftsdiskurs zukommt, der sich auch in dem ihm entgegengebrachten Interesse zeigt. Denn im Allgemeinen wird neues Wissen zuerst in einer Zeitschrift publiziert, von Sammelbänden und Lehrbü‐ chern wird dies nicht gleichermaßen erwartet (vgl. Graefen 1997: 100) - auch wenn sich die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen in diesem Punkt (nach wie vor) unter‐ scheiden“ (ebd.: 34). „Hinsichtlich der Kommunikationsteilnehmer ist der wissenschaftliche Aufsatz der Experten‐Kommunikation zuzurechnen. Er dient der Information und dem Austausch unter Fachkollegen oder mit Kollegen verwandter Wissenschaftsgebiete. ‚Wissen‐ schaftlicher Aufsatz‘ meint also genauer ‚akademisch‐wissenschaftlicher Aufsatz‘.“ (ebd.: 73) 84 Ulla Fix 12 In diesem Abschnitt verwende ich Passagen aus Fix (2015). 13 Diskursstilistik wird als ein Teil der Diskurslinguistik verstanden (vgl. Spitzmüller 2013). 14 Damit soll die Existenz grundsätzlicher Intertextualität, also die zwangsläufigen Bezie‐ hungen zu (vielen) anderen Texten, in denen sich jeder Text befindet, nicht in Zweifel gezogen werden. 4 Diskurslinguistisches Vorgehen: EIN-Text-Diskursanalyse 12 Mein Vorgehen, drei einzelne Aufsätze als Repräsentanten dreier Denkstile zu betrachten, wirft natürlich Fragen auf. Vor allem die, ob man einen Einzeltext zum Gegenstand von Analyseverfahren für Texte machen kann, die repräsen‐ tativ für eine ganze Wissenschaftsrichtung stehen sollen. Wie kann man durch die diskursstilistische 13 Analyse eines einzelnen Textexemplars zu verallgemei‐ nerbaren Ergebnissen kommen wollen? Meine Überlegung dazu: Ein Einzeltext kann dann als selbständige Erscheinung Gegenstand der Diskursstilistik sein, wenn er genügend zentral, d. h. von exemplarischer Bedeutsamkeit ist. Also dann, wenn er allein schon eine gesellschafts- und wissenskonstituierende Funktion erfüllt (vgl. Warnke 2003). 14 Es geht um Texte, die in sich selbst bereits eine so ausgeprägte intertextuelle ,Ladung‘ aufweisen, dass es in solchen Fällen gerechtfertigt scheint, das Erkenntnisinteresse von der Menge der Texte auf den Einzeltext und auf seine Geschichte zu verlagern, z. B. auf Zeitgebundenheit, Urheberschaft, Entstehung, Verbreitung, Intention, Rezeption und Form. Während man bei der Untersuchung von Textmengen, besonders bei Korpus‐ untersuchungen, in die Breite geht (vgl. Brommer 2018), sendet man bei der Betrachtung eines Einzeltextes eine Sonde in die Tiefe. Wie kommt man zu ex‐ emplarischen Texten? Zwei Möglichkeiten sind denkbar. Die erste ist das Aufgreifen eines Schlüsseltextes als repräsentativer exempla‐ rischer Text. Verdichtet ist in einem solchen alles (ansatzweise) schon da, was die Leistung von Textmengen ist. Er trägt in sich selbst einen umfassenden „kommunikativen Zusammenhang“, wie ihn sonst eine Menge „singuläre[r] Texte auf der Diskursebene“ (Warnke 2002: 136 f.) herstellt. Man kennt aufgrund des eigenen Weltwissens, der eigenen Lektüre-Erfahrung exemplarische Texte von unumstrittenem Gewicht. Zu denken ist hier z. B. an Verfassungstexte, an programmatische philosophische und politische Texte sowie an wissenschaft‐ liche und publizistische Texte, die in der gesellschaftlichen Diskussion einen besonderen Stellenwert haben und im allgemeinen vortheoretischen Ver‐ ständnis Schlüsseltexte genannt werden. Das heißt also, man findet einen a priori als exemplarisch zu verstehenden Text, der in einem gesellschaftlichen, politi‐ schen, historischen, kulturellen Zusammenhang von Bedeutung ist. 85 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 15 Es fehlen u. a. die Funktionalstile der Religion und des Spiels. Die zweite Möglichkeit, einen exemplarischen Text zu finden, ist das Dekla‐ rieren eines beliebigen Textes zum exemplarischen Fall, zum Repräsentanztext. Man sucht also nicht nach einem vorher schon von der Diskursgemeinschaft als besonders bedeutsam aufgefassten Text, sondern greift nach eigener Entschei‐ dung einen Text heraus. Man ,macht‘, man ,definiert‘ seinen exemplarischen Text selbst, indem man ein Textexemplar auswählt und als exemplarisch be‐ trachtet − als Zeugnis dessen, was in einer Textwelt vorliegt und möglich ist. Man erfährt auf diesem Wege zwar nicht wie bei den als Schlüsseltexten vor‐ gefundenen Äußerungen, was zur vermeintlichen Leitkultur der Gesellschaft gehört, aber man erkundet einen gesellschaftlich möglichen Fall. Der Reprä‐ sentanztext, z. B. eine politische Rede oder ein Zeitungskommentar, lässt Auf‐ schlüsse darüber zu, wie Einzelne oder wie Kollektive Wirklichkeiten sprach‐ lich-diskursiv bewältigen. Im vorliegenden Text sind es drei nach bestimmten Kriterien (s. u.) ausgewählte wissenschaftliche Aufsätze. Bei der Betrachtung dieser Texte wird sich zeigen, dass auch sie für ihre jeweilige Kultur von Be‐ deutung sind, wenngleich sie nicht das Gewicht eines Schlüsseltextes haben. Auch bei der Analyse solcher Texte erkundet man, indem man alle Textzusam‐ menhänge erschließt, die Zeitgebundenheit, die aktuelle Einbettung dieser Texte und der mit ihnen in direkter Beziehung stehenden und legt damit diskurslin‐ guistisch Relevantes offen. 5 Kommunikationsbereich / Funktionalstil Stil und Text gelten mittlerweile über die eigenen Bereiche − Stilistik und Textlin‐ guistik − hinaus als diskurslinguistisch relevante Phänomene (vgl. Spitzmüller 2013; Fix 2018). Wie aber kommt man mit einer linguistischen Analyse der sprachlichstilistischen Bewältigung gesellschaftlicher Wirklichkeit auf die Spur? Wie voll‐ zieht man also eine dem Anliegen gerecht werdende Text-Stil-Analyse? Mit der Betrachtung von Kommunikationsbereichen bzw. Funktionalstilen hatte man schon frühzeitig (Riesel /  Schendels 1975; Fleischer /  Michel 1975), wenn auch nur ansatz‐ weise und unscharf, die ‚Welten‘ (Adamzik 2016) bzw. den „kommunikativen Zu‐ sammenhang singulärer Texte auf der Textebene“ (Warnke 2002: 136) im Blick. Das hat Analyseinstrumentarien hervorgebracht, die bis heute nutzbar sind. Trotz aller Einschränkungen − zu grobe und noch unvollständige Einteilung, zu wenig diffe‐ renzierte Kriterien 15 − bieten sie doch einen geeigneten Ansatz, so dass ich mich auf Erkenntnisse der Funktionalstilistik beziehen kann. Für sie gilt als grundlegend, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem 86 Ulla Fix 16 Ob auch das „Überzeugen der Wissenschaftsgemeinde“ (Brommer 2018: 72) zum Dominie‐ renden in wissenschaftlichen Aufsätzen gehört, ist für mich noch offen. 17 Für das Folgende vgl. Fix u. a. (2003). Hier böte sich die Bezugnahme auf die Kategorien der Fein- und Grobklassifikation von Brommer (2018: Kap. 6) an, die aus Platzgründen aber unterbleiben muss. (Kommunikationssituationen, Tätigkeitsbereiche, gesellschaftlich relevante Funk‐ tionen) und sprachlichen Gebrauchsweisen (typische Verwendungsweisen sprach‐ licher Mittel). Praktikabel ist die funktionalstilistische Einteilung der sprachlichen Wirklichkeit nach der Art der außersprachlichen Korrelationen in fünf Funktionals‐ tile: Stil der öffentlichen Rede, Stil der Wissenschaft, Stil der Presse und Publizistik, Stil der Alltagsrede und Stil der schönen Literatur. Diese sind in Substile aufgefä‐ chert − so der Funktionalstil der Wissenschaft in Stil der Wissenschaft im engeren Sinne, Stil der populärwissenschaftlichen Darstellung und Stil der Wissensvermitt‐ lung im Unterricht. Die Funktionalstile selbst sind durch determinierende Stilzüge und Stilelemente gekennzeichnet. Mit Stilzug ist gemeint, dass Stilelemente aller Sprachebenen zusammen wirken, um dem Text einen für die Funktion des jewei‐ ligen Kommunikationsbereichs typischen Charakter zu verleihen. Mit Stilelement werden die sprachlichen Mittel jeglicher Ebenen erfasst, die einem stilistischen Wollen, d. h. einem Stilzug folgen. Als Stilzüge der Wissenschaft werden angesetzt: abstrakt, objektiv, sachlich, differenziert, folgerichtig, klar, genau, dicht, unpersönlich. Ob und inwiefern diese Kategorien bei den folgenden Textanalysen hilfreich sein können, wird sich zeigen. Wir haben es mit drei wissenschaftlichen Aufsätzen, also mit dem Funktionalstil der Wissenschaft, zu tun. Hier dominieren Erkenntnisver‐ mittlung und Erkenntnisfindung. 16 Es werden nun Stilzüge des Funktionalstils der Wissenschaften mit typischen Stilelementen kurz vorgestellt. 17 • Abstraktheit (Darstellung gedanklichen Gehalts ohne sinnliche An‐ • schauung und Darstellung von Verallgemeinertem unter Absehung von Einzelfällen): abstrakte Substantive, deren Wesen es ist, nichtgegenständliche Erschei‐ nungen zu bezeichnen, wie z. B. Erkenntnis, Problem, Fragestellung; Termini, da sie verallgemeinern und von unwesentlichen Merkmalen absehen, z. B. Texttyp, kognitionslinguistisch, Abstraktum. Für den Stilzug der Abstraktheit kann auch das gänzliche Fehlen von Elementen wie etwa differenzierender Attribute und anschaulicher Wörter von Bedeutung sein. • Objektivität (Darstellung ohne Stellungnahme des Textproduzenten): • alle Mittel unpersönlicher Ausdrucksweise wie Funktionsverbgefüge (s. o.); Sätze mit einem sachlichen Subjekt (und einem persönlichen Dativobjekt): Das Argument ist nicht stichhaltig. Das Argument leuchtet der Verfasserin 87 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft nicht ein; Vermeidung der ersten Person: Verfasser meint, dass …; Gebrauch des Indefinitpronomens man: Man muss sich nun folgende Frage stellen …; Modale Infinitive: zu untersuchen sein, zu berücksichtigen haben; Passiv‐ konstruktionen: das Problem wird in Angriff genommen • Sachlichkeit (Darstellung ohne Wertung): • überwiegend Verzicht auf Mittel der Emotionalität und Expressivität, mit Ausnahme der Fälle, in denen eine Aussage relativiert werden soll; Ver‐ wendung von Mitteln, die dem Ausdruck von subjektiven Einstellungen dienen, dann aber in knapper und neutraler Form: nach meiner Auffas‐ sung, nach Meinung des Verfassers, meines Erachtens / m. E., soweit ich sehen kann … • Differenzierung (nach Bestimmtheitsgrad der Aussage) (s. o.): • Mittel, die der Graduierung dienen, z. B. es ist anzunehmen, vermutlich, in der Regel, kann man mit Einschränkung sagen, es ist nicht sicher, eventuell • Folgerichtigkeit (Mittel zum Ausdruck von Kausalität und Finalität): • z. B. Konjunktionen wie weil, deshalb, um zu; Adverbien wie dann, darauf; Tempusstruktur des Textes; Wendungen wie aus diesem Grunde, nicht zuletzt deshalb, weil; Mittel der Gliederung des Textes: z. B. Kapitel- und Abschnittseinteilung, Nummerierung; auch lexikalische Mittel wie einerseits - andererseits im mikrostrukturellen Bereich - oder die Formu‐ lierung von Überschriften im makrostrukturellen Bereich, die der Ver‐ deutlichung halber oft parallel gebaut sind • Klarheit (Nachvollziehbarkeit): • z. B. Termini, da sie eindeutig sind (s. o.); Gliederung, da sie eine Übersicht vermittelt; Mittel der Folgerichtigkeit (s. o.), da sie eine Gedankenent‐ wicklung zeigen • Genauigkeit (keine Interpretationsmöglichkeiten): • z. B. Termini (s. o.); Fachwörter; Arbeit mit authentischen Texten, wie z. B. Zitate und Belege (die immer nachgewiesen sein müssen) • Dichte (umgekehrt proportional, wenig Raum für viele Informationen): • z. B. Mittel der Nominalisierung wie Funktionsverbgefüge (s. o.); Ge‐ brauch deverbaler Substantive, z. B. der Derivate auf -ung; alle Mittel der syntaktischen Verdichtung, z. B. durch komplizierte, in sich gestaffelte Satzverbindungen (Perioden) • Unpersönlichkeit (alle Mittel, die geeignet sind, die Nennung des Text‐ • produzenten zu vermeiden, s. o. Objektivität, Sachlichkeit): Mittel des Unpersönlichen; Verzicht auf die mögliche Anrede der adres‐ sierten Personen: Der Leser wird sich fragen, es wird darauf hingewiesen, Gegenargumente lassen sich entkräften … 88 Ulla Fix 6 Charakterisierung der Denkkollektive und Denkstile Die drei im folgenden Kapitel behandelten Texte, deren jeweiliges Umfeld nun beschrieben wird, sind zum einen nach ihrem Repräsentanzcharakter als typi‐ sche Texte ausgewählt worden und zum anderen danach, dass sie Stilanalysen vorstellen. Das heißt, ihr Vorgehen hat inhaltlich etwas Gemeinsames und ist daher vergleichbar. Was an dieser Stelle ermittelt werden soll, entspricht der transtextuellen Ebene und der Akteursebene der Diskurslinguistik (vgl. Spitz‐ müller /  Warnke 2011: 201). 6.1 Neoidealismus: Immanente Werkanalyse und Stilistik Das neoidealistische Denkkollektiv, um das es als erstes geht, stellt im Fleck’schen Sinne ein lockeres Miteinander dar. Es gibt keine räumliche bzw. institutionelle Zusammengehörigkeit und keine gemeinsamen Projekte, sehr wohl aber ein von allen geteiltes Interesse. Der Kontakt wird vor allem durch Korrespondenz herge‐ stellt und aufrechterhalten. Im Zentrum steht in diesem Beitrag Leo Spitzer (1887- 1960), der Autor des Aufsatzes Matthias Claudius’ Abendlied. Neben ihm sind zu nennen Oskar Walzel, Karl Vossler und auch Benedetto Croce. Walzel, Vossler und Spitzer übten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem zu dessen Be‐ ginn, heftige Kritik an der positivistisch orientierten Literaturwissenschaft, die sich von der Textarbeit gelöst hatte. Dazu sagt Jauß mit Blick auf die Paradigmen‐ wechsel in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts: „Ich komme zum dritten großen Paradigma der Literaturwissenschaft […], das im Heraufkommen und im Siegeszug der Stilistik zu Beginn unseres Jahrhunderts zu sehen ist. Ein Hauptimpuls dieses Paradigmenwechsels war zweifellos das wachsende Ungenügen an der positivistischen Askese, das literarische Kunstwerk allein aus der Summe seiner historischen Bedingungen zu erklären.“ ( Jauß 1968: 49) Außerdem geht es den Autoren dieser Richtung um die Kritik am sprachwis‐ senschaftlichen („metaphysischen“) Positivismus. Wie Vossler entwirft auch Spitzer eine Gegenvorstellung. „Der Protestcharakter der neuen Methodik ist charakterisierbar durch ihre heraus‐ fordernde Prämisse, daß die historische Erklärung eines Werkes nicht mehr, sondern weniger beibringen könne, als aus dem Werk selbst, als einem Ausdruckssystem von Sprache, Stil und Komposition zu erkennen sei. Diese Methode ist in Deutschland im Gefolge der sogenannten idealistischen Neuphilologie ausgebildet worden, in der Ro‐ manistik am eindrucksvollsten von Leo SPITZER […] Dasselbe Paradigma liegt aber auch der Methode Oskar WALZELs (‚Gehalt und Gestalt‘) zugrunde, die einen Aus‐ gangspunkt der nach dem ersten Weltkrieg aufblühenden werkimmanenten Betrach‐ 89 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft tung der Literatur (des ‚Wortkunstwerks‘) in der Germanistik bildete.“ ( Jauß 1968: 49; Hervorhebungen im Orig.) Spitzer lehnt allerdings − übereinstimmend mit Vossler − den Positivismus nicht völlig ab, sondern kritisiert ihn nur dort, wo er als „metaphysischer Positivismus“ verstanden wird, wo der Forscher sein Ziel in den Dingen selbst und nicht im Finden eines Kausalitätsprinzips sieht. Positivismus als Methode hingegen wird von Spitzer explizit als Bestandteil seiner Position betrachtet. Er nennt seine Auf‐ fassung „positiven Idealismus“ oder „idealistischen Positivismus“. Das intuitive Vorgehen, die werkimmanente Sprachbetrachtung, gilt als die eigentliche Me‐ thode der Sprachwissenschaft. In ihr geht es um den ganzen Text, freilich nicht um dessen Texthaftigkeit, sondern um das Herausfinden der dichterischen ,Bot‐ schaft‘, die man aus den Elementen der Struktur des Textes in ihrer gegenseitigen Bedingtheit ermittelt. Das vom Autor Gemeinte /  Gefühlte bzw. das, was der Text (,eigentlich‘) sagen will /  soll /  kann, soll herausgefunden werden. Das bedeutet, alle Elemente des Textes in ihrem Zusammenwirken analytisch zu erfassen und sich auf dem Weg über das Wahrnehmen der Form in einen Text erlebnishaft einzu‐ fühlen. Ein Ziel, auf das in vielen Fällen in der Personalunion von Literatur- und Sprachwissenschaft hingearbeitet wurde. Gemeinhin der Literaturwissenschaft zugeordnet, kann Spitzer genauso berechtigt als Vertreter sprachwissenschaftli‐ chen Vorgehens gelten. „Da auch nach Spitzer die Sprachschöpfung vornehmlich in der Dichtung in Erschei‐ nung tritt, plädiert er wie Vossler für eine Annäherung von Sprach- und Literatur‐ wissenschaft in der Stilistik, der nunmehr die sprachwissenschaftliche Untersuchung von literarischen Texten als vornehmliche Aufgabe angetragen wird.“ (Aschenberg 1984: 113) Da Spitzer beide Disziplinen vereinigen will, kann das, was er zur Arbeit am Text sagt, auch zur Tradition der Sprachwissenschaft gerechnet werden. Es geht ihm darum, „die Sprache der Dichter in ihren Kunstabsichten zu erfassen, zu charakterisieren und auf das Seelische, das die Dichter sprachlich ausdrücken, zurückzuführen, - denn diese drei‐ fache Aufgabe muss doch wohl der kunstbeflissene Linguist lösen“ (Spitzer 1961: 4). Spitzers Vorgehensweise besteht darin, durch intuitive, hermeneutische Ana‐ lyse, durch das „enge Anschmiegen an das sprachliche Detail […] mit methodi‐ schem Ernst dem Ausdruckssinn und der „Spiegelung von Seelischem in Sprach‐ lichem“ (ebd.: 501) auf die Spur zu kommen. Die Auffassung, man könne durch die werkimmanente Interpretation ein Kunstwerk adäquat verstehen, und es sei auf diesem Wege die Intention des Autors herauszufinden, ist immer wieder 90 Ulla Fix kritisiert worden − u. a. deshalb, weil das Verstehen des Lesers nicht durch die Lektüreeindrücke allein, sondern immer auch durch seine eigene historische, soziale, kulturelle Situation geprägt ist. 6.2 Strukturalismus: Der Text als strukturelle Einheit Der Gegenstand ‚Text‘, der den Strukturalisten als geschlossenes System gilt, wird von ihnen strukturalistisch, d. h. hermetisch betrachtet. Das Interesse der Forscher ist nach innen gerichtet, auf die Struktur des zu untersuchenden Text‐ ganzen. Sie fragen danach, wie ein Text in seinen inneren Zusammenhängen möglichst exakt und umfassend beschrieben werden kann. Die Handelnden mit ihren Gegebenheiten werden dagegen nicht einbezogen. Das heißt, der Gegen‐ stand ist zunächst durch diesen Textbezug innersprachlich festgelegt, auch wenn es viele Kooperationen mit anderen Disziplinen gegeben hat. Diese waren aber ebenfalls immer darauf gerichtet, die innere Struktur von Texten zu er‐ fassen. Dies sollte möglichst genau auf dem neuesten Stand ,exakter Wissen‐ schaften‘ geschehen. Diesem Ziel galt die Zusammenarbeit mit Vertretern der Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft sowie die Kooperation mit Ma‐ thematikern, Kybernetikern und Vertretern der Ingenieurwissenschaften, pro‐ grammatisch angesprochen in dem 1965 erschienenen, berühmt gewordenen Sammelband Mathematik und Dichtung und, ebenfalls programmatisch gedacht, mit der Gründung der Zeitschrift Literaturwissenschaft und Linguistik im Jahr 1971. Man sieht: Werkimmanente Interpretation und Strukturalismus haben das Absehen von außertextlichen Bezügen gemeinsam. Ihr Ziel ist jedoch ver‐ schieden: Der Vertreter der werkimmanenten Methode will sich, so im Fall Spitzers, das Werk durch Hineinversetzen in den Autor erschließen. Die struk‐ turalistische Herangehensweise besteht darin, die von sich aus arbiträren Zei‐ chen eines Textes auf einer Zweitebene zu decodieren, indem Strukturen und Bezüge eines Textes, durch die sie sich gegenseitig einen Sinn zuweisen, in re‐ gelgeleiteter und konsequenter Vorgehensweise aufgedeckt werden. Auf diesem Wege soll die textinterne Sinnhaftigkeit ermittelt werden, die sich, so die Auf‐ fassung, allein aus dem Bezug der Zeichen des jeweiligen Textes untereinander ergibt. Ein mathematisch-statistischer Zugang kann da gerade recht sein. Der Ansatz beruht auf dem relationalen Zeichenmodell de Saussures. Seine Unter‐ scheidung zwischen der Form- und der Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen und die von ihm als arbiträr erkannte Verbindung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem bringt es mit sich, dass die Bedeutung eines Zeichens aus seiner Situation innerhalb der Strukturbeziehungen des Textes erschlossen werden kann und muss. In der Sprachwissenschaft ist der strukturalistische Ansatz auch von Vertretern verschiedener Richtungen der Stilistik aufgegriffen worden. 91 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft Eine spezielle Richtung der strukturalistischen Textbetrachtung ist mit dem Stuttgarter Kreis um Max Bense als Gruppierung von Vertretern der Sprach- und Literaturwissenschaft, der technisch-experimentellen Intelligenz und ver‐ schiedener Künste entstanden. Benses Ziel für das sich um ihn scharende, lo‐ ckere, auffallend interdisziplinäre Denkkollektiv − „international vernetzte[ ] Akteure[ ] in Wissenschaft und künstlerischer Praxis“ (Boatin 2014: 11), „eine interessante kulturelle Formation“ (ebd.) − war es, die „Geisteswissenschaft auf der Basis einer wesentlich technischen Intelligenz neu zu bestimmen“ (Walter 1994: 2). Hier hatte man sich offensichtlich Interdisziplinarität zum Prinzip ge‐ macht. So war Wilhelm Fucks, einer der beiden Autoren des hier untersuchten Aufsatzes, den Bense’schen Gedanken nahe stehend, zur Zeit der Publikation des Textes Dr.-Ing., ordentlicher Professor und Direktor des I. Physikalischen Instituts der TH Aachen und Direktor des Instituts für Plasmaphysik der Kern‐ forschungsanlage Jülich. Josef Lauter war Dipl.-Ing. und wissenschaftlicher As‐ sistent am I. Physikalischen Institut der TH Aachen. Fucks hat zu der Zeit bereits eine beträchtliche Zahl statistischer Analysen von literarischen Texten und Mu‐ sikwerken vorgelegt. Das lag ganz im Interesse der Herausgeber des Bandes Mathematik und Dichtung, in dem der vorliegende Text erschienen ist. Die Au‐ toren wollen traditionelle Vorgehensweisen nicht verwerfen, sondern die neuen Möglichkeiten zu objektiver, d. h. präziserer, konsequenterer und umfassenderer Textanalyse ins Blickfeld rücken. „In der offiziellen akademischen Literaturwissenschaft unseres Jahrhunderts führte insbesondere in Deutschland die dezidierte Abkehr von einem dichtungsinadäquaten Positivismus […] zu einer überspitzten Antithetik im Verhältnis zu den Naturwissen‐ schaften, die auch den geisteswissenschaftlichen Charakter der Mathematik aus dem Blick verlieren ließ […]. Es geht hier nicht um eine Ablehnung der tradierten ideen- und formengeschichtlichen, stilkritischen und werkinterpretatorischen Betrach‐ tungsweisen, deren Fruchtbarkeit und Notwendigkeit wir entschieden bejahen […] sondern um die Frage, ob noch andere Methoden der Textanalyse wissenschaftlich sinnvoll und für die bessere Sicherung und präzisere Formulierung wenigstens par‐ tieller Resultate der älteren Methoden nutzbar sind.“ (Kreuzer 1965: 10) 6.3 Pragmalinguistik: Der Text als kommunikative Einheit Der strukturalistische Zweig der Sprachwissenschaft erhielt in den 1960er /  1970er Jahren Konkurrenz durch eine pragmatische Richtung. Der Blick auf die Texte änderte sich. Aus Sicht der Pragmatik lag es nahe, den Text als das Mittel sprachlicher Kommunikation schlechthin zum Gegenstand der For‐ schung zu machen - dies nicht mehr als isoliertes Phänomen, sondern aus der 92 Ulla Fix Perspektive des Handelns und Wissens unter pragmatischem Aspekt als offenes und interdisziplinär zu beschreibendes. Der Text wurde zwar nach wie vor sprachbezogen betrachtet − es ging eindeutig um den sprachlichen Text − aber Perspektiven wie Handlung und später auch Kognition spielten eine bestim‐ mende Rolle. Sie brachten Außersprachliches in die Betrachtung ein. Mit der Disziplin ‚Textlinguistik‘ wurden neue Probleme aufgegriffen, etwa die, worin der Textcharakter eigentlich besteht und welche Schlüsse sich daraus für den Rezeptions- und Verstehensprozess ergeben. Die zwei anfänglichen Forschungs‐ felder der Textlinguistik - Textualität und Texttypologie − wurden im Laufe der Entwicklung im Kontext von Kognitionslinguistik und Kommunikationswis‐ senschaft um entscheidende Bereiche ergänzt, nämlich um die Prozesse des kommunikativ /  sozial bestimmten Handelns mit Texten. In dem Zusammen‐ hang entwickelte sich ein neues Konzept von Stilistik, nämlich das einer Text‐ stilistik. Stil wird in dieser Zeit aus vielerlei Perspektiven als ein deutlich text‐ bezogenes Phänomen betrachtet, so in den Funktionalstilistiken von Riesel /  Schendels (1975) und Fleischer /  Michel (1975), später auch in der Text‐ linguistik von Heinemann /  Viehweger (1991). Dezidiert und theoretisch be‐ gründet wird die Textbezogenheit dann zu einem Kernstück pragmatischer Stil‐ betrachtung, zu der alles gezählt werden soll, was mit Gebrauch und Bedeutungsvermittlung von Stil in Verbindung zu bringen ist (Sandig 1978; 1986). 2006 legt Sandig dann sogar eine eigene Textstilistik des Deutschen vor, die das aktuelle Wissen über Text und Stil vereint und zeigt, dass beides nicht zu trennen ist: „Stil ist Bestandteil von Texten, er ist die Art, wie Texte zu be‐ stimmten kommunikativen Zwecken gestaltet sind“ (Sandig 2006: 3). Zwei Grundgedanken prägen die pragmatische Stilistik: Der erste Gedanke besteht darin, Stil in Anknüpfung an die Sprechakttheorie als intentionale Handlung zu betrachten. Stile werden als die Arten von Formulierungen be‐ stimmt, die Sender Adressaten gegenüber intentional gebrauchen. Dieser Ge‐ danke bezieht sich auch schon auf den zweiten grundlegenden Gedanken, näm‐ lich den, dass Stil Bedeutung trägt − eine über das Wie, die Form, vermittelte Sekundärinformation vorrangig sozialer Art. Das heißt, Stil interessiert nicht als individuelle Ausprägung, sondern als Vermittler von sozialer Bedeutung. Stil, also die Oberfläche des Textes, ermöglicht die „sozial relevante Art der Hand‐ lungsdurchführung“ (ebd.: 9). „Stile sind variierende Sprachverwendungen und Textgestaltungen, denen relativ zu bestimmten Verwendungszwecken und Verwendungssituationen von den Beteiligten bestimmte sozial und kommunikativ relevante Bedeutungen zugeschrieben werden können […].“ (Sandig 2006: 2) 93 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft Ob gewollt oder nicht, man vermittelt durch den Stil seiner Äußerungen zu‐ sätzlich zum ‚Primärsinn‘, der Sachinformation, einen ‚Zweitsinn‘, d. h. eine über die Form transportierte Information darüber, wie man sich selbst sieht, wie man von anderen gesehen werden möchte und wie die Beziehung zum Empfänger der Nachricht gestaltet werden soll. Diese Funktionen sind in Kommunikati‐ onsbereichen besonders ausgeprägt, in denen soziale Rollen einen hohen Stel‐ lenwert haben. Sandig (ebd.: 16) hebt daher die Bedeutung hervor, die Sprachstil für die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung der sozialen Ordnung haben kann. Dies gilt aus ihrer Sicht ausnahmslos für alle Texte, so dass jeder Art von Text Stil zugesprochen wird. Als erste Stilauffassung überhaupt legt die pragmatische Stilistik ihren Schwerpunkt auf Sachtexte. Das Denkkollektiv Sandigs ist eine lose Gruppe von Vertretern der pragma‐ tischen und funktionalen Stilistik sowie der Gesprächsstilistik. Textlinguist‐ Innen, ÜbersetzungswissenschaftlerInnen, MediävistInnen gehören ebenfalls dazu. Es sind Kolleginnen und Kollegen, die sich schon lange kennen, die ein gemeinsames Interesse und Netzwerk haben und bei Tagungen sowie beim Herausgeben gemeinsamer Sammelbände in engeren Kontakt treten. Der Sam‐ melband, aus dem der hier untersuchte Aufsatz stammt, ist die Dokumentation eines Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. 7 Textanalyse Die drei im Folgenden analysierten Aufsätze wurden ausgewählt, weil ihre Au‐ toren repräsentativ sind für eine bestimmte Wissenschaftsrichtung und weil es in jedem der drei Texte um Stilanalysen geht. Spitzers Aufsatz bietet durchge‐ hend Analyse. Eine theoretische Fundierung fehlt. Bei Fucks und Lauter finden sich knappe einführende theoretische Gedanken. Danach folgen grundsätzliche methodische, mit der Analyse verknüpfte und durch sie bestätigte Überle‐ gungen. Bei Sandig zeigt sich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Analyse. Im Folgenden befinden wir uns, diskurslinguistisch gesehen, auf der intratextuellen Ebene: Textstruktur, Sprachhandlungen und Worteinheiten stehen im Zentrum. Grundbedingung stilistischer Textanalysen ist es, so alle aktuellen Stilauffas‐ sungen, den Gesamttext zu analysieren. Nur lässt es der Umfang eines Aufsatzes nicht zu, die vorliegenden Gesamtanalysen auch vorzustellen. Wenn ich mich im Folgenden darauf beschränke, die Anliegen, Herangehensweisen und Struk‐ turprinzipien sowie damit zusammenhängende einzelne Stilzüge und Stilmittel vorzustellen, geschieht das immer vor dem Hintergrund meines Gesamtüber‐ blicks über den jeweiligen Text. 94 Ulla Fix 18 Als Romanist hat er vorwiegend Texte in romanischen Sprachen untersucht. 7.1 Spitzer: Matthias Claudius’ Abendlied Spitzers Aufsatz wurde 1960 in Euphorion LIV zum ersten Mal veröffentlicht. Es handelt sich um einen seiner wenigen Texte, die sich deutschsprachiger Li‐ teratur zuwenden. 18 Dabei weicht er in seinem Vorgehen von seinen sonstigen Analysen nur insofern ab, als der Einstieg einen Vergleich mit dem Aufsatz eines anderen Autors, nämlich Hermann Broch, darstellt. Spitzer bezieht sich auf dessen Text Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des Übersetzens (1955), in dem Broch auf Fragen des Übersetzens von Literatur am Beispiel der ersten Strophe von Matthias Claudius’ Abendlied eingeht. Spitzer stellt den Broch’schen Deutungen der Strophe seine eigenen gegenüber und erläutert sie. Er ist interessiert am Vergleich der dichterischen (Broch) mit der philologischen (Spitzer) Herangehensweise − so seine eher vagen Kategorien. Seine Kritik an Broch richtet sich darauf, dass dieser nicht den Gesamttext einbezogen und so, modern gesagt, die Textbezogenheit von Lexemen außer Acht gelassen habe. Indem Spitzer am Anfang den vergleichenden Ansatz vorstellt, gibt er seinem Text so etwas wie einen methodischen Rahmen, eben das Vergleichen als Me‐ thode. Eine theoretische Fundierung dagegen ist nicht erkennbar. Auch wird das Anliegen nicht explizit genannt. Man kann aber erschließen, dass es Spitzer − mit „Respekt vor dem Text“ − um dessen „handwerksmäßige Begutachtung“ (Spitzer 1961: 176) geht, bei der er prinzipiell einen hermeneutischen Blick auf die Gestaltung des Textganzen und die Person des Autors richtet. „Das Einmalige eines Stils läßt sich daher nur dadurch beschreiben, daß wir ein To‐ talbild eines Stils geben […], alles stilistisch bei einem Autor Bemerkenswerte vereinen und mit seiner Persönlichkeit in Zusammenhang bringen.“ (Spitzer 1961: 513) Was er auf den folgenden acht Seiten entwickelt, ist seine eigene Schritt-für- Schritt-Interpretation des Textes, die dem Prinzip des „engen Anschmiegen[s] an das sprachliche Detail“ folgt, in dem er „auch das einzig Neue“ sieht, das er „zu bringen habe“ (ebd.: 504). „Man braucht sich nur in die Seele des großen Sprechers, des Dichters hineinzuversetzen, um dem sprachlichen Schöpfungsakt beizuwohnen.“ (ebd.: 503) Der Aufsatz endet mit dem Fazit einer durchaus überzeugenden hermeneu‐ tischen Analyse, die, so Spitzer, der Pflicht zur akribischen philologischen Kritik - dies als ein Seitenhieb auf Broch, den Nichtphilologen − genüge. Ein Litera‐ turverzeichnis ist nicht enthalten. Zwischen Anfang und Schluss finden wir einen Text, der dem Ideal der ganzheitlichen Textbetrachtung und des Sich-indie-Seele-des-großen-Sprechers-Versenkens entspricht. Es wird aber deutlich, 95 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 19 Alle Hervorhebungen in den Zitaten stammen von mir. dass seine Interpretation ebenso wie die Brochs auf den eigenen Empfindungen beruht, dass er davon ausgeht, was der Text ihm, dem Individuum Spitzer, sagt. Bei diesem subjektiven Ansatz ist es für uns natürlich unmöglich (und noch dazu auch nicht nötig) zu sagen, wessen Interpretation die ,richtige‘ ist. Spitzer hin‐ gegen ist davon überzeugt, dass sein hermeneutisches Vorgehen ihm die rich‐ tigen Erkenntnisse liefert, Broch daher die falschen vertritt. Wie kann man das analysierend nachvollziehen, ohne subjektiv vorzugehen? Ein möglicher Ansatz ist die Betrachtung der Stilzüge des Textes. Zunächst: Wie sich Spitzers Text zu den Stilzügen wissenschaftlicher Prosa insgesamt verhält, kann hier nicht umfassend gezeigt werden. Es seien zwei dominante Stilzüge herausgegriffen, die den Text prägen, die man aber, folgt man Fleck und unserer Erfahrung mit wissenschaftlichen Aufsätzen, hier nicht erwarten würde. Was Fleck als Charakteristikum des wissenschaftlichen Aufsatzes nennt, nämlich dass dieser eine Textsorte ist, in der noch ungesichertes Wissen mit Behutsamkeit und im Bewusstsein seiner Vorläufigkeit (vgl. 2) vorgetragen wird, bei der also Differenzierung von Bedeutung ist, findet sich bei Spitzer nicht. Bei ihm gilt statt des Stilzugs der Differenzierung der der strikten Be‐ stimmtheit. Auch Brommers Feststellung (2018: 179), dass wissenschaftliche Aufsätze „Objektivität signalisieren“, trifft für den Aufsatz von Spitzer nicht zu. Vielmehr setzt Spitzer stattdessen den Stilzug Subjektivität um. Er stellt Ergeb‐ nisse seiner Introspektion undiskutiert und ohne Relativierung in den Raum. Sie sind richtig, weil sie von ihm kommen. Es folgen nun Beispiele 19 für die Umsetzung des Stilzugs Bestimmtheit. Aus‐ drücke, die diese Funktion haben, gibt es in großer Zahl. Die eigenen Analyse‐ ergebnisse stellt Spitzer gegenüber den Broch’schen als sicher und unumstöß‐ lich dar. Das geschieht zum einen durch die Wortwahl, z. B. etwas ganz ausschließen in Aber da ist […] anzumerken, dass eine Doppeldeutigkeit […] ganz ausgeschlossen ist. Sowohl das verstärkende Adverb ganz als auch die Se‐ mantik von ausschließen dienen dem Nachdruck, ja dem Feststellen von etwas Unumstößlichen. Auch Konstruktionen wie der modale Infinitiv sein + zu + In‐ finitiv vermitteln die Bestimmtheit der Aussage, z. B. … ist ebenso auszu‐ schließen; ist zuzuschreiben (ebd.). Hier wird die Funktion des modalen Infinitivs etwas ist zu tun zum Ausdruck des Sollens, der Verpflichtung, der Anordnung genutzt (vgl. Grundzüge 1981: 537; Eisenberg 2004: 351). Außerdem wird das Präsens zum Ausdruck des Konstatierens im Sinne von ,etwas ist so, wie es ist‘ gebraucht, z. B. Doch die Erde ist nicht gespenstisch 96 Ulla Fix 20 Hier ist die Formulierung ist zu sagen der Ausdruck von Gegebenheit (gibt es zu sagen), nicht von Verpflichtung im Sinne von sollen. oder dräuend, bezogen auf Claudius’ Darstellung. Die folgenden Beispiele bringen deutlich Spitzers sicher formulierte Meinung zum Ausdruck. • Ich sehe also den Gegensatz zwischen der Himmels- und der Erdensphäre • nicht als eine Spiegelung der Welt (wie Broch es tut). • Dagegen hat Broch unbedingt recht, wenn …. • • Über den Ausdruck der Wald steht schwarz ist doch noch mehr zu sagen 20 • (als Broch es für nötig hält). • Der Wald steht schwarz ist offenbar ein Gegenbild zu der Wald steht • grün. Die beiden Formulierungen ich weiß daher nicht (ob Broch recht hat) und ich bin auch nicht sicher (ob Broch recht hat) (ebd.) drücken nicht, wie man annehmen könnte, eigene Unsicherheit aus, sondern Zweifel an der Richtigkeit von Brochs Meinung. Sprachliche Mittel, die den Bestimmtheitsgrad der Aussage abschwä‐ chen oder Bedeutung differenzieren, sind wenig vorhanden (Ausnahmen: scheint mir; es scheint mir also). Zum Stilzug Subjektivität: Der Text ist gekennzeichnet von Verfahren im Dienste der Subjektivität. Spitzer entwickelt die Analyse als subjektiv nach‐ empfindendes Paraphrasieren. Er verwendet keine Termini und Fachwörter, obwohl ihm zumindest die Kategorien der Rhetorik zur Verfügung gestanden hätten. Stattdessen durchstreift er den zu analysierenden Text, indem er das, was er liest, Zeile für Zeile in seine eigenen Worte übersetzt und dabei inter‐ pretiert. So entsteht keine Analyse im eigentlichen Sinne, sondern eine interpretierende ,Übersetzung‘ des Textes. So z. B.: Wieder ist es bewundernswert, wie er diesen Übergang herbeiführt: zuerst, in Str. 2, war die nächtliche Welt eine stille Kammer, in der wir unseren Tagesjammer verschlafen können. Mit der Ermahnung des Dichters an uns alle, vor dir [Gott] hier auf Erden, Wie Kinder fromm und fröhlich zu sein, wäre er eigentlich mit seinem Sermon zu Ende gekommen, und tatsächlich stehen drei Sternchen nach Str. 5. Aber durch die Aufforderung Laß uns einfältig werden ist ein zeitliches Element in das Abendlied gekommen, das ja bisher eine statische Betrachtung der abendlichen Natur war (nur das „Schwarz- Stehen des Waldes“ verriet Erwartung). Und da nun einmal der Blick auf das Werden des Menschen hier auf Erden gelenkt ist, liegt der Gedanke an sein Ende nahe (Wollst endlich … Aus dieser Welt uns nehmen) und an sein Schicksal 97 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 21 Spitzer habe, so Gumbrecht (2001: 25), „einen sehr lebendigen Schreib-Stil und eine Rhetorik hyperbolischer Fußnoten und Fußnoten zu Fußnoten […] einen Stil von über‐ trieben leidenschaftlichen Reaktionen“. im Jenseits. Nun herrscht im Gedicht eine ganz neue Bewegtheit: was nach den drei Sternchen steht, sind Erwägungen über die schwersten Prüfungen unseres endlichen Lebens, die Claudius immer die wichtigsten Probleme der Menschen schienen. (Spitzer 1961: 184) Folgende Sprachhandlungen, die insgesamt der subjektiven Darstellung dienen, treten auf: • Wieder ist es bewundernswert, wie er den Übergang herbeiführt. B E W E R T E N • • Zuerst […] war die Welt eine nächtliche Kammer. F E S T S T E L L E N • • Mit der Ermahnung des Dichters […] wäre er eigentlich mit seinem Sermon • zu Ende gewesen. F E S T S T E L L E N • Aber [es] ist ein zeitliches Element in das Abendlied gekommen, das ja bisher • eine statische Betrachtung der abendlichen Natur war. S C H L U S S F O L G E R N D E S F E S T S T E L L E N • […] liegt der Gedanke an sein Ende nahe […] I N T E R P R E T I E R E N • Die beiden untersuchten Stilzüge, Bestimmtheit und Subjektivität, gehen inein‐ ander über. Das im Text dominierende F E S T S T E L L E N ist immer sowohl Ausdruck von Bestimmtheit als auch von Subjektivität; denn immer ist es das Subjekt Spitzer allein − ohne Bezug auf andere Autoren bzw. auf die wissenschaftliche Situation seiner Zeit, ohne fachsprachliche Ambitionen und ohne eigentliche Argumentation −, das die Feststellungen trifft. Dass deutlich ein Individualstil 21 vorhanden ist, entspricht dem Denkstil seines Denkkollektivs und dem Zeit‐ geist: Der Schreiber hat individuell zu sein. Insofern ist der Text in seinem An‐ spruch doch überindividuell. 7.2 Fucks / Lauter: Mathematische Analyse des literarischen Stils Wie die Neoidealisten wenden sich Fucks und Lauter gegen die „historisch […] verfahrenden Literaturwissenschaften“ (Fucks 1970 /  71: 113). Auch sie wollen sich wieder der genauen Betrachtung der Sprache zuwenden, allerdings von einem völlig anderen Ausgangspunkt aus als z. B. Spitzer. Der hier untersuchte Text von Fucks und Lauter geht von dem Anliegen aus, die „Möglichkeiten […] einer ‚exakten‘ Literaturwissenschaft (mit streng formalisierten Beschrei‐ bungen und von der Individualität des Forschers unabhängigen Resultaten)“ (Kreuzer /  Gunzenhäuser 1965: 7) zu erproben. Diesem Anliegen werden die 98 Ulla Fix beiden Autoren völlig gerecht, indem sie ein großes Korpus aus Texten von Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern sowie aus literarischen Texten verschiedener Epochen in einer exakten, konsequenten und umfassenden Text‐ analyse mit statistischen Methoden auf ihren Stil hin vergleichen. Sie bieten zunächst einen knappen wissenschaftsgeschichtlich-theoretischen Einstieg sowie die Darstellung der aktuellen Situation, aus der sie ableiten, dass es wün‐ schenswert sei, die „exaktwissenschaftliche Methode auch auf nicht-naturwis‐ senschaftliche Gebiete anzuwenden“ (Fucks /  Lauter 1965: 107). Die Fragestel‐ lung, das Erkenntnisziel, das Vorgehen des Beitrags werden genannt, jedoch nicht eigentlich theoretisch, sondern eher mit aktuellen Fragen begründet, die sich aus der Entwicklung der informationstechnischen Möglichkeiten ergeben. Philosophische Hintergründe werden knapp dargestellt, aber nicht erörtert. Das Anliegen der Autoren ist die Beantwortung der Frage, „ob die Sprache als solche oder auch Gestaltungen mit Hilfe der Sprache (Werke der Prosa, Poesie, Wissenschaft usf.) exaktwissenschaftlich mit der Aussicht auf relevante Ergebnisse untersucht werden können“ (Fucks /  Lauter 1965: 107). Dem gehen sie nach, indem sie zunächst eine methodisch-inhaltliche Auseinander‐ setzung darüber führen, ob man mit einer mathematischen Stilanalyse einem indi‐ viduellen Phänomen (wie es ein Text, zumal ein literarischer ist) gerecht werden kann, gekoppelt mit der Bestimmung der Kategorien ‚Text‘, ‚Stil‘, ‚Element‘ und ‚Merkmal‘ sowie der Beschreibung des sich auf einen Formelapparat, auf Gra‐ phiken und Tabellen stützenden Vorgehens. Danach folgt die Analyse selbst, die Schritt für Schritt beschrieben und an Beispielen vorgeführt wird. Schwerpunkte und Probleme werden erörtert. Zum Schluss wird resümierend festgestellt, was die vorgestellte Analyse leisten kann und wo ihre Grenzen liegen. Verweise auf wei‐ terführende Literatur werden gegeben. Alles dies entspricht unserer Vorstellung von einem wissenschaftlichen Aufsatz. Das gilt auch für den Stil des Textes. Er weist die für wissenschaftliche Aufsätze dominierenden Stilzüge Abstraktheit, Objektivität, Sachlichkeit, Folgerichtigkeit, Klarheit, Genauigkeit, Dichte und Unpersönlichkeit auf. Was fehlt, ist der Stilzug der Differenzierung. Wie lässt sich erklären, dass dies kein „suchender“ und daher differenzie‐ render Text ist, kein Text mit dem Gepräge des Vorläufigen (Fleck 1980: 156)? Der Grund ist, dass hier die Autoren nicht Suchende innerhalb eines Wissen‐ schaftsdiskurses sind, sondern sich im Gegenteil der Richtigkeit ihrer durch ex‐ akte, naturwissenschaftlich vorgehende Analyse gewonnenen Aussagen völlig sicher sind. Als Suchende werden vielmehr die Leser gesehen. Das entspricht der damaligen Situation: Eine Gruppe von Experten bildet sich heraus, die mit 99 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft 22 Das trifft vor allem für die Bense-Gruppe zu. allem Herkömmlichen bricht, auch provoziert 22 und Außenstehende für den neuen Diskurs gewinnen will. So wollen Fucks und Lauter die Überzeugung von der Richtigkeit und Tragfähigkeit dieser neuen, bisherigen Vorstellungen wi‐ dersprechenden Richtung vermitteln. Dem entspricht die sichere, konstatie‐ rende Ausdrucksweise, die dem Stil von Forschungsberichten und Experimen‐ talbeschreibungen gleichkommt. Das zeigt sich natürlich vor allem am Gebrauch der formalen Sprache der Mathematik (s. u.). Abstraktheit: Verwendet werden mathematische Zeichen, vor allem Zahlen, Formeln, Kurven, Tabellen als verallgemeinernde Mittel; Termini wie u. a. Ele‐ ment, Häufigkeit, Entropie, informationstheoretisch, numerisch werden ebenfalls als verallgemeinernde Mittel eingesetzt. Objektivität / Sachlichkeit: Sie entsteht durch die Vermeidung folgender Mittel: wertende Wörter, die Einstellung zum Mitgeteilten ausdrückende Wörter, Expressiva. Auf diese Weise wird reine Sachbezogenheit vermittelt. Folgerichtigkeit / Klarheit: Verwendet werden nummerierte Aufzählungen und die Entwicklung von Formeln. Beides drückt eine gedankliche Folge aus. Ferner finden sich verbale Mittel der Kausalität und Finalität im weitesten Sinne, die Zu‐ sammenhänge herstellen: Es erscheint daher sehr wünschenswert; Um die Aufgabe zu präzisieren, stellen wir uns den Sprechvorgang […] vor; Wir können also allge‐ mein von Textelementen sprechen (ebd.); d. h. man kennt nur den Mittelwert. Genauigkeit: Ihr dient vor allem der Gebrauch von Termini (da definiert); Zahlen, Fachwörtern (da vereinbart): Analyse, Methode, Charakteristik, präzi‐ sieren. Eindeutigkeit wird hergestellt. Dichte: Dominierend ist hier der Einsatz von Nominalisierungen im Dienste der Kürze (aber auch der Unpersönlichkeit): Bildung der relativen Häufigkeit; Normierung; Darstellung der relativen Häufigkeit. Vor allem die gegenüber der verbalen Darstellung von Informationen verdichtenden Darstellungen in Überblicken, Tabellen, Auflistungen, Kurven sind hier wirksam. Unpersönlichkeit: Gebraucht werden Nominalisierungen und andere Mittel des unpersönlichen Ausdrucks wie Aussparung des Agens: Als Beispiel seien genannt (wir nennen Beispiele); der Nachweis ist gelungen (wir konnten nach‐ weisen); kollektives Wir: Wir können also allgemein von Textelementen spre‐ chen; modale Infinitive: Die Bildung der relativen Häufigkeit […] ist als Normie‐ rung anzusehen. 100 Ulla Fix chen Die Bildung der relativen Häufigkeit ist als Normie‐ rung anzusehen. p i i ∑ i ip i μ v ∑ i i − i v p i σ μ p v μv σ v S − ∑ i p i lnp i Abb. 1 chen Die Bildung der relativen Häufigkeit ist als Normie‐ rung anzusehen. p i i ∑ i ip i μ v ∑ i i − i v p i σ μ p v μv σ v S − ∑ i p i lnp i Abb. 1 chen Die Bildung der relativen Häufigkeit ist als Normie‐ rung anzusehen. p i i ∑ i ip i μ v ∑ i i − i v p i σ μ p v μv σ v S − ∑ i p i lnp i Abb. 1 Die Darstellung der relativen Häufigkeit p i in Abhängigkeit von i ist die sog. Häufigkeitsverteilung. Sie kann mit Hilfe des Mittelwertes und der Momente um den Mittelwert speziell σ = μ 2 ferner durch die sog. normierten Momente p v = μv σ v charakterisiert werden. Als weitere Charakterisierung einer Häufigkeitsverteilung sei die informa‐ tionstheoretisch bedeutsame Entropie erwähnt. Beispiele für Häufigkeitsverteilungen sind etwa die Verteilung der Buch‐ staben pro Silbe, der Buchstaben pro Wort, der Silben pro Wort, der Silben pro Satz, der Substantive pro Satz, der Verben pro Satz usw. Als Beispiel für die Häufigkeitsverteilungen seien in Abb. 1 die Häufigkeits‐ verteilungen der Silbenzahlen je Wort für zwei deutsche (G O E T H E , R I L K E ) und zwei lateinische Autoren (S A L L U S T , C A E S A R ) wiedergegeben. Auf den ersten Blick sieht man eine deutliche Verwandtschaft zwischen den Autoren glei‐ cher Sprache, die Verteilungen für die lateinischen und deutschen Texte un‐ terscheiden sich dagegen stark. Die numerischen Charakteristiken der Ver‐ teilungen sind: Autor ī σ S G O E T H E R I L K E S A L L U S T C A E S A R 1,451 1,733 2,482 2,621 0,671 0,992 1,117 1,250 0,384 0,452 0,641 0,685 101 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft An unserem Beispiel wird deutlich, daß das Sprachcharakteristikum der Silben pro Wort in weit stärkerem Maße ein sprachspezifisches als ein autorspezifi‐ sches Charakteristikum ist. Es sei hier erwähnt, daß mit einem mathematischen Modell der Nachweis gelungen ist, daß die Bildung von Wörtern aus Silben ein einparametriger Vorgang ist, d. h. kennt man nur den Mittelwert der Verteilung der Silben pro Wort in einer Sprache, so kann man die Verteilung im einzelnen angeben […] Fucks / Lauter (1965: 111) Die hier beschriebenen Stilzüge des Textes entsprechen dem Charakter eines wissenschaftlichen Aufsatzes. Dass der Stilzug Differenzierung fehlt und das Konstatieren (nicht das Argumentieren) den Text prägt, macht das Spezielle des Textes aus. Er ist nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Prozesses, der sich im rein Gedanklichen vollzieht, sondern er beschreibt experimentelle, technik‐ gestützte Arbeit und folgt damit völlig dem Trend, die Literaturwissenschaft als exakte Wissenschaft mit mathematischen Mitteln zu betreiben. 7.3 Sandig: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs Der Aufsatz von Sandig entstand, als sich in der Sprachwissenschaft eine neue, pragmatisch und soziologisch orientierte, vor allem auf Sachtexte gerichtete, theoretisch fundierte Stilistik etablierte. Die zentrale Persönlichkeit dieser neuen Stilauffassung war Barbara Sandig. Sie hatte mit ihrer sprechakttheore‐ tischen Habilitation Stilistik. Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschrei‐ bung von 1978 und mit der 1986 darauf folgenden, auf einer ethnomethodolo‐ gisch fundierten Handlungstheorie basierenden Stilistik der deutschen Sprache eine neue Stilauffassung entwickelt, die im Laufe der Arbeit um kognitive, se‐ miotische, gestalttheoretische Zugänge erweitert wurde. Die Stilbetrachtung gilt nicht mehr in erster Linie literarischen Texten und ist nicht mehr primär auf das Erfassen des Individuellen gerichtet, sondern zielt auf Sachtexte und demzufolge auf die Musterhaftigkeit von Stil. Auch das Mündliche, d. h. Ge‐ spräche werden einbezogen. Stil wird nun (und wird bis heute) als Element des Handelns, als Träger von Information, als Instrument sozialer Konstruktion aufgefasst. Ein beträchtlicher, international zusammengesetzter Kreis Interes‐ sierter hatte sich damals um Sandig als Mittelpunkt zusammengefunden. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes Perspektiven auf Stil, aus dem der hier besprochene Aufsatz stammt, stehen stellvertretend dafür. Es sind Vertre‐ terinnen und Vertreter der Sprachwissenschaft, vor allem der Text- und Ge‐ sprächslinguistik, aber auch der Soziolinguistik und Fachsprachenforschung sowie der Übersetzungstheorie und der Mediävistik. Anders als in den früheren 102 Ulla Fix 23 Eine solche Gliederung findet sich weder bei Spitzer noch bei Fucks / Lauter. Denkkollektiven, in denen Frauen gar nicht (Neoidealismus) oder kaum (Bense- Kreis: Elisabeth Walter) vertreten waren, haben wir nun ein Denkkollektiv vor uns, in dem Frauen − von Sandig dezidiert so gewollt − eine bestimmende Rolle spielen. Mit der Pragmalinguistik, für die Sandig steht, öffnet sich der Blick nun unter pragmatisch-sozialem Aspekt zur Gesellschaft hin und es werden sogar, hier durch die Wahl des Beispieltextes, politische Akzente gesetzt. Sandig geht in ihrem Aufsatz der in der Linguistik der damaligen Zeit ent‐ wickelten Auffassung nach, dass Stil relational sei, und verifiziert diese. Sie stellt die These von der Relationalität an den Anfang, erläutert sie und fragt nach Arten bzw. Typen von Relationen. Die von ihr für relevant gehaltenen Rela‐ tionen werden vorgestellt und an einem Beispiel durchgespielt. Im als Schluss bezeichneten Teil findet sich die Zusammenstellung aller Relationen in Form von in Erörterungen eingebetteten Thesen. Der Text entspricht den Vorstel‐ lungen von einem wissenschaftlichen Aufsatz, sowohl was die Vorgehensweise betrifft, als auch, was den Stil angeht. Er ist strukturiert, die einzelnen Abschnitte tragen Überschriften, die die Schritte des Vorgehens und den Gedankengang des Textes gut nachvollziehbar machen. 23 Schaubilder und Aufzählungen unter‐ stützen die Stringenz des Textes. Ein Foto zeigt den zu analysierenden Text (Straßenschilder) und damit auch andere als nichtsprachliche Zeichen. Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs 25 ße des 13. Januar um ein leeres Schild und um ein geknicktes Einbahnstraßenschild verbotene Richtung' ergänzte. Ein Foto dieser Aktion wurde im Stadtbereich von Saarbrücken auf 41 Großflächen-Plakatwänden geklebt, ergänzt durch die Textzeile: Am 13. Januar 1935 stimmten über 90% der Saarländerinnen für die Heimkehr ins Dritte Reich. Eine der Plakatwände befand sich in unmittelbarer Nähe der „Straße des 13. Januar". Das Motiv wurde auch als verschiedene Postkarten verteilt. Eines von drei leicht verschiedenen Motiven zeigt die Abbildung 2: A b b i l d u n g 2 Die Saarbriicker Zeitung berichtete am 13.01.1999 über die Performance und kommentierte: „Das Ende der Gedankenlosigkeit" (Überschrift) solle herbeigeführt werden, denn: „Ein Straßenname, den niemand hinterfragt, feiert bis heute den Anschluß des Saarlandes ans Hitler-Reich" (Unterüberschrift) und dies, obwohl die Straße von 1949 bis 1957, während der Zeit der französischen Verwaltung des Saarlandes also, andere Namen gehabt habe. Die Kampagne soll also wirken: durch das Bild, durch den sprachlichen Anteil und durch die Kombination beider als Gesamttext, vgl. Spillners (1982, 92) „erweiterten Textbegriff'. Das Bild zeigt zunächst das Straßenschild Straße des 13. Januar als Foto, verfremdend ist es ergänzt um ein ,leeres' Straßenschild und um ein Schild: .Einbahnstraße in Gegenrichtung', die an dieser Stelle in der ,Realität' nicht existieren, denn die Straße ist in zwei Richtungen befahrbar. Es besteht eine be- 103 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft Die Stilzüge wissenschaftlicher Aufsätze sind vorhanden: Abstraktheit: Konsequenter Gebrauch von Termini, deren Menge den Text sehr dicht macht: Stil, Kookkurrenz, Interaktion, Intertextualität, Kanal, Medium und von Fachwörtern: Relation, konventionell, relativ zu; Verwendung von (abs‐ trahierenden) Schaubildern. Objektivität /  Sachlichkeit (s. Fucks / Lauter) entsteht durch die Vermeidung folgender Mittel: wertende Wörter, die Einstellung zum Mitgeteilten ausdrü‐ ckende Wörter, Expressiva. Auf diese Weise wird reine Sachbezogenheit ver‐ mittelt. Folgerichtigkeit /  Klarheit: Am Anfang prägen vor allem Fragen und Ant‐ worten den Text und steuern so den Gedankengang. […] inwiefern ist Stil rela‐ tional? Stile sind zunächst insofern relational, als […]. Dann folgen feststellende und argumentierende Passagen: Die Interagierenden haben Erfahrungen er‐ worben F E S T S T E L L E N […] Es werden also […] S C H L U S S F O L G E R N . Das eigene Vor‐ gehen wird von der Autorin angekündigt bzw. kommentiert: Dies soll im Fol‐ genden gezeigt werden […]; Zuvor zur Vororientierung ein Modell […]. Die Interagierenden haben aufgrund ihrer kommunikativen Erfahrungen stilistisches Wissen erworben und dieses ist die Voraussetzung dafür, dass derartige Relationen relevant werden können (vgl. Tolcsvai Nagys 1998 ko‐ gnitiven Zugang zu Stil). Es werden also nicht nur Aspekte der Interaktion durch typisierte Stile und den jeweils aktuell gewählten Stil mit bedeutet, sondern Stil ist erst in Relation des gestalthaft Geäußerten zu Interaktionsaspekten interpretierbar. Dies soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden. Zuvor zur Vor-Orientierung ein Modell derjenigen Kommunikationsaspekte, die paarweise als Relationen relevant (gemacht) werden können (Sandig 2001: 23). 104 Ulla Fix Es werden also nicht nur Aspekte der Interaktion durch typisierte Stile und den jeweils aktuell gewählten Stil mit bedeutet, sondern Stil ist erst in Relation des gestalthaft Geäußerten zu Interaktionsaspekten interpretierbar. Dies soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden. Zuvor zur Vor-Orientierung ein Modell derjenigen Kommunikationsaspekte, die paarweise als Relationen relevant (gemacht) werden können (Abb. 1): Kultur Historische Zeiten/ Moden Institution/ Handlungsbereich Situationstyp X Beziehung S/ R Haltungen Einstellungen Sprachproduzent (Rollen, S t a t u s , . . . ) KA TEXT ME Handlungstyp Geäußertes = Text(-)/ Gespräch(steil) als Mittel des Vollzuges Thema/ Themen NAL TRÄGER DIUM Haltungen Einstellungen Rezipient (Rollen, S t a t u s , . . . ) Beziehung S/ R Situationstyp Institution/ Handlungsbereich Kultur • Historische Zeiten/ Moden • X Abbildung 1 Bei dieser Modellierung wird der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber die Interaktion im Gespräch mit den wechselnden Gesprächsrollen nicht eigens dargestellt, sondern mitgemeint. Die Vielfalt der Relationen, die ich im Folgenden andeuten werde, macht Stil so schwer beschreibbar, sie ist auch der Grund dafür, warum Methoden des Vergleichens ganz wesentlich sind (Fix 1991). Van Dijk (1997) betont, dass die Beteiligten in schriftlichen oder mündlichen Interaktionen nicht nur über kognitive „Modelle" für Handlungstypen Genauigkeit: Ihr dient vor allem der Gebrauch von Termini (da definiert) und Fachwörtern (da vereinbart): Methode, Charakteristik, präzisieren. So wird Ein‐ deutigkeit hergestellt. Dichte: Anders als bei Fucks / Lauter ist der Text nicht durch Nominalisierungen geprägt, sondern weist einen durchgehend verbalen Stil auf. Das macht den Text kaum weniger dicht, erhöht seine Lesbarkeit aber deutlich. Verdichtung wird durch das Vermeiden von Redundanz und durch die Schaubilder hergestellt. Unpersönlichkeit: Der Duktus des Textes ist nicht unpersönlich. Das Ich-Tabu wird gebrochen. Wenn es um Entscheidungen und Vorgehensweisen der Au‐ torin geht, spricht sie in der 1. Person: Die Vielfalt der Relationen, die ich im Folgenden andeuten werde […]; möchte ich […] ein Beispiel wählen. Es finden sich kaum Nominalisierungen sowie andere Mittel des unpersönlichen Ausdrucks. Damit weicht Sandig ab von den Erwartungen, die der Stilzug Unpersönlichkeit ausdrückt. Ebenso erfüllt sie an einer Stelle nicht die Erwartungen, die der Stilzug Objektivität /  Sachlichkeit weckt. Die Verwendung des Ausrufezeichens im Titel ist ungewöhnlich. Sie drückt, entgegen dem Üblichen, eine nachdrück‐ liche Stellungnahme, also Subjektives, aus. Und schließlich ist auch die Schluss- Aufforderung des Textes abweichend. Er endet − ungewöhnlicherweise − mit einem Ratschlag: Die Analysierenden sollten versuchen […] (Sandig 2001: 32). 105 Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft Insgesamt setzt dieser Text die Ansprüche an die Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ zweifellos um, aber in einer Weise, die einem pragmalinguistisch ori‐ entierten Denkkollektiv der Nach-68er-Jahre entspricht, das wohl auch die Muster der englischsprachigen Fachliteratur verinnerlicht hat: Der Text ist durchweg verbal, demzufolge leicht verständlich. Er ist persönlich, bekennt sich also zum Anliegen. Und er ist politisch, was den zu untersuchenden Sachverhalt betrifft. 8 Fazit Das Anliegen des Beitrags war es, den Blick aus der Perspektive Flecks auf den Wechsel von Denk- und damit auch von Sprachstilen am Fall der Textsorte ‚wis‐ senschaftlicher Aufsatz‘ zu richten. Gegenstand waren sprachwissenschaftliche Aufsätze aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So konnte ein Einblick ge‐ wonnen werden in die Entwicklung des textsorten- und textstilbezogenen Zweigs der Sprachwissenschaft in diesem Zeitraum, was wissenschaftsgeschichtliche Auf‐ schlüsse über Denkkollektive und deren Stile erlaubt. Die Texte aus den Perioden des Neoidealismus, des Strukturalismus und der Pragmalinguistik wurden mit Blick auf deren Textsortenzugehörigkeit und Denkstilgebundenheit vergleichend un‐ tersucht, eine knappe Charakterisierung des jeweiligen Denkstils und Denkkol‐ lektivs ging damit einher. Was bleibt als Fazit? Obwohl alle drei Texte eindeutig als wissenschaftliche Aufsätze zu erkennen sind, tragen sie doch jeder eigene Züge, die zweifelsfrei durch die Orientierung des jeweiligen Denkkollektivs vorgegeben sind: individuell-hermeneutisch, mathematisch-hermeneutisch und pragmatisch-se‐ miotisch. Dass Denkkollektive, auch wenn sie sich mit demselben Gegenstand befassen, doch aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltsichten, Erkenntnisinte‐ ressen, Theorien und Methoden je eigene Stile entwickeln, wurde damit für einen kleinen Ausschnitt aus der stilistischen Fachliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt. Literatur Quellen Spitzer, Leo 1990: Matthias Claudius’ Abendlied. In: Leo Spitzer: Texterklärungen. Auf‐ sätze zur europäischen Literatur. Frankfurt a. M., 176-186, (zuerst in: Euphorion LIV, 1960, 70-82). 106 Ulla Fix Fucks, Wilhelm / Lauter, Josef 1965: Mathematische Analyse des literarischen Stils. In: Helmut Kreuzer /  Rul Gunzenhäuser (Hg.): Mathematik und Dichtung. München, 107- 122. Sandig, Barbara 2001: Stil ist relational! Versuch eines kognitiven Zugangs. In: Eva-Maria Jakobs /  Annely Rothkegel (Hg.): Perspektiven auf Stil. Tübingen, 21-33. Sekundärliteratur Adamzik, Kirsten 2016: Textlinguistik. Grundlagen. Kontroversen. Perspektiven. 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Korrespondenzen zwischen Feld, Diskurs und Stil In and Out: In welchen Feldern spricht die Populärwissenschaft? Die Erfindung einer Fachsprache für die Life Sciences: Ein Fallbeispiel aus dem 20. Jahrhundert Von der Biologie zu den Life Sciences: Die Erfindung eines neuen Begriffs ‚good science‘ vs. ‚bad science‘: Stilwechsel und Kapitalsorten-Transfer in der biologischen Verhaltensforschung Für eine Komparatistik des Stilwechsels in nationalspezifischen Wissenschafts‐ kontexten 1 Theoretische Vorbemerkungen: Wissenschaft ohne Stil? Wenn Wissenschaftler über Wissenschaft sprechen und damit über sich selbst als Wissenschaftler und Forschende reflektieren, dann kann dies entweder his‐ torisch aus der Disziplingenese des eigenen Fachs heraus begründet oder per‐ sönlich und individuell motiviert sein. Beide Faktoren können sich jedoch auch gegenseitig bedingen und dadurch die intellektuelle Atmosphäre eines Denk‐ kollektivs schaffen, das nicht nur eine Selbstbeobachtung der eigenen wissen‐ schaftlichen Tätigkeit einleitet, sondern darüber hinaus neue Formen des Um‐ gangs mit den wissenschaftlichen Produkten erschafft, eine neue Denk- und Schreibweise etabliert und vielleicht sogar ein neues Textgenre begründet. Ein solcher Prozess wird nicht nur durch wechselseitig sich bedingende Faktoren innerhalb und außerhalb des wissenschaftlich-akademischen Feldes bedingt, sondern kann - bewusst oder unbewusst - von bestimmten Akteuren dieses Feldes provoziert werden. Im 20. Jahrhundert haben sich mittlerweile von der philosophischen Wissen‐ schaftstheorie ausgehend neben der Wissenschaftsgeschichte die Wissenschaftsanthropologie und -soziologie herauskristallisiert, die die Arbeit in den Laboratorien zu ihrer anthropologischen Feldarbeit erhoben haben. Man spricht von „Wissenskulturen“ (vgl. Knorr-Cetina 2002), die unterschiedliche For‐ schungsmodi besitzen (vgl. Nowotny 1999), oder von „Experimentalsystemen“ und technisch-kulturellen Artefakten, die „epistemische Objekte“ erschaffen (vgl. Rheinberger 2001). Das alltägliche Leben der naturwissenschaftlichen La‐ boratorien wurde inspiziert, dort, wo Forschung betrieben wurde, wurde eine Beobachterinstanz installiert, die über das Forschen geforscht hat (vgl. La‐ tour /  Woolgar 1986). Insbesondere die frühen Feld-Arbeiten von Latour und Woolgar haben in ihrem Laboratory life (1986) auf die Produktion von Fakten im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit hingewiesen, auf die Proble‐ matik des subjektiv-individuellen Bezugs auf technische Hilfsmittel und die schwierige Auswertung von maschinell produzierter Information hin zur Kon‐ struktion eines durch Sprache vermittelten wissenschaftlichen Textes. Sie haben insbesondere in ihren vergleichenden sprachlichen Analysen zwischen wissen‐ schaftlichem Fachjargon und dessen Übersetzung ins eigentlich Gemeinte die Crux des naturwissenschaftlichen Forschens benannt: die Interpretation von gesammelten Daten und die Übersetzbarkeit derselben in ein verständliches System von Aussagesätzen, und das nicht nur für die Publikation, sondern zu‐ nächst auch für sich selbst. Die diachrone wie auch synchrone Wissenschafts‐ linguistik und Fachsprachenforschung gehören damit - seit Harald Weinrich (1995) wesentliche Impulse zur theoretischen Formalisierbarkeit dieser proble‐ matischen Sachlage geliefert hat - neben den oben genannten Disziplinen zu den wichtigsten Instrumenten, um die Prozesse der selbstreflexiven Schleifen auf den Boden der sprachlichen Tatsachen zurückzuholen: ihre Vermittelbarkeit sich selbst und den Peers gegenüber. Das hier beschriebene Problemfeld betrifft die Vertextung naturwissenschaftlicher Rohdaten aus dem Labor, die man - meistens in einer Kollektivautorschaft - zu Papier bringen muss. Der französische Nobelpreisträger und Molekularbiologe François Jacob hat in seiner Autobiographie La statue intérieure (1987) eine Unterscheidung zwi‐ schen ‚Tag- und Nachtwissenschaft‘ eingeführt, die genau jene sprachlichen 112 Patricia A. Gwozdz Übersetzungsprozesse aus der subjektiven Perspektive der Selbstbeobachtung problematisiert. Dabei werden die Techniken der ‚kalten Tagwissenschaft‘ (Lehrbuch, Handbuch, ‚ineinandergreifendes Räderwerk von Beweisen‘) denje‐ nigen der ‚Nachtwissenschaft‘ diametral entgegengestellt. Die Eigenschaften der ‚Nachtwissenschaft‘ werden in einer enumeratio von Begriffen wie Ah‐ nung, Vorgefühl, Entwurf, Zufall, Labyrinth, Suche, Hoffnung, Erregung und Me‐ lancholie listenartig angeführt. Nicht die Selbstanalyse der Tagwissenschaft steht hier im Vordergrund, sondern ganz klar diejenige der Nachtwissenschaft, die sich zwischen Forscher-Subjekt und Forschungsobjekt konstituiert oder vielmehr ereignet. Hier wird der Wechsel zwischen zwei unterschiedlichen Wis‐ senschaftsstilen thematisiert. Das Problem besteht allerdings darin, dass Wis‐ senschaft keinen Stil besitzen darf, wenn sie Wissenschaft sein will. Stil und Wissenschaft schließen sich gegenseitig aus, weil der Stilbegriff eine Kompo‐ nente in die Wissenschaftspraxis einführt, die per definitionem ausgeschlossen ist: der subjektiv-individuelle Zugriff, der gerade die Abweichungen von der Regel produziert und damit erst Individualität begründet (vgl. Link-Heer 1986). Der Begriff des ‚Stils‘ gehört viel mehr in das künstlerische Atelier als in wis‐ senschaftliche Laboratorien. Doch gerade diese Trennung wird durch Jacobs Analogie von Wissenschaft und Kunst aufgehoben und sogar noch dramatisiert und potenziert, denn es gibt nicht nur einen Stil, sondern zwei und damit ist bereits die Frage eröffnet, ob es nicht auch noch gerade im Bereich der ‚Nacht‐ wissenschaft‘ jeweils unterschiedliche Manifestationen gibt. Das zumindest suggeriert die literarisch-fiktionalisierte Prosa des Biologen. Damit stellt er sich in eine französische Traditionslinie von Naturforschern, die bereits bei dem französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon mit dem Ausspruch „le style est l’homme même“ begann (vgl. Gumbrecht 1986: 756). Schließlich sollte es noch ein weiteres Jahrhundert dauern, bis der polnische Wis‐ senschaftshistoriker Ludwik Fleck den Stilbegriff auch auf die naturwissenschaft‐ liche Praxis übertrug. „Denkstil“ und „Denkkollektiv“ gehören zu einem Begriffsre‐ pertoire der Selbstbeobachtung (natur-)wissenschaftlichen Forschens, das wichtige Impulse geliefert hat, um die scheinbare Objektivität von naturwissenschaftlicher Beobachtung, Protokollierung und Verschriftlichung zu entmystifizieren und so auch den psychologischen und sozialen Aspekt des Forschens zu berücksichtigen (vgl. Fleck 1935 /  1980). Wissenschaftstheoretiker sprechen daher heute von epistemischen Stilen. James Bono definiert den „epistemic style“ als „term and label, a number of intersecting transformations“, die nicht die Gesamtgemeinschaft einer spezifi‐ schen wissenschaftlichen Subdisziplin betreffen, sondern die Arbeit einzelner Individuen in ihrer lokalen Forschungsgruppe (vgl. Bono 1995: 119). Er be‐ 113 Feld und Stil 2 Zur Diskrepanz der Begriffe Wissen und Information vgl. Charpa (2001: 96), Breidbach (2008: 15) und Kübler (2009: 118). zeichne daher nicht einen dominanten, wissenschaftlichen Stil, sondern lokal variierende und variable „scientific styles“, die in einem „originative material context“ entstehen (ebd.). Die individuelle Formierung dieses inkorporierten Sets an Erfahrungswissen, das im Labor angelernt, erlernt und weitergegeben wird - ähnlich der maniera in den Handwerkstätten der Renaissance-Künstler, zeugt vor allem davon, dass die Entstehung eines epistemischen Stils ein regu‐ latives Ensemble individuellen Forscherwissens bezeichnet, das erneut prakti‐ ziert und erworben werden muss (vgl. Rheinberger 2001: 80). Spricht man also von epistemischen Stilen, meint man zunächst keine diskursiven Stile im Sinne von Schreib- oder Sprachstilen, sondern die je individuelle oder intersubjektiv erworbene kognitive Fähigkeit eines Forschers oder einer Gruppe, deren Grad an ‚Erfahrenheit‘ (Fleck) mit den ‚epistemischen Dingen‘ von Labor zu Labor variieren kann (vgl. Rheinberger 2001: 80). Sobald es jedoch darum geht, diese Erfahrung zu versprachlichen und damit in einen fachsprachlichen Diskurs zu überführen, muss man sich mit den Text‐ konventionen des Scientific Paper auseinandersetzen, seinen Regeln und Ver‐ textungsverfahren, um das konfuse Leben im Labor den Peers in anderen La‐ borwelten zugänglich zu machen. Individuelle Schreibstile können sich hier kaum ausleben oder profilieren. Die globale Form einer naturwissenschaftlichen Wissenskultur konstituiert sich erst im Scientific Paper in der stark verlagspo‐ litisch monopolisierten Publikationsform von Autorenkollektiv, Titel und Zeit‐ schrift (vgl. Galison 2003). Sinn und Zweck ist das argumentative Verschnüren von Daten zu kommunizierbaren Informationen, die wiederum durch Wege der Rezeption und der damit zusammenhängenden Interpretation zu einem be‐ stimmten Grad der Wissensaneignung führen können. 2 Von Stilen im Plural zu sprechen, wenn man von rein fachsprachlichen Texten spricht, ist nahezu un‐ möglich. Es gibt nur einen Stil und dieser muss so einheitlich wie möglich sein, um eine größtmögliche Reproduzierbarkeit der Daten in vergleichbaren For‐ schungskontexten zu gewährleisten. Bevor ich in den folgenden Ausführungen zum Stilwechsel innerhalb des wissenschaftlichen Feldes der Life Sciences komme, möchte ich methodologische Vorbemerkungen zum Zusammenhang von Feldanalyse (P. Bourdieu), Diskurs‐ theorie ( Jürgen Link) im Kontext einer „pragmatisch orientierten Textsorten‐ forschung“ (vgl. Adamzik 2000b) vorbringen und einen kurzen historischen Ab‐ riss des populärwissenschaftlichen Subfeldes akademischer Wissensproduktion skizzieren, um auf dieser Grundlage Erklärungshypothesen für den Stilwechsel 114 Patricia A. Gwozdz zwischen Textsorten anzubieten. Enden werde ich mit einem Ausblick auf eine mögliche Komparatistik der Stilwechsel in nationalspezifischen Wissenskul‐ turen. 1.1 Korrespondenzen zwischen Feld, Diskurs und Stil Als Ludwik Fleck Begriffe wie Denkstil und Denkkollektiv prägte, sprach er noch nicht von der Wissenschaft als System oder Feld, wie es später Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu tun sollten. Luhmann ließ sich vor allem von der Informatik, Mathematik und Biologie inspirieren, Bourdieu bediente sich physikalischer Konzepte. Blicken wir auf die Differenz zwischen den beiden Soziologen Luh‐ mann und Bourdieu und vergleichen Feld und System miteinander, dann wird schnell ersichtlich, dass sich beide Begriffe sehr gut dafür eignen, Prozesse der Wissenschaft(en) zu beschreiben, weil sie abstrakt genug sind, um komplexe Sachverhalte auf wenige, beschreibbare Variablen zu reduzieren, sodass sie überhaupt erst beschreibbar werden. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Begriffen - und beiden Denkern -, der das grundlegende Verständnis dieser Prozesse und ihre Analyse maßgeblich beeinflusst: Systeme im Sinne Luhmanns sind au‐ tonom agierende Einheiten, hermetisch abgeschlossen, selbstreferentiell und operieren mit binären Codes; Felder hingegen besitzen eine relative Autonomie, sie können durch feldinterne oder -externe Faktoren verändert werden, sie werden zudem durch zwei unterschiedliche Pole konstituiert - einen hetero‐ nomen und einen autonomen Pol -, die gleichzeitig auch Kriterien darstellen, um ein Feld als Feld allererst identifizieren zu können. Die Beobachtung der Ausdifferenzierung von Systemen und Feldern beruht zwar auf ähnlichen Be‐ schreibungsmustern, dennoch bietet gerade Bourdieus Topologie sozialer Felder innerhalb des Feldes der Macht mehrere Anknüpfungspunkte, um Systeme nicht in einem menschenleeren Raum zu verorten, sondern die Felder an die Positionen von Akteuren und ihre jeweiligen Handlungsspielräume - bedingt durch ihren Habitus - zurückzubinden. Zirkulationsprozesse der Diskurse können so feld‐ theoretisch eingeordnet, beschrieben und erklärt werden (vgl. Diaz-Bone 2002). Diaz-Bone hat bereits den Versuch unternommen, Feldtheorie und Diskursana‐ lyse zusammenzubringen, da es in Bourdieus Distinktionsanalyse nur um die Korrespondenz von Diskurs- und Feldposition ging, nicht aber um eine inhalt‐ liche Analyse dieser Diskurse. Sein ‚schwaches Diskurskonzept‘ müsse daher diskurstheoretisch radikalisiert werden, denn nur so sei es überhaupt möglich ‚distinktive Genres‘ voneinander zu unterscheiden und inhaltlich zu erklären (vgl. ebd.: 70). 115 Feld und Stil 3 Diaz-Bone kritisiert genau diese einseitige Identifikation, weil Bourdieu dadurch die Populärkulturen als eigenständige, für sich geltende Form kultureller Praktiken dis‐ qualifiziere (Diaz-Bone 2002: 65). Auch Rehbein (2011: 306) hält fest, dass Bourdieus Ausführungen zum Populären relativ unscharf, schwammig und irreführend seien, weil er gerade den Status der Populärkultur als lebensstilbildende Kategorie des Habitus unbeantwortet lasse. Nina Zahner (2006) hat jedoch gezeigt, wie es über eine Modifi‐ zierung des Feld-Begriffs durch neue Anwendungskontexte - wie z. B. die Pop-Art im New York der 1960er Jahre - möglich ist, dieses Vorurteil Bourdieus mit seinen eigenen Ich stütze mich im weiteren Verlauf auf Jürgen Links Überlegung zum Dreieck Luhmann /  Foucault /  Bourdieu, die er vor dem Hintergrund seiner eigenen kri‐ tischen Diskursanalyse miteinander verglichen hat (vgl. Link 2007). Zunächst ist es wichtig anzumerken, dass Link sein eigenes Modell weniger als ein alles erklärendes und beschreibendes System ansieht, sondern eher als eine „heuris‐ tische Orientierungshilfe“ (ebd.: 226) im Sinne einer ‚symbolisch (metaphori‐ schen) Topik‘ (vgl. ebd.: 225), die in das diskursive Gewimmel eine relative Übersicht und Ordnung einführt. Er gliedert dieses Modell in zwei Achsen ein: die horizontale Achse der wissenschaftlich-akademischen Spezialisierung und die vertikale Achse der gesellschaftlichen Stratifikation. Jede Achse besteht wiederum aus mehreren weiteren Unterteilungen, wobei eine Art von Top-down-bottom-up-Prozess zwischen den Diskursen innerhalb dieser Achsen verläuft: Das Spezialwissen sickert in die Elementarkultur des Alltagswissens, in dem die ‚Kollektivsymbolik‘ produziert wird. Diese Sphäre ist in sich wie‐ derum hierarchisch geordnet und reicht von ‚elaborierten, hegemonialen Inter‐ diskursen‘ bis hin zu ‚nicht-hegemonialen Elementardiskursen‘ (Subkulturen). In diesem Regelkreiswerk fungiere daher die ‚reintegrative, selektiv-exempla‐ rische Interpraxis‘ als Übersetzungsinstanz. Jürgen Link bezeichnet dies als Kreativzyklus, der nicht nur zwischen der elaborierten Kultur der Spezialdis‐ kurse und der elementaren Alltagskultur vermittle, sondern auch zwischen Ele‐ mentar- und Interdiskursen, die sich wechselseitig beeinflussten (vgl. ebd.: 231). Diese interne Hierarchisierung des Interdiskurses sei nicht einfach auf die Achse der Stratifikation abbildbar, sondern müsse als funktional notwendige selbstän‐ dige Kultur aufgefasst werden, weil sie in erster Linie nicht als „Kultur sozialen Defizits“ anzusehen sei, „sondern vor allem als Kultur intensivster Subjektivie‐ rung des Wissens fungiert“ (ebd.: 232). Diese Aufwertung der Alltagskultur gegenüber dem ‚privilegierten Forscher‐ wissen‘ (vgl. Charpa 2001: 104) ist ein entscheidender Punkt im Gegensatz zur feldtheoretischen Perspektive Bourdieus, der die Kultur oft ausschließlich mit der legitimen Hochkultur identifiziert und sie von der Welt des Kleinbürgertums absondert. 3 Allerdings muss man ebenso zugestehen, dass der Gebrauch des Be‐ griffs Hierarchie auch bei Link immer schon gewisse Normsetzungen voraus‐ 116 Patricia A. Gwozdz Methoden zu entkräften und dadurch seiner Theorie durch eine Erweiterung der em‐ pirischen Untersuchungsgegenstände neue Impulse zu geben. setzt, unabhängig davon, ob es sich um Selbstzuschreibungen der jeweiligen Kultur handelt oder aber externe Wertzuschreibungen aus anderen Feldern. Hier tun sich keine methodologischen Gegensätze auf, sondern Verbindungen zwi‐ schen Links Achsen-Diskurs-Modell und Bourdieus Begriffen wie Orthodoxie, Heterodoxie, Allodoxia, die er gebraucht, um Inklusions- und Exklusionsprozesse zwischen Feldgrenzen sowie die interne Hierarchisierung durch Positionierung innerhalb der Felder zu beschreiben (vgl. Bourdieu 1987: 500 ff.). Bourdieus Doxa-Konzept beruht dabei sowohl auf der klassischen Marx’‐ schen Definition vom falschen Bewusstsein als auch auf der antiken Tradition der doxa als unhinterfragbare Meinung: „Bourdieu bezeichnet mit dem Begriff der Doxa alle Meinungen, deren Gültigkeit fraglos vorausgesetzt wird. Sie sind zu unterscheiden vom Universum des Diskurses, in dem Meinungen explizit geäußert werden, sei dies in orthodoxer oder heterodoxer Form“ (Koller 2009: 79). Doxa ist daher jeder Ideologiebildung vorgelagert und kann damit auch aus einer bereits bestehenden Problematisierung innerhalb von Diskursen in Form von Orthodoxie oder Heterodoxien entstanden sein. Sie stellt somit eine kom‐ plexe Verflechtung von Habitus-Prädispositionen und Feldstrukturen dar, die auch im wissenschaftlichen Feld wirksam werden. Wenn man etwas als unver‐ meidbar fraglos akzeptiert, weil es spielkonstitutiv ist, an etwas zu glauben, um in einem bestimmten Feld überhaupt ‚diskursiv‘ existieren zu können, dann liegt bereits eine Doxa vor. Sobald diese erkannt und anerkannt wird und sich gegen eine bestimmte Form von Häresie durchsetzt, liegt eine hegemoniale Diskurs‐ position vor, d. h. die offizielle, definitive Meinung der herrschenden Klasse (Orthodoxie). Ihr gegenüber kristallisiert sich eine Gegenkultur heraus, die He‐ terodoxie, die alternative Sichtweisen und ein mehrperspektivisches Meinungs‐ system in den Diskurs einzuführen versucht. Von ihr wiederum unterscheidet er die Allodoxia, die Formen eines relativie‐ renden und perspektivisch-relationalen Diskurses vorspielt, um sich als Orthodoxie bereits etablierter Ordnungen einzunisten. Diese letzte Variante la‐ gert sich vor allem in den Schichten des Alltagswissens ab. Die Akteure sind jedoch nicht als passiv Erleidende zu verstehen, die von externen Faktoren des Feldes bestimmt werden. Effekte der Allodoxia gleichen nicht einer aktiven In‐ doktrinierung im Sinne einer Propaganda-Maschinerie, der die Akteure einfach ausgeliefert sind. Mit dem Begriff der illusio bezeichnet Bourdieu (2001: 270) stattdessen eine wesentliche Scharnierstelle zwischen Feld und Akteur bzw. Habitus, die zu verstehen geben möchte, dass jeder Akteur bereits einen be‐ 117 Feld und Stil stimmten Spielsinn (ludere) für das Feld entwickelt hat, mit dem er aktiv an der Konstruktion dieses Feldes teilnimmt und sich mit seinen Diskursmöglichkeiten auseinandersetzt. Daher betont Bourdieu in verschiedenen empirischen Kon‐ texten, dass die Produktion einer Doxa konstitutiver Teil der Konstruktion eines Feldes ist: „Die Teilhabe an den konstitutiven Interessen der Zugehörigkeit zum Feld (das sie voraussetzt und zugleich durch sein Funktionieren hervorbringt) impliziert das Ak‐ zeptieren einer Gesamtheit von Vorannahmen und Postulaten, die als undiskutierte Voraussetzungen der Diskussion per definitionem geschützt bleiben“ (Bourdieu 2001: 270). Auch Bourdieu kennt die Funktionalität eines Interdiskurses und sieht sicherlich auch die gesellschaftliche Notwendigkeit eines solchen integrativen, regula‐ tiven Diskurses zwischen Spezial- und Elementardiskursen, dennoch ist er miss‐ trauisch, was die Anerkennung dieser Praxis durch die ‚legitime Hochkultur‘ angeht. Für ihn ist das Feld der kulturellen Massenproduktion, das mittels Print‐ medien, Fernsehen, Radio und Internet konstruiert und beherrscht wird, selbst dafür verantwortlich, dass es zu einer ‚mittleren und legitimen Kultur‘ komme, d. h. einer Unterscheidung von zwei Kulturklassen, die in das Bewusstsein des Kleinbürgers rückten (vgl. Bourdieu 1987: 500 f.). Die sogenannte ‚mittlere Kultur‘ stehe jedoch dabei nicht im Gegensatz zur legitimen Kultur, da sie noch nicht einmal tatsächlich existiere. Sie sei eher als eine Art von Haltung des Kleinbürgers in Bezug zur Kultur zu verstehen, die dadurch charakterisiert sei, dass ihr Verständnis in einer wie auch immer gearteten ‚falschen‘ Bezugnahme auf kulturelle Güter gründe. Dies bezeichnet er als Allodoxia (ebd.: 513). Die Prozesse, die in diesen Feldern wirksam werden, gleichen dabei denje‐ nigen des wissenschaftlichen Feldes: die Austragung symbolischer Macht‐ kämpfe um kulturelle Legitimität, deren eigene Konstruktionsgesetze nicht weiter hinterfragt werden, sondern an die permanent geglaubt wird. Diese Doxa ermögliche gerade die Reproduktion unbewusst-bewusst bestimmter Strate‐ gien. Der ‚Effekt dieser Verschleierungstechnik‘ reproduziert die Abstände zwi‐ schen den Klassen: Der Allodoxia-Effekt (ebd.: 390) ist das Etikett für einen Be‐ schreibungszusammenhang, der - nun auf Links Modell übertragen - ständig die vertikale Achse der gesellschaftlichen Stratifikation auf die horizontale Achse der zunehmenden Spezialisierung bis zu den Baumdiskursen des wissen‐ schaftlich-akademischen Feldes projiziert, sodass natürlich auch Interferenzen produziert werden, Störungen, die die Genese neuer Felder begünstigen können. Denn, wie Link richtig erkannt hat, Prozesse der Hegemonialisierung von Deu‐ tungsansätzen sind auch in Interdiskursen möglich und können sich damit auf 118 Patricia A. Gwozdz 4 Link bezeichnet sowohl populärwissenschaftliche als auch literarische Praktiken als reglementierende Interdiskurse und betont, dass beiden die Fähigkeit zugestanden werden kann, sowohl elementardiskursiv zu operieren als auch narrativ-subjektivie‐ rend zu kompensieren und damit der zunehmenden Tendenz der Wissenschaftsdiffe‐ renzierung in der Moderne durch eine „Anthropomorphisierung von naturwissen‐ schaftlichem Wissen“ Einhalt gebiete (Link 2005: 201 ff.). Er betont jedoch auch, dass die Populärwissenschaft immer noch viel stärker an den Spezialdiskursen partizipiere und dies auch diskursiv anzeige (vgl. ebd.: 205). An anderer Stelle hebt er ebenfalls hervor, dass es der Kollektivsymbolik zu verdanken sei, dass die Zwei Kulturen - Natur- und Geisteswissenschaften - nicht auseinanderdrifteten, da bereits in den Spezialdis‐ kursen Kollektivsymboliken wirksam seien (vgl. Link 1988: 293). jeder Ebene als herrschende Orthodoxie etablieren. Das Besondere bei Bourdieu ist, dass die Allodoxia als Heterodoxie erscheint, um ihre Orthodoxie zu tarnen und es dadurch dem Kleinbürger zu erlauben, höher hierarchisierte Güter vor‐ behaltlos zu verehren. Eines seiner hierfür eingeführten Beispiele ist die Ver‐ wechslung von Wissenschaft mit Populärwissenschaft (vgl. ebd.: 504). Wodurch also kommt diese Verwechslung zustande? Was passiert beim Al‐ lodoxia-Effekt. Nichts anderes als die „partielle Umwälzung von Rangord‐ nungen“, bedingt und hervorgerufen durch die ambivalente Stellung von ‚Kul‐ turvermittlern‘ - das sind Akteure wie Redakteure von Zeitschriften, Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen, aber auch Kritiker ,anspruchsvoller‘ Presseorgane, Schriftsteller und Publizisten - , die es besonders gut verstehen, sich zwischen den intellektuellen und wissenschaftlichen Autoritäten zu installieren. Diese liminale Position, weder dem einen noch dem anderen Feld gänzlich zuzuge‐ hören, erlaube es ihnen, Gattungen, Stile und Ebenen miteinander zu vermi‐ schen (vgl. ebd.: 510). Während Link also von dem Interdiskurs als einer reintegrativen, selektiv-ex‐ emplarischen Praxis spricht und damit wertneutralere Begriffe verwendet, um den positiven Effekt der Subjektivierung (und Anthropologisierung) von Spe‐ zialwissen in der Gesellschaft hervorzuheben, 4 sieht Bourdieu in dieser Form der diskursiven Übersetzung zwischen den sozialen Feldern bereits eine Repro‐ duktion der klassenunterscheidenden Stratifikation am Werk, denn dass eine solche sozio-kulturelle Praxis überhaupt wirksam wird, zeige umso mehr, dass „die legitime Kultur nicht für ihn [den Kleinbürger] geschaffen ist, wenn nicht sogar gegen ihn, und er also auch nicht für sie geschaffen ist, und daß sie aufhört zu sein, was sie ist, wenn er sie sich aneignet“ (ebd.: 513; Hervorhebungen im Orig.). Das heißt, die bloße Existenz von so etwas wie einer Populärwissenschaft zeigt nicht einfach nur die integrative und subjektivierende Kraft eines Inter‐ diskurses im Sinne einer Vermittlungsinstanz an. Das bloße Bestehen derselben reicht als kulturelles Indiz bereits aus, um zu offenbaren, dass es hierarchische 119 Feld und Stil Ebenen, Klassen, Diskurse und Felder gibt, die nicht überschritten werden können. Sie rufen vielmehr jedem Akteur ins Bewusstsein, dass diese Diskurs‐ formen nur deswegen bestehen, weil eine bestimmte Form des legitimen Spre‐ chens einfach nicht für ihn gemacht ist, von der er ausgeschlossen ist und zu der er vielleicht niemals einen Zugang haben wird. Wenn Bourdieu daher von einer „partiellen Umwälzung von Rangordnungen“ durch die „Vermischung von Gattungen, Stilen und Ebenen“ (ebd.: 510) spricht, dann versteht er darunter vor allem „Sprachstile“ (Bourdieu 1990: 31), denen eine bestimmte Ökonomie des sprachlichen Tauschs zugrunde liegt, gerade weil sie als „Systeme klassifizierter und klassifizierender, hierarchisch geordneter und hierarchisch ordnender Unterschiede“ zu verstehen sind, d. h. aufgrund von Äquivalenzen lassen sich durch die „Klassen der Stilmerkmale“ hindurch die „sozialen Klassen“ erfassen (ebd.: 32). Sprachstile sind also in diesem Sinne selbst Instrumente der Macht, die als Spieleinsatz um symbolische Wirksamkeit in einem bestimmten Feld genutzt werden können. Je nach sozialem Wertkontext einer Sprachgemeinschaft sind diese Stile Ausdrucksmittel des Reichtums und der Autorität (vgl. ebd.: 45), wobei es stets auch um eine Rehierarchisierung von bestimmten Ordnungen geht, deren Grenzziehung immer schon auf einer Er‐ kennung und Anerkennung von höher hierarchisierten Stilen beruht. Zu fragen wäre daher an dieser Stelle, in welchen Feldern die Populärwissenschaft spricht und gesprochen hat, welche Textsorten aus ihrer Diskurspraxis hervorgegangen sind und wie sich der Stilwechsel zwischen Fachsprachen- und Wissenskom‐ munikation manifestiert. 1.2 In and Out: In welchen Feldern spricht die Populärwissenschaft? Die historische Fachsprachenforschung hat bereits aus der diachronen Perspek‐ tive gezeigt, dass die sprachlichen Grenzen zwischen der Entstehung wissen‐ schaftlicher Fachsprachen und ihrer Übersetzung in fachfremde Kontexte bis weit in die Ursprünge der frühen Neuzeit hineinreichen und der Übersetzungs‐ prozess vom Gelehrtenlatein in die Nationalsprachen Europas als erste Etappe einer Vulgarisierung - im Sinne des Übersetzens in die jeweilige Volkssprache (vulgus gleich ‚Volk‘) - und damit auch als erste Phase einer Popularisierung im Sinne einer Aufklärung verstanden werden kann (vgl. Pörksen 1986). Pörksens wesentliche Vorarbeiten zur Frage der Abweichung von einer Wis‐ senschaftssprache, die einen „Populär-Stil“ generiere und den ‚wissenschaftli‐ chen Schriftsteller‘ damit auch mit dem Dilemma zweier Codes konfrontiere, haben gezeigt, dass sich der wissenschaftliche Diskurs durch den Prozess der Übersetzung in die nationale Sprache mit den ‚Assoziationen und Konnota‐ tionen der Umgangssprache‘ vermenge, sodass „schielende Begriffe“ entstünden 120 Patricia A. Gwozdz 5 Hier wäre anzumerken, dass sich bereits innerhalb der naturwissenschaftlichen Fach‐ sprachen gerade aufgrund des Englischen als internationaler Fachsprache unterschied‐ liche Sprachstile ergeben, da für einen Großteil der scientific community Englisch nicht die Muttersprache ist. Hieraus ergibt sich ein Non-Native-Speaker-Effect, der sich im wissenschaftlichen Schreibstil manifestiert (vgl. Sionis 1995; Kourilova 1998). Zur dia‐ chronen und synchronen Betrachtung des Englischen als internationaler Wissen‐ schaftssprache vgl. Gordon (2015). (Pörksen 1986: 70). 5 Stilwechsel wären daher aus historischer Sicht als konsti‐ tutives Merkmal einer jeden Sprachgenese aufzufassen, wobei ich hier unter Stilwechsel den bewussten und strategischen Gebrauch eines Sets von Diskurs‐ regeln verstehe, die sich topologisch - von ihrer Feldzugehörigkeit her betrachtet - gegenseitig ausschließen. Stilwechsel stellen damit eine Hybridisierung und Rehierarchisierung von Stilen dar, die die Position eines Akteurs innerhalb eines Feldes neu bestimmen. Sie sind Indikatoren für die Änderung der Feldposition. Der Stilwechsel kann demnach einen Feldwechsel vorbereiten oder es aber er‐ möglichen, dass der Akteur in zwei Feldern gleichzeitig souveräner Sprecher des sprachlichen Tauschs ist. Bourdieu hat hierfür den Begriff der Strategie der Herabsetzung geprägt und diese an Martin Heideggers philosophischem Sprachsystem erläutert (vgl. Bour‐ dieu 1990: 122 f.). Diese Strategie beruht auf einer ‚symbolischen Negation von Hierarchien‘, deren Mechanismus des sprachlichen Tauschs dazu beiträgt, dass sowohl Profite aus dem objektiven Machtverhältnis zwischen den Sprachstilen bezogen werden als auch aus denjenigen, die aus der Negation dieses Macht‐ verhältnisses und damit dem direkten Vergleich resultieren. Hinreichende Be‐ dingung dieser ‚Herablassung‘ ist natürlich, dass die ‚objektive Distanz zwi‐ schen den beteiligten Personen‘ (anhand ihrer sozialen Merkmale) bekannt ist und von den Akteuren (Zuhörern, Lesern) anerkannt wird, sodass die ‚Profite aus der unangetasteten Hierarchie‘ und aus ihrer Negation kumulieren können (vgl. ebd.: 47). Diese Form der Distinktionsaussagearbeit (vgl. Gwozdz 2016: 107) vollzieht sich sowohl auf der Ebene der Umgangssprache, die nach Bourdieu das „Produkt der akkumulierten Arbeit eines Denkens [ist], das von den Machtver‐ hältnissen zwischen den Klassen beherrscht wird“, als auch auf der Ebene der „gehobenen Sprache“, wie z. B. der „Wissenschaftsrhetorik“ des wissenschaft‐ lich-akademischen Feldes (Bourdieu 1990: 130). Die vertikale Achse der Strati‐ fikation bildet damit die horizontale Achse der Distinktionsaussagearbeit zwischen den Diskursen ab und vice versa. Populärwissenschaftliche Überset‐ zungsprozesse beruhen auf einer solchen ‚symbolischen Negation von Hierar‐ chien‘, die auch ‚häretische Brüche‘ innerhalb von Feldern evozieren und damit einen neuen Stil generieren können. 121 Feld und Stil 6 S. dazu meine vergleichende Auswertung der internationalen Forschungsliteratur von Wissenschaftshistorikern zum 19. und 20. Jahrhundert (Gwozdz 2016: 163-319). Während vulgarisieren also zunächst einfach nur übersetzen meint, wurde das Popularisieren der Wissenschaft im Laufe der Geschichte dieses Begriffs pejori‐ siert, zumindest im Deutschen. Die immer wiederkehrende Formel Wissenschaft für das Volk, science pour tous, science for all, die sich vor allem durch den wach‐ senden Zeitschriftenmarkt des 19. Jahrhunderts etablierte, galt Akteuren am autonomen Pol des wissenschaftlichen Feldes als Etikett für die Abgrenzung der eigenen Praxis, die in von der Öffentlichkeit abgeschirmten Laboratorien statt‐ fand. Sicherlich wurden gelegentlich ‚populäre Vorträge‘ in dafür eigens her‐ gerichteten Orten abgehalten, um sich als ‚Goethe der Wissenschaft‘ vor einem größeren fachfremden Publikum zu präsentieren, d. h. als eine Art von huma‐ nistisch-literarischem Gelehrten, der eigentlich Naturwissenschaftler ist. 6 Dabei hat bereits Ludwik Fleck sehr klar erkannt, dass die ‚exoterische‘ und ‚esoteri‐ sche Wissenschaft‘ einander bedürfen, weil sie ohne ihre gegenseitige Bezug‐ nahme kaum existieren könnten. Gerade die ‚Populäre Wissenschaft‘ bzw. ‚Wis‐ senschaft für Nicht-Fachleute‘ liefere dem Wissenschaftler immer wieder aufs Neue den Ansporn, den er brauche, um an die wissenschaftliche Praxis zu glauben, d. h. ihr einen Sinn zu geben (vgl. Fleck 1980: 152). Was jedoch vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts in den westlich-europäischen Industrienationen zu beobachten ist, das sind die parallelen Ausdifferenzierungen verschiedener Prozesse, die auf das akademisch-wissenschaftliche Feld der Naturwissen‐ schaften einwirken und es porös werden lassen, d. h. sensibel für feldexterne Faktoren, die es verändern. Normalerweise, so Bourdieu (1998: 19), sei gerade die „Brechungsstärke“ externer Einflüsse in dem jeweiligen Feld ein Indikator dafür, wie hoch sein Grad an Autonomie sei. Was sich jedoch gerade in diesem Jahrhundert abzeichnet, ist, dass die verstärkte Industrialisierung auch nicht vor dem wissenschaftlichen Feld Halt macht, vielmehr dringt es in seine Struktur ein, verändert es und macht es von ökonomischen Faktoren abhängig. Louis Pasteur war nicht nur Forscher, er war auch Eintreiber von Geldern für seine Forschung, Politiker, Sprecher für seine wissenschaftliche Tätigkeit, um For‐ schung überhaupt betreiben zu dürfen (vgl. Fox 2012: 132). Dieser transgenetische Zusammenschluss des ökonomischen und wissen‐ schaftlichen Feldes wird durch das Feld der kulturellen Massenproduktion des Zeitschriften- und Buchmarktes begünstigt. Es ist insbesondere das Feld der Verleger und Publikationshäuser, das auf einzelne Akteure des autonomen Pols bestimmte Auswirkungen gehabt und die Wahl eines bestimmten Sprachstils bestimmt hat. Die historische Transgenese dieser Felder hat sich durch die Aus‐ 122 Patricia A. Gwozdz 7 Fligstein / McAdam (2012: 85 f.) erweitern Bourdieus Feld-Konzept dahingehend, dass sie von einem ‚strategischen Handlungsfeld‘ sprechen, das auch größere Organisa‐ tionen von Gruppen und Institutionen als Akteure betrachtet. In meinen historisch-ver‐ gleichenden Analysen und der Auswertung der Forschungsliteratur vom 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts habe ich gezeigt, dass diese Emergenz des populärwissen‐ schaftlichen Feldes zwar zeitgleich in westeuropäischen Industrienationen einsetzt, je‐ doch aufgrund des Zweiten Weltkrieges und des damit einhergehenden Autonomie‐ verlustes des wissenschaftlichen und journalistischen Feldes ein Stagnieren der weiteren Entwicklung in ein autonomes Subfeld zu beobachten ist, während es sich gerade in den USA durch eine stärkere Institutionalisierung und Ausdifferenzierung des Buchmarktsektors kontinuierlich weiterentwickelt hat. differenzierung der Medien (Radio, Film /  Fernsehen, Internet) im 20. Jahrhun‐ dert noch verstärkt, jedoch bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung und Profes‐ sionalisierung der Populärwissenschaft, die vor allem als Werbung für die Wissenschaft genutzt wird. Hier kristallisierten sich umso deutlicher die Diffe‐ renzen zwischen autonomer Wissenschaft, industriefinanzierter Forschung und journalistischer Wissenschaftsberichterstattung heraus, denn oft kämpften ihre Akteure nicht mit-, sondern gegeneinander, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu führte, dass sich immer mehr Wissenschaftler am autonomen Pol von der Praxis als Popularisatoren zurückzogen. Die Praktiken der Popularisatoren waren ihnen suspekt geworden, während andere Akteure sich wiederum dazu berufen fühlten, das Volk über die Wissenschaft aufzuklären. Wie ich histo‐ risch-vergleichend an anderer Stelle gezeigt habe, ist die Populärwissenschaft heute als ein Subfeld erweiterter akademischer Wissensproduktion zu ver‐ stehen, mit eigenen Regeln, unterschiedlichen Polen und differenzierten Text‐ sorten (vgl. Gwozdz 2016: 163-319). Ich gliedere dieses ‚strategische Hand‐ lungsfeld‘ 7 in folgende historische Stadien: 1. Erste Phase 1500-1800: Vulgarisieren als Übersetzungsprozess vom La‐ 1. tein als Wissenschaftssprache in die einzelnen Nationalsprachen; zu‐ gleich Popularisierung von Wissenschaft auf Schaubühnen, im Wander‐ zirkus und auf Jahrmärkten; Wissenszirkulation ausschließlich an Druckkultur gebunden. 2. Zweite Phase 1800-1900: Expansion des Pressewesens und Spezialisie‐ 2. rung wie auch Ausdifferenzierung des Buchmarktes; Spezialisierung der Wissenschaftler und Binnendifferenzierung der Disziplinen; Didaktisie‐ rung von Forschung und Lehrbuchproduktion für Schulen und Universi‐ täten, die auf Popularisierungsstrategien naturwissenschaftlicher Lite‐ ratur zurückwirkt; Produktion einer neuen Form von Objektivität durch die Einführung der Photographie als experimentelles Instrument (vgl. 123 Feld und Stil 8 Moosmüller (2012) und Rümmele (2012) untersuchen in diesem Kontext in jeweils un‐ terschiedlichen Aufsätzen die Blogger-Community von Wissenschaftlern, die über ihre Forschung schreiben. Nach Rümmele bekommt der wissenschaftliche Diskurs durch diese direktere und persönlichere Form der Kommunikation ein menschliches Gesicht. Moosmüller kommt zu dem Schluss, dass ScienceBlogs keinen passiven Konsumenten von Texten ansprechen, sondern kritische Beobachter aus ihnen mache, die Dialogbe‐ reitschaft signalisierten. Gerade die Unabhängigkeit von Verlegern mache die Blogs zu einer wichtigen Ressource der Wissenschaftskommunikation. 9 Zu den Übersetzungsprozessen zwischen Experten-Laien- und Experten-Experten- Kommunikationen vgl. Weingart (2005), zur historischen Genese des Begriffspaares Hesse (1998). Daston /  Galison 2010) und als Illustrationsmedium für populäre Formate (vgl. Weingart /  Hüppauf 2009). 3. Dritte Phase 1900-2000: Radio (vgl. LaFollette 2008; Schirrmacher 2009), 3. Kinematograph (Reichert 2007: 12) und Fernsehen (vgl. Milde 2009; La‐ Follette 2013; Gwozdz 2018) kreieren neue mediale Formate für die Be‐ richterstattung über Wissenschaft und Forschung sowohl zum Zwecke der Didaktisierung und Popularisierung von naturwissenschaftlichem Forschen als auch für wissenschaftliche Zwecke (z. B. Aufzeichnung von Experimenten als wiederholbare Form der Beobachtung und Interpreta‐ tion). 4. Vierte Phase ab 2000: Durch die neuen Kommunikationsformate des 4. World Wide Web (soziale Medien, ScienceBlogs; vgl. Robertson-von Trotha /  Morcillo 2012) 8 werden unterschiedliche neue visuelle und dis‐ kursive Strategien entwickelt, nicht nur um Wissen an eine fachfremde, interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln, sondern vor allem um das Selbstbild als Forschende zu präsentieren und bildwie textästhetisch in Szene zu setzen. Niederhauser (1999) hat bereits aus linguistischer Perspektive innerhalb der Verständlichkeitsforschung die Textsorten und die Stile der Wissenschaftskom‐ munikation im Journalismus differenziert untersucht. 9 Er geht dabei - in An‐ lehnung an Lothar Hoffmann (1985) - vom vertikalen Schichtmodell der Fach‐ sprachen aus, deren Nähe und Distanz zur Fachlichkeit über Kriterien wie Adressatenbezug, kommunikative Funktion und Reichweite reguliert werde, wodurch sowohl fachinterne als auch fachexterne Textsorten erfasst werden könnten. Auf Gläser (1990) Bezug nehmend betont Niederhauser (1999: 66) au‐ ßerdem, dass das Spektrum populärwissenschaftlichen Sprechens bereits inner‐ halb dieses Schichtenmodells verortet werden könnte und zwar auf der Ebene D, der „Sprache der materiellen Produktion“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie einen niedrigeren Abstraktionsgrad besitzt und damit in die Nähe einer 124 Patricia A. Gwozdz 10 Mit dem Begriff Schwundrisiko ist nichts anderes gemeint, als dass eine Kapitalform entwertet werden oder auch zum Verlust führen kann. natürlicheren Sprache rücke. Niederhauser macht in seinen Überlegungen im‐ plizit auch feldsoziologische Prämissen geltend, wenn er zu bedenken gibt, dass bereits hier eine „medienwissenschaftliche Untersuchung zur Verschiedenheit populärwissenschaftlicher Publikationen und zu deren Positionierung auf dem Medienmarkt“ folgen sollte (ebd.: 67), denn Zeitschriften, wie z. B. Scientific American, deren deutscher Ableger Spektrum Wissenschaft ist, seien bereits Me‐ dienformate in einer „Übergangszone“, die „semipopuläre“ Texte produzierten, weil sie weder der reinen fachinternen noch -externen Kommunikation zuzu‐ ordnen seien. „Popularisierung auf hohem Niveau“ sei hier mit „Prestige“ und dem „Status in der wissenschaftlichen Welt“ verknüpft, zwei Faktoren, die mit diesem Publikationsformat in Verbindung stünden. Da Niederhauser auf diese wichtige Komponente in der Produktion populär‐ wissenschaftlicher Texte nicht weiter eingeht, möchte ich eine kurze Erläute‐ rung aus der Bourdieu’schen Sicht für weiterführende Fragestellungen geben. Niederhauser konstatiert bezugnehmend auf andere Wissenschaftler ein be‐ stimmtes Phänomen im angloamerikanischen Raum und er gibt zwei wichtige Erklärungen an: Prestige und Status in der wissenschaftlichen Welt, zwei Fak‐ toren, die aus feldsoziologischer Perspektive Kapitalformen des wissenschaftli‐ chen Habitus sind. Ein/ e Naturwissenschaftler/ in, der/ die einen populärwissen‐ schaftlichen Artikel oder ein Buch schreiben möchte, wird sich zuerst immer die Frage stellen, bei welchem Verlag er/ sie veröffentlichen möchte, weil die Wahl des Publikationsortes bereits seinen/ ihren Stil und das Publikum be‐ stimmt. Warum hat der Scientific American so viel Prestige? Weil es eine der ältesten, traditionsreichsten und damit arriviertesten Zeitschriften in der Ge‐ schichte der amerikanischen Verlagshäuser ist. Wenn sich ein Naturwissen‐ schaftler entscheidet, dort seine Kapitalform zu investieren, um eine andere Ka‐ pitalform zu steigern, z. B. intellektuelles Prestige, ist das „Schwundrisiko“ (Bourdieu 1985: 73) des wissenschaftlichen Kapitals geringer als wenn er/ sie im P.M. Magazin veröffentlichen würde. Mit Bourdieu könnte man sagen, dass die Auswirkungen der ‚symbolischen Negation der Hierarchien‘ einkalkuliert werden, indem durch die Wahl des Publikationsmediums bereits ‚intellektuelles Prestige‘ akkumuliert wird, welches die ‚Transaktionskosten‘ (vgl. Schirrma‐ cher /  Thomas 2007) des wissenschaftlichen Kapitals in eine andere Kapitalsorte minimiert. 10 Die Wahl des Mediums bestimmt nicht nur die Botschaft, sie kann den Stil und seine Rezeption bereits vorherbestimmen, weil das Feld der Ver‐ leger, Verlagshäuser, ihrer Autoren wie Kritiker eine homologe Stratifikation 125 Feld und Stil 11 Ähnlich dem Simonyi Professor for the Public Understanding of Science in Oxford, dessen erster Lehrstuhlinhaber kein anderer als der Ethologe und Evolutionsforscher Richard Dawkins war und der heute von dem Mathematiker Marcus du Sautoy geleitet wird, wurde in Deutschland am KIT (Karlsruher Institut für Technologie) das Institut für Verständliche Wissenschaft gegründet. Carsten Könneker, Chefredakteur von Spektrum Wissenschaft, ist dort nicht nur Dozent, sondern war auch der Gründungsdirektor des NaWik (Nationales Institut für Wissenschaftskommunikation). Vgl. URL: https: / / www .nawik.de (Zugriff: 07.09.2018). Dies zeigt gleichzeitig, wie eng die beiden Felder des Verlags- und Publikationswesens mit dieser universitären Einrichtung interagieren und welche Interessen sich an die Ausbildung der zukünftigen ‚Kommunikatoren‘ von Wis‐ senschaft knüpfen. Daher betonen auch Schirrmacher /  Nikolow (2007) zu Recht, dass man Wissenschaft und Öffentlichkeit als ‚Ressourcen füreinander‘ betrachten müsse, um die „Populärkultur der Naturwissenschaften“ nicht als eine ‚Verfallserscheinung des Wissens‘ zu erzählen. Stattdessen müsse sie im Zuge einer Professionalisierung der Medien und der damit zusammenhängenden Ausdifferenzierung der Öffentlichkeit in weitere Teilöffentlichkeiten gemäß einem Stufenmodell analysiert werden. 12 Zwar ist der Grad der Institutionalisierung in England und den USA viel stärker aus‐ geprägt, da sich das Feld in diesen Ländern historisch viel früher herauskristallisiert hat. Dennoch gibt es am KIT erste Versuche, Wissenschaftskommunikation als stu‐ dierbares Fach zu etablieren. Die Germanistik bietet den Bachelor of Arts in Wissenschaft - Medien - Kommunikation an. Damit ist sie zunächst die erste staatliche Universität (neben Fachhochschulen, Anbietern aus der Privatwirtschaft und Literaturinstituten) die einen interdisziplinären Studiengang konzipiert hat, der all jene historischen und systematischen Aspekte der Populärwissenschaft umfasst, wie sie hier komprimiert dargestellt worden sind. Wissenschaftskommunikation ist als Teildisziplin oft in grö‐ ßere Disziplinen wie die Medien- und Kommunikationswissenschaft integriert. So gibt es erste Initiativen zur Formierung einer eigenständigen Forschungsgruppe wie der DGPuK „Fachgruppe Wissenschaftskommunikation“ innerhalb der Deutschen Gesell‐ schaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft e. V. zur vertikalen Achse der sozialen Schichten innehat. Stets erfolgt ein Stilwechsel innerhalb, niemals jedoch jenseits von Hierarchien. Stilistische Distinktionsaus‐ sagearbeit ist daher immer auch schon an eine soziale gebunden. In dem heutigen Stadium ist die populäre Wissenschaft als professionalisierte Wissenskommunikation kein ungeregelter ‚Interdiskurs‘ mehr. Populärwissen‐ schaft ist eine Disziplin, die man ‚Verständliche Wissenschaft‘ nennt. 11 Ihre Wis‐ senschaftsprosa ist lehr- und erlernbare Institutsprosa, deren gesellschaftliche und nicht zuletzt auch wissenschaftliche Akzeptanz durch Preise (Pulitzer, Carl Sagan Award for the Public Understanding of Science, National Award of Scien‐ tific Writing, Sigmund Freud Preis, Georg-Holtzbrinck-Preis, Comunicator- Preis von der DFG, Klaus-Tschira-Preis u. v. m.) legitimiert ist, auch wenn es immer noch starke nationale Unterschiede gibt (vgl. Gwozdz 2016: 110 ff.). Wer heute popularisieren will, belegt einen Studiengang für Wissenschafts- und Wis‐ senskommunikation, oder anders formuliert: Wissenschaftskommunikation ist institutionalisierte Populärwissenschaft. 12 126 Patricia A. Gwozdz 13 Bis ins 17. Jahrhundert wird der Begriff noch im Sinne der individuellen Biographie des Menschen verwendet und taucht erst im 18. Jahrhundert als Bezeichnung einer Lehre von der belebten Natur auf. Zur historischen Rekonstruktion des Begriffs siehe den Artikel von Georg Toepfer (2011). Indem ich in den nun folgenden Ausführungen zum Stilwechsel in Textsorten dieses Subfeldes den hier verwendeten und immer noch pejorativ besetzten Be‐ griff der Populärwissenschaft verwende, möchte ich auf die historischen, so‐ zialen, sprachlichen wie intellektuellen Kämpfe zwischen Akteuren, Diskursen und den Feldern aufmerksam machen, die dazu geführt haben, dass der Aus‐ druck vom wertneutraleren und damit scheinbar positiveren Klang des Wortes Wissens- oder Wissenschaftskommunikation als neues Label abgelöst wird. Die Schreibweise Populär/ Wissenschaft soll nicht nur auf die gemeinsame Begriffs‐ genese von Wissenschaft und Populärwissenschaft hinweisen, sondern auch auf die sich wechselseitig bedingende Ausdifferenzierung von Feldern in Subfelder. Im Anschluss daran soll kurz diskutiert werden, inwiefern vergleichende Stu‐ dien zu Stilwechseln in nationalspezifischen Wissenschaftskontexten auf der Grundlage von Bourdieus Feldsoziologie für die diskursanalytischen /  textlin‐ guistischen Herangehensweisen produktiv gemacht werden könnten. 2 Die Erfindung einer Fachsprache für die Life Sciences: Ein Fallbeispiel aus dem 20. Jahrhundert 2.1 Von der Biologie zu den Life Sciences: Die Erfindung eines neuen Begriffs Wenn wir von der Biologie im Singular sprechen, meinen wir eine naturwis‐ senschaftliche Fachrichtung, die sich neben der Physik und Chemie als eigen‐ ständige Disziplin in der Mitte des 19. Jahrhundert etabliert hat 13 und unter der wir Themen subsumieren, die wir noch aus unserer Schulzeit kennen: Pflanzen- und Tierkunde in Zusammenhang mit ökologischen Fragestellungen, Evoluti‐ onsbiologie, Populationsgenetik mit Hinblick auf die allgemeinen Prinzipien der Vererbungslehre und später vor allem Humangenetik, Zellphysiologie und die Entwicklung des menschlichen Körpers, seiner Organe und ihrer Funktionen. Es ist insbesondere die Genetik, die sich erst langsam im Laufe des 20. Jahrhun‐ derts konstituiert und dazu geführt hat, biologische Prozesse mit chemischen und physikalischen Parametern zu beschreiben. Heute spricht man daher auch von Bio-Chemie, Bio-Informatik oder Bio-Physik. Aus diesen interdisziplinären Verbünden hat sich in den 1930er Jahren erstmals der transdisziplinäre Begriff der Lebenswissenschaften entwickelt, während er im englischsprachigen Raum 127 Feld und Stil bereits Ende des 19. Jahrhunderts als ‚life science‘ zirkulierte (vgl. Toepfer 2011: 267). Nach Toepfer sei jedoch nur schwer zu identifizieren, welche Disziplinen nun zu den Lebenswissenschaften gerechnet werden könnten und welche nicht, zumal auch die Medizin in diesem transdisziplinären Verbund Erwähnung findet und sowohl wissenschaftliche wie gesellschaftlich relevante Fragen behandelt. Hier greifen auch zunehmend wissenschaftspolitische Strategien, die den Be‐ griff durch den „inflationären öffentlichen Gebrauch“ weit über die Grenzen biologischer Fragestellungen ausdehnen (ebd.). Der Begriff Biowissenschaft tauche hingegen eher in der englischsprachigen Forschung auf und sei mit der Entstehung des amerikanischen Bio-Sciences Newsletter in den 1950er verbunden (vgl. ebd.: 268). Das transdisziplinäre Gebiet der Life Sciences im 20. Jahrhundert bietet sich aus mehreren Gründen als sehr gutes Fallbeispiel an, um unterschiedliche Pro‐ zesse des Stilwechsels beobachten zu können. Es unterliegt erstens einer sehr starken Ausdifferenzierung von Subdisziplinen, die aus einer Binnendifferen‐ zierung von naturwissenschaftlichen Disziplinen - aufgrund der Spezialisie‐ rung und Professionalisierung - entstanden sind. Das Präfix Bioheftet sich dabei an unterschiedliche Disziplinen wie Physik, Chemie, Informatik oder Me‐ dizin. Das naturwissenschaftliche Paradigma zu Anfang des 20. Jahrhunderts wird jedoch nicht durch die Biologie, sondern die Physik bestimmt. Sie dient als transdisziplinäres Modell, um naturwissenschaftliches Forschen überhaupt als solches identifizieren zu können. Die Etablierung der Biologie als experimen‐ teller Wissenschaft dauert bis nach dem Zweiten Weltkrieg an. Ihr in der wis‐ senschaftlichen Öffentlichkeit stark beachteter Höhepunkt kann mit drei No‐ belpreisträgern für Medizin oder Physiologie markiert werden: James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins erhielten ihn 1962 für ihre ‚Entdeckung‘ der DNA-Struktur, François Jacob und Jacques Monod 1965 für die Beschreibung der Faltung bei der Proteinsynthese. Damit waren die Molekularbiologie und die Genetik auf dem Vormarsch, nutzten alle verfügbaren medialen Kanäle, um für sich zu promoten (vgl. Chadarevian 2002), während ältere Disziplinen der traditionellen biologischen Forschung vom akademisch-wissenschaftlichen Markt und von den Lehrstühlen verdrängt wurden und in das Subfeld der Po‐ pular Science emigrierten: die Evolutionsbiologie bzw. Evolutionary Biology, deren Urvater Charles Darwin war (vgl. Smocovitis 1996; Junker 2004; Gwozdz 2016: 324 ff.). Was macht gerade diese Binnendifferenzierung innerhalb der Biologie für die Fachsprachenforschung so spannend? Zum einen stehen sich hier zwei Subdis‐ ziplinen gegenüber, die in einem institutionellen Kampf um wissenschaftliche Güter stehen. Die Evolutionstheorie herrscht als Orthodoxie, ist beglaubigt 128 Patricia A. Gwozdz 14 Ich habe in meinen eigenen Analysen der Aufsatz-Sammlung The strategy of the genes (1957) von C. H. Waddington, der zwischen Embryologie, Evolutionsbiologie und Ge‐ netik eine Brücke schlägt und den bis heute in der Forschung verwendeten Begriff epigenetic landscape geprägt hat, gezeigt, dass diese essayistische Aufsatz-Sammlung nur in bestimmten Phasen der fachsprachlichen Genese auftaucht, vor allem dann, wenn eine Fachsprache noch nicht über eine ausreichende Operationalisierbarkeit der Begriffe verfügt. In diesem Fall wären es die Embryologie und die Genetik, die über evolutionsbiologische Begriffe zusammengeschlossen werden (vgl. Gwozdz 2016: 355 ff.). Die Kritik an der mangelnden Operationalisierbarkeit und Formalisierbarkeit der Fachsprache in der Molekularbiologie /  Genetik, die eine intersubjektive Wissensver‐ mittlung zwischen den Forschern durch eine ‚flexible formal language‘ sicherstelle, hält bis heute an und wird rege diskutiert (vgl. Lazebnik 2004). Es müsste einen Grad an Formalisierbarkeit - ähnlich der Sprache der Physiker oder Ingenieure - geben, der die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern innerhalb der Molekularbiologie si‐ cherstellt und andererseits flexibel genug ist, um jeden neu beobachteten Prozess in der Zelle oder zwischen den Zellen sprachlich adäquat zu beschreiben. durch den Lehrbuch-Kanon und besitzt eine seit längerem erprobte und verfes‐ tigte Fachsprache der Natural History, die sich im langen 19. Jahrhundert bereits durch Autoritäten der Wissenschaftsszene bewährt und kontinuierlich, ohne starke Brüche, weiterentwickelt hat. Als global theory der Lebenswissenschaft versuchten daher Akteure dieses älteren, konsekrierten Feldes, die noch sehr schwach konzeptualisierten Begriffe der Vererbungslehre systematisch in ihre Fachsprache einzubinden, um die Deutungshoheit nicht zu verlieren. Diese Ver‐ einnahmungsgeste wurde erst durch einen Stilwechsel ermöglicht, der eine Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Textsorten innerhalb des wissen‐ schaftlich-akademischen Feldes der Life Sciences zur Folge hatte. 14 Erste Arbeiten aus der angloamerikanischen vergleichenden Rhetorik- und Diskursforschung konnten bereits folgende Textsorten identifizieren, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert haben: (a) das „book-length scholarly essay“ (vgl. Varghese /  Abraham 2004) und (b) die „interdisciplinary inspirational monograph“ (vgl. Ceccarelli 2001: 67). Bei beiden Textgenres kann man davon ausgehen, dass sie aufgrund der Stilähnlichkeiten ein und dasselbe Genre bezeichnen, das eine interdiskursive Brücke schlägt zwischen dem tra‐ ditionellen und wissenschaftlich etablierten scientific article (vgl. Gross u. a. 2002) und dem popular scientific writing bzw. dem popular science writing (vgl. MacRae 2003: 10 f.). Das Besondere der beiden erstgenannten Textsorten besteht darin, dass sie nicht im engeren Sinne populärwissenschaftliche Sachbücher sind, die für eine breitere, interessierte Teilöffentlichkeit geschrieben werden, sondern für die Peers der eigenen und einer fachfremden interessierten Scientific Community, um einen Dialog zwischen den Disziplinen anzuregen. Die stilisti‐ schen Merkmale von Texten wie z. B. Erwin Schrödingers What is life? (1944), 129 Feld und Stil Theodosius Dobzhanskys Genetics and the origin of species (1932) oder auch Ed‐ ward Wilsons On human nature (1978) - dieses Buch wurde mit dem Pulitzer Preis für General Non-Fiction ausgezeichnet - heben sich von der „populariza‐ tion“ der Wissenschaftsjournalisten und auch der Research Articles durch meh‐ rere Merkmale ab. Nach Varghese /  Abraham (2004: 227) (1) etablieren diese Au‐ toren einen eigenen, erkennbaren Schreibstil und sind nicht am „mass appeal“ der breiten Öffentlichkeit interessiert, sondern verwenden eine ihrem wissen‐ schaftlichen Habitus angemessene Sprache, die dem intellektuellen Kapital und Prestige des Akteurs entspricht und genutzt wird, um eine interdisziplinäre Kommunikation in Gang zu setzen. Gerade dadurch sei es (2) möglich, dass neue Theorien - rein argumentativ, zunächst ohne empirische Überprüfbarkeit - der Community präsentiert werden können, die in einem kurzen Research Article niemals ausformuliert werden könnten. Im Grunde könne daher jedes Buchka‐ pitel als discussion-chapter eines wissenschaftlichen Artikels angesehen werden. Daher liege (3) die rhetorische Überzeugungskraft nicht in der Darstellung quantitativer Daten und ihrer numerischen Objektivität und Reproduzierbar‐ keit, sondern im „rational argument, accessible to any thinking adult“ (ebd.). Auch Ceccarellis Studie Shaping science with rhetoric hat gezeigt, dass insbe‐ sondere Dobzhanskys Lehrbuch als interdisciplinary inspirational monograph anzusehen sei, weil er aufgrund seiner Bilingualität (Russisch, Englisch), Infor‐ mationen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern zu synthetisieren verstünde (vgl. Ceccarelli 2001: 26). Aufgrund der noch mangelnden fachsprach‐ lichen Formalisierung des genetischen Wissens war das semantische Feld hin‐ reichend offen, um durch Analogien und Metaphern eigene Begriffe zu eta‐ blieren (intra-scientific metaphors wie beispielsweise diejenige der adaptive landscape). Das charakteristische Merkmal dieser Textsorte sei jedoch der „con‐ ceptual chiasmus“ (ebd.: 5), der mittels des metaphorischen Sprachgebrauchs dazu in der Lage sei, disziplinäre Erwartungen, die an eine bestimmte konzep‐ tuelle Kategorie geknüpft seien, auf den Kopf zu stellen, d. h. außerhalb der ei‐ genen disziplinären Grenzen zu betrachten und dadurch eine Erweiterung der eigenen Kategorien und Konzepte zu bewirken: ein „parallel crisscrossing of intellectual space“ (ebd.: 5). Entscheidend bei Ceccarellis Analysen ist jedoch, dass sie nicht vom rein rhetorisch-linguistischen Standpunkt die Texte analy‐ siert, sondern von ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte her. Sie analysiert das normative Urteil anderer etablierter Wissenschaftler zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb des Feldes, das sie rückwirkend als Kriterium für die Text‐ sorte verwendet (vgl. ebd.: 67 ff.). Was schlussendlich bei der Bestimmung und Analyse dieser Textsorte für die Autorin zählt, ist das nachträgliche Urteil der eigenen Peers. Das Kriterium zur Identifizierung dieser Textsorte ist somit kein 130 Patricia A. Gwozdz 15 Wie ich in exemplarischen Analysen zur Epigenetik-Forschung gezeigt habe, sind Wis‐ senschaftsjournalisten nicht in der Lage, eine solche ‚interdisziplinäre Prosa‘ zu pro‐ duzieren, weil sie nicht (mehr) aktiv an der Grundlagenforschung des wissenschaftli‐ chen Feldes beteiligt sind und daher auf eigene Forschungsarbeiten nicht zurückgreifen können (vgl. Gwozdz 2016: 478 f.). 16 Innerhalb dieser Ausdifferenzierung der Subdisziplinen konstatiert Greg Myers (1990: 142 f.) weitere Textsorten wie die narrative of science, die er hauptsächlich in Publika‐ tionsorganen wie Science und Evolution verortet und deren Kennzeichen darin bestehen, dass sie die Tätigkeit des Forschers selbstkritisch hinterfragen und die fachsprachlich konstruierte Theorie reflektieren, während die narratives of nature hauptsächlich daran interessiert seien, kohärente Geschichten über die Natur zu konstruieren. 17 Dobzhanskys Lehrbuch beispielsweise ist aus seinen Seminaren hervorgegangen und beruht damit bereits auf dem dialogischen Stil des wechselseitigen Austauschs von In‐ formationen über Mündlichkeit. Ebenso ist Schrödingers What is life? ein mündlicher Vortrag eines Physikers, gehalten vor Biologen. Dobzhansky gibt sich stets als fürsorg‐ licher Lehrer, der auf die Fragilität des provisorischen Fachwissens und die unzurei‐ chenden sprachlichen Definitionen hinweist; Schrödinger stellt sich bereits zu Beginn seines Vortrag-Textes als Nicht-Experte dar, der seine Ideen vorstellt. Ceccarelli (2001: 128) bezeichnet daher den Stil beider Wissenschaftler als „rhetoric of negotia‐ textinternes, sondern es betrifft die soziale Makroebene der Position des jewei‐ ligen Akteurs, die angibt, ob ein Wissenschaftler ein ‚non-scientist‘, ‚failedscientist‘ oder ‚ex-scientist‘ ist, d. h. ein Akteur am heteronomen Pol des Sub‐ feldes erweiterter akademischer Wissensproduktion. 15 Damit operieren sowohl Varghese /  Abraham als auch Ceccarelli implizit mit der feldsoziologischen Perspektive, ohne sie methodisch oder theoretisch zu explizieren. Darüber hinaus wird der Standardisierungsgrad der jeweiligen Fachsprache nicht berücksichtigt, der den Grad der Abweichung vom Research Article wesentlich mitbestimmt. Jede neue Version eines Textes ist dabei als Entfernung von der Fachsprache, der Fachgemeinschaft und damit als Öffnung auf eine breitere Öffentlichkeit hin zu verstehen. Gute Beispiele dafür sind die Sociobiology (vgl. Segerstråle 2001; Linke 2007) und Evolutionary Psychology (vgl. Cassidy 2005), die aufzeigen, wie durch einen Stilwechsel und die damit ein‐ hergehende Erzeugung neuer Textsorten auch neue Subdisziplinen begründet werden können. 16 Es ist daher wichtig, den Stilwechsel stets aus der Perspektive der „Textsorten-Intertextualität“ (vgl. Klein 2000: 34 ff.) zwischen Research Ar‐ ticle /  Scientific Paper, der unterschiedliche Textsorten unter sich vereint, und dem Popular Science Writing zu betrachten. Folgt man nämlich Kleins „Prinzip von der Explikation der funktionalen Zusammenhänge“ (ebd.: 34), so kann man erkennen, wie sich das book-length scholarly essay aus früheren ‚Vortextsorten‘ (Vortrag, Seminargespräch, Vorlesungsmanuskript) zu einem bestimmten Genre entwickelt hat. 17 Aufgrund dieser bereits bestehenden Analysen ist es umso verständlicher, dass die Text(sorten)vernetzung im Zentrum der neueren De‐ 131 Feld und Stil tion“, während Edward Wilson eine ‚Rhetorik des Wettkampfes und der Eroberung‘ („rhetoric of conquest“) praktiziere. batten steht (vgl. Adamzik 2016: 326). Textsorten, die in paradigmatischer Re‐ lation zueinanderstehen, bilden ein Testsortenfeld, während die syntagmatische Relation Textsortenketten konstituiert (vgl. ebd.: 336 f.). In Bezug auf die hier diskutierten Textsorten kann man daher ergänzen, dass auf der Ebene des Syn‐ tagmas durch die Prinzipien der Selektion und Kombination eine neue Text- Varietät entsteht, die ‚übereinstimmende situative Merkmale‘ mit verschiedenen paradigmatischen Textsortenfeldern hat. 2.2 ‚good science‘ vs. ‚bad science‘: Stilwechsel und Kapitalsorten- Transfer in der biologischen Verhaltensforschung Das book-length scholarly essay oder die interdisciplinary inspirational mono‐ graph sind Bezeichnungen für eine Textsorte, die sich in einer Phase der „Science Wars“ (vgl. Segerstråle 2000) zwischen Evolutionsbiologen und Genetikern sowie zwischen den Natural Sciences und den Humanities konstituiert hat. Es wurde ein ganzer Markt für eine Textsorte geschaffen, sobald genug ‚morali‐ sches Kapital‘ in der breiteren, fachfremden interessierten Teilöffentlichkeit von den einzelnen Akteuren aus dem wissenschaftliches Feld durch ihren ‚Stil‘ ge‐ neriert worden war. Labels wie good science, bad science, pseudo- oder popular science wurden dabei als ideologische Marker genutzt, um unterschiedliche Theorieschulen voneinander abzugrenzen. Diese institutionellen Kämpfe be‐ wirkten einen Stilwechsel, insofern sich einige Akteure nicht nur mit ihrer For‐ schung positionierten, sondern zugleich auch Wissenschaftspolitik für eine be‐ stimmte Form des Forschens betrieben. Der epistemic style musste daher mit dem wissenschaftlichen Schreibstil korrespondieren, um überhaupt im Feld als ein distinkter wahrgenommen zu werden. Der Stilwechsel erfolgte daher nicht von der einen Textsorte zur anderen - vom Research Article zum Popular Science Writing -, sondern durch die Integration des einen Stils in den anderen, wobei die Platzierung und Ausgestaltung der ‚Autor-Figuren‘ zueinander innerhalb des Textes entscheidend ist, d. h. man sollte immer auch in den einzelnen Text‐ analysen berücksichtigen, wie sich Gestalter-, Mittler-, Animateur-, Principal- und Verantworter-Figur zueinander verhalten, wer wann an welcher Stelle des Textes (Haupttext vs. Fußnotentext, Vorwort, Nachwort etc.) spricht (vgl. Steiner 2009). Angelehnt an die soziologische Rollentheorie Goffmans entwi‐ ckelt Steiner die Kategorie der ‚Autorfigur‘ und versteht darunter „[…] grosso modo die Aufführung einer Rollenauffassung […], die im Text indiziert und auf eine einzige Instanz bezogen wird. Das Konstrukt ermöglicht eine Rezeption 132 Patricia A. Gwozdz von Text vor dem Hintergrund einer an die jeweilige Domäne angepassten Modellie‐ rung der Autorinstanz, mit der sich die im Text dargestellten Handlungen, Intentionen, Einstellungen, Aussagen in Verbindung bringen lassen“ (Steiner 2009: 155). In seinen Analysen folgt er der „typographischen Sequenzierung“ von unter‐ schiedlichen hierarchischen Ebenen (Fußnotentext vs. Haupttext), da diese un‐ terschiedliche Funktionen im Text erfüllten und sie eine „Änderung im ‚Aussa‐ gestatus‘“ markierten (ebd.: 189). Jede Änderung der Hierarchie-Ebenen bzw. ein Wechsel zwischen ihnen spalte die Autor-Figur in Teil-Autor-Figuren auf: Dabei greift Steiner (ebd.: 196) auf die Goffman’schen Begriffe zurück und un‐ terscheidet folgende Instanzen a. „Animateur / Sprachrohr“, a. b. „,Autor‘, der einem Gegenüber als Verantwortlicher der Aussage zur Ver‐ b. fügung steht“ und c. „Principal“ (soziale Identität und institutionelle Rolle des Wissenschaft‐ c. lers; zeitlich relativ stabil). Auf dieser Grundstruktur basierend unterscheidet er die ‚Verantworter-Figur‘, die sich aus einer Mischung von ‚Animateur‘ und ‚Principal‘ ergebe (Koryphäen vs. No-Names). Folglich inkludiert die Verwendung jeder Figur bereits den Status ihres symbolischen Kapitals, sodass beispielsweise die ‚Verantworter- Figur‘ aufgrund ihres symbolischen Kapitals eine „zuverlässige“ Aussage-Figur sei, gerade weil sie dem „wissenschaftliche[n] Verweissystem“ folge (ebd.: 200). Insbesondere die paratextuelle Rahmung - auch in Bezug auf die Verbindung von Autorname und Titel - wird hierbei zum entscheidenden Faktor bei der Analyse, weil es die Rezeption maßgeblich steuere, indem es den „Herrschafts‐ anspruch des Autors über ‚sein‘ Thema“(ebd.: 201) impliziere, der zugleich auch einen Fixpunkt innerhalb des Denkkollektivs einnehme. Neben dieser nach „außen projizierten, autorschaftlichen Illusion“ gibt es die ‚Gestalter-Figur‘, die mit dem Leser ein interaktives Verhältnis eingeht, die gleichzeitig auch als ‚Problemlöse-Figur‘ agiere. Hier stehe eben nicht die ‚in‐ tellektuelle Urheberschaft‘ im Vordergrund, sondern „ein aus dem sprachlich vermittelten Verhaltensbild abgeleitetes ‚Charakterbild‘ der autorschaftlichen Instanz“ (ebd.: 202 f.). Die ‚Mittler-Figur‘ fungiere hingegen als metadiskursive Strategie im Text, die als ‚Einstellungsfigur‘ die selbstreflexive Funktion des Sprachgebrauchs markiere und damit die Aussageinstanz verdopple. Mithilfe dieser textimmanenten Konstruktion werde ein kritisches Bewusstsein beim Rezipienten geweckt, um den Erkenntnisgewinn durch einen „dialektischen Antagonismus zwischen Einspruch und Reformulierung“ zu relativieren und stets durch eine gewisse „Selbstdistanzierung“ alternative Sichtweisen geltend 133 Feld und Stil 18 Zur Vielstimmigkeit in sozial-, human- und literaturwissenschaftlichen Diskursen vgl. Fløttum (2009). 19 Die Mischung der Stile innerhalb dieser Disziplin kann vor allem dadurch erklärt werden, dass die Fachsprache der Ethologie bzw. der vergleichenden Tierpsychologie (K. Lorenz) durch einen hohen Grad an Anthropomorphismen gekennzeichnet war, die die physiologische Beschreibungsebene tierischen Verhaltens mit der äußeren Erschei‐ nungsweise dieses Verhaltens verknüpfen konnten. In Desmond Morris Research Article findet man daher sehr häufig die Gestalter- und Mittler-Figur des Autors als experi‐ menteller Beobachter, der seine Stellung zum beobachteten Verhalten kommentiert und korrigiert (vgl. Morris 1956). Die Rhetorik der Zurückhaltung bewahrt vor zu voreiligen Schlüssen. In seinem späteren Popular Science Writing wie The naked ape, in denen er hauptsächlich Thesen aus seiner eigenen Forschung zusammenfasst und sie auf das menschliche Verhalten überträgt, fallen die kritischen Stimmen der Gestalter- und Mittler-Figuren weg und werden stattdessen vom Principal dominiert (vgl. Gwozdz 2016: 507). Einen ähnlichen Stilwechsel vom Research Article zum Popular Science Wri‐ ting findet man auch bei David Buss (2008), der zu Themen der Evolutionary Psychology schreibt (vgl. ebd.: 570 ff.). zu machen (ebd.: 203 f.). Man kann diese Figur auch als den erhobenen Zeige‐ finger deuten, der besagt: Glaube nicht alles, wovon dich der Text überzeugen möchte und erkenne stets die dahinter liegenden Instanzen, die den Text viel‐ stimmig machen. 18 Die sprachliche Konstruktion von Autorschaft spielt damit eine wesentliche Rolle für den Stilwechsel zwischen Fachsprachen bzw. zwi‐ schen Fachsprache und populärer Wissenschaftskommunikation. Dass man von der Geburt einer neuen Wissenschaftsprosa und damit einer neuen Fachsprache sprechen kann, liegt daran, dass der Wissenschaftler seine eigene Autorfunktion in Texten hinterfragt und diese Selbstreflexion in die Machart seiner Texte ein‐ fließen lässt (vgl. Gwozdz 2016: 135 ff.). Viele Akteure innerhalb des hier skizzierten Feldes, das sich gleichsam zwi‐ schen den Disziplinen etabliert hat, produzierten sowohl als Experten mit ei‐ gener Forschung in der Verhaltensbiologie Research Articles, die den Kriterien dieses Genres entsprachen, als auch Popular Science Writing, das ihr Ansehen und ihr intellektuelles Prestige in anderen Teilöffentlichkeiten erhöhte (z. B. der Primatologe Desmond Morris und der Ethologe Richard Dawkins als Schüler des Nobelpreisträgers Niko Tinbergen innerhalb des wissenschaftlichen Feldes in Oxford). 19 Die ‚Transaktionskosten‘ ihres wissenschaftlichen Kapitals wurden zunächst so gering wie möglich gehalten, um den tatsächlichen Feldwechsel durch die unterschiedlichen Ausprägungen des Stilwechsels zu erproben und vorzubereiten. Richard Dawkins‘ The selfish gene (1976), das ein Jahr nach Wilsons Sociobiology-Lehrbuch erschien und in Harvards Seminarräumen unter den Stu‐ denten ebenfalls als Lehrbuch rezipiert wurde (vgl. Segerstråle 2001: 80), erfüllt 134 Patricia A. Gwozdz 20 Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Dawkins in seinem Vorwort zum 30. Jubiläum von The selfish gene die Verwendung von Personifikationen und Metaphern mit der anthropomorphen Sprache Jacques Monods legitimiert (vgl. Dawkins 1976 /  2006: x). Zur Kritik an Jacques Monods Wissenschaftsprosa vgl. Gwozdz (2016: 408 ff.). zwar dieselben Textsorten-Kriterien wie das book-length scholarly essay, den‐ noch wird es von den eben zitierten Autorinnen mit keinem Wort erwähnt, obwohl gerade diese Monographie die wohl sichtbarste Karriere innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gemacht hat. Die Wirkungsgeschichte dieses Begriffs reicht bis in die heutigen Debatten der Epigenetik und wird nicht im Feuilleton diskutiert, sondern in der intrawissenschaftlichen Kommunika‐ tion der Spezialdiskurse, wie z. B. in den Zeitschriften Journal of Theoretical Bi‐ ology, Trends of Ecology and Evolution, Biology and Philosophy und Biological Reviews sowie dem Journal of Biology and Philosophy. Kurz gesagt: Das booklength scholarly essay praktiziert Popularisierung als spekulative Theoriebil‐ dung und wird damit zum philosophischen Text über naturwissenschaftliche Themen. Louis Althusser hat dies in seinen Philosophie-Seminaren in den 1970er Jahren in Bezug auf das essai biologique des französischen Molekular‐ biologen Jacques Monod als „philosophie spontanée des savants“ bezeichnet (vgl. Althusser 1990: 119; Gwozdz 2016: 411 ff.). 20 In The extended phenotype (1982) ereignet sich ein erneuter Stilwechsel. Dort agieren seine Verantworter-Figur und seine Mittler-Figur in dem paratextuellen Apparat als korrigierende und revidierende Instanz, die auf eine Kritik des ei‐ genen Sprachstils in seinem ersten Buch The selfish gene zielt. Die Autor-Figuren legitimieren und rechtfertigen sich vor der konstruierten heterogenen Leser‐ schaft, die im ersten Buch noch über eine „Mehrfachadressierung“ (vgl. Adamzik 2016: 139) konstruiert worden ist: Experten, Studenten und Laien wurden glei‐ chermaßen angesprochen, während er in der revidierten Neuauflage seiner Selfish-gene-theory den Adressatenkreis einschränkt und ausschließlich Ex‐ perten aus den näheren Subdisziplinen der Biologie wie fortgeschrittene Stu‐ denten anspricht. Es erfolgt also erneut innerhalb der Textsorte ein Stilwechsel: Die Stimme des Principals, der seine eigenen Thesen und Theorien verteidigt, tritt zurück, stattdessen spricht die Autor-Figur nur noch als kritisch-reflektie‐ render Animateur anderer Wissenschaftler und kommentiert als Gestalter-Figur stets den Wechsel des Sprachstils von der Analogie zur wissenschaftlich be‐ weisbaren Argumentation. Der Stilwechsel wird damit erklärt, dass in dem ersten Buch die metaphorische Sprachführung unzureichend erklärt worden sei. Um „past misunderstandings“ (vgl. Dawkins 1982 /  1999: vi) zu korrigieren, dass es sich eben nicht um Gene handelt, die für ein egoistische Verhalten verant‐ 135 Feld und Stil 21 Siehe hierzu den Sammelband von Grafen /  Ridley (2006), Akteuren aus dem wissen‐ schaftlichen Feld, die Dawkins Science writing als gattungsbildend ansehen. Philip Pullman betont in seinem Aufsatz, dass Dawkins Stil darin bestehe, erinnerungswürdige Sätze zu produzieren, die im Gedächtnis haften bleiben: Er sei ein „coiner of memorable phrases“ (Pullman 2006: 276); vgl. hierzu Gwozdz (2016: 522 f.). 22 Die Kanonisierung des Popular science writing setzte bereits mit Julian Huxleys The humanist frame (1961) ein und wurde von John Brockmans The third culture (1995) über eine ähnliche Auswahl von konsekrierten Akteuren weitergeführt. Die Oxford Univer‐ sity Press veröffentlichte - seitdem Richard Dawkins dieses Genre selbst maßgeblich wortlich sind, wolle er sich auf klarere Definitionen von Fachbegriffen be‐ schränken und Anthropomorphisches so gut es geht vermeiden. Anstatt also in apodiktischen Satzkonstruktionen zu sprechen, die die eigene Theorie unter‐ mauern, vermittelt seine Autor-Figur nun zwischen Text und Leser auf einer Meta-Ebene, sodass die Rezeption gelenkt wird, um nicht in spekulative Inter‐ pretationen abzugleiten. Die Gestalter-Figur möchte ihre didaktische Aufgabe erfüllen (ebd.: 190 ff.). Zugleich setzt sich Dawkins‘ Prosa dezidiert von anderen populären Medienformaten wie der pop-ecology in den BBC-Reportagen ab und kritisiert ihre vereinfachende Darstellung, die er als „poetry of webs and net‐ works“ (ebd.: 237) beschreibt. Der populäre Schreibstil wird durch den medialen Proliferations-Effekt zwischen Buch und Fernsehformat aufgewertet, sodass durch diese mediale Distinktion innerhalb des Subfeldes eine höhere Hierar‐ chisierung des ‚Populär-Stils‘ in Printformaten erfolgt. Richard Dawkins‘ Prosa ist von der Biologie in die Philosophie eingewandert und hat sich mit Autoren aus der analytischen Philosophie wie Daniel Dennett (2014) ein eigenes Au‐ toren-Netzwerk und damit ein Denkkollektiv aufgebaut, das über einen ge‐ meinsamen Denk- und Schreibstil verfügt (vgl. Gwozdz 2016: 553 ff.). 21 Es ist schließlich nicht zuletzt dem amerikanischen Literaturagenten John Brockman zu verdanken, der die Bedingungen im Feld der kulturellen Massen‐ produktion schuf, sodass man bis heute von einem eigenen intellektuellen Feld sprechen kann: der Third culture (vgl. Gwozdz 2015). Frank Schirrmacher hat eine ähnliche Etablierung auch unter dem Label der Darwin AG (vgl. Schirrma‐ cher 2001) unter der Schirmherrschaft der FAZ initiiert, allerdings fehlt meiner Ansicht nach ein wesentliches Kriterium, um ein solches autonomes Feld über‐ haupt etablieren zu können: der Prozess der Kanonisierung der Textsorte, der den Stilwechsel im gesellschaftlichen Bewusstsein der fachfremden, interes‐ sierten Teilöffentlichkeit verankert. Dieser Prozess ist jedoch bis jetzt nur im angloamerikanischen Raum zu beobachten, denn nur dort kann man auch tat‐ sächlich eine Politik des wechselseitigen Zitierens beobachten, mit der das Denkkollektiv kontinuierlich Bezug auf die eigene Wissensproduktion nimmt und dadurch ein gemeinsames Set von Theorien konstruiert. 22 136 Patricia A. Gwozdz beeinflusst hat und als Lehrstuhlinhaber des Public Understanding of Science konsekriert ist - das Oxford Book of Modern Science Writing (2009), selektiert und kommentiert von keinem anderen als Richard Dawkins, der die Regeln dieser Textsorte vorgibt, wodurch die relativ offene Textsortenverkettung zu einer fixen Form der Verknüpfung wird. 3 Für eine Komparatistik des Stilwechsels in nationalspezifischen Wissenschaftskontexten Die hier skizzierten feldsoziologischen Annahmen zur Bedingtheit des Stil‐ wechsels in Textsorten zwischen der Fach- und Wissenskommunikation lassen bereits erahnen, dass rein linguistisch-vergleichende Analysen allein nicht aus‐ reichen, um die Entstehung von Textsorten durch einen Stilwechsel zu erklären. Was am Fall der Life Sciences gezeigt wurde, lässt sich sicherlich nicht auf andere Disziplinen eins zu eins übertragen, weil die Fachsprachen hierfür viel zu hete‐ rogen ausdifferenziert sind. Darüber hinaus gibt es vielfache nationalspezifische Differenzen zwischen den Textsorten eines book-length scholarly essay, eines essai biologique im Sinne der vulgarisation scientifique oder dem ‚naturwissen‐ schaftlichen Sachbuch‘ deutscher Provenienz. Obwohl es sicherlich eine Vielzahl von stilistischen Überschneidungen gibt, funktioniert gerade die Rezeption dieser Textsorte in jeder Sprachgemeinschaft unterschiedlich. Dies ist nicht nur durch unterschiedlich ausgeprägte ‚Textsorten-Intertextualität‘ bedingt, son‐ dern vor allem durch die je unterschiedlich geprägte Historizität der jeweiligen Textsorte. Das zeigt sich zum Beispiel bei den französischen Molekularbiologen François Jacob und Jacques Monod, die den Begriff essais als textinterne Strategie verwenden, um sich in die französische Tradition dieser Gattung seit Montaigne einzuschreiben und sich damit gleichzeitig auf die Ebene von literarisch-huma‐ nistischen Gelehrten zu stellen. Dawkins spricht von science fiction und versucht sich einem literarischen Genre anzunähern und gleichzeitig zu signalisieren, dass der „literary style“ immer schon im wissenschaftlichen Schreiben aktiv sei, weil er eben auf einer „social activity“ beruhe (Dawkins 1999: 4). Insbesondere im angloamerikanischen Raum ist es sehr auffällig, dass der Stil des Popular science writing von Biologen immer wieder mit Darwins wissenschaftlicher Mo‐ nographie On the origin of species verglichen wird. Das lässt gleichsam die Schlussfolgerung zu, dass der Populär-Stil ältere Formen wissenschaftlich-aka‐ demischer Prosa reaktiviert, die aus der Mode gekommen sind. Stilwechsel können daher auch als Marker anachronistischer Verschiebungen verstanden werden, die dazu führen, dass ein Schreibstil, der ehemals ein Indikator für eine Textsorte des wissenschaftlich-akademischen Feldes und seiner Spezialdiskurse war, nun im Feld der kulturellen Massenproduktion zirkuliert und denk- 137 Feld und Stil 23 Siehe hierzu auch die durch Peter Medawar angeregte Diskussion um die verfälschende Wirkung des Scientific Paper in seinem Radiobeitrag Is the scientific paper a fraud? (1963). Federico Di Trocchio hat in Bezug auf Medawars Rede bereits festgehalten, dass die Re- Implementierung des chronologisch-autobiographischen Berichts, der in Form einer Erzählung präsentiert werde, auf ältere Formen des scientific paper im 18. und 19. Jahr‐ hunderts verweise und daher zu Recht von der Scientific Community verworfen wurde (vgl. Di Trocchio 2006: 246 f.). Di Trocchio (1995) selbst unternimmt eine Analyse von Fälschungen in der Wissenschaftsprosa des 19. und 20. Jahrhunderts. 24 Hans-Jörg Rheinberger ordnet Jacobs Texte nicht in die Populärwissenschaft ein, da er ihn von den neo-darwinistischen Theorien distanzieren möchte, deren Akteure er als „selbsternannte Wissenschaftspriester“ (Rheinberger 1998: 204) bezeichnet. Stattdessen stellt er ihn in die Nähe zu Foucault. Indem er das Nachwort zur deutschen Ausgabe von Jacobs Anthologie von Aufsätzen verfasste, schreibt er ihn bereits in ein anderes Denkkollektiv ein und konsekriert ihn für die Rezeption im akademisch-wissenschaft‐ lichen Feld der Historiker. Rheinberger bezeichnet daher den Schreibstil Jacobs als einen wissenschaftlichen Stil des Forschens, der einer „Ethik der Ungewißheit“ entspreche (ebd.). Ich würde Rheinberger aufgrund meiner eigenen vergleichenden Analysen der Prosa Jacobs zustimmen, allerdings bedeutet das nicht, dass sein Stilwechsel nicht einer neuen Form der französischen vulgarisation scientifique nachgeholfen hätte. Es war die Tochter des Nobelpreisträgers, Odile Jacob, die für ihren Vater die verlegerische Platt‐ form lieferte, damit seine Prosa einen möglichst breiten Adressatenkreis erreichte. Mit ihrem eigenen Verlag Éditions Odile Jacob wird die Vererbungsstruktur symbolischen Kapitals markiert. Die verlagspolitische Ironie dieses Unternehmens besteht darin, dass Odile Jacob die Verlagsrechte an den Third Culture-Intellektuellen von John Brockman für den französischen Markt besitzt. Durch ihre verlegerische Praxis hat sie ein inter‐ nationales Netzwerk von Akteuren initiiert, in dem nun die ‚selbsternannten Wissen‐ schaftspriester‘ neben den ‚Ethikern des Ungewissen‘ schreiben, publizieren und de‐ battieren. Das Verlagshaus möchte Debatten über Ideen anregen („contribuer à enrichir le débat des idées“), wie es auf der Homepage angepriesen wird. Vgl. URL: https: / / www .odilejacob.fr/ qui-sommes-nous/ (Zugriff: 05.09.2018). Damit implementiert sie eine Idee des Literaturagenten John Brockman in Pariser intellektuelle Kreise, dass nämlich die ‚Debatte die Story‘ ist. kollektivbildend ist. 23 Gerade im interlingualen Vergleich dieser Textsorte (vgl. Krause 2000) muss auf die Spezifika der akademischen ‚Wissenskulturen‘ Bezug genommen werden, d. h. die synchrone Betrachtung muss mit der Diachronie der Feldgenese bestimmter Subfelder und ihrer Denkkollektive im Zusammen‐ hang gelesen werden. Dass Dawkins als Ideologe und Jacob eher als Wissen‐ schaftshistoriker der Biologie gelesen wird, 24 kann nicht ausschließlich aus ihrem Schreibstil heraus erklärt werden, sondern aus der Beziehung dieses Stils zur Genese des Feldes, indem sie ihren Habitus entwickelt und ihren Schreibstil über verschiedene Vortextsorten erprobt haben. Über diese Verhältnisse geben vor allem die paratextuelle Rahmung durch Vor- und Nachworte wie auch die Zitatpolitik - wer wen an welcher Stelle des Textes zitiert - Aufschluss. Eine Komparatistik des Stilwechsels müsste daher nicht nur die rein wissenschafts‐ 138 Patricia A. Gwozdz 25 Alan Gross unterscheidet hier zwischen dem theoretischen, methodischen Paper und dem Review Article, der synthetisiert, miteinander vergleicht und interpretiert, sodass eine interdisziplinäre Kommunikation möglich wird (vgl. Gross 2002: 217 ff.). Hilgartner (2000) fügt noch die Science News und den Research Report hinzu, der von großen wis‐ senschaftlichen Institutionen genutzt wird, um über neues Wissen aus dem wissen‐ schaftlich-akademischen Feld zu informieren (siehe hierzu auch Gwozdz 2016: 120 f.). 26 MacRae hat bereits Anfang der 1990er Jahre den Begriff der „literature of science“ bzw. des „popular scientific writing“ geprägt und hebt hervor: „the term suggests a particular way of asking questions about the field of popular science writing. The term also indi‐ cates that […] popular texts […] are open to a full range of contemporary interpretive techniques as any other works of literature. Finally, it emphasizes that the literature of science must be read not as mere popular transmission of superior scientific knowledge but as sophisticated production of knowledge in its own right“ (MacRae 1993: 10 f.). linguistische Perspektive betrachten, d. h. die Fachsprachenzugehörigkeit zur jeweiligen Disziplin /  Subdisziplin (diachron /  synchron), um die semantischen Spielräume in der Definition von Fachbegriffen (Grad der Abstraktion der Fach‐ sprache) zu bestimmen, sondern ebenso die feldsoziologischen Prämissen, die Genese von intellektuellen Feldern (Denkkollektiven) innerhalb einer Disziplin, die Interaktion zwischen unterschiedlichen Subfeldern, die Position der Akteure und ihren Kapitalsorten-Transfer. Fügt man beide Aspekte zusammen, ergibt sich eine Feld-Text-Stil-Interaktion im Sinne einer erweiterten ‚pragmatisch ori‐ entierten Textsortenforschung‘ basierend auf einer vergleichenden Textsorten- Intertextualität sowie -Historizität unter Berücksichtigung nationalspezifischer Differenzen. Letztere zielen vor allem darauf ab, Kleins Kategorie des „Gel‐ tungsmodus“ einer Textsorte, d. h. die „Bindekraft der Exemplare einer Text‐ sorte“ (Klein 2000: 37), stärker in den Fokus des Stilwechsels zu stellen. In Bezug auf den hier skizzierten Stilwechsel des book-length scholarly essay bzw. inter‐ disciplinary inspirational monograph, die als Unterkategorie des scientific paper aufzufassen sind und damit mit der Popularisierung nicht verwechselt werden dürfen (vgl. Ceccarelli 2001; Varghese /  Abraham 2004), wird gerade der feldso‐ ziologische Aspekt unzureichend reflektiert und auch nicht als Erklärungshy‐ pothese für einen Stilwechsel fruchtbar gemacht. Bereits die unscharfen Text‐ sortenbezeichnungen weisen darauf hin, dass es sich hier zwar um eine Synthese von Stilmerkmalen unterschiedlicher Textsorten des Text-Typs Scientific Paper handelt, 25 dieses heterogene Vertextungsverfahren verwendet jedoch auch das Popular Science Writing, das von Wissenschaftlern der Literary Studies als ei‐ genständige Textsorte aufgefasst wird. 26 Gemäß der verschiedenen Äquivalenzbeziehungen dieser Textsorte im inter‐ lingualen Vergleich ließe sich daher festhalten, dass eine partielle Äquivalenz vorliegt, da sich zwar in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA, Spanien und Lateinamerika ähnliche Textsorten herausgebildet haben, sich je‐ 139 Feld und Stil 27 Zu den Äquivalenzbeziehungen im Textvergleich vgl. Krause (2000: 69 ff.), zum inter‐ nationalen Vergleich dieses Genres vgl. Gwozdz (2016). An dieser Stelle sei auch noch einmal hervorgehoben, dass insbesondere die frühe deutsche Sachbuch-Produktion sehr stark von den englischsprachigen Autoren und ihren Schreibstilen beeinflusst wurde, deren Rezeption durch das Feld der Verleger kontrolliert und kanalisiert wurde, indem in die Übersetzung des Popular Science Writing ins Deutsche investiert wurde. Darüber hinaus orientieren sich viele Verlage, die von fachspezifischen Textsorten der Wissenschaft in die kommerzielle Buchproduktion wechselten oder beide Sparten be‐ dienten, an den Modellen der US-amerikanischen Verlagsindustrie. Daher sollte bei der Betrachtung von ‚Äquivalenzbeziehungen‘ auch die Korrespondenz des Feldes der Ver‐ lagshäuser, der Publizisten und Literaturagenten in den Blick genommen werden, die zu den verantwortlichen Akteuren gehören. doch auch gemäß der verzögerten Ausbildung eines Subfeldes der erweiterten, akademischen Wissensproduktion (wie z. B. in bestimmten lateinamerikani‐ schen Ländern) kulturspezifische Unterschiede in Bezug auf den ‚Standardisie‐ rungsgrad‘ (vgl. Adamzik 2016: 333) ergeben haben. 27 Auf dem Markt der kulturellen Güter vermischen sich daher durch die inter‐ diskursiven Praktiken des Stilwechsels die Textsorten so sehr, dass die Grenzen zwischen ihnen kaum auszumachen sind. Es sei denn, man konstruiert das da‐ zugehörige Feld, das die Stadien der Produktion und Rezeption einer Textsorte mitbestimmt. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Akteure vor allem selbst als Wissenschaftstheoretiker, -historiker und Kommentatoren ihres eigenen Schreibstils auftreten und damit die Vorarbeit für unsere Analysen leisten. Oft endet daher die textlinguistische Beschreibung in einer zirkulären Struktur eines kontinuierlichen Selbstkommentars mit anderen Begriffen. Die letzte Frage sollte daher auch immer lauten, wo man sich selbst als Forscher der Forschung, als Wissenschaftler der Wissenschaft und damit im Luhmann’schen Sinne als Beobachter der Beobachtung befindet und welche ‚Autor-Figuren‘ man in seinem eigenen Text positioniert und fachsprachlich inszeniert. Literatur Adamzik, Kirsten (Hg.) 2000a: Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübingen. Adamzik, Kirsten 2000b: Was ist pragmatisch orientierte Textsortenforschung? In: Adamzik 2000a, 91-112. Adamzik, Kirsten 2016: Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 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Die errungenen Erkennt‐ nisse sollen unabhängig von den Um-sie-Ringenden sein und entsprechend ihre Geltung auch in beliebigen anderen Kontexten erweisen. Auch wenn die unge‐ brochene Geltung der normativen Struktur der Wissenschaft (vgl. Merton 1985b) ihrerseits mittlerweile von vielen wissenschaftssoziologischen Studien in Zweifel gezogen wurde (vgl. bspw. Knorr-Cetina 1991; Niewöhner 2012), kann sie sich für die Wissenschaftskommunikation doch noch in stärkerem Maße behaupten (vgl. Weingart 2003: 70; Hennig / Niemann 2013). Im Kommunikati‐ onsraum der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sind diese Normen (im Vergleich zu den geschützten Räumen des Forschungsalltags) ja auch viel leichter sowohl 1 Zum Begriff Kommunikationsform siehe jüngst Brock /  Schildhauer (2017). Siehe Meiler (2017) zur m. E. notwendigen Einbettung des Begriffs in einen breiteren, kulturanalytischen Rahmen. 2 Petkova-Kessanlis (2009: 260-262) kann nur geringe Spuren expliziter Selbstdarstellung im Musterbestand wissenschaftlicher Artikel feststellen. Sie kommen ausschließlich in einlei‐ tenden Passagen vor und beziehen sich auf die Expertise und Erfahrung der Autorinnen. Zudem kann festgehalten werden, dass die Selbstdarstellungstechniken, die sie beschreibt, sämtlich die Autorinnen in ihrer Rolle als Wissenschaftlerinnen betreffen. rhetorisch und stilistisch inszenierbar, im Falle von Normbrüchen also auch sanktionierbar - bspw. auf Basis von (durchaus diskutablen) Geboten und Ver‐ boten (vgl. Weinrich 1988; 1994). Gerade aber in öffentlichen Kommunikationsformen 1 mit diskursiven Quali‐ täten, in denen sich Wissenschaftlerinnen als Interaktantinnen mehr oder weniger direkt begegnen - wie bspw. in Diskussionen im Anschluss an Tagungsvorträge, in Workshops und Kolloquien oder auch im kommentierenden Schlagabtausch in wissenschaftlichen Weblogs - scheint die ‚Präsenz der Person‘ nicht einfach um‐ gangen werden zu können (wie das bspw. in Artikeln 2 weitgehend möglich ist), sondern muss offenbar auch interaktional bearbeitet werden. Dabei treten Fragen um angemessene Beziehungsarbeit (vgl. Holly 2001), um Zwecke eristischen Han‐ delns (vgl. Meiler 2018 im Anschluss an Ehlich 1993) und um domänenspezifische Textroutinen (vgl. bspw. Feilke 2003) in ein Spannungsverhältnis zueinander. Ausgehend von einem Beispiel, das einer umfangreicheren Untersuchung zum soziologischen Bloggen entnommen ist (vgl. Meiler 2018), und im An‐ schluss an verstreute Ergebnisse zur internen Wissenschaftskommunikation in diskursiven und textuellen Kommunikationsformen, wird im vorliegenden Bei‐ trag versucht, zu erklären, warum und wann es ‚in der Wissenschaft‘ zur kom‐ munikativen Bearbeitung des Beziehungsaspektes kommt. Dafür wird es nötig sein, den systematischen Zusammenhang zwischen Medialität und Domänen‐ spezifik von interner Wissenschaftskommunikation darzustellen, wie er sich für eine Perspektive kulturanalytisch orientierter Linguistik als notwendig zu re‐ konstruieren erweist. Aus diesem Zusammenhang heraus lässt sich dann plau‐ sibilisieren, wie unterschiedliche Grade der Präsenz der Person es nötig machen, Beziehungsarbeit zu leisten und, wie deutlich werden wird, sich gerade damit der Unpersönlichkeit interner Wissenschaftskommunikation zu versichern. 148 Matthias Meiler 3 Beim Eintrag handelt es sich um: Hubert Knoblauch (06.08.2013): Schütz‘ „gut infor‐ mierter Bürger“, die dialogischen Medien und die Transformation der Wissensvermittlung (Populäres Wissen 3). In: SozBlog. Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (http: / / blog.soziologie.de/ ). 11 Absätze, 10 Kommentare. Zur genaueren Beschreibung des Blog‐ gens auf dem SozBlog siehe Meiler (2018: Kap. 7.4). 1 Ein Beispiel (I) Betrachten wir zu Beginn einen Blog-Kommentar. Er entstammt einem längeren Kommentarverlauf auf dem SozBlog zwischen dem Autor des Eintrags 3 einer‐ seits und einem pseudonym bloggenden Soziologen, der regelmäßig und um‐ fangreich auf dem SozBlog kommentiert, andererseits. Der Autor des SozBlog- Eintrags antwortet hier bereits das zweite Mal im Laufe des betreffenden Kommentarstrangs auf Kommentare dieses Bloggers und wird es hiermit auch nicht das letzte Mal tun. Hubert Knoblauch 8. August 2013 um 20: 38 (1) Lieber Beobachter der Moderne, (2) erlauben Sie mir einige Bemerkungen zu Ihrem Kommentar (19: 18). (3) Luhmann hat die Kritik am Sender-Empfänger-Modell keineswegs erfunden; vielmehr arbeiten wir (übrigens: empirisch! ) spätestens seit Mead mit einem Kommunikationsbegriff, der damit nichts zu tun hat (im Unterschied zu dem, was als „Wissenstransfer“ ver‐ handelt wird). (4) (Auch bei der Verwendung des Kommunikationsbegriffes sollte man beachten, dass er schon bei Mead oder Cooley schon der Begriff der Kommunikation im Mittelpunkt der Soziologie steht - einer Soziologie, die übrigens auch Schütz sehr wohl bekannt war.) (5) Es ist zudem gerade Mead, der das „psychische System“ keineswegs nur durch das soziale System „irritieren“ lässt - sonst wäre weder ein hochgradig spezifisches „ta‐ king the role of the other“ noch ein „me“ möglich. (6) Was hier geschieht, lässt sich mit Schütz viel treffender als Reziprozität bezeichnen - ein Begriff, der auch sehr viel mehr leistet als die merkwürdig monadische „Irritation“. (7) Um den Prozess der Kommunikation zu erfassen, ist der Informationsbegriff viel zu unterkomplex. (8) Vielmehr reden wir (gerade weil das wissende Subjekt konsti‐ tutiv ist für diesen Prozess) vom kommunikativen Handeln (in durchaus kritischer Anlehnung auch an Habermas - und, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuche, an Schütz). (9) Welche Probleme der Begriff der „Information“ erzeugt, ist übrigens ein zentrales Thema meines Buches über PowerPoint. (10) Die Frage der ungleichen Wissensverteilung und der Unterschiede im Wissens‐ erwerb sind klassische Themen der Wissenssoziologie. (11) Sie können auf dem 149 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 4 Da der Fokus dieses Artikels ein anderer ist, muss ich hier darauf verzichten, die vielen verdienstvollen Arbeiten, die dem Begriff des eristischen Handelns vorausgehen und auf denen er aufruht, entsprechend zu würdigen. Im Rahmen dieses Sammelbandes können diese freilich - wie ich meine - auch zu einem großen Teil vorausgesetzt werden. 5 Konstellation wird hier im Anschluss an Ehlich /  Rehbein (1979) terminologisch ver‐ wendet: Darunter ist zu verstehen, dass Handlungen jeweils an unterschiedlichen As‐ pekten ansetzen und diese von ihrem gegenwärtigen Zustand hin zu einem anderen Zustand verändern. Die jeweiligen Konfigurationen dieser Aspekte werden Konstella‐ tion genannt. In der Art der Überführung einer Ausgangskonstellation in die Zielkons‐ tellation erweisen Handlungsmittel ihre jeweilige gesellschaftlich ausgearbeitete Zweckhaftigkeit. knappen Raum nicht erläutert werden; (12) ich muss dazu auf das (aus diesem Grunde angeführte) Buch über Wissenssoziologie verweisen. (13) Die Anregung zur Erörterung der (Wissens-)Vermittlung nehme ich gerne auf, zumal sie ja unmittelbar mit dem kommunikativen Handeln verbunden ist. (14) Haben Sie besten Dank für die anregende Kritik! (15) Hubert Knoblauch Antworten Was - wenn man die entsprechenden Wissenshintergründe mitbringt - in diesem Kommentar ausgesprochen deutlich zutage tritt, ist das wissenschafts‐ spezifische eristische Handeln (vgl. Meiler 2018). 4 Präziser ausgedrückt: Die cha‐ rakteristischen wissenschaftssprachlichen Mittel, die dem Vollzug dieses Han‐ delns dienen, drängen sich dem geschulten Rezipienten geradezu auf. Dieses eristische Handeln soll hier aber nicht im Zentrum stehen. Tritt man einen Schritt zurück, wird natürlich noch etwas anderes erkennbar - und dieses wird uns näher an den hier interessierenden Gegenstand führen - es wird nämlich auch eine Makrostruktur erkennbar, die weit über die Wissenschaft hinaus be‐ kannt und vertraut ist und die sich mittlerweile in vielen Kommunikations‐ formen finden lässt: Anrede - Mitteilung - Grußformel. Diese Makrostruktur hat ihre Konventionalisierung wohl v. a. in der Kommunikationsform Brief ge‐ funden und bearbeitet in der Verklammerung zuvorderst die Kontaktherstellung und -beendigung zwischen den Kommunizierenden. Wenngleich diese Auf‐ gaben kommunikationsformenunabhängig immer auf irgendeine Art und Weise bearbeitet werden müssen, gibt es eine charakteristische Prägung sprachlicher Mittel (wie sie auch oben realisiert ist), die der Bearbeitung dieser Aufgaben in spezifischen Konstellationen 5 dient. Darüber hinaus sind diese die Mitteilung umschließenden Klammern natürlich auch ausgezeichnete Orte der kommuni‐ kativen Beziehungspflege (vgl. Holly 1990: 99). 150 Matthias Meiler 6 Zum Abschluss des vorangegangenen Kommentars schrieb der pseudonyme Blogger: „(23) Spannend wäre, wie der Vermittlungsbegriff unter konstruktivistischen Prämissen rekonstruiert werden könnte. (24) Ich hoffe Sie finden die Gelegenheit dies in einem der kommenden Beiträge noch einzuflechten. (25) Viele Grüße“ (Absatz von mir getilgt). Damit verbalisiert er sicherlich eine persönliche Neugier, ein Interesse und schließt daran eine Bitte an. Um Kritik handelt es sich hier aber nicht. Dem geht zwar eine deutlich kritisierende Phase voraus, auf die im oben wiedergegebenen Kommentar auch und ausschließlich eingegangen wird - schaut man sich diese genauer an, wofür hier leider kein Raum ist - wird aber schnell ersichtlich, dass diese Kritik in all ihrer Vor‐ wurfsqualität in keiner Weise ‚anregend‘ ist. Dies artikuliert sich ja auch deutlich in Reaktion auf den Vorwurf im Kommentar selbst. 7 In Bezug auf diese ‚Lücke‘ im wissenschaftskommunikativen Formeninventar kann verall‐ gemeinernd auch auf Kretzenbachers /  Thurmairs (vgl. 1994: 199 f.) Peer-Review-Analysen (Vergleich: Englisch / Deutsch) verwiesen werden, in denen sie feststellen, dass das Reper‐ toire der kritisierenden Handlungsmuster sehr viel ausgebauter und differenzierter ist als das der lobenden. Es zeigt sich also einerseits, dass die allgemeinen wissenschaftskommuni‐ kativen Zwecke das Formeninventar der alltäglichen Wissenschaftssprache prägen, was ge‐ rade deswegen keineswegs symmetrisch oder lückenlos aufgebaut ist: Idiomatisiert wird nur, was zum ‚Kerngeschäft‘ gehört. Was zu diesem Kerngeschäft gehört, beantworten an‐ dererseits freilich unterschiedliche Wissenschaftskulturen je unterschiedlich (vgl. ebd. oder bspw. Liang 1991). Mit Blick auf den Kommentar fällt bezüglich dieser rahmenden Beziehungs‐ pflege in der sog. Grußformel aber ein Aspekt auf: „Haben Sie besten Dank für die anregende Kritik! “ heißt es in (14). Am Ende eines solchen, relativ umfang‐ reichen und ausgesprochen dissens-orientierten Kommentars, wird dennoch - und das nicht gerade verkürzt - Dank geäußert. Begibt man sich im Kommentar auf die Suche nach sachlich gerechtfertigten Gründen für eine solche Dankes‐ bekundung, lassen sich solche eigentlich nicht ausmachen. Selbst die in (13) erwähnte „Anregung“ kommt hier nicht in Frage, weil diese gar nicht im Rahmen eines (noch so breit verstandenen) Kritisierens (vgl. dazu Redder 2014) vorgebracht wurde (der Autor bedankt sich ja für Kritik). 6 Warum kommt es aber genau hier zur expliziten Beziehungspflege? Mit Petkova-Kessanlis (2017) könnte auch gefragt werden, welche Funktion dieser Stilwechsel in dieser Pas‐ sage der Kontaktbeendigung im Besonderen hat und ob der Wechsel zur Bezie‐ hungsebene im Allgemeinen in der internen Wissenschaftskommunikation eine konventionelle oder zumindest eine typische Funktion erfüllt. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, hilft es, sich die Domänenspezifik interner Wissen‐ schaftskommunikation zu vergegenwärtigen. Für die Verbalisierung einer solchen Dankbarkeit gibt es ja zunächst keine ge‐ nuin wissenschaftssprachlichen Mittel. 7 Die Mittel der Wissenschaftskommunika‐ tion dienen vielmehr der Bearbeitung spezifisch wissenschaftlicher Zwecke (vgl. Thielmann 2015: 4) - daraus geht ihre typische Prägung hervor. Es muss also auf 151 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens sprachliche Mittel anderer Prägung zurückgegriffen werden, mithin ein Wechsel stattfinden, der als Stilwechsel begriffen werden kann (s. o.) (vgl. Petkova-Kessanlis 2017). Um diesen Wechsel, seine mindestens zweifaltigen Bedingungsstrukturen und seine Funktionalität geht es im Folgenden. Es handelt sich also um Zwecke, die am Rande der kommunikativen Bearbeitung wissenschaftlichen Wissens im Kon‐ text interner Wissenschaftskommunikation offenkundig ebenso bearbeitet werden müssen. An diesen Rändern mag es scheinen, dass oftmals die Person hinter der professionsgebundenen Rolle in Erscheinung tritt, denn es gibt, folgt man Goffman (1980: 617), „eine Beziehung zwischen Person und Rolle. Doch sie hängt von dem Interaktionssystem ab - dem Rahmen -, in dem die Rolle gespielt wird und das Ich des Darstellers ein wenig sichtbar wird.“ Wie dies geschieht, zu welchem Zweck und in Abhängigkeit wovon, wird im Folgenden versucht, einer Systematisierung zuzu‐ führen. Dafür müssen zunächst aber v. a. die zwei Bedingungsstrukturen in den Blick kommen: die Medialität interner Wissenschaftskommunikation einerseits und ihr Präsuppositionssystem, man kann auch sagen: ihre normative Struktur, ande‐ rerseits. 2 Kommunikationsformenspektrum interner Wissenschaftskommunikation Die wissenschaftliche Öffentlichkeit ist in ihrer Entstehung und natürlich in ihrem Wandel davon geprägt, welche medialen Möglichkeiten den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaften und Kulturen, in denen sie stattfindet, zum je‐ weiligen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, um miteinander in Kontakt zu treten. Die Rekonstruktion ihrer historischen Entwicklung stellt bei genauer Betrach‐ tung für die Wissenschafts(sprachen)forschung ein besonders wichtiges Ar‐ beitsfeld dar. Für dieses Feld äußerst aufschlussreiche Rekonstruktionen, wie sie bspw. im Rahmen der Arbeiten von Giesecke (1994) und Stichweh (1984) vor‐ genommen wurden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur an Wissen‐ schaftssprache und -kommunikation interessiert sind, sondern darüber hinaus mit einer sozial- und medienwissenschaftlichen Perspektive diese Kommuni‐ kationsprozesse in einem größeren Zusammenhang betrachten. Erst mit einem solchermaßen geweiteten Blick wird erkennbar, in welchem Umfang die neu‐ zeitliche Wissenschaft und ihre spezifischen wissenschaftskommunikativen Charakteristika auch ein Resultat der vergangenen medientechnischen Innova‐ 152 Matthias Meiler 8 An anderer Stelle habe ich versucht, wichtige Linien dieser Entwicklung zusammenfassend darzustellen (vgl. Meiler 2018: Kap. 6). Aber auch dort konnte u. a. mit Rekurs auf die er‐ wähnten Autoren nur angedeutet werden, wie unser heutiges Wissenschaftsverständnis, seine epistemologischen Grundlagen, kommunikationsstrukturellen Verfahren und Ma‐ ximen genauso wie die etablierten Gattungsstrukturen von dem reichhaltigen Zusammen‐ spiel von und mit Medientechnologien und ökonomischen Infrastrukturen mit historisch tradierten kulturellen Mustern bedingt sind. Solche Einsichten geben - nebenbei bemerkt - einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik gerade mit Blick auf die sich andeu‐ tenden zukünftigen Entwicklungen in diesem Feld ihr ganz besonderes Gewicht. 9 Häufig, aber nicht zwingend erweisen sich diese Kommunikationsformen als konsti‐ tutiv an einen geografisch bestimmbaren Ort gebunden, wie das bspw. bei Vorträgen, Plakaten, (Lehr-)Veranstaltungen, nicht aber bei Mailinglisten der Fall ist. tionen und mithin medieninfrastrukturellen Umwälzungen ist. Dies kann hier freilich nicht mehr als angedeutet werden. 8 Dieser Andeutung kann aber zumindest das Plädoyer für einen genaue(re)n Blick auf die medialen und mithin kommunikationsstrukturellen Bedingungen der Wissenschaftskommunikation hinzugefügt werden (vgl. auch Meiler 2015). Mit dem bereits erwähnten medienlinguistischen Kommunikationsformen-Be‐ griff können bspw. „die in einer Gesellschaft jeweils aktuellen Möglichkeiten zur Kommunikation differenziert erfasst“ (Domke 2010: 270) und auch in ihrer soziokulturellen Bedingt- und Eingebettetheit rekonstruiert werden (vgl. Meiler 2017). Übergreifend und strukturell betrachtet können hier mit Domke (2014) drei Familien unterschieden werden: Mikro-, Meso- und Makrokommunikati‐ onsformen. Diese Kommunikationsformenfamilien werden nicht nur, aber be‐ sonders auch über die Beteiligungsstruktur unterschieden: Wie viele Personen können auf welche Weise miteinander in Kontakt treten? Neben den Dimen‐ sionen der Orts- und Raumgebundenheit ist es v. a. die Zeitdimension, die für die Beteiligungsstruktur von Relevanz ist: Müssen die Interaktantinnen an einem bestimmen Ort zugegen sein? Wie können sie dort mit der Ressource Raum umgehen? Und tun sie dies gemeinsam und zur selben Zeit? Wie Domke (2014) herausarbeitet, werden besonders im Hinblick auf diese konstituierenden Aspekte der Beteiligungsstruktur Mesokommunikations‐ formen, die strukturell betrachtet immer nur eine begrenzte Menge an Interak‐ tantinnen im Kommunikationsgeschehen zulassen, 9 unterscheidbar, einerseits von Makrokommunikationsformen, die - entsprechend dem typisch massen‐ medialen Kriterium - prinzipiell unzählbar viele Rezipientinnen erreichen (wie bspw. Buch, Zeitschrift, Radio, Fernsehen, Tweets, Weblogs), und andererseits von Mikrokommunikationsformen, die die Größenordnung von Kleingruppen‐ kommunikation ohne kommunikationsstrukturelle Folgen nicht überschreiten können (bspw. Face-to-Face-Kommunikation, Telefonat, Brief, E-Mail). 153 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 10 Und dies ist gewissermaßen die besondere Spezifik der Kommunikationsformenkate‐ gorie: dass sie es möglich macht, die Kombinatorik von medial bedingten, kommuni‐ kationsstrukturellen Merkmalen, die in jeder einzelnen Kommunikationsform auf cha‐ rakteristische Weise zusammen kommen, differenziert zu beschreiben. 11 Dürscheid (2003: 42-47) schlägt mit Blick darauf die Unterscheidung in synchrone, quasi-synchrone und asynchrone Kommunikationsformen vor. 12 Die etymologische Rückführung des Terminus auf lat. discurrere ‚durchlaufen, hin- und herlaufen‘ ist hier einschlägig (vgl. Glück /  Rödel 2016: 154). In anderen Theoriezusam‐ menhängen wird u. a. von Gespräch, Konversation, Dialog oder Interaktion gesprochen (vgl. ebd.: 148 f., 239, 301, 367). Wie an den gegebenen Beispielen zu erkennen ist, kann gewissermaßen quer zur Unterscheidung anhand dieser Dimensionen (neben vielen anderen) eine weitere Unterscheidung vorgenommen werden, die hier von Interesse ist. 10 Im oben angedeuteten Spektrum der Kommunikationsformen ist die Dimension der Kommunikationsrichtung (uni- /  bidirektional) weit verteilt und steht jeweils in einer charakteristischen Beziehung zur Zeitdimension: Wird direkt beob‐ achtbar, wie die Kommunikationspartnerin ihre Mitteilung hervorbringt (bspw. Face-to-Face-Dyade, Veranstaltungen vs. Chat vs. Weblog)? Kann sofort geant‐ wortet werden (bspw. Chat vs. Weblog vs. Brief)? Wie lange dauert die Über‐ tragung einer Antwort (bspw. Brief vs. E-Mail)? 11 Mit Bezugnahme auf Ehlichs (1983) Unterscheidung von Diskurs und Text kann man in dieser Hinsicht auch von Kommunikationsformen mit je unterschiedlichen Diskursivitätsgraden sprechen. Die Möglichkeit zur wechselseitigen Verständigung wird in dieser analytischen Perspektive dann nicht mehr an das Zutreffen von örtli‐ cher und / oder zeitlicher Kopräsenz gebunden, sondern wird vielmehr als ein Kon‐ tinuum verstanden, in dem einzelne Kommunikationsformen im Spektrum zwi‐ schen Ko- und Depräsenz positioniert werden können. Mit einer solchen Positionierung können dann die je spezifischen kommunikationsstrukturellen Be‐ dingungen differenzierter in jener Hinsicht in den Blick kommen, in der sie der Funktionalität kommunikativer Mittel ihr je charakteristisches Gepräge geben (vgl. exemplarisch dazu Meiler /  Huynh i. Dr.). In einer solchen Perspektive werden einzelnen Kommunikationsformen dann unterschiedliche Grade von Diskursivität zuschreibbar, wenn sie durch die strukturelle Möglichkeit des kommunikativen Hin und Her, 12 also der Bezugnahme auf Vorgängiges und der Wechselseitigkeit dieser Bezugnahmemöglichkeit charakterisiert sind. In diesem Sinne haben Kommunikationsformen wie Briefe, E-Mails, Foren und Weblogs ebenso je spezifische diskursive Qualitäten wie SMS, der Chat und Te‐ lefongespräche. Je nach Ausprägung des Diskursivitätsgrades ergeben sich na‐ türlich unterschiedliche Strukturausprägungen der wechselseitigen Bezugnah‐ memöglichkeiten, die bspw. das Turn-Taking, Ko-Konstruktionen, turn- oder 154 Matthias Meiler 13 Beispielhaft kann hier auf die Unterschiede in der ‚Dialogkonstitution‘ in SMS- und in WhatsApp-Kommunikation verwiesen werden, wie sie u. a. König (2015) herausgear‐ beitet hat. allgemeiner einheitenübergreifende phorische, deiktische, nennende oder re‐ formulierende Verfahren der Kohärenzherstellung, Konstruktionsübernahmen, die Sprecher- und Hörersteuerung u. a. m. betreffen. 13 Die im Titel des Beitrags angesprochene ‚Präsenz der Person‘ ist also, wie die vorangegangenen Ausführungen andeuten, zunächst einmal kommunikationsstruk‐ turell zu verstehen: Die Kommunizierenden werden mit den jeweiligen kommuni‐ kationsformenspezifischen Bedingungen als kommunizierende Personen auf je spezifische Weise füreinander beobachtbar: zeitlich, räumlich, semiologisch. Der Umfang, in dem die Kommunizierenden hier füreinander beobachtbar werden, kann dabei gewissermaßen von einem anonym oder pseudonym getippten Kommentar (bspw. auf der Website einer Tageszeitung) bis hin zur leiblichen Symptomfülle (vgl. Schütz 1932) der Face-to-Face-Kommunikation reichen. Für die Kommunikationsform, in der das oben wiedergegebene Beispiel rea‐ lisiert ist, muss diesbezüglich ein spezifischer Doppelcharakter konstatiert werden. Die Kommunikationsform Weblog ist nämlich im Allgemeinen davon geprägt, dass die einzelnen Blogeinträge einerseits von massenmedialer Qualität sind (mindestens eine Produzentin und prinzipiell unzählige Rezipientinnen), während sich in den Kommentaren andererseits Kommunikation zwischen identifizierbaren Individuen vollzieht, die ihrerseits freilich von einer öffentli‐ chen Massenmedialität gekennzeichnet ist (vgl. Meiler 2013). Beide, Blogge‐ rinnen und Kommentierende, können dabei unterschiedlich viele Informa‐ tionen, die über die im Blog sichtbare Kommunikation hinausgehen, preisgeben (bspw. über Profilbilder, weiterführende Links, Über-den-Blogger-Seiten) und sich also als mehr oder weniger viel-seitige Personen zu erkennen geben und darstellen. An dieser Stelle ist aber natürlich zu betonen, dass im Hinblick auf diesen Aspekt der Sichtbarkeit (i. w. S.) der Person die kommunikationsstruk‐ turellen Parameter der Kommunikationsform sehr stark in Wechselwirkung treten zu den Normen und Konventionen der Praktiken und Praxen, für die sie genutzt werden. Ein per E-Mail versendeter Publikationshinweis an Kolleginnen gibt andere Seiten preis als die Weihnachts- und Neujahrglückwünsche, die man einer alten Freundin per Mail zukommen lässt. Unterschiedliche Praxisgemein‐ schaften greifen auf kommunikationsstrukturelle Rahmenbedingungen, wie sie Kommunikationsformen für die Nutzung setzen, natürlich unterschiedlich zu. Behält man aber zunächst nur die kommunikationsstrukturellen Rahmenbe‐ dingungen im Auge, die sich hinsichtlich der Präsentation der und des Zugriffs auf die Person im Kommunikationsformenspektrum entfalten, kann auf fol‐ 155 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 14 Eine systematische Zusammenschau dieser und weiterer Aspekte, die hier nicht in vollem Umfang dargestellt werden können, gibt Domke (2014: Kap. 3 und 4). Hier ist lediglich eine problemorientierte Auswahl getroffen worden. 15 Siehe dazu einführend Burger / Luginbühl (2014: 23-26). gende, eng verzahnte Aspekte 14 in ihrer Rolle für die Funktionalität unter‐ schiedlicher kommunikativer Mittel hingewiesen werden: • Semiologische Ressourcen: Wie viel unseres leibgebundenen Ausdrucks‐ • repertoires kann eingesetzt bzw. muss unter Kontrolle gehalten werden? • Ort / Raum: Sind die Interaktantinnen kopräsent, in Griffnähe, frei be‐ • weglich oder an eine bereits eingerichtete Struktur gebunden - oder (in unterschiedlicher Kombination) nicht? • Adressierbarkeit (technische und körperliche): Auf welche Weise werden • die Interaktantinnen im Einzelnen adressierbar? Mit welchen kommuni‐ kativen Mitteln, als Individuen oder nur als Mitglieder unterschiedlich umfangreicher Gruppen? • Übertragungs- / Reaktionsgeschwindigkeit: In welchem Umfang ist der • Kommunikationsprozess für die beteiligten Interaktantinnen synchroni‐ siert? Wie schnell erreicht eine Nachricht die Adressatin? Wie schnell kann reagiert werden? Auf welchem Wege kann reagiert werden? • (Nicht-)Öffentlichkeit: Wenn es um (teil-)öffentliche Kommunikation • geht: Welche inneren und äußeren Kommunikationskreise sind zu be‐ denken und schlagen sich ggf. in Mehrfachadressierungen nieder? 15 In unterschiedlichem Umfang gehen diese strukturellen Aspekte ein bspw. in die Entfaltung von konditionellen Relevanzen, den Vollzug komplexerer Handlungs‐ muster und in die Organisation des Sprecherwechsels (soweit vorhanden), in die thematische Entfaltung, Themenbehandlung u. v. m. Wenn man davon ausgehen muss, dass die gemeinsame Kommunikationsgeschichte bspw. im Display nicht nur eine Scroll-Bewegung entfernt ist, müssen ein infrage stehendes Thema und die diesbezüglichen Ziele, Erwartungen und Wissenshintergründe der an der Kommu‐ nikation Beteiligten sprechhandlungsstrukturell ganz anders behandelt werden (vgl. den Unterschied von Gespräch, Brief, Mailing-Liste, Vortrag, Weblog, Zeitschrift). Diese und andere Konsequenzen kommunikationsstruktureller Bedingungen ma‐ chen deutlich, in welcher Differenziertheit die Medialität von Kommunikation für die linguistische Analyse immer mitzudenken ist. 156 Matthias Meiler 16 Adamzik (2010: 145-147) weist für den akademischen Bereich darauf hin, wie einerseits verallgemeinerte (manchmal als universal angenommene) Normen gerade für die lin‐ guistische Analyse zu vermitteln sind mit unterschiedlichen Korngrößen von Praxis‐ gemeinschaften, die jeweils spezifische Kommunikationsweisen und -kulturen aus‐ bilden können: „Ein Individuum kann sich ebenso gut als deutscher Wissenschaftler wie als Naturwissenschaftler, Physiker, Festkörperphysiker oder als Mitarbeiter des Paul-Drude-Instituts für Festkörperelektronik (Berlin), genauer: Abteilung Halbleiter‐ spektroskopie, kommunikativ handeln und sich damit auf jeweils unterschiedliche ‚Kulturen‘ beziehen“ (ebd.: 147). 3 Wissenschaftskommunikative Normen, Zwecke und ihr Geltungsbereich Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass beobachtbare Kommunikation immer einerseits von den kommunikationsstrukturellen Bedingungen und an‐ dererseits von den konventionellen bzw. normativen Bedingungen der kommu‐ nikativen Praktik und gesellschaftlichen Praxis 16 her bestimmt wird - denn letztlich kommt es im Lichte der betreffenden semantischen Haushalte zur Se‐ mantisierung der kommunikativen Oberflächen (vgl. bspw. Jäger 1986). Man kann also immer von einem zweiseitig eingeschränkten Spielraum ausgehen, den Kommunikationsprozesse nutzen und in dem sie sich entfalten und ihre Strukturen performativ re-produzieren. Die interne Wissenschaftskommunikation beruht nun gerade im Hinblick auf das hier interessierende Thema und im Kern seiner heute dominanten, neuzeit‐ lich-westlichen Verfasstheit auf einem institutionalisierten Widerspruch - Holl‐ stein /  Schütze (2004: 154) sprechen von einem „Dilemma“: Einerseits verbürgt der Anspruch der Unpersönlichkeit des wissenschaftlichen Wissens die Objek‐ tivität der Erkenntnis, andererseits führt die kommunikative Zuschreibung von Priorität und Reputation an einzelne Forscher bspw. zum sog. Matthäus-Effekt (Merton 1985d), der Luhmann (vgl. 1990: 244-251) dazu veranlasste, zusätzlich zur Leitunterscheidung des Systems Wissenschaft zwischen wahr und unwahr noch den Nebencode Reputation anzunehmen. Auf der anderen Seite haben, wie einleitend schon erwähnt, v. a. die empiri‐ schen Studien der Wissenschaftssoziologie die handlungspraktische Seite dieses Widerspruches erhellt. Wie bspw. die Laborstudien gezeigt haben (vgl. dazu etwa Amelang 2012), gestalten sich die Praktiken des Forschens ganz anders, als sie in den Publikationspraktiken zur Darstellung kommen. Von den lokalen Kontingenzen des Forschungsprozesses gereinigt, wird in der Publikation die Rationalität und Objektivität des Prozesses ergebnis- und faktenorientiert kom‐ munikativ inszeniert (vgl. Knorr-Cetina 1991: 5). 157 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 17 Ich bevorzuge den Terminus Gattung gegenüber bspw. Diskurs- und Textart bzw. -sorte, weil mit ihm nicht der oben infrage gestellten Dichotomie von Diskurs vs. Text oder Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit Vorschub geleistet wird (vgl. dazu auch Stein 2011). Die normative Struktur der Wissenschaft - die bekannten Stichworte von Merton (1985b) sind: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit, organisierter Skepti‐ zismus - erweist sich vor diesem hier nur angerissenen Hintergrund v. a. als norma‐ tive Struktur interner Wissenschaftskommunikation (vgl. bspw. Krämer 2009: 101- 110). Ein Teil dieser normativen Struktur wurde von Weinrich (1986; 1988) in sechs wissenschaftskommunikative Maximen übersetzt, die er als Gebote und Verbote formulierte (Veröffentlichungs-, Rezeptions-, Kritikgebot und Ich-, Erzähl-, Metaphern- Verbot). Diese Maximen erschöpfen das Feld freilich nicht vollständig - es kann hier aber auch nicht ausgebreitet werden (vgl. dazu auch Rhein 2015: 223-275; Meiler 2018: 154-160). In mehr oder weniger expliziter Vermittlung mit einem solchen Prä‐ suppositionssystem interner Wissenschaftskommunikation hat sich eine Vorstel‐ lung davon herausgebildet, was typische grammatische Eigenschaften von Wissen‐ schaftskommunikation sind: Ein unpersönlicher Ausdruck bzw. Deagentivierung nimmt dabei häufig eine prominente Stellung ein (vgl. dazu bspw. Arbeiten jün‐ geren Datums: Czicza /  Hennig 2011; Hennig /  Niemann 2013). Perspektiven auf die sprachliche Form von Wissenschaftskommunikation können davon profitieren, wenn ihnen eine institutionsbezogene Zweckanalyse zur Seite gestellt wird. Auf einer solchen aufbauend kommt bspw. Thielmann zur Bestimmung der folgenden allgemeinen Zwecke interner Wissenschafts‐ kommunikation: „1) die Benennung des wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstandes; 2) die sprachliche Fassung des neuen Wissens, das dem Erkenntnisgegenstand zugesprochen wird; 3) die sprachliche Fixierung der disziplinenübergreifenden alltäglichen wissenschaftli‐ chen Praxis; 4) die sprachliche Bearbeitung strittig gewordenen alten und die strei‐ tende Lancierung neuen Wissens; 5) die Entwicklung diskursiver und textueller Formen zur Kommunikation neuen Wissens.“ (Thielmann 2015: 4) Aus einer solchen Perspektive stellt sich dann die Frage, welche sprachlichen Mittel besonders dafür geeignet sind und sich historisch dafür herausgebildet haben, diese wissenschaftsspezifischen Aufgaben zu bearbeiten. Jenseits von einzelfachspezifi‐ scher Lexik kommen damit wohl v. a. Idiomatisierungen (Textroutinen im Sinne Feilkes 2003) der sog. alltäglichen Wissenschaftssprache (vgl. Ehlich 1994a) und ver‐ festigte Organisationsstrukturen von Text und Diskurs in den Blick (bspw. die Gat‐ tungen 17 ). Ein übergreifendes Kriterium allerdings, das wissenschaftssprachliches Handeln insgesamt kennzeichnet, kann in einer spezifischen Haltung ausgemacht werden: Wissenschaft zeichnet sich - so könnte man allgemein formulieren - u. a. 158 Matthias Meiler 18 Im Sinne von Steiners (2009) Untersuchung könnte man auch von der kommunikativ hergestellten Autorfigur sprechen, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die we‐ sentlichen kommunikativen Zwecke zu bearbeiten hat, die heute für die interne Wis‐ senschaftskommunikation als konstitutiv angenommen werden können (darunter das Positionieren im und das Problematisieren des Forschungsstandes; vgl. ebd.: 216-237 sowie bspw. Meiler 2018: 546-556). 19 Nur in diesem Sinne geht es m. E. „auch bei (sprachlichem) Handeln im Fach nicht ausschließlich um Objektkommunikation, sondern immer auch um Beziehungskommu‐ nikation“ (Schröder 1993: IX; Hervorhebungen im Orig.). dadurch aus, eine spezifische Haltung zu jenem Wissen zu pflegen, das sie selbst hervorbringt: die Haltung nämlich, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis immer und ganz prinzipiell als vorläufig zu betrachten ist (vgl. bspw. Popper 1973: XXV). Dies kann im Anschluss an Ehlich (1993) als eristische Grundcharakteristik interner Wissenschaftskommunikation bezeichnet werden. Diese grundlegende Charakte‐ ristik ist dementsprechend auch oben im Punkt 4) von Thielmanns Liste genau wie bei Merton und Weinrich zu finden (s. o.). Es mag redundant erscheinen, den kommunikativen Umgang mit dem wis‐ senschaftlichen Wissen als Strukturkennzeichen interner Wissenschaftskom‐ munikation auf diese Weise hervorzuheben. Dies geschieht aber, weil hier ja gerade in den Blick kommen soll, wann, unter welchen Bedingungen und wie diese kommunikative Orientierung am wissenschaftlichen Wissen ‚verloren‘ geht, also nicht als leitende kommunikative Prämisse im Vordergrund steht. 4 Person, Rolle und professionsgebundene Beziehungsarbeit Wie eben erwähnt und anhand des Beispiels in Kapitel 1 bereits angedeutet, sollen hier die Phänomene in den Blick kommen, die im Kontext interner Wis‐ senschaftskommunikation ein Abweichen von der oben umrissenen Prämisse der kommunikativen Orientierung am wissenschaftlichen Wissen kenntlich werden lassen. Das Beispiel zeigte, wie in solchen Fällen die Forscherpersonen direkt adressiert und ihre Beziehung kommunikativ bearbeitet werden. Wie die Arbeiten von Tracy (1997) oder Rhein (2015) zu Kolloquien und Ta‐ gungen aber mannigfaltig zeigen, bedeutet ein Abweichen von der Orientierung am wissenschaftlichen Wissen noch nicht prinzipiell, dass deswegen zwangs‐ läufig kommunikativ auf die Privatpersonen zugegriffen würde. Vielmehr greifen die Verfahren der Selbstdarstellung und der Beziehungsarbeit auf do‐ mänenspezifische Aspekte zurück (wie wissenschaftsspezifische Werte, Fach‐ identitäten, Expertenschaft oder fachspezifischen Humor) und tangieren damit allenfalls die professionelle Rolle 18 der Wissenschaftlerinnen. Es zeigt sich somit eine professionalisierte oder besser professionsgebundene Beziehungsarbeit. 19 159 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 20 Dieses Wissen ist dann ja - mit Bourdieu (1998) gesprochen - eines von zwei Quellen, aus denen heraus soziales Kapital gesammelt und mithin die entsprechende professionelle Identität aufgebaut werden kann. Kommunikatives Handeln setzt in der Domäne Wissenschaft also nicht an der Integrität von Privatpersonen an, sondern an domänenspezifischen „professional identities“ (Konzett 2012: 389). Strikt normativ gedacht (s. o.) setzt interne Wissen‐ schaftskommunikation ja eigentlich nur an datierbaren öffentlichen Äußerungen, an Publikationen und dem darin kommunizierten wissenschaftlichen Wissen an. 20 Im Fokus steht also das wissenschaftliche Wissen. Und die kommunikative Aus‐ einandersetzung darüber - das eristische Darum-Ringen - zeigt, wie mit der In‐ szenierung professioneller Identitäten der Wissenschaftlerinnen auch professio‐ nelle Beziehungen gepflegt werden müssen (vgl. bspw. Ventola 1998; Kresta 1995). Die Arbeit an diesen Beziehungen ist - wie dies für Beziehungsarbeit im Allge‐ meinen gilt - aller Wahrscheinlichkeit nach einerseits mannigfaltig und anderer‐ seits omnipräsent, findet aber selten explizit (bspw. metakommunikativ) statt. „In normalen Kommunikationssituationen sind die Beziehungsmuster besonders am Anfang und am Schluß deutlicher wahrzunehmen, bzw. zwischendurch immer wieder, wenn sich irgendein Zwischenfall ereignet hat. Ansonsten müssen Muster der Bezie‐ hungskommunikation, um sichtbar gemacht zu werden, zwischen den Zeilen hervor‐ geholt werden. Sie sind aber prinzipiell ‚allgegenwärtig‘, d. h. jede Äußerung kann daraufhin überprüft werden, was sie für die Beziehung bedeutet […].“ (Holly 1990: 99) Im Allgemeinen kann für interne Wissenschaftskommunikation aber festge‐ halten werden, dass - zumindest idealiter - die Arbeit am Wissen vor der Arbeit an der Beziehung Priorität hat, ja die professionelle Beziehungsarbeit gewisser‐ maßen über das wissenschaftliche Wissen umgeleitet wird, letztlich aber auch vermittels dieses Wissens als Medium umgesetzt wird. In den traditionellen Publikationsformen der internen Wissenschaftskommunikation kann diese Form der professionellen Beziehungsarbeit auch als die (beinahe) ausschließ‐ liche betrachtet werden (vgl. bspw. Myers 1989; Graefen 2000). Nur an ihren Rändern, so könnte man sagen, nur an eigens ausgezeichneten Stellen im Text und in relativ musterhafter Form (siehe Kapitel 7) wird einer expliziteren Be‐ ziehungsarbeit Raum gegeben. Systematisch betrachtet unterscheiden sich darin diskursive und textuelle Wissenschaftskommunikation nicht. Die kommunikativen Zwecke, die einer‐ seits die Domäne Wissenschaft zur Bearbeitung aufgibt und andererseits die allgemeinen Zwecke der Kontaktherstellung, Beziehungspflege und Organisa‐ tion von Kommunikation, sind weitgehend dieselben. Es ist aber davon auszu‐ gehen, dass sich die Mittel ihrer Umsetzung - wie Gülich /  Hausendorf (vgl. 2000: 160 Matthias Meiler 21 Analysen gesprochener Wissenschaftssprache waren damals als Vergleichspunkte noch kaum denkbar. Ihre Erforschung setzte erst später wirklich ein. Fandrych (2014: 7) kon‐ statiert im Jahr 2014 noch, dass sich „die Erforschung medial mündliche[r] Wissen‐ schaftskommunikation noch in den Anfängen“ befindet. 375-382) das bspw. für das Erzählen skizziert haben - mitunter erheblich un‐ terscheiden: Sie werden durch andere semiologische Ressourcen realisiert, sind mitunter medientechnisch substituiert oder gehen in die soziotechnischen Ar‐ rangements der jeweiligen Kommunikationsform ein und können präsupposi‐ tionell in Anspruch genommen werden. In welcher Weise explizite, professionsgebundene Beziehungsarbeit in den unterschiedlichen Kommunikationsformen der Wissenschaft sichtbar wird, soll anschließend v. a. mit Blick auf den Forschungsstand und zunächst ausgehend von den diskursiven Kommunikationsformen betrachtet werden. Nachdem dieser gesichtet wurde, kehre ich zum Eingangsbeispiel zurück und schließe die oben nur begonnene Analyse im Lichte der gewonnenen Befunde ab. 5 Diskursive Kommunikationsformen und die Präsenz der Person Als Myers (1989) in den 1980er Jahren die linguistische Höflichkeitsforschung auf wissenschaftliche Texte bezog, formulierte er die grundlegende These des vorliegenden Artikels gewissermaßen aus der Gegenperspektive: Wie können sprachliche Verfahren der Höflichkeit aufgefunden und analysiert werden, wenn „there is no immediate speaker (S) or hearer (H)“ und zudem wenn es so scheint, dass ein Text „is not addressed to anyone in particular“ (ebd.: 2)? (Beides trifft auf diskursive Kommunikationsformen ja zu.) „It is often hard, for a published text, to say who is interacting and what interaction is involved. […] Indeed, it may not seem to be an example of interaction at all, since the people involved are not present to each other. But I think we can still use some insights from conversational pragmatics as a guide to analysis of written texts. If one has some idea of the social context of text like this, one can define the possible audience fairly closely, and one can see requests, blamings, thanks, and invitations in the text just as one can see these acts in the conversations on a South Indian village.“ (Myers 1989: 2) Allerdings bezog sich Myers (1989) in seinen Analysen wissenschaftlicher Ar‐ tikel 21 ausschließlich auf den (höflichen) Umgang mit dem wissenschaftlichen Wissen selbst. Nach mehr als 20 Jahren Forschung in diesem Bereich stellt Hy‐ land (2003: 243) überblickend fest: „Yet while research has explored the varied ways that writers offer credible representation of themselves and their work in 161 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 22 Hier können mehr oder weniger konventionalisierte Gattungsnamen genannt werden: Keynote oder Plenarvortrag gegenüber Sektionsvortrag, Projektvorstellung gegenüber Ergebnispräsentation, Long paper gegenüber Shortpaper. Forschungsbericht, Datensit‐ zung und Impulsvortrag wären weitere Typisierungen, die auf der Gattungsebene an‐ gesiedelt sind. a range of genres, interest in the interpersonal has tended to focus on its role in argument.“ Demgegenüber sollen hier aber gerade jene Phänomene im Mittel‐ punkt stehen, die diese Orientierung am wissenschaftlichen Wissen selbst nicht aufweisen, sondern davon unabhängige, deswegen aber vermutlich nicht we‐ niger professionsgebundene Beziehungspflege erkennbar werden lassen. Dafür werden hier - gegenüber Myers - zunächst jene Kommunikationsformen der Wissenschaft in den Blick kommen, bei der die Wissenschaftler relativ einfach wechselseitig füreinander adressabel werden. Man kann diese deswegen als die Familie diskursiver Kommunikationsformen zusammenfassen. Die Familie der textuellen Kommunikationsformen der Wissenschaft wird im Ausblick behan‐ delt. Eine der wichtigsten diskursiven Kommunikationsformen der Wissenschaft ist vermutlich der Vortrag, der i. d. R. eingebettet in größere Veranstaltungen wie Tagungen, Workshops und Kolloquien stattfindet, dort unterschiedliche gattungsmäßige Ausprägungen 22 erfährt und in den meisten dieser Ausprä‐ gungen von Diskussionen gefolgt wird. Weil Vorträge in größere (freilich wis‐ senschaftliche) Veranstaltungen eingebunden sind, eint sie alle ein strukturelles Problem, nämlich unter der Bedingung der Anwesenheit einer überschaubaren Menge vieler zu einem spezifischen Zeitpunkt eine gemeinsame Aktivität be‐ ginnen zu müssen. Eine bewährte Lösung für dieses Problem ist die Anmoderation. Zu ihr hat Zhu (2015) eine sprach- und kulturkontrastive Studie (Deutsch / Chinesisch) vorgelegt. Er arbeitet darin „ein kommunikatives Muster mit ‚kultureller Signifi‐ kanz‘“ heraus (ebd.: 189). Dieses wird im Wesentlichen von den drei kommuni‐ kativen Aufgaben getragen, (i) die Referenten jeweils vorzustellen, (ii) den Vor‐ tragstitel zu nennen und (iii) das Rederecht an die jeweiligen Referenten zu übergeben (vgl. ebd.: 88). Von besonderem Interesse ist hier natürlich der Schritt (i). Es handelt sich dabei auch um jenen Schritt, der eine kulturspezifische Aus‐ prägung erkennbar werden lässt. Durch die Anmoderation geschieht ja etwas Besonderes, das wesentlich der sozialen Veranstaltung (und auch ihrer medialen Bedingungen) geschuldet ist, in der Wissenschaft hier stattfindet. Wenn ein Re‐ ferent anmoderiert wird, steht er - idealiter gedacht: steht das unpersönliche Wissen, das er vorträgt - nicht für sich selbst, sondern erfährt bei seinen Hörern durch den Moderator eine besondere Vorbereitung. Dabei sieht sich der Mode‐ 162 Matthias Meiler 23 Beetz (1985) beschreibt zwar den speziellen Fall von Einführungsreden zu universitären Gastvorträgen. Wesentliches lässt sich aber auf den allgemeineren Fall der Anmodera‐ tion von wissenschaftlichen Vorträgen übertragen. 24 Zum Positionieren als eristischem Verfahren siehe Gätje u. a. (2012) und Meiler (2018: 546-551). rator bekanntlich einem heiklen „Vermittlungsprozeß“ (Beetz 1985: 30) gegen‐ über. 23 Denn es müssen kommunikativ jene Bedingungen hergestellt werden - ein „kognitive[r] und soziale[r] Rahmen“ also -, die „den folgenden Kommuni‐ kationsprozeß“ möglich machen (ebd.). Diese Bedingungen betreffen einerseits u. a. die Synchronisierung der Aufmerksamkeitsfoki, um die drei anwesenden Parteien in eine gemeinsame Aktivität einzubinden und die bevorstehende Zeit in eine für alle drei Parteien simultan erfahrene Zeiteinheit zu überführen (zu allgemeinen Koordinationsaufgaben in Interaktion unter Bedingungen von An‐ wesenheit vgl. bspw. Hausendorf 2010: Kap. 4). An dieser Überführung ist auch die Organisation des Rederechts beteiligt (einschließlich der zeitweiligen Sus‐ pendierung des Turn-Takings, siehe (iii)). Die zu beginnende Praktik Vortrag (jedweder gattungsmäßigen Ausprägung) bedarf andererseits aber auch einer Vermittlung und Bearbeitung multilateraler Erwartungen und diverser Wis‐ sensbestände von Referent, Publikum und Moderator. Dies schlägt sich in den sozialen Rollen nieder, die der Moderator in der Moderation miteinander ver‐ einbaren muss: Er ist Organisator, Kollege und Experte in je unterschiedlicher Weise sowohl gegenüber dem Publikum als auch dem Referenten. Die Anmo‐ deration bedarf deswegen auch einer spezifischen Einklammerung der sonst domänenspezifischen Haltung zum wissenschaftlichen Wissen selbst: „[V]on dieser Form der Personalpanegyrik erwartet niemand eine abgewogene, ob‐ jektive Würdigung des Redners. Kritische Äußerungen zum Œuvre des Gastes sind in der Vorrede tabu und dürfen erst in der Diskussion vorgetragen werden. Souverän vollzieht der Einführungsredner eine Persönlichkeitsspaltung: Ein Teil seiner Person weiß vorläufig nur Positives zu berichten.“ (Beetz 1985: 32) Die persönliche Identität des Referenten spielt dabei i. d. R. so gut wie keine Rolle (vgl. Zhu 2015: 124). Demgegenüber wird aber qua Fremdpositionierung 24 eine entsprechend positiv bewertete professionsgebundene, also domänenspe‐ zifische Identität modelliert: Während im deutschen Wissenschaftsbetrieb hier u. a. die „Rekonstruktion der wissenschaftlichen Laufbahn der ReferentInnen“ im Vordergrund steht (ebd.: 138), legt der chinesische Wissenschaftsbetrieb mehr Wert auf die „administrative[n] Machtpositionen der ReferentInnen in der universitären Verwaltung“ (ebd.: 129). In beiden Fällen zeigt sich aber, dass das im Vortrag zu verbalisierende wissenschaftliche Wissen hörerseitig mit einer 163 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens Fremdzuschreibung eines positiven Identitätsentwurfes des Referenten vorbe‐ reitet wird, die im engeren Sinne mit diesem Wissen nichts zu tun hat und auch der domänentypischen Bewertungsmaßstäbe für dieses Wissen enthoben ist. Der Zweck dieses (in gewisser Weise) domänenuntypischen Lobs kann im We‐ sentlichen darin gesehen werden, das Gelingen der bevorstehenden Praktik Vortrag vorab zu unterstützen, indem eine positive Einstellung auf die nun ge‐ meinsam zu verbringende Zeit begünstigt wird. Der Moderator „bürgt dem Publikum gegenüber für einen gewissen Qualitätsstandard des Vortrags und dem Redner gegenüber für das Wohlverhalten des Publikums. [Er …] legitimiert durch Nennung von Titel und Namen als Markenzeichen sowie durch die Aufzählung wichtiger Werke seine mit der Einladung bekundete ‚riskante Vorleistung‘ des Ver‐ trauens. Das Lob, das er spendet, ist auch eine Absicherung gegenüber Vorwürfen, die ihm nach dem Ende einer enttäuschenden Vorstellung gemacht werden könnten.“ (Beetz 1985: 36) Im Anschluss an die Anmoderation übernimmt der Vortragende das Rederecht und bringt seinerseits einige Äußerungen zur Kontaktherstellung und Bezie‐ hungspflege hervor, die Carobbio (2011: 121) als „Warming-up-Phase“ zusam‐ menfasst: Diese ist dem eigentlichen Vortrag vorgelagert und enthält - neben Verfahren der Organisation des Kommunikationsprozesses selbst - besonders auch Begrüßung, Dank und ggf. auch eine Selbstvorstellung (vgl. auch Rowley- Jolivet / Carter-Thomas 2005: 51 f.). Im direkten Vergleich mit der Swalesschen (2007) Analyse von moves und steps im sog. research article zeigen Konferenz‐ vorträge auch im angloamerikanischen Kontext den konstitutiven Schritt „set‐ ting up an interpersonal framework“ zwischen Referent, Moderator und Pu‐ blikum (Rowley-Jolivet / Carter-Thomas 2005: 64), der i. d. R. sowohl „thanking them, greeting them and generally making contact“ (ebd.: 52) als auch eine do‐ mänentypische Selbstdarstellung umfasst (vgl. ebd.). Es ist also nicht einfach so, dass sich aus der medialen Spezifik des Vortrags lediglich die Notwendigkeit zur Kontaktherstellung und zur Organisation des Turn-Takings ergibt, weil man eben raumzeitlich füreinander kopräsent ist. Vielmehr scheint sich aus dieser Kopräsenz und dem gemeinsamen Involviert- Sein in die übergreifende Veranstaltung (Konferenz, Kolloquium, Workshop etc.) die Notwendigkeit zu ergeben, über unterschiedliche Formen der Bezie‐ hungsarbeit die gemeinsame Abwicklung der spezifischen Zwecke, die die je‐ weiligen Vortragsgattungen kennzeichnen, in ihrem Erfolg zu begünstigen. Dies geschieht u. a., indem Relevanz und Qualität des Vortrags bspw. über die Zu‐ schreibung von Expertenschaft vorab erwartbar gemacht oder indem Engage‐ ment durch Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht wird, wie oben freilich nur 164 Matthias Meiler angedeutet werden konnte. Die Anmoderation des Vortrags und seine Eröff‐ nungsphase „sichern somit die Voraussetzungen für die folgende Aktivität, den eigentlichen wissenschaftlichen Vortrag“ (Günthner / Zhu 2014: 190). Dass dies musterhaft geschieht, hat m. E. nicht unwesentlich damit zu tun, dass die Mesokommunikationsform Vortrag die Anwesenden darauf ver‐ pflichtet, eine vorgegebene Zeitspanne lang in einer gemeinsamen Aktivität mit festen Beteiligungsrollen engagiert zu sein. Das wechselseitige Für-einanderpräsent-Sein der Interaktanten zieht also die Bearbeitung kommunikativer Auf‐ gaben nach sich, von denen offenbar abgesehen werden kann (bzw. die auf an‐ derem Wege bearbeitet werden), wenn diese Präsenz nicht gegeben ist (wie etwa beim wissenschaftlichen Artikel in Zeitschrift oder Sammelband). Ein anderes Verfahren, das schon zur Orientierung auf das wissenschaftliche Wissen überleitet, beschreibt Tracy (1997) für universitäre Forschungskollo‐ quien. Dabei geht sie bspw. auf einleitende Selbstpositionierungen der Refe‐ renten in Relation zum von ihnen vorzustellenden Wissen ein, das häufig ex‐ plizit als Work-in-progress markiert wird oder aber auch als Thema, das sie bereits über eine sehr lange Zeit beschäftigt. „Through their opening remarks, presenters position themselves in relation to their ideas. Through the host of conversational devices […] presenters inform audiences about how much they see self as being responsible for their idea about which they talk. A low level of responsibility licenses less able discussion performance but si‐ multaneously implies that the presenter has less knowledge, experience, and, perhaps, ability. A high level of responsibility suggests a high level of intellectual competence. It also sets up an expectation that the presenter can handle difficult questions and comments. Should a presenter not do so, he or she is especially high risk for being seen as pretentious and /  or intellectually incompetent.“ (Tracy 1997: 44) In einer Art umrahmenden Klammerstruktur verweist die vorab getätigte Selbst‐ positionierung und die damit verbundene Selbstdarstellung also bereits auf das Ende des Vortrages und versucht bspw. die Handlungsoptionen der Diskutanten zugunsten der Referenten vorzustrukturieren oder aber die besondere Erfah‐ renheit in einem Feld hervorzukehren. Auch in den anschließenden Diskussionen lassen sich routinierte Verfahren ausmachen, die vor der kommunikativen Bearbeitung des präsentierten wis‐ senschaftlichen Wissens (vgl. Webber 2002; Baßler 2007; Vassileva 2009) zu‐ nächst die Beziehung bearbeiten, um die geeigneten Bedingungen für diskursive Wissenschaftskommunikation zu schaffen. „Es ist auf Tagungen weitgehend etabliert, eigene Diskussionsbeiträge mit einem kurzen Dank an den Vortragenden zu beginnen. Ein solcher einleitender Dank wird 165 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens in der Regel über die Routineformel ‚Vielen /  Herzlichen Dank für Ihren Vortrag‘ rea‐ lisiert, was mit Goffman als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass die Kommu‐ nikationspartner ihre Beziehung zueinander anerkennen und aufrechterhalten möchten […]. Ein Beleg hierfür ist auch die Erfahrung, dass Vorträge gelobt werden, selbst wenn sie als schlecht befunden werden; hier werden die Image-Erhaltungsbe‐ dürfnisse des Vortragenden anerkannt, was einen (wenn auch nur oberflächlich) po‐ sitiven Beitragseinstieg schafft, wobei im Anschluss daran immer noch die Möglich‐ keit zur Kritik besteht.“ (Rhein 2015: 211) Indem damit das positive Selbstbild der Referenten gewahrt und die Beziehung zueinander stabilisiert wird, ermöglicht das routinierte (und kaum mehr an‐ lassgebundene) Danken und Loben - ungeachtet der eigentlichen Einstellung gegenüber dem Vorgetragenen - also die Verständigung über die Gültigkeit einer zentralen wissenschaftskommunikativen Norm (bzw. die Signalisierung ihrer Anerkennung aufseiten des Diskutanten): der Unpersönlichkeit des Wis‐ sens. Sich dessen situativ immer wieder zu versichern, scheint notwendig, da die entsprechende Verselbständigung des kommunizierten Wissens gegenüber seinen Urhebern (bzw. die Loslösung von ihnen) unter Bedingungen kommu‐ nikativer Kopräsenz nicht so leicht aufrechterhalten werden kann, wie sie sys‐ tematisch unter den Bedingungen zerdehnter Kommunikationssituationen be‐ günstigt wird (vgl. Ehlich 1994b: 21, 37). Ohne diesen medialen Zusammenhang im Blick zu haben, formuliert Vassileva (2009: 237) gewissermaßen seine Folge, dass nämlich „in face-to-face academic communication […] the danger of being ‚dismissed‘ on the spot, and consequently, of losing face in front of a definite audience, is much greater than in postponed and indirect written communica‐ tion with its virtual, indistinct and scattered audience.“ In einer diskursiven Konstellation ganz anderer Art kommt es mitunter ebenso zur mehr oder weniger expliziten Beziehungsarbeit. In einer Studie zu einem einseitig anonymen Peer-Review-Verfahren einer chemischen Fachzeit‐ schrift kommen Kretzenbacher / Thurmair zu folgender Feststellung: „Da das Peer Review eine nicht-öffentliche Textsorte ist, stellt sich die Frage, ob die für die Wissenschaftssprache typischen Stilmerkmale auch hier auftreten. In dem von uns untersuchten Korpus zeigen sich dabei zwei Tendenzen: Je nachdem, ob der Autor /  die Autorin des eingereichten Manuskripts für den Gutachter als reines Refe‐ renzobjekt fungieren oder ob sie auch als mittelbar oder unmittelbar in die Kommu‐ nikation einbezogene Subjekte aufgefaßt werden, stehen die beiden Stilmodelle der persönlichen Mitteilung und der öffentlichen wissenschaftlichen Kommunikation im Widerstreit.“ (Kretzenbacher / Thurmair 1994: 205) 166 Matthias Meiler Peer-Review-Verfahren wurden damals noch postalisch abgewickelt (vgl. ebd.: 183). Dies zerdehnt die aufeinander bezogenen Kommunikate sehr stark. Das Gutachten selbst ist zudem nicht an die Autoren gerichtet, sondern an die Re‐ daktion der Zeitschrift. Dennoch lassen sich einerseits mit hoher Regelmäßig‐ keit gesichtswahrende Züge den Autoren gegenüber nachweisen: Kritik wird hier mitunter durch Indirektheit und Ironie abgeschwächt; es werden aber auch Einblicke in den Abwägungsprozess gegeben und explizit Bedauern geäußert (vgl. ebd.: 202-205). „Andererseits gibt es auch Gutachten, die hier vom allge‐ meinen Wissenschaftsstil abweichen, was sich“ nach Kretzenbacher / Thurmair (1994: 206) „auf den nicht-öffentlichen Charakter des Peer Reviews […] und seine grundsätzlich bewertende Funktion […] zurückführen läßt.“ Auch hier findet man Ironie und verschiedene äußert expressive Ausdruckmittel, die im Effekt relativ informelle Gutachten zur Folge haben (vgl. ebd.: 206 f.). Teilweise handelt es sich dabei aber um Höflichkeitsstrategien, wie sie Myers (1989) beschreibt (s. o.) - die also die erwähnte Orientierung am wissenschaft‐ lichen Wissen aufweisen, die hier weniger im Vordergrund steht. Die übrigen Fälle (wie bspw. das explizite Abwägen oder Bedauern) können m. E. aber auch hier als bedingt durch die Medialität betrachtet werden. Wie Kretzenbacher / Thurmair (1994) dies selbst herausstellen, handelt es sich um ein nicht-öffent‐ liches Gutachten, das per Brief (in einer Beteiligungsstruktur von 1: 1) von den Gutachtern direkt an die Redaktion gesendet wird und an diese adressiert ist. Die Strukturen, in denen sich hier die Beziehungsarbeit entfaltet, sind freilich komplexer, da Akteure betroffen sind, die an der Kommunikation gleichsam nicht beteiligt sind (die Autoren). Insofern stehen in den Gutachten natürlich die Gutachter - einerseits gegenüber der Redaktion, andererseits wenn auch unsichtbar gegenüber den Autoren - als beurteilende und urteilende Kollegen im Zentrum. Gerade um das Selbstbild eines redlichen Forschers zu entwerfen bzw. aufrechtzuerhalten, der bei aller Konkurrenz den grundlegend koopera‐ tiven Zug von Wissenschaft wertschätzt, kann es sinnvoll sein, den Abwäge‐ prozess kenntlich werden zu lassen oder Bedauern zu zeigen, wenn dieser ne‐ gativ ausfallen muss. Diese Zusammenhänge bedürfen aber einer gesonderten Untersuchung, die m. W. noch nicht vorliegt (vgl. Kretzenbacher 2016: 434 f.). Den Review-Prozess im Zuge der Herausgabe von Sammelbänden untersu‐ chen Arendt / Schäfer (2015). In den untersuchten Fällen begutachteten die Herausgeber die eingeladenen Beiträge selbst. Für die hier verfolgte Fragestel‐ lung sind dabei v. a. ihre Befunde zu den E-Mails interessant, über die die Re‐ 167 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 25 Was im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden kann, ist die wissenschaftliche Mailingliste, die, obgleich sie einen Dinosaurier unter den wissenschaftlichen Kom‐ munikationsformen darstellt (vgl. Bader u. a. 2011), unter dem hier interessierenden Aspekt bisher offenbar noch nicht betrachtet wurde. Einige Hinweise gibt Schütte (2004). 26 Sie nehmen dabei Bezug auf Goffman (1996: 24-30) und Holly (vgl. 2001: 1388). view-Korrespondenz abgewickelt wurde. 25 Auch hier zeigen sich Lob und Dank für die Beiträge wie auch für die Kommentare am Manuskript, ebenso zeigt sich eine explizite Orientierung an Normen wie Gründlichkeit und Ausführlichkeit des Reviews und Konstruktivität der Kritik (vgl. ebd.: 111 f.). „Die Mails machen damit eine klare Orientierung an Beziehungsaspekten deutlich und rahmen die Kommentare [der Gutachter am Manuskript] als potenziell problematische er‐ klärungsbedürftige Äußerungen“ (ebd.). Gerade über explizites Bedanken für Kommentare und Kritik weisen sich die Beiträger als Wissenschaftler aus: „Sie weisen [damit] eine in der wissenschaftlichen Praxis zentrale ‚Tugend‘ nach und markieren, dass sie die Kritik als ‚nicht persönlich‘ gemeint annehmen können“ (ebd.: 121). Überzeugend betrachten Arendt / Schäfer (2015: 122) den Review-Prozess insgesamt als mit hoher Wahrscheinlichkeit gesichtsbedrohenden „Zwischen‐ fall“, der vor- und nachgelagerter „Ausgleichshandlungen“ bedarf. 26 Diesbezüg‐ lich vermuten sie abschließend: „Woran liegt es, dass eine Praxis, die so zentral ist und explizit als ‚Qualitätssicherung‘ wertgeschätzt wird, kommunikativ als so problematisch behandelt wird? Unserer Ansicht nach liegt eine mögliche Erklärung darin, dass es eben Personen sind, die interagieren, und die produzierten Manuskripte als persönliche Leistung und mehr noch als Projektionsfläche für die fachliche Identifikation gelesen werden, dass also die Imagearbeit auch in diesem Prozess omnipräsent ist.“ (Arendt / Schäfer 2015: 123) Hier ist mit jener Frage anzuknüpfen, zu deren Beantwortung die vorliegende Arbeit eine medienlinguistische Perspektive vorschlägt: Warum entfällt ein so großer Teil der beobachtbaren personen-bezogenen Beziehungsarbeit aber in interner Wissenschaftskommunikation jenseits diskursiver Konstellationen; oder: Wie wird sie dort auf andere Weise vollzogen? Das Kapitel 7 versucht hierauf eine Antwort anzudeuten. In mehrfacher Hinsicht viel näher an der oben beschriebenen Konstellation des Konferenzvortrags (und verwandten Formen) liegen Begutachtungsver‐ fahren, die als Open-Peer-Review im WWW stattfinden (vgl. Ford 2013). Be‐ züglich einer konkreten Zeitschrift mit einem solchen Begutachtungsverfahren liegen linguistische Analysen vor (u. a. in Gloning / Fritz 2011): Über eine hier‐ 168 Matthias Meiler 27 Diese selbstreflexive Wendung von Kontroversen auf die zugrundeliegenden Kommu‐ nikationsprinzipien ist freilich kein neues oder von der Medialität induziertes Phä‐ nomen, wenngleich die Prinzipien an sich mit medialen Veränderungen ebenfalls Ver‐ änderungen unterworfen sind (vgl. auch Fritz 2008: 109 f.), wie weiter oben bereits angedeutet wurde. archisch differenzierte Kommentarstruktur werden die Einreichungen der Zeit‐ schrift Atmospheric Chemistry and Physics (ACP) im dazugehörigen öffentlichen discussion forum (ACPD) sowohl durch bestellte Gutachter wie auch durch an‐ dere Peers kommentiert (vgl. Pöschl 2011). Es ergibt sich daraus eine Beteili‐ gungsstruktur, die mit der von Weblogs (s. o.) vergleichbar ist: Individuell (mehrfach-)adressierte Kommunikationszüge werden massenmedial-öffentlich wahrnehmbar. Gegenüber den oben beschriebenen Peer-Review-Verfahren er‐ weist sich dieses deswegen als transparenter, aber zugleich als riskanter. Wenn‐ gleich hier die Gutachter und Peers anonym bleiben können, erweist sich dieses Verfahren gerade für die Autoren als heikel in Bezug auf ihr Image als integre Wissenschaftler. Ihre Antworten auf Gutachten sind deswegen einerseits von der minutiösen Verteidigung des eigenen Manuskripts und andererseits mit‐ unter von expliziten Höflichkeitsstrategien geprägt: „Der Befolgung des Prinzips der Höflichkeit dienen u. a. zwei Typen von diplomati‐ schen Zügen, der regelmäßig formulierte höfliche Dank für die Kommentare, der zu den Routinen in den ACPD-Diskussionen gehört, und die mehrfache positive Bewer‐ tung des Potenzials der Interaktiven Diskussion in ACPD, gerade an heiklen Stellen […].“ (Fritz 2011: 158) Auch hier findet sich die Dankesbekundung „mit einer höflichen Formel ‚We appreciate the statement of Referee 3 …‘“ (ebd.), wie sie oben schon verschie‐ dentlich festgestellt werden konnte. Der genannte zweite Typ diplomatischer Züge ist demgegenüber aber auch darauf zurückführbar, dass das Open-Peer- Review als relativ neues Verfahren eine explizite Verständigung über gültige Normen und ihre Bewertung provozieren kann, da diese Normen aufgrund der Uneingespieltheit der Praktik noch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können (vgl. Frank-Job 2010: 27). Bei einer (meta-)kommunikativen Bearbeitung nicht nur der Beziehung zwi‐ schen Autor und Gutachter, sondern ebenso des Begutachtungsverfahrens, 27 spielt, wie Fritz selbst betont, vermutlich der Grad der Kontroversialität - gerade wenn das Verfahren öffentlich stattfindet - eine große Rolle. Bei einem expli‐ ziten Bekenntnis zu und (implizit) dem Anmahnen von wissenschaftskommu‐ nikativen Normen wird es mit der expliziten Verständigung über eigentlich Selbstverständliches bzw. Voraussetzbares möglich, in einer kontroversen Aus‐ 169 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 28 Diese Verselbständigung ermöglicht im Übrigen ja erst das, was wir heute die wissen‐ schaftliche Öffentlichkeit nennen, die sich samt ihrer zeitgenössischen Charakteristik wesentlich mit aus den medialen und infrastrukturellen Veränderungen ergeben hat, die die historische Herausbildung von Fachzeitschriften mit sich brachte (vgl. Stichweh 1984: 426-430). einandersetzung eine (zumindest) moralisch überlegene Position zu beziehen, die gleichsam implizit aber auch das Urteil der Opponenten inhaltlich diskredi‐ tieren kann. In jedem Falle verpflichtet ein positiv bewertender Zug, wie er oben angesprochen wird, gleichsam die Opponenten auf die Anerkennung der Gül‐ tigkeit gemeinsam vorausgesetzter Normen ebenso wie auf die handlungsprak‐ tische Umsetzung dieser Normen. Was kann aus der vorangegangenen kursorischen Sichtung des Forschungsstands zu einigen diskursiven Kommunikationsformen der Wissenschaft und der in ihnen realisierten Gattungen und Muster festgehalten werden? Es wurden Phänomene von Wissenschaftskommunikation ausgemacht, die eint, dass sie gerade nicht mit den Kernaufgaben interner Wissenschaftskommunikation be‐ fasst sind, sondern vielmehr die Beziehung der beteiligten Interaktanten auf der einen Seite oder die normativen Grundlagen der folgenden und / oder zurück‐ liegenden Wissenschaftskommunikation auf der anderen Seite thematisieren - mitunter Letzteres durch Ersteres. Offenkundig wurde, dass Faktoren wie die Beteiligungsstruktur, Möglich‐ keiten der wechselseitigen direkten Adressierbarkeit und der Zeitlichkeit dieser unterschiedlichen Ausprägungen von Diskursivität eine entscheidende Rolle dabei spielen, inwieweit einzelne Praktiken der Wissenschaftskommunikation von Aspekten der Kontaktherstellung und Beziehungspflege absehen können oder eben nicht. Gerade eines scheint der Familie diskursiver Kommunikati‐ onsformen für die Wissenschaftskommunikation zu ‚fehlen‘: nämlich eine aus‐ reichende Zerdehnung der Kommunikationssituation und eine materiale Ver‐ dauerung des Kommunikats (vgl. Ehlich 1994b), welche die Verselbständigung des wissenschaftlichen Textes und des damit kommunizierten Wissens gegen‐ über seinen Produzenten und Rezipienten und ihrer jeweiligen Produktions- und Rezeptionssituationen ermöglicht - eine Verselbständigung in einem sol‐ chen Maße, wie wir es heute gewohnt sind, dies als prototypisch für interne Wissenschaftskommunikation und das Gepräge ihrer kommunikativen Mittel aufzufassen. 28 170 Matthias Meiler 6 Ein Beispiel (II) Eine ähnliche Orientierung an diesem Prototyp wissenschaftlicher Kommunika‐ tion lässt sich mitunter auch in der Plattformpolitik der europäischen Blogging‐ plattform für innerwissenschaftliches Bloggen, hypotheses.org, erkennen, wenn programmatisch gefordert wird, Weblogs bzw. Blogposts als vollwertige Publika‐ tionsformen anzuerkennen (vgl. dazu Meiler 2020). In welcher Weise sich Web‐ logs im kommunikativen Haushalt der Wissenschaft etablieren werden, ist eine nur schwer beantwortbare Frage. Ein Großteil der Nutzungsweisen, die aktuell beob‐ achtbar sind, deuten m. E. eher in jene Richtung, die Weblogs gerade aufgrund ihres diskursiven Potenzials fruchtbar machen. Blogposts wären deswegen also eher mit Tagungsvorträgen als mit Zeitschriftenartikeln zu vergleichen. Und auch die Ethnotheorien der deutschsprachigen Soziologinnen zum Bloggen in ihrem Fach, wie sie sich aus den metakommunikativen Auseinandersetzungen auf dem SozBlog abstrahieren lassen, deuten in eine solche Richtung (vgl. Meiler 2018: 283- 312). Auch der in Kapitel 1 besprochene Kommentar zeigt einige der Kennzeichen, die für die diskursiven Kommunikationsformen und Gattungen der Wissen‐ schaft zusammengetragen werden konnten. Er soll im Hinblick auf diese Kenn‐ zeichen jetzt abschließend analysiert werden. Die oben gestellte Frage, welche Funktion jene Passage der expliziten Beziehungspflege mittels Dank genau er‐ fülle, kann jetzt recht einfach beantwortet werden. Vergegenwärtigen wir uns dafür vorher aber etwas genauer die Konstellation, an welche der verbalisierte Dank funktional anschließt: In Reaktion auf einen vorgängigen, hier nicht ab‐ gedruckten Vorwurf, dass der Autor (immer noch) dem Sender-Empfänger-Mo‐ dell aufsitze, reagiert eben dieser Autor im Kommentar - nach einem höflich zurückhaltenden Einstieg - gleich zu Beginn mit einer Sprechhandlung, die man durchaus eine Belehrung nennen kann (siehe (3) und (4)). Es folgt eine Gegen‐ kritik in (5) bis (8) und schließlich eine Rechtfertigung in (10) bis (12), warum er hier einen zentralen Aspekt des eigentlichen Inhalts des vorangegangenen Kommentars vom pseudonymen Blogger nicht behandeln kann. - Das sind die wesentlichen Handlungen, die die Vorgeschichte des Dankens in (14) darstellen. Diese verhältnismäßig komplexen und typisch eristischen Handlungsmuster machen den deutlich persuasiven Argumentationsmodus (vgl. Ehlich 2014) dieses Kommentars aus und zeigen zudem, dass es hier nicht mehr - wie noch zu Beginn dieses konkreten Kommentarstranges - um die analytische Durchdrin‐ gung eines empirisch greifbaren Gegenstands geht, sondern um eine v. a. the‐ oriekompetitive Auseinandersetzung (hier vornehmlich zwischen Wissensso‐ ziologie und soziologischer Systemtheorie): „Das persuasive Argumentieren ist 171 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 29 Im Allgemeinen kann festgestellt werden, dass im Verlaufe dieses Kommentarstranges sich zwischen dem Autor und dem pseudonymen Kommentator ein deutliches Inter‐ aktionsprofil (Spranz-Fogasy 2002) ausbildet, das v. a. von dieser Form der Kompetiti‐ vität geprägt ist. Eine ausführliche Analyse des gesamten Kommentarstranges findet sich in Meiler (2018: Kap. 8.7). 30 Zum Verhältnis von Rolle und Person siehe bspw. Goffman (1980: 297-315). ein zentrales eristisches Verfahren, das - vor allem im Aufeinanderprallen wi‐ derstreitender Geltungsansprüche - interessenbezogen die eigene Position in Bezug auf etwas gemeinschaftlich Fragliches zur Geltung zu bringen sucht“ (ebd.: 46). 29 Gemessen an Dichte und Deutlichkeit, mit der diese eristischen Handlungen hier direkt adressiert vollzogen werden (für SozBlog-Kommentare durchaus markiert), und die Spezifik dieser Sprechhandlungen bedenkend, liegt m. E. der Schluss nahe, dass (u. a.) mit dem nachgeschobenen Dank in (14) ein drohender Gesichtsverlust des Opponenten damit bearbeitet werden soll, dass die Gültigkeit der spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen für interne Wissenschafts‐ kommunikation als gemeinsame Grundlage auch für das Bloggen auf dem SozBlog (explizit) betont wird. Es wird damit also gewissermaßen jene Grenze markiert, auf deren Gültigkeit die interne Wissenschaftskommunikation ganz wesentlich aufbaut - und die, wie im vorigen Kapitel gesehen, unterschiedlich explizit be‐ arbeitet wird (oder vielleicht auch werden muss), je nachdem wie direkt oder unmittelbar die Kommunizierenden einander gegenüber-‚stehen‘. Weil der pseudonyme Blogger hier also direkt adressiert und ihm in so einem scharfen Ton respondiert wird, erscheint es dem Autor wohl notwendig, klar‐ zustellen, dass diese eristischen Handlungen seinen Opponenten nicht persön‐ lich treffen, sondern vielmehr seiner sozialen Rolle als Wissenschaftler gelten. 30 Er tut dies nicht, indem er Dankbarkeit für die inhaltliche Auseinandersetzung zeigt (dafür ließen sich keine Gründe finden), sondern er tut dies, indem er Dankbarkeit für die Auseinandersetzung als spezifisch wissenschaftliche und also eristische Auseinandersetzung zum Ausdruck bringt. Die den Kommentar und die darin stattfindende eristische Auseinanderset‐ zung mit wissenschaftlichem Wissen rahmende, formelhafte Anrede und die um einen Dank ausgebaute Grußformel dienen also hier, wie auch in den Phäno‐ menen, die in Kapitel 5 zusammengetragen wurden, der Etablierung des Kon‐ takts und der Aufrechterhaltung einer für beide Seiten imageerhaltenden pro‐ fessionellen Beziehung. Sie erweist sich in dem Sinne als professionell, als in ihr der Geltung des Präsuppositionssystems interner Wissenschaftskommunika‐ tion Rechnung getragen wird. Dem Wechsel (und der damit verbundenen Rah‐ mung) von der imagepflegenden Kontaktherstellung zur eristischen Auseinan‐ 172 Matthias Meiler dersetzung und zurück zur imagepflegenden Kontaktbeendigung kann also gerade die Funktion zugeschrieben werden, die Gültigkeit und Verbindlichkeit der domänenspezifischen Normen für die laufende Kommunikation im Kom‐ mentarstrang zu signalisieren. Warum kann auf Signale solcher Art in den klassischen textuellen Kommu‐ nikationsformen der Wissenschaft (in Buch und Zeitschrift) aber weitgehend verzichtet werden? Oder aus der Gegenperspektive gefragt: Warum sind wir uns der Gültigkeit dieser Normen in Monografien und Artikeln so sicher? 7 Ausblick: textuelle Kommunikationsformen und die Präsenz der Person Wissenschaftliche Texte bilden in aller Regel - wohl gerade weil in ihnen das wissenschaftliche Wissen tradiert wird - den Ausgangspunkt für die Rekon‐ struktion des Standards wissenschaftskommunikativer Normen. Akzeptiert man eine solche Perspektive, mag es scheinen, dass sich wissenschaftliche Dis‐ kurse dann an diesen Standards notgedrungen messen und ein Abweichen von der Norm irgendwie rechtfertigen müssen. Demgegenüber soll hier die Per‐ spektive gewissermaßen symmetrisiert werden. Abschließend wird deswegen - wenigstens kursorisch - versucht, einige Gemeinsamkeiten in den unter‐ schiedlichen kommunikativen Mitteln zu finden. Diese Gemeinsamkeiten sind freilich v. a. in ihren kommunikativen Zwecken zu erwarten. Vorgängig wurde die These entwickelt, dass (zumindest) eine Funktion des Wechsels von der Orientierung auf die Beziehung zur Orientierung auf das wis‐ senschaftliche Wissen (und zurück) in der wechselseitigen Versicherung der aktuellen Gültigkeit des Präsuppositionssystems interner Wissenschaftskom‐ munikation ausgemacht werden kann. Dieser, wie oben zu sehen war, einzelne Kommunikationsepisoden häufig explizit rahmende Wechsel, kann für textuelle Wissenschaftskommunikation nicht auf ähnlich systematische Weise festge‐ stellt werden. Dies ist offenkundig zunächst auf einen basalen Aspekt der Medialität zu‐ rückzuführen: Wissenschaftliche Publikationen sind verdauerte, massenme‐ diale Kommunikate (siehe Kapitel 2). Sie weisen deswegen eine Beteiligungs‐ struktur auf, die einen Autor mit prinzipiell unzählbar vielen Lesern in eine kommunikative Beziehung eintreten lässt. Diese Beziehung ist aber einerseits von einer Monodirektionalität geprägt, andererseits kann sie aufgrund der Ver‐ dauerung autoren-unabhängig von den Lesern zu beliebigen Zeitpunkten immer wieder aktualisiert werden. Die koordinative Last der Ausrichtung von Auf‐ merksamkeit auf eine gemeinsam zu eröffnende, zu vollziehende und zu been‐ 173 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 31 Wichtige Hinweise für eine solche Perspektive geben Gülich / Hausendorf (2000) mit Blick auf das Erzählen. dende Zeiteinheit (vgl. Hausendorf 2010: 169-173) entfällt also vollständig. Diese oben bereits angesprochene Verselbständigung des Textes gegenüber der Produktionswie auch der Rezeptionssituation hat sprachlich-kommunikative Konsequenzen, die hier nicht in all ihrer Breite ausgeführt werden können (vgl. bspw. Ehlich 1983; 1994b). Darüber hinaus ist der Autor im verdauerten Kommunikat (bspw. im Artikel oder in der Monografie) als individuelle Person selbst v. a. namentlich und mit professioneller Affiliation präsent, selten mit Bild, i. d. R. noch mit einer uni‐ versitären Kontaktadresse. Als Teil des Anfangsbzw. Endrahmens (je nach Po‐ sition des Autorennamens) spielt die Person des Autors also durchaus eine Rolle - dies aber im Vergleich zur leiblichen Symptomfülle (vgl. Schütz 1932) bei Kopräsenz in erkennbar reduzierter Form. Was, so könnte man überspitzt fragen, lässt uns aber eigentlich darauf ver‐ trauen, dass das, was wir vor uns haben, ein wissenschaftlicher Text ist, der also mit Rekurs auf wissenschaftliche und wissenschaftskommunikative Normen zustande kam, wenn dies nicht über eine Rahmung interaktiv hergestellt wird? Dieser Frage widmet sich die Arbeit von Krämer (2009). Neben den als selbst‐ verständlich erwartbaren, weil gattungsmäßig konventionellen Strukturmerk‐ malen von wissenschaftlichen Texten und ihren wissenschaftstypischen Sprech‐ handlungsmustern (vgl. ebd.: 113-137) weist er ausgesprochen beiläufig ebenso darauf hin, „dass auch das Publikationsorgan eine Vertrauenswürdigkeit besitzt, die den Aufsätzen zusätzlich zu Gute kommt“ (ebd.: 137). Diese beiläufige Be‐ merkung verweist m. E. auf einen wesentlichen Punkt, denn sie lässt die kom‐ munikative Vorgeschichte der bspw. in Zeitschriften fertig vorfindbaren Auf‐ sätze in den Fokus geraten. In diese Vorgeschichte hat sich - das lässt sich auch historisch zeigen - ein wesentlicher Teil der Kontaktnahme und Beziehungs‐ pflege verlagert, wie sie in den Anfängen des wissenschaftlichen Artikels in ihm selbst noch sichtbar war (vgl. bspw. Atkinson 1999). Und gerade in dieser kom‐ munikativen Vorgeschichte wird heute in wesentlichen Punkten das erwähnte Vertrauensproblem bearbeitet: nämlich die Frage, ob im Artikel dem Präsuppo‐ sitionssystem interner Wissenschaftskommunikation entsprochen wird. He‐ rausgebertätigkeiten und Peer-Review-Verfahren überprüfen u. a. dies und bürgen dafür. Diese Aspekte der Infrastruktur des wissenschaftlichen Publika‐ tionswesens entlasten also auch davon, das domänenspezifische Präsuppositi‐ onssystem in den Texten immer wieder als Deutungsrahmen kommunikativ herzustellen. Die Bearbeitung dieser Aufgabe 31 ist gewissermaßen in verschie‐ 174 Matthias Meiler 32 Diese Aspekte kommunizieren bspw. über die Wiedererkennbarkeit eines Layouts na‐ türlich zu einem großen Teil auch die schon erwähnte Reputation, die mit einem kon‐ kreten Publikationsorgan verbunden wird. 33 Siehe für diesen Zusammenhang und die sich historisch verändernde Rolle der Autoren im wissenschaftlichen Artikel die Analysen von Atkinson (1999: v. a. Kap. 4). 34 Als Öffentlichkeit im heutigen, vielschichtigen Sinne, kann die damalige angezielte Re‐ zipientenschaft noch nicht verstanden werden. Zu ihrer Etablierung kann die Verbin‐ dung von Buchdruck und Frühkapitalismus als wesentlich betrachtet werden (vgl. dazu ausführlich Giesecke 1994: insb. Kap. 5). 35 Hierzu liegen bspw. linguistische Analysen von Adamzik / Pieth (1999) vor, die einen Einblick in die Multifunktionalität des Vorworts in deutschen und französischen Lite‐ raturgeschichten geben. denen paratextuellen und auch schlicht materiellen Aspekten von wissenschaft‐ lichen Zeitschriften und Büchern aufgehoben, 32 genauso wie die Aufgabe der Kontaktherstellung zwischen Autor und Leser in der konventionellen Form von Titel + Autorname auf neuer Seite aufgehoben ist und die anfänglich übliche Anrede im Brief 33 an den Zeitschriftenherausgeber ersetzt hat. Auch für Monografien lässt sich historisch eine Verbindung zur Kommuni‐ kationsform Brief nachweisen - und der formale und funktionale Wandel, den diese Briefe durchgemacht haben, führt uns letztlich auch zu jenen ausgezeich‐ neten Orten, in denen heute die Person des Autors in der wissenschaftlichen Monografie maßgeblich in Erscheinung treten kann. In Europa war die überregionale Verbreitung von Monografien vor der Erfin‐ dung und Durchsetzung des Buchdrucks einerseits an institutionelle Botensys‐ teme und andererseits an die Approbation durch die Eliten der entsprechenden Institutionen gebunden (vgl. Giesecke 2007: 41-57). 34 Um diese Approbation zu begünstigen, wurden Monografien gewissermaßen in Widmungsbriefe einge‐ bettet und an mehrere Adressaten versendet. Diese Briefe haben ganz wesentlich die Funktion, die weitere Verbreitung durch entsprechende Freigabe zur Lek‐ türe, Abschrift im Skriptorium und Weitergabe an andere zu erbitten (vgl. ebd.: 50-54). Durch den Buchdruck und die damit einhergehende Unabhängigkeit von Approbationsinstanzen gerät der Widmungsbrief zur Widmungsvorrede und kann funktional jetzt nicht mehr als Gabe betrachtet werden, die eine Gegenleis‐ tung (nämlich die Verbreitung) erwartbar macht, sondern sie verwandelt sich in eine öffentliche Gegengabe für vielerlei Dinge, die der Publikation vorgängig sind (vgl. ebd.: 54-57). Über den ‚Umweg‘ des recht funktionsoffenen Vorwortes 35 (vgl. Genette 2001: 115-133) sind Teile dieser Widmungsbriefe in die heutigen Danksagungen ein‐ gegangen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als konstitutive Bestandteile 175 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 36 Dies konnte Wesian (2015) in einer historischen Untersuchung zumindest für deutsch‐ sprachige Dissertationen mehrerer Fachrichtungen nachweisen. Sie rekonstruiert, wie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine immer deutlichere Loslösung von Vorworten oder Widmungen und damit auch eine zunehmende Konventionalisierung dieses Teil‐ textes abzeichnen. 37 Sie sind Peritexte im Sinne von Genette (2001). wissenschaftlicher Monografien entwickelt haben. 36 Zudem scheint sich im ver‐ gangenen Jahrhundert ebenso eine signifikante Veränderung von Danksa‐ gungen ergeben zu haben, die durch die exponierte Stellung am Anfang oder Ende mehr zur Peripherie des Gesamttextes gehören als einen vollintegrierten Teiltext darzustellen. 37 Es liegen mittlerweile eine ganze Reihe Untersuchungen zu Danksagungen (in Monografien wie auch Artikeln) vor. Ich kann hier nicht der ganzen Kom‐ plexität dieser Teiltexte Rechnung tragen, sondern muss mich auf einige As‐ pekte beschränken, die im hier interessierenden Zusammenhang von Relevanz sind. Bei Danksagungen handelt es sich natürlich maßgeblich um eine der we‐ nigen strukturellen Möglichkeiten, die in den klassischen textuellen Gattungen der Wissenschaft gegeben sind, von der kommunikativen Orientierung auf das wissenschaftliche Wissen abzuweichen. Hollstein / Schütze (2004) konstatieren eine Veränderung des professionellen Selbstbildes, wie es im Laufe des 20. Jahrhunderts in soziologischen Danksa‐ gungen entworfen wird: Es bewege sich weg von einsam arbeitenden, charis‐ matischen Forscherpersönlichkeiten, die maximal Statushöheren danken, hin zu Forschern, die einerseits eingebunden sind in professionelle Netzwerke mit ihren Peers und andererseits ein Privatleben haben, das hier auch umfänglich Erwähnung findet. Die Tendenz, einerseits mehr Personen des Privatlebens zu erwähnen und andererseits generell umfangreicher Dank auszusprechen, scheint sich übergreifend zu bestätigen (vgl. Caesar 1992; Bauerlein 2001; Holl‐ stein / Schütze 2004: 174-178; Wesian 2015: 222 f.) - auch wenn hier interlinguale Unterschiede zu beobachten sind (vgl. Sanderson 2005; Giannoni 2002). Gerade vor dem Hintergrund dieser Veränderung lässt sich für die domänenbezogene Funktionalität des Teiltextes aber fragen, warum die Autoren in Danksagungen überhaupt so ein umfangreiches „creating a professional as well as personal identity“ (vgl. Hyland 2003: 246) vornehmen - v. a., wenn man sich abermals die Prämisse vergegenwärtigt, dass es „für die Selbstdeutung der modernen Wis‐ senschaften zentral [ist], dass es in ihnen um die ‚Sache‘ gehe und nicht um die ‚Person‘. Daraus erwächst für diese - streng genommen - eine Schweigepflicht; zumindest ist das Reden von sich selber problematisch“ (Kohli 1981: 428). Warum 176 Matthias Meiler 38 Dieser Wandel kann nach Auffassung von Hollstein / Schütze (vgl. 2004: 156-158) in Verbindung gebracht werden mit Veränderungen im Wissenschaftssystem einerseits und Veränderungen im Verständnis von Privatsphäre andererseits. gibt es nun strukturell vorgesehene Orte, um diese Schweigepflicht in Texten zu brechen? Eine präzise, auf die Logik der Domäne bezogene, funktionale Analyse findet sich in linguistischen Arbeiten indes selten. Hier sind die soziologischen Ana‐ lysen von Schütze / Hollstein (2002) und Hollstein / Schütze (2004) aufschluss‐ reicher. Sie knüpfen an der angedeuteten Widersprüchlichkeit an und setzen diese mit Merton (vgl. 1985c: 276 f.) in Beziehung zu Fragen von Originalität und Bescheidenheit. Das bescheidene Eingeständnis, dass die eigenen, originellen Erkenntnisse lediglich auf Basis der Vorarbeiten anderer möglich sind, schlägt sich natürlich zuvorderst in der Praktik des Zitierens nieder. Dass das Danken zum Zitat genauso wie zur Koautorschaft in Beziehung gesetzt werden kann, diskutiert auch Giannoni (2002: 7 f.). Insofern würde in Danksagungen (an Kol‐ legen) dem wissenschaftlichen Präsuppositionssystem lediglich dort entspro‐ chen, wo es nicht in der Logik des Zitats verrechnet werden kann. Gleichsam stellt sich bei immer umfänglicher werdenden Dankeslisten auch die Frage, wie hoch der Anteil des Autors an der originellen Erkenntnis dann noch ist und ob angesichts dessen eine Alleinautorschaft noch angemessen ist. Diese nicht im Zitat formalisierbaren, ja häufig informellen Beziehungen zu Kollegen (unter‐ schiedlicher Hierarchiestufen), die in Danksagungen zum Ausdruck gebracht werden, haben natürlich aber auch einen funktionalen Wert, der über Fragen der Redlichkeit hinausgeht. Diese Dimension, die professionelle Image-Pflege für Autor und Buch, wird häufig auch als die dominanteste kommunikative Funktion dieser Textteile betrachtet. Es fragt sich dann allerdings, wie der Dank an Personen des Privatlebens damit in Einklang gebracht werden kann. Sicherlich ist zu betonen, dass die analytische Zuschreibung, Danksagungen fänden vornehmlich zur professionellen Beziehungspflege und zur Selbstdar‐ stellung von Autor und Buch statt, erst einmal das ist: eine Zuschreibung (vgl. Wesian 2015: 204). Diese Zuschreibung der Zweckentfremdung eines Hand‐ lungsmusters kann freilich nichts über die wirklich empfundene Dankbarkeit aussagen. Selbiges trifft auch auf den Dank an Privatpersonen / Nicht-Kollegen zu. Dass dieser nachweislich zunimmt, kann bspw. auf einen Wandel im Rol‐ lenverständnis (s. o.) zurückgeführt werden (vgl. Hollstein /  Schütze 2004: 156- 158), 38 der sinnfällig werden lässt, dass es eben nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt wird, was die Ehepartner von Wissenschaftlern privat auf sich nehmen oder auch was Sekretäre leisten. Dennoch ist es auffällig, mit welcher Häufigkeit gegenüber dem Privatleben mit Dankbarkeit für die Unterstützung 177 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens 39 Auch die regelhaft zu findende Datierung von Danksagungen in Monografien (vgl. Wesian 2015: 253-255), die Aufenthaltsort und -zeit des Autors während des Verfassens der dankenden Worte angibt (mitunter auch den Namen), zeigt nicht nur die periphere Stellung dieses Teiltextes in Relation zum Haupttext an und indiziert somit den Rück‐ blick auf diesen, sondern kann ebenso in die Richtung der Bekräftigung der Zurechnung von Verantwortung allein auf den Autor gelesen werden. und Entbehrungen begegnet wird, die es aufgrund des Forschungsalltags des Autors auf sich nehmen musste (vgl. Wesian 2015: 250). Ein solcherart kommu‐ nizierter Rollenkonflikt (vgl. Hollstein /  Schütze 2004: 176) sagt nicht nur etwas über die Arbeitsbedingungen in der Forschung aus, gleichsam inszeniert er den Autor natürlich auch als (über die Maßen) motivierten Forscher. Mit relativer Häufigkeit findet sich in Danksagungen (nicht nur in Büchern, sondern auch in Artikeln) aber eine Sprechhandlung, die hier noch besonders von Interesse ist, weil sie etwas expliziert, das dem Dank an Kollegen als im‐ plizierte Voraussetzung immer zugrunde liegt. Auf diese soll hier noch abschlie‐ ßend eingegangen werden. Giannoni (2002) arbeitet im Anschluss an Swales (2007) die Move-Struktur von Danksagungen in englischen und italienischen Zeitschriftenartikeln heraus. Dabei kann er zeigen, dass es hier auch einen re‐ gelmäßig auftretenden, formelhaften Abschluss dieser Passage gibt. Es handelt sich um eine Art Disclaimer, der „emphasize[s] the contrast between collabo‐ ration and responsibility“ (Giannoni 2002: 22). Es handelt sich dabei um die bekannte „the ‚mistakes are all mine‘ gesture“ (Bauerlein 2001: 17) wie bspw. in folgendem Beispiel aus einer soziologischen Monografie: „Selbstverständlich trägt der Verfasser für die folgenden Ausführungen die alleinige Verantwor‐ tung“ (Esser 1993: XII zit. n. Hollstein / Schütze 2004: 171). Mit einem solchen move wird trotz und nach allem Einblenden institutioneller, professioneller und persönlich-privater Einflüsse auf den Erkenntnisprozess (und dem entspre‐ chenden Dank), der zum jeweils vorliegenden Text führte, die Gültigkeit der Bewertungsmaßstäbe, die an ihn anzulegen sind, expliziert! Die Verantwortung teilt sich nicht - wie das bei Kollaborationen i. d. R. der Fall ist - auf die Betei‐ ligten auf, sondern liegt immer noch nur auf jenen, die qua Autornennung den ersten Kontakt mit den Lesern herstellen. 39 Auch in den prototypischen Wissenschaftstexten finden sich also Passagen, die maßgeblich kommunikativ nicht auf das wissenschaftliche Wissen orientiert sind, sondern vornehmlich unterschiedliche Formen von professioneller Bezie‐ hungspflege leisten und von dieser ausgehend auch den Wechsel zu jenen Pas‐ sagen markieren, die unter der ungebrochenen Gültigkeit des Präsuppositions‐ systems der internen Wissenschaftskommunikation stehen. 178 Matthias Meiler 8 Fazit Mit Blick auf die exemplarische Analyse im Kontext des gesichteten For‐ schungsstandes lassen sich die folgenden Punkte festhalten: 1. Es wurde versucht, interne Wissenschaftskommunikation in diskursiven 1. genauso wie in textuellen Kommunikationsformen einheitlich - und d. h. hier - mit Blick auf dieselben kommunikativen Zwecke zu beschreiben. 2. Im Fokus standen dabei jene Zwecke, die nicht mit der kommunikativen 2. Bearbeitung des wissenschaftlichen Wissens befasst sind, sondern jene, die der Bearbeitung der domänenspezifischen professionellen Kontakt‐ nahme und Beziehungspflege dienen. 3. Im Laufe der Abwicklung einzelner Episoden interner Wissenschafts‐ 3. kommunikation kommt es an charakteristischen Stellen zum Wechsel in der Bearbeitung der ersten Gruppe von Zwecken hin zur Bearbeitung der zweiten Gruppe von Zwecken (et vice versa). Dieser Wechsel kann als Stilwechsel begriffen werden. 4. Diesem Wechsel von der Orientierung auf das wissenschaftliche Wissen 4. hin zur Orientierung auf die professionelle Beziehung konnte u. a. die Funktion zugewiesen werden, dass sich die Kommunikationspartne‐ rinnen damit wechselseitig der Gültigkeit des der aktuellen kommunika‐ tiven Episode zugrundeliegenden Präsuppositionssystems der internen Wissenschaftskommunikation versichern - darunter angesichts eristi‐ scher Auseinandersetzungen um wissenschaftliches Wissen die sog. Un‐ persönlichkeit dieses Wissens. 5. Darüber hinaus konnte in Bezug auf den infrage stehenden Wechsel her‐ 5. ausgearbeitet werden, dass dieser in den diskursiven Kommunikations‐ formen der Wissenschaft augenscheinlich sehr viel expliziter vollzogen wird und umfangreichere Passagen der professionellen Beziehungspflege mitunter die kommunikativen Episoden insgesamt rahmen. 6. Als Grund dafür, dass dieselben kommunikativen Zwecke in den stärker 6. diskursiven Kommunikationsformen anders bearbeitet werden als in den stärker textuellen Kommunikationsformen, ließ sich plausibel machen, dass die kommunikative Bearbeitung der Beziehung umso notwendiger erscheint, je stärker Sprecherin /  Autorin und Hörerin /  Leserin ge‐ meinsam an der interaktionalen Abwicklung der kommunikativen Epi‐ sode beteiligt sind. Je weniger dies der Fall ist, umso stärker kann sich das kommunikative Produkt gegenüber der Produktionswie auch gegenüber der Rezeptionssituation (samt den Kommunizierenden) verselbständigen. 179 Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens Folglich kann die kommunikative Bearbeitung der Beziehung stärker hinter die kommunikative Bearbeitung des Wissens zurücktreten. 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Erfahrungen E R ZÄH L E N Stilwechsel mittels E M O T I O N A L I S I E R E N Stilwechsel durch Wechsel der Stilebene Stilwechsel durch abweichendes, originelles, kreatives Formulieren Stilwechsel durch Modalitätenwechsel U N T E R H A L T E N statt I N F O R MI E R E N Schluss 1 Brommer (2018: 46) z. B. schlägt vor, „unter ‚Wissenschaftssprache‘ sowohl die Experten- Kommunikation als auch die Experten-Laiensowie die Experten-Nachwuchs-Kommunika‐ tion zu fassen“, während Hoffmann (2017: 219f.) die populärwissenschaftliche Kommunika‐ tion als „einen Sonderfall, der von der Funktionalstilistik vernachlässigt werden muss“ betrachtet, „da die Textproduzenten vor der Aufgabe stehen, wissenschaftliche Erkennt‐ nisse allgemeinverständlich und möglichst unterhaltsam zu vermitteln“. 1 Einleitung Vor über fünfzig Jahren macht Beneš (1969) - in einem vielzitierten Aufsatz mit dem Titel Zur Typologie der Stilgattungen der wissenschaftlichen Prosa - auf drei verschiedene Stile, die sich in der Wissenschaftskommunikation manifestieren, aufmerksam: Aufgrund des Fachlichkeitsgrades eines Textes und der Einstel‐ lung des Textproduzenten zum Textrezipienten unterscheidet er zwischen dem Forscherstil, dem belehrenden und dem populärwissenschaftlichen Stil. Wäh‐ rend der Forscherstil Textsorten, die „neue Erkenntnisse vermitteln“, wie Mo‐ nographien und Zeitschriftenaufsätze auszeichnet, sind beim belehrenden Stil zwei Substile anzutreffen: der Lexikonstil, „der die wissenschaftlichen Ergeb‐ nisse mehr oder weniger enzyklopädisch zusammenfaßt“, und der Lehrbuchstil, „der in eine Wissenschaft einführt“ (ebd.: 228). Den populärwissenschaftlichen Stil betrachtet er dagegen als eine „Sonder- und Übergangsform“ (als Übergang vom wissenschaftlichen zum publizistischen Stil; M. P.-K.) und betont, dass er „keineswegs zum eigentlichen Kerngebiet des wissenschaftlichen Sachstils [ge‐ hört]“ (ebd.). Über die Zugehörigkeit des populärwissenschaftlichen Stils zur Wissenschaftskommunikation gibt es verschiedene Auffassungen. 1 Fraglich ist heute aber, ob sich diese drei Stile problemlos voneinander abgrenzen lassen. So konstatiert Brommer diesbezüglich: „Die Kommunikationskonstellationen lassen sich weitgehend klar voneinander ab‐ grenzen (es liegt entweder eine Experten-, eine Experten-Laien- oder eine Experten- Nachwuchs-Kommunikation vor). Sprachlich ist hingegen von fließenden Über‐ gängen auszugehen zwischen wissenschaftlicher Sprache im engeren Sinne (innerhalb der Experten-Kommunikation), populärwissenschaftlicher Sprache sowie didaktisch aufbereiteter Wissenschaftssprache […].“ (Brommer 2018: 12) Die didaktisch aufbereitete Wissenschaftssprache, in seiner Terminologie den Lehrbuchstil, charakterisiert Beneš (1969: 228) folgendermaßen: „Der Stil der Lehrbücher für Mittel-, Ober- und Hochschulen ist wohl die verbreitetste und ziemlich einheitliche neutrale Durchschnittsform des wissenschaftlichen Stils“. Dass Lehrbücher auch heutzutage eine große Verbreitung genießen, ist nicht nur nicht von der Hand zu weisen, sondern in einem deutlich verstärkten Maße 190 Mikaela Petkova-Kessanlis als früher der Fall. Somit kann man vermutlich den Lehrbuchstil in der Tat als die „verbreitetste“ Form des Wissenschaftsstils betrachten. Ein Blick in die For‐ schungsliteratur lässt jedoch die Beneš’sche Feststellung, dass Schul- und Hoch‐ schullehrbücher eine einheitliche stilistische Gestaltung aufweisen, - sofern sie damals Gültigkeit besessen haben sollte - als nicht mehr zutreffend erscheinen. Typologische Klassifizierungsversuche jedoch, die innerhalb der Fachsprachen‐ forschung prominent geworden und immer noch sind, suggerieren heute noch Similarität zwischen Schul- und Hochschullehrbüchern. In Gläsers Fachtextsorten-Typologie (1990) gehören Schul- und Hochschullehrbücher demselben Fachtexttyp (den didaktisierenden Fachtextsorten) und derselben Textsorte (Lehrbuch) an; Gläser verortet sie - in erster Linie aufgrund des hohen Fach‐ lichkeitsgrades mancher Textsortenexemplare - „im Grenzbereich der fachin‐ ternen und fachexternen Kommunikation“, hebt allerdings hervor, dass didak‐ tisierende Textsorten - neben popularisierenden - „für die fachexterne Kommunikation charakteristisch“ sind (ebd.: 47 f.). In Göpferichs Typologie der Textsorten aus den Bereichen Naturwissenschaften und Technik (1995) wird Schul- und Hochschullehrbüchern eine gemeinsame kommunikative Funktion zugewiesen: Es handelt sich in beiden Fällen um didaktisch-instruktive Texte, die theoretisches Wissen vermitteln und mnemotechnisch organisiert sind (vgl. ebd.: 124). Was Typologien in der Regel auszeichnet, zeigt sich hier besonders deutlich: Auf der Suche nach Verbindendem und nach Gemeinsamem werden relevante Unterschiede notgedrungen ignoriert. So merkt Adamzik beispiels‐ weise in Bezug auf die Situation in der deutschen Germanistik zu Recht an: „Es gibt hier einfach nicht besonders viele Bücher, die sich ausdrücklich als Lehrwerke verstehen und die, wie es bei Göpferich heißt, mnemotechnisch organisiert sind. Cha‐ rakteristisch sind vielmehr Bücher vom Typ Einführung, die ihre didaktische Orien‐ tierung allenfalls durch beigegebene Aufgaben erkennen lassen.“ (Adamzik 2013: 146) Es gibt aber weitere, auffälligere Unterschiede zwischen Schul- und Hochschulbü‐ chern, die auf den jeweils unterschiedlichen (außersprachlichen) Handlungstyp zu‐ rückzuführen sind und die die sprachliche Gestaltung dieser Texte nicht unwesent‐ lich beeinflussen. Beide Textsorten werden in verschiedenen Institutionen genutzt bzw. dienen spezifischen institutionellen Zwecken. In der Schule, die „heute eine für den Weiterbestand der Gesellschaft insgesamt zentrale Institution“ (Becker-Mrotzek 2000: 691) ist, wird neben theoretischem Wissen in verschiedenen fachlichen Berei‐ chen (d. h. dem „Wissen in fraktionierter Form“ (ebd.: 692)) auch „ein soziales Wissen über die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse“, das „Auskunft [gibt] über die Werte und Normen einer Gesellschaft, über die Regelungen des Zusammenle‐ bens und der sozialen Verkehrsformen“ (ebd.: 691 f.), vermittelt; aus Schülerperspek‐ 191 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 2 Vgl. auch: „Die Schule vermittelt Wissen, um die Schüler für ihr späteres Handeln in einer komplizierten Welt auszurüsten“ (Ehlich /  Rehbein 1986: 171). 3 Die Bildungssprache ist „als Medium der Wissensvermittlung“ in der Schule anzusehen (Drumm 2018: 132) und „stellt ein Bindeglied zwischen der Sprache der Wissenschaft, der Fachdisziplinen und der Umgangssprache dar“ (ebd.: 135). 4 Dies schließt individuelle stilistische Varianz bei der Realisierung nicht aus, vgl. z. B. Adamzik (2016: 282) in Bezug auf die Darstellungsmittel in Schulbüchern: „Ausgehend von Einzelbeispielen frappiert die enorme Varianz der konkreten Darstellungsmittel: Jedes Werk wählt sein eigenes Darstellungssystem und ist so auch gut von Konkurrenten un‐ terscheidbar, die Texte (bzw. Reihen) gewinnen damit eine individuelle Prägung. Anderer‐ seits sind die funktionalen Erfordernisse natürlich immer dieselben, so dass sich auf abs‐ tive handelt es sich hierbei um ein Grundwissen (vgl. Ehlich /  Rehbein 1986: 169 f.), das der Orientierung dient. 2 Dementsprechend sind Schul(lehr)bücher „ein wesent‐ liches Instrument kultureller Sozialisation“ (Adamzik 2012: 3). An der Institution Universität, die nicht nur eine Bildungs-, sondern gleichzeitig eine Forschungsinsti‐ tution ist, werden wissenschaftliche Lehrinhalte vermittelt (vgl. Heinemann 2000: 706), aber auch erarbeitet. Bachmann-Stein (2018: 331) macht darauf aufmerksam, dass an Universitäten eine diskursive Wissensvermittlung erfolgt. Das sukzessiv zu erwerbende - in der Regel disziplinenspezifische - Wissen soll nicht nur einen Er‐ kenntnisgewinn mit sich bringen, sondern in weitere, darauf aufbauende Lernpro‐ zesse eingesetzt werden und somit ein forschendes Lernen ermöglichen. Hoch‐ schullehrbücher sind in diesem Sinne als eines der Instrumente (neben anderen Kommunikationsformen, z. B. dem Seminar, und Textsorten, z. B. der studentischen Hausarbeit) der akademischen bzw. wissenschaftlichen Sozialisation anzusehen. Diese unterschiedlichen institutionell bedingten Funktionen der beiden Arten von Lehrbüchern wirken sich auf ihre stilistische Gestaltung aus. Zur Versprachlichung des in der Schule vermittelten Wissens wird Bildungs‐ sprache 3 (vgl. Drumm 2018), zur Versprachlichung des Wissens in Hochschul‐ lehrbüchern hingegen wird didaktische (vgl. Hoffmann 2007: 23) bzw. didaktisch aufbereitete Wissenschaftssprache (vgl. Brommer 2018: 12) verwendet. In beiden Institutionen wirken zudem Kontrollinstanzen verschiedener Art. Schul(lehr)bücher unterliegen in der Regel einem behördlichen Genehmigungsver‐ fahren, ihre Inhalte sind pauschal in Richtlinien und konkret in Lehrplänen vor‐ gegeben (vgl. Becker-Mrotzek 2000: 694 ff.). Dies, auch das jeweilige fachdidakti‐ sche Konzept, hat Auswirkungen auf die sprachliche Gestaltung, vgl.: „Die Binnenstruktur und die Darstellungsform von Schulbüchern leitet sich neben der inhaltlichen Orientierung an den Richtlinien insbesondere aus vermittlungstheo‐ retischen Fragen her.“ (ebd.: 698). Man kann also von einem gewissen Maß an Standardisierung in Bezug auf die stilistische Gestalt von Schulbüchern aus‐ gehen. 4 192 Mikaela Petkova-Kessanlis trakterem Niveau globale konventionalisierte Muster erkennen lassen.“ (Hervorhebungen gelöscht) 5 Vgl. dazu z. B. Petkova-Kessanlis (2015: 122 f.; 135). Für Hochschullehrbücher, besonders für solche im geisteswissenschaftlichen Kommunikationsbereich, gibt es dagegen keine von außen vorgegebenen Ge‐ staltungsrichtlinien. Als Kontrollinstanz fungiert die Wissenschaftlergemein‐ schaft, und zwar derart, dass sich ihre Mitglieder in Rezensionen zu der Qualität dieser Texte äußern. Ein Blick in solche Rezensionen aus dem sprachwissen‐ schaftlichen Bereich offenbart allerdings Uneinigkeit sowohl bezüglich der zu vermittelnden Inhalte als auch bezüglich der sprachlichen Gestaltung von Hoch‐ schullehrbüchern. 5 Ein Grund für diese differierenden Vorstellungen ist ver‐ mutlich in der Lehr-Orientierung der Autoren von Hochschullehrbüchern zu suchen. In erziehungswissenschaftlichen Ansätzen wird zwischen studieren‐ denfokussierter und lehrendenfokussierter Orientierung beim Abhalten von hochschulischen Lehrveranstaltungen unterschieden: „Eine lehrendenfokussierte Orientierung bedeutet, dass die Lehrperson ihre Aufgabe vor allem in der Übermittlung von Wissensbeständen sieht. […] Wesentlich für den Lernerfolg wird eine angemessene Vermittlung fachlich relevanten Wissens erachtet. Eine studierendenfokussierte Orientierung bedeutet, dass die Lehrperson ihre Aufgabe vornehmlich darin sieht, die Eigenaktivität der Studierenden anzuregen und auf diese Weise die Konstruktion von Wissen sowie den Erwerb von Kompetenzen zu initiieren und zu unterstützen.“ (Braun /  Hannover 2008: 279; Hervorhebungen im Orig.) Untersuchungen belegen zudem, dass „studierendenfokussierte Dozierende ihre Lehre abwechslungsreicher gestalten als lehrendenfokussierte“ (Braun /  Han‐ nover 2008: 279). Es ist anzunehmen, dass Textproduzenten von Hochschul‐ lehrbüchern ihre studierendenfokussierte Lehr-Orientierung und somit ihren Lehrstil auf ihren Text übertragen bzw. sie in den Text hineinbringen. Ein anderer Grund, m. E. ein schwerwiegenderer, ist die Tatsache, dass man sich z. B. in der germanistischen Linguistik allzu selten mit der adressatenspe‐ zifischen Wissensvermittlung im eigenen Fach auseinandersetzt. Nicht zufällig also plädiert Brommer dafür, dass man sich dies zur Aufgabe macht und die Bedürfnisse unterschiedlicher Adressatengruppen bei der Präsentationsweise berücksichtigt: „Demnach ist ein übergeordneter Handlungsbereich ‚Wissenschaft‘ anzunehmen, in‐ nerhalb dessen Wissenschaftler verschiedene Rollen einnehmen, je nachdem ob sie innerhalb der Wissenschaftsgemeinde, mit der Öffentlichkeit oder dem wissenschaft‐ lichen Nachwuchs kommunizieren. Folgerichtig ist neben dem Hervorbringen von 193 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 6 Besonders in den letzten Jahren ist in der Linguistik ein verstärktes Forschungsinteresse an Schulbüchern erkennbar: vgl. z. B. Heer (2010), Adamzik (2012), Kiesendahl /  Ott (2015). Wissen auch die Wissensvermittlung als Aufgabe der wissenschaftlichen Kommuni‐ kation anzusehen, und entsprechend unterscheiden sich wissenschaftliche Texte in ihrer kommunikativen Funktion in Abhängigkeit von der Teilnehmerkonstellation sowie der Kommunikationssituation.“ (Brommer 2018: 46) Eine wissensvermittelnde Funktion haben - neben den oben erwähnten Kom‐ munikationsformen im hochschulischen Bereich - auch die Hochschullehrbü‐ cher zu erfüllen. Über ihre sprachliche Gestaltung ist jedoch wenig bekannt, da sie - anders als Schulbücher 6 - außerhalb des linguistischen Forschungsinter‐ esses zu stehen scheinen. Einen unbefriedigenden Forschungsstand stellen so‐ wohl Brommer als auch Gloning fest: „Die Experten-Nachwuchs-Kommunikation, also die didaktisierende Wissenschafts‐ sprache, wie sie bspw. in wissenschaftlichen Einführungen Verwendung findet, ist meiner Einschätzung nach für den deutschsprachigen Raum zum derzeitigen Stand unerforscht“ (Brommer 2018: 14). „Im Gegensatz zu ihrer enormen Bedeutung sind wissenschaftliche Lehrbücher bis‐ lang eher stiefmütterlich erforscht. […] Insgesamt muss man aber sagen, dass vor allem die Zusammenhänge zwischen Aspekten der Textorganisation, der Wissensvermitt‐ lung und von spezifischen sprachlichen und textuellen Verfahren noch nicht in em‐ pirisch fundierter und breit angelegter Weise untersucht wurden.“ (Gloning 2018: 348) Als Konsequenz davon lässt sich festhalten: Angesichts fehlender empirischer Forschungsergebnisse lassen sich keine gesicherten Aussagen über Gemein‐ samkeiten und Unterschiede zwischen Schul- und Hochschullehrbüchern treffen. Das oben Dargelegte lässt allerdings eher Unterschiede als Gemeinsam‐ keiten vermuten, d. h. von einer einheitlichen stilistischen Gestaltung kann nicht ausgegangen werden. Beneš (1969: 228) spricht auch von einer „neutrale[n] Durchschnittsform des wissenschaftlichen Stils“ der Lehrbücher; bei Brommer (2018: 16) heißt es: „In der wissenschaftlichen Kommunikation steht der Inhalt im Zentrum und bspw. soziale Aspekte wie die Adressatenbeziehung oder die Selbstdarstellung rücken in den Hintergrund.“ Auch dies erweist sich aus heutiger Sicht als nicht mehr zutreffend. So ist beispielsweise die Rezipientenanrede als Mittel zur Gestaltung einer Nähe-Beziehung in Schulbüchern durchaus konventionell geworden (vgl. Drumm 2018: 132); sie kommt aber auch in Hochschullehrbüchern vor (vgl. Petkova-Kessanlis 2015: 125 ff.). 194 Mikaela Petkova-Kessanlis Einheitlichkeit und Neutralität des wissenschaftlichen Stils sind allerdings in heutigen Hochschullehrbüchern schon vorzufinden. Konstitutive Gestaltungs‐ merkmale der Textsorte sind sie aber nicht mehr, jedenfalls nicht fachübergrei‐ fend. Der vorliegende Beitrag widmet sich einem Gestaltungsmerkmal, das für genuin wissenschaftliche Texte atypisch ist: der Unterhaltsamkeit. Im Hinblick auf didaktisch aufbereitete Texte wird das Erzeugen von Unterhaltsamkeit ent‐ weder mehr oder weniger vehement abgelehnt oder aber befürwortet. Hoff‐ mann (2017: 219) beispielsweise, der als an der Wissenschaftskommunikation beteiligt sowohl Wissenschaftler als auch Studierende betrachtet, schließt neben Allgemeinverständlichkeit auch Unterhaltsamkeit in wissenschaftlichen Texten ausdrücklich aus: „Allgemeinverständlichkeit und Unterhaltsamkeit aber ge‐ hören nicht zum Merkmalskomplex des wissenschaftlichen Stils“ (ebd.: 220). Göpferich (1995; 1998) dagegen behandelt Unterhaltsamkeit zwiespältig. In ihrer Typologie werden theoretisches Wissen vermittelnde didaktisch-instruk‐ tive Texte unterteilt in zwei Kategorien: mnemotechnisch organisierte und In‐ teresse weckende Texte. Diese Unterteilung erweckt den Eindruck, dass Unter‐ haltsamkeit in Lehrbüchern ausgeschlossen ist. In den Erläuterungen zu dieser Einteilung heißt es aber: „Interesse weckende Texte werden dagegen nicht geschrieben, damit der Rezipient ihre Inhalte möglichst leicht reproduzierbar lernen kann, sondern lediglich, um ihn zu unterhalten oder ihn auf interessante Weise zu informieren. Im Dienste dieser kommunikativen Funktionen steht daher auch die Art der Informationspräsentation. Diese Kategorie von Texten zeichnet sich aus durch Eigenschaften wie z. B. anspre‐ chende, meist farbige Abbildungen, eine unterhaltsame sprachliche Darstellungs‐ weise, häufig besonders hervorgehobene Initialbuchstaben etc. Unterhaltsame Ele‐ mente können durchaus auch in mnemotechnisch organisierten Texten enthalten sein. In ihnen ist die Unterhaltung jedoch kein Selbstzweck, sondern steht im Dienste der leichteren Aufnahme von Wissen.“ (Göpferich 1998: 96 f.; Hervorhebungen im Orig.) Andere Forscher vermissen Unterhaltsamkeit in deutschen Hochschulbüchern und geben zu verstehen, dass sie sie befürworten würden. Niederhauser bei‐ spielsweise verweist auf kulturspezifische Unterschiede zwischen deutschen und englischen wissenschaftlichen Texten: „Eine humorvolle, witzige Gestaltung gilt [im angelsächsischen Raum; M. P.-K.] viel‐ fach als positives Merkmal, und teilweise ist in englischsprachigen wissenschaftlichen Texten ein salopperer Ton möglich als in deutschen Texten, die gewissermaßen ständig vom hehren Ernst der Wissenschaft durchzogen sind. Ein schönes Beispiel für solche stilistischen Unterschiede bietet die abweichende Gestaltung von Hochschul‐ 195 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen lehrbüchern, beispielsweise von Einführungen in die Linguistik.“ (Niederhauser 1996: 43) Um dies zu illustrieren stellt der Verfasser einen Vergleich an und gibt zu ver‐ stehen, dass seiner Meinung nach Unterhaltsamkeit die Fachlichkeit bzw. die Wissenschaftlichkeit eines Textes nicht beeinträchtigt: „Man vergleiche einmal die Einführung von Fromkin / Rodman (1988) mit dem ‚Stu‐ dienbuch Linguistik‘ von Linke /  Nussbaumer /  Portmann (1991). Neben anders gela‐ gerten Schwerpunkten entsprechend den Entwicklungen und Richtungen der anglis‐ tischen resp. germanistischen Linguistik unterscheidet sich die englischsprachige Einführung von der deutschen durch häufigen Gebrauch von Karikaturen und von witzigen oder verblüffenden Motti, die sich auf linguistische Themen beziehen lassen. Bei allen Unterschieden in der stilistischen Gestaltung sind aber beide Bücher vor‐ zügliche Einführungen in die Linguistik. (ebd.: 43; Fußnote). Janich (2004: 97) wiederum fordert: „Autoren wissenschaftlicher Einführungen müssen sich bei der Textgestaltung ihrer Schnittstellenfunktion zwischen Wis‐ senschaft und ‚Noch-Laien‘ bewusst sein“ und verweist auf die Notwendigkeit eines attraktiven Stils als Mittel der Verständnissicherung: „Außer durch sprach‐ liche Einfachheit wird das Textverstehen nicht zuletzt durch einen attraktiven Sprachstil erleichtert, der nicht nur funktional angemessen, sondern auch äs‐ thetisch ist (z. B. durch Bildhaftigkeit, Lebendigkeit, durch sprachlich-formale Wagnisse usw.)“ (ebd.: 95 f.). Diese voneinander differierenden Einstellungen gegenüber der Unterhalt‐ samkeit in didaktisch aufbereiteten Texten finden ihren Ausdruck in den Texten der Autoren von Einführungen. Ich halte es mittlerweile für gerechtfertigt, an‐ statt von zwei unterschiedlichen Realisierungen des Textmusters auszugehen (vgl. Petkova-Kessanlis 2019: 234), zwei Textsorten-Prototypen anzunehmen (vgl. Abschn. 2). Gegenstand der folgenden Ausführungen sind Einführungen in die Linguistik bzw. in ein bestimmtes linguistisches Fachgebiet, in denen Au‐ toren verschiedene Mittel einsetzen mit dem Ziel, ihre Texte für die Studie‐ renden U N T E R HA L T S A M zu M A C H E N . Bei jedem Vollzug von U N T E R H A L T S A M M A ‐ C H E N erfolgt jeweils ein Stilwechsel. D. h. umgekehrt: Einer Reihe von Stilwechseln ist die stilistische Wirkung der Unterhaltsamkeit zuzuschreiben. Sie sollen bewirken, dass der Text angenehm, amüsant, vergnüglich, unterhal‐ tend zu lesen ist. Jedenfalls soll die Entstehung von Langeweile vermieden werden. Im folgenden Abschnitt 2 wird zunächst auf die Kategorien der Unterhaltung eingegangen, anschließend auf die Relation I N F O R MI E R E N - U N T E R HA L T E N , um schließlich die Realisierung dieser Relation in Einführungen aufzuzeigen. In 196 Mikaela Petkova-Kessanlis Abschnitt 3 illustriere ich anhand der Kapitelbetitelung in einer Einführung verschiedene Stilwechsel, die in Einführungen erfolgen können, und analysiere ihre Wirksamkeit. Gegenstand des vierten Abschnitts sind die häufigsten Stil‐ wechsel, die zum Zwecke des unterhaltsamen I N F O R M I E R E N S in Einführungen stattfinden. Abschnitt 5 ist Handlungsdurchführungen, die lediglich der Unter‐ haltung dienen, gewidmet. 2 Die Relation I N F O R MI E R E N - U NT E R HAL T E N Die Handlungen I N F O R M I E R E N und U N T E R HA L T E N unterscheiden sich vonein‐ ander dadurch, dass sie einen jeweils unterschiedlichen Textsinn vermitteln: „I N F O R M I E R E N ist eine Texthandlung mit pragmatischem Textsinn; U N T E R ‐ H A L T E N hat eine ästhetische Ausrichtung, verbindet sich mit ästhetischem Text‐ sinn, zu verstehen als eine Funktion formenbezogenen Textverstehens“ (Hoff‐ mann 2008: 58). Aufgrund dieses Unterschieds betrachtet Hoffmann (ebd.: 57) I N F O R M I E R E N und U N T E R H A L T E N als zwei unterschiedliche „Typen kommunika‐ tiven Handelns“ und plädiert zudem dafür, „Unterhaltung als eigenständige Funktion in textlinguistische Textfunktionsmodelle zu integrieren“ (ebd.: 75). Die Unterhaltungsfunktion macht er durch folgende Paraphrase explizit: „‚Ich (der Emittent) gebe dir (dem Rezipienten) zu verstehen, dass ich dir mit meinen Äußerungen Vergnügen bereiten will‘“ (ebd.). Vergnügen in und mit Texten kann - wie im Folgenden gezeigt werden soll - auf unterschiedliche Art und Weise evoziert werden. Für Unterhaltungsan‐ gebote im Fernsehen hat Klein (1996: 113 f.; 1997: 184 f.) vier Unterhaltungska‐ tegorien herausgearbeitet: Abwechslung, Unbeschwertheit, Interessantheit und Eingängigkeit. Für jedes Unterhaltungsangebot haben diese Kategorien insofern einen konstitutiven Charakter, als kein Unterhaltungsangebot „- wenn es un‐ terhaltsam sein soll - langweilig, ernsthaft, uninteressant oder schwer zugäng‐ lich sein [darf]“ (Klein 1996: 113 f.). Jede dieser Grundkategorien weist mehrere Ausprägungen auf. Ausprägungen von Abwechslung sind Action, Tempo, Über‐ raschung, Vielfalt und Lebendigkeit. Ausprägungen von Unbeschwertheit sind Amüsanz, Fiktionalität, Sympathie und Happy-end (ebd.), auch Lockerheit (Klein 1998: 104). Interessantheit, das „Fesseln von Aufmerksamkeit“ (Klein 1996: 114), wird Amüsantem, Spektakulärem, Spannendem, emotional Stimu‐ lierendem u. a. zugeschrieben. Verständlichkeit, Freundlichkeit /  Sympathie und Konventionalität dagegen sind Ausprägungen der Kategorie Eingängigkeit (ebd.). Mit Eingängigkeit ist gemeint: „Das Angebot darf nur keine Hindernisse für leichte emotionale Zugänglichkeit aufweisen“ (Klein 1997: 184). Sie kann erreicht werden auch durch eine „simple Struktur“ und /  oder eine „sympa‐ 197 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen thisch-vertrauenerweckende Präsentation“ (Klein 1998: 104). Hoffmann (2008) hat gezeigt, dass sich Kleins Grundkategorien, obwohl es „keine starren Trenn‐ linien“ zwischen ihnen gibt (ebd.: 75), durchaus „zur Beschreibung von Unter‐ haltungskommunikation“ (ebd.: 60) generell eignen und dies an Pressetexten aus der journalistischen Berichterstattung über den James-Bond-Film Casino Royale illustriert. Im Folgenden nutze ich diese Unterhaltungskategorien, um Unterhaltsamkeit in den zu untersuchenden Texten aufzufinden, d. h. sie dienen also hier als Unterhaltungshinweise im Sinne von Hausendorf /  Kesselheim (2008: 158 ff.), d. h. als Indikatoren, die Unterhaltsamkeit in Texten anzeigen. Bezüglich der Kategorie Interessantheit ist an dieser Stelle eine Einschrän‐ kung bzw. Präzisierung vonnöten. Hoffmann (2008: 69) gibt zu Recht zu be‐ denken, dass „Informationstexte […] nicht einfach als uninteressant eingestuft werden können“. Diese Bedenken gelten auch für die hier untersuchten Texte. Als interessant wird im Folgenden nur das in den Blick genommen, was einen Unterhaltungswert hat, der sich in einer oder mehreren der obenerwähnten Ausprägungen der jeweiligen Unterhaltungskategorien zeigt. In didaktisch auf‐ bereiteten Texten tritt Interessantheit als Unterhaltungskategorie z. B. dann in Erscheinung, wenn man sich vom Wissenschaftlichen ablöst. Da die hier im Zentrum des Interesses stehende Unterhaltsamkeit eine perlokutive Wirkung ist, die in wissenschaftlichen (auch nicht immer in didaktisch aufbereiteten) Texten konventionell nicht erwartbar ist, ist es wichtig zu un‐ tersuchen, a) wie Unterhaltsamkeit erzeugt wird und b) in welcher Relation Handlungen mit der perlokutiven Wirkung des Unterhaltens zu der für das Textmuster Einführung konstitutiven Texthandlung I N F O R MI E R E N stehen. Bei medialen Unterhaltungsangeboten mit der Intention zu U N T E R HA L T E N unterscheidet Klein (1996: 116) zwischen zwei Realisierungsmöglichkeiten: 1) Eine illokutive Handlung, die „selbst das Unterhaltungspotential enthält“, wird als Mittel zum Vollzug von U N T E R H A L T E N eingesetzt, z. B. U N T E R HA L T E N , da‐ durch dass man über etwas Interessantes I N F O R MI E R T ; in diesem Fall stehen Il‐ lokution und Perlokution in einem direkten instrumentellen Verhältnis zuein‐ ander; hierher gehören in erster Linie komplexe illokutive Handlungen, die „als solche auf eine bestimmte perlokutionäre Wirkung angelegt“ (ebd.) sind, wie beispielsweise Witze. 2) Eine oder mehrere illokutive Handlungen, die „selbst kein Unterhaltungspotential enthalten“, werden vollzogen, um „lediglich die Voraussetzungen dafür [zu] schaffen, daß andere Handlungen eine Unterhal‐ tungswirkung haben“ (ebd.), z. B. vor einem Unterhaltungsangebot wie dem Spiel die Spielregeln unterhaltsam E R K LÄR E N . Da die hier zu behandelnden Texte Informations- und nicht Unterhaltungs‐ angebote darstellen, d. h. die Textperlokution, das zentrale Wirkungsanliegen 198 Mikaela Petkova-Kessanlis 7 Die einfachen Anführungszeichen zur Kennzeichnung der verschiedenen Relationen stammen hier und im Folgenden von M. P.-K. des Textes, das B E L E H R E N im Sinne eines Erkenntnisgewinns und nicht das U N T E R HA L T E N ist, kommen diese zwei Realisierungsmöglichkeiten nicht in Frage. Hoffmann (2008) zeigt aber, dass neben ‚U N T E R HA L T E N , indem I N F O R M I E R E N ‘ 7 in Texten auch andere Realisierungen vorkommen. Er macht auf die Vielschich‐ tigkeit und Kompliziertheit des Verhältnisses zwischen Information und Unter‐ haltung aufmerksam und schlägt vor, von zwei Hauptrelationen auszugehen: ‚U N T E R H A L T E N versus I N F O R MI E R E N ‘ einerseits und ‚U N T E R H A L T E N und I N F O R ‐ M I E R E N ‘ (ebd.: 57f.) andererseits. Bei der erstgenannten Relation können sich I N F O R MI E R E N und U N T E R HA L T E N „wechselseitig substituieren“ (ebd.: 58), dabei sind zwei Relationen bzw. Durchführungsmöglichkeiten möglich: 1) ‚I N F O R ‐ MI E R E N statt U N T E R HA L T E N ‘, eine Relation, die „idealtypisch im Informations‐ journalismus“ anzutreffen ist (ebd.), und 2) ‚U N T E R HA L T E N statt I N F O R M I E R E N ‘, eine Relation, die z. B. in Aprilscherzen realisiert wird. In der zweiten Hauptrelation sind I N F O R M I E R E N und U N T E R H A L T E N (Hoffmann kategorisiert diese Relation als ‚Infotaintment‘) miteinander verbunden und „bilden eine tex‐ tuelle Handlungsstruktur“ (ebd.: 58). Dabei lassen sich drei Relationen bzw. Durchführungsmöglichkeiten voneinander unterscheiden: 1) ‚U N T E R H A L T E N , indem I N F O R MI E R E N ‘ ist charakteristisch für den Populärjournalismus: „Das Spe‐ zifische dieser Relation liegt darin, dass es der propositionale Gehalt von Infor‐ mationshandlungen ist, der als unterhaltungswertig angesehen und entspre‐ chend instrumentalisiert wird.“ (ebd.) 2). ‚U N T E R H A L T E N , indem ‚unterhaltsam‘ I N F O R M I E R E N ‘: Dabei geht es um die „Präsentationsweise von Informations‐ handlungen“ (ebd.). Hoffmann (ebd.: 59) spricht von der Präsentationshandlung U N T E R HA L T S A M M A C H E N , mit deren Vollzug „die Texthandlung I N F O R MI E R E N mit ästhetischem Textsinn angereichert [wird], ohne ihre pragmatische Ausrich‐ tung einzubüßen“. Mit der Durchführung dieser Handlungen können Texti‐ nhalte trivialisiert, pointiert, sensationalisiert, emotionalisiert werden u. a. Auch Kommunikationsmodalitäten wie witzig, ironisch, satirisch gelten als Vollzug von U N T E R H A L T S A M M A C H E N . 3) ‚I N F O R M I E R E N plus U N T E R HA L T E N ‘ ist eine für den Informationsjournalismus charakteristische Realisierungsmöglichkeit, bei der U N T E R HA L T E N mittels der Präsentationshandlung U N T E R H A L T S AM M A C H E N vollzogen wird (vgl. ebd.). Die Frage, die sich im vorliegenden Beitrag stellt, ist, in welchen Relationen I N F O R MI E R E N und U N T E R HA L T E N in Exemplaren der Textsorte Einführung stehen (können). Die Untersuchung ergibt zunächst, dass sich in den untersuchten 199 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 8 Zum Konzept der Fachsprachlichkeit vgl. Kalverkämper (1990: 110 ff.). Texten I N F O R M I E R E N und U N T E R H A L T E N in beiden Hauptrelationen (‚U N T E R ‐ H A L T E N versus I N F O R MI E R E N ‘ und ‚I N F O R M I E R E N und U N T E R H A L T E N ‘) wieder‐ finden (können). Die Relation ‚I N F O R M I E R E N statt U N T E R H A L T E N ‘ ist konstitutiv für Prototyp I der Textsorte Einführung. Charakteristisch für diesen Prototyp ist das Befolgen der sprachlichen Konventionen des Wissenschaftsstils bei gleichzeitiger Befolgung von Gestaltungsprinzipien, die dem Gestaltungsmotiv Erkenntniserleichterung (vgl. Hoffmann 2017: 76 ff.) zuzuordnen sind. Mit Hoff‐ mann (ebd.: 74 ff.) ist davon auszugehen, dass Erkenntniserleichterung und Re‐ zeptionserleichterung nicht gleichzusetzen sind: „Von Erkenntniserleichterung ist immer dann zu sprechen, wenn Rezeptionserleichterung mit einem didakti‐ schen Anspruch verbunden wird. Erwartbar ist ein solcher Stil in Lehr- und Studienbüchern aller Art“ (ebd.: 76). Rezeptionserleichternde Gestaltungsprin‐ zipien sind Anschaulichkeit, Übersichtlichkeit, Klarheit, (visuelle) Gegliedert‐ heit, Hervorhebung, Eingängigkeit und Einfachheit (vgl. ebd.: 74 f.). Sie können alle als erkenntniserleichternde Prinzipien eingesetzt werden, solange sie der Didaktisierung dienen. Weitere erkenntniserleichternde Verfahren sind z. B. Personifizieren, bildhaftes Vergleichen, übersichtliche Textarchitektonik u. a. (vgl. ebd.: 77 ff.). Der Textsorten-Prototyp I zeichnet sich aus durch eine relativ große Varianz bei der Realisierung, die einerseits auf den unterschiedlichen Fachlichkeitsgrad der Texte, andererseits aber auch auf den unterschiedlichen Fachsprachlichkeitsgrad 8 zurückzuführen ist. Die Relation ‚I N F O R M I E R E N plus U N T E R HA L T E N ‘ ist anzutreffen bei Texten, die dem Textsorten-Prototyp II zuzurechnen sind. Die dominierende Texthandlung in diesen Texten ist das I N F O R M I E R E N . Das U N T E R H A L T E N ist dann im Hinblick auf den Gesamttext eine Zusatzhandlung. Ich gehe hier von einem Textsortentyp aus, obwohl die Texte, die ihn repräsentieren, nicht auf allgemeine Akzeptanz unter den Mitgliedern der Wissenschaftlergemeinschaft treffen (vgl. Abschn. 6). Er kommt meinen Schätzungen zufolge seltener vor und wird in einer kaum überschaubaren Varianz realisiert. In dieser Relation hat das U N T E R H A L T E N eine persuasive Funktion. D. h. mit dem Vollzug von U N T E R H A L T E N versucht der Textproduzent, den Textrezipienten zu beeinflussen. Das, was Hoffmann in Bezug auf persuasive Kommunikation generell feststellt, gilt auch für isolierte persuasive Versuche in informationsbetonten Texten: „Persuasive Kommunikation ist strategiegeleitete Kommunikation, denn der Text‐ produzent befindet sich in einer Problemsituation. Er rechnet mit einer Kommunika‐ tionsbarriere dergestalt, dass es zwischen ihm und dem Kommunikationspartner eine Divergenz […] gibt, die bis zu einer Kommunikationsverweigerung gehen kann. In 200 Mikaela Petkova-Kessanlis 9 Die Motivation zur Lektüre eines Textes, die sich auf der Basis seiner Gestaltung ent‐ wickelt, wird in der Verständlichkeitsforschung als „textinduzierte Motivation“ be‐ zeichnet, vgl. Ballstaedt (2019: 294). diesem Situationskontext werden Gestaltungsstrategien zur Überwindung von Kom‐ munikationsbarrieren entwickelt […]. Gestaltungsstrategisches wird in den Text‐ strukturen manifest.“ (Hoffmann 2017: 80) Auch in didaktisch aufbereiteten Texten vermuten Textproduzenten ein even‐ tuelles Nachlassen des Rezeptionsinteresses und setzen Mittel ein, die die Lese‐ motivation fördern sollen. 9 U N T E R H A L T E N eignet sich deswegen dazu, weil es - im Unterschied zum I N F O R M I E R E N , das Erkenntnis und Wissen zum Ziel hat - primär auf „einen angenehmen psychisch-physiologischen Zustand“ (Klein 1997: 183) zielt, auf einen Zustand, bei dem Rezipienten „angenehme Entspan‐ nungsgefühle“ (ebd.) vermittelt bekommen. Die unterschiedlichen Ziele von I N F O R M I E R E N und U N T E R HA L T E N gehen mit einer jeweils unterschiedlichen Fo‐ kussierung der Aufmerksamkeit einher: „Focus-Steuerung unter dem Vorzei‐ chen von Wissenserwerb […] bedeutet Präferenz für Relevantes. Focus-Steue‐ rung unter dem Vorzeichen von Entspannungsorientierung bedeutet Präferenz für Interessantes, Aufmerksamkeit-Erregendes, das nicht belastend wirkt“ (Klein 1997: 183). Unterhaltungsangebote werden also nicht - wie Informati‐ onsangebote - nur kognitiv, sondern auch emotional verarbeitet (ebd.: 182). D. h. mit dem Vollzug von U N T E R HA L T E N versuchen Textproduzenten auf die Rezipi‐ enten emotional einzuwirken. Diese Unterhaltungsversuche können gelingen oder aber auch misslingen (vgl. Klein 1996: 116). Persuasive Versuche in und mit Texten erfordern demzufolge einen Mehr‐ aufwand, der mit einer bestimmten stilistischen Gestaltung einhergeht. Nach Hoffmann (2017: 80) lassen sich Textproduzenten in solchen Fällen von dem Gestaltungsmotiv Rezipientenbeeinflussung leiten; als Mittel der Realisierung wird dabei von Gestaltungsprinzipien wie Attraktivität, Hervorhebung, Span‐ nung, Unterhaltsamkeit (vgl. ebd.: 137) Gebrauch gemacht, auch von der Auf‐ lockerung durch Registermischung (vgl. ebd.: 186). Rezeptionserleichterung, Erkenntniserleichterung und Rezeptionsbeeinflus‐ sung lassen sich allerdings selten voneinander trennen, besonders dann nicht, wenn sie einem übergeordneten Zweck dienen. In dem Hamburger Verständ‐ lichkeitsmodell (vgl. z. B. Ballstaedt 2019: 324 ff.) finden sich als Mittel zur Rea‐ lisierung der sog. Verständlichmacher (sprachliche Einfachheit, Gliede‐ rung /  Ordnung, Kürze /  Prägnanz, zusätzliche Stimulanz) Stilprinzipien, die sich aus allen drei Gestaltungsmotiven ableiten lassen. 201 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 10 Zu den textstilistischen Handlungsmustern vgl. Sandig (2006: 147 ff.). Die Unterhaltsamkeit, um die es hier geht, ist - diesem Modell folgend - der Stimulanz zuzuordnen: „Beschrieben wird sie als anregender, interessanter, ab‐ wechslungsreicher und persönlicher Schreibstil, der sich konkret in witzigen Formulierungen, Anekdoten, rhetorischen Fragen, lebensnahen Beispielen, per‐ sönlicher Ansprache ausdrückt.“ (Ballstaedt 2019: 296). Stimulanz „fasst rheto‐ rische und stilistische Mittel zusammen, die einen Text interessant machen und auch den nicht hoch motivierten Leser fesseln“ (ebd.). Meine Untersuchung ergibt, dass es für den Vollzug von U N T E R H A L T E N in der Relation ‚I N F O R M I E R E N plus U N T E R H A L T E N ‘ in Einführungen zwei Realisierungs‐ möglichkeiten gibt: Bei der ersten wird U N T E R HA L T E N mittels unterhaltsamen I N F O R MI E R E N s vollzogen. Wie bereits erwähnt, können Handlungen mit einer intendierten unterhaltenden Wirkung in den untersuchten Texten nicht als Realisierung der Relation ‚U N T E R H A L T E N , indem I N F O R M I E R E N ‘ eingestuft werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die vollzogene Handlung, der eine unterhaltsame Wirkung zugeschrieben werden kann, nie für sich allein steht, sondern immer in einen Kontext eingebunden ist. In diesem Kontext hat dieser Handlungsvollzug eine spezifische kommunikative Funktion zu erfüllen. Diese textinterne Funktion ist immer auf eine Handlung bezogen, die die Texthand‐ lung I N F O R M I E R E N unterstützt, z. B. E X E M P L I F I Z I E R E N . Wenn beispielsweise ein Text /  Teiltext, der einer Textsorte angehört, die an sich auf eine unterhaltende Wirkung angelegt ist (d. h. ‚U N T E R H A L T E N indem I N F O R M I E R E N ‘), in einem Teil‐ text einer Einführung verwendet wird, dann dient dieser Text /  Teiltext zum Vollzug einer anderen Handlung und ist somit bezogen auf die Texthandlung des I N F O R M I E R E N s, hat also keine ‚reine‘ Unterhaltungsfunktion. Der Textpro‐ duzent nutzt demzufolge das Unterhaltungspotenzial einer Textsorte, um eine gegebene Handlung U N T E R H A L T S AM zu MA C H E N . In Einführungen können also die Rezipienten U N T E R H A L T S A M über fachspezifische Sachverhalte I N F O R MI E R T werden. Die übergeordnete Texthandlung I N F O R M I E R E N und ihre subsidiären Handlungen werden derart durchgeführt, dass ihr pragmatischer Textsinn er‐ halten bleibt. Das U N T E R H A L T S A M M A C H E N hat dabei die Funktion, direkt (durch Erkenntniserleichterung) und /  oder indirekt (durch Rezipientenbeeinflussung) den Erfolg des I N F O R MI E R E N s zu sichern. Das U N T E R HA L T S AM M A C H E N ist ein textstilistisches Handlungsmuster, 10 das in den untersuchten Texten zur Realisierung des Stilmusters A T T R A K T I V MA C H E N genutzt wird. Auf Attraktivmacher in sachinformierenden Texten hat bereits Rothkegel (1982) aufmerksam gemacht. Hoffmann (2017: 49) nennt sie auch „Rezeptionsstimulantien“ und hebt auf diese Art und Weise ihre rezeptionssti‐ 202 Mikaela Petkova-Kessanlis 11 Für ein solches Vorgehen vgl. Petkova-Kessanlis (2015) zu den Stilmustern D IA L O G I ‐ S I E R E N , A T T R A K T I V MA C H E N und S E L B S T D A R S T E L L E N und Petkova-Kessanlis (2017) zu diesen und auch weiteren Stilmustern in Einführungen. (1) (2) mulierende bzw. rezeptionsprovozierende Wirkung hervor. Der Gebrauch von Attraktivmachern ist von besonderer stilistischer Relevanz, da er für eine starke Adressatenberücksichtigung spricht (vgl. Sandig 1986: 228 ff.). In den Abschnitten 4 und 5 verzichte ich auf die Ermittlung übergeordneter (z. B. V E R S TÄN D L I C H M A C H E N ) und untergeordneter Stilmuster (z. B. L E B E N D I G MA ‐ C H E N , W I T Z I G M A C H E N , A U F FÄL L I G M A C H E N etc.) der Relation ‚A T T R A K T I V MA ‐ C H E N , indem U N T E R HA L T E N bzw. U N T E R HA L T S AM MA C H E N ‘. 11 Stattdessen ver‐ suche ich die Untersuchungsergebnisse nach der Art von Stilwechseln zu systematisieren. Durch diese Vorgehensweise will ich nicht nur das Selbstver‐ ständliche aufzeigen, dass nämlich der Vollzug von U N T E R HA L T E N in didaktisch aufbereiteten wissenschaftlichen Texten Stilwechsel bewirkt, sondern auch welche Art von Stilwechseln stattfinden. Die zweite Realisierungsmöglichkeit von U N T E R H A L T E N in der Relation ‚I N ‐ F O R MI E R E N plus U N T E R HA L T E N ‘ ist - überraschenderweise - ‚U N T E R H A L T E N statt I N F O R M I E R E N ‘. Dieser Relation ordne ich alle Fälle zu, in denen Handlungen durchgeführt werden, die ein Unterhaltungspotenzial haben, deren Proposition jedoch Informationen enthält, die im Hinblick auf das zu entfaltende Thema nicht zum Erkenntnisgewinn beitragen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um isolierte, vom Thema abweichende Äußerungen. 3 Ein Beispiel zum Auftakt: Kapitelbetitelung In prototypischen wissenschaftlichen Texten sind informative Kapitelüber‐ schriften erwartbar, d. h. solche, die das jeweilige Teilthema explizit benennen. Il‐ lokutiv gesehen werden mit Kapitelüberschriften Handlungen vollzogen, die dem Handlungstyp Thema bzw. Teilthema A N KÜN D I G E N zuzuordnen sind. Dieser Er‐ wartung wird auch in der von Engelberg /  Lemnitzer (2009) verfassten Einführung mit dem Titel Lexikographie und Wörterbuchbenutzung überwiegend entsprochen: Bei der Kapitelbetitelung dominieren die Realisierungen des Handlungstyps Teil‐ thema explizit A N KÜN D I G E N . In einer Reihe von Fällen geht aber dem Vollzug dieser Handlung eine andere Handlung voraus: In 38 von insgesamt 82 Über‐ schriften (die Exkurse mitgerechnet) wird das jeweilige Teilthema zunächst ver‐ rätselnd oder andeutend A N G E KÜN D I G T und erst danach explizit, vgl. z. B.: Genau mein Typ: Zur Wörterbuchtypologie Vom Sortieren: Klassifikationstheoretisches 203 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 12 Anders ist dies bei Titeln wissenschaftlicher Monografien und Zeitschriftenaufsätze. Vgl. in diesem Zusammenhang Dietz (1995: 135), der von einem Titeltyp „Rätselhafter Obertitel - informativer Untertitel“ ausgeht, aber betont, dass „eine solche Titelgebung vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften anzutreffen ist“ (ebd.: 137). (3) (4) (5) Ordnung im Bücherschrank: Einige Vorschläge zur Klassifikation von Wörterbuchtypen Ein Blick in die Regale: Wörterbücher und Wörterbuchtypen À la carte: Allgemeinwörterbücher versus Spezialwörterbücher Derartige verrätselnde und andeutende Themenankündigungen in Kapitelüber‐ schriften sind allerdings für den Wissenschaftsstil atypisch, 12 denn sie verstoßen gegen das Eindeutigkeitsbzw. Explizitheitspostulat. Es liegt also eine von den wissenschaftssprachlichen Konventionen abweichende Handlungsdurchfüh‐ rung vor, die jeweils einen Stilwechsel bewirkt. Aufgrund der Initialposition der Texte (einerseits im Inhaltsverzeichnis, andererseits am Anfang des jeweiligen Teiltextes) ist anzunehmen, dass diese Stilwechsel als besondere Rezeptionsan‐ reize dienen sollen; sie fungieren als Attraktivmacher für den nachfolgenden Text bzw. Teiltext. Nach Genette (1989: 10) stellt ein Paratext ein ‚Vestibül‘ dar, „das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet“. Das A T ‐ T R A K T I V M A C H E N ist - wenn man bei dieser metaphorischen Ausdrucksweise bleibt - ein Stilmuster, mit dessen Hilfe man gerade das Umkehren des Lesers zu verhindern sucht. Im vorliegenden Fall wird das A T T R A K T I V MA C H E N mithilfe des Stilmusters U N T E R HA L T S A M K E I T E R Z E U G E N realisiert. Als Mittel seiner Rea‐ lisierung werden drei andere Stilmuster genutzt: a) das S P A N N U N G E R Z E U G E N , b) das K O N T R A S T I E R E N und c) das L E B E N D I G M A C H E N . Zu a): Eine Reihe der verwendeten Kapitelüberschriften sind zweiteilig und folgen immer demselben Muster: Im ersten Teil der Überschrift (im Folgenden: Überschrift 1) wird das Thema nur angedeutet, verrätselnd formuliert oder ganz verschwiegen. Überschrift 1 ist zudem immer stilistisch auffällig (vgl. b)). Der zweite Bestandteil der Überschrift (im Folgenden Überschrift 2) dagegen ist immer eindeutig formuliert und benennt explizit das jeweilige Teilthema. Dabei ist Überschrift 1 derart gewählt bzw. formuliert, dass sie Neugier wecken soll. Diese Formulierungen sind oft nicht auf Anhieb verständlich (z. B. Papier oder Silber), da ihr Referenzbezug zum Teil im Dunkeln oder aber recht vage bleibt; jedenfalls werfen sie oft Fragen auf und zwingen auf diese Art und Weise zur Suche nach weiteren Informationen und somit zum Weiterlesen. Der Rezipient soll sich immer wieder fragen: Was ist eigentlich damit gemeint? Wofür steht der verwendete Ausdruck hier, d. h. in welchem Zusammenhang zum Thema 204 Mikaela Petkova-Kessanlis 13 „Der Rezipient hat Erwartungen im Hinblick auf Texteigenschaften, die die Situation berücksichtigen oder definieren. […] Abweichungen von diesen Erwartbarkeiten (Kon‐ ventionen) wirken stilistisch“ (Sandig 1986: 84). Lexikographie? Es sind Formulierungen, die einen kognitiven Konflikt auslösen und den Leser zur Exploration anregen. Die Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen Überschrift 1 und Überschrift 2 soll ihm Vergnügen bereiten. Infolge des Vollzugs von Verrätseln vor der in wissenschaftlichen Texten er‐ wartbaren Handlung Thema explizit A N KÜN D I G E N ergibt sich eine Retardierung, die (eine gewisse) S P A N N U N G E R Z E U G T . Diese Spannung wird jedoch in den meisten Überschriften nach dem jeweiligen Doppelpunkt aufgelöst. In der Regel offenbart sich der Zusammenhang zwischen Überschrift 1 und Überschrift 2 dem Leser erst nach der Rezeption der ganzen Überschrift. Danach wird auch deut‐ lich, wie Überschrift 1 zu interpretieren ist. Die Rätselauflösung ist in den meisten Fällen möglich, da Überschrift 1 und Überschrift 2 in einer - jeweils anders gearteten - semantischen Relation stehen. So wird in der Überschrift Genau mein Typ: Zur Wörterbuchtypologie eine jeweils andere Bedeutung des polysemen Lexems Typ aktualisiert; der Zusammenhang in der Überschrift Vom Sortieren: Klassifikationstheoretisches kann hergestellt werden aufgrund des se‐ mantischen Merkmals „ordnen“, das sich Sortieren und Klassifizieren teilen. Eine metaphorische Beziehung zwischen Überschrift 1 und 2 liegt vor in den Überschriften Aus der Werkstatt: Die Herstellung von Wörterbüchern und Maß‐ geschneidert: Benutzergruppenorientierte Wörterbücher (für die Bedürfnisse be‐ stimmter Nutzergruppen erstellte Wörterbücher). Zu b): Die zum Vollzug der Handlung Teilthema verrätselnd und /  oder andeu‐ tend A N KÜN D I G E N verwendeten Formulierungen in den betreffenden Über‐ schriften sind stilistisch auffällig. Diese stilistische Auffälligkeit resultiert zu‐ nächst daraus, dass es sich bei einer Reihe der gewählten Ausdrücke um mehr oder weniger konventionalisierte sprachliche Möglichkeiten der Aufmerksam‐ keitssteuerung handelt. So wirken Stilfiguren, Tropen und Phraseme aufgrund ihrer Expressivität textsortenunabhängig mehr oder weniger auffällig. In pro‐ totypischen wissenschaftlichen Texten sind sie jedoch nicht erwartbar und kon‐ trastieren somit mit allen anderen, den wissenschaftssprachlichen Konven‐ tionen folgenden Formulierungen. Je nach verwendeter Formulierung sind infolge des K O N T R A S T I E R E N s unterschiedliche Intensitätsgrade der Auffälligkeit bzw. Markiertheit zu konstatieren. Auffällig, da nicht erwartbar und entsprechend stilistisch wirkend, 13 sind zu‐ nächst Formulierungen, die alltagssprachliche Lexik enthalten und Situations‐ typen aus dem Alltag andeuten, die verschiedenen Frames angehören: Das um‐ 205 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen gangssprachliche Phrasem X ist genau mein Typ (hier verkürzt) (vgl. Bsp. (1)) aktiviert Frames wie Bekanntschaft, Partnerwahl, Partnersuche u. Ä.; die Über‐ schriften Ordnung im Bücherschrank sowie Ein Blick in die Regale (vgl. Bsp. (3), (4)) rufen Wissen ab, das dem Frame Zuhause zuzuordnen ist; mit Überschrift 1 Fair geht vor wird ein Frame aktiviert, der auf den Bereich Sport verweist. Diese Frames des Alltags stehen im Kontrast zum Kommunikationsbereich Wissen‐ schaft. So sind beispielsweise ordnen und sortieren Verben (vgl. Bsp. (2), (3)), die alltägliche Tätigkeiten bezeichnen, während klassifizieren auf eine wissen‐ schaftliche Erkenntnismethode referiert. Einen höheren Auffälligkeitsgrad als die alltagssprachlichen Formulierungen weisen Stilfiguren auf, da sie generell der Ausdruckssteigerung dienen. Ver‐ wendet werden u. a. mehrere Klangfiguren: Neben gefestigten Alliterationen (vgl. Pleiten, Pech und Pannen; kreuz und quer) kommen auch von den Autoren selbst kreierte vor wie Verkürzt, verdichtet, verwiesen; Vom Verweisen und Ver‐ wiesenwerden. Die Überschriften Wörter, Bücher, Wörterbücher sowie Dialekte, Soziolekte, Idiolekte werden jeweils durch ein Homoioteleuton realisiert. Au‐ ßerdem finden Anwendung: die Diäresis (Wörter, Bücher, Wörterbücher: Hier wird der Begriff Wörterbuch, von dem das Kapitel handelt, zunächst in die ihn konstituierenden Unterbegriffe Wörter und Bücher zerlegt, erst danach erscheint der Begriff selbst und wird dadurch besonders hervorgehoben), das Hendiadyoin (kreuz und quer) und das Asyndeton (Hören, Sprechen, Schreiben, Lesen). Auch Tropen wie die Personifikation (vgl.: Wählerisch: Lemmatypbezogene Wörterbü‐ cher: die menschliche Eigenschaft wählerisch wird den lemmatypbezogenen Wörterbüchern zugeschrieben, weil sie eben nur Lexeme erfassen bzw. ent‐ halten, die einem bestimmten Lemmatyp angehören) und Metaphern (vgl. Ana‐ tomie des Verweises, Fenster zur Information) werden gebraucht. Auffällig ist auch eine rhetorische Frage: Nichts Neues aus den Schreib‐ stuben? : Rhetorische Fragen als „Äußerungen mit einer Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem“ (Hoffmann 2017: 150) sind Abweichungen von kommunikativen Standards und gehören zum uneigentlichen Sprachgebrauch, der in wissenschaftlichen Texten als unangemessen gilt und im konkreten Fall (als Mittel zum Vollzug der Handlung Thema A N KÜN D I G E N ) gegen das Explizitheitsgebot verstößt. Die gesteigerte stilistische Wirkung resultiert jedoch aus dem Referieren auf Nicht-Existierendes (mithilfe des Historismus Schreib‐ stuben) und aus der Proposition der rhetorischen Frage, die nahelegt, dass es nichts Neues zu berichten gibt. Sie steht im Kontrast zum Thema, das in diesem Kapitel abgehandelt werden soll: die Aktualität des Themas Lexikographie. Einen hohen Auffälligkeitsgrad weisen auch verschiedene Arten von Phra‐ semen auf. Es kommen vor: Idiome (auf den Zahn gefühlt), Geflügelte Worte 206 Mikaela Petkova-Kessanlis 14 Der Ausdruck ist lexikographisch nicht erfasst. Trotz einer gewissen Verfestigung scheint er kein Phrasem bzw. Geflügeltes Wort zu sein. (Pleiten, Pech und Pannen), Zwillingsformeln (kreuz und quer, von A nach B (kommen)), Kollokationen (zwischen Anspruch und Wirklichkeit), auch Sprich‐ wörter. Noch auffälliger sind allerdings die Phrasemmodifikationen. So wurde das Sprichwort Wer A sagt, muss auch B sagen hier abgewandelt (vgl. Wer A kennt, muss auch B kennen), indem das Verb sagen durch kennen substituiert wurde. Im Geflügelten Wort Es werde Licht ist die Komponente Licht durch das Lexem Wörterbuch substituiert und somit dem Untersuchungsgegenstand an‐ gepasst: Es werde Wörterbuch. Der idiomatische Ausdruck der Teufel steckt im Detail, der in der Bedeutung von ‚gerade Details können problematisch werden bzw. Schwierigkeiten bereiten‘ gebraucht wird, wird derart verändert, dass die nominale und verbale Komponente ersetzt werden durch das wertende Adjektiv gut (Gut im Detail); infolge dieser Modifikation wird die Bedeutung ins Gegenteil gekehrt: Details, in diesem Fall detaillierte Angaben im Wörterbuch, sind etwas Gutes, Positives. Eine starke Phrasemmodifikation stellt auch die Überschrift Nichts Neues aus den Schreibstuben? dar. Das Geflügelte Wort Im Westen nichts Neues mit der Bedeutung ‚es gibt nichts Neues zu berichten‘, ist folgendermaßen verändert: Die Präpositionalgruppe im Westen ist durch die Präpositionalgruppe aus den Schreibstuben substituiert; gleichzeitig wird der Aussagemodus durch den Fragemodus ersetzt. Phrasemmodifikationen dieser Art ist in diesem Text eine gesteigerte stilistische Wirkung zuzuschreiben. Sie ist darauf zurückzu‐ führen, dass Phrasemmodifikationen in zweierlei Hinsicht Abweichungen dar‐ stellen: Als Phraseme, die für wissenschaftliche Texte atypisch sind, stellen sie Abweichungen von kommunikativen Normen dar; als Abwandlungen von (kon‐ ventionell verwendeten) Phrasemen sind sie als Abweichungen von sprachli‐ chen Standards anzusehen (vgl. Hoffmann 2017: 146 ff.). Weniger auffällig, aber wiederum einen Stilwechsel bewirkend, sind Zitate. Die Formulierung in einer Überschrift 1 „Mach du nur einen Plan“  14 z. B. ist eine ironische Aufforderung, die auf die Sinnlosigkeit von Plänen anspielt. Sie fällt auf durch die verwendeten Anführungszeichen, durch den Imperativ, die infor‐ melle Anrede und die Ironie. Eine andere Überschrift 1 lautet: All in one. Mit der Verwendung dieses Aus‐ drucks erfolgt ein Stilwechsel mittels Sprachenwechsel. Der englische Ausdruck ist zwar im Gebrauch (z. B. All-in-One-Printer, All-in-One-PC), ist jedoch im Deutschen (noch) nicht lexikalisiert. 207 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen Zu c): Mittels der verwendeten Kapitelüberschriften erfolgt eine Reihe von Stil‐ wechseln im Text, die en bloc als Wechsel vom fachsprachlichen bzw. wissen‐ schaftlichen Stil zu nicht-wissenschaftlichem bzw. alltagssprachlichem Stil (und umgekehrt) bestimmt werden können. Diesem Stilwechsel untergeordnet sind verschiedene ‚kleinere‘ Stilwechsel. Beispielsweise erfolgt durch den Frame- Wechsel in (3) ein Wechsel privat - öffentlich bzw. persönlich - unpersönlich. In (1) wird auch ein Stilebenen-Wechsel vollzogen. Bei einigen dieser Stilwechsel ist es schwierig zu bestimmen, zu welchem Stil genau gewechselt wird. Dies ist beispielsweise bei den Stilfiguren der Fall. Sie sind sicherlich - als Fälle stilistischer Deviation - im wissenschaftlichen Stil nicht erwartbar. Sie sind aber nicht eindeutig einem Stil zuzuordnen. Typisch sind sie sowohl für die literarische Kommunikation als auch für die Werbe‐ sprache, aber auch für den journalistischen Stil. Die thematisierten Stilwechsel, die in erster Linie durch den Rückgriff auf für den wissenschaftlichen Stil atypische sprachliche Mittel entstehen, haben eine Uneinheitlichkeit des Stils im Text zur Folge. Von vereinzelten Fällen abgesehen (vgl. Bsp. (16), (17)) beginnen in Engelberg /  Lemnitzer (2009) die jeweiligen Ka‐ pitel, indem man unmittelbar nach der Überschrift mit der Abhandlung des in Überschrift 2 explizit angekündigten Themas anfängt. Dabei wird durchgehend wissenschaftlicher Stil verwendet. Da gegen Ende des jeweils vorhergehenden Kapitels auch vom wissenschaftlichen Stil Gebrauch gemacht wird, erfolgen mittels der Kapitelüberschriften immer wieder ‚kurzzeitige‘ Stilwechsel. Diese - hier zweifellos von den Verfassern intendierte - Uneinheitlichkeit wird als „ganz generelle Wirkungsmöglichkeit einer Abweichung“ (Sandig 2006: 157) gezielt eingesetzt, um den Text aufzulockern, ihn L E B E N D I G zu MA C H E N . Dieses L E B E N D I G M A C H E N , das mit einer Dynamik und der daraus resultierenden Abwechslung einhergeht (Handlungen desselben Typs werden immer wieder anders durchgeführt), trägt zum E R Z E U G E N von U N T E R HA L T S A M K E I T bei und wirkt der Monotonie entgegen. Es lässt sich festhalten, dass die Verfasser mit ihrer Titelgestaltung einen für wissenschaftliche Texte ungewöhnlichen rhetorischen Aufwand betreiben. Mit Hoffmann (2017: 180) kann man hier von einem geistreichen Stil sprechen, vgl.: „Imageaufwertend kann auch das Bestreben sein, durch Esprit, Witz, Origina‐ lität zu beeindrucken“. Mit der Verwendung dieses Stils also S T E L L E N sich die Verfasser selbst D A R . Im Folgenden wird darauf nicht eingegangen. In dieser Häufigkeit, in der diese Überschriften in Engelberg / Lemnitzer (2009) auftreten, finden sich Kapitelüberschriften in anderen von mir unter‐ suchten Einführungen nicht. In Bechmann (2016) z. B. werden insgesamt 94 Überschriften (für Kapitel und Unterkapitel) verwendet. Die meisten sind als 208 Mikaela Petkova-Kessanlis 15 Im Originaltext Bechmann (2016) stehen diese Überschriften in Fettdruck, Überschrift 1 ist jeweils zusätzlich durch Kursivschrift markiert. 16 Im Originaltext Pasierbsky / Rezat (2006) stehen die Überschriften der Hauptkapitel immer auf einer separaten Seite in deutlich größerer Schrift als der folgende Text, in Fettdruck; die Konjunktion oder ist durch Kursivschrift markiert. Fragen formuliert und KÜN D I G E N das jeweilige Teilthema explizit A N . In vier Fällen findet sich allerdings das in Engelberg /  Lemnitzer (2009) verwendete Muster ‚Thema zunächst verrätselnd und anschließend eindeutig formulieren‘, vgl.: Zurück in die Zukunft? - Sprachwandel gestern und heute (Bechmann 2016: 126), Mega geil oder erschreckend scharf ? - die Mechanismen des Bedeutungs‐ wandels (ebd.: 213), Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan - werden Wörter besser oder schlechter durch Bedeutungswandel? (ebd.: 232), Von Asterix zu Obelix - verändert sich der Umfang eines Wortes durch Bedeutungswandel? (ebd.: 240). 15 In Schwarz /  Chur (2007) sind fast alle Kapitelüberschriften explizit formuliert und KÜN D I G E N das Thema explizit A N . Umso überraschender wirkt dann folgende witzige Überschrift: Zusammenfassung und Einführung für Eilige, Formelfrust‐ rierte und Mathematikgeschädigte (ebd.: 138; im Originaltext in Fettdruck). In Pasierbsky /  Rezat (2006) wiederum finden sich durchgehend Überschriften mit unterhaltsamer Wirkung. Hier wird aber umgekehrt vorgegangen als in Engel‐ berg /  Lemnitzer (2009): Zunächst wird in den Überschriften der Hauptkapitel das Thema eindeutig formuliert und danach verrätselnd, vgl.: Überreden oder Überzeugen? oder Wie man in China Pferde verkauft (ebd.: 1), Persuasion als Sprachspiel oder Warum man einen Beichtvater hereinlegen kann (ebd.: 23), Be‐ leidigung als Sprechakt oder Wie aus Dr. Rumsfeld Dr. Bumsfeld wurde (ebd.: 97). 16 Frühere Untersuchungen zeigen, dass es für die hier thematisierten Stil‐ wechsel bzw. für die thematisierten sprachlichen Mittel keine Distributionsbe‐ schränkungen gibt, d. h. ihr Vorkommen ist nicht auf Paratexte beschränkt. Es gibt zwar eine Tendenz für ihren Gebrauch in initialen Teiltexten, aber sie können in der Tat an einer beliebigen Stelle im Haupttext verwendet werden. Letzteres gilt für die Verwendung von Phrasemen der Gemeinsprache (vgl. Pet‐ kova-Kessanlis 2019), für Phrasemmodifikationen und Stilfiguren (Petkova- Kessanlis 2015: 130 ff.) und für den Gebrauch von Ausdrücken der unterneut‐ ralen Stilebene (vgl. Petkova-Kessanlis 2015: 129 f.; Petkova-Kessanlis 2017: 179 ff., 186). Klangfiguren dagegen scheinen für Überschriften prädestiniert zu sein und finden in anderen Teiltexten keine Anwendung. 209 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (6) 4 Unterhaltsames INFORMIEREN Im Folgenden werden Mittel zur Erzeugung von Unterhaltsamkeit in Einfüh‐ rungen aufgeführt. Systematisiert sind diese Mittel hier durch die Zuordnung zu einer Art Stilwechsel. Überschneidungen bzw. Überlappungen von Stilwech‐ seln habe ich an dieser Stelle zu analytischen Zwecken ausgeklammert. So be‐ wirkt beispielsweise die Verwendung eines Witzes einen Textsorten-Wechsel, der mit einem Wechsel der Kommunikationsmodalität (ernst - unernst), mit einem Wechsel der Realisationsform (mündlich - schriftlich), mit einem Wechsel des Handlungstyps (z. B. M I T T E I L E N - E R ZÄH L E N ), mit einem Stilebenen-Wechsel etc. einhergeht. Hier wird nur der „übergeordnete“ Stilwechsel berücksichtigt. 4.1 Stilwechsel mittels Textsorten-Wechsel Der Stilwechsel erfolgt bei dieser Handlungsdurchführung, indem ein Text, der einer Textsorte mit Unterhaltungspotenzial angehört, in einem Teiltext der Ein‐ führung verwendet wird. Ein derartiger Vollzug kann überall im Text statt‐ finden, es scheint aber eine Tendenz zu geben für den Gebrauch solcher Texte in initialen Teiltexten. Die Textsorten, die dazu instrumentalisiert werden, Un‐ terhaltsamkeit in Einführungen zu erzeugen, sind in der Regel Witz, Anekdote, Scherzgedicht. Witze sind eine Textsorte der Scherzkommunikation, die prototypisch münd‐ lich ist (vgl. Kotthoff 1995: o. S.). Ihre primäre Funktion ist „die des Erheitern‐ wollens (Zum-Lachen-Bringens)“ (Hoffmann 2001: 140). Diese Unterhaltungs‐ funktion erfüllen sie auch in den hier untersuchten Texten. Sie können und werden allerdings dazu instrumentalisiert werden, um andere, textinterne Funk‐ tionen zu erfüllen. In linguistischen Einführungen können sie am Anfang eines Teiltextes positioniert oder im Textzusammenhang verwendet werden. Im ersten Fall stehen sie in der Regel unmittelbar nach der Teiltext-Überschrift und werden nicht metakommunikativ angekündigt. So finden sich z. B. in Kap. 2.2 Semantische Relationen in der Einführung Semantik von Schwarz /  Chur (2007) zwei Realisierungen, vgl.: Ambiguität Sagt ein Arbeiter zu seinem Kollegen: „Alle Zebrastreifen sollen neu gestrichen werden.“ Sagt der Kollege: „Mann, da haben die im Zoo aber viel zu tun.“ Die Wirkung dieses Witzes beruht auf der Mehrdeutigkeit (Ambiguität) des Wortes Zebrastreifen (einmal als Markierungszeichen auf einer Straße, ein andermal als spezifische Eigenschaft von Zebras). (Schwarz /  Chur 2007: 56; Hervorhebungen im Orig.) 210 Mikaela Petkova-Kessanlis (7) Dieser Teiltext ist überschrieben mit der Zwischenüberschrift Ambiguität. Zur Formulierung der Überschrift wird also ein linguistischer Terminus verwendet, der bei den Rezipienten die Erwartung auf einen fachsprachlichen bzw. wissen‐ schaftssprachlichen Stil weckt. Unmittelbar nach der Überschrift erfolgt ein ab‐ rupter Stilwechsel mittels Textsortenwechsel. Da Witze genuin zur Alltagskom‐ munikation gehören, erfolgt hier ein Wechsel von Fachstil zu Alltagsstil, auch ein Wechsel vom schriftlichen zum mündlichen Stil. Aufgrund der primären kommunikativen Funktion der Textsorte Witz kommt es zusätzlich zu einem Wechsel der Kommunikationsmodalität: von ernsthaft zu scherzhaft. Solange der Rezipient den dem Witz folgenden Text nicht rezipiert (hat) bzw. nicht wei‐ terliest, hat der Text und damit auch der stattgefundene Stilwechsel eine ‚reine‘ Unterhaltungsfunktion, d. h. eine poetisch-ästhetische Funktion (vgl. Hoffmann 2001: 140). Sie wird hervorgerufen einerseits durch die Überraschung infolge des Stilwechsels, andererseits durch die Wirkung des Witzes. Rezipienten, die über Kenntnisse im Bereich der Semantik verfügen, erkennen jedoch schnell, dass der Witz hier eine exemplifizierende Funktion zu erfüllen hat. Der anvi‐ sierten Adressatengruppe wird jedoch dieses Wissen von der Verfasserin nicht unterstellt. Sie E R LÄU T E R T , wodurch die Wirkung des Witzes hervorgerufen wird, indem sie den Terminus Ambiguität einführt, und benennt beide im Witz aktualisierten Bedeutungen des Wortes Zebrastreifen. Im selben Kapitel unter der Überschrift Antonymie ist folgender Witz posi‐ tioniert: Kommt eine Frau mit ihrer kleinen Tochter zum Orthopäden und sagt: „Nun stell dich mal schön gerade hin, damit der Onkel Doktor sehen kann, wie krumm du bist.“ (ebd.: 58) Diesem Witz folgt eine Definition des Begriffs Antonymie: Die Antonymie ist eine semantische Relation zwischen zwei Wörtern, deren Bedeutungen im Gegensatz stehen, doch lassen sich hier Zwischenstufen finden: […] Gerade und krumm scheinen zunächst keine Zwischenstufen zu‐ zulassen. Entweder etwas ist gerade oder es ist krumm. (ebd.) Auch hier wird mittels des Witzes E X E M P L I F I Z I E R E N vollzogen. Der Unterschied zu der Realisierung oben besteht darin, dass die Autorin im Folgenden nur die Adjektive gerade und krumm aufgreift, um die semantische Beziehung zwischen ihnen aufzuzeigen. Eine ganz andere Funktion erfüllt ein Witz am Anfang eines Kapitels mit der Überschrift Universalien in Theisens Einführung Kontrastive Linguistik, vgl.: 211 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (8) Treffen sich zwei Heringe. Sagt der eine: „Hi! “ Der andere erschrocken: „Wo? ! “ Dass Fische in Wirklichkeit nicht sprechen können, ist sprichwörtlich, im Gegensatz z. B. zu Papageien. Aber auch andere Vögel können immerhin etwas, was „Singen“ genannt wird, und Hunde können bellen, Pferde wie‐ hern, und eine Kuh macht „Muh“. All diese Laute haben für andere Vögel, Hunde, Pferde und Kühe (sehr wahrscheinlich) so etwas wie eine Bedeu‐ tung; man kann auch sagen: Diese (und viele andere) Tiere verfügen über eine Sprache, sogar wenn es so gut wie lautlos zugeht wie bei den Bienen, die mit ihren Tänzchen den Stockgenossinnen den Weg zur nächsten Ap‐ felwiese beschreiben. Und die Heringe? Dass sich genau zwei von ihnen begegnen, ist höchst unwahrscheinlich, denn Heringe sind Schwarmfische, und als solche schwimmen sie niemals allein, sondern stets zu Tausenden oder gar Millionen in sehr dicht gedrängten Gruppen, die eine höchst in‐ teressante Eigenschaft haben: Schwärme bewegen sich wie ein einziger Organismus, ohne dass sich die einzelnen Individuen gegenseitig behin‐ dern. Anrempeln, wie bei Menschen auf Weihnachtsmärkten, gibt es nicht. Die kommunikativen Möglichkeiten von Heringen mögen sehr be‐ schränkt, ihre Sprache höchst rudimentär sein: In mindestens dieser einen Hinsicht hat sie menschlicher Sprache aber etwas voraus. Wenn man von „menschlicher Sprache“ spricht, ist damit gemeint, dass alle menschlichen Sprachen etwas Gemeinsames haben - diese Gemeinsam‐ keiten sind sprachliche Universalien. Welche das genau sind, darüber wird gestritten. Manches steht jedoch durchaus fest. Um mit dem Fundamen‐ talsten zu beginnen, was menschliche Sprache allerdings auch mit allen tierischen Sprachen gemeinsam hat: Sie funktionieren in der Zeit. Anders als ein Bild hat jede sprachliche Äußerung einen Anfang und ein Ende. In der Heringssprache ist dieses Universale selbstverständlich ebenfalls rea‐ lisiert, wenn auch mit sehr starker Tendenz zur Punktualität: Es gibt unter Heringen keine fortlaufenden Äußerungen, sondern immer nur momen‐ tane, allerdings ca. siebenfache wechselseitige Versicherungen darüber, wie schnell und in welche Richtung jeder einzelne von ihnen sich zu be‐ wegen hat, damit alle zusammen möglichst eng beisammen bleiben und in derselben Geschwindigkeit in derselben Richtung schwimmen, ohne über‐ einander zu stolpern und sich die Flossen zu verletzen. Von hier aus stellt sich bereits eine andere, für die KL sehr wichtige Frage: die nach dem Verhältnis zwischen Kommunikation und Sprache, genauer nach dem Stellenwert von Sprache innerhalb der Kommunikation. (Theisen 2016b: 8 f.) 212 Mikaela Petkova-Kessanlis (9) (10) Der Verfasser nutzt hier den Witz und sein Unterhaltungspotenzial, um sehr langsam in das zu behandelnde Thema einzuführen. Er macht die Heringe zum Thema und vergleicht ihre Art zu kommunizieren sowie ihre Verhaltensweise mit der menschlichen Kommunikation bzw. Sprache. Dabei vermittelt er in erster Linie Informationen über die Lebensweise der Heringe und weist auf die Fiktionalität im Witz (Heringe können nicht sprechen, leben in Schwärmen etc.) hin, die ebenfalls unterhaltsam wirkt. Auch konstruierte Kurzgeschichten bzw. Situationsausschnitte können einen Unterhaltungswert haben. Dieser Unterhaltungswert kann sich z. B. ergeben, wenn in einem Text ein Beispiel verwendet wird, das überraschend und auffällig ist. So erläutern Ehrhardt /  Heringer das Gelingen perlokutionärer Akte u. a. fol‐ gendermaßen: Einer sagt zu mir: […] Du Idiot! Dann stellt der Richter fest: Er hat mich beleidigt. Ich bin aber gar nicht beleidigt, weil ich mich von Idioten nicht beleidigen lasse. Die Perlokution ist nur gelungen, wenn der Partner mitspielt. (Ehrhardt /  Heringer 2011: 60) Überraschend, weil in diesem Kontext nicht zu erwarten, sind die Illustration an einem aggressiven Sprechakt, die Realisierung mittels eines umgangssprach‐ lichen abwertenden Lexems, die Adressierung des Sprechakts (der Sprecher, also der Autor, wird beleidigt). Eine überraschende Wirkung hat auch die Reaktion des Sprechers, der den Sprecher im Beispiel anschließend zurückbeleidigt. Die Textsorte Anekdote hat wie der Witz eine intendierte unterhaltsame Wirkung. Sie entsteht dadurch, dass in der Anekdote etwas Interessantes - das nicht unbedingt wahr sein muss - von einer Persönlichkeit E R ZÄH L T wird. Da es sich in der Regel um Inhalte handelt, die nicht allgemein bekannt sind und für die es keine vertrauenswürdigen Quellen gibt, weckt sie Neugier. Dadurch, dass sie - wie der Witz - mit einer Pointe endet, E R Z E U G T sie zusätzlich S P A N ‐ N U N G . Hierbei handelt es sich um Handlungsdurchführungen, bei denen - abwei‐ chend von für wissenschaftliche Texte typischen Handlungstypen, mit deren Hilfe man auf Forscher Bezug nimmt, wie z. B. auf Fachliteratur V E R W E I S E N , über Forschungsergebnisse B E R I C H T E N oder Z I T I E R E N - etwas Persönliches bzw. Bio‐ graphisches über eine/ n Wissenschaftler/ in E R ZÄH L T wird, vgl.: Einer Anekdote zufolge soll WHORF, der sein Leben lang als Versiche‐ rungsbeamter arbeitete und sich auch bei der Erforschung der Maya-Hie‐ roglyphen Verdienste erwarb, auf den Gedanken der „sprachlichen Rela‐ tivitätstheorie“ gestoßen sein, als er einen Schadensfall abwickelte, der 213 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (11) dadurch entstanden war, dass ein Arbeiter eine noch glosende Zigarette in ein scheinbar leeres, aber mit explosivem, unsichtbarem Gas gefülltes Fass warf. WHORF wurde bewusst, dass für den Mann das Fass „leer“ war, weil er das unsichtbare Gas nicht sehen konnte, d. h., er interpretierte die Welt anhand des Wortes leer, obwohl es in Wirklichkeit gar nicht ,leer‘ war. Die Sprache hatte ihn also dazu verleitet, die Welt in einer be‐ stimmten, in diesem Fall für ihn nachteiligen Weise zu interpretieren. (Ernst 2011: 261) Deutlich seltener kommt es jedoch vor, dass man den Text mit einem Unterhal‐ tungsversuch langsam ausklingen lässt. So endet beispielsweise ein Kapitel zum Thema Deixis in der Einführung von Peter Ernst folgendermaßen: Eine Anekdote mit „angewandter Deixis“ ist vom Wiener Schriftsteller ALFRED POLGAR (1873-1955) überliefert. Er wurde bei seinen regelmä‐ ßigen Besuchen im Café Griensteidl von einem begeisterten Verehrer, der ihm zunehmend lästig wurde, geradezu verfolgt. Einmal, als sich Polgar zum Gehen aufmachte, fragte ihn der Übereifrige: „In welche Richtung gehen Sie, Meister? “, um ihn ein Stück des Weges begleiten zu können. Polgar kühl: „In die andere.“ (Ernst 2011: 240 f.) 4.2 Stilwechsel durch das Verwenden eines Mottos bzw. eines Zitats Motti sind Paratexte, die unterschiedlichen Stilen und /  oder unterschiedlichen Textsorten angehören können. Ihnen kann generell, d. h. unabhängig davon, welcher Textsorte sie angehören und aus welchem Kommunikationsbereich sie stammen, eine Unterhaltungsfunktion unterstellt werden. Denn das Aufdecken des Zusammenhangs zwischen Überschrift, Motto und folgendem Text kann dem Rezipienten Vergnügen bereiten. Als Motti fungieren in den hier unter‐ suchten Texten häufig Aphorismen, Sentenzen, Bonmots, (kurze) Zitate aus li‐ terarischen oder wissenschaftlichen Texten u. a. Solche finden sich z. B. in Schwarz /  Chur (2007) durchgehend, ebenfalls in Engelberg /  Lemnitzer (2009), in Bechmann (2016) immer nach der Überschrift eines Hauptkapitels. Motti an sich müssen aber nicht unterhaltsam sein: So fungieren in Engelberg /  Lemnitzer (2009) in mehreren Fällen (Auszüge aus) Wörterbuchartikel(n) als Motti. Hier zwei Beispiele für Motti in Unterhaltungsfunktion: Nach der Kapitelüberschrift Deixis stehen in Schwarz /  Chur (2007: 95) zwei Motti: 214 Mikaela Petkova-Kessanlis (12) (13) „Wer ist da? “ - „Nur ich.“ - „Oh, das ist überflüssig genug! “ (Lichtenberg) Was wir jetzt und hier haben, merken wir wohl am wenigsten … Man kann auch sonderbar aufs Hier und Da kommen, das ist nie weit von uns.“ (Ernst Bloch) Hier besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem angekündigten Thema des Kapitels und den in den Motti verwendeten deiktischen Formen. Die Motti sind aber auch per se unterhaltsam: Im ersten Motto aufgrund des über‐ raschenden Kommentars des Sprechers, im zweiten durch das Widersprüch‐ liche, das Irritation auslöst und nachdenklich macht. 4.3 Stilwechsel durch Wechsel des Realitätsbezugs: F IK TIO NALISI E R E N - E N T FIK TIO NALISI E R E N Im zweiten Kapitel seiner Einführung in die Varietätenlinguistik mit dem Titel Schlüsselwörter der Varietätenlinguistik, in dem „der Gegenstandsbereich struk‐ turiert und übersichtlich geordnet“ werden soll, KÜN D I G T Felder (2016: 20) die Durchführung der Handlungen T E R MI N I E I N F ÜH R E N und T E R MI N I E R LÄU T E R N A N . Zusätzlich KÜN D I G T er A N , dass er sich beim Vollzug dieser beiden Handlungen einer anderen Handlung bedienen wird: der des biografischen E R ZÄH L E N s: In diesem Kapitel werden zentrale Termini der Varietätenlinguistik vor‐ gestellt und erklärt […]. Die Darlegung der einschlägigen Termini bedient sich der folgenden Idee: Ich nehme einen fiktiven und idealtypisch skizzierten Lebenslauf eines Menschen von der Geburt bis ins Er‐ wachsenenalter zum Anlass, um davon ausgehend prinzipiell denkbare Begegnungen eines Individuums mit verschiedenen Sprachgebrauchsformen der Muttersprache (also Varietäten) pro‐ totypisch nachzuzeichnen und zu charakterisieren […]. Diese Figur meiner fiktiven Sprachbiographie nenne ich Lilo Lingue. Die Beschreibung und Erfassung von Sprachgebrauchsformen, die in den vielfältigen Lebenszusammenhängen eines Menschen eine Rolle spielen können, basieren auf Unterscheidungen, die in Fachtermini gefasst werden können und dessen [sic! ] Beherrschung die genaue Charakteri‐ sierung aller vorkommenden sprachlichen Erscheinungsformen ermög‐ licht. (Felder 2016: 20; Hervorhebungen M. P.-K.) Das A N KÜN D I G E N des biografischen E R ZÄH L E N s hat hier eine - auf den nachfol‐ genden Text bezogene - attraktivmachende Funktion. Es ist aber gleichzeitig das A N KÜN D I G E N von Unterhaltsamkeit. Das, was der Verfasser in diesem Kapitel tut, ist - neben der Durchführung der dominierenden Handlungen T E R MI N I 215 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 17 Zur Unterscheidung zwischen absurden, fantastischen und realistischen Fiktionen vgl. Steen (2012: 80; 2018: 266). „Realistische Fiktionen beinhalten nur Elemente, die in der Alltagswirklichkeit als möglich erscheinen“ (Steen 2018: 266). E I N F ÜH R E N und E R LÄU T E R N - das Konstruieren einer Sprachbiografie. Dies wirkt insofern interessant, als Sprachbiografien in der Regel nicht schriftlich festge‐ halten werden und demzufolge nicht einfach greifbar bzw. kaum zugänglich sind. S P A N N U N G E R Z E U G T bereits hier die Erwartung, dass es im Rahmen der Erzählung einen Handlungsablauf bzw. eine Entwicklung geben wird. Für Un‐ beschwertheit sorgt die Fiktionalität der Sprachbiografie. Damit erfolgt eine „Lockerung des Realitätsbezuges“ (Steen 2018: 268), die in diesem Kontext über‐ raschend wirkt. Es handelt sich allerdings nicht um eine absurde oder fantasti‐ sche Fiktion, sondern um eine realistische. 17 Diese realistische Fiktion wirkt also als mit der Wirklichkeit kompatibel, macht das Erzählte glaubwürdiger und somit interessanter, da es tatsächlich so passiert sein könnte. Ein wenig über‐ raschend im Rahmen dieser realistischen Fiktion ist, dass der Name der fiktiven Figur kein realer, existenter, sondern ein vom Verfasser erfundener ist. Die fik‐ tive Figur trägt den klangvollen Namen Lilo Lingue (vgl. die Alliteration). Durch die Namensgebung wird diese Person für die Rezipienten identifizierbar. Da der Nachname nicht willkürlich gewählt ist, kann man ihn zu der Subklasse der literarischen Namen rechnen. Literarische Namen „dienen in den Geschichten und Romanen nicht nur dazu, Größen zu identifizieren, sondern werden gezielt gewählt oder geschaffen, um bestimmte Bedeutungs- und Assoziationsaspekte zu vermitteln, die im Zusammenhang mit den Referenten zu sehen sind“ (Elsen 2007: 152). Im vorliegenden Fall ist der Nachname Lingue ein sprechender Name: Er deutet auf Sprache bzw. Sprachen hin. Aufgrund des fremdsprachigen Klanges ist er zudem auffällig und kann deswegen memoriert werden. Bei dem Vornamen Lilo dagegen sind verschiedene Assoziationen bzw. personenbe‐ dingte Konnotationen möglich. Im Laufe des Kapitels, das 38 Seiten umfasst und in sechs Unterkapitel ge‐ gliedert ist, referiert der Autor insgesamt 19-mal auf die fiktive Figur Lilo Lingue. Die Sachverhaltsdarstellung bzw. Themenabhandlung ist ansonsten, d. h. über‐ wiegend in einem wissenschaftlichen Stil mit einem niedrigen Fachsprachlich‐ keitsgrad gehalten: Die Darstellung erfolgt unpersönlich, distanziert; die Kom‐ munikationsmodalität ist ernst, tatsachenbetont, sachlich; die dominierende Texthandlung ist I N F O R MI E R E N . Nur stellenweise wird dieser Handlungsvollzug unterbrochen durch Handlungen verschiedenen Typs, die in ihrer Gesamtheit dem Handlungstyp fiktives biografisches E R ZÄH L E N und damit der Handlung F I K T I O N A L I S I E R E N 18 zuzuordnen sind. Diese Handlungen fungieren dann als „Fik‐ 216 Mikaela Petkova-Kessanlis 18 Vgl. Steen (2018: 264), die das Fiktionalisieren als eine sprachliche Handlung betrachtet: „Fiktionalisieren ist der Prozess des fiktionalen Erzählens oder Darstellens“. (14) tionalisierungsindikatoren“ (Steen 2018: 268) und bewirken jedes Mal einen Stilwechsel, vgl.: 1. Innere Mehrsprachigkeit und Standardsprache […] Nonverbale Kommunikation und die Wahrnehmung der Muttersprache [Zwischentitel] Beginnen wir den fiktiven Lebenslauf von Lilo Lingue unmittelbar nach der Geburt. Zunächst erfährt ein Säugling seine Umwelt durch vielfältigen körperlichen Kontakt, der flankiert ist von Sinneswahrneh‐ mungen wie Lauten, Geräuschen und Gerüchen. […] In der Kinderkrippe oder im Kindergarten - so setzen wir den fiktiven Lauf der einsprachig erzogenen Lilo fort - ist das Kind spätestens fähig, Sprachbewusstheit zu entwickeln […] Die Muttersprache lässt sich in frühkindlichen Entwicklungsstadien von Fremdsprachen dadurch ab‐ grenzen, dass die Kommunikation (obgleich es im Duktus und Habitus der Sprecher wie eine Sprache wirkt) nicht verstanden wird. Damit wird im kognitiven Wissens- und Erfahrungsschatz von Lilo Lingue die Skala verstehbar versus nicht verstehbar als ein zentrales Merkmal mensch‐ licher Kommunikation aufgespannt. […] Unsere Protagonistin Lilo Lingue kann wie viele Kinder gegebe‐ nenfalls auch mitbekommen, wie die eigenen Eltern beispielsweise am Telefon ein professionelles Gespräch mit einer Kollegin oder einem Kollegen führen. Nach Beendigung des Telefonats bedienen sich die El‐ tern im familiären Gespräch der Alltagssprache. In diesem Szenario lassen wir noch die Großmutter anrufen, die mit den Eltern Mundart spricht […]. Damit wird Kindern wie Lilo das Code-Switching, also der Wechsel zwischen verschiedenen Varietäten in Abhängigkeit der jeweiligen Si‐ tuation vorgelebt. […] In diesem Fall spricht man von äußerer Mehrspra‐ chigkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass […]. […] Herkömmlich denkt man bei dem Wort Mehrsprachigkeit zuerst an die äußere (schließlich ist diese auch ein ganz zentraler Baustein im schulischen Curriculum, wie gegebenenfalls unsere Protagonisten [sic! ] Lilo Lingue bei der Wahl der Fremdsprachenkombination erlebt). […] 2. Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Multimedialität 217 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen Betrachten wir im Folgenden - um den fiktiven Lebenslauf von Lilo Lingue nach Schuleintritt fortzusetzen - die Interaktionsformen zwi‐ schen Schülern und Jugendlichen, die mittels elektronischer Telekom‐ munikationsgeräte stattfinden. […] Unsere fiktive Protagonistin Lilo Lingue erfährt die kaum regle‐ mentierenden Sprachgebrauchsformen einerseits als befreiend, weil sie außerhalb des Einflussbereiches der Lehrkräfte und Eltern stehen. Andererseits ist sie dort aber auch Menschen mit vorgetäuschter Identität und mitunter unlauteren oder gar kriminellen Inten‐ tionen ausgesetzt, die das Vertrauen von Kindern und Teenagern im Netz erschleichen (und dies mit teilweise schlimmen Folgen). […] Kommunikation der Nähe und Distanz in Abhängigkeit von Situations‐ typen [Zwischentitel] […] Um die beiden Pole des Nähe- /  Distanz-Kontinuums mit je einem Beispiel zu versehen, stelle ich mir im fiktiven Lebenslauf von Lilo Lingue die Situation vor, dass sie auf dem 80. Geburtstag ihrer Groß‐ mutter eine Tischrede halten soll (Situationstyp Nähe) und anschließend für den Deutschunterricht noch einen Erörterungsaufsatz zum Thema „Sinn und Unsinn familiärer Traditionspflege“ verfassen muss (Distanz‐ kommunikation). Damit soll der Ansatz von Koch /  Österreicher [sic! ] deutlich geworden sein: […]. (Felder 2016: 21 ff.; Kursivierung im Orig.; Fettdruck M. P.-K.) Wie der Textauszug zeigt, erfolgen hier Stilwechsel, indem das I N F O R MI E R E N stellenweise unterbrochen wird, damit Fiktionalität in den Text transportiert wird. Auf diese Art und Weise wechseln sich im Text faktuales /  entfiktionali‐ sierendes I N F O R MI E R E N und F I K T I O N A L I S I E R E N ab. Beim F I K T I O N A L I S I E R E N imagi‐ niert der Verfasser quasi vor den Augen der Leser, entwirft verschiedene Sze‐ narien, an denen die fiktive Person Lilo Lingue beteiligt ist und regt die Phantasie des Lesers und somit zur Reflexion an. Das F I K T I O N A L I S I E R E N vermittelt zusätz‐ lich den Eindruck, dass die dargebotenen Informationen mit Leichtigkeit auf‐ genommen werden können, vgl. Klein (1997: 183): Fiktionalität legt die Mög‐ lichkeit nahe, unbeschwert mit Ernsthaftem umzugehen. Das F I K T I O N A L I S I E R E N , vollzogen mittels biografischen E R ZÄH L E N s, dient der Exemplifizierung und damit der Konkretisierung: Das Dargelegte wird für die Rezipienten anschaulich und somit eingängig gemacht. Das K O N K R E T I S I E R E N erfolgt aber immer im Rahmen der Handlung F I K T I O N A L I S I E R E N . Beim I N F O R M I E R E N werden immer ge‐ neralisierende Aussagen gemacht (vgl. z. B. ein Säugling, das Kind). Wichtig ist 218 Mikaela Petkova-Kessanlis (15) allerdings, dass sowohl das K O N K R E T I S I E R E N als auch das G E N E R A L I S I E R E N dem Leser einen Vergleich zwischen den verschiedenen Stufen im Spracherwerbs‐ prozess generell sowie bei Lilo und seinen eigenen sprachbiografischen Erfah‐ rungen ermöglichen. Dies macht den Text für ihn besonders interessant, regt auch zum reflexiven Handeln an. Die Stilwechsel (faktuales I N F O R MI E R E N  /  E N T F I K T I O N A L I S I E R E N - F I K T I O N A ‐ L I S I E R E N , K O N K R E T I S I E R E N - G E N E R A L I S I E R E N ) machen den Text lebendig und er‐ zeugen Abwechslung. Wie bereits erwähnt wurde, werden in diesem Kapitel T E R M I N I E I N G E F ÜH R T und E R LÄU T E R T . D. h. im Rahmen des Gesamttextes hat dieser Teiltext eine besondere Gewichtung. Denn das Verständnis an dieser Stelle des Textes sichert die möglichst reibungslose Rezeption der weiteren Teil‐ texte. Dies erklärt auch den Mehraufwand des Autors, der durch das Einflechten von Handlungen des Typs F I K T I O N A L I S I E R E N den Leser unterhaltsam zu I N F O R ‐ MI E R E N versucht. Dies geschieht nur in diesem Kapitel. Ein anders gelagerter Fall ist der folgende: Die oben verwendete Methode des Umschreibens, auch Paraphrasieren genannt, ist ein praktisches Hilfsmittel, um sich und anderen die Bedeu‐ tung von Wörtern und Sätzen mithilfe von anderen Wörtern und Sätzen zu verdeutlichen. Wer zum Beispiel nicht weiß, was ein Fopper und was besummen ist, der kann sich dies von Ford Prefect wie folgt erklären lassen. „Ganz einfach, ein Fopper hat mich mitgenommen? “ „Ein Fopper? “ […] „Fop‐ pers sind Kinder reicher Leute, die nichts zu tun haben. Sie zischen in der Gegend rum und suchen nach Planeten, die noch keine interstellaren Verbin‐ dungen haben und besummen sie.“ „Besummen sie? “ […] „Sie suchen sich eine abgelegene Gegend […], dann landen sie direkt vor den Augen eines nichts‐ ahnenden Trottels, dem niemand jemals glauben wird, stolzieren mit albernen Antennen auf dem Kopf vor ihm auf und ab und machen piep piep.“ (Aus: Dou‐ glas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis) Paraphrasen können unsere Intuitionen über die Bedeutung sprachlicher Aus‐ drücke mehr oder weniger präzise umschreiben, sie liefern aber keinen Auf‐ schluss darüber, was Bedeutungen sind. (Geilfuß-Wofgang in Meibauer u. a. 2015: 165) In diesem Fall E X E M P L I F I Z I E R T der Verfasser das Paraphrasieren an den Bedeu‐ tungserläuterungen einer fiktiven Romanfigur. Überraschend und Interesse bzw. Neugier weckend ist nicht nur, dass eine fiktionale Geschichte dafür in‐ strumentalisiert wird, sondern auch dass ein Außerirdischer die Bedeutungen 219 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen 19 Brünner /  Gülich (2002) untersuchen, wie Experten mit Laien über Krankheiten spre‐ chen, wie Ärzte und Laien einander krankheitsbezogenes Wissen vermitteln und dabei von verschiedenen Veranschaulichungsverfahren Gebrauch machen. (16) von Wörtern erläutert, die ganz andere konventionelle Bedeutungen haben als diese, die im Roman den Wörtern zugeschrieben werden. E X E M P L I F I Z I E R E N ist eine Handlung, die die Texthandlung I N F O R M I E R E N unterstützt. Diese subsidiäre Handlung zielt darauf, Sachverhalte V E R S TÄN D L I C H zu MA C H E N und erfüllt hier ihre Funktion. Das vom Textproduzenten ausgewählte Beispiel hat - zusätzlich - die Funktion, die Leserschaft zu unterhalten. 4.4 Stilwechsel mittels A U F F O R D E R N zum I MA G INI E R E N : ein Szenario entwerfen Es kann sein, dass zum Zwecke des V E R S TÄN D L I C H M A C H E N s, aber auch der Un‐ terhaltung, die Rezipienten A U F G E F O R D E R T werden zu imaginieren. Dies ge‐ schieht in vom Textproduzenten entworfenen Szenarios. Brünner / Gülich (2002: 36) haben in einem anderen Zusammenhang 19 derartige Handlungsdurchfüh‐ rungen als „verständnissichernde Szenarios“ eingestuft. Szenarios sind „verbale Entwürfe einer vorgestellten, kontrafaktischen Situation, wobei Ereignisse und Handlungen des Adressaten verbal geschildert und mehr oder weniger stark ausgemalt werden“ (ebd.). In Engelberg /  Lemnitzer (2009) finden sich z. B. fol‐ gende Beispiele dafür: Nachschlagewerke. Nehmen Sie an, Ihre Freundin Rebecca erzählt Ihnen, Sie hätte den „Malteser Falken“ von Dashiell Hammett gekauft; das sei ein toller Krimi; wenn man einmal angefangen habe, könne man ihn gar nicht mehr aus der Hand legen. Sie werden wohl zu Recht vermuten, dass das Leseabenteuer Ihrer Freundin mit der ersten Seite des Buches be‐ gonnen und mit der letzten aufgehört hat. Kaum anzunehmen ist, dass sie es den ganzen Abend benutzt hat, um mal nachzuschauen, wer eigentlich die Malteser Ordensritter waren, was Sam Spade von Beruf war oder was eigentlich Malteser bedeutet - obwohl sie über all das durchaus etwas in dem Buch erfahren könnte. Eine solche Nachschlagehandlung würden Sie dagegen zu Recht vermuten, wenn Rebecca Ihnen mit ähnlicher Begeis‐ terung von der Brockhaus-Enzyklopädie […], Kindlers Literaturlexikon […] oder vom zehnbändigen Duden […] erzählt hätte. Ein Roman ist eben kein […] Nachschlagewerk […]. Gemeinsam ist Roman und Nachschlagewerk nur, dass es von der Qualität der Werke abhängt, ob wir uns über die mit ihnen verschwendete Zeit ärgern oder - wie beim „Malteser Falken“ - das Buch vor Begeisterung gar nicht mehr aus der Hand legen können. Dass auch die Lexikographie ihre „Malteser 220 Mikaela Petkova-Kessanlis (17) Falken“ hat, werden wir im Laufe dieser Einführung hoffentlich noch sehen. (Engelberg /  Lemnitzer 2009: 5 f.) Die Verfasser F O R D E R N hier die Rezipienten explizit zum I MA G I N I E R E N A U F , un‐ terstellen ihnen aber auch eine Reihe von Handlungen (Vermutungen) und auch Emotionen (Interesse, Begeisterung) im Rahmen der von den Verfassern er‐ dachten kontrafaktischen Situation. Die Rezipienten selbst sind in diese Situa‐ tion und auch in den Handlungsverlauf involviert. Durch dieses Involviertsein erfolgt ein gewisses Spannungserleben, das unterhaltsam wirkt. Die handelnde Person - so wollen es die Verfasser - steht in einer Nähe-Beziehung zum Rezi‐ pienten. Die Verwendung des Vornamens signalisiert Vertrautheit. Es kommt aber auch vor, dass die Rezipienten gar nicht aufgefordert werden, sich eine bestimmte Situation vorzustellen. Die Verfasser involvieren sie in das Geschehen dann quasi ohne Vorwarnung, unvorbereitet. Im folgenden Fall schildern sie eine Situation, an der der Rezipient beteiligt gewesen sein soll: Beim letzten Waldspaziergang haben Sie aus reinem Interesse ein paar Pilze mit nach Hause gebracht und wundern sich, wie wenig Sie über Pilze wissen. In einer Enzyklopädie finden Sie heraus, dass Pilze chlorophyll‐ freie Pflanzen sind, die sich über Sporen vermehren und deren Vegetati‐ onskörper aus feinen Fäden (Hyphen) besteht, die sich unsichtbar im Nährboden verzweigen oder als Schimmel auf seiner Oberfläche er‐ scheinen. Sie möchten das aber doch etwas genauer wissen und besorgen sich ein Handbuch über Pilze. Das bietet zwar detaillierte Informationen, aber um die Pilze zu bestimmen, die Sie gefunden haben, brauchen Sie ein Pilzbestimmungsbuch, und um die Köstlichkeiten in ein Mittagessen zu verwandeln, werden Sie ein Pilzkochbuch heranziehen. Falls Sie sich später auch noch über Pilzvergiftungen informieren möchten, werden Sie vielleicht eine Medizinenzyklopädie konsultieren. Das alles können Sie tun, weil Sie wissen, dass detaillierte Informationen über ein bestimmtes Thema nicht unbedingt in einer allgemeinen Enzyklopädie, sondern eher in Spezialnachschlagewerken zu erwarten sind. Die Existenz einer Fülle solcher Nachschlagewerke mit Informationen zu verschiedensten bota‐ nischen, kulinarischen und medizinischen Aspekten von Pilzen wird auch niemanden verwundern. (Engelberg /  Lemnitzer 2009: 24) Wie das Beispiel zeigt, hat das Entwerfen dieses Szenarios eine erkenntniser‐ leichternde Funktion, wirkt aber gleichzeitig unterhaltsam durch das Einbe‐ ziehen des Lesers in das Geschehen: Es werden ihm nicht nur Handlungen, son‐ 221 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (18) dern auch Emotionen (sich wundern), propositionale (wünschen) und epistemische Einstellungen (wissen) unterstellt. 4.5 Stilwechsel durch Wechsel der Kommunikationsmodalität: ernsthaft - scherzhaft Im Folgenden werden Fälle präsentiert, in denen die Kommunikationsmodalität nicht mittels Texten, sondern mittels einzelner Äußerungen oder gar einzelner Lexeme wechselt. In ihrer Einführung Germanistische Linguistik verwenden Busch / Stenschke (2014) in einem Kapitel mit dem Titel Wie gehen Linguisten bei der Untersuchung von Sprache vor? mehrere metaphorische Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen: Für jede dieser Untersuchungsebenen gibt es eigene Untersuchungsme‐ thoden, […]. Diese Methoden richten sich auch nach der spezifischen Fragestellung. Das bedeutet: Die eine Methode für alles gibt es nicht. Es gibt aber typische Vorgehensweisen innerhalb bestimmter Theorien und Fragerichtungen. Dazu ein kurzer Überblick entlang der leicht ironischen Gruppenbezeichnungen von Manfred Geier (1998: 116-120): Datensammlung und Analyse: Der linguistische „Jäger und Sammler“ hat eine bestimmte Fragestellung und versucht dazu repräsentatives Ma‐ terial zusammenzustellen und zu untersuchen. […] Analyse und Synthese der Sprachstruktur: Hier sind die „Bastler“ zu‐ hause. Sie fragen sich z. B.: Wie ist das System der Laute, Wörter und Sätze aufgebaut? […] Deduktive Modellbildung: Die deduktive Modellbildung ist die Sache der „Sprachingenieure“ [.] Sie entwerfen zunächst ein theoretisches Mo‐ dell, dessen Aussagekraft an konkreten Beispielen überprüft und belegt wird. […] Analyse und Synthese der Sprachstruktur mit Hilfe von Computern: Hierzu werden von den „Sprachtechnikern“ reale Maschinen einge‐ setzt. […] Flaggschiff dieser Richtung ist die maschinelle Übersetzung, […]. Analyse der biologischen, sozialen u. a. Hintergründe der Sprachverwen‐ dung: Dies ist die Domäne der „Diagnostiker“. Sie fassen sprachliche Phänomene als Symptome für etwas anderes auf. So erfahren Psycholin‐ guisten etwas über die mentalen Voraussetzungen von Sprache, indem sie beispielsweise den Spracherwerb bei Kindern oder Sprachstörungen un‐ tersuchen; Politolinguisten nehmen die Sprache der Politik in den Blick; Soziolinguisten beschäftigen sich unter anderem mit den verschiedenen 222 Mikaela Petkova-Kessanlis Varietäten des Deutschen. (Busch /  Stenschke 2014: 13 f.; Fettdruck im Originaltext getilgt; Hervorhebungen M. P.-K.) In diesem Teiltext I N F O R M I E R E N die Verfasser ihre Rezipienten über verschiedene sprachwissenschaftliche Untersuchungsmethoden. Dabei verzichten sie be‐ wusst auf fachliche Benennungen bzw. terminologische Bezeichnungen und verwenden stattdessen die von Geier (1998: 116 f.) in seinem Buch Orientierung Linguistik, das sich an alle Sprachinteressierten richtet, gebrauchten Gruppen‐ bezeichnungen. Infolgedessen wird die Sachverhaltsdarstellung personalisiert (in den Mittelpunkt gestellt werden die Verwender der Methoden und nicht die Methoden selbst), gleichzeitig aber auch U N T E R H A L T S AM G E M A C H T . Denn bei diesen Bezeichnungen handelt es sich nicht um in der Domäne Linguistik üb‐ liche Bezeichnungen, sondern um Ausdrücke, die anderen Domänen ent‐ stammen und hier metaphorisch verwendet werden. In nicht-ernster, scherz‐ hafter Kommunikationsmodalität werden Gruppen von Linguisten ihnen fremde Tätigkeiten und somit Fähigkeiten zugeschrieben und /  oder ihre Tätig‐ keiten bagatellisiert. Eine komisierende Wirkung entfalten z. B. die hier metaphorisch verwen‐ deten Bezeichnungen Jäger und Sammler sowie Bastler. Die phraseologische Wendung Jäger und Sammler hat zwar ihren Ursprung in der Anthropologie und Ethnologie, ist aber auch als Bestandteil der Gemeinsprache anzusehen, da sie durchaus bekannt ist und entsprechend verwendet wird. Der breiten Öffent‐ lichkeit ist ebenfalls bekannt, dass es heutzutage auf der Welt ganz wenige Jäger- und Sammlergesellschaften gibt. Der Phraseologismus konnotiert Naturver‐ bundenheit, Simplizität, Elementarität, auch Naivität und Primitivität und steht im Kontrast zu den Tätigkeiten, die ein Sprachwissenschaftler ausübt. Stärker ist der Kontrast bei Bastler, da es sich hier um eine Tätigkeit handelt, die in der Regel in der Freizeit (als Hobby) ausgeführt wird und somit quasi als Gegensatz zur professionell ausgeübten wissenschaftlichen Beschäftigung fungiert. Bei den Kompositummetaphern (vgl. Skirl 2010) Sprachingenieur und Sprachtech‐ niker handelt es sich um kreative Formulierungen, die ebenfalls Vergleiche im‐ plizieren: Der Linguist geht mit der Sprache um, handelt mit der Sprache wie ein Ingenieur, wie ein Techniker. Das Lexem Diagnostiker, das dem Kommuni‐ kationsbereich Medizin entstammt und nur einen ärztlichen Aufgabenbereich fokussiert, erzeugt eine besondere stilistische Wirkung, da durch den Vergleich eines Linguisten mit einem Arzt zusätzlich die Sprache als Krankheit erscheint, was wiederum komisch wirkt. Zu der Gruppe der sog. Diagnostiker rechnen dann die Autoren die Psycholinguisten, die Politolinguisten und die Soziolin‐ 223 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (19) guisten. Diese fachspezifischen linguistischen Bezeichnungen kontrastieren dann zusätzlich mit der Benennung Diagnostiker. Durch den Gebrauch dieser Lexeme werden temporäre Stilwechsel vollzogen. Es sind Stilwechsel insofern, als mit ihrer Verwendung jeweils die Kommuni‐ kationsdomäne und die Kommunikationsmodalität gewechselt wird (ernst - unernst (ironisch) - ernst), auch der Stil ändert sich (Wissenschaftsstil - popu‐ lärwissenschaftlicher Stil). Die unterhaltende Wirkung entsteht aufgrund der Diskrepanz zwischen fachlich - nicht fachlich sowie linguistisch - nicht-lingu‐ istisch. Diese Stilwechsel sind metakommunikativ angekündigt. Die Autoren stufen sie als „leicht ironische Gruppenbezeichnungen“ ein und geben die Quelle an. Die Stilwechsel sind demzufolge intendiert, auch ihre perlokutive Wirkung: Die Leserschaft soll I N F O R MI E R T und dabei ein wenig U N T E R H A L T E N werden; das Vor‐ enthalten der fachspezifischen linguistischen Bezeichnungen soll zusätzlich verständnisfördernd wirken durch die reduzierte Komplexität (weniger Gruppen) und die Nicht-Verwendung linguistischer Terminologie. Eine andere Realisierung findet sich in einem Unterkapitel mit dem Titel Wörter in Verbänden: Wortfamilien, Wortfelder, Phraseologismen: Um es auf gut Neudeutsch zu sagen: You’ll Never Walk Alone bzw. Wörter sind keine Singles. Sie kommen einfach nicht ohne Mitwörter aus. Nur wenn man sie in Wörterbücher sperrt, sind sie manchmal etwas einsam, aber auch dort nicht alleine. Wörter sind soziale Zeichen und brauchen Mitzeichen. Deshalb bilden sie in dreierlei Richtung Wortverbände: […]. (Busch /  Stenschke 2014: 199) Der Teiltext beginnt mit der scherzhaft-ironischen Äußerung Um es auf gut Neudeutsch zu sagen. Ihr folgt ein englischsprachiger Ausdruck, der zwar als ein Geflügeltes Wort anzusehen ist, dennoch aber hier durch seine Fremdsprachig‐ keit auffällig und durch die Verwendung in diesem Kontext überraschend wirkt. Überraschend und amüsant ist hier, dass der Titel der Vereinshymne des FC Liverpool in einen fachlichen Kontext gebracht wird, auf Wörter bezogen wird, auch dass der Phraseologismus demotiviert wird und dass die neu entstandene Bedeutung neu interpretiert wird, vgl. bzw. Wörter sind keine Singles. U N T E R ‐ H A L T S A M K E I T wird zudem E R Z E U G T durch den Gebrauch der rhetorischen Figur Personifikation (vgl. sind keine Singles, einsam, nicht alleine) Auch einzelne Formulierungen oder Lexeme, die eine komische, witzige Wir‐ kung hervorrufen, können den Wechsel der Kommunikationsmodalität be‐ wirken, vgl.: 224 Mikaela Petkova-Kessanlis (20) (21) Ein Vergleich zwischen zwei oder mehreren Dialekten einer Sprache ist eine sehr spannende Sache, da es sich dabei (heute) um eine sehr schöne Dreierbeziehung handelt, z. B. Sächsisch und Schwäbisch und als ge‐ meinsamer Partner Standarddeutsch, das sowohl Sachsen als auch Schwaben in der Zeitung lesen und im Fernsehen hören. Die KL beschäftigt sich üblicherweise nicht mit dem Vergleich von Dia‐ lekten, was aber hauptsächlich historische Gründe hat. Trotzdem kann sie bei solchen Dreierbeziehungen nicht nur zuschauen, sondern auch ein Wörtchen mitreden. (Theisen 2016a: 53; Hervorhebungen M. P.-K.) U N T E R HA L T S A M K E I T wird hier E R Z E U G T durch die Aktivierung des dem privaten Bereich zuzurechnenden Frames Partnerschaft, durch den Gebrauch der Perso‐ nifikation (bei Dialektvergleichen handelt es sich um eine sehr schöne Dreierbe‐ ziehung, die kontrastive Linguistik kann […] nicht nur zuschauen, sondern auch […] mitreden), durch die Modifikation des Phrasems ein Wörtchen mitzureden haben (die Infinitivkonstruktion mit haben ist hier durch das Modalverb können substituiert) und durch die Demotivierung seiner phraseologischen Bedeutung (im Sinne von ‚kann sich äußern‘) 4.6 Stilwechsel mittels Wechsels des Handlungsmusters: persönliche Erlebnisse bzw. Erfahrungen E R ZÄHL E N In den folgenden Fällen E R ZÄH L E N zwei Autoren bei der Entfaltung des Themas Textsorten über persönliche Erlebnisse, genauer: über ihre persönlichen Erfah‐ rungen mit jeweils einem Textsortenexemplar. Felder E R ZÄH L T ganz kurz von dem Kauf einer Kondolenzkarte und diskutiert anschließend ihre Merkmale: Als ich in einem Schreibwarenladen eine Kondolenzkarte mit Briefum‐ schlag kaufte, war in dem Kuvert ein separates Blatt mit dem folgenden Hinweis: „Nachfolgend finden Sie einige passende Textvorschläge um Ihrer Kondolenzkarte eine persönliche Note zu verleihen.“ Zunächst einmal ist (neben dem fehlenden Komma vor der Konjunktion „um“) auf‐ fallend bzw. man könnte es als einen performativen Widerspruch fassen, dass im ökonomischen Kontext des Produktvertriebs (welcher natur‐ gemäß auf Maximierung zielt) die Verwendung einzelner Textvorschläge als „persönliche Note“ etikettiert wird. Wie die Absicht des Herstellers, möglichst viele Abnehmer für dieses Produkt zu gewinnen, mit dem Ver‐ sprechen der Individualität oder Singularität der dargebotenen Textvor‐ schläge zu vereinen ist, bleibt offen. (Felder 2016: 72) 225 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (22) Theisen E R ZÄH L T über Baustellenschilder in Athen bzw. Griechenland deutlich ausführlicher: Das griechische Schild ist einzigartig. Im Internet (und in Athen) habe ich keine Standardvariante gefunden, sondern nur dieses eine, allerdings schon am 24.05.2012, im Juli 2015 war es im Internet nicht mehr aufzu‐ treiben. Das Schild hing an einem - auch in Deutschland erforderlichen - Zaun mit dem - handschriftlichen - Text […]. Die Einzigartigkeit dieses Schildes liegt nicht darin, dass Schilder in Griechenland nicht beliebt wären, im Gegenteil: Man liebt sie sehr und überall. Jedoch scheint das Denkmuster ein anderes zu sein. Es wird nicht mit rechtlichen Konse‐ quenzen gedroht wie in D, nicht vor Gefahren gewarnt wie in E-F, sondern es wird mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch ein Grundstück, auf dem gebaut wird, ebenso wie jedes Grundstück, auf dem bereits ein Haus steht, irgendjemandem gehört, und das betritt man ja üblicherweise nicht einfach so. Zaun ist Zaun - warum soll man den zu einem Vorgarten respektieren, den zu einer Baustelle aber nicht? Aber weil das Haus noch nicht fertig ist und offensichtlich noch niemand darin wohnt, empfiehlt sich halt doch ein Hinweis. Aber wie vieles in Griechenland steht das nicht so ganz fest. Am 07.10.2015 fand ich dann doch noch folgendes Schild: […]. (Theisen 2016a: 161) Er berichtet in chronologischer Folge über seine Suche nach Schildern, evaluiert, kommentiert und interpretiert das Erzählte, generalisiert in einer scherzhaften Kommunikationsmodalität (vgl.: Man liebt sie sehr und überall; Zaun ist Zaun; wie vieles in Griechenland steht das nicht so ganz fest). Im Unterschied zu Felder, bei dem ein faktuales E R ZÄH L E N vorzufinden ist, bedient sich Theisen des Musters alltägli‐ ches E R ZÄH L E N (vgl. z. B. die Verwendung des umgangssprachlichen Verbs auf‐ treiben, der Partikeln ja, doch, halt), wodurch seine Erzählung lebendiger wirkt. Beide Textproduzenten E R ZÄH L E N von Erfahrungen, die sie in ihrem Alltag erworben haben. Der Alltag eines Forschers bzw. eines Buchautors ist für Stu‐ dierende in der Regel nicht bekannt bzw. nicht zugänglich. Es ist denkbar, dass es Rezipienten gibt, für die dies interessant ist oder die das als E T WA S - V O N - S I C H - P R E I S G E B E N interpretieren und für den Autor Sympathie entwickeln bzw. emp‐ finden. Wirksam sind diese Handlungsdurchführungen aber auch, weil sie den Leser überraschen. 226 Mikaela Petkova-Kessanlis 20 Beispiele dazu in Petkova-Kessanlis (2015: 129 f.; 2017: 179 ff., 186). (23) (24) (25) (26) (27) 4.7 Stilwechsel mittels Emotionalisieren Die folgenden Beispiele zeigen, wie die Sachverhaltsdarstellung E M O T I O N A L I S I E R T werden kann: Die Textproduzenten unterstellen anderen Wissenschaftler/ -innen Wünsche, Emotionen (Interesse), Einstellungen u. Ä. Austin kam es anfangs besonders auf die Unterscheidung performativ vs. konstativ (= feststellend) an […]. (Ehrhardt /  Heringer 2011: 60; Her‐ vorhebungen M. P.-K.) In seinen William James Lectures von 1967 erarbeitet Grice einen syste‐ matischen Katalog. Damit gelingt ihm der Traum, den so viele Wis‐ senschaftler hegen: Alles aus einem Prinzip zu erklären. (Ehrhardt /  He‐ ringer 2011: 72; Hervorhebungen M. P.-K.) Einer, dem zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts etwas aufgefallen ist, ist der Schweizer Linguist Charles Bally: […]. (Donalies 2009: 3; Her‐ vorhebungen M. P.-K.) Unabhängig davon hat sich der britische Linguist John Rupert Firth für übliche Verbindungen von Wörtern interessiert. […] Firth war Kon‐ textualist. Kontextualisten gibt es in den verschiedensten Bereichen […]. Kontextualisten wollen die Welt aus Kontexten heraus verstehen. So sehen auch linguistische Kontextualisten Wörter immer in Kontexten. (Donalies 2009: 4; Hervorhebungen M. P.-K.) Auf diese Art und Weise lässt der Textproduzent die Rezipienten gewissermaßen an der mentalen Welt der Forscher teilhaben. 4.8 Stilwechsel durch Wechsel der Stilebene Umgangssprachliches ist in wissenschaftlichen Texten nicht erwartbar und ruft stilistische Wirkung hervor. 20 Zur Illustration hier nur ein Beispiel: Solche Bedeutungsentwicklungen […] sind eigentlich Gegenstand der Sprachgeschichte. Besonders, wenn sie sich vor der eigenen Nase voll‐ ziehen oder vollzogen werden, gehen sie aber auch die Varietätenlingustik an. (Theisen 2016a: 54) Der der unterneutralen Ebene zuzurechnende bildhafte Ausdruck etwas vor der Nase haben ist hier modifiziert und lockert die Äußerung ein wenig auf. 227 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (28) (29) 4.9 Stilwechsel durch abweichendes, originelles, kreatives Formulieren Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele im Abschnitt 3. Hierher gehören aber auch ‚geistreiche‘ Erklärungen, Begründungen etc. wie die folgenden, über die man sicherlich geteilter Meinung sein kann, die aber hier unkommentiert bleiben müssen: Spätestens während der großen europäischen Auswanderungswellen seit dem 18. Jh. drängte sich die Notwendigkeit in den Vordergrund, eine Fremdsprache zu lernen, um seinen neuen Alltag im Ausland bewältigen zu können. Wie ging das vor sich? Schon im Mittelalter gab es in Europa eine enorme Mobilität. Viele Christen pilgerten z. B. aus Deutschland durch die linke Hälfte Europas nach Santiago de Compostela im äußersten Westen Spaniens, und viele andere (in Rüstungen oder auch nicht) durch die rechte Hälfte und darüber hinaus ins „Heilige Land“. Wie verständigte man sich auf solchen Reisen? Im Nahen Osten gab es kaum Probleme, da man ja gekommen war, um den muslimischen Heiden den Schädel ein‐ zuschlagen und wieder unter sich zu sein. (Theisen 2016a: 26) Dialekte mischen sich, weil niemand (außer Linguisten und selbst er‐ nannte Sprachpfleger) sich darum schert, ob Dialekte überleben, denn jede Schwäbin will in Straßburg und jeder Südfranzose in der Schweiz, wenn es sie oder ihn aus beruflichen oder amourösen oder sonstigen Gründen dorthin verschlagen hat, überleben und, wenn es geht, erfolg‐ reich sein. (Theisen 2016a: 54) 4.10 Stilwechsel durch Modalitätenwechsel Abbildungen, Fotos, Zeichnungen, Grafiken, Tabellen etc., die Autoren von Einfüh‐ rungen verwenden, um Sachverhalte zu veranschaulichen und /  oder zu exemplifi‐ zieren, bewirken Stilwechsel derart, dass ein gegebener verbaler Teiltext unterbro‐ chen wird mittels eines visuellen Textes. Solche visuellen Texte können - zusätzlich zu ihrer subsidiären Funktion in Bezug auf das I N F O R MI E R E N - einen Unterhaltungs‐ wert haben. Im Folgenden gebe ich drei Beispiele dafür: 228 Mikaela Petkova-Kessanlis Abb. 1: „In das Chaos der Wirklichkeit vermag allein die Wissenschaft Ordnung zu bringen“, (Habscheid 2009: 11) Abb. 2: „Platzangst“, Elsen (2013: 15) 229 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen Abb. 3: „Eindeutiger Beweis für die Erderwärmung“, Elsen (2013: 78) (30) Da die Bilder für sich sprechen, bleiben sie hier unkommentiert. 5 U N T E R HAL T E N statt I N F O RMI E R E N Der Relation ‚U N T E R H A L T E N statt I N F O R MI E R E N ‘ sind alle Handlungsdurchfüh‐ rungen zuzuordnen, die keinen Mehrwert an Information bieten, und zwar in‐ sofern, als sie weder zur Entfaltung des angekündigten Themas bzw. Teilthemas beitragen noch die Themenentfaltung in irgendeiner Form unterstützen. D. h. die vollzogene Handlung dient weder unmittelbar der Wissensvermittlung noch unterstützt sie diese; dabei wird in der Regel nicht-fachliches Wissen vermittelt. Wie die Beispiele im Folgenden zeigen, handelt es sich oft um isolierte Äuße‐ rungen. So beginnt ein Kapitel mit der Überschrift Kontraste in Theisen folgender‐ maßen: Vergleichen lässt sich alles miteinander, sogar Äpfel und Birnen. Sprachen und sprachliche Varietäten wurden schon sehr früh einander gegenübergestellt […]. (Theisen 2016b: 11; Hervorhebungen M. P.-K.) Die erste Äußerung am Kapitelanfang hat eine reine Unterhaltungsfunktion. Der Autor führt mit ihrer Hilfe ins Teilthema ein, indem er B E H A U P T E T , dass man alles miteinander vergleichen kann. Der witzige Effekt entsteht dadurch, dass er die Bedeutung des Phrasems Äpfel mit Birnen vergleichen ins Gegenteil ver‐ 230 Mikaela Petkova-Kessanlis (31) (32) (33) kehrt. Daraus ergibt sich auch ein Überraschungseffekt. Zusätzlich wirkt auch die Bildhaftigkeit des Ausdrucks. Das Kapitel mit der Überschrift Adjektivphraseme in Donalies (2009: 79) endet mit folgender Äußerung: Schauen wir uns nun also frisch, fromm, fröhlich, frei die Verbphra‐ seme an. Unmittelbar danach folgt die Überschrift des nächsten Kapitels: Verbphraseme. Mit dieser Aufforderung KÜN D I G T die Autorin indirekt das Thema des folgenden Kapitels A N . Es handelt sich also um eine textorganisierende Handlung. Gleich‐ zeitig werden die Rezipienten allerdings A U F G E F O R D E R T , sich in eine entspannte Stimmung zu versetzen, d. h. in einen konkreten Gefühlszustand. Dadurch wird die Äußerung E M O T I O N A L I S I E R T . Dieses A U F F O R D E R N zur Entspannung und Un‐ beschwertheit kann unterhaltsam wirken, auch die Verwendung der alliterier‐ enden Vierlingsformel frisch, fromm, fröhlich, frei, die Donalies im vorherge‐ henden Text nennt, als seltene Formel einstuft und gerade deswegen hier aufgreift. Am Ende des Kapitels Verbphraseme findet sich folgende Äußerung: Wer möchte, kann nun wie ein Bekloppter darüber nachdenken, ob solche Verbindungen überhaupt Verbphraseme sind. (Donalies 2009: 88) Die Äußerung erscheint nach drei Beispielen, die die Ausdrücke trainieren wie ein Irrer, rennen wie ein Wahnsinniger und zufahren wie ein Bekloppter enthalten. Auch hier also greift die Autorin einen Ausdruck auf, der bereits verwendet wurde und produziert eine Äußerung, mit der kein neues Wissen vermittelt wird. Mit der Äußerung wird den Rezipienten ein V O R S C H L A G U N T E R B R E I T E T , der insofern komisch wirkt, als er aussichtslos erscheint. Neben dieser Komik wirkt auch die Verwendung des umgangssprachlichen Lexems bekloppt unterhaltsam, da sie an dieser Stelle im fortlaufenden Text überrascht. Das folgende Beispiel zeigt ebenfalls einen Wechsel zwischen I N F O R M I E R E N und U N T E R HA L T E N : Erst in den 1960er Jahren wurde (von John Langshaw Austin und John Searle) die Sprechakttheorie (speech act theory) formuliert: Sprache ist zwar relativ kostenlos, kann aber auch ganz schön teuer werden, etwa nach einem Schimpfwort gegen einen humorlosen Beamten oder einem nicht ganz überlegten Ja! auf dem Standesamt. Die Sprechakttheorie besagt, dass wir beim Sprechen immer etwas über das Sprechen hinaus tun: jemanden über etwas informieren, jemanden um 231 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen (34) etwas bitten, jemandem etwas versprechen, jemanden grüßen […]. (Theisen 2016b: 51; Hervorhebungen M. P.-K.) Die eingeschobene Äußerung unterbricht den Vollzug der Handlung I N F O R ‐ MI E R E N , trägt zwar zur Themenentfaltung bei, indem sie einen thematischen Aspekt (die eventuellen juristischen Konsequenzen des Sprechakts Beleidigen) andeutet, ist aber an dieser Stelle trotzdem als ein intendierter Unterhaltungs‐ versuch anzusehen. Denn der Beitrag zur Themenentfaltung ist für Nicht-Kun‐ dige keinesfalls auf Anhieb erkennbar. Die Komik entsteht hier durch das Ak‐ tivieren des Frames Kommerzielle Transaktionen (Geld und Preis sind Elemente dieses Frames) in Bezug auf Sprache (kostenlos, teuer) und durch die Beispielsi‐ tuationen. Außerdem wird bei der Situation, in der jemand einen Beamten be‐ schimpft, suggeriert, dass das Beschimpfen nur in dem Fall unangebracht ist, in dem der Beamte keinen Humor versteht. Klassifikationen versus Typologien. Der Drang, eine unübersichtliche Menge von Gegenständen zu Gruppen und Häufchen zu sortieren, ist von den meisten Menschen nur schwer zu bezwingen und hat nicht nur zur Erfindung der Schublade, sondern auch zur Entwicklung von Typologi‐ sierungs- und Klassifikationsverfahren geführt. In Klassifikationen wird dabei jedes Element eindeutig genau einer Klasse zugeordnet […], wäh‐ rend Typologien dadurch gekennzeichnet sind, dass die Elemente einem Typ mehr oder weniger angehören, je nachdem, in welchem Grade ihre Merkmale mit den Merkmalen übereinstimmen, die den entsprechenden Typ definieren. (Engelberg /  Lemnitzer 2009: 18; Hervorhebungen im Orig.) In scherzhafter Kommunikationsmodalität unterstellen die Verfasser den meisten Menschen einen Ordnungsdrang, der angeblich zur Erfindung des Alltagsgegen‐ standes Schublade geführt hat. Auf eben diesen Ordnungsdrang sollen auch wis‐ senschaftliche Erkenntnismethoden wie Klassifikationen und Typologien zurück‐ zuführen sein. Die Handlungsdurchführung ist hier ebenfalls als U N T E R H A L T E N statt I N F O R M I E R E N einzustufen. Die dem Leser übermittelten Informationen tragen nicht im Geringsten zum Erkenntnisgewinn bei, denn es handelt sich um Inhalte, die für die Erreichung des Lernziels irrelevant sind. Unterhaltsamkeit wird hier er‐ zeugt mittels der überraschenden Vermischung von Frames (private Ordnung zu Hause vs. Ordnung, Systematisierung in der Wissenschaft) und des ebenfalls über‐ raschenden Vergleichs. Mit Letzterem geht eine gewisse Bagatellisierung von Klas‐ sifikationen und Typologien einher, die von den Autoren intendiert ist, vermutlich 232 Mikaela Petkova-Kessanlis (35) um den Studierenden zu suggerieren, dass der zu behandelnde Gegenstand nicht besonders schwierig aufzunehmen ist. Wie gezeigt, wird U N T E R HA L T E N statt I N F O R M I E R E N in der Regel mittels ein‐ zelner Äußerungen vollzogen. Im folgenden Fall, der allerdings äußerst selten vorkommt, wird zu diesem Zweck eine kurze Geschichte mit Unterhaltungspo‐ tenzial instrumentalisiert: 5.2 Was ist Bedeutung? 5.2.1 Produktivität Das Ektische gehört zu den ausgestorbenen Sprachen und scheint mir deshalb die interessanteste von allen zu sein, weil sie nur zwei Wörter hatte. Das erste hieß „M“ und das zweite „Saskrüptloxptqwrstfgakso‐ lömpääghrcks“. „M“ ist weiblich und heißt: „Was ist denn jetzt schon wieder los“, und „Saskrüptloxptqwrstfgaksolömpääghrcks“ ist männ‐ lich und heißt „nichts“. […] Einmal kam es […] zu politischen Demons‐ trationen, bei denen eine große Zahl von Ektern vor das Rathaus zog und in Sprechchören die Worte „M! M! M! “ rief, worauf der ektische Präsident […] in einer großen Rede versicherte: „Saskrüptloxptqwrstf‐ gaksolömpääghrcksk“! Dies stimmte allerdings nicht ganz, und der Präsident selbst wußte das auch, aber unglücklicherweise hatte er keine weiteren Ausdrücke zur Verfügung, und so gehört das Ektische heute zu den ausgestorbenen Sprachen. (Aus: Franz Hohler: Der Gra‐ nitblock im Kino) Im Gegensatz zu den Ektern verfügen wir glücklicherweise nicht nur über zwei Wörter. Noch viel wichtiger ist aber die Tatsache, dass wir diese Wörter produktiv zu immer neuen Sätzen mit neuen Bedeu‐ tungen verbinden können. (Geilfuß-Wolfgang in Meibauer u. a. 2015: 164 f.) In den Überschriften ist das Thema explizit A N G E KÜN D I G T : Es geht um die Klä‐ rung der sprachwissenschaftlichen Begriffe Bedeutung und Produktivität. Das Unterkapitel 5.2.1 beginnt aber nicht direkt mit der Abhandlung des Themas Produktivität, sondern mit einem Auszug aus einer fantastischen Kurzge‐ schichte für Kinder, verfasst vom Schweizer Schriftsteller Franz Hohler. Es findet ein abrupter Stilwechsel statt, der zunächst überraschend wirkt, weil der Rezi‐ pient nicht auf Anhieb erkennen kann, in welcher Funktion der Stilwechsel er‐ folgt und inwiefern das Erzählte für das angekündigte Thema Relevanz besitzt. Dieser fiktionalen Kurzgeschichte, die der Autor des Kapitels, Jochen Geilfuß- 233 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen Wolfgang, für seine Leser reproduziert, folgt ein impliziter Vergleich zwischen der Sprache der Ekter und der Sprache der Menschen, eine Mitteilung über das Ergebnis dieses Vergleichs, die sich einer Litotes bedient (wir verfügen nicht nur über zwei Wörter) und die Stellungnahme des Autors, der dieses Ergebnis positiv bewertet (glücklicherweise). Somit erfolgt das Verknüpfen der Fiktion mit der Realität. Erst danach geht der Autor auf das Thema Produktivität ein. Spätestens an dieser Stelle wird evident, dass die erzählte Kurzgeschichte nicht zur Entfal‐ tung des abzuhandelnden Themas beiträgt. Sie hat nur die Funktion die Rezipi‐ enten zu unterhalten. Die Handlungsdurchführung ist deswegen als U N T E R ‐ H A L T E N statt I N F O R MI E R E N einzustufen. Unterhaltsamkeit wird erzeugt mittels Fiktionalität (eine fantastische, irreale Geschichte) und mittels Überraschendem (Sprache, die nur zwei Wörter hat; Unaussprechliches, ein allzu langes Wort). Der Übergang zum eigentlichen Thema (Produktivität) erfolgt, indem der Ver‐ fasser in scherzhafter Kommunikationsmodalität das Offensichtliche feststellt, die Kurzgeschichte kommentiert und anschließend mittels eines Relevanzhinw‐ eises (Noch viel wichtiger ist …) zur Entfaltung des eigentlichen Themas über‐ geht. 6 Schluss Wie gezeigt werden konnte, M A C H E N die Verfasser von Einführungen ihre Texte U N T E R HA L T S A M , indem sie an dem Unterhaltungswert anderer Texte partizi‐ pieren und /  oder selbst kreativ formulieren. Mit dem Vollzug des unterhalt‐ samen I N F O R M I E R E N s W E I C H E N sie immer vom Wissenschaftsstil A B , so dass dabei Stilwechsel entstehen. Daraus kann man schließen, dass sich der fachdidakti‐ sche Stil in Einführungen dem populärwissenschaftlichen nähert. Wie bei allen perlokutiven Versuchen ist auch bei U N T E R HA L T E N anzu‐ nehmen, dass es misslingen kann. Wirkungen schwanken zudem von Rezipient zu Rezipient bzw. von Rezipientengruppe zu Rezipientengruppe. Sandig (2006: 67) weist darauf hin, dass Stilrezeption durchaus variieren kann: „Die Stilrezep‐ tion variiert sehr stark je nach stilistischer Kompetenz (Ausbildung, Generati‐ onszugehörigkeit …) […], damit auch die Stilwirkung.“ In ihrer Textstilistik des Deutschen führt sie als Beispiel einen Ausschnitt aus einer linguistischen Abhandlung über Metaphern an, der „eine Reihe stilisti‐ scher Auffälligkeiten“ enthält: „Zuerst nämlich wird angenommen, dass das Verständnis einer Metapher auf Fakten‐ wissen beruht wie etwa, dass Löwen tapfer sind und dass Achill in dieser Eigenschaft Löwen gleicht. Aber wie Löwen sind, ist im Grunde wurscht - sie könnten auch feige sein. Und in der Tat, häufig trifft, was man unter einer Metapher versteht, gar nicht zu auf die 234 Mikaela Petkova-Kessanlis wörtlich gemeinten Individuen. (Auch hier muss ich wieder auf später vertrösten.) Das Verständnis einer Metapher basiert auf Annahmen zu diesem Sprachgebrauch und nicht zu Tatsachen in der Welt…“ (Keller-Bauer 1984: 3, zit. n. Sandig 2006: 47; Kursivierung im Orig.) Diesen Ausschnitt kommentiert sie folgendermaßen: „Ich empfinde die Ausdrücke wurscht, muss … vertrösten als ‚vergnüglich‘, ‚ausge‐ fallen‘, ‚pfiffig‘, aber sie ‚irritieren mich‘ auch, ‚lenken mich ab‘ vom Inhalt des Textes auf die Art der Sprachverwendung. Meine Mitarbeiterin meint, der Text sei so besser verständlich; das gilt für mich nicht. Derselbe Text(ausschnitt) kann also auf verschiedene Rezipienten sehr verschieden wirken. […] bei dem Ausschnitt von Keller-Bauer handelt es sich bei den beschrie‐ benen Rezipienten um Zugehörigkeit zu verschiedenen ‚wissenschaftlichen Genera‐ tionen‘“. (ebd.) Als stilistisch auffällig - da für den Wissenschaftsstil nicht typisch - kommen‐ tiert Sandig das umgangssprachliche Phrasem wurst / wurscht sein sowie das Verb vertrösten, das zwar neutralsprachlich ist, aber hier unangemessen er‐ scheint aufgrund seines emotionalen Potenzials bzw. der den Rezipienten un‐ terstellten emotionalen Beteiligung. In beiden Fällen haben wir es mit Stilwech‐ seln zu tun: Im ersten Fall erfolgt ein Wechsel von der neutralsprachlichen zu der unterneutralen Stilebene, im zweiten Fall, der aber markiert ist mittels einer eingeklammerten Parenthese: unpersönlich - persönlich; emotionslos, nüchtern - emotional. Andere würden aber diese Auffälligkeiten als unterhaltsam einstufen. Jeden‐ falls ist anzunehmen, dass Studierende, die wenig Erfahrung mit der Rezeption des wissenschaftlichen Stils haben, die hier thematisierten Stilwechsel weniger auffällig finden als Mitglieder der Wissenschaftlergemeinschaft. Um dies her‐ auszufinden, sind Umfragen unter Studierenden vonnöten, die bis jetzt nicht vorliegen (in der Umfrage von Janich 2004 wird die Unterhaltsamkeit nicht be‐ rücksichtigt). Ansonsten ist Gloning zuzustimmen, der folgenden Forschungs‐ bedarf anmeldet: „Gleichwohl wäre es wünschenswert, die Frage nach den disziplinären Besonder‐ heiten der Gegenstände, Fragestellungen, methodischen Zugänge usw. zu verbinden mit der Frage nach den Auswirkungen auf den etablierten Bestand an Texttypen, Darstellungsmitteln sowie dem Repertoire an Visualisierungsstrategien und multi‐ modalen Angeboten in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen.“ (Gloning 2018: 367) 235 Unterhaltsames I N F O R M I E R E N in sprachwissenschaftlichen Einführungen Literatur Primärliteratur Bechmann, Sascha 2016: Sprachwandel - Bedeutungswandel. Eine Einführung. Tü‐ bingen. Busch, Albert / Stenschke, Oliver 2014: Germanistische Linguistik. Eine Einführung. Tü‐ bingen, 3., überarb. u. erw. Aufl. 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Ein Vorläufer für mobile Ausstellungen war der von der Max-Planck-Gesellschaft organisierte Zukunftszug 2009, der auf den Bahnhöfen der größeren Städte besichtigt werden konnte (Zukunftszug 2009). 1 2 3 4 5 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil: die Internetplattform der Wissenschaftsjahre Annely Rothkegel Gliederung Ausgangssituation: Die Wissenschaftsjahre (WJ) Stil und Stilbildung Wissenschaftskommunikation im „stillosen Stil“? ‚Semantisches Jonglieren‘ als Stilmittel der Popularisierung (oder Zukunft passt immer) Resümee 1 Ausgangssituation: Die Wissenschaftsjahre (WJ) Seit 2000 richtet das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF o. J.)), zusammen mit der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ (WiD 2018), eine Web-Plattform „Wissenschaftsjahr“ mit jährlich wechselnden Themenschwer‐ punkten aus (BMBF /  Wissenschaftsjahre o. J.). Die Plattform ist gedacht als Forum für „Bürgerbeteiligung und Wissenschaftskommunikation“. Angeboten werden gesellschaftlich relevante Themen aus Wissenschaft und Forschung (Vorgehens‐ weisen, Fragestellungen und Leistungen), begleitet von weiteren Veranstaltungen der Öffentlichkeitsarbeit. 1 Es geht um einen „transparenten Zugang zu Entwick‐ lungen in der Forschung“, insgesamt soll die Forschungsarbeit in die breite Öffent‐ lichkeit getragen werden. Erklärte Intention ist es, ebenfalls Interesse an weiterer Forschung zu wecken (Berufswahl junger Menschen), Grundlagenwissen zum je‐ weiligen Themenfeld zu vermitteln, Experten und Expertinnen zu Wort kommen zu lassen und schließlich - unter dem Motto „Dialog und Partizipation“ („Citizen Science“; BMBF / Wissenschaftsjahre o. J.) - Bürger und Bürgerinnen einzube‐ ziehen, insbesondere Kinder und Jugendliche, die in Mitmach-Projekten angespro‐ chen werden (vgl. Ober 2014). Begleitend zu der jeweiligen Jahres-Website gibt es Hinweise auf weitere Veranstaltungen, die während des laufenden Jahres an ver‐ schiedenen Orten und online stattfinden. Innerhalb dieses Rahmens wird der Wis‐ senschaftskommunikation, verstanden als öffentliche Experten-Nichtexperten- Kommunikation (Dialog zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft), eine hervorgehobene Rolle zuerkannt als „Treiber für die Weiterentwicklung der Wis‐ senschaftskommunikation“ (BMBF / Wissenschaftsjahre o. J.). Seit 2010 gibt es eine Neuausrichtung, die eine veränderte Wissenschaftspo‐ litik mit erklärtermaßen neuen inhaltlichen und kommunikativen Zielen pro‐ pagiert: „Die Wissenschaftsjahre - Dialog und Partizipation für die Welt von morgen“, also mit dem Blick in die Zukunft (BMBF /  Wissenschaftsjahre o. J.). Dabei soll auch die vormals technisch-naturwissenschaftliche Orientierung durch geistes- und sozialwissenschaftliche Sichtweisen ergänzt werden. Daran arbeiten mit Wissensschafts-, Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Ak‐ teure aus Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Medien. Dem wissenschaftlichen Ansatz wird in der Weise Rechnung getragen, dass es eine Begleitforschung für die Evaluation des jeweiligen Wissenschaftsjahres gibt. Es soll festgestellt werden, „wie gut, effizient und nachhaltig die WJ ihre Ziele erreichen“ (WiD 2018). Die Begleitforscher (zur Evaluation für das Jahr 2015, Zukunftsstadt) haben auch die Resonanz in den Medien (insbesondere in den Sozialen Medien) ausgewertet (WiD 2018). Man kommt insgesamt auf einen bundesweiten Bekanntheitsgrad von 10 %. Festgestellt wurde auch, und das ist für die Stilanalyse relevant, dass der Bekanntheitsgrad dann steigt, wenn Infor‐ mationen mit gängigen bzw. begrifflich bereits etablierten Namen und Bezeich‐ nungen verbunden sind. Kritisch wird angemerkt, dass eine gewisse Kontinuität bei den Themenbearbeitungen fehle, was als nicht nachhaltig bewertet wird (vgl. Kohärenzanalyse in Abschnitt 3). Insgesamt wird die WJ-Serie (im Sinne einer Textsorte) als eine Kampagne eingeschätzt, d. h. als Werbung für eine Beteili‐ gung der Bürgerschaft an der wissenschaftspolitischen Konsensbildung (wobei „Kontroversen ausdrücklich erwünscht“ sind). Ausgehend von dieser Situation stellt sich für uns die Frage, ob es erkennbar ist, dass Fragen des Stils bzw. der Stilbildung in einer so verstandenen Wissen‐ 242 Annely Rothkegel 2 Zur Wissenschaftskommunikation gehören u. a. auch wissenschaftliche Qualifikati‐ onsarbeiten, Forschungsanträge und Forschungsberichte, Studien, Unterrichtsformate, Wissenschaftssendungen in den öffentlichen Medien. schaftskommunikation eine Rolle spielen und wenn ja welche. 2 Dazu untersu‐ chen wir das Material der Websites der Wissenschaftsjahre aus zwei Perspektiven. Zum einen geht es um die Serie der Jahresdokumentationen als Ganzheit im Sinne eines zusammengehörigen Mediendiskurses. Hier auf der Makroebene zeigt sich deutlich, dass es vor allem die Interaktion und ihre sti‐ listische Gestaltung durch standardisierte Mittel des Medien- und Textdesigns sind, die einen Zusammenhang des Diskurses prägen, während ein solcher auf der Inhaltsebene nicht hergestellt wird. Wir setzen diese Tendenz gleich mit der Einschätzung, dass sich darin der Übergang von einer Diskurszu einer Erleb‐ nisgemeinschaft spiegelt, die insgesamt das Verständnis dieser Art Wissen‐ schaftskommunikation bestimmt (Abschnitt 3). Zum anderen zeigt sich auf der Ebene des jeweiligen Medientextes (Mikroebene der einzelnen Website), dass auch das Themenverständnis (Wissenschaftsverständnis) mit einer Art Popu‐ larisierung in Zusammenhang gebracht werden muss. Hier verfolgen wir die Annahme, dass es stilistische Anzeiger gibt (u. a. die klassischen Stilfiguren wie syntaktisch-lexikalische Parallelismen, Stabreim), die, im beschleunigten Leserhythmus, den Umgang mit begrifflicher Bedeutungsveränderung bzw. Bedeu‐ tungsentleerung verdecken (‚semantisches Jonglieren‘ am Beispiel der Begriffe Arbeit und Zukunft; Abschnitt 4). Zuvor klären wir den hier verwendeten Stil‐ begriff (Abschnitt 2) und erläutern unsere Schlussfolgerungen im Resümee (Ab‐ schnitt 5). 2 Stil und Stilbildung Der Stilbegriff ist vielschichtig und empirisch schwer zugänglich. Sowohl Phä‐ nomen als auch Begriff sind durch zeitliche und räumliche Dynamik, Tradi‐ tionen, Alltagszuordnungen und nicht zuletzt durch Disziplinzugehörigkeiten geprägt. Wir verweisen zunächst auf den Bereich der Architektur, wo wir ge‐ wisse Parallelen und Möglichkeiten für die Entwicklung linguistischer Frage‐ stellungen sehen, insbesondere im Hinblick auf die Berücksichtigung technisch geprägter Gestaltungswerkzeuge, die das moderne Webdesign bietet. In der Disziplin der Architektur gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit Stil‐ fragen im Sinne der Gestaltung des „sichtbaren Umfelds“ einer Gesellschaft. Neben dem Zweck (Wohnen, Arbeiten) geht es des Weiteren um ästhetische Kategorien (gutes, interessantes Aussehen) sowie um sozial-kommunikative Aufgaben wie das Repräsentieren und Präsentieren des aktuellen Zeitgeistes. 243 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil 3 Gemeint ist: In der Form(gebung) soll die Funktion erkennbar sein. Heute spielt dieser Leitsatz immer noch eine wichtige Rolle für Produktdesign und Handwerk, wo ‚gute Form‘ als Qualitätsmerkmal ausgezeichnet wird. 4 Auch in den heute kommerziell angebotenen Lösungen des Webdesigns gelten die Prinzipien „Form steht für Inhalt und Funktion“, die in „The Digital Designer’s Bible“ von Dabbs /  Campbell (2004 /  2005) grundsätzlich formuliert worden sind. Innerhalb dieses Rahmens verbreitet sich um die Jahrhundertwende (19. /  20. Jahrhundert) der vom amerikanischen Architekten Louis Sullivan geprägte Leit‐ satz „Form folgt der Funktion“, der gegenwärtig nach wie vor Geltung hat (Poerschke 2014; Designlexikon o. J.). 3 Gleichzeitig spielte dieser Leitsatz als Merkmal des Modernismus eine zentrale Rolle im damaligen fachlichen Stildis‐ kurs, in dem der Wiener Architekt und Theoretiker Adolf Loos - mit Bezug auf die damals moderne Wiener Architektur - den Begriff des „stillosen Stils“ in die Debatte einbrachte (Munch 2005). Gemeint ist der Verzicht auf hervorgehobene Stilmerkmale, der nicht zuletzt durch den Einsatz neuer technologischer Stan‐ dards begünstigt worden war. Dieses Prinzip prägte den Funktionalismus des Bauhauses, der bis heute wiederum ‚gutes‘ Produktdesign kennzeichnet. Ähnlichkeiten sind zu beobachten, wenn es um das moderne Webdesign geht, bei dem neben den Wechselbeziehungen zwischen Form und Funktion dem In‐ halt (content) eine dritte wichtige Rolle zugesprochen wird. 4 Gleichermaßen geht es - wie generell im Design - um den Bezug auf Artefakte, auf die sich die Inhalte (im Sinne der Referenz) beziehen. Gestaltungsaspekte treten dabei in den Vordergrund, die durch Strategien der Anpassung oder Neu-Kreation geprägt sind. Abb. 1 skizziert den Zusammenhang der Basiskomponenten. Produzent Abb. 1: Basiskomponenten der Stilbildung mit Bezug zu Artefakten (eigene Darstellung) FORM (DESIGN) gestaltet per Artefakt INHALT FUNKTION Anpassung Neu-Kreation Produkt Website Abb. 1: Basiskomponenten der Stilbildung mit Bezug zu Artefakten (eigene Darstellung) In den durch die Basiskomponenten vorgegebenen Rahmen fügen wir im Fol‐ genden die Angaben zur konkreten Kommunikationssituation des Web-Auf‐ tritts der Wissenschaftsjahre ein (vgl. Abb. 2). Damit erhalten wir einen Zugang 244 Annely Rothkegel zu unserem Untersuchungsgegenstand: Stil als Charakteristik einer bestimmten Kommunikationssituation, in der er als Anzeiger für Rollen, Haltungen, Status, Zugehörigkeit und Abgrenzung, soziale Beziehungen oder Positionierung von Personen, Gruppen und Organisationen fungiert. Produzent BMBF Abb. 2: Stilrelevante Komponenten einer konkreten Kommunikationssituation (eigene Darstellung) FORM (DESIGN) gestaltet per Artefakt INHALT FUNKTION Anpassung Neu-Kreation Produkt Website Wissenschaft / Wissenschaftskommunikation Interaktion Forscher-innen Ministerium Bürgerschaft Abb. 2: Stilrelevante Komponenten einer konkreten Kommunikationssituation (eigene Darstellung) Die beteiligten Dimensionen Form, Funktion, Inhalt erhalten die folgende Spe‐ zifizierung: Inhalt (Wissenschaft, Wissenschaftskommunikation), Funktion (Kommunikation in der Interaktion von Forschenden und Bürgerschaft, wobei sich das BMBF selbst in der Rolle des Repräsentanten der Wissenschaft sieht), Form (Webdesign). Im dritten Schritt der Entwicklung der Fragestellung geht es um die Kenn‐ zeichnung der linguistischen Strategien und Instrumente für die Rekonstruktion der Stilbildung. Hier konzentrieren wir uns auf zwei Ebenen: die Äußerung als sprachliche Basiseinheit und Text bzw. Diskurs als kommunikative Einheiten (vgl. Abb. 3). 245 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil : Linguistische Rekonstruktion einer konkreten Kommunikationssituation (Basis: Bühler 1934) (eigene Darstellung) Abb. 3: Linguistische Rekonstruktion einer konkreten Kommunikationssituation (Basis: „Sprachliche Äußerung“ nach Bühler 1934) (eigene Darstellung) Perspektiven auf die Wechselbeziehungen zwischen Form, Funktion und Inhalt finden sich ebenfalls in linguistischen Zugängen zur Beschreibung sprachlicher Einheiten. Bereits in der sprachpsychologisch ausgerichteten Sprachtheorie von Karl Bühler (1934) erscheint die Dreiteilung mit zusätzlicher Spezifikation des Funktionsaspektes: sprachliche Äußerung (Form), Darstellung (Inhalt) und Funktion, die die Interaktion von Sprecher (Symptom) und Hörer (Appell) ein‐ bezieht. Letzteres, die Interaktion, prägt die Selektion der Inhalte in Form von Themen und deren Elaboration in der betreffenden Kommunikationssituation. In unserem Beispiel liegt ein Fall von Experten-Nichtexperten-Kommunikation 246 Annely Rothkegel 5 In unserem funktionalen Ansatz versuchen wir, den Aspekten der Form verstärkt ge‐ recht zu werden, ohne diese als dominant zu betrachten. 6 Stilratgeber bleiben hier unberücksichtigt (z. B. Dudenredaktion 2017). vor, in der das BMBF bzw. die Forschenden die Rolle der Experten einnehmen (Symptom-Aspekt: Selbstdarstellung), während die Bürger und Bürgerinnen als Adressaten umworben werden (Appell-Aspekt: Werbung für Verständnis, In‐ teresse, Mitmachen bei der Wissenschaft). Unsere Analyse auf der Sachebene (Inhalt) zeigt, wie der Umgang mit Fach- und Alltagsbegriffen bzw. das ‚Jon‐ glieren‘ dazwischen als stilistische Charakteristik der Interaktion betrachtet werden kann (Abschnitt 4). Insofern als Stil das ‚Ganze‘, also den ganzen Text oder Diskurs betrifft, fo‐ kussieren wir auf die Form im Sinne einer Textgestalt mit Wiedererkennungs‐ wert. Hier spielt - mit Blick auf die Netzkommunikation - das professionelle Webdesign als Konstruktions- und Gestaltungsmittel eine zentrale Rolle, das in Analogie zur Architektur einen eher „stillosen Stil“ begünstigt, der als modern und dabei vor allem angepasst an aktuelle visuelle Konventionen eingeschätzt werden kann, die die Möglichkeit zur Identifikation von Nutzern und Nutze‐ rinnen in ausgewählten Kommunikationsgemeinschaften bieten. Unsere Vorgehensweise ordnet sich theoretisch und methodisch in die kom‐ munikationsorientierte Linguistik ein, in deren Rahmen Stil als Textphänomen verstanden wird. 5 Mit der Etablierung der Textlinguistik seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird auch dem Phänomen Stil und Stilanalyse auf Textebene zunehmende Aufmerksamkeit zuteil (u. a. Sanders 1977; Sandig (in Auswahl) 1978; 1984; 2006; Bleckwenn /  Neuland 1992; Jakobs /  Rothkegel 2001; Selting 2001; Heinemann /  Heinemann 2002; Adamzik 2004; 2016; Eroms 2008; Janich 2008). 6 Von linguistischem Interesse sind Phänomene wie Stilbildung, Stilwechsel, Stilbrüche, Stilmischung (Fix /  Lerchner 1996; Überblick in Fix u. a. 2008 /  2009). Im Sinne des Typischen (Standards, Muster) kommen Textsortenstile, Fachstile, Medienstile, sowie Kommunikations-, Schreib-, Rede- und Dis‐ kursstile in den Blick, aber auch Auffälligkeiten und Attraktivmacher sind re‐ levant (Rothkegel 1982; Sandig 1997; 2006). In unserem Ansatz gehen wir von einem operationalen Stilbegriff aus, der es gestattet, den oben skizzierten Zusammenhang anhand weniger Beispiele zu verdeutlichen. Grundlegend dabei ist die Orientierung am Text in einem weiten Sinne, der visuelle Elemente und Text-Bild-Relationen mit einbezieht, und an den ihn bildenden Textbildungseinheiten. Neben dem Blick auf die Relationie‐ rung von Form, Inhalt und Funktion schließen wir uns der Sichtweise an, dass Stil Zeichencharakter hat und selbst Bedeutungsträger ist (Fix 2001; Nöth 2009; Siefkes 2012). Zur dynamischen Sichtweise der Produktion gehören Strategien 247 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil der Selektion (Einzeleinheiten) und Komposition (Ganzes), wobei die Selek‐ tionen auf die Komposition in der Weise ausgerichtet sind, dass sie einerseits zueinander und andererseits zum Ganzen ‚passen‘. Verstanden als sprachliche Handlung im Sinne des F O R T F ÜH R E N s (Sandig 2006: 151; in Anlehnung an Pü‐ schel 2000: 484) verbindet sich Stil mit Intention. Eine spezifische Intention fließt also ein in die absichtsvolle Gestaltung, die am Text als Produkt sichtbar (wahr‐ nehmbar) wird und nach außen wirkt (vgl. Sandig 2009). Der Text wird zu einem Produkt, das als Vor-Zeige-Objekt präsentiert wird. Entsprechend kann es genutzt werden für die Selbstdarstellung der Text- Produzierenden (Image- und Reputationsarbeit) sowie für die Aufmerksam‐ keitslenkung und Mobilisierung der Adressaten (vgl. Sandig 1983; auch: „Stil-von“ und „Stil-für“ in Rothkegel 2001; Sandig 2007). Selektion und Komposition finden im Begriff des Designs ihren modernen Ausdruck. Ziel ist eine „Textgestalt“ im Sinne der Gestalttheorie (Fitzek /  Salber 1996; bezogen auf Stil vgl. Abraham 2009), die kreativ, aber auch gemäß gel‐ tenden und technisch vorgeprägten Standards zustande kommt. 3 Wissenschaftskommunikation im „stillosen Stil“? In diesem Abschnitt versuchen wir, mit dem skizzierten Stilbegriff dem ‚mo‐ dernen Outfit‘ der hypermedialen Kommunikation, gestaltet unter den As‐ pekten des technisch, d. h. software-gesteuerten Mediendesigns gerecht zu werden. Die seit dem Jahr 2000 kontinuierlich aufgelegten Präsentationen der Wissenschaftsjahre (WJ) bilden eine Art Serie (WJ-Serie), die für die Öffent‐ lichkeit im Internet verfügbar ist. Wir beziehen uns hauptsächlich auf die Prä‐ sentationen im Zeitraum 2010 bis 2018: 2010 Die Zukunft der Energie, 2012 Zu‐ kunftsprojekt Erde, 2013 Die demografische Chance, 2014 Die digitale Gesellschaft, 2015 Zukunftsstadt, 2016-17 Meere und Ozeane, 2018 Arbeitswelten der Zukunft. Als eine Art roter Faden zieht sich eine positiv-optimistische Zu‐ kunfts-Orientierung durch die gesamte Serie. Ansonsten wird eine Kontinuität im Sinne einer thematischen Verbindung und Kohärenzbildung zwischen den Einzeljahrespräsentationen nicht hergestellt (vgl. Kritik in der Begleitforschung zur Wirksamkeit der WJ in der in Abschnitt 1 erwähnten Evaluation). Eine Ko‐ härenzbildung wäre u. a. vorstellbar, wenn es einen gemeinsamen Rahmen hin‐ sichtlich wissenschaftlicher Vorgehensweisen gäbe, etwa mit grundsätzlichen Fragen wie „Was ist der Fall und warum ist es so? “ oder die eher angewandt wissenschaftliche Perspektive mit Fragen wie „Was ist gut bzw. nicht gut für die Lösung des Problems x? “ Zur Kohärenzbildung könnte auch ein mit dem Diskurs wachsendes Glossar der Begrifflichkeiten beitragen, das auf der Grundlage eines 248 Annely Rothkegel impliziten Wissensschemas für inhaltlichen Zusammenhang und damit für An‐ schlussmöglichkeiten der Wissenschaftsjahre untereinander sorgen würde, zumal solche thematischen Verbindungen (z. B. „Digitalisierung“ im WJ 2014 und im WJ 2018) bestehen. Im Hinblick darauf, dass es dennoch durchlaufende Konstanten bei den Ein‐ zelpräsentationen gibt, betrachten wir die Gesamt-Serie - zumindest seit der Neuausrichtung im Jahre 2010 - als einen zusammengehörigen Mediendiskurs (Eckkrammer /  Eder 2000; Storrer 2001; Fraas /  Klemm 2005; Wagner 2005; Pent‐ zold 2007). Auf die Konstanten auf der Ebene des Designs und deren stilistische Funktionen kommen wir unten zurück. Auf der Ebene der Interaktion gehören dazu die Rollen von Autorenschaft und Adressaten, die - im Idealfall - zwischen Wissensvermittler und Ideengeber hin und her wechseln. In der Selbstdarstel‐ lung seitens des BMBF geht man von einer ‚community‘ aus, die im gemein‐ samen Dialog „die Wissenschaftskommunikation voranbringen“ soll (BMBF /  Wissenschaftsjahre). Dennoch erscheint es fraglich, von einer Diskurs‐ gemeinschaft zu sprechen, die normalerweise hinsichtlich der Mitglieder, der Methodik und der Dauer strikt durch die gemeinsame Arbeit an einem (hier: wissenschaftlichen) Thema bestimmt ist. Insofern es vor allem um Problemlö‐ sungen geht und weniger um Entwicklung und Identifikation von Fragestel‐ lungen, kommen eher die Merkmale einer Praxisgemeinschaft als die einer Dis‐ kursgemeinschaft in den Blick (vgl. Pogner 2012). Auch sind weitere Aspekte wie die Trends zur Popularisierung im Sinne einer Erlebnisgemeinschaft zu be‐ achten („Wissenschaft soll Spaß machen“), die insgesamt eher in die Event- Kultur der Gegenwart passen (vgl. Rothkegel 2013b). Was ebenfalls den Status einer Diskursgemeinschaft schwächt, ist der bereits erwähnte Mangel an Kohärenz, der durch die vom Multimedium vorgegebenen Strukturierungsmöglichkeiten der Inhalte begünstigt wird. Wir haben es hier zu tun mit der prinzipiellen Fragmentierung in viele relativ kleine Text-Bild- Pakete, die untereinander mehr oder weniger stark vernetzt sind und in diesen Verschränkungen einen Textraum erzeugen, in dem sich die BesucherInnen be‐ wegen, wobei jeweils nur ein kleiner Ausschnitt auf der gerade besuchten Ein‐ zelseite sichtbar ist (Storrer 2000; vgl. auch Abb. 4, 5, 7, 8). Anders als beim Verstehen des linearen Printtextes, wo die Kohärenz während des kontinuier‐ lichen Lesens sukzessiv durch Umwandlung in eine (mentale) hierarchische Struktur aufgebaut wird (veranschaulicht im Modell von van Dijk 1980; 2015), kommt beim hypermedialen Text eine Kohärenz im Sinne der Textualitätskri‐ terien (de Beaugrande /  Dressler 1981) nicht zustande (vgl. auch Wüest 2011). Hier - so bereits als Hypothese in Fix (2005) formuliert - greift die Stilbildung einheitsstiftend ein und kompensiert die fehlende inhaltliche Kohärenz. 249 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil In den inhaltsbezogenen Analysen der Website vom Wissenschaftsjahr 2012 (Zukunftsprojekt Erde (WJ 2012); vgl. Rothkegel 2013a; 2015a) war festgestellt worden, dass es eine Tendenz gibt hin zur deskriptiv-assoziativen, also additiven Themenelaboration, die prinzipiell „endlos“ ist („Endlostext“ in Rothkegel 2015a). Was ihn als Einheit erkennen lässt, ist schließlich die Textgestaltung. Sie sorgt dafür, dass der Eindruck der Geschlossenheit durch sichtbare Zugehörig‐ keit der Teile im Sinne einer „Gestalt“ entsteht. Kontinuierlich wiederholt werden dazu Parameter wie Einsatz des Logos zum WJ, Flächenverteilung, Schrifttypen, Absatzgestaltung, Farbverteilung usw. Vom Erscheinungsbild her gibt es über die letzten Jahre hinweg sowohl gleichbleibende Elemente (z. B. der Thementitel im eingerahmten Kasten links oben) wie auch Veränderungen. In‐ wieweit beide stilrelevant sind, soll geklärt werden. Dabei spielt u. a. die Tat‐ sache eine Rolle, dass sich technische Erneuerungen der Text- und Bildbearbei‐ tung und die (modischen) Konventionen des Designs auf die Art der Präsentation auswirken. Zu beobachten ist, dass sich die Flächenaufteilung für die informativen Bildtexte im Trend verändert hat. So findet sich im WJ 2010 noch eine dreispaltige Version (Abb. 4), vorwiegend zweispaltig wird es im WJ 2012 (Abb. 5) und Präferenzen für Einspaltigkeit (Abb. 6) zeigen sich im Wis‐ senschaftsjahr WJ 2018. Auch hier, so scheint es, kann man aus der Not eine Tugend machen, indem die Präsentationen wegen der Lesbarkeit an die klein‐ formatigen Displays der modernen mobilen Kommunikationsgeräte angepasst werden. 250 Annely Rothkegel Abb. 5: Zweispaltiges Webdesign im Wissenschaftsjahr 2012 (WJ 2012) Abb. 4: Dreispaltiges Webdesign im Bericht zum Wissenschaftsjahr 2010 (WJ 2010) 251 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil Abb. 6: Einspaltiges Webdesign im Wissenschaftsjahr 2018 (WJ 2018) In Relation zu inhaltlichen Aspekten wie Wiedererkennbarkeit oder der wie‐ derholten gleichartigen Markierung von kommunikativen Handlungen (z. B. Mitmach-Aufforderungen oder Danksagen mit WIR SAGEN DANKE auf der Startseite in einem großflächigen Trailer mit grafischem Laufband als Blickfang (Schmitz 2011) entsteht eine Dichte in den Verbindungen der Teile, die als Text- Konsistenz verstanden werden kann. In diesem Sinne würde Kohärenz durch Konsistenz der komponierten Tableaus ersetzt werden. Die Tableaus ziehen - mit den in den Jahresversionen nach und nach größerflächig werdenden Bil‐ dern - die Aufmerksamkeit auf sich (Sandig 2000; Schmitz 2003). Sie werden - bereits aus der Werbung bekannt - schnell als solche wahrgenommen (zu den Inhalten der Bilder s. den nächsten Abschnitt). Schauen wir uns die Organisationsstruktur noch etwas im Detail an. Es lassen sich grob drei Ebenen mit jeweils unterschiedlichen Kommunikationsaufgaben zuordnen: die Ebene für Einführung und Management, sodann die Organisation der Themen auf zwei Stufen (Kurz-Bild-Texte und fachliche Langtexte) sowie die beide Ebenen überlagernde Organisation der Interaktion. Mit dem Start befindet man sich auf der Managementebene. Hier eröffnet der Überblick über das Gesamtangebot den Einstieg und die Navigation. Als Ele‐ mente der Textbildung erscheinen Navigationsleisten, Titel und Untertitel (häufig als Links), Ankündigungstexte, Bilder. Sie führt zur Ebene der Themen‐ elaboration auf zwei Stufen, wobei auf der ersten Stufe die verschiedenen Sub‐ themen (Handlungsfelder) in mittellangen Bild-Texten eingeführt werden, die verknüpft sind mit fachlichen Spezialthemen auf einer zweiten Stufe, die wie‐ derum durch externe Links mit anderen Websites verbunden sind. Folgendes Beispiel für die Heterogenität eines Pfades veranschaulicht eine typische addi‐ 252 Annely Rothkegel 7 Auf der Seite des WiD (WiD 2018) findet sich die interessante Ankündigung, dass man in Zukunft verstärkt wissenschaftliche Visualisierungen einbeziehen wird. Damit würde man an eine seit Jahrhunderten bestehende Tradition der bildlichen Darstel‐ lungen in den Wissenschaften anknüpfen (vgl. Robin 1992; Kemp 2003; zur Visualisie‐ rung vgl. Frank /  Lange 2010; Ballstaedt 2012). tive Verknüpfungsstruktur: Die digitale Gesellschaft > Aktuelles > Themen‐ felder > Usability > Exkurs: Wissenschaft trifft Praxis > Interaktion als Erlebnis > Beteiligte > vollständiger Artikel „…“ (Onlinefassung eines Printtextes). Zusammengefasst lässt sich folgende Situation erkennen: Die Hauptfrage, ob man der Gesamtstruktur der WJ-Serie einen eigenständigen Stil zuordnen kann, würden wir verneinen. Die äußere Erscheinungsform der Textgestalt entspricht den Standards des programmierten (Software-gesteuerten) Mediendesigns, wie sie auch von anderen Web-Autoren in der öffentlichen Kommunikation ver‐ wendet werden (z. B. das BMBF als Ministerium, die Deutsche Forschungsge‐ meinschaft und Volkswagenstiftung (beide mit weniger Bildern)), ebenso Kom‐ munen und Unternehmen. In den neueren Präsentationen gehen die Trends hin zu mehr Übersichtlichkeit, mehr Weißraum im Layout, einer ausgeglichenen Flächenverteilung von Bild und Text sowie zur Präferenz von Einspaltigkeit. Was auffällig ist, ist die generelle Zunahme von Bildern und von Verände‐ rungen hinsichtlich der Thematik der Abbildungen. Dies betrifft vor allem die Personenfotos mit charakteristischem Hintergrund. 7 Im WJ 2012 (Zukunftspro‐ jekt Erde) werden (mögliche) Forscher bzw. Forscherinnen dargestellt, die als solche kenntlich gemacht sind durch einen grafischen Hintergrund, der mit As‐ soziationen an wissenschaftliche Symbole an deren Tätigkeitsumfeld erinnert. 253 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil Abb. 7: Text-Bild: Wissenschaftsjahr 2018 (Themenfelder / Wachsende und lernende Arbeitswelt) Abb. 8: Text-Bild: Wissenschaftsjahr 2018 (Themenfelder / Vielfältige und gestaltbare Arbeitswelt Abb. 7: Text-Bild: Wissenschaftsjahr 2018 (Themenfelder / Wachsende und lernende Arbeitswelt) In der Präsentation des WJ 2018 sieht man Personen, die die Adressaten reprä‐ sentieren, zusammen mit symbolischen Hintergründen und selbst als Symbole für die zukünftige Arbeitswelt. Abbildung 7 zeigt ein (männliches) Kind (als Zukunftsträger), das einen Roboter montiert, Abbildung 8 zeigt einen jungen Mann mit Laptop, der auf einer Bergspitze (mit romantischem Bergpanorama und dem Horizont in der Ferne) arbeitet. Bemerkenswert ist, dass in diesen beiden Beispielen gleichermaßen romantisches Gedankengut zusammen mit HighTech-Symbolen angesprochen wird (auf diesen Punkt kommen wir bei der fachbegrifflichen Analyse im nächsten Abschnitt zurück). 254 Annely Rothkegel (Themenfelder / Wachsende und lernende Arbeitswelt) Abb. 8: Text-Bild: Wissenschaftsjahr 2018 (Themenfelder / Vielfältige und gestaltbare Arbeitswelt Abb. 8: Text-Bild: Wissenschaftsjahr 2018 (Themenfelder /  Vielfältige und gestaltbare Arbeitswelt) Insgesamt bildet die verwendete ‚Formensprache‘ für die Wissenschaftskom‐ munikation kein Unterscheidungsmerkmal zu den Standards der sonstigen öf‐ fentlichen Kommunikation. Insofern könnte man den Ausdruck vom „stillosen Stil“ verwenden, den der Architekt Adolf Loos als Charakteristik für das Wien des frühen 20. Jahrhunderts gebraucht hatte (Munch 2005). Er repräsentiert, was allen Internetbesuchern vertraut ist, was gerade ästhetisch und technisch up‐ todate und populär ist - und kennzeichnet die Wissenschaftskommunikation im Sinne von „Wissenschaft für alle“. Von einem anderen Blickwinkel aus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es diese eher „stillose“ Formensprache ist und nicht etwa Thema und /  oder Funktion, die den ansonsten heterogenen Diskurs zusammenhält, indem sie für eine gewisse Konsistenz des Ganzen sorgt. 4 ‚Semantisches Jonglieren‘ als Stilmittel der Popularisierung (oder Zukunft passt immer) Zusammen mit den Subthemen „Bürgerdialog“ und „Citizen Science“ (vgl. auch Finke 2014) stehen die Texte unter „Die Wissenschaftsjahre“ für das Anliegen des BMBF, Wissenschaft und insbesondere die Wissenschaftskommunikation 255 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil 8 Adamzik (2018: 123) benennt die Schwierigkeiten solcher Experten-Bürger-Dialoge, u. a. auch mit Bezug auf die Bürgerdialoge des BMBF (Anm. 47) und verweist auf das belegte Scheitern (anhand von entsprechenden Untersuchungen). (1) (2) als solche zu fördern. Lassen wir zunächst die Autoren (BMBF /  Wissenschafts‐ jahre) zu Wort kommen: Über uns > Die Wissenschaftsjahre: In den Wissenschaftsjahren suchen Forscherinnen und Forscher alljährlich den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Sie wollen Wissenschaft er‐ lebbar machen, Debatten anregen, Zukunftsfragen beantworten und dis‐ kutieren. (BMBF /  Wissenschaftsjahre) (Startseite) Bürgerbeteiligung und Wissenschaftskommunikation: Forschung macht Spaß - und das zeigen die Wissenschaftsjahre. Sie bieten viele spannende Aktivitäten, regen Debatten an und zeigen, dass Forsche‐ rinnen und Forscher nicht im Elfenbeinturm sitzen. Den Berufswissen‐ schaftlern an den Universitäten und Instituten stehen längst begeisterte Hobbyforscher zur Seite. Citizen Science findet immer mehr Anhänger. Und ist für die Wissenschaft eine große Chance. Für die Bürgerdialoge gilt das allemal. Das Bild von Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation erhält in den einführenden Kurztexten einen Kommunikationsraum, in dem den Adressaten, Bürgern und Bürgerinnen, ein Platz neben den Forschenden eingeräumt wird. Dabei wird die Chance thematisiert, Wissenschaftskommunikation eben nicht im Sinne eines einseitig gerichteten Transfer- oder Containermodells zu ver‐ stehen, in dem Experten (als gefüllte Wissenscontainer) den Nichtexperten (als leere Container) aus ihrer Sicht die Welt erklären (und die leeren Container auffüllen). Das funktioniert nicht, da es in der Kommunikation, auch in der Ex‐ perten-Nichtexperten-Kommunikation, keine nur ‚vollen oder leeren Wissens‐ container‘ gibt, sondern ein Textbzw. Wissensverständnis in Abhängigkeit der Kommunikationssituation entsteht (vgl. Rothkegel 2010; 2015c). Eine Möglich‐ keit (der Popularisierung von Wissenschaft) besteht allerdings darin, an ein eher landläufiges Wissenschaftsbild anzuknüpfen, das in wissenschaftsfernen Mi‐ lieus üblich ist, was dem Trend der Präsentationen der WJ zu entsprechen scheint. Die Strategie des ‚Abholens‘ der Adressaten durch Bezug auf das ‚be‐ kannte und vertraute‘ Wissen und die Art, in der es formuliert ist, war bereits oben (mit Hinweis auf die Evaluierung 2017) erwähnt worden. 8 Dieses Problem der Wissensbzw. Wissenschaftsvermittlung ist altbekannt, wird aber häufig mit der Komplexität der wissenschaftlichen Gegenstände bzw. der Sachverhalte in der Realität in Verbindung gebracht. Weniger Beachtung - 256 Annely Rothkegel auch in der Fachsprachenlinguistik - findet die Tatsache, dass das Instrument der Analyse und Vermittlung, die Sprache selbst, eine dynamische Rolle im Kommunikations- und Verständigungsprozess spielt. In der argumentativ dis‐ kutierten Gegenüberstellung eines ‚taxonomischen Ansatzes‘ (Sprache als Ab‐ bildung von Welt) mit einem ‚konstruktivistischen Ansatz‘ (Sprache als Kon‐ struktionsmittel für verschiedene Perspektiven auf die Welt) werden die Unterschiede in den Zugängen der Fachsprachenlinguistik deutlich (vgl. Adamzik 2018). Es stellt sich die Frage, inwieweit das zweitgenannte Verständnis vom Sprachgebrauch neue Einsichten über die gestalterische Stilbildung er‐ möglicht. Wir versuchen in diesem Abschnitt, die stilbildende Kraft des ‚se‐ mantischen Jonglierens‘ unter dem Aspekt der Aufmerksamkeitslenkung bei einer „Wissensvermittelnden Kommunikation“ herauszustellen. ‚Semantisches Jonglieren‘ zeigt sich in der Tendenz der Bedeutungsentlee‐ rung bzw. Bedeutungsanreicherung fachlicher oder alltagssprachlicher Begriff‐ lichkeiten. Dies lässt sich anhand eines einfachen Schemas der Verteilung von Extension und Intension bei der Bedeutungsveränderung von Begriffen dar‐ stellen (vgl. Abb. 9). Begriffsbildung Extension (Umfang; Art und Anzahl von Einsatzmöglichkeiten in verschiedenen Kontexten) Intension (Inhalt; Art und Anzahl von spezifizierenden und klassenunterscheidenden Merkmalen fachlich Beispiel: weniger mehr Beispiel: Zukunft-2 nicht-fachlich anders alltäglich Zukunft-1 mehr weniger Abb. 9: Dynamik der Begriffsbildung zwischen Extension und Intension (eigene Darstellung) Abb. 9: Dynamik der Begriffsbildung zwischen Extension und Intension (eigene Dar‐ stellung) Hinsichtlich des linguistischen Ansatzes beziehen wir uns auf ein Phänomen, das wir als ‚semantisches Jonglieren‘ bezeichnen. Gemeint ist das Handhaben von Übergängen zwischen dem fachlichen, nicht-fachlichen und alltagssprach‐ lichen Charakter themenrelevanter Begriffe, wie dies für Transfer-Situationen der Experten-Nichtexperten-Kommunikation (vgl. Niederhauser /  Adamzik 1999; Rothkegel 2008; Perrin /  Kleinberger 2017) typisch ist. Während fachliches lexikalisches Material in der Terminologielehre einen festen Stellenwert hat (Arntz u. a. 2004; Hennig /  Tjarks-Sobhani 2008), wird der Rolle des nicht-fach‐ lichen Vokabulars weniger Aufmerksamkeit zuteil, obwohl es ein frequentes Phänomen ist. Meyer (1994) hat solche in Wissenschaftstexten häufigen fach-unabhängigen Begriffe wie Analyse, Maßnahme, Organisation, Verfahren 257 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil von terminologischen Fachbegriffen wie Textsorte oder Textualität unter‐ schieden. Semantisch gesehen, sind die Fachbegriffe (im terminologischen Sinn extensional, Umfangsbedeutung) spezifischer als andere, sie können nur in fach-affinen Kontexten ihr intensional reichhaltiges Bedeutungspotenzial (viele klassenunterscheidende Merkmale) entfalten. Ausdrücke, die zwar in fachlichen Kontexten ihren Platz haben, aber in vielen Kontexten verwendet werden können, weisen eine reduzierte Anzahl von Unterscheidungsmerkmalen auf, was ihren vielfältigen Einsatz ermöglicht. Nun ist das Phänomen zu beobachten, dass fachliche Ausdrücke mehr und mehr zu nicht-fachlichen werden, d. h. sie verlieren an Intension (Merkmalen) und gewinnen an Einsatzmöglichkeiten. Dieser Verlust von Unterscheidungsmerkmalen kann bis zur völligen Bedeu‐ tungsentleerung voranschreiten, was Grober (2010) für den Begriff der Nach‐ haltigkeit in kulturwissenschaftlicher Perspektive anschaulich herausgearbeitet hat (zum schwierigen Verhältnis von Sprache, Wissen und Verstehen vgl. Met‐ zeltin 2007; Adamzik 2010; Rothkegel 2012; Trabant 2012; Viehhöfer u. a. 2013; Felder /  Gardt 2014). Der inflationäre Gebrauch in einer Vielzahl von Anwen‐ dungskontexten führt dazu, dass ehemals fachliche Begriffe den Status nicht-fachlicher Begriffe mit reduziertem Bedeutungsgehalt übernehmen, ja es kann darüber hinaus bis hin zur völligen Bedeutungsentleerung kommen, wobei die positive Konnotation als Symbolwert überlebt (siehe unten), während die Denotation (Referenz) verschwunden ist. Dies ist allerdings kein Nachteil, son‐ dern macht solche Ausdrücke zu einem idealen Kommunikationsmittel in schwierigen Kontexten. Weber (2010) spricht in diesem Sinne von „Knotenbe‐ griffen“ (vgl. Weber 2010). Hier kreuzen sich viele Wege, die vielen Akteuren die Beteiligung an der Kommunikation ermöglichen. In der Regel bleiben die Aktualisierungen der möglichen Bedeutung offen oder es kommt zu einer elas‐ tischen Anpassung an die spezielle Situation. Diese semantische Instabilität (vgl. Pohl 2002; Pohl /  Konerding 2004) gehört zu den Merkmalen von Textbildungs‐ mitteln, die in gemischten Gemeinschaften, in inter- und transdisziplinären Kontexten und generell in der Experten-Nichtexperten-Kommunikation ver‐ wendet werden. Zur Stilbildung tragen sie bei, wenn sie demonstrativ und wie‐ derholt ‚gezeigt werden‘, so z. B. bei den Themen einer sukzessiven Reihe von WJ, bei denen immer wieder Ausdrücke aus dem Begriffsfeld Zukunft verwendet werden. Explizit sind die WJ 2010 (Zukunft der Energie), WJ 2012 (Zukunftspro‐ jekt Erde), 2015 (Zukunftsstadt) und 2018 (Arbeitswelten der Zukunft) durch Zu‐ kunftsorientierung geprägt. Mit Bezug auf das Schema der Dynamik von Be‐ deutungsveränderungen (vgl. Abb. 9) verfolgen wir exemplarisch einige Vorkommensweisen, in denen 258 Annely Rothkegel (i) (ii) (3) der Alltagsbegriff Zukunft (ebenfalls repräsentiert durch den Alltagsaus‐ druck anders) durch Verwendung im Wissenschaftskontext (= reduzierte Einsatzoptionen) hinsichtlich seiner spezifizierten Merkmale angereichert ist und damit den Status eines fachlichen oder zumindest eines quasi-fach‐ lichen Ausdrucks erhält; der Fachbegriff Zukunft in einem als werbend-popularisierend verstan‐ denen Kontext der Wissenschaftskommunikation (= vermehrte Einsatz‐ optionen) die spezifizierenden Bedeutungsmerkmale verliert, die durch eher wertende Einordnungen mit Symbolgehalt ersetzt werden. Im kulturwissenschaftlichen Kontext ist Zukunft ein Fachbegriff, der zwei ver‐ schiedene Perspektiven hinsichtlich der „noch nicht-erlebten, unbekannten Zeit“ (alltagssprachlich) unterscheidet (Hölscher 2011: 403): a. In der naturorientierten Sicht von Zukunft ist ein Ergebniszustand quasi a. schon im Kern vorgegeben, die Entwicklung bewegt sich und entfaltet sich darauf hin, so wie aus einem Apfelkern per Naturgesetz ein Apfel‐ baum wird. Diese Vorstellung bildet die Basis für Metaphern einer zu‐ künftigen Entwicklung in geistigen, religiösen oder quasi-religiösen (my‐ thischen) Weltbildern. Dazu gehören auch Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung von technischen Innovationen (das kommt). b. In einer ergebnisoffenen Sicht schreitet man in der Zeit voran (Fort‐ b. schritt). Hier ist Zukunft von Entscheidungen abhängig und verantwor‐ tungsvoll gestaltbar. Diese Sicht stammt u. a. auch aus der Nachhaltig‐ keitsdebatte, wo positiv konnotierte Zukunftsfähigkeit der negativ konnotierten Zukunftsignoranz gegenübergestellt wird. In den Texten der WJ sind beide Perspektiven vertreten, ohne dass dies unmittelbar er‐ kennbar wäre. Betrachten wir zunächst die Tendenz der Bedeutungsanreicherung bei redu‐ zierten Einsatzmöglichkeiten, also vom Alltäglichen hin zu mehr Fachlichem (vgl. (i)). Ein Schlüsselwort ist anders. Bei der Vermittlung der Nachhaltigkeits‐ debatte (WJ 2012, Zukunftsprojekt Erde) kennzeichnet es den grundsätzlichen Wandel gegenüber dem (als ungenügend eingeschätzten) Bisherigen. Wie wollen wir leben? Anders leben. […] Wir werden künftig anders bauen und wohnen, essen und trinken, un‐ terwegs sein, kommunizieren. […] Wie müssen wir wirtschaften? Anders wirtschaften. […] 259 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil 9 Dieses Stilmittel wird auch im WJ 2014 (Digitale Gesellschaft) eingesetzt, so in der formelhaften Wiederholung von Drei-Wort-Sätzen, wie sie in der Werbung aktuell sind: DIGITAL IST ANDERS; DIGITAL IST SCHLAU; DIGITAL IST PRIVAT (WJ 2014); in einer früheren Version stand: DIGITAL IST EINFACH; DIGITAL IST BEQUEM; DIGITAL IST PRIVAT. 10 Vgl. WJ 2015 > meldungen-aus-der-wissenschaft > das-sagen-die-experten > quartiers‐ konzepte-vernetzt-und-partizipativ. (4) Anders, ein alltagssprachlicher Ausdruck, erhält hier den Status eines nicht-fach‐ lichen Begriffs mit eingeschränkter Referenz. Er steht für Wandel, Transforma‐ tion, also relationale Begriffe. Die angedeutete Referenz erhält ihre Bedeutung durch die Negation von Vorhandenem (anders heißt anders als bisher mit den etablierten Strategien). Mit der rhythmischen Wiederholung im Sinne eines At‐ traktivmachers entsteht eine Auffälligkeit, die die Aufmerksamkeitslenkung unterstützt. 9 Die gestaltbare Zukunft ist eingeschränkt nach vorne gerichtet und bedeutet vor allem weg vom gewohnten Bisherigen. Auch im WJ 2015 (Zukunftsstadt) wird das sprachliche Mittel anders stilbil‐ dend eingesetzt (vgl. auch WJ 2014, s. Anm. 9): Quartiersansätze stehen für eine andere Beteiligungskultur […], […] fußen daher auf einem anderen Altersbild […]. Es müssen andere Organisati‐ onsstrukturen […] aufgebaut werden. 10 Im Kontext der auffällig vielen fachlichen Ausdrücke (z. B. sozialräumliche An‐ sätze, Quartierskonzepte, Moderationsfähigkeit, Klimabilanz) gerät das alltags‐ sprachliche Wort anders in deren semantische fachliche Nähe. Anhand etlicher konkreter Beispiele erscheint die ‚Vision‘ von der Zukunftsstadt relativ spezifi‐ ziert, Zukunft (nun befreit vom Bisherigen) wird vorstellbar gemacht in vielen kleinen konstruierten oder bereits als Experimente durchgeführten Szenarien, die die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung in den Anfängen sichtbar ma‐ chen. Die umgekehrte Tendenz (vgl. (ii)), vom Fachlichen zum Nicht-Fachlichen oder Alltäglichen zeigt sich, wenn wir den für das WJ 2018 zentralen Begriff der Arbeit bzw. Arbeitswelten im Zusammenhang mit den thematisierten Zukunfts‐ vorstellungen betrachten. Hier mischen sich Zugeständnisse des Nicht-Wissens (vgl. Janich u. a. 2012) mit Versprechungen hinsichtlich des noch Unvorstell‐ baren, zum Teil wiederum in syntaktisch parallelen, formelhaften Konstruk‐ tionen und stereotypen Sprechweisen. Die folgenden Beispiele beziehen sich auf Teiltexte, die unter der Rubrik „Das Wissenschaftsjahr“ im Rahmen der Inter‐ netseite für das WJ 2018 das Konzept für Arbeit charakterisieren. Beim Unter‐ punkt „Über das Wissenschaftsjahr“ steht folgender Einführungstext: 260 Annely Rothkegel (5) (6) (7) (8) Überschrift: Die Arbeit von morgen: Entdecken Sie, was in Zukunft mög‐ lich wird! Kurztext: […] Überschrift: Ermöglichen, was heute unmöglich erscheint. Kurztext: […] Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen forschen nach Antworten auf die drängendsten Fragen zu den Arbeitswelten der Zukunft. Sie wollen ermöglichen, was heute unmöglich erscheint. Der Kollege ein Roboter, der Arbeitsplatz im Grünen, neuartige Arbeitszeitmodelle […]. Der häufig hergestellte Bezug zum Menschen wird u. a. im Unterpunkt „The‐ menfelder“ beschrieben. Im Einführungstext findet sich Folgendes: Überschrift: Themenfelder Kurztext: […] Menschen auf der ganzen Welt entwickeln gemeinsam digi‐ tale Lösungen für alltägliche Probleme. Menschen programmieren smarte Maschinen, die auch in traditionellen Berufen eingesetzt werden. […] Und der klassische Nine-to-Five-Job kann plötzlich flexibel gestaltet werden - und wird im Coworking Space erledigt. Die weiteren Kurztexte zu den insgesamt vier Themenfeldern, von denen wir zwei unten ausschnitthaft zitieren, gehen auf das Konzept von Zukunft ein (vgl. auch Abb.7): Überschrift: Wachsende und lernende Arbeitswelt Kurztext: Wie genau die Arbeitswelten der Zukunft aussehen werden, kann heute noch niemand sagen. Sicher ist jedoch: Um sie aktiv zu ge‐ stalten, wird die Entwicklung von Kompetenzen immer wichtiger - be‐ sonders im Hinblick auf den Umgang mit Daten. Überschrift: Vernetzte und automatisierte Arbeitswelt Kurztext: Was genau Roboter bald alles für uns tun können, ist heute schwer vorstellbar. Sicher ist: Menschen werden die neuen Kollegen per‐ manent steuern und kontrollieren müssen. Und der Mensch entscheidet, wann Roboter zum Einsatz kommen - und wann nicht. Immerhin wird deutlich, dass die Themen „digitalisierte Arbeit“ (Kollege Roboter, smarte Maschinen, Produktionsprozesse optimieren, in allen Branchen und im All‐ tagsleben bedeutsam sein, digitale Lösungen für alltägliche Probleme entwickeln) und „Mensch“ (in seiner neuen Rolle: eigenen Lebensentwurf selbst gestalten, le‐ benslanges Lernen, bedingungsloses Grundeinkommen (bei Auszeiten) (! )) im Vor‐ dergrund stehen. Arbeit und Arbeitswelten, die Mensch und Maschine verbinden, sind gekennzeichnet durch flexible Arbeitsmodelle, schneller, effizienter, Arbeit 261 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil 11 Im Wortlaut: Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2018 - Arbeitswelten der Zukunft (WJ 2018 > neues-aus-den-arbeitswelten > das-sagt-die-wissenschaft). (9) ins Home Office verlegen, Chancengleichheit für Frauen usw. Anzumerken ist, dass auch begrifflich differenzierte, teilweise kritische und wissenschaftlich fundierte Betrachtungen zum Begriffsfeld „digitalisierte Arbeit“ unter der Ru‐ brik „Das sagt die Wissenschaft“ angeboten werden (Algorithmen unter Kontrolle halten, sinnvolle und überflüssige Anwendungen der Digitalisierung, Arbeitsin‐ tensität, Stressoren, Gefährdungsbeurteilung usw.) so etwa in den Expertenbei‐ trägen, die als Links im Einführungstext von „Das sagt die Wissenschaft“ an‐ geboten werden. Überschrift: Das sagt die Wissenschaft Kurztext: Was halten die Arbeitswelten der Zukunft für uns bereit? […] Expertinnen und Experten nehmen Sie mit auf ihre Entdeckungsreise und geben Antworten auf spannende Fragen. Hier gibt es Links auf (kritische) Expertenbeiträge u. a. zu Elemente einer ‚Kritik der Künstlichen Vernunft‘ - Anmerkungen zu Hawkings Warnung und einer ‚Computerethik‘ (George Rainer Hofmann) und Keine Digitalisierung ohne klare Prozesse! Oder: Effiziente Digitalisierung, aber wie? (Olaf Eisele). Am Ende jedes Expertenbeitrags findet sich, kenntlich gemacht durch kursive Hervorhebung, ein Hinweis auf die Unabhängigkeit dieser Beiträge von den Texten des BMBF. 11 Auch die Verwendung von Bildmaterial steht im Dienste der werbenden Auf‐ merksamkeitslenkung, wobei die fachliche Bedeutungsleere durch wertende Symbole, so etwa durch den Einsatz von Kind-Abbildungen aufgefüllt ist. Ein Beispiel dafür findet sich auf einem Foto der Einführungsseite der allgemeinen Internetseite des BMBF zu den Wissenschaftsjahren. Unter der ersten Über‐ schrift „Bürgerbeteiligung und Wissenschaftskommunikation“ erscheint eine zweite Überschrift „Die Wissenschaftsjahre“. In den darauf folgenden Kurztext ist ein Foto eingebettet, auf dem zwei Kinder ( Junge und Mädchen, beide in bequemer Liegeposition auf ihr Mobilgerät vor sich schauend) abgebildet sind und das folgenden Schriftzug enthält: WIR WERDEN IN KLEINEN BÜROS große Wunder vollbringen. Im Bildteil zur Eröffnung des Wissenschaftsjahres 2018 erscheint der Slogan „Mensch und Maschine Hand in Hand“ in Szene gesetzt durch ein entsprechendes Foto (vgl. Abb. 10) mit dem Untertitel „Bundesfor‐ schungsministerin Johanna Wanka wird von Roboter Emma begrüßt“. 12 262 Annely Rothkegel 12 Tatsächlich zeigt das Foto, wie sich die Ministerin zu dem androiden Roboter in Klein‐ kindgestalt (120 cm groß) hinunter neigt und an der unbeweglichen Hand anfasst. Abb. 10: Eröffnung des Wissenschaftsjahres 2018 (19. Februar 2018) Kinderbilder haben einen hohen Emotionalisierungsgrad (vgl. Rothkegel 2015b), der generell in den Medien (einschl. der halböffentlichen Sozialen Medien) als Attraktivmacher gilt. In der Präsentation des WJ 2018 sind sie, ähnlich wie in der romantischen Malerei von Runge, als Zukunftssymbole zu verstehen. Es gilt das metaphori‐ sche Motto „hier entwickelt sich etwas, das mal groß sein wird“, das im Bezug auf „Wissenschaft bzw. Technik als Faszinosum“ auf jeden Fall positiv konnotiert ist. Dieser Symbolwert entspricht der gesamten, vagen Gestimmtheit, Bilder und Werbesätze verbreiten ein Versprechen in eine Zukunft, die zwar offen ist, gleichzeitig in ihrer Großartigkeit (das weiß man immerhin) „auf uns zukommt“. In dieses Zukunftsmodell mischen sich die beiden Zukunftsvarianten, auf die Hölscher (2011: 403) aufmerksam gemacht hat: die mythisch-naturwissenschaft‐ liche Gewissheit hinsichtlich einer im Kern bereits vorgeprägten Entfaltung ei‐ nerseits und die prinzipielle Ungewissheit eines offenen ‚Fortschritts‘ anderer‐ seits. Fassen wir zusammen: Zukunft ist das Andere (WJ 2012), das Innovativ-Vor‐ stellbare (WJ 2015), aber auch das bislang Unmögliche und Nicht-Vorstellbare (WJ 2018). Während beim Bezug auf die Zukunftsstadt bereits konkrete Projekte im Fokus sind und die Zukunft sich so mit Vorstellbarem verbindet, bleibt beim Zukunftsthema des digitalen Umbaus der Arbeitswelt für die Fantasie viel Raum, wobei Zukunft als Chance verstanden wird. Insbesondere im WJ 2018 vermittelt 263 Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil sich eine Art (endgültige) Trendwende hin zum Primat des technisch Machbaren, wo der Mensch seinen Platz (neu) bestimmen muss. Letzteres wird verschiedentlich in den Texten erwähnt, wird aber eher als eine Folge der Ent‐ wicklung und nicht als deren Zielsetzung betrachtet. Der Wissenschaftskom‐ munikation kommt dabei neben der Informierung über Sachverhalte, Ereignisse und Projekte die Aufgabe der öffentlichen Werbung für ein bestimmtes Weltbild zu, das durch die Handhabung von Stilmitteln popularisierend sichtbar gemacht wird (zur Popularisierung von Wissenschaft und Technik in Massenmedien vgl. Schweer 2010). In den skizzierten Beispielen, ausgewählt aus Texten der Inter‐ netpräsentationen der Wissenschaftsjahre 2012, 2014, 2015, 2018 und der allge‐ meinen Internetseite zu den Wissenschaftsjahren generell sind es vor allem die klassischen Stilfiguren wie syntaktisch-lexikalischer Parallelismus, wiederholt rhythmisch hervorgehobene, verschiedentlich auch Stabreimfiguren, die zu‐ sammen mit Bildandeutungen den ansonsten verdeckten Umgang mit den par‐ allelen Tendenzen der Bedeutungsanreicherung alltäglicher Sprechweisen und der Bedeutungsentleerung zentraler fachlicher Begriffe anzeigen. 5 Resümee Die Rolle des Stils zeigt sich unterschiedlich je nach Blick auf die Makro- oder Mikroebene der Internet-Plattform für die Wissenschaftsjahre. So hat sich ge‐ zeigt, dass das Gesamt-Design, das die Interaktionsebene der Wissenschafts‐ kommunikation prägt, gerade durch seine Konformität mit aktuellen Standards des Web-Designs für eine gewisse Konsistenz sorgt, die den Mangel an Kohärenz kompensiert (vgl. viele kleine Text-Bild-Fragmente mit additiv elaborierter The‐ mengestaltung). Diese einerseits einheitsstiftende Konformität verhindert gleichzeitig eine Stilbildung, die die Wissenschaftsjahre von anderen Platt‐ formen hätte unterscheidbar machen können oder die eine typische „Gestalt“ der Wissenschaftskommunikation etabliert hätte. Insofern hatten wir hierzu die aus der Architektur (Adolf Loos in Munch 2005) stammende Formulierung vom „stillosen Stil“ aufgegriffen. Auf der Mikroebene scheint uns dagegen eine Stilbildungsintention er‐ kennbar zu sein. Sie steht im Dienste des ‚semantischen Jonglierens‘, insofern zentrale Begriffe (hier am Beispiel Zukunft, anders und Arbeit demonstriert) F O R T G E F ÜH R T (im Sinne von Sandig 2006) in der Weise verwendet werden, dass ihr semantischer Gehalt angereichert oder entleert wird, wodurch die positive Konnotation bzw. ihr Symbolwert stärker in den Vordergrund rückt. So er‐ scheint auch etwas als positiv, über das man eigentlich nichts weiß, was eine eher irrationale als eine wissenschaftliche Haltung kennzeichnet. Wir hatten 264 Annely Rothkegel 13 Der letzte Zugriff auf alle Quellen erfolgte am 12.11.2018. dieses Phänomen in Zusammenhang gebracht mit der Werbung um ein be‐ stimmtes Wissenschafts- und Technologieverständnis, die im Diskurs der Wis‐ senschaftsjahre als Aufgabe der Wissenschaftskommunikation betrachtet wird. Dieses Ergebnis war zustande gekommen weniger durch eine semantische Text‐ analyse als solche als vielmehr durch deren Perspektivierung auf Fragen des Stils. 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In einer noch weiter und bewusst „zugespitzten“ Formu‐ lierung von Margot Heinemann: „Sprachliches Handeln allgemein und ‚Wissenschaftssprache‘ im besonderen sind […] die Grundlage für die Wirksamkeit wissenschaftlicher Forschungen, zugespitzt: Wis‐ senschaftlichkeit ist per se auch am sprachlichen Handeln verifizierbar.“ (Heinemann 2000: 704) 1 Zu dieser Befragung siehe die Erläuterungen unten in Abschnitt 4. Das heißt, ohne bestimmte erfolgreich durchgeführte sprachliche Handlungen, die für wissenschaftliche Texte und Textsorten konstitutiv sind, und ohne die dafür relevante ‚Wissenschaftssprache‘ kann die ‚Wissenschaftlichkeit‘ des Textes, seine wissenschaftliche Qualität, nicht überprüft und bestätigt werden. Wissenschaftliche Texte erweisen somit ihre Wissenschaftlichkeit - jedenfalls für die Kenner, also die Repräsentanten des jeweiligen Fachs - durch spezifische Inhalte, einen spezifischen textuell-methodischen Aufbau und einen eigenen „wissenschaftssprachlichen“ Stil. Deshalb wird auch bei Studierenden, ob sie nun Mutter- oder Fremdsprachler sind, die Qualität der Seminar- und Qualifi‐ kationsarbeiten zusammen mit deren Stil wahrgenommen und bewertet. Konrad Ehlich (2003: 17) nennt die Universität eine „versprachlichte Institution“: „Das universitär erarbeitete Wissen ist versprachlichtes Wissen.“ Lehrende, die Arbeiten korrigieren und bewerten, nehmen wissenschafts‐ sprachlich unangemessenen, unüblichen Stil zugleich als Mangel an Wissen‐ schaftlichkeit wahr. So lautet ein Urteil über eine Seminararbeitsprobe, das ein befragter Dozent /  eine befragte Dozentin 1 ausdrücklich in Form einer „Note in Bezug auf die Qualität des wissenschaftlichen Sprachstils“ abgeben sollte: „Mit Wissenschaftlichkeit hat der vorliegende Sprachstil wenig zu tun“, und eine Note wollte oder konnte die befragte Person deshalb (? ) gar nicht vergeben. Mängellisten in Bezug auf die Sprache studentischer Arbeiten (vgl. Pohl 2007: 18 f.) reichen von „allgemein-schriftsprachlichen Mängeln“ über „allgemeine textorganisatorische Mängel“ bis zu „spezifischen Mängeln wissenschaftlicher Textproduktion“. Ähnliches ergab eine 2013 durchgeführte Befragung von Stu‐ dierenden und Lehrenden zum Bedarf an Fördermaßnahmen für das wissen‐ schaftliche Schreiben (Hoffmann /  Till 2015). Die Frage ist aber: Welche Merkmale hat der von den Beurteilenden erwartete und als angemessen bewertete wissenschaftssprachliche Stil? Untersuchungen zur allgemeinen und fachspezifischen schriftlichen, neuer‐ dings auch zur mündlichen Wissenschaftssprache bilden in der deutschen Sprachwissenschaft mit verschiedensten Schwerpunkten ein breites For‐ schungsfeld, Textmaterial wurde reich beschrieben (s. dazu u. a. Auer /  Baßler 2007; Ehlich 1993; 2001; Ehlich /  Graefen 2002; Ehlich /  Heller 2006; Ehlich /  Steets 2003a; Fandrych /  Graefen 2010; Fandrych u. a. 2014; Feilke /  Lehnen 2012; Graefen 2001; Lévy-Tödter /  Meer 2009; Steinhoff 2007a; Szurawitzki u. a. 2015). Was aber durch sprachwissenschaftliche Auswertung von Texten, gleichgültig in welcher Zahl und Repräsentativität von Fächern und Textsorten, nicht er‐ mittelt werden kann, sind die sprachlich-stilistischen Normen, nach denen Leh‐ 272 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 2 Unter Stilnormen lassen sich zum einen allgemeine, nicht textsortenspezifische Normen wie Verständlichkeit, Klarheit oder Anschaulichkeit fassen und zum anderen Normen, die auf bestimmte Textsorten in bestimmten Kommunikationsbereichen, hier: Wissen‐ schaftssprache, bezogen sind, also Textsortennormen (vgl. Thim-Mabrey 2009: 35 f.), wie etwa die wissenschaftssprachliche Angemessenheit. Wenn man allerdings Pro‐ banden zu letzteren befragt, ist nicht zu erwarten, dass sie diesen Unterschied bei ihren Einordnungen beachten. rende bei ihrer Bewertung den studentischen Schreibstil als wissenschafts‐ sprachlich angemessen oder unangemessen einschätzen. So stellt sich die Frage, wie solche grundlegenden Normen, die den Beurteilenden leiten, 2 anders fest‐ gestellt werden können. Noch problematischer wird dieser Aspekt, wenn man der Frage nachgeht, ob sich diese Stilnormen im Lauf der Zeit wandeln bzw. inwiefern sie sich wandeln oder gewandelt haben. So lässt sich - aus unserer sprachwissenschaftlichen Sicht - auf der Basis anderer Untersuchungen (wie etwa Steinhoff 2007a oder auch Sieber 1998) z. B. die These aufstellen, dass (auch) der wissenschaftliche Stil zunehmend stärker nähesprachlich geprägt ist, also mehr Elemente einer mündlichen Sprache enthält, wie dies etwa auch für jour‐ nalistisches Schreiben gilt. Derartige Veränderungen lassen sich an Novizen‐ texten gut zeigen. Inwieweit aber Wissenschaftler sich in ihrer Beurteilung und Bewertung dieser Phänomene solchen Veränderungen anpassen, kann man nur belegen, wenn man die bewertungsleitenden Stilnormen empirisch fassen kann. Zwei konkrete Beispiele für mögliche sprachliche Veränderungen im Bereich der Wissenschaftssprache seien hier angeführt, ein Beispiel für die erwähnte stärkere Nähesprachlichkeit (a) und ein Beispiel für eine grammatische Kon‐ struktion, die eigentlich den grammatischen Normen nicht entspricht, sich aber zunehmend durchsetzt, das sogenannte Reflexiv-Passiv (b): a. Negative Personenbezeichnung in Form von Komposita war ein sehr be‐ a. liebter Trend der Jugendsprache, welcher heute schon am abflauen ist. (Quelle: studentische Seminararbeit) b. Bei der Fülle der mit einer Zeitung erscheinenden Texte /  Textsorten b. wurde sich für den Leitartikel entschieden. (Quelle: MA-Arbeit) Wie müsste man hier methodisch vorgehen, um zu überprüfen, ob sich be‐ stimmte Phänomene, wie sie (a) und (b) exemplarisch zeigen, in der Wissen‐ schaftssprache langsam durchsetzen und das heißt von korrigierenden Wissen‐ schaftlern nicht mehr moniert werden? 273 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ (1) 2 Mögliche Wege, wissenschaftliche Normen (und ihre Veränderungen) zu eruieren Um überhaupt die wissenschaftssprachlichen Normen zu eruieren, könnte man bei den Texten der jeweiligen Fächer ansetzen, in der Annahme, dass die Beur‐ teilenden durch ihre Lese-Erfahrungen in ihrem Fach normativ geprägt sind. Aber auch bei solchen Texten ist das wissenschaftssprachliche Spektrum durchaus weit gespannt, so dass von einer sich quasi natürlich ergebenden, weitgehend homogenen Modellerfahrung und -übernahme nicht die Rede sein kann. Dies sei hier an drei Textausschnitten aus dem Bereich der Sprachwis‐ senschaft verdeutlicht, die kurz vorgestellt und unter sprachlich-stilistischem Aspekt kommentiert werden. Alle drei stammen von im Fach angesehenen und verdienten Wissenschaftlern und /  oder sind in angesehenen Publikationsor‐ ganen erschienen, so dass man davon ausgehen kann, dass die sprachliche Form im Rahmen des Faches in der jeweils gegebenen Kontextualisierung nicht als unangemessen gilt. Eine Orientierung bezüglich der Frage nach der Authentizität von Fehlern, d. h. dem möglichen Vorliegen einer Verstellung, bieten bisher lediglich der feststellbare Grad der Systematik gegebener Abweichungen sowie das Verhältnis von Abweichungen und korrekter Sprachverwendung. Ist kei‐ nerlei Systematik im Auftreten von Fehlern erkennbar, beschränkt sich die Fehlerhaftigkeit auf oberflächenstrukturelle Kategorien wie Orthografie oder Morphologie bei korrekter Sprachverwendung auf anderen Ebenen, oder stehen sich auf einer sprachlichen Ebene korrekte und inkorrekte Instanzen einer Kategorie in auffälliger Weise gegenüber, so ist eine Ver‐ stellung zu vermuten. Dabei ist zu beobachten, dass sprachlich nicht ge‐ schulte Sprecher i. d. R. eine Verstellung nicht konsequent aufrechterhalten können. (Christa Dern 2003: Sprachwissenschaft und Kriminalistik: zur Praxis der Autorenerkennung, Zeitschrift für Germanistische Linguistik 31, 44-77) Textbeispiel 1 weist zunächst eine hohe Dichte von Nominalisierungen auf und damit verbunden relativ komplexe Nominalgruppen sowie relativ bedeutungs‐ arme Verben. Dies sind typische Kennzeichen eines Nominalstils. Hinzu kommen komplexe Sätze, insbesondere der zweite Satz, der aus drei aneinan‐ dergereihten uneingeleiteten Konditionalsätzen besteht, deren Interpretation beim zweiten (beschränkt sich …) auch in die Irre führen kann, wenn er nämlich als zugehöriger Hauptsatz gelesen wird. Weiter ist in dem Textausschnitt eine passivische Formulierungsweise zu erkennen, neben ist … erkennbar auch die 274 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 3 Vgl. zu diesem Konzept Ehlich (1993; 2001). (2) Formulierungen ist … zu vermuten und ist … zu beobachten. Dies ist hier ver‐ gleichbar einer Passivkonstruktion mit können (ist zu vermuten ~ kann vermutet werden). Der Text enthält typische Lexik der Alltäglichen Wissenschafts‐ sprache 3 und einige fachspezifische Begriffe, z. B. oberflächenstrukturelle Kate‐ gorie, Orthographie, Morphologie. Diese Darstellung lässt sich so lesen: Dem Unterrichtsdiskurs liegt ein Text (bzw. eine Textsequenz, eine Figur aus dem Text, eine Texteigenschaft etc.) zugrunde. Die Thematisierung erfolgt zunächst ad hoc, gebunden an den vorliegenden Text. Interessant, schwerverständlich, weiterführend er‐ scheinende Punkte werden aufgegriffen und besprochen. Den Fragen bzw. Aufgaben der Lehrkraft liegt eine mehr oder weniger deutliche Einsicht in die Struktur der Texte bzw. in literaturwissenschaftliche und textlinguis‐ tische Konzepte zugrunde. Diese Konzepte können, aber müssen nicht in einem zweiten Schritt explizit gemacht und erläutert werden. In diesem Falle bilden sie ein Gerüst für eine elaboriertere, begrifflich unterstützte Form der Beschäftigung mit Texten. Die vom Lehrer angesprochene Stra‐ tegie wird im Beispiel in diesem Sinne durch Martin wenn nicht benannt, so doch klar umschrieben: Wir stellen Behauptungen auf. Sie wird dadurch erkennbar als ‚falsche‘ Weise, die gestellte Frage zu beantworten. Dies lässt sich in eine Regel für ein legitimierbares, selbst kontrolliertes Reden über Texte ummünzen. (Paul R. Portmann-Tselikas: Was ist Textkompetenz? www.uzh.ch/ ds/ wiki/ ssl-dir/ Textkompetenz/ / PortmannTextkompetenz.p df) Textbeispiel 2 stellt die Erläuterung zu einer im Vortext angeführten Tabelle dar. Auffallend ist hier, dass die Satzstruktur durchgehend relativ einfach ist, inso‐ fern keine oder kaum subordinierte Sätze verwendet werden. Strukturelle Wie‐ derholungen treten auf (liegt … zugrunde). Die Wortstellung in diesen unkom‐ plexen Sätzen ist aber variantenreich: Es stehen auch andere Elemente als das Subjekt im Vorfeld (Dem Unterrichtsdiskurs liegt … Den Fragen bzw. Aufgaben der Lehrkraft liegt …). Komplexität findet sich im nominalen Bereich, nämlich die angeführte Apposition in Klammern in der ersten Zeile (bzw. eine Textse‐ quenz …) und erweiterte Partizipialgruppen (interessant … erscheinende Punkte, die vom Lehrer angesprochene Strategie). Passivische Formulierungen sind sehr häufig, entweder als direktes Passiv (werden aufgegriffen, explizit gemacht werden) oder passivähnliche Strukturen (lässt sich lesen, wird erkennbar, lässt sich ummünzen). Auch finden sich einige Nominalisierungen (Thematisierung, 275 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ (3) Einsicht in …, Form der Beschäftigung, Reden über Texte). Der Text enthält typi‐ sche Lexik der Alltäglichen Wissenschaftssprache und fachspezifische Begriffe, z. B. Unterrichtsdiskurs, Textsequenz, Thematisierung. Daß solche Entwicklungen einen Verfall darstellen, steht für die meisten außer Frage. Nicht alle halten dies für gleich schlimm, und so sind auch die Formen, in denen sich die Überzeugung vom Sprachverfall bekundet, ver‐ schieden - von milden Glossen und geharnischten Leserbriefen über Aka‐ demietagungen bis zum großen zeit- und kulturkritischen Lamento. Die Vorstellung aber, daß es besser wäre, wenn diese Veränderungen nicht ein‐ träten, ist nahezu allgemein und unangefochten. Mir ist dies rätselhaft. Ich kann verstehen, daß man solche Entwicklungen häßlich findet; mir selbst gefallen nur wenige der Bildungen, die neuerdings in Gebrauch zu kommen scheinen. Aber die Vorstellung, die Sprache verfalle wie ein altes Haus oder ein alternder Körper und bedürfe der besonderen Hege und Pflege, scheint mir, jedenfalls auf den ersten Blick, vollkommen abwegig. Die Sprache, das ist doch kein Rosenstock, von dem man ab und zu ein paar Blattläuse, ein paar wilde Triebe entfernen muß, sondern es ist eine Menge von Gepflo‐ genheiten - es ist die Art und Weise, in der Menschen miteinander reden. Diese Gepflogenheiten ändern sich im Laufe der Zeit, wie alle Gepflogen‐ heiten, und jede einzelne Änderung kann man danach bewerten, ob sie unter diesem oder jenem Gesichtspunkt begrüßenswert, zweckmäßig oder schön ist. Aber etwas schon allein deshalb für schlecht zu halten, weil es früher anders war, beruht auf einem Wahn - dem Wahn vom Sprachverfall. Am schönsten formuliert hat diesen Wahn vielleicht Samuel Johnson in seinem bekannten Satz „Languages, like governments, have a natural tendency to degeneration“ im Vorwort zu seinem berühmten Wörterbuch von 1775. (Wolfgang Klein 1986: Der Wahn vom Sprachverfall und andere Mythen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 62, 11-28) Textbeispiel 3 weist komplexe Sätze mit Nebensätzen auf. Syntaktisch hervor‐ zuheben sind einige nähesprachliche Konstruktionen, nämlich die Linksverset‐ zung (Die Sprache, das ist doch kein Rosenstock) sowie die Topikalisierung des klammerschließenden Elements (Am schönsten formuliert hat diesen Wahn…). Passivische Formulierungen sind selten, auffallend ist der Gebrauch des ich und entsprechende aktivische Sätze (ich kann verstehen, mir gefallen), die insgesamt einen eher subjektiven Modus bewirken. Auffallend sind auch die alltagssprach‐ lichen Metaphern (alternder Körper, Blattläuse, …); der Text enthält einige Be‐ griffe aus der Alltäglichen Wissenschaftssprache, keine Fachwörter, im We‐ 276 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 4 Dies ist ein Weg, der in schon vorliegenden Untersuchungen zur Einschätzung be‐ schritten wurde; s. z. B. Steinhoff (2007a; 2007b), der Textproben von Novizen durch fachzugehörige Wissenschaftler/ innen bewerten ließ. sentlichen tritt Lexik aus der nicht fachlich geprägten Alltagssprache auf, z. B. Sprachverfall, kulturkritisches Lamento, Veränderungen etc. Die drei Beispiele zeigen die stilistische Bandbreite möglicher Realisierungen, wobei gerade Textbeispiel 3, das nicht der Lösung eines wissenschaftlichen Pro‐ blems dient, sondern ein öffentlich brisantes Thema diskutiert, keine prototy‐ pische Realisierung darstellt. Solche individuellen Realisierungen werden von den fachversierten Mitgliedern der Wissenschaftlergemeinschaft als solche er‐ kannt (und vielleicht auch nicht immer toleriert); es bleibt ein nicht klar ab‐ grenzbarer Toleranzbereich in Bezug auf die stilistische Gestaltung wissen‐ schaftlicher Texte. Die Unterschiedlichkeit der Textproben, die hier ja einem fachlich relativ eng umgrenzten Kreis entstammen, und die Bandbreite der stilistischen Profile setzt sich fort, wenn man große Mengen von Texten in verschiedenen Textsorten und noch darüber hinaus in verschiedenen Fachthematiken sowie erst recht in ver‐ schiedenen Teildisziplinen eines Fachs und in verschiedenen Fächern sprach‐ wissenschaftlich auswertet. Die Sprachgebrauchsdomäne Wissenschaft ist po‐ tenziell disziplinenspezifisch, textsortenspezifisch, zeitspezifisch und zu einem gewissen Anteil auch schulen- und autorenspezifisch variabel ausgestaltet, und all dies in verschiedenen möglichen Mischungsgraden, die den Lesenden des‐ selben Fachs oder Gegenstandsbereiches nicht unbedingt deutlich erkennbar und bewusst sind. Um also die stilistischen Bewertungsnormen im Allgemeinen und ihren möglichen Wandel im Besonderen in der Wissenschaftssprache zu ermitteln, sind Textanalysen - so umfangreich sie auch sein mögen - aus den genannten Gründen nicht ergiebig. Ein anderer Weg zur Erforschung der Stilnormen wäre, den Lehrenden (ver‐ schiedener Fächer) studentische Textproben (aus ihrem Fach) vorzulegen und sie zu bestimmten Merkmalen, die ihnen selbst daran als angemessen oder un‐ angemessen auffallen, Stellung nehmen zu lassen oder Korrekturen vornehmen zu lassen, ohne vorher bereits Textstellen zu markieren. Der Nachteil dieses Vorgehens könnte darin liegen, dass die Textstellen zum einen relativ umfang‐ reich sein müssten, und zum anderen die Befragten nicht notwendigerweise die sprachlichen Aspekte kommentieren (siehe dazu unsere Befragung). Oder man befragt Lehrende konkret und anhand von Beispielen nach ihrer Bewertung von vorgegebenen sprachlichen Ausdrucksmitteln und Merk‐ malen. 4 Hier kann man ein oder zwei konkrete und explizit vorgegebene Phä‐ nomene, die ursprünglich im Text vorliegen oder in den Text hineinkonstruiert 277 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 5 Wintersemester 2015 / 16 an der Universität Regensburg. wurden, im Hinblick auf ihre wissenschaftssprachliche Angemessenheit be‐ werten und interpretieren lassen. Der Nachteil dieses Vorgehens ist, dass die fraglichen Phänomene den Befragten erst einmal expliziert werden müssen. Schließlich könnte man Lehrende und Wissenschaftler auch generell - also ohne Vorlagen von Textproben - danach befragen, welche Kennzeichen der Wissen‐ schaftssprache nach ihrer Meinung und Erfahrung (in ihrem Fach) relevant sind. Sollte sich aber bei derartigen Befragungen herausstellen, dass auf diesen Wegen verwertbare und empirisch belastbare Einsichten in die tatsächlich in der Bewertung wirksamen Normen und Einstellungen nicht zu gewinnen sind, dann ist weiter zu fragen, wie denn die bereits vielerorts nachzulesenden An‐ nahmen über beurteilungswirksame Stilnormen entstanden sind, die man ex‐ plizit in schreibdidaktischen Arbeiten und durchaus implizit in Beschreibungen der sprachwissenschaftlichen Literatur findet. Darüber hinaus fragt man sich spätestens beim Blick in vorhandene Ratgeberliteratur zum wissenschaftlichen Schreiben und ihre sprachstilbezogenen Teile, ob diese den tatsächlichen Ein‐ schätzungen der heute tätigen Lehrenden (noch) gerecht werden, etwa was den Wandel im Gebrauch mancher Mittel betrifft - nicht nur aufgrund der offen‐ sichtlichen fächerspezifischen, textsortenspezifischen und auch individuellen Schwankungen, sondern auch aufgrund des möglichen diachronen Wandels. Im Rahmen eines von uns gehaltenen sprachwissenschaftlichen Seminars mit dem Titel „Wissenschaftliches Schreiben bewerten“ für fortgeschrittene Ger‐ manistik- und DaF-Studierende 5 wollten wir den tatsächlich wirksamen wis‐ senschaftssprachlichen Bewertungsnormen auf die Spur kommen und haben dazu eine stichprobenartig angelegte Befragung durchgeführt (s. Kap. 4). Im Verlauf des Seminars drängten sich in all den erwähnten Aspekten zunehmend gravierende Bedenken auf, die ebenfalls weiter unten dargestellt werden. Vorher soll noch ein kurzer Blick auf Aussagen und Vorgehensweisen in einschlägiger Literatur geworfen werden. 3 Was in der Literatur zu finden ist Die Forschungen zur Wissenschaftssprache, die zunächst aus der Fachsprachen‐ forschung entstanden sind, haben grundlegend eine Reihe von Merkmalen be‐ stimmt, wie sie z. B. bei Heinemann (2000: 704 f.) zusammenfassend zu finden sind: Neben allgemeinen Merkmalen wie Objektivität, Abstraktheit und Sachlichkeit sind inhaltliche Bezogenheit auf wissenschaftliche Problemstellungen und -lö‐ sungen und der Expertencharakter mit einer Orientiertheit auf Wissenschaftler 278 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 6 In Wirtschaftswissenschaft 100 %, Soziologie 95 %, Philologien 87 %, Jura 85 %, Psychologie /  Pädagogik 73 %, Theologie 71 %, Mathematik 53 %, Naturwissenschaften 44 %, Medizin 36 % (Ehlich /  Steets 2003b: 143 f.). typisch. Wissenschaftliche Texte sind eindeutig strukturiert bzw. gegliedert, sie enthalten häufig metakommunikative Verweise (etwa zur Einleitung und zum Abschluss) und sind von typischen Paratexten (Vorwort, Anmerkung, Bibliogra‐ phie, Register) begleitet. Grammatisch gesehen zeigt sich eine Verlagerung der wichtigsten Informationen in den nominalen Bereich (Informationsverdichtung, Nominalstil mit Nominalisierungen und Desemantisierung der verwendeten Verben, Tendenz zu hoch komplexen nominalen Fügungen) sowie eine relativ hohe Frequenz von Passiv- und Infinitivkonstruktionen. Wissenschaftstexte schaffen eine Fach-Code-Gemeinschaft (das Beherrschen eines breiten Feldes standardi‐ sierter Fachlexik wird vorausgesetzt, s. Kretzenbacher 1992: 2) und weisen häufige Zitationen als Autoritätsargumente auf. Dass die wissenschaftssprachliche Kompetenz (zur Definition vgl. Feilke / Steinhoff 2003: 115 f.) eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern/ innen spielt, ist seit langem bekannt. Deshalb gibt es neben vielfältigen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu wis‐ senschaftssprachlichen Texten und Formen zahlreiche Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben - oft mit einem sprachstilbezogenen Abschnitt, Untersuchungen und Anleitungen zur Wissenschaftssprache für nichtmutter‐ sprachliche Studierende und neuerdings auch Studien zur Schreibentwicklung und zum Erwerb der schriftlichen wissenschaftssprachlichen Kompetenz bei (muttersprachlichen) Studierenden. Auch einige empirische Untersuchungen liegen vor (Dittmann 2003; Ehlich /  Steets 2003b). 3.1 Was in sprachwissenschaftlichen Befragungsuntersuchungen zu finden ist Eine Befragung von Professoren/ -innen verschiedenster Fächer durch Eh‐ lich /  Steets (2003b) ergab, dass „die sprachliche Form“ in der Bewertung von schriftlichen Hausarbeiten für 76 % der (insgesamt 290) Befragten 6 eine wichtige Rolle spielt und dass dabei von den vier vorgegebenen Bereichen zu 90 % der „wissenschaftliche Stil“, zu 80 % der „allgemeine Stil“ und die „Orthographie“ und zu 66 % die Interpunktion genannt werden (vgl. ebd.: 143-145). Orthogra‐ phie und Interpunktion sind formale sprachliche Aspekte, die offensichtlich sind und inhaltsunabhängig bewertet werden können. Die Kategorien „allgemeiner Stil“ und „wissenschaftlicher Stil“ dagegen lassen offen, was die einzelnen Do‐ zenten unter wissenschaftlichem Stil bzw. gutem wissenschaftlichen Stil ver‐ stehen und wieweit Inhaltliches und Textstrukturelles dabei mit umfasst wird. 279 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ Der Blick von Lehrenden auf die Bereiche Orthographie und „allgemeiner Stil“ - beide werden in der Umfrage für gleich wichtig erachtet - passt zunächst ja schon zu einer in höheren Bildungsstufen als selbstverständlich erwarteten schriftsprachlichen Kompetenz, auf die wohl eher selbstverständlich Wert ge‐ legt wird. Dass daneben in der Reflexion der Befragten auch ein bestimmtes fachlich-wissenschaftssprachliches Niveau eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt, lassen die Antworten vermuten, da der wissenschaftssprachliche Stil in einigen Fächern auffällig hohe Werte erhält: in der Mathematik 100 %, in den Philologien 86 %, in Jura 82 %, hingegen in der Psychologie 64 % und in der Wirtschaftswissenschaft 61 %. Allerdings eröffnen diese Zahlen einen großen Interpretationsspielraum, der auch durch gezieltere Befragungen nicht gefüllt werden könnte. Vergleicht man zum Beispiel in der Mathematik die 100 % auf wissenschaftssprachlichem Stil und die 75 % auf der Orthographie mit den ent‐ sprechenden Werten der Naturwissenschaften, nämlich 86 % auf dem wissen‐ schaftssprachlichen Stil und 100 % auf der Orthographie (vgl. ebd.: 144), so kann dies auch bedeuten, wie häufig entsprechende Fehler in den beiden Kategorien wahrgenommen werden und als wie schwerwiegend sie empfunden werden. Und in den Philologien ist die Tatsache, dass der „allgemeine Stil“ mit 91 % noch vor dem wissenschaftssprachlichen Stil mit 86 % liegt, möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Befragten die Grenzlinie zwischen diesen beiden Stilen anders ziehen als die Befragten anderer Fächer. Auch mögen verschiedene sprachliche Merkmale (z. B. Fachwortschatz versus Satzbaufrequenzen) den Be‐ fragten unterschiedlicher Fächer mehr oder weniger bewusst sein. Man könnte sich vorstellen, dass Vertreter der Philologien die stilistischen Anforderungen im Hinblick auf ihren speziellen Fachwortschatz für geringer erachten als z. B. die Mathematiker und dass dies eventuell der Grund dafür ist, warum in den Philologien der „allgemeine Stil“ für wichtiger gehalten wird als der „wissen‐ schaftssprachliche Stil“. Andererseits kann man sich nicht vorstellen, dass in der Medizin objektiv der Anteil des Fachwortschatzes eine geringere Rolle spielt als in der Mathematik und dass deshalb die befragten Mediziner nur zu 66 % sowohl den allgemeinen als auch den wissenschaftssprachlichen Stil berücksichtigen, während die Mathematikvertreter zu 100 % den wissenschaftssprachlichen Stil berücksichtigen. So stellen sich bei diesen Ergebnissen viele Fragen danach, was konkret an sprachlichen Kategorien und Formen hinter diesen Bewertungen durch die Befragten steckt, die nicht beantwortet werden können. Experten des wissenschaftssprachlichen Sprachgebrauchs so befragen zu können, dass sie genauere und konkretere Angaben zu den von ihnen bei der Bewertung überprüften Formen und Merkmalen machen können und dabei eine sprachwissenschaftlich eindeutig und zuverlässig deutbare Begrifflichkeit ver‐ 280 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 7 Bewertet wurden 76 - tatsächlich sehr - „kurze Textausschnitte“, zu denen den Be‐ fragten mitgeteilt wurde, dass sie überwiegend aus studentischen Hausarbeiten, teil‐ weise aber auch aus „Aufsätzen professioneller Wissenschaftler“ stammten. Einzu‐ ordnen waren diese auf einer fünfstufigen Skala von „zweifellos nicht wissenschaftlich“, „kaum wissenschaftlich“, „ansatzweise wissenschaftlich“, „größtenteils wissenschaft‐ lich“ und „zweifellos wissenschaftlich“ (Steinhoff 2007a: 158 f.). wenden, ist noch ein Desiderat, ohne dass unseres Erachtens ein methodischer Lösungsansatz in Sicht wäre. Auch Torsten Steinhoffs Untersuchung, die eine sehr konkrete Aufgabe formulierte, zeigt diese Problematik: Er instruierte für seine Untersuchung die von ihm befragten „14 Hochschulabsolventen geistes‐ wissenschaftlicher Disziplinen“ so, dass ihre „Mitarbeit“ in einem „Versuch zur Bewertung der Wissenschaftlichkeit von Formulierungen“ (Steinhoff 2007a: 159; Hervorhebung im Orig.) bestehe. Auch er stellt jedoch fest, dass es „trotz der eindeutigen Aufgabenstellung unvermeidbar [war], dass auch andere Merkmale als die Formulierungen die Bewertung der Ausschnitte beeinflussen“ (ebd.: 159), die in den angeführten Begründungen auch keineswegs selten auf‐ treten. So werden zwar unterschiedliche sprachliche und inhaltlich-strukturelle Merkmale eigens benannt und aufgelistet. Was aber davon die jeweils globale Einschätzung des zu bewertenden Textausschnitts als mehr oder weniger „wis‐ senschaftlich“ maßgeblich geleitet hat, lässt sich aus diesen Antworten nicht ablesen. 7 Darüber hinaus geht aus den Antworten begrifflich nicht immer klar hervor, was genau die Bewertenden an einem sprachlichen Merkmal „wissen‐ schaftlich“ anmutet (z. B. wenn ein Experte in Bezug auf einen zu bewertenden Satz das Merkmal „Genitiv“ nennt oder angibt „Nominalkompositum ist typisch für wissenschaftliche Texte“, ohne dass man weiß, welches der beiden vorkom‐ menden Nominalkomposita gemeint ist (oder beide? ) und ob das Merkmal in wissenschaftlichem Stil in positiv oder negativ bewerteter Weise erwartbar ist. Schließlich ist es schwierig, eine Konstellation von Bewertenden so einzustellen, dass wirklich die im jeweiligen Fach, zu dem ein Text gehört, häufiger begeg‐ nenden Bewertungsnormen angemessen zum Tragen kommen - unabhängig von der Frage, ob sie von den Bewertenden ohne jede sprachwissenschaftliche Instruktion in der Wahrnehmung isoliert und explizit benannt werden können. 3.2 Was in Ratgebern zu finden ist Ratgeber für wissenschaftliches Arbeiten gibt es sehr viele und die meisten the‐ matisieren - mehr oder weniger ausführlich - auch konkret die sprachliche Seite. Was dort behandelt wird, deckt sich zum Teil mit den von unseren Be‐ fragten genannten sprachlichen Merkmalen, zum Teil nicht (s. u.). Exemplarisch seien die sprachlichen Aspekte aus vier Ratgebern zum wissenschaftlichen 281 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ Schreiben im universitären Kontext angeführt (Sommer 2013; Kruse 2010; Es‐ selborn-Krumbiegel 2014 und Kühtz 2015). Hinzuzufügen ist, dass die Ratgeber im Allgemeinen in der Zielgruppe nicht zwischen Muttersprachlern und Nicht- Muttersprachlern unterscheiden, die wenigen explizit für Nicht-Mutter‐ sprachler angebotenen Werke (etwa Graefen /  Moll 2011) behandeln die gleichen Aspekte mit z. T. etwas anderer Gewichtung und vielleicht noch etwas mehr den Bereich der phraseologischen Wendungen. Sommer (2013: 98) nennt im Zusammenhang mit der Textproduktion wis‐ senschaftlicher Texte knapp folgende Merkmale: adäquate Verwendung von Fachtermini und Fremdwörtern, die Autorreferenz (ich /  wir), Tempus, Passiv, Nominalstil und Partizipien, Syntax (hier geht es um den Satzbau, wobei über‐ schaubare und transparente Satzkonstruktionen, „d. h. keine Schachtelsätze“ empfohlen werden, allerdings ohne Beispiele), Konjunktionen und bestimmte Konstruktionen. Kruse (2010) widmet sich etwas ausführlicher u. a. Tempus, Adverbien, Ad‐ jektiven, Referieren und Dissens ausdrücken, Selbstreferenz, und, wie alle an‐ deren, den komplexeren Satzkonstruktionen. Als Regeln für den Satzbau in wis‐ senschaftlichen Texten finden sich u. a. die folgenden: „Ein Nebensatz reicht (Ausnahmen erlaubt)“, „Sätze nicht zu voll packen, gegebenenfalls auseinan‐ derbrechen“, „Satzlänge variieren“, „Aktiv ist besser verständlich als Passiv“ sowie „Konnektoren gezielt einsetzen“ (ebd.: 134). Esselborn-Krumbiegel (2014) nennt unter der Überschrift „Sprachliche Prä‐ zision“ die Aspekte „Die Hauptsache im Hauptsatz“, „Satzklammer entlasten“, „Schachtelsätze auflösen“, „Wortstellung beachten“, „Nominalstil gezielt ver‐ wenden“, „Funktionsverbgefüge bewusst einsetzen“, „Passiv nutzen und vari‐ ieren“, wiederum das Problem der Autorreferenz und noch anderes. Bei Kühtz (2015) wird zunächst ebenfalls die Wortwahl ausdrücklich thema‐ tisiert, sowie ferner Autorreferenz, Tempus, Metaphern, Subjektschübe und - am weitaus ausführlichsten - der Satzbau. Der Abschnitt formuliert als Regel „keine Wuchersätze“: „Ein guter wissenschaftlicher Schreibstil zeichnet sich gerade nicht durch lange verschachtelte Sätze aus“ und „Komplizierte Gedanken erfordern nicht zwangsläufig ebenso komplizierte Satzkonstrukti‐ onen (im Gegenteil)! “ (ebd.: 42; Hervorhebungen im Orig.). Und weiter heißt es dann allerdings: „Ebenso ungünstig wie die Wuchersätze wäre aber auch das andere Extrem: Ein Text, der nur aus kurzen, einfachen Hauptsätzen besteht“. Und der optimale Satzbau wird wie folgt beschrieben „Gelungen ist der Satzbau immer dann, wenn der Inhalt als präzise, verständlich und kompakt übermittelt wird und die syntaktische Struktur als solche vom Leser nicht als störend wahr‐ genommen wird“ (Kühtz 2015: 42). Dies ist sicher eine gelungene Charakteri‐ 282 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair sierung und reflektierter als Aussagen, die lediglich den Schachtelsatz kriti‐ sieren. Es zeigt sich also, dass der Themenbereich Satzbau, Satzlänge und Satzkom‐ plexität in den Ratgebern eine zentrale Rolle spielt, wobei die Ratschläge der Ratgeber unterschiedlich hilfreich sind, wie Umformulierungsproben zeigen, bei denen die entsprechenden Ratschläge (Sätze aufbrechen, Nebensätze streichen etc.) an einem konkreten Text ausgeführt werden. 4 Ergebnisse und Probleme einer Test-Befragung von Dozenten Hintergrund der Planung für das Seminar „Wissenschaftliches Schreiben be‐ werten“ war unser sprachwissenschaftliches Interesse an der Frage, ob sich in bestimmten häufig in Seminararbeiten zu beobachtenden sprachlichen Auffäl‐ ligkeiten langfristig ein Weg zu einem Wandel der Stilnormen der Wissen‐ schaftssprache anbahnt. Wenn dies zuträfe, müsste sich auch die Einschätzung solcher Erscheinungen durch korrigierende Dozenten im Laufe der Zeit ändern, so dass diese sie zunehmend als akzeptabel betrachten und nicht mehr als stil‐ störend monieren. Welche sprachlichen Merkmale andererseits überhaupt, also unabhängig von neueren Entwicklungen, von Fachvertreterinnen und -vertre‐ tern als angemessener wissenschaftssprachlicher Stil wahrgenommen werden, wäre allerdings vorab ebenfalls zu untersuchen. So entstand die Idee, Studie‐ rende, die als Wissenschaftsstil-Novizen schon einige Erfahrung hatten und sich gleichzeitig häufig als zukünftige Deutschlehrkräfte, vor allem im DaF-/ DaZ-Bereich, aber auch im Muttersprachunterricht und als Korrigierende be‐ tätigen, in die Frage mit einzubeziehen, wie man die bei den arrivierten Fach‐ leuten tatsächlich geltenden Normen ermitteln kann. Die Teilnehmenden sollten dabei lernen, aus der eigenen Subjektivität herauszutreten, sich aber auch nicht ungeprüft an ‚Rezepte‘ der Ratgeberliteratur anzulehnen, sondern durch eigene Befragungserfahrungen zu erkennen versuchen, ob sich authentische Selbst‐ einschätzungen von Korrektoren mit den Aussagen sprachwissenschaftlich-de‐ skriptiver Untersuchungen und verbreiteten Ratgeber-Topoi decken. 4.1 Ablauf des Seminars „Wissenschaftliches Schreiben bewerten“ In einem ersten Block wurden eine kurze Einführung in Forschungen zur Wis‐ senschaftssprache gegeben und die Grundlagen zum wissenschaftlichen Schreiben besprochen. Dabei wurden ausgewählte Ratgeber zum wissenschaft‐ lichen Schreiben kritisch gelesen und dann ausführlich wissenschaftliche Texte sprachlich analysiert. Dabei wurden vorab entsprechende, aus der Literatur ge‐ nommene Parameter vorgestellt (wie Abstraktheit, Objektivität, Sachlichkeit 283 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 8 Ausschnitte aus Seminararbeiten eines Fachs zu identifizieren, die in repräsentativer Weise von Angehörigen unterschiedlichster Fächer als typisch für (Alltägliche) Wis‐ senschaftssprache wahrgenommen würden, ist angesichts der Heterogenität der wis‐ etc.) und die Frage diskutiert, wie sich die Kriterien sprachlich manifestieren können. Die Studierenden sollten einen ausgewählten Einleitungsabschnitt aus einem Handbuchartikel (HSK-Band, Expertentext, Heinemann 2000: 702) unter fol‐ genden Aspekten konkret analysieren: • Wortzahl der Sätze (kürzester, längster Satz und die durchschnittliche • Wortzahl): Hinweis auf die Dichte eines Textes • Zahl der Nebensätze und der erweiterten Attribute: Hinweis auf Kom‐ • plexität • Zahl der Prädikate und ihre Spezifik: Tempus, Passiv • Damit waren die Studierenden auf den sprachlichen Aspekt der Untersuchung orientiert. Im Anschluss daran wurde ein Fragebogen gemeinsam konzipiert und der Modus der Umfrage besprochen: In einem ersten Schritt sollten Dozierende verschiedener Fächer schriftlich zu Aspekten der Wissenschaftssprache befragt werden; die Befragung wurde von den Studierenden selbst durchgeführt. Ziel war es herauszufinden, was als normaler und angemessener schriftlicher Sprachgebrauch (im jeweiligen Fach) bei Dozenten gilt. Dies sollte möglichst unvoreingenommen geschehen, deshalb konnte nicht gezielt nach bestimmten sprachlichen Phänomenen gefragt werden. Stattdessen wurde - nach der Erhe‐ bung der Sozialdaten - allgemein nach einem Kennzeichen eines sprachlich schlechten wissenschaftlichen Textes und einer sprachlichen Besonderheit von Texten des eigenen Faches gefragt. Die Beantwortung dieser Fragen setzt na‐ türlich voraus, dass sich die Befragten schon einmal Gedanken über die sprach‐ liche Seite der Wissenschaft gemacht haben. Der Hauptfokus der Befragung lag schließlich auf der Beurteilung und Kom‐ mentierung dreier Textausschnitte: einem Ausschnitt aus einem Handbuchar‐ tikel aus der Linguistik, verfasst von einer renommierten Wissenschaftlerin (Heinemann 2000: 702), und zwei Ausschnitten aus Seminararbeiten aus dem Bereich der Literaturwissenschaft. Die Anforderungen spezifisch wissenschafts‐ sprachlicher Konventionen im Bereich der literarischen Interpretation liegen in diesen Ausschnitten eher im Bereich der Alltäglichen Wissenschaftssprache als in dem einer spezifischen Fachsprache. Aber selbst hier lässt sich schon ein stilistisches Gefälle in Novizentexten beobachten, wie auch die Bewertungen der fachnahen und fachfremden Befragten zeigen. 8 Auf eine Auswahl von Son‐ 284 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair senschaftlichen Fachsprachen und deren unterschiedlich starken Anteilen an Alltägli‐ cher Wissenschaftssprache nicht möglich. Vgl. zur Übersicht über die sprachliche Ausformung von wissenschaftlichen Fachsprachen in den unterschiedlichen Fächern und Fachsparten die Beiträge in Hoffmann u. a. (1998 /  1999). 9 Hätten wir ihnen aufgetragen, eigene Textproben zu suchen, wäre es schnell unüber‐ schaubar geworden (siehe oben zur Vielfalt der Formen und Stile). Außerdem sollte von allen derselbe Fragebogen erarbeitet werden, so dass eine Einigung in der Auswahl von neuen Textproben in der kurzen Zeit der Seminarsitzungen nicht möglich gewesen wäre. 10 Die von Torsten Steinhoff in seiner Befragung von 14 zur Bewertung herangezogenen Experten verwendete Aufgabenstellung lautete z. B.: „Bitte studieren Sie die verschie‐ denen Textbeispiele aufmerksam und entscheiden Sie jeweils, ob Sie das Beispiel für wissenschaftlich oder für nicht wissenschaftlich halten. Ihre Entscheidung sollte sich dabei - um es noch einmal zu betonen - nicht auf den Inhalt oder den Gebrauch von Fachtermini, sondern auf die Formulierungen beziehen.“ (Steinhoff 2007a: 159, Her‐ vorhebung im Orig.). Auch hier sollten die Befragten „stichwortartig Gründe für Ihre Einstufung des Beispiels“ angeben (ebd.). derphänomenen wurde verzichtet, auf gezielte Eingriffe in die Texte auch, ebenso auf die Frage nach konkret benannten sprachlichen Merkmalen. Bei den von uns zunächst vorgelegten Textproben handelte es sich allerdings um eine Auswahl von Ausschnitten, an denen einige als typisch für Wissenschafts‐ sprache geltende (und uns selbst typisch erscheinende! ) Merkmale - oder deren unvollständige oder noch unsichere Realisierung im Fall der Novizentexte - vorkamen. Aus Zeitgründen wurden diese von uns vorgelegten Textproben von den Teilnehmenden auch für ihre Umfrage verwendet. 9 So gingen also in die Wahl der Textproben unsere eigenen Angemessenheitsnormen ein, nicht die der Studierenden. Die Formulierung der Fragen wurde - abgesehen von Formalia - weitgehend den Studierenden überlassen, um ihnen auch hier eigene Erfah‐ rungen zu eröffnen, die dann methodisch reflektiert werden konnten. Der erste Textausschnitt sollte danach beurteilt werden, wie typisch er für wissenschaftliches Schreiben ist und woran dieses Urteil festgemacht wird (ein Fragetyp, der auch in der Literatur bisweilen ähnlich vorkommt 10 ). Dazu sollten die drei wichtigsten Merkmale aus dem Text, die begründend für die Einschät‐ zung der Wissenschaftlichkeit waren, genannt werden. Durch die Formulierung der Bewertungsaufgaben wurde so deutlich wie möglich der Fokus auf die sprachlichen Merkmale gelenkt. Schließlich sollte angegeben werden, wie ähn‐ lich das eigene Schreiben diesem Textauszug ist. Die beiden Auszüge aus Semi‐ nararbeiten, (die durchaus mit Blick auf kritisch diskutierte Phänomene ausge‐ wählt worden waren), sollten ebenfalls danach beurteilt werden, wie typisch für wissenschaftliches Schreiben im jeweiligen Fach sie sind, und es sollten wie‐ derum je drei Merkmale genannt werden, an denen diese Bewertung festge‐ 285 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 11 Einigen Befragten fiel es schwer, den Fokus auf die Sprache zu legen und vom Inhalt zu abstrahieren. Das Spektrum reichte von Antworten, die überhaupt nicht Inhalt und Sprache trennten (etwa: „das in dem Textausschnitt verhandelte Thema ist kein Thema meines Faches“) oder Methode und Sprache nicht trennten (etwa: „in dem Textaus‐ schnitt findet sich keine Methode, die für mein Fach typisch ist“), bis zu Antworten, die das sprachliche wissenschaftliche Handeln bewerteten (aber eben nicht die sprachliche Form); also etwa, ‚ein schlechter Text ist ein Text, der keine klare Struktur hat, nicht systematisch aufgebaut ist, in dem nicht bzw. schlecht argumentiert wird, in dem wis‐ senschaftliche Standards des Zitierens nicht eingehalten werden‘ bzw. umgekehrt ‚ein typischer Text meines Faches ist ein Text, in dem korrekt zitiert wird, in dem Zitate ordentlich eingebettet sind, der eine nachvollziehbare Struktur hat, einen logischen macht wurde. Im Anschluss daran wurde aber gefragt, wie repräsentativ dieser Schreibstil unter den eigenen Studierenden ist und welche Note man dem Text‐ ausschnitt geben würde. Die Befragung erlaubte es also, dass ohne allzu direkte Steuerung der Be‐ fragten die zentralen Merkmale für Wissenschaftlichkeit genannt werden konnten, sie erlaubte nicht, ein gezieltes Urteil zu einem ganz konkreten Phä‐ nomen zu bekommen. Die jeweilige Bewertung der genannten Phänomene wurde sichtbar in der Kommentierung und - bei den Hausarbeiten - in der vergebenen Note. Die Erhebung wurde von 12 Studierenden mit verschiedenen Fächerkombi‐ nationen durchgeführt, die insgesamt 31 Lehrende aus 11 Fächern befragten. Die Fächer wurden nicht systematisch zusammengestellt, sondern ergaben sich aus den Studienfächern der Seminarteilnehmer, wobei z. B. in der Germanistik die Teilfächer Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Didaktik ausein‐ andergehalten wurden. 4.2 Ergebnisse der Befragung 4.2.1 Überblick über die genannten Merkmale Zunächst sollen die in den verschiedenen Aufgaben genannten sprachlichen Merkmale in Gruppen zusammengefasst wiedergegeben werden. Dabei stammen diese Merkmale aus fünf verschiedenen Aufgabenstellungen (vgl. den Fragebogen im Anhang) nämlich den Fragen nach einem (sprachlich) negativen Merkmal (Allgemeine Fragen, 4), einem typischen Merkmal (Allgemeine Fragen, 5) und den Bewertungen des Expertentextes (Fragen zu Textauszug I, 2) und der beiden Novizentexte (Fragen zu Textauszug II, 2 und zu Textauszug III, 2). Der Fragebogen fokussierte die Befragten in der Frageformulierung zum Teil aus‐ drücklich auf die Sprache („Merkmal eines sprachlich schlechten wissenschaft‐ lichen Textes“, „eine sprachliche Besonderheit nennen“ etc.). 11 286 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair Aufbau u. ä.‘ Da solche Antworten keine konkreten Hinweise auf die zugrunde gelegten sprachlichen und stilistischen Normen bieten, wurden sie in der nachfolgenden Zu‐ sammenstellung von Merkmalen nicht berücksichtigt. 12 Zum Beispiel war bei der zweimaligen Nennung der Partizipien („Partizip Präsens“) unklar, ob damit die typische attributiv verdichtende Nominalsyntax gemeint war oder etwas anderes. Die Methode einer solchen Befragung macht es unvermeidbar, dass kurz, stichpunktartig, oft ohne präzise Bezugnahme auf bestimmte sprachliche Ein‐ heiten der beurteilten Texte und (meist) ohne sprachwissenschaftliche Fachbe‐ griffe geantwortet wird. Solche Antworten müssen für die Auswertung deshalb interpretiert werden. Überprüft werden könnte die Interpretation nur, wenn die Befragten zusätzlich interviewt würden und wenn es möglich wäre, dabei auf eine erklärende und dadurch inhaltlich beeinflussende Einführung von eindeu‐ tiger Fachbegrifflichkeit zu verzichten. Da dies aber nicht möglich ist, haben wir auf ein Interview verzichtet. Die von uns vorgenommene Zusammenfassung der genannten Merkmale in Gruppen beruht auf der interpretativen Gleichsetzung von uns so eingeschätzter „synonym gemeinter“ und oft eben nicht fachsprach‐ licher Formulierungen. Selbst dort, wo fachsprachlich gebräuchliche Ausdrücke verwendet wurden, konnten wir bei nicht sprachwissenschaftlich ausgebildeten Befragten nicht einfach davon ausgehen, dass diese ein fachlich gebräuchliches Verständnis dieser Ausdrücke meinten. 12 Die genannten Merkmale ließen sich in fünf Gruppen einordnen: • Merkmale der syntaktischen Ebene (Gruppe 1): Sie umfassen a) Satz‐ • länge /  Satzbau, b) Nominalgruppen, c) Konnektoren, d) Passiv und e) Partizipien. • Merkmale der Fachwortschatzbzw. Fachsprach-Ebene (Gruppe 2): Sie • umfassen Fachsprachliches sowie den mit dem Wortschatz verbundenen Grad des Abstraktionsniveaus. • Merkmale der stilistischen Ebene (Gruppe 3): Sie umfassen Ausfor‐ • mungen von Alltags-, Umgangs- und Hochsprache. • Merkmale der allgemeinen Wortschatz-Ebene (Gruppe 4): Sie umfassen • Bedeutungsaspekte des Grades von Emotionalität oder Sachlichkeit. • Merkmale der sprachlichen Korrektheit (Gruppe 5): Sie umfassen Fehler • im Satzbau und vor allem Fehler in der Kommasetzung (da sprachliche Korrektheit kein spezielles Erfordernis der Wissenschaftssprache ist, werden die Nennungen zu diesem Bereich im Folgenden nicht weiter be‐ rücksichtigt). 287 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 13 Fachstereotype wurden übrigens bei den Antworten nicht sichtbar, d.h. Vertreter von sprachaffinen bzw. sprachintensiven Fächern haben weder quantitativ noch qualitativ an‐ ders geantwortet. Lediglich Befragte aus sprachwissenschaftlichen Fächern verwendeten zum Teil Spezialtermini (z. B. „Nähesprachlichkeit“). Zahl der Nen‐ nungen Häufigstgenannte Merkmale Gruppe 1: Syntaktische Ebene 51 Satzlänge, Satzbau, Satzkomple‐ xität Gruppe 2: Fachwortschatzbzw. Fach‐ sprach-Ebene 36 Gruppe 3: Stilistische Ebene 17 Alltags- und umgangssprachli‐ cher Ausdruck Gruppe 4: emotionale oder sachliche Fär‐ bung des Wortschatzes nur vereinzelt Gruppe 5: Sprachliche Korrektheit nur vereinzelt Tab. 1: Übersicht über die Häufigkeit der Merkmalsnennungen in den Merkmalsgruppen 13 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist dies nur teilweise überraschend. Die häufige Nennung von Phänomenen, die mit der Satzlänge zu tun haben, weist darauf hin, dass hier für viele Befragte ein zentrales Merkmal liegt. Darin werden subjektive Stilnormen für einen wissenschaftlichen Sprachstil erkennbar, die möglicherweise aus tradierten und in Schule und Universität thematisierten Stilnormen hervorgegangen sind und die sich ja auch typischerweise in Sprach‐ ratgebern finden (s. o. 3.2). Es entsteht der Eindruck, dass die wissenschaftsty‐ pische, in der Wissenschaft erwartbare Komplexität eines Textes hier, in sprach‐ wissenschaftlich nicht adäquater Verkürzung, auf den Satzbau, oft sogar nur noch auf die Satzlänge reduziert und vielleicht auch nur in diesem Merkmals‐ bereich bewusst wahrgenommen wird. Andererseits überrascht es, dass Phä‐ nomene wie Passiv oder Nominalstil, die in der sprachwissenschaftlichen wie auch in der Ratgeber-Literatur ebenfalls sehr prominent sind, von den Befragten kaum genannt wurden, obwohl die kurzen Textauszüge Beispiele enthielten. 288 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 14 Leider ließen sich keine verwertbaren Zusammenhänge zwischen der von den Be‐ fragten vergebenen Note für einen Textauszug und ihren sonstigen Antworten und Merkmalsnennungen erkennen. Dies lag vor allem daran, dass manche Befragten ent‐ gegen der Zielrichtung der gestellten Aufgaben stärker die Inhalte eines Textes oder z. B. die Art und Häufigkeit von Zitierungen als in ihrem Fach unüblich und unwissen‐ schaftlich bemängelten, so dass die Notenvergabe ganz unterschiedlich motiviert sein konnte. Die Merkmale, die in den Gruppen 1 und 2 genannt wurden, sind überwiegend solche, die in anderen Zusammenhängen auch als Parameter der sprachlichen Verständlichkeit gelten und in dieser Hinsicht für die Befragten möglicherweise unterbewusst besonders präsente Kategorien sind. Allerdings kann durch die explizit auf den wissenschaftlichen Stil ausgerichtete Aufgabenstellung weitge‐ hend ausgeschlossen werden, dass von den Befragten hier die Verständlich‐ keitsmerkmale des Textauszugs bewertet wurden. Interessant ist deshalb wei‐ terhin, dass die Länge und Komplexität von Sätzen zwar weithin bemerkt, aber keineswegs einheitlich bewertet wird. Die Formulierungen bezüglich längerer Sätze lassen sich in einem Spektrum von ‚negativ‘ über ‚neutral‘ bis ‚vorsichtig positiv‘ einordnen (s. u. 4.2.2). Auch eine besondere Kürze von Sätzen, die in einem der vorgelegten Novizentexte unserer Meinung nach durchaus deutlich hervorstach, wird in der Regel als Merkmal genannt, sie fällt also auf. Auch sie wird aber durchaus unterschiedlich bewertet: Eher positiv wirkt das Urteil „kurze prägnante Sätze“ und noch deutlicher der Kommentar: „In kurzen klaren Sätzen kann kaum jemand mehr formulieren. Ich fasse mich da gern auch an die eigene Nase“. Daneben stehen neutral formulierte Nennungen wie „Kurze Sätze“ sowie aber auch deutlich negative Beurteilungen wie „Kurze, abgehackte Sätze“ als Merkmal für einen gerade nicht-typisch wissenschaftlichen Stil. In jedem Fall ist aber die Länge der Sätze und damit verbunden auch ihr Bau für die Befragten eines der zentralen Merkmale des Wissenschaftsstils. 14 Dass der Komplex Fachwortschatz und Fachsprach-Ebene an zweiter Stelle der Nennungen rangiert, ist wiederum sprachwissenschaftlich nicht überra‐ schend. Schon immer galt der Wortschatz als das auffälligste Merkmal von Fach- und Wissenschaftssprache. Von den Befragten wird in der Regel das Phänomen des Fachwortschatzes als typisches Merkmal schlicht konstatiert, nur in ganz wenigen Fällen bewertet (und dann negativ) wie in der Formulierung: „Angli‐ zismen, viele davon unnötig“ (als Kennzeichen des eigenen Faches genannt). Die Äußerungen zur Stilebene schließlich beziehen sich im Wesentlichen auf das Phänomen der nicht angemessenen Verwendung von Umgangs- oder All‐ tagssprache (wobei in der Regel konkret nicht deutlich wird, was darunter ver‐ standen wird). Diese Verwendung wird konstatiert, bisweilen auch explizit mo‐ 289 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ niert („zu umgangssprachlich“). Andererseits finden sich auch gegenläufige Bewertungen, z. B. wenn für einen Text „Hochsprachlicher Ausdruck“ (ähnlich: „schön, aber zu hoch“) oder deutlich kritisch „Gestelztheit“ angemerkt wird. 4.2.2 Merkmale des wissenschaftssprachlichen Stils in der Ausdrucksweise der Befragten Eine leitende Aufgabenstellung des Projekt-Seminars war es, wie oben be‐ schrieben, die Stilnormen zu eruieren, von denen Vertreter/ innen verschiedener Fächer in ihrer bewussten, gegebenenfalls auch beurteilenden Wahrnehmung von Texten in ihrem Fach, die einem wissenschaftssprachlichen Anspruch un‐ terliegen, geleitet werden. Der Fragebogen enthielt in einem Teil „Allgemeine Fragen“ zwei Aufforderungen, frei, also ohne Bezug zu einem Textbeispiel, sprachliche Merkmale zu nennen: Nennen Sie bitte ein Merkmal eines sprachlich schlechten wissenschaftlichen Textes! und direkt danach: Nennen Sie bitte eine sprachliche Besonderheit von wissenschaftlichen Texten Ihres Fachs! Aus den Ant‐ worten zu diesen beiden Aufgaben ergaben sich zwei Merkmalslisten, eine „Mängel-Liste“ und eine „Fachbesonderheiten-Liste“. Weiterhin gab es eine Frage und eine Aufgabe zu einem Ausschnitt aus einem sprachwissenschaftlichen Expertentext (ohne dass die Befragten diese Charak‐ terisierung oder eine Quellenangabe vorfanden): Wie typisch finden Sie den vor‐ liegenden Textauszug für wissenschaftliches Schreiben? [Die ankreuzbaren Zu‐ ordnungen waren: gar nicht typisch, eher nicht typisch, eher typisch, sehr typisch.] Und: Nennen Sie bitte die drei wichtigsten Merkmale aus dem Text, an denen Sie Ihre Entscheidung in der vorangegangenen Frage festgemacht haben. Unterstreichen Sie hierfür die passenden Textstellen und benennen Sie die von Ihnen unterstrichene Erscheinung kurz in der Kommentarspalte am rechten Rand. Aus den Antworten ergab sich als dritte eine „Typika-Liste“. Diese drei Listen sollen nun noch einmal in einigen ausgewählten Details näher betrachtet werden, wobei für unsere Fragestellung zwei Aspekte von be‐ sonderem Interesse sind, die mit der von den Befragten gewählten Ausdrucks‐ weise für die Benennung der Merkmale zusammenhängen: Zum einen fallen Merkmale mit wiederkehrenden oder ähnlichen Bezeichnungen ins Auge, die ein Hinweis darauf sein können, dass diese Bezeichnungen als tradierte Stil‐ normen quasi ‚in der Luft liegen‘. Man kann wohl eher nicht davon ausgehen, dass Dozierende entsprechende Ratgeber für Studierende zur Kenntnis nehmen, allerdings sind kritische und oft pauschale Aussagen zu „Schachtelsätzen“ u. Ä. tradiertes Gut in normativen Stilistiken (s. etwa Reiners 1991; 2005 oder Schneider 1984). 290 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 15 Häufig wurden auch Merkmale des Textaufbaus und diesbezügliche Normen sowie Anforderungen an typisch wissenschaftliche Texthandlungen genannt, die wie zu er‐ warten erfüllt waren (wie Verwenden von fachlichen Kategorien, Argumentieren, Ver‐ gleichen, Erläutern, Präzisieren, Definieren u. Ä.), die aber hier außer Acht bleiben. Zum anderen drücken sich in einigen Ausdrucksweisen Bewertungen der entsprechenden sprachlichen Erscheinung aus, und zwar, wie oben schon er‐ wähnt, durchaus auch gegenläufiger Art. Auch dies ist für die Ermittlung des Normaspekts von stilrelevanten sprachlichen Mitteln und Merkmalen von Be‐ deutung. Wir beschränken uns nun im Weiteren auf die genannten drei Listen, da sich die Befragten hier auf Formen des wissenschaftssprachlich Gewohnten und somit für sie potentiell normativ Wirksamen fokussieren konnten. Für die späteren Fragen und Aufgaben des Fragebogens dagegen sollten sie zwei Aus‐ schnitte aus studentischen Hausarbeiten, also Novizentexten, beurteilen, die auch als solche kenntlich gemacht waren. Die Fragen lenkten die Aufmerksam‐ keit der Befragten entsprechend nicht auf das Gewohnte, sondern auf den Grad der Nähe oder Abweichung bezüglich des wissenschaftssprachlich Gewohnten. In der Mängel-Liste sind unter den beiden oben genannten Aspekten fol‐ gende Nennungen besonders interessant: 15 • Schachtelsätze: 2-mal mit diesem Ausdruck, 2-mal als: „zu lange ver‐ • schachtelte Sätze“, „zu lange Sätze“ • fehlender oder falscher Fachwortschatz: einmal mit diesem Ausdruck, je • einmal als: „Fachbegriffe“, „Fachausdrücke“, „Fachterminologie“ • „zu umgangssprachlich“: 4-mal • In der „Fachbesonderheiten-Liste“ erscheinen vor allem: • Fachtermini und fachsprachliche Fremdwörter: 2-mal in dieser Formu‐ • lierung, je einmal als: „beinahe technisches Vokabular“, „fachsprachlicher Wortschatz, v. a. englische Fachbegriffe“; „Anglizismen“; „statistische Be‐ griffe, viele lateinische und griechische Fremdwörter“ • Schachtelsätze: einmal mit diesem Ausdruck, einmal als „komplexe • Syntax“ • Nominalstil: einmal mit diesem Ausdruck, einmal als „hohe Anzahl an • Substantivierungen“ Sowohl in der Mängelals auch in der Fachbesonderheiten-Liste kommen also die „Schachtelsätze“ vor, in der Mängel-Liste als Merkmal für sprachlich nicht gelungenen Wissenschaftsstil (4-mal) und in der Fachbesonderheiten-Liste als typische sprachliche Besonderheit des eigenen Fachs (2-mal). 291 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ In der „Typika-Liste“ zu dem aus unserer Sicht durchaus „normalen“ An‐ fang eines sprachwissenschaftlichen Handbuchartikels fielen den Befragten be‐ sonders auf: • Schachtelsätze: 12-mal in unterschiedlichen Formulierungen, z. B. „Satzperi‐ • oden“, „langer, aus Nebensätzen bestehender Satz“; „unnötiger byzantini‐ scher Schwulst und Textverschachtelung“, „komplizierter Satzbau“, „langer zweiter Satz“ • Fachwortschatz: 9-mal in verschiedenen Formulierungen, 4-mal mit dem • zusätzlichen Aspekt verbunden, dass die Fachwörter zugleich auch Fremdwörter sein können • Passiv: 4-mal • Syntaktische Konstruktionen, die als „Schachtelsatz“ oder mit anderen in diese Richtung gehenden Ausdrücken benannt werden, erscheinen also in allen drei Listen: 4-mal unter den (frei aufgezählten) Mängeln, 2-mal unter den (frei auf‐ gezählten) Fachbesonderheiten und 12-mal unter den textbezogen beobachteten Typika. Ebenso findet der Fachwortschatz in allen drei Listen eine prominente Erwähnung: 2-mal sein Fehlen unter den Mängeln, 6-mal sein Auftreten unter den Fachbesonderheiten und 9-mal unter den beobachteten Typika. Hingegen wird der Nominalstil nur 1-mal und nur unter den Fachbesonderheiten aufge‐ zählt und das Passiv wird 4-mal und nur unter den beobachteten Typika erfasst. Ein „zu umgangssprachlicher“ Ausdruck wird 4-mal als Mangel in der Mängel- Liste genannt. In den jeweiligen Benennungen der Merkmale lassen sich bewertungsneut‐ rale und bewertende Formulierungen unterscheiden. Dies ist ein wichtiger Be‐ standteil der Antworten, der für eine Ermittlung von Stilnormen, nach denen studentische Arbeiten beurteilt werden, eine große Rolle spielt. Durch eine vor‐ eilige Zusammengruppierung des vermutlich Gemeinten unter einem jeweils einzigen (Leit-)Begriff oder gar unter einem eingebürgerten sprachwissen‐ schaftlichen Fachbegriff ginge dieser Aspekt verloren. So fällt z. B. im syntakti‐ schen Bereich auf, dass in der Mängel-Liste die Ausdrücke „Schachtelsatz“ bzw. „verschachtelt“ an sich schon nicht neutral, sondern negativ wirken. Auch „zu lang“ charakterisiert ein negativ bewertetes Übermaß. In der Fachbesonder‐ heiten-Liste findet sich neben dem eigentlich nicht positiv deutbaren Ausdruck „Schachtelsatz“ nur ein weiterer bewertungsneutraler Ausdruck, „Komplexe Syntax“, wobei „Komplexität“ in bestimmten wissenschaftlichen Kontexten unter Umständen sogar einer positiven Bewertung nahesteht. In der Typika- Liste dagegen, in der konkrete Ausformungen von „Schachtelsätzen“ beobachtet werden können, häufen sich deutlich negativ bewertende Formulierungen („zu 292 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair langer Satz“, „unnötiger byzantinischer Schwulst und Textverschachtelung“, „unübersichtliche Satzkonstruktionen“ und „komplizierter Satzbau“). Zumin‐ dest leicht negativ bewertend wirken - isoliert gesehen - auch die Ausdrücke „Satzperioden“, „langer, aus Nebensätzen bestehender Satz“, „sehr lange Sätze“, „langer zweiter Satz“ und eher bewertungsneutral nur die Ausdrücke „kom‐ plexer Satzbau“, „komplexe syntaktische Strukturen“ sowie „kompakte Syntax“. Allerdings ist der bewertende Anteil in Bezug zur jeweiligen Aufgabenstellung zu interpretieren: Die (frei aufgezählte) Mängel-Liste umfasst gemäß der Aufgabenstellung nur Negativa, die (frei aufgezählte) Fachbesonderheiten-Liste Typisch-Fachspezifi‐ sches. Da könnte man sich fragen, ob in der Fachbesonderheiten-Liste „Schach‐ telsatz“ überhaupt negativ gemeint ist oder eher „faktisch“ (eine bestimmte Art der Formung des Satzes). In der Typika-Liste der im Textausschnitt beobachteten Merkmale sind zwar die Formulierungen „unnötiger byzantinischer Schwulst und Textverschachtelung“, „unübersichtliche Satzkonstruktionen“, „kompli‐ zierter Satzbau“ und „zu langer Satz“ den Satzbau des Textes deutlich als negativ bewertend einzuordnen. Aber gemäß der Aufgabenstellung, Typisches zu be‐ nennen, könnten die anderen acht Ausdrücke „faktisch“ formuliert die Ein‐ schätzung ausdrücken, dass der Textauszug für die Befragten aufgrund des ty‐ pischen aufwändigen Satzbaus deutlich als Expertentext erkennbar ist. Die häufig genannten Merkmale auf der Fachwortschatz- und Fachsprach- Ebene sind im Gegensatz zu dem Bereich des Satzbaus durchgängig bewer‐ tungsneutral formuliert, das gilt auch in der Typika-Liste mit Ausdrücken wie „Fachtermini“, „fachsprachliche Begrifflichkeit“, „wissenschaftliche Fremd‐ wörter“ und „Fremdwörter“. In der Reflexion des eigenen Fachsprachwort‐ schatzes in der Fachbesonderheiten-Liste klingt allerdings zum Teil an, dass er für Außenstehende oder Novizen als schwierig empfundene Charakteristika hat: „beinahe technisches Vokabular“, „Anglizismen“; „statistische Begriffe, viele la‐ teinische und griechische Fremdwörter“. Generell scheint aber die Verwendung von Fachwörtern nicht nur als typisch, sondern auch notwendig unbestritten zu sein, während die „Verschachtelung“ und Länge der Sätze einerseits als ty‐ pisch, andererseits aber auch als problematisch und negativ gesehen wird. Eine fachspezifische Ausprägung der Bewertung bestimmter Merkmale durch die befragten Lehrenden ließ sich nicht nachweisen. Die Befragungser‐ gebnisse zeigten aber methodisch wiederum deutlich, wie schwierig es auch bei einer in repräsentativer Breite und Fächerverteilung angelegten Untersuchung gewesen wäre, die Korrelationen zwischen Antworten und Fächern überhaupt klar zu bestimmen. Schon bei den variierenden verwendeten Benennungen für die sprachlichen Merkmale verbietet sich ja, aus den oben genannten Gründen, 293 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ eine vereinheitlichende Zählung. Befragte mit sprachwissenschaftlicher Fach‐ zugehörigkeit verwenden häufiger spezifisch sprachwissenschaftliche Fach‐ wörter (z. B. „Nominalstil“, „komplexe Syntax“, „Phraseme“), dennoch finden sich auch bei ihnen allgemein gängige nichtsprachwissenschaftliche Ausdrücke wie „Schachtelsätze“. Bei den nichtsprachwissenschaftlich Lehrenden anderer‐ seits kommt vereinzelt durchaus auch grammatischer Wortschatz vor (z. B. „Partizip Präsens“). Bei beiden Gruppen bleibt aber dieselbe Frage offen, ob sie nämlich auf die jeweiligen sprachlichen Eigenheiten von Texten aufgrund ihrer spezifischen Fachsprachenerfahrung aufmerksam sind oder ob hier eher Maß‐ stäbe wirken, die sie schon früher, im Rahmen ihrer eigenen Schul- und Studi‐ enerfahrung aufgrund von selbst erfahrenen Anleitungen und Korrekturen ver‐ innerlicht haben und nun weiterverwenden. Auch bei der Aufgabe, die Novizen-Textausschnitte im Hinblick auf die wis‐ senschaftssprachliche Qualität zu benoten, ergaben sich keine signifikanten Korrelationen zwischen der vergebenen Note, der Fachzugehörigkeit der Be‐ fragten und den von ihnen benannten sprachlichen Merkmalen des bewerteten Ausschnitts. Analysiert man die von den Befragten verwendeten Ausdrücke bei der Be‐ nennung von sprachlichen Merkmalen in solcher Weise genauer und auch im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Beurteilungsaufgaben, erlangt man also durchaus einen differenzierteren Aufschluss über Bewertungen, wie sie bei unterschwellig oder bewusst leitenden Stilnormen gerade entscheidend sind. 5 Was ist zu tun? Die Ausgangsfrage unseres Projekt-Seminars war, wie man belastbar Aufschluss über die konkreten wissenschaftssprachlichen Normen in den Bereichen Syntax, Wortschatz und Stilebene gewinnen kann, die von beurteilenden Fachzugehö‐ rigen angewandt werden und die sich überdies möglicherweise in einem (lang‐ samen) Wandel befinden. Die Erfahrungen und Ergebnisse des Projekt-Seminars haben bei einer Befragungsmethode wie der oben vorgestellten in mehrerlei Hinsichten Probleme aufgedeckt. Zugleich erwies es sich auch schon in diesem sehr begrenzten Rahmen der durchgeführten Befragung als lohnend, die Be‐ fragten in der Weise wie geschehen selbst „zu Wort“ kommen zu lassen, wie besonders in Abschnitt 4.2.2 dargestellt wurde. Diese Möglichkeit sollte deshalb auch für künftige Untersuchungen beibehalten und eher noch ausgeweitet werden. Weitere Erweiterungen des Erhebungsformats sind jedoch auszuloten. Hierzu seien abschließend einige Vorschläge formuliert. 294 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair Der Vielfalt und Komplexität von wissenschaftlichen Texten einerseits und von Stilnormen andererseits, die bei befragten Fachzugehörigen ausschlagge‐ bend sein können, kann man in einer Befragung nach unserer Einschätzung nicht gerecht werden, wenn der zeitliche Aufwand für die Befragten noch zu‐ mutbar sein soll. Dass überdies wissenschaftssprachliche Texte durch kurze, überschaubare Ausschnitte nicht angemessen repräsentiert werden, ist den Be‐ urteilenden in der Wissenschaft, mit ihrem Augenmerk auf eine angemessene textuelle Entfaltung anspruchsvoller Inhalte, besonders präsent und wurde auch von unseren Befragten teilweise als Hindernis für ihre Beurteilung vermerkt. Dieses Problem lässt sich unseres Erachtens grundsätzlich nicht beseitigen, son‐ dern bleibt eine Beschränkung der Aussagekraft der Befragungsergebnisse und sollte so auch den Befragten gegenüber thematisiert werden. So lässt sich bei künftigen Untersuchungen auch eher um die Bereitschaft werben, sich auf eine umfangreichere Erhebung einzulassen. Eine Erhebung, die sowohl die Fachzugehörigkeit der Befragten gleichmäßig berücksichtigt als auch die zu beurteilenden Textausschnitte passend dazu und spezifiziert nach repräsentativen Textsorten im Experten- und im Novizenbe‐ reich auswählt, könnte die Befragten dann in mehr als einem Durchgang an‐ leiten, jeweils verschiedene sprachliche und textuelle Aspekte gesondert zu be‐ obachten und zu beurteilen (z. B. sprachliche Korrektheit, Satzbau, Wortschatz, allgemeine Stilvorstellungen von gutem schriftlichem Ausdruck, Ansprüche an wissenschaftlichen Stil in diesem Fach, dieser Textsorte und -funktion). Eine gezielte Auswahl der zu beurteilenden Textausschnitte hätte das fachliche Spe‐ zialgebiet sowie hierin die Art des Inhalts und der dominanten Vertextungsstrategien (z. B. Forschungsüberblick oder Entfaltung einer These), die Erschei‐ nungsform und den Erscheinungsort, die Adressaten und andere potentiell stil‐ relevante Faktoren zu berücksichtigen. In die Erhebung könnten ferner auch Korrekturaufgaben aufgenommen werden, bei denen den Befragten die ge‐ nannten stilrelevanten Faktoren zu nennen sind. Ein solches Format einer zwei- oder dreiphasigen Erhebung mit verschie‐ denen Instrumenten und Aufgaben eröffnet durchaus Möglichkeiten, das Re‐ flexionswissen der Befragten gezielter auszuschöpfen, ohne sie begrifflich zu stark zu lenken und zu beschränken. Ein sich möglicherweise anbahnender und langsam durchsetzender Stilnor‐ menwandel hingegen ließe sich wohl nur dann erfassen, wenn vergleichende generationendifferenzierende Querschnittbefragungen im Abstand von circa 10 Jahren sowohl bei Deutschlehrkräften im Gymnasium als auch bei Hochschul‐ lehrenden durchgeführt würden. 295 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ Literatur Auer, Peter / Baßler, Harald (Hg.) 2007: Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frank‐ furt a. M. Dittmann, Jürgen 2003: Schreibprobleme im Studium - eine empirische Untersuchung. 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Höchster akademischer Grad: _______________________________________________ 6. Gegenwärtige Position (im akademischen Betrieb): _____________________________ 7. Fach/ Teilfach: ____________________________________________________________ 8. Jahre der Tätigkeit insgesamt als DozentIn: ___________________________________ 9. Ausübung der gegenwärtigen Tätigkeit im akademischen Betrieb erfolgt  nebenberuflich  hauptberuflich A LLGEMEINE F RAGEN 1. Wie oft schreiben Sie pro Semester Texte in deutscher Wissenschaftssprache? _____ 2. Wie oft lesen Sie pro Woche Texte in a) deutscher Wissenschaftssprache __________ b) anderer Wissenschaftssprache (wenn ja, welche? ) __________ 3. Wie oft korrigieren Sie pro Semester Texte in deutscher Wissenschaftssprache von a) Studierenden __________ b) Doktoranden __________ 4. Nennen Sie bitte ein Merkmal eines sprachlich schlechten wissenschaftlichen Textes: __________________________________________________________________________ 5. Nennen Sie eine sprachliche Besonderheit von wissenschaftlichen Texten Ihres Fachs: __________________________________________________________________________ 6. Bewerten Sie die Relevanz von Wissenschaftssprache für Ihr Fachgebiet auf der Skala.  irrelevant      äußerst relevant 298 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 2 F RAGEN ZU T EXTAUSZUG I 1. Wie typisch finden Sie den vorliegenden Textauszug für wissenschaftliches Schreiben? Kreuzen Sie bitte an. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, ein „situativ und sozial definiertes Ensemble von Textsorten“ (Konzeption des Handbuchs) am Beispiel des Bereichs ‘Hochschule und Wissenschaft’ beschreibend zu kennzeichnen. Versteht man den ‘Bereich’ als ‘Kommunikationsbereich’ (Heinemann/ Viehweger 1991, 155), als gesellschaftlich determinierten Rahmen, in dem typische Ziele/ Zwecke von den in charakteristischer Weise Handelnden mit Hilfe typischer Handlungen und Sprachhandlungen verfolgt werden, dann erweisen sich solche Bereiche als je spezifische kommunikative Handlungsräume von Interagierenden im Rahmen von gesellschaftlichen Institutionen.  gar nicht typisch  eher nicht typisch  eher typisch  sehr typisch 2. Nennen Sie bitte die drei wichtigsten Merkmale aus dem Text, an denen Sie Ihre Entscheidung in der vorangegangenen Frage festgemacht haben. Unterstreichen Sie hierfür die passenden Textstellen und benennen Sie die von Ihnen unterstrichene Erscheinung kurz in der Kommentarspalte am rechten Rand. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, ein „situativ und sozial definiertes Ensemble von Textsorten“ (Konzeption des Handbuchs) am Beispiel des Bereichs ‘Hochschule und Wissenschaft’ beschreibend zu kennzeichnen. Versteht man den ‘Bereich’ als ‘Kommunikationsbereich’ (Heinemann/ Viehweger 1991, 155), als gesellschaftlich determinierten Rahmen, in dem typische Ziele/ Zwecke von den in charakteristischer Weise Handelnden mit Hilfe typischer Handlungen und Sprachhandlungen verfolgt werden, dann erweisen sich solche Bereiche als je spezifische kommunikative Handlungsräume von Interagierenden im Rahmen von gesellschaftlichen Institutionen. ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ 3. Wie ähnlich ist Ihr Schreibstil dem präsentierten Textauszug?  sehr ähnlich  teilweise ähnlich  gar nicht ähnlich 299 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 3 F RAGEN ZU T EXTAUSZUG II Textauszüge II+III stammen aus einer studentischen Hausarbeit aus dem Fachbereich Neuere Deutsche Literatur. 1. Wie typisch finden Sie den vorliegenden Textauszug für wissenschaftliches Schreiben in Ihrem Fach? Kreuzen Sie bitte an. Für Kasper ist anders als für seine Familie nicht der nationale Aspekt der Ehre von Bedeutung, sondern der militärische an sich, von dem er sich vereinnahmen lässt. Er empfindet das Verhalten des Unteroffiziers, der sich lieber das Leben nahm als einen Mann auf höheren Befehl hin zu verprügeln, als so von Ehre durchdrungen, dass er seine eigene Verblendung nicht wahrnimmt, nicht versteht, dass Protest den Unteroffizier in einer freien Entscheidung, sich selbst und dem zu bestrafenden Soldaten die Würde zurückgebend, dazu trieb sich das Leben zu nehmen, und nicht etwa seine Besessenheit nach der Ehre zu handeln, so wie Kasper sie nun anstrebt.  gar nicht typisch  eher nicht typisch  eher typisch  sehr typisch 2. Nennen Sie bitte die drei wichtigsten Merkmale aus dem Text, an denen Sie Ihre Entscheidung in der vorangegangenen Frage festgemacht haben. Unterstreichen Sie hierfür die passenden Textstellen und benennen Sie die von Ihnen unterstrichene Erscheinung in der Kommentarspalte am rechten Rand. Für Kasper ist anders als für seine Familie nicht der nationale Aspekt der Ehre von Bedeutung, sondern der militärische an sich, von dem er sich vereinnahmen lässt. Er empfindet das Verhalten des Unteroffiziers, der sich lieber das Leben nahm als einen Mann auf höheren Befehl hin zu verprügeln, als so von Ehre durchdrungen, dass er seine eigene Verblendung nicht wahrnimmt, nicht versteht, dass Protest den Unteroffizier in einer freien Entscheidung, sich selbst und dem zu bestrafenden Soldaten die Würde zurückgebend, dazu trieb sich das Leben zu nehmen, und nicht etwa seine Besessenheit nach der Ehre zu handeln, so wie Kasper sie nun anstrebt. ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ 300 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 4 3. Für wie repräsentativ halten Sie diesen Sprachstil unter Ihren Studenten?  gar nicht repräsentativ  eher nicht repräsentativ  eher repräsentativ  sehr repräsentativ 4. Welche Note würden Sie dem vorliegenden Textausschnitt in Bezug auf die Qualität des wissenschaftlichen Sprachstils geben? (1 = beste; 6 = schlechteste)  6  5  4  3  2  1 F RAGEN ZU T EXTAUSZUG III 1. Wie typisch finden Sie den vorliegenden Textauszug für wissenschaftliches Schreiben? Kreuzen Sie bitte an. Ehre wird zur Pflicht und die Pflicht zum Existenzprinzip. Das Transzendente wird durch Weltliches ersetzt, Annerl und Kasper leben nicht mehr wie die Großmutter in der religiösen Welt. Die Jungen haben im Gegensatz zur alten dörflichen Bäuerin ein moderneres Bewusstsein. Ihre Wertvorstellungen haben sich gewandelt und die weltlichen Werte bilden die neuen Richtlinien. Die bei ihnen stark bürgerlichen Verhaltensweisen sind bei der Großmutter nicht zu finden. Wo keine mütterliche Bezugsperson ist, kann sich auch keine Familienverbundenheit aufbauen. Die Kinder, die in der Welt auf sich gestellt scheinen, bauen daher eine innige Bindung zueinander auf.  gar nicht typisch  eher nicht typisch  eher typisch  sehr typisch 2. Nennen Sie bitte die drei wichtigsten Merkmale aus dem Text, an denen Sie Ihre Entscheidung in der vorangegangenen Frage festgemacht haben. Unterstreichen Sie hierfür die passenden Textstellen und benennen Sie die von Ihnen unterstrichene Erscheinung in der Kommentarspalte am rechten Rand. 301 „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ 5 Ehre wird zur Pflicht und die Pflicht zum Existenzprinzip. Das Transzendente wird durch Weltliches ersetzt, Annerl und Kasper leben nicht mehr wie die Großmutter in der religiösen Welt. Die Jungen haben im Gegensatz zur alten dörflichen Bäuerin ein moderneres Bewusstsein. Ihre Wertvorstellungen haben sich gewandelt und die weltlichen Werte bilden die neuen Richtlinien. Die bei ihnen stark bürgerlichen Verhaltensweisen sind bei der Großmutter nicht zu finden. Wo keine mütterliche Bezugsperson ist, kann sich auch keine Familienverbundenheit aufbauen. Die Kinder, die in der Welt auf sich gestellt scheinen, bauen daher eine innige Bindung zueinander auf. ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ ___________________________ 3. Für wie repräsentativ halten Sie diesen Sprachstil unter Ihren Studenten?  gar nicht repräsentativ  eher nicht repräsentativ  eher repräsentativ  sehr repräsentativ 4. Welche Note würden Sie dem vorliegenden Textausschnitt in Bezug auf die Qualität des wissenschaftlichen Sprachstils geben? (1 = beste; 6 = schlechteste)  6  5  4  3  2  1 Vielen Dank für Ihre Zeit! 302 Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4 4.1 4.2 5 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler alltäglicher Fachkommunikation - am Beispiel der Online-Textsorte Forumsbeitrag Thomas Tinnefeld Gliederung Einleitende Bemerkungen Alltags-Fachsprachlichkeit Ausprägungen und Funktionen alltags-fachsprachlichen Stilwechsels Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Gemeinsprache Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Fachsprache Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Gemeinsprache ⇨ Fachsprache Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Fachsprache ⇨ Gemeinsprache Stilwechsel Fachsprache ⇨ Gemeinsprache Stilwechsel Fachsprache ⇨ Gemeinsprache ⇨ Fachsprache Funktionen emotional bedingten Stilwechsels im Rahmen der Alltags- Fachsprachlichkeit Sachorientierte Funktionen Kommunikationsorientierte Funktionen Abschließende Bemerkungen 1 Einleitende Bemerkungen Die Nutzer von Internetforen kommunizieren mit Blick auf die verschiedensten Aspekte des Lebens - von gängigen Dingen des Alltags bis hin zu philosophi‐ schen Positionen, die die Lebenseinstellungen von Menschen betreffen. Bei dieser Form der alltäglichen Kommunikation, die bei entsprechenden Frage‐ stellungen durchaus dem Bereich Fachkommunikation zugerechnet werden kann, steht zunächst in aller Regel die Sachebene im Mittelpunkt, also die der Internet-Community gestellte Frage, zu der der Fragesteller sich Hilfe oder zu‐ 1 Vgl. zu der Thematik der mündlichen Fachkommunikation für die französische Rechts‐ sprache auch Neu (2011) sowie Munsberg (1994), der diese Thematik für das Fach Chemie untersucht. mindest verschiedene Meinungen erhofft. Ab einem bestimmten Punkt kommt es dabei jedoch nicht selten vor, dass die Kommunikation von einer sachorien‐ tierten zu einer eher emotionalen, personenbezogenen Kommunikation um‐ schlägt, die oft durch einen gewissen Appellcharakter gekennzeichnet ist. Dabei wird entweder die Kommunikation selbst zum Thema gemacht oder es werden die eigenen Gefühle zum Kommunikationspartner bzw. zu dem gegebenen Sachverhalt zum Ausdruck gebracht. Dies kann beispielsweise dadurch ge‐ schehen, dass sich ein Konfliktpotential zwischen den Kommunikationspart‐ nern ergibt, dass die erörterte Sache einen oder mehrere Kommunikations‐ partner ärgert, oder auch dadurch, dass eine Wissensdivergenz zwischen beiden - also von Seiten des besser Informierten ein Wissensdefizit des Gegenübers - überwunden werden muss. Der Wechsel von einer sachbezogenen zu einer per‐ sonenbezogenen Kommunikationsebene - und ebenso die Bandbreite dieses Wechsels - ist prinzipiell somit erheblich. In dieser Phase ablaufender Kommunikationssituationen lassen sich häufig Stilwechsel nachweisen, die eine Modifikation der Kommunikationsebene mar‐ kieren. Die hier feststellbaren Stilwechsel sollen in dem vorliegenden Beitrag untersucht werden, und zwar unter der Fragestellung: • wie sie sich sprachlich manifestieren, also welche sprachlichen Mittel • hierbei zum Tragen kommen, • ob und wenn ja in welcher Form dabei eine Verbindung fachsprachlicher • Elemente (z. B. Fachbegriffe) und alltagssprachlicher Kommunikation vonstattengeht und • durch welche sachbezogenen - ggf. auch sprachbezogenen - Faktoren sie • möglicherweise ausgelöst werden. Die hier vorgenommene Untersuchung ist eine qualitative, in der die aufge‐ worfene Stoßrichtung exemplarisch aufgearbeitet werden soll. Für das Korpus werden Fragen unterschiedlicher alltags-fachsprachlicher Ausrichtung ausge‐ wählt. Dabei wird ein weithin bekanntes Internetforum als Quelle herange‐ zogen. Die untersuchte Sprache ist das Deutsche. Es handelt sich bei den von uns untersuchten um solche Kommunikations‐ situationen, die im weitesten Sinne der gesprochenen Sprache 1 zuzuordnen sind, in denen man sich jedoch eines schriftlichen Kommunikationskanals bedient (vgl. auch Koch /  Oesterreicher 1985). Kommunikationssituationen dieser Art sind im Wesentlichen durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: 304 Thomas Tinnefeld • zeitliche Unmittelbarkeit: Man greift rasch einmal zur Tastatur und for‐ • muliert eine Frage, zu der man Informationen sucht; umgekehrt wird die gestellte Frage in aller Regel recht zeitnah beantwortet; • räumliche Distanz zwischen Fragesteller und Antwortendem, da beide • sich in aller Regel nicht an demselben Ort - wenn auch in demselben Forum, was hier jedoch nicht gemeint ist - befinden; • potentielle Fachsprachenorientierung, in Abhängigkeit von der gestellten • Frage; • ein - wie dezidiert oder unscharf auch immer ausgeprägtes - Experte- • Laie-Verhältnis (vgl. auch Tinnefeld 1993: 51 ff.) - im Sinne einer fachli‐ chen Distanz zwischen Fragesteller und Antwortendem -, bei dem davon ausgegangen wird, dass nur derjenige eine gestellte Frage zu beantworten strebt, der zu dieser auch etwas Sachdienliches zu sagen hat; • eine potentielle, nicht zuletzt durch das Kommunikationsmedium Inter‐ • netforum bedingte Registernivellierung (Tinnefeld 2012), die die Kom‐ munikation maßgeblich beeinflussen kann. Solche Kommunikationssituationen zeichnen sich somit durch eine erhebliche Komplexität aus. Online-Kommunikation wie sie in dem hier untersuchten Forum Gute Frage und ähnlichen Foren vonstatten geht, lässt sich - auf diese Gesichtspunkte sei hier in aller Kürze eingegangen - entsprechend systematisieren (Morris /  Ogan 1996; Beck 2010: 20), wobei wir es hier generell mit den Phänomen Interaktivität (Fraas u. a. 2012: 10) und mit Blick auf den Kommunikationsmodus (ebd.: 19) mit einer asynchronen Zeitdimension zu tun haben, in der ein Sender sich an po‐ tentiell mehrere Rezipienten wendet, die dann auf diesen reagieren. Ein we‐ sentliches sprachliches Charakteristikum von Internetforen ist dabei die so genannte ,Oraliteralität‘ (Beck 2010: 24), also eine Mischform aus gesprochener und geschriebener Sprache. Zudem ist in diesen von Bedeutung, dass sie oftmals durch ‚Herrschaftsfreiheit‘ und ‚niedrige Zutrittsschwellen‘ (vgl. Neu‐ berger /  Quandt 2010: 40) geprägt sind. Ebenso ist wichtig, dass Internetforen oft emotionale Unterstützung bereitstellen (Marr /  Zillien 2010: 273), was sicherlich von den dort aktiven Menschen nicht selten erwartet oder zumindest erhofft wird. Diese generelle Ausrichtung von Online-Kommunikation - allgemein oder in Bezug auf Internetforen - ist für die folgenden Ausführungen mittelbar oder unmittelbar von Bedeutung. 305 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation 2 Vgl. zu dem Themenkomplex Fachsprache(n) im Alltag ergänzend auch die Ausfüh‐ rungen von Schaeder (2001) und Roelcke (2001) sowie zum Verhältnis von Alltags‐ sprache und Fachsprache Rincke (2010, und hier besonders 236 ff.). 3 Wir folgen hier bewusst nicht der nachstehend zitierten Definition von Selting: „Mit ,Stilwechsel‘ (oder Stilverschiebung) soll im folgenden der Wechsel von einem Sprechstil zu einem anderen im Kontext desselben Sprech- oder Kommunikations‐ ereignisses bzw. derselben Kommunikationssituation, ggf. gegenüber ein- und dem‐ selben Kommunikationspartner, bezeichnet werden“ (Selting 1983: 39), da uns die Er‐ läuterung des dort definierten Begriffes Stilwechsel durch die Elemente Wechsel von einem Sprechstil zu einem anderen aufgrund der Identität der zu definierenden und der schließlich definierten Begriffe Wechsel und Stil problematisch erscheint. 2 Alltags-Fachsprachlichkeit Für die Durchführung dieser Untersuchung wählen wir das Konzept Alltags- Fachsprachlichkeit, 2 das die anvisierte Textsorte Forumsbeitrag aus unserer Sicht adäquat widerspiegelt, da emotional motivierte Stilwechsel in rein wissen‐ schaftlichen oder akademischen Diskursen erfahrungsgemäß eher selten bis gar nicht vorkommen. Den Begriff Alltags-Fachsprache definieren wir hier in An‐ lehnung an Hoffmann (1987: 92) wie folgt: Alltags-Fachsprache stellt eine je‐ weils begrenzte Auswahl an Sprachmitteln der Gemeinsprache und einer oder mehrerer Fachsprachen dar, die die Verständigung der jeweils interagierenden Partner in nicht wissenschaftlich oder beruflich ausgerichteten, mehrheitlich gesprochensprachlichen Kommunikationssituationen gewährleistet. Diese Mittel sind Teil der Gesamtsprache und bilden ihrerseits eine Subsprache. Ihre Verwendung wird in erster Linie durch den auszudrückenden Inhalt und in zweiter Linie durch die kommunikative Funktion bzw. den kommunikativen Zweck der jeweiligen Aussage sowie durch zahlreiche weitere subjektive oder objektive Kommunikationsfaktoren determiniert. Dabei oszilliert die Alltags- Fachsprache beständig zwischen den Extrempunkten Gemeinsprache und Fach‐ sprache, jedoch ohne diese in vollem Umfang zu erreichen. Wie die zuvor beschriebene Kommunikationssituation ist somit auch das Phänomen Alltags-Fachsprachlichkeit durch eine erhebliche Komplexität ge‐ kennzeichnet. Dass sich angesichts dieser Komplexität der vorliegenden sprachlichen Aus‐ richtung in solchen Kommunikationssituationen, in denen sie realisiert wird, potentiell Stilwechsel ergeben können, in denen die zuvor herrschende sprach‐ liche und /  oder situationale Harmonie gestört wird, erscheint plausibel. Der Be‐ griff Stilwechsel lässt sich dabei - in Anlehnung an Selting (1983: 39) - wie folgt definieren: 3 306 Thomas Tinnefeld 4 Vgl. hierzu ergänzend auch Baumanns Interdisziplinäres Modell der Fachstilanalyse (Baumann 2008: 191 ff.). Der Begriff Stilwechsel bezeichnet die Veränderung eines gegebenen Sprach‐ registers in ein und demselben schriftlichen oder mündlichen Text im Rahmen derselben Kommunikationssituation in Richtung auf eine formellere oder in‐ formellere und / oder eine gemeinsprachlichere oder fachsprachlichere Ausprä‐ gung. In Ausnahmefällen kann Stilwechsel auch in Korrespondenz zwischen verschiedenen Kommunikationssituationen stattfinden, wobei dann jedoch in aller Regel mindestens ein Kommunikationspartner, eine Kommunikationssituation, ein Kommunikationskanal oder eine Textsorte von der bzw. dem je‐ weils ursprünglichen unterschieden ist. Ein Stilwechsel findet vor dem Hintergrund dieser Definition in der Regel beispielsweise dann statt, • wenn zwischen den Kommunikationspartnern Emotionen ins Spiel • kommen, die zuvor nicht vorhanden waren, • wenn die Adressatengruppe sich verändert, beispielsweise von Erwach‐ • senen hin zu Kindern oder umgekehrt, • wenn die gleiche Thematik einmal schriftlich und einmal mündlich be‐ • handelt wird oder auch • wenn der Grad der Fachlichkeit einzelner Aussagen oder auch gesamt‐ • hafter Kommunikationssituationen sich verändert, beispielsweise dann, wenn nicht mehr unter Experten kommuniziert wird, sondern unter Laien oder zwischen Experten und Laien. In diesem Falle wird der entspre‐ chende Stilwechsel auch oder besonders eine Umorientierung von der jeweils verwendeten Fachsprache hin zu der entsprechenden Alltags- Fachsprache (oder umgekehrt) mit sich bringen. Diese zuletzt erwähnte Konstellation soll im Folgenden im Mittelpunkt der Be‐ trachtungen stehen. Will man die Alltags-Fachsprachlichkeit, die wir hier un‐ tersuchen, mit den von Gläser (1979: 82) ausgegrenzten Fachstilen in Beziehung setzen, so bewegt sich diese aus unserer Sicht zwischen dem populärwissen‐ schaftlichen Fachstil und dem praktischen Sachstil. 4 Die hier untersuchten Texte sind dabei allesamt dem Bereich Sachprosa zu‐ zuordnen. Dabei ist die Feststellung von Schikowski von Bedeutung, der - wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang - feststellt: „Die Textsignale der Sachprosa generieren mittels Stilwechsel einen Zuwachs an Authentizität, Glaubwürdigkeit und Plausibilität“ (Schikowski 2017: 575). 307 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation 5 Vgl. www.gutefrage.net/ company/ ueber-uns/ ; 31.01.2018. 6 Dass Portale wie dieses - man denke etwa an Yahoo! Clever - auch für didaktische Zwecke sowie für das interkulturelle Lernen nutzbar sind, haben wir an anderer Stelle gezeigt (Tinnefeld 2008; 2011). Die drei hier genannten Faktoren Authentizität, Glaubwürdigkeit und Plausi‐ bilität spielen - als angenommene Grundcharakteristika von Sachprosa - auch in der von uns analysierten Textsorte eine Rolle. Die hier untersuchte Textsorte Forumsbeitrag ist dabei im Wesentlichen durch die folgenden Charakteristika geprägt: • Informationsrecherche, also das Bestreben nach Füllung einer Wissens‐ • lücke in einer relativen Laie-Experte-Beziehung - somit der Kommuni‐ kation zwischen einer mit Blick auf einen gegebenen Sachverhalt weniger gut informierten und einer besser informierten Person; • Distanz in lokaler und temporaler Ausrichtung; • • Fachorientierung im Sinne einer Alltags-Fachsprachlichkeit; • • potentielle Emotionalität durch die Kollision unterschiedlicher Weltbilder • von Fragesteller und Antwortendem. Im Folgenden werden wir uns nun mit konkreten Beispielen alltags-fachsprach‐ lichen Stilwechsels beschäftigen, die in der Textsorte Forumsbeitrag von Bedeu‐ tung sein können. Dabei konzentrieren wir uns auf das Portal Gute Frage (www .gutefrage.net). Diese - nach eigener Aussage, die im Untertitel des Portals fi‐ guriert - „größte deutschsprachige Frage-Antwort-Plattform“, die im Übrigen zur Holtzbrinck-Gruppe gehört, 5 schätzt ihre eigene Vielseitigkeit wie folgt ein: „Bei uns findet jeder schnell neue Perspektiven - egal zu welchem Thema. Wir stehen für einen persönlichen und offenen Austausch untereinander - zu jeder Zeit und überall. Nur so entsteht eine große Meinungs- und Themenvielfalt, was unsere User sehr schätzen.“ (www.gutefrage.net/ company/ ueber-uns/ ; 31.01.2018; Hervorhebungen im Orig.) Hinsichtlich seiner Nutzung mit Blick auf Quantität und Wirkungskreis ist auf dem Portal die folgende Aussage zu finden: „Mit circa 18 Millionen Unique Usern pro Monat befindet sich die Plattform stets unter den Top reichweiten-stärksten Online-Angebote [sic] in Deutschland.“ (www .gutefrage.net/ company/ ueber-uns/ ; 31.01.2018; Hervorhebungen im Orig.) Dieses Portal darf somit als ein in diesem Zusammenhang wichtiges ange‐ nommen werden, und es besitzt für Untersuchungen wie die vorliegende eine hinreichende Relevanz. 6 308 Thomas Tinnefeld 7 Vgl. zu der Kommunikation zwischen Experten und Laien im Bereich des Rechtswesens auch Oksaar (1988: 185 ff.), Tinnefeld (1993: 52 ff.), Engberg (2017: 118 ff.). Die in dem Portal abgedeckten Oberthemen sind die folgenden: Themen A-Z Auto Computer Freizeit Haushalt Musik Technik Beauty Ernährung Gesundheit Internet Recht Beruf Finanzen Handy Medizin Sport Alle Themen (www.gutefrage.net; 31.01.2018) Dabei ist die Gesamtliste der behandelten Themenbereiche erheblich größer (vgl. www.gutefrage.net/ beliebte_tags). Innerhalb dieser Themenbereiche kon‐ zentrieren wir uns auf die Kategorie Recht, 7 die sowohl als Oberthema als auch in der Detailübersicht der aufgelisteten Themenbereiche aufgeführt ist. 3 Ausprägungen und Funktionen alltags-fachsprachlichen Stilwechsels In der nun folgenden Behandlung der Ausprägungen und Funktionen alltagsfachsprachlichen Stilwechsels gehen wir zunächst von der Gemeinsprache aus. 3.1 Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Gemeinsprache Ein syntaktischer Wechsel von gemeinsprachlichem Stil in vollständigen Sätzen mit juristischem Hintergrund hin zu einem ebenfalls gemeinsprachlichen Stil mit ebenfalls juristischer Bezugnahme, jedoch dominant unvollständigem Satzbau, findet sich in dem folgenden Text. 309 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation 8 Die in dem verwendeten Portal - und bei weitem nicht nur dort - figurierenden Texte sind durch eine erhebliche Fehlerhaftigkeit gekennzeichnet. Die dort auftretenden Fehler werden hier unkorrigiert zitiert und zudem unkommentiert hingenommen, da sie im vorliegenden Zusammenhang für Beschreibung und Analyse nicht von Relevanz sind und die Aussagen trotz aller Fehler in aller Regel verständlich sind. 9 Die für unsere Beschreibung und Analyse relevanten Passagen sind jeweils kursiv ge‐ setzt. Beispiel 1: 8 Frage von anna3x Meine Frage ist, ob es erlaubt ist auf mehrtägigen Jugendveranstaltungen Handys einzusammeln oder komplett zu verbieten. Kann mir da jemand weiterhelfen? Antwort von Woelfin1 Sollte in den Statuten stehen.  9 Bei Veranstaltungen sicherlich. abends auf dem Zimmer ? ? Wäre eigentlich sinnvoll. Wofür braucht man da ein Handy? (www.gutefrage.net/ frage/ handys-einsammeln-erlaubt; 31.01.2018) Hier wird zunächst kursorisch auf die gestellte Frage eingegangen, wobei die Antwort (Sollte in den Statuten stehen) jedoch nur kontextuell zu verstehen ist und nicht für sich allein stehen kann. Auch die darauf folgenden Äußerungen (Bei Veranstaltungen sicherlich. abends auf dem Zimmer ? ? Wäre eigentlich sinn‐ voll) sind nur kontextuell dekodierbar und könnten sich auf ganz unterschied‐ liche Zusammenhänge beziehen. Der einzige wirklich vollständige Satz, der je‐ doch auch nur kontextuell interpretierbar ist - Wofür braucht man da ein Handy? -, ist nicht neutral gehalten, sondern stellt eine wertende Stellungnahme dar. Der Wechsel von dem neutralen Stil in vollständigem Satzbau und korrektem Deutsch der Fragestellerin hin zu dem unvollständigen Stil in gesprochensprachlichem Deutsch der Antwortenden ist auf den ersten Blick durchaus funktional, da die Kommunikation im Zusammenhang gesichert ist. Dennoch ist lediglich der erste Satz der Antwort für die Fragestellerin wirklich hilfreich. Die übrigen Bestandteile der Antwort repräsentieren eher eigene Reflexionen der Antwortenden - gleichsam wie in einem Selbstgespräch - und stellen für die Fragestellerin keine sinnvolle Hilfe dar. Der Stilwechsel begleitet hier somit den Übergang von der eigentlichen Referenz auf die gestellte Frage zu den ei‐ genen Überlegungen der Antwortenden, die diese eher an sich selbst zu richten scheint als mit Blick auf die Fragestellerin formuliert. Die skelettartigen Satz‐ bildungen in der Antwort (Bei Veranstaltungen sicherlich. abends auf dem Zimmer ? ? Wäre eigentlich sinnvoll) markieren diesen Übergang recht deutlich; 310 Thomas Tinnefeld der Stilwechsel hat hier somit die Funktion der Markierung der Introspektion der Antwortenden. Im Folgenden werden nun Stilwechsel behandelt, die immer mit einem Über‐ gang von der Gemeinsprache zur Fachsprache oder umgekehrt einhergehen. 3.2 Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Fachsprache Eine mit Blick auf sprachliche Kürze und Unmittelbarkeit extreme Form des interpersonalen Stilwechsels zeigt sich in dem folgenden Beispiel: Beispiel 2: Frage von Maikichen wie lange darf man mit 15 draußen bleiben ich bruache gringend links zu allen gesetzten … Antwort von Gericht (2)§1 bis 12 Jahre ist der aufenthalt ausserhalb öfentlicher Gebäuden oder sonstigen ohne Erziehungsberechtigten bis 21 uhr genehmigt ! § 2 bis 16 jahre (siehe abs. 1) genehmigung bis 22 uhr ! Mit 18 Jahren ist man volljährig und kann rund um die uhr sich frei bewegen ! ! ! (www.gutefrage.net/ frage/ wie-lange-darf-man-mit-15-draussen-bleiben; 01.02.2018) Von der gestellten Frage Wie lange darf man mit 15 draußen bleiben, die zwar unmittelbar verständlich ist, jedoch mit Blick auf den hier juristisch exakt zu klärenden Sachverhalt, im minderjährigen Alter von 15 Jahren bis zu einer be‐ stimmten Uhrzeit ausgehen zu dürfen, ungleich präziser formuliert werden könnte, über die trotz der mangelhaften Orthographie immer noch erschließ‐ bare Erläuterung, die heißen soll ,Ich brauche dringend Links zu allen (rele‐ vanten) Gesetzestexten‘, wird vom Antwortenden (trotz aller Missachtung der Großschreibung und der übrigen, sich in seiner Antwort manifestierenden sprachlichen Mängel) umgehend zu einem juristischen Stil übergegangen ((2) §1, Aufenthalt außerhalb öffentlicher Gebäude, Erziehungsberechtigter, Genehmi‐ gung, volljährig). Dieser Übergang, markiert einen klaren Stilwechsel, wobei es zweifelhaft ist, ob die Fragestellerin diesen Text vor dem Hintergrund ihrer ei‐ genen, derart mangelhaften Formulierung zu verstehen vermag. Ein solcher Stilwechsel hin zur Fachsprachlichkeit ist zwar inhaltlich sinnvoll und somit als intentional adäquat einzustufen, mag aus dem genannten Grund jedoch frag‐ würdig sein, da die von der Fragestellerin und dem Antwortenden verwendeten Codes hochgradig unterschiedlich sind und kaum Überlappungen aufweisen, ohne die die angestrebte Kommunikation kaum gelingen kann. Die vom Ant‐ wortenden angestrebte sachliche Adäquatheit einerseits und die Wahrschein‐ lichkeit des kommunikativen Erfolgs seiner Antwort andererseits gehen hier 311 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation somit nicht unbedingt miteinander einher. Die Funktion des Stilwechsels ist hier jedoch unzweifelhaft diejenige, eine nicht eindeutig formulierte Frage durch eine entsprechende Formulierung mit größtmöglicher Eindeutigkeit und sach‐ licher Zuverlässigkeit zu beantworten - auch wenn dies noch ungleich besser unter Erwähnung des Gesetzes, auf das der Antwortende sich bezieht, ge‐ schehen würde. Eine ebenfalls extreme Form von interpersonalem Stilwechsel, diesmal jedoch auf Seiten der Antwortenden, ist in dem folgenden Beispiel zu verzeichnen. Beispiel 3: Frage von MabbelMubbel93 Dürfen Cousin und Cousine heiraten? Mit einem meiner Freunde "streite" ich mich seit einigen Tagen über dieses Thema. Es geht nicht um persönliche Motive, sondern nur darum, wer recht hat. Ich meine, es ist erlaubt - er behauptet das Gegenteil. Er hat auch schon einige Leute gefragt, und die meinten, es sei verboten oder nur bei Cousin/ e zweiten Grades erlaubt. In einem Forum hat jemand allerdings einen Paragraphen zitiert, in dem stand, dass Cousins und Cousinen, auch ersten Grades, heiraten dürfen. Das kann ja aber auch nur dahergesagt sein, denn im Internet steht auch Widersprüchliches. Was stimmt denn nun? Weiß das jemand? Antwort von MissLouise Du hast recht, das geht. Blutschande gilt erst, wenn (1) Wer mit einer Person, die mit ihm in gerader Linie verwandt ist, den Beischlaf vollzieht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen. (2) Wer eine Person, mit der er in absteigender Linie ver‐ wandt ist, zum Beischlaf verführt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen. (3) Wer mit seinem Bruder oder mit seiner Schwester den Beischlaf vollzieht, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten zu bestrafen. (4) Wer zur Zeit der Tat das neun‐ zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist wegen Blutschande nicht zu bestrafen, wenn er zur Tat verführt worden ist. (www.gutefrage.net/ frage/ duerfen-cousin-und-cousine-heiraten; 01.02.2018) Während die Fragestellung hier recht allgemeinsprachlich gehalten ist und ohne jegliche Fachtermini auskommt - wobei der Stil jedoch nicht gesprochensprachlich ist, sondern in zahlreichen Passagen durchaus schriftsprachliche Ele‐ mente (z. B. den Konjunktiv sei) enthält und orthographisch weitgehend korrekt ist -, besteht die Antwort - abgesehen von dem ersten Satz (Du hast recht, das geht.), der ja bereits die gewünschte Information enthält - aus dem Zitat des von der Antwortenden als relevant angesehenen Gesetzestextes als Beleg, ohne dass 312 Thomas Tinnefeld 10 Dabei ist für unsere Argumentation die Frage zweitrangig, ob der zitierte Gesetzestext auch wirklich auf die von der Fragestellerin aufgeworfene Problematik beziehbar ist - also juristisch zutrifft -, was hier wohl nicht der Fall ist. Von Bedeutung ist hier einzig und allein, dass auf die gestellte Frage durch die Zitierung eines Gesetzestextes einge‐ gangen wird, wodurch seitens der Antwortenden Expertentum bzw. zumindest ein‐ schlägige Informiertheit suggeriert wird. dieser jedoch explizit als Zitat gekennzeichnet wird. 10 Die grundlegenden Funk‐ tionen des Stilwechsels mögen hier zum einen eine gewisse Enkodierungsöko‐ nomie sein - der bestehende Gesetzestext wird wortwörtlich zitiert, nicht jedoch umformuliert -, zum anderen inhaltliche Exaktheit und somit die Vermeidung von Missverständnissen, die durchaus dann entstehen könnten, wenn die Ant‐ wortende ebenso frei formuliert hätte wie die Fragestellerin. Durch die unmit‐ telbare Zitierung des zugrundeliegenden Gesetzestextes besteht zwar auf Seiten der Fragestellerin ein mögliches Risiko - das des Nicht-Verstehens -, es existiert jedoch keinerlei Risiko der inadäquaten Formulierung auf Seiten der Antwor‐ tenden, und sie verleiht ihrer Stellungnahme hierdurch zugleich eine gewisse Glaubwürdigkeit und Authentizität. Trotz der auf diese Weise entstehenden ju‐ ristischen Diktion der Antwort ist das Gesamtverständnis bereits durch den ersten Satz der Antwort, der klar ist und eindeutig auf die gestellte Frage Bezug nimmt, gesichert. 3.3 Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Gemeinsprache ⇨ Fachsprache In dem folgenden Beispiel findet nach einer interpersonalen Beibehaltung des Ausgangsstils ein intrapersonaler Stilwechsel von der Gemeinsprache zu Fach‐ sprache statt. Zunächst zu der gestellten Frage. Beispiel 4: Frage von Emos69 Hey Leute, Kurzer Sachverhalt: hatte im Januar diesen Jahres einen Hagelschäden an meinem Auto. Bin versichert wo der DEVK und das Fahrzeug wurde von einem Dekra-Gut‐ achter begutachtet (kooperieren wohl miteinander). Ich habe knapp 600 Euro ausge‐ zahlt bekommen, hab den Schaden nicht beheben lassen. Nun zu meinem Problem: am vergangen Dienstag hat es wieder gehagelt ca. gleiche Stärke wie beim ersten Schaden (0,5 mm Hagelkörner). Ich weiß jetzt nicht ob mein Auto wieder Dellen ab‐ bekommen hat oder nicht.. Dass es gehagelt hat habe ich der Versicherung berichtet und die möchten das Fahrzeug am Montag nochmal begutachten lassen. Meine Frage: falls an dem Auto kein weiterer Schaden festgestellt wird, könnte ich Probleme be‐ kommen bzgl. Versicherungsbetrug o.ä.? Das möchte ich natürlich nicht. Falls die Sache 313 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation heikel ist, kann man auch von einem Schaden zurücktreten? Bei mir jetzt sogesehen im zweiten Fall? Ich danke im Voraus für Eure Antworten. (www.gutefrage.net/ frage/ versicherungsbetrug-hagelschaden-am-auto; 02.02.2018) Diese Frage ist, obwohl in ihr ein juristischer Sachverhalt angesprochen wird - mit Ausnahme des Fachbegriffs Versicherungsbetrug - weitestgehend gemein‐ sprachlich gehalten. Die Diktion ist emotional neutral und sachbezogen. Eine der auf diese Frage gegebenen Antworten ist die folgende: Antwort von hauseltr (…) Wie würdest du das nennen, wenn man 2 x für die gleiche Sache Geld haben will? Ein Sachverständiger mißt die Lackdicke und stellt sofort fest, dass der Vorschaden nicht repariert wurde. Ausserdem ist ein Schaden durch 0.5 mm Hagelkörner mehr als unwahrscheinlich, selbst bei 0,5 cm hätte ich erhebliche Zweifel. Zu Schäden an Autos, Glasscheiben und Zelten kommt es normalerweise ab einem Durchmesser von etwa 2 cm. Versicherungsbetrug, Anzeige und Kündigung durch die Versicherung. (www.gutefrage.net/ frage/ versicherungsbetrug-hagelschaden-am-auto; 02.02.2018) Der erste hier vorgenommene Stilwechsel betrifft die Emotionalität, wobei die gemeinsprachliche Ausrichtung der Frage in der Antwort aufrechterhalten wird. Die Frage Wie würdest du das nennen, wenn man 2 x für die gleiche Sache Geld haben will? ist als appellativ einzuschätzen; der neutrale Stil der Fragestellung wird verlassen. Der Antwortende grenzt sich durch diese Äußerung eindeutig von den möglicherweise gesetzeswidrigen Intentionen des Fragestellers ab und wertet diese negativ. Dieser emotional bedingte Stilwechsel, bei dem die Ge‐ meinsprachlichkeit konstant gehalten wird, dient somit in erster Linie der De‐ finition des eigenen Standpunktes und der Hervorhebung der eigenen persön‐ lichen Integrität. Die eigentliche, den angesprochenen Sachverhalt betreffende Antwort folgt erst nach dieser Klarstellung. Sie stellt einen Stilwechsel hin zu einer zwar recht saloppen bzw. eher gesprochensprachlichen, allerdings durchaus juristischen Diktion dar, die sich zwar nicht anhand der Syntax, jedoch anhand der verwen‐ deten Fachtermini (Sachverständiger, Vorschaden, Versicherungsbetrug, Anzeige, Kündigung durch die Versicherung) äußert. Der Formalitätsgrad innerhalb dieser Antwort steigt somit von einer sehr formlosen Diktion in dem ersten, emotional geprägten Teil über gesprochensprachlich bzw. salopp anmutende Formulie‐ rungen bis hin zu der sehr distanziert gehaltenen Aufzählung der möglichen juristischen Konsequenzen durch Nomina und Nominalsyntagma an. Durch die Hinwendung zu dem deutlich ausgeprägter fachsprachlichen Stil wird hier ein 314 Thomas Tinnefeld Drohszenario aufgebaut, das den einleitenden, gemeinsprachlichen Appell un‐ terstützt und ihm - kumulierend in der Enumeration der möglichen juristischen Folgen - eine starke Verbindlichkeit verleiht. Die Funktion der Kombination aus zunächst emotional bedingtem und da‐ nach fachsprachlich geprägtem Stilwechsel kann somit als diejenige des Druck‐ aufbaus durch den Sender, den Antwortenden, auf den Empfänger, den Frage‐ steller, eingestuft werden. Im Folgenden kommen wir zu einem recht komplexen Stilwechsel-Phä‐ nomen. 3.4 Stilwechsel Gemeinsprache ⇨ Fachsprache ⇨ Gemeinsprache Die Stilwechsel-Richtung Gemeinsprache ⇨ Fachsprache ⇨ Gemeinsprache liegt in dem folgenden Beispiel vor, das von der Frage-und-Antwort-Plattform Yahoo Clever stammt: Beispiel 5: Rechte des Kaufhausdetektiv? hey leute gester standen ich und eine freundin im toom und haben grade ein paar süßigkeiten gekauft, neben uns standen jung die wir nicht kannten,sie wurden vom einem Kaufhausdetektiv erwischt und auch wir wurden aufgefordert mitzukommen obwohl wir gesagt haben wir kennen sie nicht. Im hinteren Raum durften wir dan erstmal alle unsere taschen entleeren, bei den jungs waren einige geklaute sachen drinne, unsere Taschen waren natürlich sauber. Danach wurden wir nacheinander gebeten in einen Raum zu kommen wo wir uns dan ausziehen durften und sie dan weiter geguckt haben. Wir wurden entlassen und die jungs durften dort bleiben. Meine frage ist ob sie ohne weiteres das recht haben uns aufzufordern uns auszuziehen und wen wir uns verweigern was würde dann passieren? ? Danke im voraus: )) (https: / / de.answers.yahoo.com/ question/ index; _ylt=AwrC2Q6W3CJabQIA‐ OSmf4IlQ; _ylu=X3oDMTBydDI5cXVuBGNvbG8DY‐ mYxBHBvcwM2BHZ0aWQDBHNlYwNzcg--? qid=20130314082244AAsNs8s; 03.02.2018) Die hier gestellte Frage, die sprachlich eine große Zahl an Fehlern aufweist, jedoch sachlich verständlich ist, ist ganz offensichtlich in gemeinsprachlichem, sogar gesprochensprachlichem Stil gehalten. Dies ist an der Syntax ebenso ab‐ lesbar wie an dem Faktum, dass auf Fachtermini gänzlich verzichtet wird. Die „beste Antwort“, die auf diese Frage gegeben wurde, ist diese: 315 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation Nach deutschem Recht, kann und darf ein Kaufhausdedektiv weder eine Person durchsuchen, noch der Taschen durchwühlen oder gar verlangen das sich die Person entkleidet. Was er darf, ist die Person die verdächtigt wird, bis zum eintreffen der Polizei vorläufig festzunehmen. (Zitat von Auszügen aus § 127 StPO, § 29 PolG, § 30 PolG) Ergo hat der Detektiv mehrere Straftaten begangen. Angefangen bei der Nötigung, Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, verstoß gegen das GG, Die Menschenwürde ist un‐ antastbar. Also ab zur Polizei und den „Detektiv“ anzeigen. Die Justiz wird ihm dann dezidiert mitteilen, was er dar und was nicht. (https: / / de.answers.yahoo.com/ question/ index; _ylt=AwrC2Q6W3CJabQIA‐ OSmf4IlQ; _ylu=X3oDMTBydDI5cXVuBGNvbG8DY‐ mYxBHBvcwM2BHZ0aWQDBHNlYwNzcg--? qid=20130314082244AAsNs8s; 03.02.2018) Die Ausführungen beginnen mit einer klaren Ausrichtung am juristischen Stil. Dieser juristische Stil ist im Nominalbereich gekennzeichnet durch die in dieser Fachsprache übliche Referenz auf eine ‚Person‘ (statt ‚jemanden‘) und die Er‐ wähnung des Eintreffens der Polizei und im Verbalbereich durch die Verben durchsuchen, verlangen, entkleiden (letzteres statt des gemeinsprachlichen Verbs ausziehen). Auf den an der Gemeinsprache orientierten Stil der Fragestellerin wird vom Antwortenden also nicht eingegangen, sondern es wird auf einen an der juristischen Fachsprache orientierten Stil rekurriert, der zudem eher als schriftsprachlich denn als gesprochensprachlich eingestuft werden kann. Dieser Stil ist eng angelehnt an die darauf folgenden Zitate aus entsprechenden Ge‐ setzestexten. Auch in direktem Anschluss an diese fährt der Antwortende in mehr oder minder juristischer Diktion fort, was erneut anhand der verwendeten Fachtermini (Straftat, Nötigung, Persönlichkeitsrecht, Menschenwürde) deutlich wird, ebenso an dem Nominalsyntagma Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sowie an der Verwendung der Abkürzung GG für ‚Grundgesetz‘ und dem Adverb ergo anstelle von also. In seinen abschließenden Ausführungen (Also ab zur Polizei … und was nicht) durchbricht der Antwortende dann den juristischen Stil und drückt sich ungleich gesprochensprachlicher und deutlich weniger juristisch aus. Durch den Übergang von der gemein- und gesprochensprachlichen Ausrich‐ tung der Fragestellerin über die fachsprachliche und deutlich schriftsprach‐ lichere Ausrichtung der Hauptausführungen des Antwortenden und seinen ei‐ genen Übergang zu einer gesprochensprachlicheren und weniger juristischen Ausdrucksweise haben wir es hier also mit einem doppelten Stilwechsel zu tun. Zudem liegen ein interpersonaler Stilwechsel und ein intrapersonaler Stil‐ 316 Thomas Tinnefeld wechsel vor. Trotz dieser komplexen Stilwechsel-Konstellation funktioniert die Kommunikation: Der Antwortende geht eindeutig auf die gestellte Frage ein, obwohl diese ganz und gar nicht juristisch gefasst ist. Zum Ende seiner Aus‐ führungen hin findet eine gewisse stilistische Solidarität mit der Fragestellerin statt, indem der Antwortende sich ihrem Stilniveau annähert, ihr in einfacher Sprache klare Handlungsanweisungen gibt und auf diese Weise - bewusst oder unbewusst - die Kommunikation absichert. Die vorgenommenen Stilwechsel haben hier somit eine kommunikative Funktion. Der Wechsel von der gemein‐ sprachlichen Formulierung der Frage zu dem inhaltlich wichtigen Teil der ju‐ ristischen Formulierung der Antwort dient der fachlichen Exaktheit, und der Wechsel zurück zu einem gesprochensprachlicheren, weniger juristisch ge‐ prägten Stil im letzten Teil der Antwort hat die Funktion, die pragmatische Kommunikation zu gewährleisten, also sicherzustellen, dass die Fragestellerin die richtigen Handlungen aus dem Gesagten ableitet. Stilwechsel wie die vor‐ liegenden lassen sich somit ganz klar kommunikativ begründen. 3.5 Stilwechsel Fachsprache ⇨ Gemeinsprache Ein Stilwechsel von der Fachsprache zur Gemeinsprache ist im folgenden Bei‐ spiel belegt: Beispiel 6: Frage von HEVIMU Hallo, sorry das ich hier nochmal extra Frage aber ich habe diese Frage so nicht ge‐ funden. Ich w/ 15 habe einen freund (logischerweise männlich), er ist 16. wir haben viel spass zusammen … bloß ich habe mit meinen eltern zur zeit sehr viel stress weil ich mich immer wegschleiche. jetzt hat mein vater mir mir strafgesetzbuch paragraph 180 absatz 1 gedroht (er ist selber anwalt und findet das wohl witzig). kann er meinen freund da wirklich irgendwie anzeigen? lg Antwort von MAB82 Wenn dein vater Anwalt sein sollte, ist er entweder total inkompetent oder er verarscht dich. Er müsste deinem Freund schon begründet Zuhälterei vorwerfen. Antwort von Altersweise Community-Experte für Liebe vor 6 Tagen,33 Googel das Strafgesetzbuch und lies dir den Pargrafen mal durch! 317 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation Dein Vater könnte allenfalls selbst angezeigt werden, wenn er mit der Duldung eurer Beziehung sexuellen Handlungen Vorschub leistet (euch vögeln lässt) und dabei dein Kindeswohl gefährdet. Dein Daddy ist wirklich ein Witzbold! Wahrscheinlich will er dir nur sein Missfallen ausdrücken, weil du deine Eltern an‐ schwindelst und einfach abtauchst. Dein Papa und dein Freund sollten mal unter Männern miteinander reden; vielleicht könnte da so manches Missverständnis aus der Welt geschafft werden. (www.gutefrage.net/ frage/ kann-mein-vater-meinen-freund-anzeigen; 03.02.2018) Die hier gestellte Frage ist Kann mein Vater meinen Freund anzeigen? Während die Erläuterung zu dieser Frage zumindest ein wenig fachsprachlich ausgerichtet ist - auch wenn sie außer dem Hinweis auf das strafgesetzbuch paragraph 180 absatz 1 keine weiteren fachsprachlichen Elemente enthält -, weisen manche der auf diese Frage gegebenen Antworten kaum fachliche Informationen oder fachsprachliche Anteile - dafür jedoch ungleich mehr wertende Aussagen - auf und beschäftigen sich mit dem angesprochenen Vater: total inkompetent; er ver‐ arscht dich; Dein Daddy ist wirklich ein Witzbold! Die Empfehlung Googel das Strafgesetzbuch und lies dir den Paragrafen mal durch! in der ersten Antwort ist dabei nicht wirklich hilfreich, und der Ratschlag Dein Papa und dein Freund sollten mal unter Männern miteinander reden mag zwar durchaus zielführend sein, ist jedoch ebenfalls nicht fachlich ausgerichtet. Es ist hier also ein inter‐ personaler Stilwechsel von einer angedeutet fachsprachlichen Ausrichtung hin zu emotional wertenden Aussagen belegt. Ein solcher Stilwechsel ist in Ant‐ worten auf Forumsfragen häufig dann festzustellen, wenn sich die Weltbilder von Fragendem (bzw. der Person, auf die der Fragende verweist) und Antwor‐ tendem diametral voneinander unterscheiden, wenn es also darum geht, dass das Weltbild des Ersteren vom Letzteren nicht verstanden oder akzeptiert werden kann. Die Funktion des Stilwechsels kann dann darin bestehen: • Distanz zum Kommunikationspartner oder einer dritten Person zu • schaffen und /  oder • sich emotional zu erleichtern (umgangssprachlich ‚Dampf abzulassen‘) • und /  oder • den Fragesteller (wenn sich die Frage auf einen Dritten bezieht) emotional • zu stärken, ihn also in seiner Sichtweise der Dinge zu unterstützen. Der Stilwechsel hat in solchen Fällen somit eine eindeutig solidarisierende Funktion. 318 Thomas Tinnefeld Ein ganz ähnliches Phänomen zeigt sich in dem folgenden Beispiel, in dem es darum geht, dass ein großer Bruder sich nicht adäquat um seine kleine Schwester gekümmert hat. Beispiel 7: Hay ich männlich 17 Jahre musste heute um 8 Uhr morgens auf meine kleine Schwester 6 Jahre aufpassen! Meine Mutter ist 7: 50 los gefahren und hat noch Toast in den Toaster gemacht für meine kleine Schwester und ist los gefahren… der Toaster könnte nicht hochspringen dank einer Kaffeemaschine! Als mich meine kleine Schwester um 8: 10 aus meinen Zimmer geholt hat wollte sie Fernseher schauen… Ich ging hoch und über all Rauch im ganzen Haus.. . Die Stelle wo der Toaster war sind die Tapeten Müll.. . Jetzt geben mir meine Eltern die schuld… : ( wer hat in diesen Fall aber schuld? ? Antwort von BTS10 Du bist 17 Jahre alt und mußt noch Fragen? Du hattest eine einfache Aufgabe, auf deine Schwester aufpassen. Ich gehe mal davon aus, nachdem deine Mutter die Wohnung verließ, bist du in dein Zimmer gegangen und hast gechillt. Dein Job war auf das Kind aufzupassen, ich muss sagen du hast versagt und zwar auf ganzer Linie. Es wäre dein Job gewesen, dafür zu sorgen, daß deine Schwester ihr Frühstück bekommt. Wenn du dies getan hättest, dann wäre das Malheur mit dem Toaster nicht geschehen. Die einzige Schuld, die deine Mutter hat, war daß Sie dir eine Aufgabe übertragen hat für die du nicht geeignet bist. (www.gutefrage.net/ frage/ wer-hat-schuld-im-; 03.02.2018) Die vom Fragesteller geschilderte Situation erfordert zwar keine fachliche bzw. rechtliche Regelung, zielt aber auf die Frage nach (moralischer) Schuld ab. Die gewählte Diktion ist deskriptiv und enthält keine Elemente der persönlichen Rechtfertigung; die Frage ist ebenfalls auf eine reine Informationsrecherche - gegebenenfalls in der Hoffnung auf Bestätigung durch die Antwortenden - ausgerichtet. Die hier zitierte Antwort ist zwar auch auf diese Situation bezogen, sie enthält jedoch ungleich mehr wertende Elemente als rechtlich-analytische Aussagen: • Die rhetorische Frage Du bist 17 Jahre alt und mußt noch Fragen? stellt • eine eindeutige Kritik am Fragesteller dar und verweist auf seine man‐ gelnde persönliche Reife; • Die Aussage Ich gehe mal davon aus, nachdem deine Mutter die Wohnung • verließ, bist du in dein Zimmer gegangen und hast gechillt ergänzt die Vor‐ 319 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation stellung, die der Antwortende sich von der Situation macht und ist der Ungenauigkeit der Fragestellung geschuldet; • Die vom Antwortenden vorgenommenen wertenden Aussagen steigern • sich immer weiter und erreichen in drei weiteren Stufen ihre Klimax: - von der Kritik am Verhalten des Fragestellers und seiner Einschät‐ - zung als Versager (Dein Job war auf das Kind aufzupassen, ich muss sagen du hast versagt und zwar auf ganzer Linie) - über die eher sachbezogene Beschreibung seines Fehlverhaltens (Es - wäre dein Job gewesen, dafür zu sorgen, daß deine Schwester ihr Früh‐ stück bekommt. Wenn du dies getan hättest, dann wäre das Malheur mit dem Toaster nicht geschehen) - bis hin zu der Zuweisung der eigentlichen moralischen Schuld, die - der Mutter des Fragestellers eher zukomme als diesem selbst (Die einzige Schuld, die deine Mutter hat, war daß Sie dir eine Aufgabe übertragen hat für die du nicht geeignet bist). Die Funktion des Stilwechsels ist hier im Wesentlichen die gleiche wie im vor‐ angegangenen Beispiel, wobei die emotionale Involviertheit des Antwortenden - seine Wut - von Satz zu Satz immer manifester wird. In Kommunikationssituationen wie der vorliegenden, also der schriftlichen Antwort auf von Fra‐ gestellern aufgeworfene Probleme, ist die Emotionalität der Kommunikations‐ partner - ähnlich wie in mündlicher Kommunikation und vielleicht wegen der Anonymität dieser Situation hier noch ausgeprägter - also auch dann ein wich‐ tiger Bestandteil der Interaktion, wenn fachsprachlich relevante Aspekte im Spiel sind. Die fachsprachliche Ausrichtung dieser Kommunikationssituation schützt die Interaktanten somit nicht davor, als Person angegriffen zu werden. Während Fachsprache also von genereller Emotionslosigkeit geprägt ist, sind Emotionen in Fällen wie dem hier beschriebenen dann, wenn sie auftreten, durch manifeste Stilwechsel geprägt. Der Stilwechsel ist hier also zum einen Indikator von Emotionalität, zum anderen wäre der Ausdruck von Emotionalität ohne Stilwechsel kaum möglich. Stilwechsel und Emotionen bedingen sich in solchen Fällen somit gegenseitig. Auch in dem folgenden Beispiel ist ein interpersonaler Stilwechsel von der Fachsprache hin zur Gemeinsprache dokumentiert. Die Ausgangsfrage des Fra‐ gestellers „Rücktritt vor Vertragsunterzeichnung? “, die zuvor traditionell im Zusammenhang erläutert wurde, wird von dem Antwortenden in einzelnen Teilen zitiert (hier eingerückt), und auf diese zitierten Teile nimmt er Bezug. Dabei fällt hier das Phänomen auf, dass der Antwortende dem Fragesteller sti‐ listisch folgt und sich an diesen anpasst. 320 Thomas Tinnefeld Beispiel 8: meine Tocher hatte zugesagt, in einer WG einzuziehen und hat an die Vormieterin (nicht an den Vermieter, so ist das dort wohl üblich) die Kaution bezahlt. Wem hat sie das zugesagt? Den derzeitigen WG-Bewohnern oder dem Ver‐ mieter? und hat an die Vormieterin (nicht an den Vermieter, so ist das dort wohl üblich) die Kaution bezahlt. Sie würde damit praktisch die Kaution ablösen. Also auf Umweg doch dem Ver‐ mieter bezahlen und das hat sie schon gemacht. Zur Zeit hat sie immernoch keinen Mietvertrag auch nur gesehen, wir kennen auch den Vermieter nicht Während die Zahlung der Kaution darauf hindeuten würde, dass zumindest ein mündlicher Mietvertrag zustande kommt, deutet das jetzt eher darauf hin, dass gar kein wirksamer Vertrag zustande gekommen ist, denn wenn man seinen Vertragspartner noch nicht einmal gesehen hat, geschweige denn er seine Ver‐ tragspartnerin überhaupt kennt, kann eigentlich kein wirksamer Mietvertrag entstanden sein. Bisher ist die Willenserklärung nur einseitig von der Tochter durch die Kautionszahlung bezeugt, aber von der anderen Seite kam dazu noch nichts. Die anderen WG-Bewohner sind sauer, weil die Miete trotzdem gezahlt werden muss und verlangen von ihr, dass sie die Miete trotzdem zahlt. Haben denn die anderen WG-Bewohner irgendwas dazu getan, dass mal sichere Verhältnisse eintreten? Wer sagt denn, dass es da nicht noch ein paar gibt, denen die schlaue Vormieterin das WG-Zimmer versprochen und schon mal die Kaution kassiert hat? Die dürfen ruhig sauer sein und es gibt meines Erachtens keine Grundlage dafür, dass ihr die Miete zahlen müsst. An wen sollte diese denn gezahlt werden? Auch an einen der Bewohner? Und das alles ohne Kenntnis des Vermieters? Das sieht doch alles wirklich sehr krumm aus. Aber wie wollt ihr an die Rückzahlung der Kaution unter diesen Umständen kommen? (www.gutefrage.net/ frage/ ruecktritt-vor-vertragsunterzeichung; 04.02.2018) Nach der in einem ersten Schritt erfolgenden Formulierung einschlägiger Verständ‐ nisfragen (Wem hat sie das zugesagt? Den derzeitigen WG-Bewohnern oder dem Ver‐ mieter? ) und der Formulierung erster juristischer Konsequenzen (Sie würde damit praktisch die Kaution ablösen. Also auf Umweg doch dem Vermieter bezahlen und das 321 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation hat sie schon gemacht) erfolgt in einem zweiten Schritt eine detailliertere Darstel‐ lung (Während die Zahlung der Kaution darauf hindeuten würde (…) aber von der anderen Seite kam dazu noch nichts), die durchaus juristisch gehalten ist und in der wichtige Fachtermini verwendet werden: mündlicher Mietvertrag, wirksamer Ver‐ trag, Vertragspartner, Willenserklärung, Kautionszahlung. Bis zu diesem Punkt ist die Formulierung der Frage emotional neutral und die Diktion der Antwort ebenso, zudem juristisch ausgerichtet und in einem Bereich zwischen geschriebener und gesprochener Sprache angesiedelt. Dann jedoch verfällt der Fragesteller durch die Verwendung des umgangssprachlichen Adjektivs sauer in eine emotional mar‐ kierte Wortwahl, und der Antwortende folgt dieser unmittelbar (Haben denn die anderen WG-Bewohner (…) unter diesen Umständen kommen? ). Zum einen gleitet er in einen gesprochensprachlichen Stil hinüber (irgendwas, mal, schon mal, ruhig sauer). Zum anderen wird eine emotionale Färbung der Aussagen des Antwor‐ tenden spürbar, die sich in wertenden Stellungnahmen äußert: Wer sagt denn …? ; schlaue Vormieterin; Das sieht doch alles wirklich sehr krumm aus). Die Diktion ist hier nicht nur ungleich weniger fachsprachlich, indem in diesem letzten Absatz wenige bis gar keine Fachtermini verwendet werden, sondern zudem deutlich emo‐ tional geprägt, indem sechs von insgesamt acht Sätzen als (rhetorische) Fragen for‐ muliert werden. Durch einen einzigen Impuls - das vom Fragesteller verwendete Adjektiv sauer - wird hier also ein (interpersonaler) Stilwechsel eingeleitet, der von einer neutralen in eine emotionale Diktion wie auch von einer juristisch ausgerich‐ teten in eine gemeinsprachlichere und gesprochensprachlichere übergeht, also nachhaltige fachsprachlich-stilistische Auswirkungen hat. Hier ist somit ein kom‐ plexer Stilwechsel dokumentiert, bei dem Fachsprache und Schriftsprachlichkeit einerseits und Gemeinsprache und Gesprochensprachlichkeit anderseits zusam‐ mengehen. Ein komplexer Stilwechsel - diesmal ausgehend von der Fachsprache und über einen Umweg über die Gemeinsprache wieder zu dieser zurückkehrend - liegt im folgenden Fall vor. 3.6 Stilwechsel Fachsprache ⇨ Gemeinsprache ⇨ Fachsprache In dem folgenden Beispiel ist ein doppelter Stilwechsel belegt, wobei der erste interpersonaler und der zweite intrapersonaler Natur ist: Beispiel 9: Frage von JuliaLauren hat die Polizei das Recht Minderjährige, die nach Mitternacht noch in der Disko sind und feiern rauszuführen wenn sie keine Berechtigung dabei haben noch länger bleiben 322 Thomas Tinnefeld zu können ? darf die Polizei die Jugendlichen sogar in Handschellen rausführen, wenn sie beispielsweise mit gefälschten Ausweis in die Disco gekommen sind? (…) Antwort von Novos Sollen sie ihnen Blumen schenken? Wenn sie sich der Massnahme der Polizei entziehen wollen und nicht kooperieren kann die Polizei die entsprechenden Massnahmen er‐ greifen. (www.gutefrage.net/ frage/ hat-die-polizei-das-recht-minderjaehrige-nach-mitternac ht-aus-der-disco-zu-fuehren: 03.02.2018) Die gestellte Frage ist ansatzweise juristisch formuliert und enthält einige ein‐ schlägige Begriffe (Polizei, Minderjährige, Berechtigung, Handschellen, ge‐ fälschter Ausweis), und die inhaltliche Ausrichtung der Frage ist ebenfalls juris‐ tischer Natur. Die Reaktion des Antwortenden (Sollen sie ihnen Blumen schenken? ) stellt den ersten - in diesem Fall interpersonalen - Stilwechsel dar, indem sie inhaltlich aus dem (deskriptiven) Rahmen fällt und eine wertende Stellungnahme in Form einer rhetorischen Frage enthält. Die Funktion dieses Stilwechsels ist diejenige der Distanznahme zu dem geschilderten Verhalten der Fragestellerin. Der zweite Stilwechsel ist ein intrapersonaler, mittels dessen der Antwortende inhaltlich auf die Fragestellerin eingeht und in durchaus juristi‐ scher Form und mit entsprechenden juristischen Formulierungen (sich ent‐ ziehen, Massnahme der Polizei, kooperieren, die entsprechenden Massnahmen) eine Einschätzung des Sachverhaltes vornimmt. Die Funktion dieses zweiten Stil‐ wechsels besteht in der Wiederaufnahme des fach(sprach)lichen Diskurses und dem eigentlichen Eingehen auf die gestellte Frage. In unserer bisherigen Untersuchung konnten recht vielschichtige, emotional bedingte Stilwechsel in alltags-fachsprachlicher Kommunikation ausgegrenzt werden, denen sich unterschiedliche Funktionen zuordnen lassen. Diese Funk‐ tionen sollen im Folgenden in einer Zusammenschau betrachtet werden. 4 Funktionen emotional bedingten Stilwechsels im Rahmen der Alltags-Fachsprachlichkeit Die in unserer Analyse herausgearbeiteten Funktionen emotional bedingten Stilwechsels lassen sich in sachorientierte Funktionen einerseits und kommuni‐ kationsorientierte Funktionen andererseits untergliedern und auf dieser Basis weiter auffächern. Dabei sollen zunächst die sachorientierten Funktionen be‐ trachtet werden. 323 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation 4.1 Sachorientierte Funktionen Die sachorientierten Funktionen sind auf die jeweils verbalisierten Inhalte aus‐ gerichtet und beeinflussen deren Erörterung unmittelbar. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf ein Streben nach inhaltlicher Exaktheit und nach Enkodie‐ rungsökonomie. 4.1.1 Streben nach inhaltlicher Exaktheit Die Funktion des Strebens nach inhaltlicher Exaktheit ist eine außerordentlich fachsprachlich ausgerichtete. Sie wird beispielsweise dann relevant, wenn auf entsprechende juristische Formulierungen rekurriert wird (vgl. Beispiel 5-Kauf‐ hausdetektiv). Der Stilwechsel, der mit dieser Funktion einhergeht, ist derjenige von der Gemeinsprache zur Fachsprache. Diese Funktion ist in umgekehrter Richtung - also von der Fachsprache zur Gemeinsprache - kaum vorstellbar. Das Streben nach inhaltlicher Exaktheit ist nur dann sinnvoll durchführbar, wenn von der potentiellen begrifflichen Ungenauigkeit der spontan formu‐ lierten Alltagssprache zu einer an einer gegebenen Terminologie orientierten Kommunikationsebene und somit zu einer weniger spontan formulierten Sprechweise übergegangen wird, wie diese für die Fachsprache im Allgemeinen und für die juristische Fachsprache im Besonderen charakteristisch ist. Diese Funktion schließt das Streben nach größtmöglicher Eindeutigkeit ein (vgl. Beispiel 2-Ausgehen), bei dem es darum geht, eine Äußerung des Kommu‐ nikationspartners - beispielsweise eine von ihm gestellte Frage - in der Weise umzuformulieren bzw. zu beantworten, dass dies der erörterten Sache förderlich ist. Die Frage, ob die Kommunikation dadurch besser funktioniert, ist dabei von sekundärer Bedeutung: Die Sache selbst steht im Vordergrund; nur um sie geht es. Die genannte Funktion erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen als hochrelevant. 4.1.2 Streben nach Enkodierungsökonomie Eine weitere wichtige Funktion alltags-fachsprachlichen Stilwechsels ist das Streben nach Enkodierungsökonomie. Diese ist dann gegeben, wenn ein ge‐ wünschter Kommunikationseffekt mit dem geringstmöglichen sprachlichen Aufwand zu erzielen versucht wird. In dem entsprechenden Belegtext (vgl. Bei‐ spiel 3-Cousinheirat) wird dies dadurch erreicht, dass der entsprechende Ge‐ setzestext von dem Antwortenden nicht paraphrasiert, sondern im Original zi‐ tiert wird. Auf diese Weise wird nicht nur die (vermeintliche) sachliche Eindeutigkeit (vgl. 4.1.1) sichergestellt, sondern der Sprecher /  Schreiber hat da‐ durch zudem den geringstmöglichen Arbeitsaufwand. Diese Verwendung von 324 Thomas Tinnefeld Sprache nach dem Ökonomieprinzip kann ebenfalls als für Fachsprache cha‐ rakteristisch angesehen werden. Die im Folgenden zu beschreibenden Funktionen sind nicht so sehr an der jeweils im Zentrum stehenden Sache orientiert, sondern vielmehr an der Kom‐ munikationssituation. 4.2 Kommunikationsorientierte Funktionen Die kommunikationsorientierten Funktionen, die in der vorliegenden Untersu‐ chung ermittelt werden konnten, sind tendenziell alltagssprachlich ausge‐ richtet. Sie sollen im Folgenden dargestellt werden. 4.2.1 Vermeidung von Missverständnissen Die Verwendung von Stilwechseln mit der Funktion der Vermeidung von Miss‐ verständnissen (vgl. Beispiel 3-Cousinheirat) ist in enger Verbindung mit dem Streben nach inhaltlicher Exaktheit (vgl. 4.1.1) zu sehen. Inhaltliche Exaktheit auf der einen und Missverständnisse auf der anderen Seite stehen in einer Opposi‐ tionsbeziehung zueinander. Während inhaltliche Exaktheit die sachorientierte Dimension von Interaktionen absichert, ist die Vermeidung von Missverständ‐ nissen auf den kommunikativen Erfolg ausgerichtet, also darauf, dass die Kom‐ munikationspartner gleichsam auf derselben Wellenlänge agieren. Die Funktion der Vermeidung von Missverständnissen ist mit Blick auf Gemeinsprache und Fachsprache neutral: In beiden Registern ist erfolglose Kommunikation unerwünscht. Stilwechsel mit dieser Funktion können somit sowohl von der Ge‐ meinsprache in Richtung auf die Fachsprache auftreten als auch in umgekehrter Richtung. Eine sachlogische Dominanz der einen oder anderen Richtung ist nicht begründbar. 4.2.2 Markierung der Introspektion eines Kommunikationspartners Die Funktion eines gegebenen Stilwechsels zur Markierung der Introspektion eines Kommunikationspartners ist dadurch gekennzeichnet, dass einer der Kommunikationspartner - wie in unserem Falle der Antwortende (vgl. Beispiel 1-Handys) - Überlegungen anstellt, die natürlich auch für den Fragesteller von Interesse sind, ihm jedoch in erster Linie dazu dienen, sich selbst über den ent‐ sprechenden Sachverhalt klar zu werden. Diese Funktion ist eher der gespro‐ chenen als der geschriebenen Sprache zuzuordnen, in der sie vorwiegend in partnerorientierten Textsorten wie dem Brief denkbar ist. Natürlich kann sich auch in fachsprachlicher Orientierung eine solche Introspektion ergeben, jedoch ist zu erwarten, dass diese dort ungleich weniger häufig auftritt als in gespro‐ chensprachlichen Situationen - eine Fragestellung, deren empirische Erfor‐ 325 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation schung aus unserer Sicht nicht uninteressant wäre. Die hier beschriebene Art der Zwiesprache mit sich selbst, die durch einen Stilwechsel markiert sein kann, ist in alltags-fachsprachlicher Verwendung somit sowohl mit Blick auf den Kommunikationskanal - gesprochene Sprache in geschriebener Form - als auch im Hinblick auf die Gemeinsprache im Vergleich zu Fachsprache als Mischform par excellence zu sehen. 4.2.3 Gewährleistung der pragmatischen Kommunikation In alltags-fachsprachlicher Kommunikation wie derjenigen, die hier im Mittel‐ punkt der Betrachtungen steht, ist es von zentraler Bedeutung, dass der Fra‐ gende die Stellungnahme des Antwortenden versteht. Wenn der Antwortende eher davon ausgeht, dass der Fragende seine fachsprachlichen Ausführungen nicht angemessen dekodieren kann, hat er die Möglichkeit, dessen Verständnis durch einen Stilwechsel von der Fachsprache hin zu einer gemeinsprachlicheren Formulierung abzusichern. Diese Situation, die in Beispiel 5-Kaufhausdetektiv auftritt, dient dann der Gewährleistung der pragmatischen Kommunikation, also dazu, dass der Fragesteller aus der entsprechenden Antwort die für ihn richtigen Schlüsse ziehen und gegebenenfalls ein situational adäquates Ver‐ halten daraus ableiten kann. Ein derart motivierter Stilwechsel ist in all‐ tags-fachsprachlicher Kommunikation eher von der Fachsprache zurück zur Gemeinsprache zu erwarten als umgekehrt. Die Hinwendung zur Gemein‐ sprache repräsentiert somit die redundante Versprachlichung einer bereits ge‐ gebenen Information und ist auch vor diesem Hintergrund konträr zu rein fach‐ sprachlicher Verwendung zu sehen, die tendenziell auf Eindeutigkeit und Vermeidung von Redundanz abzielt. Eine andere Art der Hinwendung zum Kommunikationspartner stellt die So‐ lidarisierung mit diesem dar. 4.2.4 Solidarisierung mit dem Kommunikationspartner In der Textsorte Forumsbeitrag können Stilwechsel auch mit der Funktion auf‐ treten, eine Solidarisierung mit dem Kommunikationspartner herzustellen (Bei‐ spiel 6-Anwalt-Vater). Die prinzipiell erwartbare Richtung des Stilwechsels ist dann diejenige von der Fachsprache zur Gemeinsprache und geht zudem vom Antwortenden aus und mit einer Sichtweise einher, die derjenigen des Frage‐ stellers entspricht. Dieser soll in seiner ursprünglichen Einstellung bestärkt und gegebenenfalls zu einem entsprechenden Verhalten animiert werden. Diese kommunikative Funktion des moralischen Beistands und der pragmatischen Aktivierung steht in diametralem Gegensatz zu der dominant sachorientierten Ausprägung von Fachsprache. Sie ist somit in dem Kontinuum zwischen Ge‐ 326 Thomas Tinnefeld meinsprache und Fachsprache auf der der Gemeinsprache zugewandten Seite verortbar. Die entgegengesetzte Funktion ist in unserer Untersuchung ebenfalls belegt. 4.2.5 Schaffung emotionaler Distanz Die Funktion von Stilwechseln, eine emotionale Distanz zum Kommunikati‐ onspartner oder einer dritten Person und dessen bzw. deren Verhalten herzu‐ stellen, ist in der vorliegenden Untersuchung dann gegeben, wenn die Weltbilder von Antwortendem und Fragesteller bzw. einer Person aus dem Umfeld des Fragestellers sich nicht in Übereinstimmung miteinander befinden. Zu dieser Person schafft der Antwortende dann eine entsprechende emotionale Distanz (vgl. Beispiele 4-Hagelschäden und 9-Polizeirechte). Diese Funktion kann auch mit dem Bestreben des Antwortenden einhergehen, seinen eigenen Standpunkt zu definieren und dadurch die eigene persönliche Integrität und Gesetzestreue hervorzuheben (vgl. Beispiel 4-Hagelschäden). Auch diese Funktion von Stilwechseln geht von der Fachsprache in Richtung auf die Gemeinsprache und ist umgekehrt kaum vorstellbar, da die damit ein‐ hergehenden Wertungen in der Fachsprache per definitionem keinen Platz haben. Wie ihr Gegenteil (vgl. 4.2.4) ist auch diese Funktion von Stilwechseln somit auf der Seite der Gemeinsprache angesiedelt. 4.2.6 Druckaufbau durch den Sender Die Funktion des Stilwechsels, für die wir hier den Begriff Druckaufbau ver‐ wenden, besteht in der Generierung eines Drohszenarios, das der Sender aus der gegebenen Sachlage ableitet und auf den Empfänger anwendet (vgl. Beispiel 4- Hagelschäden). Der Sender ist in diesem Fall der Antwortende, der Empfänger ist der Fragesteller. Auf diesen wird somit ein erheblicher emotionaler Druck ausgeübt, was gegebenenfalls auch dazu dienen kann, der eigenen Aussage noch mehr inhaltliche Verbindlichkeit zu verleihen. Die Richtung des Stilwechsels geht in dem analysierten Beispiel von der Gemeinsprache zur Fachsprache, es ist jedoch auch möglich, ein solches Drohszenario innerhalb gemeinsprachlich formulierter Aussagen oder auch im Rahmen fachsprachlicher Ausdrucksweise aufzubauen. Seine größte Wirkung erzielt es jedoch wohl dann, wenn es mit einem Stilwechsel von der Gemeinsprache zur Fachsprache einhergeht, da in diesem Falle zu dem Inhalt der Aussage noch die der (nicht nur, aber besonders juristischen) Fachsprache inhärente Autorität hinzukommt. In Verbindung mit einem Stilwechsel dieser Richtung, der ja auch in dem analysierten Beispiel auftritt, ist diese Funktion dann zweifellos am effizientesten. 327 Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler Fachkommunikation Während es hierbei um den Aufbau von Druck beim Empfänger geht, ist in unseren Beispielen auch das Bestreben nach Druckabbau belegt, das sich dann auf den Sender bezieht. 4.2.7 Emotionale Erleichterung Die Funktion der emotionalen Erleichterung des Senders - hier des Antwor‐ tenden - geht in der Regel mit einem Stilwechsel von der Fachsprache zur Ge‐ meinsprache einher (vgl. Beispiele 6-Vater-Anwalt und 7-Toaster). Nur diese Richtung gestattet es, Emotionen in die Kommunikationssituation einzu‐ bringen, die ja in der (juristischen) Fachsprache unerwünscht sind. Die Aus‐ richtung der Kommunikation ist dann eine tendenziell gesprochensprachliche. Diese Stilwechsel-Funktion kann - muss aber nicht - mit einer gewissen Soli‐ darisierung zwischen Sender (Antwortendem) und Empfänger (Fragesteller) einhergehen und stärkt dann dessen Selbstbild. Auf diese Weise fühlt Letzterer sich in der - seiner Frage unterliegenden - Auffassung bestätigt und zudem moralisch unterstützt. Insgesamt spiegeln die Funktionen alltags-fachsprachlicher Stilwechsel in exakter Weise die Ausrichtung dieses Registers wider, nämlich zum einen fach‐ sprachlich zu sein und zum anderen alltagssprachlich. Dabei überwiegt im All‐ gemeinen die Funktionalität der Alltagssprache gegenüber derjenigen der Fach‐ sprache. 5 Abschließende Bemerkungen Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu alltäglicher Fachkommunikation, wie sie sich in der Text‐ sorte Forumsbeitrag manifestieren, mit unterschiedlichen Funktionen vorge‐ nommen werden und dabei tendenziell dann auftreten, wenn emotionale Fak‐ toren eine Rolle spielen. Die herausgearbeiteten Funktionen sind dabei recht vielfältig. Die kommunikativ relevanten Emotionen können aus unterschiedlichen Gründen entstehen, kommen jedoch häufig dann zum Tragen, wenn das Welt‐ bild des Fragenden und dasjenige des Antwortenden nicht kongruent sind. Dieses ,Aus-der Rolle-Fallen‘ der Kommunikationspartner, das auch in mündli‐ cher Alltagssprache nicht selten mit Stilwechseln einhergeht, manifestiert sich dabei auch in der vorliegenden Textsorte, die ihrerseits eine Schnittstelle zwi‐ schen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache darstellt. Es wäre nun interessant festzustellen, ob dieses Phänomen des emotional bedingten Stilwechsels in vergleichbaren Textsorten auch in anderen Sprachen 328 Thomas Tinnefeld als dem Deutschen auftritt - was sehr wahrscheinlich ist -, und darüber hinaus zu dokumentieren, auf welche Weise dies zum einen mit Blick auf die jeweils verwendeten Sprachmittel und zum anderen im Spannungsfeld zwischen Ge‐ meinsprache und Fachsprache geschieht. Hierin liegt aus unserer Sicht ein For‐ schungsdesiderat, dessen Bearbeitung durchaus vielversprechend ist. Literatur Baumann, Klaus-Dieter 2008: Fachstile als Reflex des Fachdenkens. In: Hans P. 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Frankfurt a. M., 203-222. 330 Thomas Tinnefeld 1 2 3 4 5 6 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs Interkulturelle Schreibpraxen und Stilwechsel am Beispiel von Lernertexten französischer Studierender im Deutschen als fremder Wissenschaftssprache (Universität der Großregion/ UniGR) Elisabeth Venohr Gliederung Die Universität der Großregion als spezifischer „Wissenschaftsraum“ Vergleichende Studien zur mehrsprachigen Hochschulkommunikation: Desiderate aus Sicht der interkulturellen Textlinguistik Texthandlungen und Stilmuster in wissenschaftlichen Texten: Fortführen oder Imitieren? Schreibanforderungen im Studium in L1 und L2 Stilistische Besonderheiten von Lernertexten französischer Studierender in Deutsch als fremder Wissenschaftssprache Fazit 1 Die Universität der Großregion als spezifischer „Wissenschaftsraum“ Die „Universität der Großregion“ (UniGR) ist ein internationales, grenzüber‐ schreitendes Netzwerk mit 135.000 Studierenden aus sechs Universitäten in vier Ländern. Dazu gehören die Universität des Saarlandes, die Université de Lor‐ raine (mit den Standorten Metz und Nancy), die Université du Luxembourg, die Université de Liège, die Technische Universität Kaiserslautern und die Univer‐ 1 Seit Abschluss der Projektlaufzeit (EU-Förderung im Rahmen des Programms Interreg IV A Großregion von 2008 bis 2013) werden die Aktivitäten der „Universität der Groß‐ region“ in Form eines grenzüberschreitenden Universitätsverbunds mit eigener Rechts‐ form (seit 2015: Verein nach luxemburgischem Recht) weitergeführt. URL: www.uni-gr .eu/ de/ geschichte [letzter Zugriff: 01.03.2019]. 2 Siehe Homepage der UniGR unter „Ziele“, URL: http: / / www.uni-gr.eu/ de/ ziele [letzter Zugriff: 01.03.2019]. 3 Zum Europaschwerpunkt der Universität des Saarlandes (Einrichtungen, Studiengänge und Forschungsprojekte) unter URL: https: / / www.uni-saarland.de/ international/ profil/ strategie/ europa.html [letzter Zugriff: 01.03.2019]. 4 Das „Sprachenkonzept Saarland 2019“, ausgearbeitet von Polzin-Haumann / Mohr / Reissner im Auftrag des Ministeriums für Bildung und Kultur Saarland, bezieht explizit auch die „Sprachensituation und sprachliche Bedarfe in Gesellschaft, Wirtschaft und Hochschulen“ mit ein (ebd.: 13 ff.). URL: https: / / www.saarland.de/ SID-6EA94CA9-818E 161F/ 244845.htm [letzter Zugriff: 01.03.2019]. sität Trier. 1 „Der Verbund fördert die Mehrsprachigkeit im Grenzgebiet und be‐ reitet die Studierenden und Promovierenden auf den Arbeitsmarkt im politi‐ schen Raum der Großregion vor.“ 2 Ein wichtiges Ziel der UniGr mit den Nachbarländern Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien ist die In‐ ternationalisierung „vor Ort“, die mit einer Regionalspezifik einhergeht, dar‐ unter z. B. der Europaschwerpunkt der Universität des Saarlandes, 3 die Förde‐ rung der Nachbarschaftssprache in der Frankreichstrategie (vgl. Lüsebrink u. a. 2017) und das „Sprachenkonzept Saarland 2019“ 4 . Anders als in herkömmlichen, meist institutionell verankerten, binationalen Kooperationen (mit Doppeldi‐ plomen wie in den 183 integrierten bi- und trinationalen Studiengängen im Rahmen der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH)) beinhaltet ein solcher europäischer Grenzraum verschiedene Formen von Mehrsprachigkeitspraxen und begreift diese auch als eine gesellschaftliche Realität und Chance für den mehrsprachigen Wissenschaftsaustausch in diesem spezifischen Grenz- und Wissenschaftsraum. Dabei ist mittlerweile auch das Konzept des Grenzraumes selbst zum Gegen‐ stand der Wissenschaft mit einem eigenen interdisziplinären Forschungsfeld geworden, das sich in dem grenzüberschreitenden, thematischen Netzwerk „UniGR-Center for Border Studies“ (UniGR-CBS) widerspiegelt und somit neue Forschungsperspektiven eröffnet (zum Grenzgängertum und anderen Themen der Border Studies vgl. Wille 2013). Mehrsprachigkeit und Sprachenwechsel in sozialen Interaktionsgefügen spielen bei allen interkulturell und interdisziplinär angelegten Ansätzen eine zentrale Rolle (zur mehrsprachigen Unternehmenskommunikation in SaarLorLux siehe auch die UniGR-Arbeitsgruppe GRETI, vgl. Polzin-Haumann /  Reissner 2016). Die Frage nach der Sprachenwahl in einer mehrsprachigen Wissenschaftskommunika‐ 332 Elisabeth Venohr 5 Die Intensität des „universitären Kulturkontaktes“ hängt auch vom jeweiligen Studi‐ enabschnitt ab: Die Aufteilung des Studiums nach Studienjahren im binationalen Ro‐ manistik-Bachelorstudiengang (ausführlicher dazu vgl. Venohr 2011b) oder die modular bedingte nach Veranstaltungstagen pro Standort, wie z. B. im trinationalen DFH-geför‐ derten Germanistik-Masterprogramm „Literatur-, Kultur- und Sprachgeschichte des deutschsprachigen Raums“ (seit 2010) führen zu sehr unterschiedlichen Lehr-Lern-Sze‐ narien mit spezifischen Schreibanforderungen. Siehe dazu auch die Homepage der frankophonen Germanistik an der Universität des Saarlandes, URL: www.uni-saarland .de/ lehrstuhl/ franzabt/ trinationaler-masterstudiengang-lksdr.html [letzter Zugriff: 01.03.2019]. tion, die sich bei drei Veranstaltungssprachen innerhalb der UniGr (Deutsch, Fran‐ zösisch und Englisch) ganz automatisch ergibt und zu spezifischen interdiskur‐ siven Praktiken führt, wird in hochschuldidaktischer Perspektive hingegen eher vernachlässigt (exemplarisch dazu Venohr 2011b). Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass sich der universitäre Wissenschaftsaustausch im Rahmen der UniGr als „interkulturelle Laborsituation“ in besonderer Weise für Studien zur mehrspra‐ chigen Lehr- und Forschungspraxis eignet. Neben der standort- und disziplinenübergreifenden Mobilität von Studie‐ renden und Hochschullehrern und -lehrerinnen in der UniGr ist auch eine spe‐ zifische Diskurskompetenz erforderlich, die das Wissen aller Akteure über ein‐ zelsprachliche Diskurskonventionen beinhaltet. Denn die national geprägten Bildungssysteme bestimmen trotz fortschreitender Internationalisierung (hier: der Bologna-Prozess zur Vereinheitlichung und gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen) immer noch in hohem Maße die Organisation von For‐ schungsaktivitäten und den jeweiligen Fach- und Wissenschaftsstil. In der kon‐ kreten Seminarsituation, z. B. im binationalen Bachelorstudiengang „Deutsch- Französische Studien: Grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation“ (Universität des Saarlandes / Université de Lorraine-Metz) oder dem anschlie‐ ßenden trinationalen Masterstudiengang mit der Université du Luxembourg als drittem Studienstandort, sind kulturelle Unterschiede vor allem in der Art der Wissensvermittlung und -präsentation gut erkennbar, da der Standortwechsel gleichzeitig auch andere Sozialformen oder Lehrstile und zwar alternierend mit sich bringt. 5 Das bedeutet aber auch, dass Diskursmuster und Textsorten, die der jewei‐ ligen eigenkulturellen akademischen Tradition entsprechen, in den „dritten Diskursraum“ mit eingebracht werden, nicht selten, ohne diese in der interkul‐ turellen Begegnungssituation explizit zu machen, gerade weil sie als kulturspe‐ zifische gar nicht bewusst sind. (Text-)Stilistische Standards und Abweichungen davon werden sowohl von den Studierenden als auch von den Lehrenden in der Regel erst im direkten interlingualen Vergleich wahrgenommen. Da aber auch 333 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs 6 URL: www.uni-saarland.de/ master/ studienangebot/ internat/ dfs/ erfahrungen.html [letzter Zugriff: 01.03.2019] 7 Dazu gehört das interdisziplinäre Pilotseminar zum Thema „Umgang mit Wissen in multilingualen Kontexten“, das die Fachrichtungen Romanistik (Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann, Dr. Christina Reissner, Universität des Saarlandes), Deutsch als Fremdsprache (Dr. Elisabeth Venohr, Universität des Saarlandes), Ethnolinguistik /  Leh‐ rerausbildung (Prof. Dr. Sabine Erhardt, Universität Luxemburg) und Soziologie (Prof. Dr. Yves Trépos, Université de Lorraine, Metz) erstmals im Sommersemester 2010 an‐ geboten haben. die Dimensionen ‚hinter dem Text‘, d. h. außersprachliche Realia, zu berück‐ sichtigen sind, können die praktischen Erfahrungen der Studierenden als ein wichtiger Indikator für ein verändertes soziales Gefüge innerhalb des „UniGr- Studienraumes“ fungieren: „Die Erfahrung mit den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen ist Teil der Ausbil‐ dung interkultureller Kompetenzen und hilft dabei, die Universitäts-, Lehr- und Be‐ notungssysteme, aber eben auch bestimmte Denk- und Arbeitsweisen in den jewei‐ ligen Ländern nachvollziehen zu können. Wir haben beispielsweise in dem Studienjahr in Metz oft in binationalen Tandems oder in multinationalen Gruppen gearbeitet, was die persönlichen interkulturellen Kompetenzen im Bereich des wis‐ senschaftlichen Arbeitens nochmals zusätzlich gefördert hat.“ (Erfahrungsbericht Masterabsolventin K. G. 2016) 6 An diesem konkreten Beispiel zeigt sich ein weiterer Aspekt von grenzüber‐ schreitenden Studiengängen: Sprech- und Schreibpraxen als Diskurstraditionen reichen über Sprach- und Disziplingrenzen hinaus und führen zu neuen sozialen Interaktionsformen (hier: binationale Tandems, multinationale Gruppen usw.). Das gilt auch für den Umgang mit Mehrsprachigkeit, z. B. im „polyglotten Dialog“, in dem jede/ r ihre/ seine eigene Sprache spricht und das Ziel der mehr‐ sprachigen Kommunikation nicht das Kommunizieren in der Fremdsprache darstellt. Diese Form der Mehrsprachigkeitspraxis ist besonders in Seminaren der UniGR möglich, die sich konstruktiv mit dem Thema „Mehrsprachige Lehre“ auseinandersetzen. 7 In Grenzregionen gibt es darüber hinaus spezifische Kontaktsituationen, die insbesondere die berufs- und ausbildungsbezogene Kommunikation prägen und zu Überschneidungen auch in Text-/ Schreibpraktiken oder Prüfungsformaten führen, u. a. bei deutschen Grenzgängern. Dies lässt sich beispielsweise an den Voraussetzungen für die Einstellung in den Luxemburger Schuldienst erkennen, die dem französischen concours-Muster folgt. Die in diesem Zusammenhang unabhängig vom angestrebten Schul- /  Lehrfach zu produzierende, für Bewer‐ berinnen und Bewerber aus Frankreich und Luxemburg vertraute (zunächst 334 Elisabeth Venohr 8 „Depuis le collège, les Français ont été habitués à l’exercice de dissertation, pour lequel la structuration est primordiale. Au lycée, les enseignants les incitent à souligner et relever les marques de structuration afin de les entraîner à l’exercice de contraction de textes, épreuve massivement choisie au baccalauréat.“ (Branca-Rosoff /  Doggen 2003: 16) schulische) Textsorte dissertation ist Zeichen einer „institutionellen Kontinuität“ beim Übergang vom Lycée zum Studium, aber auch in berufsbezogenen fran‐ zösischsprachigen bzw. französischgeprägten Bildungsgängen. Die damit ver‐ bundene Textsortenkompetenz der französischen Schulabsolventen/ innen zeigt sich in einer ausgeprägten Planungskompetenz. 8 Aufgrund fehlender Äquivalenz im deutschsprachigen Textsortenkanon wird dem/ der deutschen Bewerber/ in unter Umständen die angemessene Textmus‐ terrealisierung Probleme bereiten, zumal es auch keinen entsprechenden An‐ leitungstext zu dieser Textsorte auf Deutsch gibt (vgl. Venohr 2011a). Das in dieser Situation notwendige, aber nicht automatisch transferierbare interkultu‐ relle Textsortenwissen ist auch eine wichtige Grundlage für ein Auslandsstu‐ dium im Allgemeinen (hier Studentenmobilität im europäischen Kontext, COST Action, Working Group 2.2.): „Today, intercultural differences in writing practices at higher education are marked and tend to be a serious obstacle to student mobility. Confronted with the task of writing in another culture, students are likely to misunderstand the rationale of the genres and to fail meeting the expectations of their teachers. Educational genres like the seminar paper or the critical essay demand mastering the linguistic and formal requirements but also allow acquiring and rehearsing what is considered the appro‐ priate way of academic thinking, arguing and communication in the respective cul‐ ture.“ (Kruse 2010: 1) Interkulturelle Unterschiede in Schreibpraxen sind aber nicht allein auf diffe‐ rierende Textsortenkonventionen zurückzuführen; es geht bei allen Cross-cul‐ tural-Kontexten auch darum, den Grad der „Inter-Kultur“ zu erkennen, also auch die Frage nach dem spezifischen interkulturellen sozialen Gefüge: So ist es für die im deutschen Schul- und Universitätssystem sozialisierten Lehrenden und Lernenden eher ungewöhnlich, dass die Studienorganisation einen starken Jahr‐ gangszusammenhang nach Kohorten aufweist, so auch in den strukturierten internationalen Studiengängen der UniGr. Hier weichen auch die Schreibanfor‐ derungen nicht selten von den rein einzelsprachlichen, disziplinspezifischen ab, d. h., dass neben den eigenen „nationalen“ Text- und Schreibanforderungen weitere hinzukommen, die auf eine interkulturelle Schreibdidaktik zurückzu‐ führen sind (Aufgabenstellung: „Schreiben Sie eine dissertation auf Deutsch.“). 335 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs 9 Zur Textgruppe Basisliteratur im deutsch-französischen Vergleich siehe Adamzik (2001: 356) „On constate une nette différence entre l’approche ‚alémanique‘, qui accorde une im‐ portance capitale à la littérature ‚tertiaire‘ (dont le prototype est la bibliographie) expli‐ quant comment faire des recherches systématiques et comment trouver son chemin dans l’abondance des écrits et des théories de la discipline, et l’approche ‚romande‘ favorisant les classiques et un nombre choisi de textes de la recherche spécialisée.“ Dennoch sind die Schreiberfahrungen aus der wissenschaftlichen oder wissen‐ schaftspropädeutischen Erstsozialisation ein entscheidender Ausgangspunkt für eine derartig konzipierte interkulturelle Schreibdidaktik. 2 Vergleichende Studien zur mehrsprachigen Hochschulkommunikation: Desiderate aus Sicht der interkulturellen Textlinguistik Wir wollen uns hier im Sinne einer interkulturellen Textsortenlinguistik fol‐ gender Prämisse anschließen: „Bereits die Tatsache an sich, dass Textsorten existieren, ist ein kulturelles Phänomen“ (Fix 2011: 178). Daher muss auch die Textlinguistik um den Aspekt der kulturwissenschaftlich orientierten Textsor‐ tenforschung als Teil der bereits etablierten Diskurslinguistik erweitert werden (vgl. ebd.). Es gilt inzwischen als unbestritten, dass sowohl die Wissenschafts‐ kommunikation (Wissenschaft als Domäne) als auch die universitäre Vermitt‐ lungspraxis kulturgeprägt sind (vgl. Adamzik 2001 9 ; Ehlich 2003 u. a.). Dabei sind die Inhalts- und damit die Erkenntnisorientierung von Wissenschaft zwar immer auch sprachgebunden, aber die kognitiv-soziale Dimension von Spra‐ chenwahl und Diskurszugehörigkeit tritt gerade bei kontrastiven Studien, z. B. in der Wissenschaftskomparatistik mit ihrer Beschreibung einzelsprachlicher Wissenschaftsstile und Verfahren der wissensvermittelnden Hochschulkom‐ munikation (Ehlich /  Heller 2006; Thielmann 2009) eher in den Hintergrund. Auch die Arbeiten zur Contrastive Rhetoric (Kaplan 1966; Clyne 1987), in denen ausgehend von der L1-Englisch als Standardnorm die Textproduktion bzw. die Schreibprodukte von L2-Sprecherinnen und -Sprechern beurteilt werden, weisen nicht selten eine stark ethnozentrische Perspektive auf: „[…] recent critics of contrastive rhetoric have blamed contrastive rhetoricians for teaching students to write for native English speakers’ expectations instead of ex‐ pressing their own native lingual and cultural identities.“ (Connor 2002: 205). Die Contrastive Rhetoric berücksichtigt inzwischen aber immer mehr auch die Rah‐ menbedingungen von Textproduktion und integriert neben der linguistischen Text- / Textsortenanalyse (genre analysis) und Korpuslinguistik auch ethnografi‐ 336 Elisabeth Venohr 10 Kramsch sieht diesen „third place“ prozesshaft und als Teil der Praxis einer Diskursgemein‐ schaft: „I would like to suggest that language teachers focus less on seemingly fixed, stable cultural entities and identities on both sides of national borders, and more on the shifting and emerging third place of the language learners themselves.“ (Kramsch 1996: 7) 11 Deutsche Auslandsschulen (aktuell: 140) und Schulen mit erweitertem Deutschunterricht in MOE-Staaten sowie Sprachdiplom oder DSD-Schulen (ca. 1.100) arbeiten weltweit nach dem Lehrplan der muttersprachlichen Deutschdidaktik und /  oder setzen somit auch die für das deutsche Bildungssystem typischen Textsorten, darunter die „Erörterung“, für zielsprachige Schreibübungen ein. Die Absolventen/ innen dieser Schulen verfügen durch diese doppelte Schreibsozialisation bereits bei Studienantritt über eine interkulturelle Schreibkompetenz, sche Ansätze (Connor 2004: 293). Das hat zur Folge, dass in diesem Forschungsbe‐ reich mehrere Methoden zum Tragen kommen, wobei das Kontrastieren, also das Hervorheben von Unterschieden, das verbindende Grundprinzip bleibt. Bei einigen intercultural rhetoric research-Arbeiten werden die „national cultures“ um die „small cultures“, darunter „educational settings“ wie „classroom cultures“, erweitert (At‐ kinson 2004 nach Connor 2004: 292). So heißt es z. B. bei Connor (2004: 302): „[…] we need to consider the small cultures interacting with the big national culture as we collect, analyze, and interpret the data“. Diese Differenzierung berücksichtigt nicht nur den sozial definierbaren Seminarraum (neben der Domäne Wissen‐ schaft), sondern auch den u. U. „Dritten Ort“, 10 der bereits das Ergebnis eines Trans‐ fers von Lernerkulturen darstellt, da neue (Schreib-)Aufgaben auch neue Strategien bei der allmählichen Aneignung von Textkompetenz in der fremden Wissenschafts‐ kultur erfordern. Die kulturbezogene Sprachwissenschaft hingegen geht der Frage nach, „wel‐ chen Prinzipien, Regeln und Traditionen die Sprecher folgen, wenn sie kom‐ munikative Aufgaben lösen“ (Schrott 2015: 120). Als Angehörige diskurstradi‐ tioneller Gruppierungen wenden Sprecher bei ihrem sprachlichen Handeln Diskurstraditionen an. Diskurstraditionen können als Wissenstyp definiert werden (vgl. ebd.: 121), die neben der Historizität auch einer Dynamik unter‐ liegen, d. h., dass sie historisch veränderlich sind. Das gilt in gleichem Maße für Textsortenkonventionen innerhalb von Diskursgemeinschaften. Im Hinblick auf das wissenschaftliche Schreiben sind die Erwartungen an die zu produzierenden Zieltexte aufgrund von standardisierten, oftmals auch länderspezi‐ fischen Textsortenkonventionen eine operationalisierbare und somit grundsätzlich beschreibbare Größe, wenn auch diese Beschreibung aufgrund der Heterogenität der Textsortenbezeichnungen nicht immer unproblematisch ist. Das gilt insbeson‐ dere für Textsortenvarianten im schulischen Bildungssystem, wie ihre Benennungs‐ vielfalt aufgrund unterrichtssprachlicher Kommunikation zeigt. Im muttersprachli‐ chen Deutschunterricht steht z. B. dem definitionsbasierten Textsortennamen Erörterung (als argumentativer Texttyp ab der 9. Klassenstufe 11 ) Aufsatz als alltags‐ 337 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs die i. d. R. aber nicht von den Seminarleitern/ innen „wahrgenommen“ wird (im doppelten Wortsinne). URL: https: / / www.auslandsschulwesen.de/ Webs/ ZfA/ DE/ Schulnetz/ DSD- Schulen/ dsd-schulen_node.html [letzter Zugriff: 01.03.2019] sprachlicher Oberbegriff und allgemeiner Aufgabentyp (ab der Grundschule) ge‐ genüber. Für die zu rezipierenden Texte, d. h. die zu verarbeitende Fachliteratur, stellen sich auf den ersten Blick inhaltsorientierte Fragen des wissenschaftlichen Arbeitens, darunter „Was gehört zur Basis- /  Grundlagenliteratur in einem Fach? “ oder „Welche Autoren muss ich zitieren? “ Dabei geht es hier eher um „unterschied‐ liche Einstellungen und Konzepte zu Schriftlichkeit, Text und Autorenschaft“ (Adamzik u. a. 1997: 10) sowie um die Mechanismen von Intertextualität und Dis‐ kursivität als festen Bestandteilen einer zuvor festgelegten sozialen Praxis einer Diskursgemeinschaft: „The expectations and norms of discourse communities or communities of practice (cultural and disciplinary), of course, may shape these situational expectations and practices. Social construction of meaning as dynamic, socio-cognitive activities is a term used to describe this approach to texts.“ (Connor 2004: 293) Diese Textmustererwartungen beziehen sich auch auf die Stilmuster, die sich interlingualen Studien (u. a. in der Contrastive Rhetoric wie hier bei Connor 2004) wiederfinden, seltener aber in der textlinguistisch orientierten interkulturellen Schreibdidaktik an Hochschulen (vgl. Venohr 2018). 3 Texthandlungen und Stilmuster in wissenschaftlichen Texten: Fortführen oder Imitieren? Mit tradierten Wissenssystemen und -beständen innerhalb einer Diskursgemein‐ schaft, zu dem auch das Textmusterwissen gehört, beschäftigen sich auch zahl‐ reiche textlinguistische Ansätze (Heinemann /  Heinemann 2002; Adamzik 2005; Venohr 2007). Textsorten sind hier als Problemlösungsmuster zu verstehen (u. a. Rolf 1993: 129), die in Abhängigkeit von Textmusterstilen typische Texthandlungen oder Textherstellungshandlungen (vgl. Sandig 2006: 151 nach Antos 1982) ent‐ halten, z. B. das F O R T F ÜH R E N . Sandig (ebd.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das F O R T F ÜH R E N bei Püschel (2000: 482 f.) als generelles Stilmuster be‐ schrieben wird, wobei „verschiedene Fortführungsmuster wichtig für die stilisti‐ sche Gestaltung eines gesamten Textes [sind], der nach einem Textmuster reali‐ siert wird […]“ (ebd.). F O R T F ÜH R E N kann u. a. durch W I E D E R H O L E N oder V A R II E R E N ausgedrückt werden (vgl. ebd.). Hier könnte die für französische Textproduktions‐ aufgaben in Schule und Studium dominierende Schreibhandlung des R E F O R M U ‐ L I E R E N S und somit das indirekte V E R W E I S E N ohne Z I T I E R E N als kulturspezifisch be‐ 338 Elisabeth Venohr 12 Die veränderten Studienbedingungen durch den Bologna-Prozess und der damit ver‐ bundenen Modularisierung der Studiengänge an deutschen Hochschulen haben aber auch in den Geisteswissenschaften zu neuen Standards geführt, da nicht automatisch konsekutiv im Bachelor- und Masterbereich studiert werden muss und sich dadurch neue Fächerkombinationen herausgebildet haben, die die wissenschaftssprachliche So‐ zialisierung „im Fach“ nachhaltig beeinflussen. trachtet werden („a strong reliance on paraphrase without citing“, Donahue 2002: 136). Gleiches gilt für die Textentwicklung oder das F O R T F ÜH R E N als Fortsetzen des Textes, das in Texten französischer Studierender besonders explizit durch das Ü B E R L E I T E N von Textpassagen ausgedrückt wird und somit zu einer stilistischen Einheitlichkeit führt („frequent explicit transitions“, ebd.). Somit ist die französi‐ sche Realisierung des F O R T F ÜH R E N S Text- und Stilherstellungsmuster in einem. Die Musterhaftigkeit zeigt sich auch bei der daraus resultierenden Textstruktur („an easily recognizable and repeatable external structure“, ebd.). „Textstilistische Hand‐ lungsmuster sind Muster für Stilproduktion und interpretierende Stilrezeption“ (Sandig 2006: 147) und mit einem stilistischen Inventar oder Repertoire in der Ein‐ zelsprache, aber auch mit der Voraussagbarkeit frequenter Formulierungen nach Texthandlungen verknüpft. Aus diesem Grund sind Übungen zur sprachlichen Realisierung von Stilherstellungshandlungen (und ihren Varianten) für den „fremden Wissenschaftsstil“ in kontrastiver Perspektive auch in der Sprachausbildung der Auslandsgerma‐ nistik zu finden. Beispielsweise fordert Olszewska (2015) im Rahmen der Ver‐ mittlung wissenschaftlicher Schreibkompetenz für nichtmuttersprachliche Schreiber im polnischen Germanistikstudium eine explizite Präskription, ge‐ nauer: eine „präskriptive Stilistik“ (ebd.: 75). Dazu gehören domänenspezifische Formulierungsmuster und Textroutinen der Alltäglichen Wissenschaftssprache (AWS), die für deutschsprachige Studierende leichter als für Studierende mit anderer Herkunftssprache, aber dennoch nicht ohne Aufwand, generierbar sind. Olszewska sieht sowohl im fremdsprachlichen Zugriff auf Formulierungsmuster als auch in einem zeitlich bedingten, geringeren Umfang an wissenschaftlichem Text-Input (während des Germanistikstudiums im Ausland) den Grund für eine erschwerte Imitation und Transformation (vgl. ebd.: 71). Bei dieser von ihr ge‐ forderten präskriptiven und gesteuerten Didaktik zeigt sich nicht nur der „schu‐ lische Charakter“ der Universitätsausbildung in Polen (hier ebenfalls zu er‐ kennen an den „Klassenverbänden“ durch Kohortenbildung), sie steht auch der traditionell argumentativ-eristischen Wissenschaftskultur (vgl. Ehlich 1993: 26) an deutschen Universitäten in den Geisteswissenschaften entgegen. 12 339 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs Für eine produktorientierte Schreibdidaktik jedoch ist das Einüben der oben genannten Routineformeln und ihrer Varianten aber auch für den mutter‐ sprachlichen Kontext von zentraler Bedeutung: „Feilke (2012) sieht in der Routine einen Ausweg aus der Problematik [der Differenzie‐ rung von Schreib- und Textkompetenz, E. V.], weil routiniertes Handeln eine Entlastung des sprachlichen Handelns und damit des kognitiven Prozesses bedeute, also soll eine Routinenkompetenz beim Schreiben erreicht werden“ (Heinemann 2014: 307). Dabei ist der Einsatz von Textroutinen stark textsortenabhängig (ebd.) und auch an Textteil-Handlungen gebunden, z. B. Einleitung (G L I E D E R U N G A N KÜN D I G E N ), Hauptteil (A R G U M E N T I E R E N , V E R W E I S E N usw.) und Schlussteil (Z U S A M M E N ‐ F A S S E N , S C H L U S S F O L G E R N usw.). Olszewska (2015) schlägt in diesem Zusammen‐ hang die Kontrastierung von stilistischen Formulierungsmustern in mündlichen und schriftlichen Textsorten vor und bezeichnet die Vorstrukturierung als: „[…] eine relevante Textroutine, die der Orientierung von Zuhörern / Lesern im Ge‐ samttext dient. z. B. können folgende Vorstrukturierungen mit ihren typischen agensorientierten und agenslosen Prädikatsrahmen kontrastiert werden: Referat Diplomarbeit Zunächst gebe ich einen Überblick über die Inhalte meines Referates Bevor …, soll zunächst ein Überblick über die Inhalte gegeben werden […]“ (Olszewska 2015: 77) Anders als bei dieser produktorientierten Präskription im Hinblick auf die Text‐ sorte in der jeweiligen Zielsprache sollte allerdings bei interkulturellen Stilanalysen in schreibdidaktischer Perspektive nicht grundsätzlich zwischen fran‐ zösischen oder deutschen oder anderssprachigen Texten unterschieden werden; man sollte vielmehr von den diskursspezifischen institutionellen Rahmenbe‐ dingungen ausgehen, die Stil (und das entsprechende einzelsprachliche Inventar dafür) als eine soziale Praxis hervorbringen. Das bedeutet beispielsweise, dass sich durch eine bestimmte Studienorganisation neue Schreibanforderungen er‐ geben, z. B. ein rapport de stage (dt. Praktikumsbericht) im Kontext der Border‐ Studies (UniGr), der für französische Studierende zum universitären Textsor‐ tenkanon gehört, für die in Deutschland sozialisierten Studierenden jedoch eine eher ungewöhnliche „wissenschaftliche“ Schreibaufgabe darstellt. Da aber in internationalen Studierendengruppen immer auch „Dritte“ dazukommen, ent‐ spricht die binationale und somit kontrastive Perspektive nicht der jeweils ge‐ 340 Elisabeth Venohr gebenen Gruppenspezifik und ihrem Bezugsrahmen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Donahue, die sich im französisch-amerikanischen Kontext mit studentischen Schreibpraxen beschäftigt: „[…] not ,French‘ and ,U.S.‘ texts, but texts with different ways of working in different institutional or course-based contexts or because of different common pools from which they drew and from individual stylistic choices […]“ (Donahue 2008: 342) 4 Schreibanforderungen im Studium in L1 und L2 Das universitäre Schreiben stellt immer auch eine Vorstufe zum wissenschaft‐ lichen Experten-Diskurs dar. Im Studium erfolgt einerseits eine allmähliche An‐ näherung an die scientific community, und zwar durch Nachahmung der rezipierten wissenschaftlichen Texte oder auch durch Orientierung an bestimmten Textmustern (das gilt vor allem für den wissenschaftlichen Artikel als Modell für die studentische Haus- /  Seminararbeit im deutschen Studiensystem, vgl. Stezano Cotelo 2008). Andererseits ist das wissenschaftliche Arbeiten im Fach‐ studium eine Fortsetzung des schulischen Schreibens, sodass es eine vergleich‐ bare „Studienanfänger-Strategie“ beim wissenschaftlichen Schreiben in L1 und L2 zu geben scheint: „Experten sind vorrangig am Leseprozess des Rezipienten orientiert. Manche Studienanfänger stellen dagegen sich selbst und ihre Litera‐ turrecherche in den Vordergrund“ (Steinhoff 2007: 189). Betrachtet man nun den Seminarrahmen als „small culture“ mit dem Fokus auf der Verarbeitung neuen Wissens, dann ist die Art der Wissensvermittlung ein wichtiger Faktor für die sich anschließende diskursgebundene Textproduk‐ tion: „Students’ texts show strong influence from the course work, the readings, the assignments; this is some of the more traceable material they reformulate and reorganize“ (Donahue 2008: 342). Es lohnt sich also in diesem Zusammen‐ hang, den Seminar-Input im Hinblick auf die Wissensarten (Faktenwissen, Dis‐ kurswissen usw.) und die Verarbeitung des Wissens in Abhängigkeit zur Lernerkultur zu betrachten. Daraus ergeben sich unter Umständen eine stark differierende Anschlusskommunikation und damit verbunden auch unter‐ schiedliche Schreibpraxen (und -aufgaben); z. B. gehören im französischen Uni‐ versitätskontext auch noch in höheren Studienjahrgängen das vermehrte Mit‐ schreiben und Zusammenfassen, die beide als komprimierende Schreibhandlungen eine Kompetenzstufe (ähnlich wie auch das Exzerpieren) auf dem Weg zum wissenschaftlichen Schreiben darstellen, in Form von „résumé“ oder „contraction croisée“ zum universitären Textsortenkanon. Dies lässt sich an dem signifikant intensiveren Mitschreibverhalten („prises de notes“) französischer Studierender in universitären Lehrveranstaltungen an französischen Hoch‐ 341 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs 13 Die Bereitstellung von PowerPoint-Folien durch die Lehrperson und der Notizfunktion sowie Mitschreibe-Apps während der Lehrveranstaltung ändern zwar das Mitschrei‐ beverhalten, ersetzen jedoch nicht die grundsätzliche Handlung der Informationsver‐ arbeitung, indem Gesagtes fixiert und nach fachlicher Relevanz gewichtet wird (in hochschuldidaktischer DaF-Perspektive zum Thema „Mitschreiben“ in Vorlesungen siehe auch Arras /  Fohr 2017). 14 Wenn nicht anders angegeben, sind alle Textauszüge originalgetreu abgedruckt. schulen im Vergleich zu ausländischen Studierenden erkennen (vgl. dazu Branca-Rosoff /  Doggen 2003): 13 „Hier [im Vergleich zum deutschen Universitätskontext; E. V.] lässt sich ganz besonders das französische Schul- und Studiensystem hervorheben, das die Aneignung von enzy‐ klopädischem Wissen, aber auch die Fähigkeit zur synthetischen Textzusammenfassung fördert. Diese mitgebrachten Schreibfertigkeiten aus der L1 bilden dabei die didaktische Grundlage für einen ‚Kompetenztransfer‘ von der muttersprachlichen Schreib- und Text‐ kompetenz auf die fremde Wissenschaftssprache.“ (Venohr /  Neis 2013: 17) Dieses Wissen über Schreibpraxen sollte in explizit mehrsprachigen Studiengängen aktiviert werden und dabei sollten - anders als bei den auf Unterschieden basie‐ renden kontrastiven Studien - auch die diskursspezifischen Gemeinsamkeiten beim universitären Schreiben ungeachtet der Zielsprache herausgearbeitet werden, um den Schreibprozess um den Faktor „culture awareness“ zu erweitern und somit zu optimieren. Dazu müssen allerdings Schreiberfahrungen in der Erst- und Zweit‐ sprache thematisiert werden, z. B. durch eine Schreibbiografie oder ein Portfolio, wie folgender Textauszug von einem Studierenden mit Französisch als L1 illustriert: 14 Wenn ich auf Deutsch, so wie auf Französisch, schreibe, habe ich das Problem, dass ich zu kurze Texte schreibe. Ich gehe nämlich zu schnell in der Sache und habe nicht mehr so viel zu sagen. (2. Bachelorjahr „Deutsch-Französische Studien“, Universität des Saarlandes, 2008) Das hier angesprochene Problem liegt weniger im F O R M U L I E R E N von Ideen, also nicht auf der Ebene der adäquaten Versprachlichung - die am häufigsten ge‐ nannte Schwierigkeit bei der L2-Textproduktion -, sondern betrifft offensicht‐ lich die Planungsphase: Der Studierende hat entweder nicht genügend Inhalte verarbeitet (d. h. unzureichende Materialrecherche, keine /  falsche Literaturaus‐ wahl) oder aber die thematische Progression nicht hinreichend hergeleitet (u. U. ist dies auch auf Defizite beim Entwerfen einer inhaltlichen Konzeption und Struktur zurückzuführen). Einen weiteren möglichen Grund könnte man aber auch in einer mangelnden Explizierung von Hintergrundinformationen oder fehlender wissenschaftsverortender Kontextualisierung sehen (zum Grounding 342 Elisabeth Venohr 15 Der Ausgangstext bei dieser argumentativen Schreibaufgabe lautet: „Dürfen Universitäten Studiengebühren erheben oder nicht? Diese Frage will der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg am kommenden Montag in Mannheim entscheiden. Seit Jahren streiten vgl. Prokupczuk 2007), die je nach Diskurstradition stärker oder weniger stark ausgeprägt ist. Die hier formulierte Selbsteinschätzung des französischen Stu‐ dierenden könnte daher auch eine Reaktion auf die kritische Rückmeldung eines deutschen Dozenten („Das ist nicht wissenschaftlich.“) sein, z. B., weil die Hin‐ führung zum Thema (u. a. das wissenschaftliche S I C H V E R O R T E N und S I C H A B ‐ G R E N Z E N von anderen Positionen) möglicherweise vor der Folie der eigenen, als diskursiv-eristisch bezeichneten deutschen Wissenschaftskultur als zu direkt oder - im Sinne der Kontrastiven Rhetorik - als zu linear bewertet wurde (zur Digressivität von Texten deutschsprachiger Wissenschaftler vgl. Clyne 1987). In die Bewertung von Studierendentexten in einem neu geschaffenen inter‐ kulturellen Studienraum (hier: der UniGr) sollten daher nicht nur die spezifi‐ schen Schreibanforderungen einfließen, sondern auch die einzelsprachlichen und somit kulturgeprägten Textmustererwartungen der Lehrpersonen sind zu reflektieren. 5 Stilistische Besonderheiten von Lernertexten französischer Studierender in Deutsch als fremder Wissenschaftssprache Im Folgenden sollen exemplarisch drei Lernertexte in Deutsch als fremder Wissen‐ schaftssprache im Hinblick auf prototypische, aber auch individuelle stilistische Be‐ sonderheiten beschrieben werden. Trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen (Zeitpunkt und Anlass des Schreibens sowie institutionelle Verankerung) haben diese aufgrund vergleichbarer Textproduzenten (Studierende mit Französisch als L1 in der Studiensprache Deutsch) und des gemeinsamen Textstrukturmerkmals „Ein‐ leitung“ eine Vergleichsbasis. Dabei wird es nicht darum gehen, die Musterhaftig‐ keit von Textsorten und ihrer Realisierung in einer fremden Wissenschaftssprache durch Studierende auf die Ausgangskultur zurückzuführen, sondern es soll viel‐ mehr verdeutlicht werden, dass je nach Schreibanlass die als „L1-Spuren“ zu bezeich‐ nenden Interferenzen sehr unterschiedlicher Art sein können (und somit auch nicht nur auf der stilistischen Ebene beschreibbar sind). Ziel dabei ist es also, eine explizit Cross-cultural-Perspektive auf Lernertexte von Studierenden in grenzüberschrei‐ tenden und - wie bereits zuvor beschrieben - genuin interdisziplinären Studienkon‐ texten zu entwickeln, die sich von der herkömmlichen muster- und produktorien‐ tierten Bewertung unterscheidet. Dazu gehört auch eine andere Sicht auf mögliche Aufgabenstellungen, wie folgendes Textbeispiel und die damit verbundene Textmus‐ terrealisierung der Textsorte dissertation auf Deutsch zeigt. 15 343 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs Studenten und Hochschulen im Südwesten darüber, ob die Semesterbeiträge von 500 Euro sozialverträglich und rechtmäßig sind.“ (Zeitungsmeldung, 13. Februar 2009, URL: w ww.badische-zeitung.de/ suedwest-1/ ist-die-studiengebuehr-rechtmaessig--11482628.html, letzter Zugriff: 01.03.2019) 16 Zu Textsorten an französischen Schulen und Hochschulen, u. a. zur dissertation vgl. Vinckel (2009). 17 Ein zu dieser konkreten Aufgabenstellung verfasster Beitrag in einem offenen Forum zeigt, dass sich der Textproduzent des Cross-cultural-Schreibkontextes bewusst ist: „Das Problem ist, dass die Hausarbeit ist, die nach dem französischem Muster ‚Disser‐ tation‘ geschrieben werden soll. Das heisst, es soll nicht beim ‚Dafür‘ und ‚Dagegen‘ bleiben, sondern es soll ein dritter Teil sein, wo man sich mit dem Problem konfrontiert (z. B. eine andere Lösung finden, oder die rechtliche Hinsicht analysieren). Und für dieser Teil hab ich keine Idee…“ (GAST, 21.09.2009 im Forum e-hausaufgaben.de, URL: h ttps: / / e-hausaufgaben.de/ Thema-136230-Thema-Studiengebuehren.php, letzter Zu‐ (1) Einleitung zur dissertation auf Deutsch (Bachelorstudium „Deutsch-Fran‐ zösische Studien“, 2. Jahr) zum Thema „Studiengebühren in Deutschland“ Studiengebühren wurden seit dem Wintersemester 2007 in die meisten Bundesländer Deutschlands eingeführt. Diese Zahlungen, die die Stu‐ denten jedes Semester zahlen müssen, um in der Universität studieren zu können, sind ein sehr umstrittenes Thema und verursachen heute noch kontroverse politische und öffentliche Diskussionen. Der Verwaltungsge‐ richtshof Baden-Württemberg insbesondere soll übrigens über dieses Thema sich bald entscheiden, ob es wirklich legitim und sozialgerecht ist solche Studiengebühren zu zahlen. Der wichtigste Punkt, der in Frage kommt ist der folgende: inwiefern sind Studiengebühren sozialverträglich und rechtmäßig? Und also können sie ohne Problem erhoben werden? In einem ersten Teil werden wir die Vor‐ teile eines Studiengebührensystems, d. h. welche Argumenten haben die Befürworter der Studiengebühren, dann werden wir die negative Seite des Systems sehen, endlich werden wir eine kleine Bilanz ziehen. (Universität des Saarlandes, März 2009) Die modellhafte Struktur der französischen Textsorte dissertation,  16 die sich durch die explizite Ankündigung des französischen „plan“ aus These (Vorteile), Antithese (negative Seite) und Synthese (Bilanz ziehen) auszeichnet, wird in Textbeispiel (1) sehr gut sichtbar. Diese ist zielsprachenunabhängig leicht zu reproduzieren und erleichtert der Textproduzentin mit Französisch als L1 somit das Schreiben in der Fremdsprache Deutsch. Es handelt sich bei dieser Schreib‐ aufgabe allerdings nicht um einen „authentischen“ Schreibanlass, da die disser‐ tation nicht zum universitären Textsortenkanon im deutschen Studiensystem gehört. 17 Somit entsteht durch diese wissenschaftlich fiktive Aufgabenstellung 344 Elisabeth Venohr griff: 01.03.2019). Diese Aussage deckt sich mit der Erklärung zur Textsorte dissertation im französischen Kontext in Fußnote 8, jedoch ist die Großschreibung in diesem Eintrag ein möglicher Auslöser für weitere Irritationen, da der Textsortenname in der vorlie‐ genden Form die deutsche Textsorte „Doktorarbeit“ bezeichnet (hier: Problem der Text‐ sortenbenennung bzw. der Interferenz). 18 Das Textsortenwissen aus der L1-Schulsozialisation lässt sich durch eine derartige Übungsaufgabe nachweislich gut transferieren, was Vergleichstexte bei identischer Aufgabenstellung im Saarbrücker Habil-Korpus von Venohr (i. V.) belegen. 19 Zur Wissenschaftlichkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften in kontrastiver Per‐ spektive auch Venohr /  Rival (2011). („Schreiben Sie eine dissertation auf Deutsch.“) eine écriture croisée, d. h. ein ‚Überkreuz-Schreiben‘. Anders jedoch als bei dem bewusst vorgenommenen Sprachenwechsel bei der in den naturwissenschaftlichen Ecoles techniques weit verbreiteten Prüfungstextsorte contraction croisée (gemeint ist hier die Zusam‐ menfassung eines französischen Ausgangstextes in einer Fremdsprache) wird bei der dissertation-Aufgabe in erster Linie das Textmusterwissen in der L1 ak‐ tiviert. 18 Allerdings deutet nicht allein die hier beschriebene Text(sorten)kompetenz, also die Kenntnis der Textkonventionen einer „französischen dissertation“, son‐ dern auch die Vermeidung von Wortwiederholungen in der Fremdsprache darauf hin, dass eine französischsprachige Person den Text produziert hat. Laut Auffassung von Wissenschaftlichkeit nach deutschem Modell verringert sich durch die rhetorisch motivierte Synonymvermeidung, die im französischen Ver‐ ständnis von style (bedingt durch den schulischen style littéraire) bevorzugt wird, der fachsprachliche Gehalt des Textes. 19 Aus Sicht der Type-Token-Rela‐ tion, also dem in der quantitativen Linguistik errechneten Diversifikationsquo‐ tienten, hingegen wäre der messbar größere Wortschatz ein Kriterium für eine höhere (Fremd-)Sprachenkompetenz. Somit ist die Text- und Schreibkompetenz im Kontext des Fachstudiums nicht gleichzusetzen mit der Fertigkeit Schreiben in (fremd-)sprachlicher Perspektive. Es muss beim wissenschaftlichen Schreiben vielmehr eine kompetente Verwendung synonymer Ausdrücke erreicht werden, die dem Gegenstand im Sinne der fachsprachlichen Bezeichnungsmotivation entspricht. Der synonyme Gebrauch von Fremdwort und Fachwort (legitim vs. recht‐ mäßig) und die Wortübernahme aus der Aufgabenstellung von sozialverträg‐ lich, das zuvor abgewandelt wird in sozialgerecht (die korrekte Form, nicht allein im Hinblick auf die korrekte Getrenntschreibung, wäre sozial gerecht), ist hin‐ gegen in erster Linie ein Indiz für allgemeingültige lernersprachliche Strategien (dies gilt auch für Studierende mit Deutsch als L1 im Prozess der wissenschafts‐ sprachlichen Sozialisation). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich neben der 345 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs (2) synonymen Verwendung auch ein falscher Rückgriff auf das fachsprachlich de‐ finierte Fremdwort legitim im Deutschen, was in präskriptiver Lesart als „ne‐ gativer Transfer“ aus dem Französischen interpretierbar ist: Die identische Be‐ nennung eines Phänomens in Fachsprache und Gemeinsprache in der Zielsprache Deutsch ist eine häufig zu beobachtende Formulierungsprozedur bei Sprechern mit Französisch als L1. Ähnliches lässt sich auch bei der nicht-äquivalenten Verwendung des Adjektivs linguistisch erkennen, das im Französischen (linguistique) sowohl dem Fachbegriff linguistisch als auch dem gemeinsprachlichen Lexem sprachlich entspricht (Beispiel aus einem Lerner‐ text /  contraction croisée: „die linguistische Situation der Juden in Deutschland“, Venohr 2009: 305). Die Wahl von Fach- und Fremdwörtern im Deutschen (an‐ stelle von Wörtern aus dem Grundwortschatz und zur Bezeichnung von Ab‐ strakta) ist in den Untersuchungen zur Wortschatz-Kompetenz von mutter‐ sprachlichen Schülerinnen und Schülern (hier: die DESI-Studie, vgl. Steinhoff 2009: 5) auf einer der höchsten Ebenen angesiedelt: „Nach diesem Modell [von Siepmann; E. V.] erweist sich derjenige Sprachbenutzer als kompetent, der in einer gegebenen Situation das Passende zu sagen oder zu schreiben weiß, die passenden Ausdrücke zu verwenden weiß. Sprachlich kompetent ist derje‐ nige, der die historisch herausgebildeten sprachlichen Mittel einer Sprachgemein‐ schaft als kommunikative Werkzeuge zu nutzen versteht.“ (Steinhoff 2009: 10; Hervor‐ hebungen im Orig.) Die Tendenz zur Vermeidung von Wort-Wiederholungen in L2-Lernertexten von französischsprachigen Studierenden scheint sich allerdings vorrangig auf die Wort-, nicht auf die Satzebene zu beziehen. Die häufige Deagentivierung durch das unpersönliche Pronomen man (frz.: on) spricht vor allem für den in argumentativen Texten von Schreibern mit der Ausgangssprache Französisch bevorzugten verbalen Stil; der ausgeprägte Nominalstil in der deutschen Wis‐ senschaftssprache hingegen drückt sich durch Nominalisierungen und Funkti‐ onsverbgefüge aus. Die Dominanz verbaler Ausdrücke, darüber hinaus im Aktiv (anders als bei der bevorzugten Deagentivierung im Deutschen durch das Passiv oder Passiversatzformen, vgl. Hennig /  Reimann 2013) scheint ein bevorzugtes Formulierungsmuster zu sein, wie das folgende Beispiel verdeutlicht: Einleitung Seminararbeit (Bachelorstudium „Deutsch-Französische Stu‐ dien“, 2. Jahr), Titel: Die Beziehung zwischen Sport und Medien: Inwiefern sind Sport und Zeitungen harmonisch? Obwohl sie über mehrere Interaktionspunkte verfügen, kann man nicht direkt behaupten, dass Medien und Sport gut zusammen passen. Aber wenn man Zeitungen wie l’Equipe, Fernsehsender wie Eurosport oder 346 Elisabeth Venohr 20 Zu den allgemeinen Merkmalen von Fachstilen in der Wissenschaftssprache vgl. Busch- Lauer (2009: 1731 f.). 21 Donahue (2008: 341) weist noch auf ein weiteres Phänomen im Zusammenhang mit dem Gebrauch von on im Kontext von Studentenarbeiten Französischsprachiger auf Englisch hin: „French offers nous (‚we‘) or on, a polyvalent pronoun that can stand in for almost anything. I have heard French speakers say ,nous, on va‘ (‚We, one will go‘), a feature studied extensively in French scholarship (see, e. g., Léon & Perron, 1985).“ Bemerkenswert in diesem Zitat ist auch der Ich-Gebrauch der Autorin, der sogleich durch den Verweis auf eine entsprechende Studie wissenschaftlich legitimiert wird. 22 Das geteilte oder ‚kollektive‘ Wissen ist in der französischen Gesellschaft aufgrund der Gemeinschaftsbzw. Mittelschulform ‚collège‘ (bis zur 9. Klassenstufe inkl.) traditionell größer als in Deutschland (zum Bildungssystem im deutsch-französischen Vergleich siehe auch Lüger /  Große 1993). Rundfunksender wie RMC [nimmt, E. V.], muss man zugeben, dass beide gut zusammen passen, überhaupt wenn das Medium eine „Live“ Übertra‐ gung ermöglichen, so das Internet, das Fernsehen und der Rundfunk. Die Zeitung, die die älteste Form der Medien, kann das nicht. Sie versucht aber diese Beziehung zu erweitern. Die Frage ist also, inwiefern sind Sport und Zeitung harmonisch? (Universität des Saarlandes, März 2010; Hervorhe‐ bungen E. V.) Die in diesem Textbeispiel deutliche Präferenz für die verbale Ausdrucksform mit dem unpersönlichen Indefinitpronomen man, das im deutschen Kontext zwar als gängige Alternative zu dem ebenfalls der Deagentivierung dienenden Ausdruck der Autor gilt, 20 hat im französischen Funktionalstil keine ausschließ‐ lich wissenschaftssprachliche Funktion, sondern muss eher als ein domänen‐ übergreifendes argumentatives Stilmuster verstanden werden. Die gesellschaft‐ lich geteilten Wissensbestände kommen zum Ausdruck darin, was ‚alle‘, also ‚wir‘ (nous) wissen, d. h. was man (on) weiß und daher behaupten kann. 21 Das bei dem hier französischen Leserkollektiv als ‚bekannt‘ vorausgesetzte Wissen 22 muss daher auch nicht mehr kontextualisiert werden: Durch on-Signal wird das Explizieren von Hintergrundinformationen obsolet. Im deutschsprachigen wis‐ senschaftlichen Kontext - vor allem aber in Studierendenarbeiten - wäre ein übermäßiger Gebrauch des unpersönlichen Indefinitpronomens man ein Ver‐ stoß gegen die Zitiernorm; mindestens aber ist es eher unangemessen bei Stu‐ dierenden in ihrer Rolle als ,angehende Experten‘, die ihre Argumentation noch stärker auf Autoritäten im Fach stützen müssen. Diese Unsicherheit, die ein Student bei der Wahl von adäquaten stilistischen Mitteln zur eigenen Positio‐ nierung hat, könnte auch die Verwendung von accuracy-oriented hedges (zur Versprachlichung nicht-gesicherten Wissens) oder writer-oriented hedges (zur 347 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs 23 Die unterschiedlichen Formen von Modalität (epistemisch / nicht-epistemisch) in der wissenschaftlichen Kommunikation im Hinblick auf die Funktion von Modalverben (vgl. Venohr 2008 zur Modalität und Indirektheit beim wissenschaftlichen Sprechen) stehen immer auch im Zusammenhang mit dem Status des Autors und der Sicherheit der gemachten Aussagen sowie ihrer Bewertung. 24 Ein Blick in französische Anweisungs- /  Ratgebertexte und Listen für passende Aus‐ drücke (Routineformeln) bestätigt diese Annahme (siehe dazu auch den Online-Rat‐ geber Pl@nète Psy, IPMSH, Claude Goulet), URL: http: / / pagesped.cahuntsic.ca/ sc_soci ales/ psy/ methosite/ consignes/ style.htm#style [letzter Zugriff: 01.03.2019] Reduzierung der Sichtbarkeit des Autors im Text, vgl. Hyland 2000: 84 f.) er‐ klären. Gleichzeitig fällt in kontrastiver Perspektive auf, dass die für den wissen‐ schaftlichen Diskurs zentrale Modalität und deren jeweilige Versprachlichungs‐ muster, z. B. ausgedrückt durch Modalverben (können, müssen, dürfen usw. 23 ), in französischen Formulierungsmustern häufig auch mit dem unpersönlichen il verbunden werden. 24 Das entspricht dem deutschen Platzhalter-es in Passiv‐ konstruktionen, bei dem die Wahl der Verben mit funktionaler Äquivalenz nicht nur aus stilistischer, sondern auch aus schreibdidaktischer Sicht relevant ist, da diese auch als textstrukturierende Textroutinen fungieren (z. B. „zusammenfas‐ send kann festgehalten werden“): „Innerhalb der deutschen Wissenschaftssprache selbst gibt es wohl Wendungen, die funktional ähnlich gelagert sind wie die erweiterten hedged performatives mit ‚fest‐ halten‘. Im Korpus finden sich neben ‚es kann festgestellt werden‘ u. a. ‚es kann als etabliert gelten‘, ‚es kann als erwiesen angesehen werden‘, ‚es kann als gesichert er‐ achtet werden‘ sowie zahlreiche Varianten dieser Wendungen.“ (Rheindorf 2014: 65) Auch in der Wissenschaftssprache kann es also sein, dass die für diesen Diskurs spezifischen „zahlreiche[n] Varianten dieser Wendungen“ (s. o.) nicht gleicher‐ maßen frequent in der jeweiligen Vergleichsbzw. Zielsprache vorhanden sind. „Derartige hedged performatives, ganz besonders ihre erweiterten Formen, haben selten kontext-unabhängige Äquivalente in der englischen Wissenschaftssprache, nicht zuletzt deshalb, weil diese Konstruktionen in der englischen Wissenschafts‐ sprache seltener verwendet werden als in der deutschen, also eine vergleichsweise unbedeutende sprachliche Ausdrucksmöglichkeit darstellt und daher nicht ver‐ gleichbar stark entwickelt bzw. ausdifferenziert ist.“ (Rheindorf 2014: 63) Dass Verben nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch in der semantischen Nuancierung bei der Übertragung von der Ausgangsin die Zielsprache eine stilistische Verschiebung erfahren, soll an Beispieltext (3) illustriert werden; er ist im Rahmen eines französischen Studienganges bzw. Curriculums entstanden, 348 Elisabeth Venohr 25 Das entspricht in diesem konkreten Germanistikstudiengang einer „ersten Masterar‐ beit“, die auf Deutsch verfasst wird, während die eigentliche Masterarbeit (mémoire oder thèse de master) auf Französisch vorgelegt werden muss. 26 DWDS-Wortprofil für erforschen, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https: / / www.dwds.de/ wp/ erforschen>, abgerufen am 11.07.2018. 27 Vgl. Eintrag in Duden online: „erforschen - [wissenschaftlich] genau untersuchen mit dem Ziel, möglichst viele Erkenntnisse zu erlangen.“, URL: www.duden.de/ rechtschreib ung/ erforschen [letzter Zugriff: 01.03.2019]. (3) so dass sich auch die Themenwahl nur im institutionellen Kontext verstehen lässt (der Teilbereich ‚civilisation‘ mit starken historisch-kulturwissenschaftli‐ chen Bezügen ist in dieser Form nur in der französischen Auslandsgermanistik anzutreffen). Einleitung (2. Absatz) eines „mémoire“ 25 im Fach Germanistik (1. Master‐ jahr, Paris): Die französische Besatzung in Tirol nach dem Zweiten Weltkrieg wurde allerdings bereits von mehreren Historikern erforscht. Diese Studien be‐ schreiben eine Besatzung, die sich darum bemüht hat, so unbeschwerlich wie möglich zu sein. Interessant könnte es aber sein, uns mit der Form dieser Erinnerung zu beschäftigen. (Paris IV /  Sorbonne, 2008) Das Verb erforschen  26 ist als wissenschaftssprachlich zu verstehen; die Belege im DWDS-Kernkorpus - bei der Wortprofil-Suche mit den Subjekten Wissen‐ schaftler (Frequenz: 333) und der Berufsbezeichnung Historiker (Frequenz: 54) - weisen auch auf einen wissenschaftlichen Kontext hin. Da dieses Korpus jedoch nur relativ wenige wissenschaftliche Texte umfasst - Zusammensetzung: Bel‐ letristik 28,42 %, Zeitung 27,36 %, Wissenschaft 23,15 % und Gebrauchsliteratur 21,05 % - dürfte es sich eher um einen gemeinsprachlichen Gebrauch handeln. Diese Annahme wird auch dadurch bestätigt, dass erforschen noch durch wis‐ senschaftlich (Frequenz 65) und gründlich (Frequenz 57) intensiviert wird, womit eine Redundanz in den Merkmalen vorliegt (durch die Präfigierung besitzt das Verb er-forschen bereits die Merkmale ‚gründlich‘ und ‚wissenschaftlich‘ 27 ). Dem steht eine inhaltlich-methodisch begründete Zusatzinformation durch em‐ pirisch gegenüber, die eine deutlich geringere Frequenz von 8 aufweist. Die Ver‐ wendung des Verbs erforschen durch den französischen Germanistik-Studenten in Beispieltext (3) ist in fremdsprachlicher Perspektive auch deshalb als akzep‐ tabel einzustufen, da im Französischen mit den Äquivalenten a) explorer und b) étudier (vgl. Grappin, Grand Dictionnaire français-allemand, Larousse 1989: 901) die ,äquivalente‘ Wortwahl eingehalten wurde. Es wäre in diesem konkreten Textbeispiel jedoch eine (sprachliche) Präzisierung der eigentlichen wissen- 349 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs 28 Das Lexem untersuchen ist im Eintrag von Duden Online mit folgendem Hinweis ver‐ sehen: „Dieses Wort gehört zum Wortschatz des Goethe-Zertifikats B1.“ Das gilt jedoch nicht für das Verb erforschen. URL: www.duden.de/ rechtschreibung/ untersuchen [letzter Zugriff: 01.03.2019]. Hier zeigt sich erneut, dass die AWS ihre lexikalischen Grundlagen aus der Gemeinsprache bezieht. schaftlichen Handlung, nämlich untersuchen, 28 betrachten oder überprüfen aus funktionaler Sicht nicht nur konkreter, sondern auch wissenschaftssprachlich angemessener. Zwar ist von dem L2-Schreiber einerseits ein hohes Niveau in der Fremdsprache erreicht (erforschen gehört nicht zum Grundwortschatz des Deutschen als Fremdsprache), jedoch handelt es sich wohl eher um die Imitation eines pressesprachlich geprägten Diskurses, welche durch die semantisch mo‐ tivierte Kollokation aus Wissenschaftler /  Historiker und erforschen zum Aus‐ druck kommt. Diese Vermischung der Domänen Presse und Wissenschaft ist allerdings kein exklusives Merkmal dieses L2-Schreibers (zum journalistischen Stil in L1-Studierendentexten siehe auch Steinhoff 2007). Die Neu-Schöpfung *unbeschwerlich hingegen, die dem Wortbildungsmuster des Adjektivs als Antonym zu beschwerlich folgt, weist eindeutig auf einen L2-Lernertext hin. Dieser ‚kreative‘ Lernerstil, also die selbstständige und kom‐ petente Sprachverwendung wird in ,traditiven Bildungssystemen‘ (vgl. Ehlich 1996: 184), die stärker normorientiert sind, jedoch in der Regel als Fehler sank‐ tioniert. Da es sich um eine Schreibaufgabe in der französischen Auslandsger‐ manistik handelt, würde dieser Transfer daher wahrscheinlich mit einer nega‐ tiven Bewertung einhergehen. Hier liegt eindeutig der Unterschied zwischen den Schreibpraxen in grenz- und disziplinenübergreifenden Studiengängen der UniGR und den Schreibanforderungen im Fachstudium der Germanistik im Ausland, bei dem der Stilwechsel und somit auch Stiltransfer im Sinne der zielsprachlichen Pro‐ duktorientierung präskriptiv ausgerichtet ist und wenig Raum für neue, Cross-cultural-Schreiberfahrungen lässt. 6 Fazit In diesem Beitrag wurde der ‚Stiltransfer‘ am Beispiel von Schreibprodukten französischsprachiger Studierender der (Auslands-)Germanistik und an Studie‐ rendentexten aus ausgewählten grenzüberschreitenden Studiengängen im UniGr-Raum stellvertretend für den fremdsprachlichen französischen Lerner- Stil im Studienkontext vergleichend betrachtet. Dieser in erster Linie ‚fremd‐ sprachliche Wissenschaftsstil‘ transportiert nicht nur fächergebundene Stilkon‐ 350 Elisabeth Venohr ventionen, sondern auch institutionell gebundene Merkmale, darunter die Sprachenwahl. Es konnte gezeigt werden, dass bei vergleichenden Studien auf den Ausbil‐ dungsstand, d. h. vor allem auch auf den Studienabschnitt der Textproduzenten zu achten ist, da sich daran auch sprachenunabhängige, in der Schreibsoziali‐ sation begründete Unterschiede als Meilensteine definieren lassen (z. B. die all‐ mähliche Aneignung der Allgemeinen Wissenschaftssprache bei Studierenden mit Deutsch als L1 und L2 ). Somit wäre auch die Bewertung von Schreib‐ schwierigkeiten in der fremden Wissenschaftssprache Deutsch spracherwerbs- und schreibprozessorientiert (Abweichungen /  Varianten auch als Indikator für bereits Erlerntes oder für einen kreativen Umgang mit den zu bearbeitenden Inhalten usw.). Das mitgebrachte Textsorten(vor)wissen aus der L1 könnte somit durch bestimmte Aufgabentypen, die in der Schreibsozialisation der Ausgangs‐ kultur frequent(er) und somit vertraut sind, produktiv eingesetzt werden. Daher ist ein reflektierter Umgang mit schreibdidaktisch motivierten Übungen zum Textsortenwechsel durch Sprachenwechsel (z. B. konkret die dissertation auf Deutsch oder die contraction croisée, aber auch das ‚wissenschaftliche code-swit‐ ching‘ im Allgemeinen) in der fremden Wissenschaftssprache und -kultur anzustreben. Das setzt jedoch eine interkulturelle Schreibdidaktik im Hoch‐ schulbereich voraus, die auch fächerübergreifend (und nicht nur in den Fremd‐ sprachendidaktiken) verankert ist. Die methodischen Herausforderungen in der Praxis sind also auf mehreren Ebenen angesiedelt: Neben dem institutionell begründeten Sprachenwechsel aufgrund mehrerer Studiensprachen ist nicht nur die Art des Inputs, sondern auch die individuelle Wissensverarbeitung entscheidend. Durch die rezipierten Texte in Mündlichkeit (Vorlesungen, Seminargespräch u. Ä.) und Schriftlichkeit (Seminarlektüre, Forschungsliteratur usw.) in mehreren Sprachen, die je nach Lehrveranstaltung und Dozent auch bewusst wählbar sind, ist die Aneignung von interkultureller wissenschaftlicher Text- und Schreibkompetenz auch immer eine soziale Praxis. Daher muss bereits in der Lehre, insbesondere in grenzüberschreitenden, mehrsprachigen Studiengängen (u. a. in der UniGr) eine noch höhere „academic cultural awareness“ (neben der „academic language awareness“) entwickelt werden. Durch Lerner-Tandems oder auch peer-review kann über den ‚Zwi‐ schenschritt‘ des Mentorings in einem Cross-cultural-Kontext die Symmetrie in einer sozialen, interkulturell orientierten Gruppe hergestellt und die Asymme‐ trie zwischen Experten und Studierenden zumindest teilweise aufgehoben werden. Dies führt zwangsläufig auch zu einer wissenschaftssprachlichen Be‐ 351 Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs wusstheit, die über das reine Auflisten synonymer Formulierungsmuster und ihrer ‚Entsprechungen‘ in der Ausgangssprache hinausgehen muss. In interkultureller Perspektive sollten auch solche Textkonventionen ange‐ strebt werden, die das Prinzip der Diskursgemeinschaften berücksichtigen, damit auf längere Sicht auch neue mehrsprachige sowie Cross-cultural-Dis‐ kurstraditionen entstehen. Bei einem solchen Perspektivenwechsel wäre dann auch Platz für die Frage von Text- und Stilmustern in Abhängigkeit von der jeweiligen Sprache. Erste Best-Practice-Beispiele kann die UniGR bereits jetzt mit ihren mehr‐ sprachigen Schreibpraxen und Formaten der Seminarorganisation liefern. In diesem Zusammenhang sind auch die obligatorischen Einführungswochen‐ enden im Studiengang „BorderStudies“ zu nennen, bei denen die fachlichen In‐ halte und Erwartungen der beteiligten Fächer (somit auch der beteiligten Uni‐ versitäten und ihrer Sprachen) vorgestellt werden und, nicht nur im Sinne einer interkulturellen Hochschuldidaktik, sondern auch einer „small culture“, ein Workshop für Studierende zu Unterschieden in den Wissenschaftskulturen an‐ geboten wird, der ‚grenzüberschreitend‘ auch von Lehrpersonen besucht wird. Hier müsste allerdings beim jeweiligen einzelsprachlichen Verständnis von Wissenschaftlichkeit und den daraus entstehenden Bewertungskriterien eine noch stärker interkulturelle Perspektive eingenommen werden. Literatur Adamzik, Kirsten 2001: Die Textsortengruppe Basisliteratur. In: Kirsten Adamzik: Kon‐ trastive Textologie. Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Tübingen, 49-85. 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In neuerer Zeit wird vor allem der forschungsethische Aspekt von Quellenver‐ weisen betont, und zwar im Zusammenhang mit urheberrechtlichen Fragen. Die Einhaltung gültiger Zitationskonventionen 1 ist wesentlicher Bestandteil guter wissenschaftlicher Praxis, wohingegen Plagiate und Fälschungen als wissen‐ schaftlicher Betrug bzw. wissenschaftliches Fehlverhalten in gravierender Weise gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verstoßen (vgl. Fuchs u. a. 2010: 41-43). Aus formaler Sicht haben die Autoren wissenschaftlicher Texte die je‐ weiligen Regeln der Verlage und Zeitschriften für Quellenverweise im Text und im Literaturverzeichnis zu befolgen. Die heutigen Formen und Funktionen von Zitationskonventionen haben sich jedoch erst im Laufe der Zeit herausgebildet (s. a. Bazerman 1988: 164-169; Ja‐ kobs 1999: 231-234; Salager-Meyer 1999). Jakobs (1993: 389) bezeichnet es als „wünschenswert, die Entstehung aktueller Muster aus ihrer zeitlich-sozialen Entwicklung nachvollziehen zu können, da Musterbildung und -wandel durch die Herausbildung und Wertung geistigen Eigentums in einer Sprach- und Kul‐ turgemeinschaft in hohem Maße bedingt und beeinflußt sind“ und plädiert für diachrone Untersuchungen, um somit Einblicke in die „Entstehung und Verän‐ derung gesellschaftlicher Normen und Werte etc.“ zu gewinnen. Im vorliegenden Beitrag soll der Entwicklung von Zitationskonventionen in medizinischen Originalarbeiten der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW) von 1884 bis 1999 nachgegangen werden. Zunächst wird auf die heute gültigen Formen von Textbezügen und ihre forschungsethische Bedeutung ein‐ gegangen, wonach die Forschungsfragen für die vorliegende Studie abgeleitet werden. Material und Methoden vorliegender Untersuchung werden in Kapitel 3 beschrieben und die Ergebnisse in Kapitel 4 vorgestellt und diskutiert. In Ka‐ pitel 5 werden die Ergebnisse im Lichte redaktioneller Entscheidungen der DMW zusammenfassend diskutiert. 2 Zitationskonventionen aus formaler und forschungsethischer Sicht Für Titelangaben und die Zitierung von Internetressourcen gibt es heute strenge Regeln, wie z. B. die vom Deutschen Institut für Normung erlassene DIN ISO 690 (2013). Die Form von Quellenverweisen kann zwar nach Zeitschrift oder Verlag variieren, die jeweiligen Regeln sind jedoch in jedem Falle stringent einzuhalten. Kurzbelege im fortlaufenden Text kommen nach Jakobs (1998: 195) heute je nach Fachgebiet und Textsorte in funktional dafür reservierten Textteilen vor (Quellenverweise zur Aufarbeitung des Forschungsstandes beispielsweise meist in Einleitung, Zusammenfassung und /  oder Literaturüberblick). Im Literatur‐ verzeichnis sind exakte bibliografische Angaben zu machen, anhand derer die herangezogenen Quellen auch auffindbar und ihre Inhalte somit überprüfbar sind. Eine Übersicht über verschiedene Zitierstile naturwissenschaftlicher Ar‐ beiten im Literaturverzeichnis stellten Böhme und Tesch (2014: 854-855) zu‐ sammen. Die formalen Regeln dieser Zitierstile (u. a. DIN ISO 690, Harvard, 358 Sabine Ylönen 2 Pieth und Adamzik (1997) stellten in ihrer Studie von Anleitungstexten für Studierende der Germanistik und Romanistik an Universitäten der deutschen und französischen Schweiz (also in Kontexten mit unterschiedlichen Sprachkulturen) auch kulturspezifi‐ sche Unterschiede im Textsortenspektrum fest: Während in der Germanistik rund zwei Drittel des im Grundstudium verteilten Materials „auf forschungsaufbereitende Lite‐ ratur und Hilfsmittel für die wissenschaftliche Arbeit wie Bibliographien, Nachschla‐ gewerke, […] oder auch Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten“ entfallen, machten diese Textsorten in der französischen Romanistik weniger als 20 Prozent aus (vgl. Pieth /  Adamzik 1997: 32). Vancouver, Elsevier, Springer usw.) für verschiedene Textsorten (z. B. Zeitschrif‐ tenaufsatz, Monografie, Website usw.) unterscheiden sich insgesamt nur ge‐ ringfügig. Ähnliche Regeln für sozialwissenschaftliche Arbeiten wurden von der American Psychological Association (o. J.) entwickelt und dieser APA-Stil er‐ freut sich z. B. auch in den Geisteswissenschaften zunehmender Beliebtheit. Böhme und Tesch (2014: 857) konstatieren, dass sich in absehbarer Zeit kein einheitlicher Zitierstandard durchsetzen wird und es letztendlich darauf an‐ kommt, eine eindeutige, einheitliche und nachvollziehbare Zitierweise zu verwenden. Aus forschungsethischer Perspektive ist konventionsgemäßes Zitieren wesentlicher Bestandteil guter wissenschaftlicher Praxis. Einen Katalog wis‐ senschaftlichen Fehlverhaltens, zu dem u. a. die Verletzung geistigen Eigentums (z. B. durch Plagiate oder Ideendiebstahl) gehört, wurde in Deutschland jedoch erst Ende des 20. Jahrhunderts von der Deutschen Forschungsgemeinschaft for‐ muliert, nachdem ein Fälschungsskandal publik geworden war, bei dem zwei prominente Krebsforscher Drittmittel aufgrund von Fälschungen erhalten hatten (DFG 2013: 6, 13; Finetti /  Himmelrath 1998; Fuchs u. a. 2010: 42). Ursachen für zunehmendes wissenschaftliches Fehlverhalten (Fälschungen und Plagiate) werden u. a. in dem wachsenden Konkurrenz- und Publikations‐ druck gesehen („publish or perish“) (vgl. Wakolbinger 2013), denn lange Publi‐ kationslisten sind Voraussetzung für eine wissenschaftliche Karriere und die Einwerbung von Drittmitteln. Neben intendiertem Plagiieren kann auch nicht-intendiertes Plagiieren vorkommen, was i. d. R. auf fehlenden Fertigkeiten wissenschaftlichen Schreibens basiert. Zwar gibt es schon lange zahlreiche An‐ leitungen für wissenschaftliches Schreiben (z. B. Poenicke 1988; Niederhauser 2000; Franck 2004) und von universitären Instituten für Studierende verfasste Merkblätter (vgl. Pieth /  Adamzik 1997), 2 in denen besonderes Augenmerk auf die Einhaltung formaler Zitationskonventionen gelegt wurde, aber in neuerer Zeit werden an Universitäten und Forschungseinrichtungen zunehmend eigene wissenschaftsethische Richtlinien und Anleitungen zum angemessenen Zi‐ tieren im Internet veröffentlicht (z. B. Böck u. a. 2010; Sturm u. a. 2017; Univer‐ 359 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens 3 Eine Liste deutscher Dissertationen mit Plagiaten findet sich auf Wikipedia: https: / / de .wikipedia.org/ wiki/ Liste_deutscher_Dissertationen_mit_Plagiaten [17.03.2019] sität Frankfurt a. M. o. J.; Universität Hildesheim, o. J.; Universität Leipzig, o. J.a; Universität Wien o. J.). Die Formulierung derartiger verbindlicher Regeln guter wissenschaftlicher Praxis an Hochschulen und außeruniversitären Forschungs‐ instituten war eine der Empfehlungen der DFG (1998: 16). Digitale Medien er‐ leichtern sowohl das Plagiieren (Copy-Pasten) als auch die Detektion von Pla‐ giaten mittels spezieller Software oder Plattformen, die Schwarmintelligenz nutzen (z. B. WikiPlag, o. J.; VroniPlag, o. J.). Prioritätenstreitigkeiten gab es auch in früheren Jahrhunderten (Merton 1972b: 121-124), wie den zwischen Leibniz und Newton (Bulirsch 2013), aber erst in den letzten Jahrzehnten gelangten Fälle prominenter Politiker, denen der Doktortitel entzogen wurde, ins öffentliche Bewusstsein. 3 Plagiieren ist nicht nur eine Urheberrechtsverletzung, sondern auch Betrug im doppelten Sinne: an denen, die den Leistungsnachweis vergeben, und an Dritten, die „eine Leistung erbringen, weil der Plagiierende scheinbar eine Leistung nachweisen kann“, wie z. B. Vorteile auf dem Arbeitsmarkt (Plümper 2012: 164-165). Im Wissenschaftsbetrieb spielen Quellenverweise eine wesentliche Rolle zur Würdigung der Urheber wissenschaftlicher Arbeiten, da wissenschaftlicher Ethik gemäß die Rechte an ‚intellektuellem Eigentum‘ auf ein Minimum redu‐ ziert sind und sich auf deren Anerkennung und Wertschätzung beschränken (Merton 1972a: 51). Eine Form höchster Anerkennung seien Eponyme, mittels derer die Leistungen einzelner Forscher verewigt und verehrt werden: „An erster Stelle der ungeheuer vielfältigen Formen der Anerkennung, die es schon lange gibt, steht die Eponymie [Fußnote], die Benennung von Entdeckungen nach ihrem Entdecker, z. B. das Kopernikanische System, das Hookesche Gesetz, die Planck‐ sche Konstante, der Halleysche Komet. So gehen Wissenschaftler unauslöschlich in die Geschichte ein; ihre Namen werden Bestandteile der Wissenschaftssprache auf der ganzen Welt.“ (Merton 1972b: 130) „Die Eponymie ist die älteste und vielleicht prestigeträchtigste Art der Anerkennung, die in der Wissenschaft institutionalisiert ist.“ (ebd.: 133). Was Weinrich (1995: 3) als Veröffentlichungsgebot bezeichnet, nennt Merton (1972a: 51) Veröffentlichungszwang: „Der Zwang zur Verbreitung von Resul‐ taten wird […] durch den Anreiz der Anerkennung verstärkt, die natürlich von der Veröffentlichung abhängt“. Die Karriere und Reputation einer Wissen‐ schaftlerIn hängen einerseits von der Art und dem Umfang ihrer Publikationen ab, und andererseits davon, wie häufig und wo sie selbst zitiert wird. Publika‐ 360 Sabine Ylönen 4 Im Folgenden wird mehrfach auf Christian Staehrs Texte verwiesen, die identisch sind mit den in der ersten Auflage der Thieme-Chronik „Spurensuche“ unter seinem Namen veröffentlichten. In der neuen Auflage von 2011 („Spurensuche - Zukunftswege“) wurden auf den Seiten 1-111 Staehrs Texte aus der ersten Auflage von 1986 über‐ nommen und durch Texte von Mechthild Hempe und Anne-Katrin Döbler (S. 112-133) ergänzt. Aus diesem Grund betone ich, dass es sich um Staehrs Texte handelt, auch wenn die neue Ausgabe von drei Autoren stammt. tionen elektronischer Indexierung und deren Impact Factor (IF) spielen heute eine große Rolle bei der Bewertung wissenschaftlicher Leistungen (vgl. Ylönen 2011: 12 f.). Aus diesem Grund kam es unter anderem zu dem Aufschwung des Englischen als Lingua franca der Wissenschaften, denn natürlich sind die Re‐ zeptions- und Verbreitungsmöglichkeiten von Lingua-franca-Publikationen we‐ sentlich größer als von in anderen Nationalsprachen verfassten Veröffentli‐ chungen. Auf der anderen Seite tragen Publikationen von Autoren „großer Namen“ zur Reputation der Zeitschriften und Verlage, in denen sie er‐ schienen sind, bei. Die Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW) erlebte beispielsweise 1890 einen enormen Aufschwung, nachdem Robert Koch dort seinen Artikel über „[…] ein Heilmittel gegen Tuberculose“ veröffentlichte (Staehr u. a. 2011: 23). Die Abonnentenzahl der Zeitschrift verdoppelte sich daraufhin innerhalb eines Monats und in der Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen des Thieme- Verlags wird betont, dass der Name des Verlags dadurch weltbekannt wurde (ebd.: 27). Allerdings stellte sich bald heraus, dass das Tuberkulin lediglich ein Frühdiagnostikum, aber kein Therapeutikum war. In der Chronik des Thieme- Verlags konstatierte Staehr 4 dazu: „Ob die Tuberkulin-Erstveröffentlichung Robert Kochs, die ja nicht einmal die Zu‐ sammensetzung des Impfstoffs benannte, auch keine statistischen Zahlen aufwies, heute in die DMW Einlass gefunden hätte, ist zu bezweifeln. Erst 70 bis 80 Jahre später sollte es in Deutschland einen Ehrenkodex für Medizin-Journalisten geben, der auf die soziale Verantwortung beim Veröffentlichen neuer Medikamentenwirkungen auf‐ merksam macht (befolgt wird dieser Kodex bis heute nicht ausreichend).“ (Staehr u. a. 2011: 26) Die Ursachen für diese Falschmeldung lagen zum großen Teil im Vertrauen auf den Wissenschaftler Koch, der wiederum von Wunschdenken geleitet sein mochte. Wissenschaftliche Artikel wurden früher noch nicht doppelblind be‐ gutachtet oder überhaupt redaktionell überprüft und bearbeitet. In der DMW wurden redaktionelle Bearbeitungen erst in den 50er Jahren eingeführt, worauf 361 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens Staehr unter der Überschrift „Verbitte mir diese Eingriffe in mein Manuskript“ hinweist: „Zornige Autoren erlebte auch die Redaktion der DMW, als diese in den 50er Jahren damit begann, Manuskripte zu straffen und stilistisch zu überarbeiten. ,Diese Schul‐ meisterei lasse ich mir nicht gefallen! ‘ schrieben Ordinarien an Dr. Walter von Brunn, der seit 1953 die Redaktionsarbeit in Stuttgart übernommen hatte. ,Eingriffe in mein Manuskript verbitte ich mir ausdrücklich‘, so warnten andere Autoren vorsorglich, und von dem Pathologen Prof. Doerr sind Briefe erhalten, in denen er um jedes Komma mit der Redaktion der DMW rang.“ (Staehr u. a. 2011: 100) So, wie sich die redaktionelle Bearbeitung wissenschaftlicher Texte und Gut‐ achtachterverfahren erst im Laufe der Zeit entwickelten, änderte sich auch die Art und Weise intertextueller Praktiken, d. h. wie implizit und explizit wissen‐ schaftliche Texte sich überhaupt aufeinander beziehen und aufeinander auf‐ bauen. Laut Bazerman (1988: 154) änderten sich diese intertextuellen Praktiken bereits im 19. Jahrhundert, was die Entwicklung moderner Zitationspraktiken einleitete. In einer früheren Untersuchung zur Entwicklung von Textsortenkonventi‐ onen in Originalarbeiten der DMW (Ylönen 2001) konnte festgestellt werden, dass sich der Stil wissenschaftlichen Schreibens vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts von einem eher persönlichen und anschaulichen zu einem unpersönlicheren und sachbetonteren Stil entwickelte. Beispielsweise wurde in frühen Originalarbeiten häufig auf eigene ärztliche Erfahrungen ver‐ wiesen und persönliche Details aus Krankengeschichten wurden zur Illustration der Argumentation herangezogen. Ende des 20. Jahrhunderts waren die Origi‐ nalarbeiten dagegen stark schematisiert (nach dem IMRAD-Schema) und ba‐ sierten auf statistisch ausgewerteten Behandlungsergebnissen größerer Patien‐ tengruppen. Eine erste Durchsicht älterer und neuerer Originalarbeiten zeigte deutlich, dass frühe Texte kaum Quellenverweise und keine Literaturverzeich‐ nisse hatten, während neuere Texte standardmäßig exakte Quellenverweise im Text sowie zugehörige Literaturverzeichnisse enthalten. Wie es zur Entwicklung heutiger Zitationspraktiken in Originalarbeiten der DMW vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts kam, soll im Folgenden untersucht werden. Aus diachroner Sicht soll folgenden Fragen nachgegangen werden: 1. Wie und wann erfolgte die Entwicklung von eher vagen zu eindeutigen, 1. einheitlichen und nachvollziehbaren Quellenverweisen in Originalar‐ beiten der DMW? 362 Sabine Ylönen 2. Wie umfangreich waren Quellenverweise in den Arbeiten der unter‐ 2. suchten DMW-Jahrgänge und auf in welchen Sprachen erschienene Ar‐ beiten wurde verwiesen? Im nächsten Kapitel werden die DMW, das Untersuchungsmaterial und die Me‐ thoden der Untersuchung kurz vorgestellt. 3 Material und Methoden Die DMW wurde 1875 von Paul Börner als Zeitschrift für Allgemeinmedizin nach dem Vorbild der seit 1823 in London erscheinenden The Lancet gegründet. Es handelt sich um eine Zeitschrift, deren Anliegen bis heute in der Förderung des Einheitsgedankens der Medizin (und damit Eindämmung des Spezialisten‐ tums) sowie in der Information niedergelassener Ärzte über Theorie und Praxis wissenschaftlicher Medizin besteht. Sie war eine der führenden medizinischen Zeitschriften während der Blütezeit der deutschen Medizin um die Wende zum 20. Jahrhundert, die mit einer Unterbrechung der Kriegsjahre 1944-45 bis heute in deutscher Sprache publiziert und seit 1989 auch online erscheint (s. a. Ylönen 2001: 146-155). Für die vorliegende Studie wurden als Untersuchungsmaterial 80 Original‐ arbeiten der DMW von 1884-1999 verwendet (s. Ylönen 2001: 309-314, Anhänge B und C). Dabei handelt es sich um je 10 Artikel im Abstand von 20 Jahren bis 1984, mit Ausnahme des Jahres 1943 (da die Zeitschrift im Kriegsjahr 1944 nicht erschien) sowie zusätzlich je zehn Artikel von 1989 und 1998 /  99. Originalar‐ beiten wurden gewählt, weil sie als die geachtetste Publikationsform gelten. Für alle im Folgenden angeführten Beispiele wird die Quelle durch die Nummer der Artikel mit römischen Zahlen I-X gefolgt von der Jahreszahl (z. B. III/ 1943) markiert (wie im Anhang C von Ylönen 2001: 311-314). Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage, wie und wann es zur Ent‐ wicklung eindeutiger, einheitlicher und nachvollziehbarer Quellenverweise kam, wurden induktiv in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse von May‐ ring (2015) zwei Kategorien gebildet: 1) Vage Quellenverweise und 2) Exakte Quellenverweise. Die Entwicklung der Eindeutigkeit, Einheitlichkeit und Nach‐ vollziehbarkeit der Literaturangaben im Laufe der Zeit wird abschließend ver‐ glichen mit der Entwicklung der Autorenhinweise der DMW. Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage nach dem Umfang und den Sprachen der zitierten Quellen wurden nur die exakten Literaturverweise aus‐ gezählt. Für den Umfang exakter Quellenangaben wurden Mittelwerte und Me‐ diane berechnet, um diachrone Tendenzen sowie Symmetrien /  Asymmetrien in der Streuung der Anzahl von Literaturangaben über unterschiedliche Texte pro 363 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens 5 Für Hilfe bei der Ermittlung der Publikationen danke ich der Bibliothekarin Terttu Su‐ honen. Jahrgang feststellen zu können. Zur Ermittlung der Publikationssprachen wurde zunächst der ITA-Katalog (Internationale Titelabkürzungen) der Bibliothek der Universität Jyväskylä 5 herangezogen (Leistner /  Becker 1993), da die Publika‐ tionen in den Literaturverzeichnissen häufig abgekürzt waren. Die Sprachen der zitierten Quellen wurden anschließend durch weitere Recherchen in den so identifizierten Publikationen ermittelt. Die originalen Hervorhebungen (durch Sperrdruck, Großbuchstaben oder Fettdruck) wurden in den zitierten Beispielen beibehalten. Teilweise wurden Hervorhebungen durch Fettdruck verwendet, um auf bestimmte Analyseergebnisse aufmerksam zu machen. Diese wurden dann durch „Fettdruck S. Y.“ gekennzeichnet. 4 Ergebnisse 4.1 Entwicklung des Gebrauchs eindeutiger, einheitlicher und nachvollziehbarer Quellenverweise Eindeutige, einheitliche und nachvollziehbare Quellenangaben gehören heute zu den Grundanforderungen guten Wissenschaftsstils. Bei der Durchsicht der Texte fiel sofort auf, dass dies keinesfalls auf frühe Originalarbeiten zutraf, die noch keine Literaturverzeichnisse, aber regelmäßig vage Quellenverweise ent‐ hielten. Aus diesem Grund wurde als erstes die Vagheit und Exaktheit von Quellenverweisen in allen 80 Artikeln geprüft. Zu vagen Quellenverweisen in Originalarbeiten der ältesten untersuchten Jahrgänge gehörten namentliche Verweise auf Kollegen ohne genaue Quellen‐ angabe („aus den früheren Arbeiten von Spatz und Hermann“ - VII/ 1884), z. T. mit Angabe des Wirkungsortes der Kollegen [„namentlich Seitz (Zürich) und Münziger (Tübingen)“ - VII/ 1884] sowie andere vage Verweise pauschalerer Art. Zu diesen anderen vagen Verweisen pauschalerer Art zählten solche, die auf eigene Erfahrungen und Ergebnisse Bezug nahmen, ohne eine exakte Quelle anzugeben („sowohl nach meinen Erfahrungen als auch nach meinen pharma‐ cologischen Untersuchungen“ - VIII/ 1884), sowie vage Verweise auf Kollegen und frühere Studien, die nicht namentlich genannt wurden („die Mehrzahl der Forscher“ - VII/ 1884 und II/ 1924, „viele Beobachtungen“ - X/ 1884, „die Patho‐ logie unserer Tage“ - IX/ 1884). Als exakte Quellenverweise wurden solche aufgenommen, die neben dem Namen des Autors /  der Autoren auch zumindest den Titel der Zeitschrift oder des Sammelbandes und das Erscheinungsjahr seiner Arbeit, bei Monographien 364 Sabine Ylönen deren Titel enthielten. Außerdem wurden auch Eponyme (Gattungsbegriffe, die sich aus Personennamen herleiten) zu exakten Quellenverweisen gezählt, weil es sich hier um eine institutionalisierte Form höchster Anerkennung von Ur‐ heberrechten wissenschaftlicher Leistungen handelt (Merton 1972b). Auffällig war, dass es in früheren Jahrgängen noch keine einheitliche Zitati‐ onsweise für exakte Quellenverweise gab, weshalb sich eine Klassifizierung nach dem Ort ihres Vorkommens (im Text, in Fußnoten, in Literaturverzeich‐ nissen) anbot. Insgesamt wurden also zwei Kategorien (1. vage Quellenverweise und 2. Ex‐ akte Quellenverweise) und sechs Unterkategorien gebildet: 1a) namentliche Verweise auf Kollegen, 1b) andere vage Verweise, 2a) Literaturverzeichnisse, 2b) Fußnoten mit Literaturverweisen, 2c) Literaturverweise nur im Text und 2d) Eponyme (s. Tab. 1). Beispiel Unterkategorie Kategorie „Während die Mehrzahl der For‐ scher sich sehr vorsichtig über diesen Punkt äußert, haben u. A. namentlich S e it z (Zürich) und M ü n z in g e r (Tübingen)* eine mässige Zahl von Beobachtungen beigebracht, […].“ (VII/ 1884) a) Namentliche Verweise auf Kollegen 1. Vage Quellen‐ verweise „Während die Mehrzahl der For‐ scher* sich sehr vorsichtig über diesen Punkt äußert, haben u. A. namentlich S e i t z (Zürich) und M ü n z i n g e r (Tübingen) eine mäs‐ sige Zahl von Beobachtungen bei‐ gebracht, […].“ (VII/ 1884) b) Andere vage Verweise Im Text: „Vor einiger Zeit berich‐ teten wir über die diagnostische Be‐ deutung von Gefäßgeräuschen über der Arteria carotis (1). […] Literatur (1) Haan, D.: Z. Kreisl.-Forsch. 52 (1963), 384, 391. a) Literaturverzeichnisse 2. Exakte Quel‐ lenverweise 365 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens (1) (2) (2) Lian, C.: Actualités cardiol. 10 (1961), 89. (3) Stapleton, J. F., M. M. El- Hajj: Amer. Heart. J. 61 (1961). 178.” (V/ 1964) Im Text: „Ebensowenig, wie G u tt m a n n¹*, […] Als Fußnote: ¹Berliner klin. Wo‐ chenschrift 1883, No. 31.“* (VI/ 1884) b) Literaturverweise in Fußnoten „Z e h e n d e r (Die Blinden in den Grossherzogthümern Mecklen‐ burg. Rostock 1871)* fand unter 560732 Einwohnern 480 Blinde und unter diesen 9, welche durch Blen‐ norrhoea neon. und 53, welche im ‚ersten Lebensjahr‘ erblindet waren.“ (I/ 1884) c) Literaturverweise nur im Text „Wassermannsches Tuberkulo‐ seantigen“* (IV/ 1924) d) Eponyme Tab. 1: Kategorien und Unterkategorien vager und exakter Quellenverweise *Fettdruck S. Y. Vage Quellenverweise kamen in den untersuchten Originalarbeiten der DMW vereinzelt sogar bis 1984 vor (s. Beispiele 1 und 2). „Der Index der alkalischen Leukozytenphosphatase war mit 4 erniedrigt, Philadelphia-Chromosom (Ph1) war positiv (Prof. Dr. Fliedner, Ulm).“ (IV/ 1984; Fettdruck S. Y.) „Die überwiegende Mehrzahl der bisher vorliegenden epidemiolo‐ gischen Studien stützt sich auf Untersuchungen von zwei Markern, näm‐ lich HBs-Antigen und anti-HBs, wobei in den vergangenen Jahren ver‐ schiedene und damit auch unterschiedlich empfindliche analytische Methoden verwandt wurden.“ (II/ 1984; Fettdruck S. Y.) Schaut man sich das prozentuale Vorkommen vager Quellenverweise in Origi‐ nalarbeiten von 1884-1999 an (s. Abb. 1), so kann festgestellt werden, dass na‐ 366 Sabine Ylönen Abb. 1: Entwicklung von Zitationskonventionen am Beispiel vager Quellenverweise in Originalarbeiten der DMW von 1884-1999 (zehn Artikel pro Jahrgang) mentliche Verweise auf Kollegen in den Jahren 1884 (90 %) und 1904 (in allen zehn untersuchten Artikeln) besonders verbreitet waren und danach kontinu‐ ierlich abnahmen: 1924 und 1943 kamen sie in 70 %, 1964 in der Hälfte und 1984 nur noch in 4 von zehn Artikeln vor. Andere vage Verweise pauschalerer Art kamen ab 1989 zwar ebenfalls überhaupt nicht mehr vor, zeigen aber nicht so eine kontinuierlich abnehmende Tendenz wie die namentlichen Erwähnungen von Kollegen ohne genauere Quellenangabe. Am häufigsten traten sie 1924 auf (in 80 % der Artikel), am seltensten 1963 (in 20 % der Artikel). 1884, 1943 und 1984 waren sie in vier von zehn Artikeln zu finden. Wie sich das Vorkommen exakter Quellenverweise in Originalarbeiten der DMW von 1884 bis 1999 entwickelt hat, ist in Abbildung 2 dargestellt. Literaturverzeichnisse am Ende der Texte traten regelmäßig erst seit 1964 in allen Originalarbeiten auf. Während es in frühen Arbeiten von 1884 noch gar keine Literaturverzeichnisse, 1904 in nur einem und 1924 in drei von zehn Texten gab, kamen sie 1943 bereits in sieben von zehn Texten vor. Der Anteil von Originalarbeiten mit Literaturverzeichnissen stieg also kontinuierlich. Für exakte Literaturverweise nur im Text wurde dagegen eine kontinu‐ ierlich abnehmende Tendenz festgestellt. Sie kamen insgesamt selten und nur bis 1964 vor: 1884 in drei, 1904 in zwei und 1924, 1943 und 1964 in je einem von zehn Texten. Exakte Literaturverweise in Fußnoten kamen ebenfalls bis 1964 vor. Sowohl 1884 als auch 1964 wurden sie in zwei von zehn Texten fest‐ gestellt, bis in die zwanziger Jahre war ihr Anteil höher (1904 in der Hälfte und 1924 in vier von zehn Texten) und 1943 niedriger (in nur einem von zehn Texten). 367 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens Abb. 2: Entwicklung von Zitationskonventionen am Beispiel exakter Quellenverweise in Originalarbeiten der DMW von 1884-1999 Insgesamt war die Angabe exakter Quellenverweise in Fußnoten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre üblicher als später. Eponyme kamen in drei bis sieben von zehn untersuchten Originalien aller Jahrgänge vor, ohne dass eine kontinuierlich ab- oder zunehmende Tendenz festgestellt werden konnte. Mit Eponymen wurden beispielsweise Krank‐ heiten bezeichnet („Kernersche Wurstvergiftung“ - III/ 1924, „Raynaud-Gan‐ grän“ - X/ 1924, „Acrodermatitis chronica atrophicans (Herxheimer)“ - I/ 1984, „Letterer-Siwesche Erkrankung“ - VI/ 1989), Symptome („Adams-Stokessche Anfälle“ - IX/ 1964, „DiGeorge-Syndrom“ - IX/ 1999), Untersuchungsme‐ thoden („Heller’sche Blutprobe“ - IV/ 1904, „Bianchische Friktionsmethode“ - VIII/ 1904), technische Geräte („Königsches Hörrohr“ - VIII/ 1904, „Tagarno- Projektor“ und „Judkins-Katheter“ - VIII/ 1984), Behandlungen („Mosersches Heilverfahren“ - II/ 1904, „Nauheimer Bäder“ - X/ 1904, „Karell-Kur“ - VIII/ 1924, „Talmasche Operation“ - VIII/ 1943), mikrobiologische, biochemische und histologische Phänomene („Aronson’sches Scharlach-Streptokokkenserum“ - II/ 1904, „Streptokokken der Lancefield-Gruppe“ - VIII/ 1964, „Bence-Jones- Protein“ - VI/ 1964, „Langerhanssche-Zellen“ - VI/ 1989) und anatomische Be‐ griffe gebildet („Waldeyerscher ‚Rachenring‘“ - I/ 1924, „Valleixsche Druck‐ punkte“ - III/ 1943). An der Art der Eponyme können auch paradigmatische Änderungen medizinischer Forschung abgelesen werden, wie die Prüfung der Ergebnisse in statistischen Tests (Eponyme in diesem Zusammenhang kamen in den untersuchten Artikeln ab 1989 vor: „Mann-Whitney-Wilcoxon-Test“ - II/ 1989, „Pearsonscher Korrelationskoeffizient“ - VII/ 1989). Neu ab 1989 war auch das Vorkommen von Eponymen nach kollektiven Urhebern („NYHA-Klassifi‐ 368 Sabine Ylönen (3) (4) kation“ - VIII/ 1989 - eine Klassifikation von Herzkrankheiten nach der New York Heart Association). Eponyme werden im Folgenden nicht weiter behandelt, da es sich bei ihnen um Gattungsbezeichnungen handelt, die zwar die Urheber würdigen, für die sich genauere Literaturangaben aber erübrigen. Quellenverweise mit genaueren Literaturangaben fehlten in den älteren Ori‐ ginalarbeiten bis 1943 häufig oder waren, sofern vorhanden, weder einheitlich noch (aus heutiger Sicht) eindeutig und nachvollziehbar formuliert. Ein Grund für das Fehlen exakter Quellenangaben in vielen frühen Original‐ arbeiten mag sein, dass sie auf mündlich gehaltenen Vorträgen beruhten. Solche Fälle traten bis 1943 auf. Bei dem Text VIII/ 1943 über „Die schwielige Perikarditis und ihre Behandlung“ handelte es sich beispielsweise um so einen Abdruck eines Vortrags, worauf in einer Fußnote zum Titel des Beitrags hingewiesen wurde („*Vortrag, gehalten in der Sitzung der Berliner Medizinischen Gesellschaft am 9. XII. 1942“). Im Text verweist der Autor, Fr. Koch, auf zahlreiche Namen, macht aber keine Literaturangaben, weder im Text, noch in Fußnoten, und auch ein Literaturverzeichnis gab es nicht (s. Beispiel 3). „Es waren 3 deutsche Kliniker, die unsere Kenntnisse ganz wesentlich för‐ derten: der Prager Kliniker Friedel P I C K , der heutige Senior der Inneren Medizin B R A U E R und mein Lehrer V O L H A R D . […] Erst der vorletzte Fall, den mir S A U E R B R U C H vor 14 Tagen operiert hat, hat mir diese Lücke eindrucks‐ voll gezeigt […]“ (VIII/ 1943) In einem mündlichen Vortrag vor Fachpublikum sind derartige Verweise, die von Hochachtung den genannten Personen gegenüber zeugen, auch heute durchaus vorstellbar, in einer schriftlichen Originalarbeit eher nicht. Die drucktechnische Art der Hervorhebung von Namen in S p e r r d r u c k oder in V E R S A L I E N war bis in die 1940er Jahre die einzige einheitliche Markie‐ rung von Quellenverweisen. Bis 1924 wurde S p e r r d r u c k (s. Beispiel 2 und Tab. 1) und 1943 G R O S S B U C H S T A B E N (mit größerem Anfangsbuchstaben) zur Hervor‐ hebung verwendet, und zwar sowohl im Text als auch in Fußnoten oder im Literaturverzeichnis (LV, s. Beispiel 4). „Der Begriff des in der Überschrift genannten Leidens wurde von H O F F A geprägt, der die betreffenden Veränderungen am Stütz- und Bewegungs‐ apparat in seiner „Technik der Massage“ beschreibt. LV: H O F F A , Technik der Massage. — Ders., Orthopädische Chirurgie. — […]“ (VI/ 1943) Dass die Namen der Urheber in frühen Originalarbeiten durch S p e r r d r u c k oder G R O S S B U C H S T A B E N hervorgehoben wurden, und zwar unabhängig davon, 369 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens (5) (6) ob es sich um vage oder exakte Quellenangaben handelte, deutet darauf hin, dass den Urhebern der zitierten Inhalte in jedem Falle Anerkennung gezollt wurde. Ab 1964 (mit der standardmäßigen Einführung von Literaturverzeichnissen) wurden die Namen der Autoren drucktechnisch nicht mehr besonders hervorbzw. vom anderen Text abgehoben. Im Gegenteil wurden die Autoren im Text häufig überhaupt nicht mehr genannt, sondern durch Nummern in Klam‐ mern ersetzt (s. Beispiel 5). Die Nummerierung mit Buchstaben als Zusätzen (wie 24a in Beispiel 5) deutet auf nachträglich eingefügte Quellenangaben hin, da es sich bei Quelle 24 (Burchenal /  Ellison) und 24a (Calabresi /  Welch) nicht um dieselben Autoren handelt. „Für eine ausschließliche Behandlung mit diesem Antimetaboliten werden in der Literatur für Kinder allgemein gute, für Erwachsene unterschiedlich günstige Ergebnisse mitgeteilt (17, 24a, 40, 52, 56, 74).“ (I/ 1964) Dieses Nummernsystem als Zitierverfahren erinnert an das Fußnotensystem mit dem Unterschied, dass die Fußnoten fortlaufend nummeriert wurden, wäh‐ rend die Nummerierung hier nach der alphabetischen Ordnung der Namen im Literaturverzeichnis erfolgte (s. dazu weiter unten). Das Nummernsystem er‐ möglichte lange Aufzählungen von Literaturverweisen im Text, wovon 1964 ausgiebig Gebrauch gemacht wurde (s. Kap. 4.2). Es wurden aber auch Auto‐ rennamen im Text genannt, und zwar teils mit und teils ohne Angabe der Nummer in Klammern (s. Beispiel 6: Medley mit Nummernangabe, v. Albertini und Grumbach ohne Nummernangabe, obwohl im LV als Nr. 4 aufgeführt, Sa‐ phir ohne Nummernangabe - fehlt auch im LV). „Medley führte jüngst einen Fall mit doppelseitiger Chorea auf die gleich‐ zeitig nachgewiesene bakterielle Endokarditis zurück (56). […] v. Albertini und Grumbach bestritten die Artspezifität des Streptococcus viridans. Saphir konnte trotz Erweiterung auf alle Streptokokken der Lan‐ cefield-Gruppe keine Artspezifität ermitteln […]“ (VIII/ 1964) Autoren mit namentlicher Erwähnung im Text kam natürlich eine prominentere Stellung zu als solchen, die hier nur als Nummern erschienen. Deshalb ist es verwunderlich, dass für Saphir keine Literaturangabe zu finden war (s. Beispiel 6). Möglicherweise rührte das aber auch daher, dass die Texte von 1964 sehr lang waren und sehr viele Quellenverweise enthielten (Text VIII/ 1964 hatte insge‐ samt 79 Literaturangaben, 78 im LV und eine im Text), so dass es sich auch um ein versehentliches Fehlen handeln könnte. 370 Sabine Ylönen (7) (8) (9) Auch für die Lokalisierung von Quellenverweisen wurden erst im Laufe der Zeit einheitliche Konventionen geschaffen. Wie aus Abbildungen 1 und 2 hervorgeht, wurden sie an unterschiedlichen Stellen gemacht: mehr oder we‐ niger exakt nur im Text, als Kurzbeleg im Text und ausführlicher in einer Fuß‐ note oder im Literaturverzeichnis. Bis 1924 kamen exakte Literaturangaben in den untersuchten Originalar‐ beiten der DMW entweder im Text oder in Fußnoten vor. z. B. wurden mehr oder weniger exakte Quellenangaben 1884 in zwei Artikeln nur in Fußnoten und in drei anderen nur im Text gemacht. In Text I/ 1884 gab es vier Literaturangaben nur im Text (s. Beispiel 7). Sie enthielten Angaben zum Autor (nur zum Nach‐ namen), zum Buchtitel bzw. zu einem Teil des Buchtitels („etc.“), zum Publika‐ tionsort und zum Publikationsjahr. Im Text: „Bisher liegen, trotz der neuesten Arbeiten von H a u s s m a n n (Die Bindehautaffection der Neugeborenen. Berlin 1882) und M a g n u s (Die Blindheit etc. Breslau 1883) über die durch die Blennorrhoea neonat. in der gewöhnlichen Praxis verursachten Schäden weder im Allgemeinen noch bezüglich Mecklenburgs genügend eingehende Daten vor.“ (I/ 1884) In Text VII/ 1884 wurde die einzige exakte Quellenangabe in einer Fußnote ge‐ macht (s. Beispiel 8). In einer Fußnote: „In der auf Veranlassung und unter Leitung des Refe‐ renten bearbeiteten Dissertation von S c h m i d b a u e r 1) wurde der Versuch gemacht, auf Grund von genauen Wägungen und Messungen die Häufig‐ keit und die Ursachen dieser in München geradezu endemischen Herzhy‐ pertrophie ziffermässig festzustellen. […] 1) Ueber die Häufigkeit der Herzerkrankungen in München. Inaug.-Dissert. von Benno S c h m i d b a u e r. München 1883.“ (VII/ 1884) 1943 und 1964, als es mehr Quellenverweise gab (s. Kap. 4.2), variierte der Ort der Literaturangaben sogar innerhalb ein und derselben Originalarbeit. In Text I/ 1943 wurden beispielsweise genauere Quellen sowohl nur im Text (s. Beispiel 9) als auch in nummerierten Fußnoten (s. Beispiel 10) oder im alphabetisch ge‐ ordneten Literaturverzeichnis angegeben (s. Beispiel 11): Im Text: Im ganzen gesehen zeigen auch diese von S C H U L Z durchge‐ führten Untersuchungen (ref. Med. Welt 1942 H. 41), daß mit der vorzei‐ tigen Entfieberung und Lösung die Normalisierung des Stoffwechsels unter der Sulfonamidbehandlung parallel geht […]. (I/ 1943) 371 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens 6 Fußnoten, die in der DMW nur bis 1964 auftraten, wurden auf diese Weise, also vor dem Punkt am Satzende, markiert. (10) (11) (12) In einer Fußnote: Wir haben unter Berücksichtigung dieser Gesichts‐ punkte des Alters und des Therapiebeginns unser Krankengut von 2166 Fällen tabellarisch geordnet 2 . 6 2 Ein Teil des Materials ist bereits in dem Buch von D O M A G K und H E G L E R „Chemotherapie bakterieller Infektionen“, 2. Aufl., S. 213, nach einem Vortrag von B Ü R G E R vom 10. VI. 1941 in der Medizinischen Gesellschaft Leipzig niedergelegt. (I/ 1943) Im LV: Das Schrifttum über die Chemotherapie der bakteriellen Infek‐ tionen bringen D O M A G K und H E G L E R „Chemotherapie bakterieller Infek‐ tionen“, 2. Aufl. Leipzig 1942, Hirzel. — Das Schrifttum über die Chemo‐ therapie der Pneumonien findet sich in dem gleichnamigen Werk von Robert H E G G L I N „Die Chemotherapie der Pneumonien“. Leipzig 1942, Thieme. — H E I N R I C H S , Die Erfolge der Chinin- und Serumtherapie bei lobärer Pneumonie. Dissert. Leipzig 1942. — N I S S E N , Fschr. Ther. 1937 H. 2 u. 3. — V O N K E N N E L , D. m. W. 1942 Nr. 39 u. 40. — W O O D S , Brit. J. exper. Path. 1940 H. 21. (I/ 1943; Fettdruck S. Y.) In den älteren Originalien der DMW fehlten Literaturverzeichnisse offensicht‐ lich auch deshalb, weil Platz gespart werden musste. Im Literaturverzeichnis von Artikel I/ 1943 (s. Beispiel 11) wurde zusammenfassend auf das „Schrifttum“ zu bestimmten thematischen Bereichen (Chemotherapie von bak‐ teriellen Infektionen und Pneumonien) verwiesen, wobei im Artikel bereits die Autoren Domagk und Hegler genannt worden waren. In einem weiteren Artikel ohne exakte Quellenverweise (IX/ 1943) stand abschließend „Das Schrifttum kann vom Verfasser angefordert werden.“ Bereits 1924 gab es Verweise auf Platzmangel, wie in Artikel II/ 1924: „Das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis wurde aus Ersparnis‐ gründen nicht mitgedruckt.“ (II/ 1924) Dies ist vor allem ein Hinweis darauf, dass der Druck der Zeitschrift zu dieser Zeit noch wesentlich aufwändiger und teurer war als mit der Entwicklung der späteren analogen oder heutigen digitalen Setztechnik. Die Seitenzahl eines Heftes war be‐ grenzt und offensichtlich gab es auch Wartelisten: „Lange Beiträge rauben Platz. Kürzen der Redundanz ist ein Gebot der Fairness gegenüber anderen Autoren auf [sic] Warteliste.“ schreibt Staehr (Staehr u. a. 2011: 100) im Zusammenhang mit der Einführung redaktioneller Bearbeitungen. Es deutet aber auch darauf hin, dass 372 Sabine Ylönen (13) (14) einem Nachweis der Belesenheit der Autoren weniger Gewicht beigemessen wurde als ihrer Erfahrung und wissenschaftlichen Integrität. Einen ähnlichen Druck des „publish or perish“ wie heute oder eine Messung wissenschaftlicher Leistungen an Impact-Faktoren gab es zu dieser Zeit noch nicht. Bis 1943 war auch die Angabe von Quellen häufig weder eindeutig noch nachvollziehbar. Es gab beispielsweise erstens Originalarbeiten, in denen das Literaturverzeichnis Quellen enthielt, die nicht im Text erwähnt worden waren (s. o. Beispiel 11: Die im LV genannten Heinrichs und Vonkennel wurden im Text nicht erwähnt). Umgekehrt kam es zweitens auch vor, dass nicht für alle im Text genannten Urheber Quellenangaben im Literaturverzeichnis gemacht wurden (s. Beispiel 13: weder Gins noch Dilg waren im Literaturverzeichnis aufgeführt). „Bei meinen eigenen Erfahrungen an frischen Fällen einer Diphtherie‐ station, bei denen ich selbst die Abstriche vorgenommen und Präparate angefertigt habe, kam es nur sehr selten vor, daß die gleichzeitig ange‐ legten Kulturen das sofortige mikroskopische Ergebnis nicht bestätigt hätten, was mit den Angaben anderer Autoren (z. B. G IN S ) übereinstimmt. […] Meinem Mitarbeiter cand. med. D IL G , zur Zeit im Felde, wurde die Aufgabe gestellt, das F.W.-Verfahren mit den Methoden nach F O L G E R und H E L M R E I C H zu vergleichen.“ (V/ 1943; Fettdruck S. Y.) Dass Dilg nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt war, könnte daran liegen, dass dieser „Mitarbeiter“ seine Ergebnisse noch nicht publizieren konnte. Für das Fehlen einer genaueren Quelle für Gins ist dagegen keine plausible Ursache ersichtlich, da er eindeutig als Autor bezeichnet wurde. In ähnlicher Weise gab es 1884 im Text „Ueber die Häufigkeit und Ursachen der idiopathischen Herzhypertrophie in München“ (VII/ 1884) eine Statistik, für die nicht einmal der Urheber genannt wurde (s. Beispiel 14): „Was das Quantum des Bierconsums in München betrifft, so beträgt der‐ selbe pro Kopf der Bevölkerung circa 432 Liter pro Jahr. 1882 betrug der Bierconsum in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung: Im Deutschen Zollgebiet = 88 Liter In Elsass-Lothringen = 54 Liter Im Reichssteuergebiet = 62 Liter In Württemberg = 186 Liter In Bayern = 233 Liter In München (ab Ausfuhr) = 432 Liter“ (VII/ 1884) 373 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens (15) Diese Statistik (ohne Quellenangabe) führte der Autor an zur Unterstützung seiner Schlussfolgerung, „dass die in München so häufige und für das Leben gefährliche idiopathische Hyper‐ trophie und Dilatation des Herzens weder durch Myocarditis noch im Zusammen‐ hange mit Rheumatismus acutus der Gelenke erklärt werden könne, sondern als eine toxisch-functionelle Hypertrophie aufzufassen sei, bedingt durch habituellen Bier- Alcoholismus (Fußnote) und eine concurrirende Plethora.“ (VII/ 1884) Daneben gab es drittens Texte, in denen den im Text erwähnten Urhebern im Literaturverzeichnis mehrere Publikationen zugeordnet werden konnten (Bei‐ spiel 15). In solchen Fällen wurden im Text keine genaueren Angaben dazu ge‐ macht, auf welche der Publikationen sich der Verweis bezog (s. in Beispiel 15 den Verweis auf Aschoff, für den im LV zwei Quellen angegeben waren). „Allerdings sah A S C H O F F auf Grund seiner Versuche über die Wirbelbil‐ dung den Ausgangspunkt für die Thrombenbildung hauptsächlich in der Verlangsamung des Blutstromes.“ LV: “A S C H O F F , D. m. W. 1912 S. 2057 u. 2457; Pathol. Anatomie. Jena 1936, Gustav Fischer, Bd. I, S. 402.“ (X/ 1943) Ab 1964 waren solche nicht eindeutigen Quellenverweise, in denen einzelnen Autoren im LV mehrere Publikationen zugeordnet werden konnten, nur noch in Ausnahmefällen zu finden, wie in Artikel I/ 1964 (s. u. Beispiel 23, Literatur‐ quelle 10 mit vier Seitenangaben, die sich auf verschiedene Artikel desselben Autors in der Münchener Medizinischen Wochenschrift des Jahrgangs 1961 be‐ zogen). Auch für die Darstellung der Literaturverzeichnisse entwickelten sich erst im Laufe der Zeit einheitliche Konventionen, und zwar zur nummerierten und alphabetisch untereinander angeordneten Listung. 1884 gab es in keinem der untersuchten Artikel ein Literaturverzeichnis, 1904 in einem von zehn und 1924 in drei von zehn. Das LV von 1904 und ein LV von 1924 waren nummeriert, und zwar nicht alphabetisch, sondern nach der Reihenfolge der Erwähnung der Autoren im Text (ähnlich wie die Nummerierung von Fuß‐ noten). Die beiden anderen Literaturverzeichnisse von 1924 waren nicht num‐ meriert und auch nicht alphabetisch geordnet, sondern folgten ebenfalls der Erwähnung der Autoren im Text. 1943 waren die Literaturverzeichnisse in zwei Artikeln nummeriert, und zwar in einem alphabetisch und dem anderen nach ihrer Erwähnung im Text geordnet (s. Beispiel 16). Der Autor des Beitrags V/ 1943, Dr. E. Peiper, verwies auf seine eigenen Studien (nummeriert mit 1-4 nach 374 Sabine Ylönen (16) der Reihenfolge der Erwähnung im Text), während Folger (5) und Helmreich (6) im Text und im Literaturverzeichnis die Folgenummern erhielten. Nummerierung nach Erwähnung im Text: „Meine Beobachtung an Bifidusbakterien in menschlichem Frucht‐ wasser (1, 2, 3) führten mich dazu, dieses für die bakteriologischen Untersuchungen im Laboratorium heranzuziehen (4). […] Von den an‐ deren bisher beschriebenen Diphtherieschnelldiagnosen erwähne ich die 2 wichtigsten von F O L G E R (5) und H E L M R E I C H (6). […]“ LV: „1. Kl. W. 1940 Nr. 24 S. 598 - 2. Arch. Gynäk. 1941 Bd. 171 Nr. 3 S. 459. - 3. Z. Hygien. usw. 1941 Bd. 123 Nr. 2 S. 195. - 4. Zbl. Bakter. usw. 1941 Bd. 148 S. 61. - 5. W. kl. W. 1934 Nr. 47 S. 713. — 6. Kl. W. 1938 S. 910.“ (V/ 1943; alle Hervorhebungen im Orig.) In fünf Artikeln von 1943 war das LV alphabetisch geordnet, aber nicht numme‐ riert. Die alphabetische Ordnung war hier also verbreiteter, wobei man sich von der Nummerierung zu verabschieden schien. Der Trend zur alphabetischen Ordnung der Literaturverzeichnisse setzte sich weiter fort, denn 1964 waren neun von zehn Literaturverzeichnissen alphabetisch geordnet. Die Ausnahme bildete das LV in Artikel VI/ 1964, in dem die Quellen nach der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Ar‐ tikel geordnet waren. Außerdem setzte sich das Nummernsystem als Zitierver‐ fahren durch, denn alle Quellenverweise waren 1964 nummeriert. Eine Ursache dafür war mit Sicherheit, Platz zu sparen, denn nun konnten viele Literaturver‐ weise im Text als Reihung von Nummern angegeben werden (s. o. Beispiel 5). 1984, 1989 und 1998 /  99 waren alle Literaturverzeichnisse nummeriert und alphabetisch geordnet. 1964 und 1984 waren die Nummern im LV einheitlich in Klammern an‐ gegeben, 1989 und 1998 /  99 ohne Klammern. Ein weiterer Unterschied zu früheren Jahrgängen war ab 1964, dass die Quellen in den Literaturverzeichnissen unterein‐ ander (und nicht wie früher als Fließtext nebeneinander) dargestellt wurden (s. a. das Beispiel für Literaturverzeichnisse in Tab. 1). Wie ausführlich und genau die Quellenangaben in den Literaturverzeich‐ nissen waren, änderte sich ebenfalls im Laufe der Zeit. Die Titel von Zeitschrif‐ tenartikeln wurden bis 1943 nicht angegeben, sondern nur die Namen der Zeit‐ schriften und das Publikationsjahr sowie genauere Angaben zur Seite und /  oder zum Band und /  oder zur Heftnummer. Im ältesten LV des hier untersuchten Korpus, das in Artikel VII/ 1904 auftrat, waren für Beiträge aus Zeitschriften der Nachname des Autors, der Name der Zeitschrift, das Publikationsjahr und die Seite (vermutlich jene, auf die im Artikel verwiesen wurde oder die erste Seite des Beitrags) sowie uneinheitlich entweder der Band und das Heft der Zeitschrift oder das Erscheinungsdatum des Hefts angegeben. Der Name der Zeitschrift 375 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens (17) (18) (19) (20) (21) wurde dabei ausgeschrieben. Für Monographien wurden der Name des Autors, der Buchtitel, das Publikationsjahr und die Seite (auf die im Beitrag verwiesen wurde) angegeben (s. Beispiel 17). „L i t e r a t u r. 1. v. C r i e g e r n, Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1904, Bd. 13, Heft 1, S. 28, — 2. S c h m i d t, Ueber traumatische Herzklappen- und Aortenzerreißung. Münchener medizi‐ nische Wochenschrift 23. September 1902, — […] 11. R o s e n b a c h, Die Krankheiten des Herzens und ihre Behandlung 1897, S. 74.“ (VII/ 1904) Während das LV 1904 die Überschrift „Literatur“ trug, fehlten solche Über‐ schriften 1924. Außerdem wurden nun auch die Zeitschriftennamen abgekürzt und nicht immer wurden Seitenzahlen angegeben (s. Beispiel 18). In einer Ori‐ ginalarbeit von 1924, in der die im Text erwähnten Namen der Urheber num‐ meriert wurden, wurden sie im LV nicht noch einmal genannt (s. Beispiel 19). „S t a e m m l e r, D. m. W. 1924 Nr. 15; Ther. d. Gegenw. 1922 Okt. — […] — K ü l b s, Mohr und Stähelins Handbuch der inneren Medizin 1914 2 S. 1203.“ (X/ 1924) „K n a c k und N e u m a n n (8) bestätigten diesen Befund, nahmen aller‐ dings bei einigen Fällen eine leichte Steigerung des Venendrucks war, für die sie aber die Möglichkeit zugaben, daß sie durch Kompression der pe‐ ripherischen Venen durch die Oedeme, nicht durch eine Druckerhöhung im rechten Vorhof hervorgerufen wurde. […]“ LV: „[…] 8. D. m. W. 1917 Nr. 29 — […]“ (VII/ 1924) 1943 trugen die Literaturverzeichnisse ebenfalls keine Überschrift und verschie‐ dene Originalarbeiten und Angaben variierten ähnlich wie 1924 danach, ob die Urheber nach der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Text nummeriert wurden (s. o. Beispiel 16) oder alphabetisch (s. Beispiel 20) oder gar nicht (s. Beispiel 21). Teilweise wurden die Initialen der Vornamen der Autoren ange‐ geben (s. Beispiel 20), teilweise nicht (s. Beispiel 21). Die Handhabung der An‐ gabe von Heftnummern, Bänden und Seitenzahlen variierte zwischen einzelnen Artikeln und auch innerhalb eines Artikels. Nummerierung alphabetisch: „1. G. v. B E R G MA N N , Funktionelle Pathologie. 2. Aufl. Berlin 1936. — 2. S. D I E T R I C H , Verh. dtrsch. Ges. Kreisl.forsch. 1941 S. 283. — […] 21. K. W E Z L E R , Verh. dtsch. Ges. Kreisl. forsch. 1941 S. 96.“ (II/ 1943) Keine Nummerierung (LV alphabetisch geordnet): 376 Sabine Ylönen (22) (23) „A S C H O F F , D. m. W. 1912 S. 2057 u. 2457; Pathol. Anatomie. Jena 1936, Gustav Fischer, Bd. I, S. 402. — D I E T R I C H , Virchows Arch. 1921 Bd. 235 S. 212. — […]“ (X/ 1943) Im Text X/ 1943 (s. Beispiel 21) wurden nur die Namen der Autoren genannt, keine Jahres-, geschweige denn Seitenzahlen der Publikationen, auf die ver‐ wiesen wurde. Zudem hatten Verweise im Text einen eher vertraulichen Cha‐ rakter: „Von A S C H O F F stammt der Ausdruck …“. Exakte Verweise im Text, z. B. nach Art der Harvard-Zitierweise (Autor Jahr: Seitenzahl) waren in der DMW nicht zu finden. Dagegen setzte sich, wie bereits oben erwähnt, ab 1964 das Nummernsystem als Zitierverfahren durch, bei dem die Quellenangaben im Text auf ein Minimum, nämlich eine Zahl in Klammern, reduziert wird. 1964 trugen die Literaturverzeichnisse wieder eine Überschrift („Literatur“ in VI/ 1964, s. Beispiel 22, oder „Literatur (Auswahl)“ sowie Unterüberschriften „A. Monographien und fortlaufende Literaturübersichten“ und „B. Besonders zi‐ tierte Arbeiten“ in einem Artikel mit 111 Quellenangaben I/ 1964, s. Beispiel 23). Ab jetzt wurden einheitlich folgende Angaben gemacht: für Zeitschriftenartikel Name, Initiale des Vornamens, abgekürzter Zeitschriftentitel, Heftnummer, Jahr, Seite; für Monographien Name, Anfangsbuchstabe des Vornamens, Buchtitel, Publikationsort, Jahr. Außerdem wurden hier auch persönliche Mitteilungen ins Literaturverzeichnis aufgenommen (s. Beispiel 23). „Literatur (1) Heremans, J.: Les globulines sériques du système gamma (Bruxelles 1960, Paris 1960). (2) Putnam, F. W., S. Hardy: J. biol. Chem. 212 (1955), 361. […]“ (VI/ 1964) „Literatur (Auswahl) A. Monographien und fortlaufende Literaturübersichten (1) Dameshek, W., F. Gunz: Leukemia. (New York 1958). (2) Forkner, C. E.: Leukemia and allied disorders. (New York 1938) […] B. Besonders zitierte Arbeiten (9a) Albrecht, M.: Persönl. Mittlg. 1951. (9b) Alexeieff, G.: Sang 31 (1960), 837. (10) Ambs, E.: Münch. med. Wschr. 103 (1961), 192, 259, 348, 395. […]“ (I/ 1964) Ab 1984 können die Angaben in den Literaturverzeichnissen als einheitlich, eindeutig und nachvollziehbar bezeichnet werden. Von nun an wurden auch 377 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens (24) (25) Titel der zitierten Zeitschriftenartikel im LV regelmäßig aufgeführt. Bis 1989 wurde für Zeitschriftenartikel immer nur eine Seitenzahl angegeben (s. Beispiel 24). In den Artikeln von 1998 /  99 wurden dagegen jeweils die erste und letzte Seitenzahl eines Artikels genannt (s. Beispiel 25). “Literatur 1. Andreoli, C., F. Buranelli, T. Campa, A. Costa, A. Magni, M. Pizzi‐ 1. chetta, S. Ciatto: Chest X-ray survey in breast cancer follow-up. A contrary view. Tumori 73 (1987), 463. 2. Ariel, I. M., M. Briceno: The disparity of the size of the liver as 2. determined by physical examination and by hepatic gammascan‐ ning in 504 patients. Med. pediat. Oncol. 2 (1976), 69.” (I/ 1989) “Literatur 1 Adamek, H. E., R. Jakobs, D. Dolars, W. R. Martin, M. U. Kromer, J. F. Riemann: Management of esophageal perforations after therapeutic upper gastrointestinal endoscopy. Scand. J. Gastroentererol. 32 (1997), 411-414. 2 Armengol Miro, J. R., S. Benjamin, K. F. Binmöller et al.: Clinical appli‐ cations of endoscopic ultrasonography in gastroenterology - state of the art 1993. Endoscopy 25 (1993), 358-366. […] 12 Gress, F. G., T. J. Savides, A. Sandler, K. Kesler, D. Conces, O. Cummings, P. Mathur, S. Ikenberry, S. Bilderback, R. Hawes: Endoscopic ultrasono‐ graphy, fine-needle aspiration biopsy guided by endoscopic ultrasono‐ graphy, and computed tomography in the preoperative staging of non-small-cell lung cancer: a comparison study. Ann. Intern. Med. 127 (1997), 604-612. […]“ (V/ 1998) Das Layout der Literaturverzeichnisse änderte sich im Laufe der Zeit. 1964 und 1984 wurden die Literaturangaben in vier Spalten nebeneinander pro Seite ab‐ gedruckt (während der Text zweispaltig war), 1989 und 1998 /  99 zweispaltig (wie auch der Text). Auffällig war weiterhin, dass die zitierten Beiträge seit den 1980er Jahren in der Regel mehrere Autoren hatten, wobei alle ihre Namen, wie im Falle der zweiten Literaturangabe in Beispiel 25, nicht immer angegeben, sondern durch „et al.“ ab‐ gekürzt wurden. Warum das der Fall war, ist nicht ersichtlich, da in anderen Fällen bis zu zehn Namen aufgeführt wurden (s. die zwölfte Angabe in Beispiel 25). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich einheitliche, eindeutige und nachvollziehbare Stilkonventionen für das Zitieren in Originalarbeiten der 378 Sabine Ylönen DMW erst langsam gegen Ende des 20. Jahrhunderts entwickelten. Als Gründe dafür, warum in frühen Texten kaum exakte Quellenangaben gemacht wurden, kann nur vermutet werden, dass einerseits die genannten Kollegen den Adres‐ saten bekannt gewesen sein dürften und es sich andererseits bei den älteren Originalarbeiten häufig um gedruckte mündliche Vorträge handelte, die ent‐ weder in Originalform oder redigiert publiziert wurden, was zu Beginn des je‐ weiligen Textes aus Zusätzen wie „Autorreferat“ (VII/ 1884), „Vorgelesen in dem Verein für innere Medicin am 16. Juni 1884“ (VIII/ 1884) oder „Vorgetragen in der Section für Innere Medicin der Naturforscher-Versammlung zu Magdeburg am 19. September und für die Deutsche Medicinische Wochenschrift revidirt von Professor Dr. Seeligmüller, zu Halle a. S.“ (IX/ 1884) ablesbar war. Das Publikum dieser Vorträge dürfte noch homogener und die Teilnehmer untereinander be‐ kannter gewesen sein als die der Leserschaft der Zeitschrift. Aber auch heute werden in mündlichen wissenschaftlichen Vorträgen häufig nur die Namen von Urhebern, nicht aber exakte Quellenangaben genannt. Selbst wenn die münd‐ lichen Vorträge vorab schriftlich ausformuliert und abgelesen wurden, kann eine Ursache für das weitgehende Fehlen eindeutig nachvollziehbarer Quellen‐ angaben in der Konzeption dieser frühen Originalarbeiten als Vortrag liegen. Während vage Verweise auf Kollegen in frühen Originalarbeiten der DMW auf eine relativ überschaubare Gemeinschaft von forschenden Ärzten deuteten, macht es die Fülle der Fachliteratur und die damit verbundene gewisse Anony‐ mität der Mediziner heute unumgänglich, eindeutige, einheitliche und nach‐ vollziehbare Quellenangaben zu machen. Wie oben erwähnt, wurden die Bei‐ träge in der DMW erst seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts redigiert. Eine einheitliche, eindeutige und nachvollziehbare Angabe von Quellen entwi‐ ckelte sich erst im Zuge dieser redaktionellen Bearbeitungen, was im unter‐ suchten Material ab 1964 an dem standardmäßigen Auftreten von Literaturver‐ zeichnissen mit exakten Quellenangaben deutlich erkennbar ist. Auf die Autorenrichtlinien der DMW zum Zitieren wird abschließend in Kap. 4.2 und 5 genauer eingegangen. 4.2 Umfang und Sprachen von Quellenverweisen Exakte Quellenverweise wurden erst mit der Etablierung von Literaturverzeich‐ nissen zum inhärenten Stilmerkmal von Originalarbeiten der DMW. Die durch‐ schnittliche Zahl der exakten Quellenverweise war in den älteren Originalar‐ beiten relativ überschaubar und stieg 1964 sprunghaft an (s. Abb. 3). Bis 1943 lag die durchschnittliche Zahl exakter Literaturverweise bei 1 bis 9 und es gab auch Artikel ohne exakte Verweise (1884 in der Hälfte und in den Jahren 1904, 1924 und 1943 in drei von zehn Artikeln). 1964 hatte ein Artikel durchschnittlich 379 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens Abb. 3: Mittelwerte exakter Literaturverweise pro Artikel in Originalarbeiten der DMW von 1884-1999. Untersucht wurden je zehn Artikel pro Jahrgang (n = 80). In Klammern unter der Jahreszahl sind die minimalen und maximalen Zahlen exakter Literaturver‐ weise pro Artikel angegeben. 44 exakte Quellenverweise, aber hier variierte die Zahl der exakten Literatur‐ verweise pro Artikel am stärksten (von drei in Artikel V/ 1964 bis 111 in Artikel I/ 1964). Bis 1964 waren exakte Quellenangaben auch noch in Fußnoten (drei in Artikel I/ 1964 und eine in Artikel X/ 1964) oder nur im Text (je eine in Artikel I/ 1943 und VIII/ 1964) zu finden. 1984 bis 1998 /  99 gab es durchschnittlich rund 20-30 exakte Quellenverweise pro untersuchtem Jahrgang. Ab 1964 wurde es offensichtlich wichtig, Belesenheit zu demonstrieren, was Baird /  Oppenheim (1994: 3) als eine Funktion von Zitaten bezeichnen. Die Zunahme der Verwendung exakter Zitate hängt vor allem mit paradigma‐ tischen Änderungen des Wissenschaftsverständnisses zusammen. Während Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch die Erfahrungen der for‐ schenden Ärzte ausreichten und die DMW bis dahin vor allem als ein Forum für den Austausch unter Kollegen bezeichnet werden kann (worauf vage und sub‐ jektiv gefärbte Verweise auf Kollegen wie „mein Lehrer V O L H A R D “ oder Wen‐ dungen wie „die Mehrzahl der Forscher“ deuteten), zeigte sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Streben nach Objektivität auch in der Entwick‐ lung einheitlicher, eindeutiger und nachvollziehbarer Zitationskonventionen und dem sprunghaften Anstieg exakter Quellenangaben, mit denen Belesenheit demonstriert werden konnte. Die durchschnittliche Anzahl exakter Quellenverweise und die minimalen und maximalen Werte sagen aber noch nichts darüber aus, wie einheitlich die Vertei‐ 380 Sabine Ylönen Abb. 4: Box-Plot-Diagramm zur Veranschaulichung der Verteilung der Anzahl exakter Literaturverweise in je zehn Originalarbeiten pro Jahrgang. Mittelwerte x̅ in Klammern hinter den Jahreszahlen angegeben. lung exakter Literaturverweise in den Originalarbeiten der untersuchten Jahrgänge war. Aus diesem Grund ist in Abbildung 4 ein Box-Plot-Diagramm dargestellt. Die „Antennen“ markieren die minimalen und maximalen Zahlen exakter Quel‐ lenverweise in den Originalarbeiten der untersuchten Jahrgänge, der durchge‐ hende Strich in den Boxen den Median, der das Diagramm in zwei Bereiche teilt, in denen jeweils 50 % der Daten liegen. In den Boxen liegen ebenfalls 50 % der Daten, und zwar die mittleren (von 25 % bis 75 %). Die Lage des Medians in den Boxen verdeutlicht die Schiefe der den Daten zugrundeliegenden Verteilung. Die Länge der Antennen ist auf das 1,5-Fache des Interquartilsabstandes beschränkt und alle Werte die darunter oder darüber liegen werden als Ausreißer bezeichnet. Aus Abbildung 4 geht hervor, dass 50 % der Artikel bis 1943 weniger als zehn und danach (also auch 1964) höchstens rund dreißig exakte Quellenangaben hatten. Die Streuung in der anderen Hälfte der Artikel mit mehr exakten Quellenver‐ weisen ist in den ältesten fünf Jahrgängen von 1884 bis 1964 größer, und beson‐ ders asymmetrisch ist die Verteilung der Daten 1964 (die Hälfte der Artikel hat maximal 30, die andere bis zu 111 Quellenangaben). Auffällig ist ein Ausreißer in den untersuchten Originalarbeiten von 1989 (der Artikel I/ 1989 mit 63 Literatur‐ angaben). Die restlichen neun Artikel von 1989 weisen die größte Symmetrie in 381 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens Abb. 5: Anteile deutsch-, englisch-, französisch- und anderssprachiger Quellenliteratur in Originalarbeiten der DMW von 1884-1999. der Verteilung der Anzahl von exakten Literaturangaben auf (die vier Quartile sind hier annähernd gleich groß). Insgesamt war der Umfang exakter Literaturangaben gegen Ende des 20. Jahrhunderts homogener als bis in die 1960er Jahre. An den Sprachen der Literaturangaben in der DMW lässt sich ablesen, dass sich die in der DMW publizierten Forschungsarbeiten bis zur Mitte des 20. Jahrhun‐ derts an vorwiegend deutschsprachigen Quellen orientierten, während seit den 1980er Jahren englischsprachige Quellenverweise überwiegen (s. Abb. 5). Zwar re‐ zipierten die forschenden Ärzte auch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhun‐ derts einige Publikationen in anderen Sprachen (Englisch und 1904 auch Franzö‐ sisch), aber zum überwiegenden Teil wurden deutschsprachige Quellen zitiert. 1964 stieg der Anteil anderssprachiger Quellen, besonders der Anteil eng‐ lischsprachiger Literatur; außerdem wurden im untersuchten Korpus 19 fran‐ zösische sowie eine italienische und zwei spanische Quellen zitiert (als „andere“ zusammengefasst machten sie 1964 0,7 % aus, s. Abb. 5). Ab 1984 überwiegen klar Publikationen in der Lingua franca Englisch. Diese Entwicklung von einer Orientierung an eher deutschsprachigen Publika‐ tionen zu einer an mehrheitlich englischsprachigen könnte auf den ersten Blick zu der Schlussfolgerung verleiten, dass sich die DMW von einem wissenschaft‐ lichen Forum für den eher lokalen Austausch unter Kollegen zu einer globaleren Orientierung an internationalen Forschungen entwickelte. Auch die Art und Weise, wie in frühen Originalarbeiten beinahe vertraulich auf Kollegen ver‐ wiesen wurde (ohne exakte Quellenverweise zu verwenden), könnte diese In‐ terpretation nahelegen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich - wie 382 Sabine Ylönen 7 Ab 1964 kamen z. B. Autorennamen wie Gonzales, Sykosch, Tschahargane, Gonska, Jourdain, Tryba, Knee, Dalquen, Anelli-Monti, Wagdi, Tartini, Csef oder Alexi-Mesh‐ kishvili vor (alle in Artikeln mit mehreren Autoren), aber aus diesen Namen kann nicht auf die Herkunft oder Muttersprache dieser Autoren geschlossen werden, da keine an‐ deren Angaben als die zum Wirkungsort (Institute des deutschsprachigen Raums) ge‐ macht wurden. oben erwähnt - das Wissenschaftsverständnis von einer Wertschätzung ärztli‐ cher Erfahrung zu objektiv anmutender Belesenheit hin verändert hat. Wenn man außerdem den geschichtlichen Forschungskontext berücksichtigt, muss der Wandel vom Zitieren vorwiegend deutschsprachiger Quellen zu mehrheitlich englischsprachigen anders interpretiert werden: Deutsch war besonders um die Wende zum 20. Jahrhundert noch eine wichtige Wissenschaftssprache und die DMW eine weltberühmte Zeitschrift (Staehr u. a. 2011: 18). Sie wurde nicht nur im Ausland gelesen, sondern hatte auch Autoren, die in Deutsch (als Lingua franca) publizierten. Im hier untersuchten Korpus stammte z. B. ein Beitrag von 1884 von Matthew Hay, Professor der Gerichtlichen Medicin und Toxikologie in Aberdeen, und einer von 1904 von Johann v. Bókay aus dem Stefanie-Kin‐ derspital in Budapest. In einem weiteren Artikel von 1904 war ein japanischer Kollege, Ryokici Inada, Mitautor eines Artikels. Auch 1924 stammte ein Artikel von einem ungarischen Kollegen, Dr. Paul Ormos aus dem *Elisabeth* Allge‐ meinen Krankenhaus in Hódmezövásárhely. Auf internationale Autorenschaft wurde auch in einem Artikel von 1943 aufmerksam gemacht: Hinter dem Namen des Autors, S. Roufogalis, war die Ortsangabe Athen vermerkt, obwohl der Ar‐ tikel laut Angabe über dem Titel „Aus dem Hygienischen Institut der Medizi‐ nischen Akademie Düsseldorf “ stammte. Ab 1964, als der Anteil englischsprachiger Quellen anzusteigen beginnt, kamen alle Beiträge des hier untersuchten Korpus aus dem deutschsprachigen Raum, und zwar 1964 und 1984 nur aus Deutschland und danach auch aus Ös‐ terreich und der Schweiz: 1989 ein Artikel aus Linz und einer aus der Koopera‐ tion von Kollegen aus Wien und Basel, 1998 ein Artikel aus Graz und ein weiterer aus Zürich. Inwieweit einige der Autoren von Beiträgen der Jahre 1964-1999 andere Muttersprachen als Deutsch hatten, lässt sich anhand der untersuchten Artikel nicht bestimmen. 7 Im historischen Forschungskontext ist an den Sprachen der Quellenverweise also ein Wechsel vom Deutschen zum Englischen als Lingua franca der Medizin abzulesen. Allerdings war Deutsch um die Wende zum 20. Jahrhundert neben Französisch, Englisch, Latein und Italienisch eine der wichtigsten Wissen‐ schaftssprachen der Medizin 8 und nicht zu vergleichen mit der heutigen glo‐ balen Verbreitung des Englischen als Lingua franca. Diese Entwicklung hatte 383 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens 8 Salager-Meyer (1999: 300) fand heraus, dass in britischen und amerikanischen medizi‐ nischen Zeitschriftenartikeln des 19. Jahrhunderts stark auf Arbeiten in Deutsch, Fran‐ zösisch, Latein und Italienisch verwiesen wurde. Folgen für deutschsprachige wissenschaftliche Zeitschriften im Allgemeinen und für die DMW im Besonderen. Staehr schreibt, dass die DMW „je nach Sprachstil der Zeit“ als „Paradepferd, Flaggschiff, Schmuckstück, Sorgenkind oder Renommierblatt“ bezeichnet wurde und dass eine deutsche Zeitschrift heute einem „direkten Vergleich mit den führenden medizinischen Zeitschriften der Welt […] nicht standhalten“ kann (Staehr u. a. 2011: 7). Der Druck, der durch die Globalisierung und Dominanz des Englischen als Lingua franca der Wissenschaften entstanden ist, wird auch in der DMW zu‐ weilen diskutiert (s. Ylönen 2011: 12-14). Der Chefredakteur der DMW, Prof. Dr. med. Martin Middeke, verweist z. B. darauf, dass bahnbrechende Forschungser‐ gebnisse, die auf Deutsch publiziert wurden, von deutschen Medien entweder nicht oder nur skeptisch aufgenommen wurden, englischsprachigen Folgestu‐ dien aber größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Middeke 2003) und dass eine lückenhafte Rezeption von Forschungsergebnissen auch ethische Aspekte berührt, weil möglicherweise klinische Studien erneut durchgeführt werden (Middeke 2008). Füeßl (2000) konstatiert, ebenfalls in der DMW: „Im Grunde ist die Kombination deutsche Sprache und medizinische Forschung heute ein Widerspruch in sich, da jeder publizierende Autor ein möglichst hohes Maß an Öffentlichkeit und Beachtung sucht, sich mit der Publikationssprache Deutsch aber genau davon weitgehend ausschließt.“ (Füeßl 2000: 1103) Der globalen Verbreitung des Englischen als Lingua franca wurde in der DMW Rechnung getragen, indem die Originalarbeiten seit 1984 eine vorangestellte deutschsprachige Zusammenfassung und ein englischsprachiges Abstract haben (vgl. Ylönen 2001: 219). 1999 wurde Englisch zudem erstmals auch als Publikationssprache für Originalien in der DMW zugelassen (vgl. ebd.: 235 f.). Trotz alledem ist die Publikationssprache der DMW nach wie vor in erster Linie Deutsch, denn eines ihrer Grundanliegen ist seit ihrer Gründung 1875 bis heute, „Theorie und Praxis für den niedergelassenen Arzt überschaubar (und verständ‐ lich) [zu] machen“ und „eine wissenschaftliche Medizin zu fördern“ (Staehr u. a. 2011: 12). Staehrs Aussage über die DMW von 1986 wurde auch in der neuen Chronik des Thieme-Verlags von 2011 übernommen und scheint bis heute gültig zu sein: „Wie ein Monolith steht sie im Strom wechselnder publizistischer Stil‐ wellen und Marketinggezeiten.“ (Staehr u. a. 2011: 7). 384 Sabine Ylönen 5 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse im Licht redaktioneller Entscheidungen Im vorliegenden Beitrag wurde den Fragen nachgegangen, wie es zur Entwick‐ lung einheitlicher, eindeutiger und nachvollziehbarer Zitationskonventionen in Originalarbeiten der DMW kam und wie sich der Umfang und die Sprachen der zitierten Literatur im Laufe der Zeit entwickelt haben. Gezeigt werden konnte, dass frühe Originalarbeiten keinen einheitlichen Zi‐ tationskonventionen folgten und das Vorkommen vager Quellenverweise, die nicht die Kriterien der Eindeutigkeit und Nachvollziehbarkeit erfüllten, als ein herausragendes Merkmal bezeichnet werden kann. Vereinzelt traten vage Quel‐ lenverweise sogar bis 1984 auf. Erst seit 1964 hatten alle Originalien Literatur‐ verzeichnisse und das Nummernsystem setzte sich als einheitliches Zitierver‐ fahren durch. Bis 1964 wurden exakte Quellenverweise aber auch noch nur im Text oder in Fußnoten gemacht und das nummerierte Literaturverzeichnis war entweder nach der Erwähnung der Quellen im Text oder alphabetisch geordnet. Erst ab 1984 wurden auch die Titel wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel an‐ gegeben und von nun an können die Angaben in den Literaturverzeichnissen als einheitlich (ab jetzt z. B. alphabetisch geordnet), eindeutig und nachvoll‐ ziehbar (Titel der Artikel angegeben, keine Mehrfachzuordnung von Publika‐ tionen zu demselben /  denselben Autor/ en) bezeichnet werden, wobei bis 1989 nur die jeweils erste Seite und erst 1998 /  99 die erste und letzte Seite eines Ar‐ tikels angegeben wurde. Der Umfang zitierter exakter Quellen war bis 1943 relativ überschaubar und stieg 1964 sprunghaft an, wobei es offensichtlich keinerlei Beschränkungen gab, da in einem Artikel des untersuchten Korpus sogar 111 Quellenverweise aus‐ gemacht wurden. Ab 1984 wurde die Anzahl der Literaturverweise wieder mo‐ derater (im Durchschnitt max. 32), wobei 1989 in einem Artikel noch einmal 63 Quellen angegeben waren (der Ausreißer in Abb. 4). Bis 1943 wurden haupt‐ sächlich und 1964 überwiegend deutschsprachige Quellen zitiert, ab 1984 über‐ wogen eindeutig englischsprachige Quellen. 1904 und 1964 waren auch nen‐ nenswerte französischsprachige Arbeiten zu finden. Am mehrsprachigsten war der Jahrgang 1964, in dem auch einzelne spanisch- und italienischsprachige Quellen angegeben waren. Die Entwicklung zu standardmäßig vorkommenden Literaturverzeichnissen ab 1964 ist vermutlich der redaktionellen Bearbeitung und die einheitliche Dar‐ stellung von ausschließlich publizierten und im Text auch genannten Veröf‐ fentlichungen ab 1984 mit Sicherheit der Ausgabe von Autorenrichtlinien in der DMW geschuldet. Wie oben erwähnt, wurden die eingesandten Manuskripte 385 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens erst seit den 1950er Jahren redaktionell bearbeitet, wobei in der Chronik des Thieme-Verlags das Kürzen der Redundanz langer Beiträge angesprochen wurde (Staehr u. a. 2011: 100). Auf die Entwicklung der Zitationskonventionen wird in dieser Chronik leider nicht eingegangen. Aufgrund der Einheitlichkeit des Vorkommens von Literaturverzeichnissen ist jedoch anzunehmen, dass sie in Originalarbeiten bereits 1964 vorausgesetzt wurden. Leider konnte ich keine schriftlich formulierten Richtlinien dieser Art finden und erhielt auch vom Verlag auf meine Frage, seit wann es in der DMW Autorenrichtlinien gibt, die Auskunft, dass sie sie nicht beantworten können, weil die Autorenrichtlinien dort leider nicht archiviert wurden. Solche Richtlinien für die Abfassung von Originalarbeiten, in denen genaue Hinweise für die Gestaltung der Literatur‐ verzeichnisse gemacht wurden, waren in meinem Korpus zum ersten Mal 1984 zu finden: „Das Literaturverzeichnis, auf die wichtigsten Arbeiten beschränkt, wird in alphabe‐ tischer Reihenfolge des jeweils ersten Autors mit laufenden Ordnungsnummern an‐ geordnet. Diesen Ordnungsnummern entsprechen die Ziffernverweise im Text. Zitiert werden nur diejenigen Arbeiten, die im Text genannt sind. Unveröffentlichte Beob‐ achtungen und persönliche Mitteilungen gehören nicht hierher, sie können im Text (in Klammern) erwähnt werden. Von Zeitschriftenartikeln werden aufgeführt die Autoren (Initialen des ersten Autors nachgestellt), voller Titel der Arbeit, Zeitschrift (soweit möglich, abgekürzt nach den World Medical Periodicals), Band, Jahr (in Klammern) und Seite, von Büchern nach Autorennamen und Titel die Auflage, der Ort, Verlag und das Erscheinungsjahr. Beispiele: Hansi, W., G. Kratzsch, H. Heimpel: Klinische Erfahrungen mit einem neuen intra‐ venös applizierbaren lmmunglobulin-Präparat. Dtsch. med. Wschr. 105 (1980), 1675. Polk, B. F., J. A. White, P. C. de Girolani‚ J. F. Modlin: An outbreak of rubella among hospital personnel. New Engl. J. Med. 303 (1980), 541. Langlotz, M.: Lumbale Myolographie mit wasserlöslichen Kontrastmitteln (Thieme: Stuttgart-New York 1980). Omer, G. E., M. Spinner: Management of Peripheral Nerve Problems (Saunders: Phil‐ adelphia-London-Toronto 1980). Philipps, T.: The nonrigid fixation plate. In Uhthoff, H. K. (Ed.): Current Concepts of lnternal Fixation of Fractures (Springer: Berlin-Heidelberg-New York 1980), 375.“ (DMW 1984) Bis Anfang 1991 waren diese Hinweise zur Gestaltung der Literaturverzeich‐ nisse im Wesentlichen identisch und erst Ende 1991 wurde zusätzlich gefordert, die Seitenzahlen der ersten und letzten Seite eines zitierten Artikels anzugeben. 386 Sabine Ylönen Außerdem wurde 1999 ergänzt, dass auch „zur Publikation eingereichte, aber noch nicht angenommene Arbeiten“ nicht ins Literaturverzeichnis gehören. Was den sprunghaften Anstieg des Umfangs von Quellenverweisen 1964 be‐ trifft, so lässt sich sagen, dass er offensichtlich auf paradigmatischen Ände‐ rungen des Wissenschaftsverständnisses weg von einer Wertschätzung subjek‐ tiver ärztlicher Erfahrung und hin zu objektiver anmutender Belesenheit von „auf breiteren Schultern ruhendem Wissen“ sowie auf fehlenden redaktionellen Beschränkungen beruht. Eine Erklärung für den niedrigeren Umfang der Lite‐ raturverzeichnisse im Jahr 1984 ist aus den Richtlinien für die Abfassung von Originalarbeiten nicht ersichtlich (zwar wurde eine Beschränkung auf die „wichtigsten Arbeiten“ angemahnt, eine maximale Anzahl für Quellenangaben aber nicht vorgeschrieben). Erst ab 1989 enthielten die Richtlinien eine Be‐ schränkung auf „nicht mehr als 50 Zitate“ (was aber offensichtlich nicht beher‐ zigt wurde, wie Artikel I/ 1989 mit 63 Literaturquellen zeigte). Ende 1991 wurde diese Anzahl auf 40 Zitate gesenkt und eine Stichprobe der Autorenrichtlinien von 2019 ergab, dass heute bis zu 30 Literaturstellen zitiert werden dürfen (be‐ merkenswert ist außerdem, dass hier von „Literaturstellen“ und nicht mehr von „Zitaten“ gesprochen wird). Der Trend geht offensichtlich vom „Namedropping“ zur Auswahl relevanter und gut auf die eigene Argumentation fokussierter Li‐ teraturangaben, wie auf dem Schreibportal der Universität Leipzig treffend for‐ muliert: „Besser als Namedropping ist allerdings eine knapp dargestellte und gut begründete Auswahl, die zeigt, dass man in der Lage ist, Wichtiges von Unwichtigem, Relevantes von weniger Relevantem trennen und fokussiert argumentieren zu können. Zitate sind Brücken zwischen Argumenten und theoretischen Entwürfen. Dabei gilt: Gut dosiert ist halb gewonnen.“ (Universität Leipzig: o. J.b) Allgemeinere Hinweise zur Einreichung von Manuskripten, die sich im We‐ sentlichen auf urheberrechtliche Fragen beschränkten, waren in meinem Un‐ tersuchungsmaterial ab 1964 zu finden: „[…] grundsätzlich werden nur solche Arbeiten angenommen, die vorher weder im Inland noch im Ausland veröffentlicht worden sind, selbst wenn es sich dabei nur um einen Kurzbericht gehandelt hat. Die Manuskripte dürfen auch nicht gleichzeitig an‐ deren Blättern zum Abdruck angeboten werden. […]“ (DMW vom 3. Januar 1964) 387 Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens 9 Einen solchen Hinweis habe ich zum ersten Mal 1991 in Heft 50 der DMW gefunden. Diese Forderung wurde bis heute beibehalten und im Laufe der Zeit noch durch eine eingeforderte, von allen Autoren zu unterzeichnende „Bestätigung zum Ausschluß einer Doppelpublikation“ 9 ergänzt. Erst ab 1998 enthalten diese allgemeinen Hinweise zur Einreichung von Ma‐ nuskripten die Erwähnung einer Begutachtung der eingereichten Artikel: „Auch angeforderte Beiträge werden nicht in jedem Fall zur Publikation übernommen; die endgültige Entscheidung ist erst nach zusätzlicher Prüfung durch Fachgutachter möglich.“ (DMW 1998) Zu den Sprachen der zitierten Literatur gibt es keine von der Redaktion her‐ ausgegebenen Richtlinien, aber 1999 kündigte der damals neue Chefredakteur Martin Middeke im Editorial eine Öffnung der DMW für englischsprachige Bei‐ träge an, um der Mission der DMW, ein Forum für die ärztliche Fortbildung sein zu können, im Zeitalter der „Globalisierung und Vernetzung der Welt“ Rechnung zu tragen (Middeke 1999). Die Zitationspraktiken folgten diesen Globalisie‐ rungstendenzen schon seit 1984. Insgesamt gesehen konnte in vorliegender Studie gezeigt werden, dass sich die Zitationskonventionen im Laufe der Zeit gravierend geändert haben. Als Untersuchungsmaterial dienten jeweils zehn Artikel pro Jahr, weshalb die sta‐ tistischen Auswertungen zwar nicht verallgemeinerbar, die Tendenzen jedoch eindeutig sind. Literaturverweise gehören heute zu den auffälligsten stilisti‐ schen Merkmalen wissenschaftlicher Texte und die Einhaltung einheitlicher, eindeutiger und nachvollziehbarer Quellenverweise zu den Regeln guter wis‐ senschaftlicher Praxis. Die Werte, die diesen Regeln zugrunde liegen, änderten sich in den reichlich hundert Jahren von 1884 bis 1999, wobei subjektiv gefärbte Verweise auf Kollegen oder eigene Expertise von objektiv gefärbten Belesen‐ heitsnachweisen abgelöst wurden. Erst 1999 wurde auf die Begutachtung der eingereichten Artikel verwiesen und übrigens ist hier zuerst auch der Verweis zu finden, dass Patientendaten unbedingt unkenntlich gemacht werden müssen. Regeln für gute wissenschaftliche Praxis existierten auch schon in früheren Jahrhunderten, aber zum einen änderten sich die Werte im Laufe der Zeit (vgl. Merton 1973: 327, der davon berichtete, dass man sich noch in den 1920er Jahren darauf verlassen konnte, ein einmal begonnenes Forschungsthema auch in Ruhe bearbeiten und seine Ergebnisse ohne Eile publizieren zu können, weil es ver‐ pönt war und von schlechten Manieren zeugte, in den Apfel zu beißen, den ein anderer gerade aß) und zum anderen handelte es sich früher um ungeschriebene Regeln, die erst sehr spät schriftlich formuliert wurden. Auf die interessanten 388 Sabine Ylönen Fragen der Funktionen von Quellenverweisen und der Entwicklung allgemeiner ethischer Grundsätze in der Medizin konnte im Rahmen dieser Studie leider nicht eingegangen werden. Vergleichbare diachrone Untersuchungen zur Ent‐ wicklung von Zitationskonventionen deutschsprachiger Artikel aus anderen Fachbereichen sind mir nicht bekannt, aber es ist anzunehmen, dass sie zu ähn‐ lichen Ergebnissen führen und zeigen würden, dass sich die heutigen Zitations‐ konventionen der Verwendung einheitlicher, eindeutiger und nachvollziehbarer Quellenverweise erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts entwickelt haben. Für englischsprachige Artikel wurden ähnliche Tendenzen festgestellt von Ba‐ zerman (1988: 164-167), der spektroskopische Artikel des Physical Review von 1890-1980 untersuchte, und von Salager-Meyer (1999), die amerikanische und britische Artikel verschiedener medizinischer Zeitschriften und unterschiedli‐ cher Textsorten von 1810-1995 analysierte. Interessant wäre auch zu untersu‐ chen, inwiefern sich Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis in unterschied‐ lichen Wissenschaftskulturen möglicherweise unterschieden haben (vgl. Pieth /  Adamzik 1997) oder noch immer unterscheiden und ob es, z. B. im Zuge zunehmender Globalisierung und Verwendung des Englischen als Lingua franca der Wissenschaften, zu einer zunehmenden Entwicklung einheitlicher for‐ schungsethischer Werte kommt. Literatur American Psychological Association o. J.: APA-Style. URL: www.apastyle.org/ [letzter Zugriff: 28.04.2019] Baird, Laura M. /  Oppenheim, Charles 1994: Do citations matter? In: Journal of Informa‐ tion Science 20, 2-15. https: / / doi.org/ 10.1177%2F016555159402000102. Bazerman, Charles 1988: Shaping written knowledge. The genre and activity of the ex‐ perimental article in science. Wisconsin. Böck, Margit /  Gouma, Assimina / Kirchhoff, Susanne / Thiele, Martina 2010: Zitieren in wissenschaftlichen Arbeiten. URL: www.uni-salzburg.at/ fileadmin/ oracle_file_impor ts/ 1411561.PDF [letzter Zugriff: 28.04.2019] Böhme, Uwe /  Tesch, Silke 2014: Zitieren: warum und wie? In: Nachrichten aus der Chemie 62, 852-857. 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Ein besonderer Dank gebührt dem Verlag, vornehmlich den Lektoren Jürgen Freudl und Tillman Bub, die die Reihe jeweils mehrere Jahre lang engagiert betreut haben. Dass die Reihe nun mit einem neuen Team fortgeführt werden kann, geht nicht zuletzt auf den stetigen Einsatz von Tillman Bub zurück. Genf, im September 2020 Kirsten Adamzik Bereits erschienen 20 Kirsten Adamzik, Mikaela Petkova-Kessanlis (Hrsg.) Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschafts‐ kommunikation 2020, 408 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8223-2 19 Kirsten Adamzik, Mateusz Maselko (Hrsg.) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik 2018, 336 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8203-4 18 Jakob Wüest Comment ils ont écrit l’histoire. Pour une typologie des textes historiographi‐ ques 2017, 434 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-8178-5 17 Marianne Franz Die katholische Kirche im Pressediskurs. Eine medienlinguistische Untersu‐ chung österreichischer und französischer Tageszeitungen 2017, 503 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-8025-2 16 Susanne Göpferich Text Competence and Academic Multiliteracy. From Text Linguistics to Literacy Development. 2015, 321 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6934-9 15 Heike Ortner Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslin‐ guistischer Textanalyse 2014, 495 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6910-3 14 Vijay K. Bhatia, Eleonora Chiavetta, Silvana Sciarrino (Hrsg.) Variations in Specialized Genres. Standardization and Popularization 2015, 293 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6833-5 394 Nachwort 13 Jan Engberg, Carmen Daniela Maier, Ole Togeby (Hrsg.) Reflections upon Genre. Encounters between Literature, Knowledge, and Emer‐ ging Communicative Conventions 2014, 232 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6817-5 12 Jakob Wüest Was Texte zusammenhält. Zu einer Pragmatik des Textverstehens 2011, 281 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6642-3 11 Magnus Pettersson Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen. Eine Referenz- und Rele‐ vanzanalyse an Texten 2011, 222 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6623-2 10 Raúl Sánchez Prieto Unternehmenswebseiten kontrastiv. Eine sprachwissenschaftlich motivierte und praxisorientierte Vorgehensweise für eine kontrastive Analyse deutscher, spanischer und französischer Unternehmenswebseiten 2011, 140 Seiten €[D] 49,00 ISBN 978-3-8233-6622-5 9 Heinrike Fetzer Chatten mit dem Vorstand. Die Rolle der unternehmensinternen Kommunika‐ tion für organisatorischen Wandel im Unternehmen 2010, 387 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6574-7 395 Nachwort 8 Peter Klotz. Paul R. Portmann-Tselikas, Georg Weidacher (Hrsg.) Kontexte und Texte. Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns 2010, 346 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6490-0 7 Katja Kessel Die Kunst des Smalltalks. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu Kom‐ munikationsratgebern 2009, 291 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6473-3 6 Marianne Grove Ditlevsen, Peter Kastberg, Christiane Pankow (Hrsg.) Sind Gebrauchsanleitungen zu gebrauchen? Linguistische und kommunikativpragmatische Studien zu skandinavischen und deutschen Instruktionstexten 2009, 166 Seiten €[D] 49,00 ISBN 978-3-8233-6406-1 5 Sabine Schmölzer-Eibinger Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen 2011, 265 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-7649-1 4 Sabine Schmölzer-Eibinger, Georg Weidacher (Hrsg.) Textkompetenz. Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung 2007, 320 Seiten €[D] 49,00 ISBN 978-3-8233-6360-6 396 Nachwort 3 Georg Weidacher Fiktionale Texte - Fiktive Welten. Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht 2006, 165 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-8233-6254-8 2 Maximilian Scherner, Arne Ziegler (Hrsg.) Angewandte Textlinguistik. Perspektiven für den Deutsch- und Fremdspra‐ chenunterricht 2005, 274 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6169-5 1 Kirsten Adamzik, Wolf-Dieter Krause (Hrsg.) Text-Arbeiten: Textsorten im fremd- und muttersprachlichen Unterricht an Schule und Hochschule 2005, 255 Seiten €[D] 49,00 ISBN 978-3-8233-6155-8 397 Nachwort Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Kirsten Adamzik Université de Genève Faculté des Lettres Département de langue et de littérature allemandes Rue De-Candolle 5, CH-1205 Genève Kirsten.Adamzik@unige.ch www.unige.ch/ lettres/ alman/ de/ enseignants/ anciens/ adamzik/ Dr. Andrea Bachmann-Stein, M. A. Universität Bayreuth Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Germanistische Linguistik Universitätsstraße 30, D-95440 Bayreuth andrea.bachmann-stein@uni-bayreuth.de www.gl.uni-bayreuth.de/ de/ team/ andrea-bachmann-stein/ Prof. Dr. Ines-A. Busch-Lauer Westsächsische Hochschule Zwickau Fakultät Angewandte Sprache und Interkulturelle Kommunikation Fachgruppe Fachbezogene Sprachausbildung Dr.-Friedrichs-Ring 2a, D-08056 Zwickau Ines.Busch.Lauer@fh-zwickau.de; www.fh-zwickau.de/ spr/ personen/ personen-kontakte/ prof-dr-phil-habil-inesbusch-lauer/ Prof. Dr. Ulla Fix Universität Leipzig Institut für Germanistik Beethovenstraße 15, D-04107 Leipzig u.fix@t-online.de https: / / home.uni-leipzig.de/ fix/ index.html Dr. Patricia A. Gwozdz Universität Potsdam Institut für Romanistik Lehrstuhl für spanisch- und französischsprachige Literaturen Am Neuen Palais 10, D-14469 Potsdam gwozdz@uni-potsdam.de www.uni-potsdam.de/ de/ romanistik-ette/ habilitanden/ dr-patricia-a-gwozdz Dr. Matthias Meiler Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik und Interkulturelle Kommunikation Thüringer Weg 11, D-09126 Chemnitz matthias.meiler@phil.tu-chemnitz.de; http: / / metablock.hypotheses.org/ Dr. Mikaela Petkova-Kessanlis, M. A. St.-Kliment-Ochridski-Universität Sofia Institut für Germanistik und Skandinavistik Tzar-Osvoboditel-Boulevard 15, BG-1504 Sofia petkovakes@uni-sofia.bg www.petkova-kessanlis.eu/ Prof. Dr. Annely Rothkegel Universität Politehnica Bukarest Fakultät Ingenieurwesen in Fremdsprachen (FILS), Herder-Professur (DAAD) WaK (Wissensarbeit und Kommunikation) Gausstr. 6, D-Saarbrücken ar@wak-rothkegel.de https: / / wak-rothkegel.de Prof. Dr. Stephan Stein Universität Trier FB II Germanistik, Germanistische Linguistik D-54286 Trier stein@uni-trier.de www.uni-trier.de/ index.php? id=12622 Prof. Dr. Christiane Thim-Mabrey Universität Regensburg Institut für Germanistik, Deutsche Sprachwissenschaft Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg christiane.thim-mabrey@ur.de www.uni-regensburg.de/ sprache-literatur-kultur/ germanistik-sw-1/ mitarbeitende/ thim-mabrey/ index.html 400 Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Maria Thurmair Universität Regensburg Institut für Germanistik Deutsch als Fremdsprachenphilologie Universitätsstr. 31, D-93053 Regensburg maria.thurmair@ur.de www.uni-regensburg.de/ sprache-literatur-kultur/ germanistik-daf/ thurmair/ index.html Prof. Dr. Thomas Tinnefeld Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) des Saarlandes Fakultät für Wirtschaftswissenschaften W3-Professur für Angewandte Sprachen Waldhausweg 14, D-66123 Saarbrücken thomas.tinnefeld@htwsaar.de www.htwsaar.de/ wiwi/ fakultaet/ personen/ resolveuid/ 22168f39ec3d4d4d97298 dbe90457e68 Dr. Elisabeth Venohr Schlesische Universität Kattowitz Institut für Germanische Philologie/ Campus Sosnowiec ul. gen. S. Grota-Roweckiego 5, PL-41200 Sosnowiec e.venohr@mx.uni-saarland.de www.uni-saarland.de/ lehrstuhl/ haberzettl/ mitarbeiter/ evenohr.html PD Dr. Sabine Ylönen Zentrum für angewandte Sprachforschung Postfach 35, FI-40014 Universität Jyväskylä sabine.ylonen@jyu.fi http: / / users.jyu.fi/ ~sabyl/ 401 Die Autorinnen und Autoren Abstracts Andrea Bachmann-Stein /  Stephan Stein Stilistische Unterschiede und Stilwechsel in der Grammatikschreibung. Ein exemplarischer Vergleich von wissenschaftlicher Grammatik, Grammatik-Lehrbüchern für das Studium und Grammatikhilfen für die Schule und den Alltag Der Beitrag verfolgt das Ziel, Unterschiede in der sprachlich-stilistischen Gestal‐ tung bei der Aufbereitung grammatischen Wissens in Abhängigkeit von der Adressaten- und Zielgruppe aufzuzeigen. Thematisiert werden dafür zwei As‐ pekte möglicher Stilunterschiede und Stilwechsel: Zum einen erfolgt in dia‐ chroner Perspektive am Beispiel der im Duden-Verlag erscheinenden Grammatik (seit der Erstauflage von 1959) ein Vergleich der Darstellungsperspektive(n) zwi‐ schen verschiedenen Auflagen einer wissenschaftlichen Grammatik. Zum an‐ deren werden in einer synchronen Perspektive verschiedene spezifische Gram‐ matikdarstellungen sowohl für Studierende germanistischer Fächer als auch für die Grammatikvermittlung in der Schule und für sprachlich interessierte Laien untersucht. Diese Perspektive wird ergänzt um eine exemplarische Analyse von Grammatikforen, die alltagstaugliche Grammatikhilfen für Internetnutzer an‐ bieten und in deren Einträgen häufig unterschiedliche Stilwechselphänomene zu beobachten sind. Ines-A. Busch-Lauer Stilwechsel von der Erkenntnis zur Wissenschafts-PR - Wie man über die Smarte Welt und Virtuelle Realität kommuniziert Fach- und Wissenschaftsstil gilt in Naturwissenschaft und Technik als stark normiert und ist gekennzeichnet durch unpersönliche Darstellungsweise, Sach‐ lichkeit und Stringenz. Doch was passiert, wenn technische Entwicklungen an nichtfachliche Adressaten kommuniziert werden? Der vorliegende Beitrag ver‐ folgt diese Fragestellung exemplarisch an Texten zu Smart World und Virtuelle Realität. Die Analyse offenbart Anglisierungstendenzen von Fachbegriffen in deut‐ schen Texten sowie Stilwechsel von der Schriftsprache zur mündlichen Kom‐ munikation. Fachliche Ausdrucksweise wandelt sich in journalistisch geprägte Alltagssprache mit episodenhaft personalisierter Darstellung. Die Verständnis‐ sicherung wird über Beispiele und multimediale Vertextung von Informationen realisiert. Interaktiven Textsorten, z. B. Blogs, kommt eine neue Rolle zu. Ulla Fix Der Wandel von Denk- und Sprachstilen in der Sprachwissenschaft. Zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In der mittlerweile vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Fleck‘schen Ge‐ dankengut hat das Interesse vorrangig der theoretischen Beschäftigung mit den von Fleck eingeführten Kategorien gegolten. Nur selten aber hat man sich der Betrachtung von Texten selbst mit Blick auf deren Denkstilgebundenheit, die sich am typischen Textsorten- und Stilcharakter der Texte zeigen müsste, zu‐ gewandt. Dabei liegt es nahe, das Phänomen eines Denkstilwechsels an den Textformen, wie sie für bestimmte Forschungsperioden mit deren Denkstilen typisch sein können, zu verfolgen. Das soll im vorliegenden Beitrag am Fall der Textsorte ‚wissenschaftlicher Aufsatz‘ geschehen. Ansatz ist, dass Verände‐ rungen, die sich im Laufe der Entwicklung der Sprachwissenschaft bei dieser Textsorte zeigen, Zeugnisse von Denkstilwandel sein können. In diesem Zu‐ sammenhang spielt die Fleck‘sche Kategorisierung von Textsorten im Wissen‐ schaftsbereich eine besondere Rolle. Flecks Kategorisierung wird vorgestellt und durch den textlinguistischen Blick auf die Kategorien ‚Text‘ (Textsorte ‚wissen‐ schaftlicher Aufsatz‘) und ‚Stil‘ (‚Funktionalstil‘) ergänzt. Es folgt der Versuch einer knappen Charakterisierung des Denkstils je eines Denkkollektivs aus den Perioden des Neoidealismus, des Strukturalismus und der Pragmalinguistik. Im empirischen Teil des Beitrags wird das zuvor theoretisch Entwickelte am Fall eines wissenschaftlichen Aufsatzes der jeweiligen Periode überprüft. Patricia A. Gwozdz Feld und Stil. Textsoziologische Anmerkungen zum Stilwechsel im Subfeld erweiterter akademischer Wissensproduktion der Populär/ Wissenschaft am Beispiel der Life Sciences Der Aufsatz behandelt die wissenschaftssoziologischen Prämissen des Stilwech‐ sels vom naturwissenschaftlichen scientific article bzw. research article zum po‐ pular science writing, wobei die englischsprachigen Life sciences als Fallbeispiel dienen. Der Fokus liegt hierbei auf methodologischen Grundüberlegungen zur Feldtheorie akademischer Praxis des Soziologen Pierre Bourdieu, die mit dis‐ 404 Abstracts kursanalytischen Begriffen Jürgen Links und textlinguistischen Überlegungen aus der Fachsprachenforschung erweitert und präzisiert werden. Im Zentrum der Argumentation steht die These, dass Stilwechsel zwischen der Fachsprache und der populären Wissenschaftskommunikation von der his‐ torischen Genese des jeweiligen Feldes abhängig sind und daher unterschied‐ liche nationalspezifische Ausprägungen annehmen können, die einen jeweils anderen Begründungszusammenhang für den Wechsel zulassen. Dies wird am prominenten Beispiel des Evolutionsbiologen Richard Dawkins näher erläutert und mit weiteren Akteuren des Feldes verglichen. Der Aufsatz zeigt unter an‐ derem die Korrelation des Kapitalsorten-Transfers (vom wissenschaftlich-insti‐ tutionellen zum intellektuellen Prestige) und des Stil-Wechsels auf, der im Falle von Dawkins dazu geführt hat, dass seine Texte sowohl innerhalb als auch au‐ ßerhalb des akademischen Felds rezipiert wurden. Zugleich wurde sein Schreib‐ stil durch seine Position als Lehrstuhlinhaber für Public Understanding of Science (Oxford) kanonisiert und tradiert. Durch die Verwendung verschiedener ‚Teil- Autor-Figuren‘ (Steiner) werden diese Wechsel sprachlich markiert und explizit verhandelt. Der Aufsatz plädiert im Anschluss für einen Vergleich von Stil‐ wechseln in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Denkkollektiven und feld‐ externen Einflüssen (Buchmarkt, Feld der Verleger), die die jeweiligen natio‐ nalspezifischen Entwicklungen berücksichtigen und somit eine Feld-Text-Stil- Interaktion offenlegen, die sowohl Fragen der Textpragmatik als auch der vergleichenden Textsorten-Intertextualität berücksichtigt. Matthias Meiler Die Präsenz der Person und die Unpersönlichkeit des Wissens. Wissenschaftskommunikation in diskursiven Kommunikationsformen Der Beitrag geht der Frage nach, wann und warum es in der internen Wissen‐ schaftskommunikation zu folgendem Stilwechsel kommt: von einer Orientierung auf das wissenschaftliche Wissen hin zur Orientierung auf die professionsgebun‐ denen Beziehungen zwischen Wissenschaftlern / Wissenschaftlerinnen (oder in Gegenrichtung). Dabei wird für die Perspektive einer kulturanalytischen Linguistik plädiert, die kommunikative Praktiken immer im Wechselspiel von Medialität und Kulturalität in den Blick nimmt. Exemplarischer Ausgangspunkt des Beitrags ist ein Kommentar zu einem Blogeintrag des SozBlogs, von dem ausgehend der For‐ schungsstand zu diskursiven Kommunikationsformen in der Wissenschaft im Hin‐ blick auf den erwähnten Stilwechsel gesichtet wird. Abschließend wird dieses Phä‐ nomen kursorisch auch dahingehend in den Blick genommen, wie es sich in traditionellen Textgattungen der internen Wissenschaftskommunikation darstellt. 405 Abstracts Mikaela Petkova-Kessanlis Unterhaltsames Informieren in sprachwissenschaftlichen Einführungen In genuin wissenschaftlichen Texten ist Unterhaltsamkeit per Konvention nicht erwartbar. In didaktisch aufbereiteten wissenschaftlichen Texten kann sie je‐ doch als Mittel der Rezipientenbeeinflussung und /  oder Erkenntniserleichte‐ rung eingesetzt werden. Ausgehend von der Annahme, dass bei sprachwissen‐ schaftlichen Einführungen zwei Textsorten-Prototypen (‚I N F O R MI E R E N statt U N T E R HA L T E N ‘ und ‚I N F O R M I E R E N plus U N T E R H A L T E N ‘) voneinander zu unter‐ scheiden sind, werden im Beitrag verschiedene Stilwechsel aufgezeigt, denen eine unterhaltende Intention unterstellt und entsprechend eine unterhaltende Wirkung zugeschrieben werden kann. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich die verschiedenen Stilwechsel zwei Typen von Handlungsdurchfüh‐ rungen zuordnen lassen: unterhaltsamem I N F O R MI E R E N und ‚U N T E R H A L T E N statt I N F O R MI E R E N ‘. Annely Rothkegel Wissenschaftskommunikation ohne und mit Stil: die Internetplattform der Wissenschaftsjahre Mit der Einrichtung der Wissenschaftsjahre zielt das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung auf ein konstruktives Miteinander von Wissenschaft und Gesellschaft. Unsere stilbezogenen Analysen der Websites für die Jahre 2010 bis 2018 zeigen dazu zwei Strategien auf. Durch den Einsatz des technologisch unter‐ stützten, modisch angepassten Webdesigns wird auf der Interaktionsebene eine ge‐ wisse Konsistenz bei fehlender Kohärenz erreicht („stilloser Stil“). Stilistische Ge‐ staltung findet dagegen auf der Mikroebene (Inhaltsebene einer einzelnen Website) statt. Hier wird Stilbildung eingesetzt für Bedeutungsmanipulationen bei den Über‐ gängen zwischen fachlichen, nicht-fachlichen und alltagssprachlichen Begrifflich‐ keiten („semantisches Jonglieren“). Christiane Thim-Mabrey / Maria Thurmair „Da haben wir ihn, den Schachtelsatz! “ Zur Überprüfbarkeit normativer Einstellungen zum wissenschaftssprachlichen Stil Ausgehend von der Frage, ob sich die stilistischen Normen wissenschafts‐ sprachlicher Texte verändern, versucht dieser Beitrag der grundsätzlichen Frage nachzugehen, wie sich Bewertungsnormen wissenschaftssprachlicher Texte 406 Abstracts überhaupt feststellen lassen. Nach einem Überblick über entsprechende stilbezogene Aussagen in sprachwissenschaftlicher Forschung und in Ratgebern zum wissenschaftlichen Schreiben wird eine im Rahmen eines Projektseminars von Studierenden durchgeführte empirische Befragung vorgestellt, bei der Do‐ zenten verschiedener Fächer zur wissenschaftlichen Sprache Stellung nehmen und verschiedene Textausschnitte beurteilen sollten. Die dabei auftretenden methodischen Probleme werden diskutiert und Vorschläge für umfassendere Erhebungen formuliert, die einen möglichen Stilnormenwandel in der Wissen‐ schaftssprache gesichert belegen könnten. Thomas Tinnefeld Stilwechsel an der Schnittstelle von sachbezogener zu emotionaler alltäglicher Fachkommunikation - am Beispiel der Online-Textsorte Forumsbeitrag In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, das Phänomen Stilwechsel im Rahmen einer empirischen, qualitativ ausgerichteten Untersuchung im Sinne des Übergangs von sachbezogener zu emotionaler Kommunikation zu doku‐ mentieren und zu analysieren. Dies wird für den Bereich alltägliche Fachkom‐ munikation getan, und innerhalb dessen anhand der Online-Textsorte Forums‐ beitrag. Auf dieser Basis lassen sich Stilwechsel sowohl innerhalb der Gemeinsprache und innerhalb der jeweiligen Fachsprache ausgrenzen als auch solche, die von der Gemeinsprache auf die Fachsprache übergehen (oder auch in umgekehrter Richtung erfolgen). Aus diesen können Funktionen emotional bedingten Stilwechsels abgeleitet werden. Elisabeth Venohr Grenzüberschreitende Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs: Interkulturelle Schreibpraxen und Stilwechsel am Beispiel von Lernertexten französischer Studierender im Deutschen als fremder Wissenschaftssprache (Universität der Großregion/ UniGR) In diesem Beitrag werden Einflüsse aus der einzelsprachlichen Schreibsoziali‐ sation mit den Schreibanforderungen in grenzüberschreitenden Studiengängen und Seminarformaten am Beispiel der Universität der Großregion (UniGr) in Bezug zueinander gesetzt und am Beispiel von Lernertexten französischer Mut‐ tersprachler/ innen in der fremden Wissenschaftssprache Deutsch illustriert. Bei der angestrebten mehrdimensionalen Betrachtung spielen neben (einzel-)kul‐ turgeprägten Textsortenkonventionen und den damit verbundenen Stilauffas‐ 407 Abstracts sungen auch die veränderten Schreibpraxen in mehrsprachigen Studiengängen mit ihren spezifischen sozio-kulturellen Rahmenbedingungen als Auslöser für einen Stilwechsel eine entscheidende Rolle. Sabine Ylönen Stilwandel wissenschaftlichen Schreibens am Beispiel der Entwicklung von Zitationskonventionen in medizinischen Originalarbeiten Quellenverweise gehören zu den auffälligsten stilistischen Merkmalen wissen‐ schaftlicher Texte. Die diachrone Untersuchung von achtzig Originalarbeiten der Deutschen Medizinischen Wochenschrift von 1884 bis 1999 zeigte, dass ein‐ heitliche, eindeutige und nachvollziehbare Zitationskonventionen erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge redaktioneller Richtlinien entwickelt wurden. Der sprunghafte Anstieg exakter Verweise 1964 deutet auf paradigma‐ tische Änderungen des Wissenschaftsverständnisses von einer Wertschätzung ärztlicher Erfahrung zu objektiv anmutender Belesenheit hin. An den Sprachen der Literaturangaben ist die Entwicklung von einem eher lokalen Austausch unter Kollegen zu einer globaleren Orientierung an internationalen For‐ schungen zu erkennen. Im historischen Forschungskontext ist an den Sprachen der Literaturangaben der Wechsel vom Deutschen als einer zum Englischen als globaler Lingua franca der Medizin ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzulesen. 408 Abstracts www.narr.de ISBN 978-3-8233-8223-2 Europäische Studien zur Textlinguistik 20 Der Band widmet sich der Funktionenvielfalt von Stilwechseln in Textsorten und Kommunikationsformen der schriftlichen Fachbzw. Wissenschaftskommunikation zwischen Experten, zwischen Experten und Semiexperten sowie zwischen Experten und Laien. In ihren korpusbasierten Untersuchungen beleuchten die Autorinnen und Autoren das Thema von verschiedenen Seiten: Stilwechsel wird aufgefasst als stilistischer Sinntyp, als Normverletzung oder als Ergebnis von Medienwechsel. Behandelt werden Textsorten und öffentliche Kommunikationsformen aus unterschiedlichen fachlichen Kommunikationsbereichen, in erster Linie in synchroner Sicht. Die Vielfalt der Untersuchungsansätze führt zu einem Erkenntnisgewinn, der weit über die Beschreibung einzelner Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation hinausreicht und Schlussfolgerungen über wissenschaftliche Handlungsfelder, wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung und Denkstile erlaubt.